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E. C. Tubb Labyrinth der Illusionen Terra Astra Heft 288 Titel des Originals: Jack of Swords Copyright © 1976 by E. C. Tubb Aus dem Englischen von H. P. Lehnert
Deutscher Erstdruck Printed in Germany Februar 1977 Scan, K-Lesen & Layout by
Waldschrat Terra Astra erscheint wöchentlich im Moewig-Verlag Redaktion: Pabel Verlag KG, 8 München 2, Augustenstraße 10 Druck und Vertrieb: Erich Pabel KG, 7550 Rastatt Anzeigenleitung: Verlagsgruppe Pabel-Moewig-Semrau
Die Hauptpersonen des Romans: Earl Dumarest — Der kosmische Vagabund flieht vor dem Gesetz des Todes Sufan Noyoka — Ein Mann, der sich für außergewöhnliche Dinge interessiert Usan Labria — Eine Sterbende Khai — Ein Kyber Embira alias Culpea — Ein blindes Mädchen mit besonderen Fähigkeiten Pacula Harada — Eine Mutter sucht Ihr Kind
1. Bei Sonnenuntergang war der Himmel von Teralde mit dahingleitenden Schwaden glitzernder Farben überzogen ‒ kurzlebige Staubfahnen, die das Sonnenlicht brachen und die gesamte Himmelskuppel so aussehen ließen, als habe ein kosmischer Künstler seine Farbpalette in überschwenglicher Genialität ausgeschüttet. Ein faszinierendes Ereignis, aber schon lange nicht mehr für Dumarest. Er ging durch die vom Abendlicht vergoldeten Straßen, an Häusern aus schwerem Stein vorbei, vorbei an fest verschlossenen kleinen Fenstern und Türen. Selbst die Geschäfte wirkten wie kleine Festungen. Das Landefeld war wie üblich leer; nirgends stand ein Raumfahrzeug in
dem toten Staub. Das Tor war unbewacht ‒ ein sicheres Zeichen dafür, daß kein Schiff erwartet wurde. »Nichts.« Der Agent, ein Hausi, lehnte sich in seinen Sessel zurück. Sein gelbliches Gesicht, in das die Narben seiner Gilde eingebrannt waren, wirkte ausdruckslos. »Natürlich kommen irgendwann mal Schiffe, aber Teralde ist keine Handelswelt. Erst wenn die Bestien verarbeitet sind und sonstige Ladungen sich gesammelt haben, erscheinen die Händler. Bis dahin können wir nur auf ein paar Touristen hoffen.« Dumarest konnte nicht warten ‒ wenn nicht bald ein Schiff kam, saß er fest. »Ich brauche Arbeit«, sagte er. »Arbeit?« Der Hausi zuckte die Schultern. »Mein Freund, auf Teralde reicht der Wunsch dazu allein nicht aus. Man muß schon spezielle Fähigkeiten besitzen. Ihr Beruf?« »Ich verstehe mich auf fast jede Arbeit.« »Natürlich … habe ich Zweifel gezeigt.« Yethan Ctonat suchte sich ein Stück Konfekt aus einer verzierten Schachtel und zerbiß die kandierte Süßigkeit. »Ich vertrete meine Gilde. Jemanden zu empfehlen, der nachher die Aufgaben nicht erfüllen kann, fällt auf meinen Ruf zurück. Und der Bedarf ist nur gering. Sind Sie Meister in genetischer Manipulation? Ein Arzt? Tierarzt? Ich will Ihnen offen sagen, daß wir keinen Bedarf an Spielern haben.«
»Sehe ich wie ein Spieler aus?« »Jemand, der reist, ist das immer«, sagte der Agent. »Von Welt zu Welt zu ziehen, nicht sicher sein zu können, was man vorfindet ‒ was kann ein solcher Mensch anderes sein? Besonders, wenn er im Unterdeck reist. Die fünfzehnprozentige Todesrate riskiert nur ein Spieler. Und Sie sind im Unterdeck gereist, nicht wahr?« »Zu oft schon.« »Ich werde Sie nicht betrügen«, sagte Yethan Ctonat. »Wie Sie bestimmt schon entdeckt haben, besteht keine Chance, normale Arbeit auf dieser Welt zu finden. Für einen Mann wie Sie gibt es auf Teralde nur eine Möglichkeit, zu überleben.« »Zu kämpfen?« »Sie haben es erraten. Blut ist universell attraktiv. Wenn Sie Interesse haben ... Mehr kann ich nicht anbieten.« Und mehr hatte Dumarest nicht erwartet, aber der Versuch mußte gemacht werden. Die Farben am Himmel wurden blasser, während er durch die Stadt hinaus in die Slums ging. Diese Siedlungen der Armen waren überall dieselben, und er hatte in seinem Leben schon zu viele davon kennengelernt. »Earl!« Ein Mann kam auf Dumarest zugerannt, während er in eines der Gebäude trat. »Earl, hast du dich entschlossen?« Cran Elem war klein, dürr, mit eingefallenen Wangen und hervorstehenden Knochen. Unter seinen Lumpen
wirkte sein Körper zerbrechlich wie der eines Kindes. Dumarest antwortete nicht, ging eine Treppe zu dem flachen Dach des Gebäudes hinauf und starrte in den Himmel. Bald würde die Nacht hereinbrechen, die sich schon durch einige frühe Sterne ankündigte. Schließlich sagte er zu Cran: »Hol die Leute zusammen und warne sie. Wir brechen in einer Stunde auf.« * Um Mitternacht brach der Sturm plötzlich mit zuckenden Blitzen, rollendem Donner und peitschendem Regen los. Auf dem Boden unter den verkümmerten Pflanzen hockend, spürte Dumarest, wie das Wasser auf seinen Kopf prasselte, ihm in Mund und Nase lief, so daß er sich bücken mußte, um atmen zu können. Ringsherum verwandelte sich der sandige Boden in einen urzeitlichen Schlamm. »Earl!« Aus der Dunkelheit heraus kam Cran auf ihn zu. Seine Stimme klang verzweifelt. »Earl, es ist sinnlos!« »Warte!« »Es hat keinen Zweck. Wir haben's versucht, aber das ist hoffnungslos. Am besten gehen wir zurück in die Stadt.« Ein Blitz erhellte die Szene, und es donnerte, als Dumarest nach dem Mann griff und ihn am Arm festhielt. »Warte«, sagte er wieder.
»Der Sturm könnte uns helfen.« »Helfen?« Cran schluchzte fast vor Enttäuschung. »Während wir bis zu den Knöcheln im Schlamm versinken und der Regen die Augen verschließt? Durch den Sturm werden die Bestien schon aufgeregt und wütend genug sein. Ich dachte ja auch, daß wir eine Chance haben, aber das Glück ist gegen uns. Zum Teufel damit!« Er schrie auf, als Dumarest ihn auf die Wange schlug. »Reiß dich zusammen.« Dumarest ließ den Arm los. »Hol die anderen!« Sie kamen wie Gespenster heran, nur hin und wieder für Sekundenbruchteile im Licht der Blitze zu erkennen. Wie auch Cran, so trugen sie alle Lumpen, kaputte Schuhe oder hatten sich die Füße einfach mit Stoffresten umwickelt. Das Haar klebte ihnen vom Regen am Kopf und verlieh ihnen das Aussehen von Totenschädeln. Verhungernde Menschen, falls sie nicht bald Nahrung bekommen würden. »Cran, wie weit ist es noch bis zur Einzäunung?« »Eine Meile, vielleicht weniger, aber ...« »Dieser Sturm wird uns helfen. Die Wachen bleiben in ihren Unterkünften, und der Blitz wird schuld daran sein, wenn das elektrische Sicherungssystem gestört wird. Die Tiere werden sich zusammendrängen und leicht zu erwischen sein. Noch vor morgen früh werdet ihr alle die Bäuche voller Fleisch haben.« »Oder tot sein«, sagte ein Mann gleichmütig.
»Heute, morgen, was macht das für einen Unterschied?« fragte ein anderer. »Ich bin bereit, die Chance wahrzunehmen, wenn Earl uns anführt.« »Ich werde euch anführen«, sagte Dumarest. »Und keiner steigt wieder aus. Wenn jemand versucht, sich aus dem Staub zu machen, schlage ich ihn nieder, verstanden?« Er wartete, bis der Donner verrollt war. »Wir haben keine andere Chance, und der Sturm hilft uns. Haltet euch dicht am Boden, sofort stillstehen, wenn ein Licht in eure Richtung zeigt. Arbeiten wir als Gruppe zusammen, dann kann nichts schiefgehen. Fertig?« Cran ging voran, Dumarest folgte ihm, während sie ihre kümmerliche Deckung verließen. Eigentlich war es zu früh, um loszuziehen, aber Dumarest mußte die Begeisterung der Leute ausnutzen, außerdem mußten sie lange vor der Morgendämmerung wieder verschwunden sein. Eine grelle Lichtspur am Himmel, dann kam die Einzäunung in Sichtweite. Der Regen prasselte gegen den Zaun und die Lampen darauf, wurde zerstäubt und ließ das Ganze zu einer Art Traumbild verschwimmen. Dieses Bild wurde sofort von dem plötzlichen Brüllen einer Bestie zerrissen, die sich gegen den Zaun warf. Von einem Wachturm her richtete sich ein Lichtkegel auf die in der Dunkelheit unförmig wirkenden Tiere, strich am Zaun entlang und erlosch, als der Wächter nichts weiter ausmachen konnte. Ohne zu zögern, lief Dumarest bis an den Zaun heran. Auf seine Anweisungen hin verteilten sich die Männer am Zaun entlang, um ihre Stellungen einzunehmen. In
Abständen würden sie den Zaun zerstören, um Verwirrung hervorzurufen. »Cran!« Aus seiner Kleidung zog der Mann einen Drahtschneider hervor und sah zu Dumarest. »Jetzt?« »Warte auf den nächsten Blitz.« Er kam funkensprühend ganz in ihrer Nähe herunter. Während der Donner über sie hereinbrach, teilte sich der Zaun an einer Stelle, und Dumarest warf sich hindurch. Jetzt kam es auf Geschwindigkeit an ‒ das Suchlicht der Wachen zeigte auf eine Stelle in der Nachbarschaft, wo einer von Dumarests Leuten den Zaun beschädigt hatte. Dumarest rannte geduckt auf das ihm nächststehende Tier zu. Es war etwa so groß wie ein Pferd, trug Hörner, hatte rasiermesserscharfe Hufe, und der Schwanz endete als eine Keule aus Knochen. Dumarest hatte ein Chelach vor sich, das jetzt sein Maul öffnete und Reihen scharfer Zähne entblößte. Die Bestie war durch den Sturm verstört, sah nur einen kurzen Augenblick zu Dumarest und griff dann an. Fast aus dem Stand heraus wurde diese Maschine aus Muskeln und Knochen schneller, als ein Mensch jemals laufen konnte. Trotzdem: Dumarest schaffte es. Er wich zur Seite aus, hielt sein Messer in die Luft, zerschnitt dem Tier damit im Lauf die Halsschlagader. Blut spritzte hervor, während das Tier fast abrupt vor dem Zaun stehenblieb. Er-
neut stieß Dumarest zu und traf diesmal genau ins Herz. »Earl!« Cran starrte ungläubig herüber. »Wie ... ich habe noch nie einen Menschen sich so schnell bewegen sehen.« »Das Seil, schnell!« Wie eine Schlange flog es auf Dumarest zu. Er rannte damit auf das tote Tier zu, band ihm eine Schlinge um den Hals und zog es mit den anderen Männern zusammen auf den Zaun zu. Die Öffnung war zu klein, der Kadaver verklemmte sich. Verzweifelt zerrten sie an dem Strick, stemmten ihre Füße in den weichen Boden. Mit einem Ruck brach schließlich das Tier durch den Zaun. »Weiterziehen!« sagte Dumarest. »Schneller!« Ein Suchscheinwerfer kam auf sie zu, fand die zerstörte Stelle im Zaun, wollte gerade die Umgebung ableuchten, als einer der Männer am Zaun die Gefahr bemerkte und den Scheinwerfer beschädigte. Das Licht ging aus. Noch hielt das Glück zu ihnen ‒ aber die Zeit wurde knapp. Dann erreichten sie einen kleinen Abhang, das Tier rutschte hinunter und blieb in einem kleinen Wassertümpel liegen. »Hol die anderen, Cran. Sei vorsichtig.« Der Mann verschwand lautlos, und Dumarest machte sich an die Arbeit. Mit dem Messer zerlegte er das Tier fachgerecht, während die hinzukommenden Männer zusahen und hier und da schon gierig einen Fetzen Fleisch griffen und verschlangen. »Hier!«
Dumarest verteilte blutige Fleischstücke. »Nehmt nicht mehr, als ihr tragen könnt. Wir verschwinden, sobald jeder beladen ist.« »Vergiß nicht die Leber«, sagte einer der Männer. »Wir teilen sie unterwegs auf und essen sie. Cran?« Lautlos glitt der Mann heran. »Beeilung«, keuchte er. »Die Wächter sind mißtrauisch geworden und haben vielleicht den zerstörten Zaun entdeckt. Sie werden kommen und nachsehen.« Männer mit Lampen und Waffen, die nicht zögern würden zu schießen. »Halte Wache«, befahl Dumarest. »Sag mir, wenn sie in unsere Richtung kommen. Alle anderen verschwinden inzwischen. Bewegt euch, verdammt, los!« Minuten später folgte er ihnen, wischte sein Messer kurz ab, steckte es in den Stiefel zurück, bevor er seine Last aufnahm. Sie verschwanden alle in der Dunkelheit, geschützt durch den Sturm und unsichtbar für die Wachen, die schließlich auftauchten, den beschädigten Zaun entdeckten. Der Regen hatte inzwischen alle Blutspuren und Fußabdrücke weggeschwemmt. Erst gegen Morgen zählte man die Tiere und fand die Knochen, den Kopf, die Hufe und den Schwanz des geschlachteten Tieres.
2. Pacula hatte den Tisch gedeckt und ihn mit teurem Geschirr und herrlichen Blumen in Kristallvasen dekoriert ‒
er selbst konnte ohne all das leben, wußte aber, daß die anderen Besitzer, die seine Gäste waren, sich davon beeindrucken ließen. Kel Accaus war ganz offen neidisch und machte der Frau in seiner unbeholfenen Art und Weise den Hof. »Pacula, meine Liebe, dein Bruder sollte stolz auf dich sein. Hätte ich so jemand wie dich, um mir zu dienen, würde ich nicht so viel Zeit auf dem Feld zubringen wie jetzt. Auf deine Gesundheit, Tien.« Ein Trinkspruch, den Tien Harada nur mit einem leichten Nicken des Kopfes quittierte. Er mochte Accaus nicht besonders gern, hatte ihn aber einladen müssen. Nur ein Narr machte sich den Mann zum Feinde, dessen Land an das eigene grenzte, und doch war die Art und Weise, wie er Pacula musterte, unter anderen Umständen ein Grund für Streit. »Du bist nett, Kel«, sagte die Frau. »Aber du solltest deine Komplimente lieber Jüngeren machen als mir, nicht wahr?« »Was hat die Jugend mit Schönheit zu tun?« fragte er zurück. »Du bist für mich alles, was eine Frau ausmacht. Wäre ich Dichter, würde ich dir zu Ehren ein Gedicht schreiben ‒ so kann ich leider nur eine einfache Wahrheit einfach aussprechen. Deine Schönheit beschämt sogar den Sonnenuntergang. Stimmt das nicht, Chan?« »Wie könnte ich widersprechen!« Chan Catiua verbeugte sich leicht. »Tien, ein höchst angenehmes Essen.« Die übrigen Besucher stimmten zu, womit das Thema gewechselt wurde. Kurz darauf räumten Diener den
Tisch ab und brachten Karaffen mit Wein und mit Früchten gefüllte Schalen herein. Tien musterte seine Gäste, die bis auf eine Ausnahme alle Besitzer waren. Tien hatte einer Laune Paculas nachgegeben und diesen Mann eingeladen. Wenn er ihr helfen konnte, warum sollte er etwas dagegen haben? Der Mönch jedenfalls, der sein Essen kaum anrührte, bildete in seiner primitiven, groben Kutte und seinem hageren Körper einen starken Kontrast zu den übrigen Gästen. Vielleicht würde er durch etwas Wein ein wenig warm werden; Tien bedeutete einem Diener, ihm einzuschenken. »Danke, nein.« Bruder Vray legte eine Hand auf das Gefäß. »Sie lehnen meine Gastfreundschaft ab, Bruder?« »Das niemals, ich habe sie hinreichend genossen. Und es wartet noch Arbeit auf mich.« »Das Bejammern der Armen«, schnaufte Accaus. »Einen Klaps auf den Kopf der Unglücklichen und eine Handvoll Essen für ihren Körper. Kein Mensch sollte essen, wenn er nicht für das arbeitet, was er sich in den Mund steckt.« »Und wenn keine Arbeit angeboten wird, Bruder?« Die Stimme des Mönchs war freundlich und sanft. »Sie wären mitfühlender, wenn Sie das bedenken würden, denn durch Gottes Güte gehören Sie nicht zu jenen. Wohltätigkeit, Bruder, ist eine Gabe.« »Die viele gelernt, aber nur wenig je ausgeübt haben«, sagte Catiua trocken. »Und Ihre Güte hat doch einen Haken, Mönch, nicht wahr? Bevor man das Brot des Verge-
bens bekommt, kniet der Bittende unter dem Licht der Erlösung, wobei ihm der Befehl, niemals zu töten, eingeimpft wird. Habe ich recht?« »Sie haben ein Recht auf Ihre eigene Meinung, Mylord.« »Habe ich recht?« »Und wenn schon, was schadet das?« Pacula kam Vray zu Hilfe, wofür der Mönch dankbar war. Chan Catiua hatte vielleicht nur eine Vermutung, aber er war auf die Wahrheit gestoßen. »Kann es denn falsch sein, einen Menschen davon abzuhalten, einem anderen das Leben zu nehmen?« »Nein«, erklärte Kel, um dann mit hinterlistiger Bösartigkeit hinzuzufügen: »Ein Jammer, daß das bei Tieren nicht funktioniert, was, Tien?« Alle wußten, daß er damit Tiens wunden Punkt ansprach. Catiua deutete mit einem Messer auf ihn. »Es ist doch schon Tage her, Tien, und immer noch keine Nachricht über die Diebe?« »Nein.« Tiens Hände zitterten, während er sich Wein einschenkte. »Aber ich werde sie finden, dann werden sie dafür bezahlen.« »Gemäß dem Gesetz?« »Ja. Sie werden bezahlen«, sagte er grimmig. »Ganz gleich, wer oder was sie sind, das schwöre ich!« »Du glaubst, ein Besitzer wäre dafür verantwortlich?« Der Mann, der jetzt sprach, hatte einen scharfen Unterton in der Stimme. »Auch diese Möglichkeit wird verfolgt, Yafe Zoopius«,
sagte Tien kalt. »Wenn Ibius Avorots Leute in der Nähe meines Landes erwischt werden, würde ich kurzen Prozeß machen. Aber ich denke, du übertreibst deine Verdächtigungen, Tien. Ich kann es ja verstehen, es war ein großer Verlust ‒ immerhin die Krönung einer Reihe genetischer Manipulationen. Mit diesem Tier hättest du eine ganze Generation herrlicher Tiere züchten können. Aber beschuldige nicht deine Freunde.« Freunde an der Oberfläche, Konkurrenten darunter, jeder neidisch auf den anderen. Aber nach außen mußte die Einheit gewahrt bleiben ‒ der Mönch, zum Beispiel, könnte sonst zu viel über die Verhältnisse auf Teralde erfahren. Die Universal-Kirche hatte Freunde an höchsten Stellen, und wer wußte, was sie weitertrugen? Es war ein Fehler gewesen, ihn einzuladen. Manchmal ging Pacula einfach zu weit. Als die Besucher schließlich gegangen waren, sprach Tien sie daraufhin an. »Der Mönch, Schwester ‒ ist es klug, ihm Freundschaft anzutragen?« »Ich erwarte von ihm Hilfe.« »Die natürlich ihren Preis hat. Noch mehr Geld für etwas Sinnloses verschwenden. Das Mädchen ist tot ‒ kannst du das nicht akzeptieren? Culpea ist tot.« »Nein!« rief sie mit zitternder Stimme. »Das darfst du nicht sagen, Tien. Es gibt keinen Beweis dafür. Nein ...« Sie schluckte. »Es wurde nie eine Leiche gefunden.« »Der Gleiter stürzte ab, ihre Kinderschwester wurde in
den Trümmern gefunden. Auch die Wächter an Bord waren tot, niemand konnte etwas darüber berichten. Bitte, Schwester, akzeptiere die Fakten, es ist besser so.« »Vielleicht wurde sie gefunden, von einem zufälligen Wanderer mitgenommen. So etwas gibt es. Ich muß die Suche fortsetzen, Tien, ich muß!« »Mit den Mönchen hast du es schon einmal versucht. Du hast mehr gespendet als genug, aber nichts kam dabei heraus. Unser Geld wird knapp, Pacula, und jetzt ist auch noch der Zuchtbulle tot. Es tut mir leid, Pacula, aber meine Geduld ist am Ende. Suche weiter, aber rechne nicht auf meine Hilfe.« »Du verweigerst mir mein Recht?« »Du hattest es, und noch viel mehr. Einmal muß Schluß sein.« Er überlegte kurz und fügte freundlicher hinzu: »Eines will ich noch tun. Auf Heidah gibt es gute Ärzte, die schmerzhafte Erinnerungen auslöschen können und angenehme Illusionen an ihre Stelle setzen. Geh zu ihnen, Pacula, laß sie alles Schreckliche auslöschen. Vergiß das Kind, finde Frieden.« »Und du bezahlst dafür?« Seine Erleichterung über ihr Einlenken ließ ihn ihren berechnenden Blick übersehen. »Natürlich. Sag mir, wieviel es ist, und du bekommst das Geld. Du hast mein Wort.« »Das du noch nie gebrochen hast.« Ihr Lächeln war nur Maske. »Ich werde es überlegen, Tien.« »Geh früh zu Bett«, riet er ihr. »Du hattest seit dem Sturm keine Ruhe mehr. Und das mit gutem Grund«,
fügte er schnell hinzu. »Aber du bist übermüdet ‒ nach einem guten Schlaf wirst du dich besser fühlen.« »Danke«, sagte sie gleichmütig. »Danke, Tien. Ich werde deinen Rat befolgen, aber erst später. Heute abend habe ich versprochen, Sufan Noyoka zu besuchen.« »Den Träumer? Der Mann ist verrückt.« »Aber harmlos.« »Kann Wahnsinn das jemals sein?« Er zuckte die Schultern, weil er keine Antwort erwartete und auch keine bekam. »Nun, tu, was du möchtest, aber sei vorsichtig. Versprichst du das?« »Ich verspreche es.« * »Aufseher?« Usan Labria betrat Ibius Avorots Büro und ließ sich ohne Aufforderung in einen Sessel fallen. Alt, verlebt, betonten die Edelsteine an ihren Fingern nur ihre welke, blasse Haut. Die Bemalung im Gesicht gab ihr ein groteskes Aussehen, ihre Augen funkelten klug und aufmerksam. »Mylady, es ist mir eine Ehre.« »Es stört Sie, Aufseher. Seien Sie doch einmal ehrlich.« Avorot war viel zu vorsichtig, als darauf einzugehen. »Mylady, Sie haben ein Problem?« fragte er. »Wir alle haben ein Problem ‒ Haradas Zuchtbulle. Wann werden Sie jene finden, die ihn töteten?« »Ihr Interesse dabei?« »Stellen Sie sich nicht dumm, Mann!«
Ihre Stimme wie auch ihr Gesicht waren das genaue Gegenteil dessen, was man sich unter einer Frau vorstellte ‒ rauh, hart, ungehalten. »Harada hat den Verdacht, daß es ein Besitzer war. Solange die Schuldigen nicht gefunden sind, wird er versucht sein, selbst etwas zu unternehmen, und das letzte, was wir wollen, ist ein Bruderkrieg. Beim letzten Mal wurde dadurch einem Besitzer ein Drittel seines Zuchtviehs vernichtet, und zwei Besitzer wurden ermordet. Das war vor Ihrer Zeit, aber ich erinnere mich daran. Das darf nicht wieder geschehen.« »Das wird es nicht, Mylady.« »Das bedeutet, daß Sie etwas entdeckt haben. Warum haben Sie noch keine Verhaftung vorgenommen? Wie lange spannen Sie uns alle noch auf die Folter? Ich bestehe darauf, daß Sie etwas tun, Aufseher, und zwar schnell. Sonst wird ein anderer Ihren Platz einnehmen.« Avorot überhörte die Drohung. Ruhig sagte er: »Etwas zu tun, ist nicht genug. Die Frage steht noch, ob Beweise da sind.« »Die können doch herbeigeschafft werden?« Die Frau lehnte sich nach vorn. »Wer war es? Eldaret? Jelkin? Rapana?Wer?« Alles Namen von Besitzern, und der Beweis dafür, was sie voneinander in Wirklichkeit hielten. Sie runzelte die Stirn, als er antwortete. »Also kein Besitzer! Mann, ist Ihnen klar, was Sie da sagen? Man hätte ein Gewehr gebraucht, um das Tier zu töten, vielleicht gar einen Strahler. Die Leute hätten einen
Gleiter und Scheinwerfer nötig gehabt, um das Ziel auszumachen. Wer, außer einem Besitzer, hätte das arrangieren können?« »Bedenken Sie die Fakten, Mylady.« »Ich kenne sie. Das Tier wurde geschlachtet, offenbar, um Spuren zu verwischen. Der Zaun war zerschnitten. Haben Sie die Wachen befragt?« »Ich verstehe mein Geschäft, Mylady.« »Jemand muß sie bestochen haben. Befragen Sie die Wachen erneut, diesmal nicht so freundlich,« »Sind Geständnisse unter diesen Voraussetzungen Beweise?« Mühsam beherrschte er sich. »Das Problem muß zur Zufriedenheit von Besitzer Tien Harada gelöst werden. Denn sonst wird sein Mißtrauen weiterbestehen und er könnte Vergeltung üben, Ich ...« Er wurde von seinem Telefon unterbrochen. »Was gibt es?« »Eine Meldung von Offizier Harm, Sir. Man hat einen Mann gemeldet, der Fleisch verkaufen wollte.« »Sonnengetrocknetes?« »Ja.« »Und?« Avorot wurde ungeduldig. »Reden Sie, Mann!« »Er wurde mißtrauisch und versuchte zu fliehen. Offizier Harm mußte schießen. Der Mann ist jetzt im Krankenhaus.« »Tot?« »Verwundet, aber sehr schwer. Ich hielt es darum für das Beste ...«
Avorot unterbrach die Verbindung. »Entschuldigen Sie, Mylady, aber ich muß mit dem Mann sprechen, bevor er stirbt.« * Nachdem Avorot und Usan Labria ‒ sie hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten ‒ den Bericht gehört hatten, wonach das Fleisch aus keiner offiziellen Quelle des Planeten stammen konnte, wurden sie zu dem Verletzten geführt. Man hatte ihm mehrere Medikamente eingegeben, um seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Wie im Fieberwahn hatte er dann eine unglaubliche Geschichte darüber erzählt, daß die Bestie von einem einzelnen Mann mit einem Messer umgebracht worden war. Man hätte das Tier nur getötet, um etwas zu essen zu bekommen ... Der Mann lag zitternd auf einem Feldbett und hatte dünnen Schaum vordem Mund. »Hören Sie!« Avorot beugte sich über ihn. »Wer war noch bei Ihnen, als der Zuchtbulle umgebracht wurde? Wer?« »Ein Schiff … kommt ... eine Chance ...« Die Worte waren kaum noch zu hören. »Verschwindet jetzt, bevor … mein Gott, die Schmerzen, die Schmerzen!« »Sie werden vergehen. Sprechen Sie, und ich garantiere Ihnen die bestmögliche Behandlung, Wer hat das arrangiert? Wer hat Sie angeführt?«
Aus den Mundwinkeln lief Blut über das Kinn des Mannes. Die weit aufgerissenen Augen wurden plötzlich klar ‒ Sekunden vollkommenen Bewußtseins, wie die Ärzte versichert hatten. »Ich kann Ihnen helfen«, sagte Avorot schnell. »Aber erst müssen Sie mir helfen. Wer hat die Expedition angeführt? Wie war sein Name?« »Mir helfen?« »So gut es geht, Nahrung, Geld für eine Oberdeckspassage, ich schwöre es. Aber Sie müssen mir den Namen sagen.« »Ich sterbe!« Der Mann bekam wieder trübe Augen. »Earl hat mich gewarnt, aber ich habe nicht auf ihn gehört. Ich war ein Narr,« »Earl?« »Dumarest.« »Was ist mit ihm?« »Schnell war er!« Die Stimme verebbte langsam. »Der schnellste Mensch, den ich je gesehen habe. Tötete die Bestie nur mit dem Messer ‒ zerschnitt ihr die Kehle, stieß die Klinge ins Herz. Earl, ich ...« »Wer noch, wer war noch mit dabei?« Es war zu spät, der Mann war tot, aber Avorot hatte genug gehört. Er schloß die starren Augen und richtete sich auf. »Sie haben es gehört?« »Einen Namen«, gab sie zu. »Und einige Hinweise.«
Das reichte. Sobald ein Schiff landete, würde Avorot den Mann haben.
