Christiane Rochefort Zum Glück gehts dem Sommer entgegen Roman suhrkamp taschenbuch
Christiane Rochefort, 1917 in Pari...
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Christiane Rochefort Zum Glück gehts dem Sommer entgegen Roman suhrkamp taschenbuch
Christiane Rochefort, 1917 in Paris geboren, be gann ihre schriftstellerische Laufbahn zunächst als Journalistin. 1958 machte sie auf sich aufmerk sam mit dem Buch Le repos du guerrier (dt. Das Ruhekissen), dem weitere erfolgreiche Romane wie Les petits enfants du siècle, 1961 (dt. Kinder unserer Zeit), Les stances à Sophie, 1963 (dt. Mein Mann hat immer recht), Une rose pour Morrison, 1966 (dt. Eine Rose für Morrison) folgten. Ihr Roman Encore heureux qu’on va vers l’été, 1975, erschien erstmals 1977 unter dem deutschen Titel Zum Glück gehts dem Sommer entgegen. In ihrem jüngsten Roman erzählt Christiane Rochefort vom Auszug der Kinder aus der Welt der Erwachsenen. Ohne Absprache und ohne erkennbaren Anlaß verlassen einzelne oder kleine
Gruppen Elternhäuser und Schulen. Sie gehen ohne Gepäck und Wegzehrung, Kinder eines heutigen Loth, ohne Blick zurück auf Sodom und Gomorrha. Im Gefühl, ihr Leben retten zu müssen, wandern sie nach Süden, dem Meer zu. Sie wählen keine Führer, kennen keine Hierarchien; um nicht aufzu fallen, werden sie nur kurze Zeit zu Weggefährten. Motivation und Ziel aber sind bei allen diesel ben, und alle brechen Tabus und entdecken neue Freiheitsdimensionen. Auf Erwachsenenart ver suchen Familien und Behörden, die Geschehnisse zunächst zu bagatellisieren, und, als dies nicht mehr möglich ist, die Flüchtigen einzufangen. Aber die Helfer sind zahlreich. Was die Kinder wollen, ist nicht romantisch. Die Welt ihres »Traums« ist eindeutig und rea lisierbar. Sie bauen sich Hütten, sie leben von ihrer Hände Arbeit, vom Anbau, sie kleiden sich in die Wolle ihrer Schafe. Sie sind braun und gesund, von übermenschlicher – oder wahrhaft menschlicher – Schönheit. »Statt anzuklagen, bildet Christiane Rochefort die verschütteten Sehnsüchte der Eltern in den Kindern ab und benennt als eine Quelle des Ge nerationenkonflikts den Versuch, Kinder auf die eigenen Lebenshaltungen einzuschwören, ohne diese Bemühung durch ein ähnlich großes Interesse für die Weltanschauung der Kinder zu entgelten.« Günter Engelhardt, Deutsche Zeitung
suhrkamp taschenbuch 523
Christiane Rochefort Zum Glück gehts dem Sommer entgegen Roman
Aus dem Französischen von Eugen Helmlé
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe: Encore heureux qu’on va vers l’été suhrkamp taschenbuch 523 Erste Auflage 1978 Für die Originalausgabe © Editions Grasset & Fasquelle, Paris 1975 © dieser Übersetzung Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung auch einzelner Teile Druck: Ebner Ulm · Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
unverkäuflich
Zum Glück gehts dem Sommer entgegen
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»Ich weiß, daß ihr eine Klasse von Nieten seid«, sagte Mademoiselle Bell, Komma, ein stiller Schmerz erstickte die Fortsetzung ihrer Rede, und mit ei nem unhörbaren Seufzer verstarb die Klasse Fünf D auf immer für Mademoiselle Bell, die nichts davon merkte. Das war am ersten Tag. Sie merkte es weder am zweiten Tag noch an den darauffolgenden Tagen: die Klasse war, wie vorhergesehen, eine Klasse von Nieten, das war alles. Nach einem unschlüssigen Augenblick hatte der Lärm wieder seinen gewohn ten Lauf genommen. In völliger Einsamkeit durchmaß Mademoiselle Bell die Gipfel der Texterklärung, während die Kinder ihr Leben lebten, Privatgespräche führten, in Bewegung waren, sich kleine Zettel zuschoben. Die Ordnungsrufe blieben ohne Echo. Mademoiselle Bell hatte den Eindruck, in einen bodenlosen Brunnen zu sprechen und bekam einen leichten Schwindel. Niemand kümmerte sich um sie. Selbst das Lachen war nicht auf sie gemünzt. Die Fragen waren zusammenhangloses Geschwätz, die Antworten dienten nur zur Belustigung der Hinterbänke, die Aufgaben wichen stark von dem ab, was aufgegeben war. Schwach, wirklich
schwach, seufzte Mademoiselle Bell und verteilte Sechser – was denn sonst ? Auf dem ersten Zettel, den sie sich bringen ließ, stand: »Ist das beschis sen hier !« Sie sah sich außerstande, ihn vor der Klasse laut vorzulesen. Es war leider allzu wahr. Eine Welle der Freude begrüßte ihren Rückzieher und den wütenden Wurf des zu einer Kugel zu sammengeknüllten Zettels in den Papierkorb, den er verfehlte. »Ihr seid wirklich eine Klasse von Nieten«, sagte sie, »machen wir weiter. Nennt mir eine Fabel von La Fontaine.« »Die pestkranken Tiere«, sagte Tobie. »Weißt du, was wir tun, wenn sie das ein drittes Mal von sich gibt ?« sagte Régina zu Grâce. »Ich habe einen tollen Vorschlag.« Ein Zettel ging durch die Reihen, den Mademoiselle abzufangen nicht für nötig hielt. Sie litt unter einer scheußlichen Migräne und wartete auf die Pause. Diese Klasse brachte sie um. Sie gab es ein drittes Mal von sich, zu Anfang des Trimesters, als sie die Schularbeiten zurückgab, die alle, wie gewöhnlich, völlig am Thema vorbeigegangen waren. Die Klasse Fünf D stand in einer einzigen Be wegung auf, verließ die Bänke, geordnet und ohne Geschrei, begab sich zur Tür und ging hinaus. Auf den Gängen erweckte die Klasse Fünf D, wegen der Architektur fast in einer Reihe gehend, keine Aufmerksamkeit: eine ganze Klasse wechselt 10
den Saal, geht zum Turnen, zum Werkunterricht, irgendwohin, eine ganze Klasse folgt ihren Gleisen. Jene, die die Kinder gesehen hatten, behaupteten hinterher, daß ihnen der Gedanke an eine kollekti ve Entgleisung gar nicht gekommen wäre. Der Hilfslehrer Mann, der im leeren Hof eine Zigarette rauchte, während er auf seine Stunde wartete, sah, wie sie vorübergingen, stellte fest, daß sie nicht in Begleitung waren und erwachte aus einem langen Schlaf der Langeweile. Irgend etwas ging hier vor. Die Kinder sahen nicht so aus, wie sie sollten und sie gingen auch nicht so. Régina wandte den Kopf nach dem kleinen Hilfslehrer hin, für einen kurzen Augenblick, ihre göttlichen Lippen, die er nie berührt hatte, halb geöffnet zu einem Lächeln. Sie bohrte ihre Wasseraugen in die seinen und er war völlig davon erstarrt. Ich werde sie nie wiedersehen, dachte Mann in einer blitzartigen Intuition, und das Bild von Kindern, die fast in Reih und Glied über den Hof gingen, am Tor ankamen und hindurchgingen, ohne daß sich ringsum etwas rührte, prägte sich in sein Gedächtnis ein, weil eine ganze Klasse natürlich nur offiziell und aus erzieherischen Gründen den Schulhof verlassen konnte. Mann träumte, erkannte plötzlich, daß er von Régina träumte, wie sie ihn streichelte, mit ih ren Händen, die wie zwei Vögel waren – eine Hoffnung, zur selben Zeit entflohen, in der sie 11
entstand. Er hatte eine heftige Erektion. Er stürmte aufs Scheißhaus und verschaffte sich eine schnelle, irre, herrliche Lust, ohne sich im geringsten deswegen zu schämen, dazu hatte er keine Zeit gehabt. Einmal wenigstens war Mann im Einklang mit sich selber. Es war das erste Wunder, das die Kinder vollbracht hatten. Ich werde sie fallen lassen, be schloß er, während er sich wieder zuknöpfte und dachte dabei an seine Kampfgefährten, ich werde ihnen sagen, daß ich aufgebe, Mensch, Scheiße, was soll die ganze Revolution ohne Liebe. Die Kinder der andern Klassen lärmten im Hof, er hätte längst dort sein, sie festen Fußes erwarten müssen, wie es sein Auftrag war. Pah, Auftrag. Pah, festen Fußes. Oh, war das gut, dachte er wieder, emporgehoben von einer ungeheueren Welle der Dankbarkeit. Ich werde nicht mal zur Versammlung gehen, wozu ihnen Erklärungen geben ? Und wor über ? Ich weiß es ja selber nicht … Ich gebe auf, Punktum. Salute. Ein merkwürdiger Weg für eine politische Entscheidung, sagte er sich, und bei dieser Gelegenheit kommt mir wieder mein Humor, oh, welch ein Glück, es ist schon so lange her, außerdem beweist das genau … Scheiß auf die Militanz, die gar nicht lustig ist. Mir sind die kleinen Mädchen lieber. Vielleicht auch die kleinen Jungens, wer weiß, das wird man sehen. Ich bin frei – Oh, Freiheit ! Mögen die Kinder schreien, soviel sie wollen, sie haben Gründe zu schreien, Scheiße, ich fühle mich im Augenblick nicht als Bulle. 12
Sie waren frei, sagte er sich, und genau das war es, was so wunderlich an ihnen war … Die Direktorin kam mit einer gackernden Schwa dron und einer verkrampften Mademoiselle Bell auf dem Schulhof an. Dort warf sie drohende Blikke auf das Kindergewimmel. Die Lautsprecher spuckten die Namen der beiden Klassensprecher aus. Niemand meldete sich. Nachdem die Klasse Fünf D um die erste Ecke ge gangen und zügig ausgeschritten war, fand sie sich bald auf dem Land wieder, wenn man ein restliches Stück Acker, das man in der Hoffnung, es werde früher oder später zu Bauerwartungsland erklärt, hatte brach liegen lassen, einen einzigen Baum, der noch am Grünen ist und eine Weißdornhecke, einziger Schutz in dieser künftig zu bebauenden Vorstadtwüste, so nennen konnte. Sie ließ sich in Unkraut und Quecke fallen. »Was tun wir jetzt ?« »Ach, laß uns doch erst mal etwas verschnaufen, ja ?« »Wir haben es getan. Scheiße, wir haben es getan.« »So was hats vorher noch nie gegeben.« »Ja, aber jetzt …« »Ach, halts Maul.« »Habt ihr schon gemerkt, daß die Sonne auf uns scheint ?« »Das sollten wir erst einmal gründlich ge- nießen.« 13
»Ja.« »Also, genießen wir.« »Schade, daß wir Hosen anhaben.« »Die können wir doch ausziehen.« »Du natürlich, du Exhibitionistin.« »Du bist doof. Ein richtiges Mamakind.« »Ich schlage vor, daß wir uns nicht gegenseitig beschimpfen, denn wir sind jetzt frei.« »Ich habe nämlich schöne Schenkel, die will ich bräunen.« »Ich hab keinen Spaß dabei. Ich hab Angst.« »Wir müssen von hier weg.« »Warum haben wir überhaupt halt gemacht ?« »Nach dieser reifen Leistung.« »Eben. Das hat uns erschöpft.« »Außerdem waren wir außer Sichtweite. Das ist wie bei den Tieren.« »Ja. Bei den Straußen.« »Ich frage mich nur, warum wir nicht schon früher weggegangen sind, wo doch die Türen offen gestanden haben. Ich frage mich, was uns in dieser beschissenen Bude zurückgehalten hat.« »Die Feigheit.« »Die Dummheit.« »Die Faulheit.« »Wir sind nicht auf den Gedanken gekommen.« »Es hat uns an Phantasie gefehlt.« »Du kannst mir glauben, daß die Türen jetzt abgesperrt werden.« 14
»Das kann uns wurscht sein, wir sind jedenfalls draußen.« »Für immer ?« Schweigen. Marielle hatte ihre Jeans ausgezogen und zeigte ihre Schenkel der Sonne. Ein Vogel wagte zu singen. »Wenn wir hier am Meer wären, könnten wir schwimmen.« »Wenn es nur einen Fluß gäbe.« »Du meinst eine Kloake.« »Wenn es etwas gäbe, könnten wir etwas tun.« »Scheißgegend. Da kann es einem richtig leid werden, daß man ausgebüchst ist. Kommt, laßt uns sonstwo hingehen. Schließlich sind wir frei, oder nicht ?« Frage. Der Vogel gab Antwort. »Und wenn wir nicht mehr in die Schule zurückgingen ?« »Und wenn wir nicht mehr in die Schule und nicht mehr nach Hause zurückgingen ?« Eine ungeheuere Frage. Ein ungeheueres Schweigen. Der Vogel sang wie ein Verrückter. Träume. Fünfundzwanzig Kinder zwischen zwölf und dreizehn laufen über die Äcker. Die Straßen vermeiden. Die Städte. Aber nein, alle werden mit Sicherheit glauben, es sei der offizielle Wandertag. Wir werden uns Pfadfindertücher umbinden. Genial. Tobie wird an der Spitze gehen, bei seinem Gesicht wird man ihn für den Klassensprecher 15
halten. Und sobald die Bullen in Sicht sind, wird ein Lied gesungen, zum Beispiel Herbstzeitlose auf den Wiesen, Scheiße, ich habe den Text vergessen, macht nichts, wir werden einen anderen erfinden. Wir würden verschwinden. Wir würden uns in der Luft auflösen. Im Gras. Im Wasser. Im Wald. Im Meer, im Meer. Scheiße, meine Sandalen sind im Eimer, auch egal, gehe ich eben barfuß. Wir werden uns ins Unterholz verdrücken. Wir würden auf den Bäumen leben, wir würden wieder zu Affen werden. Wir würden dort hinaufklettern, von wo wir heruntergekommen sind und wir würden nie wieder von dort herunterkommen. Wenn sie uns dann mit Haaren bedeckt sehen, werden sie uns nicht mehr wiedererkennen. Ich werde sagen: ich bin schwachsinnig, was wollen Sie denn, man darf nicht das Unmögliche von mir verlangen. Doch, das Unmögliche, aber das werden sie nicht von mir verlangen, das ist ja das ganze Unglück. Ich habe versucht, das Unmögliche zu tun, das ist alles. Was riskieren wir denn ? Was riskieren wir denn, kann es wirklich noch schlimmer werden ? Auf jeden Fall nicht beschissener, bye-bye. Die Straße. Wo ist der Süden ? Die Sonne ist da, wie spät ist es ? Meine Uhr ist im Regenmantel. Früher habe ich es gewußt. Wenn ich dran denke, daß ich gestern einen Kompaß geklaut habe und daß er zu Hause liegt ! Ich habe nichts. Ich bin frei. Wo schlafen wir ? Wo essen wir ? Scheiße, ich habe schon Hunger. Wir werden uns aus den 16
Gärten selbst versorgen. Was wächst denn im Augenblick ? Warum bringt man uns so was nicht bei, anstatt immer nur das, womit man nichts anfangen kann. Wir werden stehlen. Das ist prima, mal echt zu klauen. Und die Bullen am Arsch zu haben. He, habt ihr nicht zufällig fünfundzwan zig Gören gesehen ? Mit Pfadfindertüchern. Alle Pfadfinder aus der Gegend sind von den Wegen verschwunden, die Pfadfinder von den Wegen verschwunden, gar nicht schlecht. Die Eltern ganz aufgeregt. Verstehen nicht, wie gewöhnlich, ich verstehe wirklich nicht, er hatte doch alles, was er wollte. Jaaa. Das furchtbare Mißverständnis. Wir werden über den Rundfunk ein Ultimatum stellen, wir kommen zurück unter der Bedingung, daß. Daß was ? Was willst du eigentlich ? Du weißt ja nicht einmal, was du überhaupt willst. Im Grunde hast du gar keine eigene Vorstellung, du willst es nur den andern nachmachen. Die es machen wie die andern. Die es machen wie die andern, die es machen wie die andern, die es machen wie die andern, ja, aber welche andern ? Auch ich, als ich so alt war wie du, und du siehst, wie ich heute. Ja, Scheiße, ich sehe, Scheiße. Danke. Du kannst ja nicht einmal sagen, worüber du dich beklagst. Nein, bestimmt nicht, rechnet bloß nicht damit, daß ich es euch sage, deshalb gehe ich weg, euer euch liebender Sohn Jean-Marie. Gehen wir. Gehen wir ? Wie wärs, wenn wir gingen. Mein Gott, ich habe Schiß, hoffentlich fassen sie keinen Entschluß. 17
Und wenn es regnet ? Wir haben keine Regenmäntel. Warum nicht gleich Zelte, wenn schon denn schon, im Krieg gilt Kriegsbrauch. Also, gehen wir ? Sie wird glauben, ich sei unter einen Autobus gekom men, lieber Herr Jesus, mach bitte, daß ich nicht vor den andern zu flennen anfange. Wir gehen. Gehen wir ans Meer. Régina betrachtet den Horizont, jenseits der Türme, die ihn schänden. Ihre halbgeöffneten göttlichen Lippen lächeln. Sie sieht das Meer. Sie weiß Bescheid. Sie ist deswegen auch in ärztlicher Behandlung. Ihr Geist verläßt ihren Körper, man muß ihn wieder hineinstecken. Jedes Jahr im Frühling. Nicht diesmal. Ich werde dem Geist Réginas folgen. Wir werden zusammen schlafen, in dieselbe Decke eingewickelt. Wir werden uns warm halten. Wir haben gar keine Decke. Pah. Wir haben Geist. »Auf jeden Fall müssen wir hier weg«, sagte Grâce. Am Horizont stiegen Hagelwolken auf. »Das ist nur ein Hagelschauer, das geht vorbei.« »Wir hätten unsere Regenmäntel mitnehmen sollen.« »Und einen Autobus.« »Ein Glück noch, daß es dem Sommer entgegen geht. Da haben wir Schwein«, sagte Régina. Es waren ihre letzten Worte in der Welt der Erwachsenen. Als man die Herde mit Hilfe von 18
Ordnungskräften, acht an der Zahl, aufgriff, glaub te man in der Panik und im Gewitter, man hätte sie alle: alle hatten stammelnd auf den Appell ge antwortet, und die Anzahl stimmte. Die Flüchtigen wurden unter dem trommelnden Hagel zurückgebracht. Durchnäßt. Stolz. Er leichtert vielleicht. Und deshalb um so stolzer. Sie legten mit Würde ihre Gründe dar. Die Gründe wurden für nicht triftig befunden. Sie wur den streng getadelt und dem elterlichen Zorn aus geliefert. Mit künftigen Strafen bedroht. Aber eine ganze Klasse ? Man weiß wirklich nicht, was man tun soll, wenn sich eine ganze Klasse zusammentut. Dabei war noch niemand so weit gegangen. Die Klasse Fünf D wurde verflucht und mit einem Nimbus umgeben. Mademoiselle Bell bekam zwischen den direk torialen Wänden einen ungeheueren Rüffel. Wir werden wieder die Eltern auf der Pelle haben. Vielleicht die Presse ! Sie brauchen es wirklich nicht so deutlich zu sagen, selbst wenn es wahr ist. Sie war Anfängerin. Mann wurde vor die Rätin geladen. Sie waren doch im Hof, hatten Aufsicht, Sie haben sie also wohl oder übel sehen müssen, warum haben Sie nichts gemeldet ? – »Ich habe mich für einen kur zen Augenblick entfernt, um, entschuldigen Sie bitte, aufs Klo zu gehen.« – »Der Augenblick war schlecht gewählt.« – »Madame, in dieser Sache hat man keine Wahl.« Er jubelte innerlich. »Außerdem«, 19
fügte er hinzu, »wenn ich sie gesehen hätte, hätte ich mir nichts dabei gedacht.« Wir denken zu wenig, sagte die gesetzliche Ge walt. Wir müßten stets auf alles gefaßt sein. Auf jeden Fall werde ich große Sorgfalt auf Ihren Bericht verwenden, sagte die Rätin, Sie können gehen, und versuchen Sie in Zukunft besser aufzupassen. Inmitten dieser ganzen Wut und Verwirrung herrschte die Sucht zu bestrafen, die Angst vor dem Skandal, vor Lockerungen in der Kontrolle, und der Zufall hatte es gewollt, daß an diesem Morgen drei Kinder, die mit triftigen Entschuldigungen zu spät gekommen waren, nicht abgehakt worden waren; die Anwesenheitsliste war abwesend; und Mademoiselle Bell, die Fünfer über Fünfer gab. Und zu alledem das fortgesetzte falsche Zeugnis der Kinder beim Appell, es dauerte eine gewisse Zeit, bis mit Sicherheit festgestellt worden war, daß Grâce, Régina und Jean-Marie sich in den Feldern verflüchtigt hatten. Die Jagd, die zu spät kam, war vergebens. Von nun an fielen sie in den Zuständigkeitsbereich der Jugendschutzpolizei und des Familiensuchdienstes. Eine Dunkelhaarige, 1 mtr. 53, kurzes lockiges Haar, roter Pullover, Jeans. Eine Rotblonde, halblanges, glattes Haar, 1 mtr. 56, blauer Pullover, Jeans. Ein Blonder, glei che Größe, lange Haare, grauer Pullover, Jeans. Sie trugen alle Jeans.
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Begleitet von den respektvollen Blicken der anderen Klassen schlugen die Reste der Klasse Fünf D stolz den Kragen hoch. Schwach, aber doch heldenhaft. Drei gelungene Ausbrüche. Das schlechte Beispiel. Die furchtbare Versuchung. Der Dämon. Die Bedrohung. Die alten Lehrer verbargen ihre geheime Angst unter noch größerer Strenge. Man muß auf alles gefaßt sein. Verbittert bereitete sich die Direktorin darauf vor, vor ihren Richtern zu erscheinen. Mann zog seine Kündigung in Erwägung. Wa rum warten ? Besser, man ist in der frischen Luft, wenn’s dem Sommer entgegengeht, als wenn’s dem Winter entgegengeht, sagte er zu Cabi, der jungen Englischlehrerin. Auf jeden Fall stehe ich jetzt auf der Abschußliste, sie warten nur auf ei nen Vorwand – naja, sie tun nur ihre Arbeit, ich habe die Kinder abhauen sehen und mich darüber gefreut. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn sie keinen einzigen von ihnen geschnappt hätten. Für das, was sie aus ihnen machen. Ich frage mich, warum sie so scharf darauf sind, sie zu behalten, um sie dann auf den Müll zu werfen. Um sie auf den Müll zu werfen, sagte Cabi, die hinterlistig ihren Unterricht auf das zeitgenössische Amerika ausrichtete. Scheiße, ich werde jetzt gewisserma ßen allein hier übrigbleiben. Ich kann nichts dazu, sagte er. Die Freiheit. Nachdem er sein politisches Ideal verloren hatte, Freunde und Broterwerb, verscherbelte Mann seine mageren Besitztümer 21
und machte sich auf den Weg, in Jeans, mit einer Mundharmonika und einer geheimen Hoffnung. Mademoiselle Bell wurde recht bald krank: was ihr zustieß, war ungerecht. Sie war nicht schlim mer als die andern. Sie übte diesen Beruf aus, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, das war alles. Sie begann mit einer psychoanalytischen Behandlung. Das Tor blieb während der Unterrichtsstunden geschlossen. Davor hatte man einen Kiosk gestellt, in dem ein Wächter saß, bereit, sich auf jedes Kind ohne Lehrer zu stürzen.
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»Danke, Ulme, Ulme, ich segne dich«, sagte Régina. »Du hast uns vorm Hagel beschützt und vorm Feind.« Sie küßte den Baumstamm. »Adieu, Ulme, wir werden uns vielleicht nie wiedersehen.« »Ich weiß nicht, ob es eine Ulme ist«, sagte Grâce. »Sie weiß es auch nicht«, sagte Régina. »Du hast eigentlich recht. Danke, Ulme, ich wer de dich nicht vergessen«, sie küßte den Baumstamm. »Ich werde dich immer in meinem Herzen tragen«, und sie entfernten sich, ihn einsam auf der Ebene stehen lassend. »Dann lebt er wenigstens noch, auch wenn er gefällt wird«, sagte Régina. »Und sie werden ihn fällen, denn er stört vor den Fenstern.« »Vor welchen Fenstern ? … ach ja, Verzeihung, ich hab sie nicht gesehen, ich bin etwas kurzsichtig.« »Wenn die Ulme weg ist, sehen die Leute aus den Sozialwohnungen gegenüber genau dasselbe, und sie werden glauben, daß es ein Spiegel ist.« »Sie werden verrückt werden, und man wird sie einsperren müssen.« »Man braucht nur eine große Mauer drum her um zu bauen und darüber zu schreiben: Irrenanstalt.« 23
»Ja, aber das steht ja dann draußen, so daß sie es nie wissen werden.« »Und niemand wird es ihnen sagen: man darf den Verrückten nie sagen, daß sie verrückt sind. Ich hatte einen Onkel, der verrückt war, und einmal habe ich ihn gefragt, ob es wahr ist, daß er verrückt ist, da sind alle über mich hergefallen und haben geschrien, hör nicht auf sie, sie ist verrückt.« »Ist das wahr, daß du verrückt bist ?« »Ich hör nicht auf das, was du sagst, du bist ja verrückt.« »Und ich höre nicht auf das, was du sagst, rat mal warum ? Und was hat der verrückte Onkel gesagt ?« »Er hat mich beiseite genommen und zu mir gesagt: hör nicht auf das, was sie sagen, die sind ja alle verrückt, aber die sind richtig verrückt. Und er hatte recht. Danach sind wir dicke Freunde geworden, Hugues und ich. Er hat mir allerhand beigebracht. Wenn ich ihn nicht gehabt hätte, wäre ich, na rat mal was geworden ?« »Ich mag das, wenn du Geschichten erzählst, Régina, ich könnte dir stundenlang zuhören.« »Glaub mir, es ist immer was Wahres dran. Manchmal ist sogar alles wahr.« »Mir ist es wurscht, ob es wahr ist, es ist wahr, so bald du es erzählst, und was heißt wahr überhaupt ?« »Grâce, du bist lieb. Ich wollte dir das schon so lange mal sagen, ich glaube, jetzt ist der richtige Augenblick.« 24
»Régina, du bist, ich weiß nicht was, ich wollte dir das schon so lange mal sagen, aber ich wußte nicht was. Ich bin glücklich mit dir, egal was auch passieren mag. Régina ! Ich bin glücklich ! Es ist irre !« »Was für ein Glück, daß wir beisammen sind.« »Das einzige, ich hätte mir gern eine Tafel Orangenschokolade gekauft, aber meine Piepen sind im Regenmantel geblieben. Ich habe etwas Hunger.« »Wie hast du dir das gedacht, mitten auf einer Wiese eine Tafel Schokolade zu kaufen ? Oder wir müßten warten, bis sie ihr Einkaufszentrum ge baut haben.« »Wozu warten, ich habe ja doch keine Piepen.« »Ok, warten wir eben nicht.« »Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, Régina, aber wenn wir in dieser Richtung weitergehen, kommen wir so bald nicht nach Hause.« »Leider ja, aber ich kann nichts dazu, es sind meine Füße, die gehen verkehrt herum, ich kann sie einfach nicht umdrehen.« »Und meine wollen bei den deinen bleiben. Sie sagen, sie hätten sie gern, das ist ja heiter. Na, ihr Schlingel, wollt ihr wohl nach Hause zurück ? Wenn ihr weitergeht, gibts kein Bad.« »Die werden schon sehen, was ihnen noch blüht.« »Die stellen sich wirklich völlig taub. Diese Füße sind doch richtige Sauköpfe. Los, kehrt um. Oh. Sie haben Scheiße zu mir gesagt.« 25
»Die haben sich gegen uns verbündet.« »Das ist eine Meuterei.« »Nein, Sire, das ist eine Revolution. Sie haben die Macht übernommen.« »Da haben wir den Salat.« »Das mußte ja so kommen, man hat immer zu mir gesagt, daß ich auf zu großem Fuß lebe.« »Daß ich nicht weiß, mit welchem Fuß ich tan zen soll.« »Daß ich ständig mit beiden Füßen ins Fett näpfchen trete.« »Daß ich einen Fuß habe, wo andere ihr Herz haben.« »Daß ein Fuß in der Hand besser ist als zwei Füße auf dem Dach.« »Daß sich an gehendem Fuß kein Moos ansetzt.« »Siehst du ! Stell dir vor, unsere Füße würden Moos ansetzen, wir kämen bestimmt nicht weit.« »Wie weit gehen sie eigentlich ? Na, ihr Kleinen, wo gehts denn hin ? Wie ? Ich soll mir was ? Bitte, legen Sie nicht auf, Hallo ? Sie haben aufgelegt.« »Weißt du was ? Die sind richtig verwildert.« »Du hast recht. Sie haben genug von der Zivilisation.« »Sie gehorchen einem Befehl, der von anderswo herkommt. Vielleicht gehorchen sie dem Vogel ? Folgen wir ihnen halt. Vielleicht gehen sie irgend wo hin.« 26
»Ich wüßte nicht, was uns anderes übrigbleibt, wo sollten wir ohne sie auch hingehen ?« »Die sind wirklich lustig. So ganz allein, in aller Freiheit …« »Das Herz würde mir brechen, wenn ich sie zurückbringen müßte. Wenn wir das überhaupt könnten, meine ich.« »Weißt du was ? Die sind intelligenter als wir. Die haben schon lange begriffen.« »Jaa ! Und sie handeln, statt zu meckern und an den Stühlen kleben zu bleiben, wie wir.« »Erinnerst du dich noch, wie sie darunter scharr ten ? Und der Hintern, der drauf herumrutschte, und die gereckten Hälse und der gekrümmte Rücken.« »Die Nase schnüffelte, die Augen fielen zu, die Ohren pfiffen: ein Alarmzeichen !« »Der Mund gähnte, das Gehirn wurde leer. Sie hatten alle den Rüssel voll !« »Außer uns. Feige kamen wir jeden Morgen wieder.« »Wer denn wir ?« »Das frag ich mich auch. Wer denn wir, genau genommen. Ein schöner Verräter, dieser Wer-Denn. Hat sich dort festgesetzt und läßt uns stinklang weilige Dinge tun. Ich habe ein komisches Gefühl«, sagte Grâce. »Als ob man mir einen Zahn gezogen hätte. Nein. Als ob er ganz allein rausgefallen wäre. Nein. Warte.« »Ich habe auch ein komisches Gefühl«, sagte 27
Régina. »Wenn du nach einer Krankheit zum er stenmal wieder aufstehst … Alles ist wie neu.« »In dem Zahn war ein Transistorradio, Mensch, ich habs. Ich habe mal einen Science-Fiction-Roman gelesen, eines Tages rutscht der Kerl auf einer Di mension aus und haut sich einen Zahn raus, und da merkt er auf einmal, daß alles, was er bis dahin gemacht und wovon er geglaubt hat, daß er das ist, daß das Befehle von oben waren. Und er merkt, daß es für alle dasselbe ist !« »Scheiße, wir sind auf einer Dimension ausgerutscht.« »Wer-Denn, das sind die Befehle von oben. Das sind nicht wir, das sind sie !« »Wer-Denn wird einfach abgesetzt. Wegen Hoch verrat. Die Füße an die Macht.« »Das ist eigentlich prima, daß sie für uns ent schieden haben, so haben wir uns das Denken erspart.« »Gottseidank, denn wenn wir gedacht hätten, hätten wir nie entscheiden können, weil sie für uns denken.« »Genau, wir haben für einen kurzen Augenblick zu denken vergessen, und hinterher war es zu spät.« »Eigentlich völlig normal, daß uns das passiert ist.« »In jeder Hinsicht. Wir haben es verdient.« »Wir waren bereit, wir haben nur auf das Zei chen gewartet.« 28
»Da hat der Vogel gesungen.« »Das war das Zeichen. Hast du es auch erkannt ?« »Und ob. Man konnte sich gar nicht irren.« »Alles ist wunderbar verlaufen, keine Schwie rigkeiten an der Grenze, die Gendarmen von voll kommener Diskretion und verdammt kurzsichtig. Strahlendes Wetter: ich sehe Blau dort vor uns.« »Das trifft sich gut, daß es da vorn ist, da gehen wir nämlich hin.« »Wir meistern die Lage wie Chefs, wie machen wir das nur, daß wir so gut zurechtkommen, wo wir doch so schwach sind ?« »Weil wir schwach sind. Wir denken nie an etwas, auch wenn man es uns noch so oft sagt. Schau, wo du hintrittst, sagen sie ständig zu uns, wir hören nicht auf unseren Transistor, das ist alles. Wir sind verkehrt herum gepolt.« »Wir sind ausgesprochen dusselig. Mein armes Kind, du bist ausgesprochen dusselig.« »Was heißt das eigentlich« ? »Wie sollen wir das wissen, wir sind doch dusselig.« »Das ist ein Klasse-Argument. Eines weiß ich jedenfalls über die Dusseligkeit: sie ist irre.« »Man ist unzurechnungsfähig, wenn man dusselig ist.« »Völlig. Wir sagen einfach: das sind wir nicht, wir haben es nicht absichtlich getan, wir waren ja dusselig, eine fremde, unwiderstehliche Kraft hat uns getragen: der Fuß.« 29
»Wir werden überhaupt nichts sagen. Wir werden sie nicht wiedersehen. Schau hinter dich.« »Mein Gott. Da ist nichts mehr.« »Es ist ganz dunkel. Man könnte meinen, man hätte eine Decke über sie gezogen.« »Gute Nacht, ihr Kleinen !« »Ich glaube, das ist das Ende der Welt.« »Gut, daß uns unsere Füße auf den Buckel ge nommen haben. Es war höchste Zeit.« »Vorhin«, sagte Régina, »habe ich einen Engel gesehen. Er war blond gelockt, stand im Schulhof und rauchte eine Zigarette. Er hat uns weggehen sehen, er hat sich nicht gerührt. Ich habe eine Stimme gehört, die sagte: Adieu, man wird euch in dieser Welt nicht wiedersehen.« »Peng ! Hast du den Blitz gesehen ? Der ist mitten auf der Penne niedergegangen. Sie werden alle verbrennen, weil sie das Tor zugemacht und den Schlüssel verloren haben.« »Und natürlich keine Maßnahmen für den Fall eines Feuers ergriffen haben.« »Große Rauchwolken steigen auf, die ganze Stadt brennt. Wir wohnen dem Ende der Zivilisation bei. Na ja, es war ja auch Zeit.« »Wir sind die Töchter Lots. Ein Glück, daß Papa nicht da ist. Komm, schauen wir lieber nicht zurück, sonst werden wir zu Salzsäulen verwandelt.« »Vielen Dank. Laß uns diese verwunschenen Orte fliehen, die Decke ist gleich über uns, ich 30
habe einen Tropfen gespürt. Wir hätten unsere Regenmäntel mitnehmen sollen.« »Pah, es gibt Ulmen, und im Krieg gilt Kriegsbrauch.« »Von jetzt an heißt es: im Frieden gilt Friedensbrauch.« »Grâce, du bist graziös.« »Régina, du bist ich weiß nicht was.« »Was für ein Glück, daß wir uns lieben.« »Und daß wir dem Sommer entgegengehen. Wir haben alles Glück zusammen.« »Wie wärs, wenn wir in Richtung Süden gingen, dann wären wir schneller dort.« »Wo ist das ?« »Dort. Wo es blau ist, natürlich.« »Gehen wir. Gehen wir in Richtung Süden. Zum Glück haben wir die Wahl zwischen allen Himmelsrichtungen. Nachts werden wir den Polarstern hinter uns haben, es ist der einzige, den ich kenne, das trifft sich gut. Im Grunde ist das alles sehr logisch.« »Auf jeden Fall können wir uns nicht verirren.« »Mensch, daran hatte ich gar nicht gedacht. Mein Gott, das ist ja ungeheuer. Wir können uns überhaupt nicht verirren, egal, wo wir hingehen. Wir haben die ganze Erde für uns.« »Das trifft sich gut, ich brauche unheimlich viel Raum. Dort war immer alles zu klein, ich stieß überall an, ich bin voller blauer Flecke. Mein Kopf 31
schlug gegen alle Wände und blieb drin stecken. Das tut weh.« »Du wirst dich nicht mehr stoßen können. Nirgends mehr. Die ganze Erde gehört dir, ohne Grenzen.« »Gib sie mir.« »Hier ist die Erde, ich schenke sie dir«, sagte Grâce und streckte beide Arme aus. »Ein wirklich schönes Geschenk, ich habe nie ein solches Geschenk bekommen.« »Oh, nichts zu danken, es ist nur eine Kleinigkeit. Sie können’s mir gelegentlich vergelten. Ich hätte gern den Mond, wenn Sie nichts dagegen haben. Man sagt nämlich immer zu mir, du, du willst gleich den Mond.« »Sie sollen Ihren Mond bekommen, das ver spreche ich Ihnen. Wollen Sie ihn lieber voll oder zunehmend ?« »Wenn möglich voll, warum knausern ?« »Dann ist es links.« »Aber ich spucke auch nicht auf einen zunehmenden.« »Dann ist es rechts. Sag mal, das Leben ist in dieser Hinsicht doch verdammt einfach.« »Und in einem Augenblick werde ich in der Lage sein, Ihnen die Sonne zu schenken, wenn Sie es wünschen.« »Wirklich ? Das ist aber nett von Ihnen, ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«
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»Grâce, ich glaube, ich träume gerade. Das ist doch nicht möglich. Ich glaube nicht dran.« »Soll ich dich kneifen ? Ich mag das zwar nicht sonderlich, aber wenn es dir hilft.« »Es wird mir nicht helfen, ich werde träumen, daß du mich kneifst.« »Aber ich, ich träume nicht !« »Woher weißt du das ? Vielleicht träumst du, daß ich träume, daß du mich kneifst, um mich glauben zu machen, daß ich nicht träume.« »Mensch, du hast völlig recht, es lohnt nicht. Schau, da ist die Sonne. Régina, sie gehört dir.« »Oh danke. Das ist ein echter Traum, der sogar noch wärmt.« »Und wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gern träumen, daß wir was zum Futtern haben.« »Und ein System, um unsichtbar zu werden.« »Es ist gemein, daß ich immer den Magen auf den Fersen hängen habe.« »Ich glaube, damit mußt du dich abfinden, al tes Mädchen, ich fürchte, wir sind schon an der Kantine vorbei.« »Ja. Und überhaupt, ob ich esse oder nicht esse, das ändert ja doch nichts, ich habe ihn sowieso immer auf den Fersen hängen, wozu also essen ? Du siehst, ich habe mich damit abgefunden. Im Traum braucht man sowieso nicht zu futtern. Zwei Gründe, sich abzufinden.« »Ich frage mich, ob wir unsichtbar sind, wenn wir träumen ? Das wäre doch logisch.« 33
»Vielleicht können wir in der Natur was zum Futtern finden.« »Und wo siehst du die Natur ? Ich sehe nur fri schen Beton. Scheiße, ich glaube nicht mehr, daß ich träume. So was hätte ich nämlich nie ge träumt ! Oh Unglück. Suchen verlorene Natur, hohe Belohnung für jeden, der Angaben machen kann.« »Verzeihung, ich sehe dort einen Baum, zwischen dem Schweineschwanz und dem Spaghetti. Das muß eine Trauerweide sein.« »Ich würde auch trauern, wenn ich an ihrer Stelle wäre.« »Sollen wir diese zivilisierte Gegend durchqueren ?« »Ja was denn, wir sind Kinder, und die gibts hier schaufelweise. Wir haben kein Schild dabei, auf dem steht, daß wir in die falsche Richtung laufen.« »Ich weiß nicht«, sagte Grâce. »Vielleicht doch. Vielleicht sieht man es uns an. Ich fühle mich je denfalls anders. Ich glaube, daß ich groß geworden bin.« »Sie können nicht wissen, daß unsere Füße Köpfchen haben. Wenn sie es erfahren, ist es zu spät. Außerdem sind wir vielleicht unsichtbar.« »Meine Mutter kann meine Gedanken lesen. Meine Stirn ist ein Glas für sie. Sie liest sie sogar vor mir. Ich höre ihre Stimme selbst dann, wenn sie nicht da ist.« 34
»Was sagt sie denn im Augenblick ?« »Sieh da. Ich höre sie nicht. Das ist komisch.« »Vielleicht sendet sie noch auf der Schulwellenlänge ?« »Mein Gott, stimmt ja, sie ist um einen Zug zu spät an, ich habe meine Längenwelle geändert, ohne ihr Bescheid zu sagen … Zumal ich es selber nicht wußte. Au du, das ist ja prima. Wenn nicht mal ich weiß, was ich tue, kann sie es auch nicht wissen. Nicht wissen, was man tut, das ist das Heil, schade, daß ich nicht schon früher daran gedacht habe. Aber klar, ich konnte ja nicht dran denken, denn ich hatte ja meinen Transistor, der mir sagte, was ich zu denken habe.« »Früher – mein Gott, gestern ! – das ist auf einmal schon so lange her ! Früher hatte ich einen Trick, um meinen Transistor nicht zu hören. Ich bin plötzlich gestorben. Hugues hat mir das vorge macht. Der verrückte Onkel. Er hat das mit seiner Mutter gemacht, es war die einzige Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen, sie redete ohne Unterbrechung, das machte ihn wahnsinnig, und deshalb starb er, weil er dann nichts mehr hörte. Du schaltest einfach ab und gehst weg, sagte er. Das ist ganz leicht, mit etwas Übung kommt das von allein, klick, und schon bist du nicht mehr da, bye-bye, jetzt können sie tun, was sie wollen.« »Und was haben sie getan ?« »Wie soll ich das wissen, ich war ja nicht mehr da. Zum Doktor sind sie mit mir gegangen.« 35
»Das wäre doch eher was für Jesus Christus gewesen, wenn es um eine Auferstehung ging.« »Am Ende habe ich das prima rausgehabt, den plötzlichen Tod. Er kam sogar, ohne daß ich es wollte. Soll ich es mal vormachen ?« »Nein, nein ! stirb nicht, bitte, bleib bei mir !« »Die Gefahr dabei ist, daß du nie sicher sein kannst, wieder zurückzukommen, das macht einen richtig schwindlig. Aber gleichzeitig ist es ganz irre. Wir haben das oft gespielt, Hugues und ich … Einmal haben wir beschlossen zu bleiben, aber dann ist es doch anders ausgegangen …« »Bist du nicht gerade wieder dabei ?« rief Grâce voller Angst, als sie Régina stumm, mit verlorenem Blick sah. »Oh nein nein, ganz und gar nicht. Ich dachte an Hugues. Er ist tot, weißt du. Im Ernst. Er war sechzehn Jahre alt. Er ist von einer Klippe gefallen, niemand hat je erfahren, wie es passiert ist. Seine Mutter hat gesagt, sein Freund habe ihn gestoßen, aber ich glaube eher, daß sie ihn gestoßen hat, weil er mit seinem Freund weggegangen war, sie konnte nicht von ihm lassen, sie liebte ihn anscheinend, und das bedeutete, daß sie es nicht ertragen konnte, daß er jemand anderes liebte. Eines Tages hat sie uns ertappt«, Régina zögerte einen Augenblick, sah Grâce an. »Wir liebten uns, Hugues und ich«, sagte Régina, »weil wir immer zusammen gestor ben sind, und so ist es gekommen, daß wir auch in anderen Dingen … Ich habe geglaubt, daß sie 36
mich verhauen würde, sie hat mich nach Hause geschickt und hat zu meiner Mutter gesagt, daß ich hinter ihrem Sohn herlaufe und daß sie auf mich aufpassen soll, was meine liebe Mutter auch prompt getan hat, sie hat mich angesehen, als ob ich ein Stück Scheiße wäre. Total angewidert, die Dame, von ihrem Scheißhaufen von Tochter … Das war etwas hart, weil ich sie nämlich liebte.« »Oh mein Gott«, sagte Grâce, »wie entsetzlich.« »Darauf habe ich ihre ganze Schachtel Mandrax geschluckt«, sagte Régina fröhlich. »Aber das hat nicht geklappt. Ich bin nur ins Delirium gekommen, stell dir vor, ich hab gesehen, wie ich auf die Welt gekommen bin, an den Füßen hängend, und ich hatte säuische Schmerzen, ich brüllte, man sagte, es ist ein Mädchen, und meine Mutter wandte sich mit einer Grimasse des Ekels ab, glaub mir, ich hab sie gesehen, und so ist es auch bestimmt gewesen, da freß ich einen Besen drauf, da bringt mich niemand davon ab, daß es nicht so gewesen ist. Übrigens hat mein Vater zu mir gesagt, daß man mich zwangsernähren mußte, ich wollte nicht leben: versetz dich an meine Stelle.« »Aber ich versetze mich an deine Stelle, mir war es genauso ergangen … ich sehe mich wieder an den Füßen hängend, schreiend, Mensch, kann das weh tun, und man sagt zu meiner Mutter, es ist ein Mädchen, aber ich glaube, meine war nur enttäuscht. Meine Mutter ist schwach, nicht wie deine. Sie hat resigniert. Sie hat sich sogar damit 37
abgefunden, mich zu lieben, glaube ich. Na ja, auf ihre Art …« »Ich habe offensichtlich im Delirium gebrüllt: meine Mutter haßt mich, meine Mutter haßt mich ! Sie will, daß ich sterbe, tötet mich !« »Die Kindheit ist schon lustig.« »Hinterher habe ich erfahren, daß man an Mandrax gar nicht stirbt. Zum Glück. Ach, wie froh bin ich jetzt, daß ich lebe ! Nein nein, ich werde nicht so tun, als wäre ich tot … jedenfalls gibt es dazu keinen Grund mehr, sie existieren nämlich nicht mehr und ich lebe. Ich lebe ! Verstehst du ? Ich spüre, wie ich lebe ! Ein verdammt komisches Gefühl.« »Ich spüre so etwas wie eine große Stille in meinem Kopf. Das ist merkwürdig.« Ohne Eile gingen sie zwischen den Häuserblocks und hielten sich umschlungen. »Mit uns ist bestimmt etwas passiert, weißt du.« »Wir sind ganz bestimmt auf einer Dimension ausgerutscht.« »Das tut gut zu gehen, ohne etwas zu sagen.« »Nur zu meditieren. Ja. Verdammt gut.« »Mein Kopf atmet, das ist toll.« »Ich lebe. Das ist toll.« »Vielleicht sind wir wirklich unsichtbar ? Ich habe den Eindruck, daß uns niemand sieht.« 38
»Das ist so beruhigend. Ich habe mich noch nie so ausgeruht.« »Inzwischen machen sie sich bestimmt große Sorgen«, sagte Grâce. »Noch nicht. Damit fangen sie erst heute abend an.« »Wo werden wir heute abend sein ?« »Bei fünf Kilometer in der Stunde können wir, warte mal, vierzig Kilometer am Tag machen.« »Vierhundert in zehn Tagen.« »Viertausend pro Trimester.« »Das geht verdammt schnell. Und wo kämen wir da hin … mal sehen … nach Griechenland ?« »Apropos, weißt du, worüber die andern im Augenblick schwitzen ? Geographie.« »Auf jeden Fall müssen die Nebennebenflüsse der Loire dran sein, damit haben wir nichts zu tun, das ist viel zu nahe … Oder vielleicht in der Türkei ?« »In der Türkei werden am Strand Türkise ge sammelt. Das hat mir Kathleen gesagt. Das wäre wahnsinnig toll, Türkise zu sammeln …« »Wir würden uns Halsketten machen.« »Wir würden uns Kleider machen aus Türkisen.« »Und was tun wir, wenn wir ans Meer kommen ?« »Wir werden erst einmal eine Runde drehen. Das wird schön sein, am Meer entlang zu gehen.« »Wir werden angeln. Und was wir geangelt haben, werden wir essen.« 39
»Wir werden über die Grenzen schwimmen.« »Im Meer kann man nicht verhungern. Ich kann mit der Hand fischen.« »Aus dem Meer bist du gekommen, ins Meer wirst du zurückkehren …« »Wie wärs, wenn wir bis dahin mal einen Umweg über den riesigen Hyperladen machen würden ? Vielleicht finden wir was zum Futtern ?« »Sollten wir nicht in die Hauseingänge sehen, statt dumm dran vorbeizugehen ? Vielleicht haben sie ihre vollen Taschen dort stehen lassen ?« »Oder eine Decke ? In meinem Traum gibt es eine Decke.« »Ich hätte gern Sandalen. In meiner Wirklichkeit sind meine kaputt.« »Ich hätte gern einen fliegenden Teppich. Zumin dest so lange, bis es schön wird, das häßliche Wetter hängt mir zum Hals heraus.« »Es ist zwar nicht genau das, wovon ich geträumt habe«, sagte Grâce und schob einen Puppenwagen, »aber immerhin eine Beute.« »Wir müssen alles nehmen, was der Zufall uns bietet. Sonst gibt er uns nichts mehr«, sagte Régina. »Die Kleine wird flennen, wenn sie ihre Kutsche nicht mehr findet.« »Sie hätte sie eben raufschaffen sollen, statt ihr Püppchen auf dem Arm raufzutragen wie die Mama. Scheiße, Kinder, die mit Puppen spielen.« 40
»Und was tun wir, wenn wir ihr begegnen und sie ihren Wagen erkennt ?« »Aber nein, sie ist natürlich oben.« »Verzeihung, ich habe vergessen, logisch zu sein. Sag mal, dieses Ding gibt uns schon eine gewisse Haltung. Also ich, Madame, ich gebe ihr jedesmal ihr Fläschchen, wenn sie heult, das ist die neue moderne Methode.« »Aber nein, Madame, das ist doch längst passé, jetzt gibt man ihnen Gehacktes, davon wachsen die Zähne.« »Vielen Dank, ich will nicht gebissen werden.« »Eine Mutter muß sich für ihr Kind aufopfern, sag mal, hast du die schwammige Fresse dieser beiden Armleuchter gesehen ?« »Das waren sicher Bullen. Sie suchen Kinder, die die falsche Richtung eingeschlagen haben.« »Die haben wir aber schön reingelegt. Der Trick mit dem Puppenwagen ist eigentlich eine Klassetarnung: wer geht schon mit einem Pup penwagen stiften ? Mensch, du, das ist genau der Trick, um unsichtbar zu werden ! Scheiße, darauf wäre ich nie von allein gekommen.« »Ich auch nicht. Zum Glück denkt der Zufall für uns.« »Zufall, Füße, alles denkt für uns, wir brauchen nur vor uns hin zu leben.« »Außerdem können wir was reintun.« »Was denn ?« »Die Decke.« 41
»Wir könnten eine Puppe klauen. Das wirkt ech ter. Mit einer Puppe wären wir noch unsichtbarer. Ihre Dummheit weidlich ausnutzen, das ist der oberste Grundsatz.« »Du hast recht, ein leerer Puppenwagen wirkt etwas traurig.« »Ach, Madame, er war ja so lieb ! Es war unser Siebter. Gott hat ihn uns wieder genommen.« »Gesegnet sei sein heiliger Name, sechs sind genug.« »Als letzter gekommen, als erster gegangen, es gibt keine Gerechtigkeit, Madame.« »Ich spiele zum ersten Mal mit Puppen … Ich habe sie in eine Ecke geworfen und gesagt, daß ich sie bestraft hätte, wenn ich gefragt wurde, warum ich nicht mit ihnen spiele. Sie wollten immer, daß ich mit ihnen spiele.« »Natürlich, die sind schließlich teuer. Sie müs sen diese Puppen im Schweiße ihres Angesichts verdienen, du Undankbare.« »Sie haben mir nie solche Sachen geschenkt, die ich haben wollte. Ich hätte gern einen Baukasten gehabt und habe nie einen bekommen. Schweiß hin, Schweiß her, das hätte auch nicht mehr ge kostet. Jede Weihnacht taten sie so, als hätten sie es vergessen. Ein Baukasten, so eine Idee, wie soll man sich an so eine ausgefallene Idee erinnern, du bist nie zufrieden mit dem, was du hast, sagten sie, dabei tun wir alles für dich.« »Du darfst eben nur das wollen, was die andern 42
wollen. Du bist ein richtiger Schweinefuß, du hast deine Eltern wirklich nicht verdient.« »Ich hab mir heimlich Cow-Boys und Indianer gekauft. Wenn ich ganz allein war, ließ ich sie gegeneinander kämpfen. Ich versteckte mich, ich schämte mich. Ich glaubte, das sei schlecht.« »Es war sehr schlecht. Ich will nicht, daß du Krieg spielst.« »Aber die Indianer haben immer gewonnen ! Sogar Buffalo Bill ist von hunderttausend Büffeln niedergetrampelt worden. Die Büffel waren meine Füße. Was für ein Tag ! Ach, ich hatte damals Phantasie. Andererseits gefällt mir der Krieg nicht sonderlich. Versteh das mal einer.« »Wir sind unverständlich. Mein armes Kind, ich werde dich nie verstehen, hast du das nie gehört ?« »Manchmal frage ich mich, wie es möglich ist, daß du aus mir gekommen bist. (Das frage ich mich offen gestanden auch, in Klammern.)« »Die Kinder sind seltsame kleine Tiere.« »Deshalb muß man sie schon von früh an dressieren.« »Sonst tut es das Leben, mein Kind, du wirst schon noch sehen.« »Ich glaube, dann ziehe ich das Leben vor, Papa.« »Keiner hat dich nach deiner Meinung gefragt.« »Aber Papa, du hast doch eben selber gesagt, wenn du es nicht tust, dann tut es das Leben.« 43
»Du sollst deinem Vater keine Widerrede geben, sonst …« »Tut es das Leben.« »Und es hat es getan.« »Es ist wirklich prima. Es hat das gründlich besorgt.« »Ohne große Geschichten zu machen.« »Als wir unsichtbar werden mußten, hat es uns einen Puppenwagen geschenkt.« »Es hat nie zu mir gesagt: nach all den Opfern, die ich für dich gebracht habe.« »Auch nicht: du bist ausgesprochen dusselig.« »Auch nicht: manchmal frage ich mich, ob du ein Herz hast.« »Es weiß es.« »Auch nicht: ich frage mich, wie es möglich war, daß du aus mir gekommen bist. Es weiß es.« »Es weiß alles. Es ist wirklich wunderbar. Ich liebe es.« »Ich würde am liebsten weinen«, sagte Grâce.
