Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Karl Heinz Weber Illusionen
Kriminalroman
Tötungsverb...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Karl Heinz Weber Illusionen
Kriminalroman
Tötungsverbrechen an einer jungen Frau – das ist für den neuen Leiter der MUK, Hauptmann Zschoppe, nun nicht gerade ein Start nach seinem Geschmack. Denn dieser Fall, bei dem – wie so oft – Geld im Spiel ist, verlangt ihm viel psychologisches Einfühlungsvermögen, eine etwas schwach entwickelte Seite seiner Persönlichkeit, ab. Im Blickfeld der Ermittlungen steht das zehnjährige Zusammenleben Ruth und Walter Felgners, das im nachhinein eine andere Wertigkeit erfährt. Den Kriminalisten will scheinen, daß Walter Felgner weniger den Verlust eines geliebten Menschen beklagt als die offenkundig werdende Brüchigkeit seines „Ehebildes“. Scheinharmonie und falsch verstandene Toleranz verführten seine Frau zu unlauteren Handlungen, die sie mit dem Leben bezahlen mußte. Noch ehe der Täter gestellt werden kann, zeichnet sich ab: Die Last moralischer Schuld zumindest wird Walter Felgner tragen müssen.
Karl Heinz Weber
Illusionen
Verlag Das Neue Berlin
2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1982 (1980) Lizenz-Nr.: 409-160/157/82 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 429 5 DDR 2,– M
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Walter Felgner hatte Glück. Als er um die Ecke bog, sah er auf der Parkstelle ein freies Taxi stehen. Es war ein schokoladenbrauner Wolga mit dem Kennzeichen IB 91-13 und der Betriebsnummer 282. Felgner hatte einen Blick für Zahlen und Zeichen. Er war Ingenieur und an Symbole gewöhnt. Sie prägten sich ihm ein, ohne daß er darauf aus war. Der Fahrer saß hinter dem Lenkrad und blätterte in der Abendzeitung. Vermutlich stand er schon eine Weile hier, was um diese Zeit ungewöhnlich war. Immerhin ging es auf 17 Uhr zu, Berufsverkehr also und Hochkonjunktur für Taxis. Als Felgner die Tür öffnete, drehte sich der Fahrer um. „Wo soll’s denn hingehen? Hab’ nämlich ’ne Bestellung.“ „Bahnhof Schöneweide.“ „Dann paßt’s. Genau meine Richtung.“ Er faltete sorgsam die Zeitung zusammen und legte sie neben sich. Er war ein breiter, klotziger Mann mit Halbglatze und kleinen Löckchen im Nacken. Ehe er anfuhr, spuckte er in die Hände, als stünde eine Schwerarbeit bevor. Der Wagen war auffallend sauber. An den Fensterscheiben klebten Nichtraucherzeichen, die durchkreuzten Zigaretten. Felgner empfand das wohltuend, er rauchte nicht. Seit einem Jahr nun schon nicht mehr. 8
Früher hatte er mitgehalten, meist aus Spaß und ohne besonderen Genuß. Wenn es hoch die Tassen hieß und die Sektkorken knallten, zum Beispiel. Oder auf Empfängen, wenn man herumstand und nichts mit den Händen anzufangen wußte. Auch Ruth zuliebe hatte er geraucht. Sie hatte ihm ein silbernes Etui geschenkt – mit eingravierten Initialen – und ein Gasfeuerzeug. „In deiner Stellung kannst du nicht immer eine zerquetschte Schachtel aus der Tasche ziehen. Was macht das für einen Eindruck.“ Na schön, das war einmal. Ruth pochte nicht mehr auf seine Stellung, und der letzte Sektkorken hatte Silvester geknallt. Der Fahrer fuhr ungeschickt. Er rückte viel zu dicht auf, mußte dann scharf bremsen und ruckartig die Spur wechseln. Vielleicht fuhr er auch nicht ungeschickt, sondern nur forsch und dreist. Aber Felgner war das genauso unangenehm. Gott sei Dank versuchte der Mann nicht, ein Gespräch zu beginnen. Felgner war für billige Konversation nicht zu haben, an diesem Abend gleich gar nicht. Es war angenehm warm im Wagen. Felgner hatte sich in die Ecke gekuschelt und die Beine von sich gestreckt. Er schaute hinaus, sah die Menschen den Bahnhöfen oder Haltestellen zustreben, manche mit Regenschirm, im Wintermantel schon einige, denn es war ein naßkalter, trüber Oktobertag. Über die Spree wälzten sich dichte Nebelschwaden, Lichter brannten in Häusern und Fabrikhallen, auch die Autos fuhren erleuchtet. Das düstere Wetter ließ den Abend noch vorzeitiger hereinbrechen und die Passanten mißmutig erscheinen. Walter Felgner sah das alles, sah es zugleich auch nicht. Die Bilder um ihn drangen nicht in sein Bewußtsein, andere schoben sich vor, die aus ihm selbst kamen – Erinnerungen an seine Kindheit: ähnliche Herbstabende wie dieser, die Dämmerstunden mit seiner Mutter, wenn 9
sie Geschichten erzählte und er neben ihr auf dem Sofa saß. Solche Bilder stellten sich häufiger ein in jüngster Zeit. Meistens amüsierte sich Felgner darüber, denn er war kein Träumer, der Vergangenem nachhing. Manchmal aber erschrak er und suchte nach Gründen. Am Alter konnte es nicht liegen. Er war siebenunddreißig, mein Gott, sagte er sich, da steht ein Mann fest in der Gegenwart. Er etwa nicht? Das sollte ihm erst mal jemand nachmachen: einen hochdotierten Posten aufgeben, auf eine blendende Karriere verzichten, finanzielle Einbußen hinnehmen, sogar Ehezwist, nur weil man spürte, woanders mehr leisten zu können und zufriedener zu sein. Ruth hätte das nie fertiggebracht. Sie hatte ja auch genug gezetert, als er beim Außenhandel gekündigt und die bescheidenere Stellung beim VEB ELMO angetreten hatte. Nun gut, Ruth war kein Maßstab. Aber auch viele seiner Kollegen waren über seinen Entschluß erstaunt gewesen, und Schwager Kurt, Ruths Bruder, hatte den Kopf geschüttelt. „Du büßt monatlich hundert Mark ein, bedenke das. Und das ist nur der Anfang. Dazu die vielen Vergünstigungen, die wegfallen, Auslandsreisen und so.“ Ja, Ruth und Kurt, die unzertrennlichen Geschwister. Obwohl Ruth seit zehn Jahren nun schon Felgner hieß, war sie immer eine Dortus geblieben. Eine vom DortusClan. Als er sie vor zwölf Jahren kennenlernte, in Brandhofen, ihrer Heimatstadt, da war Ruth ein lebenslustiges Mädchen, etwas verquer in ihren Ansichten zwar, auch etwas durchtrieben, aber gerade das verlieh ihr einen eigenartigen Reiz damals. Sie wirkte ungemein anziehend auf ihn. Ihr Lächeln war vieldeutig, ihre Haltung souverän und überlegen. Sie schien ihm das Pendant seiner selbst, und hieß es nicht immer, Gegensätze zögen sich an? 10
Das Gegensätzliche war geblieben, hatte sich sogar verstärkt, doch das Anziehende? Felgner verscheuchte seine Gedanken. Was kam einem nicht alles in den Sinn, wenn man in einem bequemen Auto saß. Das Summen des Motors, das monotone Rauschen in der Sprechfunkanlage, die quäkende Mikrofonstimme ab und an, der leise Nieselregen, der draußen niederging, das alles verleitete dazu. Sie waren jetzt in Treptow, überfuhren die breite dreispurige Brücke in Kolonne. Immer wieder bremste der Fahrer, zog das Lenkrad hart nach links oder rechts, und Felgner rutschte zur Seite. Vielleicht liegt es daran, ging es ihm durch den Kopf, daß wir keine Kinder haben. Vielleicht denke ich in letzter Zeit deshalb so oft zurück, weil mir die Wiederholung fehlt. Ich möchte meine Jugend in meinen Kindern wiederfinden, das wird es wohl sein. Aber konnte er sich vorstellen, daß Ruth, wie seine Mutter es getan hatte, an einem tristen Oktobertag mit einem Jungen oder Mädchen in der Stube saß, in diesem gespenstischen, unheimlichen und doch so heimischen Halbdunkel herbstlicher Dämmerstunden, und Märchen erzählte? Aber doch nicht Ruth, nicht die Madame Rüth. So nannte er sie manchmal – spöttisch oder boshaft, je nachdem. Von einem marokkanischen Kaufmann, der oft bei ihnen zu Gast gewesen war und Ruth den Hof gemacht hatte, stammte diese Bezeichnung. Nein, Madame Rüth würde sagen: Nun geht spielen oder erledigt die Hausaufgaben, ich habe zu tun. Er mußte zugeben, daß sie eine vortreffliche Madame Rüth gewesen war. Als sein Aufstieg beim Außenhandel begann und sein Haus – pardon, ihr Haus – immer öfter zum Treffpunkt ausländischer Gäste wurde, da hatte er ihr nahegelegt, ihre Arbeit aufzugeben und sich ganz den neuen Pflichten zu widmen. Er wuß11
te, daß sie sich in ihrem Beruf nicht wohl fühlte. Zwar verstand er das nicht, denn Fachverkäuferin für Schmuckwaren zu sein war ja nicht irgendwas, aber gut, ihr gefiel die Arbeit nicht, und sein Angebot kam ihr deshalb sehr gelegen. Ruth schmiß den fremden Schmuck in die Ecke, bildlich gesehen. Sie kümmerte sich verbissen um eigenen, turtelte und täubelte fortan, engagierte Frisösen, Kosmetikerinnen und Schneiderinnen, wurde die gnädige Frau, wurde Madame Rüth. Eine phantastische gnädige Frau, sie schien für diese Rolle geboren. Wenn sie im langen schwarzen Rock durch das Haus ging, nein schritt, wenn sie die Gäste begrüßte, ihnen ihre schmale, elegante Hand zum Kuß reichte und sie mit Charme sofort in ein Gespräch zog – auf deutsch natürlich, denn Fremdsprachen waren und blieben ihr nichts anderes als fremde Sprachen –, da stellte sie schon was dar, und da platzte er vor Stolz fast aus den Nähten. Aber das war vorbei. Es gab keine ausländischen Gäste mehr in ihrem Haus, es gab überhaupt keine Gäste mehr, seitdem er die Arbeitsstelle gewechselt hatte, es gab auch keine Madame Rüth mehr. Nur in ihren Auseinandersetzungen, wenig tief und kaum prinzipiell, gab es sie noch hin und wieder, wenn er, spöttisch oder boshaft, diese Titulation hervorkramte. Felgner wurde aufgeschreckt durch die breite Stimme des Fahrers: „Hier zwo-acht-zwo, ich höre!“ Aus der Sprechanlage quäkte es zurück, nun zwar deutlicher, aber deshalb nicht angenehmer: „Können Sie übernehmen, Schliersstraße zwölf, Felgner?“ Walter Felgner rutschte überrascht nach vorn. „Wann?“ fragte der Fahrer. „Für siebzehn Uhr.“ „Geht nicht. Habe eine Fuhre nach Schöneweide, anschließend eine Bestellung in Adlershof, Fernsehen.“ 12
„Danke. Ich rufe sieben-eins-sechs, bitte, sieben-einssechs, können Sie übernehmen – Schliersstraße zwölf, Felgner?“ Die Stimme wurde leiser, wieder undeutlich. Felgner saß für Sekunden wie erstarrt, ehe er fragte: „War das eben Schliersstraße?“ „Ja, warum?“ „Schliersstraße zwölf, Felgner?“ „Ja doch. Ist da was?“ Felgner schüttelte den Kopf. Nichts war da, gar nichts. Eine hysterische Ehefrau höchstens, die wieder mal auf und davon wollte. Die seine Warnung und Drohung nicht ernst nahm oder nun gerade dachte. Als Felgner vor einer Stunde überraschend zu Hause erschienen war – er hatte seine Tabletten vergessen –, da hatte ihn seine Frau fast mit einem Aufschrei empfangen: „Du bist noch da!“ Und dann, nur mühsam beherrscht: „Ich denke, du fährst nach Erfurt?“ „Na und? Mein Zug geht siebzehn Uhr zweiundzwanzig.“ Ruth wirkte aufgeregt, völlig durcheinander. Sie hatte einen Mantel an, den sie mit zitternden Fingern aufund zuknöpfte und wieder auf. „Ich habe mich so erschreckt“, sagte sie. „Das sieht man.“ Er war an ihr vorbeigegangen, die Treppe hinauf, ins Schlafzimmer, wo seine Tabletten lagen. Er litt seit einiger Zeit an Atembeschwerden, und die Betriebsärztin hatte ihm Prothanon verschrieben. „Macht euch einen schönen Abend“, hatte er gesagt, als er wieder gehen wollte. Sie war zusammengezuckt. Ganz deutlich hatte er gesehen, wie sie verschreckt ihre Augen aufschlug. „Na, mit Bettina meine ich doch.“ Bettina war die jüngste Tochter von seinem Schwager Kurt, und Ruth wollte sie die Nacht über zu sich nehmen. Das tat sie manchmal, wenn er auf Dienstreise war. 13
„Ach so, Bettina. Bettina kommt nicht. Das … das hat sich zerschlagen.“ Er war stehengeblieben und hatte sie von oben bis unten gemustert. Er hatte die Angst in ihrem Gesicht entdeckt. Dann dieses hochmütige Lächeln, mit dem sie stets ihre Verlegenheit zu verdecken pflegte. „Hör mal, Ruth. Denke nicht, daß ich mir alles bieten lasse. Wenn du vorhast, meine Abwesenheit auszunutzen …“ Er hatte nicht weitergesprochen und sie nicht geantwortet. Wie zwei Gegner standen sie einander gegenüber. „Du bist gestern erst fort gewesen. Es war spät in der Nacht, als du zurückkamst.“ „Es war halb zehn.“ „Egal. Ich habe bisher wenig gesagt zu deinen Ausflügen.“ „Was könntest du auch schon sagen.“ „Ich bin dein Mann.“ „Aber nicht mein Herr.“ Das war zuviel gewesen. Dieser hochnäsige Ton hatte ihn aufgebracht. Die Arroganz, die sie in ihre Haltung zu legen versuchte, das Unechte daran. Dazu ihre Nervosität. Das Bemühen, ihn schnell wieder aus der Wohnung zu bekommen. Er sah ihr an, wie sie sich über ihre Antworten ärgerte, daß sie viel lieber geschwiegen oder ihn besänftigt hätte, aber nicht anders konnte, als zu widersprechen. Sie waren inzwischen eingespielt auf solche Auseinandersetzungen. Das ging wie beim Pingpong. Jeder Schlag erforderte den Gegenschlag. Und wer den ausließ oder verpaßte, der büßte etwas ein. Überlegenheit, Ansehen, Recht. Recht vor allem. Recht haben wollen war das Entscheidende und nicht – im Recht sein. Felgner ließ sich wieder zurücksinken. Das Taxi stand vor einer Ampel, die Rot zeigte. Der Regen hatte sich verstärkt, gleichmäßig surrte der Scheibenwischer. Im 14
Licht der Scheinwerfer spiegelte sich nasser Asphalt. Die Fußgänger hatten die Kragen hochgeschlagen und zogen die Köpfe ein. Ruth wollte also wegfahren. Trotz allem wollte sie wegfahren. Mit einem Taxi, das sie vermutlich nach Lichtenberg brachte, wo sie gegen 18 Uhr einen Zug nach Brandhofen erreichen konnte. Eine Stunde später würde sie dort sein. Wurde sie am Bahnhof erwartet? Gab es dort vielleicht einen Er, zu dem sie regelmäßig fuhr? Walter Felgner konnte sich nicht entsinnen, sich diese Frage jemals so ernsthaft und eindringlich gestellt zu haben, wie er es jetzt tat. Natürlich war ihm der Gedanke schon manchmal gekommen. Aber Ruth hatte viele Verwandte in Brandhofen, und immer wußte sie etwas von ihnen zu berichten, wenn sie zurückkam. Damit hatte er sich zufriedengegeben. Er scheute sich davor, weiterzuforschen und vielleicht auf Probleme zu stoßen, die eine Entscheidung erforderten. Mochten die Dinge auch eine Zeitlang durcheinandergehen und sehr verworren erscheinen, irgendwie löste sich alles von selbst, war seine Meinung. In seiner Arbeit dachte er anders, ganz anders. Und jetzt, in diesen Minuten der Fahrt, dachte er auch privat ganz anders. Ich hätte schon viel eher eingreifen müssen, sagte er sich. Schon bei Gelb gab der Fahrer wieder Gas. Der Wagen ruckte an, rumpelte dann einige Meter und überquerte die Kreuzung. Die anderen schlossen auf, keilten ihn ein und bestimmten das Tempo. Angefangen hatte es im vorigen Jahr. Felgner hatte die erste Prämie in seinem neuen Betrieb bekommen, 220 Mark nur, aber er war stolz gewesen. Er erinnerte sich noch genau, wie er seiner Frau das Geld hingeblättert hatte. Es war in der Küche gewesen, Ruth wusch gerade ab. Da heulte sie plötzlich los, ließ das Geschirr einfach fallen und schloß sich im Schlafzimmer ein. Was 15
denn nun, dachte er. Natürlich ging er ihr nicht nach. Er fegte die Scherben zusammen und beendete den Abwasch. Da stand sie wieder vor ihm, gestiefelt und gespornt, einen Koffer in der Hand. „Ich muß mir über verschiedenes klarwerden“, sagte sie und war weg. Am nächsten Tag kam sie zurück. Sie strahlte und schwärmte von Brandhofen und ihren Verwandten dort. „Das mache ich mal wieder“, kündigte sie ihm an. Und machte es auch, in letzter Zeit sogar sehr häufig. Na, laß sie doch, hatte Felgner gedacht. Der eine rennt zum Fußballplatz, der andere sammelt Briefmarken. Ruth hat eben ab und zu ein bißchen Reisefieber. Doch Reisefieber war es wohl nicht allein, was sie immer wieder fortgetrieben hatte. Was sie wohl auch jetzt wieder forttrieb. Eine Frau, die nach zehnjähriger Ehe ihren Mann so vor den Kopf stieß und alle seine Ermahnungen in den Wind schlug, mußte andere Gründe haben, andere Triebe als nur Reiselust. Als das Taxi vor dem Fernbahnhof Schöneweide hielt, war Felgner wie benommen. Mechanisch bezahlte er, mechanisch nahm er das Wechselgeld entgegen, sagte „Danke“ und „Auf Wiedersehen“. Mit müden Schritten ging er in die Bahnhofshalle. Es war ein altes Gebäude, feucht, kalt und unfreundlich, das längst nicht mehr den Anforderungen entsprach. Viele Menschen drängten sich hier, auch sie naß und kalt, auch sie unfreundlich, so schien ihm jedenfalls. Felgner fühlte sich verlassen unter ihnen, unnütz. Und unnütz kam ihm plötzlich auch die Fahrt nach Erfurt vor. Unschlüssig blieb er stehen. Sollte er dort Konstruktionen überprüfen, während hier die Konstruktion seiner Ehe zusammenbrach? Er sah auf die Uhr. Noch war es Zeit. Noch konnte er einschreiten. Sollte er? Da fuhren sie nun zu ihrem ersten gemeinsamen Einsatz und kannten sich kaum. Hauptmann Zschoppe, der die 16
Abteilung erst vor wenigen Tagen übernommen hatte, und Evelyn Goldmann, die junge Kriminalistin im Leutnantsrang. Steif saßen sie im Dienstwagen – nebeneinander zwar, doch jeder in einer Ecke – und schwiegen. „Schliersstraße zwölf, Felgner“, hatte Zschoppe nur gesagt, aber nicht zu ihr, sondern zum Fahrer. Zschoppe hatte sie anrufen lassen und dann abgeholt. Breitbeinig stand er in der Tür ihres Büros, fordernd, die Arme in die Seiten gestemmt, das Gesicht verkniffen. Ohne ein Wort zu sagen, hatte er gewartet, bis sie mit allem fertig war, und war ihr dann durch die Gänge und Treppen nachgestampft, schwer und massig, mit offenem Regenmantel, der ihn umflatterte. Weil Zschoppe fast immer so daherkam, hatte man ihn den Fliegenden Holländer getauft. Kein sehr origineller Einfall, aber Spitznamen entstanden schnell in ihrer Abteilung. Wahrscheinlich hatte der dicke Fiedler ihn erfunden, der, wie überall, auch hier seine Nase vorn haben mußte. Evelyn Goldmann konnte ihn nicht besonders leiden. Sie mochte keine lauten Menschen. Das waren in ihren Augen Leute, die sich immer in den Vordergrund drängten. Die auch die Ellenbogen zu Hilfe nahmen, wenn die Lautstärke nicht reichte. Helmut Fiedler war so einer. Ein renommiersüchtiger, aufdringlicher Schwätzer. Zumindest zeigte er sich so im Kollegenkreis. Seine Arbeit machte er wohl recht ordentlich. Wie ordentlich, das würde sie ja bald erfahren, denn Leutnant Fiedler war bereits am Tatort. Der Wagen fuhr die Frankfurter Allee hoch und bog dann nach Südosten ab. Er fuhr ohne Sondersignal. Sie kamen ohnehin verspätet an. Das Dringlichste hatten Fiedler und der ABV schon veranlaßt, warum also jetzt den ganzen Verkehr durcheinanderbringen. Evelyn Goldmann hatte ihren neuen Vorgesetzten noch nicht in Aktion erlebt. Keiner ihrer Kollegen hatte 17
das. Sie wußten über Zschoppe nur, was er selbst von sich gesagt hatte, beim Einstand in der vorigen Woche, und was da geraunt und gewispert wurde. Ein ganz Scharfer, meinten die einen, andere bezeichneten ihn als Lahmarsch. Und der dicke Fiedler wollte sogar etwas von Strafversetzung gehört haben – Wein, Weib, Gesang und so. „Evelyn, zieh in Zukunft nicht so enge Pullover an“, hatte er gequatscht. Sie sah auf die Uhr. Es war 18 Uhr 30 durch. Die Alarmmeldung aus der Schliersstraße war vor einer guten Stunde eingetroffen, gerade als der Genosse Hauptmann zu einer Besprechung ins Ministerium mußte. Da sein Vertreter, Oberleutnant Blatt, noch mit einem anderen Fall beschäftigt war, wurde Fiedler die MUK übertragen. Nicht etwa, weil er tüchtiger als sie war, sondern weil er ein Mann war. Evelyn machte sich da nichts vor. MUK, die von Frauen geleitet wurden, wenn auch nur vorübergehend, waren Ausnahmen. Das kränkte sie natürlich, denn sie traute sich durchaus zu, das Richtige zu tun. Sie hatten den Außenbezirk erreicht. Links und rechts lagen gepflegte Häuser in gepflegten Gärten. Auch die Straßen waren gepflegt, selbst die mächtigen Kastanienbäume und Linden zu beiden Seiten. Es regnete noch immer, und die Herbstastern und Dahlien auf den Grundstücken senkten ihre Blüten, als hätten sie genug von der Nässe. Zschoppe war gebürtiger Thüringer, das hatte er beim Einstand gesagt, sah jedoch eher wie ein nordländischer Seefahrer aus. Das Gesicht voller Falten und Furchen, als hätten Sonne und Salzwasser ihre Spuren hinterlassen. Das schüttere Haar blond, die Augen blau, die Bewegungen bedächtig, ungelenk ein bißchen. Um Mund und Kinn schien sich Entschlossenheit zu spannen, auch Zähigkeit und Energie. Ein wortkarger Mann, der wirkte, als wäre er nicht sehr angenehm im Umgang. Evelyn 18
hätte ihn Mitte Fünfzig geschätzt. Er war aber um einige Jahre jünger. Zschoppe hatte eine kleine Flasche Nordhäuser Korn spendiert, aus der Gegend kam er wohl, und verwundert in die Runde geschaut, als die schon leer war, ehe er noch das „Prost, auf gute Zusammenarbeit!“ hatte aussprechen können. Anstandshalber hatte jeder sein leeres Glas erhoben und den Wunsch wiederholt, aber ein Knüller war dieser Beginn ja nun gerade nicht. Wie noch so manches danach nicht. Neue Besen kehren gut, lautet ein Sprichwort, aber Zschoppe kehrte, als gäbe es nicht auch schon Staubsauger. Er fing beim kriminalistischen Einmaleins an und hatte dadurch natürlich schon verspielt. Verschissen, sagte der dicke Fiedler. Und in diesem Falle mußte Evelyn Goldmann ihm recht geben. Es ging einfach nicht, daß man langjährigen und erfahrenen Kriminalisten beibringen wollte, wie eine Festnahme oder eine Vernehmung durchzuführen sei. Oder wie man jemand beschattete. Das hatten sie und ihre Kollegen sich schon an den Schuhsohlen abgelaufen. Meinte Zschoppe etwa, er könne da noch Neues bieten? Lediglich gewisse psychologische Momente, die er verstärkt ins Gespräch brachte, fand sie nicht uninteressant. Doch was hieß Gespräch? Zschoppe sagte einen Satz, dann wartete er die Reaktionen ab, nickte zu jeder und machte sich Notizen. Als gelte das alles nicht der akuten Verbrechensbekämpfung, sondern einer Dissertationsarbeit. Karl-Heinz Zschoppe auf dem Wege zum doctor kriminalis. Unterleutnant Lange, der Benjamin in der Abteilung, hatte gesagt: „Jedem amerikanischen Präsidenten werden nach Amtsantritt hundert freie Tage zugebilligt. Zum Eingewöhnen und so. Man ist in dieser Zeit sehr milde mit der Kritik. Billigen wir dem Fliegenden Holländer wenigstens die Hälfte davon zu.“ 19
„Aber sag das auch allen eventuellen Tätern, damit sie diese Regel respektieren“, hatte sie erwidert. Nun, der oder die Täter in der Schliersstraße hatten sie nicht respektiert. Und deshalb hieß es Farbe bekennen. Genosse Hauptmann, nun zeig mal, was in dir steckt. Tötungsdelikt an einer dreißigjährigen Frau, das war eine Eröffnung gleich mit Paukenschlag. Aber Tötungsdelikt war vorschnell gedacht. Oder falsch übermittelt. Die amtliche Bezeichnung lautete vorläufig: Tod unter verdächtigen Umständen. So jedenfalls begann Leutnant Fiedler seine Berichterstattung. Als der Wagen vor dem Grundstück Nummer zwölf in der Schliersstraße hielt, war er sofort aus dem Haus gekommen. Ihm folgte der Abschnittsbevollmächtigte, Polizeimeister Schütte. Er stellte sich vor und nahm Haltung an. Mal vor Evelyn, mal vor Zschoppe, offensichtlich konnte er nicht genau ausmachen, wer hier der Oberste war. Vielleicht irritierte ihn auch der abgeschabte Regenmantel des Hauptmanns. Fiedler kam über seinen Einleitungssatz nicht hinaus. Zschoppe winkte ab. „Sehen – hören – sehen, immer mit dem Sehen beginnen.“ Fiedler nickte beflissen. Dann huschelte er um Zschoppe herum und setzte sich an die Spitze. „Wenn ich vorangehen darf?“ Das Haus lag etwa fünfzig Meter von der Straße entfernt in einem Garten. Es war ein massives Holzhaus, wie es viele hier gab. Zweigeschossig, mit großem Balkon zur Vorderseite, darunter eine breite Veranda. Ein straffer Drahtzaun umschloß das Grundstück, ein gepflasterter Weg führte über eine große Rasenfläche, auf der alte Kiefern und Birken standen. Zschoppe schritt mit wehendem Regenmantel auf die Veranda zu, Evelyn Goldmann folgte ihm. Leutnant Fiedler zeigte den Weg, obgleich es da nichts zu zeigen gab, und Schütte bildete den Abschluß. 20