3. An Bord des kleinen Schiffes befand sich eine Gruppe Touristen. Gegen Mittag verließen die Leute das Fahrzeug; sie würden einige Tage bleiben, sich den Sonnenuntergang ansehen, ausgewählte Bestien jagen und dann wieder verschwinden. Dumarest sah vom Rande des Landefelds zu ihnen hinüber; er hielt sich wohlweislich etwas entfernt von der Menschentraube, die sich um den Ausgang versammelt hatte und die genauestens von Wachsoldaten überprüft wurde. Als dann die Schiffsbesatzung erschien, folgte er einem der Uniformierten in Richtung auf die Taverne. Der Mann war groß und hager, mif einem scharfgeschnittenen Gesicht. Ärgerlich sah er auf, als Dumarest sich in dem Lokal neben ihn setzte. »Sparen Sie sich die Puste, die Antwort ist: Nein.« »Die Antwort worauf?« »Sie wollen einen Drink umsonst. Für Wohltätigkeiten sind die Mönche zuständig.« »Nicht so hastig, Freund«, sagte Dumarest. »Ich möchte nur mit Ihnen sprechen.« »Sie sind ein Reisender, nicht wahr?« »Ja.«
»Das dachte ich mir, das sieht man sofort. Sie wollen also eine Passage, stimmt's?« »Wäre das möglich?« »Nein.« Der Mann nippte an seinem Wein. »Ich will es kurz machen. Die Käfige sind voll mit Trophäen und anderem Schund, und ich habe keinen Platz für Unterdecks-Passagiere. Tut mir leid, so sieht es aus.« »Was ist mit einer Kabine? Ich habe auf Schiffen gearbeitet und kenne mich aus. Notfalls auch am Spieltisch, wenn es sein muß.« »Wir haben schon einen Spieler, und der ist gut. Sie haben Geld?« Dumarest nickte. »Genug für eine Unterdeckspassage, richtig? Nun, es könnte sein, daß ich etwas arrangieren kann. Können Sie mit einem Messer umgehen?« »Ich kann kämpfen, wenn ich es muß.« »Auf Homedale, unserem nächsten Ziel, liebt man den Kampf. Mit etwas Geschick und Glück können Sie da etwas Geld machen. Vielleicht nimmt sich sogar eine der reichen Frauen dort Ihrer an.« Er musterte Dumarest. »Darauf würde ich sogar wetten. Interessiert?« »Ja.« Der Mann sah in seinen leeren Weinbecher und lächelte, als Dumarest einen neuen bestellte. »Wir könnten gut miteinander auskommen. Hören Sie, ich werde mit dem Alten sprechen. Stimmt er zu, sage ich Ihnen Bescheid. Seien Sie eine Stunde vor Sonnenuntergang am Tor.« Dumarest mußte die Chance wahrnehmen. Zur verab-
redeten Zeit ging er auf das Landefeld zu. Die Wachen waren auf der anderen Seite des Zaunes, das Tor war geschlossen. Vor dem Tor hatten sich einige Menschen eingefunden, für die aber kaum Hoffnung bestand, eine Passage zu bekommen. Cran Elem war unter ihnen. »Earl!« Lächelnd kam er auf Dumarest zu. »Glaubst du, daß wir eine Chance auf eine Passage haben? Sie brauchen Stewards ‒ man bekommt kein Geld dafür, hat aber die Möglichkeit, von hier wegzukommen. Der Offizier ...« Er verstummte, als er Dumarests Gesichtsausdruck sah. »Stimmt etwas nicht?« »Mit wem hast du gesprochen?« »Dem Zweiten Ingenieur. Er kam mit den Passagieren heraus. Ich nahm die Gelegenheit wahr.« »Und du solltest eine Stunde vor Sonnenuntergang hiersein ?« »Ja.« Cran wurde leiser. »Ich weiß, du sagtest, wir sollten uns versteckt halten, aber Aret kam in die Stadt, und ich folgte ihm. Ist schon gut«, fügte er hinzu. »Ein Bettler erzählte mir, was geschehen ist. Er wurde von einem Wächter erschossen.« »Getötet?« »Er war tot, als man ihn ins Krankenhaus brachte. Er hat nicht geplaudert, Earl, das konnte er nicht mehr.« Dumarest wurde mißtrauisch. Warum hatte der Offizier Cran herbestellt, wo er doch wußte, daß letzterer kein Geld besaß und keine Chance auf eine Passage hatte? Hatte der Mann auch ihn belogen? Plötzlich spürte Du-
marest, wie die Falle langsam zuschnappte ... »Verschwinde von hier, Cran, schnell!« »Warum? Willst du allein von hier weg? Earl, das hätte ich nicht von dir gedacht ...« »Schweig und verschwinde! Ich komme mit.« Wie zufällig, entfernten sich die beiden langsam vom Tor. Dumarest sah sich um. Hier und da standen Zivilisten herum, die sich unterhielten, auf einer Seite hatte eine Gruppe Leute Schwierigkeiten mit einem ChelachHengst, der mit elektronischen Peitschen getrieben wurde. Das Tier wurde ins Schlachthaus gebracht ‒ aber warum trieb man es dann auf das Tor zu? Die Falle schnappte zu, bevor er noch drei weitere Schritte getan hatte. Völlig verwirrt und verängstigt, raste die Bestie plötzlich auf die Menschengruppe am Tor zu. Die Leute stoben auseinander, versuchten verzweifelt, am Zaun hochzuklettern, aber der bot keinen Halt. Dumarest duckte sich weg, spürte den furchtbaren Schlag eines Hornes an seiner Schulter, und nur das eingearbeitete Metallgewebe in seiner Tunika rettete ihn vor einer schweren Verletzung. Er rollte auf dem Boden entlang, sprang auf. Er sah, wie Cran davonlief, von dem Tier eingeholt und in die Luft geschleudert wurde. Seine Bauchdecke wurde dabei aufgerissen ‒ er war tot, bevor er auf der staubigen Erde landete. Der Hengst hielt kaum inne, stampfte einmal den Boden und kam dann auf Dumarest zu. Dumarest richtete sich wieder auf, ritzte dem Tier dabei das Fell. Er wollte
es nicht töten ‒ aber reichte diese Verwundung aus, es zu vertreiben? Erneut griff es an. Diesmal gelang es Dumarest, das Tier am Maul zu verletzen. Erneut griff es an, ein drittes Mal gelang es Earl, auszuweichen, dann hörte er plötzlich Schüsse ‒ die uniformierten Wachen erledigten das Tier. Dann richteten sich die Waffen auf ihn. * »Sie haben sich selbst verraten«, sagte Ibius Avorot. »Das soll Ihnen klar sein. Ich möchte Ihnen auch sagen, daß ich keinen Zweifel daran habe, daß Sie den Bullen töteten, der Besitzer Harada gehörte. Es würde alles viel einfacher machen, wenn Sie gestehen.« Dumarest sagte nichts. Der Mann der ihn verhörte, war nicht allein. Neben ihm saßen Tien Harada und seine Schwester Pacula, sowie Usan Labria, die darauf bestanden hatten, dem Verhör beizuwohnen. Als das Schweigen ihm zu lange dauerte, sagte Avorot: »Ihr Name ist Earl Dumarest. Sie sind mit dem Handelsschiff Corade nach Teralde gekommen ‒ von wo?« »Laconde.« »Und davor?« »Vielen Welten«, sagte Dumarest. »Ich bin Reisender.« »Ein Herumtreiber«, schimpfte Tien Harada. »Nutzloser Dreck, der nur Ärger macht!« Auf solche Einwürfe konnte Avorot verzichten. »Bei allem Respekt, Besitzer Harada: Ich leite dieses
Verhör. Sie haben sicher auch ein Interesse daran, die Wahrheit zu erfahren.« »Die Wahrheit«, sagte Harada. »Nicht, wie Sie sie interpretieren. Mir ist schon klar, daß alles einfacher ist, wenn ein Außenseiter überführt wird, meinen Bullen getötet zu haben.« Avorot zog es vor, die versteckte Beleidigung zu ignorieren. Er sah in seine Unterlagen. »Von welchem Planeten stammen Sie?« »Der Erde.« »Erde?« Avorot sah auf. »Ein komischer Name für eine Welt. Ich habe nie davon gehört. Aber das ist jetzt unwichtig. Sie wissen, daß Sie angeklagt sind, in jener Sturmnacht den Bullen von Besitzer Harada umgebracht zu haben, zusammen mit einigen anderen. Die Strafe für diese Tat ist der Tod.« »Falls ich schuldig bin«, sagte Dumarest gleichmütig. »Natürlich sind Sie das.« »Wie wäre es mit einigen Beweisen?« »Natürlich. Teralde ist keine Barbaren-Welt, und wir achten das Gesetz. Wir haben Beweise. Vor Zeugen wurde ein Geständnis abgelegt. In diesem Geständnis wurden Sie genannt, ferner wurde Fleisch sichergestellt, und auch im Magen des Getöteten am Tor zum Landefeld fand man etwas. Er war Ihr Kumpan.« »War«, sagte Dumarest bitter. »Mußte er sterben?« »Das war ein Unglücksfall, aber wir mußten etwas beweisen. Besitzer Harada wollte nicht glauben, daß ein
Mann mit einem Messer einen Chelach töten kann. Sie zeigten ihm, daß das möglich ist.« »Aufseher«, mischte sich Pacula ein. »Das ist sehr beeindruckend, was Sie da sagen, aber gibt es keinen Zweifel? Der Zeuge kann gelogen haben. Wieso sind Sie so sicher, daß der hier der gesuchte Mann ist?« »Weil er zu meinen bisherigen Informationen paßt.« »Informationen?« Avorot freute sich, daß scheinbar nur er die logischen Zusammenhänge durchschaute, und es war ihm ein Vergnügen, alles zu erklären. »Versetzen wir uns einmal in Ihre Situation«, sagte er, zu Dumarest gewandt. »Sie sitzen auf Teralde fest, haben nur noch das Geld für eine Unterdeckspassage. Innerhalb weniger Stunden stellen Sie fest, daß hier keine Arbeit zu finden ist. Manch anderer würde im Lokal spielen und auf sein Glück hoffen, andere würden ihr Geld für Nahrungsmittel ausgeben. Aber Sie sind für beides zu klug. Was also blieb Ihnen noch? Wie konnten Sie überleben, ohne Ihr Geld angreifen zu müssen? Wie können Sie sich kräftigen, um dann, wenn ein Schiff kommt, die Unterdeckspassage zu überleben?« »Aufseher?« fragte Pacula dazwischen. »Ein Mensch muß kräftig sein, wenn er tiefgefroren reist, Mylady«, sagte Avorot. »Chelach-Fleisch hat von allen Sorten, die wir kennen, den höchsten Nährwert. Ein halbes Pfund liefert die Energie eines ganzen Tages. Das Fleisch des getöteten Tieres reicht für ein Dutzend Leute
wochenlang. Sie haben hoch gespielt, Dumarest, und ziemlich klug dazu ...« »Sie sprachen von einem Zeugen«, warf Harada ungeduldig ein. »Der Mann war noch gieriger als die übrigen. Ich rechnete damit und war auf sein Erscheinen vorbereitet.« Sehr schade, dachte Pacula und musterte den Mann. Aufrecht und ungerührt stand er vor ihnen ‒ er strahlte Stärke und Selbstvertrauen aus. Tien war ebenfalls stark, aber auf eine andere Art und Weise. Hätte er auch ein solches Risiko auf sich genommen, von dem er wußte, daß es die Todesstrafe einbringen könnte? Ganz sicher nicht ... Es schien, als habe Avorot ihre Gedanken gelesen. »Sie haben hoch gespielt, Dumarest. Noch einen Tag, spätestens in einer Woche, wären Sie in Sicherheit gewesen. Sie haben das Spiel leider verloren.« »Sie sprachen von einem Zeugen«, sagte Dumarest kalt. »Bisher ist er noch nicht aufgetaucht.« »Dessen bedarf es nicht. Er hat seine Aussage gemacht, und sie ist niedergeschrieben worden. Warum gestehen Sie nicht und ersparen uns allen damit Zeit?« »Wo sind die Beweise?« beharrte Pacula. »Wo ist der Zeuge?« Zögernd sagte Avorot: »Er ist tot, aber ...« »Tot?« Tien erhob sich, sein Gesicht war blaß vor Wut. »Spielen Sie hier ein Spiel mit mir, Aufseher? Schützen Sie die wirklich Verantwortlichen? Besitzer, die ...« »Ich vertrete das Gesetz«, unterbrach Avorot ihn scharf.
»Ich lasse mich nicht bestechen oder beschütze andere. Ich bin nur an der Wahrheit interessiert. Der Zeuge ist tot, aber er machte seine Aussage vor einem Zeugen, einem Zeugen, dessen Aussage Sie sicher nicht anzweifeln werden. Besitzerin Labria?« Langsam sagte Usan: »Was soll ich sagen, Aufseher?« »Die Wahrheit; was Sie gehört haben, als ich den Mann verhörte.« »Er murmelte etwas vor sich hin, irgend etwas über das Töten einer Bestie.« »Und?« »Mehr habe ich nicht gehört, Aufseher.« »Was?« Ungläubig starrte er sie an. »Ich hörte nur ein Murmeln«, beharrte die Frau. »Ich kann nicht lügen, wenn das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht.« Eine Lüge in sich ‒ was für ein Spiel trieb diese Frau? Was bedeutet ihr Dumarest? »Er nannte noch einen Namen«, fuhr Avorot fort. »Sie wissen es, denn Sie waren dabei.« »Ich hörte nicht, wie er einen Namen nannte, und ich bin es nicht gewohnt, daß man mein Wort anzweifelt, Aufseher. Ich bezweifle nicht, daß das Tier zu Nahrungszwecken getötet wurde, aber es gibt keine Beweise gegen diesen Mann.« »Darf ich dann gehen?« fragte Dumarest. »Nein. Ich brauche Sie zwecks weiterer Untersuchungen.« »Aber er bleibt nicht im Gefängnis.« Usan Labria erhob
sich. »Spielen Sie den Inquisitor, Aufseher, wenn Sie möchten, aber verschonen Sie Unschuldige. Ich kümmere mich um diesen Mann. Entlassen Sie ihn aus der Haft.« »Besitzer Harada, stimmen Sie zu?« »Warum nicht? Wenn er unschuldig ist, was soll's? Ist er es nicht, weiß ich ja, wo ich ihn finden kann. Komm, Pacula, gehen wir.« Dumarest sah ihnen nach. Auch Avorot verschwand. Jetzt war Earl mit der alten Frau allein. »Damit wir uns verstehen«, sagte sie. »Ich kann Sie nicht bei mir halten, aber Sie können von dieser Welt nicht entkommen. Jeder Fluchtversuch wird als Schuldgeständnis gewertet, und Sie werden bei lebendigem Leibe geröstet.« »Glauben Sie, daß ich schuldig bin, Mylady?« »Ich weiß, daß Sie's sind.« »Warum ... ?« »Warum ich gelogen habe?« Sie zuckte die Schultern. »Was geht mich Haradas Bulle an? Ich habe Verwendung für Sie. Ich möchte, daß Sie Sufan Noyoka kennenlernen. Wir essen heute abend mit ihm.«
4. Er war ein kleiner Mann mit einem großen, runden Kopf und Augen, die unter dichten, buschigen Brauen hervorleuchteten. Seine Haut war olivfarben, und schwere Tränensäcke lagen unter seinen Augen. Wie die Frau
auch, war er alt, hatte aber nichts von der Schwerfälligkeit des Alters an sich. Sein Blick huschte hin und her, aufgeregt sprudelten ihm die Worte aus dem Mund. »Earl, ich fraue mich, daß Sie meine untertänigste Einladung angenommen haben. Usan, meine Liebe, du siehst strahlend wie immer aus. Es war eine amüsante Episode?« Er grinste, als die Frau berichtete, was geschehen war. »Tien wird nicht erfreut sein, und, wenn ich ehrlich bin, kann ich ihm das nicht vorwerfen. Dieser Bulle war ihm ans Herz gewachsen. Sie hätten ein anderes Tier aussuchen sollen, Earl ‒ ich darf Sie doch so nennen?« »Wie Sie belieben, Mylord.« »Oh, diese Formalitäten. Hier sind wir alle Freunde. Etwas Wein? Einen Aperitif vor dem Essen? Möchten Sie baden? Mein Haus steht Ihnen zur Verfügung.« Sufan Noyoka war ein Schauspieler, der mit Worten seine Gedanken verhüllte und vermutlich seit Jahren ein etwas albernes Äußeres pflegte. Einem solchen Mann würde man verzeihen, seine Gebrechlichkeit schützte ihn vor Racheakten. Ein gefährlicher Mann, dachte Dumarest, besonders, weil er so unschuldig und unbekümmert wirken wollte. »Wenn Menschen Freunde werden wollen, ist ein Trinkspruch angebracht«, sagte Sufan. »Usan, sorge dafür.« Er wandte sich an Dumarest. »Earl, als Sie den Bullen töteten, haben Sie sich auf Ihr Glück verlassen, oder hatten Sie einen Plan?« »Mylord?«
»Sie sind vorsichtig ‒ das ist klug, und die Frage war dumm. Glück hat damit bestimmt nichts zu tun. Sie haben schon einmal gejagt?« »Ja.« »Für Essen und Gewinn, wie ich mir denken kann.« Sufan nahm das Glas aus Usans Hand. »Usan, auf deine Gesundheit! Earl ‒ auf eine lange und angenehme Zusammenarbeit!« Dumarest nippte an seinem Glas und trank es erst aus, als auch die anderen ihre Gläser geleert hatten. Eine Vorsichtsmaßnahme, die Noyoka bemerkte und im stillen bewunderte. »Earl«, sagte er, »erzählen Sie mir etwas über sich. Was hat Sie nach Teralde gebracht?« »Der Name.« »Dieser Welt?« Sufan runzelte die Stirn. »Es ist eine Bezeichnung wie viele andere. Suchten Sie einen Freund, ein Ding? Eine Chance, reich zu werden? Falls ja, so haben Sie eine schlechte Wahl getroffen. Auf Teralde gibt es wenig Reichtum.« »Ich suche einen Planeten«, sagte Dumarest. »Meine Heimatwelt.« »Die Erde?« Usan Labria schien zu zweifeln. »Gibt es eine solche Welt, Sufan?« »Wenn es sie gibt, habe ich nichts davon gehört.« Der Mann ging zu einem Regal an der Wand und nahm einen dicken Almanach heraus. Dumarest wartete schweigend, während der Mann blätterte ‒ er wußte, was er finden würde. »Nein, eine solche Welt ist nicht aufgeführt.«
»Das bedeutet, daß sie nicht existiert«, sagte Usan Labria. Sie schenkte sich Likör nach, nahm eine Tablette aus einer Schachtel, schluckte sie und stand einen Moment reglos da. Dann entspannte sie sich wieder. »Wie kann es eine Welt mit diesem Namen geben?« »Sie existiert, Mylady, denn ich wurde dort geboren. Und eines Tages werde ich sie auch finden.« »Sie sind also auf der Suche, mein Freund«, sagte Sufan Noyoka. »Wir haben viel gemeinsam, aber davon später mehr. Jeder Mensch braucht einen Grund zu leben, wozu hat er sonst seine Vorstellungskraft. Nur leben, essen, zeugen ‒ das können die Tiere auch. Aber warum kamen Sie nach Teralde? Der Name klingt in keiner Weise ähnlich.« »Die Erde hat noch einen anderen Namen: Terra.« »Terra? Ich ...« Sufan verstummte und senkte seinen Blick. »Teralde«, sagte er nachdenklich. »Ich verstehe. Aber die Legende erzählt, daß der Name von Captain Lance Terraim stammt, der zu den ersten Siedlern hier gehörte.« »Von wo kam er?« »Wer weiß das? Es ist lange her, und viele alte Aufzeichnungen wurden in einem Krieg vor zweihundert Jahren vernichtet. Von seiner Familie lebt niemand mehr. Es tut mir leid, mein Freund, aber Sie scheinen vergeblich nach Teralde gekommen zu sein.« Was Dumarest von Anfang an vermutet hatte, und doch hatten Sufans Augen ihm etwas verraten. Der Mann kannte Terra, zumindest den Namen, und wußte viel-
leicht noch mehr. Aber er gab Dumarest keine Chance zu weiteren Fragen. »Ich möchte Sie durch das Haus führen, Earl. Usan, bereitest du bitte den Tisch für das Essen vor? Kommen Sie, mein Freund, ich will Ihnen zuerst einige meiner Schätze zeigen ...« Der Mann hatte sich ein kleines Museum eingerichtet, und Dumarest konnte nicht umhin, ihm seine Bewunderung auszusprechen. »Eine wertvolle Sammlung, Mylord.« »Immer noch so formell, Earl?« Sufan Noyoka schüttelte den Kopf. »Ich verstehe schon, daß ein Reisender vorsichtig sein muß, und wie kann man das besser, indem man immer höflich zu Leuten ist, die einem Schaden zufügen könnten. Mancher würde das für Untertänigkeit halten, aber ich weiß es besser. Haben Sie noch Fragen, die Sie mir stellen wollen?« »Ja, und die ich auch beantwortet haben möchte.« »Zum Beispiel?« »Terra ‒ Sie haben den Namen schon gehört!« Sufan blinzelte und meinte trocken: »Eine seltsame Frage. Ich dachte, Sie interessierten sich mehr für Ihr Wohlergehen, für den Grund, warum Sie hier sind, was mit Ihnen geschehen wird. Und Sie fragen nur nach einem Namen. Ist Ihre Suche denn so wichtig?« Ein Gong ertönte, bevor Dumarest seinem Gastgeber antworten konnte, der jetzt seine Schränke mit den Schätzen darin wieder schloß. Lächelnd sagte er: »Das Essen ist fertig, und gutes Essen sollte man einer Unter-
haltung vorziehen. Erweisen wir ihm unsere Reverenz?« * Das Essen war gut, Dumarest rührte aber nur wenig davon an, wobei er sich auf extrem nahrhafte Dinge beschränkte. Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich um Belanglosigkeiten, und doch meinte Dumarest unterschwellig, etwas Wichtiges zu bemerken. Wieder schluckte Usan Labria eine ihrer Tabletten und zuckte nur die Schultern, als Pacula sie nach ihrer Gesundheit fragte. »Ich lebe, Mädchen, was kann ich mehr verlangen?« Dann wandte sie sich an Sufan Noyoka. »Nun?« »Du hattest recht, meine Liebe.« »Du hast den Mann gefunden?« Pacula hielt die Luft an. »Hat er zugestimmt?« »Bis jetzt noch nicht.« »Warum nicht? Sufan, du mußt ...« »Ihn überzeugen? Natürlich, aber immer ganz sachte, meine Liebe. Earl ist kein Mann der Eile. Zuerst muß er die Situation verstehen. Gibt es Neuigkeiten von Avorot?« »Er läßt Leute die Wildnis in der Umgebung absuchen, andere durchforsten die Slums. Tien verlangt neue Beweise.« »Das habe ich erwartet.«