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»Ich weiß nicht, ob wir bei diesem Tempo wirklich fünf Kilometer in der Stunde machen. Ich müßte unsere Berechnungen revidieren«, sagte Régina. »Leider weiß ich nicht, wie spät es ist.« »Aber da wir auch nicht wissen, wo wir hingehen, ist das unwichtig.« »Auf jeden Fall haben wir es nicht eilig. Niemand wartet auf uns.« »Mein Gott, das stimmt ja. Wenigstens einmal ! Erinnerst du dich noch, daheim hat man ständig auf uns gewartet. Beeil dich. Wir warten auf dich. Kommst du ? Ein bißchen dalli, du kommst sonst zu spät in die Schule, zu Tisch, ins Bett. Selbst in den Ferien. Am Strand. Überall. Ein komisches Leben, wenn man es recht bedenkt. War es.« »Alles genau bemessen, alles beschränkt, alles verkümmert. Kein Augenblick für sich.« »Hier haben wir die ganze Zeit vor uns.« »Und den ganzen Raum.« »Den ganzen Zeitraum.« »Es ist ja doch merkwürdig, daß wir es nicht eiliger haben, eigentlich müßten wir wie die Hasen laufen, weil wir auf der Flucht sind. Aber ich habe keine Lust. Ich hab Lust zu bummeln. Ich fühle mich 45
keineswegs auf der Flucht, es gelingt mir einfach nicht«, sagte Grâce. »Was heißt Flucht ? Bist du geflohen ?« »Ich ? Aber nein, keineswegs. Ich habe mich nicht von der Stelle gerührt. Ich saß ruhig unter der Ulme.« »Es ist nicht unsere Schuld, daß sie uns nicht gesehen haben. Wir konnten sie schließlich nicht rufen, oder ? Sie hätten doch nur hinzusehen brau chen, schließlich ist das ihre Arbeit, auf uns auf zupassen, oder ? Genau genommen haben sie uns verloren.« »Diese Säcke ! Sie haben uns im Stich gelassen.« »Und sie schnappen uns nicht einmal bei dem Schneckentempo, das wir drauf haben. Sie sind unter aller Kritik.« »Wir könnten ja kleine Kieselsteine streuen. Das würde ihnen helfen.« »Hier gibt es keine, hier gibt es nur Parkplätze.« »Das ist aber leichtsinnig. Wir hätten von einem Schiff fallen können, keiner hätte es gemerkt, und wir wären ertrunken, wo es schon so spät ist.« »Bloß, hinterher ist das Schiff untergegangen und alle sind umgekommen und wir sind an ei nem einsamen unbekannten Strand gelandet, wir sind die einzigen Überlebenden. Das wird ihnen eine Lehre sein. Ich fühle mich nicht verloren, ich fühle mich gerettet«, sagte Régina. »Ich habe ein Gefühl, als ob eine Tür aufgegangen wäre. Eine unsichtbare Tür in der Hecke.« 46
»Ich habe ein Gefühl wie ein junger Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Aber statt zu fallen, fin gen wir zu fliegen an, weil wir Vögel waren und es nicht wußten. Eigentlich wissen die Vögel gar nicht, daß sie fliegen können, bevor sie aus dem Nest fallen … Vielleicht glauben sie Würmer zu sein ? Sie sind ausgesprochen dusselig.« »Richtig, du hast den Nagel auf den Fuß getroffen.« »Sie haben recht, wir sind dusselig: wir wissen nicht, daß wir fliegen können. Wir glauben, daß wir Würmer sind … Du, seit in meinem Kopf mehr Platz ist, verstehe ich allerhand. Vorher war nur Durcheinander drin, das reinste Verkehrschaos, mein Kopf war die Place de l’Opéra um sechs Uhr abends, in meinem Kopf hätte keine Sau ihre Jungen gefunden, nicht einmal ich selber, die reinste Panik … Sollen wir die Kutsche mit reinnehmen ?« »Wenn wir sie draußen lassen, wird sie uns mög licherweise geklaut, das wäre zu dumm.« »Warte mal. Ich erinnere mich gerade, daß es in diesen großen Dingern Bildschirme gibt, und der Chef sieht von seinem Büro aus alles. Es gibt einen ganzen Haufen, die sich so in dem Supermarkt neben der Penne haben schnappen lassen. Einmal haben sie einen Jungen im Büro des Direktors nackt ausgezogen, um ihn zu filzen.« »Um ihn zur Sau zu machen, ja.« »Um sich die Augen aus dem Kopf zu gucken, zwei Fliegen auf einen Streich. Drei Fliegen.« 47
»Gehen wir lieber ins Prisunic, die sind unterentwickelter.« »Scheiße«, sagte Régina, »es ist was ganz anderes, wenn es Ernst ist. Ich hab richtig Schiß gehabt, mir zittern noch die Hände.« »Ich bin schweißgebadet. Ich hab tatsächlich geglaubt, die Frau mit dem Kleinen auf dem Ein kaufswagen hätte mich gesehen, als ich mir die Sardinen geschnappt habe.« »Ich glaube, daß sie uns gesehen hat, aber sie hat nichts gesagt.« »Vielleicht war sie auch eine Diebin … Sie sah eigentlich ganz sympathisch aus.« »Vielleicht ist es überall voller Diebinnen ?« »Vielleicht sind in diesen Breiten alle Diebe.« »Erinnerst du dich noch«, sagte Grâce, »als wir zum Jux klauten ?« »Ja. Gestern. Olala, das war noch die gute alte Zeit. Alles, was wir damals taten, war zum Jux.« »Es hatte keine Folgen.« »Nichts hatte Folgen. Wir waren leicht, leicht wie Schmetterlinge. Wir flogen honigsuchend von Fach zu Fach.« »Wir flogen nicht, wir flatterten.« »Wir waren unzurechnungsfähig.« »Und ausgesprochen dusselig. Wir dachten nur daran, uns zu amüsieren. Du denkst nur daran, dich zu amüsieren, aber du wirst schon noch sehen, später, das Leben.« 48
»Und da ist es nun ! Es ist angekommen !« »Und mittemang in die Fresse, peng !« »So spürt man wenigstens was.« »So hat es einen Sinn.« »Gestern, früher habe ich einen Kompaß ge klaut, nur zum Jux. Wenn ich jetzt einen Kompaß klauen würde, hätte das einen Sinn.« »Pah, wir haben den Polarstern. Wir müssen von jetzt an ohne Zivilisation auskommen.« »Und am Tag die Zugvögel. Die kommen nämlich jetzt, es ist Frühling, sie kommen aus dem Süden. Normalerweise müßten wir einander begegnen.« »Wir werden den Zugvögeln begegnen ! Was für ein Glück.« »Im Herbst würden wir hinter ihnen herziehen. Im Grunde ist das ganz einfach.« »Du hast gesagt, daß du keinen Orientierungs sinn hast.« »Ja, aber sie haben ihn. Und überhaupt, wie willst du dich orientieren, wenn nichts einen Sinn hat ?« »Tilt. Oder wenn man nirgends ist.« »Oder wenn man überhaupt nicht ist ?« »Im Grunde ist das alles sehr logisch.« »Jetzt wissen wir genau, wo wir sind: auf der Erde. Sie ist rund und das hat einen Sinn. Sie geht zur Wega.« »Zu wem ?« »Zum Stern Wega. Wir gehen alle in Richtung 49
Wega. Alle Planeten und die Sonne und das Uni versum. Wenn du das einmal weißt, ist es nicht mehr so wichtig, wo du deinerseits hingehst. Auf jeden Fall gehst du Richtung Wega.« »Du hast recht, man kann sich wirklich nicht verirren. Woher weißt du das ?« »Man hat es mir gesagt. Ich werde dir diesen Stern zeigen. Wenn ich ihn wiederfinde. Ich habe ihn eigentlich schon lange nicht mehr gesehen, ich hoffe, er ist immer noch da. Er ist blau, der blaue ste am Himmel. Man hat ihn mir letzten Sommer gezeigt. In Meddemine, irgendjemand.« »Du mußt ihn wiederfinden, dann können wir uns nach ihm richten. Und wieviele Richtungen es auf einmal gibt. Und früher gestern gab es überhaupt keine.« »Weil wir jetzt in die andere gehen.« »Dann komm, gehen wir ! Scheiße, dieser ver fluchte Puppenwagen muß geschmiert werden, hör dir das mal an ! Die Kleine ist nicht sehr sorgfältig, die läßt noch ihre Babys verkommen.« »Wir haben das Öl von den Sardinen zum Schmieren.« »Wie kriegen wir die Dose eigentlich auf ?« »Schlau. Wir sind wirklich begabt. Wir brauchen nur noch zurückzugehen, um den Dosenöffner zu holen.« »In den Laden bringt mich keiner mehr rein. Außerdem würde das unseren Schnitt herabsetzen. Wir gehen in den nächsten Laden. Das ist eben un 50
ser Pech, ich breche schon einmal die Schokolade an, wenn du erlaubst. Scheiße, mit Nuß, das mag ich nicht.« »Mein liebes Kind …« »Ich weiß. Außerdem sind Nüsse sehr nahr haft. Im Frieden gilt Friedensbrauch. Vorwärts Marsch.« »Schon wieder die Autobahn. Das gibts doch nicht, die scheint Schleifen zu machen«, sagte Ré gina. »Man darf nicht auf ihr laufen, man darf sie nicht überqueren, man darf nicht neben her gehen, was soll man mit diesem Ding anfangen ?« »Und dazu ist es noch häßlich.« »Und unsichtbar sind wir auch nicht. Noch weniger mit dem Puppenwagen. Dieses Ding ist völlig unlogisch.« »Für Leute wie uns ist das eben nicht vorgesehen.« »Vielleicht ist es gegen uns vorgesehen.« »Fuß drauf. Was häßlich ist, ist gegen uns. Also ist das, was schön ist, für uns. Gesetz zwei.« »Was war denn das erste ?« »Ihre Dummheit gründlich ausnutzen.« »Ach ja. Scheiße, ich müßte mir ein Heft klauen. Ich habe überhaupt kein Gedächtnis.« »Ich habe ein Elefantengedächtnis, aber nur für manche Dinge, meistens nicht die wichtigen.« »Das ist sicher die Straße, auf der wir aus den Ferien zurückgekommen sind, ich glaube, ich er 51
kenne sie wieder, es ist die, wo der Westen rechts vom Süden ist, das hat mich immer umgehauen. Mein Alter hat sich die ganze Zeit verfahren, aber er wollte es nicht zugeben, deshalb kam er nie dort raus, wo er meinte, aber er wollte es nicht zuge ben. Die machen nie Fortschritte, komisch. Völlig festgefahren. Und dann erzählen sie uns was von ihrer Erfahrung …« »Ich frage mich nur, wie du die Autobahn wie dererkennen kannst, die Dinger sehen sich doch alle gleich.« »Reine Intuition, mein Kind. Daß sie dann noch glauben, man merkt nicht, daß sie dummes Zeug faseln, das versteh ich nicht. Für wen halten sie sich denn ? Du hast dir kein Urteil über deinen Vater zu erlauben, sagte er. Und warum nicht ?« »Weil er größer ist als du.« »Scheiße, ich will nicht mehr dran denken, das ist vorbei, zum Teufel mit der Vergangenheit ! Und die Zukunft ist auf der anderen Seite der Autobahn …« »Wir müssen halt wieder einmal zurückgehen und eine kleine Straße finden.« »Wir brauchten eben eine kleine nette Straße ohne Autos, die bis zum Süden geht.« Jean-Marie stürzte sich in den ersten Eingang, den er erreichte. Der Polizeiwagen fuhr vorbei ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, die schrille Sirene wurde mit zunehmender Entfernung dumpfer, 52
das liegt am Doppler-Fizeau-Effekt, dachte JeanMarie, der ein großer Physiker außerhalb des Schulprogramms war. Das Auto galt nicht ihm. Die dumpfen Sirenen sind viel liebenswürdiger, denn sie zischen ab. Er hatte sein Herz in beiden Händen, sagte er sich, wann werde ich je in der Lage sein, mein Herzklopfen zu dämpfen, das sind mindestens 140 Schläge, slow down, please, wo bin ich ? erwachte das romantische junge Mädchen. In einer Kirche war er. Gott meiner Eltern, du hast mich also wiedergefunden ! Er setzte sich auf einen Gebetsschemel und wischte sich die feuchte Stirn ab, natürlich hatte er kein Taschentuch. Pater, könnten Sie mir die Beichte abnehmen ? Meine Verbrechen wage ich nicht zu bekennen, in der Nacht träume ich davon, daß ich auf der Erde liege und das große All mich durchdringt, ich empfinde eine zweifellos sündige Lust, weil jede Lust sündig ist. Bereue, Gottesfrau, nein, ich bereue nichts, und geben Sie mir bitte nicht die Absolution, denn ich werde von neuem diesen Wonnen verfallen, die mir geschenkt werden, Amen. Die Kirche versank im Halbdunkel, eine Frau zündete Kerzen an, JeanMarie wich ihrem Blick um einen Pfeiler herum aus, die geflochtenen Strohsandalen auf den Fliesen störten die Stille nicht, die Abendglocken fingen photoelektrisch zu läuten an. »Es war vielleicht die letzte«, sagte Grâce. »Es sieht so aus, als würde es etwas weiträumiger werden. 53
Ich habe schon eine ganze Weile keine Trauerweide mehr in einem Gärtchen gesehen.« »Trotzdem drücken alle diese Umwege ganz schön unseren Schnitt, ich glaube nicht, daß wir heute vierzig Kilometer machen werden.« »Wir waren spät dran. Wenn wir große Strecken zurücklegen wollen, müssen wir uns früh auf den Weg machen.« »Dazu muß man natürlich sagen, daß diese Reise etwas improvisiert war. Überhaupt nicht vor bereitet. Kein Krümel getrocknetes Fleisch, keine Mandel, nichts.« »Und auch keine Decke, was für eine Unvorsichtigkeit.« »Cabi hat uns erzählt, daß die Amerikaner mit ei nem kleinen Rucksack auf dem Buckel Fußmärsche von Tausenden von Meilen machen. Sie bereiten sich schon Wochen vorher darauf vor, indem sie jeden Tag weniger essen.« »Ich frag mich, was ich eigentlich im EnglischUnterricht getrieben habe, wo ich wenigstens ein mal etwas Nützliches hätte lernen können.« »Wenn ich mirs recht überlege, Cabi hat uns eigentlich immer die Stange gehalten, ohne daß es danach aussah.« »Ich nehme mir fest vor, jeden Tag etwas weniger zu essen«, sagte Grâce. »Und jetzt«, sagte Régina, »weiß ich überhaupt nicht mehr, wo der Süden ist.« »Ich glaube, daß sich die Sonne dort hinter der 54
dritten Wolke rechts verkrümelt hat, der mit dem Hundskopf.« »Du meinst wohl mit dem Hasenkopf.« »Dem Löwenkopf. Mit Hörnern. Mit Flügeln.« »Ach, ich sehe sie. Wenn wir wüßten, wie spät es ist. wüßten wir auch, wo der Süden ist.« »Wie kommen denn die Zugvögel zurecht ?« »Wir werden sie fragen, wenn wir ihnen begegnen.« »Sie irren sich nie. Der Brachvogel aus Tahiti fliegt in einem Rutsch achttausend Kilometer über den Pazifik. Für solche Dinge habe ich ein Elefantengedächtnis. Für alles, was zu nichts dient.« »Wieso zu nichts dient ? Das dient doch als Kompaß.« »Ich meine bei ihnen. Dort, wo wir herkommen.« »Pah, dort. Mit dort haben wir nichts mehr zu schaffen.« »Achttausend Kilometer in einem Rutsch. Immer geradeaus. Ohne abzuschweifen. Wir taugen wirklich weniger als die Tiere.« »Wir sollten versuchen, es ihnen gleichzutun. Wir haben ja jetzt Zeit. Und Raum. Vielleicht hat es uns im Grunde nur an Platz gefehlt. Wer weiß, vielleicht könnten wir sogar fliegen, wenn wir es ernsthaft versuchen würden, jetzt, wo wir Platz haben.« »Einmal bin ich geflogen«, sagte Régina. 55
»Nein ? Was du nicht alles kannst ! Ich bin nur im Traum geflogen. War es auch nicht im Traum ?« »Nein. Nein nein, es war wahr. Aber ich weiß nicht, ob ich es noch kann. Man muß in einem besonderen Zustand sein. Es ist auch wirklich nur einmal passiert. Ich war in einem sehr besonderen Zustand.« »Jetzt bist du nicht in einem besonderen Zustand ?« »Doch, eigentlich … Das stimmt, ich fühle mich leicht wie eine Feder.« »Es wäre sogar praktisch, vielleicht könnten wir bis nach Amerika fliegen … Oh, versuchs doch, ja ? Ich halte den Puppenwagen.« »Ich glaube nicht, daß es kommt. Vielleicht klappt es gerade dann nicht, wenn es praktisch wäre. Ich glaube, es ist nicht derselbe besondere Zustand. Das eine Mal, wo es mir passiert ist, da war es ein hoffnungsloser besonderer Zustand: ich war eingesperrt, ich hatte gewissermaßen keinen anderen Ausweg als von oben.« »Wie war das ?« »Das Abheben war echt mühsam. Physisch. Es ging nicht alles gleichzeitig in die Luft, ich flog stückweise weg, schrecklich. Aber als ich mal ab geflogen war, phantastisch. Ich sah alles, und das bei Nacht. Die Blätter der Palmen leuchteten unter mir. Und unten habe ich meine Mutter gesehen, die dem Jungen um den Bart ging, den sie gerade rausgeschmissen hatte, weil, weil er mich liebte.« 56
»Er liebte dich ?« »Ja.« »Alle Welt liebt dich«, sagte Grâce. »Meine Mutter sagt, sagte, daß ich den Sturm anziehe.« »Fast poetisch. Der Sturm ist schön.« »Aber sie wollte damit sagen, daß ich Unordnung und Verwirrung stifte, sie mochte das über haupt nicht.« »Ich mag den Sturm«, sagte Grâce. »Ich auch …« Régina spürte, wie sie rot wurde. Sie gingen über die Straße, ohne zu sprechen, Grâce schob die Kutsche. »Und was ist dann gekommen ? Du warst über den Palmen …« »Er, Jonathan, blieb stehen, ohne sich zu rüh ren, wie ein Stein. Und sie ist zerbröckelt wie, wie Scheiben, die sich in den Blättern vermischen, du weißt doch, diese Bilder, wo du eine Form finden sollst … Sie ist völlig in der Landschaft verschwunden …« »Und du ?« »Ich weiß nicht, danach war ich in Tunis im Krankenhaus. Vielleicht bin ich gefallen … Ich war völlig zerschlagen, und ein Arm gebrochen. Mein Vater hat allein auf mich gewartet, ich habe bis nach Hause nicht mal zu fragen getraut, wie es ihr geht, ich glaubte, daß ich sie umgebracht hatte … Aber sie war da, immer noch genauso 57
hochmütig und angewidert. Bloß daß ich jetzt Bescheid wußte. Und ich liebte sie nicht mehr. Es war das Ende einer großen Leidenschaft, die nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.« »Wenn ich an mein spießiges Leben mit meinem Vater dem Sonntagsfahrer und meiner tugend haften Mutter voll guter moralischer Ratschläge denke, hätte ich nichts dagegen, wenn du mir einen kleinen Flug hin und zurück besorgen könntest, damit ich mir das mal etwas näher ansehe.« »Leider, ich glaube, daß man dazu in einem besonderen Zustand der Verzweiflung sein muß, und ich fürchte, daß wir im Augenblick überhaupt nicht verzweifelt sind.« »Leider sind wir das nicht. Ich kann tun, was ich will, ich bin es einfach nicht.« »Tut mir leid, Verzeihung, ich bitte um Entschuldigung.« »Oh, das macht doch nichts, reden wir nicht mehr davon, das ist eben so, ich werde mich damit abfinden, übrigens, was hätten wir denn mit der Kutsche gemacht ? Die fliegt nicht.« »Stimmt, wir können unsere Tarnung nicht auf geben, vor allem, wo wir gleich in eine Stadt kom men, ich sehe schon die ersten Sozialwohnungen. Gib ihn mir. Scheiße, wir brauchen wirklich einen Dosenöffner, Mensch, man versteht hier ja sein eigenes Wort nicht mehr.« Eine Schar von Kindern überfiel das Priséco, in dem sie ihr Vorhaben ausführten, sie stürmten 58
in die einzelnen Abteilungen, spielten Versteck, brachten das Personal zur Weißglut und fegten durch die Drehkreuze, drüber und drunter, wieder hinaus, und sobald sie draußen waren, zerstreuten sie sich in alle Richtungen, auf dem Bürgersteig einen sprachlosen Geschäftsführer im Westenanzug zurücklassend sowie den Metzgergesellen mit Schürze, der sein großes Messer schwang. Man hörte die Trillerpfeifen der Bullen, die telefonisch herbeigerufen worden waren. »Ruhe, Füße«, sagte Grâce und schob den Puppenwagen. Sie hatten das Durcheinander genutzt, um hinauszugehen. »Ich verbiete euch zu laufen«, sagte sie fest. »Sie können nichts dazu, der Anblick der Bullen, das juckt sie.« Mit klopfendem Herzen warteten sie brav an der Ampel. Hinter ihnen zeigte der Hampelmann im Westenanzug den Ordnungskräften alle Himmelsrichtungen, eine Menschenmenge sammelte sich an, zu spät, kein Kind mehr in Sicht. »Es ist doch ein Elend«, sagte ein weißhaariger Passant zu einem anderen in Baskenmütze, »Kinder in diesem Alter, und dabei scheinen sie nicht einmal etwas zu nehmen, nur um die Leute zu ärgern«, sagte die Baskenmütze, »am Sonntag haben sie dasselbe während der Messe gemacht«, sagte der Weißhaarige, »was wird das später erst noch, es ist nur die Schuld der Eltern«, sagte die Baskenmütze, »wenn sie sie strenger hielten … Zum Glück sind nicht alle so. Niedlich, wie ?« 59
»Scheiße«, fluchte Régina zwischen den Zähnen, sie gingen bei Grün über den Platz, wie alle Welt, verloren sich unter den Bäumen, ließen sich auf eine Bank fallen, »uff«, sagte Grâce, »mir tun die Haxen weh, weil ich sie daran gehindert habe, loszuwetzen.« »Mir dreht sich der Magen um, wenn ich an diese alten Arschlöcher denke«, sagte Régina, »weißt du auch, wo wir sind ? Sie hassen uns. Diese braven Kinder, wenn sie sie doch totärgerten.« »Auf jeden Fall war ihr Überfall verdammt gut gemacht. Geschlossen ankommen, verstreut ab hauen, darauf wären wir nicht gekommen.« »Und eine tolle Ablenkung, sie haben uns einen großen Gefallen erwiesen.« »Vielleicht wollten sie nur andere decken ?« »Ja, das ist eine gute Idee.« »Ich möchte nur wissen, wohin das Mädchen in der blauen Jacke verschwunden ist, das in der Papierabteilung vor uns war … Hoffentlich ist es durchgekommen. Weißt du, was es geklaut hat ? Ich habe es gesehen. Einen Kompaß. Es hat gesehen, daß ich es gesehen habe und wir haben uns so eine Art Erkennungszeichen gegeben.« »Sag mal, vielleicht bereitet es sich auf einen Ausflug vor !« »Das wäre toll. Wenn wir ihm begegnen würden, würden wir es fragen: könntest du uns bitte sagen, wo der Süden ist ?« »Apropos, sollten wir nicht endlich dorthin 60
gehen ? Es wäre vielleicht besser, wenn wir uns in dieser Gegend nicht verewigen. Da, was habe ich gesagt ?« »Schlaf, Kindlein, schlaf«, quiekte Grâce und schaukelte den Wagen, »deine Mutter ist ein Schaf, dein Vater ist im Krieg …« »Nicht im Krieg, das Kind bekommt ja Leibschmerzen, Madame, vor allem, wenn Sie es so stark schütteln, das ist doch kein Pflaumenbaum, ich werde es Ihnen zeigen.« »Nein, es gehört mir !« »Leih es mir doch mal.« »Nein, es gehört mir. Scheiße, wie doof man sich doch benehmen muß, daß sie einen für normal halten !« sagte Grâce, als der Bullenwagen vorbei war. »Mit zwölf Jahren müssen wir uns noch um unsere Spielsachen streiten, und die glauben dran ! Danke Puppenwagen«, sagte sie und streichelte sein Dach, »du hast uns wieder gerettet.« »Laß uns von hier abhauen, das Klima ist ungesund.« Sie entfernten sich aus der Stadt und schoben dazu den rettenden Puppenwagen. Sie picknick ten in einem Wäldchen. Fanden bei Anbruch des Abends einen Sägewerkschuppen und schliefen dort auf einem Haufen Sägespäne. »Wie Katzen«, sagte Régina, »wir nähern uns den Tieren.« »Das ist prima«, sagte Grâce, »wir können vor dem Einschlafen solange miteinander reden wie 61
wir wollen«, und dabei fielen sie beide zusammen in einen tiefen Schlaf. Jean-Marie schlief in der Kirche, in einem Beichtstuhl, dessen Tür er mit seinem Schweizer Taschenmesser geöffnet hatte, das gewöhnlich dazu benutzt wurde, heimlich Autoreifen aufzustechen. »Ich habe von dem Engel geträumt«, sagte Régina. »Von dem Engel aus dem Schulhof. Er hatte uns gefunden. Er kniete vor mir nieder. Er schnitt eine große Stulle von einem Laib Brot herunter und gab sie mir, mit farbiger Aprikosenmarmelade bestrichen. Er sah mir die ganze Zeit über zu wie ich aß und nickte bei jedem Bissen, das Brot hörte gar nicht mehr auf. Ich spüre noch den Geschmack der Aprikosenmarmelade, die mir in den Hals läuft.« »Weißt du, ich finde das ziemlich sadistisch, schon gleich nach dem Aufstehen solche Dinge zu erzählen.« »Ich kann doch nichts dazu, es ist mein Traum. Die Farbe war ganz toll. Der Engel sprach ohne Worte und befahl mir zu leben. Die Aprikosenmarmelade und seine Haare glänzten wie Gold.« »Ich lasse dir die Aprikosenmarmelade, aber gib mir dafür ein Stück Brot ! Brot, hab Mitleid«, wimmerte Grâce, »ich würde alles dafür geben ! Aber ich habe nichts zu geben.« Das Brot konnte man unmöglich stehlen. Es war der am besten gehütete Schatz. Immer zu hoch, zu 62
weit weg. Außer Reichweite. Und wie sollte man überhaupt eine Bäckerei betreten, wenn man sich nicht mal einen armseligen Lutscher kaufen konnte. Das Anfassen des Brotes ist verboten. »In dieser Hinsicht sind wir seit Jean Valjean nicht viel weiter gekommen«, sagte Régina. »Scheiße, ich möchte nur wissen, wie es Cosette ergangen ist, ich werde es mir klauen müssen, damit ich die Fortsetzung erfahre. Es ist bestimmt leichter, Die Elenden zu klauen als Brot.« »Eigentlich nicht logisch, denn Brot ist doch das billigste. Und da es nur die Ärmsten wären, die Brot klauen würden, wäre es kein Ruin.« »Ja, aber gerade die Armen dürfen eben nicht klauen.« »Warum denn nicht ?« »Darum nicht, mein Kind. Wenn die Armen klauen würden, wären sie ja nicht mehr arm.« »Und dann ?« »Dann wären die Reichen auch nicht mehr reich.« »Und dann ?« »Was würde es dann nützen, reich zu sein ? Verstehst du, mein Kind ?« »Nein.« »Ich auch nicht.« Sie besaßen einen Campingdosenöffner, der bei der umgedrehten Sardinendose Wunder gewirkt hatte: der Puppenwagen quietschte nicht mehr. Eine Plastikpuppe, nackt, einbeinig, abgrundtief 63
häßlich, die sie in einem Mülleimer gefunden hatten, zeitigte in der Kutsche die beste Wirkung. Eine blaue Drillichjacke, die Grâce aus der Auslage eines Superladens herausgezogen hatte, und die ihr bis zu den Knien ging, versteckte ihren roten Pullover. Ein Schreibblock und ein Bleistift. Von dem Picknick blieb ein halber Beutel Mandeln und ein Riegel Pfefferminzschokolade übrig, die Régina zwar nicht mochte, aber sie hatte sich damit abgefunden. »Meine Mutter sagte zu mir: wenn du anspruchs voll bist, wird dein Leben zur Hölle werden. Nun ist aber mein Leben keine Hölle, also mag ich Pfefferminzschokolade.« »Wenn ich dran denke, daß meine immer sagte: iß deine Schokolade nicht ohne Brot.« »Nach den letzten wissenschaftlichen Erkennt nissen gibt es für die Gesundheit nichts Schlechteres als Brot. Vor allem weißes. Es hat überhaupt keinen Nährwert. Oh, schau mal ! Schau !« Es war das Morgenrot. Sie betrachteten das Morgenrot. Hinter dem Schuppen stehend, erwarteten sie den Aufgang der Sonne. Ein Schneekirschbaum roch bis zu ihnen herüber, und alle Vögel sangen. »Ich schlage vor, daß wir niederknien«, sagte Régina. »Ich habe keine Religion«, sagte Grâce. »Seit meinem dritten Lebensjahr glaube ich nicht mehr dran. Eines Tages, als ich etwas sehr Böses getan 64
hatte«, sie räusperte sich und fuhr fort, »habe ich zu Gott gesagt: wenn es dich gibt, bestraf mich, und er hat es nicht getan. Seitdem glaube ich nicht mehr an ihn.« »Ich glaube auch nicht dran«, sagte Régina. »Ich tue es nur, um dem Morgenrot zu zeigen, daß ich es liebe, das ist meine Religion, auf die meiner Väter spucke ich. Nieder mit Gott, es lebe das Morgenrot. Ich werde ihm einen Altar errichten«, sie begann Steine zu suchen. »Ich will einen Altar für den Kirschbaum.« »Für die Vögel.« »Ich will einen besonderen Altar für den Vogel von gestern. Ich liebe ihn.« »Ich will einen für die Ulme.« »Einen für den Zufall.« »Ich will einen Altar für das Leben, ich liebe es.« »Ich will einen Talar für den Fuß, ich liebe ihn.« Ein alter Mann, der einen Schubkarren mit Kohl schob, ging übers Feld, sah die beiden vor der aufgehenden Sonne knienden Mädchen und setzte seinen Weg fort, ohne sich überrascht zu zeigen. »Régina, ich glaube, wenn du meine Meinung wissen willst, wir sind angekommen. Praktisch. Von jetzt an ist es ein Spaziergang.« »Von jetzt an ist es das Leben. Wir wollen ihm überall Altäre errichten«, sagte Régina und streu te auf die kleinen Steintische, die am Rande des 65
Ackers standen, die herabgefallenen Blütenblätter des Kirschbaums. »Die Archäologen werden sich fragen, was für eine vergangene Zivilisation diese Spuren hinter lassen hat.« »Es war eine zukünftige Zivilisation, meine Herren ! Warte, ich bürste dich ab, du bist voller Sägespäne.« »Du auch. Wir fangen an, dem zu gleichen, was wir sind.« »In zwei oder drei Tagen können wir anfangen zu betteln.« »Hör mal. Das wäre doch nur normal. Ich habe gerade eine Vision gehabt«, sagte Grâce. »Alle wären wie wir, wir würden uns auf der Erde bewegen, wir würden uns begegnen, wir würden uns zuwinken, würden uns guten Tag sagen, es kommt mir vor, als hätten wir uns irgendwo schon einmal gesehen.« »Und wie geht es Ihnen, seit dem letzten Mal ?« »Oh, sehr gut, danke, ich glaube, daß ich nie so glücklich gewesen bin, und Ihnen ?« »Oh, ich auch, ich liebe das Leben ungeheuer. Ich habe nur etwas Durst.« »Ich habe etwas Hunger.« »Möchten Sie Kohl ? Ein alter Freund von uns hat ein paar Blätter verloren, als er hier vorbeikam.« »Vielen Dank, sehr lieb von Ihnen. Ham ham. Nicht besonders.« »Liebes Kind …« 66
»Aber doch voller Vitamine. Und außerdem ist er roh viel verdaulicher. Eigentlich gar nicht so schlecht, ich war ungerecht gewesen, verzeih, Kohlkopf, ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe, laden wir uns einen Arm voll auf, es wird gleichzeitig eine Decke sein für unsere Puppe.« »Mit einem Glas Wasser wäre mein Glück voll kommen. Selbst ohne Glas. Kennen Sie vielleicht einen Bach hier ?« »Offen gestanden, ich bin lange keinem begeg net. Der letzte, den ich gesehen habe, ein wilder Sturzbach, war mit gelbem Schaum bedeckt.« »Ich habe sagen hören, daß es Wasser in der Natur gibt. Wo ist es ?« »In den Wasserhähnen. In den Wassertürmen. In den Schwimmbädern. Im Meer.« »Gesalzen.« »Das macht nichts, man braucht es nur abzu kochen und den Dampf aufzufangen. Gehen wir ans Meer, wo ist es ?« »Überall. Alle Kontinente sind vom Meer um geben. Das Meer ist eine Frage der Zeit.« »Bis dahin kann es regnen. Wir werden einen Becher hinhalten. Einen Becher stehlen. Ich schreibe es auf. Eine Flasche Mineralwasser stehlen, egal, was für eine Marke.« »Mensch, du, da ist es, das Wasser, in den Flaschen. Scheiße. Das ist doch recht sonderbar. Man nimmt das fließende Wasser, tut es in Flaschen und verkauft es. Sonderbar.« 67
»Das ist die Zivilisation, mein Kind.« »Klar, daß wir es klauen werden. Und wir werden das Wasser trinken und ihnen die Flasche zurückgeben.« »Schneiden wir uns einen Haselnußzweig ab und suchen wir eine Quelle.« »Weißt du, wie ein Haselnußstrauch aussieht ?« »Nein.« »Die Indianer können das Wasser riechen. Sie stellen sich mitten in die Wüste, wittern in alle Richtungen und stoßen direktemang drauf. Ich schlage vor, daß wir versuchen, unsere verlorenen Sinne wiederzufinden. Schau her«, sagte Grâce und zeigte auf ihre nassen Schuhe. »Trinken wir den Tau.« »Sehr poetisch«, sagte Régina und wälzte sich im Gras. »Aber es gibt nicht viel her. Dafür wäscht es. Sehr gut für die Haut. Was sind denn das für Pflanzen, die da am Boden kriechen, ich habe den Eindruck, daß ich sie kenne …« »Das sind Erdbeeren. Ein ganzes Feld.« »Von Erdbeeren bekomme ich Ausschlag«, sagte Régina. »Nicht von diesen hier, von den notwendigen Dingen bekommt man keinen Ausschlag.« »In Ordnung, ich werde keinen bekommen. Ich werde mich kratzen.« »Schade, daß sie noch nicht reif sind. Sie sind so gut, wenn sie reif sind …« 68
»Komm, wir füllen unseren Wagen. Die Sonne wird sie unterwegs reifen lassen.« »Paß auf. Komm, wir hauen ab …« »Was machen die denn schon so früh auf einem Feld mit grünen Erdbeeren ?« »Sie spannen Plastikplanen auf.« »Wir sind gerade noch rechtzeitig hier herge kommen. Hoffentlich sehen sie die Kutsche nicht, ich habe sie nicht ganz in diese verfluchten Dornen ziehen können.« »Wir brauchen nur noch unsere Wunden zu lecken. Du blutest, Grâce, gib mir deine Hand, ich werde deine Wunden lecken.« »Du auch, Régina, dein Gesicht ist ganz verkratzt. Ich werde es ablecken, so ist jede für die andre eine Katze.«
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»Was tust du denn hier ?« sagte der Priester, wo ? dachte Jean-Marie, als er in der Dunkelheit wach wurde, über ihm ein schwarzer Mann, ach, so ein Idiot, zu spät, was tun, dachte er in aller Eile, verdammter Schlaf der Unschuld. »Können Sie mir die Beichte abnehmen ?« sag te er inspiriert, die Glocken fingen über seinem Kopf elektronisch den Angelus zu läuten an, ein mystischer Augenblick, ein Zeichen Gottes, ihres Gottes, der Kerl wird jetzt sicherlich kapieren, er ist auf dem Trip. »Komm erst mal hier raus, und wie bist du überhaupt reingekommen ?« »Ich weiß nicht.« »Und wann ?« »Ich weiß nicht.« »Setz dich auf diesen Stuhl dort und rühr dich nicht, wir werden nach der Messe über diese Angelegenheit sprechen. Bis dahin kannst du deine Sünden bestimmt noch tragen, nehme ich an.« Niedergeschmettert von seiner eigenen Dumm heit setzte sich Jean-Marie brav hin, wobei er zu überlegen versuchte, ob es besser wäre abzuhauen, solange der andere sich anzog, aber ein vermutlicher 70
Küster, der sicherlich beauftragt worden war, stellte sich drei Schritte neben ihn, um ihn am Kragen zu packen, er versuchte, ein ziemlich schweres Verbrechen für sich zu erfinden, fand nur Mord oder Vergewaltigung, ungenügende Banalitäten für den Stolz. Es waren nur fünf Kunden in dieser stillen Messe, ohne Musik, eine Messe für echte Gläubige, eine Flüstermesse, als schämten sie sich dran zu glauben, ein Chorknabe von strahlender Schönheit wie auf den Bildern lief mit dem heili gen Gerät um den Priester herum, der das Ritual schnell hinter sich brachte. Jean-Marie verlor sich in der Betrachtung des Jungen. Eine dicke blonde, sehr gerade in die Stirn hängende Strähne reichte fast bis zu den großen Augen, die sich für einen Augenblick in die Jean-Maries bohrten, den in diesem Augenblick ein durch ein Seitenfenster orange gefärbter Strahl heimsuchte, er liebt mich, dachte Jean-Marie und stürzte sich in die unmit telbare Beziehung, ich liebe dich, teilte er ihm mit seinem ganzen Blick mit, der Priester stimmte die Psalmodie an, er wartete ungeduldig auf sein Buch, der Junge riß sich los und flog zum Altar, was für eine Schönheit, ich kann nicht mehr, schmolz Jean-Marie dahin, ergriffen von unterirdischen Wonnen und gab sich ihnen, unbeweglich in sich selber, rückhaltlos hin, ich bin nur zuckendes Fleisch, wie könnte ich hier leben ? Noch einmal die Augen, kein Zweifel mehr, oh mein Gott – der meine, nicht der ihre – wie können wir uns 71
wiederfinden ? Er geht weg und wirft einen Blick über die Schulter zu dem blonden Engel mit dem orangenfarbenen Heiligenschein, den man hier noch nie gesehen hat. »Na, was ist das für ein Verbrechen, das dich zum Schlafen in die Beichtstühle treibt ?« »Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen«, sagte Jean-Marie fehlerlos bis zum Ende seinen Spruch auf, »mea culpa«, und er suchte nach einer Idee und gewiß wird er ihm seine jüngste Sünde nicht beichten, »Pater, ich habe einen schuldigen Traum gehabt.« »Wegen einem Traum störst du uns ?« sagt der Priester ungehalten, aber die Kinder nehmen alles so ernst, beruhigte er sich. »Also.« »Seitdem kann ich mich nicht mehr vor meiner Mutter sehen lassen«, improvisierte der Sünder, »deshalb habe ich mich hierhin verkrochen …« »Ich frage mich nur, wie du durch eine geschlos sene Tür hast kriechen können, aber lassen wir das, was war das für ein Traum ?« »Ich. Ich habe geträumt, daß ich … äh, zu meiner Mutter ins Bett gehe …« »Ja. Und ?« Die wollens aber genau wissen, denkt Jean-Marie, und er fragt sich, ob er wie gewöhnlich seiner Phantasie freien Lauf lassen soll oder nicht. »Ich. Ich nahm die Stelle meines Vaters ein. Glaube ich.« Jean-Marie denkt an Anne-Violaine, deren ganze 72
Person einen solchen Traum unwahrscheinlich macht, und er gefällt sich in seiner perversen Phantasie. »Du solltest wissen, da du christlich erzogen worden bist, daß es Sünde nur gibt, wenn es ab sichtlich geschieht.« »Ja, aber jetzt kann ich ihr nicht mehr ins Gesicht sehen, ich sterbe vor Scham bei diesem Gedanken …« »Verjage ihn mit Gottes Hilfe. Wenn du seinen Namen anrufst, sobald dir dieser Gedanke kommt, muß er weichen. Mehr kann ich dir nicht sagen, ich kann dir nicht die Absolution erteilen für ei nen Traum, oder gab es Spuren ?« besann er sich, dogmatisch. »Ja«, stieß der Sünder in einem Atemzug dreist hervor. »Dafür fünf Paternoster und fünf Ave. Es liegt an dir, gegen deine schlechten Triebe anzukämpfen, die mir sehr frühreif zu sein scheinen, wie alt bist du denn ?« »Vierzehn«, log Jean-Marie um fast gut einein halb Jahre. »Und jetzt folge mir. Wir werden deine Eltern benachrichtigen. Wo wohnst du ?« »In Sceaux«, log Jean-Marie um etwa zehn Kilo metersteine und aufs Geratewohl. »Haben sie Telephon ?« »Nein«, log der Ausreißer wieder und geriet außer sich. 73
»Gut. Aber sie haben doch eine Adresse, nicht wahr ? Sie haben einen Namen ? Ich werde dich in unser Haus schicken, bis sie benachrichtigt sind. Baptiste, führen Sie ihn ins Waisenhaus.« Es war gerade Pause, ein Dutzend Kinder in grauen Kittelschürzen tummelte sich, wie man sagt, zwischen vier Kastanienbäumen und ein un geheuerer Blick unter der blonden Strähne empfing den neuen Waisenknaben, der sich plötzlich als der Erwählte eines wunderbaren Zufalls sah und nichts mehr bereute und seine Dummheit segnete. Ich liebe dich, dröhnte es in dem ganzen traurigen Hof, der von einer inneren Stille betroffen war. Was sind Mauern, die die Liebe der Engel Gottes einschließen – des meinen, nicht des ihren. Er hieß Manuel und ließ ihn nicht aus den Augen, sie saßen im Unterricht nebeneinander und ohne sich etwas zu sagen, ihre Körper berührten sich und der Strom ging wie ein Sturzbach durch sie hindurch, durch die Kleider die Luft die Stimme der Schwester durch die Stunden durch alles, der Tag verging in einer Sekunde von strahlender, kompakter Intensität, die keinen Platz ließ für einen einzigen Gedanken.