In der Veranda und der sich anschließenden Diele hielten sich mehrere Kollegen auf, die mit Kamera, Meßbändern und anderen Utensilien hantierten. Jeder zweite wollte Meldung machen, doch Zschoppe winkte wieder ab. Sein Gesicht war wie immer verkniffen. Aus der Menschengruppe löste sich ein kleines Männchen, bebrillt, weißhaarig, schüchtern. „Doktor Mau“, stellte er sich vor. Am liebsten hätte Zschoppe wohl auch ihm Schweigen geboten, kam Gott sei Dank aber nicht dazu. „Ich praktiziere zwar nicht mehr“, sagte Dr. Mau eifrig, „aber da Herr Felgner mich rief, ich wohne nebenan, konnte ich natürlich nicht nein sagen.“ „Wozu?“ fragte Zschoppe. Er sah Dr. Mau nicht an dabei, sondern betrachtete interessiert die geräumige Veranda. „Na, er klingelte bei mir und rief: ‚Kommen Sie schnell, Herr Doktor, meine Frau ist gestürzt.‘ Ich lief mit, so wie ich bin, in Pantoffeln. Da lag Frau Felgner … wenn Sie bitte sehen wollen.“ Er geleitete sie in die Diele, wo eine Treppe zur oberen Etage führte. Der Läufer darauf war verschoben, auf dem Absatz lagen umgeworfene Topfpflanzen. Vor der Treppe war mit Kreide der Umriß einer Gestalt skizziert. „Hier hat Frau Felgner gelegen. So, wie es eingezeichnet ist. Auf dem Bauch, die Beine angewinkelt, die Hände nach vorn ausgestreckt. Ich habe sie sofort untersucht, und da ich mir nicht ganz sicher war, habe ich den Rettungsdienst angerufen.“ „Von wo?“ „Vom Telefon dort neben der Garderobe. Herr Felgner war ja zu nichts fähig.“ „Worin waren Sie sich nicht ganz sicher?“ Zschoppes Frage klang wie heiseres Hundegebell, und das kleine Männchen zuckte erschrocken zusammen. „Entschuldigen Sie bitte. Ich bin einundachtzig und 21
habe mich von der Medizin schon lange zurückgezogen. Meiner Meinung nach war Frau Felgner tot, aber es gibt ja heutzutage so viele Methoden zur Wiederbelebung … und dann die näheren Umstände, nicht wahr. Wenn jemand die Treppe herunterfällt, noch dazu diese, acht Stufen sind es nur bis zum Podest, und steil ist sie auch nicht …“ Er stand da, als müsse er sich rechtfertigen. Evelyn empfand Mitleid mit ihm. Und da Zschoppe nichts erwiderte, sagte sie: „Vielen Dank erst mal, Herr Doktor. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.“ Das tat dem Mann sichtbar wohl. Immerhin hatte er für sein Alter couragiert und umsichtig gehandelt. Er ergriff dankbar ihre Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und verbeugte sich tief. „Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“ Hauptmann Zschoppe hatte seine Absicht, erst zu sehen und sich danach Berichte anzuhören, offenbar aufgegeben. Helmut Fiedler kam jetzt endlich zu seinem Rapport, und der drehte sich hauptsächlich um das, was Dr. Mau als die näheren Umstände bezeichnet hatte. Frau Ruth Felgner war die Treppe heruntergestürzt, darüber gab es keinen Zweifel, und sie war tot, darüber gab es ebenfalls keinen Zweifel. Zweifel allerdings bestanden, ob das eine das andere nach sich gezogen hatte. Leutnant Fiedler erläuterte seine Bedenken anhand der äußerlich sichtbaren Verletzungen am Körper der Frau, die wohl auch Dr. Maus Unsicherheit hervorgerufen hatten. „Wenn jemand die Treppe herunterfällt und bei Bewußtsein ist, wird er instinktiv versuchen, die Folgen des Sturzes zu mindern. Insbesondere wird er sein Gesicht schützen. Frau Felgner hat aber erhebliche Verletzungen am Kinn, an der Nase und den Augenbrauen. Das könnte bedeuten, daß sie im bewußtlosen Zustand gestürzt ist 22
und deshalb solche Schutzreaktionen ausgeblieben sind. Bemerkenswert ist, daß Frau Felgner auch Wunden am Hinterkopf hat, die kaum von dem Treppensturz herrühren dürften.“ Fiedler erklärte anschließend, welche Hinweise sich noch aus den bisher sichergestellten Spuren ergaben. „Dort auf dem Treppenabsatz hat Frau Felgner vermutlich mit einem kantigen Gegenstand mehrere Schläge gegen den Kopf bekommen. Sie ist daraufhin oder durch zusätzlichen Stoß gegen die Wand geprallt. Sie sehen rechts die markierte Stelle am Putz, wo wir Haare sowie Haut- und Blutspuren fanden. Danach ist sie die Treppe heruntergefallen – wenn nicht schon tot, so aber bestimmt ohne Bewußtsein. Andernfalls hätte sie, wie bereits erwähnt, nicht nur ihr Gesicht abgedeckt, sondern sich auch festzuhalten versucht. Spuren dieser Art fanden sich jedoch nirgends.“ Fiedler hatte fast druckreif gesprochen. Was er sagte, wirkte durchdacht und logisch aufgebaut. Evelyn Goldmann war beeindruckt, sein Vorgehen gefiel ihr. Sie nickte ihm anerkennend zu, was der aber vor aufgeregter Erwartung gar nicht bemerkte. Seine Aufmerksamkeit galt Zschoppe, dem Neuen. Was würde der sagen? Nichts sagte Hauptmann Zschoppe. Kein Lob, kein Tadel, keine Fragen. Er nickte nicht mal, sondern starrte unverwandt die Treppe an. Er musterte sie, maß sie mit Blicken, schätzte sie ab, als sei er Baumeister und müsse einen Entwurf für ihre Verlegung erarbeiten. Dann quetschte er endlich drei Worte heraus und deutete auf eine Spurenmarkierung auf der vorletzten Stufe. „Was war hier?“ „Ein Damenschuh. Frau Felgner muß ihn beim Sturz verloren haben.“ Zschoppe machte ein Gesicht, als glaubte er das nicht, als sei das geradezu unmöglich. „Wie war sie bekleidet?“ 23
„Schwarzer Rock, weiße Bluse, silberweiße Sandaletten.“ „Ich denke Schuhe.“ „Schuhe ist ein Oberbegriff, Genosse Hauptmann.“ „Mit Oberbegriffen arbeiten wir nicht. – Frau Felgner wollte demnach ausgehen.“ „Ausgehen oder, was wahrscheinlicher ist, Besuch empfangen.“ „Wieso wahrscheinlicher?“ Fiedler öffnete die Tür zum Wohnzimmer. „Deshalb, Genosse Hauptmann.“ Auf dem Tisch standen Kaffeegedecke für zwei Personen. Außerdem registrierte Zschoppe eine Konfektschale, symmetrisch angeordnet Kekse, asymmetrisch aus einer Packung Cabinet gezogene Zigaretten, eine geöffnete, aber noch volle Flasche Weinbrand, Marke Arat, zwei Kognakschwenker, ein Kerzenständer mit vier Kerzen. Nicht zu übersehen war eine Vase mit hellbis dunkelroten Rosen. Zschoppe trat näher, schnupperte und blickte dann in die Tassen und Gläser. „Dem Anschein nach heute nicht benutzt. Trotzdem: Fingerabdrücke sichern und dann ins Labor.“ „Schon veranlaßt“, sagte Leutnant Fiedler. Das Zimmer gab wenig her. Typische Serienmöbel in typischer Anordnung. An der Längsseite die übliche Anbauwand mit Schüben, Regalteilen und einem Glasaufbau, in dem Sammeltassen und verschiedene Biergläser standen. Gegenüber die ebenfalls übliche Sitzgruppe mit Couch, Tisch und zwei Drehsesseln, der Fußboden bedeckt mit Auslegeware. In der Ecke ein Farbfernsehgerät und daneben eine Hi-Fi-Stereoanlage. Die Wände waren mattweiß getönt, was zu den dunklen Möbeln und der bräunlich gemusterten Polstergarnitur gut paßte. Eine vierarmige Deckenleuchte, neben der Sitzgruppe eine Stehlampe. Zwei Fenster, übereck, die Übergardinen wa24
ren einfarbig blau wie auch der Fußbodenbelag. Zwischen den Fenstern eine wunderschöne Monstera. Gleich neben der Tür ein ungefüger, aber anheimelnder Kachelofen, der wohlige Wärme spendete. Zschoppe tappte durch den Raum, als müßte er Ostereier suchen. Nicht daß er Schubfächer herauszog oder Schranktüren öffnete, er schnüffelte. Am Fenster, hinter dem Fernseher, er betatschte die Sofakissen. Er betrachtete die Schallplatte, die aufgelegt war, und den Tonarm, der über der Plattenmitte hing. „Waterloo“, stellte er fest, „die Abbas. Eigentlich was für die Jugend.“ Evelyn hatte Lust zu widersprechen. „Wieso? Ich besitze die Platte auch.“ Er drehte sich um. „Habe ich etwas anderes gesagt?“ Sieh an, charmant konnte er also auch sein. Dabei hatte sich sein Gesichtsausdruck um keine Nuance verändert. Mürrisch, verkniffen, fast vorwurfsvoll sah er sie an. Dann wandte er sich an Fiedler. „Was sind oben für Räume?“ „Schlafzimmer, Bad und eine Abstellkammer. Das linke Bett, das der Ehefrau, ist nicht gemacht. Ich meine, es ist …“ „Nicht gemacht, ich verstehe das schon. Ein Bett machen bedeutet ja nicht, es machen, also herstellen, sondern es zurechtmachen. Das hat mir schon meine Mutter beigebracht.“ Fiedler schielte hilflos zu Evelyn, die den Blick erwiderte und vieldeutig die Schultern hob. Was für ein Gnatzkopf, unser Alter, sollte ihre Geste ausdrücken. Dann standen sie wieder in der Diele. Auf der Garderobe lag eine Handtasche, die Zschoppe hochnahm und öffnete. „Sie gehört Frau Felgner“, sagte der dicke Fiedler beherzt. „Ich habe sie mit dem Ehemann schon durchgesehen.“ „Und?“ 25
„Der übliche Frauenkram, ohne besondere Hinweise. Außerdem zweihundertzwanzig Mark in Scheinen und ein bißchen Kleingeld.“ „Kommentar des Ehemannes?“ „Er schien erstaunt, daß seine Frau so viel Geld bei sich hatte. Er ist ziemlich angeschlagen und reagierte eigentlich auf alles erstaunt.“ „Erstaunt?“ „Ich meine, auf alles, was nicht unmittelbar die Tat … was nicht direkt den Tod seiner Frau betrifft. Daß sie über zweihundert Mark bei sich trug und daß der Tisch gedeckt war, und auf die Schallplatte reagierte er ebenso erstaunt. Aber es brauchte seine Zeit, bis er begriff.“ „Was begriff?“ Armer Fiedler, dachte Evelyn, dir bleibt aber auch nichts erspart. „Daß seine Frau vermutlich Besuch gehabt hatte. Zumindest erwartet hatte. Daß eine Schallplatte aufgelegt war, die er nicht kannte. Daß das Bett seiner Frau nicht … zurechtgemacht war. Er verhielt sich wie ein Träumer, der immer wieder wachgerüttelt wurde und sich dagegen wehrte!“ Dann berichtete der Leutnant, was Felgner in einer ersten kurzen Befragung ausgesagt hatte: daß er, unterwegs zu einer Dienstreise, von einer Taxibestellung seiner Frau gehört habe und daraufhin umgekehrt sei. „Wann er hier zu Hause angekommen ist, weiß er nicht genau. Doktor Mau versichert, Felgner habe ihn nicht vor siebzehn Uhr fünfzehn geholt. Die Schnelle Hilfe traf erst um siebzehn Uhr fünfunddreißig am Tatort ein.“ Zschoppe nickte. Was er damit ausdrücken wollte, war unbestimmt. Es sah aber ein bißchen nach Enttäuschung aus. Wie jemand nickt, der etwas Befürchtetes nun bestätigt findet. Er zeigte auf den Telefonapparat. „Sind die Fingerabdrücke gesichert?“ 26
„Selbstverständlich, Genosse Hauptmann.“ „Dann möchte ich erst mit dem Arzt der Schnellen Hilfe sprechen, bevor ich Felgner vernehme. Wo steckt der eigentlich?“ „Herr Felgner wartet in der Küche.“ Karl-Heinz Zschoppe, achtundvierzig Jahre alt, zum zweiten Mal verheiratet und Vater von insgesamt drei Kindern, Kriminalist von der Pike auf und von ganzem Herzen, bekannte sich, seiner Frau und engen Freunden gegenüber zu fünf großen Schwächen. Vier davon betrafen nur sein privates Leben, eine auch den Dienst: Er konnte nicht herumreden, schwafeln, gefällig plaudern. Seiner Meinung nach vergeudeten die Menschen einen erheblichen Teil ihres einmaligen Lebens mit unnützen und überflüssigen Redereien. Ökonomie der Zeit hieß für ihn vordringlich: Ökonomie des Ausdrucks. Des schriftlichen sowohl wie des mündlichen. Er hielt es in dieser Hinsicht mit der Bibel: Dein Wort aber sei ja oder nein. In den Kollektiven, denen er bisher vorstand, und das waren nicht wenige, hatte er beharrlich, allerdings mit wechselndem Erfolg, versucht, auch seine Mitarbeiter an dieses Prinzip heranzuführen. Faßt euch kurz, Leute, so lautete seine wesentlichste und immer wiederkehrende Forderung. Zschoppe würde sie auch an diese neue Mannschaft stellen und seine Bemühungen ungebrochen fortsetzen. Einem anderen Personenkreis gegenüber, Bürgern, die zu ihm kamen, Zeugen, die er vorlud, bei Tatverdächtigen vor allem, die er zum Geständnis bewegen mußte, ließ sich sein biblischer Wahlspruch jedoch nur selten anwenden. Da war es an ihm, sich zu ändern. Er mußte aus seiner Haut herausschlüpfen, das alte Ego überwinden und zum gewandten Wortzauberer werden. Es fiel ihm schwer und gelang auch nur selten. 27
Als er die Küche betrat und Walter Felgner vor sich sah, wußte er, daß es ihm auch diesmal nicht gelingen würde. Der Mann schien von gleicher Sorte zu sein, einer, dem das Herz nicht auf der Zunge lag, der herausgelockt werden wollte. Seine eckige Stirn und die dichten Augenbrauen deuteten auf Ernst und Strenge, vielleicht sogar auf Eigensinn. Felgner war groß, doch ziemlich schmal, er hatte dichtes brünettes Haar, das er auffallend kurz geschnitten trug. Seine Miene wirkte verschlossen, zugesperrt, wie Zschoppe registrierte. Walter Felgner war aufgestanden. Er konnte sich kaum aufrecht halten und stützte sich auf den Tisch. Sein Gesicht war kreideweiß. „Behalten Sie doch Platz“, sagte Zschoppe, nachdem er sich vorgestellt hatte. Felgner hatte ein Glas Wasser vor sich stehen. Er nahm einen Schluck, strich sich mit der Zunge über die Lippen, die trocken und aufgesprungen schienen. Er stellte das Glas ab und stierte vor sich hin. Zschoppe hatte von dem Arzt der Schnellen Hilfe keinen gesicherten Befund erfahren können. „Der Körper weist sowohl Sturz- als auch Schlagverletzungen auf. Welche nun den Tod verursacht haben – wir müssen den Befund abwarten.“ Völlig richtig. Nur vor morgen früh würde nichts Exaktes vorliegen, wußte er. Auch die genaue Spurenanalyse nicht, die Auswertung der Fingerabdrücke und dergleichen. Aber bis dahin die Hände in den Schoß legen? Er durfte nicht abwarten. Er mußte zielgerichtete Fragen stellen. Doch wonach eigentlich? Ging es um Mord, um Totschlag im Affekt, ging es um Körperverletzung mit tödlichem Ausgang oder doch um einen Unfall? Für Felgner schien das klar zu sein, er sagte: „Ich bin zu spät gekommen. Ich konnte den Mord nicht mehr verhindern.“ 28
Er hatte leise gesprochen, mit matter Stimme. Als habe er sie absichtlich gedämpft, wie man neben einem Sarg spricht oder in einem Museum. Unwillkürlich paßte sich Zschoppes Baß dem an. „Sie meinen, daß Ihre Frau ermordet wurde?“ Felgner antwortete nicht. Er sah kurz auf, sah ihn überrascht an, senkte wieder den Kopf und starrte auf den Tisch. „Warum sind Sie umgekehrt, Herr Felgner?“ „Ich hatte Angst.“ „Vor wem?“ „Nicht vor wem, sondern um wen. Angst um Ruth hatte ich. Weil …“ Zschoppe wartete. Manchmal war Zuhören erfolgreicher, als forsch draufloszufragen. Ihm fehlten ohnehin die richtigen Worte jetzt. Felgner setzte seinen Satz nicht fort. „Ich verstehe das alles nicht“, sagte er. „Ich fasse das nicht. Das ist so unbegreiflich … Wir haben doch keine Feinde. Ruth hatte doch keine Feinde. Wer konnte ihr nur so etwas antun. Wir leben …“ Wieder wartete Hauptmann Zschoppe, daß der Mann weitersprach, und wieder vergebens. Felgner saß am Tisch, das Wasserglas vor sich, die Hände lagen auf den Knien, er blickte nicht hoch. „Warum hatten sie um Ihre Frau Angst? Warum sind Sie plötzlich umgekehrt?“ Zschoppe bemühte sich, warm und anteilnehmend zu sprechen. „Warum ich nicht nach Erfurt gefahren bin, sondern nach Hause? Ich kann es Ihnen nicht erklären, Herr Hauptmann. Es hätte keinen Sinn, es zu erklären. Man weiß nicht immer, warum man tut, was man tut.“ Das klang weise, fast philosophisch. Natürlich hatte Felgner recht. Nicht alles war erklärbar, noch weniger in Worte zu fassen. Trotzdem wiederholte Hauptmann Zschoppe seine 29
Frage: „Sie hatten Angst um Ihre Frau. Woraus resultierten denn Ihre Befürchtungen?“ Felgner schwieg eine Weile. Es hatte den Anschein, als würde er auch diesmal nicht darauf antworten. Doch dann sagte er: „Vielleicht gibt es in unserem hochempfindlichen Organismus einen nicht weniger empfindlichen Nerv, der das Böse vorausahnt. – Ich kann meine Handlung wirklich nicht begründen, Herr Hauptmann. Außer mit den Worten, daß ich Angst um Ruth hatte. Eine Angst, die sich ja nun in furchtbarer Weise bestätigt hat.“ Das nun wieder klang in Zschoppes Ohren gar nicht weise, sondern ausgesprochen schwülstig. Auf Wirkung ausgerichtet vielleicht sogar. Seine Erfahrung riet ihm, sich das nicht anmerken zu lassen. Er nickte, wartete einen Moment und sagte dann: „Ihre Frau hatte heute Besuch. Der Tisch ist für zwei Personen gedeckt. Wissen Sie, wen sie erwartete?“ Felgner hob die Schultern. Er saß noch immer vorgebeugt und stierte auf die Tischplatte. Sein Gesicht, soweit Zschoppe es betrachten konnte, drückte Ratlosigkeit aus und dann plötzlich wilde Verzweiflung. „Wenn ich das wüßte“, rief er erbittert, „dann hätte ich Ihnen den Namen längst genannt … dann säße ich nicht hier, sondern hätte den Kerl schon an der Gurgel.“ „Wußte Ihre Frau, daß Sie für zwei Tage auf Dienstreise gehen wollten?“ „Natürlich wußte sie das.“ „Seit wann?“ Felgner schüttelte den Kopf, enttäuscht, wie es schien. „Sie machen es sich zu einfach. Sie meinen, Ruth hätte das extra so eingefädelt. Der Ehemann geht auf Reisen, da kann der Liebhaber … Das wäre zu billig. Wir haben eine ordentliche Ehe geführt. Ich liebte meine Frau, und sie liebte mich. Jeder auf seine Weise, aber wir liebten uns.“ Er war immer leiser geworden und schluchzte jetzt 30
auf. Er drehte sich zum Fenster, um seine Tränen nicht zu zeigen, und wischte sich über die Augen. „Im März hatten wir unseren zehnten Hochzeitstag gefeiert … nein, begangen, ich will ehrlich sein. Wir feierten schon lange nicht mehr. Und da … bei solchen Gelegenheiten, man spricht über so vieles, da kamen wir auch auf Treue zu sprechen. Ruth hat mir geschworen, und ich habe ihr geschworen. Da gab es niemand in den zehn Jahren. Weder bei ihr noch bei mir.“ Warum sagte er das so unaufgefordert? Wohl, weil er es vor allem sich selbst sagen wollte. Weil ihn doch ein Verdacht quälte. Denn was bewies seine Feststellung schon. Auch wenn die Schwüre damals ehrlich waren – sie wurden im März geleistet, jetzt aber ging schon der Oktober zu Ende. Da lagen sieben Monate dazwischen, und was konnte in einem halben Jahr nicht alles geschehen? Karl-Heinz Zschoppe dachte an seine erste Ehe. Da hatte es keine sieben Monate gebraucht, um sie zu zerbrechen. Da hatten wenige Wochen genügt. Da war der andere plötzlich dagewesen, er kam, sah und siegte, so schnell konnte das gehen. „Sie und Ihre Frau haben doch sicherlich Bekannte oder Freunde, Herr Felgner. Wer von denen könnte heute nachmittag …“ „Wir haben keine Freunde, Herr Hauptmann. Und auch Bekannte haben wir nicht mehr. Das ist so gekommen im letzten Jahr, ich weiß auch nicht, wodurch. Uns besucht niemand … abgesehen von Kurt und Inge und den Kindern.“ Na also, immerhin schon etwas. Wenn jemand sagte, abgesehen von … war meistens etwas. In diesem Fall Kurt Dortus, der Bruder der Toten, Oberkellner von Beruf, dessen Frau Inge, Schwimmlehrerin, aber schon seit Jahren der Kinder wegen zu Hause, und die Kinder also. Drei waren es, erzählte Felgner. 31
Überhaupt war er nicht ganz so verschlossen, wie Zschoppe befürchtet hatte. Nicht durchweg wenigstens. Es gab Themen, über die er bereitwillig sprach. Zschoppe erfuhr, daß Felgner Ingenieur im VEB ELMO war, einem Betrieb der Elektroindustrie, der vorwiegend Exportartikel herstellte, und daß seine Frau lange Zeit als Fachverkäuferin für Schmuckwaren gearbeitet hatte, bis sie ihre Berufstätigkeit aufgab. Er wollte fragen, warum, denn Kinder hatten sie nicht, ob vielleicht eine Krankheit … aber dann ließ er es. Wenn es wichtig sein sollte, konnte man es nachholen. „Schildern Sie mir, was Sie wahrgenommen haben, als Sie nach Hause kamen. Versuchen Sie sich zu konzentrieren. Die geringste Kleinigkeit kann von Bedeutung sein.“ Die geringste Kleinigkeit! Warum nicht gleich die allergeringste. Es war schon ein Kreuz mit der Sprachökonomie. Felgner machte keine Anstalten, sich zu konzentrieren. Jedenfalls ließ er nichts davon erkennen. Er dachte nicht erst lange nach, sondern redete gleich los. „Ich kam ’rein, da lag Ruth vor mir. Genau unterhalb der Treppe. Sie bewegte sich nicht, antwortete nicht. Ich weiß nicht, ob sie noch geatmet hat. Ich bin gleich zu Doktor Mau ’rüber.“ Zschoppe war die Antwort zu ungenau. Zu grobmaschig. Wenn Felgners Aussage der Wahrheit entsprach, war er der erste am Tatort gewesen. Da kam es tatsächlich auf jede Kleinigkeit an. Was hatte er bemerkt, was gefühlt oder gedacht, als er seine Wohnung betrat? Man registriert doch Veränderungen, Besonderheiten, wenn man in eine gewohnte Umgebung kommt. Auch oder gerade, wenn alle Sinne angespannt sind. „Mußten Sie die Haustür aufschließen, Herr Felgner?“ „Nein, nur aufschnappen. Und das wunderte mich. Denn weil nirgends Licht brannte, nahm ich an, Ruth 32
wäre mit dem Taxi schon weggefahren und ich zu spät gekommen. Aber die Haustür war nicht zugeschlossen.“ „Sie schnappten sie also auf und betraten die Veranda. Dann öffneten Sie die Tür zur Diele und …“ „Die stand auf. Auch die Wohnzimmertür. Ich hatte nicht gleich Licht eingeschaltet und konnte von der Veranda bis ins Wohnzimmer blicken.“ „Im Dunkeln?“ „Das Wohnzimmer hat zwei Fenster und war dadurch heller als die Diele.“ „Ich verstehe. Und wann sahen Sie Ihre Frau?“ „Als ich Licht machte. Ich schaltete in der Veranda das Licht an, da sah ich sie liegen. Die Beine waren im Schatten, denn die Verandalampe beleuchtet nur einen kleinen Teil der Diele, den vorderen, wo die Treppe beginnt. Ich sah Ruths Kopf und die Schulterpartie und die ausgestreckten Arme.“ Wie genau er das wußte! Natürlich gab es so etwas. Gewisse Bilder und Details prägten sich einem manchmal überraschend deutlich und nachhaltig ein. Gerade damit rechnete er ja, deshalb sein minuziöses Vorgehen. Felgner schilderte dann wortreich: wie er auf seine Frau zugestürzt sei und sich über sie gebeugt habe; wie er immer wieder ihren Namen gerufen oder geschrien habe; wie er versucht habe, ihren Körper umzudrehen und da erst die Wunden entdeckte. „Da bin ich sofort losgerannt, Herr Hauptmann, ’rüber zu Doktor Mau.“ Zschoppe stellte sich die Szene vor. Er wollte sich in die Lage dieses Mannes versetzen. Hätte er nicht ebenso gehandelt, wenn nebenan ein Arzt wohnte? So ausführlich Felgner auch erzählte, ein genauer, bis ins einzelne gehender Bericht wurde es nicht. Da war viel Unbestimmtes eingeflossen, da hatten leere Worte herhalten müssen, um Unkonkretes zu verdecken. Absicht oder eine ganz natürliche Reaktion? Die Sekunden 33
vor einem Ereignis blieben oft exakter in Erinnerung als das Ereignis selbst. Diese Beobachtung hatte Zschoppe schon häufig gemacht. „Kommen wir noch mal auf Ihre Ankunft hier im Hause zurück, Herr Felgner. Sie betraten das Grundstück und sahen, daß nirgends Licht brannte. Ruth ist also mit dem Taxi weggefahren, denken Sie. Sie gehen durch den Garten und erwarten, daß die Haustür abgeschlossen ist. Zu Ihrer Überraschung ist das nicht der Fall. Sie öffnen die Tür und stehen in der Veranda. Sie schalten nicht gleich Licht ein. Sie bemerken, daß die zwei Innentüren weit geöffnet sind. Sie können bis ins Wohnzimmer blicken. – Was war in diesen Sekunden? Haben Sie irgendwelche Geräusche gehört?“ Felgner war seiner Schilderung aufmerksam gefolgt. Er hielt zwar den Kopf wieder gesenkt, aber an seiner Miene erkannte Zschoppe, daß er bei der Sache war. „Als ich die Haustür öffnete, schlug die Tür zum Keller zu. Vielleicht war das der Grund, warum ich nicht gleich Licht machte. Ich erschrak ein bißchen und horchte einen Moment.“ „Haben Sie noch etwas gehört? Schritte?“ „Nein.“ „Musik?“ „Musik? Ach, Sie denken an die Schallplatte. Nein. Der Apparat war gar nicht eingeschaltet, sonst hätte ich die erleuchtete Skala bemerkt.“ Der Mann muß also doch über eine gute Beobachtungsgabe verfügen, sagte sich der Hauptmann. Eine, die sogar scheinbar Nebensächliches registriert. Oder er hatte sich von Anfang an vorgenommen, scharf zu beobachten. Es war ja für Felgner keine gewöhnliche Heimkehr gewesen. „Haben Sie einen besonderen Geruch wahrgenommen? Fremden Zigarettenrauch, ein starkes Parfüm, Kaffeeduft?“ 34
„Nichts“, sagte Walter Felgner. „Die Rosen auf dem Kaffeetisch, könnten die aus Ihrem Garten sein?“ Zschoppe hatte ein großes Rosenbett vor der Veranda bemerkt, das noch voller Blüten stand. Felgner zögerte. Zschoppe hatte den Eindruck, daß er die beabsichtigte Antwort wieder zurückzog, herunterschluckte. War es ein Ja, ein Nein? Felgner wich der Frage schließlich aus. „Um Blumen hat sich immer nur Ruth gekümmert. Ich habe die gröberen Arbeiten im Garten erledigt.“ Zschoppe beließ es dabei. Ganz offensichtlich wurde Felgner erneut von dem Verdacht gequält, seine Frau könnte einen Liebhaber empfangen haben, von dem auch die Rosen waren. „Das Haus hat noch einen Hintereingang, durch den Keller. War dort abgeschlossen?“ „Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen.“ „Was haben Sie gemacht, als Doktor Mau Ihre Frau untersuchte und dann telefonierte?“ „Ich weiß nicht, was ich da gemacht habe. Herumgestanden. Ich war ja … Das war alles so schrecklich. Und dann hatte ich das Gefühl, es müsse noch jemand im Hause sein. Ich bin durch alle Zimmer gerannt, sogar in den Garten ’raus.“ Zschoppe ließ einige Sekunden verstreichen. Es war still in der Küche. Ab und zu flackerte die Neonröhre über dem Kochherd und warf unruhige Schatten. Vor dem Fenster hingen blaugemusterte Übergardinen. Sie waren zugezogen. Die Küche war aufgeräumt und sauber. „Kommen wir noch mal auf Ihre Dienstreise zurück. Sie hörten also, daß Ihre Frau für siebzehn Uhr ein Taxi bestellt hatte. Entschlossen Sie sich deshalb umzukehren?“ Mein Gott, hatte Leutnant Fiedler vorhin nach seiner Berichterstattung gesagt, wenn ich höre, daß meine Hol35