Noyoka lehnte sich zurück und spielte mit seinem Weinheber. »Das Fleisch wurde getrocknet«, sann er. »Das bedeutet, daß die Diebe ein Lager draußen in der Wildnis hatten. Man könnte dort Spuren finden ‒ man wird Ihre Kumpane verfolgen, Earl, und sie werden Sie verraten, wenn man ihnen Straffreiheit und eine Belohnung verspricht. Tien wird ihnen nicht glauben, aber die Beweise werden genügen. Ohne ein Raumschiff sitzen Sie fest, Earl. Sie sind hilflos, meinen Sie nicht auch?« »Nicht hilflos«, sagte Usan Labria scharf. »Ich zumindest werde ihm helfen.« »In welcher Hinsicht, meine Liebe? Soll er sich in den Bergen verstecken? Earl könnte überleben, kein Zweifel, aber nur als Wilder. Und wenn du Tien verprellst, was dann?« Die Frau hatte ihm durch ihre Lüge schon das Leben gerettet; noch mehr von ihr zu verlangen, wäre zuviel gewesen. Dumarest sagte: »Damit sind wir am Punkt angekommen. Warum wurde ich hierher eingeladen? Was wollen Sie von mir?« »Ihre Hilfe«, sagte Pacula schnell. »Wir brauchen Sie. Ich, oder eher: wir ... Sufan?« »Ich werde es erklären, meine Liebe.« Der Mann schenkte sich Wein nach. »Earl, haben Sie schon mal von Balhadorha gehört?« »Der Gespensterwelt?« »Mancher nennt sie so.« »Eine Legende«, sagte Dumarest. »Ein Mythos. Ein Pla-
net, der eine unbekannte Sonne in einem unbekannten Abschnitt des Raumes umkreist. Da soll eine Stadt mit Reichtümern zu finden sein, ein berühmter Schatz.« »Und mehr«, sagte Pacula. »Sehr vielmehr.« »Balhadorha gibt es wirklich. Die Gespensterwelt existiert, ich weiß es!« sagte Usan Labria scharf. Es war mehr Glaube als Wissen, das verzweifelte Bedürfnis zu glauben, obwohl alle Fakten dagegen sprachen. Dumarest sah die verfallenen Züge der Frau, die zitternden Hände, den leidvollen Blick. »Sie könnten recht haben, Mylady. Das All ist groß und mit Milliarden Planeten gesegnet. Niemand kann sie alle kennen.« »Dann geben Sie zu, daß diese Welt existieren könnte?« »Vielleicht. Ich habe aber nur wilde Gerüchte gehört. Ich habe die Welt selbst nie gefunden.« »Aber Sie würden trotzdem nach ihr suchen?« Pacula lehnte sich gespannt vor. »Sie würden sie trotzdem suchen?« Dumarest überlegte kurz, welches Interesse sie daran haben könnte, diesen Planeten zu finden. Sie war reich, hatte alles, was sie wollte ... Langsam antwortete er: »Ich hätte nichts dagegen. Was würde es beinhalten?« »Eine Reise. Vielleicht eine sehr lange und auch schwere.« »Wir brauchen einen Mann«, sagte Usan Labria, ein wenig deutlicher als Pacula. »Einer, der töten kann, wenn es nötig sein sollte. Sag's ihm, Sufan, erkläre es ihm.«
Ihre Stimme wurde etwas lauter. »Und um Gottes willen, fahren wir endlich los. Wir haben schon zu lange gewartet!« * Dumarest war mit Sufan Noyoka allein, »Ich möchte Ihnen erklären, was wir vorhaben«, begann der Mann. »Wir nehmen ein Schiff und suchen nach einer Legende«, sagte Dumarest. »Folgen einem Traumgebilde.« »Sie denken, ich bin verrückt?« Sufan zuckte die Schultern. »Viele denken so, aber überlegen Sie mal. Sie suchen die Erde ‒ wie machen Sie das? Sie fragen, untersuchen, setzen Hinweise zusammen, sichten Unterlagen. Jahrzehnte vergehen mit Suchen, und mit etwas Glück findet man die Antwort.« Licht flammte auf, als er den Schalter eines Projektors umlegte, und auf einem Bildschirm erschien ein Ausschnitt des Weltalls ‒ grell leuchtende Sterne in verschiedenen Farben, leuchtende Nebel und Gase, und im Zentrum ein Klümpchen interstellarer Staub. »Die Hichen-Wolke.« Eine Drehung, und sie beherrschte das Bild auf dem Schirm. »Eine ungewöhnliche Wolke, die sich je nach Beobachtungsstandpunkt in immer anderer Gestalt zeigt. Sie ist nie wirklich erforscht worden.« Und das aus gutem Grund, wie Dumarest wußte ‒ er hatte von den gewaltigen, sich beeinflussenden Energien gehört, die in solchen Gebilden tobten: elektronische Wirbel, die Raumschiffe zu unkenntlichen Wracks zer-
mahlten, unerklärliche Strahlen, die Schiffsgeneratoren ausfallen ließen, psychische Angriffe, die Menschen wahnsinnig machten. »Sie erwarten, Balhadorha darin zu finden?« »Die Möglichkeit verwirrt Sie?« »Ja.« Dumarest war ehrlich. »Ich kenne solche Gebiete. Nur ein Narr würde da hineinfliegen. Kein Kapitän würde Besatzung und Schiff riskieren.« »Kein normaler Kapitän und keine normale Besatzung, das stimmt. Aber Sie unterschätzen die Macht der Gier, mein Freund. Denken Sie nur, was man da finden könnte ‒ Reichtümer, von denen man sich keine Vorstellung macht, Edelsteine, wertvolle Metalle ...« Er unterbrach sich, als er Dumarest Gesichtsausdruck bemerkte. »Solche Dinge locken Sie nicht?« »Nein.« »Sie töteten eine Bestie und riskierten dabei Ihr Leben, um etwas zu essen zu bekommen. Warum riskieren Sie es nicht für so viel mehr?« Dumarest merkte natürlich, daß hinter allem die unausgesprochene Drohung stand, ihn jederzeit an Tien ausliefern zu können. »Sie brauchen ein Schiff dazu«, sagte er. »Und eine Mannschaft.« »Es ist alles arrangiert.« Sufans Stimme rasselte. »Seit Jahren habe ich das Unternehmen geplant, jeden Schritt mit beinahe schmerzhafter Sorgfalt getan, Einzelteile zu einem Ganzen zusammengefügt. Nur eines fehlte uns noch, und das stellen Sie dar.«
»Einen Leibwächter?« »Das und mehr.« Sufan holte tief Luft, seine Augen leuchteten. »Bald sind wir auf der Reise, und bedenken Sie, mein Freund, was Sie alles bekommen können.« Die genauen astronomischen Daten der Erde! Auf Balhadorha, so behaupteten die Gerüchte, fand man auf alles eine Antwort.
5. Jeden Morgen war es schwerer, aufzuwachen, einfach nur dazuliegen und darauf zu warten, daß die Schmerzen vorübergingen. Je länger diese Zeit wurde, desto kürzer wurde das Leben, das wie Sand aus einem Behälter rieselte, jedes Korn eine wertvolle Stunde. Und doch gab es auch Angenehmes, und während sie unter dem Sonnenzelt lag, dachte Usan Labria an diese Dinge und wartete darauf, daß die Tabletten zu wirken begannen. Die Sonne tat ihr gut, auch die frische Luft und auch, daß jemand da war, der sich um sie kümmerte ... »Mylady?« Dumarest stand vor der Zeltöffnung. »Benötigen Sie irgend etwas?« »Ein wenig Wasser.« Er reichte es ihr, und sie nippte daran, nahm eine weitere Tablette und sah dann Dumarest in die Augen. »Halten Sie mich für eine Närrin?« »Nein, Mylady.«
»Nennen Sie mich Usan, Earl, und seien Sie ehrlich ‒ bin ich das?« »Nein; zu hoffen ist nicht dumm.« »Ist das wirklich Ihre Meinung?« »Würde es etwas ausmachen, wenn sie es nicht wäre?« Er war aufrichtig, und das mochte sie. »Setzen Sie sich zu mir«, befahl sie. »Unterhalten wir uns, Earl.« »Das Gelände muß untersucht werden, Mylady.« »Earl ‒ wir sind doch Freunde, nicht wahr?« »Trotzdem muß das Gelände geprüft werden.« »Tun Sie, was ich sage, Mann. Sie haben nichts zu befürchten.« Dumarest starrte sie einen Moment an ‒ er roch den leichten Verwesungsgeruch im Zelt, der von der kranken Frau ausging. Sie starb einen langsamen Tod und wußte es, kämpfte aber bis zum Schluß. Eine Eigenschaft, die er unterstützte. »Später, Usan, später.« Sufan Noyoka hatte alles gut geplant. Das Schiff mit ihm und Pacula würde am Landefeld starten und sie dann später hier in den Bergen abholen ‒ das war die einzige Möglichkeit, der Suche zu entgehen, die Avorot garantiert starten würde. Dumarest verließ das Lager und kletterte auf den Gipfel eines Hügels. Ringsherum erstreckte sich die zerklüftete Landschaft der Gebirgsausläufer, im Norden ragten die Berge wie eine Wand in den Himmel. Dumafest kniff die Augen zusammen und suchte den
Himmel ab ‒ er war klar, nur in ganz großen Höhen zogen dünne Wolkenstreifen dahin. Dann blickte er auf das Lager ‒ das Zelt paßte sich in der Farbe der Umgebung an und war kaum zu erkennen. Jeder Suchgleiter mit Infrarot-Radar würde allerdings die Körperwärme der Menschen ausmachen können. »Earl!« Er hörte den Schrei der Frau, während er sich wieder dem Lager näherte. »Earl!« Usan Labria hatte sich auf ihr Feldbett gehockt und nestelte an ihrem Kleid herum, um einen Strahler hervorzuholen. Nur dreißig Zentimeter vom Bett entfernt saß ein kleines, wehrhaftes Insekt, dessen Chitinpanzer kupferfarben schimmerte. Das etwa zehn Zentimeter große Tier war relativ harmlos, konnte allerdings schmerzhafte Stiche versetzen. Das von der Frau verschüttete Wasser hatte es aus seinem Bodenversteck gelockt. Es starb in der Sekunde, als Dumarests Messer in seinen Körper drang. »Earl, ich ...« »Es ist tot, vergessen Sie es.« Dumarest beförderte das Tier mit einem Fußtritt ins Freie. Als er sein Messer abgewischt hatte, nahm Usan Labria es ihm aus der Hand und betrachtete die etwa fünfundzwanzig Zentimeter lange Klinge. Der Griff war abgenutzt und voller Narben, die Klinge selbst aber rasiermesserscharf.
»Und damit haben Sie das Zuchttier getötet«, sagte sie. »Auch Menschen?« »Wenn nötig, ja.« »Menschen, die versuchten, Sie zu töten?« Er nahm das Messer wortlos an sich und steckte es in seinen Stiefel. Dann trat er in den offenen Zelteingang. Der Himmel war immer noch frei von verdächtigen Punkten. »Das Leben«, sagte die Frau gleichmütig, als er sich wieder umwandte, »ist das wertvollste Ding von allem, denn ohne es gibt es nichts. Balhadorha bedeutet Leben für mich, Mit genug Geld werde ich die Chirurgen von Pane bestechen können, damit sie meine Krankheit heilen. Entsprechende Reichtümer könnten sie sogar dazu veranlassen, mein Gehirn in einen neuen, jungen Körper zu verpflanzen. Ich hörte, daß so etwas möglich ist.« Sie wartete darauf, daß er es ihr bestätigte, sagte dann scharf: »Ist es möglich?« »Vielleicht.« »Sie widersprechen mir? Die Mönche tun es nicht. Ich sprach mit Bruder Vray darüber, und er riet mir davon ab. Er riet mir, zu akzeptieren, wie es ist, denn ein neuer Körper würde ja den Tod eines anderen bedeuten. Er sagte mir, ich solle glauben. Glauben!« Ihre Stimme klang bitter, »Was bedeutet mir Glauben? Was ist schon dabei, wenn tausend sterben, damit ich leben kann? Ich ... Earl!« Er stützte sie, als sie plötzlich zusammenbrach. In ihren Augen stand Furcht.
»Ihre Tabletten«, sagte Dumarest. »Welche?« »Eine blaue«, keuchte sie. »Und eine weiße. Schnell!« Er steckte sie ihr zwischen die Lippen. Die Medikamente wirkten schnell. »Ich muß schlafen«, flüsterte sie. »Aber verlassen Sie mich nicht, Earl. Versprechen Sie das?« »Ich verspreche es.« Sie seufzte wie ein Kind und kuschelte sich an ihn. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, während sie ziemlich unüberlegte Worte aussprach. »Ich möchte, daß du mich nie mehr verläßt, Earl, Ich möchte, daß du immer bei mir bleibst. Wenn ich einen neuen, jungen Körper habe, werde ich dir die wirkliche Bedeutung der Liebe zeigen. Du wirst dann stolz auf mich sein. Ich mache dich zu einem König.« Plötzlich tobte ein Donner über ihrem Zelt durch die Luft. Sie sprach etwas lauter. »Donner, Earl. Es ist ein Gewitter.« Sie irrte sich ‒ es war das Geräusch eines landenden Schiffes. * Ibius Avorot stand vor einem Tisch und lauschte der monotonen Stimme, die Fragen stellte, die er alle wahrheitsgemäß beantwortete. Als die Stimme verstummte, sagte er: »Nun?« »Ihre Geräte scheinen in Ordnung zu sein.« »Wie ich sagte.«
Kyber Khai erwiderte nichts. Groß, gekleidet in seine scharlachrote Robe, auf der Brust das schimmernde Siegel des Ky-Clans, stand er in dem kühlen, farblosen Raum. Dieser glatzköpfige Mann gehörte zu den Mitgliedern des Clans, einer Organisation, der er mit allem diente, was er besaß. Der Ky-Clan würde eines Tages die gesamte Galaxis beherrschen. Avorot sagte: »Es besteht kein Zweifel. Der Mann ist Earl Dumarest. Woher wußten Sie, daß er hier ist?« »Die Wahrscheinlichkeit, daß er diese Welt besuchen würde, lag bei zweiundneunzig Prozent, als bekannt wurde, daß er Laconde verlassen hat. Sie sind sicher, daß er nicht mit dem Raumschiff abgeflogen ist, das gerade gestartet ist?« »Ganz sicher. Ich habe es vollständig durchsucht.« »Auch die Ladung?« »Ja«, sagte Avorot trocken. »Ich habe selbst Gründe, ihn nicht entkommen zu lassen.« Khai betätigte einen Kontrollknopf und lauschte auf die Stimmen des Verhörs. Avorot war ein Dummkopf ‒ nicht einmal hatte er Dumarest eine direkte Frage nach seiner Schuld gestellt. »Diese Frau«, sagte der Kyber dann. »Usan Labria. Warum ließen Sie zu, daß sie ihn in ihre Obhut nahm?« »Ich hatte keine Wahl. Ich wollte außerdem herausfinden, worin die Verbindung der beiden besteht. Es muß einen Grund für ihre Lügen geben.« »Und haben Ihre Informanten etwas berichtet?«
»Nein. Die Frau ist nicht zu Haus. Sie ist am gleichen Abend mit Dumarest fortgefahren und wurde seitdem nicht mehr gesehen.« »Und sie war nicht auf dem Schiff, das gestartet ist?« »Nein. Nur Sufan Noyoka und Pacula Harada waren auf dem Schiff.« Gleichmütig sagte der Kyber: »Dumarest und die Frau haben die Stadt verlassen und verstecken sich jetzt irgendwo. Es besteht eine Verbindung zwischen ihnen und jenen beiden, die abgeflogen sind. Die Wahrscheinlichkeit, daß Usan Labria und Dumarest irgendwo von dem Schiff aufgenommen werden, liegt bei achtundneunzig Prozent.« »Es ist also nicht ganz gewiß ?« »Nichts ist ganz gewiß, Aufseher. Es muß immer ein unbekannter Faktor mit einbezogen werden. Bringen Sie mir Karten der näheren Umgebung, und lassen Sie von Ihren Leuten die Flüge aller Gleiter überprüfen, die in der Zeit seit dem Verhör stattgefunden haben.« Fünfzehn Minuten später waren sie in der Luft und flogen in Richtung Norden auf die Berge zu. Der Kyber hatte drei Geländestellen ausgesucht, die als mögliche Landeorte gelten konnten, und bei der zweiten Stelle fanden sie, was sie suchten. Während sie hinunterglitten, wußte Avorot, daß sie zu spät gekommen waren. Ungerührt sah er sich in dem leeren Zelt um und entdeckte das tote Insekt. Die Tatsache, daß es noch dalag, zeigte, wie knapp sie die Flüchtigen verpaßt hatten.
Nichts Eßbares blieb in dieser Gegend lange liegen. * Wieder war Dumarest entkommen und befand sich jetzt auf einem Schiff ins Nichts ‒ wohin genau? Khai befand sich in Avorots Büro und studierte die Unterlagen, die man ihm vorgelegt hatte: den Namen des Schiffes, die Zahl seiner Besatzung, die Ladung, die es transportierte. Von den Agenten des Aufsehers erfuhr er noch mehr: Geschwätz, ein Wort hier und da, schließlich einen Namen. »Balhadorha.« Avorot runzelte die Stirn. Er saß vor einem Komputer, von dem er Informationen bezog. »Ich habe davon gehört ‒ es ist die Gespensterwelt.« »Ein legendärer Ort«, sagte Khai scharf. »Seine Lage ist unbekannt, es sei denn, jene im Schiff hätten sie in Erfahrung gebracht.« Ein erregender Gedanke. Das All war riesig, und Reisen konnten lange dauern. Der Kyber brauchte mehr Informationen. Ythan Ctonat sorgte dafür. Lächelnd betrat er das Büro, sah von einem zum anderen. »Mylord.« Er verbeugte sich untertänigst. »Es ist mir zu Ohren gekommen, daß Sie in Schwierigkeiten sind. Vielleicht steht es in meiner Macht, Ihnen zu helfen. Sind Sie an Sufan Noyoka interessiert?« »Ja. Was wissen Sie?« »Vielleicht wenig, aber ein Mann in meiner Position
hört seltsame Dinge, und manchmal überträgt man mir verschiedene Aufträge. Das kann weiterhelfen, aber wer weiß, in welchem kleinen Stück Information man die Wahrheit findet?« »Was wissen Sie, Mann?« fragte Avorot ungeduldig. »Reden Sie, oder verschwenden Sie unsere Zeit nicht länger.« Der Hausi versteifte sich, eine fast unmerkliche Geste, die der Kyber wohl bemerkte. »Sie möchten vielleicht mit mir allein sprechen?« warf der Kyber ein. »Aufseher, wären Sie so nett?« Als der Mann hinausgegangen war, sagte der Kyber: »Nun?« Der Hausi trat einen Schritt näher an den Tisch heran und senkte die Stimme. »Sufan Noyoka ist ein ungewöhnlicher Mann. Seit Jahren interessiert er sich für Dinge, die nicht von dieser Welt sind. Ich meine damit, seine Interessen liegen sonstwo ‒ sein Land dagegen ist arm, seine Herde verkommen, und doch ist der Mann kein Narr, wofür manche ihn halten. Waren wurden zu Geld gemacht, er hat viele Freunde ... .« Khai ließ den Mann erzählen. Erst als der Agent seinen Bericht beendet hatte, sprach der Kyber. »Sind Sie sicher?« »Warum sollte ich lügen, Mylord? Ich habe die Sache selbst bearbeitet.« »Die Hichen-Wolke?« »Alle verfügbaren Karten darüber, zusammen mit Berichten von jenen, die entweder in die Wolke eingedrun-
gen sind oder in ihrer Nähe waren. Ich verkaufte Noyoka auch ein Artefakt, ein mysteriöses Ding, das auf einem zerstörten Schiff von einem Handelskapitän gefunden wurde.« Die Hichen-Wolke! Es war genug! Nachdem der Hausi gegangen war, schloß der Kyber das Büro ab und legte sich auf eine breite Couch in einem Hinterzimmer. Er drückte auf einen Knopf an seinem breiten Armband ‒ jetzt wurde ein Schutzfeld errichtet, das durch keinerlei Abhöranlagen überwunden werden konnte. Khai entspannte sich und konzentrierte sich auf die Samatchazi-Formel. Unmerklich verlor er den Kontakt mit der Außenwelt. Sein Gehirn kapselte sich von allen unerwünschten Einflüssen ab. Völlig isoliert reduzierte er sich auf reinen Intellekt. Jetzt erst wurden die Homochon-Elemente aktiv. Die Verbindung wurde augenblicklich hergestellt. Khai erwachte zu neuem Leben ‒ einem Leben, in dem jede Tür des Universums sich geöffnet hatte und Licht ausströmen ließ ‒ Licht, das aus reinem Konzentrat der Wahrheit bestand, das jede Zelle seines Seins durchströmte. Er war Teil eines Organismus, der sich über das gesamte Universum erstreckte, in dem jeder Leuchtpunkt ein intelligentes Hirn darstellte. Khai erfuhr die Größe dieses Gedankengebildes als Teil desselben. Im Herzen dieses Netzes glühte die Masse der Zentralintelligenz, der Kern des Ky-Clans. Tief unter den Felsen eines einsamen Planeten vergraben, absorbierten die zusammengefügten Gehirne sein Wissen wie ein trockener
Schwamm das Wasser. Die geistige Verbindung fand mit einer unfaßbaren Geschwindigkeit statt. »Dumarest? Keine Möglichkeit des Irrtums?« »Keine.« »Deine Voraussage über gegenwärtigen Aufenthaltsort?« »Ungenügende Daten zu einer Vorhersage mit großer Wahrscheinlichkeit, aber Gewißheit der Richtung Hichen-Wolke. Andere Faktoren, die mir unbekannt, könnten Wichtiges beinhalten.« Eine Sekunde des Schweigens verging, während die gelieferten Informationen geprüft wurden. Die multiple Intelligenz des Clans schaffte das in einer Zeit und einer Art und Weise, wie es kein einzelnes Gehirn jemals hätte zuwege bringen können. Dann: »Chamelard. Nachricht folgt. Ausführen.« Der Rest war reine Ekstase, die der Kyber mit Freuden erfüllte, wie es bei einem fleischlichen Körper niemals möglich gewesen wäre. Das geschah immer, wenn die Homochon-Elemente begannen, sich zurückzuziehen, wenn der Körper wieder seine normalen Funktionen aufnahm. Wie ein körperloser Geist schwebte Khai durch schwarzes All, verspürte hier und da Ausstrahlungen anderer Hirne ‒ die Ausstrahlung des grandiosen kybernetischen Komplexes, der die einigende Kraft des Ky-Clans darstellte. Eines Tages würde er Teil desselben werden, man würde sein Hirn übernehmen, wenn er starb, würde es den anderen anschließen, die alle auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiteten: der Beherrschung der Galaxis, wo jeder
Planet Teil einer universalen Maschine sein würde.