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»Siehst du, was ich dort unten am Ende des Weges sehe ? Sollten es etwa Milchtöpfe sein ?« »Gesegnet sei der Fuß, wir sind gerettet.« »Wir werden die Milch am Abend, bevor wir uns hinlegen, mit unserem Becher schöpfen, man kann dann besser schlafen, sagte meine Großmutter immer. Vor allem mit einem Apfel. Für die Äpfel müssen wir bis September warten, aber der kommt auch noch.« »Morgens in die Erdbeeren.« »Nachmittags shopping. Ich habe meine Liste. Auf dem neuesten Stand.« »Nicht nötig. Es ist verriegelt.« »Scheiße, ja, nichts zu machen. Die denken doch an alles.« »Sehr gut, wenn das so ist, werden wir sie in Flaschen klauen, wie das Wasser. Die Flaschen geben wir ihnen zurück.« »Wir melken die Kühe. Ich hoffe, sie haben die Kühe nicht auch verriegelt.« »Die Ziegen«, sagte Grâce. »Ziegenmilch ist noch besser. Einmal, als ich klein war, habe ich an einer Ziege getrunken. Das war sehr komisch. Ich hatte geglaubt, das wäre böse, etwas Verbotenes, weißt 75
du, wie etwas Sexuelles. Ich habe mich versteckt, um es zu tun, es war ein furchtbares Gefühl. Und eines Tages haben sie mich erwischt und sie haben das so lustig gefunden, so süß, sie wollten, daß ich weitermache, ich bin vor Scham fast gestorben … Ich begriff überhaupt nichts mehr, ich war so sicher, daß das böse war, weil es gut schmeckte … Das hatte ich damals nämlich bei der Moral begriffen: wenn es gut war, war es böse und schlecht.« »Na ja, du warst verdammt aufgeweckt, ich war das nicht, ich schwamm völlig in Gut und Böse, außerdem war alles böse, ich konnte tun, was ich wollte, es war immer das Falsche. Ich glaube, es war schon böse, daß ich existierte … Dabei habe ich eine Zeitlang wirklich versucht, ihnen zu ge fallen, Scheiße, wie dumm man doch sein kann, wenn man klein ist …« »Oh, ich war nicht schlauer als du, glaub das ja nicht, nichts war klar in meinem Kopf, ich hätte es nicht sagen können, das ist mir erst jetzt gekom men. Die Erleuchtung und wohlgemerkt: ohne zu fliegen … Weil ich mit dir zusammen bin, habe ich den Eindruck, daß ich alles sagen kann, mit dir zusammen sein ist wie fliegen !« schloß Grâce. »Dir kann ich sogar die geheimsten Dinge sa gen, die ich noch nie jemand gesagt habe«, und sie schwieg. »Komisch, ich denke zum ersten Mal wieder an diese Ziegengeschichte, ich hatte das völlig vergessen … Hinterher wollten sie, daß ich wieder 76
anfange, dieser Einfall erfüllte sie mit Freude, sie hatten es überall weitererzählt. Aber ich wollte nicht mehr. Selbst heimlich hatte ich keine Lust mehr, sie hatten mir alles verdorben. Ich schämte mich. Es ist die Art, wie sie gucken. Die Art, wie sie einen angucken, verstehst du ?« »Und ob ich verstehe, Mensch, alles Schöne, was mir passiert ist, haben sie mir verekelt, von meiner Mutter wollen wir erst gar nicht reden, aber sogar mein Vater, der mir angeblich alles durchgehen ließ, der nie da war, wenn man ihn brauchte, der es aber einzurichten wußte, mich zu ertappen, wenn«, der Mut fehlte ihr oder vielleicht die sagbaren Worte, »wenn er nicht sollte«, sagte sie und schimpfte sich feige, Scheiße, warum kann ich nicht über diese Dinge reden« und die Stimme blieb ihr weg, eingeschlossen von einem uneingestehbaren Bild. Grâce sah sie an. »Ja, sie sollten nicht da sein«, sagte Grâce, »das einzige, was ich damals wußte, war, daß man sich besser versteckt, um angenehme Dinge zu tun …« Grâce wurde rot, eingefangen von einer gleichen un eingestehbaren Erinnerung, »wie die Ziege beweist«, sagte sie hastig, aber zu spät, ihr Herz schlug laut, und sie erkannte die Vorzeichen, die wunderbare Maschine war in Fahrt gekommen, die sie früher mit einem heiligen Entsetzen »Die Versuchung« nannte und der sie nie hatte widerstehen können, bloß daß in diesem Augenblick statt ihrer selbst und ihrer eigenen vorausgewußten Lust Régina 77
vor ihr strahlte, Réginas Lust, Régina, die schwieg, die sie nicht anzusehen wagte, zu der sie nicht zu sprechen wagte, aber es war Régina, wie es schien, die den Puppenwagen schob und auf dem Sandweg, der weiter, durch den Wald führte, umdrehte und auf einen Pfad unter den Bäumen einbog, als beeilte sie sich, Régina entdeckte eine Lichtung, machte halt, mutige Régina, und erst da sahen sie sich an, strahlend an, und alles ging ohne Worte, ohne den Schatten eines Zweifels, in gegenseitiger Bewunderung in der hellen Sonne des Mittags, die die Lichtung überflutete, vor sich, sie stellten fest, daß das, was sie still geträumt hatten, wahr war, erfanden das, was sie nicht hatten träumen können, betrachteten einander unermüdlich, gerieten vor Lust in Verzückung, man kennt in diesem Alter keine Grenzen, plötzlich gab es keine Sonne mehr, sie schliefen, Geschlecht an Geschlecht, völlig einander verbunden, bereit vom Boden abzuheben, sie lachten, daß sie so vorausschauend gewesen waren. Mit eisigem Hintern. Sie erwärmten sich durch Streicheln und Liebkosungen, überrascht von dieser vollkommenen Form, die früher lächerlich gemacht und verleumdet worden war, stellten ihr Ansehen wieder her, die letzte Scham fiel ab, sie zersprang, du ziehst das Unwetter an. Jetzt war es der Mond. Sie gingen jetzt, wieder angezogen, von der Kälte und dem Nachttau aus ihrem Grasbett verjagt, sie küßten sich, leckten sich das Gesicht, die Hände, das zugängliche Fleisch, 78
und sie waren überhaupt nicht schläfrig. Was für ein Glück, daß sie fortgegangen waren, nie sonst, nie. Nie hätten sie gewußt, sie tanzten, drei Hasen stoben vor ihnen davon. Sie blieben stehen. Sie hatten nicht mehr daran gedacht, daß der Wald bewohnt ist. Gingen mit Samtschritten weiter und marschierten von nun an so. Später begegneten sie einem Reh, das den Weg überquerte, sie anschaute, ohne Hast weiterzog und sich fragte, was für Tiere das waren. In der Nacht hatten sie eine Vision. Ein dreijähriges Kind kam auf dem breiten Waldweg vorbei. Es hatte einen kleinen Stock und ging mit festem, rhythmi schem Schritt dahin, wobei es mit schriller Stimme skandierte: Nein ! ich gehe nicht rein, Nein ! ich gehe nicht rein, Nein ! ich gehe nicht rein. Es kam an ihnen vorbei, sie standen am Waldrand, es sah sich nicht nach ihnen um, schien sie überhaupt nicht zu sehen, und gleichmäßig auf die Erde stampfend fuhr es fort, Nein ! ich gehe nicht rein. Sie warteten, ins Gebüsch geduckt, auf die stür mische Ankunft einer aufgeregten Verwandtschaft. Nichts geschah. Das Kind versank in der Dunkelheit, am Ende der gradlinigen Baumallee, seine Stimme blieb hinter ihm, durchbohrte die Stille, wurde zum Schrei eines Nachtvogels. Sie blieben lange stehen, hörten ihr zu. Sie hatten einen Kobold gesehen. Oder sie hatten geträumt.
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Sie kamen nicht mehr aus diesem Wald heraus, sahen sein Ende nicht und suchten es auch nicht, da sie den Süden völlig verloren hatten, doch was heißt hier Süden, man ist, wo man ist, man kann sich nicht mehr verirren, diesmal wirklich nicht mehr. Die Sonne ging vor ihnen auf, als sie aus dem Wald traten. Die Augen betrachteten eine antike, grünende Landschaft mit obstbestandenen Hügeln und Wiesen, über die die Nebel zogen, die Wiese glitzerte, ein Bach floß unten dahin. Und keine Seele in Sicht. Ich wußte nicht, daß es so was noch gibt. Wie auf den Gemälden … Glaubst du, daß ich träume ? Ich auch. Unaufhörlich. Es ist wunderbar. Wir sind vielleicht in der Zeit zurückgegangen. Wir sind auf der Erde angekommen, der von vorher. Wir sind auf der Erde angekommen ! Welch ein Glück ! Wo ich schon so lange davon träume, diesen Planeten einmal zu besuchen, über den in den Büchern soviel erzählt wird … Ich schlage vor, wir träumen, daß wir trinken. Sie liefen den Abhang hinunter und auf dem Bauch liegend, tranken sie im Bach, ihre Münder berühr ten sich. Sie waren so versunken in diese doppelte Lust, daß sie nicht merkten, daß hinter ihnen drei Jungen vorbeikamen, die, als sie sie sahen, im Gänsemarsch durchs Gras gingen, am Bach entlang, im mer stromaufwärts. Paul trug eine selbstgebastelte Angelrute, von der sich noch kein Fisch hatte täu schen lassen und sie hatten einen leeren Bauch. 80
Die Mädchen träumten, daß sie sich im Bach wuschen, ein heroischer und eisiger Traum, sie rieben sich gegenseitig, galoppierten durch die Wiese, um sich aufzuwärmen und trafen eine weiße Ziege namens Elise, die träumte, daß sie zwei Zicklein waren.
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Manuel und Jean-Marie, der auf seine Bitte hin an der Frühmesse teilgenommen hatte, verschwanden zwischen der Sakristei und dem Waisenhaus, ohne Spuren zu hinterlassen und ohne daß die Schwester, die auf sie aufpassen sollte, erklären konnte, wie sie ihrer Wachsamkeit, die doch ohne Fehl und Tadel war, hatten entkommen können: vor ihrer Nase hatten sie sich an der Ecke des Impasse des Peaussiers verflüchtigt. Es gab dort nur den Kurz warenladen der Schwestern Jouarre, der um die se Zeit geschlossen war und das Hotel Duthiers, dessen Mauer mit Glasscherben gespickt war. Das kleine Zimmermädchen Fidelia schob, noch ganz verschlafen, den Riegel zurück und niemand hatte sie gesehen oder sah sie später. Man sah auch Lucrèce nicht mehr, die Nichte der Duthiers. Diese Dreizehnjährige war nach dem, was man schamhaft eine »Krankheit« nannte, ins Grüne gebracht worden. Die Duthiers wunderten sich nicht allzu sehr. Lucrèces Grillen waren be kannt, es war vorauszusehen, daß sie das Leben in der Verbannung in G. nicht lange ertragen würde. Sie telephonierten nach Paris. Sie war nicht zu ihren Eltern heimgekehrt. 82
Als sie von der doppelten Flucht aus dem Wai senhaus hörten, fragten sie sich. Aber die Jungen, vierzehn und elf Jahre alt, waren für Lucrèces Ge schmack etwas zu jung. Es sei denn, sie hätte sich auf Grund der Elektroschocks geändert.
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Über Grâce und Régina, die in einem Zimmer aus Laub nackt in der Sonne lagen, flog ein Eichhörnchen mit aufgestelltem Schwanz hinweg. Ein Specht kletterte um seinen Baum herum, pick, pick, pick, pick pick. Niemand kümmerte sich um sie, die in schweigender Anbetung verharrten, und gewiß hatten sie sogar den Geruch der kleidertragenden Spezies verloren, denn das Eichhörnchen, das von seinem Baum herabgekommen war, stöberte neben ihnen im Laub herum und warf einige mit Erde vermischte Blätter auf sie, wovon sie kein Aufhebens machten. Sie dachten, daß sie nie mehr zu den Menschen zurückkehren könnten, nie mehr dort leben könn ten, wo man sich zusammennehmen muß und nicht antworten darf, sie konnten das nicht mehr, es war zu spät, sie waren völlig verloren für die Welt, Adieu, wir sind Wilde geworden. Nein, Zivilisierte. Ein Geräusch von zertretenen Blättern drang zu ihnen, näherte sich, und ins Gebüsch geduckt sahen sie eine, soweit sie unterscheiden konnten, gemischte Gruppe, Leute in ihrem Alter ungefähr, die vorübergingen, einer mit einem Pfadfindertuch, oder eine, einer oder eine mit einem Stock, der oder 84
die andere mit einem eher schlaffen Rucksack, der nächste oder auch die mit einem völlig verwelkten Blumenstrauß, der letzte hinkte hinterher, das gan ze recht unkriegerisch, niemand sprach, sie verloren sich in den Hainbuchenhecken. Der Rückzug der Scharfsinnigen Mangusten, sagte Grâce, sie haben sich die Reste des Patrouillenführers geteilt, den sie aufgefressen haben, sagte Régina. Wie lange, sagte Grâce, ist es eigentlich her … Zweige knackten vorn, und dort oben im Geäst erschien das verblüffte, ins Scharlachrot spielende Gesicht des oder derjenigen mit dem Halstuch, den Blick direkt auf sie gerichtet, und verschwand, das Geräusch von zerbrochenem Holz zeugte von einem schnellen Abstieg oder einem Fall vielleicht, mit erstickten Ausrufen, dem Rascheln von Blättern, das sich sehr schnell entfernte, hoffentlich wird ihnen das eine Lehre sein, sagte Régina, ich bin nicht mal rot geworden, sagte Grâce, ich erkenne mich wirklich nicht wieder, aber ich erkenne dich, sagte Régina, du bist dieselbe, nur aufgeblüht. Sie wanderten nicht schnell weiter. Sie schliefen in einer Sandgrube und hielten sich um den Hals gefaßt und als Grâce, von einem Atem gestört, die Augen aufmachte, sah sie in zwei andere, gelbe Augen in einem Gesicht voller grauer, unordentlicher Haare, das einen Zentimeter von dem Ihren entfernt war, sie wagte nicht die gering ste Bewegung zu machen, aus Angst, den Zorn des Ungeheuers hervorzurufen, das schließlich 85
ein Hund war. Er wedelte mit dem Schwanz, ent zückt über seinen Fund. Ein Jagdhund, er hält uns für Hasen, das ist ja furchtbar. Und der Jäger ist sicher nicht weit. Der Hund stieß einen kleinen Freudenschrei aus, ließ plötzlich von ihnen ab und galoppierte los, komm, wir hauen ab, sagte Grâce und weckte Régina, die in einem Schlaf ohne Alp traum steckte, ein Jäger hat uns aufgestöbert, zu spät. Es war eine Frau, ohne Gewehr, mit einem großen, braunen Umhang, neben ihr der Hund, sie blieb einige Schritte von ihnen entfernt stehen und betrachtete sie, zwei Vögelchen voller Schlaf und Furcht. »Möchtet ihr vielleicht etwas Milch«, fragte sie. »Wir haben uns verirrt«, sagte Grâce, deren unmittelbare Neigung die verlogene strategische Improvisation war. »Ich habe euch nur Milch angeboten.« Sie hielt einen Tontopf hoch und lächelte. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Chardon Bleu ist an Kinder gewöhnt«, sagte die Frau. Sie war groß und braun gebrannt. Sie standen auf. Régina hielt Chardon Bleu die offene Hand hin, sie fragte die Hunde vorher immer um Erlaubnis. Er sagte ja. Sie strei chelte ihn. »Und ich habe dich für einen Jagdhund gehalten.« »Das bestimmt nicht«, sagte die Frau. »Eigentlich ist er ein Schäferhund.« Sie schmeichelte ihm. 86
»Gut, Chardon Bleu, bist ein sehr hübsches Tier.« Sie tranken gierig aus dem Topf, die Milch war sahnig, dick. Köstlich. »Dieser Weg stößt etwas weiter unten auf die Landstraße«, sagte die Frau. »Doch wenn ihr Lust auf warmen Kaffee habt, könnt ihr bei mir haltma chen, ich werde euch welchen kochen. Dort, seht ihr ?« und sie ging weg und ließ sie stehen, ohne sich umzudrehen, während Chardon Bleu um sie herumsprang. »Dieses Haus stand gestern noch nicht da«, sagte Régina, »oder ich schlafe noch.« »Heißer Kaffee … darauf bin ich ganz scharf. Aber wenn es eine Falle ist ?« »Es ist keine Falle, es ist ein Traum«, sagte Régina. »Ich spüre, daß ich ganz und gar träume.« Als sie näherkamen, trat ein Mädchen aus dem Haus, stieg auf ein Fahrrad und fuhr dem Weg entgegen. Sie trug eine blaue Jacke. »Weißt du, das ist eine ziemlich alltägliche Far be«, sagte Grâce. »Wenn ich wirklich träume, ist sie es«, sagte Régina. »Guten Tag, kannst du uns sagen, wo der Süden ist ?« »Dort«, sagte Louise und zeigte in die Richtung. Einen Augenblick sahen sie sich an, zögernd, schließlich fuhr Louise davon, in die angegebene Richtung. Drehte sich um. Diese Mädchen hatten etwas Wunderliches an sich, und sie hatte sie schon 87
irgendwo gesehen. Aber wo ? Sie hätte mit ihnen sprechen sollen. Aber sie hatte es verdammt eilig. »Wir träumen also«, sagte Régina. Scheiße, die Kutsche. Man hatte sie stehen lassen. Sie kehrten in die Sandgrube zurück. Dort hiel ten sie sich im Gebüsch auf, schauten sich genüß lich zu, wie sie die Erde düngten, ein neuer Tag, der anhebt, gesegnet sei das Leben, in allen seinen Formen, sie fühlten sich verdammt stark. Alle ihre Energien an der Oberfläche, schnaubende Pferde, bereit zu dienen. Ich werde dem Wald einen Altar errichten, sagte Grâce. Der Nacht. Allem. Régina ! Schau ! Da war schon einer.
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»Ich brauche ihn nur noch aufzuwärmen«, sagte die Frau, »ich heiße Marta.« Sagte Marta. Sie grinste, als sie sie anschaute, Gott, sie weiß Bescheid, dachte Régina, das sieht man uns bestimmt an, vielleicht steht es auf unserer Stirn geschrieben. Sie sah Grâce an, es stand ihr auf der Stirn geschrieben. »Ich bin Régina«, sagte sie. »Und Wassermann«, sagte Marta. Richtig, 22. Januar. »Ich bin Grâce«, sagte Grâce ein wenig bedau ernd, sie erfand lieber. Brot ! Sie tunkte die große Graubrotschnitte tief in die Kaffeeschale und ver schlang sie mit drei Bissen. »Zwillinge oder Krebs ?« »22. Juni.« »Fast die beiden Seiten des Himmels. Ich habe den Eindruck, daß ihr zu ein paar Eiern nicht nein sagen würdet. Ich habe auch ein Stück Obstkuchen …« Es war ein Bauernhaus, gefliester Boden, ge kalkte Wände, geschwärzte Balken, Töpfe an den Wänden, Feuer im Kamin, unter einem Kochtopf. Alles wie gewöhnlich, außer Marta, einer Städterin in einem langen bäuerlichen Kleid. Wir haben 89
die schönen Fliesen voller Sand gemacht, sagte Grâce, ich werde kehren. Die Besen stehen dort in der Abstellkammer, sagte Marta. Régina ging die Tassen waschen, weil man es nicht von ihr verlangt hatte. Und es macht mehr Spaß, wenn es schön ist. Es war sogar warmes Wasser da. »Das ist ein Traumhaus«, sagte Régina. »Ach, hast du das gemerkt«, sagte Marta. Die sprachlose Grâce schwankte zwischen elf Besen. Sie sah Marta verstohlen an, Marta zer stampfte etwas in einem Mörser. Das ist Knoblauch, sagte sie zu Grâce, die nichts gesagt hatte, vertreibt alle Krankheiten. »Ich glaube, ich träume«, sagte Régina ganz laut, um ihre eigene Stimme zu hören, und sie hörte sie. »Ich auch«, rief Grâce. »Die ganze Zeit schon ! Ich kann es einfach nicht glauben. Außer, daß ich keinen Hunger mehr habe, das heißt, ich träume, daß ich keinen Hunger mehr habe, das ist ganz praktisch.« »Glauben Sie, daß wir Sie auch träumen ?« sagte Régina ein wenig ängstlich. »Es ist ein großer Traum«, sagte Marta, »in dem viele Leute vorkommen, die einander träumen.« »Und Häuser«, sagte Régina. »Es war gestern nicht da.« »Morgen wird es anderswo sein«, sagte Marta ruhig. »In den Wäldern ?« 90
»Nicht unbedingt. In den Bergen, in der Heide. Auf den hohen Hügeln und unter den grünen Bäumen. An Orten, die heute niemanden interessieren. Vor allem, wenn ihr nach Süden geht, werdet ihr das unterwegs sehen.« »Woher wissen Sie ?« sagte Grâce. »Die Träume gehen immer nach Süden«, sagte Marta. »Ich bin noch keinem Traum begegnet, der nach Norden geht. Gewiß, manche gehen zuerst nach Westen, um schneller am Meer zu sein, denn die Träume gehen ans Meer, und das Meer ist voll von ihnen. Aber sobald sie am Meer angekommen sind, wenden sich die Westträume nach links.« »Machen sie die Runde ?« sagte Régina. »Bis zum Süden«, sagte Marta. »Sie gehen dem Sommer entgegen !« sagte Grâce. »Genau«, sagte Marta. »Aber das hat mit den Umständen zu tun. Auch Winterträume können wunderbar sein, leider halten sie sich in unserer Zeit nicht lange, es wird ihnen kalt, und was meint ihr zu den Frühlingsträumen ?« »Ach ja«, rief Régina. »Sie sind ausgesprochen köstlich. Wir haben ihnen sogar Altäre errichtet.« »Aber manchmal ist es nachts etwas frisch, sie bräuchten eine Decke«, sagte Grâce. »Oh, wenn es weiter nichts ist«, sagte Marta und machte einen Wandschrank auf. »Da !« rief sie, »nehmt sie mit, ihr habt ja einen Wagen.« 91
»Es ist absolut sicher, daß wir träumen«, sagte Grâce und rieb ihre Wange an der Wolle, »diesmal gibt es keinen Zweifel mehr.« »Woher wußten Sie ?« sagte Régina. »Aber unter Träumen erkennt man sich doch. Träume sind glücklich«, sagte Marta, »ihre Energien sind nicht gebunden, versteht ihr ? Man wird nicht so in die Wirklichkeit losgelassen. Oder sie würde zerspringen. Peng, von einem Tag zum andern.« »Und was würde dann passieren ?« sagte Régina, keuchend. »Dann würde alles zum Traum werden«, sagte Marta. Régina brach in Tränen aus. Es war das erste Mal. Vielleicht nicht in meinem Leben, ich habe sicherlich geweint, als ich ein Baby war, wie jeder, auf jeden Fall, als ich auf die Welt gekommen bin, daran kann ich mich erinnern, aber seither, nicht daß ich wüßte, ach, tut das gut, sagte sie, ich fange gleich wieder an … wirklich, alles kommt in diesen Zeiten heraus, und sie lachte unter Tränen hindurch. Was für ein Traum, ach, was für ein Traum, nie habe ich einen Traum gehabt, der so … so … weißt du auch, Grâce ? sie richtete sich auf, weißt du auch, daß ich keinen einzigen Alptraum mehr gehabt habe, seit … seit … sie sah Marta an, alle drei brachen in Lachen aus, das Lachen ver längerte sich als Echo bis zur offenen Tür, hinter 92
der drei Frauen standen, die ebenfalls lachten. Sie trugen große Einkaufstaschen. Ein Sechsjähriger und Chardon Bleu stürzten einander in die Arme, außer sich vor Freude. »Bei Lulu sind die Schwalben angekommen, deshalb haben wir uns mächtig verspätet. Der dicke Tiénot wollte die Nester herunterholen, wir haben uns fast geschlagen.« »Zum Glück waren wir drei gegen einen.« »Aber was hat er denn gegen sie ?« sagte Marta. »Das macht Dreck, sagt er.« »Er ? Das ist wohl ein Witz. Außerdem liefern sie ihm Dung.« »Er wirft seinen Mist weg und verwendet Kunstdünger, wie sie so schön sagen. Ich hatte zurück gehen müssen, um das Buch zu holen und ihm vorzulesen, was sie fressen, das Gewicht der Fliegen pro Tag und alles. Ausgerechnet wir müssen jetzt den Bauern beibringen, was Natur ist, man hat ihnen das Gehirn ausgewaschen. Sie wissen über haupt nichts mehr.« »Ein Geschlecht, das gerade ausgerottet wird und sie wissen sich nicht einmal zu wehren. Sie sagen Danke Herr Vernichter, Sie sind zu gütig.« »Aber du weißt doch, Laure, die Ausgerotteten wissen sich nie zu wehren. Sobald es anfängt, haben sie das Gefühl, überflüssig zu sein.« »Das ist das entsetzlichste Mysterium, das ich kenne, es läuft mir kalt über den Rücken, Benoîte, sei still.« 93
»Aber Laure, wenn ich zu dir sage: du bist über flüssig, was empfindest du dabei ?« »Ich stopfe dir das Maul. Du hast recht, ich mache mich klein und schäme mich.« »Dabei habe ich keinen Bulldozer, auf dem Fortschritt geschrieben steht. Sie kommen mit ihren Panzern an: Platz da, ihr Erdärsche, ihr seid veraltet, seht ihr denn nicht, daß ihr nicht mehr in die Landschaft paßt, daß ihr ein Schandfleck in ihr seid ? Sie schämen sich und wollen sterben. Sie werfen ihren Misthaufen weg und lassen sich Kunstdünger andrehen. Sie reißen ihre Hecken nieder. Sie schlachten ihre Milchkühe ab, um in Ferien fahren zu können. In ein Camping-Lager. Sie krepieren, Requiem. Scheiße !« »Und wir kümmern uns unterdessen um fünf Schwalben.« »Ja und ? Kannst du dir vorstellen, Flo, daß es keine Schwalben mehr gibt ?« »Das Ende der Geschichte, bitte, ich will wissen, wie das ausging«, sagte Marta. »Die Schwalben.« »Wir haben erreicht, daß sie begnadigt wurden. Wenigstens Lulu hat begriffen, die Frauen auf dem Land sind doch wachsamer geblieben.« »Ihnen hat man das Gehirn nicht waschen kön nen, weil sie keins haben.« »Genau. Sie hat zu Tiénot gesagt: du wirst mir diese Nester nicht anrühren, du hast Madame Benoîte gehört, außerdem bringen sie Glück ins Haus.« 94
»Siehst du, was die Schwalben gerettet hat ?« sagte Laure. »Der Aberglaube. Lustig.« »Was heißt hier Aberglaube«, sagte Marta. »Die Schwalben bringen wirklich Glück, das steht sogar in deinem Buch, außerdem singen sie, sind schön, sie fliegen, sie machen den Frühling, was brauchst du noch mehr zum Glück ? Aberglaube ist das Wort, das lächerlich macht, das weißt du doch. Alles hat einen Sinn.« »Ja, danke, tröste mich.« »Man muß sich stets vor der Moral in acht nehmen«, sagte Marta. »Ich sehe, Félix ist zurückgekommen«. Er schlug auf einen Meißel und schnitzte etwas in die Tür, das ziemlich genau einem Kind mit einem Hund glich. »Sie haben mich zurückgebracht«, sagte Félix empört. »Sie haben ihn MIR zurückgebracht«, sagte Benoîte. »Obgleich er drei Mütter hat, bin ich die einzige biologische, und die legitime Eigentümerin. Mit der Warnung, in Zukunft besser auf ihn aufzupassen, und wo ist sein Vater ? Er hat keinen, ach so, nun verstanden sie alles, ein Grund mehr, ihn streng zu halten, Madame.« »Aber ich gehe nicht rein«, sagte Félix. »Natürlich nicht, mein Herz«, sagte Florence, »wir wollen ja nicht, daß du alles wieder verlernst.« 95
»Ich habe unterschreiben müssen, daß ich ihn zu Hause unterrichten werde, aber ich weiß nichts …« »Ich habe keine Zeit, um mich zu bilden«, sagte Félix, »ich muß mein Schiff bauen, um den Aalen zu folgen.« »Im Sargassomeer«, sagte Benoîte. »Wo hast du denn diese beiden Prachtstücke gefunden, Marta ?« »Das sind Träume«, sagte Marta. »Ich bin auch einer, falls du das nicht gewußt haben solltest.« »Ich wußte es schon, ich merke es täglich.« »Ich bin kein Traum«, sagte Félix. »Ein Kind, das nicht in die Schule zu gehen braucht, kann nur ein völliger Traum sein«, sagte Grâce. »Genau«, sagte die biologische Mutter, »übri gens habe ich ihn in einem Traum gemacht, wenn ich es recht überlege. Aber ein hübscher Traum, glaub mir, ich darf ihn schließlich auch nicht traumatisieren.« »Ach«, sagte Félix meditierend. »Wir haben einen andern Traum gesehen, der nachts ganz allein durch den Wald ging, er muß so um die drei Jahre alt gewesen sein.« »Nein ? Also immer früher ? Seid ihr sicher ?« sagte Laure. »Ich schwöre Ihnen, daß ich ihn geträumt habe«, sagte Grâce. »Er sagte: Nein, ich gehe nicht rein.« »Wenn ich mal eins mache«, sagte Laure, »ich glaube, das melde ich erst gar nicht auf dem Stan 96
desamt an, so machen sie es in Amerika, damit sie nicht in den Krieg müssen.« »Optimisten, wie ?« »Aber könnte ich da trotzdem zum Sargasso meer ?« fragte Félix besorgt. »Viel leichter«, sagte Marta. »Träume haben keine Grenzen.« »Ja, das ist wahr«, sagte Grâce, »welch ein Glück.« »Kann ich mir das Gesicht waschen ?« fragte Régina ganz leise Marta, »es brennt mich.« »Und die Füße ?« sagte Grâce ganz leise. »Ja, ihr habt recht«, sagte Marta und sah sie an, »ihr könntet eigentlich duschen, wenn euch das Spaß macht.« Es machte ihnen Spaß. »Ich glaube, wir müssen jetzt gehen«, sagte Régina, »sonst, sonst wird es zu spät.« »Das fürchte ich auch«, sagte Marta, »man soll te das besser nicht verschieben, das lähmt nur. Trinken wir zum Abschied einen Zitronensaft«, sagte sie, »den Träumen fehlt es oft an Vitaminen, wie ich festgestellt habe.« »Und vergeßt nicht: der markierte Weg, hinter der Stadt. Auf der D 40.« »Vergeßt nicht Oste !« »Gute Reise, Félix.« »Wir werden uns dort treffen«, sagte Félix ruhig und flocht einen Korb. 97
»Auf Wiedersehen, ihr schönen Träume«, und sechsmal geküßt, Chardon Bleu mitgerechnet, brachen sie auf, den grünenden Puppenwagen schiebend. »Sind sie nicht wie Bilder ?« sagte Marta. »Der griechische Hirtenjunge und der florentinische Page.« »Du hast die Finger gekreuzt, Marta, ich hab es gesehen. Hast du Angst ?« »Nie sind die Kinder so schön gewesen«, sagte Laure. »Die Träume, meine ich. Ich habe gestern auf dem Markt einem aus der Patsche geholfen, er war von unglaublicher Schönheit. Ein Kerl hatte ihn klauen sehen, ich wußte es, er wartete nur darauf, daß er an der Kasse durchgeht, um sich auf ihn zu stürzen. Als meine Waren gedrückt waren, habe ich gesagt: und die Schokolade, die mein Sohn genommen hat. Ich wirkte zwar sehr jung als Mutter, er war so um die dreizehn. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, sonst hätte ich ihn mitgebracht.« »Ich lasse mich nie schnappen«, sagte Félix. »Du bist ein gut erzogenes Kind«, sagte Flo. »Natürlich habe ich Angst«, sagte Marta.
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In der Zeitung, die draußen vor dem Tabakladen in einem Stapel auf einem Stuhl lag, stand in gro ßen Lettern: MÄDCHEN VERSCHWUNDEN: EINE SPUR
der CEG haben bisher Mitschülerinnen schwarzen Entführer als mittlerer zu Fuß mit rötlichem aber Hoffnung nicht weit die Frage ist erlaubt, las Grâce um das Stück Blei herum. Das sind wir ! Wir müssen sie haben, schau hinter dich, alles frei, sagte Régina und Grâce angelte mit leichter Hand aus der allein gelassenen Holzschale ein Geldstück, mit dem sie legal die Zeitung bei dem Händler kaufen konnte, der an der Theke stand und seinen Durst löschte. Danach fiel ihnen ein, daß sie zwei Geldstücke hätten nehmen können, wenn das so einfach war, aber zu spät. Auf jeden Fall haben wir jetzt genug, um uns mindestens drei Tage über Wasser zu halten, sagte Régina. Und ganz biologisch. Die Kutsche glich einem Gemüsekarren. Kohl, Karotten, Radieschen, Zitronen, Knoblauch, grüne Zwiebel, Salat, sie quoll über vor Grünzeug und einem Graubrot. Die Traumdecke war darunter, schön zusammengefaltet. Brave Kutsche. Geniale Kutsche, 99
du Geschenk des Zufalls, du zeigst einen anderen Zipfel deiner sublimen Natur. »Ich will Salz und Butter zu den Radieschen. Wenn man schon träumt, warum sich etwas versa gen ?« Grâce mit der leichten Hand schlüpfte zwi schen den Regalen hindurch. Régina blieb draußen, man konnte nicht mit einer Gemüseauslage in die Geschäfte gehen. Während sie wartete, sah Régina zwei völlig gleiche Kinder vorbeigehen, die sich bei der Hand hielten, Mädchen oder Jungen oder von jedem eines konnte man nicht erkennen, nur die Pullover un terschieden sich. Auch der Blick war der gleiche, in einen inneren Traum verloren, dachte Régina, ein Traum, Scheiße, ein Traum. Ein doppelter Traum, sie lachte innerlich und ein wenig draußen, drei Mädchen drehten sich nach ihr um, sahen den Gemüse-Puppenwagen und zeigten einen unleser lichen Ausdruck, Verachtung oder Neid ? Régina hätte ihnen gern gesagt, daß sie nicht waren, nicht sie waren, traute sich aber nicht, da sie nicht wußte, was sie selber waren, und sie gingen weiter. Ich habe einen doppelten Traum gesehen. Vielleicht werde ich paranoisch, ich glaube, daß alle Welt so ist wie wir … Grâce hatte ein Messer, das ihr in die Hand gefallen war. Jetzt können wir unsere Stullen mit Butter bestreichen. Aber Salz, nichts zu machen ! Nur kiloweise. Die Verkäuferin an der Kasse hat mich komischerweise nach nichts gefragt, ich glau 100
be, sie hat so getan, als glaube sie, ich sei bei der Frau vor mir. Oder ich bin unsichtbar … Warum kugelst du dich ? Weil das einen großartigen Eindruck macht, dich mit MÄDCHEN VERSCHWUNDEN unterm Arm als Aushängeschild herumlaufen zu sehen. Ja was denn, wir sind doch nicht verschwunden, wir sind da, sagte Grâce. Also können sie nicht wissen, daß wir es sind. Trotzdem faltete sie die Zeitung nach der anderen Seite zusammen. Ich habe eine furchtbare Neigung, die Wirklichkeit zu vergessen, sagte sie. Ich bin glücklich, ich glaube, sie ist schon zersprungen … Ich bin noch glücklicher als zu Anfang. Ich werde jeden Tag glücklicher. Pst. Vorsicht. Wir dürfen es nicht zeigen, das wür de uns verraten. In der Wirklichkeit ist es schlecht, glücklich zu sein. Die Leute, denen das zufällig passiert, werden rot vor Scham, und sie verstecken sich tief in den Wäldern, die so sehr den unseren gleichen. Aber warum ist das so in der Wirklichkeit, oh liebe Frau Professor Réginaldski ? Wir sind nur als Beobachterinnen hier, liebe Kollegin Gracianapoula, wir gehören nicht zur Wirklichkeit. Sehen Sie diese große Person an der Hand einer kleinen Person, die doch ganz allein gehen könnte: sie ist gerade dabei, die kleine daran zu hindern, glücklich zu sein. Sehen Sie doch nur, wie die kleine Person versucht, sich von der mächtigen Faust los zumachen, sie will entfliehen, sie schaut anderswo 101
hin, schon ist’s passiert, sie ist aufs Gesicht gefallen, das mußte ja so kommen, sie ging außerhalb der Wirklichkeit. Oh, die große hat sie geschlagen, weil sie ge fallen ist, seltsam, ich vermag die Sitten dieses Volkes nicht zu durchschauen, Frau Professor Réginakatiki. Ich glaube, daß sie uns erkannt hat. Sie gehört insgeheim zu unserem Volk. Die große hält sie mit Gewalt gefangen. Sie hat zu ihr gesagt: schau doch, wo du hintrittst, es ist, als ob ich sie gehört hätte. Und sie wird nicht hinschauen, und eines Tages werden ihre Füße sie wegführen und sie wird zum Traum werden … träumte Régina. Und der dort drüben, der die Bäckerei gegenüber betrachtet. Ich bin sicher, daß er auch einer ist. Er ist so schön. Möge ihm das Brot gebacken in den Mund fliegen. Oh, da sind ja die Hüter der Wirklichkeit, machen wir schnell unglückliche Gesichter, wein schon, armes Kind, sagte Régina zu der Puppe, die im Salat lag, wenn du wüßtest, was dich erwartet, würdest du noch lauter weinen. Mein Baby lutscht immer noch am Daumen, ich bin verzweifelt, Madame. Streichen Sie ihm doch Senf drauf. Leider mag es das. Oder Brechwurz, schmeckt sehr schlecht. Auch das mag es, ein rechtes Unglück. 102
Ihr Baby mag zuviele Dinge, es läuft Gefahr, spä ter einmal glücklich zu werden, das ist entsetzlich, Sie müssen ihm öfters den Hintern versohlen. Kommt nicht in Frage, Madame, Hintern sind nicht dazu da, um drauf zu hauen, sagte Grâce, nachdem die Hüter ohne den Schatten eines Verdachts an den kleinen Müttern vorbeigegan gen waren. Ich schlage vor, daß wir von diesem Barbarenplaneten verschwinden und in unsere unwirklichen Wälder zurückkehren, ich habe Heimweh. Auf der D 40 gab es keine Wälder, aber Autos, sie setzten sich hinter eine Hecke, um ihr Abendmahl einzunehmen und ihre Zeitung zu lesen, solange es noch hell war. Claire M. und Isabelle R. 12 Jahre alt, die am 14. nach Schulschluß der CEG von Saint Firmin verschwunden sind, konnten bisher noch nicht aufgefunden werden, las Grâce. Das sind wir nicht. Dennoch besitzt die Polizei jetzt gewisse Hinweise, die geeignet sind, die Suche in eine Richtung zu lenken, die zu gewissen Hoffnungen berechtigt, Scheiße, so ein geschraubter Stil, die Mitschülerinnen der beiden Mädchen, die in die Fünfte Klasse gehen, also Zeitgenossen, was, haben bei der Polizei nämlich ausgesagt, daß sie in der Nähe des Schulgebäudes mehrmals einen schwarzen DS parken sahen. Claire und Isabelle sollen dabei gesehen worden sein, wie sie sich mit dem Fahrer 103
unterhalten haben, was die Hypothese zuließe, daß sie ihren eventuellen Entführer gekannt haben. Es soll sich um einen Mann mit rötlichem Teint und hellen oder ergrauenden Haaren handeln, die Kinder hatten darüber keine genauen Angaben machen können, haha, den sie für Isabelles Vater hielten, wie aus den Worten der beiden Mädchen hervorgegangen sein soll. Allerdings besitzt dieser keinen schwarzen DS , sondern einen blauen 504 und außerdem holte er seine Tochter nie an der Schule ab, weil er um diese Zeit seiner Arbeit als mittlerer Angestellter in einer großen Gesellschaft nachging. Gewöhnlich geht Isabelle zu Fuß durch die Avenue Charles-de-Gaulle nach Hause, und zwar in Begleitung von Ciaire, die im selben Häuser block, dem Bois Joli, wohnt. Die beiden Mädchen machten ihre Schulaufgaben häufig gemeinsam bei Isabelles Mutter. Eine genauere Beschreibung des Mannes mit dem schwarzen DS liegt leider nicht vor, doch ist die Frage erlaubt, Fortsetzung auf Seite 5, warte, da, ob es keinen Zusammenhang gibt zwischen dieser neuen Affäre und dem Fall der dreizehn jährigen Anaïs, die drei Tage zuvor mit ihrem zehnjährigen Bruder unter ähnlichen Umständen verschwunden ist, Umstände, die übrigens an das nie aufgeklärte Geheimnis von Abelines erinnern, die klären doch nie was auf. In diesem Fall nun be sitzt man das Roboter-Porträt eines Verdächtigen, das nach der Beschreibung einer Schulfreundin 104
Anaïs’ hergestellt wurde, die die beiden angeblich zusammen gesehen hat. Es handelt sich um einen blonden, korpulenten Mann, der Kool rauchte und Zeugenaussagen zufolge ein Geschäftsmann zu sein scheint, eher lustig, dieser GeschäftsmannEntführer, wie uns Kommissar Eblouy erklärte, sind vor den Schulgebäuden der gesamten Region Überwachungsanlagen installiert worden. Die Su che wird allerdings aller Wahrscheinlichkeit nach auf nationaler Ebene zentral geführt werden, da die Zahl der grundlos und unter geheimnisvollen Umständen verschwundenen Kinder ständig steigt. Diese Zahl, was für eine Zahl ? enthält übrigens auch die Ausreißer, wie etwa in Toissy, Le Bésilet, Cherres, Atony, sieh an, da sind wir ja endlich, wir nehmen aber einen bescheidenen Platz ein, Bréteil und die acht aus Gèvres, Scheiße, acht auf einen Schlag, das ist genial, dasselbe Phänomen scheint jetzt auch die Provinz heimzusuchen. Der Wald von Saint-Firmin ist ergebnislos durchgekämmt worden. Man hofft nach wie vor, die Kinder lebend wiederzufinden, obgleich die Tatsache, daß bisher kein Lösegeld gefordert worden ist, keinen Anlaß zu Optimismus gibt. Isabelles und Claires Eltern, die seit dem verhängnisvollen Tag Stunden der Angst durchleben, haben wissen lassen bla bla bla bla würden die Klage zurückziehen, wenn man ihnen die Kinder gesund und wohlbehalten zurückgeben würde bla. Wir waren so glücklich, hat Madame M. gesagt. Claire war unser Sonnenschein, die hat 105
sich bestimmt schief gelacht, du, sag mal, Stil fünf bis sechs, der Kerl. Wie ich unser Volk kenne, sagte Régina nachdenk lich, ist dieser Kerl im schwarzen DS ganz schön ausgeschmückt. Der Kool rauchende Geschäftsmann-Entführer ist auch nicht schlecht, ganz offensichtlich der selbe … ein Roboter-Porträt von dem dummen Armleuchter, die sind schwer auf Draht in SaintFirmin, die Polizei wird Mühe haben, die Kleinen in der Menge wiederzufinden … Unser Volk ist genial. Ich werde ihm einen Altar errichten. Mensch, da sind schon andere … Sei still, ich wage nicht daran zu glauben. Ich träume, das ist ganz klar. Aber sie auch. Alles würde Traum werden … Ich fange wieder zu heulen an, sagte Régina. Das ist mein Sesamöffne-dich, sie weinte ein wenig an Grâces Schulter. Erinnerst du dich noch an die Pfadfinder im Wald ? Und der Doppeltraum … Und der Dreijährige … Und die Blaujacke. Und wer hat einen Altar errichtet ? Und der Prachtjunge vor der Bäckerei … Und Marta, die sagte: die Träume gehen nach Süden … Aber manche gehen nach Westen … 106
Ich kann einfach nicht mehr, vor lauter Denken platzt mir noch der Kopf. Warte, noch nicht: und Chardon Bleu ! Er hat uns bewußt gesucht. So, jetzt haben wir’s: mein Kopf ist geplatzt. Hoffentlich finden sie die Häuser ! In den Bergen, auf den Hügeln, unter den grünen Bäumen ! Vom Süden bis zum Westen und sogar im Norden ! Such, Chardon Bleu ! Such, Chardon Bleu ! rief Régina so laut sie konnte zum Himmel hinauf. An alle Chardons Bleus in allen Himmelsrichtungen ! Die gegenwärtigen und die zukünftigen ! trompetete Grâce stehend, die Hände zu einer Muschel geformt. Lauft durch die Wälder ! Durch die Ebenen und die Sierras und die Pampas und die Steppen ! Sucht die fahrenden Träume, brüllte Régina, aufgerichtet, beschwörend. An alle Martas, Laures, Flores, Benoîtes ! Gebt ihnen Brot ! Vollkornbrot ! Und Gemüse. Biologisches ! Und Vitamin C ! A B C D E F G K ! Gebt ihnen das ganze Alphabet ! Gebt ihnen Duschen ! Scheiße, sie haben uns gehört. Die Nacht brach über sie herein, plötzlich 107
und schwarz, mit Blitzen und Donnern und einem großen plötzlichen Regen, den sie sich zuerst ge genseitig aus der hohlen Hand tranken. Danke, wir haben keinen Durst mehr, sagte Grâce, ihr könnt zudrehen. Sie hören nicht, weil sie zuviel Lärm machen. He, wir haben heute morgen schon einmal ge duscht, wir sind vollkommen sauber ! Aber wenn ihr darauf besteht, sie zog hastig ihre Kleider aus, so werden sie nicht naß. Wirklich eine seltene Sitte, bei Regen angezogen nach draußen zu gehen, sagte Grâce und tat das gleiche. Nachdem die zu einer Kugel zusammengerollten Kleider unter dem Dach des Puppenwagens lagen, gesegnet sei er, fast geschützt vor dem in Böen blasenden Gegenwind, setzten sie ihre Beschwörungen fort, sprangen und tanzten im Schlamm, wobei die Puppen, im Wald mit Eicheln gefüllt, als Rassel diente. Gebt ihnen, gebt ihnen Regenmäntel, gebt ihnen Dächer, gebt ihnen Kaffee, gebt ihnen Holzfeuer, Freude, gebt ihnen – die Scheinwerfer eines Autos auf der Straße an einer ganz nahen Kurve, die sie nicht gesehen hatten, fegten über sie hinweg. Das Auto hatte angehalten, fuhr mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern suchend zurück. Sie, stimmlos, erschreckt, in die Dornen geduckt, die Kleider an sich gedrückt, versuchten in ihre Jeans zu steigen, ohne das Höschen, versuchten den Pullover überzustreifen, ohne das T-Shirt, alles 108
voller Schlamm, das Auto war in den Hohlweg eingebogen. Das gelbe Licht der Scheinwerfer schaukelte mit dem rüttelnden Wagen und kam näher, sie liefen barfuß hinter die Hecke, die sie vom Weg trennte und ließen den Puppenwagen in den Dornen stehen, liefen unaufhaltsam an dieser Hecke entlang, die plötzlich zu Ende ging, und der Lichtschein stieß gelb auf eine verputzte Mauer, der Wagen stoppte, Hunde bellten, eine Tür in der Mauer ging auf, eine menschliche Gestalt erschien im vollen Licht, die eine Hand schirmend vor den Augen, mit der andern einen Hund am Halsband haltend, was ist los ? Blendet zuerst mal ab ! Sie blendeten ab. Ein Männerkopf wurde aus dem Wagenfenster gestreckt. Dick, helle Haare. »Wir haben auf dem Feld dort etwas Merk würdiges gesehen. Tanzende Kinder …« »Bei diesem Wetter ?« sagte die Stimme. »Das waren bestimmt Irrwische, wenn sie getanzt haben. Das gibts hier oft. Kein Grund, die Leute wegen solcher Kleinigkeiten zu stören. Dort drüben kön nen Sie wenden.« Grâce und Régina drückten sich in die Hecke, um nicht wieder von den Scheinwerfern erfaßt zu werden, obgleich sie jetzt abgeblendet waren. Im Schritt fahrend entfernte sich der Wagen hoppelnd auf dem Weg. Kettenhunde bellten irgendwo in der Ferne. Die Gestalt erschien wieder in der Tür, ein kapuzenbedeckter Schatten, eine Taschenlampe in der Hand, schau mal nach, was mit diesen 109
Irrwischen ist, Mignon, aber sachte, eine Sekunde später hatten sie ihn am Hals, riesig und schwarz. Er legte eine dicke Pfote auf Régina. Sachte, Mig non, sagte die Stimme. Na, dann tanzt man also auf den Feldern herum ? Ein großer Greis leuchtete ihnen ins Gesicht. Schon gut, Mignon, du kannst loslassen, das sind kleine Fische. »Wir haben nicht getanzt, wir sind gelaufen«, improvisierte Grâce, »wir haben versucht, ihnen zu entkommen, sie haben uns mitnehmen wollen.« »Sie haben wieder angehalten auf dem Weg«, sagte Régina, »die Lichter bewegen sich nicht mehr.« »Die werden gleich abhauen. Mignon ! Faß !« Mignon sauste los, mit dem Bauch über den Boden fegend und heulte wie ein Verrückter und sofort hörte man zwei hastig zugeschlagene Autotüren und beim Anfahren durchdrehende Räder, endlich fuhr der Wagen ab. Fand die Autostraße wieder. Brauste los. Mignon kam triumphierend zu seinem Herrn zurück. Schön, sagte Régina, sie hielt ihm die Hand hin, Achtung, sagte der Alte, er ist nicht sehr umgänglich, sachte, Mignon, ruhig. Er kam heran, um an Régina zu riechen, die sich nicht rührte und trottete sich zufrieden davon. Kommt und trocknet euch etwas ab, ihr scheint ja vor Kälte zu schlottern. »Wir haben Angst gehabt.« »Ihr seid nicht sehr mutig, wie ?« Sie gingen ins Haus. Mignon legte sich im Ein 110
gang auf einen Sack. Der Alte warf ein Holzscheit aufs Feuer. »Zieht euch doch aus, dann trocknet ihr besser, wir sind ja unter Männern«, sagte er jovial. »Ihr könnt euere Sachen dort auf den Stuhl legen.« Sie sahen sich an und beschlossen, nicht zu dementieren. »Oh, es geht auch so, Monsieur«, sagte Grâce männlich. »Es waren nur ein paar Tropfen«, untertrieb Régina. »Trinkt ihr einen kleinen Schluck Rotwein ?« fragte der Alte. »Das wärmt auf.« »Ja, Monsieur, Danke«, sagten die Jungen, sie stießen an und hoben den Ellbogen, es ist eigent lich nicht schwer, wie ein Junge auszusehen, es ist eine Frage von Gebärden, man braucht nur etwas zu überziehen und lauter zu reden. »Wir müssen die Flasche leermachen«, sagte er und schenkte ein zweites Mal ein. »Das Ab schiedsglas. Na, seid ihr auf der Walz ?« »Ja, Monsieur«, sagte Grâce aufs Geratewohl. »Das ist gut ! Das gabs in letzter Zeit kaum noch, aber jetzt scheint es wieder aufzuleben. Und was seid ihr von Beruf ?« »Zimmermann«, sagte Grâce, die sich erinnert hatte, worum es ging und die sonst nichts kannte. »Ihr seid nicht gerade fett«, bemerkte der Alte. »Wir werden noch wachsen«, sagte Régina. 111
»Wir sind noch jung«, sagte Grâce. »Außerdem ist es nicht so sehr die Kraft, was zählt, sondern der Dreh, den man raushat«, sie spricht fast wie jemand vom Lande, bewunderte Régina. »Schade, daß ihr nicht früher gekommen seid, ihr hättet mir helfen können, daß ich wieder auf die Beine komme. Ich kann nicht mehr so gut kraxeln«, sagte der Alte. »Aber jetzt lohnts nicht mehr. Ihr habt noch Glück gehabt, daß ihr mich hier angetroffen habt. Morgen werde ich nicht mehr hier sein. Es ist der letzte Tag dieses Bauernhofes … Dabei bin ich hier zur Welt gekommen. Dort«, sagte er und zeigte auf das hohe Bett im Alkoven. »Ein komisches Gefühl, wenn man daran denkt, daß der Ort, wo man auf die Welt gekommen ist, bald nicht mehr da sein wird … Ich habe bis jetzt durchgehalten. Ich hätte hier sterben können. Ich habe eine Pension, ich bin von niemand abhängig«, sagte er stolz. »Aber morgen kommen sie, um mich zu vertreiben.« »Mit Bulldozern ?« rief Régina wild. »Das wird wahrscheinlich nicht lange dau ern. Sie werden mit dem Traktor auf diese Äcker kommen, auf dem Traktor macht ein Mann die Arbeit von zehn Bauernhöfen. Sie werden Mais anbauen. Für die Tiere. Mais, auf diesen Äckern ! Na ja, heute ist das halt anders – aber deshalb darfst du doch nicht weinen, mein Junge, du hast ein zu weiches Herz, Bübchen, das darf man nicht in dieser Welt !« 112
»Ich weine gar nicht«, sagte Régina, »es ist der Rauch.« »Ich hasse sie«, erklärte Grâce. »Wen denn ?« sagte der Alte. Den Wen-denn. Wer-Denn tauchte in Gestalt eines Bulldozers aus der Tiefe der Zeit auf, und er war es tatsächlich. Sie sahen sich an, verstanden sich. »Die Bulldozer«, sagte Grâce. »Das ist eben der Fortschritt.« »Ich bin nicht so sicher«, sagte Régina heftig. »Das ist Ausrottung«, sagte Grâce. Der Alte runzelte die Stirn und dachte nach. »Komisch, das von Jungen zu hören«, sagte er. »Die sind doch alle für das Neue, je neuer, desto schöner«, sagte er erklärend. »Jetzt nicht mehr«, erdichtete Grâce. »Wir be greifen allmählich.« Der Alte dachte nach. »Zu meiner Zeit, als ich noch ganz jung war, waren wir in Gesellschaft von Alten. Die brachten uns allerhand bei. Aber jetzt haben sie die Schule, schon von ganz klein auf …« »In der Schule lernt man nichts !« erklärte Régi na. »Was ich gelernt habe, habe ich gelernt, seit ich auf der Walz bin.« »Von den Leuten, die wir unterwegs treffen.« »Schade, daß ich nicht bleibe«, sagte der Alte, nachdem er ein wenig nachgedacht hatte, »ich hätte euch meine Felder gezeigt. Das waren noch Felder. Na ja, seit dem Kunstdünger waren sie nicht mehr 113
so rentabel, das stimmt schon, ich habe es selbst gemerkt. Anfangs ist das gut, aber danach …« »Sehen Sie«, triumphierte Régina. »Besser, wir reden nicht mehr davon«, sagte der Alte. »Ihr könnt oben auf dem Speicher schlafen«, fuhr er fort, »bei diesem Wetter werdet ihr euch ja nicht auf den Weg machen wollen. Falls ihr keine Angst vor Mäusen habt.« Sie hatten Angst vor Mäusen. Aber sie sagten es nicht, waren tapfer. Auf jeden Fall kamen sie gar nicht dazu, »ich glaube, ich bin ein wenig besoffen«, sagte Grâce, sie fielen auf ihr Strohlager. »Trinkt«, sagte der Alte und goß ihnen mit einem Schöpflöffel Milch aus, die er aus einem Eimer geschöpft hatte. »Sie muß ausgetrunken werden. Die Roussette kommt heute mittag nach Mitteaux, zu meinen Vettern. Ich werde sie nicht mehr mel ken.« Er trug seinen schwarzen Sonntagsanzug. »Den Rest kann man Mignon geben«, sagte Régina. Der Hund, der bei der Tür saß, stand auf und setzte sich näher zu ihnen. »Warum ?« sagte der Alte. Er sah seinen Hund an. »Das war mein Schäferhund, aber seitdem ich nur noch ein Stück Vieh habe, habe ich ihm beige bracht, auf mich aufzupassen. Ich bin alt, und das Haus liegt abseits«, er goß ihm einen Schöpflöffel Milch aus. Mitten im Zimmer stand ein armseliger Koffer. 114
Sie verließen das Haus. Der Alte schüttete Wasser auf die Asche. Er nahm sein Gewehr von der Wand. Er rief seinen Hund. Die Kutsche war eine Badewanne, und die Puppe schwamm in der Gemüsesuppe zwischen den Socken. Die hingeworfenen Höschen und T-Shirts lagen im Dreck. Régina und Grâce machten sauber, schüttelten den Gemüsegarten, wrangen die un glückliche Decke aus, wuschen die Wäsche in der Badewanne aus, Unglück ist manchmal für etwas gut, außerdem reinigt der Dreck. Ich habe es geahnt, sagte Grâce und betrachtete ihren Slip, ich habe gut daran getan gestern, daß ich gestern das Zeug geklaut habe, Scheiße, sie sind durchgeweicht, muß ich sie halt auswringen. Im Frieden gilt Friedensbrauch. Ich habe in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten, sagte Régina. Mir ist es einmal passiert, ein schöner Schreck, aber es ist nicht wiedergekommen. Grâce leerte ihre geflochtenen Strohschuhe aus und hing sie an die Wagenstange, Régina hing ihre erbärmlichen Sandalen daneben, ihr heißgeliebten Füße, ihr werdet nackt gehen, ihr habt es so gewollt. Gemüsewagen-Wiege-Wäschetrockner, zeigte die Kutsche immer frecher ihre wahre geniale Na tur. Schnell diesen Fußweg finden. 115
Aber das Wunder der Welt im Morgenrot nach dem Regen. Die irre Freude der Vögel, die den Raum füllte. Die Lerchen kehrten zurück. Régina, der Himmel singt !