de mit einem Taxi … da kratzt mich doch höchstens das schöne Geld, da ließe ich nicht mal meinen Kaffee stehen. Daß die mit angehörte Taxibestellung nicht der Grund für Felgners Entschluß war, lag auf der Hand, aber ein Grund konnte es durchaus sein. Zumindest der auslösende Funke. Vielleicht gab es etwas zwischen den beiden, das bisher nur geschwelt hatte und nun zum Ausbruch gekommen war. „Ich bin ja nicht sofort umgekehrt, als ich die Durchsage hörte, Herr Hauptmann. Ich bin zum Bahnhof gefahren. Dort erst habe ich mich dazu entschlossen.“ „Da hatten Sie also Angst um Ihre Frau. Angst um ihr Leben?“ „Nein, das bestimmt nicht. Ich sagte ja, wir haben keine Feinde. Und wir haben auch kein Vermögen, das man uns stehlen könnte. Es war einfach die Angst, daß da etwas vorging, was ich …“ Er schwieg. Es war, als fiele eine Klappe herunter. Felgner preßte die Lippen zusammen, die beiden Mundwinkel waren tief herabgezogen. Er würde den Satz nicht vollenden, das war Zschoppe klar. Weder gut Zureden noch Drohungen halfen da. „Wann waren Sie zu Hause?“ Felgner hob die Schultern. „Ich habe schon Ihrem Kollegen gesagt, daß ich es nicht weiß. Zwanzig Minuten später, eine halbe Stunde später, vierzig Minuten. Ich weiß es wirklich nicht.“ Hauptmann Zschoppe hatte den Arzt der Schnellen Hilfe natürlich auch nach der vermutlichen Todeszeit gefragt. Der meinte, daß die Tat zwischen 15 Uhr 30 und 17 Uhr 30 erfolgt sein müßte, was bedeutete, daß Felgner seine Frau durchaus noch lebend angetroffen haben könnte. „Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesprochen?“ „Heute nachmittag. Ich habe …“ Zschoppe wartete, Felgner schwieg. Dann stand er auf 36
und zog sein Jackett aus. Er hängte es hinter sich über die Stuhllehne. Felgner trug eine graue Cordhose, ein kleingemustertes Sporthemd und einen Pullover mit spitzem Ausschnitt. Er öffnete den obersten Kragenknopf, trank einen Schluck Wasser. Er legte seine Hände in den Schoß, faltete sie. Er nahm immer Anlauf zu einer Antwort und stoppte dann. Wie ein Autofahrer, der Gas gibt und gleich danach auf die Bremse tritt. Er fing sie stets rechtzeitig ab. Rechtzeitig für ihn, für seine Absicht. Doch was war seine Absicht? „Wann heute nachmittag?“ „Gegen halb vier. Ich hatte meine Tabletten vergessen. Ruth stand in der Diele, als ich kam, und hatte einen Mantel an.“ „Wollte sie weggehen?“ „Das weiß ich nicht. Vielleicht war sie auch gerade gekommen.“ „Und da hat sie Ihnen nichts von dem erwarteten Besuch gesagt?“ Felgner schüttelte den Kopf. „War denn der Tisch schon gedeckt?“ „Ich bin gar nicht im Wohnzimmer gewesen. Ich bin gleich hoch ins Schlafzimmer gegangen, wo meine Tabletten lagen. Und da … da waren beide Betten gemacht, Herr Hauptmann, das weiß ich genau.“ Das nicht gemachte Bett seiner Frau! Zschoppe hatte es sich angesehen. Das Kissen lag am Fußende, das Federbett halb auf dem Boden; das Laken war eigenartig zusammengeschoben. „Worüber haben Sie mit Ihrer Frau gesprochen?“ „Wir haben nur ein paar Worte gewechselt. Ich war ja in Eile und durfte den Zug nicht verpassen. Ruth war am Abend zuvor spät heimgekehrt. Das heißt, so spät war es gar nicht, halb zehn etwa. Ich lag schon im Bett, las aber noch.“ 37
„Und darüber haben Sie gesprochen, haben Sie ihr Vorwürfe gemacht?“ „Wir haben uns gestritten. Ich sagte ihr, sie solle das in Zukunft lassen. Ich merkte doch, wie sie litt, als sie zu Hause eintraf.“ Und dann erzählte er. Langsam, stockend, er rang sich jedes Wort ab. „Sie kam ins Schlafzimmer und sah mich groß an. Sah mich immer nur an. Ich wurde richtig nervös unter ihrem Blick. Ich fragte: ‚Na, war’s schön?‘ Ruth war in Brandhofen gewesen, bei Verwandten. Sie fuhr oft zu ihnen. In der ersten Zeit war sie danach immer heiter, voller Lebenslust und Energie. Richtig aufgetankt. Aber dann … Das wurde immer schlimmer. Sie hatte oft verweinte Augen, auch gestern. Wenn man zehn Jahre mit einem Menschen zusammen lebt, sieht man das. Eigentlich müßte man alles sehen, aber das ist nicht so. Leider.“ Er war leiser geworden und schwieg nun wieder. Er hatte vor sich hin gesprochen und Zschoppe dabei nicht angesehen. Sein Gesicht wirkte inzwischen nicht mehr ganz so blaß. „Haben Sie Ihre Frau nie gefragt, warum sie geweint hat?“ Felgner schüttelte den Kopf. „Ruth hätte das sowieso nie zugegeben. Es wäre völlig sinnlos gewesen, damit anzufangen. Ein paarmal hatte ich es versucht … Brandhofen war eben ihr Lebensbereich, nicht meiner. ‚Du hast deinen Betrieb, ich meine Verwandten‘, sagte sie. Und in gewisser Beziehung hatte sie ja auch recht.“ „Glauben Sie, daß der Besuch, den Ihre Frau heute erwartet oder bekommen hat, daß der mit ihren Fahrten nach Brandhofen zusammenhängt?“ Felgner seufzte tief. „Wenn ich das wüßte, Herr Hauptmann. Wenn ich das wüßte. Kürzlich, als sie auch so verheult hier ankam, vor einer Woche vielleicht, hatte sie 38
getrunken. Ich merkte es sofort, ich roch es auch. Sie saß in der Küche, hier, wo ich jetzt sitze, und starrte vor sich hin. Da sagte sie: ‚Wäre ich doch nie nach Brandhofen gefahren.‘ Nichts weiter, immer nur diesen Satz.“ Zschoppe mußte behutsam vorgehen. Felgner war jetzt bei einem Thema, das sein inneres Stopprelais außer Kraft zu setzen schien. Er verschloß sich nicht mehr, war offenbar sogar erleichtert, darüber sprechen zu können. Also nichts überstürzen, ruhig eine Minute schweigend vorübergehen lassen und gründlich nachdenken. Doch da klingelte es an der Haustür, und Felgner fuhr erschreckt zusammen. Er sprang auf und wollte öffnen gehen. „Setzen Sie sich ruhig wieder“, sagte Zschoppe. „Jemand von uns wird aufmachen.“ Felgner fügte sich, aber er starrte unverwandt zur Tür und saß geduckt da, wie vor einem Sprung. Es hätte kaum Sinn gehabt, jetzt eine Frage an ihn zu richten. Man hörte, daß draußen aufgeschlossen wurde und wenig später dumpf eine Männerstimme etwas sagte. Felgner rührte sich nicht, er saß wie gebannt. Er preßte die Lippen aufeinander und verkrampfte die Hände. Erwartete er jemand? Evelyn Goldmann kam herein. Sie flüsterte Zschoppe ins Ohr, daß ein Herr Dortus draußen stünde und seine Schwester sprechen wolle, Frau Felgner also. „Führen Sie ihn herein“, befahl Zschoppe. Kurz darauf trat ein Mann ein, etwas unsicher und über die fremden Leute überrascht, wie es schien. An der Tür blieb er stehen, ein gutaussehender Mann, gepflegt, elegant auch, mit sympathischem Gesicht. Er trug einen knielangen braunen Mantel und eine Ledermütze, die er jetzt verlegen abnahm. „Guten Abend. Entschuldigen Sie …’n Abend, Walter, ihr habt Gäste?“ Felgner war aufgestanden, blieb aber hinter dem Tisch 39
stehen. Er ließ nicht erkennen, wie er den Besuch einschätzte. Ob er den erwartet hatte, sofern er überhaupt jemand erwartet hatte. Er sah auf seinen Schwager, dann auf Hauptmann Zschoppe: „Das ist Herr Dortus, Ruths Bruder. Soll ich … ich meine, darf er wissen …“ „Bitte, sagen Sie es ihm.“ Felgner schluckte mehrmals. Es war ein mitleiderregendes Bild, wie er sich hilflos umblickte und dann, die Augen auf seinen Schwager gerichtet, herausstieß: „Ruth ist … sie ist tot, Kurt. Jemand hat sie ermordet. Hier im Hause.“ Dortus lehnte sich an die Wand. „Nein“, stammelte er, „nein, nein.“ „Sie ist tot, Kurt. Jemand hat sie die Treppe hinuntergestoßen. Das sind Genossen der Kriminalpolizei.“ Dortus stöhnte auf. Er bewegte die Lippen, es kamen jedoch nur heisere Laute heraus. „Aber doch nicht tot!“ rief er dann. „Wieso denn tot? Ruth kann doch nicht tot sein. Tot doch nicht!“ Er schwankte und begann zu zittern, als fröre er. Schwerfällig schleppte er sich zum nächsten Stuhl, wo er schlaff niedersackte. Reglos, mit roten Flecken im Gesicht, saß er Felgner gegenüber, stumm, den Kopf auf die Brust gesenkt. Warum hatte Dortus viermal hintereinander so merkwürdig betont den Tod seiner Schwester in Frage gestellt? ‚Aber doch nicht tot !‘ „Ihre Schwester hatte heute nachmittag Besuch erwartet“, sagte Zschoppe. „Waren Sie mit ihr verabredet?“ Dortus schüttelte den Kopf. „Besuch?“ murmelte er. Und dann, als begriffe er erst jetzt: „Was denn für Besuch, Walter? Ich denke, Bettina ist bei euch. Wo ist denn Bettina?“ Er guckte von einem zum anderen. Zu Felgner, zu Zschoppe, zu Evelyn Goldmann, die an der Tür stand. 40
Felgner fragte: „Sollte Bettina denn hier sein? Ich denke, das hat sich zerschlagen?“ „Ich wollte sie abholen, deshalb bin ich ja gekommen“, sagte Dortus. Und zu Zschoppe gewandt: „Meine Jüngste, fünf Jahre. Sie müßte bei ihrer Tante Ruth …“ „Um Himmels willen“, rief Felgner. Zschoppe war schon an der Küchentür. „Leutnant Fiedler!“ brüllte er durch das Haus. „Gibt es Hinweise, daß sich hier ein fünfjähriges Mädchen aufgehalten hat? Kleidungsstücke, Spielzeug?“ „Nichts, Genosse Hauptmann.“ Zschoppe wirbelte herum. „Haben Sie Telefon zu Hause?“ fragte er Dortus in einer Lautstärke, daß dieser für Sekunden kein Wort herausbrachte. „Nein, aber ich könnte …“ Zschoppe rotierte weiter und herrschte nun Evelyn Goldmann an. Er merkte das nicht. Er war in Sorge und deshalb aufgeregt. „Fahren Sie sofort in die Wohnung der kleinen Bettina. Stellen Sie fest, ob sie zu Hause ist. Und nehmen Sie auch Herrn Dortus mit.“ Vielleicht war es nicht klug, den Mann gleich wieder aus der Hand zu geben, überlegte er später. Doch was hieß in solchen Momenten klug. Karl-Heinz Zschoppe war selbst Vater dreier Töchter und konnte nachfühlen, was in Dortus vorgehen mochte. Dortus wohnte nicht weit entfernt von Felgner. Zu Fuß etwa fünf Minuten. Mit dem Wagen ging es kaum schneller. Der Fahrer mußte erst wenden, mußte an einer Baustelle Schritt fahren und eine Umleitung benutzen. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, doch die Straßen waren glitschig, und nasses Laub bedeckte die Fahrbahn. Dortus dirigierte anfangs, dann gab er nur noch die Richtung an. Er hockte schweigend neben Evelyn, nach vorn gebeugt, und stierte reglos vor sich hin. 41
Es war ein Siedlungshaus, vor dem sie schließlich hielten. Ein flacher Bau mit spitzen Giebeln, in dem zwei Parteien wohnten. Es gab zwei Eingänge, zwei bescheidene Vorgärtchen. Dortus klingelte an der Gartenpforte, zweimal kurz, das gewohnte Signal wahrscheinlich. Er fragte, ob er vorangehen dürfe. Es bereitete ihm Mühe, die Haustür aufzuschließen, seine Finger zitterten. Er schaltete im Flur Licht an, und ließ Evelyn den Vortritt. „Du bist schon da?“ rief seine Frau. Sie kam ihm aus einem Zimmer entgegen, blieb dann überrascht stehen. „Oh, Besuch?“ „Ist Bettina zu Hause?“ Dortus’ Stimme klang rauh. Rauh und auch traurig, jedoch nicht erregt oder angstvoll gespannt, fand Evelyn. „Ja natürlich, warum?“ Dortus stand da, blickte auf seine Frau, die ein Kopf kleiner war als er, aber er sah sie nicht an. Er wirkte auf einmal starr und leblos – wie die ganze Szenerie: Frau Dortus, Anfang Dreißig vielleicht, in Kittelschürze und Hausschuhen, blickte fragend und zunehmend ängstlich von einem zum anderen; neben ihr Dortus in dieser merkwürdigen Haltung; dann sie, Leutnant Goldmann, unsicher, der Situation ausgeliefert und für Sekunden nicht gewachsen; dazu der nur matt erleuchtete Flur, vollgestellt mit Möbeln und altem Hausrat; die noch offene Haustür, Kinderlachen im Hintergrund, eine monotone Radio- oder Fernsehstimme, die von Produktionserfolgen sprach. „Was ist denn?“ fragte Frau Dortus und versuchte ein Lächeln. „Natürlich ist Bettina zu Hause. Kommen Sie ihretwegen?“ Evelyn wollte antworten, da spürte sie Dortus’ Hand in der ihren, und sie hörte seine Stimme, die forsch klingen sollte. „Vielen Dank, daß Sie mitgekommen sind“, sagte er. 42
„Bettina ist hier, und damit … Man macht sich manchmal unnütz Sorgen … also vielen Dank.“ Sie fühlte den leisen Druck in ihrer Hand, ein Zeichen, nun zu gehen. Evelyn verstand diesen Wunsch. Dortus wollte seiner Frau den Tod Ruth Felgners allein und schonend beibringen. Doch durfte, sie ihm nachgeben? Sie sagte: „Ich werde Hauptmann Zschoppe und Herrn Felgner davon unterrichten. Wenn Sie Ihre Frau inzwischen … Wir müßten Sie beide noch mal …“ Es war eine scheußliche Situation, sie kam ins Stottern und schwieg. Dortus half ihr. „Selbstverständlich. In einer halben Stunde vielleicht?“ Evelyn Goldmann ging zum Wagen zurück. Sie war erleichtert. Über Sprechfunk informierte sie Zschoppe und erbat weitere Anweisungen. „Setzen Sie sich mit der Taxi-Dispatcherzentrale in Verbindung!“ befahl er. „Wann wurde das Taxi für Frau Felgner bestellt und mit welchem Fahrtziel. Anschließend sprechen Sie mit dem Ehepaar Dortus. Ende.“ Inge Dortus erfuhr vom Tod ihrer Schwägerin nicht auf schonende Art. Die Tür hatte sich kaum hinter der Kriminalistin geschlossen, als ihr Mann sagte: „Ruth ist tot. Sie ist die Treppe heruntergestürzt. Walter meint, jemand habe sie umgebracht. Die Kripo ist bei ihm. Die Frau eben ist auch von der Kripo.“ Dortus hatte die Worte nur geflüstert. Er hatte schnell gesprochen, aber nicht hastig. Seine Hände lagen auf Inges Schultern. Er sah ihr nicht in die Augen, sondern auf den Mund, als müsse er auf einen Angst- oder Schreckensschrei gefaßt sein. Inge Dortus schrie nicht, war gar nicht fähig zu schreien. Sie versuchte zu begreifen, zu denken. Seine Worte ergaben für sie keinen Sinn. Wovon sprach er? Erst allmählich wurde ihr das Furchtbare bewußt. Da 43
saß sie schon im Wohnzimmer, da hatte ihr Mann den Kindern schon das Abendbrot bereitet und sie ins Bett geschickt. Der Fernseher war ausgeschaltet, die Deckenlampe gelöscht, und nur die Wandleuchte verbreitete schwaches Licht. Auf dem mächtigen Plüschsofa, noch immer in Kittelschürze und Hausschuhen, saß sie aufrecht, das Kreuz hohl. Sie hatte nicht ihren Stammplatz, die linke Ecke, gewählt, genau in der Mitte hatte sie Platz genommen, bewegungslos und mit nur wenigen Gedanken. Ruth ist tot. Das war lange Zeit das einzige, was sie denken konnte. Tot, das heißt nicht mehr da. Nie mehr da. Ruth wird nie mehr dasein. Floskeln und Phrasen stellten sich ein, ganz ohne ihr Zutun. Ein blühendes Leben; im Vollbesitz ihrer Kräfte; vor sich eine ungetrübte Zukunft; ein unerbittliches Schicksal … Schicksal? Da erst wurde Inge Dortus wach, begriff sie. Und nun kamen auch die Tränen. Sie weinte ohne Aufschluchzen, lautlos fast. Die Tränen quollen aus offenen, blicklosen Augen, rannen ihr ungehindert über die Wangen, bis ihr Mann sich dann herüberbeugte und sie mit seinem Taschentuch trocknete. „Beruhige dich, Liebes. Bitte, beruhige dich. Bitte.“ Er sprach auf sie ein, sanft und geduldig, er streichelte ihr Haar und nahm ihre kalten, feuchten Hände. Aber diese Gesten bewirkten nur, daß sie nun doch aufschluchzte, daß sie sich hemmungslos gehenließ und keinen Halt mehr fand. „Du hängst doch viel mehr an Ruth“, stammelte sie zwischen Schnaufen und Schlucken. „Meine kleine Schwester, hast du immer gesagt, sie ist wie ein Kind … Und ich war manchmal so böse zu ihr … sogar heute noch …“ Dortus hatte sich neben sie gesetzt. Er legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. So konnte sie 44
nicht sehen, wie sich seine Augenbrauen erschrocken zusammenzogen bei den letzten drei Worten. „Du hast heute mit ihr gesprochen?“ Inge Dortus nickte. „Vor ein paar Stunden erst. Mein Gott, wenn ich …“ Es dauerte viele Minuten, bis sie in der Lage war zu erzählen. Dortus brachte Probleme ins Gespräch, die ihr frauliches Interesse wachriefen, ihre Anteilnahme. Über Walter Felgner sprachen sie vor allem, der nun allein stünde und um den sie sich kümmern müßten. So gelang es ihm nach und nach, sie zu beruhigen, sie wieder mit dem Alltag zu konfrontieren und aus der Lethargie zu lösen. Über Umwege führte er seine Frau zum Thema zurück, zu dem, was für ihn Ausgangspunkt war, und bereitwillig folgte sie ihm. „Ruth kam so gegen eins“, erzählte Inge Dortus. „Sie wollte zu dir. Richtig ungehalten war sie, daß du nicht da warst. Gereizt und nervös, wie in den letzten Tagen schon. Und natürlich wieder penetrant aufgebla… oh, entschuldige, das klingt häßlich, ich wollte ja nur …“ Dortus unterbrach sie. „Du mußt jetzt nichts beschönigen wollen. Sag, wie es war.“ Wie es war? Inge Dortus sagte es ihrem Mann. Sie wählte freundlichere Beschreibungen, wenn sie das Verhalten seiner Schwester schilderte. Sie sagte nicht penetrant aufgeblasen, sondern leicht affektiert und lächelte demütig dabei, als sei auch das noch zu hart. Denn natürlich hatte sich Ruth Felgner vor ein paar Stunden wieder wie eine aufgeplusterte Truthenne benommen. Trotz ihrer Zerfahrenheit, ihrer Nervosität, ihrer Angst vielleicht auch. Wie sie schon dort im Sessel gesessen hatte. So graziös ein Bein übergeschlagen, das Kinn in die Hände gestützt, die Oberlippe leicht hochgezogen, ihre kleinen Schneidezähne zeigend. Dazu dieser melancholische Augenaufschlag bei jedem zweiten Wort, ihre hochmütige Leidensmiene, die immer zu verstehen 45
geben sollte: Was wißt ihr schon von meinen Problemen … Penetrant aufgeblasen war wirklich noch geschmeichelt. Und dann diese Aggressivität in ihrer Stimme, der vorwurfsvolle Ton. „Wieso ist Kurt denn nicht zu Hause? Wenn man ihn mal braucht …“ Da hatte es ihr gereicht. „Nun halt aber mal die Luft an! Dein Bruder bringt sich noch um für dich. Ruthchen hier und Ruthchen dort. Das ist doch schon nicht mehr normal. – Was soll er denn?“ Ruth hatte nicht geantwortet. Sie war aufgestanden, zum Fenster gegangen, hatte mit den Fingern gegen die Scheiben getrommelt und dabei eine entsetzlich banale Melodie gesummt. Lehár wahrscheinlich, der kam ja bei ihr zu Hause immer auf den Plattenteller. Dann hatte sie sich wieder hingesetzt und wiederholt zur Armbanduhr gesehen, idiotisch oft, so daß Inge schon dachte, es wäre eine neue und Ruth wolle auf sie aufmerksam machen. „Ist dir nicht gut?“ hatte Inge Dortus gefragt. „Du siehst so blaß aus.“ „Ich habe schlecht geschlafen.“ Da hatte sie es sich nicht verkneifen können und gesagt: „Überarbeitung, was? Das viele Reisen … bei wem warst du denn gestern? Vetter Harald oder Opa Hubert? Daß du dich nur nicht mal überanstrengst.“ Jetzt tat es ihr natürlich leid, jetzt bereute sie ihre Bissigkeit. Und sie erwähnte deshalb davon nichts. Um so ausführlicher gab sie den anschließenden Wortwechsel wieder. Schlag auf Schlag war es gegangen, und sie war da keineswegs zimperlich gewesen. „Übrigens kann ich Bettina heute nicht nehmen“, hatte Ruth unverhofft gesagt. „Und damit rückst du erst jetzt heraus? Sie hat schon ihr Köfferchen gepackt und ist selig. So kann man doch mit Kindern nicht umspringen.“ 46
„Es tut mir leid. Ich kann es nicht ändern. Es geht nicht.“ „Ja, warum denn mit einem Mal nicht?“ „Ich erwarte Besuch.“ „Aber Bettina stört doch nicht.“ „Das mußt du mir schon überlassen.“ „Wer kommt denn so Wichtiges? Gibst du etwa eine Gesellschaft, so wie früher? Nur diesmal ohne Walter? Oder hältst du dir neuerdings einen Liebhaber?“ „Sei nicht geschmacklos.“ „Wieso denn? Du siehst noch leidlich aus, leidest ständig unter Langeweile, dein Mann ist oft unterwegs, dazu das schicke Haus, da kann man …“ „Sind wir endlich wieder beim Thema? Paß bloß auf, daß du nicht noch grün wirst vor Neid.“ „Ich bin nicht neidisch. Ich sehe nur nicht ein, daß ihr beide, du und Walter, das ganze Haus für euch habt, während wir zu fünft mit zweieinhalb Zimmern vorliebnehmen müssen.“ „Das Haus habe ich geerbt. So steht es im Testament.“ „Aber da steht auch, daß du deinem Bruder sechstausend Mark Abfindung zu zahlen hast. Noch keinen Pfennig haben wir bekommen.“ Da hatte Ruth losgeschrien, woher sie es denn nehmen solle, sie habe keinen Dukatenscheißer, dafür aber einen Mann, der monatlich auf hundert Mark verzichte. „Ich weiß schon nicht mehr, wo mir der Kopf steht, alle Welt will Geld von mir.“ Für einen Moment unterbrach Inge Dortus ihre Schilderung. Sie blickte ihrem Mann nach, der aufgestanden war und zum Vertiko ging, aus dem er eine Flasche Weinbrand nahm. „Als Ruth sagte, daß alle Welt Geld von ihr wolle, da tat sie mir auf einmal leid. Ich weiß zwar nicht, wer alle Welt sein könnte, aber sie hatte es so verzweifelt gesagt, daß ich Mitleid mit ihr empfand. Mir ist doch klar, daß 47
Felgners mit dem Pfennig rechnen müssen, denn das Haus verschlingt ja allerhand. Als ich jedoch einige Minuten später das Geld sah, die fünftausend Mark … da dachte ich, sie ist ganz schön durchtrieben …“ „Was denn für fünftausend Mark?“ rief Dortus überrascht dazwischen. Sie bemerkte, daß er zusammengezuckt war und viel zuviel in das Glas goß. Mit dem Ärmel wischte er die Tropfen von der Schrankplatte. Er schob das Glas zurück, trank nicht, sondern blickte fast ängstlich seine Frau an. „Ruth trug fünftausend Mark bei sich. Es war ein Päckchen Hunderter, noch mit Banderolen darum. Offensichtlich frisch von der Bank. Als sie sich im Flur anzog und vor dem Spiegel stand, fiel ihre Handtasche ’runter. Ich hob sie auf. Sie hatte sich geöffnet, und das Geld lag auf dem Fußboden. Es waren fünftausend Mark, glaub mir.“ Dortus sagte nicht, ob er ihr glaubte. Er stand noch immer am Vertiko, blieb auch dort, im Schatten, sein Gesicht war nicht zu erkennen. „Ich habe natürlich gefragt“, berichtete Inge Dortus weiter. „Na, hör mal, habe ich gesagt, rück wenigstens fünfhundert ’raus, da sieht man den guten Willen. Doch Ruth? Kein Wort von ihr. Sie hat das Geld in die Tasche gestopft, und weg war sie. Ohne Gruß, als müsse sie vor mir fliehen.“ Sie schwieg. Sie hatte erzählt, was es ihrer Meinung nach zu erzählen gab. Natürlich nicht alles, denn Ruth Felgner war bald eine Stunde bei ihr gewesen. Aber war alles andere, die gegenseitigen Bosheiten und Spitzen, das teils gelangweilte, teils genüßliche Auswälzen von Begebenheiten, wichtig in diesem Moment? Daß die beiden Frauen sich nicht mochten, wußten nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Männer. Sie fanden sich damit ab, denn zu verschieden waren Ruth und Inge in ihrem Wesen, zu verschieden auch ihre Ansichten. 48
Kurt Dortus, der, wie seine Frau behauptete, beinahe sklavisch an seiner Schwester hing, hatte einmal gefragt, was sie eigentlich gegen Ruth habe. Inge hatte ihm geantwortet: „Ich weiß nicht, was ich im einzelnen gegen sie vorbringen könnte. Zum größten Teil ist es einfach ein Gefühl. Es hätte wenig Sinn, wenn ich jetzt nach Erklärungen suchte oder nach treffenden Umschreibungen. Ich glaube, Ruth will einfach zu hoch hinaus. Sie will ihren Lebensstil ändern, doch um die Bedingungen dafür zu schaffen, fehlt ihr die Kraft.“ Ihr Mann meinte damals: „Ruth hat mehr Kraft, als ihr alle vermutet. Was ihr fehlt, ist ein Stimulator. Ich dachte lange Zeit, sie hätte in Walter einen gefunden. Doch er ist ein Versager. Er wird eine Frau wie Ruth nicht halten können. Er ist ihr nicht gewachsen.“ Komisch, daß sie jetzt an dieses Gespräch denken mußte. Vielleicht, weil es so lange still war im Zimmer. Weil Kurt auf und ab ging, die Hände tief in den Taschen, den Mund leicht geöffnet, und ziemlich aufgewühlt schien. Immer diagonal über den Teppich ging er, hin und zurück, in der Mitte mußte er einen kleinen Bogen schlagen, um einen Stuhl herum, der im Wege stand, den er aber nicht zur Seite schob. Dann blieb er plötzlich stehen, stützte die Hände auf den Tisch und sah sie an. Er machte ein Gesicht, das sie nicht zu deuten wußte. Ratlos vielleicht oder auch fassungslos. Er umfaßte ihre Schultern, zog sie hoch, drückte ihren Körper an den seinen. „Bitte, Inge, ich flehe dich an … bei deiner Aussage nachher, wenn die Polizistin kommt, sag, was du willst, sag, daß Ruth hier war und daß sie nervös war oder sonstwas. Sag alles, nur … sag nichts von dem Geld. Das Geld muß aus dem Spiel bleiben. Verschweige die fünftausend Mark, ich bitte dich, ich flehe dich an.“ Sie schob ihn von sich und trat einen Schritt zurück. 49