6. Sufan Noyoka hatte gute Arbeit geleistet. Dumarest hatte ein altes, verkommenes Schiff erwartet, das gerade noch Schrottwert besaß. Statt dessen war die Mayna zwar klein, aber sauber und in gutem Zustand ‒ ein Raumschiff, das einem Herrscher oder einer reichen Familie als Transportmittel gedient haben könnte. Der Preis mußte sehr hoch gewesen sein ‒ ein Beweis dafür, wie ernst Noyoka sein Ziel nahm. Die Mannschaft war klein und bestand aus einem Kapitän, einem Navigator und einem Ingenieur. Die beiden Frauen und Sufan Noyoka, Dumarest und ein Mann, der gern Karten spielte, vervollständigten die Reisegesellschaft. Marek Cognez war ein schlanker Mann, der eine gekünstelte Jugendlichkeit zur Schau trug. Sein Körper war wohlproportioniert, seine Kleidung modisch. Er hatte lange, schlanke Finger mit gepflegten Nägeln. Am Zeigefinger jeder Hand schimmerte ein schwerer Ring. Zusammen mit Pacula saß er im Salon am Tisch. Die Spielkarten in seinen Händen raschelten leise, während er sie mischte. »Setzen Sie sich zu uns, Earl. Ein Spielchen zum Zeitvertreib.« Pacula sagte: »Wie geht es Usan?«
»Sie ist wach, und mit genug Ruhe und Essen wird sie bald wieder auf den Beinen sein.« Der Krankheitsanfall vor dem Start hatte sie über Gebühr strapaziert, so daß man ihr jetzt noch Bettruhe verordnen mußte. »Noch eine Frau, die unsere Gesellschaft beehrt. Nun, jede Unterhaltung ist willkommen. Unser Kapitän ist mit seinen Geräten ausreichend beschäftigt, und Noyoka hält den Navigator mit Plänen und Vorschlägen auf Trab. Eine verdächtige Gemeinschaft ‒ wenn zwei Köpfe besser sind als einer, warum dann nicht drei, die besser sind als zwei?« »Ihre Zeit kommt später, Marek«, sagte Pacula. »Man braucht Ihr Genie nicht, um den leeren Raum zu durchqueren.« »Aber um die Antwort auf ein Rätsel zu finden?« Marek lächelte, als sie nicht antwortete. »Nun, jedem das Seine. Der eine stellt das Geld für den Kauf des Schiffes, andere bedienen es, einer versucht herauszufinden, wie Zeit und Gelegenheit zu dem gewünschten Ergebnis zusammengefügt werden können. Und Sie, Earl? Was ist Ihre Aufgabe?« »Braucht er eine?« fragte Pacula scharf, und Dumarest spürte, daß sie den Mann nicht mochte. »Sie stellen zu viele Fragen, Marek.« »Wie sonst bekommt man Antworten? Für alles gibt es einen Grund, und kennt man ihn, kann man sich eine Antwort bilden. Sie, zum Beispiel, meine Liebe ‒ warum sollte Ihr Bruder denken, daß Sie nach Heidah unterwegs sind? Eine Lüge, die sich aus Noyokas Andeutungen und
Abmachungen zusammensetzte. Und warum ist ein Schiff mit einem Kyber an Bord kurz vor unserem Start gelandet?« »Sind Sie dessen sicher?« fragte Dumarest. »Kann man sich in einer scharlachroten Robe irren? Vielleicht nur ein Routine-Besuch, wer weiß? Die Bruchstücke eines Rätsels? Vielleicht sagen die Karten mehr.« Er knallte sie auf den Tisch, hob ab, verteilte sie dann. Mit geschürzten Lippen betrachtete er eine Karte. »Der König der Narren. Ein Symbol, meinen Sie nicht? Auf diesem Schiff sind alle Narren. Aber wer ist der König, Earl? Wer ist der größte? Können Sie mir das sagen?« Seine Stimme war sanft und hatte doch einen ironischen Unterton, als erwartete er Widerspruch. »Wenn Sie glauben, daß wir Narren sind, warum haben Sie sich angeschlossen?« fragte Dumarest. »Weil das Leben selbst ein Spiel der Narren ist. Sie bezweifeln es? Bedenken Sie, mein Freund ‒ was ist der Sinn des Seins? Wir werden geboren, leben eine Weile und müssen schließlich sterben. Was bedeutet, daß der Sinn der Existenz der ist, zu einem Ende zu kommen. Macht es etwas aus, wie schnell dieses Ende erreicht ist? Wenn der Grund für eine Reise der ist, einen Bestimmungsort zu erreichen, warum dann am Wege bummeln?« Philosophische Gedanken, für die Dumarest nicht allzuviel übrig hatte. Als er schwieg, sagte Pacula: »Sagen Sie's.« »Schüler knien vor ihrem Meister ‒ meine Freunde, Sie
überraschen mich. Ist es so schwer, eine Antwort zu finden? Versuchen Sie's doch mal.« »Um die Landschaft zu genießen«, sagte Dumarest kurz. »Um den Weg für jene, die folgen, leichter zu machen.« »Was voraussetzt, daß jene, die vor uns gingen, an uns, die wir nachkommen, gedacht haben. Die Fakten sprechen gegen Sie, mein Freund.« Er drehte eine weitere Karte um. »Die Königin der Wünsche ‒ eine passende Gefährtin für den König der Narren. Aber zu welcher Frau an Bord paßt diese Karte? Zu Ihnen, Pacula? Oder zu jener, die, in erotischen Träumen versunken, in ihrer Kabine liegt?« »Wie können Sie so etwas sagen!« rief Pacula wütend. »Usan ist alt und ...« »Haben die Alten keine Sehnsüchte mehr? Warum ist sie dann bei uns? Aber ich scheine auf wackligem Boden zu stehen. Trotzdem, besprechen wir die Sache. Usan Labria ist, wie Sie sagen, alt, aber ich habe ältere gesehen, die ihren Stolz und ihre Würde einfach wegwarfen, wenn die Begierden des Fleisches zu stark wurden. Ist sie eine solche? Was sagen Sie dazu, Earl?« »Sie wechseln besser das Thema.« »Und wenn ich es nicht tue?« Für einen Moment sahen sie sich in die Augen, Pacula spürte Spannung, die gleich darauf durch ein Lächeln gebrochen wurde. Marek zuckte die Schultern und sagte: »Nun, lassen wir das. Earl, wollen wir spielen?« »Später, vielleicht.«
»Eine diplomatische Antwort. Keine Ablehnung, keine Zusage, nur bedeutungslose Worte. Habe ich Sie verletzt?« »Nein.« »Und wenn ich es hätte, würden Sie kämpfen?« Kalt antwortete Dumarest: »Das ist dummes Gerede, und Sie sind nicht dumm. Warum also sind Sie hier?« »Weil das Leben ein Spiel ist und es mir Vergnügen macht, beim Spiel zu gewinnen. Balhadorha ist ein Rätsel, das es zu lösen gilt, und ich habe vor, es zu lösen. Reicht das als Antwort?« »Für jetzt, ja.« »Was halten Sie von unserem Kapitän, Rae Acilus? Ist er der König der Narren?« Der Kapitän war ein schweigsamer Mann, der Dumarest nach wenigen Minuten schon als Steward an Bord akzeptiert hatte. »Ein interessanter Fall«, fuhr Marek fort. »Habgier macht aus uns allen Narren, und Acilus ist keine Ausnahme. Er war strebsam und hoffte auf schnellen Reichtum. Einst hatte er das Kommando über ein Schiff, das Arbeiter zu einer Bergbau-Welt bringen sollte. Man hätte es ein Sklavenschiff nennen können, und er hatte an vielen wichtigen Dingen gespart. Um es kurz zu machen ‒ es gab einen Unfall, die Schiffshülle wurde aufgerissen ‒ können Sie sich den Rest denken?« »Erzählen Sie.« »Nicht alle konnten hoffen, zu überleben. Unser Kapitän, vor die Entscheidung gestellt, ließ dreiundsiebzig
Leute hinauswerfen, Männer und Frauen. Natürlich hatten sie keine Raumanzüge. Manchmal, im Schlaf, schreit er auf, weil die Augen der Toten ihn quälen.« Die Wahrheit oder eine gefällige Lüge? Die Geschichte konnte stimmen, denn so etwas geschah hin und wieder. Aber wie dem auch sein mochte, sie waren gestartet, waren unterwegs. Dumarest sagte: »Er hofft also, Reichtum zu finden und sein Selbstvertrauen zurückzuerhalten. Wollen Sie mir das sagen?« »Sind Sie nicht betroffen davon? Unser Schiff wird von einem Massenmörder geführt.« »Ist er ein guter Kapitän?« »Einer der besten, aber ist das Ihr einziges Interesse?« Marek schaute nachdenklich drein. »Es scheint, daß Sie beide etwas gemeinsam haben. Mal sehen, was es sein könnte.« Er nahm mit spitzen Fingern eine Karte auf. »Ihre Karte, mein Freund. Welche wird es sein?« Sie fiel mit dem Aufdruck nach oben auf den Tisch. Es war der Bube der Schwerter. * Dumarest hörte das Klopfen an der Tür und stand auf, um zu öffnen. Er trat zurück, als Pacula Harada hereinkam. »Earl, ich muß mit Ihnen sprechen.« »Worüber?« »Über Sie, über Marek, diese Karte.«
»Das hatte nichts zu bedeuten.« »Das sagen Sie, aber wie kann ich sicher sein? Und an wen soll ich mich wenden? Sufan ist beschäftigt, Usan schläft. Ich fühle mich auf diesem Schiff allein und verletzbar. Ich dachte, ich kann Ihnen vertrauen, bin jetzt aber nicht so sicher. Marek ...« »Können Sie ihm vertrauen?« »Ich weiß es nicht. Er ist ein brillanter Kopf und, wie ich glaube, etwas wahnsinnig. Vielleicht sind wir alle wahnsinnig. Mein Bruder würde nicht zögern, uns dafür zu halten. Er hält mich für verrückt, deshalb gab er mir Geld, um nach Heidah zu fliegen und mein Gehirn behandeln zu lassen, um schmerzliche Erinnerungen zu entfernen. Er wollte nett sein, aber wie kann er das verstehen ? Wie kann je einer verstehen ...? « »Pacula, seien Sie ganz ruhig.« »Ich kann nicht! Ich sitze allein in der Dunkelheit und denke nach, erinnere mich an Culpea, mein Kind! Culpea!« Dumarest fing sie auf und führte sie zu seinem Feldbett. Er wartete, bis ihr Gemütsanfall vorbei war. Dann, als sie sich schluchzend die tränennassen Augen rieb, fragte er ruhig: »Culpea?« »Meine Tochter.« »Und? Erzählen Sie es mir.« »Es war vor acht Jahren«, begann sie dumpf. »Culpea war vier Jahre alt. Tien hatte uns beide nach Teralde gebracht, nachdem Elim gestorben war. Mein Bruder hat mir niemals richtig verziehen, daß ich einen Fremden ge-
heiratet hatte und war froh, mich wieder dort zu haben, wo ich hingehörte. Vielleicht hatte er recht, denn auf Lemach gab es wenig, das uns dort hielt ‒ nur das Haus, ein paar Erinnerungen, ein Grab. Oh Elim, warum bist du gestorben?« Dumarest wartete. »Tien war strebsam«, fuhr sie nach einer Weile etwas ruhiger fort. »Er wollte sein Grundstück erweitern, und wir flogen mit ihm in Richtung Osten, um Land zu prüfen. In einem zweiten Gleiter befanden sich Culpea, ihr Kindermädchen und einige Wächter.« »Und?« »Unsere Suche dauerte länger als erwartet. Die anderen müssen versucht haben, uns zu folgen, wir ... wir fanden ihren Gleiter später. Das Kindermädchen und die Wächter waren tot, aber das Kind war verschwunden. Mein Gott, wie haben wir gesucht, aber nichts gefunden. Acht Jahre«, schloß sie. »Eine Ewigkeit.« »Was war geschehen?« fragte Dumarest. »Ist der Gleiter abgestürzt?« »Wer weiß es? Wir fanden ihn zerstört am Boden. Das Kindermädchen war in eine Felsspalte gestürzt, die Wächter lagen überall verstreut. Tien beschaffte Helfer, das gesamte Gelände wurde abgesucht, aber nichts gefunden. Er vermutete, daß Culpea in eine unzugängliche Felsspalte gestürzt sei.« »Sie haben das nicht geglaubt?« »Nein.« Sie richtete sich auf.
»Ich glaube, daß sie noch am Leben ist. Jemand muß sie mitgenommen haben. Sufan ...« »Er war dabei?« »Wir hatten sein Land inspiziert ‒ er verkaufte es uns später. Sein Gleiter landete, während wir suchten, und er half uns. Er fand das Kindermädchen.« »Weiter nichts?« Dumarest erklärte, was er meinte, als er ihren verständnislosen Blick sah. »Hat er einen anderen Gleiter entdeckt, Menschen, die zu Fuß in der Gegend unterwegs waren und das Kind bei sich hatten? Wurde jemals eine Lösegeldforderung gestellt?« Eine unsinnige Frage, denn das hätte bedeutet, daß das Mädchen noch lebte, aber Dumarest verfolgte einen bestimmten Zweck damit. »Nein«, sagte sie zögernd. »Weder damals noch später.« »Entführung ist also ausgeschlossen. Hatte Ihr Ehemann Feinde?« »Nein. Er war ein ruhiger Mensch. Ich lernte ihn kennen, als er nach Teralde kam und flog mit ihm fort. Tien war überrascht, weil er glaubte, ich würde keinen Mann mehr finden, aber er machte keine Einwände.« »Was war er?« »Elim? Er arbeitete in einem Biologischen Institut auf Lemach. Er kam mit einer Ladung genetisch mutierten Chelach-Tieren nach Teralde. Wir trafen uns auf einem Empfang und später draußen in der Dunkelheit.« Ihr Lachen klang gequält. »Es war komisch, denn ich konnte nichts sehen, während für ihn die Nacht klar wie ein Tag war. Er sagte mir, was ich tat, wie ich mich bewegte, wie
ich aussah. Er war freundlich und ich vernarrt und verliebt in ihn. Fünf Jahre«, sagte sie traurig. »Eine sehr kurze Zeit zum Glücklichsein.« »Viele haben weniger Zeit«, sagte Dumarest. »Woran starb er?« »An einem Tumor. Eines morgens wachte er schreiend auf und war noch vor Sonnenuntergang tot. Die Ärzte sagten, es sei ein sehr bösartiger Tumor gewesen. Eine Weile hatte ich Angst um Culpea, aber das erwies sich als unnötig. Diese Krankheit war nicht erblich.« Sie holte tief Luft. »Eine alte Geschichte, die Sie bestimmt langweilt. Welches Interesse könnten Sie an einem verlorenen Kind haben?« Dumarest wich der Frage aus. »Sind Sie deshalb bei uns?« »Wenn Sufan recht hat, wird Balhadorha mir das Geld verschaffen, das ich brauche, um die Suche fortzusetzen. Und ich muß weitersuchen, Earl, muß wissen, was mit dem Kind geschah. Wenn Culpea tot ist, muß ich die Reste ihres Körpers finden, lebt sie, muß ich wissen, wo sie ist.« »Und Sie werden sie finden.« »Machen Sie sich über mich lustig?« Verärgert musterte sie ihn. »Viele haben das schon getan ‒ manche Männer fragen mich, warum ich nicht wieder heirate, Kinder habe. Die Antwort ist einfach ‒ ich kann kein Kind mehr zur Welt bringen. Deshalb ist Culpea so wichtig für mich ‒ sie ist das einzige Kind, das ich je haben werde.« Plötzlich war ihr Ärger verflogen, sie war nichts weiter
als eine gepeinigte Frau, die blind nach jeder Hilfe griff, die sie bekommen konnte. »Earl, helfen Sie mir! Um Gottes willen, helfen Sie mir!«
7. Im Salon betätigte Marek Cognez sich als Hellseher. Er mischte die Karten, ließ sie auf den Tisch fallen. »Ein interessantes Leben«, sagte er. »In Ihrer Jugend haben Sie Leidenschaft kennengelernt, und ich sehe Spuren einer großen Enttäuschung. Da ist Schmerz, und, ja, zunehmende Verzweiflung. Und doch gibt es Hoffnung.« Er berührte eine Karte. »Nicht sehr viel Hoffnung, aber sie ist da. Beseitigen Sie den Einfluß des Königs der Narren, und sie wird vorherrschend werden.« »Womit ich nichts anfangen kann«, sagte Usan Labria säuerlich. »Ist das Ihr Gewerbe, Marek, Idioten auf einem Rummelplatz auf den Arm zu nehmen?« »Mein Gewerbe?« Er sammelte die Karten lächelnd ein. »Ein Mann schlägt sich durch, so gut er kann, wo kann man da von Gewerbe sprechen? Sagen wir, ich habe ein wenig Talent. Gibt man mir einige Anhaltspunkte, so kann ich die Lösung des Problems erraten.« »Wie ein Kyber?« fragte Pacula. »Nein, ein Diener des Ky-Clans arbeitet auf der Basis extrapolierter Logik. Aus zwei Fakten macht er drei, fünf, ein Dutzend. Ich arbeite mehr mit der Intuition.«
»Aber beide sagen die Zukunft voraus«, sagte Usan verächtlich. »Nein, ich bin kein Händler mit der Zukunft.« Marek mischte und legte die Karten aus, studierte sie. »Letzte Nacht träumten Sie von der Jugend«, sagte er. »Von festen, jungen Armen, die Sie festhalten, von warmen Lippen auf den Ihren. Irre ich mich?« Die Frau war so überrascht, daß sie verlegen die Hände ineinander verkrampfte. Ruhig sagte Dumarest: »Klug sein ist eine Sache, Marek ‒ zu beleidigen eine andere.« »Sie verteidigen sie also?« Der Mann musterte Dumarest scharf, verbarg sein Interesse hinter einem Lächeln. »Eine alte Frau und ein Kämpfer. Diese Kombination findet man oft, aber diesmal, glaube ich, nicht aus dem üblichen Grund. Und Sie, Pacula, haben Sie auch geträumt?« Die Frau wurde rot und starrte den Mann haßerfüllt an. »Marek, Sie gehen zu weit«, sagte Jarv Nonach, der Navigator. »Eines Tages wird Ihre Art Humor Sie umbringen.« Der Navigator saß zusammengesunken in einem Sessel, eine Parfümflasche in der Hand, die er hin und wieder an seine schmale, hakenförmige Nase hielt. Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen fast nur noch Schlitze zwischen den geschwollenen Brauen. Das Parfüm bestand aus aromatischen Düften, Drogen, denen er verfallen war. Der Mann sprach selten und verbrachte,
wenn er keinen Dienst hatte, Stunden in einer schlafähnlichen Erstarrung. »Mit einem Lächeln zu sterben ist sicherlich die beste Art, nicht wahr, Earl?« meinte Marek. »Warum fragen Sie, wenn Sie behaupten, die Antwort zu kennen?« »Jeder Mensch trägt seine Wahrheit in sich, aber diese Wahrheit mag nicht mit der anderen übereinstimmen. Oder sind Sie auch zu sehr mit Kleinkram beschäftigt, um sich dem Universum zu öffnen? Sagen Sie, Earl, leben Sie nur, wenn Sie kämpfen und töten können? Es gibt eine Bezeichnung für solche Menschen, soll ich Ihnen sagen, wie die lautet?« Ein lebensmüder Mann, dachte Pacula, einer, der seine Vernichtung herausforderte. Dann blickte sie zu Dumarest und wußte, daß der andere damit nur seine Zeit verschwendete. Keine Beleidigung konnte Dumarest zum Handeln zwingen, wenn es etwas Wichtigeres zu erledigen galt. Vielleicht rächte er sich später ‒ Marek mußte das wissen; warum forderte er den Mann dann heraus? Es ist eine Schwäche von ihm, ein Preis, den er für sein Talent bezahlen mußte ‒ von letzterem hatte sie allerdings noch nichts gesehen. Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte der Mann: »Spielen Sie Schach, Pacula? Stellen Sie das Spiel auf, alle Figuren so, wie Sie möchten, nehmen Sie irgendeine Farbe, und in zwölf Zügen werde ich Sie besiegt haben. Geben Sie mir eine Zahlenreihe und fragen Sie mich nach Ergebnissen von Division und Multiplikation, der Quad-
ratwurzel oder ähnlichem. Geben Sie mir die Strophe eines Gedichts, das Sie kennen ‒ ich sage Ihnen alle anderen Strophen. Sage ich etwas Falsches, irrt der Dichter, nicht ich.« »Spielereien«, sagte Usan. »Wie können die uns helfen?« »Wer weiß schon, was wir vorfinden werden?« Marek legte die Karten aus der Hand und sah die Anwesenden der Reihe nach an. »Eine Geldschrankkombination, die keiner kennt? Eine Situation, die wir nicht begreifen? Eine Welt der Rätsel, in der nur ganz besondere Hirne einen Weg finden? Denken Sie an Sufans Fundstücke ‒ ich kann versuchen, es in ein Muster einzubauen, in dem es einen Sinn ergibt und uns hilft. Glauben Sie etwa, daß er uns nach Balhadorha bringt?« Er zeigte mit einem Finger auf Jarv Nonach. »Er bringt uns nur dorthin, wo wir unbedingt hinfliegen müssen.« »Auf einer Route, die Sie herausgearbeitet haben?« Usan Labria starrte ihn ungläubig an. »Zu der Gespensterwelt?« »Nein, nach Chamelard. Zuerst nach Chamelard.« Er nahm die Karten wieder auf. »Wie wär's jetzt mit einem Spiel, Earl?« * Sufan Noyoka saß in seiner Kabine, den Tisch vor sich mit Papieren und Grafiken überhäuft. Er sah auf, als Dumarest eintrat, sagte aber nichts.
Sein Blick ging unstet hin und her. »Es ist Zeit, daß wir miteinander reden«, sagte Dumarest ruhig. »Sogar höchste Zeit, Earl, das stimmt. Aber ich war sehr beschäftigt, und Sie waren es auch.« »Warum fliegen wir nach Chamelard?« »Sie wissen das?« »Marek gab es bekannt.« »Nun, es ist kein Geheimnis. Ich hätte es Ihnen rechtzeitig vor der Landung gesagt. Wir sind noch nicht komplett ‒ ein Besatzungsmitglied muß noch aufgenommen werden.« »Ein Mann?« »Eine Frau.« »Und die Ladung Chelach-Fleisch?« »Ist der Kaufpreis für sie.« »Ist Chamelard eine Sklavenwelt?« »Nein, aber die Frau ist etwas Besonderes, ein Produkt der Schell-Peng-Laboratorien. Sie ist ausgebildet und gefördert worden, um ihre Fähigkeiten hervorzubringen. Wir brauchen sie, um durch die Hichen-Wolke navigieren zu können.« Als Dumarest nichts sagte, fuhr er fort: »Das Konzept meines Planes, Earl. Wenn ein paar Leute und ein Schiff Balhadorha finden können, warum ist es bisher noch niemand gelungen? Um die Hichen-Wolke herum gibt es viele bewohnte Welten, und Händler sind immer auf der Jagd nach Profit. Irgendwann muß die Welt einmal gefunden werden ‒ aber sie ist immer noch eine Legende.
Warum? Diese Frage habe ich mir jahrelang gestellt und kam dann auf etwas, das die Antwort sein muß. Balhadorha liegt in der Wolke, die aus sich bekämpfenden Energien besteht. In der Wolke fallen normale Raumfluggeräte aus, echte Navigation ist unmöglich. Sie sind schon in der Nähe solcher Regionen gewesen, Earl, Sie wissen, was dort geschieht.« »Weiß der Kapitän, daß Sie in die Wolke eindringen wollen?« fragte Dumarest. »Rae Acilus besitzt mein Vertrauen.« »Und die anderen? Glauben die nicht, genau wie ich, daß Sie nur die Randbezirke untersuchen wollten?« »Ist das wichtig?« sagte Sufan regungslos. »Sie sind schon zu weit mitgeflogen, um noch zurück zu können.« Ein Fehler ‒ wenn die Schwierigkeiten begannen, würden alle ihre Gier nach Reichtum aufgeben und nur noch überleben wollen. Abgesehen von Usan Labria vielleicht, die nichts zu verlieren hatte, und Pacula, die jede Chance wahrnehmen würde, ihre Tochter zu finden. Marek? Er würde sich über die Herausforderung freuen. Dumarest hatte genug mit sich zu tun. Einmal auf Chamelard, sollte die Expedition ohne ihn zur Hölle fahren.