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Sobald die Duthiers aufs Land gefahren waren, sperrte Fidélia kurz vor Morgengrauen den Rumpel kammer-Speicher auf. Manuel und Jean-Marie schliefen auf dem Boden auf einem Deckbett ne beneinander, ihre Körper berührten sich. Wie Denkmalsfiguren. Sie wechselte die Verbände an ihren Händen. Sie kannte Manuel, sie hatte ihn in der Messe gesehen. Sie gab ihnen Brot und Nüsse und ließ sie durch die kleine Gartentür hinaus. Die beiden Jungen drückten sich an den schlafen den Häusern vorbei, Manuels Waisenhauspantinen machten auf dem Pflaster einen Höllenlärm, er zog sie aus und hing sie zusammengebunden um den Hals. Sie schlichen wie Katzen an den blinden Mauern entlang. Das Fahrrad von Antoine dem Säufer stand vor der Tür seines Häuschens, das letzte des Dorfes. Nicht abgesichert. Zu besoffen heimgekommen. Sie fuhren durch Armanjon, das noch schlief, Manuel auf der Stange. Später am Tag, der über möglichen Verfolgungen angebrochen war, warfen sie das Fahrrad in den Bach, Manuel warf seine Schuhe, seine Mütze, eine erkennbare Waisen hausmütze dazu, Jean-Marie beförderte seinen 117
genagelten Cowboy-Gürtel hinein, seinen Mohair schal, seine Brieftasche, aus der er dreiundvierzig Francs dreißig herausgenommen hatte, jetzt sind wir ertrunken, sie lachten, sie hätten gern alles weg geworfen. Von der Straße dort oben sahen Agnès und Thierry, die auf dem Fahrrad vorbeikamen, wie sie alles ins Wasser warfen. Aber sie würden es bestimmt nicht weitererzählen. Als sie am Bach und an den Sümpfen vorbei wa ren, gingen sie querfeldein und zogen wie Damwild den Wäldern entgegen, die man dort hinten auf den kaum grünen Höhenrücken erblickte. Sie gingen den ganzen Tag. Von Zeit zu Zeit nur zog der eine die Strohschuhe aus und half dem andern kniend hinein. Alles ohne ein Wort zu sagen. Sie hielten sich bei der gesunden Hand. Erst als der Tag zu Ende war, ließen sie sich in einen viereckigen Heuhaufen fallen, in den sie sich ein Loch gemacht hatten. Aneinandergeschmiegt, sich bei der Hand haltend. Ohne zu sprechen. Ohne sich zu rühren. Ohne zu denken. »Da ist schon jemand«, flüsterte Jacques. »Dann gehen wir weiter«, sagte Pierre im selben Ton. »Damit verbessern wir unseren Vorsprung. Wir haben Schwein, daß es hell ist.« Paul konnte nicht mehr. Er dachte, daß sie sich genauso gut auch auf die andere Seite des Heuhaufens hätten setzen können, er war groß 118
genug. Aber er sagte nichts. Er wollte keine Last sein, nur weil er der Kleinste war. Als sie vor den Gebäuden des Bauernhofs vorbeikamen, fingen die Hunde zu heulen an, Pierre und Jacques liefen fort. Paul konnte nicht so schnell laufen, außerdem sind die Hunde angebunden, wenn sie bissig sind. Sie blieben stehen, um zu warten, Paul fühlte sich ein wenig beschämt, daß er nicht schneller laufen konnte. Sie entfernten sich auf der kleinen Straße, drei Silhouetten, nach der Größe geordnet, der Kleinste hinten, im Mondschein sich abhebend. »Los, wacht auf ! Ihr dürft nicht hier bleiben, Kinder.« Sie richteten sich auf, struppig, das Stroh piekte überall. »Haut ab, die Männer werden mit ihrem Traktor kommen, wenn sie euch hier schlafend antreffen, gehts rund.« Eine große Frau mit einer Erbsmusterschürze, die auf zwei dicken Beinen stand, rotes Gesicht und ungekämmtes Haar, hinter ihr eine ganz ge beugte Alte, die Mutter. Diese Kinder heutzutage, die laufen doch überall herum, bald findet man sogar in seinen Schuhen welche. Da, nehmt das mit, sagte die Alte. Wo die wohl hingehen ? fragte sie sich selber. Am Waldrand drehten sie sich um, sie hatten nicht einmal Danke gesagt, sie machten große Gebärden. Die Frauen winkten fröhlich mit der Hand zurück. Gute Reise. 119
Auf der kleinen steilen Straße überholte Louise sie, die tänzerisch unter großen Anstrengungen in die Pedale trat. Sie stieg auf der ganzen Steigung nicht ab. Sie hatte es sich geschworen. Sie wollte eine so große Entfernung wie nur möglich zwischen sich und ihren Vater bringen, wollte aus der Zone hin aus, die zu seinem Revier gehörte. Als es abwärts ging, flog sie dahin, eingehüllt vom frischen Wind der Geschwindigkeit, Wasser in den Augen oder auch Tränen: sie war verzweifelt über Agnès’ und Thierrys Verrat. Die beiden waren weggegangen, ohne ihr etwas zu sagen. Sie, ihre vollkommenen Freunde, ihre nahen Freunde, ihre Herzensfreunde, ihre Freunde. Sie, die sich alles sagten, die keine Geheimnisse voreinander hatten, die sich lieb ten. Weil ihr Vater Gendarm war. Was für eine Ungerechtigkeit und was für eine Beleidigung, sie liebte sie nicht mehr, sie flog hinter ihnen her, voll Richtung Süden, um es ihnen zu zeigen, sie wollte sie einholen, sie noch einmal sehen, vor ihnen zusammenbrechen, tot vor Erschöpfung und von dem Kummer, den sie ihr gemacht hatten. Sie hatte Liebeskummer. Sie weinte dicke Tränen und weil sie nichts vor sich sah, flog sie über die Böschung, das Rad im Graben, die Beine in die Luft, sehr gut, sie würde hier sterben, einsam, geschah ihnen recht. Sie hörte Musik. Frédéric Mann, auf seiner Mundharmonika Mister Tambourine Man spielend, kam über den Fußweg 120
auf der D 94 an. Sein letzter Autostop hat ihn nach Duiseaux geführt, seitdem geht er zu Fuß. Er muß seine Verspätung einigermaßen aufgeholt haben. Jetzt gibt er sich dem Zufall hin, da er keinen an deren Führer hat, er ist ziemlich glücklich und sein Spiel macht ausgesprochene Fortschritte. Auf der Böschung sieht er was Blaues. Ein kleines Mädchen lag dort in voller Länge. Nicht weit entfernt das umgedrehte Fahrrad. Er beugt sich zu ihr. Das kleine Mädchen schluchzt zum Gotterbarmen. »Wo tuts dir denn weh ? Nein, hab keine Angst …« Ein angeschwollenes Gesicht, rot, tränennaß, erschreckt, sieht zu ihm auf. »Hast du dir was gebrochen ?« »Mein Fahrrad«, wimmert sie, und bricht wieder in Tränen aus. »Und du, du hast nichts !« »Ich weiß nicht … Wer sind Sie ?« »Und du ?« sagt Mann, »ich habe dir keine Fragen gestellt. Versuch aufzustehen.« »Nein«, sagt Louise. »Es ist alles vorbei«, und fällt zurück. »Ich glaube nicht, daß dieses Fahrrad kaputt ist«, sagt Mann. »Die Lenkstange ist verbogen … die Gangschaltung muß natürlich wieder eingestellt werden …« Louise steht neben ihm, strahlend und ohne Tränen. »Nicht kaputt … ?« 121
»Da, der Reifen«, sagt Mann. »Stabil.«
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Verboten für Kinder ohne Begleitung, sagte der Mann in einer Art Uniform vor dem Eingang des Supermarktes. Er streckte die Arme aus und zeigte auf das Schild an der Glastür zwischen Sonder preis-Artischocken und Kleinstpreis-Waschpulver. Verboten für Kinder ohne Begleitung, bestätigte das Schild. Warum ? sagte Agnès. Das ist eben so, sagte der Wächter, mit einem Gesicht wie aus Holz geschnitzt, wir brauchen schließlich dem Volk keine Gründe anzugeben, denkt ohne zu denken der Wächter, der nicht im Kopf hat, daß er auch zum Volk gehört, weil er nichts im Kopf hat als den Auftrag, den er erhalten hat und der die Gesamtheit seines Existenzgefühls ausmacht: Verboten für Kinder ohne Begleitung. Und für Hunde ! wütet David, der, da er die Szene gesehen hat, mit Hunger im Bauch würde voll weitergeht und wohin jetzt ? Wohin ? Wohin er geht, folgen ihm die Blicke der Leute, und hin ter sich spürt er die argwöhnischen Blicke der achtbaren Personen, seine Jeanshose hat einen riesigen Winkelhaken mitten auf dem Hintern, den er sich hineingerissen hat, als er über einen Staketenzaun geklettert ist, um vielleicht eingebil deten Verfolgern zu entkommen, er sieht überall 123
welche. Er hat beschlossen, dorthin zurückzu gehen und dort zu schlafen, in einem schlecht geschlossenen Werkzeugschuppen ganz hinten im verwilderten Garten des Hauses, das zum Verkauf steht. Er hat sich in diesen Garten verliebt. Nicht verwildert, befreit von seinen Herren, seinen Henkern, der irre Garten seiner Freiheit, der sich in der Sonne für nichts anderes begeistert als für seinen eigenen Glanz, der von Millionen Tropfen in zehntausend Spinnennetzen herrührt. David hat hier einen ganzen Morgen lang geträumt, hat gesprochen, hat Worte gefunden, die die Idioten Gedichte nennen, hat sich dort sich selber im Angesicht des Himmels, unter den großen Bäumen, ungestraft hingegeben. In der Freude allein zu sein, ohne Herren, die belauern und erwischen und mit Schande bedecken, hat er ihnen ins Maul gespuckt und ist weggegangen, um noch weiter zu gehen. Aber was heißt hier weiter, was kann noch weiter sein als dieser Garten, der glücklich macht, ein Garten für ihn, ein Garten wie er. Merkwürdig, sich in einen Garten zu verlieben. Du bist in dich selbst verliebt, gibt er sich zur Antwort. Na und ? Trotzdem wäre es ihm lieber, wenn er nicht noch einmal ohne Nachtessen ins Bett müßte. Er schlendert an den Gemüseauslagen entlang, beab sichtigt, im Vorbeigehen irgend etwas mitgehen zu lassen, irgend etwas. Aber die Augen um ihn herum 124
lassen ihn nicht los. Wie soll man auch mit einem solchen Gesicht den Augen entgehen ? Manchmal möchte er sich am liebsten verunstalten. Agnès und Thierry haben dem Wächter nichts zu erwidern gewußt. Keinen Bären. Sie hatten keine Phantasie. Auf jeden Fall verhielten sie sich von Anfang an wie Deppen, und das schöne irre Gelächter von früher kam nicht. Sie langweilten sich ohne Louise. Mit Louise war alles so lustig gewesen. Wenn Louise da wäre, hätte sie bestimmt was erfunden. Die abwesende Louise nimmt den ganzen Platz ein und schafft eine Lücke zwischen ihnen, die sie nicht auszufüllen vermögen. Sie sprechen kaum miteinander. Rühren sich nicht an. Und sie, Agnès und Thierry, hatten geglaubt, sie liebten sich ! Würden eine Romanze erleben. Weil sie sich am Ostersamstag geküßt und Lust dabei empfunden hatten. Das hatten sie Louise nicht gesagt. Louise war plötzlich zu klein. Weil sie miteinander gebumst hatten. Dieses tagelange, nicht geteilte, Geheimnis zwischen ihnen, und sich dann am Montag nach den Ferien wie gewöhnlich als Nachbarn wiederfinden, um in die Schule zu gehen, das hatten sie nicht gekonnt, das hatten sie wirklich nicht gekonnt, sie waren auf der Straße nach links abgebogen, statt nach rechts, nach Süden hätte Louise gesagt. Sie waren nach Süden abgebogen, die Liebe ist stärker als die Freundschaft. Und hätte man 125
denn zu ihr nach Hause gehen können, in die Gendarmeriedienststelle, um ihr Bescheid zu sa gen ? In der Gendarmerie … Oder in der Schule ? Unmöglich, in der Schule. Nicht diesen Wulst in der Magengrube. Nicht die Aufbauschule. Kein nächstes Jahr. Keine Zukunft, außerdem hatte man ja gesagt, daß man nicht mehr in die Schule gehen würde, schon vor den Ferien hatte man es gesagt, sogar Louise hatte es gesagt. Und sie hat den Kompaß geklaut. Sie fahren langsam, ohne etwas zu sagen, die Pedale sind hart, selbst für eine kleine Steigung, wie diese hier, müssen sie sich abmühen und selbst auf den Ebenen haben sie Mühe. Agnès steigt ab, schiebt ihr Rad zum Straßenrand, dreht sich nach Thierry um. »Laß uns umkehren.« Die Pedale sind sanft. Sie halten einander beim Fahren an der Schulter, plötzlich ist alles wieder fröhlich und leicht geworden, die Vögel, die nie geschwiegen hatten, fangen wieder zu singen an. Weißt du, was wir zu dem Bullen hätten sagen sollen ? Daß unsere Mutter schon drin ist … Was machen wir ? Ich weiß nicht, wir werden schon durchkommen. Wir haben immerhin ge nügend Unterschlupfe. Wir werden in der alten Mühle schlafen. In dem unfertigen Haus. Wie sollen wir ihr Bescheid geben, ohne gesehen zu werden ? Aber … Schau mal ! Das ist ihre Jacke ! Das ist sie.
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Mann wischt sich die Hände an Klettenblättern ab. Man kann nicht Mundharmonika spielen, wenn die Hände voller Schmierfett sind. Sie sind zusammen weitergefahren. Nach Süden. Sie sind niemandem namens Régina begegnet. Mann marschiert der Stadt entgegen, er hat dort Freunde, in einer sehr alten, überlebenden Wohngemeinschaft. »Verzeihung, Monsieur«, sagte eine schüchterne Stimme, »könnten Sie mich bitte dahinein beglei ten ? Ich darf nicht allein hinein.« »Selbstverständlich«, sagte Mann, er folgte und begriff erst, als er diesen Wisch vor den Türen des Ladens sah. Verboten für Kinder ohne Begleitung. Das ist aber neu. »Gib mir die Hand«, befahl er der Kleinen, so vollkommen Pauker, daß sie sich beun ruhigt umdrehte. Dann begriff sie und lachte sich eins, und Hand in Hand gingen sie hinein. »Warum ist es für Kinder ohne Begleitung verbo ten ?« fragte er sie, nicht als Pauker und ganz leise. »Ich weiß nicht, ich habe das noch nirgendwo gesehen«, sagte sie, sich ein wenig verratend. Sie nahm keinen Wagen, Mann besann sich und nahm sich einen Korb. Jedesmal, wenn sie an einem in teressanten Regal vorbeikam, drehte sie sich nach ihm um und er tat dann sein bestes, um sonstwo hinzugucken. 127
»Aufgepaßt«, murmelte er trotzdem. Ein Aufseher kreuzte argwöhnisch am Ende des Ganges auf, als sie sich ein Stück Schweizerkäse angeln wollte. Das klärte ihre Beziehungen, sie wurden sehr heiter. Er klaute den Schweizerkäse hinter ihr, dazu noch einen für sich. Der Korb enthielt offiziell zwei Flaschen Milch und ein Paket Biskuits, proteinange reichert, wie es auf dem Etikett hieß. Es sind mit Sicherheit keine Proteine drin. »Ich habe dir gesagt: keine Bonbons«, fing er an, als sie an die Kasse kamen. »Dann kauf mir Karamellen«, wimmerte sie sogleich. »Wenn ich nein sage, ist es nein, hör jetzt bitte mit deiner Komödie auf, Caroline.« »Warum denn nicht«, flennte sie und wurde ein gutes Stück kleiner, aber niemand würde es unwahrscheinlich finden, Kinder sind kindisch. »Oh, kannst du einem auf die Nerven gehen. Weil du in der Schule nicht brav gewesen bist.« »Das ist gar nicht wahr, ich habe eine eins bekommen.« »Ja, letztes Jahr zu Weihnachten. Und man sagt auch nicht, das ist gar nicht wahr.« »Was sagt man denn ?« »Überhaupt nichts, wenn ein Großer spricht, hält man den Mund.« »Warum ?« sagte sie. »Weil das so ist auf der Welt, mein Kind.« »Warum ist das so auf der Welt ?« »Aus Versehen«, sagte Mann. 128
Der letzte Dialog hatte sich auf dem Bürgersteig abgespielt, die Spieler hatten es nicht für gut ge halten, aufzuhören, bloß weil es keinen Zweck mehr erfüllte. »Wer hat die Dummheit gemacht ?« »Die Schwächsten, weil sie alles mit sich ge schehen ließen«, sagte Mann und dachte, meine Ideologie wird höchst wunderlich. »Bist du ein Hippie ?« fragte die Kleine. »Ich bin ein unregelmäßiger Hippie«, sagte Mann und stellte selbst keine Frage, so daß eine Stille entstand. »Meine Freundinnen warten auf mich, ich muß gehen, sie werden sich fragen …« »Ist … ist eine dabei, die Régina heißt ?« fragte Mann trotzdem. »Nein. Und ich heiße nicht Caroline, ich heiße Alice.« »Ich bin Frédéric.« Er gab ihr eine Flasche Milch, die proteinangereicherten Biskuits und holte ein Stück Schweizerkäse aus seiner Kunstlederjacke. »Das gibts doch nicht !« sagte Alice. »Ich habe dich nicht mal gesehen.« »Ich hoffe, wir begegnen uns wieder«, sagte Mann. »Ja, ich auch, wo gehst du hin ?« »Ich weiß nicht.« »Ich auch nicht.« »Das trifft sich gut, wir können sicher sein, daß wir uns begegnen. Eigentlich gehe ich eher dem 129
Meer entgegen. Alle Welt geht im Augenblick dem Meer entgegen.« »Alle Welt ?« »Eine gewisse Art von Welt.« Er blieb mit seiner Flasche Milch auf dem Bür gersteig stehen. Soll ich mich bei den barmherzigen Brüdern von Saint-Vincent-de-Paul einschreiben lassen. Bei der UNICEF, beim Kinderschutzverein ? Nein, du weißt genau, daß es nicht das Richtige ist. Du weißt sehr gut, daß es das nicht ist. Du weißt ganz genau, was es ist. Völlig verworren. Frédéric Mann hatte sein Soziologiestudium auf gegeben, um ein bürgerliches Leben zu beginnen. Er hatte mehr als acht Monate in einer Asbestfabrik gearbeitet. Er hatte es wirklich versucht. Du weißt, daß es die letzte Chance ist. Und daß es wieder einmal nicht deine Sache ist, und daß du auch da nichts zu suchen hast. Aber du hast auch sonstwo nichts zu suchen, ein Kerl hat nirgends etwas zu suchen, außerdem bist du blond. Ach und überhaupt Scheiße. Die Liebe. Wenigstens das, das ist etwas, das dir gehört. Die nackte Seele, frei von jeder historischen Mission. Mann machte sich auf die Suche nach dem Bauernhof seiner Freunde, im Osten der Stadt. Halbwüchsige zwischen Mopeds, vor der Kneipe des kleinen Platzes. Es ist ihr Hauptquartier, der Polizei bestens bekannt, die im Augenblick ihre Papiere kontrolliert. Ohne Grund, reine Routine, 130
das beruhigt die Bevölkerung, die seit dem Handstreich dieser Bande frühreifer Taugenichtse etwas nervös geworden ist. Und ihr würdet bes ser daran tun heimzugehen, statt euch nachts herumzutreiben. »Ständig kriegen wirs auf die Ohren«, sagte Julius, der Charles hieß. »Diese Hurenkinder.« »Wegen denen fühle ich mich alt«, sagte Steve, der René hieß. »In ihrem Alter habe ich nie eine richtige Bandenrazzia mitgemacht. Ganz schön dreist.« »Sie haben nur Eßwaren genommen«, sagte Janis, die Colette hieß, und knabberte an dem Kanten ihres Brotes. »Wie es scheint. Ich bin hinterher mit meiner großen Schwester in dem Laden gewesen, die Gesichter hättet ihr mal sehen sollen. Das roch nach Mord.« »Tja, sie lieben sie nicht … Du, da ist einer, ich wette, der gehört auch dazu.« Steve packte David am Ärmel, als er vorüberging, er war aus der Gasse aufgetaucht, in der er sich während der Kontrolle versteckt hatte, er hatte sich nicht verkneifen können, ganz nahe an den Mopeds vorbeizugehen, vielleicht könnte er sich eines schnappen, vielleicht wars aber auch nur der Wunsch, mit der nicht erwachsenen Gattung Mensch in Berührung zu kommen. »Ist der schön !« sagte Janis, »ramponier ihn nicht, Steve.« »Du bist einer von ihnen, erzähl mir nichts«, sag te Steve drohend, aber lachend, »das sieht man dir 131
doch an der Visage an, du warst bestimmt gestern bei der Razzia im Laden dabei, wie ?« »Nein«, sagte David, »ich war nicht dabei.« Die Augen an Janis’ Brot festgekrallt. Den Mund voller Speichel. »Leider bin ich zu spät gekommen. Bist du von der Polizei ?« sagte er mit großer Würde. »Würden Sie mir ein kleines Stück davon geben ?« sagte er zu Janis, ohne jede Würde und ganz gegen seinen Willen. Janis brach das Brot in zwei unglei che Hälften und gab ihm nach kurzem Zögern die größere. Er nahm es und rannte davon. Erst hinterher, als er einige Bissen gegessen hatte, die er langsam, mit geschlossenen Augen auf einem einsamen Weg an einer alten Mauer gekaut hatte, sah er sich verblüfft wieder, erkannte sich nicht, wo habe ich denn das gesehen, an was erinnert mich das ? An Katzen. Ich bin eine Katze geworden, sagte er sich, betrachtete sich und stellte trotz allem fest, daß er wie ein Mensch aussah. Er steckte das, was von dem Brot übriggeblieben war, in die Innentasche seiner Jacke und als Mensch stand er auf, um Danke zu sagen. Sie waren nicht mehr da. Er erinnerte sich an Steve und hatte eine Erleuch tung: ich hatte Angst, daß es nur ein Scherz war. Der Hunger hat mich nicht zu einem wilden Tier gemacht, das ist nicht wahr, ich hatte Angst vor einem Scherz. Die Katzen haben Angst, daß man seinen Spaß mit ihnen treibt. 132
Es gibt keine wilden Tiere. Was zu beweisen war, sagte er, entzückt über sein Argument. Er machte sich auf den Weg zu seinem Privathaus und aß langsam den Rest des Brotes. Er be merkte nicht, daß ein Kerl ihm folgte. Er fand eine Bresche in der Mauer.
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Sie hatten einen Hund. Joseph Colot hatte ihnen Mignon geschenkt. Er war mit ihm auf der Land straße angekommen. Wenn ihr ihn haben wollt. Ich habe gesehen, daß er euch leiden mag und das ist bei ihm selten. Ich wollte ihn erschießen, sagte er. Aber so ist es besser. Hör gut zu, Mignon, du gehst jetzt mit den beiden Jungen, ich kann dich nicht mitnehmen, dorthin, wo ich hingehe. Sie nehmen keine Hunde, erklärte Joseph. Ich gebe euch die Leine mit, man kann diesen Hund nicht ohne Leine laufen lassen, es ist eine gute Leine, aus Leder, ich habe sie selber gemacht, Régina nahm sie. Du mußt sie so halten. Hörst du, Mignon ? Das sind jetzt deine Herrchen, mit denen gehst du. Ruft ihn. »Mignon !« Er sah nach seinem Herrn. »Geh !« sagte Joseph. »Komm«, sagte Régina. »Komm, du hübsches Tier.« »Na ja, wenn ihr so mit ihm redet !« sagte Joseph lachend. »Gehört das euch ?« (die Kutsche !). 134
»Da bekommen wir bequem unseren Kram unter«, erfand Grâce. »Das ist praktisch« (die Puppe !). Er sah sie eine nach der andern an und sagte nichts. »Gute Reise, Kinder. Mit ihm braucht ihr unter wegs keine Angst mehr zu haben«, sagte er. »Bleiben Sie gesund, Monsieur Joseph.« »Pah«, machte er und drehte ihnen den Rücken zu, mit großen Schritten davongehend, ohne sich umzuschauen. »Er wird sterben«, sagte Régina, »er hat den Tod in den Augen.« Mignon wollte warten, bis sein Herr verschwun den war. Dann ging er mit ihnen. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen. Sie blieben dann ebenfalls stehen und erklärten ihm: dein Herr geht ins Altersheim, schöner Hund, er wird ausgerottet von Wer-Denn, dem Bulldozer, um Mais zu machen, um daraus einen ekelhaften Fraß für das Vieh herzustellen, um ekelhaftes Fleisch zu machen für die Leute, damit sie ekelhaft, traurig und unglücklich werden, und damit sie sich nicht mehr wehren können gegen Wer-Denn, den Bulldozer … Wenn seine Pause um war, ging Mignon weiter bis zur nächsten. Plötzlich ohne Vorwarnung entwich er Régina, warf sie dabei zu Boden. Querfeldein, mit dem Bauch über den Boden fegend und seine Leine hinter sich herziehend, geradewegs in Richtung auf sein Haus, Adieu Mignon.
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Grâce massierte den gequetschten Handknöchel Réginas, und die Schmerzen verschwanden. Ich wußte gar nicht, daß du das kannst. Ich auch nicht, sagte Grâce, das ist mir jetzt gekommen. Mignon tauchte am späten Nachmittag wieder auf, kurz vor Monbargis. Seine Leine nach sich ziehend, lief er zehn Schritte hinterher. Todtraurig. Komm, Mignon, sagte Régina. Sie hielt ihm die Hand hin. Er kam heran, um daran zu riechen. Sie versuchte nicht, ihn zu streicheln. Sie hob sachte das Ende der Leine auf. Grâce, die noch keine direkten Verbindungen angeknüpft hatte, brach ein Stück Brot ab, das noch ganz vom gestrigen Regen getränkt war. Régina gab es Mignon. Armer Mignon, dein Herr war nicht mehr da, armer Mignon, du hast jetzt nur noch uns, schöner Hund, du wirst dich an Kinder gewöhnen müssen. Es war ein großer, ganz schwarzer, langhaariger briardisch-pyrenäischer PromenadenmischungsVorsteh-Schlittenhund. Komm, hübsches Tier. Der Supermarkt war verboten für Kinder ohne Begleitung und außerdem für Hunde. Sie gin gen vergeblich durch die ganze Geschäftsstraße: alles schien hier bewacht zu sein. Zum Glück hatten sie noch Gemüse und die Hälfte des Graubrots, naß zwar, aber im Frieden gilt Friedensbrauch. Unverrichteter Dinge kamen sie zum Ortsausgang. »Haus zu verkaufen«, sagte Grâce. Sollen wir es kaufen ? Sie fanden eine Lücke in der Mauer. Der 136
Puppenwagen bekam einen Schlag ab, als sie ihn durchzwängten, aber nur die Karosserie. Das letzte Streulicht des Tages beleuchtete das trockene Gras, zwischen dem das Blut der Tulpen und das Gold des großen Schellkrauts strahlten. Ein Traumgarten, sagte Régina. Sie ließ Mignon los. Er nahm Witterung auf. Plötzlich blieb er stehen. Sauste heulend los, mit dem Bauch über den Boden fegend. Pst, Mignon, sei ruhig, sonst werden wir entdeckt, schrien die beiden vergeblich und liefen hinter ihm her, er verschwand vollends, und dann war er wieder da, galoppierte in entge gengesetzter Richtung mit fletschenden Zähnen hinter den Rockschößen eines langen Kerls, und der Kerl hielt seine Hose mit beiden Händen fest und rannte zu der Lücke im Zaun, er drehte sich nicht einmal um. Mignon ! Es ist gut ! Du kannst loslassen ! rief Régina mit ihrer dunkelsten Stimme, gerade bevor er durch die Lücke wollte, er ging nicht durch, er kam zurück, wedelte mit dem Schwanz, zufrieden mit sich selbst. Sie wagte ihn zu streicheln. So quartierst du die andern Clochards aus, Mignon, sagte sie zärtlich zu ihm, ich weiß nicht, ob das gut ist, weißt du. Sie nahm wieder die Leine in die Hand. Es war gut. In der Hütte hinten im Garten entdeckten sie David, der zusammengekauert dasaß. Sachte, Mignon ! befahl Régina die Dompteuse, so ist’s brav. David hob den Kopf, sah zwei Kinder. Beruhigt seufzte er. 137
»Sieh an, das bist ja du«, sagte Grâce. »Wer ich ?« sagte David verstört. »Du hast vor einer Bäckerei gestanden, ich weiß nicht mehr wo ?« »Alles in Ordnung ?« fragte Régina. »Ich glaube«, sagte David und betastete sich. »Du siehst nicht gerade schön aus«, sagte Grâce. »Was ?« sagte David schockiert. Er betastete seine Lippe, die dick war wie ein Ei. Es stimmte schon, er war entstellt. »Du siehst aus wie ein Blumenkohl«, sagte Grâce, »nur in rot.« »Was wollte er denn von dir ?« sagte Régina. »Mich in den Arsch ficken«, sagte David objektiv. »Ist es ihm gelungen ?« sagte Grâce. »Dieses Wundertier ist rechtzeitig gekommen. Danke, dicker Wauwau«, sagte er und streckte eine dankbare Hand aus. »Paß auf«, sagte Régina, »er beißt. Du wirst dich an Kinder gewöhnen müssen, Mignon, na ja, wir werden geduldig sein«, sie liebkoste ihn. Er sah sie zähnefletschend, aber liebenswürdig an. Er lächelte ! »Wie seid ihr vom Himmel gefallen ?« sagte David. »Wir haben das Schild gesehen, Haus zu ver kaufen, und da haben wir gedacht es zu kaufen, was kostet es denn ?« sagte Grâce, »bist du der Eigentümer ?« 138
»Ich bin hier der Mieter«, sagte David und pa noramisierte den Geräteschuppen. »Du brauchst Wasser aufs Gesicht«, sagte Régina, sie sah zum Himmel hinauf, unruhig, aber der rührte sich nicht. »Dort drüben ist ein Teich«, sagte David. »Mit Seerosen.« Er stand auf. Seine Jeanshose fiel ihm auf die Füße. »Scheiße«, rief er wütend aus. Er zog sie wie der hoch. »Findet ihr das vielleicht lustig, ihr beiden ?« »Es ist immer lustig, wenn jemand seine Hosen verliert, da kannst du nichts machen«, sagte Grâce. »Vor allem ohne Slip.« David warf ihr einen schwarzen Blick zu, weil so seine Augen waren. Sein Slip steckte in einer Tasche und war unsäglich. »Scheiße, sie hält nicht mehr. Das Dreckschwein hat sie mir völlig kaputtgemacht.« »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, sagte Grâce fröhlich. »Verzeihung. Wir sind gestern von zwei Geschäftsleuten-Entführern im schwarzen DS verfolgt worden. Du kannst dir also denken, daß wir Bescheid wissen.« »Gewöhnlich versteh ich ja Spaß«, sagte David, »aber könnt ihr mir sagen, wie ich gehen soll ?« »Zieh sie aus«, sagte Grâce und David warf ihr einen schwarzen Blick zu. »Ein alter Bauer, der uns für Jungen hielt, hat uns gerettet«, sagte Régina. 139
»Aber er hat uns nicht in den Arsch gefickt«, sagte Grâce und es kostete sie eine gewisse Überwindung, aber das ging vorbei, ich mache in einem fort Fortschritte, nichts hält mich mehr auf, dachte sie, zufrieden mit sich. »Ihr seid doch keine ?« sagte David. »Aber natürlich«, sagte Régina. »Und er hat uns Mignon geschenkt, weil er von einem Bulldozer ausgerottet wurde.« »Der Wer-Denn hieß.« »Wer«, sagte David. »Der Hund hat den Bulldozer in den Arsch gefickt, sehe ich das richtig ?« »Wir werden ihm die Kinderschutzbundmedaille verleihen.« »Dem Bulldozer ?« »Er kapiert überhaupt nichts, übrigens, was meint ihr, sollen wir uns im Seerosenteich baden ?« David beugte sich über das stehende Wasser, das ihm sein entstelltes Gesicht zeigte. »Du gleichst einem Poster, das bei Hugues hing, ein kleiner Hirt«, sagte Régina zu Grâces Spiegelbild. »Du gleichst einem Bild, das ich in Italien gesehen habe«, sagte Grâce zu Réginas Spiegelbild. »In Florenz.« »Meine Mutter sagte immer zu mir, ich möchte nur wissen, was du an dir findest, daß du dich ständig im Spiegel betrachtest.« »Meine sagte zu mir, schön bist du nicht.« 140
»Ihr habt ganz nette Rabenmütter«, sagte David zu ihrem Spiegelbild. Dann trank Mignon und aus wars mit der Spiegelszene. »Dabei hätte ich mir das ersparen können«, seufzte David. »Ich hätte nur ein Wort zu sagen brauchen.« »Welches denn ?« »Ja.« »Wußten wir, wußten wir ! Und warum hast du es nicht gesagt ?« »Er gefiel mir nicht. Er war nicht sympathisch. Er hat zu mir gesagt: wenn du dich ruhig verhältst, werde ich lieb zu dir sein, andernfalls sage ich den Bullen Bescheid.« »Und das tut er auch«, sagte Régina ruhig. »Danach ?« sagte David empört. »So dreist wird er wohl nicht sein, danach !« »Wonach ?« sagte Régina. »Meiner Meinung nach sind wir besser nicht mehr da, wenn sie kommen.« »Ich werde ihnen alles sagen ! und dann wird er ganz schön in Schwulitäten kommen.« »Und wer wird dir glauben ? Er wird sagen, daß du, daß du träumst.« »Aber ihr seid doch da gewesen ! Ihr könnt es doch bestätigen.« »Und wer wird uns glauben ? Du scheinst die Wirklichkeit nicht zu kennen. Du lebst in einer Traumwelt. Man glaubt immer den Erwachsenen. Kinder lügen.« 141
»Zum Glück übrigens«, sagte Grâce. »Doch wer wem auch was glaubt, hier sitzen wir in der Falle.« »Scheiße.« Die Nacht war hereingebrochen. »Mein Garten«, wimmerte David, nachdem Dinge, Tier und Leute wieder nach draußen ver pflanzt worden waren, wobei er keine große Hilfe war, weil er seine Hose festhalten mußte. »Du wirst in eine Salzsäule verwandelt«, sagte Grâce, »wenn du dich ständig umdrehst.« »Du mußt dich eben damit abfinden, Alter«, ver suchte Régina, aber das klappte nicht bei David. »Ich war in diesen Garten verliebt«, gestand er schmerzlich, »was sagte ich, verliebt, ich war ver narrt in diesen Garten, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was er für mich bedeutete, es war ein Garten, ein Garten …« »Ein Traumgarten«, zeigten sie ihm einstimmig den Weg. »Mindestens«, sagte er. Er hielt seine Jeans mit beiden Händen fest, um gehen zu können. »Wir müßten einen markierten Weg finden«, sagte Grâce, »aber erkenne mal einer in dieser Dunkelheit eine Markierung, und wie sehen die überhaupt aus ?« »Ich möchte nur wissen, wo der Mond hingekommen ist«, sagte Régina. »Gewöhnlich ist er da.« »Das seid ihr aber nicht, gewöhnlich«, stellte David fest. 142
»Mein Gott ! Ich sehe ihn ! Er ists ! Dort !« gellte Régina in plötzlicher Begeisterung. »Wo ? wo ? wer ?« »Der blaue, ganz da oben, der glänzendste am Himmel, oh, bin ich froh. Wega ! Meine Liebste !« Sie bewunderten den gestirnten Himmel. »Gut, jetzt wissen wir, wohin wir gehen«, sagte Grâce, »jetzt bin ich beruhigt. Jetzt müßten wir auch den Polarstern ausmachen, denn sie sind alle da. Hier, ich hab den Wagen, eins, zwei, drei, vier, fünf. Ich habe ihn. Er ist direkt hinter uns, prima, wir gehen in die richtige Richtung, na, dann ist ja alles in Ordnung.« »Ihr geht dem Süden entgegen«, folgerte David. »Du urteilst wie ein wilder Fuß.« »Habt ihr geraucht ?« fragte David. »He ?« sagte Grâce. »Einmal«, sagte Régina. »Jonathan hat mir sei nen Joint gegeben. Es war, es war irre. Wir lagen nebeneinander in der Wüste, der Himmel ist auf uns herabgekommen mit allen seinen Sternen und wir waren alle eine einzige Person, die Sterne und wir. Genau in diesem Augenblick ist natürlich meine Mutter gekommen und sie hat mich in mein Zimmer eingesperrt, wo es keinen einzigen Stern gab …« »Ich meinte eigentlich jetzt«, sagte David. »Ihr scheint mir nämlich etwas high zu sein.« »Das liegt daran, daß wir Träume sind«, sagte Grâce bescheiden. 143
»Das stimmt, das ist ähnlich«, sagte Régina. »Es ist fast dasselbe.« »Ich hab schon seit ein paar Tagen dasselbe Gefühl. Unaufhörlich. Ich schwebe.« »Ganz allein ?« »Ganz allein«, sagte David, dessen Röte man in der Finsternis nicht sehen konnte. »Ihr also auch«, sagte er noch einmal. »Dann«, sagte Régina, »bist du also auch ein fahrender Traum ?« »Wir wußten es übrigens schon vorher«, sagte Grâce. »Seit jener Stadt, ich weiß nicht mehr welcher, wo du eine Bäckerei betrachtet hast.« »Ich betrachte in jeder Stadt die Bäckereien«, sagte David. »Willst du etwas Brot ? Es ist naß, es war in den Regen gekommen.« »Ich habe heute abend welches gehabt«, sagte David begeistert. »Über eine halbe Baguette. Zwei Tage schon hatte ich nichts mehr zu knabbern. Ein Mädchen hat es mir gegeben, und wißt ihr was ? Statt danke zu sagen, hab ich ihrs aus der Hand gerissen und bin davongerannt ! Ich bin eine Katze geworden !« »Warum bist du es nicht geblieben ?« sagte Régina. »Hör mal, da hätte es aber Schwierigkeiten mit Mignon gegeben«, sagte Grâce. »Weil ich dann nicht die Baguette hätte essen können, Katzen mögen kein Brot. Aber wenn ich 144
mirs genau überlege, habe ich immer noch einen hohlen Magen.« »Wir haben jede Menge Vitamine«, sagte Grâce. Sie merkten, daß sie nicht zu Abend gegessen hatten, ich kann nicht essen, wenn ich meine Hose festhalten muß, sagte David, wir werden einen Gürtel klauen müssen, sagte. Grâce, oder ein Stück Seil, ich kann nichts klauen, das gelingt mir nicht, sagte David, alle Leute sehen mich an, David oder das Unglück der Schönheit, sagte Régina, na ja, für eine Weile läufst du keine Gefahr, sagte Grâce, ich glaube, daß ich auf der Linken was Weißes sehe, sagte David. Eine Menge Autos fuhren auf der 443 vorüber, aber sie waren zu dritt und sie hatten einen Hund.