„Ich kann das doch nicht verheimlichen, Kurt. Und warum vor allem? Warum soll ich das Geld nicht erwähnen?“ Dortus antwortete nicht. Er machte eine hilflose Bewegung mit den Armen und ließ sie dann schlaff hängen. Er biß sich auf die Unterlippe. Sein Gesicht sah grau aus und krank. „Bitte!“ flüsterte er schließlich. „Bitte, Inge.“ Sie hatte plötzlich Angst. Unwillkürlich trat sie noch einen Schritt zurück. „Was ist los, Kurt, was hast du? Weißt du etwas?“ Sie merkte, wie belegt ihre Stimme klang, wie stark ihr Herz klopfte. „Hat das Geld mit Ruths Tod …“ Inge Dortus brach ab. „Mein Gott“, murmelte sie. Sie versuchte ihren Mann fest anzusehen, aber er schlug die Augen nieder. „Du verschweigst mir etwas, Kurt. Hast du kein Vertrauen zu mir?“ „Doch.“ „Und warum willst du mir dann nicht erklären …“ Es klingelte. Sie schraken beide zusammen, und Inge sprach nicht weiter. „Das ist die von der Polizei“, sagte Dortus hastig. Er packte sie wieder und stammelte: „Sag nichts von dem Geld … ich brauche, einen Tag brauche ich … es ist alles so furchtbar, ich kann dir das jetzt nicht erklären. Bitte, Inge, verschweig es, verschweig es wenigstens jetzt erst mal.“ Sie nickte. Sie konnte nicht sprechen. Da lag so viel Verzweiflung in seinen Augen, zugleich auch so viel Hoffnung, daß sie ganz automatisch den Kopf bewegt hatte. Erst als sie die Erleichterung auf dem Gesicht ihres Mannes sah, die Dankbarkeit, das befreite Aufatmen, erst da wurde ihr bewußt, daß sie zugestimmt hatte. Ja, sie würde lügen. Heute wenigstens. Sie konnte morgen zur Polizei gehen und ihre Aussage ergänzen. Mir ist noch etwas eingefallen … wer dürfte ihr einen Vorwurf machen? 50
„Geh jetzt und mach auf“, sagte Inge Dortus zu ihrem Mann. „Ich werde das Geld nicht erwähnen.“ Kurt Dortus hatte richtig vermutet. Es war Evelyn Goldmann gewesen, die geklingelt hatte. Als sie zwei Stunden später in ihrem Dienstzimmer saß und den Bericht schrieb, stand auf einmal Hauptmann Zschoppe in der Tür. Mit offenem Regenmantel, verkniffenem Gesicht, wortlos. Evelyn erhob sich. „Bitte, Genosse Hauptmann?“ Zschoppe trat etwas näher. „So spät noch?“ sagte er. Sie wies auf die Schreibmaschine. „Die Befragung des Ehepaares Dortus. – Soll ich berichten?“ Sie hoffte, daß er nein sagen würde, und Zschoppe sagte auch nein. Das heißt, er schüttelte den Kopf und winkte ab. Doch dann besann er sich, schloß die Tür und schob sich einen Stuhl zurecht. Er zog den Regenmantel straff zusammen und nahm Platz. „Was Besonderes?“ „Ich glaube, ja. Das Taxi wurde telefonisch bereits um dreizehn Uhr fünfundzwanzig bestellt. Der Anrufer war eine Frau, die folgende Angaben machte: Felgner, Schliersstraße zwölf, eine Person, siebzehn Uhr, Fahrtziel Alexanderplatz. Um dreizehn Uhr fünfundzwanzig hielt sich Ruth Felgner aber bei ihrer Schwägerin auf, und Dortussens haben kein Telefon.“ Evelyn unterließ es, Zschoppe ihre Schlußfolgerungen mitzuteilen. Es gab ihrer Ansicht nach mehrere, und sie war gespannt, ob Zschoppe die gleichen ziehen würde. Er zog aber keine, oder er behielt sie für sich. Er saß eine Weile schweigend da und sagte dann nachdenklich: „Warum hat es die Frau darauf angelegt, als Ruth Felgner zu gelten?“ Eine Antwort wollte er wohl nicht hören, es gab vorerst auch keine. Er blickte mürrisch vor sich hin, runzelte plötzlich seine ohnehin runzlige Stirn und blaffte: „Unterlassen Sie bitte in Zukunft, Ihre Berichte mit Ich 51
glaube einzuleiten. Bekenntnisse dieser Art taugen nicht für unsere Arbeit. Bei mir wird gewußt, logisch abgeleitet oder eine Version entwickelt. Merken Sie sich das!“ Also eine Art hatte der! Saß da breitbeinig auf dem Stuhl, hingefläzt wie für die Ewigkeit, raschelte bei jeder Bewegung mit seinem abgeschabten Regenmantel und machte ein Gesicht, als sei ihm eben das Gehalt gekürzt worden. Das kann ja heiter werden mit uns beiden, dachte Evelyn Goldmann. Die Siebenundzwanzigjährige war an harten Schlagabtausch gewöhnt, das brachte dieser Beruf mit sich. Und daß sie dem Schlag des Vorgesetzten nicht immer auch den Abtausch folgen lassen konnte, wußte sie seit langem. Da mußte man schon mal brav den Mund halten und den Hieb einstecken. Das durfte aber nicht so weit gehen, daß man als Abfalleimer der jeweiligen Stimmungen oder Launen benutzt wurde, wie das eben offensichtlich der Fall war. Die sollte Zschoppe gefälligst mit sich selbst abmachen, er war doch sonst immer so verschlossen. Na, wir werden ja sehen, dachte Evelyn Goldmann, während sie gehorsam nickte. Auch dieser Mann ist ja nicht so auf die Welt gekommen, obwohl man das angesichts solcher Bärbeißigkeit bald vermuten könnte. Er verhielt sich wie ein bockiger Alter, dem aus irgendeinem Grund das Lachen verlorengegangen war. Dem man es zurückbringen mußte. Wie sollte man diesen Beruf sonst aushalten können, diese fortwährende Konfrontation mit dem Bösen oder Abartigen, mit der Verzweiflung, dem Leid? Wir werden ja sehen, wiederholte sie für sich. Es reizte sie, ein Mittel zu finden, um etwas Freundlichkeit in diesem verschlossenen Gesicht zu wecken. Sie traute sich allerhand zu, nicht nur weil sie auf die Wirksamkeit ihrer fraulichen Vorzüge bauen konnte, sondern auch auf ihr Gespür im Umgang mit Menschen. In jedem gab 52
es eine Saite, die man zum Klingen bringen konnte, sollte ausgerechnet dieser Griesgram ohne sein? Vorerst jedoch rapportierte Leutnant Goldmann beflissen, nachdem Zschoppe sie angeraunzt hatte: „Noch was rausgekommen bei den Dortussens?“ Sie vermied das Wort glauben ebenso wie das Wort wissen, sie folgerte nicht, entwickelte auch keine Version, sie reihte Fakten aneinander: „Ruth Felgner erschien kurz vor dreizehn Uhr bei Frau Dortus. Sie war aufgeregt, nervös, zappelig. Nicht zappelig vor freudiger Erregung, sondern vor gespannter, wenn nicht gar ängstlicher. So von Inge Dortus umschrieben. Ruth Felgner blieb etwa eine Stunde. Sie wollte ihren Bruder sprechen, der aber nicht zu Hause war. Außerdem lud sie die kleine Bettina aus, weil sie am Nachmittag Besuch bekäme. Nähere Auskünfte darüber gab sie nicht, obwohl Frau Dortus mehrmals danach gefragt hatte. Weder sie noch ihr Mann konnten Angaben machen, wen Ruth Felgner erwartet haben könnte, Herrn Dortus jedenfalls nicht.“ „Ihr Eindruck?“ fragte Zschoppe, kaum daß er dabei die Lippen bewegte. Er lehnte sich zurück, faltete wie gelangweilt die Hände auf dem Schoß, raschelte mit dem verschlissenen Regenmantel. Evelyn hatte Lust zu lachen. Eindruck, wohin gehörte das nun? Zum Wissen, zum logischen Ableiten, zum Versionen entwickeln? Also doch zurück zu Ich glaube, denn dem kam es noch am nächsten. Und so berichtete sie: „Die beiden waren außerordentlich niedergeschlagen. Felgners Ehe bezeichneten sie als gut, machten dann aber die üblichen Einschränkungen, daß es ja überall mal Streit gäbe. Daß Ruth Felgner in den letzten Monaten oft nach Brandhofen gefahren war – nach Hause, sagte Dortus stets –, wußten sie. Ich habe mir die Adressen einiger Verwandten notiert, bei denen sie sich gewöhnlich aufhielt. Ich hatte 53
den Eindruck, daß Dortus seine Frau zu dirigieren versuchte. Er antwortete, auch wenn sie gefragt war, und sie wiederholte dann seine Worte. Ob das zwischen ihnen so Brauch ist oder besondere Gründe hat, kann ich nicht beurteilen. Dortus arbeitet als Oberkellner im Restaurant Burgkeller, ganz in der Nähe von seiner und auch von Felgners Wohnung. Nebenbei besucht er einen polnischen Sprachkursus. Heute nachmittag hatte er von dreizehn bis fünfzehn Uhr Unterricht. Anschließend war er bis achtzehn Uhr im Burgkeller. So seine Auskunft.“ „Prüfen Sie das morgen nach.“ Damit war ihr Bericht abgetan. Hauptmann Zschoppe ging nicht weiter auf ihn ein, er ließ auch nicht erkennen, ob er mit ihm – also mit ihr – zufrieden war. Er schwieg wieder eine Weile, diesmal nicht nachdenklich, eher müde, und strich dann über sein Gesicht, das grau und eingefallen wirkte. „Ich habe mir die Tote angesehen“, sagte er unvermittelt. „Eine hübsche Frau muß sie gewesen sein. Dreißig Jahre erst. Ich habe lange vor ihr gestanden und versucht, sie mir lebend vorzustellen. Wie sie durch das Haus geht, mit ihrem Mann am Tisch sitzt oder in der Küche Abendbrot zubereitet. Ich habe sie dabei immer traurig gesehen, vielleicht weil Felgner erzählt hat, daß sie in den letzten Tagen oft geweint hat … ich weiß nicht, irgendwie …“ Er machte eine Pause, und Evelyn wagte nicht, sie zu stören. Sie war überrascht über seine Worte, überrascht auch über die Stimme, die unsicher, fast verlegen geklungen hatte. Doch schon beim nächsten Satz war sie wieder trocken und amtlich. „Frau Felgner wurde getötet, ein Unfall scheidet endgültig aus. Es kann sich durchaus so zugetragen haben, wie Leutnant Fiedler es uns am Tatort demonstriert hat.“ Er atmete tief, als sei ihm die Luft ausgegangen. Viel54
leicht hat er etwas mit der Lunge oder den Bronchien. Es fiel direkt auf, wenn der neue Alte mal leichtfüßig und lächelnd die Treppe hochstieg. Meist sah man ihn schweratmend und mit einer Miene, die schon vorab signalisierte: sowieso alles Mist! Der dicke Fiedler hatte mal gesagt: Er sieht aus, als säße er dauernd unter einer Trauerweide, und das schien Evelyn gar nicht so falsch beobachtet. „Von einem Tötungsverbrechen sprechen wir, solange nicht feststeht, ob Mord oder Totschlag vorliegt“, fuhr er fort. „Es ist aber sehr wichtig, so bald wie möglich zu wissen, um welchen Tatbestand es sich handelt. Nicht nur wegen des Strafmaßes. Für unsere Ermittlungen ist das wichtig. Ein Mörder geht überlegt vor, umsichtig, kühl und sichert sich seinen Rückzug. Während jemand, der im Affekt handelt, dem die Nerven durchgehen, der also die Beherrschung und jegliche Kontrolle über sich verliert und blindwütig zuschlägt … solch ein Mensch hinterläßt viel mehr Spuren und oft auch andere als ein Mörder. Meist rennt er einfach weg, flieht nicht nur vor seinem Opfer, sondern mehr noch vor der eigenen Tat. – Da müssen wir ansetzen, Genossin Goldmann. Welche Spuren gibt es, und worauf verweisen sie? Auf ein geplantes Verbrechen oder ein spontanes? – Behalten Sie das im Auge.“ Obwohl Zschoppe die letzten Worte wieder in einem Ton vorgebracht hatte, als habe er soeben das Einmaleins erfunden, und obwohl es eine völlig überflüssige Ermahnung war, ärgerte sich Evelyn diesmal nicht. Sie hatte ihren Schreibtischsessel etwas zur Seite gerückt, so daß sie dem Hauptmann genau gegenübersaß. Sie betrachtete sein zerfurchtes Gesicht, das im Halbschatten lag und ihr gar nicht mehr so fremd war, auch kaum noch Störrisches an sich hatte. Es schien ihr plötzlich vertraut. Das Gesicht eines Menschen, das man erst erkennen mußte, um es zu kennen. 55
„Frau Felgner ist also getötet worden. Hören Sie mal genau hinein in das Wort getötet. Ich mag es nicht, weil es etwas vortäuscht – eine Plötzlichkeit des Todes zum Beispiel. Aber nur in den wenigsten Fällen trifft das zu.“ Er redete ein bißchen vor sich hin, der Hauptmann der Kriminalpolizei Karl-Heinz Zschoppe. Ein bißchen viel auch, gar nicht mehr auf Ökonomie des Ausdrucks bedacht. Wahrscheinlich war ihm so, und er gab ausnahmsweise seiner Stimmung nach. „Ich frage mich, was so ein Mensch, den wir Täter nennen, denkt und anfängt nach der Tat. Er bereut. Natürlich bereut er, fast jeder tut das. Und wenn er nicht die Tat selbst bereut, dann das Drumherum. Was er seiner Meinung nach falsch gemacht, was er unterlassen oder übertrieben hat. Aber die meisten bereuen auch ihre Tat. Was soll er nun tun, denn ein Zurück gibt es nicht mehr. Soll er sich stellen? Soll er, im vollen Bewußtsein seiner Schuld, eine Strafe auf sich nehmen, die bei einem Tötungsdelikt auch lebenslange Haft betragen kann. In Ausnahmefällen wird es das geben, die Regel ist es nicht. Wir müssen also davon ausgehen, daß ihm, aus seiner Sicht, ja gar nichts anderes übrigbleibt, als sich zu wehren. Und wie wird er sich wehren? Er kann uns nicht auch noch töten, aber täuschen kann er uns. Und das wird er versuchen. Er wird Spuren verwischen und falsche Spuren auslegen, er wird sich ein Alibi zusammenzimmern, wird leugnen, abstreiten und beteuern, er wird uns ein falsches Bild von sich machen. Eine panische Angst wird ihn treiben und eine dumpfe Angst ihn hemmen. Er wird der Gehetzte sein. Der Täter ist zugleich auch immer Opfer seiner Tat.“ Auch das war nichts Neues für die Genossin Leutnant. Das war Schnee von vorgestern. Und doch wirkte es anders, nicht so lehrbuchmäßig vorgetragen wie sonst immer. Da saß ihr ein Mann gegenüber, der wahrscheinlich viel nachdachte über den gemeinsamen Beruf. Der 56
hinter jedem Fall Menschen sah und hinter jedem Menschen Schicksale. Der sich in jeden einzufühlen versuchte, in das Opfer wie in den Täter. „Übrigens haben wir im Abfalleimer der Felgners zwei Bogen Seidenpapier gefunden, in denen wahrscheinlich der Rosenstrauß eingewickelt war. Aber tippen Sie nun nicht auch gleich auf einen Liebhaber. Das Blumenangebot ist bei uns weiß Gott nicht so, daß man große Auswahl treffen könnte. Man muß nehmen, was sich gerade bietet. – Und jetzt schreiben Sie Ihren Bericht zu Ende. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie bei mir vorbei. Wo wohnen Sie denn?“ Evelyn nannte ihre Adresse. „Nicht gerade meine Richtung, aber ich fahre Sie nach Hause. Unterwegs können wir uns weiter unterhalten. Über eine Spur zum Beispiel, die nach Brandhofen führt.“ Brandhofen war ein beschauliches Städtchen mit etwa fünfzigtausend Einwohnern. Die Entfernung nach Berlin betrug achtzig Kilometer. Es gab eine Eisenbahnverbindung, eine Landstraße, und die Autobahn konnte man ebenfalls benutzen. Im Süden der Stadt erstreckte sich der Brandhofener Ortsteil Wiesengrund, so genannt, weil sich an dieser Stelle früher saftiges Wiesen- und Weideland befunden haben soll. Heute erinnerte nur noch der Name daran. Aus dem Wiesengrund war Baugrund geworden und darauf eine schmucke Stadtrandsiedlung entstanden. Vor allem Handwerker und Arbeiter hatten sich hier niedergelassen, darunter auch Vorfahren, des mächtigen Dortus-Clans, wie Walter Felgner die Familie seiner Frau nannte. Einer von ihnen wohnte auch jetzt noch dort. Hubert Kranzbach, geboren 1902, nunmehr also vierundsiebzig Jahre alt. Kranzbach war das, was man einen rüstigen Greis nennt. Wach noch in Kopf und Gliedern, listig und etwas verschlagen, einer, der sich 57
die Butter nicht vom Brot nehmen ließ und stolz darauf war. In seiner Jugend als Heißsporn verschrien, oftmals jähzornig und einmal wegen Schlägerei auch in Haft gesessen, hatte er sich ansonsten geschickt durch die wechselhaften Zeitläufe geschlängelt und immer sein Schäfchen ins trockene gebracht. Mit zunehmendem Alter war er ruhiger geworden, er genoß einen guten Ruf unter den Nachbarn; der Hubert, sagten sie, der ist schon in Ordnung. Kranzbach war wie immer um sechs Uhr aufgestanden, hatte sich Milch warm gemacht und zwei Eier in die Pfanne geschlagen. Er aß mit Vergnügen, und nach dem Frühstück nahm er, auch wie immer, einen tüchtigen Schluck aus der Wodkaflasche. Das war ihm so wichtig wie anderen das Zähneputzen. Hubert Kranzbach war jedoch nicht der erste, der in seinem Haus frühmorgens aus dem Bett stieg. Den Anfang machte Elli, seine Tochter, die bei der Post arbeitete und schon vor Tagesanbruch Briefe sortieren mußte. Eine Frau Anfang Fünfzig, tüchtig und nicht unterzukriegen, trotz des vielen Pechs, das sie mit den Männern gehabt hat. Ihr folgte Harald, Ellis dreiundzwanzigjähriger Sohn aus einer ihrer kurzen Verbindungen, der auf dem Bau beschäftigt war. Ein kräftiger Bursche, in dem Kranzbach viel von sich wiederfand und den er als einen würdigen Enkelsohn schätzte. Aber gleich nachdem Harald Kranzbach die Wohnung verließ, kam Hubert zum Vorschein. Es hätte auch später sein können, denn nichts trieb ihn zu so früher Stunde schon auf. Er selbst trieb sich, das war es wohl. Man muß immer auf Trab sein, sagte er. Gleich nach dem Frühstück, das klare Wässerchen in den Adern, trapste er durch das Haus, über den Hof, in die verlassenen Ställe und zur Straße schließlich. Er trug einen verschlissenen Fleischeranzug und eine Flei58
schermütze, aus seiner Berufszeit noch und bereits mehrfach geweitet. Vor seinem Grundstück stehend, erwartete er den Nachbarn Rübsam zur Linken und den Nachbarn Kolbe zur Rechten, beide fast gleichaltrig mit ihm. Sie nickten sich zu, quälten sich einen Gruß ab und begannen zu schimpfen. Das war ihr Tagesanfang. Sie schimpften auf das Wetter, auf die schlechten Kartoffeln, auf das letzte Fernsehprogramm. Sie fanden immer Stoff zum Schimpfen. Inzwischen wurde es sieben und halb acht, Schulkinder gingen vorbei, und die drei Männer meinten, daß es nun Zeit wäre, das Tagewerk zu beginnen. Keiner von ihnen hätte sagen können, worin es eigentlich bestand, aber jeder machte eine gewichtige Miene, seufzte, schimpfte noch mal und ging dann in sein Anwesen zurück. An diesem Vormittag, sechzehn Stunden etwa nach dem Tode Ruth Felgners, von dem Hubert Kranzbach aber nichts wußte, schlurfte er in seinen Keller, weil er es für ungeheuer wichtig hielt, dort gründlich aufzuräumen, was allerdings nichts anderes hieß, als umzuräumen – von hier nach da und von da nach dort, denn Ordnung herrschte ohnehin bei ihm. Er war gerade so richtig beim Werkeln, als er über sich ein dumpfes Rufen hörte. „He, Hubert! Kranzbach!“ Er antwortete unwillig. „Was is’n?“ „Wo steckste denn? Hier ist Mosebach.“ „Na, im Keller“, rief er zurück und dachte: Was will der denn? Klaus Mosebach war bis vor einem Jahr ABV in dieser Gegend gewesen. Jetzt arbeitete er auf dem Polizeiamt in der Stadt, hatte Harald erzählt. Die Luke öffnete sich über Hubert, tastende Schritte kamen näher. „Hier muß man sich ja anseilen“, hörte er 59
es fluchen, „ist direkt lebensgefährlich.“ Dann stand Mosebach vor ihm. In Uniform, schnaufend und mit Staub bedeckt. „Faß mal mit an“, sagte Kranzbach. „Da auf den Schemel ’rauf.“ Gemeinsam wuchteten sie ein unförmiges Faß hoch und stellten es ab. „Was is’n da drin?“ wollte der Oberwachtmeister wissen. „Burgunder oder Malaga?“ „Sauerkraut.“ Kranzbach gab seinem früheren Abschnittsbevollmächtigten einen alten Lappen, damit er sich die Hände abwischen konnte. „Was willst’n?“ „Ich komme wegen Ruth. Ruth Felgner. – Sag mal, was ich dich schon immer mal fragen wollte: Was ist die eigentlich von dir? Deine Nichte?“ Hätte Klaus Mosebach, ein Mann von dreißig Jahren, hager und dürr, wie Kranzbachs Kaninchen nicht mal in den schlechtesten Jahren, hätte dieser aufgeweckte, wenn auch etwas bedächtig wirkende Polizist geahnt, was er mit dieser Frage auslösen würde, er hätte bestimmt auf sie verzichtet. Hubert Kranzbach warf sich in Positur, eine Sternstunde seines Lebens schien angebrochen. „Die Ruth? Das ist meine … also, was ihre Mutter war … sagen wir mal so: Ruth Felgner ist ’ne geborene Dortus. Und ihre Mutter war ’ne geborene …“ „Kranzbach“, warf Mosebach ein. „Eine geborene Lautenstein. Und was meine Frau war, die Lene, die ist auch eine geborene Lautenstein.“ Mosebach hob die Hand wie ein Verkehrspolizist, der das Stoppzeichen gibt. Er öffnete seine Tasche, suchte Schreibblock und Bleistift und wollte sich Notizen machen. „Noch mal. Deine Frau …“ „Meine Frau und Ruths Großmutter …“ „Sind Geschwister.“ Mosebach strahlte, er glaubte den Faden gefunden zu haben. „Nicht Geschwister. Cousinen.“ 60
Mosebach war nun völlig verwirrt. „Geht doch gar nicht. Cousinen geht nicht.“ „Geht ausgezeichnet.“ Jetzt strahlte Hubert Kranzbach. Er kam sich offenbar wie ein Zaubermeister vor, der jederzeit ein lebendiges Vögelchen aus der Rocktasche holen konnte. „Geht ausgezeichnet“, wiederholte er. „Denn du mußt auch die männliche Linie verfolgen. Der Vater von Ruths Großmutter und der Vater von meiner Frau, die waren nämlich … na, was waren sie? Geschwister waren sie, Brüder. Du kannst das noch anders sehen. Mein Schwiegervater war der Bruder von Ruths Urgroßvater. Und der olle Wilhelm – paß uff, jetzt wird’s knifflig: was der alte Wilhelm war, der hat, das muß so Anno achtzehnhundert … in die Achtziger gewesen sein, da hat der schon mit der Schwester von Ruths Urgroßmutter, was eine verehelichte Schröderheinze war, aus dem Fränkischen kam ihr Mann, seine Eltern hatten …“ Mosebach stöhnte auf. „Mein Gott, wir landen noch bei Adam und Eva.“ Er steckte das Schreibzeug wieder weg. „Laß es gut sein, Hubert, ich sehe jetzt durch. Die Ruth und du, irgendwann im Dreißigjährigen Krieg vielleicht … auf jeden Fall seid ihr miteinander verwandt. So. Und nun meine Frage: War Ruth vorgestern bei euch?“ „Vorgestern? Natürlich war sie hier. Warum fragst’n das?“ Mosebach setzte seine Amtsmiene auf. „Klärung eines Sachverhalts. So nennt man das bei uns. – Ruth war also vorgestern, am vierundzwanzigsten Oktober, bei euch gewesen. Und?“ „Was und?“ Der Oberwachtmeister merkte, daß er seine Frage falsch, zumindest unkonkret gestellt hatte. „Ich meine, wann kam sie, wie lange blieb sie?“ „Na, am Nachmittag, so gegen fünfe vielleicht. Und 61
wie lange? Zehn Minuten, eine Viertelstunde, auf jeden Fall ganz kurz nur.“ „Aha. Kann man also sagen: Sie kam um siebzehn Uhr und blieb bis siebzehn Uhr fünfzehn?“ „Nee, kann man nicht sagen. Ich habe ja nicht zur Uhr gesehen. Plötzlich stand sie in der Tür – Tagchen, ihr Lieben –, brachte Elli Parfüm mit, mir ein paar Zigarren und mußte dann dringend mal zur Toilette. Sie bestellte wie immer Grüße von ihrem Mann, sagte noch dies und das und schwirrte wieder ab.“ „Schwirrte wieder ab? Aber sie muß doch etwas gewollt haben bei euch?“ „Warum denn?“ Mosebach dachte nach. Er hatte im Fernsehen beobachtet, wie das geistig Tätige und vor Anstrengung Erschöpfte zu tun pflegen und eiferte ihnen nach. Er legte zwei Finger an die Nasenwurzel, rieb in den Augenwinkeln und krauste die Stirn. „Wenn Ruth nur ’ne Viertelstunde bei euch war, heißt das doch … versteh mich mal richtig, Hubert, wegen fünfzehn Minuten wird sie nicht extra aus Berlin angereist sein. Ruth kommt sicherlich gern zu euch, und im letzten halben Jahr hat sie euch ja wohl auch sehr oft einen Besuch abgestattet, aber ’ne Viertelstunde, das ist doch nur mal ein kurzes Reingucken, nicht?“ Kranzbach stimmte ihm zu. „Natürlich ist Ruth nicht unseretwegen gekommen. Sie wird vorher bei Ewalden gewesen sein. Du kennst doch Ewald, Ewald Wätzlaff in der Obertalstraße. Ein Onkel von ihr. Eigentlich kein Onkel, keiner in gerader Linie. Paß uff, das ist auch interessant: Ewalds Frau, die Lisbeth, die voriges Jahr gestorben ist, das war eine geborene Hemmerling, und die Hemmerlings kamen …“ „Ich kenne Ewald Wätzlaff“, unterbrach Oberwachtmeister Mosebach. „Das ist der, der das Juweliergeschäft besaß und bei dem Ruth mal gearbeitet hat.“ 62
„Ruth hat dort gelernt, im ersten Lehrjahr, bevor sie zur HO ging. Sie hielt damals nicht viel von Ewald als Lehrausbilder. Aber jetzt besucht sie ihn ab und zu.“ „Hat Wätzlaff sein Geschäft nicht inzwischen verkauft?“ „An den Dietrich Bromme meinst du? Ich weiß nicht, ob verkauft oder nur verpachtet. Ewald läßt sich ja nicht in die Karten gucken. Willste zu dem auch?“ Klaus Mosebach nickte. Sein Auftrag sah nämlich vor, Ewald Wätzlaff und auch alle anderen hier ansässigen Verwandten Ruth Felgners aufzusuchen. Aber wahrscheinlich würde das gar nicht ausreichen. Denn wenn man in Berlin, von dort kam die Anfrage, wenn man also dort aus irgendeinem Grund wissen wollte, ob sich Ruth Felgner vor zwei Tagen in Brandhofen aufgehalten hat, durfte man sich seiner Meinung nach nicht nur auf ihre Verwandten beschränken. „Ich hatte immer gedacht, daß Ruth außer euch vor allem noch ihre Freundin besuchen kam, die Sonja Plaschke.“ „Die Plaschke? Die wohnt nicht mehr in Brandhofen. Die ist doch geschieden.“ „Was du nicht sagst. Sonja ist geschieden?“ „Voriges Jahr schon. Das weißt du nicht?“ Mosebach schüttelte den Kopf. Es wunderte ihn selbst, daß er davon nichts wußte. So etwas sprach sich doch sonst immer am schnellsten herum. Er konnte sich noch gut an Sonja Plaschke erinnern. Ein scharfes Weib, hieß es unter den Männern. Als sie noch ledig war, hatte sich Kurt Dortus, Ruths Bruder, mal an sie herangemacht. Ruth und Sonja wohnten eine Weile zusammen. Ruth war von zu Hause weggezogen, als ihre Mutter wieder heiratete. Sie verstand sich mit dem Stiefvater nicht. Bei Sonja hatte sie schließlich Zuflucht gefunden. Sie arbeiteten beide bei der HO Schmuck und Uhren in der Hauptstraße. Tolle Sachen sollen sie damals angestellt haben. 63