8. Chamelard war eine kalte Welt, ein Eisball, der eine sterbende Sonne umrundete.
Das schwache Licht der Sonne reichte gerade zur gespenstischen Beleuchtung der Eisfelder und Gletscher. Die kleine Stadt am Landefeld bestand aus dichtgedrängten Häusern. Das Landefeld war verlassen, bis auf die Mayna. Ein für Dumarest fremder Planet, aber er wußte sofort, daß man hier besser nicht strandete. Und es gab noch einige Ungereimtheiten: Da stand ein Mann in der Nähe des Schiffes und beobachtete Sufan Noyoka und ihn, als sie herauskamen. Ein zweiter folgte ihnen, ein dritter verschwand schnell vom Tor des Landefelds, als müsse er eine Nachricht überbringen. Kleinigkeiten, aber Dumarests Leben hing oft von Kleinigkeiten ab, seiner Fähigkeit, sie auszumachen, sich nähernde Gefahr zu erahnen. Und ein Kyber war auf Teralde gelandet. Allein das zu wissen, veranlaßte ihn, größte Aufmerksamkeit walten zu lassen. Dumarest machte nie den Fehler, den Ky-Clan zu unterschätzen ‒ er kannte die subtile Art, mit der der Clan meist vorging. Der Kyber würde von Avorot von seiner, Dumarests, Anwesenheit erfahren und nach ihm gesucht haben. Er hatte nichts gefunden und dann sein Hirn arbeiten lassen. Sufan Noyoka besaß Verbindungen nach Chamelard, und wenn der Kyber das erfahren hatte, würde der Clan schon lange bereit sein, zuzugreifen. Die Schell-Peng-Laboratorien lagen etwa eine Meile außerhalb der Stadt. Ein Angestellter am Empfang begrüßte
die Ankommenden und wartete, bis sie ihre Schutzkleidung geöffnet hatten. »Sufan Noyoka? Einen Augenblick.« Der Mann griff sich eine Akte und begann darin zu blättern. »Eine Frau, sagten Sie?« »Nummer YV2537. Es war eine Spezialausführung.« Der Mann ging zu einem anderen Schrank. Eine absichtliche Verzögerungstaktik? Dumarest sah sich unauffällig um. Außer ihnen befand sich nur noch ein Mann im Hintergrund an einem Tisch, der in einem Buch las. »Sir?« Der Mann am Empfang wandte sich an Sufan. »Das gewünschte Exemplar ist im Augenblick nicht lieferbar.« »Warum nicht?« »Eine Frage der Bezahlung. Zwei Ratenzahlungen fehlen noch, und ...« »Eine Lüge!« »Vielleicht. Eine Untersuchung wird das klären.« Der Mann kam nach vorn an die Barriere und lächelte. »Eine kleine Verzögerung, Sir, weiter nichts. Die Unterlagen werden geprüft und die kleine Unstimmigkeit wird ausgeräumt.« »Wieviel schuldet er noch?« fragte Dumarest. »Die Ratenzahlungen belaufen sich bisher auf ...« »Die Gesamtsumme!« »Der Kaufbetrag beläuft sich auf zehntausend Elmars.
Das deckt natürlich Lagerkosten und Ausgaben für die Wiederbelebung.« Das war zuviel; Dumarest wußte es, bevor Sufan noch protestierte. »Unser Vertrag belief sich auf fünftausend. Meine Ladung ist viereinhalb wert, den Rest habe ich in bar bei mir. Ich verlange, daß Sie sich an unseren Vertrag halten!« »Aber natürlich, Sir. Der Ruf der Schell-Peng ist bekannt, und alle Verträge werden eingehalten. Es ist ein Fehler in den Unterlagen. Haben wir die erst geprüft, bin ich sicher, daß alles geklärt sein wird. Eine Sache von wenigen Tagen. Ich versehe die Anfrage mit besonderer Dringlichkeit.« »Ich will die Frau jetzt!« »Das ist nicht möglich ‒ es sei denn, Sie haben den vollen Betrag dabei. Nicht? Dann muß ich Sie bitten, sich in Geduld zu fassen. Ein paar Tage, Sir.« Dumarest hielt Sufan am Arm fest, als dieser wütend protestieren wollte. Ruhig sagte er: »Ein paar Tage? Nun, immerhin können wir uns dann noch die Schönheiten hier ansehen. Was empfehlen Sie uns?« »Der Signal-Berg ist zu dieser Jahreszeit herrlich, ich denke, der wird Ihnen gefallen. Und wenn Sie Lust zum Skifahren haben, sind die Frendish-Abhänge ideal dafür.« »Und eine Übernachtungsmöglichkeit? Schon gut«, sagte Dumarest, bevor der Mann antworten konnten. »Wir werden schon etwas finden. Bis in drei Tagen dann?«
»Ja, Sir, in drei Tagen wird alles geklärt sein.« Während sie hinausgingen, sah Dumarest zu dem Mann im Hintergrund. Er war ein langsamer Leser ‒ nicht einmal hatte er umgeblättert. * Bei Nacht verwandelte Chamelard sich in eine Eishölle. Die Luft knisterte vor Kälte, der leichte Wind stach wie mit Messern in die Haut. Die Sterne am Himmel glühten grell, als wollten sie die letzte Wärme aus den lebendigen Körpern saugen. Eingemummt schlug Marek seine behandschuhten Hände aneinander. »Das ist Wahnsinn, Earl. Warum warten wir nicht ab?« Genau das wagte Dumarest nicht. Eine Nacht und ein Tag waren vergangen, jetzt waren sie die zweite Nacht hier ‒ er hatte bereits zu lange gewartet. Marek hatte sich Informationen über die Laboratorien verschafft und sich ein Bild gemacht. Sie kannten die Struktur des Gebäudes, die vermutlichen Wege der Wachen, die Routine der Angestellten, die vermutliche Stärke eventueller Gegner. Ein Spiel, bei dem Dumarest sein Leben einsetzte. Hinter ihm fluchte Timus Omilcar, der Ingenieur des Schiffes, als er auf dem Eis ausrutschte und der Länge nach hinschlug. Wütend rappelte er sich wieder auf. Die Straßen waren verlassen. Vor sich sahen die Männer jetzt das Gebäude der Schell-Peng-Laboratorien.
Marek ging jetzt voran, immer an der Mauer des Gebäudes entlang. Schließlich kamen sie an einen runden Vorsprung. »Hier!« »Sind Sie sicher?« Der Ingenieur beugte sich vor. »Wenn die Frau in leblosem Zustand gelagert wird, befindet sie sich hier«, beharrte Marek. »Und wenn wir uns nicht beeilen, können wir uns gleich zu ihr gesellen. Meine Hände werden taub. Earl?« »Hinauf«, sagte Dumarest. »Timus, an die Wand.« Er kletterte auf die Schultern des Mannes, dann folgte Marek, der den Dachrand ergriff und sich hinaufzog. Dumarest packte das Seil, das er herunterreichte, kletterte hinauf, holte dann den Ingenieur nach. Geduckt gegen den Wind krochen sie am Rande des Daches auf den Schindeln weiter. Auf Mareks Signal hin blieben sie stehen. »Hier«, murmelte er. Dumarest zog aus ihrem Gepäck einen Strahler hervor, hielt ihn gegen die Steine. Tropfen geschmolzenen Gesteins flogen davon. Unter den Steinen befand sich eine Kunststoffschicht, die die Männer ohne Schwierigkeiten überwanden. Dann befanden sie sich im Gebäude. Etwa vier Meter unter ihnen sahen sie den Boden einer Kammer, beleuchtet durch dumpfes, blaues Licht. In Zweierreihen standen Behälter an einer Wand. In eine Wand war eine große Tür eingebaut. Nirgends waren Wächter zu sehen.
Dumarest schwang sich durch die Öffnung hinunter auf den Boden. Als die anderen ihm gefolgt waren, gab er dem Ingenieur den Strahler, und der Mann schmolz die Tür zu. Dumarest untersuchte die Behälter. Die meisten waren leer, die belegten trugen je eine Nummer als Aufschrift. »Hier«, rief Marek leise. »XV2537, richtig?« Also hatte der Angestellte nicht gelogen. Dumarest sah in dem Behälter undeutlich den Körper eines Mädchens. Sorgfältig prüfte er die Vorrichtung, obwohl die Zeit drängte. »Kommen Sie klar, Earl?« Der Ingenieur hatte die Tür verschweißt und kam zurück. »Ja. Stellen Sie einige der leeren Behälter unter das Loch im Dach, dann kommen wir leichter hinauf. Marek, halten Sie an der Tür Wache.« Minuten vergingen mit Vorarbeiten, die unbedingt notwendig waren, dann schaltete Dumarest den Wiederbelebungsmechanismus ein. »Earl, es kommt jemand!« meldete Marek sich von der Tür. War es ein Routine-Check, oder überprüfte man einen Alarm? Ganz gleich ‒ die Tür war versperrt, und die Wächter würden sofort nach Unterstützung rufen. Schon donnerten sie an die Tür. Timus hielt die Luft an. »Earl, verschwinden wir?« »Nicht ohne sie. Geben Sie mir die Ersatzkleidung.« Der nackte Mädchenkörper mußte gegen die Kälte draußen geschützt werden.
Immer mehr Schläge hämmerten gegen die Tür, während Dumarest im Geiste die Sekunden zählte, die er noch warten mußte. Der Deckel des Behälters öffnete sich zischend, als die Tür nachgab. »Raus mit ihr, zieht ihr etwas an, hinauf aufs Dach!« sagte Dumarest. »Timus, geben Sie mir den Strahler!« Er rannte hinüber zur Tür, während die anderen mit der Arbeit begannen. Mit dem Strahler verschweißte Dumarest die Tür an weiteren Stellen. Dann schoß er durch ein Loch, das die Wächter von draußen in das Metall gebrannt hatten. Der Schrei verriet ihm, daß er getroffen hatte. Dumarest rannte durch die Kammer. Die anderen waren bereits durch das Loch im Dach verschwunden. Mit einem Satz war Dumarest auf den Behältern, dann zog er sich auf das Dach hinaus. * »Earl!« rief Timus, als Dumarest im Sternenlicht erschien. »Wohin?« Sie hockten auf dem Dach des Gebäudes, die Frau ein formloses Bündel in den Armen des Ingenieurs. Marek keuchte verzweifelt. »Auf der anderen Seite runter, schnell!« rief Dumarest. »Und Sie?« »Ich komme nach.«
Die Wächter mußten jeden Augenblick auftauchen. Während die anderen loskletterten, legte Dumarest sich flach auf das Dach und wartete. Dann hörte er das Atmen von Menschen. Eine Hand erschien an dem Loch, eine zweite, die einen Strahler hielt, dann ein Kopf. In diesem Augenblick handelte Dumarest. Blitzschnell stieß er mit zwei Fingern zu, traf den Mann im Genick. Der Schlag betäubte ihn ‒ leblos hing er in dem Loch, blockierte so den Weg für die anderen. Bevor noch ihr Fluchtloch wieder frei war, hatte Dumarest sich aus dem Staub gemacht, rutschte auf der anderen Seite hinunter und schwang sich über den Rand hinunter auf den gefrorenen Boden. Jetzt ertönte eine Sirene, während er davonrannte. Vor sich entdeckte er die anderen. »Wir schaffen es nie«, keuchte der Ingenieur, als Dumarest auf gleicher Höhe mit ihm war. »Sie haben Scheinwerfer und Wächter ‒ und unser Weg ist noch lang.« »Weiterlaufen, direkt aufs Schiff zu. Alles für den Start vorbereiten. Schnell!« »Aber ...« »Beeilung, verdammt!« Hinter sich hörte er die Geräusche der Verfolger. Dumarest rannte in eine andere Richtung davon, nachdem er einmal blind hinter sich geschossen hatte. Vielleicht konnte er die Verfolger ablenken. Jetzt erreichte er das Landefeld ‒ zwei Männer standen am Eingang, ein dritter kam auf sie zugerannt, als Dumarest sich näherte.
Zu viele Männer zu dieser Zeit bei diesem Wetter. Hinter ihnen sah er die geöffnete Schleuse der Mayna; Marek stand darin. »Mister?« Ein Mann trat auf Earl zu, als er sich dem Tor näherte. »Einen Augenblick. Sind Sie von diesem Schiff?« Er knickte zusammen, als Dumarest ihm einen Schlag in den Magen versetzte. Sein Kollege, der etwas aus der Tasche ziehen wollte, brach unter Dumarests Handkantenschlag zusammen. Der dritte Mann aber stand zu weit weg und hatte plötzlich einen schimmernden Gegenstand in der Hand. »Sie da! Keine Bewegung, oder ich schieße!« Dumarest zögerte, da kam Marek ihm zu Hilfe. Vom Schiff her ertönte plötzlich ein wilder, seltsamer Schrei. Der bewaffnete Mann ließ sich Sekundenbruchteile ablenken, aber die genügten Dumarest. Blitzartig war er bei dem Mann, duckte sich unter der Waffe weg, schlug sie dem Fremden aus der Hand, traf ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht. Der Mann ging zu Boden. »Earl!« schrie Marek. »Es kommen noch mehr! Schnell!« Dumarest rannte auf das Schiff zu, hörte hinter sich Rufen und Schreien. Neben ihm schlugen Kugeln ein, sausten mit bösartigem Sirren um seine Ohren. In dem Augenblick, als er durch die Schleuse sprang, spürte er einen furchtbaren Schlag an der Schläfe; tiefe Schwärze hüllte ihn ein.
9. Als er erwachte, war Usan Labria an seiner Seite. »Wie geht es Ihnen, Earl?« Dumarest streckte sich. Er lag auf seinem Bett, nackt bis auf eine kurze Hose. Er fühlte sich wohl, abgesehen von einem starken Hungergefühl im Magen. »Langzeit?« »Ja.« Die Frau hielt ihm eine dampfende Tasse hin. »Ich denke, Sie können das gebrauchen.« Das war die Hauptnahrung der Raumfahrer, eine dicke Flüssigkeit mit Glukose, Proteinen und Vitaminen versetzt. Eine Tasse lieferte den Kalorienbedarf eines Tages. Während er trank, sagte sie: »Sie hatten Glück. Ein paar Millimeter nach links, und die Kugel hätte ihren Kopf zersplittert. So ist es nur eine Hautabschürfung und ein kleiner Knochenbruch.« »Warum dann Langzeit?« »Warum nicht? Es hat keinen Sinn, Sie leiden zu lassen, wenn es nicht sein muß. Sufan verabreichte Ihnen die Droge einen Tag nach unserem Abflug. Sie sind jetzt fünf Stunden unter ihrem Einfluß, objektiv sieben Tage.« Dumarest richtete sich auf, griff sich an die Schläfe und spürte nichts als eine kleine Narbe. »Haben Sie noch Hunger?« Usan Labria hatte eine zweite Tasse parat. Dumarest trank dankbar, diesmal langsamer. »Acilus startete, sobald das Feld geschlossen war. Sufan
bestand darauf, und ich denke, er hatte recht. Diese Leute wollten Sie haben.« »Es waren Wächter der Schell-Peng.« »Nein«, sagte sie fest. »Diese Leute kamen zwar auch noch, aber die Häscher warteten bereits am Tor auf Sie. Sie hielten die anderen nicht auf, interessierten sich nicht für das Mädchen. Sie waren hinter Ihnen her, Earl, und ich denke, Sie wußten es. Die Frage ist: warum?« »Vermutungen«, sagte er. »Aber wenn Sie eine Antwort finden, lassen Sie es mich wissen. Wo ist das Mädchen?« »In der Kabine neben Sufan. Sie war ziemlich am Ende, als Timus sie herbrachte. Für eine Weile dachten wir, sie würde sterben.« »Und?« »Sie hat sich erholt. Sufan hat sich mit ihr beschäftigt, und Pacula stand ihm als Krankenschwester zur Seite.« Usan zögerte. »Aber es stimmt etwas nicht mit ihr, Earl. Sie ist nicht normal.« »Inwiefern?« »Sie ... oh, zum Teufel, soll Sufan es erklären.« Der Mann bat Dumarest herein, als er an der Kabinentür klopfte, trat dann mit ihm hinaus auf den Korridor und sprach mit leiser Stimme. »Freut mich, daß Sie wieder auf den Beinen sind, Earl. Sie haben mir eine Weile lang Sorgen gemacht.« »Was ist mit dem Mädchen?« »Sie ist drinnen. Sie haben ganze Arbeit geleistet, aber erwarten Sie nicht zuviel.
Seien Sie freundlich zu ihr, Earl, sie ist nicht ganz das, was wir erwartet haben.« Usan Labria mischte sich ein. »Warum sagst du es ihm nicht, Sufan? Earl, das Mädchen ist blind!« * Sie stand am anderen Ende der Kabine an der Wand, groß und in ein langes, weißes Kleid gehüllt, das in der Taille von einem goldenen Gürtel zusammengehalten wurde. Das Kleid stammte von Pacula, die das Mädchen auch frisiert hatte ‒ feines, blondes Haar fiel ihr auf die Schultern. Hand- und Fußnägel waren karmesinrot lackiert, Pacula hatte auch von ihrem Parfüm etwas zur Verfügung gestellt. Ein herrliches Geschöpf ‒ aber blind! Dumarest sah die stumpfen Augen, den weichen, vollen Mund, das etwas hervorspringende Kinn. Ein Gesicht, das er noch nie gesehen hatte, das ihm aber irgendwie vertraut vorkam. »Es ist Ihnen also auch aufgefallen«, sagte Pacula leise. Sie stellte sich neben das Mädchen. »Usan bemerkte es schon. Sie meinte, wir könnten fast Schwestern sein.« »Ein Zufall«, sagte Sufan Noyoka schnell. »Mehr kann es nicht sein. Mein Liebes, das ist Earl Dumarest. Er hat dich zu uns gebracht.« Dumarest trat vor und ergriff die erhobene Hand. »Mylady.«
»Sie hat keinen Namen«, sagte Pacula. »Nur eine Nummer.« »Warum geben wir ihr nicht einen? Cul...« »Nein«, unterbrach die Frau wild. »Nicht Culpea. Der Name gehört meiner Tochter.« »Ich wollte ›Celuphria‹ sagen«, meinte Dumarest sanft. »Eine Welt, die Chamelard ähnlich ist.« »Nennen wir sie Embira«, sagte Usan. »Würde dir das gefallen, meine Liebe?« »Der Name hört sich hübsch an. Embira. Embira. Ja, er gefällt mir.« Dumarest bedeutete Sufan, mit hinauszukommen. Als die Tür hinter ihnen geschlossen war, sagte er: »Ein blindes Mädchen ‒ Sie erwarten, daß sie uns nach Balhadorha führt?« »Sie ist nicht blind, Earl, nicht so, wie Sie denken. Sie kann sehen, aber nicht so wie wir. Ihr Hirn registriert die Anwesenheit von Materie und Energie weit besser als jedes Instrument ...« »Woher wissen Sie das so sicher?« »Sie kann es«, erklärte Sufan. »Ich traue der SchellPeng.« »Ich nicht.« Dumarest riß die Tür auf. »Pacula, Usan, bitte gehen Sie hinaus. Ich möchte allein mit dem Mädchen sprechen.« Allein mit dem Mädchen, stand Dumarest einen Augenblick mit dem Rücken zur Tür, trat dann auf Embira zu. Abrupt hielt er ihr seine Hand vor die Augen, ver-
harrte erst zwei Zentimeter vor den Augäpfeln. »Sie haben mich beinahe berührt«, sagte sie scharf. »Sie haben einen Luftzug verspürt?« »Das und mehr, Earl ‒ ich darf Sie doch so nennen?« »Ja, Embira, aber woher wußten Sie, daß ich es war?« »Ihr Fluidum, ich erkenne Ihr Fluidum. Sie haben Metall bei sich, die anderen nicht.« Sie meinte das Messer in seinem Stiefel ‒ das hätte jeder Detektor feststellen können. War sie weiter nichts als das? Dumarest trat zurück und sagte: »Ich gehe in der Kabine auf und ab. Sagen Sie mir, wo ich bin, und, falls möglich, was ich tue.« Dumarest ging zur Tür, nach links, rechts, auf Embira zu, und jedesmal gab sie seine Bewegungen korrekt an. Auf einem Tisch stand ein Kunststoffblock mit einer Blume darin. Dumarest nahm ihn auf, schleuderte ihn auf das Mädchen zu. Zentimeter an ihrem Kopf flog das Kunststoffstück vorbei, aber sie machte keinerlei Abwehrbewegung. »Haben Sie das gesehen?« »Gesehen?« »Beobachtet, gespürt, wahrgenommen.« Dumarest suchte nach Worten. »Ausgemacht.« »Krängen«, sagte sie. »Im Labor nannte man es krängen. Nein, ich konnte nichts krängen.« »Warum nicht?« »Es hatte kein Fluidum.«
Plastik und eine Blume ‒ beide besaßen Masse und wären von einem Radarstrahl erfaßt worden. War die Masse zu gering gewesen? »Wieviel Menschen sind auf diesem Schiff außer mir?« »Sieben.« Sie runzelte die Stirn. »Sieben, glaube ich. Einer ist schwer auszumachen, sein Fluidum ist verschwommen und manchmal überhaupt nicht vorhanden.« Das war der Ingenieur, dessen Aura durch die Energien des Generators gestört wurde. Dumarest setzte sich auf das Bett und versuchte zu begreifen. Ein Gehirn, das die Anwesenheit von Energie oder Masse wahrnehmen konnte, wenn sie nur groß oder dicht genug war. Jedes lebendige Ding gab Strahlung von sich, jede Maschine, jedes Stück zerfallende Materie. Sie war blind und »sah« doch ... Sufans Führer für die Suche nach seinem Traum. »Embira, wie lange waren Sie bei der Schell-Peng?« »Mein ganzes Leben.« »Wie weit zurück erinnern Sie sich? Man wird Sie nicht schon als Baby aufgenommen haben. Wurde Ihre Vergangenheit nie erwähnt?« »Nein, Earl. Man bildete mich aus, manchmal tat man mir weh. Ich glaube, sie taten Dinge ...« Sie hob ihre Hände vor das Gesicht, ihre Augen. »Nein, ich kann mich nicht erinnern.« Dumarest beschloß, nicht weiter in sie zu dringen. »Wissen Sie, warum Sie hier sind, Embira?« »Sufan Noyoka sagte es mir. Ich soll ihn führen.«
»Können Sie das?« »Ich weiß es nicht, Earl, aber ich werde es versuchen. Ich tue alles, was Sie wollen.« »Nein, Embira«, sagte er rauh. »Nicht, was ich will, nicht, was Sufan Noyoka oder andere wollen. Sie sind kein Sklave. Sie tun, was Sie wollen und weiter nichts. Haben Sie verstanden?« »Aber ich wurde gekauft, um ...« »Sie wurden entführt«, unterbrach er sie. »Sie gehören nur sich selbst. Sie schulden niemand etwas.« Einen langen Augenblick schwiegen sie, dann sagte sie leise: »Sie meinen es gut, Earl, ich weiß es. Aber Sie irren ‒ ich schulde Ihnen etwas. Aber nur Ihnen, Earl. Für Sie würde ich alles tun.« Vor der Kabine warteten Pacula und Marek. Die Frau rauschte an Dumarest vorbei in die Kabine, und Marek lächelte. »Ich schulde ihnen Dank«, sagte Dumarest. »Für den Schrei? Das war nichts Besonderes, schließlich war ich nicht in Gefahr. Außerdem wollte ich Ihnen zusehen, wie Sie mit den Leuten fertig werden.« Er verstummte, fügte dann hinzu: »Es wird Sie interessieren, Earl, daß wir verfolgt werden.« »Ein Schiff?« »Von Chamelard. Es ist kurz nach uns gestartet, aber keine Angst, wir gewinnen Abstand. Ein Kontakt ist unmöglich. Ein kleiner Fehler im Funkgerät, Sie verstehen. Ich hielt es für besser.« Wieviel wußte dieser Mann? Hatte er Verbindungen
zum Ky-Clan? Dumarest konnte sich denken, daß sich ein Kyber auf dem Verfolgerschiff befand, der ein wenig zu spät nach Chamelard gekommen war.