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Drei Jungen, gestaffelt von 7 bis 9, saßen zu Tisch und verschlangen löffelweise das Einheitsragout, Reis-Gemüse, Verschiedene-Nüsse-Pilze-Kräuter, dazu das, was sich gerade findet, das Tagesgericht, dem nur Tulipe einen Geschmack zu geben wußte, bei dem man dem Beefsteak mit Pommes frites nicht nachtrauerte. Die Erwachsenen aßen ruhiger zu Abend, denn sie waren daran gewöhnt. »Nein, die habe ich nicht seit dem letzten Mal gemacht«, antwortete Airelle auf Manns über raschten Blick zu den Jungen hinüber. »Ich habe nach wie vor nur meine Luciole, na, wo steckt sie denn ? Ich weiß nicht.« »Das ist es nicht«, sagte Mann … »Gut, daß du deine Milch mitbringst«, sagte Chat, »du hast wohl kein großes Zutrauen zu uns.« »Das ist es nicht«, sagte Mann. »Sieh mal an, der ist auch pasteurisiert«, er stellte den Käse in der Plastik-packung auf den Tisch. »Ich habe einer Kleinen in der Stadt im Superdings aus der Patsche geholfen … Wißt ihr, daß es verboten ist für Kinder ohne Begleitung ?« »Ja, wissen wir«, sagte Ours. »Sechs Kinder haben gestern abend dort eine Razzia gemacht und sich 146
dann in der Natur verflüchtigt, niemand weiß wo, nicht einmal wir«, sagte er ohne Verdruß. »Die hier sinds in jedem Fall nicht«, sagte Airelle, »ihrem Appetit nach zu schließen haben die keine Razzia gemacht.« Die hier sahen nicht von ihren Tellern auf. »Du würdest gut daran tun, dich hinzusetzen, sonst lassen sie dir nichts mehr übrig«, sagte Chat. »Die hier werden bald ersticken«, sagte Mann, »habt ihr es ihnen gesagt ?« »Requiem. Sie haben alle notwendigen Infor mationen erhalten.« »Seid ihr bald fertig, uns durchzuhecheln«, sagte der größte, ohne von seinem Teller aufzusehen. »Das war Pierre.« »Wenn wir kotzen müssen, gehen wir raus«, sagte der mittlere. »Das war Jacques und der Stumme ist Paul.« »Ich will nicht, daß mein Einheitsragout raus gekotzt wird«, sagte Tulipe, die mit einem nack ten, goldhäutigen Baby auf der Hüfte hereinkam. »Muttergottes, mein kleiner Frederico ! Wo kommst du denn her, es sind doch keine Ferien mehr, wie gehts dir undsoweiter. Und in Paris ?« »Paris die Scheiße«, sagte Ours, »wann hört denn die zentralistische Faszination endlich ein mal auf ?« »Sei nicht rassistisch, Nounours, auch in Paris gibt es Leute. Zehn Millionen. Darunter minde stens vier Kumpels.« 147
»Stillst du«, sagte Mann verwirrt, als er sie dasit zen sah, eine Brust draußen, bei deren Anblick das goldhäutige Baby in eine fröhliche Raserei geriet. »Ja, trink schön, Orange«, sagte Tulipe und bot die Brustwarze ihren Lippen dar. »Beschluß«, sagte sie, »so wird sie immunisiert. Weißt du, daß es zwischen 0 und 10 Monaten sieben obligatorische Impfungen gibt ? Das ist zuviel. Und um ehrlich zu sein«, sagte Tulipe und beugte sich zu Mann herüber, dem sie vertraulich, aber ganz laut zu flüsterte: »es kommt mir dabei.« »Und sie tut das vor aller Augen«, sagte Ours. »Ich werde von der Moral der Patriarchen ge deckt«, sagte Tulipe. »Und von der christlichen Ikonographie.« Ganz rosig unter ihrer Decke, den Kopf geneigt, die Lippen halb geöffnet, gab sie dem Baby zu trinken. Mann versetzte es einen kleinen Stich, als er sich an sie erinnerte, zu einer anderen Zeit mit anderen Sitten. Sie wollte keine Kinder haben. Überbevölkerung, Strahlen, Gesellschaftsscheiße, Familienscheiße, Frauenscheiße, Entfremdung. Sehr eindeutig in dieser Hinsicht. Du übrigens auch. Auf jeden Fall hattest du über alles klare Ansichten. Er hatte ihr heimlich eine sehr komplizierte, wi derliche Abtreibung gemacht, er war danach in die MLAC eingetreten. Militant sein. Immer noch. Und jetzt, wo es, sagen wir nicht mehr ganz so tragisch war, machte sie ein Kind. Nicht mit ihm, aber das 148
hättest du ja auch nicht gewollt. Er verstand nicht recht, warum sie plötzlich Kinder machen, diese Frauen. Chat natürlich, eine wunderbare Mischung aller Rassen auf Erden. Man konnte richtig Lust haben, ihr ein Kind zu machen, sich anstecken zu lassen, Scheiße. Er sah ihn an, Chat sah ihn gerade an, lächelnd seine Gedanken lesend. »Ich bin keine Scheibe Schinken«, sagte Tulipe, die, wie es schien, alles beobachtet hatte, »ihr könnt ohne mich zurechtkommen. Das habe ich übrigens immer gedacht.« Sie wären beinahe rot geworden. »Na, wie kommt es eigentlich, daß du hier bist ?« unterbrach Ours, wahrscheinlich in einem Rettungsreflex. »Ich habe aufgegeben«, sagte Mann. »Aha. Endlich.« Sagte Ours. »Kommst du, um uns zur Hand zu gehen ?« »Was denn aufgegeben ?« sagte Airelle, anspruchsvoller. »Alles«, sagte Mann. »Ich glaube«, sagte er und sah sich um und fühlte sich auch hier nicht mehr heimisch, »geborgen« in der Rückkehr zu den Quellen, nein, das ist zu bissig, verbesserte er sich, na ja, dasselbe in anderer Form, oh natürlich intel ligenter, politisch eben, aha aha, also gut, aber was denn, strategisch, und sogar sympathisch, prima (verdammt, halt den Mund, kleiner Arsch) und sanft und nicht ohne Freude, die einfachen, echten Freuden, halt den Mund, kleiner Arsch aber Scheiße 149
ich habe keine Worte ! Im Ernst, etwas, nein, nicht das Richtige, nicht ganz und mit welchem Recht spielst du den zartsinnigen kleinen Arsch und wo ist das Richtige, fragte er sich in plötzlicher Angst, und wer bist du ? »Zunächst einmal, Genossen«, sagte er mit dem Sarkasmus, der nun an diesem Wort klebte, das eines Tages vielleicht einmal schön war (wir haben keine Wörter mehr). »Und die bolschewistische Ideologie auch ?« sagte Airelle. »Ich glaube«, sagte Mann, »es sieht so aus.« Er lächelte, er sah sich wieder im Hof dieser Schule, wie er sich eins lachte, nein, nicht eins lachte, sei doch nicht so feige: die Freude. Ein Wort, das aus meinem Kopf verschwunden war. Ich finde Worte wieder, die aus meinem Kopf verschwunden waren, sagte er. Freude … »Sieh an, es scheint ernst zu sein«, sagte Airelle. »Und was noch ?« sagte Chat. »Meine Arbeit. Ich habe in Atony gekündigt, an der Penne. Die ganze fünfte Klasse ist stiften gegangen, dreien ist es gelungen, draußen zu blei ben !« sagte er triumphierend. »Vierzehn sind von der Aufbauschule in Mon corbeau, Monturban getürmt. Warte.« »Ach, du bist ja auch da, Tchouc, ich hatte dich gar nicht gesehen in deiner Ecke, was machst du denn ?« 150
»Den Bericht, du Faulpelz. Drei sagst du ? Wo denn ? Ich stelle mir immer die Frage, ob ich die Vornamen dazuschreiben soll. Später vielleicht.« »In Atony Grâce, Jean-Marie – und Régina«, verkündete der ehemalige Hilfslehrer, und immer noch gab sein Herz Zeichen, wenn er den Namen Régina aussprach. Ich lebe. Ich lebe noch, ich lebe immer noch, trällerte er Brigittes Lied, sehr fröhlich, vierzehn leben noch, hast du gesagt ? versprach er sich, wo ? »In Courtabœuf, Monturbin, Masturbeau, Macorbeille, warte, ich muß erst den Zettel finden, ich habe einen Lehrer-Kumpel dort, ein Absolvent der ACR , aber nicht mehr sehr ansteckend. Er hat sich auf die Kernkraftwerke gestürzt, um die Massen zu mobilisieren, na ja, auf jeden Fall läßt er uns Informationen zukommen.« »Kernkraftwerke sind gefährlich«, sagte Ours vom Spülstein aus, wo er Töpfe scheuerte, »du steckst aus irgendeinem Grund den kleinen Finger hinein und schon ist dein ganzer Arm im Ekobiomystikum, und was dann geschieht, weiß Gott …« »Manchmal findest du dich sogar selber«, sagte Chat. »Bloß ein zappelnder Wurm, der nicht kre pieren will, weil der frische Humus gut ist.« Er stand mit seinem Gedeck auf, da er fertig war. »Ich hole noch eine Flasche, um dein Aufgeben zu feiern.« »Und was hast du sonst noch aufgegeben«, fuhr Airelle fort, den Scheuerschwamm wie ein Schwert in der Hand. 151
»Ich weiß nicht. Meine sexuellen Grundsätze ?« schlug er freundlich vor, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen. Er wußte, daß Airelle ihn nicht mochte oder ihn nicht schätzte oder sonst was. Vielleicht wegen Tulipe. Noch von der Zeit her, als es hieß, Airelle sei nicht politisch. Während er es war, Scheiße. Und du warst nicht einmal anständig genug, es zu verbergen, verspottete er sich. Kleiner Arsch. Er sah zu Tulipe hinüber, weil er sich wun derte, daß sie sich nicht einschaltete. »Es kommt ihr«, sagte Ours, »laß sie.« »Neidisch«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Denn das könnt ihr nicht haben.« »Ich bin neidisch«, sagte Airelle. »Ich wußte das nicht. Luciole hat Milch gekriegt laßt-sie-lebenund-hinterher-krepieren, ich fand das praktischer und befreiender. Scheiße befreiend, was habe ich mir die Hölle heiß machen lassen !« »Ich auch, Undankbare«, sagte Ours. »Also schön, wir haben uns beide die Hölle heiß machen lassen, anstatt daß eine ihren Genuß hat, das ist alles. Das hat uns keiner gesagt, es ist ihnen wieder einmal gelungen, uns an einer Reise ins Paradies zu hindern, das ist der ganze Kommher, und das ist politisch ! Zu meiner Zeit war das zum Kotzen und reaktionär. Aber wenn ich wieder eins mache, werde ichs so halten wie du.« Aber was haben die nur alle ! Was habt ihr denn alle ? schrie Mann fast, unfähig die Übervölkerung die Strahlen die weibliche Entfremdung zu vergessen, 152
sich in den Widersprüchen verheddernd. Ich be greife nicht. »Ich dachte, du hättest deine sexuellen Grundsätze aufgegeben«, sagte Airelle, »ich will mal nachsehen, was Luciole macht, sie muß schließlich was essen.« »Aber vielleicht nicht die Grundsätze der an dern ?« sagte Ours, um etwas Luft zu machen. »Wir verstehen auch nicht so recht«, sagte Tulipe sehr sanft, »ich glaube, du bist fertig, meine Mandarine.« Sie drehte sie in die Verdauungsstellung. »Es ist soweit, sie sind gerade dabei, die Ewigkeit zu entdecken«, sagte Airelle und machte die Tür zum Garten wieder zu. »Es ist ziemlich mild draußen, heute abend.« »Wie hast du reagiert ?« sagte Ours, ein wenig ins Blaue hinein. »Ich habe gesagt: was für eine schöne Nacht und bin wieder gegangen.« Sie legte ihre Bleistifte auf den fast sauberen Tisch. »Sie konnte ihnen schließlich nicht dabei helfen«, sagte Tulipe. »Sie wären schockiert gewesen.« »Was mich etwas stört, das ist, daß Francine das vielleicht während der Messe tut, weil sie glaubt, es bringt sie Gott näher.« »Es bringt sie ja auch näher«, sagte Chat und kam mit einer Flasche zurück. »Ich meine, wenns einen gäbe.« »Die wird mit Sicherheit überhaupt nichts tun, schließlich sind die Kinder nicht ganz blöd«, sagte 153
Mann und wusch sein Gedeck, »im allgemeinen wissen sie ganz genau, wo sie sind.« »Contourneaux !« rief Tchouc, wieder aufer standen. »In Cortabœuf sind es zwei und nicht fünf. Ebenfalls eine Aufbauschule, das hat mich irregeführt, ich verstehe wirklich nicht, warum ich das tue, wo ich so wusselig bin, ich kenne nie manden, der so wusselig ist wie ich, na ja, ich hab mich wieder zurechtgefunden. Ich finde nämlich alles wieder. Freunde«, verkündete er, »es ist eine Massenbewegung. Ich bin jetzt bei vierundfünfzig.« Sie brachen alle in Gelächter aus. »Ihr seid doch wirklich Hundsfotte«, sagte Tchouc traurig. »Bei solchen Hausmacher-Informationen muß man na türlich mit ich weiß nicht wieviel multiplizieren.« »Du hast recht«, sagte Ours, »du mußt schon entschuldigen, aber die Massenbewegungen, verstehst du, die haben wir schon an den fünf Fingern abgezählt.« »Wenn die Zahl erst mal im Bulletin steht mit einem Aufruf, weitere Informationen zu liefern, wird sie bestimmt noch einmal einen Sprung nach oben machen.« »Ich glaube, Tchouc hat recht«, sagte Mann. »Sie haben derart den Arsch voll. Nach dem, was ich gespürt habe.« »Spürst du jetzt ?« sagte Airelle. »Denkst du nicht mehr ?« »Nein«, sagte Mann und verlor ein wenig die Nerven, aber es ist deine eigene Schuld, sagte er 154
zu sich, du warst wirklich zum Kotzen, er fand seine Nerven wieder, aber trotzdem müßte sie doch merken, daß ich mich geändert habe, sie ist nicht sehr feinfühlig, er verlor wieder die Nerven, es tut weh, nicht geliebt zu werden, Alter, sagte er zu sich und war traurig. »Nein«, sagte er, »ich bin blöd.« Darauf gab Airelle keine Widerrede. »Du, sag mal«, sagte Tchouc auf seinem Trip, »was hast du da vorhin von einem Mädchen erzählt ? War die auch ausgerissen ?« »Alice ! War die lieb«, erinnerte sich Mann. »Wir haben eine Familienszene gespielt.« »Fünfundfünfzig.« »Sie war eigentlich mit Freundinnen zusammen.« »Wievielen ?« »Entschuldige bitte, aber ich stelle keine Fragen. Ach ja, da ist noch die mit dem Fahrrad. Und ihre beiden Freunde … Ich habe auch eine Schar Pfadfinder gesehen, recht seltsame Typen, aber darauf kann ich keinen Eid leisten.« »Die hab ich schon. Ist das alles ?« »Ich sehe überall welche«, sagte Mann. »Aber ich bin paranoisch.« »Sechzig !« triumphierte Tchouc und es trat eine Stille ein. Man hörte einen Rülpser. »Heiliger Fraß, sie sind fertig ! Und sie sind nicht gestorben«, sagte Airelle. 155
Das waren sie nicht. Etwas schwankend auf ih rer Bank sitzend, wie drei Stare auf einer Leitung, rissen sie weit die Augen auf. »Wenn ihr mir sagen würdet, wo ihr herkommt, würde mir das weiterhelfen«, sagte Tchouc. »Aus Pa …«, sagte Paul, aber Pierre gab ihm einen Tritt ans Schienbein und er hielt den Mund. »Keine Angst, ich werde das nicht publizieren«, sagte Tchouc. »Ich frage nur so für mich.« »Sie wissen sowieso, daß ihr getürmt seid«, sagte Ours folgerichtig. Die Stare blieben aus Marmor. »Aber ihr habt recht, gebt nie etwas zu.« »Wir haben uns gut amüsiert«, sagte Luciole und kam verklärt herein, »aber ihre Eltern haben sie zu Tisch gerufen, ich habe Hunger.« »Ich hoffe, ihr habt noch was übriggelassen, ihr Piranias«, sagte Airelle. Luciole, die auf der Bank kniete, flüsterte ihr etwas ins Ohr und man sah, wie Airelle rot wurde. »Sie fallen vor Schlaf um«, sagte Ours, um ein wenig Lärm zu machen. »Ich bringe sie nach hinten, ja ? Fredo kann bei Tchouc schlafen.« »Wo kann man denn Pipi machen ?« sagte Paul. »Im Garten.« Sie gingen hinaus. »Die haben be stimmt was verbrochen, bevor sie stiften gegangen sind«, sagte Tulipe und setzte sich zu Tisch. »Die haben bestimmt Bonbons gestohlen. Oder zwanzig Francs aus dem Geldbeutel ihrer Mütter. Ja, sie haben noch was übriggelassen.« Auf dem Sofa lag Chat halb ausgestreckt mit offenem Hemd, das 156
Baby wie eine Kröte auf seiner Brust, ihre Haut war von derselben Farbe, Chat streichelte die ganze Oberfläche des gold-häutigen Kindes, es bewegte sich auf ihm wie eine Alge im Wasser. »Sie wird später einmal ganz verrückt nach ihm sein.« »Warum später ?« sagte Chat. »Sie lebt doch jetzt schon.« »Nach mir hoffentlich auch«, sagte Tulipe. »Ihr Freudianerbande.« »Nach mir auch«, sagte Luciole. »Ihr Hornissenbande, ihr heimtückische.« »Ich hoffe, daß sie in alle Welt verliebt sein wird«, sagte Chat. Orange räkelte sich in alle Richtungen auf ihm und schlief ein. Chat machte sein Hemd und die wärmende Decke seiner Hände über ihr zu. »Weint sie nie ?« sagte Mann. »Wenn sie einen Grund hat«, sagte Chat. »Wenn wir die Botschaft nicht mitbekommen. Jetzt hat sie keinen.« »Wenn wir die Botschaft nicht mitbekommen, weint sie nicht, sie ruft«, verbesserte Tulipe. »Das ist eben der Unterschied. Die Säuglinge weinen, wenn sie verzweifelt sind. Verstehst du, Fredico, Orange ist gewaltlos zur Welt gekommen …« Die drei Jungen kamen aus dem Garten zurück, nachdem sie ziemlich viel Zeit zum Pinkeln ge braucht hatten, dachten alle. 157
»Habt ihr euch gut amüsiert ?« plärrte Luciole. Sie verdrückten sich in Richtung Flur und brummten, daß sie vor Schlaf umfielen. »Ihr könntet antworten, wenn man mit euch spricht«, sagte Luciole. »Ihr dummen Pflaumen. Jungens sind Plumpsäcke. Ich mag Mädchen lieber.« »Ich schlage vor, daß ihr jetzt eure Teller wascht«, sagte Airelle höflich, »morgen früh wird es noch mühsamer sein.« Die beiden Ältesten sahen sie ärgerlich an. Paul ging sein Gedeck holen. »Hier wäscht jeder seine Schüssel«, erklärte Airelle, »das ist leichter«, fügte sie noch hinzu, Jacques gab unter dem Gewicht nach. Die Augen des letzten irrten von einer Frau, die nichts tat, Airelle zeichnete, zu einer anderen, die auch nichts tat, Tulipe aß ruhig; blieben an Ours’ Gesicht hängen, Ours, der aufgehört hatte, den Spülstein zu scheuern, und brachen sich hier. Pierre verdrückte sich. Danach mußte man diesen beiden Unterricht geben, ih nen zeigen, daß es gar nicht so schwer war, eine Bande von Idealisten sind wir, brummte Ours, du brauchst nicht wie ein Ochse zu reiben, du kleiner Arsch. »Sei etwas nachsichtig, Nonours, du mußt die intellektuelle Verspätung der Jungen bedenken«, sagte Airelle. Paul hatte sich ganz allein zu helfen gewußt. Er war siebeneinhalb Jahre alt. Er war auf die Idee gekommen, sie sollten sich zur Mittagszeit ver 158
stecken und einsperren lassen und dann die ganze Schule kurz und klein schlagen. Die Ergebnisse waren weit über die Vermutungen hinausgegangen. Es war besser abzuhauen. Deshalb wußten sie auch, daß sie nicht wie die andern waren, die nur die Schnauze voll hatten, die die Straße unter die Füße nahmen, die Bürgersöhnchen. Sie waren richtige Verbrecher, und man hatte im Fernsehen von ihnen gesprochen, und in einem Schaufenster hatten sie ihre Schule verwüstet gesehen. Sie beschlossen im Morgengrauen stiften zu gehen, bevor die andern aufstanden. Pierre fand, daß diese Leute nicht sicher waren, das waren Pfaffen und Compagnie. Paul hätte noch gern das Frühstück eingenommen, auf das hingewiesen worden war. Aber er wurde überstimmt. »Ich hätte diese beiden rausgeschmissen. Und das mitten in der Nacht«, brummte Ours nach ihrem Rückzug, »vor allem den größten. Ich kann diese Bürschelchen, die sich so chauvinistisch als Mann fühlen, nicht ausstehen.« »Diese Neophyten«, sagte Tulipe zärtlich, »die kommen aus Damaskus zurück mit dem Fuß auf dem Gashebel.« »Je größer desto dümmer«, zitierte die Kleinste, weil sie das einmal auf dem Hof in bezug auf ihre Freundin Francine, fünf Jahre alt, gehört hatte. »Das ist ganz normal, Luciole, man bläut ihnen eine idiotische Rolle ein, und wenn sie sie nicht gut spielen, werden sie bestraft, und am Ende kennen 159
sie ihre Rolle auswendig, verstehst du ?« Luciole fing an, darüber nachzudenken. »In der Hauptsache sind die Hauptschulen be troffen«, verkündete Tchouc, seine Unterlagen in der Hand. »Die Siebtkläßler, mit Metastasen bis in die fünften Klassen hinein und sogar noch drunter, wie das Beispiel dieser drei zeigt. Weiter oben«, sagte Lehrer Tchouc, »ist es in den B- und C-Klassen verbreitet. Die A-Klassen und die na turwissenschaftlichen Züge sind völlig ausgespart. Spricht dieses Bild nicht Bände ?« schloß der Lehrer. »Das kommt alles von der letzten Schulreform.« »Eine Statistik, die auf sechzig Fällen basiert«, sagte Airelle. »Eine Mustersammlung«, berichtigte Mann. »Ich glaube, daß es stimmt. Und es ist logisch. Sie können es nicht mehr ertragen, daß sie zum Müll geworfen werden.« »Diese Kinder fliehen nicht. Man wirft sie weg«, sagte Tchouc. »Sie fallen vom Baum«, sagte Tulipe. »Wie reife Früchte.« »Faule. Vom faulen Baum«, sagte Ours, der sich um Pauls Angelrute kümmerte: er zog eine Schnur ein. »Das ist wunderbar«, sagte Mann, in Ekstase versunken. »Bringt man mir auch eine idiotische Rolle bei ?« sagte Luciole in das Schweigen hinein. 160
»Heiliger Brei«, sagte Airelle, »das mußte ja kommen. Wenn ihr die Kinder nicht daran hindert, intelligent zu sein, geben sie euch eins drauf.« »Geb ich dir eins drauf ?« sagte Luciole, entzückt über eine Anspielung, die niemand verstand. »Ja, mein Zündholz. Vielleicht eine idiotische Rolle, die lustiger ist ? Hoffen wir es jedenfalls. Du kannst ruhig haha machen, Milchtier, wenn du dir etwa einbildest, daß deine Spezial-Orange auf dem Korb dir keine Probleme stellen wird ! …« »Ich laß sie ziehen«, sagte Tulipe. »Ich schüttele mein Bäumchen, sobald sie reif ist. Mit sechs Jahren kann sie hingehen, wohin sie will.« »Ich will nicht weggehen«, sagte Luciole. »Ich will hierbleiben, ich fühle mich hier wohl.« Sie lehnte sich in einen Sessel zurück und um armte fest seine Lehnen. »Du Blutegel«, erklärte Airelle. »Noch ein Jahr, allerhöchstens, und dann raus, hast du die befreite Tulipe nicht gehört ?« Lucioles Mund verzog sich nach unten und bildete einen umgekehrten zuneh menden Mond, und dicke Tränen begannen aus ihren Augen zu rollen, man mußte alles wieder zurücknehmen, schwören, daß man sie nicht raus setzen würde, daß man nur Spaß gemacht hatte. »Siehst du«, sagte Airelle, die wieder zur Schlummerlied singenden Mutter aus der Jungsteinzeit geworden war, und Luciole nutzte die Gelegenheit, daß sie da war, um ihr das Hemd aufzumachen und an ihrer Brust zu saugen, sag mal, dazu bist 161
du etwas zu groß, scheint mir, ham ! sagte Luciole an der Brust, Airelle wurde rot, alle wandten sich freundlich anderen Dingen zu, die Freiheit zu mehreren war nicht einfach, und wo soll man haltmachen ? Mann hatte die Augen geschlossen und dabei plötzlich schmerzhaft an Régina ge dacht, wo soll man haltmachen ? Nirgends, sagte er, nirgends, warum haltmachen ? Weiter ging sein Gedanke nicht, schade. »Einer meiner zahlreichen Gründe, keine Kinder in die Welt setzen zu wollen«, sie sah Mann einen Augenblick an, »war der, daß ich mich unfähig fühlte, sie zu erziehen«, sagte Tulipe. »Ja«, sagte Mann, »wo soll man haltmachen ?« »Erziehen ! Ist dir eigentlich klar, was das heißt, und für wen hält man sich überhaupt ? Ich hoffe, daß sie mich erziehen wird«, sagte Tulipe. ›Sie‹ schlief auf Chat, der ebenfalls eingeschlafen war. »Ja, sie wird besonders sein«, verkündete Tulipe. »Oder das alles ist ein Witz. Was wir denken. Was wir uns zu glauben erlauben. Deshalb habe ich sie zur Welt gebracht. Verstehst du, Fredo«, sagte sie zu ihm, »sie ist nicht wie wir auf die Welt gekom men. Sie ist hier geboren worden. Marc war hier, für den Fall eines Falles. Man hat ja doch Schiß, es ist zwar blöd, aber man hat uns schließlich diese Angst eingebleut, dabei ist geboren werden ganz normal, es ist keine Krankheit. Na ja. Der Fall ist nicht eingetreten. Wir haben ihr keine Klapse gegeben, nichts. Sie hat ganz von allein geatmet, 162
nach und nach, auf meinem Bauch, ich hatte den Eindruck, daß ich ein Kätzchen zur Welt gebracht hatte. Groß und ohne Haare. Man hat sie in lau warmem Wasser gebadet …« »Sie hat die Augen aufgemacht«, sagte Chat, er schlief nicht. »Und sie hat mich angesehen, du kannst dir gar nicht vorstellen wie. Glaub mir, sie hat mich angesehen – ich bin immerhin die erste Person, die sie auf dieser Welt gesehen hat«, sagte er. »Deshalb will ich wissen, ob es sich nicht so ähnlich verhält, verstehst du ? Oder ob wir eine verkommene Gattung sind. In dem Fall, fort mit Schaden. Aber ich glaube es nicht, ich glaube es nicht … Verstehst du, Fredico ?« Er drehte sich immer wieder auf seinem Lager um, wie ein Pfannkuchen. Er wollte Ordnung machen und es gelang ihm nicht, willst du etwa dein ganzes Leben lang das Jüngste Gericht anrufen ? Kleiner Arsch, Pfaffe. Und wieder und wieder. Er sah wieder das goldhäutige Kind auf dem goldhäutigen Mann, und er war eifersüchtig, dabei will ich das gar nicht, also was ? Auf jeden Fall wäre er nicht goldhäutig gewesen, sie wäre nicht, das wäre nicht, ach was ! Er vermochte nicht herauszufinden, ob dieser Wunsch nach einem Kind, so seltsam, so neu, bei läufig, gegen die GESCHICHTE und fast gegen das WEIBLICHE SELBSTVERSTÄNDNIS , richtig, jetzt fängst du wieder an in Großbuchstaben zu denken, 163
kleiner Arsch, kleiner Arsch, da kann doch irgend etwas nicht stimmen, komm, fang wieder von vor ne an, aber ohne Großbuchstaben, war es einfach der Druck des Systems, Scheiße, einfach eine Art Rückschritt, soll sich mal einer zurechtfinden, wenn die Natur revolutionär wird, nein Scheiße, das da nicht, das da nicht, ein anderes Wort, aber welches, man hat ja keine Worte mehr, wenn die Natur, wenn die Natur das ist, was sie ist, dann ist sie sowohl das WERK DES MENSCHEN , das war absichtlich, das waren die Großbuchstaben der Ironie, als auch das Werk dieser Ärsche, ist Scheiße, im Kate-Marxismus war es das Gegenteil, nein, umgekehrt, die Natur ist die schönste Eroberung des Menschen, delenda est natura, gut sie ist es, unterdrück deine Launen, Papa, wo bin ich, in der Natur, die Natur ist revolutionär, was solls, ich habe nichts anderes. Vielleicht ist es das ? Oder die erste Wirkung einer Befreiung, ach Scheiße, wie könnte eine Befreiung eine Entfremdung zur Folge haben, Scheiße, Scheiße, quälte sich Mann, ich ver stehe nichts davon. Oder ein dunkler Instinkt, ein kollektives Unbewußtes, wo gerätst du hin, Alter, wo gerätst du hin, eine Vorahnung von von von. Wenn über den gepflügten Äckern sich plötzlich die Raben vermehren, ist das die Verkündigung großer Erschütterungen. Koran. Das stammte noch aus seiner palästinensischen Zeit, gut, im merhin ist noch etwas davon übriggeblieben. Wenn die Raben und die Frauen sich vermehren, ist 164
das die Verkündigung, die Verkündigung. Die Verkündigung Réginas, er sah Régina strahlen und schlief auf einen Schlag ein. Sie schlief nicht. In dem Felsenloch eines Kreide steinbruchs, den sie endlich entdeckt hatten, war teten sie darauf, daß David, der neben ihnen lag, einschlief, um in Anbetung zu versinken, so sag ten sie, und den ganzen Tag über waren sie nicht schwach geworden, so sagten sie auch, weil sie keinen Wald gefunden hatten, auf die Dunkelheit vertrauend, aber nein, nichts, wegen dieser gewiß bezaubernden, dieser wunderbaren drolligen poe tischen Gegenwart, die aber ein Junge war, er hatte ihnen sein Leben erzählt, geliebter Sohn, allzu sehr geliebt von der Mutter, verachtet vom Vater, denn du wirst nie ein Mann werden, mein Sohn, nicht begabt, Null in Mathe, hielt es in keiner Schule aus, nicht mal im Kirchenchor, und dabei liebte er die Musik, ist es denn meine Schuld, wenn da immer ein Pauker ist, der mich nicht leiden kann oder aber zu gut oder aber, Scheiße, ich weiß nicht was ich bin, ich liebe niemanden, außer dir selber, sagte Grâce, die ihn immer hänselte, ich gebe es zu, ich bin der wiedererstandene Narziß, kurzum su-per-interessant aber. Jetzt. Jetzt wo er schläft. Als der Atem des Jungen regelmäßig wurde, glitten sie still unter die Decke. Er schlief nicht. Er erlebte die Szene von neuem, zuerst in ihrem Horror, den stummen Kampf, und nach und nach modifizierte 165
er sie, änderte die Umstände, den Rahmen die Person die Worte, fügte alles so, wie es ihm behagte und träumte die Einzelheiten, so wie er sich früher jeden Abend einen Bilderbogen schuf, den er im einzelnen durchträumte, von den schmerzlichen Ereignissen seines Lebens bis zum neu erfundenen Paradies. Er wartete, bis sie schlafen würden, um einzutreten. Als ihr Atem gleichmäßig wurde, be tete er sich schweigend selber an. Sie schliefen nicht. Nur Mignon schlief in dieser Nacht, abgesehen von einem Stündchen, in dem er auf die Jagd ging. Er fing eine Waldmaus. Immerhin besser als nichts. Er legte sich an den Eingang der Grotte und bewachte seine Menschen, und er tat gut daran.
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Der Schrei des goldigen Kindes weckte ihn. »Aaaa !« sagte Orange, als sie den Tag sah, und die Botschaft wurde sicherlich empfangen, denn es gab kei nen anderen Ruf, und sie weinte nicht, war nicht verzweifelt. »Ich geh raus !« brüllte Luciole, groß in Form. »Ich gehe mit Francine spielen.« »Frag drüben doch bitte mal nach, ob sie kein Brot übrig haben, ja ?« Das Gartentor schlug zu. Fortgeflogen. »Sie entwickelt in letzter Zeit eine beachtliche erotische Aktivität«, sagte Airelle. »Kein Krümel, ich kann suchen, soviel ich will. Diese kleinen Säcke«, sagte Ours. Die drei Jungens hatten sich davongemacht und das ganze Brot mitgenommen. Chat stieg aufs Fahrrad und fuhr ins Dorf welches holen. Die Sonne schien in die Küche. Am Fenster saß die Madonna mit dem Kind und gab sich dem Genuß des Stillens hin. Das Leben begann von neuem. »Bleibst du bei uns ?« sagte Ours. Er brach auf. Chat brachte zwei Brotlaibe. »Ich habe einen für dich genommen.« 167
»Der Kaffee ist fertig«, sagte Airelle, »du wirst doch wohl noch frühstücken, bevor du dich auf den Weg machst. Also, wenn du unterwegs bist, schick uns alle Informationen, die du auftreiben kannst, ja ?« Tchouc kam mit einem Packen Fotokopien. »Ich habe dir Abzüge gemacht, verteile sie, wenn sich die Gelegenheit bietet, kommst du eigentlich in Montpézat bei Lyre vorbei ?« »Vielleicht nicht zu sofort«, gab Mann zu ver stehen, »ich gehe zu Fuß.« »Machst du keinen Autostop ?« »Ich gehe zu Fuß, da lerne ich mehr Leute kennen.« »Du, das ist eine Idee, du könntest unser Verbindungsmann werden ! Unser Wanderprediger. Mensch, Alter«, sagte Tchouc, »wenn wir Relaisstationen einrichten könnten ! … Ich träu me, wie ?« »Ich auch«, sagte Mann. »Auf jeden Fall ist das der einzige Ausweg.« »Der Norden ist etwas leer«, sagte Airelle und betrachtete die Karte »Vorläufiger Straßenzustand«, die Tchouc in seiner fruchtbaren Nacht fertiggestellt hatte. »Sie lieben die Wärme«, sagte sie. »Warum sind sie bloß alle hier in der Gegend ? Ich habe mich schon gefragt, warum ich sie alle treffe …«, bemerkte Mann. »Ach, Quatsch, das ist nur, weil du gerade hier bist. Anderswo ist es bestimmt genauso …« 168
»Dann ist es also wirklich eine Massenbewegung«, sagte Chat. »Ich spüre, daß ich auch noch zu träu men anfange.« »Sie gehen alle ans Meer«, sagte die Madonna von ihrem besonnten Ehrenplatz aus. »Du auch, Fredico ?« »Wenn alle dorthin gehen, gehe ich natürlich auch. Mein Gott ! Vielleicht lasse ich mich nur von der Strömung mittragen !« sagte Mann verzückt. »Das ist mir gerade eingefallen …« Vom Strom der Geschichte, dachte er und glaubte, er mache sich über sich selber lustig. »Gut, dann willst du uns also verlassen«, sagte Ours. Ja, ich bin neidisch auf dieses physische, un mittelbare, intelligente, schön gelegene Glück, ja ja, die Selbstversorgung ist der richtige Weg, aber. Sogar Airelle schien ihn nicht mehr zu hassen, sogar Tulipe, Tulipe liebte ihn auf eine Art, die seine Seele beruhigte. Besser als vorher. Aber ich muß gehen. Ich will in ihren Spuren gehen, selbst wenn es daneben ist, sie zieht mich, sie trägt mich, sie hat mich gerufen, sie hat mich aufgefordert. Sie hat mich behext. Ich bin in dieses kleine Mädchen verliebt. Régina. Nein, nicht verliebt. Naja, ich weiß nicht, sie leuchtet vor mir her wie der Morgenstern. Verstehst du ? »Ischtar«, sagte Tulipe. »Na, denn Adieu, Schäfer.« Ihre satte Orange auf dem Arm, setzte sie mit dem andern die Nadel auf eine Schallplatte, ganz 169
leise eingestellt. Mann ging unter den Klängen der Achten Sonate von Mozart weg. Er hatte geträumt, daß er Chat ein Kind mach te, das war wirklich zuviel. Er ging entschlossen weg. Von der 163 aus ging er geradewegs Richtung Süden, auf einem Landweg. Es war fast Mittag, Régina war schon vor Stunden mit den Ihren aus dem Steinbruch aufgebrochen und war links auf eine kleine Landstraße eingebogen. Mann spielte »Blowing in the Wind«, er machte Fortschritte und er fragte sich, ob »sie« eher in den Städten oder in den Wäldern, auf den Landstraßen oder auf den Seitenpfaden wären. Als er auf die 443 stieß, badeten Régina, Grâce, David und Mignon gerade weiter unten im Loing, nackt und ohne Zeugen. Sie sahen sich sehr vergnügt und sehr erotisiert an, denn sie wußten Dinge voneinander, über die man nicht spricht. Außer Mignon, der hinter den Mücken herlief. Grâce und Régina verschwanden in den Erlen des Ufers. David legte sich in die Sonne und träumte allein. Er sah ein wunderliches Schiff vorbeifahren. In Form einer Schachtel, vorn unbe stimmt dreieckig, dazu ein viereckiges Segel. Ein Kind war an Bord, mit einem grauen Hund und bediente den Bootshaken. Mignon fing vom Ufer her zu heulen an. Seinesgleichen gab ihm Antwort und lärmend plauderten sie miteinander, Mignon jagte am Ufer entlang und sprang schließlich ins Wasser. Grâce und Régina tauchten laufend, schrei 170
end und winkend aus dem Wäldchen auf. Félix ! Félix ! Das Kind winkte von weitem zurück, aber das Schiff entfernte sich, schoß auf der Strömung dahin, verschwand. »Das war er ! Das war er !« riefen sie und stampf ten mit den Füßen im Schlamm. »Er folgt den Aalen.« »Macht bitte etwas weniger Krach«, sagte eine versteckte Stimme. »Ihr erschreckt die Fische.« Eine Frau in blauer Heizermontur kam mit einer perfektionierten Angelrute hinter großen Bäumen hervor. »Verzeihung, wir wußten nicht, daß Sie da wa ren«, sagte Grâce höflich und nackt. »Ich hatte gehofft, die Fische wüßten es auch nicht«, seufzte sie. »Na ja …« Sie kehrte zu ihrem Angelplatz zurück. »Es war ein Traum«, flüsterte Grâce, »sie hat nicht gesehen, daß wir splitternackt sind.« »Und sie erkannten nicht, daß sie nackt wa ren«, zitierte David biblisch. »Das geschah in ei ner sehr fernen Zeit und an einem Ort namens Paradies …« Er zog an dem Seil eines vertäuten Bootes. Schlank, wendig wie auf einer Felszeichnung, und von der Farbe des gebackenen Brots. Sie lösten das Seil, während er das Boot festhielt, sie flochten die Kordel auf, eine Hälfte wurde dem Boot zurück gegeben. »Ich hoffe, daß es sich damit zufrieden gibt, die Strömung ist ziemlich stark, euer Kumpel, 171
der Seefahrer«, sagte David, »fuhr eigentlich gegen die Strömung …« »Ja und, wenn es ihm Spaß macht«, sagte Grâce. »Da es sowieso ein Traum ist, kann er tun was er will. Wir haben ihn dir geflochten, schau mal, hier, wie hübsch ?« Voller Dankbarkeit gürtete David seine Jeans, die große Lederjacke, die Grâce gegen seine kürzere aus gefüttertem Skai umgetauscht hatte, verhüllte den Winkelhaken im Hintern. David war fast an nehmbar, Grâces roter Pullover paßte zu seinem Teint. Régina trug seinen grauen, Grâce Réginas blauen, so waren sie unkenntlich. David, der (endlich !) die Hände frei hatte, schob den Puppenwagen mit seiner Rechten, auf der Wegseite. Régina hielt auf der anderen Seite ihren Hund fest und Grâce ging in der Mitte, sie hielten sich bei den Schultern und sangen Am Klaren Brunnen, das einzige Lied, das sie alle kannten, aber ich werde euch bessere lehren, versprach David. Es war wie an einem schönen Sonntag. Am Abend brieten sie im Schloß am großen Kamin ihr Hähnchen, das ist kein Witz. Das Schloß hatte kein Dach mehr und kaum noch Mauern, aber der Kamin war da, das Hähnchen war ein Geschenk Mignons, das er in der Schnauze angebracht hat te, zum Glück schon getötet. David hatte im mer Streichhölzer bei sich, wegen eines geheimen Traums von Bränden. An trockenem Holz fehlte es nicht. Sie vergaßen, das Huhn auszunehmen, und 172
es war auch nicht sehr gleichmäßig gebraten, aber im Frieden gilt Friedensbrauch, Mignon bekam den ganzen Rumpf und schmeckte offenbar nicht, wie bitter der war. Auf dem Steinboden legten sie die Decke aus, alle Jacken, alle Pullover, denn es war hart auf der Erde, und schließlich auch die Jeans, denn sie hatten warm vor dem Feuer, in dem ein Stück Balken zu brennen geruhte. »Würde es Euch passen, edle Herren, hierda zu ruhen«, sagte David, ein Knie auf der Erde, »und einen armen Sänger anzuhören, der in dieses Schloß kommt.« Sie setzten sich, Réginas Hand lag auf Mignons Stirn, die Dame mit dem Einhorn, Grâce lehnte an ihrer Schulter, der Abend begann mit Sagt holde Frauen, aus der Hochzeit des Figaro. David hatte eine warme Stimme, er war noch nicht im Stimmbruch, eine Seltenheit, und besaß eine Könnerschaft, die er dem Chor und ein Répertoir, das er sich selber verdankte. Er war ein BeatlesFan. »She’s leaving Home« brachte sie fast zum Weinen, wurde in Nullkommanichts gelernt, sie konnten »la Nuit« von Rameau dreistimmig singen, und es war eine wunderbare Süße, wie sie alle drei, sich um den Hals haltend, singend unter der blauen Wega lagen, und als sie in dem Lied Auf den Stufen des Palastes an die Stelle »Bis ans Ende der Welt« kamen, taten sie alle so, als schliefen sie ein. Wissend, daß es nicht der Fall war. 173
Zu diesem Zeitpunkt hatten Manuel und JeanMarie noch kein Wort miteinander gesprochen. Sie standen ganz und gar über der Sprache. Nur ihre Hände und ihre Füße hatten sich berührt, um einander nach einem Ritual, das keine Variation kannte, die Schuhe anzuziehen: wer bar fuß ging, setzte sich, wenn er genug davon hatte. Der Barfüßige zog dem Beschuhten langsam die Schuhe aus. Der wiederum zog sie dem Barfüßigen langsam an. Zwischen beiden Vorgängen gab es einen Augenblick der Kontemplation. Ein kurzer Augenblick, ohne Selbstgefälligkeit, ohne Kommentar, nicht einmal einem inneren. Sie schauten nur. Und gingen weiter. Sie waren nie müde. Sie machten nur halt für die Zeremonie des Schuhanziehens und zum Schlafen, egal wo, wenn es nur abseits von menschlichen Behausungen war. Sie empfanden weder Kälte noch Feuchtigkeit, noch Insekten. Sie schliefen wie Denkmalsfiguren, Seite an Seite, wie zwei Balken, zwei Grubenstempel. Sie vermieden die Städte, lebten von Brot und Käse, das sie in den Dörfern kauften. Wenn er konnte, stahl Manuel ein Stück Obst, das er in den weiten Taschen seiner Waisenknabenhosen verschwinden ließ. Manchmal, in Städten, die nicht zu umgehen waren, anderes. Manuel hatte Genie in den Händen, er war unfaßbar, selbst JeanMarie sah es nicht, wenn er stahl, es war ein Blitz, ein Irrlicht, eine Welle. Manuel war das schönste Gemälde der Welt, außerdem war er lebendig. 174
Manuel konnte man betrachten. Jean-Marie war ein Engel. Sie aßen im Gehen. Suchten sich eine Ecke, um sich auszustrecken. Und das Leben ging durch ihre Leiber hindurch. Sie kamen als erste in die Berge, und dort oben machten sie halt, um zu schauen. Es war das erste Mal, daß sie nach außen sahen. Sie begannen zu schreien, zu laufen, rannten den Abhang hinab, zuerst in auseinanderstrebende, dann in zueinanderstrebende Richtungen, und mitten im Schrei fielen sie einander in die Arme, in voller Geschwindigkeit, es war wie das Aufeinanderprallen zweier Mauersegler im Flug, schmerzlich. Und sie verblieben so, einer in den andern versenkt. Halleluja.