In den letzten Monaten waren sich Mosebach und Ruth Felgner manchmal in Brandhofen begegnet. Sie hatten einander gegrüßt, aber kaum ein paar Worte gewechselt. Schade eigentlich, dachte er. Als Kinder hatten sie oft miteinander gespielt. Ruth, er, noch ein paar Bengels und manchmal auch Kurt. Eine Zeitlang am liebsten Dornröschen, und er, Mosebach, war der Prinz gewesen, der sie wachküssen mußte. Sie hatten das Märchen dann so eingeengt, daß nur noch diese Szene gespielt wurde. Die Jungen stellten sich in eine Reihe auf, denn alle waren ja nun Prinzen, und jeder durfte Ruth einen Kuß geben. Ihr gefiel das damals außerordentlich. Mit Kurt Dortus war Mosebach nie richtig warm geworden. Er hatte immer so etwas Erwachsenes, Ausgereiftes an sich, fühlte sich für alles verantwortlich und gab ständig weise Ratschläge. Sicherlich lag das daran, weil seine Mutter wenig Zeit für ihre Kinder aufbrachte. Sie hatte genug mit ihrem zweiten Mann zu tun, einem haltlosen Kerl, der sich in Kneipen herumtrieb. Aber Schwamm drüber, beide waren inzwischen tot. Und da Ruths frühere Freundin auch nicht mehr in Brandhofen wohnte, wie er seit eben wußte, galten ihre Besuche in den letzten Monaten wohl tatsächlich allein ihren Verwandten: den Kranzbachs oder dem Ewald Wätzlaff oder wer sonst noch dazu gehören mochte. „Also bei euch hielt sie sich nur kurz auf, Hubert. Und vorher war sie bei Ewald in der Obertalstraße …“ „Ich nehme an, daß sie bei Ewalden war. Gesagt hat sie nichts. Sie kann genausogut bei Otton gewesen sein. Otto Sieland, ein Cousin ihrer Mutter, der in der Puschkinallee die Radioreparaturen annimmt. Oder bei Auguste Lindner im Altersheim, der Schwiegermutter von Ruths Vater, dem richtigen, der vierundvierzig in den Ardennen gefallen ist, bei ihrer Oma also. Sie kann auch …“ 64
„Nein, Hubert, bitte nicht weiter! Ich will doch keine Stadtrundfahrt machen! Ihr seid ja mit halb Brandhofen versippt und verschwägert. Das nimmt ja kein Ende.“ Mosebach legte wieder nachdenklich Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Das erschöpfte Augenwischen vergaß er. „Hat Ruth dir gesagt, wo sie anschließend hin wollte, nach dem Kurzbesuch bei euch? Verstehst du, was ich meine?“ Der alte Kranzbach schüttelte unwillig den Kopf. „Warum soll ich das nicht verstehen? Du sprichst ja nicht undeutlich, und meine Ohren sind gewaschen. – Ich weiß nur, daß Ruth wieder ins Auto gestiegen und abgedampft ist.“ „Ruth war mit ’nem Wagen da?“ „Du fragst genauso dusselig, wie vorgestern Harald gefragt hat. Schon daß Ruth hier war, aber nicht auf ihn gewartet hat, brachte ihn in Wut. Und als er dann noch von dem Auto hörte …“ Klaus Mosebach war ein gewissenhafter Polizist. Er wollte sich nicht um Dinge kümmern, die außerhalb seines Auftrages lagen, aber auch nichts übergehen, was eventuell dazu gehören könnte. „Gib mir mal das polizeiliche Kennzeichen.“ „Das was?“ „Das polizeiliche Kennzeichen. Die Autonummer.“ „Sag mal, wofür hältst du mich eigentlich? Denkst du, ich stehe hinter der Gardine und notiere mir Autonummern? Ein Wartburg war’s, ein weißer Wartburg. Mit Schiebedach. Und als Ruth die Wagentür öffnete und einstieg, ging drinnen das Licht an. Da sah ich, daß jemand hinter dem Steuer saß.“ „Hast du erkannt, wer es war?“ „Hat mich Harald auch schon gefragt. Nein, habe ich nicht. Ich weiß nur, daß es was Langhaariges war.“ „Eine Frau demnach.“ 65
„So genau kann man das heutzutage ja nicht bestimmen, nicht? Es laufen doch genug Bengels mit ’ner Weibermähne ’rum, und Frauen tragen lange Hosen. Wie soll man sich da noch auskennen. Aber ich denke schon, daß es eine Frau war.“ „Vielleicht die Plaschke“, sagte Mosebach. „Es könnte sein, daß Sonja jetzt auch in Berlin wohnt, und die beiden stecken wieder zusammen.“ Ihm gefiel diese Erklärung, denn er hatte viel übrig für Jugendfreundschaften, die sich über die Jahre fortsetzten. Der alte Kranzbach hob die Schultern. „Möglich, daß es die Plaschke war, so gut kenne ich sie nicht. Aber ob die sich so kurz nach der Scheidung schon einen Wartburg leisten kann? Man erzählt nämlich, sie sei ziemlich großzügig gewesen und habe das meiste ihrem Mann überlassen. Allerdings, Frauen rappeln sich ja oft schnell wieder hoch. Was die Jutta ist, die Nichte einer Cousine meiner Frau, in Dresden wohnt sie und war mit einem Offizier der NVA verheiratet, du wirst sie nicht kennen, ihre Eltern stammen aus Luckenwalde, wo sie eine Bäckerei haben, im Sommer mit Eisverkauf, die Jutta hat bei ihrer Scheidung …“ Es half nichts, Mosebach mußte die Geschichte bis zum Ende anhören. Weiter sogar, denn danach kamen die Schlußfolgerungen, die sogenannten Lehren. „Und deshalb predige ich Harald immer: Junge, wenn du dich an eine Frau bindest, schaffe von Anfang an klare Verhältnisse. Das gehört mir, das dir. Ist doch so, oder?“ „Hat Harald denn jemand? Ich meine, was Festes?“ „Der? Der ist helle. Wenn ich Milch trinken will, kaufe ich doch nicht gleich ’ne Kuh, sagt er. Der will sich ein Auto anschaffen, einen Wartburg, gebraucht natürlich. Deshalb wurde er vorgestern so wütend, als Ruth nicht auf ihn gewartet hat. Sie will ihm nämlich mit ein paar 66
Scheinchen unter die Arme greifen. Wenn du ihn sprechen willst, er arbeitet drüben im E-Werk. Die bauen ’ne neue Maschinenhalle. In einer halben Stunde ist Frühstückspause.“ Klaus Mosebach wollte ihn jetzt eigentlich nicht sprechen. Wozu auch? Außerdem hatte es inzwischen zu regnen begonnen. Hubert begleitete ihn bis zur Haustür. Da standen sie nun und starrten auf die größer werdenden Pfützen. Die Tropfen bildeten Blasen auf dem Pflaster, was auf Dauerregen schließen ließ. „Soll ich dir einen Schirm borgen?“ fragte Kranzbach. Sie lachten und witzelten ein bißchen. „Ich werde erst mal meinen Mantel holen“, sagte Mosebach schließlich. Er wohnte in derselben Straße und hatte es also nicht weit. Die Uniform zwang ihn, mannhaft durch den Regen zu stapfen. Er durfte nicht den Kragen hochschlagen, nicht seinen Kopf einziehen oder die Hände in den Taschen vergraben. Zu Hause zog er den Mantel an und nahm das Fahrrad. Er stemmte sich in die Pedale und schimpfte über das holprige Pflaster, das glitschig war und den Reifen keinen Halt bot. Die Straße führte eine kleine Anhöhe hinauf. Meistens schaffte er sie, ohne absteigen zu müssen. Doch diesmal blies ihm ein scharfer Wind entgegen, trieb ihm Nässe und Kälte ins Gesicht. Er schob das Rad, beugte sich dabei tief über den Lenker und achtete kaum auf die Umgebung. Erst als er seinen Namen hörte, sah er auf. „He, Klaus! Stell dich doch einen Moment unter.“ Es war Harald Kranzbach, Huberts Enkel. Er stand auf der anderen Seite in der Toreinfahrt des großväterlichen Grundstücks und winkte ihm zu. „Was machst denn du hier?“ rief Mosebach zurück. Er lenkte sein Rad hinüber, und sie begrüßten sich. Ha67
rald Kranzbach schien seinem Großvater aus dem Gesicht geschnitten. Die gleichen listigen Augen, die flache Stirn, das Haar zwar blond und nicht grau, aber ebenso wirr und strähnig, in seinen Bewegungen ruhelos, immer etwas angespannt, immer auf Trab, wie der alte Hubert. Natürlich war er viel robuster, noch unverbraucht. Ein Mann, neben dem sich der schmächtige Mosebach wie der kümmerliche Schneider Wibbel vorkam. „Du warst eben beim Großvater?“ fragte Harald. Er zog eine Schachtel Pall Mall aus der Tasche und bot an. Mosebach guckte erstaunt. „Hast du im Lotto gewonnen?“ „Mußt auch auf’n Bau kommen. Da kannste Kies machen noch und noch. – Was ist denn mit Ruth? Großvater sagt, du ziehst Erkundigungen über sie ein?“ „Keine Erkundigungen. Wollte nur wissen, ob sie vorgestern bei euch war.“ Harald Kranzbach sog an seiner Zigarette und schnippte dann Asche ab, obwohl sich kaum welche gebildet hatte. „Sie war da, aber nur kurz. Als ich nach Hause kam, war sie schon wieder weg.“ „Ich weiß.“ Der Oberwachtmeister nahm ein Taschentuch und wischte den Sattel trocken. „Sauwetter“, schimpfte er. „Ich weiß noch, vor ein paar Jahren, da hatten wir einen Oktober wie aus ’nem Werbeprospekt. Herrlichen Sonnenschein.“ „Großvater sagt, du hast vor allem nach dem Auto gefragt. Du wolltest das polizeiliche Kennzeichen wissen.“ Mosebach richtete sich auf. Er begegnete für einen Moment Haralds Blick und war betroffen. Es lag so etwas Hintergründiges, fast Lauerndes darin, daß er die Augen gleich wieder abwandte. Als hätte er den anderen bei einer Handlung ertappt, wobei man nicht zusehen möchte. 68
„Hubert und ich haben ein bißchen rumgequatscht. Du kennst ihn doch, der kommt vom Hundertsten ins Tausendste.“ „Eben. Man darf nicht alles für bare Münze nehmen.“ Mosebach warf die Zigarette fort. Sie war feucht geworden. Sofort wurde ihm eine neue gereicht. „Rauch noch eine, vielleicht läßt der Regen inzwischen nach.“ „Nee, laß nur.“ Er grätschte über den Sattel, blieb aber noch stehen. Er wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Harald Kranzbach galt von jeher als ziemlich neugierig. Daß er ihn hier abgepaßt hatte und ausfragen wollte, mußte also nichts bedeuten. Zumal es um keinen Fremden, sondern um Ruth Felgner ging. Aber Mosebach fühlte, daß Harald heute anders war als sonst. Dieser unsichere, unstete Blick war nicht zu übersehen. Es lag eine Wachsamkeit in seiner Haltung, die den Oberwachtmeister irritierte. Er hatte ein feines Gespür für Nuancen. Mit Menschen konnte er umgehen, besser als mit Akten. Und jetzt hatte er den Eindruck, daß Harald noch etwas loswerden wollte, aber nicht wußte, wie. Also nahm er sich doch noch ein bißchen Zeit. „Hast du vielleicht eine Ahnung, wo Ruth überall war, vorgestern?“ „Bei Bromme, nehme ich an.“ „Bei dem Juwelier?“ „Auf jeden Fall war es sein Wartburg, mit dem sie zu uns kam. Das weiß ich inzwischen. Und am Steuer saß die schöne Juditha, Brommes Verlobte.“ Juditha Ries arbeitete im Geschäft des Juweliers, das wußte Mosebach, auch daß sie seit kurzem mit Bromme verlobt war. Aber was hatte Ruth mit ihnen zu tun? „Kennen die sich denn so gut?“ „Ruth und Bromme? Und wie die sich kennen!“ Kranzbach grinste. „Und ich dachte, Ruth wäre mit ihrer Freundin, der 69
Sonja Plaschke hier gewesen.“ Mosebach schien tatsächlich enttäuscht. „Sonja habe ich seit ihrer Scheidung überhaupt nicht mehr in Brandhofen gesehen. Ich glaube auch nicht, daß Ruth noch Verbindung mit ihr hat. Sonst hätte sie bestimmt mal was erwähnt. Aber Bromme hat die Plaschke mal getroffen. In Berlin.“ „Die beiden kennen sich auch? Woher weißt du denn das alles?“ „Ich arbeite doch für Bromme – nach Feierabend. Er läßt sich einen Bungalow bauen, draußen am Südhang. Und wenn ich mich da schaffe und er kommt mit der schönen Juditha besichtigen oder kontrollieren, hört man so dieses und jenes. Außerdem kennst du uns ja: Einem vom Kranzbach-Stamme entgeht so leicht nichts.“ Das sollte burschikos komisch klingen. Aber die Miene, der Blick stimmten nicht überein mit dem Gesagten. Harald spielte Burschikosität, täuschte sie vor. In seiner Haltung lag nach wie vor eine auffallende Unsicherheit. „Warum fragst du eigentlich, Klaus?“ Kranzbach guckte an ihm vorbei. „Kommst her und machst die Hühner scheu.“ „Was für Hühner? Wenn du Hubert meinst, den habe ich alles andere als scheu gemacht. Dem habe ich zu einem Erfolgserlebnis verholfen. Er hat mir nämlich zu erklären versucht, wie Ruth mit ihm verwandt ist.“ „Hast du’s kapiert?“ „Kein Stück. – Verstehst du dich eigentlich gut mit Ruth?“ „Ich? Na prächtig. Aber Ruth ist ’ne Frau, und Frauen sind ein launisches Volk. Launisch und wechselhaft, man kann sich nicht auf sie verlassen.“ „Da hast du recht!“ Mosebach stimmte ihm aus tiefstem Herzen zu, und er wußte, was er sagte. Er lebte mit drei Frauen zusammen, Ehefrau, Schwägerin und Schwiegermutter, und jeder in der Umgebung kannte sein Leid. 70
Ihm fiel ein, daß Harald sich, laut Auskunft des alten Hubert, ein Auto zulegen und Ruth ihm dafür Geld borgen wollte. Vielleicht hatte das nicht geklappt, und nun war er enttäuscht und nannte sie launisch. Kranzbach drängte jetzt. „Nun sag schon, warum fragst du nach Ruth? Kommen die Nachforschungen etwa aus Berlin?“ „Das sind doch keine Nachforschungen. Man will lediglich wissen, ob sich Ruth Felgner am vierundzwanzigsten Oktober, also vorgestern, in Brandhofen aufgehalten hat.“ „Die Polizei will niemals nur lediglich wissen. Da steckt immer was dahinter. – Laß gut sein, Alter, hast ja auch deine Vorschriften. Ich muß jetzt wieder ranklotzen.“ Mosebach sah ihm nach, wie er so dahinschritt – breit, kraftvoll, aber auch etwas unbeholfen. Als spürte er die Blicke in seinem Rücken und bezwang nun den Wunsch, sich umzudrehen. Leutnant Fiedler hatte für diesen Vormittag zwei Aufträge erhalten. Einen dritten nahm er freiwillig auf sich. Den ersten konnte er schnell erledigen. Er fuhr zur Taxizentrale, um dort mit dem Fahrer zu sprechen, der Walter Felgner befördert hatte, und auch den zu befragen, der der telefonischen Taxibestellung nachgekommen war. Da er sich angemeldet hatte, erwarteten sie ihn schon. Die Aussagen Walter Felgners wurden von dem Taxifahrer bestätigt. Er konnte auch die Uhrzeit angeben. „Es war genau zwanzig vor fünf, als der Fahrgast ausstieg.“ Er schilderte Felgners Verhalten so, wie der es selbst auch dargestellt hatte. „Als die Funkanfrage kam, Schliersstraße zwölf, um siebzehn Uhr, fuhr er wie von einer Tarantel gestochen zusammen. Er fragte mich nach Namen und Adresse, als habe er sich verhört oder 71
könne es nicht glauben. Im Rückspiegel sah ich, daß er ziemlich nervös war. Aber gedrängt, schneller zu fahren, hat er mich nicht, das muß ich betonen.“ Der andere Fahrer hatte die Weisung der Dispatcherzentrale befolgt, war jedoch mit etwas Verspätung in der Schliersstraße eingetroffen. „Etwa fünf Minuten nach siebzehn Uhr kam ich an. Im Haus Nummer zwölf brannte kein Licht. Weil ich nicht ganz pünktlich war, wartete ich nicht im Wagen, sondern lief durch den Garten und klingelte an der Haustür. Zweimal habe ich mindestens geklingelt. Da niemand öffnete und auch nichts zu hören war, bin ich wieder gegangen. Ich meldete den Ausfall und erhielt einen neuen Auftrag. Ich habe nichts Auffälliges bemerkt. Auf der Straße waren weder Passanten, noch sah ich ein Fahrzeug in der Nähe. Es regnete stark, und es war schon dunkel.“ Das hieß, überlegte Fiedler, um 17 Uhr war das Verbrechen bereits geschehen, Ruth Felgner schon tot. Das mußte aber nicht bedeuten, daß sich um diese Zeit niemand im Hause aufgehalten haben könnte. Fiedler begnügte sich vorerst mit diesen beiden Schlußfolgerungen. Er nutzte die Gelegenheit, sozusagen an der Quelle zu sitzen, und ließ sich in die Schliersstraße fahren. Er sollte dort, so lautete der zweite Auftrag, mit Dr. Mau, Felgners Nachbar, ein paar Fragen besprechen, die sich inzwischen ergeben hatten. Unterwegs dachte er über sein Problem nach, das zu lösen er sich selbst aufgegeben hatte. Es ging um einen Zettel, der in Felgners Küchenschrank gefunden wurde, zwischen Eierbecher und Zuckerdose: Wä 25. X. stand darauf. Felgner hatte gleich bestätigt, daß es die Schrift seiner Frau war, konnte zunächst aber mit der Notiz nichts anfangen. Das Datum war klar, es betraf den Todestag, aber Wä …? „Ein Verwandter meiner Frau aus Brandhofen“, rief er dann plötzlich. „Ewald Wätzlaff, ein Onkel, glaube ich.“ 72
Das „glaube ich“ sprach Bände, aber nicht darüber war Fiedler gestolpert. Etwas anderes hatte ihn stutzig gemacht, nicht gleich gestern abend, sondern heute beim Frühstück erst. Bei der morgendlichen Grußsendung im Radio: Dackel Balduin grüßt Tante Lisbeth. Er hätte gern seine Vermutung oder sein Unbehagen über die Deutung dieses Zettels mit jemand besprochen. Aber Oberleutnant Blatt, den Zschoppe beauftragt hatte, sich in Brandhofen umzusehen, und den es deshalb am ehesten anging, war bereits auf dem Wege. Evelyn und Unterleutnant Lange hatte er auch nicht angetroffen, und vor dem Alten wollte er seine Zweifel nicht ausbreiten. Er kannte dessen Aversion gegen unausgereifte Gedanken, und so nahm er sich eben jetzt die Zeit, sie ausreifen zu lassen. Dr. Mau empfing ihn außerordentlich zuvorkommend, aber auch ein bißchen ängstlich, wie es schien. Vielleicht fürchtete er Vorwürfe, bei seiner gestrigen Hilfeleistung etwas versäumt oder falsch gemacht zu haben. Fiedler ließ sich noch mal die genaue Lage der Toten beschreiben, besonders die Stellung der Hände. Unter den Fingernägeln der rechten Hand hatte man nämlich winzige Papierfasern entdeckt. Als hätte Ruth Felgner während des Sturzes oder sogar noch danach krampfhaft etwas Papierenes festgehalten. Aber weder auf der Treppe noch in der Diele war etwas davon gefunden worden. „Nein, Herr Leutnant, Frau Felgner hielt nichts in den Händen, als ich sie untersuchte. Sehen Sie, sie lag auf dem Bauch, die Arme waren weit nach vorn gestreckt. Es ließ sich nicht vermeiden, ihren Körper umzudrehen … Da war kein Papier, ganz bestimmt nicht.“ „Sie mußten auf die Schnelle Hilfe warten. Haben Sie sich da mit Herrn Felgner unterhalten?“ „Wir haben Worte gewechselt, unterhalten kann man das nicht nennen. Dazu war ja nun wirklich nicht die 73
richtige Gelegenheit. Herr Felgner hat zuerst immer nur gefragt: ‚Lebt sie, lebt sie noch?‘ Als ich das verneinen mußte, handelte er wie ein Schlafwandler. Ich sehe es jetzt noch, wie er mit einer erschütternden Bedächtigkeit seinen Mantel auszog und aufhängte; wie er in den Spiegel starrte, ins Wohnzimmer ging, wieder zurückkam; wie er die Handtasche seiner Frau öffnete, alles herausnahm, die Ausweispapiere, das Portemonnaie … Da fällt mir ein, daß ich Frau Felgner einige Stunden zuvor auf der Bank getroffen habe. Gegen zwölf, in der Sparkasse am Albrechtstor. Ich weiß nicht, ob das von Bedeutung für Sie ist. Frau Felgner stand vor einem Schalter an. Ich hatte das Gefühl, daß ihr unsere zufällige Begegnung gar nicht recht war.“ Am Albrechtstor? Das lag doch völlig entgegengesetzt von der Schliersstraße. Fiedler mußte erst überlegen, wie man dort hinkam. Mit der S-Bahn wahrscheinlich und am Ostkreuz umsteigen. Was hatte Ruth Felgner dort zu erledigen gehabt, vier oder fünf Stunden vor dem erwarteten Besuch? Das Gehaltskonto ihres Mannes und das gemeinsame Sparbuch wurden in der Sparkasse am Alexanderplatz geführt. Es war nicht Fiedlers Art, erst lange über etwas zu grübeln, was sich leicht feststellen ließ. Er stieg in die SBahn und fuhr zum Albrechtstor. Die Fahrt, eine halbe Stunde bei günstigem Anschluß, nutzte er, um wieder auf sein Problem zurückzukommen, auf Wä 25. X. – was bislang gedeutet wurde als Wätzlaff am 25. Oktober. Wenn man aber als Nichte eine Verabredung oder was auch immer mit dem Onkel vermerken will, wählt man da die ersten beiden Buchstaben seines Zunamens? Ruth Felgner hätte Onkel E geschrieben oder einfach Ewald oder lediglich den Anfangsbuchstaben des Vornamens. Was also hatte es auf sich mit Wä 25. X.? Einen anderen nicht verwandten Wätzlaff, gar keinen Wätzlaff? Der 74
dicke Fiedler fand, daß es sich lohnen könnte, darüber nachzudenken. „Ihre Frau hatte das Taxi nicht bestellt, Herr Felgner“, sagte Evelyn Goldmann. Sie saß ihm gegenüber und betrachtete sein müdes und eingefallenes Gesicht. Er war unrasiert, die Augen lagen tief in den Höhlen, von dunklen Schatten umrandet, die Lippen zuckten nervös. Er schien ihr um Jahre gealtert. Felgner nahm ihre Mitteilung ohne Reaktion hin. Es war nicht mal sicher, ob er den Sinn ihrer Worte überhaupt begriffen hatte. Ungerührt kauerte er da, völlig abwesend. Er trug dieselbe Hose wie am Abend zuvor, dasselbe Hemd mit dem spitz ausgeschnittenen Pullover darüber, dieselben Schuhe noch. Vielleicht war er gar nicht im Bett gewesen. Felgner rauchte. Auf dem Tisch des Wohnzimmers stand ein großer Aschenbecher, in dem sich die Kippen ansammelten. Das Geschirr vom Vortag war im Labor inzwischen untersucht und wieder zurückgegeben worden. Felgner hatte es noch nicht ausgepackt, die Kartons standen neben der Anbauwand auf dem Boden. Die Analysen bestätigten, was schon ein flüchtiger Blick gezeigt hatte. Aus den Tassen und Gläsern war nicht getrunken, von den Kuchentellern nicht gegessen worden. Es gab überall die gleichen Fingerabdrücke, und die gehörten Frau Felgner. Sie hatte den Tisch gedeckt, den Besuch also erwartet, ihn dann aber nicht bewirtet. Die Frage nach dem Warum ließ mehrere Antworten zu. Alle begannen jedoch mit Vielleicht, waren also noch unergiebig. Auch auf der Schallplatte, die auf der Hi-Fi-Anlage gelegen hatte, ließen sich keine brauchbaren Abdrücke 75
feststellen. Es war vermutlich eine neue Platte. Ob sie am gestrigen Nachmittag gespielt wurde, wußte man nicht. Die Hülle hatte auf dem Fernsehgerät gelegen, ein Kassenbon war nicht dabei. Hauptmann Zschoppe hatte vor einer halben Stunde mit Felgner telefoniert und Evelyn angekündigt. „Ich schicke Ihnen die Genossin Goldmann. Sie müssen feststellen, ob in der Wohnung etwas fehlt. Raub oder Diebstahl sind nicht ausgeschlossen.“ Daß Evelyn dann in Begleitung des ABV der Schliersstraße, Polizeimeister Schütte, kam, schien Felgner anfangs zu irritieren. Doch dann nahm er es ebenso gleichgültig hin, wie alles andere, was um ihn geschah. Er hatte sie wortlos hereingeführt, hätte beiläufig auf die Garderobe und dann auf die zwei Sessel gedeutet. Er selbst nahm auf der Couch Platz. Dort hockte er nun, bemühte sich, aufrecht zu sitzen, doch immer wieder schrumpfte sein Körper zusammen. Evelyn hätte nicht sagen können, warum sie das Gespräch gerade mit jenem Satz über die Taxibestellung begonnen hatte. Vielleicht aus dem Gefühl heraus, Walter Felgner damit von einem ihn quälenden Gedanken befreien zu können. Ihre Frau hat ja gar kein Taxi bestellt, sie wollte ja nicht wegfahren, so etwa. Ein dummer Anfang wohl, ein ganz falscher möglicherweise sogar. Da Felgner nicht reagierte, fragte sie nach Sparbuch, Geld, Schmuck und ähnlichen Sachen. Ob er nachgesehen hätte. Es schien, als dringe auch das nicht in sein Bewußtsein. Felgner führte die Zigarette zum Mund, sog hastig und flach und stieß den Rauch ebenso hastig wieder aus. Er legte die Zigarette nicht ab, obwohl er sie kaum halten konnte zwischen den zitternden Fingern. Er hustete und wischte mit dem Ärmel über die feuchte Stirn. Dann sagte er apathisch: „Davon fehlt nichts. Etwas anderes fehlt.“ 76
Mit einer müden Bewegung griff er unter das Couchkissen neben sich. Er zog ein Schreibheft hervor, das er umständlich aufzuschlagen versuchte. Als das nicht gelang, schob er es achtlos zur Mitte des Tisches. „Ruths Haushaltsbuch“, sagte er. „Sie hielt ihre täglichen Ausgaben darin fest. Sie war darin sehr gewissenhaft und hat bis auf den Pfennig abgerechnet.“ Wem abgerechnet, fragte sich Evelyn. Mußte sie ihrem Mann den Verbleib des Wirtschaftsgeldes nachweisen, oder wollte sie selbst eine Kontrolle haben? „Ruth hat die letzten Seiten rausgerissen. Sie hat sie beiseite geschafft, damit ich nicht hinter ihre Schliche komme.“ Und dann erzählte er von einem Streit, der erst ein paar Tage zurücklag. „Ich hatte in dem Heft ein bißchen rumgeblättert, und da fiel mir auf, daß sie einige Posten vergessen hatte einzutragen. Wenigstens nahm ich an, daß sie lediglich vergessen waren. Mehrmals hatte sie nur die Hinfahrten nach Brandhofen verbucht, sechs Mark zwanzig, zweiter Klasse. Wie bist du denn zurückgekommen, fragte ich, doch nicht etwa als Schwarzfahrer? Glauben Sie mir, wenn ich geahnt hätte, was ich mit dieser Bemerkung anrichten würde, die ja letztlich zu ihrem Vorteil sprach, denn es war schließlich ihr Geld, das stimmen mußte … Ruth sprang auf und riß mir das Buch aus der Hand. ‚Ich lasse mich nicht kontrollieren! Du bist doch nicht in deinem Betrieb! Was bildest du dir ein!‘ Das waren noch die mildesten Vorwürfe. Sie benahm sich, als hätte ich sie bei einem Betrug ertappt. – Hatte ich ja wohl auch, nur daß es ein ganz anderer Betrug war.“ Er sah Polizeimeister Schütte an, während er sprach. Seinen Abschnittsbevollmächtigten und guten Bekannten aus der Straße. Als könne der das Ungeheuerliche besonders tief nachempfinden. „Ruth muß das genau abgezirkelt haben. Sie kam 77