10. Der erste Schlag kam zehn Tage später, ein Sprung, als sei das Schiff von einer Riesenhand geschlagen worden, und während der Alarm durch das Schiff gellte, eilte Dumarest in die Zentrale. Das Mädchen war bereits auf ihrem Posten, in einem Sessel hinter Rae Acilus. »Hier ist kein Platz für Sie, Earl«, erklärte der Kapitän kurz angebunden. »Ich möchte, daß er bleibt.« Embira griff nach Dumarests Hand, hielt sie fest. »Earl, bleiben Sie bei mir?« »Ich werde bleiben.« »Dann mischen Sie sich nicht ein. Ich muß mich schon um genug kümmern. Jarv?« Der Navigator war auf seinem Posten, neben ihm befand sich Sufan Noyoka. Überall summten Instrumente, flackerten Lampen, schlugen Zeiger aus. Das Schiff schickte unsichtbare Finger aus, um die Leere voraus zu erforschen. Wieder wurde das Schiff durchgeschüttelt, der Alarm heulte auf. Dumarest starrte auf das Bild vor ihm. Der Raum bildete einen elektronischen Mahlstrom, in dem in jeder Sekunde Milliarden von Energien an den Strukturen des Schiffes zerrten. Nur durch sorgfältige
Ortung und auf relativ sicheren Pfaden war es überhaupt möglich, zwischen den Kraftfeldern zu manövrieren. Die Mayna flog zu schnell. Sufan setzte zuviel Vertrauen in das Mädchen. »Hinauf«, sagte Embira. »Schnell!« Vor ihnen sah das All ganz normal aus, die Instrumente zeigten nur ein schwaches Magnetfeld an. »Gehorchen Sie!« schrie Sufan, als der Kapitän zögerte. »Folgen Sie ausschließlich Embiras Anweisungen!« Das Schiff ächzte, als der Kapitän sich fügte. Ein Pfeifen ging durch das Schiff, Dumarest spürte starke Schmerzen in den Ohren, Glas splitterte irgendwo. Dann war es vorbei. Der Raum um sie herum schien wieder ganz normal zu sein. »Nach links«, sagte Embira jetzt, und dann: »nach unten!« Diesmal folgte Acilus ohne zu zögern. »Mehr nach links«, sagte sie plötzlich. »Nein, nach rechts, schnell. Schnell, jetzt wieder hinauf, hinauf!« Ihre Stimme wurde unsicher ‒ ein Eindruck, der sich in den nächsten Stunden verstärkte. »Das Mädchen braucht Ruhe«, sagte Dumarest. Acilus wandte sich wütend um. »Earl, ich habe Sie gewarnt, sich nicht einzumischen!« »Das ist Wahnsinn. Die Instrumente sind durchgedreht, und wir fliegen praktisch blind.« »Das Mädchen ...« »Ist nur ein Mensch und denkt mit menschlicher Geschwindigkeit. Sie ist müde und kann nicht mehr verar-
beiten, was sie aufnimmt. Wir befinden uns jetzt tief in der Wolke. Bremsen Sie ab, und geben Sie Embira Zeit zum Ausruhen.« »Und wenn ich es nicht tue?« »Es ist ebenso mein Leben wie das Ihre, Kapitän.« Er sah dem Mann in die Augen, der seine Kontrollen losließ und die Hände zu Fäusten ballte. »Bleiben Sie an den Kontrollen!« schrie Dumarest. »Acilus, Sie Narr!« Embira schrie auf. »Abdrehen! Nach rechts! Abdrehen!« Ein Kreischen aus dem Maschinenraum erfüllte plötzlich das Schiff. Timus' Stimme gellte über den Interkom. »Der Generator brennt durch!« »Abstellen!« rief Dumarest. »Abstellen!« Das Schiff knirschte, als der Befehl befolgt wurde, das normale Weltall erschien, als das Erhaft-Feld zusammenbrach. Zusammengesunken in ihrem Sessel zitterte das Mädchen, Tränen liefen über ihre Wangen. »Diese Schmerzen«, flüsterte sie. »Earl, die Schmerzen!« »Schon gut«, beschwichtigte er. »Es ist vorbei.« »Earl!« Dumarest drückte ihre Hände, wollte sie durch seine Anwesenheit beruhigen. Wütend blickte er auf den Bildschirm. Sie trieben in der Wolke dahin, und falls der Generator zerstört war, waren sie so gut wie tot. *
Pacula sah auf, als Dumarest später Embiras Kabine betrat. Das Mädchen schlief, zuckte unkontrolliert noch im Schlaf. Dumarest berührte sie, und sofort wurde sie ruhiger. »Sie ist überfordert«, sagte Pacula vorwurfsvoll. »Was haben Sie mit ihr im Kontrollraum gemacht?« »Nichts.« »Aber ...« »Sie hat ihre Rolle gespielt«, unterbrach er sie. »Das ist kein Picknick, Pacula. Wir brauchen ihr Talent, wenn wir hoffen wollen, zu überleben.« Damit ging er hinaus und wandte sich zum Maschinenraum. Als Dumarest ihn betrat, wischte der Ingenieur sich gerade den Schweiß von der Stirn. »Nun?« fragte Earl. »Es könnte schlimmer sein«, erklärte Timus. »Sie haben den Befehl gerade noch rechtzeitig gegeben. Ein paar Sekunden später, und der gesamte Generator wäre nur noch Schrott. So hatten wir Glück, zwei Einheiten sind zerstört, aber der Rest wurde gerettet.« »Kann das repariert werden?« »Ja ‒ wir brauchen nur Zeit.« »Wie lange wird es dauern?« »Tage, Earl, mindestens eine Woche. Wir tauschen die Einheiten nicht einfach aus. Der Generator muß gereinigt, geprüft und neue Teile müssen justiert werden ‒ sechs Tage ohne Schlaf.« »Und wenn ich mithelfe?« »Damit habe ich schon gerechnet. Trotzdem, sechs Ta-
ge, Earl. Es ist nicht zu lange«, fuhr Timus fort. »Jeden Augenblick können wir in einen Energiesturm geraten.« Sie mußten es schaffen ‒ Drogen würden das Schlafbedürfnis zügeln, mit Langzeit konnten sie Minuten zu Stunden strecken. Timus blinzelte, als Dumarest das erwähnte. »Warum habe ich nicht daran gedacht? Langzeit ‒ haben Sie die Droge?« »Sufan hat sie. Sie haben sie schon einmal benutzt? Nein? Seien Sie vorsichtig damit, Sie berühren alle Gegenstände mit der vierzigfachen Geschwindigkeit, was Sie für einen leichten Klaps halten, kann Ihnen die Hand zerschmettern. Und Sie müssen ständig dabei essen.« »Wie lange suchen wir noch nach Balhadorha? Sufan ist verrückt. Er treibt uns so lange weiter, bis wir verrecken. Ich gehe gern ein Risiko ein, aber irgendwo ist eine Grenze. Wenn Sie nicht gewesen wären, wären wir schon tot. Solche Ereignisse machen mich nachdenklich. Nichts gegen Geld, aber was nützt einem Toten ein großes Vermögen?« »Wir sind schon zu weit drin, um umkehren zu können«, sagte Dumarest. »Wir suchen weiter und fliegen dorthin, wo Sufan die Gespensterwelt vermutet.« * »Hinauf!« sagte Embira. »Hinauf.« Dann: »Nach links! Links!« Plötzlich leuchtete das All vor ihnen von einer Energie-
explosion auf, die sämtliche Instrumente durcheinanderbrachte. Ohne sich umzuwenden, sagte Rae Acilus: »Wir befinden uns fast im Herzen der Wolke. Da sind fünf Sonnen ‒ welches sind die drei?« Sufan Noyoka stand gebückt neben dem Navigator und starrte auf seine Unterlagen. »Es sind die, die am dichtesten zusammenstehen, Kapitän. Auf einer Ebene sind sie im Dreieck angeordnet. Fliegen Sie auf den gemeinsamen Mittelpunkt zu.« Dumarest stand neben Embira und hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. »Können Sie den Planeten krängen, Embira? Ist da irgend etwas zwischen den Sonnen?« »Nein. Ich ... ja! Earl, ich bin nicht sicher!« »Da kann auch nichts sein«, sagte der Kapitän. »Wenn wir nichts finden ...« »Da muß ein Planet sein!« Niemals würde Sufan sich eine Niederlage eingestehen. »Suchen Sie, Kapitän! Fliegen Sie zu dem gemeinsamen Mittelpunkt und sehen wir nach!« Die Sonnen waren gigantische Feueröfen im All ‒ die eine leuchtete dunkelrot, die andere orange, die dritte in einem kalten Violett. »Jarv?« »Nichts.« Der Navigator prüfte seine Geräte. »Keine Anzeige.« »Da muß etwas sein. Ich weiß, daß Balhadorha da ist! Prüfen Sie nochmals!«
Sufans Stimme zitterte an der Schwelle zur Hysterie. »Ich kann mich nicht irren.« Die Gespensterwelt wurde ihrem Ruf gerecht ‒ mal konnte etwas geortet werden, dann wieder nicht. Ruhig sagte Dumarest: »Embira, wir vertrauen uns Ihnen an. Seien Sie ganz ruhig, versuchen Sie, alle Einflüsse außer denen aus Richtung des gemeinsamen Mittelpunkts der Sonnen auszuschalten.« »Earl, ich kann nicht!« »Versuchen Sie es, Mädchen, versuchen Sie es!« Einen Augenblick saß sie stumm und reglos da, dann: »Etwas nach unten. Nach unten und nach rechts. Nein, zu weit. Hinauf, hinauf, jetzt geradeaus.« Auf den Bildschirmen war nichts zu sehen ‒ aber das konnte nicht anders sein. Der Planet war zu weit weg, falls es ihn überhaupt gab. »Geradeaus«, sagte sie. »Etwas hinauf. Vorsichtig, vorsichtig!« Und dann plötzlich war er da. Die Instrumente leuchteten auf, durch das Schiff raste das Läuten des Alarms. Acilus fluchte, als die Mayne knirschte, während gegensätzliche Kräfte an ihr zerrten. Überraschend riesig hing der Planet vor ihnen im All. Man sah weder Kontinente, Seen noch irgendwelche Oberflächenkonturen, abgesehen von einem schmalen Vegetationsgürtel, einer Lufthülle und einer Stadt.
11. Die Stadt lag wie ein Edelstein inmitten flacher Hügel. Im Zentrum ragte ein Turm empor, von dem aus geschwungene Streben nach allen Seiten zu kleineren ovalen Gebäuden und Dächern führten. Die blaue und die gelbe Sonne spiegelten sich in den Dächern und Wänden des riesigen Gebäudekomplexes. »Das ist wunderbar«, flüsterte Pacula. Sie stand zusammen mit den anderen auf einem kleinen Hügel oberhalb der Stadt. Hinter ihnen, in einem Tal, stand das Raumschiff. Nach allen Seiten erstreckte sich eine schulterhohe Vegetation aus Büschen, die seidenartige Blüten trugen ‒ einige davon aufgeblüht und mit Früchten daran, andere noch als Knospe. Der Boden war mit einem moosartigen Gewächs bedeckt. Die Luft war still, und nirgends ein Geräusch. »Earl! Ich habe Angst«, sagte Embira. »Ruhig, meine Liebe«, beschwichtigte Pacula. »Es gibt nichts, wovor Sie Angst zu haben brauchen.« Dumarest kniff die Augen zusammen und starrte zu dem seltsamen Gebilde hinüber. »Die Stadt ist verlassen.« Marek nahm sein Fernglas von den Augen und reichte es Dumarest. »Leer.« Eine Vermutung, die nicht zu stimmen brauchte. Dumarest stellte das Glas auf seine Augen ein und sah hinüber. Der Turm und die Gebäude hatten weder Fenster noch Verzierungen. Rund um den Gebäudekomplex erhob sich eine Mauer von etwa dreißig Meter Höhe; der
Boden davor war in einer Breite von etwa sechzig Metern völlig frei. In der Mauer selbst war nirgends so etwas wie eine Öffnung zu erkennen. »Nun?« Der Kapitän wurde ungeduldig. »Stehen wir hier tatenlos herum?« »Nein.« »Na und?« »Wir untersuchen die Sache.« Dumarest nahm das Glas von den Augen. »Bringen Sie die Frauen ins Schiff zurück, Jarv, und warten Sie auf uns, während wir die Stadt einmal umrunden.« »Wieso ich?« Der Navigator war mißtrauisch. »Warum nicht Sufan?« »Wir können nicht alle gehen. Das Schiff muß bewacht, die Frauen beschützt werden.« Trocken fügte er hinzu: »Keine Sorge, wenn wir etwas finden, erfahren Sie auch davon.« Die Vegetation wurde dichter, als sie den Abhang etwas weiter hinuntergingen, und es dauerte eine Stunde, bis sie sich mit ihren Macheten bis an den Ring um die Stadt durchgeschlagen hatten. Dumarest blieb am Rande der Büsche stehen und prüfte den Boden. Er war klebrig und fühlte sich ein wenig warm an. Die Büsche hörten abrupt auf, und die Trennungslinie zwischen ihnen und dem freien Boden war wie mit dem Rasiermesser geschnitten. *
Wieder zurück auf dem Schiff, war Usan Labria gespannt auf ihren Bericht. »Nun, Earl? Was haben Sie gefunden?« Sie runzelte die Stirn, als er es ihr sagte. »Nichts? Nur eine Stadt mit keinem sichtbaren Eingang?« »Balhadorha«, schnaufte Timus verächtlich. »Die Welt der berühmten Reichtümer, der Planet, auf dem alle Fragen beantwortet werden, alle Probleme gelöst. Das zum Wahrheitsgehalt von Legenden. Wir haben ein großes Rätsel vor uns.« »Welches wir lösen können!« Sufan Noyoka war wütend. »Was haben Sie denn erwartet? Daß Menschen herauskommen und uns begrüßen, uns als Geschenk Reichtümer übergeben? Legenden verzerren die Wahrheit, aber Legenden müssen nicht lügen. In der Stadt könnten ungeheuer wertvolle Dinge zu finden sein.« »Wir müssen so schnell wie möglich hinein.« Usan Labria wurde ungeduldig. Ihr letzter Anfall hatte sie fast das Leben gekostet, der nächste konnte ihr letzter sein. »Können wir nicht mit dem Schiff in der Stadt landen?« »Auf einem Abhang? Nein. Wir brauchen eine Ebene«, sagte der Kapitän. »Dann klettern wir über die Mauer,« Pacula sah von einem zum anderen. »Mit Seilen und Haken müßte es gehen.« »Ich habe einen besseren Vorschlag«, sagte Jarv Nonach. »Sprengen wir uns einen Weg hinein.«
»Wenn die Mauer nicht zu dick ist«, stimmte der Ingenieur zu. »Earl, was sagen Sie?« »Ich denke, wir sollten noch abwarten. Wir wissen noch zuwenig über diese Welt. Etwas zu übereilen, könnte töricht sein.« »Warten? Wie lange denn?« Usan Labria biß sich auf die Unterlippe. »Und wozu? Wir wollen nur das finden, weshalb wir gekommen sind. Und wenn die Stadt dabei gesprengt wird, das ist mir gleich. Nur hinein müssen wir.« »Und auch wieder hinaus!« Dumarest hatte einen Schluck getrunken und setzte seine Tasse ab. »Das ist wichtig, denn wir wollen mit dem Reichtum ja schließlich weg.« »Natürlich ... aber Sie sagten, die Stadt sei verlassen.« »Marek sagte es, und so scheint es auch, aber wir können nicht sicher sein. Eine Verzögerung kann nicht schaden.« »Und ich sage nochmals: Sprengen wir uns einen Weg hinein«, erklärte der Navigator entschlossen. »Ich schließe mich an«, sagte Acilus. »Und wenn die Stadt nicht verlassen ist?« warf Marek Cognez ein. »Bringen wir die da drin einfach um.« »Wenn sie sich umbringen lassen. Überlegen Sie doch einmal ‒ läßt ein Mensch seine Reichtümer unbewacht zurück? Wenn in der Stadt Schätze lagern, könnten sie bewacht sein, wenn ...«
»Das sind mir zuviele ›Wenns‹.« Rae Acilus schlug mit der Hand auf den Tisch. »Marek, Sie sagen, die Stadt ist verlassen. Richtig?« »Soweit ich es beurteilen kann, ja.« »Also brauchen wir uns nicht darum zu kümmern, was da drinnen sein könnte. Unser Problem ist die Mauer. Wir können hinüberklettern oder ein Loch hineinsprengen.« »Oder mit Strahlern ein Loch hineinbrennen«, sagte der Ingenieur. »Wenn die Mauer nicht zu dick ist.« Dumarest ließ die Männer allein mit ihrer Diskussion und ging hinaus, um die Umgebung des Schiffes zu untersuchen. Er ging ungefähr eine Meile weit, blieb oft stehen, lauschte, legte ein Ohr auf den Boden, hörte aber nichts. Die Stille war absolut. Eine unnatürliche Stille. Die Büsche boten Damwild und anderem Getier Schutz und Nahrung, aber Earl konnte kein Tier entdecken, nicht einmal Insekten. Am Himmel war kein Vogel zu sehen. Dumarest untersuchte die Früchte an den Büschen ‒ die Gewächse ernährten sich ausschließlich aus dem Boden, und vermutlich waren die Früchte nur ein unnützes Nebenprodukt. Dumarest schnitt eine Frucht auf und roch daran. Wie er erwartet hatte, befanden sich keine Samenkörner darin. Die Blüten waren etwa so groß wie seine Handflächen ‒ wie die Früchte hatten auch sie keinen wahrnehmbaren Geruch. Wieder im Schiff, erfuhr Dumarest, daß eine Entschei-
dung gefallen war. »Acilus wird Sprengstoff anwenden«, sagte Marek und deutete hinüber zu der Stadt. »Er hat Timus und Jarv mitgenommen, und jeder schleppt soviel davon mit, wie er kann.« »Der Kapitän hat meine Anweisungen übergangen«, wütete Sufan Noyoka. »Der Mann ist verrückt ‒ wer weiß, welchen Schaden er da anrichten kann. Earl, können wir uns mal unterhalten?« Er führte Dumarest von den anderen, die an der Schleuse standen, weg. »Ich mache mir Sorgen um den Kapitän«, sagte Sufan schnell, »Wenn er in die Stadt hineinkommt, könnte er vergessen, daß ich diese Expedition kommandiere.« »Und?« »Ich lasse mich nicht von habgierigen Narren hereinlegen.« »Bisher hat das noch niemand getan.« »Nein, aber das kann geschehen. Folgen Sie den Leuten, Earl. Wenn sie die Wand durchbrechen, sollen sie warten, ich muß der erste in der Stadt sein.« Das war sein Recht, und Dumarest hatte nichts dagegen, einen anderen zum Ziel unerwarteter Gefahren zu machen. Als er losging, schloß Marek sich ihm an. »Wir haben die Mauer untersucht, während Sie fort waren«, sagte der Mann, »Sie besteht aus diamanthartem Granit. Ich glaube nicht, daß wir genug Sprengstoff haben, um erfolgreich zu sein. Die Leute tragen übrigens Waffen.«
Gegen eventuelle Gefahren in der Stadt, dachte Dumarest. Er blieb an dem breiten Kahlstreifen vor der Mauer stehen. Acilus war dabei, Ladungen an der Mauer anzubringen, Timus und Jarv halfen ihm dabei. »Wo sind die Zündkapseln?« fragte Acilus nach einer Weile. »Hier.« Timus gab sie ihm, sah zu, wie Acilus sie anbrachte. »Die Zündschnur, schnell.« Dumarest beobachtete, wie die Flamme aus der Hand des Kapitäns auf die schwarze Zündschnur übersprang. »Es geht los. Lauft!« Dumarest und alle anderen rannten den Pfad entlang durch das Gebüsch zurück in Richtung Schiff. Hinter dem nächsten Hügel hielten sie inne. Der Ingenieur keuchte und sagte: »Noch fünfzig Sekunden.« Die Zeit zerrte an den Nerven der Männer. »Noch fünf Sekunden.« Timus runzelte die Stirn, als diese vorbei waren und die Kapseln nicht explodierten. »Dreißig Sekunden überfällig, Kapitän. Sind Sie sieher, daß Sie die Kapseln richtig angebracht haben?« »Halten Sie den Mund«, rief der Kapitän. »Wir warten noch etwas länger.« Nach weiteren drei Minuten war er mit seiner Geduld am Ende. »Ich brauche noch eine Zündschnur und Kapseln«, sagte er. »Ich mache das schon.« »Nein«, sagte Dumarest. »Gehen Sie nicht.« »Zum Teufel mit Ihnen, ich bin meiner Sache sicher.
Timus, Jarv, kümmern wir uns darum.« Er holte tief Luft, als keiner sich rührte. »Auf die Beine, verdammt! Das ist ein Befehl.« »Wir sind hier nicht im All, Kapitän. Wenn Sie Ihren Hals riskieren wollen, ist das Ihre Sache«, sagte Timus. »Jarv?« Der Navigator schüttelte den Kopf. »So ist das also ‒ ihr seid Feiglinge. Ich werde daran denken.« Dumarest blickte dem Mann nach, wie er zwischen den Büschen verschwand. Dann sahen sie ihn wieder, als er an der Mauer auftauchte, zu den Sprengladungen lief und daran herumbastelte. Jetzt hantierte er mit der Zündschnur, und in diesem Augenblick gingen die Ladungen hoch. Eine Stichflamme schoß schräg an der Wand hoch, Rauch und Staub verdunkelten die Sonne, dann erreichte sie der Donner der Explosion. Dumarest ging zu Boden, aber es gab keinen Trümmerregen. Als er wieder sehen konnte, entdeckte er einen tiefen Krater im Boden, aber die Mauer ragte unversehrt in den Himmel. Acilus war verschwunden.
12. Timus Omilcar schenkte sich Wein ein und sagte bitter: Ȇber sechshundert Kilogramm Sprengstoff und keine
Wirkung außer einem Loch im Boden und einem verschwundenen Kapitän. Auch einen Drink, Earl?« »Die verfluchte Mauer.« Der Ingenieur hob sein Glas, trank, starrte düster auf die Flasche. »Wir können keinen Nagel hineintreiben, ein Strahler richtet nichts aus. Die Stadt steht da ‒ aber wie kommen wir hinein?« Dumarest dachte schon länger über das Problem nach und glaubte auch bereits, eine Lösung zu haben. Aus Metallstangen bastelten sie sich Enterhaken, an denen Seile befestigt wurden. Kurz danach standen sie vor der Mauer. Schon beim zweiten Wurf sauste der Haken über die Mauer, aber er fand keinen Halt. Ein Dutzend Versuche wurden gestartet ‒ vergeblich. Dumarest ging zurück zum Schiff. Die anderen waren, bis auf Embira, im Salon versammelt. Pacula erhob sich, als Dumarest eintrat. »Ich sehe besser einmal nach dem Mädchen.« »Lassen Sie sie.« Marek spielte mit seinen Karten. »Sie ist kein Baby.« »Sie ist blind ‒ haben Sie das vergessen?« »Wenn wir schlafen, sind wir alle blind.« Marek drehte drei Karten um, schürzte die Lippen, sammelte sie wieder ein. »Sie sorgen sich zu sehr um sie.« »Und Sie zu wenig.« »Absolut nicht.« Marek lächelte. »Ich denke oft an sie, und wenn man ihr nahe ist, vergißt man schnell ihr Handicap. Ihr Charme gleicht die fehlende Sehkraft mehr als aus. Und sind nicht die Finger die Augen der Nacht?« »Sie sind niederträchtig!« Pacula funkelte Marek zornig
an. »Ich warne Sie, Marek Cognez. Wenn Sie sie anfassen, werde ich ...« »Was würden Sie tun?« Er erhob sich. »Was könnten Sie tun? Nichts.« Dumarest schaltete sich ein. »Aber ich könnte etwas tun. Rühren Sie Embira an, müssen Sie das mit mir ausmachen. Pacula, gehen Sie zu dem Mädchen.« Ungeduldig gestikulierte Jarv Nonach mit seiner Parfümflasche. »Hatten Sie Erfolg, Earl?« fragte er. »Nein«, gab Dumarest zu. »Was wollen wir dann noch hier? Ich meine, wir sollten abfliegen und später mit Gleitern zurückkehren und ...« »Nein!« Sufan schlug mit der Hand auf den Tisch. »Nein!« »Welchen Sinn hat es, zu bleiben? Da der Kapitän tot ist, bin ich jetzt Kommandant der Mayna. Ich bin ein normaler Mensch und auch scharf auf den Schatz, aber die Mauer ist unüberwindlich. Wie lange sitzen wir noch da und starren sie an? Mit Gleitern und anderen Geräten könnten wir die Stadt wie eine Nuß aufknacken.« »Wir bleiben!« Sufan zitterte vor Erregung. »Wir sind so weit geflogen, haben viel riskiert ‒ wir bleiben!« »Eine kurze Zeit noch.« Der Navigator erhob sich. Er schien einen Entschluß gefaßt zu haben. »Ich befehlige jetzt die Mayna, und wenn ich abfliege, können Sie bleiben oder mitkommen. Ich habe mich entschieden. Noch einen Tag, dann starten wir.« Vielleicht hätte er diese Ankündigung ausgeführt, wäre
es ihm möglich gewesen, aber als die blaue Sonne aufund die gelbe unterging, war er tot. * Dumarest hörte den Schrei und rannte los, fing Usan Labria auf, die ihm entgegenkam und nach draußen zeigte. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Lippen waren blau, ihr Gesicht schmerzverzerrt. Dumarest übergab sie Timus, als der angerannt kam, Marek neben sich. »Bringen Sie sie hinauf ins Schiff. Pacula weiß, was zu tun ist.« »Und Jarv?« »Ich werde nachsehen, was da nicht stimmt.« Dumarest konnte nichts mehr tun. Der Mann saß an einem Baumstamm, sein Kopf lag vorn auf der Brust, neben ihm seine Parfümflasche. Dumarest hielt Marek zurück, als dieser hingehen wollte. »Warten Sie, sehen wir uns erst um. Suchen Sie nach Spuren aller Art.« »In diesem Moos?« Schwere Körper hätten Spuren hinterlassen, aber die beiden Männer konnten nichts weiter finden als die Spuren des Navigators und jene von Usan. Dumarest beschrieb einen großen Kreis um die Stelle, kehrte aber unverrichteter Dinge wieder zurück. »Nichts?« »Nein.« Dumarest trat an den Toten heran, hob vorsichtig das
Gesicht hoch. Es war ruhig, die Augen starrten ins Leere. Die Haut war kühl und ein wenig feucht. Der Tod war schnell gekommen. »Sollen wir ihn begraben, Earl?« »Wenn Sie wollen, nur zu.« »Und Sie?« »Ich habe im Schiff zu tun.« Dumarest hatte einen neuen Plan entworfen und den Ingenieur beauftragt, ihn auszuführen, während die anderen ruhten. Der Navigator war tot ‒ begraben oder nicht, ihm war es gleichgültig, aber für die Lebenden blieb nach wie vor ein Problem. »Sie glauben, das funktioniert?« Timus sah zweifelnd auf das, was er angefertigt hatte, weiche Halbkugeln mit Schlaufen und Bändern an der Oberseite, Saugnäpfe, die er an Händen, Füßen, Knien und Ellbogen anbringen konnte und die jede einzeln sein Gewicht tragen würden. »Es ist eine Chance«, meinte Dumarest. »Die Wand ist glatt, und die Näpfe werden halten, wenn wir alles richtig gemacht haben.« Die anderen sahen zu, als Dumarest sich mit seiner Kletterausrüstung, zu der auch ein Enterhaken gehörte, der Mauer näherte. Er prüfte noch einmal die Beschaffenheit der Mauer, dann klammerte er sich daran und schob immer abwechselnd Arme oder Beine empor. Dumarest klebte förmlich an der Wand, während er sich Stück für Stück emporarbeitete. Schweiß rann ihm
über das Gesicht, und seine Kleidung klebte ihm am Körper. Grimmig kletterte er weiter, Zentimeter um Zentimeter. Seine Gelenke und Muskeln schmerzten jetzt höllisch. Von unten kam die ermunternde Stimme des Ingenieurs. »Weiter, Earl! Sie kommen gut voran!« »Wie hoch bin ich?« »Vielleicht zehn Meter.« Knapp ein Drittel also, und er war bereits erschöpft. Dumarest hielt inne, um zu verschnaufen. Er wandte den Kopf um und sah unter sich das Vegetationsmeer, das Schiff am Horizont. Das Licht der Sonnen, das sich in der Mauer brach, blendete ihn. »Hinauf, Earl!« schrie Sufan Noyoka. »Worauf warten Sie?« Dumarest kletterte mühsam weiter. Bei etwa zwanzig Metern wurde er langsamer ‒ die Saugnäpfe schienen schlechter zu haften. Fünfzig Zentimeter später war er dessen sicher. Er brachte alle Sauger an der Wand an und merkte, wie er langsam abrutschte. Vorsichtig wich er zur Seite aus, Wollte es erneut versuchen, aber vergeblich. Timus fing ihn auf, als er abrutschte und dann kurz über den Boden fallen ließ. »Sie haben versagt«, jammerte Sufan. »Ein paar Meter weiter ‒ konnten Sie nicht mehr?« »Ich habe es versucht, aber die Saugnäpfe hielten nicht.« »Und?«
Dumarest zuckte die Schultern. »Ich weiß nichts mehr. Vielleicht hat Marek eine Idee.« * Marek befand sich bei seinen Karten im Salon. »Wir haben es also auf alle möglichen Arten versucht«, sagte er, nachdem man ihm berichtet hatte. »Ein schwieriges Rätsel, aber ich sehe nur eine Möglichkeit, in die Stadt zu kommen: durch die Tür in der Mauer.« »Was?« Sufan runzelte die Stirn und musterte ihn scharf. »Ist das einer Ihrer Witze? Marek, ich warne Sie ...« »Was sollen diese Drohungen? Sie wissen wie ich, daß die Stadt ein Rätsel ist. Um es zu begreifen, müssen wir sie studieren. Warum sind die Erdwälle um die Stadt so angelegt? Wozu dient der kahle Streifen vor der Mauer? Warum ist die Mauer so hoch? Was hat es mit dem Spiralturm in der Stadt auf sich?« Ohne Ironie warf Dumarest ein: »Ist das Rätsel zu leicht, Marek?« »Earl, Sie haben es! Was könnte einfacher sein als eine scheinbar undurchdringliche Mauer? Nun, Sie zumindest fallen nicht darauf herein, zu glauben, daß Vielschichtigkeit auch Schwierigkeit bedeutet. Das Gegenteil ist richtig: Je komplexer etwas ist, je mehr Teile davon im Verhältnis zueinander stehen, um so einfacher ist es, die Antwort festzulegen. Zeigen Sie mir die Tür, und ich führe Sie in die Stadt.