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Paul ging allein weiter. Einerseits mißfiel ihm das nicht, weil ihm das noch nie passiert war. Entweder zu Hause: die Schwestern und der Bruder im Zimmer. Oder in der Schule oder bei den Falken. Oder in der Ferienkolonie. Die Einsamkeit war für Paul ein unbekannter Zustand außer auf dem Scheißhaus, aber davor wartete dann irgendjemand, bis er an die Reihe kam. Wenn er daran dachte, wurde ihm ganz komisch zumute, jede Minute seines Lebens hatte er mit Leuten um sich herum zugebracht. Er wußte nicht, ob das gut war oder schlecht, nie ganz allein zu sein. Aber er hatte das Gefühl, als hätte er mehr Luft. Er streckte die Arme aus, um zu sehen, bis wohin sie reichten. Bis ans Ende. Ohne von den Möbeln zu reden, den Wänden, den Decken. Niemand geht mir auf den Wecker, sagte er erstaunt zu sich, das ist es. Er sagte es sich wieder, ganz laut, um sicher zu sein: niemand geht mir auf den Wecker ! Sogar Pierre und Jacques gingen ihm in mancher Hinsicht auf den Wecker. Tu das nicht, tu dies nicht. Durch dich fallen wir noch auf. Füßtritte unterm Tisch. Das verstehst du nicht, dazu bist 176
du noch zu klein. Und sie ? Pierre war nicht mal zwei Jahre älter, sie gingen in dieselbe Klasse, weil Pierre sitzengeblieben war. Aber so war es erst, seit sie zu dritt waren. Vorher hatte es hingehau en. Pauls Ideen gefielen ihnen gut (die letzte ist Beweis genug). Sie fanden ihn lustig. Jetzt fanden sie ihn nicht ernsthaft genug. Sie waren frührei fe Missetäter auf der Flucht, mit den Bullen am Arsch, auf die das Gefängnis wartete. Paul sah das Gefängnis, das auf Pierre und Jacques wartete und mit dem Fuß aufstampfte, und die Guillotine sah auf die Uhr und sagte, sie sollen sich mal beeilen, sonst setze ich Rost an. Paul begriff die Lage nicht, er machte immer nur Blödsinn und sagte zum Beispiel 22, wenn keine Bullen da waren oder er versteckte sich nicht, wenn welche da waren und fing an, laut dummes Zeug zu verzapfen, wie etwa Ich sag es aber meinem Vater, daß ihr mich ge schlagen habt, und hielt sich dabei für ganz gewieft, durch dich fallen wir noch auf. Er sagte, wo sie herkamen. Er spielte mit den andern Kindern oder sprach mit ihnen, wie etwa mit diesen Zwillingen. Er hatte diese Zwillinge sympathisch gefunden, sie sahen aus, als lebten sie auf dem Mond, er hat nur Achtung, Stufe zu ihnen gesagt (es gab natürlich keine). Jetzt, nachdem er das Gefasel der Leute vom Bauernhof dort gehört hatte, fragte er sich, ob die nicht auch zu denen gehörten, die in allen Ecken ausgerissen waren. Es war vor allem wegen dieser Leute vom Bauernhof zum Bruch zwischen ihnen 177
gekommen. Pierre fand, daß diese Leute Pfaffen und Compagnie waren. Jacques war wie immer mit Pierre einer Meinung, und außerdem waren es nicht einmal richtige Bauern. Paul fand sie als Bauern zwar seltsam, okay, aber lustig. Du findest alles lustig, sagte Pierre. Sie haben eigentlich gar nicht wie Pfaffen gesprochen, sagte Paul, sich an manches erinnernd. Das sind Bürger, sagte Pierre. Nein, es sind Hippies, das ist dasselbe, sagte Pierre, sie hatten sich angeschrien, ob Hippies dasselbe war, sie sind gegen den Konsum, sagte Paul, der das von seinem Vater und seinem Bruder aufge schnappt hatte, du kapierst nichts, du bist noch zu klein, am Ende hatte Paul sich Bürgersöhnchen schimpfen lassen müssen. Und das stank ihm. Sein Vater war Postsortierer und streikte die halbe Zeit und er war in der kommunistischen Gewerkschaft und in der Partei. Gerade deswegen hatte Paul besondere Pflichten, den andern ein gutes Beispiel zu geben, was er nicht tat, und selbst wenn er es versuchte, war es nie das Richtige, er hätte der erste sein müssen, er war es nicht wegen seinem Betragen in der Schule (die Streiche) und der Mathe, der Vater konnte ihm soviel helfen, wie er wollte, wenn er ihn fragte, na, wieviel ist acht mal sieben ? Die Acht und die Sieben richteten sich auf, jeder für sich, na, Jungens, wo ist der Ball, und sie stießen gegeneinander, die Acht war zahlreicher, aber die Sieben mutiger, sie lagen beide auf dem Pflaster, auf jeden Fall ließen sie 178
sich nicht zusammenzählen. Bürgersöhnchen. Man sah, daß sie nicht wußten, was es heißt, einen kommunistischen Vater zu haben. Er hatte es ihnen nicht gesagt. Es kotzte ihn an, sich zu rechtfertigen, ich bin kein Bürgersöhnchen, mein Vater ist Prolet wie ihr. Scheiße. Er würde ihnen nicht hinten reinkriechen. Aber es stank ihm natürlich, und er hatte den ganzen Tag über ein Gesicht geschnitten. Er war weitergegangen, obwohl er die Haxen voll hatte, ohne ein Wort zu sagen. Im Wald hatten sie die Dose Makrelen brüderlich geteilt, sie unterhielten sich über Merckx und Chmerkx, wer besser war, ein Thema für Große und für Paul zu hoch. Und über ihre Geiseln (die Geiseln, die sie nehmen würden, wenn sie die bekämen). Paul hatte den Witz für sich behalten, wie sie ihren Geiseln das Fläschchen geben wür den. Oder einen andern. Am Morgen war er auf seinen Tannennadeln ganz allein wach geworden. Sie waren nicht zurückgekommen. Im ersten Augenblick trotzdem so etwas wie Panik: diese Hunde, sie haben mich sitzen lassen. Aber als er dann einmal richtig wach war und mit dem Rücken an einem Baum saß und der Lage ins Gesicht schaute, sagte er sich, na, mal abwarten ! Um so besser ! Ich habe nicht die geringste Lust, mit solchen Schuften zusammenzubleiben, die einen mitten im Wald sitzen lassen, ohne vorher was zu sagen. Es war übrigens ein kleiner Wald, es bestand keine Gefahr, sich darin zu verirren und außerdem, 179
was heißt verirren ? Sie hatten sich ja schon verirrt, denn sie wußten nicht, wo sie waren, sie waren verloren. Sollen sie halt ihrem Verbrecherschicksal entgegengehen. Paul fühlte sich gar nicht so sehr als Verbrecher. Kein gutes Beispiel, gewiß. Aber im Grunde hatten sie gar keinen so großen Schaden angerichtet. Nicht einmal einen einzigen Stuhl hatten sie kaputtge kriegt, diese verdammten Dinger hielten, waren stabil. Nur umgeworfen hatten sie sie. Ein paar Fensterscheiben, geleerte Papierkörbe, verschmier te Tafeln. Nur in den naturwissenschaftlichen Sälen hatte es richtig hingehauen, überall liefen die weißen Mäuse herum: übrigens war das seine Idee gewesen, als er erfahren hatte, daß Mäuse angekommen waren, alles andere geschah im Eifer des Gefechts. Der Laubfrosch, den er in seine Jacke gesteckt hatte, um ihn ins Grüne zu bringen, war verreckt, als er wieder an ihn gedacht hatte. Das ging ihm am meisten nach bei dieser ganzen Geschichte, hätte man ihn gefragt, bedauern Sie Ihre Tat ? hatte er gesagt: ja, den Laubfrosch. Er hätte ihm gern beim Springen zugesehen, und wie er sich fragt, aber das darf doch nicht wahr sein, was ich da sehe, Gras ! um sich dann völlig verstört davonzumachen, ihm, seinem Befreier, vielleicht ein kleines Zeichen des Dankes gebend. Das war verpatzt. Die große Angst waren nicht die Bullen. War der Vater. Einfach unmöglich, nach dem Vorgefallenen 180
vor ihm zu stehen, das ist alles. Unmöglich, das ist alles. Nach diesem Streich konnte er auch gleich weitermachen. Noch mehr zusammenkommen lassen. Und wenn er weitermachte, dann schon lie ber ganz allein. Das wäre jedenfalls nicht das Schlechteste. Schließlich lagen die Burschen und er nicht auf derselben Wellenlänge. Als er sich in Marsch setzte, verspürte er einen verzweifelten Beigeschmack. Aber als er einmal unterwegs war, wurde es etwas völlig anderes. Da er ganz allein war, konnte er stehenbleiben, um die Ameisen zu betrachten. Was sie tragen: als ob ich mit dem Montparnasse-Turm umherzöge. Der Kran von uns gegenüber. Was sie sich sagen, wenn sie sich begegnen (sie halten jedesmal ein Schwätzchen), he, du, dort unten ist ein schöner Haufen Hälmchen, oh, da muß ich sofort hin. Vergiß nicht, Brot mitzubringen. Sag mal, wo hast du denn meine Strümpfe hingeschafft ! He, kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst, du hast mir auf den Fuß getreten, wenn du meine Schwester siehst, sag ihr, daß das Baby flennt, sie soll sich beeilen, Scheiße, ich habe die Streichhölzer verges sen, kannst du mir welche mitbringen, ich habe die Suppe auf dem Feuer, und wie gehts heute morgen ? Nicht besonders, ich bin mit dem linken Hinterfuß zuerst aufgestanden, Mama, die da drüben hat mir mein Hälmchen weggenommen ! Ich möchte nur wissen, wo ich mein Ei hingeschafft habe, vor 181
einer Sekunde war es noch da. Das dauert aber lange. Aber wozu sich beeilen ? Warum beeilten sie sich nur so, fern oder nah, die Bullen hat man sowieso am Arsch, weil die nämlich Autos haben. Sogar Flugzeuge. Die Schmetterlinge. Die Farbe, die sie haben. Die Zeichnungen, die drauf sind. Um das zu se hen, muß man Zeit haben. Sie wissen nicht, was sie wollen, diese Schmetterlinge. Hier. Nein, dort, nein, vorher habe ich mich wohler gefühlt, nein, ich kehre um, ich mag lieber das Gelb, nein, das Rot, ach, Scheiße, ich gehe, ich habe genug von diesem Ort. Die Hasen. Um die Hasen zu sehen, braucht man sich nur unbeweglich an einen Hasenort zu setzen und zu warten. Wie erkennt man einen Hasenort ? Wenn man Erdhaufen sieht. Und auch das nicht alle Stunden. Eines Tages oder eher eines Nachts sah er, auf seinem Lager aus welken Blättern sitzend, das er sich gemacht hatte, eine Hasenversammlung. Das Thema hieß: die Jäger. Die Hasen diskutierten darüber, ob sie auswandern sollten und wohin. Einer schlug vor, sich in die Hasenställe zu setzen, dort wird man wenigstens gefüttert, bis man fett genug ist, um gegessen zu werden. Einer schimpfte ihn einen Verräter. Ein anderer wies darauf hin, daß man auch ohne Hasenställe gut im Futter sei, ein anderer, daß es überall Gras gäbe. Einer schlug vor, dorthin zu gehen, wo Jagen verboten steht, doch man sagte ihm, daß niemand lesen 182
könne, außerdem sei es eine Lüge, um alle Tiere in diese Gegend zu locken. Einer schlug vor, in den Zoo zu gehen, aber das ist nicht lustig, sagten die andern, dort kommt man auf trübe Gedanken, und sie beschlossen schließlich, die Frage auf die Tagesordnung der nächsten Versammlung zu setzen, plötzlich allgemeine Aufregung, sie ver schwanden in alle Richtungen und Paul sah: ein Fuchs ! Mit seinem großen Schwanz. Ein Stück Mond kam zum Vorschein. Er hatte noch nie einen Fuchs gesehen. Auch Unbekannte Tiere. Und ein Igel, als er im Morgengrauen eine Wasserlache fand, um seine Gelbrüben zu waschen, die er in einem Gemüsegarten ausgerissen hatte, mit Erde dran lassen sie sich nicht gut essen. Der Igel igelte sich ein, als er ihn berühren wollte. Er ließ ihn in Ruhe und wartete, nach einer halben Stunde rollte der Igel sich wieder auf und er sah ihn trinken ! Er hatte einen Kopf ! Wie ein kleines Schwein. Wieviele Dinge kann man doch sehen, wenn man allein ist. Bei den beiden andern durfte er nie stehen bleiben. Und ständig waren sie am Quatschen, das treibt ja alle Welt in die Flucht. Das Schweigen war auch so eine Sache: man hört alles. Paul hatte nie gehört, daß die Vögel nicht alle gleich singen. Andererseits, andererseits. Es gibt auch etwas schwierige Augenblicke. Vorübergehende Panik. In einer Stadt, vor einer Ampel, hatte er sich plötzlich in der Menge verloren gefühlt, so allein inmitten der 183
Leute. Als er den Bullen sah, hatte er die Hand nach einer Frau ausgestreckt, als ob es seine Mutter wäre. Sie hatte ihn bis zur anderen Seite mitgenommen. Das hatte ihm wohlgetan. Manchmal dachte er sogar an seine eigene Mutter. Gott weiß, daß sie ihm seit einer Ewigkeit nicht mehr über die Straße geholfen hat, er wußte, wie man über die Straße geht, außerdem hatte sie anderes zu tun, dein Vater wird wieder Krach schlagen, das Deutlichste ihrer Rede mit ihm. Trotzdem. Trübe Stimmung. Es ist hart, so plötzlich ein Mann zu sein. Das Schlimmste aber war, daß er eine Heiden angst hatte zu klauen. Vorher war er es gewesen, dem das am besten gelang. Die Leute waren bei ihm weniger mißtrauisch, weil er so klein war und (scheinbar) so schüchtern aussah (ein guter Trick). Er hatte ein Geschick, hinter einer Frau herzugehen, als gehöre er dazu. Er hatte sogar noch was Besseres gefunden: wenn er an der Kasse ankam, sah er um sich, als ob er sich verirrt habe, bis er auf der anderen Seite eine Frau sah, darauf rief er Mama ! und ging durch wie ein Brief bei der Post. Das klappte immer. Neulich hatte er den Trick sogar noch verbessert, indem er so tat, als flenne er ein wenig. Und er konnte den Trick überall anwenden, weil sie nicht wußten, daß er ihn sonstwo schon einmal angewandt hatte ! Die beiden hinter ihm hielten sich den Wanst, das war zu der Zeit, als sie ihn noch »lustig« fanden. Bloß, diese beiden hinter ihm, das feuerte ihn an. 184
Er brauchte ein Publikum. Ohne Publikum, das Beifall klatschte, genoß er es nicht, Mama zu ru fen, da kam er sich richtig blöd vor. Er hatte den Eindruck, daß man nach ihm sah. Er stellte fest, daß es kein Eindruck war, man sah tatsächlich nach ihm, er hatte nur einen jämmerlichen Riegel Schokolade organisie-ren können, nicht einmal eine Tafel, der Kerl klebte ihm an den Fersen, seine Beine fingen an, ihn zu jucken, er würde nicht durchkommen, Scheiße, er würde nicht durchkommen, er saß in der Falle, und das wegen einem jämmerlichen Riegel Schokolade, er hatte sich hinter eine Frau gestellt, sonst war niemand mehr vor ihm, nun wäre er gleich an der Reihe oder eher an der Angel, der Kerl kam auf ihn zu wie ein Bulldozer, das Mädchen an der Kasse fuhr sich ans Ohr, die Frau drehte sich nach Paul um. Halt das mal, sagte sie zu ihm und legte ihm ein Paket Stahlspäne auf den Arm, sie nahm ihn an der anderen Hand und ging hinaus, uff. Man darf nicht mehr in die Super-Märkte gehen, sagte sie beim Gehen zu ihm. Wenn du auf der großen Straße durch Boursy kommst, dann geh in den letzten Bauernhof hinter dem Dorf, rechter Hand, sie gab ihm eine Orange, es hatte den Anschein, als verstecke sie sich, dann ging sie weg und stieg in ein Auto, in dem ein Kerl wartete. Paul fand die große Straße nicht oder besser, er kam dort nicht an, denn er erblickte am Ausgang weiße Mäuse, aber weder das Dorf noch den Bauernhof. 185
Danach hatte er nur einen Apfel in einer Auslage erbeutet, als er vor einem Coop vorbeikam und vier Stücke Zucker. Er war in das Lokal gegangen und hatte einen Kerl an der Theke gefragt, kann ich mir Zucker nehmen ? Dreist. Der Kerl hatte ihm die Zuckerdose hingehalten, er hatte sich eine ganze Faust voll genommen. Und was darfs für den Kleinen sein ? sagte der Kellner, ich weiß nicht, er gehört nicht zu mir, sagte der Kerl. Ich gehe dorthin, sagte Paul und zeigte auf die Terrasse und war abgehauen. Ein Glück, daß der Zucker umsonst ist, sonst hätte er sie am Arsch gehabt. Er war schon lange nicht mehr an einen Fluß ge kommen, an dem er hätte angeln können. Wenigstens versuchen. Notfalls sogar mit der Hand. Das Loch seines hohlen Zahns ging allmählich bis zu den Füßen, er hatte Stiche. Ein Apfel und vier Stücke Zucker, das füllt nicht. Er dachte sogar daran, wie es wäre, wenn er bei diesen Hippies wieder am Tisch säße und sich mit ihrem Eintopf vollstopfte. Aber er wußte nicht mehr, wo es war, er hätte mit Sicherheit nicht mehr zurückgefunden, das kommt davon, wenn man in Erdkunde nicht gut ist. Außerdem war es voll. Als sie gleich sechs ankommen sahen, mit einer Eisenstange, Stöcken und hochmütigen Gesichtern, sagten sie sich schau schau. Die Kinder verhielten sich stolz vor dieser zahlreichen Versammlung von fünf großen Personen und drei kleinen, von denen 186
die Jüngste, auf der Bank stehend, laut schrie: Die Befreiungsarmee ! Die Befreiungsarmee ! »Du sagst es.« Sie verbeugten sich vor ihr. »Würden Sie fahrenden Rittern ein wenig Brot schen ken ?« sagte Eloi. »Wir haben am Giebel Wohngemeinschaft gelesen«, sagte Renaud, »und da sind wir hereingekommen.« »Ich weiß nicht, ob noch genügend da ist für alle«, sagte Ours, »aber bedient euch.« Er stellte sechs Teller auf den Tisch und legte sechs Löffel dazu und setzte sich wieder. »Gott vergelts«, sagte Anne. »Aber möglichst bald«, sagte Airelle. Sie hatten kein Glück, das Einheitsragout war an diesem Tag Tchoucs Werk, doch die Gäste konn ten sowieso keinen Vergleich anstellen und hauten ein. Tchouc warf den andern einen Siegerblick zu. »Seht ihr, wenn man Hunger hat. Die Wahrheit ist, daß es euch zu gut geht.« »Ihr seid aber neulich nicht weit gekommen ?« meinte Airelle freiheraus. »Wie bitte ?« sagte Mathilde. »Vielleicht sind es andere, weißt du«, sagte Tulipe. »Wenn es andere sind, muß ich sie kennzeich nen«, sagte Tchouc. »Ich laufe nach Brot«, sagte Chat, »ich hoffe, daß noch auf ist.« 187
»Wann wird sich endlich mal jemand entschlie ßen, diesen Ofen zu bauen«, sagte Tulipe. »Ich glaube, ich werde es noch selber tun.« »Sie sind bewaffnet«, sagte Airelle. »Wenn ich mal so sagen darf.« »Wenn Sie die Fahrenden meinen, die gestern Semours überfallen haben, die sind wir nicht«, sagte Vivien. »In Semours auch ?« »Dann sind es vielleicht wieder andere«, sagte Tulipe. »Aber das soll euch beiden nicht den Appetit verschlagen«, sagte sie zu den Erstangekommenen, die mit offenem Mund dasaßen. Zwei Mädchen aus Bréteil, die Chat im Lieferwagen entdeckt hatte. »Wir sind fertig«, sagte Ben. »Danke. So ein Reiseintopf stopft.« »Ihr habt ganz schön eingehauen«, sagte Lucio le. »Aber das ist gar nicht zu vergleichen mit den Hornissen von neulich.« »Mit dem Löffel geht das so gut«, sagte Ben und hielt ihren hoch. »Geh ihn dir waschen !« befahl Luciole. »Hier ist das so.« »Du hast eine recht lose Zunge«, sagte Sara. »Bei mir ist alles lose«, sagte Luciole. Aaaa ! sagte Orange durch die Wand hindurch. Tulipe ging zu ihr hinüber. »Ihr könnt euch setzen«, sagte Airelle. »Auf den Boden zum Beispiel, das ist die einzige verbliebe 188
ne Sitzgelegenheit, dieses Haus ist nicht für eine Massenbewegung gemacht.« Tulipe gab sich auf der Couch dem Genuß mit ihrer goldhäutigen Frucht hin. »Hundertacht«, verkündete Tchouc. »Du solltest nicht mehr zählen«, sagte Tulipe, »du brauchst nur noch malzunehmen, sonst nichts. Träumst du, Clementine ? Gut, dann träume, du hast das ganze Leben vor dir.« »Wir schulden Ihnen großen Dank«, sagte Eloi, stehend. »Jeder wäscht sein Gedeck«, verkündete Ours. Sie taten es ohne Widerrede, einer nach dem andern. »Ihr werdet in der Scheune schlafen müssen, hier ist alles voll.« »Dürfen wir denn bei euch schlafen ?« sagte Anne. »Wir werden euch doch nicht mitten in der Nacht rausschmeißen, in einer solchen Jahreszeit.« »Auf der Schaumgummimatratze bei den Mädchen ist noch ein Platz frei.« »Ich will auf der Schaumgummimatratze bei Sara schlafen !« sagte Luciole. »Wir trennen uns nicht«, sagte Vivien. »Ich habe eine lose Zunge, ich kann gut lecken«, sagte Luciole und um es zu beweisen, fuhr sie Sara damit durch das ganze Gesicht. »Heiliger Bimbam, ist das eine. Wenn sie dir auf den Wecker fällt, mußt du es nur sagen, man soll sich nicht von den Kindern unterdrücken lassen.« 189
»Ich habe eine kleine Schwester, ich bin an Babys gewöhnt«, sagte Sara. »Wenn du es so siehst«, sagte Airelle. »Ich bin kein Baby, ich bin eine Person.« »Wenn ihr nach Muzilles geht«, sagte Tchouc, »dann seht zu, daß ihr bis nach Praux kommt, in dieses Haus hier, ich habe euch eine Zeichnung davon gemacht. Für den Fall, daß wir uns morgen früh nicht mehr sehen sollten (sie sahen sich am andern Morgen wieder). Es liegt in eurem eigenen Interesse, die großen Landstraßen zu meiden, es scheint da Kontrollen zu geben.« »Wissen wir«, sagte Anne. »Das sind nicht un sere Wege.« »Wer seid ihr denn, daß ihr so hochherzig seid ?« rief Renaud aus. »Und ihr ?« sagte Airelle. »Wir sind Fahrende Ritter«, sagte Mathilde. »Wir sind Freigelassene Sklaven«, sagte Tulipe. »Ich werde euch leuchten«, sagte Ours und nahm die Taschenlampe. »Lassen Sie sich nicht stören, wir haben alles«, sagte Eioi und zeigte auf einen kurzen, harzbe deckten Stock. Eine Fackel ! »Im Stroh ist das vielleicht nicht das richtige«, sagte Ours. »Ihr seid nämlich viele«, sagte er und führte sie. »Das ist auffällig.« »So ist es«, sagte Vivien. »Dann gibt es also soviele ?« sagte Ben verblüfft. 190
»Sie schließen sich etwas zu stark zusammen«, sagte Tchouc. »Sie sollten sich in Mini-Gruppen aufteilen.« »Die haben bestimmt einen Pakt geschlossen, den sie mit Blut unterschrieben haben«, sagte Airelle (es stimmte). »Der Unterdrückte kann sich abschuften, ihr revolutionäre Elite«, sagte Chat. »Keine Brotlaibe mehr.« Er legte sechs lange Brote auf den Tisch. »Was tun wir, sollen wir Wache davor stehen«, sagte Ours und faßte die Brote feindselig ins Auge. »Oder sollen wir die blinden Trottel spielen ? Für mich stellt sich da ein Problem.« »Ich bin amoralisch«, sagte Airelle. Sie nahm, zählte ihre Leute, nahm zwei Brote und brachte sie in ihr Zimmer. »Ich lege das Minimum für uns weg.« »Auf jeden Fall baden wir nie zweimal im selben Fluß, Nounours«, sagte Tulipe. »Die hier nehmen nichts, vor allem nicht bei Leibeigenen.« »So«, sagte Tchouc und legte auf die verblei benden Brote einen Zettel, auf den er gerade ge schrieben hatte: ›Bedient euch‹. »Unterschrieben Aufgeweckte Trottel«, sagte er. »Ich habe eine überregionale Zeitung gefunden«, sagte Chat in neutralem Ton, er legte sie auf den Tisch und sie lasen die Überschrift des Leitartikels: EINE KINDERFLUT
»Das ist die Antwort auf deine Frage, glaube ich.«
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Zur selben Zeit hatte auch Mann die Zeitung gekauft, als er durch Clamézy kam. Jean-Marie und Manuel waren die einzigen, die diese Überschrift nicht sahen, die in allen Kiosken und Buchhandlungen groß zu lesen war. Sie aßen trockenen Schafskäse mit Brot in Gesellschaft eines alten Hirten, der sich über das Auftauchen der beiden Jungen in diesen Bergen nicht verwunderte. Manuel und Jean-Marie hatten auf einmal keine Lust mehr, weiterzulaufen. Sie sagten es sich mit einem Blick. Fast alle anderen wußten jetzt, daß sie keine Einzelfälle waren. Begegneten die Kinder, die nicht an der Leine gehalten wurden, anderen Kindern, die nicht an der Leine gehalten wurden, so fragten sie sich: »Sind das auch welche ?« Sie versuchten Erkennungszeichen zu erfinden. Die Mitglieder der Razziabande, Taifun genannt, schlugen mit dem Zeigefinger der einen Hand auf den Handrücken der andern und sahen dabei ganz unschuldig drein, oder fast. Pierre und Jacques waren so Mitglieder geworden. Sie machten sofort den Vorschlag, bei den Pfaffen eine Schatulle zu knacken (so sagten sie). In der Stadt wurde das Schatulle-Knacken wirklich zu einem tollkühnen Unternehmen, man mußte von mehreren Punkten her kommen, aus genommen natürlich die Hauptstraße mit ihren häufigen Patrouillen, mußte sich rechtzeitig vor dem Angriffsziel einfinden, mit Gewalt hineinstür men, alles durcheinanderwirbeln, schnell wieder 192
raussausen und sich in alle Winde zerstreuen, um sich an einem vorher verabredeten Ort wiederzu treffen. Dazu war ein vorheriges Auskundschaften notwendig. Eine ganze Strategie. Sicher, das ist alles lustig. Ein richtiger Krieg, und kein Jux. Gefährlich. Diese Ernsthaftigkeit gefiel Pierre und Jacques, sie paßten genau zur Taifun-Bande. Leider konnten sie den Bauernhof der Pfaffen nicht genau angeben, trotz der Karte. Sie hatten eine Karte. Sie waren organisiert. Der Taifun zog in Richtung Süden, der Tälerlinie folgend und die Berge meidend, die allzu verlassen waren. Sie verwüsteten Lebensmittelläden der Kleinstädte und abgelegene Bauernhöfe, am Tag oder wenn die Kühe gemolken wurden und die Hunde nicht aufpaßten.
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»Sie sind angekommen !« lautete die Schlagzeile der Zeitschrift Bibi Solo, die im Zeitungsladen aushing. Die Umschlagseite zeigte einen winzi gen Knirps, der seinen Fuß auf ein dickes grünes Schwein mit Zigarre gestellt hatte und die Hand hochstreckte, in der Haltung des siegreichen Jägers. Mann kaufte sie, schade um den Notgroschen. Er kaufte auch seine drei anderen Leib- und Magenblätter von früher, schade, schade. Zum Ausgleich ließ er ein Exemplar der anderen Presse mitgehen. François schrieb: »Alle Ausreißer sind Umgeschulte, die man auseinandergerissen hat.« Er behauptete, er habe ihre Chromosomen gesehen und sie hätten alle ein Q zuviel, das QuatschChromosom, mit Explosionsmöglichkeit. Er jubelte vor Glück, »dabei hatte ich letzte Woche schon jede Hoffnung aufgegeben, ach, Freunde, diese Woche atme ich auf …« Ecco Bio delirierte ebenfalls, aber im höchsten Grad. Dort in der Stadt träumen sie davon, daß alles schon geritzt ist, sie machen sich keinen Begriff von den Schwierigkeiten, mit de nen die Knirpse zu kämpfen haben, sagte Mann 194
als jemand, der sich auskannte, zu seiner eigenen Überraschung, und er gab sich zur Antwort, daß er im Grunde nicht viel besser sei, man muß halt dran glauben. »Maintenant« und selbst sein einst so geliebtes militantes Blatt waren voller höchst verschlüsselter Anzeigen: Hubert, deine Mama erwartet dich in Perfieux mit deinen Kameraden. In Chamardon ist das rosarote Haus noch nicht voll, aufgenommen werden Personen von 0 bis 98 Jahren. Die Armensuppe wird ununterbrochen gereicht in … usw. Aber wer von diesen Kindern würde sich diese braven Blätter leisten können ? Mann merkte sich die Tips zur Weitergabe, für den Fall eines Falles, schließlich bist du der Verbindungsmann. Er be schloß ihnen zu sagen, daß sie gut daran täten, noch andere Verbindungsleute auszuschicken, er allein reichte für das Amt nicht aus. Selbst mit seinen Broten unterm Arm, die sich zum Verschenken anboten, sobald ein Kinderauge drauffiel mit einem Ausdruck, den Mann genau zu erkennen gelernt hatte, diese Brote waren richtige Geigerzähler des Hungers. Selbst mit seinem kleinen Beutegut aus den Supermärkten in seinem Beutel: man gibt dort praktisch nicht mehr auf ihn acht. So wenig wie auf den überwachten Straßen. Seine langen Haare, obgleich noch länger, wirkten nicht mehr: er war ein Erwachsener und das war ein Unschuldsdiplom. Er stellte sich an die Kreuzungen der kleinen Wege und Straßen, spielte auf seiner Mundharmonika oder träumte und war auf der Hut. 195
Er saß in den Butterblumen und schrieb ihnen seinen Brief, in dem er über seine Erfahrungen berichtete und wandernde Freiwillige forderte. Ein Mädchen kam auf dem Weg daher. Etwa dreizehn, vielleicht sogar vierzehn. Mit blauem Drillich bekleidet. Allein. »Achtung, die Straße ist schlecht«, sagte er in dem üblichen neutralen Ton, den er für diese Art Mitteilung benutzte, zu ihr, ohne sie dabei anzusehen. Sie blieb stehen. Sie starrte nach dem Brot hin und Mann nahm sofort eines und schickte sich an, es zu brechen. »Hast du Bibi Solo ? Kannst du sie mir leihen ?« sagte sie mit klarer Stimme. Er gab ihr die Zeitschrift. Er schrieb seinen Brief weiter. Sie gab ihm die Zeitschrift mit einem kurzen, schroffen Lachen zurück. »Willst du kein Brot ?« »Ja, danke«, sagte sie, »willst du nicht mit mir bumsen ?« Es versetzte ihm einen Schlag. Bleich, feine, klargeschnittene Züge, blondes, sehr langes Haar, das in straffen Strähnen lang herabhing, helle Augen. Die Jeans hatten einen guten Schnitt, dazu die passende Jacke. Groß, schlank, elegant. Schön. Sicherlich schön. »Ich habs schon lange nicht mehr getan und hab Lust danach«, sagte sie, jetzt werde ich als Ventil benutzt, dachte Mann wenig geschmeichelt. 196
»Das trifft sich ja gut, ich auch nicht«, sagte er und eilte seinem Stolz zu Hilfe. »Dann komm.« Er folgte ihr ins Dickicht, sie zog ihre Jeans aus und legte sich drauf. Er legte seine Jacke aus Lederimitat dazu. Sie hatte keinen Slip an. Er sah die zarte Spalte, mit dem spärlichen Flaum. Rührend. Er war gerührt. »Worauf wartest du noch ?« Er hatte Schwierigkeiten. Es nutzte nichts, daß er sich einen Moralisten schimpfte. Er versuchte seine Phantasie anzusta cheln, fand aber nichts Geeignetes und während dessen ging ihm immer noch keiner hoch. »Wenn du dich nicht bald entschließt«, sagte sie, »sehe ich mich anderswo um.« »Mit dir möchte ich gern was anderes tun«, sagte er und tat es. Danach war er besser aufgelegt. Sie rührte sich nicht die Bohne und zeigte keine Reaktion. Er tat es ganz sanft, wegen ihres zarten Alters, und warum ganz sanft wegen ihres zarten Alters ? Wo überall sich doch der Vaterkomplex einnistet ! Mann schlug sich mit dem Begriff Kindheit herum. »Nimmst du die Pille«, erkundigte er sich im entscheidenden Augenblick. »Nicht nötig, ich hab nichts.« Er zog sich zurück. »Du bist blöd«, sagte sie. »Das stimmt, aber warum zum Teufel willst du unbedingt bumsen, wenn du nichts davon hast !« 197
Moralist, schimpfte er sich innerlich. Ein harter Kampf, den er da führte. »Ob ich was davon habe, weißt du doch nicht.« »Wohin gehst du jetzt ?« fragte er sie. Nicht etwa daß er. Nur um ihr auf der Straße Gesellschaft zu leisten. »Allein«, gab Lucrèce zur Antwort, und sie ging quer durch die Felder, mied die Straße, in ihrem Drillich-Komplet. Lange Beine, sicherer Gang. Absolut geheimnisvoll. Er erinnerte sich an ihre hellen, grauen, fast weißen Augen, die nicht leuchteten. Er hatte ihren Geschmack auf den Lippen. Er hatte vergessen sie zu fragen, ob sie Régina begegnet wäre. Voll von der parallelen Hauptstadtfreude, den Meditationen über die Kindheit und über die erfüllte Pflicht, schlug Mann, nachdem er seinen Brief zusammengefaltet hatte, das Exemplar der anderen Presse auf. Sie hatten, die Behörden hatten, um einer beängstigend gewordenen Situation zu begeg nen, an höchster Stelle einen Dringlichkeitsplan ausgeheckt. Er hieß »Starplan«. »Unser Land ist nicht allein davon betroffen. In den Vereinigten Staaten haben sie den Plan ›Starlings‹. Diese Vögel, die Stare oder Madenhacker (starlings) haben sich tatsächlich im Laufe der letzten Jahre 198
so erheblich vermehrt (und warum haben sie sich vermehrt ? dachte Mann, doch nur, weil durch die Monokultur das Gleichgewicht gestört wurde, oder nicht ?), daß sie zu einem Problem geworden sind. So weit sind wir zwar noch nicht (aber das kommt noch, wir hinken immer etwas hinter Amerikkkka her), und das Wort Star meint hier eher ein unauf merksames, geschwätziges Kind.« In den Vereinigten Staaten hätte es eher einen rassistischen Beigeschmack, folgerte Mann, wir hinken halt etwas hinterher. Zur selben Zeit versuchten sie wieder ihren Trick mit dem Geldstück, sobald sich eine günstige Gelegenheit bot, wozu sie zwei Städte auskund schaften mußten. Diesmal dachte Grâce daran, gleich zwei Geldstücke zu nehmen. Sie stürzten sich in die Bäckerei. Grâce hielt ihren Franc hin. Die Bäckersfrau gab ihr ohne ein Wort zu sagen einen riesigen Roggenlaib. Sie fanden das nicht teuer. Allerdings auch nicht zuviel: es ging ihnen in dieser Hinsicht nicht allzu prächtig. Mignon brachte nicht jeden Tag ein Hühnchen an, der Kohl schoß ins Kraut, Möhren gabs nicht genug, die Runkelrüben waren wirklich hart und die Städte waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Weil die Supermärkte unzugänglich wurden, hat ten sie die alten Märkte entdeckt, auf den Plätzen unter freiem Himmel, zur Stunde, wenn der Markt zu Ende geht. Aber man mußte einen guten Tag 199
haben. Die Zeitung klärte sie über so manches auf. Sie versteckten sie in ihrem Puppenwagen, unter der Puppe Maracasse, verbargen ihre Freude und hoben sich das Ganze für später auf, im Schloß. Melanie, die ihre Ente in zweiter Reihe geparkt hatte, betrachtete den Puppenwagen, dachte, das sind keine, obgleich sie so prachtvoll und wild aussahen, denn man geht schließlich nicht mit seiner Puppe stiften, und betrat den Laden. Sie verlangte sechs große Laibe. »Du kommst etwas spät, ich habe nur noch vier. Hast du Besuch ?« »Ja, Nichten und Neffen, die sich unangemeldet eingefunden haben«, sie legte die Hand flach auf ihre Brust. »Gib mir noch vier Weißbrote dazu. Bis nachher, ja ? Du kommst doch ?« Der Laden war plötzlich voll geworden, sie kom men immer in Haufen, Rosette wurde munter. Arthur kam vor der Theke an, er hielt sich an der Seite einer älteren Frau, es war ihm gelungen, ein Hörnchen zu mopsen, aber er wußte nicht, ob man ihn gesehen hatte, einmal hatte eine für ihn bezahlt, im gleichen Falle, er riskierte es. Die Bäckersfrau hielt ihm wortlos ein Brot hin. Rosette wußte genau, daß er nicht bei dieser Kundin war, die sie kannte. Er ging mit brummenden Ohren hinaus. Melanie ließ ihre Ente an. »Nimmst du deinen Neffen nicht mit ?« sagte Rosette auf der Schwelle ihres Ladens und zeigte auf Arthur, wobei sie die Hand auf die Brust legte. 200
»Der trödelt doch immer, ich hab geglaubt, er wär’ schon drin. Komm, Philippe. Und beeil dich«, sagte sie. Auch er hatte die Bullen gesehen, er stieg schnell ein, Melanie fuhr ab. Rosette nahm das Geld aus ihrem persönlichen Geldbeutel und legte es in die Kasse, damit sie stimmte. Ein Hörnchen, ein Weißbrot, drei Laibe. Im Grunde ist der Verdienstausfall nicht allzu groß. Und für die ist es manchmal die Rettung. Lohnt sich. »Ich kann meine Schwester nicht allein lassen«, sagte Arthur, als er sah, daß man aus der Stadt herausfuhr. »Fahren wir zu ihr«, sagte Melanie, »wo ist sie ?« Man hatte David in einem Wäldchen abgesetzt, außerhalb der Stadtmauern, und er hielt Mignon. Mignon haßte es, daß sie ohne ihn weggingen, das machte ihm Angst. Aber David band ihn sich fest ans Handgelenk. Sie fanden David auf dem Bauch liegend, festge bunden an Mignon, den er nicht losgelassen hatte. Régina wurde umgerannt und landete ebenfalls auf dem Boden, die Leine verwickelt, Grâce ent wirrte das Ganze. So war es immer. Régina war einige Zentimeter kleiner als Mignon, wenn er aufrecht stand. Aber mit der Zeit würde sich das schon ändern. Mit seinen Fangzähnen war Mignon in der Stadt nicht praktisch. Einmal hatte ein Kerl zu ihnen 201
gesagt: euer Hund müßte hier einen Maulkorb tragen. Wir werden es Papa sagen, antwortete Grâce höflich, aber was für eine Aufregung. Auch David war nicht praktisch. Zu zerlumpt. Das Spiel mit dem kleinen Papa war lächerlich und klang falsch, niemand glaubte an einen kleinen Papa und trotz seines verwirrenden Aussehens wollte er nicht die kleine Mama spielen. Auf jeden Fall war David nicht zu gebrauchen, mit seiner fixen Idee, jedermann starre ihn an. Das stimmt nicht immer, gab ihm Grâce zu bedenken. Ob es nun stimmte oder nicht, es machte ihn wahnsinnig ungeschickt. Du hast ja eine Menge Qualitäten, aber nicht diese. Was für Qualitäten ? fragte David, gierig nach Komplimenten. Um ihn zu beruhigen, hatten sie ein besonderes Spiel erfunden, das darin bestand, nie ein Kompliment zu wiederholen, das sie ihm schon einmal gemacht hatten. Es ging lediglich um die Wahl nicht-falscher Komplimente, und die war ziemlich unbegrenzt. Du hast eine sehr zarte Haut, sagte Grâce, du bist von der Farbe der Sonne, sagte Régina, ich sehe dich wahnsinnig gern nackt, sagte Grâce, ich sehe euch auch wahnsinnig gern, sagte David, der sich noch nie soweit vorgewagt hatte. Du gleichst Grâce ein wenig, sagte Régina, was in ihrem Mund ein phantastisches Kompliment war. Ist das auch für mich ein Kompliment ? sagte Grâce. Ihr seid berauschend, sagte David, bei euch braucht man kein Hasch. Du bist kein Junge, sagte 202
Régina, du bist eine kleine Aphrodite. Ihr seid keine Mädchen, sagte David, ihr seid, wir sind Mutanten ! erklärte er, seine Entdeckung wurde mit religiösem Schweigen aufgenommen, sie kauten sie langsam mit dem Brot, das David mit seinem echten Messer in vier Teile geschnitten und mit Knoblauch einge rieben hatte (außer Mignons Teil, er verabscheute das), und jedesmal, wenn sie den Knoblauchduft einatmeten, dachten sie an das Traumhaus und an Marta, die ein Traum war, was sie im Augenblick wohl tun mag ? Sie lachte aus vollem Halse. Mit Benoîte auf dem Kanapee sitzend, die fünf Gören vom Tag vor ihnen auf dem Boden, sahen sie fern. Sie hatten das Gerät gemietet, um den Ereignissen folgen und notfalls darauf antworten zu können. Der Verantwortliche für die Vorbereitung zum Leben hatte gerade erklärt, daß nur die Nieten ausgerissen sind, alle guten Schüler sind in ihren Bänken geblieben und werden ihre Früchte ern ten. Die Früchte der Bänke, das hatte sie lustig gestimmt. »Wenn sie meinen, sie würden uns damit be schimpfen«, sagte Olivier. »Sie schmeicheln uns eher.« »Die Industrie braucht nur Hilfsarbeiter und Ingenieure«, sagte Marta, »keine Poeten, im Grunde kommen sie sehr gut ohne euch aus, ich frage mich, warum sie euch so zusetzen. Ach ja, wegen der Autorität, ich vergaß es.« 203
»Sie beschimpfen eure armen Eltern, die schon geprüft genug sind«, sagte Benoîte. »Ich werde ihnen umgehend einen geharnischten Brief schreiben. Meine Herren Verantwortlichen, Ist es nicht schon genug, daß Sie nicht imstande sind, uns unsere Kinder zurückzubringen, müssen Sie unserem Schmerz auch noch Ihre Verachtung hinzufügen ? Bravo, bravo ! Wenn dem so ist, meine Herren, werden Sie wohl verstehen, daß wir, sollten unsere Kinder je wieder zurückkommen, zögern werden, sie von neuem einer Schule auszuliefern, die sie abweist und die Ihre eigenen Worte soeben verurteilt haben. Empörte Eltern, Bellefontaine. Eine Durchschrift geht an die Zeitschrift La Mare Aux Grenouilles (Der Krötenweiher). Man sollte allen Freunden Bescheid sagen, daß sie massenweise Briefe dieses Stils schreiben. Und sie bekamen noch andere Briefe. Oliviers Vater griff in diesem Augenblick zur Feder. Wieso sind soviele hochbegabte Kinder, wie etwa mein Sohn, nur außerhalb des Schulprogramms so be gabt ? Vielleicht liegt das an euren Programmen. Und ich stelle mir allmählich die Frage, ob mein Kind nicht weitaus mehr lernt, seit es euere Bänke verlassen hat. In Anbetracht des Loses, das ihr ihm in dieser Gesellschaft von, er strich durch, er wollte schließlich kein Revolutionär werden, be 204
stimmt, ist es mir genau genommen lieber, wenn ihr ihn nicht wieder einfangt. Ich ziehe also meine Vermißtenmeldung zurück, schloß er schweren Herzens, seine Frau hatte die Arme um seine Schultern gelegt, was seit ewiger Zeit nicht mehr vorgekommen war, und sie weinten zusammen, denn es tut weh, eine Nabelschnur durchzuschnei den, die nicht rechtzeitig abgebunden worden ist. Sie gehören uns ja sowieso nicht mehr, sagte Oliviers Mutter (Lehrerin an einer Mittelschule), die andern verfügen über sie. Wir dienen doch nur noch dazu, sie für sie großzuziehen, für ihre, ihre, sagte der Vater (Studienrat in einer von der Abschaffung bedrohten A-Klasse und ein bißchen sozialistisch angehaucht, doch gerade dabei, rot zu werden). So trug der Verantwortliche, im Kabinett unter Ausschluß der Öffentlichkeit kritisiert (wie es nur der Krötenweiher seiner Million Leser verriet), doch selbstverständlich gedeckt, wo kommt sonst die Autorität hin, durch seinen arroganten Satz dazu bei, das Niveau des Elternbewußtseins bei einigen zu heben. Du hast gewonnen, sagte Grâce, du bist mit einem Satz drauf gesprungen, wir geben zu, daß wir dir dafür etwas schulden, was willst du ? Ich werde es euch heute abend an geeignetem Ort sagen, sagte er. Deshalb fühlten wir uns so unwohl unter den gewöhnlichen Menschen, sagte Régina. 205
Sie stiegen den Hügel hinauf zu ihrem Schloß turm, den sie am Nachmittag entdeckt hatten. Sie führten ein richtiges Schloßleben, sobald sie ein gutes sahen, besetzten sie es. Was sie ohne Mignon sicherlich nicht hätten tun können. Denn die noch einigermaßen gut erhaltenen Schlösser haben in der Regel bereits Gäste. Manchmal knurrte Mignon nachts. Mignon hatte ein ganz besonderes Knurren. Ein sehr entmutigendes. Unser Geschmack steht nach Luxus, sagte Grâce, nach Schönheit, sagte Régina, nach Wollust, sagte David, Mensch, ich habe euch noch gar nicht Die Aufforderung zur Reise vorgesungen, dabei ist das die ideale Gelegenheit. »Mein Kind, meine Schwester, denk an das Glück, dorthin zu reisen, ge-mein-sam zu leben ! Tag um Tag zu lieben, zu lieben und zu sterben, im Land – das euch gleicht, veränderte er den Text ein wenig. Mit warmer, sanfter, fast gemurmelter Stimme, alle drei standen auf der Anhöhe und blickten über die Landschaft aus »Hyazinthen und Gold, die Welt entschlummert in einem warmen Licht – …« – die blaue Linie der Berge am Horizont, jener Berge, denen sie morgen entgegen gehen würden, und der Westen in Flammen. Venus ! rief Régina auf stampfend. Astarte, sagte David ruhig, das bist du. Und du, Grâce, du bist dort, schau, er zeigte auf den Halbmond, den zunehmenden, die kaum angedeutete Goldlinie in dem Malvenblaugrün. Sie gerieten in Begeisterung.
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Maß und Schönheit herrschen hier und wir sind Mutanten.