immer um die gleiche Zeit nach Hause. Eine halbe Stunde später, als der Abendzug aus Brandhofen eintrifft. So lange braucht man vom Bahnhof Lichtenberg bis hierher. Stell dir das mal vor, Hans! Vermutlich hat der Kerl sie mit dem Wagen gebracht. Da fuhren sie in eine Nebenstraße und warteten genau die Zeit ab. Bis ins kleinste haben sie alles eingefädelt.“ Er stellte jetzt alles in Frage. Evelyn Goldmann hatte solche Phasen schon bei manchem erlebt. Sie waren schlimm für den Betroffenen, denn sie brachten nur Mißtrauen hervor. Felgner sah im Augenblick allein Falschheit und Lüge im Verhalten seiner Frau. Er war direkt darauf aus und suchte sie selbstquälerisch hinter jedem Wort und jeder Handlung. Das waren Situationen, in denen alles kaputtgemacht wurde. Evelyn empfand Mitleid mit dem Mann. Oder Anteilnahme an seiner Verzweiflung. An der Erschütterung eines Menschen, der meinte, einem Trugbild angehangen zu haben. Ihr fiel eine Bemerkung Hauptmann Zschoppes ein, als er sie gestern abend nach Hause gefahren hatte. „Eine Ehe auf Vereinbarung, scheint mir, haben die Felgners geführt. Tue du, was dir gefällt, ich mache, was ich für richtig halte. Das galt aber nicht für ihre sexuellen Beziehungen, wie Felgner beteuerte. Alles andere dagegen … Man müsse dem Partner doch Spielraum lassen, meinte er.“ Und nun war Felgner mit diesem Spielraum konfrontiert worden und mußte erkennen, daß seine Frau ihn anders ausgelegt und wohl auch anders ausgefüllt hatte. Er blickte noch immer auf Schütte, packte ihn schließlich am Arm und beugte sich zu ihm. „Nun sag doch mal was, Hans! Du kennst Ruth lange genug. Ist es schon überall bekannt, daß sie einen Geliebten hatte, nur ich Trottel wußte nichts davon?“ Es klang häßlich, wie er das herausstieß. Ein irres, fast wollüstiges Flackern lag in seinen Augen, eine Art 78
Genugtuung, als sei nun bestätigt, was er schon immer geahnt habe. Dem ABV war nicht wohl in seiner Haut, das sah Evelyn. Er schien unangenehm berührt und suchte nach Worten. Da ihm keine passenden einfielen, griff er auf seine Amtssprache zurück, die ihm geläufig war. „Gegen Ruth liegt nichts vor. Über sie ist nichts Nachteiliges bekannt, Walter.“ Und dann mit Wärme in der Stimme: „Daß Ruth einen Geliebten … so etwas solltest du nicht denken. Grad jetzt nicht.“ Sicherlich eine gut gemeinte, aber dennoch unglückliche Formulierung. Felgner reagierte auch sofort darauf. „Ach nee, grad jetzt nicht? Den Toten darf man nichts Böses nachsagen, meinst du das?“ Er war aufgesprungen, setzte sich jedoch gleich wieder. „Und warum darf ich das nicht denken? Du hättest sie sehen sollen, als ich gestern nachmittag vor ihr stand. Das verkörperte schlechte Gewissen. Eine Stunde später, und ich hätte sie ertappt.“ Felgner zählte alle Vorbereitungen auf, die seine Frau für den Besuch getroffen hatte. Er redete, als wisse nur er darüber Bescheid. Bei der kleinen Bettina fing er an, die sie nicht zu sich genommen hatte, und beschrieb dann ausführlich den gedeckten Tisch. „Alles holte sie heran, auch der Kerzenständer fehlte nicht. Und der Herr Galan brachte eine Schallplatte mit und rote Rosen. Damit es ja recht stimmungsvoll wurde. Und dann … Ruth stürzte mitten auf der Treppe. Ging sie hinauf, kam sie herunter? Was wollte sie oben mit ihrem Besucher? Oben liegt das Schlafzimmer, und ihr Bett ist zerwühlt! – Und da soll ich nicht mal denken dürfen?“ Schütte sagte nichts dazu, und auch Evelyn fand keine Erwiderung. Was sollte sie ihm denn entgegenhalten? Daß Felgner übertreibe und voreilig Schlüsse zöge? Oder sollte sie mit Allgemeinplätzen kommen: erst mal abwarten, wissen ja noch gar nicht … 79
Sie fühlte sich dazu nicht berechtigt und auch gar nicht in der Lage. Was wußte sie schon von dieser Ehe, und welche eigenen Erfahrungen konnte sie einbringen? Ihre Erlebnisse mit Männern waren bescheiden und nie sehr intensiv gewesen. Natürlich hatte auch sie schon ewige Liebe geschworen und im Schilfgras sich und die Welt vergessen. Hier aber stand ein zehnjähriges Zusammenleben im Blickfeld, das nicht nur einen gewaltsamen Abschluß gefunden hatte, sondern dazu noch eine andere Wertigkeit erhielt. Da wäre es ihr vermessen vorgekommen, mit guten Ratschlägen aufzuwarten. Sie ließ einige Sekunden verstreichen. Es war kalt im Zimmer. Felgner hatte nicht geheizt, vermutlich auch nicht gelüftet. Es roch muffig, nach kalter Asche und Zigarettenrauch. Nach abgestandenen Stunden. Evelyn war nun froh, daß sie doch lange Hosen angezogen hatte. Ansonsten trug sie lieber Kleider, wie sie jetzt wieder in Mode kamen: weit geschnitten, wadenlang. Das ließ sie größer und auch kräftiger erscheinen, als sie war. Beide Korrekturen konnte sie gebrauchen. In Hosen, wußte sie, sah sie wie ein Schulmädchen aus. Da half auch der lange Pullover nur wenig. „Sie hatten gestern nachmittag Streit mit Ihrer Frau, Herr Felgner. Sie fürchteten, daß sie wieder nach Brandhofen fahren wollte. Als Sie später von der Taxibestellung hörten, waren Sie sogar überzeugt davon. Nun wissen wir inzwischen, daß Ihre Frau das Taxi nicht bestellt hat. Es war zwar eine Frau, aber nicht Ihre. Fällt Ihnen ein, wer das gewesen sein könnte?“ Felgner stützte den Kopf in die Hände. Die Zigarette hing zwischen den Fingern und sengte fast sein Haar. „Unter Ruths Verwandten in Brandhofen gibt es auch Frauen. Vielleicht, daß eine von ihnen … Oder der Kerl hat eine Sekretärin, die das erledigte. Oder eine Vertraute. Hat sie denn ihren Namen nicht nennen müssen bei der telefonischen Bestellung?“ 80
„Sie hat Felgner angegeben.“ „Na bitte. Da man von Brandhofen bestimmt nach Berlin durchwählen kann …“ Er kam nicht los von diesem Verdacht. Leutnant Goldmann nahm das Schreibheft, das noch immer auf dem Tisch lag, und schlug es auf. Akkurat mit Tinte gezogene Längsstriche, oben und unten je ein Querstrich für die Kopfzeile und die Zwischensumme. Die Bezeichnungen waren in Druckschrift geschrieben: Datum; Nahrungsmittel; Genußmittel; Kosmetik, Kleidung einschließlich Schuhe; Möbel und Hausrat; Strom, Gas, Heizung; sonstiges; Tagessumme. „Hat Ihre Frau das angelegt?“ „Sie hat es geführt. Eingerichtet habe ich es.“ Sie hätte es sich denken können. Die Eintragungen, die täglichen Beträge waren weniger akkurat eingesetzt. Mit Bleistift vorwiegend, selten genau untereinander und oft korrigiert. Hinter den Zahlen standen kurze Bemerkungen von Ruth Felgner, hingekritzelt oder nur mit Anfangsbuchstaben versehen. Der ganze Monat Oktober fehlte. Fünf oder sechs Blatt mochten herausgerissen sein, das konnte man erkennen. Evelyn dachte an die Papierfasern unter Ruth Felgners Fingernägeln. Wenn sie daher rührten, hatte sie die Seiten vermutlich erst gestern entfernt. Vielleicht sogar unmittelbar vor der Tat. Möglicherweise hielt sie sie noch in den Händen. Der Täter wollte sie ihr entreißen. „Geben Sie mir das Buch bitte mit, Herr Felgner. Wir brauchen es für eine Analyse.“ „Was wollen Sie denn analysieren? Ruths Schrift?“ „Zum Beispiel. Haben Sie die Aufzeichnungen der Vormonate auch noch?“ „Da müßte ich nachsehen. An und für sich heben wir sie auf … aber ich verstehe wirklich nicht …“ „Sehen Sie bitte nach, Herr Felgner.“ Irgend etwas paßte dem Mann nicht. Er stand zwar 81
sofort auf und ging zur Anbauwand, aber es arbeitete in ihm, das sah sie. Schließlich gab er sich einen Ruck. Er öffnete ein Fach, nahm zwei Stapel Schallplatten heraus und dann einen Karton, in dem sich etwa zwanzig oder noch mehr solcher Schreibhefte befanden. Während er sie sortierte, sah sich Leutnant Goldmann aufmerksam um. Gestern, in der trüben und aufgeregten Stunde mit Hauptmann Zschoppe und Helmut Fiedler, war ihr vor allem das Biedere, das Genormte der Einrichtung aufgefallen. Es gab nichts Ungewöhnliches, nichts, was den Blick anzog, auf einen besonderen, vielleicht eigenwilligen Geschmack deutete; keine gebrochenen Farben, keine überraschende Gruppierung, nirgendwo hatte sie irgendwelchen liebenswerten Plunder entdeckt. Alles hing, lag oder stand ausgerichtet, war an seinem Platz, zweckbestimmt oder zur Schau gestellt. Denselben Eindruck hatte sie auch jetzt wieder. Sogar die Bücher, die in einem kleinen Regal an der Wand standen, waren nach diesem Prinzip eingeordnet. Vornan die Bände in Leinen und Schutzumschlag, dahinter, wie schamvoll verborgen, ein bißchen Reclam, ein paar Hefte der Romanzeitung, einige Fachbücher. Einzig das Bild, das darüber hing und das sie gestern nicht bemerkt hatte, fügte sich nicht ganz in diese Sachlichkeit. Eine Lithographie, aufgeblockt, ohne Glas und ohne Rahmen, Auf dunklem Untergrund war als Rückenansicht ein Mädchen dargestellt, in weißem wallendem Kleid, einen roten Gürtel um die Taille, mit langem rotblondem Haar, an einer Küste stehend, vor sich helles blaues Wasser. Das Bild war in weichen Konturen gezeichnet und eigenartig in seinem Ausdruck. Evelyn empfand, daß von dem Mädchen Verlassenheit, eine schmerzliche Trostlosigkeit ausging. Als sich eine Gelegenheit bot, fragte sie Felgner nach dem Bild. 82
„Das hat sich Ruth irgendwo rausgeschnitten und aufbereiten lassen“, sagte Felgner. „Mir ist es zu düster, zu beklemmend. Aber da es ihr gefiel … Sie hat ja viel mehr Zeit in diesem Zimmer verbracht als ich. Ich habe mich um die Einrichtung nie viel gekümmert. Wenn ich meine Schallplatten hatte …“ Er wies auf den linken Stapel und lächelte verlegen, wie ein Schüler, der beim Betrachten von Aktfotos erwischt wurde. Evelyn mußte wieder an ihr gestriges Gespräch mit Hauptmann Zschoppe denken. Er meinte, daß die immer wiederkehrenden, die täglichen Gewohnheiten eines Menschen unter anderem auch Rückschlüsse auf dessen Charakter und Mentalität zuließen. Wie hatten die Eheleute Felgner ihren Alltag verbracht, welchen Gewohnheiten waren sie nachgegangen? „Wenn ich meine Schallplatten hatte …“ Hieß die Fortsetzung: dann war ich schon zufrieden, mehr brauchte ich nicht? Evelyn nahm die Platten einzeln hoch. Es waren ausschließlich Aufnahmen klassischer Musik und vorwiegend Standardwerke – Beethovens Fünfte und Neunte, Tschaikowskis Klavierkonzert, die Unvollendete und so weiter. Sie griff nach dem anderen Stapel. Paul Linke, Kollo, Lehár. Strauß-Walzer, Böhmische Polkas. „Das sind Ruths Platten“, sagte Felgner. Etwas entschuldigend sagte er es, als müsse er für seine Frau um Verständnis bitten. „Sie liebte eben Operetten.“ Sie liebte Operetten – und suchte sich dieses Bild als Wandschmuck aus. Sicherlich bedeutete es mehr für Ruth Felgner als nur Zierat. Da lagen nun die beiden Schallplattenstöße. Doch auf der Hi-Fi-Anlage hatte gestern die Platte der Abbas gelegen, die zu keiner der beiden Geschmacksrichtungen paßte. Ein Geschenk folglich von jemand, der wahrscheinlich wußte, daß ein Plattenspieler im Hause war, der aber nicht die Hörgewohnheiten des Ehepaares kannte. 83
„Welche Monate soll ich heraussuchen, Frau Leutnant?“ Felgner hatte eine wüste Unordnung um sich verbreitet. Er saß auf dem Boden, inmitten aufgeschlagener Hefte, und versuchte, sie dem Datum nach zu ordnen. Offenbar war es auf den Umschlägen nicht vermerkt, so daß er immer auf der ersten und letzten Seite nachgucken mußte. Unwillkürlich bekam Evelyn den Eindruck, daß Felgner diese Unordnung absichtlich herbeigeführt hatte. Sie war überzeugt, daß die Hefte bereits sortiert gewesen waren und er die Übergabe durch die Prozedur hinauszögern wollte. Immerhin, die Notizen waren so etwas wie ein Tagebuch seiner Frau. Da las man ein Stückchen, erinnerte sich, träumte … das gab man nicht gern aus der Hand. Verständlich. Aber es konnte auch eine anders motivierte Ermattungsstrategie sein. Das dauerte und dauerte – bis sie die Geduld verlor und verzichtete. Sie durfte sich von seiner Hilflosigkeit nicht beeindrucken lassen. Walter Felgner war Tatverdächtiger! Wer zuerst am Ort eines Verbrechens angetroffen wird und in irgendeiner Beziehung zur Tat stehen könnte, rückte zwangsläufig in diese Kategorie. Sie dachte an Zschoppes Worte: Der Täter wird versuchen, uns ein falsches Bild von sich zu machen. „Ich brauche alles bis in den Oktober vorigen Jahres zurück“, sagte sie entschieden und stand auf. „Im Oktober hat Ihre Frau mit den Fahrten nach Brandhofen begonnen.“ Sie ließ Schütte bei ihm und verabschiedete sich. Felgner begleitete sie hinaus. In der Veranda war der Gasofen in Betrieb und strahlte angenehme Wärme aus. Es war ein heller, freundlicher Raum, in dem es viel Grün gab. Auf einer Blumenbank standen Topfpflanzen und im Mittelfenster kleine Kakteen. Die Gardine war in 84
halber Höhe zusammengerafft, so daß sie den Blick in den Garten freigab. Bei schönem Wetter mußte es sich hier herrlich sitzen. Und sicher auch im Winter, wenn alles verschneit war. Hatten die Felgners oft hier gesessen? Und wenn, wie dann: vertraulich, zufrieden, sogar glücklich? Was wußte man schon von den beiden und was über diese Ehe? Sehr viel Widersprüchliches bis jetzt, und widersprüchlich würde manches wohl auch bleiben. Selbst wenn die Aufklärung des Verbrechens sich über Wochen und Monate hinzöge, bliebe doch noch einiges im dunkeln verborgen. Vor allem vom Wesen der Menschen. Wenn man das ganz ergründen wollte, wußte Evelyn, durfte man nicht Kriminalist sein. In diesem Beruf war es schwer, Zugang zu anderen Menschen zu finden, ihr Vertrauen zu gewinnen, weil es eben notwendig war, immer wieder alles in Frage zu stellen. Denn jede scheinbar ehrliche Reaktion konnte von Anfang an zweckbestimmt sein, einer Absicht dienen. Davon mußte sie stets ausgehen, auch wenn es sich um einen Mann wie Walter Felgner handelte. Traurig und hilflos stand er vor ihr an der Tür, erklärte, daß er nun den Ofen heizen und sich dann umziehen wolle. „Im Betrieb habe ich schon angerufen, damit sie jemand anders nach Erfurt schicken.“ Er tat ihr wieder leid. Sie wollte ihm etwas Aufmunterndes sagen, irgendeinen Zuspruch. Doch ihr fiel nichts ein. Als sie ihm die Hand gab, sagte er: „Mir will nicht in den Kopf, daß Ruth mich betrügen konnte. Warum denn? Warum denn nur? Wir haben so zufrieden miteinander gelebt. Ich habe ihr doch alles … Sie hätte glücklich sein müssen.“ War das Wort Glück mit dem Wort müssen eigentlich zu vereinbaren? Das wäre ein Thema für sie und Hauptmann Zschoppe, wenn sie wieder mal nach Feierabend 85
nebeneinander im Auto saßen. Über manches ließ es sich gut debattieren mit dem Fliegenden Holländer. Als Oberwachtmeister Mosebach erfuhr, daß ein Offizier aus Berlin kommen würde, dem er Bericht erstatten sollte, hatte er sofort ein schlechtes Gewissen. Immerhin war ihm aufgetragen worden, unbedingt mit Ewald Wätzlaff zu sprechen. Statt dessen hatte er sich vom alten Hubert Familiengeschichten angehört und von Harald Kranzbach ein bißchen Stadtklatsch. Zwar hatten beide Gespräche etwas zutage gefördert, und er würde auch nichts davon unterschlagen, aber Befehl war nun mal Befehl. Und selbst wenn er einem Menschen das Leben gerettet hätte, weil er die Weisung eben nicht genau befolgte – er würde eine Medaille erhalten und sein Name in der Zeitung stehen; sein Vorgesetzter jedoch würde sagen: unbrauchbar. So streng waren hier die Bräuche. Also mußte er schleunigst nachholen, was er versäumt hatte. Zumal im Augenblick wenig Aussicht bestand, als Lebensretter gefordert zu werden. Mosebach ließ sein Fahrrad auf dem Revier und benutzte die Straßenbahn. Ewald Wätzlaff wohnte in der Obertalstraße, etwas abseits vom Zentrum gelegen. Es war eine beschauliche Gegend, viel Grün und viel Licht, obwohl dicht besiedelt. Haus stand neben Haus, aber vor jedem war ein bißchen Rasen, hin und wieder ein Rondell, und auf dem Mittelstreifen der Straße standen junge Pappeln. Die Gebäude stammten überwiegend aus dem vorigen Jahrhundert. Von wenigen schönen abgesehen, waren es schlichte, engbrüstige Fachwerkbauten. Im Hochparterre vieler Häuser, einige Steinstufen führten hinauf, befanden sich Geschäfte. Wätzlaffs Haus hob sich von den anderen deutlich ab. Die obere Etage, in der er wohnte, hatte eine schmutziggraue Fassade mit abgeblättertem Putz, fleckigem Ge86
mäuer und morschen Fensterrahmen. Ganz anders das Erdgeschoß. Hier lag Wätzlaffs ehemaliger Laden, den er mit allem Inventar an Dietrich Bromme abgetreten hatte. Inzwischen renoviert, stellte er nun ein Kleinod in dieser Straße dar. Breite, helle Schaufenster mit Klinker abgesetzt, weiße Wände, sauber wie aus einer Waschlauge gezogen, die Tür aus indischem Teakholz. Die Auslagen geschmackvoll, nicht aufdringlich oder protzend, aber doch werbend, keinerlei Tand. Solide sah alles aus, stabil. Mosebach ging an den Schaufenstern vorbei, zur Schmalseite des Hauses, wo sich Ewald Wätzlaffs Wohnungseingang befand. Er klingelte, wartete, dann drückte er die Klinke herunter. Verschlossen. Er stand ein paar Sekunden unschlüssig da. Sollte er in das Geschäft gehen und sich erkundigen? Er kannte Bromme nicht. Bei Bromme kaufen die höheren Gehaltsklassen, hieß es, doch kaufen wollte er ja nicht. Die Ladenglocke spielte einen Dreiklang, der dann in einen Akkord überging. Es hörte sich wie O du mein Max an, nur daß die Wiederholungen ausblieben. Mosebach war der einzige Kunde. Ein junges Mädchen kam, das ihn freundlich anlächelte. „Womit darf ich dienen?“ Mosebach mußte sich zweimal räuspern, ehe er sprechen konnte, so beeindruckt war er: weiche Teppiche, bequeme Sessel, Tischchen mit geschweiften Beinen; warme Holztäfelung an den Wänden, auf den Tresen geschliffene Spiegel, von überallher glitzerte, funkelte, strahlte es – und dann noch diese Anrede. „Kann ich Herrn Bromme sprechen?“ „Herr Bromme ist nicht da.“ Das Mädchen war hübsch, siebzehn Jahre vielleicht. Sie hatte Mandelaugen und Grübchen am Kinn. „Kommt er heute noch?“ Sie schüttelte ihr Köpfchen, als täte es ihr leid, ver87
neinen zu müssen. „Herr Bromme hält sich zur Zeit nicht in Brandhofen auf. Darf ich ihm etwas ausrichten, wenn er zurückkommt?“ „Wann kommt er denn zurück?“ „Das weiß ich nicht.“ „Und wo ist er?“ Sie errötete. Sie wußte wohl, was sich gehörte und daß sich solche Fragen eben nicht gehörten. Aber er war in Uniform, und das machte sie offenbar unsicher. „In Bad Sogau“, sagte sie nach einigem Zögern. Mosebach legte die Hand an die Mütze und stellte sich vor. Er betonte das Ober mehr als das Wachtmeister und nannte auch seinen Vornamen. Sie wußte wirklich, was sich gehörte, denn nun stellte auch sie sich vor. „Elvira Kleinen, ich bin Lehrling bei Herrn Bromme.“ „Angenehm“, sagte Mosebach. Er war bedeutend größer als sie. Er sah verlegen auf sie herab, sie andächtig zu ihm auf. „Ich komme eigentlich wegen Herrn Wätzlaff. Kennen Sie Herrn Wätzlaff?“ Er zeigte mit der Hand nach oben, als würde dort ein Bild von dem Mann schweben. „Natürlich.“ „Er ist nicht zu Hause, wie ich feststellen mußte. Ist er verreist?“ „Herr Wätzlaff ist in Bad Sogau. Zur Kur.“ „Was denn, der auch?“ „Zur Kur ist nur Herr Wätzlaff. Herr Bromme hat ihn hingefahren und bleibt lediglich ein paar Tage.“ „Wann sind sie denn aufgebrochen, ich meine …“ „Gestern. Gestern mittag.“ „Es handelt sich nämlich darum, daß am Tag zuvor, also vorgestern, daß Herr Wätzlaff da Besuch gehabt hat. Eine Verwandte aus Berlin …“ „Meinen Sie Frau Felgner? Die war vorgestern hier.“ „Hier? Wo hier?“ 88
„Na, wie Sie eben sagten. Sie war bei ihrem Onkel und anschließend bei Herrn Bromme.“ „Ach?“ Was sollte denn nun dieses Ach. Mosebach war ärgerlich auf sich. Es war doch völlig fehl am Platz, irritierte die Kleine bloß. Jedenfalls guckte sie ganz erschrocken, so überrascht hatte sie dieses blödsinnige Ach. „Wann war denn das?“ fragte er deshalb so beiläufig wie möglich. „Sie meinen, um wieviel Uhr? Am frühen Nachmittag. Das heißt, am frühen Nachmittag kam Frau Felgner zu Herrn Bromme ins Geschäft. So gegen vierzehn Uhr. Wie lange sie vorher bei ihrem Onkel war, weiß ich nicht.“ „Und dann? Was war anschließend?“ Nun hatte er den Bogen wohl endgültig überspannt. Das Mädchen trat einen Schritt zurück. Sie sah nicht mehr andächtig zu ihm auf, sondern ziemlich verwirrt auf seine Uniform, als zweifle sie plötzlich an ihrer Echtheit. „Muß ich denn … ich meine, mit welchem Recht fragen Sie danach? Haben Sie einen Befehl oder so was?“ Mosebach beeilte sich, sie zu beruhigen. Er wollte sie ja nicht in Angst versetzen. Wer wußte denn, was in so einem Köpfchen alles vorgeht. „Sie brauchen mir nicht zu antworten“, sagte er begütigend. „Ich frage Sie, weil ich Herrn Wätzlaff nicht fragen kann, das ist alles. Ich kenne Frau Felgner von früher. Als Kinder haben wir zusammen gespielt.“ Da war kein Wort gelogen. Das war geschickt reagiert, fand er. Elvira Kleinen fand das offenbar nicht. „Und warum wollten Sie wissen, wo Herr Bromme ist? Haben Sie mit dem früher auch gespielt?“ Auf den Kopf gefallen war sie nicht, das mußte er zugeben. Mit billigen Ausreden ließ sie sich nicht abspeisen. 89
Mosebach bereute schon, das Geschäft überhaupt betreten zu haben. Zumindest hätte er das Gespräch anders führen und Bromme herauslassen müssen. Aber da hatte das Gerede Harald Kranzbachs in seinem Kopf herumgespukt, und nun saß er fest. Daß er jetzt von Wätzlaffs Kuraufenthalt wußte, war natürlich gut, das ersparte ihm weiteres Nachfragen. Außerdem konnte er seinen Bericht vervollständigen: Ruth war vorgestern gegen 14 Uhr von ihrem Onkel Ewald in dieses Juweliergeschäft gekommen und drei Stunden später beim alten Hubert draußen im Wiesengrund gewesen. Und wenn Haralds Behauptung zutraf, hatte Brommes Verlobte, die schöne Juditha, sie hingefahren. In einem weißen Wartburg de luxe. Ob Ewald Wätzlaff auch gestern, am 25. Oktober also, mit seiner Nichte verabredet gewesen war, wonach er ihn unbedingt fragen sollte, ließ sich nun zwar nicht feststellen. Aber Mosebach hielt das durchaus für möglich. Von Brandhofen nach Bad Sogau konnte man bequem über Berlin fahren. Nicht mit der Bahn, das wäre ein Umweg, aber da Herr Bromme ihn mit dem Wagen gebracht hatte … Mosebach suchte nach einem unverfänglichen Abgang. „Müssen Sie denn das Geschäft hier ganz allein führen? Es bleibt ja sicher nicht so leer.“ „Um zehn Uhr kommt Frau Thüringer, die zweite Verkäuferin.“ „Und die erste ist wohl Fräulein Ries, Herrn Brommes Braut?“ „Fräulein Ries hält sich zur Zeit in Berlin auf. – Möchten Sie sonst noch etwas wissen? Vielleicht den Namen unserer Reinigungskraft?“ Das klang zwar ironisch, aber nicht verärgert. Sie lachte ihn fröhlich an, verständnisvoll, als habe sie ihn jetzt durchschaut. Ein Einvernehmen ging von ihr aus, das er nicht begriff. 90
Er mußte wohl ein sehr einfältiges oder zerknirschtes Gesicht gemacht haben, denn sie nickte ihm aufmunternd zu, wie ein guter Kumpel. „Dacht ich’s mir doch. Aber daß sich bei uns die Volkspolizei mit so etwas beschäftigt! In den Krimis werden dafür immer Privatdetektive eingesetzt.“ Der Oberwachtmeister guckte verblüfft. Glaubte die Kleine vielleicht … Sie schien das zu glauben. Sie stemmte forsch ihre Arme in die Hüften, reckte sich und blitzte ihn mit ihren Mandelaugen an: „Also wenn Sie meine Meinung hören wollen: Zwischen Frau Felgner und Herrn Bromme bestehen rein freundschaftliche Beziehungen. Ich habe nie bemerkt, daß da anderes … Da paßt schon Fräulein Ries auf. Natürlich hat Herr Bromme ungeheuren Schlag bei Frauen, aber das nützt er nie aus. Und wenn Sie auf vorgestern nachmittag anspielen, als sie über zwei Stunden hier war und dann so schrecklich geweint hat … Wissen Sie, was ich annehme?“ Elvira Kleinen beugte sich über den Ladentisch und senkte die Stimme. Sie sah jetzt ziemlich altklug aus. „Ich nehme an, daß dieser ganze Streit, oder was es war, sich gar nicht gegeneinander richtete, sondern jemand anders betraf. Und ich kann mir auch denken, wen. Gestern nachmittag nämlich rief Frau Felgner hier an und wollte Herrn Bromme sprechen. Aber der war mit Fräulein Ries und Herrn Wätzlaff schon losgefahren. Da sollte ich ihm ausrichten … Nanu?“ Sie blickte an Mosebach vorbei zur Straße. „Das war sein Wagen, ist er schon zurück?“ Wenig später betrat jemand die hinteren Geschäftsräume. Elvira nickte vielsagend. „Das ist er. Verpetzen Sie mich nicht. Soll ich Sie anmelden?“ Das fehlte gerade noch. So weit durfte Mosebach ja nun doch nicht gehen.