Zuerst müssen wir aber die Tür ausmachen.« »Aber wie?« Timus war verwirrt. »Wir haben alles abgesucht, es gibt keine Tür, Earl?« »Denken Sie darüber nach, Timus. Ich muß erst einmal duschen.« Embira erwartete ihn, als er aus der Duschkabine trat. »Gehen Sie mit mir aus dem Schiff«, bat sie Dumarest. »Das Metall hier begräbt mich unter sich.« Draußen herrschte immer noch brütende Stille. Die rote Sonne war dicht über dem Horizont, die blaue kaum noch zu sehen, die gelbe kletterte am Himmel empor. Vom Gipfel eines Erdwalls vor der Stadt sahen sie hinüber. Das Mädchen runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht?« »Was ist da draußen, Earl? Wovor stehe ich?« »Die Stadt. Können Sie die Mauer krängen?« »Die Mauer? Nein. Da ist nur etwas ... etwas, das ich nicht kenne. Earl, es gefällt mir nicht.« »Die Mauer, Embira.« Er nahm ihren Kopf in die Hände und führte sie an der Mauer entlang. »Können Sie sie ausmachen wie die Schiffshülle? Nein?« »Nein, Earl. Aber da ist etwas anderes. Ich kann es krängen. Es ist nicht so wie das, was dahinterliegt. Ich kann mich nicht erinnern, daß es vorher schon da war.« Zurück im Schiff, fragte Marek ungläubig: »Eine Tür? Earl, haben Sie sie gefunden?« »Nein, aber Embira konnte etwas ausmachen, eine Veränderung. Wir müssen das untersuchen. Holen Sie die anderen und folgen Sie uns.«
Vor der Mauer stellte Dumarest die Leute auf, einer faßte den anderen an. »Embira geht voran. Schließen Sie die Augen, und folgen Sie, ohne zu zögern.« Dumarest machte es vor, legte eine Hand auf Embiras Schulter. »Hat jeder Kontakt? Dann die Augen schließen!« Dumarest zwang sich dazu, nicht an die Mauer zu denken, er redete sich ein, daß es gar keine gab. Nichts anderes existierte mehr als Embiras Körper vor ihm, den er unter seiner Hand spürte. Fünf Schritte, zehn, zwölf. Dumarest konzentrierte sich auf das Mädchen. Weitere drei, fünf, sieben Schritte ‒ er spürte ein leichtes Kribbeln. Nach weiteren acht Schritten blieb das Mädchen stehen. »Earl, es liegt hinter uns. Das Ding, das ich krängen konnte.« Dumarest öffnete die Augen, ein Risiko, das er eingehen mußte. Hinter ihm schnappte Pacula nach Luft. Mareks Stimme klang ungläubig. »Bei Gott, wir haben es geschafft! Wir sind durch die Tür gegangen! Wir sind in der Stadt!«
13. Sie standen in einer riesigen, überdachten Halle, dessen Decke in einem bunt schillernden Licht leuchtete. Der Fußboden war glatt, bestand aus einem granitartigen Material, das von Linien durchzogen war. In den Wänden befanden sich mannsgroße Türen.
»Wo ist Timus?« fragte Dumarest. »Er war hinter mir.« Sufan Noyoka sah nach oben. »Ich spürte, wie seine Hand von meiner Schulter glitt. Ich weiß nicht mehr, wann es war.« Noch vor Erreichen der Mauer ‒ der Mann hatte kein Vertrauen gehabt, hatte die Augen geöffnet und natürlich die Mauer vor sich gesehen. Usan Labria hielt sich an Dumarest fest und atmete schwer. »Wir sind drin, Earl, Sie haben Ihr Versprechen gehalten. Ich danke Ihnen dafür. Wie war das möglich?« »Embira hat uns geführt.« »Als Blinde konnte sie die Mauer nicht sehen«, erläuterte Marek. »Aber sie spürte eine Art Energieschild ‒ eine Möglichkeit, die Materie der Mauer zu durchdringen, während die Illusion eines festen Hindernisses aufrechterhalten wurde. Wir sind drin, das allein zählt.« Langsam gingen die Menschen weiter, auf eine der Türen zu. Sie fühlten sich ein wenig benommen von der gigantischen Größe der Halle. Hinter der Tür fanden sie einen kleineren Raum, aus dem Treppen hinausführten. »Wo sollen wir den Schatz suchen?« fragte Usan Labria. »Ich schlage den Zentralturm vor«, erklärte Marek und ging auf eine der Öffnungen zu. »Diese, Earl.« Eine Vermutung, aber so gut wie jede andere. Die Treppe führte steil hinauf, nach etwa fünfzig Metern wurde der Boden wieder eben und die Eindringlinge kamen in einen weiteren Raum, der dem vorigen genau glich.
»Das erinnert mich an etwas«, sagte Usan. »An einen Bienenstock? Einen Ameisenhügel? Ja, einen Ameisenhügel, Earl!« Ein Raum folgte auf den anderen, keiner trug spezielle Merkmale. War die Stadt von Menschen erbaut worden? Niemand konnte es sagen. Nirgends fanden sich Hinweise. Ob die Streifen im Boden Richtungsanzeiger waren? »Es ist möglich, Earl«, gab Marek zu, als Dumarest ihn darauf hin ansprach. »Wir haben Straßenschilder und Nummern, Insekten orientieren sich an Geruchsspuren. Wer immer dieses Gebäude baute, hatte sein eigenes System. Aber diesen Kode aufzubrechen, würde zu lange dauern. Wir müssen nur den Zentralturm erreichen.« Und den Schatz, wenn es einen gab. Fünf Stunden später waren sie ihm noch kein Stück näher. * »Wir haben uns verlaufen!« Sufan Noyoka glühte vor Ungeduld. »Das haben wir mit Ihrer Fähigkeit geschafft, Marek. Was nun?« »Haben Sie ein Wunder in diesem Irrgarten erwartet?« Marek lächelte, aber seine Stimme hatte einen scharfen Unterton. Dumarest wandte sich an Embira. »Können Sie das Schiff krängen?« »Es steht in dieser Richtung.«
Ihre Hand deutete auf eine Öffnung, die rechts von der Richtung lag, aus der sie gekommen waren. »Und in der anderen Richtung?« Dumarest drehte Embira sanft an den Schultern in die entgegengesetzte Richtung. »Krängen Sie dort irgendwo etwas?« »Ja ...« Plötzlich zitterte sie ängstlich. »Earl, das gefällt mir nicht. Es ist fremd und irgendwie bedrohlich. Wie einige der Fluida in der Wolke.« »Ein Energiefeld, Embira?« »Ich weiß es nicht. Earl, halten Sie mich!« »Hören Sie auf, sie zu quälen«, sagte Pacula. »Sie wissen, daß sie sehr nervös ist. Wir hätten sie im Schiff lassen sollen.« »Es blieb uns keine Wahl«, sagte Dumarest. »Ohne sie hätten wir die Mauer nicht durchdringen können. Und vielleicht kommen wir ohne sie aus der Stadt nicht mehr heraus.« Er wandte sich wieder an das Mädchen. »Versuchen Sie es, Embira. Sagen Sie uns, in welche Richtung wir gehen müssen. Deuten Sie mit der Hand auf die Aura vor uns.« »Earl, ich ... ich muß mich konzentrieren. Ich ... da, da!« »Wie weit ist es entfernt?« »Nicht sehr weit.« Also hatte Marek doch nicht ganz versagt. Dumarest ging wieder voran, geleitet von Embiras Anweisungen. Stunden vergingen, schließlich landeten sie in einer Sackgasse.
»Wir gehen zurück«, sagte Dumarest. »Suchen eine andere Abzweigung.« »Und verschwenden noch mehr Zeit?« Sufan zeigte die Zähne. »Wir gehen zurück«, sagte Dumarest. »Embira, in welcher Richtung liegt die Aura jetzt?« Das Mädchen deutete auf die blanke Wand. »Gut, ich werde etwas versuchen.« Dumarest nahm seine Waffe von der Schulter, schickte alle anderen hinaus, feuerte dann mit der Projektilwaffe auf die Stelle der Wand, die Embira ihm angedeutet hatte. Wie bösartige Wespen umschwirrten ihn Querschläger, dann aber gab die Wand an einer Stelle nach, das Material prasselte zu Boden, eine kleine Öffnung tat sich auf. Dumarest schob ein neues Magazin in die Waffe, dann kamen die anderen heran, und sie traten durch die Öffnung in eine ovale Kammer, in der ein relativ helles Licht leuchtete. Der Boden war dick mit Staub bedeckt, und darauf lag der Körper eines Menschen. * Er sah aus, als schliefe er, einen Arm vom Körper abgewinkelt. Nur eine Wange war zu sehen. Die Augen standen offen, der Mund ebenfalls, und man sah gelbliche Zähne. Der Mann trug eine Uniform aus dunklem Kunststoff. »Ein Mann«, sagte Usan Labria. »Und tot ‒ wie lange schon?«
Dumarest sagte: »Ich vermute, er ist verhungert oder verdurstet.« Er drehte die Leiche um, durchsuchte die Taschen. »Captain Cleeve Inchelan«, las er dann. »Sein Schiff war die Elgret. Das Datum ...« Er sah zu den wartenden Gesichtern auf. »Er ist dreihundert Jahre tot.« Ein Mann, der vielleicht auch einem Traum gefolgt war, der eine legendäre Welt gesucht hatte. Oder waren er und seine Mannschaft für die später entstandenen Gerüchte verantwortlich? Seine Mannschaft war vielleicht von hier entkommen und hatte wilde Spekulationen verbreitet ... Die Menschen überlegten kurz die Möglichkeiten, wie dieser Mann hierhergekommen sein konnte, kamen aber zu keinem Ergebnis. Die blaue Sonne war aufgegangen, als sie weiterzogen. Als sie den Toten verließen, schien sein ausgestreckter Arm sie um Hilfe zu bitten ‒ Hilfe, die Jahrhunderte zu spät kam. »Der arme Kerl«, sagte Pacula ernst, als sie auf das Ende der ovalen Kammer zugingen. »Allein auf einer fremden Welt zu sterben.« »Von seiner Mannschaft verlassen.« Usan blieb stehen, hustete, und auf ihren Lippen zeigte sich etwas Blut. »Der verdammte Staub. Earl, wie lange wird es noch dauern?« »Nicht mehr lange. Wir müssen dem Zentralturm nahe sein.« »Was werden wir dort finden, Earl? Edelsteine? Barren wertvoller Metalle? Technische Erfindungen? Auf jeden
Fall ein Vermögen. Wir alle werden reich sein, und ich werde ... Passen Sie gut auf das Mädchen auf, Earl. Ohne Embira sind wir verloren. Passen Sie verdammt gut auf sie auf.« »Das werde ich.« »Ja«, sagte die Frau und fügte gleichmütig hinzu: »Sind Sie in sie verliebt?« Sie grinste, als er nicht antwortete. »Aber sie ist in Sie verliebt, Earl. Die arme Kleine, sie tut mir leid, und doch ...« sie sah auf ihre Hände. »Und doch«, flüsterte sie, »würde ich meine Seele für ihren Körper geben.«
14. Die Kammer endete in einer großen Halle, die an allen Seiten erneut Ausgänge besaß. Schwarze Linien liefen in verwirrender Vielfalt über den Boden, eine Treppe führte zu einer großen Öffnung, und wieder gerieten die Menschen in einen Irrgarten. Embira blieb stehen, blinzelte, wischte sich die Stirn. »So nahe«, flüsterte sie. »Earl, es ist so nahe.« Marek nahm einen Schluck Wasser. »Der Boden führt ständig bergab. Wir müssen noch weiter hinunter, da bin ich sicher. Weiter unten finden wir das Zentrum.« Als Marek voranging, beobachtete Dumarest die anderen. Pacula führte das Mädchen, Usan keuchte und hustete; ihre Augen waren blutunterlaufen. Sufan Noyoka wurde immer ungeduldiger. Er trug seit Dumarests
Schießerei seine Waffe ständig an der Schulter und im Anschlag. »Halten Sie Ihre Waffe nicht so«, sagte Dumarest. »Bei einem Unfall erwischt es Marek, der genau vor Ihnen herläuft.« »Er ...« »Geht Ihnen auf die Nerven, ich weiß. Und Sie müßten wissen, daß er genau das will. Er kann nicht gegen seine Natur an ‒ aber das wissen Sie ja.« »Ich weiß es.« Sufan ließ die Waffe los. Seine Finger zitterten. »Wenn wir ihn nur nicht brauchten. Das Mädchen ...« »Kann uns nicht so führen wie er, und seit Jarv tot ist, brauchen wir ihn, um durch die Wolke zu fliegen. Halten Sie Ihre Wut unter Kontrolle.« »Ja, Earl, Sie haben recht, aber ich traue Marek nicht, man muß auf ihn aufpassen. Wenn er eine Laune bekommt, wird er uns alle in Gefahr bringen.« Dumarest begab sich nach vorn zu dem Mann, als sie jetzt den Ausgang der Kammer erreichten, an die sich eine weitere anschloß. »Eine Sackgasse«, sagte Marek. »Und der Schatz?« »Liegt hinter dieser Wand, Earl. Auf einer tieferen Ebene vielleicht, aber immer noch vor uns.« Dumarest sah nach oben. Ohne ein Talent wie der andere zu haben, konnte er nur vermuten, wo sie waren. Aber auch er schätzte, daß sie sich am Rande oder kurz vor dem Zentralturm befanden. Die Linien am Boden be-
schrieben ein neues Muster, das man auch als Begrenzungslinie deuten konnte. »Welchen Weg sollen wir gehen? Links oder rechts?« fragte Dumarest. Marek sah auf den Boden, der langsam bergab führte. »Nach rechts, Earl, nach rechts«, sagte er schließlich. Drei Stunden später sahen sie den Schatz von Balhadorha vor sich. * Auf einer spiralförmigen Rampe waren sie hinunter in eine riesige Halle gekommen; hinter ihnen lag jetzt eine weitläufige Kolonnade. Dumarest ging voran über den glatten Boden des kathedralartigen Raumes und blieb dann stehen. Neben ihm hielt Sufan Noyoka die Luft an. Usan sagte unsicher: »Ist er das, Earl? Der Schatz?« »Das ist er«, sagte Marek überzeugt. »Meine Freunde, vor uns liegt das, wofür wir unser Leben riskiert haben ‒ der berühmte Schatz einer berühmten Welt.« Er lachte dünn, zynisch. »Soweit der Wahrheitsgehalt von Legenden.« »Aber hier ist nichts«, sagte Pacula. »Nichts!« Nichts außer einem riesigen Raum, der nach der Mitte hin zunehmend mit einem wallenden Nebel gefüllt war. In der Ferne sahen sie Säulen und Gewölbe ‒ das Fundament des Zentralturms der rätselhaften Stadt.
Dumarest blickte nach oben ‒ Nebel hob und senkte sich in Schwaden. »Nichts«, sagte Usan Labria und lehnte sich gegen einen kleinen Pfeiler. »Nichts außer Dreck und Nebel. Earl, das muß ein Irrtum sein. Es muß einer sein!« »Wir sind falsch geführt worden.« Sufan Noyokas Stimme verriet seinen Ärger. »Marek ‒ entspringt das Ihrem Sinn für Humor?« »Ich habe versucht, Sie zu warnen«, sagte Marek. »Aber niemand hat mir zugehört. Was ist ein Schatz? Es muß etwas sein, das für Menschen wertvoll ist, aber selbst unter Menschen sind Wertmaßstäbe für das, was wertvoll ist, verschieden. Der Knochen eines Märtyrers kann etwas Unbezahlbares sein, andererseits etwas absolut Wertloses. Ein paar Koordinaten können für Earl alles bedeuten. Usan möchte jung sein, Pacula will ihr Kind finden. Und Sie, Sufan, was erhoffen Sie sich hier? Bargeld? Die Verwirklichung eines Traumes? Eine neue Entdeckung?« »Und Sie, Marek? Frieden?« fragte Dumarest. »Frieden.« Für einen Augenblick verriet sein Gesicht sein wirkliches Alter. »Ein Wort, Earl, aber ist Ihnen klar, was dieses Wort bedeutet? Kann das überhaupt jemand begreifen? Ruhe zu finden, frei von Sorgen zu sein, nichts zu bedauern, nie von Zweifeln geplagt zu werden, immer ganz sicher zu sein, wenn nur ... Frieden, Earl. Frieden.« Usan sagte: »Earl, mein Kopf! Er schmerzt höllisch, und
ich bin müde. So weit gereist ‒ umsonst. Nichts außer Dreck und Nebel.« Sie lachte gequält. »Eine alte Närrin hat man mich genannt. Nun, vielleicht hatten diese Leute recht. Alt bin ich und eine Närrin vielleicht auch, wie diese Geschichte hier beweist.« Sie machte eine alles umfassende Geste. »Wir sind alle Narren.« »Nein«, beharrte Sufan Noyoka. »Das muß ein Irrtum sein. Die Gerüchte müssen eine reale Grundlage haben. Wir müssen weitersuchen. Irgendwo in der Stadt werden wir etwas finden, den echten Schatz von Balhadorha. Es muß ihn geben.« »Sie sind starrsinnig, Sufan. Ich habe das Rätsel gelöst; was Sie hier sehen, ist der einzige Schatz, den es hier gibt. Ich schwöre es.« »Sie irren sich! Sie müssen sich irren! Und ...« »Sie sind müde«, sagte Dumarest scharf. »Wir alle sind es, und Usan ist krank, sie muß schlafen. Später untersuchen wir die Gegebenheiten hier. Es kann sich etwas in dem Nebel befinden.« »Ja.« Sufan griff nach diesem Strohhalm. »Ja, Earl, so muß es sein. Der Nebel, natürlich, er verbirgt den Schatz. Wir müssen nach ihm suchen.« »Später«, sagte Dumarest. »Zuerst schlafen wir.«
15. Zwei Stunden später wurde Dumarest durch eine Handberührung Mareks geweckt. Der Mann hatte die
erste Wache übernommen ‒ Dumarest hatte auf dieser Vorsichtsmaßnahme bestanden ‒ und war vermutlich froh darüber gewesen. Es war eine Gelegenheit gewesen, allein zu sein, eine Möglichkeit, mit Pacula zu sprechen, bevor die Frau sich zur Ruhe gelegt hatte. »Earl?« »Ich bin wach. Irgend etwas Besonderes?« »Nein, aber Usan ist unruhig, und das Mädchen auch. Ich hörte sie stöhnen. Earl, sie ist blind, und das an einem Ort wie diesem. Ohne uns würde sie umherirren, bis sie tot ist!« »Sie sorgen sich darum?« »Ja ‒ eine Schwäche, aber ich sorge mich um sie. Irgendwie hat sie mich gerührt, und ich ...« »Sie erinnern sich an etwas? Ein anderes Mädchen, eine andere Frau? Woran erinnert sie Sie? An Ihre Frau?« »Ja ‒ etwas, woran ich mich nicht gern erinnere, was ich aber nicht vergessen kann. Meine Frau und meine Tochter ‒ das Mädchen wäre nur wenig jünger als Embira. Das überrascht Sie?« Er strich sich über das Gesicht. »Ich sehe meist jung aus ‒ eine genetische Manipulation, aber das ist nicht wichtig. Ich war klug, stolz auf meine Fähigkeiten, unfähig, einzusehen, daß ich mich jemals irren könnte. Dann kam eine Krankheit, eine Plage, ich wußte genau, was zu tun war. Ein spezielles Antibiotikum, nicht erprobt, aber die natürliche Antwort, etwas, das der Ky-Clan entwickelt hatte.« »Und?« »Ich ging zu den Kybern und bat um eine Probe. Sie
verkauften sie mir ‒ gegen mein Samenplasma für Experimentierzwecke. Ich hätte mein Leben gegeben!« »Und das Antibiotikum versagte?« »Es versagte.« Mareks Stimme klang bitter. »Hätte ich nur ein paar Tage gewartet, wäre alles gut ausgegangen. Man entwickelte einen Impfstoff ...« »Das konnten Sie nicht wissen«, sagte Dumarest. »Sie haben Ihr Bestes getan.« »Ich habe sie umgebracht, Earl, ich bat noch um den Stoff, der sie umbrachte. Der Ky-Clan warnte mich vor den Gefahren, aber ich hörte nicht auf ihn.« Dumarest sagte: »Legen Sie sich jetzt etwas schlafen, Marek.« »Ich bin nicht müde.« »Dann ruhen Sie, schließen Sie die Augen. Später brauchen Pacula und das Mädchen Sie vielleicht.« Er wandte sich um, verließ den Raum und betrat die Kolonnade. Das Schweigen war absolut. Dumarest stand lange da und starrte hinunter in den Nebel. Auf den Schatz von Balhadorha. Da war weiter nichts als wallender Nebel, der von unsichtbaren Kräften bewegt wurde. Das Wirbeln und Wabern erinnerte ihn an ein flackerndes Feuer, plötzlich erschienen Bilder der Vergangenheit vor seinem geistigen Auge. Ein Chelach, ein Krell, das Gesicht eines längst toten Menschen, eine lächelnde Frau, das Blitzen einer Messerklinge.