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Wie, ihr kommt erst jetzt ! Ich habe euch doch ver boten, euch allein herumzutreiben, schrie Amélie, mitten auf dem Weg stehend, die Fäuste in die Hüften gestemmt und den Ton voll aufgedreht. Los, ins Haus, und etwas schneller als gewöhnlich ! Sie reagierten überhaupt nicht, sie zog den ersten heran, versetzte dem zweiten einen Puff, schob sie in den Garten. Ihr werdet gleich euer blaues Wunder erleben ! bellte sie, sie schaute nach der Straße. Die beiden weißen Mäuse, die am Anfang des Weges parkten, fuhren wieder weg, sie schloß das Gartentor, drehte sich um und sah die beiden Kinder ohnmächtig auf dem Gras liegen, weiß wie Tauben. Emilie ! Komm und hilf mir mal ! Das ist ja schlimmer als alles andere. Mein Gott, sind die schwer, dabei haben sie doch nichts im Bauch. Sie legten sie auf die Couch und weichten Handtücher ein. Als ihre Köpfe ganz naß waren, öffneten sie gleichzeitig gleiche Augen, schwarz und riesen groß, die noch größer wurden, als sie zwei völlig ähnliche Frauengesichter über sich gebeugt sahen. 208
Oh Schreck. »Ja glaubt ihr vielleicht, ihr seid die einzigen Zwillinge auf der Welt ?« Der Vernunft weichend, faltete der Schreck seine großen schwarzen Flügel zusammen. »Warme Milch mit Salbei«, las Emilie in einem Buch. »Zehn Minuten lang ziehen lassen, das dauert viel zu lange. Aha. Drei Tropfen Arnika ins Wasser, ich werde ihnen nur zwei hineintun.« Sie tranken und wurden wieder lebendig. Aber dennoch mit Augen wie Untertassen. Ich gebe zu, daß es unglaublich ist, sagte Amélie. Aber gerade die unglaublichen Dinge passieren ständig. Ist Melanie schon nach Milch weggegangen ? Wir brauchten mehr. »Sie macht ihre Dämmerrunde.« »Ihr seid doch hoffentlich nicht drei ?« »Nein, wir sind nur zwei«, sagte Amélie. »Melanie ist völlig anders, heißt nicht wirklich Melanie, ist nicht einmal unsere Schwester.« »Nur im Geist. Schluckt das. Langsam, in kleinen Schlucken. Wie lange habt ihr denn schon nicht mehr gegessen ?« »Weiß nicht. Das schmeckt gut.« »Und es gibt Kraft. Ich werde euch zeigen, wie man Salbei erkennt, man kann sie nämlich im Fall eines Falles kauen. Nachher bekommt ihr einen Haferflockenbrei. Sehr nahrhaft. Die sind ja in einem Zustand, wie wir bisher noch keine hier gesehen haben.« 209
»Das ist ihre Antwort !« brach es aus Amélie her aus. »Sie aushungern ! Sie stehen Wache vor ihrem Fraß, den sie dann zum Teil auf den Müll werfen ! Bewachen die Straßen ! … Hattet ihr nicht die bei den weißen Mäuse an der Kreuzung gesehen ?« »Ich glaube, wir haben überhaupt nichts gesehen.« »Wir sind auf Wolken gegangen.« »Ihr seid ihnen in die Arme gestürzt. Na ja, stürzen ist nicht das richtige Wort. Deshalb mußte ich so grob zu euch sein, entschuldigt schon«, sagte Amélie. »Damit es echt wirkt, muß man die an schreien, die kleiner sind als man selber, es ist schon schlimm …« »Aber wie haben Sie denn erraten ?« »Wir bekommen allmählich eine Witterung dafür.« »Warum tun Sie das für uns ?« »Nicht nur für euch. Wir sind eben nicht mit ihren Methoden einverstanden«, sagte Amélie. »Mit ihrer verfluchten Mentalität. Immer dassel be !« Sie wurde wieder zornig. »Erst die Leute zur Verzweiflung bringen und sie hinterher bestrafen, weil sie handeln wie Verzweifelte ! Ich habe wirklich genug von der Unterdrückung ! So ist das«, sagte sie seufzend. »Und deshalb helfe ich. Entschuldigt, daß ich euch mit dieser Rede komme, ihr brauchtet jetzt eher Ruhe …« »Oh nein ! Ruhe haben wir gehabt. Es tut gut, jemanden so reden zu hören.« 210
»Es ist wahr, daß wir verzweifelt waren. Wir sind ausgerissen, weil wir in verschiedene Klassen kommen sollten. Das wollten wir nicht.« »Guillaume ist intelligent und ich nicht.« »Ich kann das nicht mehr hören, weil es gar nicht stimmt. Der Intelligente ist nämlich er.« »Wer sagt denn, daß der eine intelligenter und der andere weniger intelligent ist ?« »Alle. Ich komme mit den Tests nicht klar.« »Tests sind kompletter Unsinn«, sagte Emilie. »Ihr könnt mir glauben, wir sind beide Lehrerinnen, meine Schwester und ich.« »Ho«, sagte William, wieder etwas zurückhaltend. »Aber wir unterrichten an einer kleinen Montessori-Schule in der Stadt, wo wir etwas größere Freiheiten haben«, sagte Amélie. »Soweit das bei diesem verfluchten System möglich ist.« »Das heißt, so war es bisher, im Augenblick ist sie geschlossen.« »Warum ?« »Unsere Kinder haben sich für die Solidarität mit denen der Realschule entschieden, wo man zwei Klassen wegen mangelnder Belegschaft geschlossen hat, und wo fast alle andern streiken.« »Die C- und B-Klassen halten noch treu auf ihrem Posten aus.« »Natürlich, ach, da ist ja Melanie.« Man hörte die charakteristische Musik einer Ente, sie erstarb, Wagentüren schlugen zu, sieh mal da, sie ist nicht 211
allein. Melanie kam herein, vor ihr zwei blonde Kinder. »Aber das ist noch nicht alles«, fing sie an, un terbrach sich, rieb sich die Augen, »habe ich Halluzinationen ?« »Nein, sie sind echt.« »Wir haben sie während deiner Abwesenheit zur Welt gebracht. Sie sind eigentlich noch gar nicht getauft.« »Wir heißen William und Guillaume.« »Richtige Zwillinge seid ihr nicht«, sagte Melanie. »Du hast einen Schönheitsfleck auf der rechten Wange und dein Bruder hat ihn auf der linken.« »Es sind Spiegelzwillinge. Zur Abwechslung sind deine wenigstens keine.« »Das sind Arthur und Anaïs.« »Anaïs erinnert mich doch an etwas«, sagte Amélie. »Anaïs Nin.« »Halte mich bitte nicht für verblödet, Liebes. An etwas hier und jetzt.« »Ein Glück, daß ich mich in der Menge geirrt habe«, sagte Emilie, »ich habe nämlich für min destens acht Mann Brei gekocht.« »Das reicht nicht«, sagte Melanie düster. »Im Wald von Coussy sitzen noch zwölf. Ich bin ihnen Brot kaufen gegangen und habe bei dieser Gelegenheit bei Rosette diese beiden schönen Ähren ge erntet. Für die Milch ist es höchste Zeit, ich gehe.« »Nimm gleich den Kanister mit …« 212
»Ich bringe Elise mit. Übrigens, heute abend wollen sie alle kommen. Auch Séverine und zwei andere. Wir werden mindestens zu acht sein.« »›Die kleine Anaïs, dreizehn Jahre alt, ist mit ihrem zehnjährigen Bruder unter Umständen verschwunden‹ ich wußte es doch, ›die an das Geheimnis von Abelines erinnern …‹« »Zeigen Sie«, brüllten die Ähren. »›… ein Phantom-Bild des Verdächtigen, das nach den Angaben einer Freundin von Anaïs gemacht wurde, die sie angeblich mit einem kor pulenten blonden Mann gesehen hat, der Kools rauchte …‹« »Das ist Pomme ! das ist Pomme !« »›Er sah wie ein Geschäftsmann aus …‹ Eure Pomme ist nicht auf den Kopf gefallen, das muß man schon sagen, wenigstens mal was anderes als der braungebrannte Verdächtige.« »Das ist genau Pommes Stil !« »Jetzt ist das Geheimnis von Abelines geklärt«, sagte Amélie. Pomme war übrigens schon eine ganze Weile nicht mehr in Abelines. Sie mußte jetzt in der Nähe von Salicorne sein. Auch sie war inzwischen dem berüchtigten Entführer-Geschäftsmann in Gestalt eines mit dem beginnenden Tag rosig werdenden Schäfchenwölkchens gefolgt, zusam men mit drei Mitschülern, wie die andern sagen, mit Herzensfreunden, wie sie selber sagten. Zuvor hatten sie die Schlüssel des am Ozean gelegenen 213
Ferienhauses der Familie mitgehen lassen. Dorthin wollten sie zunächst einmal und später würde man weitersehen. Es waren nur 540 Kilometer, eine Angelegenheit von zwei oder drei Wochen, wenn man sich nicht allzu sehr herumtrieb. Sie hatten zwanzig Tafeln Schokolade dabei, zehn Päckchen Mandeln, Nüsse, Milchdosen, Zucker und etwas Geld für Brot. Es war eine organisierte Reise. Trotzdem spürten sie in der Gegend von Barcé, daß sie schwach wurden. Sie hatten nicht an die Vitamine gedacht. »Ich müßte ein Zeichen über meinem Laden an bringen«, sagte Rosette, in der Arthur voller Begeisterung seine Bäckersfrau erkannt hatte. »Und du vielleicht auch, Maria.« »Schon, aber wie sollen sie das Zeichen erkennen ? Es ist ja ganz schön, daß wir unter uns eins haben. Aber sie«, sagte Maria. »Unser Zeichen ist romantisch«, sagte Pilou. »Da mußt du dich halt dran gewöhnen«, sagte Ruth. »Natürlich«, sagte Pilou. »Ich gewöhne mich dran.« »Was ist das für ein Zeichen ?« sagte Anaïs. »So«, sagte Pilou und legte romantisch die flache Hand auf die Brust. »Wir brauchen das Zeichen nur zu übernehmen«, sagte Anaïs. Die vier Junioren übten das romanti sche Erkennungszeichen. 214
»Also, wenn ihr das macht …«, sagte Pilou. »Ich finde, daß die Kinder unglaublich schön geworden sind, wieder geworden sind, seit sie sich aus unserer Welt zurückgezogen haben«, sagte Amélie. »Alle. Da sieht man wieder einmal, wie gut wir ihnen tun …« »Wir brauchen nur wieder zu werden wie die Kindlein«, sagte Emilie. »Wir.« »Darf ich eingießen ?« sagte Anaïs, als sie sie mit der Teekanne sah. »Ich kann das sehr gut.« »Ich auch, ich auch !« sagte Arthur. »Dann hol die Tassen drüben auf dem Tisch und spül sie«, sagte seine Schwester zu ihm. »Seid ihr nicht zu müde ?« sagte Emilie. »Ich bin nie so wenig müde gewesen«, sagte Anaïs. »Wie jetzt, seit wir unterwegs sind. Vorher war ich ständig beim Arzt, schluckte Stärkungsmittel und war bleich wie eine Lilie.« »Ich auch«, sagte Arthur. »Ständig zählte man unsere Blutkörperchen. Als ob wir mindestens Leukämie hätten.« »Na ja«, sagten alle. »Eure Blutkörperchen lieben wohl die Freiheit«, sagte Amélie, »das hats alles schon gegeben.« »Eure Zwillinge fallen vor Müdigkeit um«, sagte Melanie, »wollt ihr nicht ins Bett gehen ?« »Bekommen wir ein Bett ? Oh nein, wir wollen noch nicht ins Bett. Wir sind nur etwas schlapp vom Essen, aber es ist viel zu interessant«, sagte Guillaume plötzlich sehr lebhaft. 215
»Ihr wißt nicht, was das bedeutet, mit Leuten zusammenzusein«, sagte William. »Die für uns sind, meine ich.« »Ich habe mir überlegt, daß man vielleicht ein Schild anbringen könnte ›Eintritt frei‹. Ist in allen Kaufhäusern zu haben. In einem Laden ist so ein Schild nicht verwunderlich.« »Gar nicht schlecht«, sagte Pilou. »Was meint ihr dazu ?« fragte Emilie die Junioren. »Ich glaube, das macht Mut«, sagte Arthur, »man kann wenigstens reingehen«, sagte Guillaume, die andern waren seiner Meinung. »Ich werde meine Schwester in Aulin anrufen, damit sie ringsum Bescheid sagt. Dort gibt es bestimmt auch welche.« »Es gibt überall welche, du hast doch die Zeitung gelesen.« »Aber wie werden sie uns erkennen ?« »Wir haben es damit versucht, daß wir ihnen Brot angeboten haben«, sagte Ruth. »Das klappt.« »Ich habe immer Brot bei mir«, sagte Melanie. »So kann man sie wenigstens erkennen. Allein schon daran, wie sie nach dem Brot sehen …« »In der Stadt kann man ihnen die Hand rei chen, wenn Gefahr droht. Aber man darf sie nicht ansprechen, sonst werden sie mißtrauisch«, sagte Séverine. »Erkennt ihr uns ?« sagte Emilie. »Na ja, kommt drauf an«, sagten die Junioren nachdenklich. 216
»Eine Frau hat mir ein Kaffeestückchen bezahlt, das ich gemopst hatte«, sagte Arthur. »Aber ich hätte es nicht für möglich gehalten. Sie machte ein Gesicht, als hätte sie mich nicht einmal gesehen. Aber bei dir habe ich sofort gemerkt, daß du kein Geld verlangen würdest«, sagte er zu Rosette. »Ich glaube, es ist die Art, wie man guckt. Ohne daß es auffällt.« »Ja !« rief William. »Darauf kommts an. Nicht so in der Art ›sind die aber lieb‹. Sie können sich vorstellen, daß wir das kennen. Seit wir auf der Welt sind, finden uns alle lieb. Ich hasse das.« »Wenn sie nicht mit uns reden. Wenn sie uns nicht honigsüß anlächeln. Wenn sie ganz ganz unauffällig gucken. Und ein Brot unterm Arm haben«, sagte Guillaume und zählte an den Fingern ab. »Dann versuchen wirs.« »Dann sind es Frauen«, sagte Melanie. »He !« sagte Pilou. »Oder sie sind jung.« »Oder sehr alt«, sagte William. »Einmal haben wir in einer Art Scheune ge schlafen, am Morgen hat ein Alter zu uns gesagt: ihr hättet an die Tür klopfen sollen, und seine Frau hat uns was zu essen gemacht. Sie haben keine Fragen gestellt, sie schienen das ganz normal zu finden, daß wir in der Gegend herumlaufen.« »Zu ihrer Zeit liefen die Kinder viel freier her um«, sagte Emilie. 217
»Die Freiheit ist kein Wert, der im Steigen ist, obgleich sie immer nur das Wort Freiheit im Mund haben«, sagte Amélie. »Wir müssen was finden, wie man sie auf die sicheren Häuser hinweisen kann«, sagte Marie. »Wir können schließlich nicht gut ›Eintritt frei‹ an die Häuser schreiben.« »Wo schlafen die zwölf eigentlich ?« »Im Wald. Sie sagen, daß sie dort am liebsten schlafen. Ich habe ihnen gesagt, daß sie auch in den Garten kommen könnten.« »Ich hätte sie ja in den Strohhaufen gesteckt«, sagte Elise. »Aber dann bellen die Hunde und es besteht die Gefahr, daß Maurice nachsieht, er hat einen schlechten Schlaf. Ich bringe ihnen morgen in aller Frühe Milch.« »Wohngemeinschaft, als Türschild«, sagte Pilou. »Das ist gut. Für die, die wissen, was das bedeutet. Für die Leser von ›Maintenant‹.« »Wir werden es jedenfalls versuchen«, sagte Ruth. »Mit der Zeit finden sie es schon heraus.« »Was würde euch auf den Gedanken bringen, daß ihr an einem bestimmten Ort anklopfen könnt ?« sagte Emilie. Die Junioren verfielen in Nachdenken. »Kindergarten ? Aber das erinnert wieder an Schule.« »Freundlicher Hund ?« »Ein Kind auf die Tür zeichnen. Ich kann welche zeichnen.« 218
»Zwei. Mehrere.« »Unterschlupf für Hunde. Für verirrte Hunde.« »Unterschlupf für verirrte Hunde, dazu gezeich nete Kinder !« »Ich glaube, das würde ich kapieren«, sagten alle. »Vielleicht auch die andern, nach einer Weile. Aber bis dahin …« »Ganz klein geschrieben und in unserer Augen höhe«, sagte Arthur, »das würde auch weniger auffallen. Sie sind groß.« »Nicht dumm. Und ideologisch richtig.« »Spuren«, sagte William. »Spuren machen.« »Sehr gut. Wir werden zwar alle Pfadfinder der Umgebung auf dem Hals haben, aber das macht nichts.« »Ich habe alle diese famosen Vorschläge aufge schrieben«, sagte Amélie. »Wir müssen sie nur noch dort verbreiten, wo sie hingehören.« »Wir brauchen Verbindungsleute …« »Man kann schon mal Leuten, die man kennt, schreiben oder telefonieren.« »Jeder der kann, muß Kontrollgänge machen.« »Das kostet Zeit. Aber man wird nicht umhin kommen.« »Es lohnt sich«, sagte Emilie, »das kann vieles ändern …« »Ich schlage vor, daß wir das Telefon sein las sen«, sagte Pilou. »Star-Plan bedeutet, daß sie sich Sonderrechte herausnehmen. Für sie existiert schon der Notstand.« 219
»Sie beten den Notstand doch an«, sagte Emilie wütend. »Ich glaube, denen geht dabei einer ab.« »Apropos, ich hätte es beinahe vergessen, als ich vorhin in der Kneipe war, um mir Sargnägel zu kaufen«, sagte Melanie, »habe ich mal so rum gehört, was da gesprochen wird, drei Kerle in Baskenmützen saßen dort, so die Art zu meiner Zeit undsoweiter. Der eine hat gesagt: ›Man müßte Netze auslegen.‹ Wie für die Lerchen, hat er ge sagt. Wie für die Lerchen und sie haben lauthals gelacht.«
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Paul wurde schreiend wach, seine Haut brannte. Er hatte sein Lager auf einem Ameisenhaufen aufge schlagen. Scheiße, fluchte er und riß sich tobend die Kleider vom Leib, und so was muß ausgerechnet mir passieren, einem Ameisenexperten, könntet ihr nicht eure Lichter anknipsen, ihr Säue, dann wäre ich in ein anderes Hotel gegangen ! Wenn es in der Gegend hier wenigstens Wasser gäbe und wenn es nicht so dunkel wäre wie in einem Arsch, au, brennt das, das waren sicherlich die großen roten, die kenne ich, oh Mama ! Seine Kleider, die er kräftig ausgeschüttelt hatte, unterm Arm, seine Angelrute auf der anderen Schulter, suchte er in der Dunkelheit das Weite, so wird mir wenigstens nicht kalt, fehlt nur noch, daß ich mich das nächste Mal in die Brennesseln haue. Olala, die Natur ! Er sprach ganz laut, weil er sich das in der Einsamkeit angewöhnt hatte. »He ! Komm her«, flüsterte eine leise Stimme. »Und jetzt auch noch Kobolde«, sagte Paul, der zur Verzweiflung seines Vaters daran glaubte, ich möchte nur wissen, wer dir dieses dumme Zeug in den Kopf setzt, sagte er und warf einen mißbil ligenden Blick auf seine Frau, wenn sie da war (es 221
war der Großvater mütterlicherseits) und er wies ihm nach, daß es keine Kobolde gab. Was falsch war, denn hier gab es welche. »Hier ist ein Bett«, sagten die Kobolde. »Aus Heu.« »Stecht ihr ?« sagte Paul. »Weil ich nämlich gera de aus einem Ameisenhaufen aufgestanden bin.« Die Kobolde sagten nein, die Kobolde stechen nie, sie sind sehr nett und lieb, sie fragten, ob er ganz allein sei, Und du langweilst dich nicht ? Nein, das gefällt mir sehr gut, sagte Paul, aber du bist doch noch ganz klein ! Ich bin ein Kind, sagte Paul zu ihnen, deshalb, au, brennt das ! Du mußt dich mit grünen Blättern einreiben, sagte ein Kobold, aber die Ameisen, das tut sehr gut, sagte der an dere, das bringt das Blut durcheinander, bei den Indianern werden die Kinder mit Ameisen initiiert, Scheiße, sagte Paul, dann bin ich initiiert, was heißt das eigentlich ? Brakupavatikimomo vlaf ! sagten die Kobolde das ist die Formel, jetzt weißt du alles. Ich weiß nicht, wo der Fluß ist, sagte Paul. Bergabwärts, alle Flüsse sind bergabwärts, dort gibt es auch Elfen, sagten die Kobolde. Man konnte sie natürlich nicht sehen. Und am andern Morgen waren sie nicht mehr da, so daß Paul nicht wußte, wie sie beschaffen sind. Er hatte wieder mal wie ein Murmeltier geschlafen, er hatte einen bleier nen Schlaf, er brauchte zehn gute Stunden, unter anderem eine der Ursachen seiner Schwierigkeiten, in der gewöhnlichen Welt zumindest. Er hatte sich 222
mit grünen Blättern zugedeckt und seine Haut brannte nicht mehr. Das Werk der Kobolde. Paul, du kommst wieder zu spät zur Schule ! Er verjagte die in seinem Kopf völlig unangebrachte Stimme und erinnerte sich, daß er jetzt initiiert war und daß er nie mehr in die Schule zu gehen brauchte. Er probierte die Blätter, die ihn an Kohl erinner ten. In seinem Heißhunger verschlang er mehrere davon, hoffentlich sind sie nicht giftig, aber nein, die Kobolde hätten kein Gift reingetan. Dort unten fand er tatsächlich den Fluß, sie hatten recht. Er suchte mit seinem kleinen Messer Würmer, bereitete seine Köder zu, warf seine Leine aus, wie er es gewohnt war und wartete. Er war ein erfahrener Angler, da ihn sein Groß vater (derselbe) (alles, was er wußte und konnte, kam von seinem Großvater) in der fischreichen Briance mit der Kunst des Angelns vertraut ge macht hatte. Scheiße, sagte er sich in plötzlicher Erleuchtung, ich gehe zu ihm ! Er wird mich be stimmt verstecken, er hat schon früher Leute ver steckt, er wird verstehen, was mir da passiert ist. Ich werde ihm im Garten helfen. Er war ganz glücklich. Er hatte einen Ausweg gefunden. Der Korken ging unter. Da merkte er erst, daß er einen Korken hatte. Und als er den (mikroskopischen) Gründling hoch zog, zwei richtige Köder statt seiner Scheißnadel, die nichts fing. Sein erbärmliches Ding war eine richtige Angel geworden. Die Kobolde. Er aß zum Frühstück fünf rohe Gründlinge und überlebte. 223
Danach sah er das Schild Angeln verboten, aber es war zu spät. Er beschloß, dem Fluß zu folgen, so könnte er sicher sein, was zu essen zu finden. Nicht daß es gut schmeckt, so roh, oder höchstens mit Salz, aber Salz … Und in die Supermärkte darf man nicht mehr hinein. Leider haben Flüsse eine Quelle und dort kam er an.
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Mit etwas Glück kam man in eine Stadt, wenn dort Markttag war, wenn möglich, wenn der Markt zu Ende ging. Wenn sie anfingen zusammenzupacken, brauchte man nur hinter ihnen zu bleiben und erwischte dann: faule Apfelsinen, faule Tomaten, faule Bananen, überreife und sogar über-überreife Birnen, wurmige Äpfel, holzige Radieschen, runz lige Pfefferschoten, verwelkte Salatköpfe, weich gewordene Karotten, vergilbte Petersilie, Kerbel, manchmal auch breiige Erdbeeren und selbst die Kohlstrunke waren nicht zu verachten. Ben hat eine vegetarische, besessene, tugendhafte und beschissene Mutter, Besitzerin eines Ladens mit Erzeugnissen, die genauso rein waren wie sie selber. Ben hat von ihr wohl oder übel eindrucks volle Kenntnisse mitbekommen, die jetzt ihre Überlebenseigenschaften zeigten. Gezwungen, die Ratschläge ihrer Mutter zu befolgen, tröstet sich Ben bei dem Gedanken, daß diese vor Abscheu in Ohnmacht fiele, wenn sie sähe, wie Ben eine ange schlagene Melone verschlingt, die im Dreck, im Öl, in den Mikroben herumgelegen hat und reichlich mit Insektenvertilgungsmitteln begossen worden ist. Saras Ahne ist eine Hexe, sie weiß, wie man 225
Wunden, Insektenstiche und sogar Schlangenbisse behandelt, sie kann Brennesseln pflücken, ohne sich zu stechen und sie weiß, daß sie, wenn sie einmal verwelkt sind, eßbar werden. Sara sagt, daß man von der Wilden Natur leben kann. Auf den Märkten waren sie nicht allein. Alte Weiber sammelten dort immer Abfälle. Aber mehr und mehr auch andere Wandervögel, wegen der Überwachung der Supermärkte. Man tauschte Tips aus, wo man gut aufgenommen wurde (leider lag das, was man kannte, schon hinter einem), und was eßbar ist. Ein kleiner Junge ging in die Hinterhöfe der Restaurants, wenn er an welchen vorbeikam und durchwühlte die noch einigermaßen frischen Mülleimer. Irre, was die Leute so alles wegwerfen, man könnte allein von ihren Resten leben, wenn sie sie nur an saubere Stellen legen und nicht mit allem möglichen Dreck vermischen würden, aber sie wollen ja nicht, daß man von ihren Resten lebt. Zwei Mädchen lasen Kohlrabi auf und alles, was wächst und in Reichweite ist, wenn es sein mußte durch den Stacheldraht der Gemüsegärten hin durch. Sara zeigte ihnen, wie die Brennesseln aus sehen, was sie ganz toll fanden, weil es Brennesseln überall gibt. Sie teilten sich eine gute halbe Kiste verschimmelter Zitronen, sie wußten durch Träu me über die Vitamine Bescheid. Ben verstaute die Zitronen in ihrem Ranzen, den sie samt ihrem Tagebuch mitgenommen hatte; die andern in ihrem Puppenwagen. Sie hatten ihre Puppe mitgenommen, 226
na ja, wenns ihnen Spaß machte. Sie hatten ein Zeichen, die offene ausgestreckte Hand, Ben und Sara übernahmen es. Sie waren braungebrannt, was bewies, daß sie nicht erst seit gestern auf der Straße waren. Sie glichen biblischen Hirten, vom Puppenwagen abgesehen. Alle gingen ihrer Wege. Die kleinen Gruppen neigten nicht dazu, sich zusammenzurotten (außer den Banden, aber das war ein anderes Leben). Ben und Sara zumal mußten allein bleiben. Ihr Leben war etwas Besonderes, das man nicht zeigen konnte. Sie waren Verworfene, so hatte Bens Mutter sie genannt, dabei hatte sie nicht viel gesehen, nichts Sträfliches, aber sie sah das Böse überall. Sehr gut, soll es auch hier so sein ! Nichts wäre geschehen, wenn sie ihrer reinen Bénédicte nicht verboten hätte, jemals diese, sie hatte nicht einmal das Wort in den Mund zu nehmen gewagt, ins Haus zu lassen. Verworfene zu sein war übrigens sehr aufregend, sie bedauerten nichts. Sie hatten sich also auf Wiedersehen gesagt, die Hirten und die Verworfenen, sie würden sich bestimmt unterwegs wieder einmal begegnen. Sie gingen alle ans Meer. Am Meer könnten vielleicht alle zusammen leben. Unter den Pinien, am Strand. Am Meer ist man immer viel freier. Aber die Märkte waren nicht mehr das, was sie früher einmal gewesen waren. Es kam vor, daß eine Marktfrau absichtlich noch eßbare Dinge liegen ließ oder sie ihnen rüberreichte (einmal einen 227
ganzen Käse) aber auch: Haut ab ! sogar: Geht nach Hause ! Einmal hatte jemand gesagt: Das sind richtige Ratten ! Sara war danach völlig verzweifelt. Sie war sicher, daß man es ihretwegen gesagt hatte, die Leute sind Rassisten. Mit dem Klauen war es vorbei. Es schien Zeichen zu geben, aber was für Zeichen ? Sie versuchten alles Mögliche, es war ein regelrechter Veitstanz vor den Ständen, außerdem war es lustig. Sie be kamen vier Bananen um die Ohren. Nicht reif, zum Glück ! Ein dicker Kerl packte Sara am Arm: Du gehörst doch auch zu diesen kleinen Ausreißern ? Soll ich euch beide mit zur Polizei nehmen ? Sara war völlig versteinert. Lassen Sie sie los, rief Ben und in jäher Eingebung: sonst rufe ich meine Mutter ! Mama ! rief sie mitten auf der Straße und der Teufel weiß, wie schwer ihr das über die Lippen kam. Eine Frau drehte sich um, kam herbeigelau fen, riß Sara an sich. Was haben Sie mit ihr vor ? Fehlt dir auch nichts, Doudou ? Dir auch nicht, Marguerite ? Es wäre besser, die Kinder zu be gleiten, sagte ein Bürger unter den Umstehenden schulmeisterlich, es kann ihnen im Augenblick allerhand passieren. Gestern ist ein Junge belä stigt worden und der war auch kein Ausreißer. Ja, glauben Sie vielleicht, man hätte sonst nichts zu tun ? sagte die Mama wütend, ihre Mutter arbeitet, sagte sie und zeigte auf Sara. Sie ging mit ihnen weg. Der Kerl hatte sich dünne gemacht. 228
Sie bekamen zu essen und ein Bett. Die Frau gab ihnen ein Haus auf dem Land an, dort würde man ihnen vielleicht ein anderes angeben, sie beschrieb ihnen die Zeichen an den Türen. Sie waren in ein Hilfsnetz einbezogen worden.
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Sie genossen lange Zeit eine besondere Immunität, die sie dem Puppenwagen verdankten: wer haut schon mit einem Puppenwagen ab ? Dieser Puppenwagen zeigte schließlich seine schon zu Anfang geahnte Genialität in seiner ganzen Fülle. Gewiß, er war nicht mehr so blitzblank wie damals, aber er funktionierte, durch das Spiel der kleinen Mütter zum Glühen gebracht. Und keine Stadt wußte, daß er schon in der vorigen Stadt funktioniert hatte: denn keine Stadt wür de, hätte sie auch die scharfsinnigste Polizei, die Durchfahrt eines Puppenwagens weitermelden. Der Puppenwagen überwand in seiner Transzendenz Zeit und Raum. Doch als ein Zeugnis der Konformität verriet er sie auch nicht den Alliierten um sie herum und verurteilte sie lange Zeit zum wilden Leben.
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Wenn er wieder dorthin zurückginge, wo er herkam, würde er nie zu seinem Großvater gelangen. Eher nach Hause. Wenn er den Fluß aber verließe, was sollte er dann essen, und wenn er vorher verhun gerte, würde er auch nicht zu seinem Großvater kommen. Es gelang ihm, mit der Hand eine Kröte zu fangen (was nicht leicht ist). Aber er konnte sie nicht essen. Nicht einmal versuchen, sie zu tö ten. Er ließ sie wieder frei. In Erinnerung an den Laubfrosch sagte er zu ihr, he, du könntest wenig stens Dankeschön sagen ! Und wofür ? sagte die Kröte, daß du mich nicht getötet hast ? Wirklich sehr liebenswürdig von dir, daß du mir das Leben gelassen hast, sagte sie. Okay, sagte Paul zu ihr, aber was soll ich nun essen ? Sie war sowieso schon weit fort. Weiter oben legte er sich ins Gras. Er hatte weiche Beine. Er konnte nicht mehr laufen. Er fiel in eine Art Schlaf.
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Mignon riß David, der sich an einer Steineiche festhielt, hin und her. Régina fiel hin, nachdem sie sich in der Leine verfangen hatte. David ließ seinen Baum los. Grâce entwirrte das Ganze. Mignon liebte dieses Spiel. Sie brachten eine neue Jeanshose für David an. Sie war wegen des Übergewichts, dem man etwas nachgeholfen hatte, von einem Stapel in den Puppenwagen gefallen, und zwar vor einem vollgestopften Ramschladen, über dem »Freier Eintritt« stand. Die Frau auf der Tür konnte sie nicht übersehen haben, übrigens hatte sie sie gese hen. Sie schob ihren Ring am Ringfinger hin und her, Grâce tat dasselbe ohne Ring und die Frau sagte zu ihnen, wenn ihr einen guten Lebensmittelladen sucht, geht in die Rue Barse, zweite Straße links. Sie gingen hin, der Eintritt war frei, betraten den Laden, kauften sich eine Dose Sardinen, Milch und ein Päckchen Feigen, die Lebensmittelhändlerin ließ ihre Kasse klingeln und sagte: ich schreibs auf, da, gib diesen Zettel deiner Mutter, es ist die Adresse, um die sie mich gebeten hat. Der Laden war voller Leute. 232
»Wir sind zum Abendessen eingeladen ! Offiziell, schau her, das ist eine Einladung ! Aber erst morgen abend, es ist bei Kilometerstein fünfundzwanzig und nicht auf dieser Straße.« Sie waren in das Netz aufgenommen worden. Es war Zeit. »Etwas weit«, sagte David bei der Anprobe. »Armer Kerl«, sagte Régina. »Aber meine berühmte Eleganz«, wimmerte David, der nie gelernt hatte, sich mit etwas abzufinden. »Das nächste Mal kaufen wir dir (so sagten sie) Nadel und Zwirn, dann kannst du deine alte zusammenflicken.« Aber es gab kein nächstes Mal, es war ihr letzter Diebstahl in der bewohnten Zone. »Jedes Kind, das sich nicht in Begleitung Erwachsener befindet, kann angesprochen und ent weder zu seiner Familie oder auf die nächste Polizeidienststelle gebracht werden.« Im Kreis laufend wie ein Irrer, wie eine Ratte im Labyrinth, seufzend, fast schreiend, lange Weißbrote unterm Arm, raufte sich Mann an der Kreuzung der beiden markierten Wege die Haare, wo ist sie ? Ich bin vielleicht zu schnell gegangen, habe sie überholt, ich muß wieder zurückgehen, die Gegend durchkämmen, ich will nicht, daß sie sie hetzen wie ein Stück Wild ! Ich muß sie wiederfinden und 233
wie gedenkst du sie wiederzufinden, eine Nadel in einem Heuhaufen, keine Nadel, ein Diamant, ich bin bekloppt. Aber ich muß sie retten ! Du bist wirklich bekloppt. Er ging wieder nach Norden. Kehrte dann um in Richtung Osten. Marschierte von neuem nach Süden, im Zickzackkurs. Setzte sich auf einen vermoosten Stein und begann zu weinen. David war zwischen zwei Jeans, als Mignon knurrte. Wart doch ab, sagte Régina zu ihm und legte ihm die Hand auf den Kopf. Du knurrst immer, bevor man sieht, was es ist, so daß man es nie sieht. Mig non schluckte mühsam seinen Speichel. Er dachte, daß er sich gern eine Rehkeule zu Gemüte führen würde. Seit langem gab es nicht einmal mehr Brot, das Gemüse war ihm zuwider, Hühner hatten Steine nach ihm geworfen und ein Igel hatte ihn beschimpft. Eloi zog den Kopf ein und verschwand wieder im Loch. Aber er hatte sie gesehen. Sie waren von übermenschlicher Schönheit, wenigstens verglichen mit dem, was man bisher hierzulande an Menschheit kennt. Alle drei saßen auf ihrem Felsen, angestrahlt von den Feuern der untergehenden Sonne. Mit ihrem Hund. Das also war das berüchtigte Ungeheuer, das die Schloßeingänge verteidigte und sie schon zweimal erschreckt hatte. 234
Die sechs Fahrenden Ritter und diese drei trie ben sich in denselben Gegenden herum, dort, wo Schloßruinen standen. Aber die sechs waren unten. Die unterirdischen Gänge waren ihre Domäne und ihre Schlupfwinkel nach den Expeditionen bei den Korrumpierten. Sie hatten die Reste eines Netzes alter unterirdischer Gänge entdeckt, die am Eingang der Dörfer mündeten und zugeschüttet worden waren. Sie waren Fachleute. Sie hatten sich eine richtige Harzfackel gemacht und besaßen eine Brechstange namens Durandal. Sie waren Ritter und Ritterinnen, schon lange vor der Großen Fahrt, doch jetzt lebten sie nach ihrem Herzen. Sie beschlossen sich zu erkennen zu geben, denn diese drei waren Fahrende Ritter wie sie selber, nahmen teil am Kreuzzug. Sie kamen mit brennen der Fackel heraus, und sie waren von übermensch licher Schönheit, alle edel und stolz, im schillern den Schein der Flamme, in der Dämmerung. Sie machten ihr Zeichen, die Gebärde des gesenkten Schwertes. Die drei antworteten mit ausgestreck ter offener Hand. Sie stellten den Kontakt her, mit Ausnahme Réginas, die mit dem knurrenden Mignon auf Distanz geblieben war. Das sind Kinder, sagte sie zu ihm. Aber Mignon mußte man eine Person nach der andern vorstellen und abwar ten, bis er eine Entscheidung traf. Der Begriff der Gruppen war ihm fremd. Sicherlich eine Folge seiner ländlichen Erziehung, denn Chardon Bleu kann te ihn. Dieses edle Tier hat uns schon so manches 235
Mal den Eintritt in die Schloßsäle verwehrt, sagte Vivien. Die andern entschuldigten sich, sie fürchte ten die überraschende Ankunft von Erwachsenen und ihr Wächter machte keinen Unterschied. Sie einigten sich auf den Schrei des Schakals für kom mende Gelegenheiten und übten sich gemeinsam darin. Ein ziemlich schönes Konzert erhob sich vom Hügel. Sie tauschten ihre Erfahrungen aus: Kohlrabi und Brennnessel gegen Löwenzahn und wilden Feldsalat. Verbündete Relaisstationen, die meisten lagen leider hinter ihnen, außer der letzten Adresse, die weitergegeben wurde. Nachrichten, andere Kreuzritter, die man getroffen hatte und Anordnungen der Korrumpierten. Der Star-Plan. Das Wanderverbot und der jämmerliche Zustand der Städte, die Schüler, die noch keine Kreuzfahrer sind und unter Bewachung in ihre Gefängnisse geführt werden. Das Gerücht über die Bildung von Bürgermilizen und die baldige Jagderöffnung auf die Fahrenden Ritter. Große Versammlung dieser Ritter im Wald zwischen Valreuil und Houssy, die einen Tag dauern sollte. Sie tauschten Feigen gegen Eier, von denen Mignon eines bekam. Jeder kehrte in seinen Traum zurück.
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Aber wo sind sie denn, diese Kinder ohne Begleitung ?
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Paul war bei seinem Großvater. Er machte das Gartentor auf und sagte: Ich bins, Opa. Du kommst gerade richtig, sagte der Opa, ich habe ein Ragoût gemacht, mehr sag ich dir nicht, mit der bekann ten Füllung, gehackte Leber mit Petersilie und Knoblauch. Hast du auch Brot, sagte Paul. Und ob. Und einen Apfelstrudel, der Apfelstrudel stand auf dem Tisch, riesig und goldbraun, mit seinen dicken Rollen und den Äpfeln drin. Paul versuchte bis zum Tisch zu kriechen, denn er hatte keine Beine, er kam bis zu einem Wegrand und dort, direkt vor seinen Augen, auf Zeitungen auf dem Boden liegend, Weißbrote, ich träume. Er hörte einen merkwürdigen Ton und das war ein Kerl, der weinte, sicherlich träume ich, dachte Paul, Kerle weinen nicht. Er streckte trotzdem die Hand aus, ob Traum oder nicht und zog sachte das Brot an sich. »Bedien dich«, sagte der Kerl durch seine Hände hindurch, die er vors Gesicht gelegt hatte. Sachte, ganz sachte beugte er sich herab und streichelte Pauls Kopf, »du wirst Leibschmerzen bekommen, wenn du zu schnell ißt. Da«, er nahm ein Ei aus der Tasche und durchbohrte es mit seinem Messer. 238
»Trink zuerst mal das. Saug.« Paul sog daran. Das schmeckte gut. Vor allem das Gelbe. Der Kerl hielt Paul, der sich aufgerichtet hatte, aber ein wenig schwankte, fest. Er erinnerte ihn an etwas. Paul, sagte der Kerl. Er breitete die Arme aus. Paul stürzte sich hinein. Sie kannten sich. Mann quoll vor Liebe über, er schmolz dahin vor Bewunderung Mitleid Empörung Wut aber auch Glück, daß er wenigstens einen gerettet hatte, er fand noch Grund zu Tränen, dachte aber daran, den Schweizerkäse hervorzuholen. Paul aß. »Warum weinst du ?« sagte Paul. »Weil ich Régina verloren habe. Weil die Leute, die zu bestimmen haben, die Kinder verhungern lassen.« »Das stimmt«, sagte Paul mit vollem Mund. »Aber warum weinst du ? Ich habe geglaubt, daß Männer nicht weinen ?« »Wer hat dir denn das gesagt ?« »Mein Vater.« »Jetzt siehst du, daß sie weinen, wenn sie wirklich Kummer haben. Und deine Kumpels ?« »Pah«, sagte Paul und machte dazu eine Handbewegung, die zum Teufel sagen wollte. Wie hat er es nur geschafft, daß er allein bis hierher gekom men ist ? dachte Mann. Weil ein siebenjähriges Kind eben kein Depp ist, gab er sich zur Antwort, nein, für wen halten wir uns denn ? »Ich bin Kobolden begegnet«, sagte Paul. »Sie haben meine Ameisen behandelt und meinen An239
gelstock in eine richtige Angelrute umgetauscht … Wo ist sie ?« Angst. Sie gingen die Angelrute suchen, die nicht weit war. Sie tranken an der Quelle. »Gibts das, Kobolde ?« »Na ja, wenn du welchen begegnet bist. Willst du dich vielleicht ein bißchen ausruhen ? Nachher werden wir sie beide suchen gehen.« »Wen ?« »Régina. Das ist ein kleines Mädchen, das wie du auf der Wanderschaft ist.« »Ich gehe zu meinem Großvater ins Limousin. Ist das noch weit ?« »Es ist nicht ganz nahe«, sagte Mann. Er dachte nach. Das war viel weiter westlich als die Richtung, die sie gewiß eingeschlagen hatte. Er hatte ein sehr starkes Gefühl, daß er auf der selben Linie war, außer in seinen Augenblicken des Irrsinns. »Oder gehst du vielleicht lieber allein weiter ?« »Nein«, entfuhr es Paul, ohne daß er nachdachte. »Obwohl es mir gefallen hat …« (er hatte jetzt Angst. Zu verhungern. Er schwieg). »Weil die Kinder nicht mehr ohne Begleitung Erwachsener sein dürfen«, sagte Mann. Sein Herz blutete. Für die aufgeregten Eltern, die die Polizeikom missariate stürmten, gab der Verantwortliche für die Lebensordnung vor den Kameras des 240
Fernsehens gerade eine Erklärung ab: Wir werden Ihnen Ihre Kinder zurückgeben. Tot oder lebendig, unterstrich Marta. Bewahren Sie Ruhe, sagte der Verantwortliche, geht ruhig nach Hause, gute Leute, wir kümmern uns um alles, unterstrich Laura. Die Sonderkommission für die Jungen paßt scharf auf, ha ha, und ihre Mitglieder sind gerade verdoppelt worden. Man muß ihnen Kortison geben, sagte Marta, Das Land ist qua driert worden, Scheiße, sagte Benoîte, Quadrate, das ist alles, was sie können, Haltet mal etwas den Mund, man versteht ja nichts mehr, sagten die Junioren zu ihnen, Mäusefallen sind für die Urheber von Einbrüchen aufgestellt worden, diese angehenden Missetäter werden bestraft werden, alle Verteilungsstellen für Nahrungsmittel werden streng bewacht, die Ausreißer können sich jetzt nicht mehr lange halten. Für jene, die sich keiner Vergehen schuldig gemacht haben, wird es nur ein einmaliger Streich gewesen sein, ein etwas längeres Schulschwänzen, und sie werden mit der Erfahrung einer Freiheit zurückkommen, die sicherlich nicht immer rosig war, RRRR ! brüllte Laure, eine Freiheit, der es sogar verboten ist, in den Mülleimern herumzustöbern ! Und mit dem verstärkten Bewußtsein, versuchte unterdessen der Verantwortliche zu sagen, pst ! sagten die Kinder, wir wollen wissen, mit welchem Bewußtsein, des Glücks, das sie in einer Gesellschaft genießen, in der das Kind König ist. 241
»König«, kommentierten die Junioren und sa hen sich an, während der Verantwortliche für die Lebensordnung zwei drohende und eisige Augen in die Fernsehzuschauer bohrte, bevor er ausgeblendet wurde. »König ?« »König der Hunde«, sagte Marta. »Wohnungskönig«, sagte Benoîte. »Seien wir gerecht.« »Nicht einmal, die Hunde, die keinen Herrn haben, dürfen wenigstens in den Mülleimern her umwühlen«, sagte Laure. Und hier eine amtliche Mitteilung, sagte der am Bildschirm erschienene Nachrichtensprecher. Kinder, die sich aus eigenem Antrieb auf den Polizeidienststellen melden, bekommen dort zu essen und werden notfalls auch behandelt. Also, Salz auf den Schwanz ? Bevor sie ihren Eigentümern, sagte Benoîte, Familien zurückgegeben werden, sagte der Kommentator und warf ihr einen bösen Blick zu. Es wird noch einmal darauf hingewiesen, für Personen, die auf jugendli che Ausreißer stoßen sollten, daß schlechte Behandlung und Brutalität Kindern gegenüber Strafverfolgung nach sich ziehen kann, sagte die Großaufnahme streng. Sieh mal an, es ist also zu Zwischenfällen gekommen, das hat man uns nicht gesagt, sagte Marta. Die entdeckten Kinder sollen lediglich bis zur Ankunft der sofort benachrichtigten Behörden festgehalten oder in die Übernachtungsheime ge bracht werden, die im Rahmen des Plans bereits in mehreren Städten funktionieren. 242
Die Übernachtungsheime warteten auf die Kunden. Sozialarbeiter standen mit offenen Armen auf der Schwelle. Zehn Kinder im Alter zwischen drei und vierzehn Jahren stürzten hinein und wurden sofort vor volle Teller mit Linsen gesetzt, die völlig verkocht waren, weil sie schon so lange auf dem Feuer standen, die Kameras filmten wie verrückt. (Es waren die Kinder einer bettelarmen kinderrei chen Familie aus einem Vorort, die Mutter hatte gesagt: geht doch ins Übernachtungsheim, dort scheint es was zu essen zu geben. Man erfuhr es erst nach den Linsen. Die Übernachtungsheime waren also genau genommen nicht völlig nutzlos.) Amtliche Mitteilung: der Computer Toto ist ein satzbereit. Er ist in der Lage, innerhalb von vierzehn Sekunden den Wohnort eines jeden identifizierten Kindes herauszufinden. Toto wird vorgestellt, er ist außerordentlich sauber und still. »Halt dich ran, Toto«, riefen die Betroffenen. Toto schwieg. Eine Reportage, die lange Reihe der Eltern, die vor dem Gebäude zur Vorbereitung auf das Leben nach ihren Kindern verlangen, Bild, die Eltern rufen: gebt uns unsere Kinder wieder ! wurde von einer kleinen Gruppe von Agitatoren gestört, Bild, die Agitatoren, die wie Eltern aussehen, skan dieren: gebt sie uns nicht zurück ! Es kommt zu einem wirren Handgemenge, aus dem sich ein großer Bärtiger aufrichtet, der brüllt: Nieder mit der Müll-Schule ! 243
»Papa !« ruft Sophie. Ohne zu antworten fällt er unter dem Gewicht eines Gummiknüppels hin, die Streitkräfte für die Lebensordnung umrahmen schwarz die Szene, Schnitt. »Der Hund«, sagte Sophie, »dabei hat er immer zu mir gesagt, du guckst nicht Fernsehen, bevor du nicht deine Hausaufgaben gemacht hast …« »Das war nicht recht von ihm, du siehst es ja.« »Hoffentlich haben sie ihn nicht umgebracht, wo er sich gerade bekehrt hat.« »Ich hätte trotzdem gern das Ergebnis gewußt«, sagte Sébastien. »Die Polizei hat gewonnen«, sagte Benoîte. »Ich frage mich wirklich, ob es klug ist, sie morgen wieder in den Verkehr zu bringen«, sagte Laure. »Vielleicht sollten wir sie bis zur nächsten Relaisstation geleiten, wie sie sagen«, sagte Benoîte. »Damit wieder Platz ist für die andern.« »Und bis wohin ?« sagte Marta. »Vielleicht könnten wir darüber gemeinsam diskutieren«, sagte Benjamin liebenswürdig. »Scheiße. Wir sind anscheinend noch nicht vollkommen«, sagte Laure. »Dabei kümmert ihr euch schon so lange um unseren Schutz«, sagte Sébastien. »Ich glaube, ich ziehe die Risiken vor.« »Es ist eine Sauerei, daß wir ohne Erwachsene nicht auskommen«, sagte Benjamin. »Es gibt aber anscheinend verschiedene Arten 244
von Erwachsenen«, sagte Sophie. Sie dachte über ihren Papa nach, er hatte sie in Erstaunen gesetzt, zu Hause war er nicht so. »Vielleicht können sie sich ändern.« »Das ändert nichts am Prinzip«, sagte Benoîte, »ihr seid abhängiger als Hunde ! Hast du die Hände gefaltet, Marta ?« »Ich habe gerade an etwas recht Komisches gedacht: sie können sie schließlich nicht umbringen. Ich glaube, damit kämen sie nicht durch. Alle an dern Unterdrückten können sie umbringen, aber diese Kinder ? Glaubt ihr, daß ich träume ?« »Ein interessanter Gedanke.« Die Treiber stellten sich im Karree auf und gingen konzentrisch vor, wobei sie mit ihren Stöcken auf die Büsche schlugen. Keine Schützen, das war nicht gestattet, es war auch nicht sinnvoll, normalerweise würde das Wild am Ende in der Mitte des Waldes zusammengetrieben werden, man brauchte es nur einzusammeln, sie haben schließlich keine Kraft mehr. Es war also nicht so schlimm, wenn Waffen nicht zugelassen waren. »Sie wollen das selber tun. Ihre Männer haben Gewehre mit Gummikugeln, aber das scheint trotzdem zu knallen.« »Es ist auch langsam an der Zeit, daß sie was tun.« »Man muß diesen Rotznasen eine Lektion er teilen. Sie müssen endlich mal auf ein Hindernis stoßen.« 245
»Die halten sich für zu schlau. Man hat ihnen viel zu sehr die Zügel schießen lassen, mit der modernen Erziehung und all dem. Das ist das Ergebnis.« »In Amerika scheint's noch schlimmer zu sein.« »Wundert mich nicht, die lassen sich doch dort auf dem Kopf herumtrampeln. Von ihren Frauen auch.« »Na ja, diesmal werden sie begreifen. Man kann sich nicht ewig auf dem Kopf herumtrampeln lassen.« »Ich sage dir, Schrotkugeln in den Arsch, das ist das einzige, was die auf Vordermann bringt. Wenn bei mir einer vorbeikommt, der kriegt Schrotkugeln in den Arsch, dazu habe ich das Recht, auf meinem Grund und Boden.« »Ich habe gehört, daß manche Netze ausgelegt haben.« »Netze sieht man.« »Nachts nicht ! Nachts nicht ! « »Schrotkugeln in den Arsch ! Schade, daß wir keine Erlaubnis dazu haben. Dreckige Brut.« »Ich sehe ihre Flappe schon vor mir, Mann, wenn sie uns kommen sehen (tock tock, flipp flapp, auf die Büsche).« »Sie hören uns, weißt du. Der Arsch geht ihnen bestimmt schon mit Grundeis. Sie hören uns nä herkommen. Wie Hasen. Wie Hasen.« »Auf die Knie werde ich sie zwingen. Auf die Knie. Damit sie wissen, wer hier zu befehlen hat. 246
Und wehe, wenn ich meinen erwische, glaub mir, die Tracht Prügel, wenn der nach Hause kommt, so was hat der noch nicht erlebt. Zu Hause habe ich das Recht dazu. Zu Hause kann ich tun und lassen, was ich will, da bin ich der Herr.« Mitten im Geviert fanden sie die Frauen, die sich die Seiten hielten, als sie ihre Flappe sahen. Eine Sekunde lang dachten sie daran durchzu laden. Aber es waren vornehme Damen darunter, das war zu gefährlich. »Meine Herren«, sagte Madame de Laube, »hof fentlich bleiben Ihre Worte Ihnen im Halse stec ken, damit Sie Krebs davon bekommen.« Sie war richtig entsetzt. Sie hatte nie an irgend etwas teilgenommen und wußte nicht, daß es solche Gedanken gab. »Aber es sind doch gar nicht eure Kinder, die da sind.« »Und ob«, sagte Laurine, die Wäscherin, »und ihr rührt sie nicht mit euren schmutzigen Pfoten an.« »Das sind alles unsere Kinder«, sagte Madame de Laube, die keine hatte. »Im übrigen ist eure Miliz vollkommen illegal«, sagte Madame Lépreux, die Jura studiert hatte vor ihrer Heirat mit dem Bürovorsteher des Notars. »Löst sie auf der Stelle auf«, sagte Madame de Laube, die Royalistin war. »Aber wo sind denn die Kinder ?« fragte Florot, der Nimrod. 247
»Das geht euch nichts an«, sagte Charlotte, die Gemüsefrau. »Die Kinder sind Frauensache«, sagte Emma, die in der Stadt studierte. »Das hat man uns immer wieder gesagt, nun haltet euch daran.« »Auf jeden Fall ist es nicht Sache dieser brutalen Elemente«, sagte Madame de Laube. »Und jetzt verschwindet, das Wild, das ihr sucht, ist nicht hier. Ihr seid der falschen Fährte gefolgt«, sagte sie und schimpfte sie damit Hunde.
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Wo sind sie ?