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Im Gegensatz zu Evelyns früherem Vorgesetzten war Hauptmann Zschoppe kein Anhänger großer Arbeitsbesprechungen. Natürlich waren sie in gewissen Abständen notwendig, aber man konnte nicht immer warten, bis alle Genossen zur Verfügung standen, wenn es Wichtiges zu beraten gab. Er vertraute darauf, daß die Informationen von einem zum anderen weitergegeben wurden, auch ohne ausdrücklichen Befehl. Als Leutnant Goldmann von Felgner zurückkam und Bericht erstatten wollte, traf sie Zschoppe im Gespräch mit Unterleutnant Lange an. „Wir wollen ein paar Ermittlungsergebnisse zusammentragen. Sie können sich gleich einschalten.“ Zschoppe machte heute einen etwas unsicheren Eindruck, fand sie. Er war nicht so mürrisch wie sonst, aber auch nicht so selbstbewußt. Vielleicht gehörte das bei ihm zusammen. „Frau Felgner ist gewürgt worden. Ob erwürgt, steht noch nicht fest. Auch nicht, wann das geschah. Ob also bereits auf dem Treppenabsatz, als der Täter sie schlug und gegen die Wand stieß, oder erst danach, als sie heruntergestürzt war und am Boden lag. Die Obduktion findet gegen Mittag statt.“ Das Oder konnte sehr wichtig sein. Wenn nämlich ein Täter blindwütig auf sein Opfer einschlug und dabei auch versuchte, ihm den Hals zuzudrücken, so war das möglicherweise strafmildernd als eine Affekthandlung zu bewerten, aber kaum, wenn er das Opfer erst dann würgte, als es bereits wehrlos am Boden lag. Wie vorauszusehen war, kam von Zschoppe keinerlei Kommentar dazu. Er gab weitere Fakten bekannt. „Wir sind am Hinterausgang des Hauses auf Schuhabdrücke gestoßen, die über ein Erdbeerbeet um das Haus herumführen und sich dann im Garten verlieren. Es handelt sich um derbe Herrenschuhe mit starkem Profil, Größe dreiundvierzig etwa. Die Spuren müssen 92
nach sechzehn Uhr entstanden sein, als der Regen einsetzte.“ Warum hatte der Mann diesen auffälligen Weg gewählt? überlegte Evelyn. Die Haustür war nicht verschlossen, also hätte er sie benutzen können. War er geflohen? Warum aber dann durch den Keller und um das ganze Haus herum, wenn er doch wieder nach vorn in den Garten gelaufen war? Er hatte nichts gewonnen, im Gegenteil: Er hinterließ deutliche Spuren und büßte Zeit ein. Eine rational nicht begründbare Reaktion. Hervorgerufen durch wahnsinnige Angst? Möglich. Aber möglich war auch, daß dem Mann keine Wahl blieb. Weil sich jemand dem Haus näherte oder sogar schon vor der Tür stand, wo sollte er hin? Vielleicht war es Felgner gewesen, der kam. Evelyn dachte an seine Aussage: „Als ich die Haustür öffnete, schlug die Tür zum Keller zu.“ Das konnte durch Gegenzug hervorgerufen worden sein, mußte aber nicht. Wann Walter Felgner seine Wohnung betreten hatte, wußte man noch immer nicht exakt. Wie er sagte, war er mit der Straßenbahn von Bahnhof Schöneweide zur Schliersstraße gefahren. Die inzwischen angestellten Berechnungen schwankten erheblich. Bei günstiger Verbindung könnte er schon um 17 Uhr zu Hause gewesen sein. Dr. Mau hatte er allerdings nicht vor Viertel sechs geholt. „Die Schlagverletzungen am Kopf rühren alle von demselben Gegenstand her. Man hält es für möglich, daß es ein kantiger Ring war. So, und nun Sie, Genosse Lange.“ Sollte das schon alles sein, was Zschoppe mitzuteilen hatte? Evelyn war ein bißchen enttäuscht. Sein Bericht enthielt zwar genug Anregungen, aber sie hatte mit mehr Fakten gerechnet. Gab es wirklich keine weiteren Spuren, nirgends fremde Fingerabdrücke, kein abgerissenes Knöpfchen? Unterleutnant Lange war bei der Aufforderung zusam93
mengezuckt. Er hatte sicherlich erwartet, daß Zschoppe zunächst sie an die Reihe nehmen würde, aber von Ladies first hielt der Alte anscheinend nicht viel. Bernd Lange träumte davon, ein großer Analytiker und scharfsinniger Denker zu werden, der die Fälle am Schreibtisch löst. Offenbar war das Zschoppe bisher entgangen. Er hatte ihn einfach auf die Straße geschickt, konkret auf die Schliersstraße, und ihm das eintönige Treppauf-Treppab zugemutet. „Kann das nicht auch der ABV machen“, hatte Bernd gemault. Aber da bekam er es mit Evelyn zu tun. „Schütte und Felgner kennen sich seit Jahren, auch privat. Es ist bestimmt nützlich, wenn er an dem Gespräch nachher teilnimmt, Genosse Hauptmann. Manches, was einem Fremden entgeht, fällt einem Bekannten auf.“ Ob dem Polizeimeister Schütte tatsächlich etwas aufgefallen war, mußte sie erst abwarten. Also hatte der Genosse Lange das Amt des Treppenterriers übernehmen müssen, und seiner Miene nach zu urteilen, auch mit Erfolg. „Ich bin bei meinen Recherchen auf zwei Bewohner der Schliersstraße gestoßen, die, unabhängig voneinander befragt, übereinstimmend aussagten, daß gestern nachmittag, zwischen sechzehn Uhr fünf und sechzehn Uhr zwanzig, vor dem Grundstück Felgners ein weißer Wartburg de luxe mit einem Nichtberliner Kennzeichen gestanden hat.“ Evelyn atmete für ihn aus. „In Anbetracht der gestern sichergestellten Notiz von Frau Felgner und ihrer Ausdeutung als Wätzlaff, Onkel Ewald Wätzlaff aus Brandhofen, habe ich mich sofort mit den Genossen dort in Verbindung gesetzt. Da Oberleutnant Blatt noch nicht am Ort war, sprach ich mit einem Oberwachtmeister Mosebach, der in Sachen Ruth Felgner bereits einige Befragungen durchgeführt hatte. Nach seiner Auskunft ist Herr Wätzlaff gestern 94
mittag nach Bad Sogau zur Kur gefahren, und zwar hat ihn ein Herr Dietrich Bromme, wohnhaft im gleichen Hause wie Herr Wätzlaff und Besitzer eines weißen Wartburg de luxe, mit ebendiesem Wagen hingebracht. Daß sie den Weg über Berlin genommen haben und Herr Wätzlaff seine Nichte besucht hat, ist also durchaus möglich.“ Mein Gott! Was war denn mit Bernd los? Er mußte das tägliche Morgengebet in der Abteilung Faßt euch kurz, Leute! völlig falsch ausgelegt haben. Statt wenige Worte wenige Sätze, die aber vollgestopft bis obenhin. Zschoppe guckte genauso verblüfft wie Evelyn, schwieg aber. Erst als sie auch ihren Bericht hinter sich gebracht hatte, nickte Hauptmann Zschoppe. Nicht, daß er etwa beifällig zustimmte, sein Nicken hatte lediglich zu bedeuten: Ach so ist das also. Währenddessen saß Helmut Fiedler Herrn Banse gegenüber, dem Direktor der Sparkasse am Albrechtstor. „Und wenn Sie der Innenminister persönlich wären“, hatte Herr Banse gesagt, „ohne Genehmigung der Staatsanwaltschaft darf ich Ihnen das Konto nicht zeigen. Bankgeheimnis.“ Fiedler wußte das natürlich, aber manchmal klappt’s, hatte er gedacht. Nun wartete er und hoffte, daß die Genehmigung erteilt würde. Er hatte Hauptmann Zschoppe angerufen, der sich darum bemühen wollte. Daß Ruth Felgner Kunde dieser Sparkasse war und über ein Girokonto verfügte, ließ man Fiedler wissen. Auch daß sie gestern hier eine banktechnische Handlung vorgenommen hatte, wurde ihm bestätigt. Aber schon die Frage, ob es sich um eine Einzahlung, Auszahlung oder Überweisung handelte, stieß bei Herrn Banse auf strikte Ablehnung. Allerdings zeigte er sich so weitsichtig, bereits alle Unterlagen heraussuchen zu lassen. Er wollte sich auch 95
mit einer telefonischen Vorabgenehmigung zufriedengeben. Mit Rückruf selbstverständlich, darauf bestand er. „Ich will Ihre Arbeit unterstützen, Genosse Leutnant, darf meine darüber aber nicht vernachlässigen.“ Fiedler sah das ein, sah es sogar sehr gerne ein. Denn nun hatte er wieder etwas Zeit, weiter nachzudenken über Wä 25. X. Daß Wä nicht Ewald Wätzlaff bedeuten konnte, Onkel Ewald aus Brandhofen, stand nunmehr für ihn fest. Während der Fahrt hatte er in Gedanken seine gesamte Verwandtschaft zu Rate gezogen: Niemand, nicht mal der affige Cousin in Bad Sogau, würde Fi notieren, wenn er ihn meinte. Das Boshafteste, was er sich vorstellen konnte, war ein H. F., Helmut Fiedler. Aber Ruth Felgner verhielt sich weder affig zu ihren Verwandten noch boshaft. Sie hing an ihnen, hatte ihr Mann gesagt. Mit Wä konnte demnach keine ihr nahestehende Person gemeint sein – es sei denn, es gäbe einen Vornamen mit diesen Anfangsbuchstaben. Aber so sehr Fiedler auch gegrübelt hatte, ein Vorname mit Wä war ihm nicht eingefallen. Kein männlicher, kein weiblicher, keine Koseform. Jetzt im gemütlichen Büro des Herrn Banse, der nicht zugelassen hatte, daß der Genosse Leutnant draußen im Schalterraum wartete, entschloß sich Fiedler zu einer anderen Methode. Wä war für gestern, den 25. Oktober vorgesehen, dem Tag des Verbrechens an Ruth Felgner. Was wußte man bisher über ihren Tagesablauf? Über den Vormittag nichts. Als Felgner zur Arbeit gegangen war, hatte seine Frau noch geschlafen. So gegen Mittag war sie dann zu dieser Sparkasse gefahren und hatte eine banktechnische Handlung vorgenommen. Dazu fiel ihm kein Wä ein. Währung höchstens, aber damit konnte er nichts anfangen. Anschließend suchte sie ihre Schwägerin Inge Dortus auf. Bruder Kurt traf sie nicht an, der befand sich in der 96
Volkshochschule. Die Tochter, deren Besuch vorgesehen war, hieß Bettina. Also kein Wä. Um halb vier traf Felgner überraschend zu Hause ein. Streit zwischen den beiden über ihre Fahrten nach Brandhofen. Und dann war irgendwann der Täter gekommen. Er, vielleicht auch jemand anders, hatte einen Strauß Rosen und eine Schallplatte mitgebracht. Das Verbrechen geschah auf der Treppe, die Leiche wurde am unteren Treppenabsatz gefunden. In der rechten Hand muß die Frau etwas Papierenes gehalten haben. – Etwas mit Wä? Die Wohnung war tadellos in Ordnung gewesen, bis auf Ruth Felgners Bett, das nicht gemacht war. Als Zschoppe davorgestanden hatte, sagte er: „Hier fand kein Liebesclinch statt, wie Felgner befürchtet, auch allein hat hier niemand geschlafen …“ Fiedler schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Herr Banse schaute erschrocken auf, dann diskret weg. War denn so etwas möglich? Mußten die Gedanken solche Umwege gehen, um auf das Naheliegende zu stoßen? Der Alte hatte völlig recht mit seiner täglichen Bergpredigt: Man muß zuerst immer an das denken, was man am leichtesten vergißt. – Beherzigt hatte er es diesmal allerdings selbst nicht, sonst wäre er schon gestern abend auf die Lösung gekommen. Und die hieß: Ruth Felgner hatte ihre Betten neu beziehen wollen. Das war alles. Und Wä 25. X. bedeutete nichts anderes als Wäsche am 25. Oktober. Leutnant Fiedler fragte, ob er telefonieren dürfe. Herr Banse stand sofort auf. „Selbstverständlich, ich muß sowieso mal nach nebenan.“ Er war ein Mann mit Takt. Fiedler rief Unterleutnant Lange an. Er sollte feststellen, ob Frau Felgner in einem Reinigungsbetrieb waschen ließ. Wenn ja, sollte er dort nach dem letzten Abholter97
min fragen. Vielleicht war es tatsächlich der fünfundzwanzigste Oktober. Oberleutnant Blatt, Zschoppes Stellvertreter, war der Älteste der Abteilung. Vor vier Wochen hatten sie seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag begossen. Blatt sah jedoch wesentlich jünger aus und fühlte sich jünger, auch wenn der dicke Fiedler ihn ständig unser Oldtimer nannte. Sein Gesicht wirkte glatt, es hatte kaum Falten. Um Kinn und Wange zeigte sich eine auffallende Weichheit, die er manchmal durch einen krampfhaft gestrafften Ausdruck zu überdecken versuchte. Günter Blatt war ein hervorragender Fachmann und mit seinem Beruf bis zum äußersten verbunden. Daß er auch den Rang eines Oberleutnants hatte, also höher stand als seine Genossen, war ihm nicht nur gleichgültig, sondern zeitweise sogar unangenehm. Er sah sich in erster Linie als Fachmann, er wollte arbeiten, nicht aber befehlen müssen. Das lag ihm nicht. Er war ein glänzender Zweiter und würde wahrscheinlich unglücklich werden, müßte er jemals der Erste sein. Nicht weil er Verantwortung scheute oder das nötige Wissen nicht aufbrächte. Ihm fehlte das dafür notwendige Maß an Durchsetzungsvermögen, mitunter auch Weitsicht. „Ich kenne meine Grenzen ganz genau“, hatte er mal zu Evelyn gesagt, „und ich kann nur hoffen, daß auch meine Vorgesetzten sie kennen.“ Als die Stelle des Abteilungsleiters frei wurde, hatte Blatt die Entwicklung beinahe ängstlich verfolgt. Seine Hauptsorge war, daß man ihn – und sei es nur kommissarisch – dazu nehmen könnte. „Ich kann Ideen produzieren, die manchmal etwas taugen, ich kann Aufgaben übernehmen und erfüllen, vor denen mancher zurückschreckt. Aber ich brauche jemand über mir, der den Anstoß gibt, der sagt, das wird jetzt gemacht, Punktum!“ Dieser Jemand war ja nun da. Hauptmann Zschoppe 98
sagte zwar nicht Punktum, bisher jedenfalls noch nicht, wohl aber, was getan werden sollte. Und nun hatte er ihn also nach Brandhofen geschickt. Mit einem klar umgrenzten Auftrag, wie Günter Blatt es liebte, der aber auch genügend Spielraum für Eigeninitiative zuließ. Von der Abteilung K in Brandhofen wurde ihm Leutnant Bärwald zugewiesen. Ein höflicher, etwas eitler Offizier von ungefähr vierzig Jahren. Er trug eine Brille und hatte ein kleines Bärtchen auf der Oberlippe. Bei der ersten Zusammenkunft war auch Oberwachtmeister Mosebach anwesend. Als Blatt von den Vorgängen in Berlin berichtete, sah der ihn betroffen an. Mosebach erzählte den Genossen von seinen Kindheitserlebnissen mit Ruth Felgner und verschwieg auch nicht, daß es später über Ruths Jugendkapriolen mit der Sonja Plaschke manches Gerede gegeben hatte. Es gefiel ihm, daß der Oberleutnant aus Berlin ihn nicht unterbrach, sondern reden ließ, bis er von allein zur Sache kam – zu den Ergebnissen seiner Recherchen. Er informierte über die zwei Befragungen und das halbamtliche Gespräch mit Harald Kranzbach. Er unterschlug auch nicht, daß er die kleine Elvira in dem Juweliergeschäft unabsichtlich ein bißchen aufs falsche Geleise geführt hatte. „Ich war selbst entsetzt darüber“, versicherte er. Oberleutnant Blatt ließ sich ausführlich berichten. Er drängte nicht, stellte aber viele Fragen und schaltete auch Leutnant Bärwald mit ein. Er faßte das Gehörte schließlich zu fünf Komplexen zusammen, denen er je einen Namen voranstellte: Sonja Plaschke, Juditha Ries, Harald Kranzbach, Dietrich Bromme und Ewald Wätzlaff. Die beiden Frauen spielten in seinen Überlegungen eine besondere Rolle. Oberleutnant Blatt war derjenige in der Abteilung, der sich von Zschoppes Aversion gegen vorschnelle Kombina99
tionen nicht im geringsten beeindruckt zeigte. Er pochte da unmißverständlich auf sein Altersrecht. Ich habe mir das so angewöhnt, anerzogen, und bleibe dabei. Ich kann meine Methoden nicht ständig ändern, nur weil wieder mal ein anderer Chef das Sagen hat. Mit fünfundfünfzig hat man entweder seinen Stil gefunden, oder man hat keinen. Da er sich am Tatorteinsatz nicht beteiligen konnte, war er auf die Fotografien und Berichte angewiesen, die bereits vorlagen. Aufmerksam hatte er das Material gesichtet, auch die Bilder betrachtet, die den gedeckten Tisch zeigten, und in der Aufstellung gelesen, welche Gegenstände sich wo und wie angeordnet befanden. Und da war ihm etwas aufgefallen, was ihn bei seiner Neigung zu schnellen Schlüssen sofort zu der Feststellung veranlaßte: Ruth Felgner hatte eine Frau erwartet. „Meinst du wegen der Pralinen und Kekse?“ hatte Fiedler gefragt. „Nicht nur. Aber denk mal an die Flasche Arat auf dem Tisch. Sie war noch ganz voll, aber bereits geöffnet. Macht das eine Frau, wenn sie einen Mann erwartet? Frauen überlassen das grundsätzlich ihren männlichen Gästen.“ Der Dicke hatte seinen Kopf bedächtig hin- und herbewegt und dann gesagt: „Ich habe den Eindruck, daß Ruth Felgner den ganzen Krempel nur als Staffage brauchte. Sie hat aufgetischt, was für solche Zwecke gerade vorrätig oder im nächsten Konsum zu bekommen war. Da fehlte jede persönliche Note, sowohl von ihr – falls sie eine hatte – als auch von dem Besucher. So ähnlich würde meine Holde den Tisch decken, wenn sie wüßte, der Fliegende Holländer käme erstmalig zu uns. Von jedem ein bißchen, auf alles vorbereitet sein und den eigenen Geschmack gefälligst hintenanstellen.“ Das mochte richtig sein, darüber konnte Blatt sich kein Urteil erlauben. Aber widerlegte es etwa seine An100
nahme? Schließlich wurde das Taxi von einer Frau bestellt. Und wie er gehört hatte, gab es zwei Frauen, mit denen Ruth Felgner gut bekannt war – früher mit Sonja Plaschke, mit Juditha Ries erst in jüngster Zeit. Er bat Leutnant Bärwald, den jetzigen Wohnort der Plaschke, herauszusuchen, und wußte nun, daß sie in Berlin 1058 zu finden war. Von Oberwachtmeister Mosebach hatte er erfahren, daß sich die Ries zur Zeit ebenfalls in Berlin aufhielt. Warum also dieser Version nicht nachgehen, wenigstens gedanklich? Als sich Blatt von Oberwachtmeister Mosebach verabschiedete, sagte er: „Sollte ich mal nicht durchsehen, wer in der Felgner-Dortus-Kranzbach-Sippe mit wem verwandt ist, werde ich mich an Sie wenden.“ „Gern, Genosse Oberleutnant. Aber ohne den alten Hubert bin ich auch aufgeschmissen.“ Auf der Fahrt zu Dietrich Bromme, bei dem Oberleutnant Blatt seine Recherchen beginnen wollte, ließ er sich von Leutnant Bärwald ein bißchen über den Juwelier informieren. „Es stimmt, Bromme besitzt einen weißen Wartburg de luxe. Wie ich hörte, will er ihn verkaufen und sich einen neuen Wagen anschaffen. Sein Geschäft muß wohl gut gehen. Zum Umbau hatte er nur einen geringfügigen Bankkredit aufgenommen, so daß er wohl über genügend Eigenmittel verfügen wird. Er ist Leitungsmitglied der Handwerkskammer und betätigt sich auch in anderen Gremien. Außer seiner Wohnung besitzt er ein Grundstück am Stadtrand, auf dem er sich gerade ein Sommerhäuschen bauen läßt.“ Sie wurden von der mandeläugigen Elvira höflich und freundlich, aber auch, wie es schien, etwas verlegen empfangen. Nachdem das Mädchen sie angemeldet hatte, führte sie die beiden Männer in ein geräumiges Zimmer, das dem Juwelier offenbar als Büro diente. Unter dem Fens101
ter stand ein Schreibtisch, an der einen Seite des Raumes eine große Vitrine mit Goldschmiedearbeiten, gegenüber ein Regal mit Büchern. In der Mitte war eine Sesselgarnitur um einen Tisch gruppiert, an der Wand hingen Bilder, meist Kupferstiche, die den Handwerksberuf des Goldschmiedes im Mittelalter zeigten. Blatt und Bärwald setzten sich. „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ fragte Elvira Kleinen. Sie dankten und wurden für einige Minuten allein gelassen. Gleich als Dietrich Bromme eintrat, war Blatt von ihm angetan. In der Tür stand ein Mann, der keine Requisiten brauchte, um etwas vorzustellen: etwa vierzig Jahre alt, groß, schlank, braune, freimütig blickende Augen, das Haar leicht ergraut. Eine hohe Stirn, der Mund zwar weich, aber energisch die Kinnpartie. Ein Mann von echtem Schrot und Korn, so empfand Günter Blatt. Einer, der weiß, was er will, der Paniken meistert und Ängste hinweglächelt. Der Geborgenheit versprach und Geborgenheit bot. Wie mochte solch ein Mann auf Frauen wirken? Auf Frauen wie Ruth Felgner zum Beispiel? Sie waren aufgestanden. Bromme kam auf sie zu und streckte die Hand aus. Es war ein kräftiger männlicher Händedruck. „Es tut mir leid, daß ich Sie warten ließ. Aber ich habe die Strecke von Bad Sogau bis hierher in einem Ritt zurückgelegt und deshalb ein bißchen geruht.“ Eine Stimme, die sofort Vertrauen erweckte. Warm und voll und ohne jede Künstelei. Eine Männerstimme für Frauen, dachte Blatt. Sie setzten sich, und Bromme schob ein Rauchservice bereit. „Bedienen Sie sich, bitte. Auf mich dürfen Sie keine Rücksicht nehmen, ich habe mein Tagespensum bereits auf der Fahrt aufgebraucht. Mein Arzt ist sehr streng mit mir.“ Es war ihm nicht anzusehen, daß er ärztlicher Verordnungen bedurfte. Er sah gesund aus, braungebrannt noch und ungemein vital. 102
Er wandte sich an Leutnant Bärwald, wohl weil er ihn kannte. „Ich nehme an, Sie wollen eine Auskunft von mir. Als Juwelier wird man häufig von der Polizei konsultiert. Da wir weder einer ärztlichen Schweigepflicht unterliegen noch den Berufsbestimmungen von Rechtsanwälten, gab es bisher deshalb niemals Schwierigkeiten. Also womit kann ich dienen?“ „Es geht um Frau Felgner“, antwortete Blatt. Es war vereinbart, daß hauptsächlich er das Gespräch führen würde. „Ruth Felgner aus Berlin. Sie kam vorgestern nach Brandhofen. Sie besuchte Herrn Wätzlaff, ihren Onkel, und noch andere Verwandten. Aber sie war auch bei Ihnen. Können Sie uns sagen, wie lange?“ Bromme sah Blatt mit großen Augen an, antwortete aber sofort. „Wir waren mehrere Stunden zusammen. Frau Felgner traf gegen vierzehn Uhr bei uns ein.“ Sein Blick bat um Erklärung. Daß er keine Auskunft forderte, lag vermutlich daran, daß er die Gepflogenheiten der Polizei kannte. Aber es kostete ihn Überwindung, sich zurückzuhalten, das sah man. Ganz deutlich sogar, als Oberleutnant Blatt fragte: „Wie wirkte Frau Felgner in diesen Stunden auf Sie? Wie würden Sie ihr Verhalten einschätzen?“ Bromme schwieg einige Sekunden. Schließlich sagte er: „Ich will nicht in Sie dringen, Herr Oberleutnant, das hätte sicher keinen Sinn. Aber bestimmt haben Sie bemerkt, daß mich Ihre Fragen beunruhigen. Frau Felgner wird von uns allen sehr geschätzt, meine Braut und ich sind ihr aufrichtig zugetan. Und deshalb …“ Er zögerte. Er kaute an der Unterlippe und schlang seine Hände ineinander. Vielleicht suchte er nach Worten, oder er überlegte, ob er überhaupt weitersprechen sollte. Er wirkte mit einemmal, als könnte er nun doch Requisiten gebrauchen. Er nahm dann auch das Feuerzeug, bewegte es hin und her, ließ es aufschnappen. „Es fällt mir schwer, meine Gedanken zu formulieren. 103
Vielleicht begehe ich eine Indiskretion. Andererseits, Sie sind Genossen der Volkspolizei … Kurz und gut, Frau Felgner war vorgestern sehr niedergeschlagen. Sie hatte großen Kummer, ich vermute eine Geldangelegenheit. Und wenn sie da … ich meine, wenn Ruth in irgendeine scheußliche Situation geraten sein sollte, in eine Sache, wo sie weder ein noch aus weiß und Sie deshalb bei mir sind, Herr Oberleutnant … Ich würde sofort für Frau Felgner einstehen oder bürgen oder aussagen, was auch immer.“ „Wie kommen Sie darauf, daß sich Frau Felgner in Not oder in Geldschwierigkeiten befunden haben könnte?“ Bromme machte ein Gesicht, als durchschaue er das Vorgehen des Oberleutnants und billige es sogar. Kriminalisten müssen nun mal so sein, so etwa. „Ruth hat uns gewisse Andeutungen gemacht“, sagte er ruhig. „Was für Andeutungen. Erzählen Sie, bitte.“ „Das möchte ich nicht. Ich will nicht in ihre Probleme eingreifen, an denen sie schon genug zu tragen hat.“ „Sie können in ihre Probleme nicht mehr eingreifen. Frau Felgner ist tot.“ Dietrich Bromme fuhr hoch, saß für einen Moment mit starr aufgerichtetem Oberkörper da. „Mein Gott“, murmelte er. Lautlos bewegte er die Lippen, als würde er ein Gebet sprechen. Ganz allmählich entspannte er sich wieder, nahm dann sein Taschentuch und wischte sich über die Stirn. „Sie hat so furchtbare Andeutungen gemacht. Ich halte das nicht durch, hat sie immer wieder gesagt. Aber wer nimmt denn das schon wörtlich, Herr Oberleutnant. Ich halte das nicht durch, das sagt jeder mal. Aber man macht doch nicht gleich Schluß mit seinem Leben. Fräulein Ries hatte sie noch bis zum Wiesengrund gefahren, wo sie ihren Opa und Vetter besuchen wollte. Anschließend haben sie im Admiral Abendbrot gegessen. Ruth wirkte sehr deprimiert und wollte unbedingt allein sein. 104
Manchmal hat meine Verlobte sie noch bis nach Hause gefahren, nach Berlin, aber vorgestern wollte Ruth nicht. Wie gesagt, sie war sehr bedrückt, den ganzen Tag über.“ Bromme nahm offensichtlich an, daß Ruth Felgner Selbstmord begangen hatte. Blatt ging darüber zunächst hinweg. „Sie hat Ihnen gegenüber Andeutungen gemacht, sagten Sie. Welche?“ „Daß sie dringend Geld brauche. Mehrere tausend Mark. Ich hatte nicht so viel flüssig, sonst hätte ich ihr ausgeholfen. Ich bot ihr an, die Summe bis nächste Woche zu beschaffen. Das sei zu spät, sagte sie.“ „Und weiter? Hat Frau Felgner auch angedeutet, wofür sie das Geld haben wollte?“ Der Juwelier schwieg. Er preßte die Lippen zusammen, und zwar demonstrativ. „Herr Bromme, Sie müssen aussagen. Frau Felgner hat sich nicht das Leben genommen, sie wurde getötet.“ „Ruth ist getö… Sie wollen sagen, ermordet worden?“ Oberleutnant Blatt nickte. Auf juristische Spitzfindigkeiten kam es jetzt nicht an. Ob nun Mord oder Totschlag, sie war eines gewaltsamen Todes gestorben. Dietrich Bromme erhob sich. Er ging auf und ab im Zimmer. Immer hin und her, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Es dauerte lange, bis er endlich stehenblieb. „Sie haben recht, Herr Oberleutnant. Unter diesen Umständen muß ich aussagen. Aber Sie werden verstehen, ich nenne Ihnen lediglich die Fakten, so wie ich sie von Frau Felgner gehört habe, und es ist an Ihnen, daraus Schlüsse zu ziehen.“ Er setzte sich wieder und nahm eine Zigarette trotz des ärztlichen Verbots. „Ruth brauchte das Geld, um eine Verpflichtung abzuzahlen. Es gibt einen Mann, dem sie wohl das Geld versprochen hatte und der es nun von ihr forderte. Ein Verwandter. Der Termin für die Zahlung war gestern. 105