Dumarest blinzelte, und die Bilder verschwanden, aber der graue Nebel blieb. Hatten die früheren Bewohner hier gebetet? Hatten sie sich versammelt, um den Nebel zu verehren? Hatte Marek recht ‒ war der Nebel alles, was in dieser Stadt zu finden war? Was war dann mit seiner, Dumarests, Hoffnung, einen Hinweis auf die Erde zu finden? »Earl!« Ein Schrei durchschnitt die Stille. »Earl, um Gottes willen! Nein! Nein!« Dumarest erkannte Embiras Stimme und reagierte sofort. Mit der Waffe im Anschlag rannte er zu den anderen. Sufan Noyoka und Marek hatten Mühe, das Mädchen festzuhalten. »Embira!« Dumarest lief zu ihr, berührte ihr Gesicht, ihre Kehle. Es war keine Zeit mehr für Medikamente ‒ die Kontraktionen ihrer Muskeln drohten die Knochen zu brechen und Sehnen zu verzerren. Dumarest drückte die Halsschlagader zu, das Mädchen wurde sofort bewußtlos. »Was ist geschehen?« »Ich weiß nicht.« Sufan Noyoka rieb sein Gesicht. Die Fingernägel des Mädchens hatten häßliche Spuren hinterlassen. »Sie muß einen Anfall bekommen haben. Ich war wach und wollte etwas zu essen zubereiten, als sie plötzlich durchdrehte.« »Nicht durchdrehte«, sagte Pacula. »Ich holte gerade Wasser, als ich sie schreien hörte. Den Rest kennen Sie.« Dumarest sah zu Cognez. »Marek?« »Ich habe gedöst und bin aufgewacht, als sie schrie. Su-
fan hielt sie fest ‒ vielleicht hat sie deshalb geschrien.« »Eine Lüge! Es war so, wie ich sagte.« Noyokas Stimme wurde aggressiv. »Wieder so ein Spaß von Ihnen, Marek? Ich kann Sie nur warnen ‒ meine Geduld ist am Ende ...« »Schluß damit«, sagte Dumarest scharf. »Warum waren Sie wach, Sufan?« »Warum?« Der Mann blinzelte. »Weil ich genug geruht hatte, vermutlich.« »Hat Sie nichts geweckt? Kein Geräusch?« »Nein.« »Pacula, halten Sie Beruhigungsmittel bereit, Embira könnte sie benötigen, wenn sie erwacht«, sagte Dumarest. Er blickte zu dem Mädchen, das sich unruhig bewegte. Es lag da wie eine zerbrochene Puppe, der Atem ging unregelmäßig, das Gesicht war von einer ungesunden Farbe überzogen. Als Dumarest Embira berührte, zitterte sie, hob die Lider und lächelte. »Earl, ich habe geträumt.,. Woher wußten Sie das?« »Wußte was?« »Daß ich Sie an meiner Seite haben wollte, wenn ich erwache. Etwas zu trinken, bitte.« Sie schluckte ein paarmal, als Dumarest ihr das Gewünschte reichte. Mit einem feuchten Tuch reinigte Dumarest ihr das Gesicht. Pacula kümmerte sich um Usan Labria. Die kranke Frau stand auf wackligen Beinen, ihre Wangen waren eingefallen, auf der Unterlippe hatte sich etwas Blut gesammelt. »Sie sind krank, Usan, Sie sollten ruhen.«
»Ich sterbe, Earl, und wir beide wissen es. Wenn die Drogen nicht mehr wirken, und ich habe nicht mehr viele, komme ich in die Hölle. Tun Sie mir einen Gefallen ‒ eine Kugel, ein Messer ... Sie wissen, was zu tun ist.« »Sie töten, Usan? Nein.« »Warum nicht? Warum versagen Sie mir diese Gnade?« »Wenn es sein müßte, würde ich es tun, aber Sie haben zuviel Courage, um um den Tod zu betteln. Was ist los? Wo bleibt der Überlebenswille?« »Falls ich hier noch einmal davonkomme, dann nur, indem Sie mich tragen, Earl. Und dann sind da noch die Wolke und die Reise nach Pane ‒ wie soll ich die Chirurgen bezahlen ‒ mit Nebel?« »Da könnte noch etwas zu finden sein.« »In dem Nebel? Vielleicht.« Sie schluckte eine Tablette, dann wandte sie sich an Sufan. »Wann suchen wir?« »Später, Usan, wenn ich etwas gegessen habe. Dann werde ich ...« »Nicht Sie, Sufan, ich. Ich muß die Erste sein ‒ Sie werden mir das nicht versagen?« »Es könnte gefährlich sein«, sagte Dumarest. »In diesem Fall muß ich sogar zuerst gehen ‒ was habe ich zu verlieren? Earl, bereiten Sie alles vor.« Dumarest bastelte aus Seilstücken eine lange Leine, die er der Frau um die Hüften band, dann trat Usan aus der Säulenhalle heraus und ging auf den Nebel zu. Kurz darauf war sie verschwunden; Dumarest hatte sich das andere Seilende um ein Handgelenk gebunden. »Eine mutige Frau«, sagte Marek.
Der Nebel hatte sich hinter der Frau geschlossen. Dumarest spürte ein Ziehen an der Leine ‒ sie war plötzlich gespannt. Sanft zog er daran, ein zweites Mal, dann fiel das Seil zu Boden. Jetzt konnten sie nur noch warten. Dann kam Pacula herüber. »Wie lange wollen Sie sie noch draußen lassen? Es ist schon Stunden her.« »Gehen Sie zurück zu Embira«, sagte Dumarest. »Sie schläft, die Tabletten ...« »Gehen Sie zu ihr zurück!« Dumarest blickte auf das Seil, das ruhig am Boden lag. Wenn Usan etwas gefunden hatte oder etwas überprüfte, mußte sie sich bewegen, und die Schnur würde diese Bewegung mitmachen. Aber es war viel Zeit vergangen, und Usan konnte irgendwo bewußtlos oder tot liegengeblieben sein. Dumarest begann die Leine einzuziehen. Er spürte keinen Widerstand, bis das Ende schließlich in Sicht kam. »Sie ist verschwunden!« rief Sufan ungläubig. »Earl, Usan ist fort!« »Ich werde sie suchen«, sagte Dumarest.
16. Kurz darauf hatte er eine Schnur um die Hüfte, Marek hielt das andere Ende, das außerdem noch an einer Säule befestigt war. Unter seinen Füßen gab der Boden etwas nach, führte sanft abwärts, während Dumarest einen Schritt vor den
anderen setzte. Eine Art Schale oder Schüssel, in die er da ging? Warum war ihnen das vorher nicht aufgefallen? Um ihn herum wurde der Nebel dichter. Er roch ein wenig, aber nicht unangenehm, Dumarest brannten für Minuten die Augen, aber das verging so schnell, wie es gekommen war. Er hatte erwartet, blind in dem Nebel umherzutappen, aber während er sich vorwärtsbewegte, schien der Nebel sich vor ihm zu öffnen, und Dumarest konnte immer ein paar Meter weit sehen. Der Boden war weich, fühlte sich unter seinen Stiefeln fast wie ein fester Schwamm an. »Usan!« Der Nebel dämpfte seine Stimme. »Usan!« Dumarest hatte die Orientierung bereits verloren ‒ die Frau zu finden, würde reine Glückssache sein. »Usan!« Eine alte, kranke Frau, die aber mehr Mut als die meisten anderen gezeigt hatte. Kalin war so gewesen, Kalin, die besessen hatte, was Usan sich am meisten wünschte ‒ einen jungen, gesunden Körper, den sie als Gast bewohnte. Sie hatte das Geheimnis gekannt, das jetzt Dumarest mit sich herumtrug, sie hatte es ihm damals anvertraut. Kalin ‒ konnte er sie jemals vergessen? Und dann plötzlich war sie vor ihm. »Earl, mein Liebling! Mein Geliebter ‒ ich habe so lange gewartet,« Sie kam aus dem Nebel auf ihn zu, ihr Haar eine scharlachrote Flamme, große Augen, leicht geöffnete Lippen, Hände, die Dumarest an den Schultern faßten. Er spürte den Druck ihres Körpers, ihre sinnliche Wärme. »Earl, Liebling!«
Er spürte die Berührung ihrer Lippen, die Formen ihres Körpers ‒ genauso erinnerte er sich stets an sie, aber Kalin war tot. Kalin, die echte Kalin, nicht aber die hübsche Schale, die sie getragen hatte. »Komm, Earl.« Sie nahm ihn an der Hand, führte ihn in einen Raum, in dem ein flaches, großes Bett und Vasen mit herrlichen Blumen auf teuren Teppichen standen. Aus Richtung eines offenen Fensters erklangen Vogelstimmen. »Ruhe aus, mein Liebling, aber zuerst ...« Sie küßte ihn verlangend. Dumarest schauderte es, er holte tief Luft. Er spürte, wie er der Versuchung langsam nachzugeben drohte, wie ... »Stimmt etwas nicht, Earl?« Die Frau sah ihn mit Augen an, in denen Sterne funkelten. »Earl, erinnerst du dich nicht an mich?« Nur zu gut und zu genau. Dumarest musterte sie genauer, sah sich um ‒ alles hier wirkte echt. Er nahm eine Blume aus einer Vase, zerdrückte sie, die zerdrückte Blüte fiel zu Boden. »Earl?« »Nein«, sagte er. »Nein!« Da war er wieder von Nebel umgeben. Wie Rauch von einem Feuer umwallte er ihn. Der Rauch erinnerte ihn an seine Kindheit, als er über glühender Asche gehockt und Wildbret gebraten hatte. Damals hatte er eine Lektion gelernt, die in sein Gedächtnis eingebrannt war: Friß oder stirb, töte oder verhungere, überlebe oder gehe unter. Seine Kindheit war keine glückliche Zeit gewesen. Aber die Erde war seine Heimat. Die Erde!
Der Nebel teilte sich, und Earl stand auf einer Wiese. Er spürte weiches, sattes Gras unter seinen Füßen, und Bäume rauschten leise im Wind. Sekunden später ging er unter ihnen entlang, und die Wipfel bildeten eine Kuppel über ihm. Er steckte sich Blätter in den Mund, preßte herrlichen Saft aus ihnen heraus. Die Bäume wichen, er kam auf eine Lichtung, über die ein Bach floß, an dessen Ufern Weiden standen. Das Rauschen des Baches war eine herrliche Musik in der warmen, würzigen Luft. Ein blauer Himmel überspannte das Gelände, in dessen Mitte ein narbiger Mond hing. Seine Heimat! Er war zu Hause! Nicht das, was er in seiner Kindheit erlebt hatte, sah er hier ‒ die Zerstörungen, die wilden Bestien, die Armut und das Barbarentum der wenigen Menschen ‒ nein, das war die Erde, wie die richtige Erde sein sollte. Warm und freundlich und voll schöner Dinge. Ein Paradies! Das einzige, das es je gab oder geben konnte. »Es gefällt dir?« Die Stimme überraschte ihn. Eine Gestalt in einer braunen Kutte erhob sich vom Bachufer. Das Gesicht war durch eine Kapuze verdeckt, die Hände steckten in den weiten Falten des Umhangs. »Wer sind Sie?« »Ein Freund ‒ ein geneigtes Ohr, ein Mund, der reden kann. Jeder Mensch braucht einen Freund, Earl, jemand, der ihn versteht.« »Das ist die Erde? Kein Irrtum?« fragte Dumarest.
»Das ist die Erde, Earl. Ihre Heimat, die Welt, auf der Sie Mensch sein können. Nur auf diesem Planeten können Sie sich jemals völlig wohl fühlen. Sehen Sie sich um ‒ alles was Sie erblicken, ist ein Teil von Ihnen: das Gras, die Bäume, die Geschöpfe, die fliegen, laufen oder schwimmen. Das Wasser, der Mondschein. Nur hier können Sie absolute Erfüllung und Glück finden, Earl.« Ein unbeschreibliches Gefühl, wie Dumarest es noch nie gekannt hatte, durchströmte ihn; ein Rausch übermächtigen Vergessens und unendlicher Liebe, der ihn veranlaßte, zu Boden zu sinken, seine Hände mit Erde zu füllen und durch die Hände rinnen zu lassen. Die Erde ‒ seine Heimat! Bald würden die Tage kürzer werden, der Winter würde Schnee und Kälte bringen. Er, Earl, würde sich den Jahreszeiten anpassen, würde säen und pflanzen und ernten, würde andere Menschen finden, eine Frau und Kinder haben ‒ die Einsamkeit war vorbei. »Earl!« Er runzelte die Stirn, als er seinen Namen hörte. Wer könnte ihn hier rufen? »Earl, ich brauche Sie, bitte helfen Sie mir, Earl!« Eine gequälte Frauenstimme, die Angst verriet ‒ etwas, das in dieser Welt keinen Platz hatte. »Um Gottes willen, Earl, wo sind Sie? Antworten Sie!« Eine Bewegung ‒ Derai? Aber das Haar war golden, nicht silbern, und die Augen waren blind. »Embira!«
Sie kam aus dem Nebel auf ihn zu, mit ausgestreckten Armen. Um ihre Mitte war eine Schnur geschlungen. Dumarest bemerkte, daß er keine mehr trug. Wann hatte er sich davon befreit? »Earl?« Ihre Hände ergriffen die seinen. »Earl, Gott sei Dank! Wir haben Stunden auf Sie gewartet. Ihre Schnur wurde durchgeschnitten, und ... Earl, lassen Sie mich nicht allein.« »Das werde ich nicht, Embira.« Er drehte das Mädchen sanft um, nahm ihre Schnur auf und zog dreimal daran. Als Antwort kam ein Zug zurück. Sie setzten sich in Bewegung. Am anderen Ende warteten Marek, Pacula und Sufan. »Sie hat Sie also gefunden«, sagte Marek erleichtert, als sie heran waren. »Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben ...« »Was haben Sie gefunden, Earl?« unterbrach Sufan ihn. »Woraus besteht der Schatz von Balhadorha?« Dumarests Antwort war nur ein Wort: »Tod!« * »Tod? Was heißt das? Haben Sie nicht etwas unter dem Nebel gefunden? Kunstgegenstände, Edelsteine, irgendetwas?« »Ich fand alles, was die Legende verspricht ‒ Reichtum ohne Maßen, Freuden ohne Ende, die Antworten auf alle Fragen, die Lösungen aller Probleme. Es ist alles da in dem Nebel. Die Gerüchte haben nicht gelogen ‒ alles,
was man sich erhoffen konnte, ist dort ‒ aber zu seinem Preis.« »Dem Tod.« Pacula zitterte. »Earl, was ist das da?« »Ein Symbiont.« »Lebendig?« fragte Marek ungläubig. »Nach so langer Zeit?« »Die Zeit bedeutet in dem Nebel etwas anderes. Eine Stunde wird zur Minute. Der Nebel lebt, er nimmt etwas vom menschlichen Körper, etwas Blut, Knochenmark, eine Gefühlsaura, aber für diese Stoffe gibt er etwas zurück. Jeder Gedanke, jeder Wunsch wird Wirklichkeit. Der Besucher wird in einer Welt der Illusionen gefangengehalten, die so real erscheint, daß es unmöglich ist, zu entkommen.« »Aber Sie entkamen, Earl.« »Mit Embiras Hilfe, Pacula. Wenn sie mich nicht gesucht hätte, wäre ich immer noch da drin. Keine Leine hält einen mehr, man wirft diese Fesseln freiwillig ab.« »Earl, was ist mit Usan Labria?« »Wir lassen sie dort.« Er dachte an die gebrechliche Frau. Sie lag im Zentrum des Nebels, ein fremder Organismus kümmerte sich um sie, nahm ihr Schmerzen und Ängste, gab ihr dafür alles, was sie sich wünschte ‒ einen jungen Körper, Liebhaber, herrliche Paläste, Kleider ‒ sie würde glücklich sein. Was mehr konnte das Leben ihr noch bieten? »Wir haben keine Wahl, wir müssen zurück«, sagte Dumarest. »Sie dort herauszuholen, wäre grausam. Sie wäre tot, bevor wir die Hichen-Wolke verlassen haben,
ohne Geld hat sie zudem keine Chance. Jetzt ist sie glücklich. Um Gottes willen, machen wir uns auf den Rückweg.« Dumarest musterte die anderen, während Pacula sich um Embira kümmerte. Beide waren reisefertig. Sufan Noyoka trat noch einmal an den Rand der Säulenhalle, atmete schwer, warf einen letzten Blick auf den Schatz, dem er sein Leben gewidmet hatte, und trat dann mit ruhigem Gesicht den Rückzug an. Die beiden Frauen folgten ihm. »Es ist also vorbei, Earl.« Marek zuckte die Schultern, rückte sein Gepäck und die Waffe zurecht. »Zumindest für jetzt, denn ich wette, daß Sufan hierher zurückkehren wird. Nichts wird ihn davon abhalten, und Freunde werden ihn unterstützen.« »Hat er noch welche?« »Ich meine das allgemein. Der Ky-Clan ist keines Menschen Freund, aber man wird sich sehr dafür interessieren, was Sufan erzählt. Diesen Ort hier kann man gebrauchen, man wird gern alles untersuchen und Noyoka auf eine zweite Expedition schicken.« Um den Nebel zu untersuchen, um eine neue Waffe in die Hand zu bekommen, um die Menschheit zu beherrschen. »Wird der Ky-Clan ihn überhaupt anhören?« »Warum nicht? Da bestehen alte Verbindungen. Hat er Ihnen das nicht erzählt? In den Labors, wo ich ein Heilmittel für meine Frau und mein Kind suchte, haben wir uns kennengelernt. Er suchte dort auch um Rat nach.«
Ein Mitarbeiter seiner Feinde ‒ kein Wunder, daß sie nach Chamelard und darüber hinaus verfolgt worden waren. Man hatte das Schiff in der Wolke verloren, aber man würde auf sie warten ... »Earl?« »Nichts«, sagte Dumarest. »Folgen wir den anderen.«
17. Timus Omilcar kam angerannt, als sie Stunden später durch die Mauer traten. Er keuchte, Schweiß rann ihm über das Gesicht. Seine Stimme dröhnte durch die Luft, als die kleine Menschengruppe vor der Mauer stehenblieb. »Ihr seid zurück! Gott sei Dank dafür! Ich wollte schon alle Hoffnung aufgeben. Was ist geschehen? Wo ist der Schatz?« »Es gibt keinen Schatz«, sagte Marek. »Keinen, den wir forttragen könnten, und nichts, was Sie sich erhofft haben.« »Nichts? Überhaupt nichts?« Timus sah von einem zum anderen. »Wo ist Usan?« »Wir haben sie zurückgelassen, es gab keine andere Wahl«, sagte Pacula. »Immerhin hat sie, als einzige von uns, was sie sich erhofft hatte.« »Nein«, sagte Dumarest. »Nicht als einzige. Auch Sie hatten Glück.« »Glück? Inwiefern?«
»Sie suchten Geld, um Ihre Tochter zu finden. Ist Ihnen nicht klar geworden, daß sie neben Ihnen steht?« »Culpea? Nein! Wo ...« Sie wandte sich um, starrte auf das Mädchen. »Embira? Unmöglich!« »Wirklich?« Dumarest trat näher. Sufan Noyoka wich etwas zurück und nestelte an seinem Handgelenk, wie Dumarest bemerkte. »Denken Sie einmal nach ‒ wer war in der Nähe, als Sie sie verloren? Sie sagten, daß Sufan Noyoka in der Gegend gewesen ist. Haben Sie damals seinen Gleiter durchsucht?« »Nein, natürlich nicht. Er würde nie ... Earl, sie ist zu alt!« »Langzeit«, sagte er. »Unter dieser Droge alterte das Mädchen an einem Tag um einen Monat. Sehen Sie sich die Arme an ‒ die Ellbogen sind vernarbt von der intravenösen Ernährung. Und bedenken Sie, was Sie empfanden, als Sie sie das erstemal sahen. Schauen Sie in einen Spiegel! Sie könnten Schwestern sein, aber die Verwandtschaft ist enger ‒ sie ist Ihre Tochter.« »Das ist albern«, sagte Sufan Noyoka wütend. »Weshalb reden Sie so, Earl? Was haben Sie vor, was wollen Sie tun?« »Sie bestreiten das?« »Natürlich. Höre nicht auf ihn, Pacula. Du kennst mich seit Jahren. Gilt dir das Wort eines alten Freundes weniger als das eines Abenteurers?« »Ich weiß nicht, ich, wie kann ich sicher sein?« »Wir werden im Schiff Tests durchführen, Sufan weiß, wie man so etwas macht. Er hat Biologie-Kenntnisse, und
wir können die Sache so oder so regeln.« »Sie sind verrückt ‒ woher sollte ich so etwas können?« »Hat es Ihnen der Ky-Clan nicht gezeigt? Waren Sie nicht deshalb in seinen Labors? Bestreiten Sie es nicht, Marek hat Sie dort gesehen. Nun?« »Ich brauchte einen Rat; es hatte etwas mit Balhadorha zu tun. Earl, ich warne Sie; schweigen Sie, oder ...« »Oder Sie töten mich wie auch Jarv Nonach? Denn Sie mußten ihn töten ‒ er wollte abfliegen, und das konnten Sie nicht zulassen. Es war ganz einfach ‒ etwas Gift in seine Parfümflasche, und wie konnte man Ihnen jemals eine Schuld geben. Und jetzt, da Sie wissen, was sich in der Stadt befindet ‒ wer muß noch alles sterben? Pacula? Das ist nicht nötig. Marek? Vielleicht, nachdem er Sie hinausgeführt hat, dann den Ingenieur. Die einzige, die Sie wirklich brauchen, ist Embira ‒ das Mädchen, das Sie gestohlen haben und das in den Schell-Peng-Labors verändert wurde«, fügte Earl bitter hinzu. »Geblendet, unter Langzeit ausgebildet, künstlich gealtert, ihrer Kindheit beraubt ‒ und Sie nennen sich einen alten Freund!« »Du warst es!« fauchte Pacula wild. »Sufan, du Ungeheuer!« »Er lügt, begreifst du das nicht? Er lügt ‒ warum sollte ich so etwas tun?« Statt einer Antwort deutete Dumarest auf die Stadt. »Dafür, für den Traum Ihres Lebens. Es war eine Wahnidee, von der Sie nie mehr loskamen. Sie brauchten das Mädchen wegen seiner genetischen Besonderheiten, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Er konnte im Dunkeln
sehen, nicht wahr Pacula? Was konnte er sonst noch? Sufan hatte eine Vermutung, und der Ky-Clan bestätigte sie. Sie sagten ihm, was er tun mußte, um das Mädchen als Navigator durch die Hichen-Wolke auszubilden. Vor acht Jahren. Marek, wann lernten Sie Sufan kennen?« »Vor etwa neun Jahren, Earl. Ja.« »Das reicht«, sagte Sufan Noyoka. Seine Hand kam aus seiner Jacke, Metall blitzte auf. Ein kleiner Strahler, der ausreichte, um zu töten. »Ein Fehler, Earl. Ich war zu sorglos. Ich hätte Sie auf Chamelard zurücklassen sollen.« »Sufan, soll das etwa heißen ...« »Aber natürlich, meine liebe Pacula. Earl ist gerissen und hat die Wahrheit erraten, aber wozu die Aufregung? Was ist ein einziges Kind gegen das wert, was wir gefunden haben? Und sie ist ja hier, ein wenig behindert zwar, aber mit einem einzigartigen Talent.« Er trat zur Seite, als Pacula ihn ansprang, und schlug mit dem Strahler zu. Zuckend lag die Frau am Boden. »Eine Bewegung, Earl, und ich schieße. Nicht, um Sie zu töten, nein, aber so, daß Ihre Beine erledigt sind. Ja, das sollte ich vielleicht vorsichtshalber tun.« Die Waffe bewegte sich ein wenig. »Nein, Sufan, das können Sie nicht!« rief Marek. »Sie wollen mich hindern? Ich brauche Sie, Marek, aber es geht notfalls auch ohne Sie. Timus, bleiben Sie, wo Sie sind ‒ und denken Sie immer an den Schatz ‒ was ist das Leben eines Menschen gegen das, was sich in dieser Stadt befindet? Ich habe Reichtümer versprochen, und Sie
werden sie bekommen. Der Ky-Clan kann großzügig sein, wenn es in seine Pläne paßt! Und jetzt ... Nein!« Zu spät bemerkte er seinen Fehler, nicht auf Dumarest geachtet zu haben. Sekundenbruchteile, mehr brauchte Dumarest nicht. Seine Hand glitt zum Messer, Stahl blitzte auf, Sufan schrie, schoß, der Schuß traf Dumarest aber nur an der Schulter. Dann lag Sufan am Boden. Er würde keine Schlechtigkeit mehr begehen können. »Earl!« »Alles in Ordnung«, sagte Dumarest und tastete seine Schulter ab. »Kümmern Sie sich um Pacula.« Sie stand auf, als Marek ihr half, die Schläfe durch einen häßlichen blauen Fleck verunziert. Ihre Hände griffen nach dem Mädchen. »Culpea, mein Kind!« »Earl?« Timus Omilcar blickte auf den Toten. »Ich denke, wir können hier nichts mehr tun«, sagte er. Dumarest nickte. »Gehen Sie zurück ins Schiff. Wir starten, sobald das Mädchen ausgeruht ist.« Fort und durch die Wolke; das Schiff würden sie verkaufen, das Geld untereinander aufteilen. Timus würde seiner Wege gehen, die anderen würden nach Teralde zurückkehren, auf ihr Land, zu ihren Freunden. Dumarest selbst würde weiterziehen. Er nahm sein Messer an sich. Sufan Noyoka war tot und mit ihm die unmittelbare Gefahr durch den Ky-Clan ausgeräumt. Hatte er gewußt, wie wertvoll der Fremde ‒ Dumarest ‒
in Wirklichkeit war? Dumarest hielt es für möglich. Ein letztes Mal sah er zu der Stadt hinüber. Wie ein Juwel lag sie vor ihm ‒ eine Kathedrale oder ein Grab? Hatten jene Erbauer den Nebel angebetet? Waren sie schließlich seiner Anziehungskraft erlegen? Oder handelte es sich nur um ein ausgeklügeltes Gefängnis? Eine Unterkunft für ein Paradies? Dumarest wandte sich ab und ging in Richtung Schiff. In der Stadt gab es nur Illusionen, und die Erde, die wirkliche Erde, mußte noch gefunden werden.
ENDE
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Ruf der Unendlichkeit von
Roland Rosenbauer Seine Welt ist tot ‒ das All ist seine neue Heimat