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Es ging um die Frage, weil sie so zahlreich waren, ob sie sich nicht etwas besser organisieren, gemein same Aktionen unternehmen, Verbindungsleute haben und sich wie eine echte Bewegung, die sie schließlich waren, verhalten könnten. Der sprach, war etwa vierzehn Jahre alt, etwas älter also als die meisten. Er erklärte, daß man eine Kraft sei, und daß es dumm sei, sich zu verzetteln, daß man sich auf einer Basis verständigen, die Ziele festlegen müsse. Sich in Regionen und Kreise gliedern, sich in großen Gruppen zusammentun, um zum Beispiel über ein Dorf herzufallen und von der Bevölkerung Lebensmittel zu verlangen, ihr alles erklären. »Sag mal«, murmelte Grâce, »das Geschwätz geht mir auf den Wecker …« Ihr was erklären ? sagte eine Stimme. Daß wir keine Missetäter sind, wie es in den Zeitungen heißt, sondern eine Bewegung, und daß sie unsere Gründe verstehen und uns helfen sollen. 250
Und wer soll der Anführer der Organisation sein ? sagte eine klare Stimme. Keine Antwort, ein anderer stieg auf den Baumstumpf, auch ein eher Großer. Wir sind eine Bewegung, stark genug, um unsere Bedingungen zu stellen. Was für Bedingungen, ertönte es von verschie denen Stellen. Abschaffung des Auswahlverfahrens, Annullierung der neuen Schulreform. Beteiligung an al len Entscheidungen und an der Aufstellung der Programme. Voller Lohn für Lehrlinge (Gemurmel ist uns wurscht). Volljährigkeit mit sechzehn Jahren. Was geht uns das an ? Wahlrecht mit zwölf Jahren ! verkündete der Redner im passenden Augenblick. Freie Fächerwahl. Sexuelle Freiheit, schrien einige. Sexuelle Freiheit, übernahm der Redner ohne zu zögern. Ich finde das scheißlangweilig, brüllte Grâce. (Lachen.) Respekt vor der Würde, Abschaffung der Strafen, Gleichheit vor dem Gesetz … Uns ist das Gesetz wurscht ! rief Grâce, die nervös wurde. Und das Versprechen, daß keine Sanktionen ergriffen werden. Wenn ? hörte man deutlich. Was ? sagte der Redner. 251
Wenn was, die Bedingungen ? machte die klare Stimme deutlich, die Lucrèce gehörte, welche ganz nahe am Podium stand. Wir sind nur bereit heimzukehren wenn, die Fortsetzung wurde von einem grandiosen Lärm übertönt, unter dem die beiden Redner Aber was glaubt ihr denn, was wir tun können Wie lange meint ihr, daß wir das aushalten ? anzubringen versuchten. Wir haben keine Waffen ! Die andern sind organisiert ! Wenn wir, Sie uns, Man muß, Nutzen wir die Gelegenheit, daß wir stark sind, sonst. Wenn sie die Hälfte von uns aufgegriffen haben, können wir keine Forderungen mehr stel len ! … Wir ergeben uns nicht, erklärte Vivien, der gegenüber auf einem anderen Baumstumpf stand und Durandal hochhielt. Ich schlage vor, daß die, die sich zu großen Gruppen zusammenschließen wollen, das tun, und die, die nicht wollen, sich nicht zusammenschließen, sagte Régina. Wenn wir in großen Gruppen herumziehen, können sie uns leichter umzingeln, hob David hervor. Sie sind die Militärs, nicht wir. Wenn wir uns nicht mit ihren Waffen schlagen, kommen wir zu nichts. Wenn wir uns mit ihren Waffen schlagen, haben wir keine. Gut, und gerade darauf haben wirs ja abgesehen, sagte eine Stimme. Auf nichts. Das kann man doch nicht ernst nehmen, sagten 252
die Redner, euch sind wohl die Zusammenhänge nicht ganz klar, ihr werdet euch schnappen lassen. Wer schickt dich denn ? sagte Lucrèce. Sag es schon. Wer hat dich geschickt ? Sag ! sagte Lucrèce, sie sprang auf den Baumstumpf neben dem Tribun und sie überragte ihn. Sag ! Kleiner Armleuchter ! Kleiner Führer ! Sie spuckte ihm ins Gesicht. Sie stieg wieder herab und verdrückte sich in der Menge. Ich schlage vor, daß wir keine Versammlungen mehr abhalten, sagte eine Stimme. Ich schlage vor, daß wir tanzen, sagte Grâce, sie setzte Maracasse, die mit Eicheln gefüllte Puppe in Aktion, Régina schlug mit Hölzern gegeneinan der. David nahm seine Kazou-Trompete und das zündete über den kleinen freien Raum hinaus, der sich dank Mignon um sie herum gebildet hatte. So ging das aus. Die Delegierten verschwanden in dem allgemeinen Durcheinander mit ihren Aktentaschen, und ihren kleinen Zwickern, wobei sie stöhnten, daß das noch ein schlimmes Ende nehmen würde, die Kinder seien noch nicht reif, schade, wieder eine Gelegenheit verpatzt. Régina sprang auf den Baumstumpf. »Aufhören !« Es hörte auf, denn sie hatte eine besondere Stimme, »wir müssen uns schnell zer streuen … Das ist kein Befehl«, verbesserte sie sich. »Ich habe nämlich weiße Mäuse auf ihre Motorräder steigen sehen, sie wußten etwas. Das ist natürlich nicht sicher. Es ist nur eine Vision … 253
Entschuldigt bitte.« Sie stieg wieder herunter. Sie zitterte wie Espenlaub, David preßte sie an sich und beruhigte sie. »Ich glaube, wir sollten uns an das halten, was sie sagt«, verbreitete Grâce im Umkreis. »Sie sieht, was kommt. Wir türmen jedenfalls.« Sie zerstreuten sich, sehr schnell verschwanden sie unter den Bäumen. In kleinen Gruppen, wie sie gekommen waren. (Wo sind die Kinder, ohne Begleitperson ?) Lucrèce kam zu ihnen und sprach David an. »Du bist der erste Junge meines Alters, auf den ich scharf bin. Leiht ihr ihn mir für einen kurzen Augenblick aus ? Ihr bekommt ihn zurück.« »Ich bin ein Mädchen«, sagte David, »und ich liebe diese beiden Knaben.« Lucrèce zog es Schuh und Strümpfe aus. Sie gingen ins Schloß. Die wirkliche Frage lautet doch: was ist uns lieber, unsere Kinder fern und lebendig oder zu Hause und tot ? Je nachdem, wie die Antwort auf diese Frage ausfällt, werden Sie die Ausreißer den Behörden übergeben oder ihnen Brot, eine Ecke zum Schlafen und eventuell Liebe geben, wenn sie Sie darum bitten und Sie das für sie übrig haben. 254
Wir, Frauen, ob Mütter oder nicht, und junge Männer oder Greise, ob Väter oder nicht, und alle, denen die Kinder, ob die ihren oder nicht, lebendig lieber sind, lassen die Verfechter der Autorität, ob offiziell oder nicht, wissen, daß wir allen ihren Aggressionen zum Trotz die Kinder ernähren, verstecken und beschützen werden, denen es gelungen ist, ihnen zu entgehen. Sie werden entschuldigen, daß wir Ihnen nicht unsere Namen und unsere Adressen angeben. Ein Teil der Bevölkerung. las die alte Dame. Sie thronte auf einem hohen Sessel. Nein, schreib neu, es ist noch nicht das richtige. »Ihr dürft mir glauben, daß ich mit diesem Pamphlet einverstanden bin«, sagte sie. »Übrigens habe ich den Drucker bezahlt, einen Holländer.« Sie trug eine schwarze Mantilla auf ihren weißen Haaren mit den Schillerlocken und ein malven farbenes Kleid mit einem violetten Umschlagtuch. Und sie thronte auf einem hohen Sessel. »Nein, zieh den Sessel weg. Aber sie wird auf die Fresse fallen.« »Ihre Leute werden bei mir nicht hereinkommen, ich lasse die Zugbrücke hochziehen, wir werden die Belagerung schon überstehen. Übrigens kommt man hier nur auf Einladung herein. Scheiße, wer hat mir den Sessel weggezogen ?« Überall waren Kinder, auf den Kanapees, auf den Himmelbetten, auf den Teppichen. Lucrèce 255
war da und fraß David mit den Augen auf, und Sara und Ben und eine Menge, denen sie unter wegs begegnet waren oder bei der Versammlung. Die Ritter bewachten mit Schwertern die Tür. Es war ein richtiges Schloß, ganz erhalten, in gutem Zustand und möbliert wie die Museen. »Diesmal träume ich wirklich«, sagte Grâce angewidert. »Das kann doch nicht wahr sein, ich glaube nicht daran, selbst im Traum gibt es so was nicht.« Sie stand mit ernstem Gesicht auf. »Sind Sie ein Traum ?« sagte sie zu der alten Dame. »Natürlich bin ich einer, hast du etwas wie mich schon mal in der Wirklichkeit gesehen ? Und das im zwanzigsten Jahrhundert ?« »Nein, das nicht, das nicht«, sagte Grâce und wälzte sich in ihrem Himmelbett herum, »nicht die Comtesse de Ségur in meinem Traum !« »Grâce, es ist Zeit aufzustehen, um in die Schule zu gehen.« »Nein, nein, ich will nicht mehr, daß man mich stört, wenn ich träume, das ist alles vorbei, ich bin auf der Erde.« Sie zog die Decke über den Kopf. »Régina ! Wo bist du ?« »Da«, sagte Régina. »Hier. Unter der Decke.« »Ein Kohlhut und er erscheint nicht mehr«, sagte Sara. Erscheint nicht mehr ? Er erschien nicht mehr, alles war an seinem Platz, das Schloß, die Kinder. 256
Die Comtesse de Ségur trug Bluejeans und kurzes Haar, »wir haben für gut zwei Monate zu essen hier«, sagte sie, »wenn nötig werden wir Jäger essen.« Mozart mit seinem kleinen Haarbeutel spielte Klavier. »Er spielt die Sonate ›Die Jagd‹«, sagte David. »Das paßt gut.« »Ich glaube nicht daran«, sagte Grâce. Paul angelte. Er legte Wert darauf, zur allgemeinen Verpflegung beizutragen, er wollte Mann nicht auf der Tasche liegen. Aber ich kaufe nicht alles, ich klaue auch. Das ist immerhin Arbeit, sagte Paul. Ich weiß, was das heißt, er erzählt ihm, wie er früher Meister darin war. Es hatte ihm Spaß gemacht, auf eigene Faust zu leben. Das gab mir Würde, sagte er (ein Wort, das er von seinem Vater kannte, der fand, daß es ihm daran fehlte), warum kann man nicht auf eigene Faust leben, wenn man das gern möchte ? Warum eigentlich nicht, fing Mann zu denken an. Es gibt Dinge, die ich tun kann, und ich habe gemerkt, daß ich nicht viel zum Leben brauche. Er stellte eine Liste seiner Bedürfnisse auf, wobei er den Winter ein wenig vergaß, weil die Jahreszeit fern war, aber trotzdem, dachte Mann, er hat recht. Paul belehrte ihn. Selbst den Apfelstrudel kann ich selber machen, sagte Paul. Mann hätte ihn gern gebeten, nicht so oft von dem Apfelstrudel zu reden, dessen bloße Erwähnung seinen leeren Magen noch leerer werden ließ. Aber er wollte nicht tonangebend sein. 257
Paul giftete, daß er nicht mehr klauen konnte. Aber selbst ein Kind in Begleitung (das war Pauls augenblicklicher Status) tat besser daran, nicht auf zufallen. Die Augen eines jeden Individuums, das man mit einer noch so lächerlichen Verantwortung ausgestattet hatte, klebte an den Kindern wie Fliegenfänger. »Paul, komm hier her ! Ich habe dir doch aus drücklich verboten, mich auch nur um einen Fußbreit zu verlassen«, sagte Mann sehr böse, aber Paul wußte, daß er spielte. Sobald Paul einen Meter weg war, die Augen. Mann hatte nicht gewußt, daß sie so mit Haß aufgeladen sein konnten, nein nein, ich übertreibe nicht, diese Blicke, das ist Haß und nichts anderes, Haß auf die Kinder, wenn sie sich der Macht entziehen. Niemand hatte es gewußt. Dazu hatten sie erst einmal mit dem charmanten Spiel der Erwachsenen auf hören müssen (das Spiel des guten Negers, das Spiel des niedlichen Püppchens, das Spiel des alten treuen Dieners undsoweiter undsoweiter, Scheißgeschichte ! fluchte Mann), hatten aufhören müssen zu spielen, da mit die nackte, entsetzliche Wahrheit aus ihrem blühenden Brunnen ans Licht trat. Ihre Liebe war Nacht. Immer dasselbe, sagte sich Mann. Liebe deine Unterdrückung oder wehe dir ! Er konnte Paul nicht ganz allein in der, nun, nicht in der Natur, die Natur geht noch, ein acht jähriges Kind kommt in der Natur immer noch zurecht, aber in der Gesellschaft lassen. 258
Mann liebte Paul. Warum, wußte er auch nicht. Er hatte sich in Paul verliebt. Oh, rein, rein, er stand nicht auf kleinen Kindern, er nicht, jedenfalls nicht sexuell. Paul schlief nachts an ihn gepreßt, wenn sie kein Dach überm Kopf hatten, aber nur um wärmer zu haben. Mann spürte in dieser Hinsicht über haupt nichts. Er spürte anderswo. In der Brust eine Dehnung, eine Art Ruhe eben, Frieden. Physisch, nun ja. Aber nicht sexuell. Auch nicht väterlich, wohlgemerkt ! Etwas in der Art seiner Wut – er wird ihnen nicht in die Hände fallen ! Manchmal schwimmt er nachts, auf dem Rücken, und Paul liegt auf ihm, wie bei einem Schiffbruch. Etwas in der Art – wirklich unformulierbar. Das Leben. Ihn selbst betreffend, ihn, der nicht gerettet wurde. Eigenliebe … fing er an, und warum eigentlich nicht ? Ja. Eigenliebe, die Liebe für alle bedeutet ! Ja ! Er würde in Richtung Süden weitergehen, bis nach Fourchaux oder nach Vieille-Bastide, wo er ebenfalls Freunde hatte, gesegnet seien sie, diese wenigen, die zu den Quellen zurückgekehrt waren. Von hier oder von dort aus würde man bestimmt jemand finden, der Paul mitnähme, ihn vielleicht im Auto weiterbrächte, zu jemand, der ihn dann undsoweiter, und so würde er schließlich bei seinem Großvater ankommen, gesegnet sei sein kleines Hirn, er kannte den Namen des Ortes, Solignac. Oder man würde ihm gar ein Auto leihen, für einen Tag. Auf diese Weise würde er ihn zu essen bekommen, den verfluchten Apfelstrudel. 259
Beruhigt wegen Paul (er wollte nicht bei ihm bleiben, Paul war nicht seine große Liebe, er wollte nur seinetwegen beruhigt sein), würde er zurück kommen und dort seine Suche wieder aufnehmen, wo er aufgehört hatte. Wo hatte er aufgehört ? Wo war sie ? Es war ein richtiges Schloß, mit Mauern, Dach, Fenstern und schließenden Türen. Nur das Innere war etwas verwahrlost. Als die Gendarmen am Parktor klingelten (mit einem Durchsuchungsbefehl versehen, dem Ergebnis einer Rachedenunziation natürlich), war selbstverständlich kein einziges Kind drinnen. Vom Beobachtungsturm aus hatte man sie schon seit einer Weile auf der staubigen Straße kommen sehen. Die Ritter hatten den Einlaßmechanismus zu den alten unterirdischen Gängen, von deren Exi-stenz sogar Madame de Laube nichts gewußt hatte, am Kopfende ihres Bettes entdeckt, hinter der Tapisserie, die eine von Eros’ Pfeil durchbohrte Chimäre beim Anblick des von geflügelten Liebesgöttinnen umringten Adonis darstellte. Die Ritter hatten ihre ganze Zeit damit zuge bracht, während andere Kuchen backten, Mäuer chen bauten, Pilze suchten, den Jagdhüter zu ver führen suchten (Lucrèce), Jeanshosen flickten (David), Klavier spielten (Wolfgang Amadeus), Lulli sangen (die drei), Gelegenheitstheater spiel ten (alle), träumten (alle), ihre ganze Zeit damit 260
zugebracht, diesen Eingang zu suchen, an dessen Existenz sie nicht gezweifelt hatten, da sie richtige Experten waren. Wo der Ausgang ist, weiß man noch nicht.
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»Albert ist nicht da«, bemerkte Biaise. »Er hat vielleicht den Keuchhusten«, sagte Erasme. »Vielleicht ist es der Beginn einer Epidemie«, sagte Emmy. »Ich liebe meine Mutter«, seufzte Biaise. »Das ist mein Unglück.« »Damit hat sie dich natürlich in der Hand«, sagte Emmy. »Diese Geschöpfe machen die schmutzige Arbeit.« »Aber sie ist doch selber ein Opfer«, sagte Biaise. »Dann soll sie sich darüber im klaren sein«, sagte Emmy hochmütig. »Alle Informationen stehen zur Verfügung.« »Ich leide für sie«, sagte Biaise. »Ich hasse meine Mutter«, sagte Erasme. »Sie ist dumm. Diese arme Irre tut alles, um aus mir ihren Peiniger zu machen. Wenn ich auf ihren Trip einginge, würde ich ihr mit sechzehn Jahren die Fresse vollhauen. Das heißt nächste Woche. Das erwartet sie auch, das ist ihr Schicksal, sie will das Wort ihres blöden Gottes erfüllen. Scheiße. Ich will nicht und ich hasse sie, sie würde verdienen, daß ich ihr die Fresse vollhaue, was zu beweisen war. Man müßte schon ein Heiliger sein, um nicht 262
ins Garn zu gehen, zum Glück bin ich einer, ich werde nicht drauf reinfallen. Wißt ihr, was ich beschlossen habe ?« »Ruhe im Parkett«, sagte der Meister. »Scheiße, die gehn uns auf den Wecker«, brummten Biaise, Emmy, Erasme und andere an verschiedenen Punkten, wo man sich ebenfalls unterhielt. »Ich habe beschlossen auszureißen, sobald mich zum ersten Mal die Hand juckt«, fuhr Erasme fort. »Mich jucken die Füße«, sagte Emmy. »Das Herz bricht mir«, sagte Biaise. »Ich werde mit gebrochenem Herzen ausreißen.« »Nur von Innereien ist die Rede.« »Etwas Ruhe, habe ich gesagt.« »Es ist unklug, in einem solchen Ton mit uns zu sprechen. Sie sollten wissen, was sie erwartet. Ich meine die Arbeitslosigkeit.« »Gestern hat Albert gesagt: der Gedanke, Ingenieur zu werden, kotzt mich an. Mir gehts schließlich nicht nur um die Brötchen.« »Zu mir hat er neulich gesagt: ich glaube, ich habe das Sonnenschiff entdeckt, das ist viel lusti ger als ein Atommeiler und es geht viel schneller. Außerdem könnte man Zitronenbäume drauf anbauen.« »Wer wird dann das mathematische Genie hier sein ?« Keine Antwort. Albert E. war der erste ehrbare Schüler ei ner naturwissenschaftlichen Klasse, der zu den 263
Streitkräften der Desertion stieß und damit dem Verantwortlichen für die Lebensvorbereitung Unrecht gab. In den oberen Klassen waren es die mathematischen Genies, die durchbrannten. »Auf jeden Fall brauchen sie auch keine Genies«, sagte Marta zu Niels, der ihr eine Äolsharfe in den Garten gestellt hatte. »Sie wollen unter Leichen bleiben.«
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Man kannte sie im Lande. Sie konnten immer an eine Tür klopfen. Man gab ihnen zu essen und ein Bett oder eigentlich Stroh, was es gerade gab. Sie halfen bei den anfallenden Arbeiten aus, die in dieser Zeit zahlreich waren. Im Winter werden wir weitersehen, sagten die Leute. Ihre ungewöhn liche Energie erregte Bewunderung, sie waren im eigentlichen Sinne unermüdlich, man wußte nicht, wo sie das hernahmen, schließlich waren sie doch noch so jung. Abends gingen sie nach dem Essen dorthin schlafen, wo man sie hinwies oder draußen, wenn das Wetter schön war. Unterm Himmel. Wie zwei Denkmalsfiguren, wie zwei Balken. Sie stell ten ihnen keine Fragen. Nicht etwa, daß sie nicht Bescheid gewußt hätten über das, was ringsum geschah, sie wußten es. Es war eine Gegend, wo sich die Gendarmen nicht gern zeigten.
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Satt von Geflügelpastete, marschiert Mignon, an die Leine genommen, an der Spitze. Er kann den Ausgang nicht verfehlen, da er sehr unter Platzangst leidet. Den zusammengefalteten Puppenwagen hat David unterm Arm, Régina und Grâce tragen jede zwei Räder. Andernfalls ginge er nicht durch. Man würde ihn draußen wieder zusammenbauen. Hin und wieder wird Duran-dal zu Erdarbeiten eingesetzt. Die beiden anderen Klingen in den Händen der Ritter (ein Geschenk von Madame de Laube, die ihren Mut zu schätzen wußte) könnten zu dieser Wühlarbeit nicht benutzt werden. David lehrt die Ritter das Gebet Don Quichottes, von Ravel. Lucrèce besitzt eine Taschenlampe, die sie benutzt, da es für die edle, echte Fackel nicht genug Luft gibt. Für die Fahrenden selber übrigens auch immer weniger.
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Aber wo sind sie nur, diese Kinder ohne Begleitung ?
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Das gibt es nicht. »Prosperine !« »Ja, Mama«, antwortet Alice und schützt mit dem Arm ihr bedrohtes Gesicht, von einer Ohrfeige be droht ? sie spielt ihre Rolle immer sehr ernsthaft. »Seit Stunden suche ich dich schon. Aber ja, Monsieur, es ist meine ! Du leichtsinniges Mädchen ! Du glaubst wohl, daß ich sonst nichts zu tun habe ?« Prosperine, sie gehen doch etwas zu weit, wie komme ich mir vor mit einem solchen Namen, sie hat schon Caroline, Nennette und sogar Cricri gehei ßen, entsetzlich, na ja, immer noch besser als die Miliz, wie man sagt. Das war der Trick, auf den man schließlich spon tan gekommen war, jedes Kind in Schwierigkeiten mit dem erstbesten Namen, der einem einfiel, zu rufen. Sie begriffen sofort. »Bibi ! Marthe ! Eufraise ! Arsène ! Douille ! Chrysalide ! Toto !« Irgend etwas. Der Spezialbeamte berührt höflich seine Mütze, unmöglich, einen von diesen Unbegleiteten zu fassen, sie waren alle in Begleitung, außerdem 268
wurden sie von den Müttern und manchmal auch von den Vätern scheel angesehen, und was wird nun aus der Prämie ? Sie hätten nach den Namen fragen können. Aber dazu hätte man von vornherein einen Verdacht haben müssen, und es war noch keinem in den Sinn gekommen, daß die Leute, die ein Kind ausschimp fen, nicht seine Eltern sind. Die Blutsbande sind mit dem bloßen Auge nicht sichtbar, nicht einmal, wenn man eine Brille trägt. Die Blutsbande sind lediglich daran zu erkennen, daß der eine befiehlt und der andere sich klein macht. »Hab ich dir nicht schon hundertmal gesagt, daß du ohne mich nicht aus dem Haus gehen sollst ? Wenn du allein aus dem Haus gehst, wird dich der Milizsoldat holen und Gott allein weiß, was er mit dir machen wird !« Die Leute fingen an, sich um sie zu versammeln. »Aber Mama, es ist doch schönes Wetter, und heute ist schulfrei, und ich kanns nicht mehr aus halten !« sagte Alice und fing an zu weinen. »Es ist doch traurig«, sagte die Mama und rief das Publikum zum Zeugen an. Die Straßen der Provinzstädte waren in diesen Tagen belebt wie nie, die Leute gingen vorüber und hielten die Nase in den Wind, sie hatten offensichtlich nichts zu tun, vor allem natürlich die Frauen, und obgleich noch keine Ferienzeit war, zogen Studenten oder so ähnliche mit Rucksäcken auf dem Buckel durch die Straßen, bummelten in den Städten auf den 269
Bürgersteigen herum, natürlich bereit, sich auf alles zu stürzen, was interessant sein konnte. Das Theater fand auf der Straße statt, die Leute, die sich gern amüsierten, nutzten alle Gelegenheiten (und die Leute, die sich gern amüsieren, stehen selbstverständlich auf der Seite der Kinder), das Leben wurde wieder interessant (und Gott weiß, wie wenig es das war, es war schwierig, übermäßig teuer und lohnte nicht die Mühe). »Kinder sind ungehorsam, das ist nun mal so, aber soll man sie deswegen einsperren ? Ich lehne das jedenfalls ab.« »Und ob«, sagte eine andere Mutter (eine Verbündete). »Das macht sie ja verrückt.« »Es sind schon mehrere Fälle von Kindern ge meldet worden, die man ins Krankenhaus bringen mußte (ein Verbündeter).« »Aber das kann doch nicht so weitergehen, das muß doch aufhören ! (kein Verbündeter).« »Schließlich kann man sie nicht tun lassen, was sie wollen (kein Verbündeter).« »Sie sollen sie doch alle ins Gefängnis stecken, dort sind sie leichter zu überwachen (paradoxer Verbündeter).« »Warum dürfen die Kinder denn nicht spazieren gehen, Mama ?« sagte Alice, einen Finger in der Nase. »Das ist tatsächlich eine Frage. Mit zwölf Jah ren können sie in der Regel laufen. Soll man sie so lange auf der Tasche liegen haben ? Nimm den 270
Finger aus der Nase, Propro (das war wirklich der schlimmste Name, den man ihr je gegeben hatte).« »Es gibt so brutale Typen, die die Situation ausnutzen (kein Verbündeter).« »Wenn es keine Situationen gäbe, könnten sie sie nicht ausnutzen (logisch). Ich meine, wenn sich die Kinder nicht verstecken müßten (letztlich ein Verbündeter).« »Sollen sie doch die brutalen Typen überwachen ! Jedenfalls ist das nicht normal, daß die Kinder lei den müssen, weil diese Typen frei herumlaufen.« »Die Welt ist schlecht eingerichtet«, sagte Alice. »Da ist ein Irrtum vorgekommen.« »Und ein so intelligentes Kind ist in der Sonderschule !« sagte Prosperines Mama in das respekt volle Schweigen der Menge. »Da können Sie mal sehen, was mit ihrer Schule los ist !« Bei dem Wort ›Schule‹ kam es jedesmal zu heftigem Wortwechsel. Die Welt war geteilt. Die Kinder hatten sie mehr oder weniger in der Mitte entzweigeschnitten. »Komm her, Propinette«, sagte die Mama, man zog ab, bevor die Polizei kam, um die Ordnung wieder herzustellen. Man ging ins Café, mit zwei Verbündeten. Das Theater gab außerdem die Möglichkeit, daß sich die Verbündeten gegen seitig erkannten. Man lernte sich kennen. Man sprach miteinander auf der Straße. Die Städte lebten wieder auf (die andern sagten: wurden 271
unruhig). »Ich habe noch zwei Freundinnen im Wald«, flüsterte Alice, so ist es immer, weniger als zwei erbt man nie. Die Verbündeten teilten sich die Lebensmittelkäufe. Alice hatte schon ein Glas Milch und zwei Hörnchen bekommen. Fast niemand kann den Anblick eines hungrigen Kindes ertragen, und damit hatten die Behörden nicht gerechnet. »Valère ! Gib sofort die Hand.« Ein Paar ging mit honigsüßem Lächeln auf das Kind zu. Sébastien, anderswo, etwas weiter nach Westen, ergriff ge lehrig die ausgestreckte Hand. »Und das in meinem Alter«, motzt er, »ich kann wirklich allein gehen, Papa.« Valère, er hätte etwas Moderneres finden können, aber immer noch besser als die Miliz. »Bitte, keine Widerrede. In deinem Alter«, sagte Valères Papa, der andererseits der Papa von Valérie war, die sich auf der Walz befand, »mußte ich mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen«, impro visiert er und lügt wie ein Kind. Die Leute drehen sich um, er wird lauter. »Mit zwölf Jahren sollten sich die Kinder ihren Lebensunterhalt selbst verdienen«, sagt Daniel. »Aber genau das will ich ja«, jammert Sébastien, »nur du willst nicht.« »Nicht ich, sondern das Gesetz.« »Man kann ein zwölfjähriges Kind nicht zur Arbeit schicken (kein Verbündeter).« »Das wäre Ausbeutung (kein Verbündeter).« 272
»Ist es mit dreizehn keine mehr ? Bis achtzehn bekommen sie nicht genug zum Leben, selbst wenn sie arbeiten (wahrscheinlicher Verbündeter).« »Alle werden ausgebeutet, warum nicht auch die Kinder (paradoxe Verbündete).« »Außerdem werden sie sowieso nicht nach ihrer Meinung gefragt, ganz gleich ob man sie zur Arbeit schickt, wie Sie sagen, oder ob man sie daran hin dert (sichere Verbündete).« »Ich will mir meinen Lebensunterhalt verdienen, aber nicht ausgebeutet werden«, sagt Sébastien, der es sich erlauben kann, weil es nicht sein Vater ist. »Du hast natürlich vollkommen recht«, sagt Daniel, weil es nicht sein Sohn ist, er hätte seine Rebellin Valérie bestimmt nicht zu subversiven Worten beglückwünscht. Aber bei den Kindern der andern ist es nicht dasselbe. Warum eigentlich nicht ? Daniel fängt an nachzudenken. Man geht ins Café mit der sicheren Verbündeten und der parado xen Verbündeten, auch das ist zur Angewohnheit geworden, um dem Hungrigen sein Glas Milch zu spendieren und die Verbindung herzustellen. »Ich will nicht ohne meine Freunde essen«, sagt Sébastien und lehnt das Hörnchen ab, »sie sind in einer Ruine Richtung Osten (sie haben alle einen verfluchten Orientierungssinn).« »Trink, dafür hast du ja auch das Risiko auf dich genommen«, sagt Daniel, Aber hätte er das Wort für die gleiche Sache auch Valérie gegenüber 273
gebraucht ? Jaaa-jaaaaaaaajaaaaa. Man ging die andern im Auto holen, mit Schokoladehörnchen und der berühmten Flasche Milch, und es war sehr lustig. Wer könnte dahinter etwas vermuten ? Wer käme schon, es sei denn, er hat sie vorher gekannt, auf diese Kriegslist, die von selbst und durch die Macht der Verhältnisse entstanden ist, wonach viele Leute es nicht dulden, daß man einem Kind auch nur ein Haar krümmt. Entweder dulden sie es nicht oder aber man hat sie schließlich mit dem Gummiknüppel davon überzeugt, daß Kinder etwas Heiliges sind. Und noch weniger duldet man, daß sie mit einer Feuerwaffe bedroht werden. Die Gummikugeln, die mehr oder weniger hingenommen werden, wenn es sich bei den Zielscheiben um Studenten oder Jugendliche (die schon nicht mehr so heilig sind) handelt, diese Kugeln mußten in den Gewehren bleiben, als der Taifun, der in ihre Mausefalle gegangen war, sich in Reichweite befand und über die Felder lief. Aber das tut doch nur weh, jam merten die Mitglieder des Jugendkorps. Die Leute von Serlot ließen die Läufe sinken, drei von der Gattung der Camper, die Gott weiß warum in dieser Jahreszeit herumliefen, waren die eifrigsten (anschließend verlangte man Erklärungen von ihnen und natürlich waren es Pariser Hippies. Sie wurden wegen Verhöhnung der Polizei und wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verhaftet). Unterdessen machten sich die Kinder davon, man 274
mußte zu den gewöhnlichen Mitteln greifen, das Korps setzte zu einem Dauerlauf an, der Taifun zerstreute sich nach seiner bekannten Technik. Man hörte den Knall eines Schusses. Jacques lief noch ein paar Meter, brach aber mitten in der Wiese zusammen. Niedergeschlagen zeigten die Mitglieder ihre unschuldigen Warfen, warfen sie auf den Boden, es ist wirklich nicht lustig, hinter Kindern her sein zu müssen. Jacques starb auf dem Transport ins Krankenhaus mit Blaulicht und wei ßen Mäusen. Jacques starb beim Ton der Sirenen. Mit durchlöcherter Brust. Perrot, der Sonntagsjäger, konnte noch so oft sagen, daß es nur Schrotkugeln waren und daß er auf die Beine gezielt hätte und daß es auf seinem Gelände war. Man mußte ihn vor der aufgebrachten Menge schützen, ihn mit demselben Polizeiauto wegbringen wie die Hippies, die ihn beschimpften. Im Heimatort Jacques’, den Toto dank der Marke des Pullovers (sein erster Erfolg) gefunden hatte, folgten Hunderttausende dem kleinen Sarg. Pauls Papa war da. Überzeugt davon, daß sein Sohn zusammen mit seinem Freund Jacques un terwegs wäre, sah er ihn schon von Kugeln durch löchert und versuchte gar nicht, seine Tränen zu verbergen. Sie flossen wie die der andern, es war der tränenreichste Trauerzug, den man je gesehen hatte, schade, daß Jacques das nicht hatte miter leben können, er wußte nicht, daß er so beliebt war. Man sah sogar einen Bullen weinen (sein 275
Foto wurde ausgiebig in Zeitung und Fernsehen verbreitet) (auch er hatte einen draußen, selbst wenn man Polizist ist, bleibt man doch Vater), als der genehmigte und durch Anordnung vor dem Eingreifen geschützte Trauerzug vorbeikam, es war im Augenblick besser, sich etwas zurückzuhalten, der Totschlag an Jacques setzte die Strohfackel der »faschistischen Schulreform« wieder in Brand, das war die bei Grabreden gebrauchte Formulierung. Der Taifun, in seinem halb eingegrabenen Bunker am Ufer des Flusses versteckt, erfuhr zu seinem Erstaunen durch das kleine Transistorradio (das sie in der guten alten Zeit bei einer Razzia organi siert hatten), daß er am Kampf für eine gerechtere Welt teilnahm. Pauls Papa ließ mehrmals eine Nachricht über die Ätherwellen verlesen, man hatte ihm trotz des riesigen Angebots den Vortritt gegeben, weil der Fall dringend war: »Paul Flamant. Komm nach Hause zurück, alles wird dir verziehen.« (Er hatte schon seinen Anteil an den Bruchschäden in der Schule bezahlt.) Aber Opa hatte kein Radio.
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Der unterirdische Gang mündete im Lande Occitanien. Nachdem er die unsichtbare Grenze passiert hatte, die auf den offiziellen Landkarten, jedoch nie, nie in den Herzen ausgelöscht worden war. Mignon stürzte sich auf einen Baum, um zu pinkeln. Die Ritter beschlossen, an der Grenze zu bleiben und die Fährleute zu spielen. Sie hatten nie so ausge dehnte und so schöne unterirdische Gänge gesehen, es gab sogar einen großen Saal mit Gräbern und Malereien an den Wänden. Lucrèce überließ ihnen ihre Taschenlampe. Die Fahrenden gingen in einer Bevölkerung auf, die schon von Natur aus gastfreundlich war und jetzt erst recht, und die sich noch lieber amüsierte als die da oben im Norden.
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Es ging bergauf. Es gab nur noch Ziegenpfade. Der erste der Seilschaft zog die Karosse, die zweiten ach teten auf die schwierigen Durchgänge. Der Wagen hatte endgültig ein Rad verloren, das eine Schlucht geschluckt hatte. Mit seiner Alibifunktion war es vorbei, denn es gab keine Städte mehr und mit seiner Funktion als Wäschetrockner ebenfalls, weil man sich nicht mehr anzog, seit man endlich sauber war, durch reine Luft und Wasserrinnsale. Aber selbst verkrüppelt leistete er noch seine Dienste. Beim Transport der Kleider, der Traumdecke und der Nahrungsmittelreserven, der welken den Brennesseln, der verschiedenen Grünpflanzen und Geschenke. Außerdem war er nun mal da, sie hingen an ihm, er hatte Fetischcharakter, er diente als Emblem der Gegenwart, der Fülle. Er gehörte ein für alle Mal zu ihnen. Er hatte ein Anrecht auf ihre Fürsorge. Eine leichte Mühe. Und es war so schön, so schön, nur Berge ringsum, in Brustkurven, mit hohen Gräsern bedeckt und das Gras mit Sternen besetzt, roten gelben blauen violetten rosafarbenen weißen, nie gesehene Blumen, die man nicht pflückte, Berge auf denen 278
hübsche Tiere weideten, die sie Gemsen nannten und sie sahen eins, das sie Bär nannten und vor dem Mignon Angst hatte. Es scheint, daß man von dort oben, wenn die Luft völlig rein war, das Meer sehen konnte. Sie wußten es von Lucrèce, die es von einem ihrer Zufallsbekannten gehört hatte. Mignon setzte den Abhang hinunter und weinte ihnen zu, daß er etwas gesehen habe, das man nicht beißen darf. Die Ursache seines Kummers schritt mit ausgebreiteten Armen über die Wiese, als ginge sie auf einem Seil. Braungebrannt. Mignon hatte zwar nicht gelernt, zwischen einem Kind und einem Erwachsenen zu unterscheiden – weil es faktisch und grundsätzlich keinen Unterschied gibt ? – wohl aber zwischen nackt und angezogen. Beim Aufstieg sahen sie Nackte, Verkleidete, auf dem ganzen Körper Bemalte, wie mit Puder be streut, ockerfarbig rot gelb blau violett orange. Diese Leute, unterschiedlich groß, lebten in Häusern aus Lehm und Stroh. Sie fanden eine Küche, wo sich die Leute zu essen machten. Man erntete die Nahrung im Gemüsegarten, den eine kleine Gruppe gerade umgrub, um ihn zu vergrößern, denn alle Welt war DORT verrückt geworden und kam hier an. Sie machten sich einen Mordssalat und einen großen Apfelkuchen. Sie schnitzten sich dann aus Weiden drei Flöten, wie es die Einwohner taten und machten sich aus Ton eine kleine Trommel, die sie mit der Haut des Schafes Bababa bespannten, das reich an Jahren und Wolle gerade unter den 279
Boden gebracht worden war. Sie veranstalteten ein Konzert, sie waren nicht die einzigen, viele veranstalteten zur gleichen Zeit Konzerte. Sie lernten ein Lehmhaus bauen, das in den Abhang gegra ben wurde und nach Süden ausgerichtet war. Die Ankömmlinge machten sich ihre Decke, ihr Lager, ihren Farbstoff und ihren Berg, wenn es keinen mehr gab. Lucrèce tauchte wieder auf. Sie sagte, daß sie ihren letzten schon einmal gehabt hätte. Er stand blondgelockt an der Kreuzung zweier Wege, wie ein Wegweiser, Brote unterm Arm und rauchte eine Tabakzigarette. »Das ist der Engel«, sagte Régina. »Er war nie weit weg. Er träumt mich. Heute nacht war ich ein Reh mit einem Stern als Kopf, er gab mir aus der Hand zu essen, Kirschen. Schade, daß er mir einen Sternenkopf gemacht hat, ich habe sie nicht essen können.« »Er hat mir Brot gegeben«, sagte Lucrèce. »Mit Marmelade«, sagte Grâce. »Das ist mir sowieso wurscht, ich habe nie Hunger«, sagte Lucrèce. Ein andermal hat er mich in einen Schmetterling verwandelt, Greise verfolgten mich mit Netzen, er lief hinter den Greisen her mit einem großen Kescher. Morgens war ich sehr müde.« »Er hat Fortschritte gemacht. Diesmal war er ruhig geblieben. Den Kopf auf den Ellbogen ge stützt, hat er mir in die Augen geschaut und meine 280
Gedanken zu lesen versucht, aber ich hatte keine, er war wieder reingefallen.« Mann lief wie ein Amokläufer, aber sie war nicht mehr in Sicht, er konnte sie nicht einholen. Er hatte wieder einmal vergessen sie zu fragen, ob sie Régina begegnet war. Er konnte nicht einmal mit allen Echos der Berge nach ihr rufen, denn er kannte ihren Namen nicht. Er verirrte sich in den Bergen, die sich alle glichen, er fand den Süden nicht mehr und wurde vom Gewitter überrascht. Das Gewitter war von übermenschlicher Schön heit. Sie betrachteten es von ihrem Haus aus, dem nur noch die Fassadenmauer fehlte, daher sah man ganz deutlich alle Lichtflüsse, die als reißen de Sturzbäche herabströmen, wenn Himmel und Erde Liebe machen. Die Luft war völlig reingewaschen. Sie setz ten sich oben auf den Berg und betrachteten das Meer.
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Wo sind sie ?
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Doch. Plötzlich griffen sie zwei auf. Verliebte, die ein Gendarm zufällig erwischte, als er sich mal seitlich ins Schilf schlagen mußte. Ja wie, geniert man sich nicht mehr ? Ihre Räder hatten sie neben sich gestellt. Erst danach merkte er, daß es Kinder waren, Ausreißer. Agnès und Thierry. Kurz bevor sie am Meer ankamen. Louise saß ein paar Kilometer weiter im Bauern haus Mimose, in einem kühlen, düsteren Raum und trank Ziegenmilch. Sie war weggegangen, um sie allein zu lassen. Sie entfernte sich oft, war sie etwa ihr Hüter ? Die Rolle des Schutzengels der Liebe, im Glück emp fangen an diesem wunderbaren Abend am Ufer des milchfarbenen Mondsees, diese edle Rolle hatte sich beschränkt auf, es gibt einen häßlichen Ausdruck dafür, aber Louise wollte nicht einmal daran denken. Die Augen schließen, den Kopf abwenden, sich die Ohren verstopfen. Blumen pflücken gehen ? Etwas weiter entfernt träumen ? An einem Ufer sitzen und das Wasser dahinfließen sehen. Wachen, überwachen, aufpassen, während sie in der wunderbaren Zerstreutheit der Liebe 283
alles andere vergessen. Eingeschlossen in ihre Zauberwelt, sich mit Andeutungen verstehend, aber Louise ? Sie lachten über ein Nichts, das Lou ise nicht lustig fand. Sie dachte, daß sie eifersüchtig sei – aber hätte sie an Agnès’ Stelle sein mögen ? Das machte Agnès schlaff. Sie dachte, daß sie das dumm finde, die Liebe. Ist die Liebe doch was Dummes, sagte sie laut. Wenn man nicht drin ist ? Aber hätte sie überhaupt drin sein mögen ? Seit der Jagd war ihr Fieber noch gestiegen. Sie lebten jeden Tag ihren letzten Tag. Wenn Louise, halb eingeschlafen, hörte, plötzlich erregt, sich selber suchte, fand sie sich nicht, verirrte sich unter wegs. Sie schämte sich, daß sie allein war, schämte sich, daß sie sich hatte erregen lassen, schämte sich, daß sie ihre Brosamen auflas. Die herunter gefallenen. Entsetzlich. Sie lehnte sich dagegen auf, schließlich litt sie unter Schlaflosigkeit. Sie ! Louise, das Murmeltier ! Und die beiden andern unschuldig, ihrer so sicher, ihrer Freundschaft, und daß sie, Louise, glücklich sei über ihr Glück und es teile, indem sie es beschützte. Sie konnte ihnen unmöglich sagen, was sie empfand. Ich bin nicht glücklich. Ihnen ihr Glück vermasseln. Warum habt ihr mich nicht mitgenommen, schrie sie eines nachts. Innerlich. So was kann man nicht sagen. Es war nur ein blitzartiger Gedanke, den sie sogleich begraben hatte. Was wollte sie also ? 284
Dabei liebte sie sie. Jeden. Sie würden heute abend alle drei im Bauernhaus aufgenommen werden. Die Leute, die in den Wein bergen arbeiteten, hatten mit Louise gesprochen und schnell erraten, was los war, und als gute Mutter kann man diese Kinder doch nicht ein fach sich selbst überlassen, ihr könnt heute nacht im Haus übernachten, ihr seid nicht die ersten. Sie ging zurück, um ihnen die gute Nachricht zu bringen, ins Schilf, wo sie sie zurückgelassen hatte. Niemand. Keine Räder. Sie streifte durch die Umgebung. Ängstlich. Nein, sie waren nicht allein ans Meer gefahren. Dazu brauchten sie sie zu sehr ! Tief betrübt kam sie ins Bauernhaus zurück und erfuhr dort, daß man am Nachmittag zwei geschnappt hatte, die, wie es scheint, im Schilf miteinander geschäkert hatten. Louise wurde rot, weil man sie gesehen hatte. Sie hatten also ihren letzten Tag erlebt. Am Abend sahen sie sie in der Regionalschau, sie waren schön und wild und weigerten sich, auch nur ein Wort zu sagen. Wie herrlich die Kinder doch sein können, alle diese Kinder ! Das Leben in der frischen Luft, vor allem aber die Freiheit bekommt ihnen gut, sag ten die Leute aus dem Bauernhaus Mimose. Die Ortsbehörde platzte vor Stolz. Sauerei, sagte der älteste Sohn, darauf können wir wirklich stolz sein im Dorf, daß wir unsere Gäste haben festnehmen lassen ! 285
Früh am Morgen nahm Louise ihr Fahrrad und brach auf. Allein. Sie fühlte sich weniger einsam als zusammen mit ihnen. Sie würde diejenige sein, die auf dieser Strecke ans Meer gekommen ist.
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»Warum willst du nicht mit mir bumsen« ? sagte Lucrèce. »Wo du doch kein Mädchen bist.« »Ich bin ein Mädchen«, sagte David trotzig. »Aber«, sagte Lucrèce und berührte mit einem steifen Finger das, was ihrer Meinung nach dieser Erklärung widersprach. »Das hat nichts zu sagen«, sagte David. »Das ist nur äußerlich.« »Du bist zu logisch«, sagte Régina. »Ich ?« sagte Lucrèce schockiert. »Ich bin schon zweimal in der Irrenanstalt gewesen, obgleich sie das anders nannten.« Lucrèce folgt ihnen, auf Abstand oder auch nicht auf Abstand. Sie kommt nicht von David los. Nur ab und zu verschwindet sie, wenn sie was gefunden hat, das sie sich einverleiben kann und sie erzählt es ihnen. »Aber sag mal, warum tust du es eigentlich ?« sagte David. »Weil ich Lust habe«, sagte Lucrèce. »Für mich ist das, als ob ich essen würde.« »Ich möchte wirklich lieber ein Mädchen sein«, sagte David. 287
»Aber du bist nun mal keins«, sagte Grâce. »Ich ?« sagte David empört. »Du gehst hoch wie eine Boeing 707. Das ist der einzige Augenblick, wo es dir an Raffinement fehlt, Verzeihung, und genau hier lohnt es.« »Du«, setzte David an, die Fortsetzung war: willst mich vielleicht lehren, aber er hielt den Mund. Er wußte. In dieser Hinsicht fehlte es ihm ein wenig an Eleganz. Grâces Bemerkung war eine Überlegung wert. Er überlegte, und sie begannen beide zu la chen, gegen den Humor ist kein Kraut gewachsen. »Na ja«, sagte David. »Das ist eben so.« »Ist das schön ! die Berge die Wiesen die Blumen das Licht die Luft der Himmel das Meer und alles«, brach es plötzlich aus Lucrèce heraus. Es war das erste Mal, daß die Schönheit der Welt in ihr Herz drang und ihr Herz barst, so wie eine Spalte die Erde birst, ihr Mund öffnete sich, die ganze Luft des Himmels drang in ihre Lungen, glättete sie wieder, Schmerz, Schmerz, Schmerz … Sie wird geboren, sagte Régina. Lucrèce stieß einen stoßartigen Schrei aus, der allmählich anstieg, sich ausbreitete, ihr flacher, harter Bauch geriet in Bewegung. Sie wird geboren, gleich wird sie geboren, sie schrie, ihr Bauch tanzte in der Sonne, sie lachte, sie fiel auf die Knie. Sie weinte, sie lachte. Sie ist geboren. 288
Die Hirten nahmen sie in die Arme, David hielt ihre Hände. Du bist die Gebärerin und das Kind.
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Agnès und Thierry machten in den Zeitungen Schlagzeilen: endlich Kinder ! Zwei. Und lebendig. Die Polizei war etwas glücklicher, sie lächelte auf den Fotos. Als ruhmreicher Ausfluß des nationa len Geistes (seine ausländischen Lizenzen wurden vorübergehend verschwiegen) wurde Toto, weil man ihn nicht im Triumph herumtragen konnte, hoch gelobt: er hatte dank der Fahrradnummern den Heimatort der Gefangenen herausgefunden – die Gefangenen selbst waren stumm geblieben. Sie wurden auf dem Luftwege nach Hause gebracht. Ihre erste Flugreise. »Und Louise ?« fragte der Papa, der die feste Freundschaft der drei kannte. »Louise ? Ist sie weg ?« Louise erfuhr ihre Treue durch eine Zeitung, die am Strand von Palavas liegengeblieben war. Sie hatte einen Sonnenstich und eine neue Freundin namens Leone, die ihr jeden Tag zu essen brach te. Leone konnte nicht ans Meer fliehen, weil sie schon dort war. Aber sie schwänzte die Schule wie alle Welt und dachte daran, sich nach den Inseln Unter-dem-Winde abzusetzen. Sie begannen mit dem Bau eines Floßes, bald zusammen mit 290
Neuankömmlingen. Mit Hilfe örtlicher Kräfte, die sich mit den Ausreißern verbunden hatten, er forschten sie die transozeanischen Strömungen. Agnès und Thierry erklärten, daß sie sich liebten und nicht getrennt werden wollten. Ach so. Ein Liebesroman. Romeo und Julia, Daphnis und Chloé, Kinderliebe, das grüne Paradies, dafür gab es Beispiele. Dem konnte man einen Titel geben. Als Untertitel, daß sie außergewöhnlich frühreif seien: vielleicht war die Zeit gekommen, die vorzeitige Sexualität, die offiziös schon geduldet wurde, zu verkraften. Der große Vogel Strauß schickte sich an, diesen Pflasterstein zu schlucken, wie soviele andere schon. Aber wo sind die Grenzen der Sexualität, der Liebe, wenn man will, und wer kann sie festsetzen ? Sie weigerten sich auch, in die Schule zurückzu kehren. Wirklich, sie konnten nicht mehr ! Es gab soviele Dinge, die sie nicht mehr tun konnten. Sie waren lebendig und das nur allzu sehr. Leider mußte man feststellen, daß ihnen das Leben sehr gut bekam, sie waren übermensch lich schön geworden und stolz, sie sprachen mit den Leuten wie mit ihresgleichen und keineswegs zerknirscht. Die ersten Ermahnungen beim Empfang führten bei ihnen nicht zur Reue: sie widersprachen. Sie sagten: ihr könnt doch nicht behaupten, daß ihr 291
uns liebt und uns gleichzeitig verbieten, glücklich zu sein, ihr müßt wählen. Und das letzte Argument: haltet den Mund, solange ihr an unserem Tisch sitzt und unser Brot eßt, war unbrauchbar geworden, weil man sie ja dazu zwang. Ihr liebt uns nicht ! Dann sorgt dafür, daß man euch liebt, sagten sie. Es wurde in Erwägung gezogen, den Familien eine Ultra-Sonderlizenz auszustellen, aber sie wollten nicht heiraten, sie sagten, daß sie dazu noch zu jung seien. Sie wollten gern arbeiten, sie konnten zum Beispiel Fahrradboten, sogar Radrennfahrer werden. Der Versuch, sie wie die andern in die Schule geleiten zu lassen, blieb ein einmaliges und bedau erliches Experiment, wegen dem Durcheinander, das dabei entstanden war: sie hatten Anstand und Gehorsam verloren und ihre Mitschüler erfuhren in fünf Sekunden, daß man nicht geleitet wird, wenn man es nicht will, da man zahlenmäßig in der Mehrheit ist. Dabei machten die Behörden die Erfahrung, daß ein Wächter für zwanzig oder auch für zehn das reine Nichts ist, es sei denn, er ist bewaffnet und bereit zu schießen. War man das ? Auf Kinder. Die heilig waren. Und immer jeman dem heilig waren, wer weiß, ob nicht gar ihnen selbst. Wer sollte überhaupt schießen ? Entweder Weigerung oder Furcht, sich in Stücke hauen zu lassen. Denn die Bevölkerung war in dieser Hinsicht äußerst empfindlich, sie befand sich in einem Zustand unglaublicher Spannung und war zum 292
Teil ganz eindeutig in die Kindheit zurückgefallen, wollte nichts anderes als spielen. Ein Dilemma. Unterdessen lösten sich die Eskorten auf, die Wächter geleiteten sich selber, manchmal von ei nigen Freiwilligen unterstützt. Sie strichen an den Wänden entlang. Die Unterstützungskomitees für Agnès und Thierry schossen an den Realschulen und selbst an den Grundschulen wie Pilze aus dem Boden, wo sind die Grenzen der Sexualität ? Während man darüber nachdachte, bumsten die beiden Aufgegriffenen. Draußen, denn die Tür des einen war dem andern versperrt, während Agnes’ Mama sich die schmerzliche Frage nach der Pille stellte. So gaben sie ein schlimmes Beispiel ab. Man sprach von Kindersabbathen, das war jedenfalls das Wort, das man fand. Was sollte man mit den beiden tun ? Überall, wo sie vorbeikamen, wuchs das Gras des Respekts nicht mehr, sie waren die Attilas der Behörden und, trunken von ihrer Macht, konnten sie nicht mehr einhalten und wo auch ? und warum ? Zudem waren sie ansteckend. Die Epidemie verbreitete sich über die Grenzen des Kreises, des Departements hinaus und dauerte fort. Die Familien, einerseits beruhigt, andererseits zu einer unvorhergesehenen Berühmtheit gelangt und irgendwo geschmeichelt, daß sie die ersten waren, beratschlagten. Angesichts ihrer wilden Energie und ihres festen Versprechens, alles kurz und klein zu schlagen und wegen Freiheitsberaubung 293
Strafantrag zu stellen, kam Einsperren nicht in Frage (Rechtsanwälte hatten sich ihnen zur Ver fügung gestellt und spuckten Feuer und Flamme im Kampf gegen das Minderjährigenstatut, das sie in Frage stellten). Die Internate, bei denen man vorgefühlt hatte, lehnten dankend ab. Tief beküm mert wollte man sich gerade dazu durchringen, sie in ein Heim zur Umerziehung von Abweichlern zu stecken, als ein offiziöser Abgesandter kam: Seien Sie nicht zu streng. Verzeihen Sie. Zumindest dem Anschein nach. Wegen der andern, verstehen Sie ? Um sie nicht abzuschrecken. SIE VERZEIHEN SIE LIEBEN SIE NUR NOCH MEHR
Das waren die Schlagzeilen sowohl in der Tagespresse als auch in der populären Sonntagspresse, über die die noch draußen befindlichen Fahrenden und ihre Komplizen nachzudenken hatten. In der Wut warf Mann die Zeitung in den Wind und der Wind trug sie davon, weit fort, wo Mignon, der einem Schmetterling nachjagte, sie fing und in Stücke riß. Man hatte nur zwei aufgegriffen ! Was wäre, wenn, wenn … Der Gedanke, unausgesprochen, rief in der Welt eine große, nachdenkliche Stille hervor.
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Ein Geschöpf von undefinierbarem Geschlecht schritt ganz allein einer Polizeidienststelle entgegen. Seine Jeans waren zerrissen, sein Pullover vol ler Löcher, seine Haare, in denen Blumen steckten, hingen bis auf die Hüften herab und seine Füße waren nackt. Es war übermenschlich schön und stolz und sein Gesicht hatte den Ausdruck einer sehr heiteren Herausforderung. Ein respektvolles Schweigen entstand, als es vorüberging. Manche verneigten sich. Ein Kind. Der Dienststellenleiter, den man herbeigerufen hatte, stellte sich mit einem großen Marmeladen brot auf die Türschwelle. Drinnen rief der Sekretär eilig die Zentralbehörden an, um zu fragen, was zu tun sei, ob man es nehmen oder der Natur zu rückgeben solle.
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»Zum Glück gehts dem Sommer entgegen« ist eine Warnung an die Erwachsenen, an Eltern, Lehrer und Erzieher, ihre Kinder ernst zu nehmen und es niemals bei erzieherischer Routine bewenden zu lassen. Franz Rappmannsberger
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