Ruth nannte die Summe von fünftausend Mark, die ihr noch oder überhaupt fehlte. Über den Mann weiß ich so gut wie nichts. Ein Verwandter, wie schon gesagt.“ „Frau Felgner hat viele Verwandte, vor allem hier in Brandhofen. Ist Ihnen davon jemand bekannt?“ „Ich kenne Herrn Kranzbach, einen Vetter von ihr. Er baut mir zur Zeit einen Bungalow. Ruth hatte das vermittelt. Sonst kenne ich niemand. Das heißt, natürlich kenne ich noch Herrn Wätzlaff, ihren Onkel.“ „Hatten Sie den Eindruck, daß es sich bei dem Mann um einen Brandhofener Verwandten handelt?“ „Dazu kann ich nichts sagen.“ „Hat denn Frau Felgner nie einen Namen genannt, einen Vornamen? Nie irgendeinen Hinweis gegeben? Daß er raucht oder nicht raucht; daß er ein Auto besitzt oder mit dem Fahrrad fährt; Rosenzüchter ist oder Schallplattenverkäufer; ob er jung oder alt, groß oder klein ist? Das kann ungeheuer wichtig für uns sein. Jeder noch so geringe Anhaltspunkt.“ Bromme drückte seine Zigarette aus. Er schien verärgert. „Ich finde das ein bißchen unfair, Herr Oberleutnant, entschuldigen Sie. Natürlich hat Ruth im Laufe der Wochen und Monate, die wir uns kennen, gelegentlich auch von ihren Verwandten erzählt. Daß Herr Kranzbach zum Beispiel auf ein Auto spart; daß sie ihrem Bruder noch sechstausend Mark schuldete, die Auszahlung für das Haus, das ihr vermacht worden ist. Sie ließ auch durchblicken, daß sie sich nicht mehr mit ihrem Mann versteht und so weiter. Doch das hat sie alles nicht vorgestern gesagt, als sie von ihrer Zwangslage sprach. Da hieß es immer nur er oder ihn oder ihm. Ich habe Angst vor ihm, das hat sie gesagt. Aber auch, daß sie an dem Mann hängt. Herr Oberleutnant: Ruth hat geweint! Wir haben sie zu beruhigen versucht und ihr Mut zugesprochen. Ausgefragt haben wir sie nicht.“ „Wir – das waren Sie und Fräulein Ries, ja?“ 106
„Vor allem Fräulein Ries. Frauen verstehen sich ja besser darauf. Ich wurde auch immer wieder in den Laden gerufen.“ „Gerade daran dachte ich, Herr Bromme. Vielleicht hat sich Frau Felgner Ihrer Braut anvertraut, als sie mal allein waren.“ „Das hätte Juditha mir erzählt.“ „Trotzdem hätte ich Ihre Braut gern gesprochen.“ „Selbstverständlich. Sie ist zur Zeit in Berlin, kommt aber am Wochenende zurück. Da werde ich sie sofort …“ „So lange können wir nicht warten. Geben Sie uns bitte ihre Adresse.“ „Juditha wohnt im Hotel Berolina.“ Günter Blatt machte sich ein paar Notizen. Dann wandte er sich wieder an den Juwelier: „Wie haben Sie und Ihre Braut Frau Felgner eigentlich kennengelernt, Herr Bromme?“ „Durch ihren Onkel, den sie besuchte. Herr Wätzlaff wohnt über mir, wie Sie sicher wissen, und besaß früher dieses Geschäft. Und da Ruth mal bei ihm gearbeitet hatte, war sie natürlich neugierig, wie das jetzt so aussieht. Wir empfanden sofort Sympathie füreinander. Und nach und nach wurde Freundschaft daraus.“ Er war immer leiser geworden und am Schluß kaum noch zu verstehen. Ruth Felgners Tod schien ihn doch sehr zu bewegen. Blatt ließ einen Moment verstreichen, ehe er die nächste Frage an ihn richtete. „Als Sie Herrn Wätzlaff gestern nach Bad Sogau gebracht haben, sind Sie da über Berlin gefahren?“ „Ja, wir haben meine Braut dort abgesetzt. Wir hatten sogar erwogen, mal zu Ruth zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Aber dann haben wir darauf verzichtet. Leider, denn vielleicht …“ „Haben Sie in Berlin eine Pause gemacht?“ „Eine große sogar, zwei Stunden. Wir kamen gegen fünfzehn Uhr an.“ 107
„Waren Sie drei während dieser Zeit immer zusammen?“ Dietrich Bromme lächelte. Nicht pikiert, eher nachsichtig. „Ich verstehe Ihre Frage so, daß ich Ihnen für diese zwei Stunden mein Alibi nachweisen soll. Bitte: Meine Braut hat ihr Zimmer bezogen, Hotel Berolina, das sagte ich schon, dann haben wir zu dritt Kaffee getrunken. Anschließend ist Herr Wätzlaff einkaufen gegangen. Unter anderem wollte er sich ein Kofferradio zulegen und mitnehmen. Hat er auch. Juditha und ich haben währenddessen eine kleine Rundfahrt gemacht. So kreuz und quer durch Berlin. Noch vor fünf waren wir wieder im Hotel, wo uns Herr Wätzlaff bereits erwartete. Kurze Verabschiedung von meiner Braut, dann ging es los nach Bad Sogau.“ „Hat Frau Felgner von dieser Fahrt und dieser Route gewußt?“ „Sie wußte auch, daß wir in Berlin für ein paar Stunden bleiben würden. Das war ja auch der Grund, Herr Oberleutnant, warum wir sie nicht besucht haben. Wenn ihr daran gelegen gewesen wäre, hätte sie es uns wissen lassen.“ Vielleicht hat sie es nur ihren Onkel wissen lassen, dachte Blatt. Deshalb Wä 25. X. „Sagen Sie, wie würden Sie das Verhältnis zwischen Frau Felgner und ihrem Onkel beschreiben?“ Die Frage überraschte Bromme sichtlich. Er schien nicht hinter ihren Sinn zu kommen, erkannte nicht, worum es Blatt ging, und das beunruhigte ihn offenbar. So gab er erst mal zurück: „Wie meinen Sie das – Verhältnis?“ Blatt war nicht daran gelegen, daß seiner letzten Frage zuviel Bedeutung beigemessen wurde. Gleichmütig erklärte er deshalb: „Sie sagten, daß Sie und Fräulein Ries ein sehr herzliches, freundschaftliches Verhältnis zu Frau Felgner hatten. Und nun möchte ich wissen, wie das Verhältnis zwischen Herrn Wätzlaff und ihr war.“ 108
„Innig. Ich finde kein besseres Wort dafür. Soweit ich es als Außenstehender beurteilen kann: innig.“ Blickte er nicht etwas prüfend, als wollte er sehen, wie seine Antwort wirkte? Der Oberleutnant nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken. „Etwas anderes, Herr Bromme. Frau Felgner hat gestern nachmittag, als Sie mit Ihrer Braut und Herrn Wätzlaff schon unterwegs waren, hier im Geschäft angerufen. Weshalb eigentlich?“ „Sie bat Fräulein Kleinert, mir auszurichten, daß sie mit ihrem Bruder sprechen werde.“ „Nichts sonst?“ „Mehr wurde mir nicht gesagt.“ „Was bedeutet diese Mitteilung?“ „Keine Ahnung, Herr Oberleutnant. Vielleicht bezieht sie sich … aber nein, ich habe Ihnen gesagt, ich nenne Fakten. Schlüsse müssen Sie ziehen. Aber wenn Sie Fräulein Kleinen selbst befragen möchten …“ Blatt fragte sie, und Bromme übernahm währenddessen die Kundschaft. „Wann haben Sie gestern den Anruf von Frau Felgner entgegengenommen, Fräulein Kleinen?“ „Um drei.“ „Und was wollte sie?“ „Sie fragte, ob Herr Bromme noch da wäre. Ich verneinte das, darauf sie: ‚Wenn er zurückkommt, bestellen Sie ihm bitte, daß ich nun doch mit meinem Bruder sprechen werde.‘ Das war alles.“ Nun doch. Zwei Wörtchen, die einen Satz völlig verändern können. Ich werde mit meinem Bruder sprechen. Ich werde nun doch mit meinem Bruder sprechen. Was aber wichtiger war: Hatte Frau Felgner gestern nach 15 Uhr noch mit ihrem Bruder gesprochen? Die HO-Gaststätte Burgkeller hatte weder mit einer Burg noch mit einem Keller etwas gemein. Es war ein flacher 109
Bau, T-förmig angelegt. Den Längsstrich bildeten die Gasträume und den Querbalken der Wirtschaftstrakt. Es gab keine Türme und Zinnen, keinen Wassergraben ringsum und zum Leidwesen der Gäste auch keine romantischen unterirdischen Gemäuer. Seit Menschengedenken, sagten die Alten, gab es dieses Lokal und seit Menschengedenken in dieser Form. Oftmals renoviert natürlich, modernisiert, im Inneren auch baulich verändert, die Grundstruktur jedoch war geblieben. Wie auch sein Charakter geblieben war – gutbürgerlich. So sagte man früher, als das Restaurant vor allem von Kreisen des Mittelstandes aufgesucht wurde, von Beamten, Geschäftsleuten, Offizieren. Und gutbürgerlich nannte man es auch heute noch, vielleicht in Ermanglung eines besseren Wortes für eine Gaststätte, in der man gepflegt essen, gemütlich seinen Schoppen trinken konnte und zuvorkommend bedient wurde, in der sich die Gäste noch selbst einen Tisch aussuchen durften und nicht auf Placierung zu warten hatten. Eine Ausnahme mithin. Evelyn Goldmann hatte die Gaststätte erst kürzlich durch ihren Vater kennengelernt, der dort ein Gläschen Cotnari trinken wollte. „Außer zu Hause bekommt man ihn nirgends besser als im Burgkeller serviert“, hatte er gesagt und recht behalten. War es vielleicht Kurt Dortus gewesen, der sie damals bediente? Sie wußte es nicht, es war auch nebensächlich. Als sie jetzt nach ihm fragte, ließ man sie wissen, daß er nicht anwesend sei. Daß er eigentlich dasein müßte, aber … „Sprechen Sie mit dem Geschäftsführer, dem Kollegen Sacher.“ Sacher, das klang unwillkürlich nach etwas Süßem, aber nicht ganz Echtem. Auch nach Bitt’ schän und Küß die Hand, gnä’ Frau. Evelyn hatte sich darauf eingestellt, als sie sein Büro betrat. Ein überraschend kleines und bescheidenes Zimmer. Die mit mattbraunem Kunstleder überzogenen 110
Sessel waren abgewetzt, die Teppichbrücken auf dem Fußboden verschlissen. An der stumpfen Kalkwand hing eine Reproduktion von Womacka, rechts daneben stand ein Bücherbord mit Fachliteratur. Zwar auch klein, aber gar nicht so bescheiden – der Herr Sacher selbst. Dazu noch, so schien ihr anfangs, mit einem Tick behaftet. Kaum daß sie sich vorgestellt hatte, fiel er ihr ins Wort. „Stehe sofort zu Diensten, Genossin Leutnant. Gestatten Sie eine Frage vorweg?“ Evelyn nickte. Mehr gedankenlos überrascht als bereitwillig. Sacher sah sie durchdringend an. Er saß hinter seinem Schreibtisch, etwas geplustert und ernst – unheimlich ernst. Dann schloß er die Augen, und nach wenigen Sekunden begann er mit leiser, schwingender Stimme zu sprechen, wie ein Hellseher etwa. „Sie waren an einem Wochenende … an einem Freitagabend … am Freitag vor zwei Wochen waren Sie Gast in unserem Restaurant. Stimmt’s?“ Evelyn nickte verblüfft. „Ob es ein Freitag war …?“ „Es war ein Freitag!“ Weder Sachers Miene noch seine Stimme ließen irgendeinen Zweifel zu. „Und zwar saßen Sie am zweiten Fenstertisch, Blickrichtung Tür.“ Ihr wurde unbehaglich. „Habe ich etwas angestellt?“ „Sie saßen mit einem älteren Herrn zusammen und tranken Cotnari. Am linken kleinen Finger trugen Sie ein Heftpflaster.“ „Das war unsere Katze, die hatte mir …“ „Sie und der Herr gingen kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Gespeist hatten Sie nicht. Der Herr hatte eine Zigarre geraucht, angeraucht vielmehr. – Danke, Genossin Leutnant. War nur ein kleiner Selbsttest. Man möchte ja in Übung bleiben. – Also was kann ich für Sie tun?“ Der Mann ist ja Klasse, dachte sie. Der ist ja unheimlich Klasse. Sie sah ihn so ungeniert bewundernd an, daß 111
Sacher verlegen und geschmeichelt zugleich den Blick abwandte. „Keine Begabung“, sagte er bescheiden, „nur Training.“ Was auch immer. Man müßte ihn hier loseisen und in die K versetzen. Ein solch phänomenales Gedächtnis lag ja völlig brach, mußte sich mit Selbsttests begnügen und in Schwung halten. Evelyn war begeistert, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu ihrer Aufgabe fand. „Ich wollte Ihren Mitarbeiter Kurt Dortus sprechen. Im Lokal vorn ist er nicht.“ „Kann er auch nicht sein. Herr Dortus hat heute frei. Das heißt, um genau zu sein, er hat sich überraschend frei genommen. Bei jedem anderen hätte ich das nicht zugelassen, aber Kollege Dortus ist mein fähigster Mitarbeiter, außerordentlich tüchtig, Genossin, außerordentlich. Fleißig, höflich, gewissenhaft. Er lernt Polnisch, Tschechisch soll dann folgen. Ein strebsamer Mitarbeiter, der die Erfordernisse der Zeit erkannt hat und sich darauf einstellt.“ Warum diese Weitschweifigkeit, fragte sich Evelyn. Dortus hat einen Todesfall in der Familie, da steht ihm ein freier Tag doch zu. „Wann hat er Ihnen denn den Fall gemeldet, Herr Sacher?“ „Was für einen Fall? Er rief vor einigen Stunden an und sagte, daß er heute nicht kommen könnte.“ „Gab er keinerlei Begründung? Er muß Ihnen doch gesagt haben, weshalb?“ „Er gab keine Begründung, aber ich ahnte, warum er wegbleiben wollte, und sagte ihm das. Er nickte.“ „Er nickte? Am Telefon?“ Sacher schmunzelte. „Ich fühlte, daß er nickte. Ein guter Leiter fühlt so etwas. Er nickte, weil er mir zustimmte.“ „Und worin stimmte Herr Dortus Ihnen zu? Was ahnten Sie?“ 112
„Daß sein heutiges Fernbleiben mit seinem gestrigen Verhalten zusammenhängt. Ganz einfach.“ „Ganz einfach“, wiederholte Evelyn trocken. „Trotzdem würde ich Sie bitten, mir das zu erklären.“ „Selbstverständlich, Genossin Leutnant, selbstverständlich.“ Sacher holte tief Luft. Seine Äuglein glänzten, seine Hamsterbäckchen röteten sich vor – ja wovor? Vor Aufregung, vor Freude, vor Spannung? – Sie röteten sich jedenfalls. Mehrmals strich er sich mit der Zunge über die Lippen, als müsse er sie vorbereiten für einen längeren Diskurs. „Ich erkläre Ihnen gern, was ich meine. Vorerst aber: Ich weiß nicht, warum Sie nach Herrn Dortus fragen, ich bin auch nicht neugierig. – Im Vertrauen, natürlich bin ich neugierig, weiß mich aber zu bezähmen. – Ich möchte nur nochmals versichern, daß er eine ausgezeichnete Fachkraft und als Mensch untadelig ist. Ja, das ist das treffende Wort, untadelig. Und das, was er sich gestern geleistet hat, ist wirklich ein einmaliger Vorfall in seiner so erfolgreichen Laufbahn. Etwas muß ihn völlig aus dem Tritt gebracht haben, etwas Außergewöhnliches, obwohl der eigentliche Anlaß ganz und gar nicht ungewöhnlich ist, cherchez la femme, nicht wahr, aber nein, so kann man das auch nicht sehen. Kollege Dortus war …“ „Bitte, Herr Sacher!“ Evelyn nahm die Versetzung des so gedächtnisgeschulten Objektleiters in die K schleunigst wieder zurück. Dieser wortaufwendige Gernredner und Hauptmann Zschoppe – welch ein Gespann würde das ergeben! „Bitte, Herr Sacher was hat sich gestern ereignet?“ Nun war der Mann beleidigt. Er zog mißbilligend die Augenbrauen hoch, guckte strafend und sagte dann: „Verstehe. Militärische Kürze wird erwartet. Also bitte: Herr Dortus hat die goldenen Regeln des Kellnerberufes gröblichst mißachtet, ja, er hat gegen sie verstoßen!“ Sacher sagte das so, als sei damit alles gesagt. Als ob 113
alles andere auf Erden, gleich welches Ereignis im Weltgeschehen, dagegen eine Bagatelle wäre. Evelyn tat ihm den Gefallen und bekundete verständnisvolle Anteilnahme. Sie schüttelte entrüstet den Kopf und machte: „Tje, tje, tje.“ Anders war hier wohl nichts auszurichten, sie mußte sich auf ihren Partner einstellen. „Und wodurch?“ fragte sie sanft. Das half. Sacher blickte wieder versöhnt. „Also das war so gestern nachmittag. Ich war im Lokal und beaufsichtigte die Arbeit. Nicht, daß das unbedingt nötig wäre, denken Sie das nicht. Unser Kollektiv braucht keinen Aufpasser. Aber ich gehe gern mal nach vorn, begrüße die Gäste, sehe nach dem Rechten. Ich freue mich immer, wenn ich die gepflegte Atmosphäre genießen kann. Alles läuft bei uns wie am Schnürchen, Sie haben es ja selbst erlebt. Kollege Dortus räumte gerade einen Tisch ab, eben jenen Tisch Nummer zwo, am Fenster, an dem auch Sie damals gesessen haben. Da betrat eine Dame das Lokal. Zwischen sechzehn und siebzehn Uhr war es. Sie kam ziemlich hastig herein, blieb stehen und sah sich um. Dann nahm sie am Tisch Nummer drei Platz, Herrn Dortus im Rücken sozusagen. Der trug gerade das Geschirr ab, türmte es aufeinander und balancierte … er ist ein phantastischer Balancierer, Sie müßten ihn erleben, jedes Kellnerherz schlägt da höher … also er balancierte mit dem Geschirr los, zur Küche wollte er es bringen und mußte dazu an ihrem Tisch vorbei. Die Dame blickte zu ihm hoch und sagte etwas. Und da denke ich, es haut mich hin: Um ein Haar hätte er den Turm aus Tellern, Schüsseln und Tassen fallen lassen. Natürlich konnte er sich fangen, aber der Schreck oder die Überraschung, was weiß ich, war ihm so in die Glieder gefahren, daß er das Geschirr unbedingt loswerden wollte. Und was machte der Kollege Dortus? Er stellte es einfach auf den Nebentisch, dem Rechtsanwalt Doktor Mauersburg, der dort seinen Kaffee trank, direkt vor die Nase! Frau Leutnant, 114
Pardon, Genossin Leutnant, das ist … das kommt einer mittelalterlichen Gotteslästerung gleich. Zumindest in diesem Lokal! Doch Dortus wandte sich wieder der Dame zu, und dann ging es los. Ich konnte zwar kein Wort verstehen, aber daß sich die beiden keine Liebesworte zugeflüstert haben, war nicht zu übersehen. Dortus gestikulierte und versuchte, die Dame irgendwie zu beschwichtigen, das kann er, er ist ein Meister im Beschwichtigen. In diesem Fall schien er jedoch keinen Erfolg zu haben. Im Gegenteil. Je mehr er auf sie einredete, um so ärgerlicher wurde sie. Bis sie schließlich aufsprang, ihm noch irgendwas ins Gesicht zischte und rauslief. Und Kollege Dortus! Erst stand er wie vom Donner gerührt, dann – Sie werden es nicht für möglich halten, Frau Genossin – dann warf er wütend seine Serviette fort, Doktor Mauersburg genau in den Schoß, und rannte der Dame nach. Sie müssen bedenken, wenn ein Kellner seine Serviette wegwirft, das ist, als wenn ein Soldat sein Gewehr … dafür gibt es Bau! Nun, ich besitze nicht die Befugnis, Herrn Dortus in den Bau zu sperren, hätte es ohnehin nicht getan, denn er ist ja, wie ich wohl schon betonte, meine beste Kraft, und da drückt man schon mal beide Augen zu. Auf jeden Fall …“ Sacher schwieg. Ihm war nicht etwa die Luft ausgegangen. Er schwieg, weil er offenbar jedes weitere Wort für überflüssig erachtete. Er machte eine Handbewegung, die das noch unterstrich, und lächelte bekümmert. „Wirklich ein eklatanter Lapsus“, sagte Evelyn Goldmann teilnahmsvoll. „Und seitdem haben Sie Herrn Dortus nicht mehr gesehen …“ „Wo denken Sie hin! Er kam ja gleich wieder zurück. Völlig verstört und aufgelöst. Den hat’s aber erwischt, dachte ich. Deshalb habe ich auch ein drittes Auge zugedrückt und ein weiteres Vergehen übersehen. Dortus ging nämlich zur Theke und ließ sich zwei Doppelstöckige geben. Im Dienst! Aber da er sowieso bald Feierabend 115
hatte, sagte ich mir: Leiter sein heißt auch Psychologe sein – verschiebe die Aussprache auf morgen, heute also.“ „Und heute nun rief er an, nahm sich frei, und als Sie ihm sagten – ist wohl wegen gestern –, nickte er am Telefon. Herr Sacher, bei Ihrem hervorragenden Gedächtnis können Sie mir bestimmt eine mustergültige Beschreibung der Dame liefern.“ Das hatte sie keineswegs ironisch gemeint. Evelyn war überzeugt, nun gleich ein erstklassiges Beispiel exakter Personenbeschreibung zu hören. Sie nahm Papier und Bleistift zur Hand, bereit, den erwarteten Redefluß mitzustenographieren. Doch Sacher wand sich, druckste, wollte nicht recht. „Das Ereignis war ja erst gestern, vor nicht mal vierundzwanzig Stunden. Es hat sich noch nicht gesetzt. Ich brauche Abstand, Wochen brauche ich dazu.“ „Versuchen Sie’s. Es ist sehr wichtig für uns.“ „Wenn Sie meinen. Aber mit Vorbehalt, Genossin Leutnant, das mache ich zur Bedingung.“ Und nun wiederholte sich das Schauspiel. Sacher schloß die Augen, sammelte und konzentrierte sich einige Sekunden, und mit leiser, schwingender Stimme tastete er sich behutsam vor: „Also wie sah sie aus? Gut sah sie aus. Eine Dame. So groß wie Herr Dortus etwa. Sie trug ein Kostüm, ein dunkles Kostüm, würde ich sagen, Anthrazit. Das Beiwerk passend: Handschuhe, Handtasche, Pumps in einem satten Grün. Keine Kopfbedeckung …“ Sacher stockte. Er hielt die Augen noch geschlossen. Evelyn wartete, gab dann Hilfestellung: „Haarfarbe? Figur?“ „Hell, ziemlich kurz. Vielleicht war es eine Perücke … doch, das ist möglich, eine Perücke.“ „Ihre Figur?“ „Schlank. Aber trotzdem … verzeihen Sie, mir fällt 116
momentan kein besserer Ausdruck ein … aber trotzdem griffig, gut proportioniert, wenn ich mal so sagen darf.“ „Und das Alter, Herr Sacher?“ Da riß er entsetzt die Augen auf. „Bitte, nicht das, Genossin Leutnant. Alter kann ich nicht bestimmen. Auch Ihr Alter könnte ich nicht angeben, mein eigenes nicht mal schätzen, sähe ich mich im Spiegel. Doch das steht ja Gott sei Dank im Personalausweis … kleiner Scherz nebenbei. Im Ernst: Ich kann da nur den großen Rahmen abstecken. Keine Oma, kein Teenager, dazwischen.“ „Vorsicht, Herr Sacher! Es gibt sehr junge und sehr attraktive Omas.“ „Also gut: etwa fünfundzwanzig bis fünfundvierzig. Aber genauer lege ich mich nicht fest. Mein guter Ruf steht schließlich auf dem Spiel.“ Evelyn Goldmann beließ es dabei. Aber die zwei Zeitangaben in Sachers Bericht, die hätte sie doch noch gern etwas präziser gewußt. Zwischen 16 und 17 Uhr sei die Dame im Lokal gewesen, hatte er erzählt. Und Dortus sei gleich wieder zurückgekommen. Aber alles Nachstoßen half nichts. „Ich bin kein Uhrmensch, Genossin. Ich trage zwar eine, aber die hat kaum eine andere Funktion als meine Krawatte oder mein Ring. Es gehört gewissermaßen zur Kleidung.“ „Apropos Ring. Hat die Dame Schmuck getragen?“ „Schmuck?“ Sofort klappten die Augenlider nach unten. „Nein“, sagte Sacher schließlich entschieden. „Keine Kette, keine Brosche auf dem Kostüm. Ob einen Ring …? Sie hatte ja ihre Handschuhe nicht ausgezogen. Auch nicht, als sie Dortus begrüßte. Sie haben einander überhaupt nicht die Hand gegeben, fällt mir jetzt auf … Aber warten Sie, etwas anderes … Die Dame hat mal ihre Handtasche geöffnet, aufgerissen, wütend aufgerissen, und sie Dortus unter die Nase gehalten. Hochgehoben und ihm entgegengestreckt. Als ob sie zeigen wollte: Da, nichts drin.“ 117
Die letzten Sätze waren keine reine Beobachtung mehr, sondern schon Interpretation, also anders zu bewerten. – Es ist bei Aussagen oder Auskünften immer streng zu unterscheiden, was jemand gesehen oder gehört hat und was er vermutet oder daraus ableitet. Erst kürzlich wieder so ähnlich von Zschoppe doziert, als seien sie blutjunge Anfänger. „Obwohl Sie kein Uhrmensch sind, Herr Sacher: Wie lange dauerte die Auseinandersetzung etwa? Wie lange war die Frau insgesamt im Lokal?“ „Kurz nur, ein paar Minuten. Ich bin untröstlich, daß ich …“ „Bemühen Sie sich. Zehn Minuten?“ „Höchstens. Allerhöchstens.“ „Und Herr Dortus kam gleich wieder zurück, sagten Sie. Was heißt gleich?“ „Hm. Gleich heißt bald.“ „Und was heißt bald? Blieb er zehn Minuten weg oder zwanzig?“ „Auf keinen Fall zwanzig. Aber bitte, Frau Leutnant, ich hatte zu tun! Ich ging sofort zu Herrn Doktor Mauersburg und entschuldigte mich für die Ungeschicklichkeit meines Kollegen, so nannte ich sein grobes Foul. Dann habe ich das Geschirr in die Küche gebracht, da wurde ich aufgehalten. Als ich zurück in die Gaststube kam, sah ich Herrn Dortus an der Theke stehen.“ „Sagen Sie bitte noch, wann er gestern zur Arbeit gekommen ist?“ „Sein Dienst begann wie jeden Tag in dieser Woche um zehn Uhr, verlief allerdings gestern ziemlich unregelmäßig. Am Vormittag nahm er mit mir an einer Arbeitsbesprechung in der Verwaltung teil. Von dort fuhr er zu seinem Polnisch-Kursus, der ausnahmsweise in die Mittagszeit verlegt worden war. Ins Lokal kam er etwa um … na, wann war’s denn, etwa um halb vier. Um achtzehn Uhr hatte er Feierabend.“ 118
Und dann war er zu seiner Schwester gegangen. Evelyn hörte noch seine Stimme: „Aber doch nicht tot! Wieso denn tot? Ruth kann doch nicht tot sein. Tot doch nicht!“ Leutnant Fiedler mußte in der Sparkasse eine halbe Stunde warten, ehe die Genehmigung erteilt wurde. Vielleicht hatte Zschoppe den Staatsanwalt nicht gleich erreicht, vielleicht gab es andere Hindernisse. Herr Banse war inzwischen zurückgekommen. Mit ein paar behutsamen Bemerkungen prüfte er, ob der Genosse Leutnant zu einem Gespräch aufgelegt war. Da er zu keinem Resultat kam, entschied er sich für einen Mittelweg. Mal einen Satz über das Wetter, mal einen über die vielen Erkältungskrankheiten, einen schwachen Versuch auch, über sein Lieblingsthema, die EDV, zu reden. Herr Banse gewann nicht den Eindruck, daß er störte oder aufdringlich war. Er erhielt Antworten, es kamen sogar Fragen. Man konnte es zwar nicht als Gespräch bezeichnen, aber es lag auch nicht dieses bedrückende, mitunter peinlich werdende Schweigen im Raum. Herr Banse sprach sanft und wirkte überhaupt sanft. Behutsam drückte er auf die Taste seines Telefons, als der erwartete Anruf endlich eintraf. Er notierte einiges, vermutlich Namen und Aktenzeichen, sagte verschiedenes und schloß dann mit der Ankündigung: „Ich rufe zurück.“ Er legte auf, drückte erneut die Taste und wählte eine siebenstellige Nummer. Offensichtlich zufrieden mit dem Anschluß, gab er nun Name, Adresse und Kontonummer von Frau Felgner durch und verabschiedete sich mit der sanften Mahnung, die schriftliche Genehmigung doch bitte umgehend nachzureichen. Dann legte er wieder auf und nickte Fiedler freundlich zu. „Alles muß seine Ordnung haben, das ist bei Ihnen ja nicht anders. Aber mit ein bißchen gutem Willen läßt sich das völlig unbürokratisch, bewerkstelligen.“ Herr Banse war 119
ein entgegenkommender und hilfsbereiter Mann. Er räusperte sich diskret und griff zu den vorbereiteten Unterlagen. „Wie Sie hier sehen können, hat Frau Felgner das Konto im Herbst des vergangenen Jahres eröffnet, genau – am elften Oktober.“ Fiedler nickte, obwohl er nichts davon sehen konnte. „Sie zahlte einhundert Mark in bar ein. Zehn Tage später, am einundzwanzigsten Oktober, wurde ein Zugang von fünfundzwanzigtausend Mark verbucht, eine Überweisung. Daraufhin hob Frau Felgner die hundert Mark wieder ab. Das war am fünfundzwanzigsten Oktober. Die nächste Kontobewegung erfolgte fünf Wochen später. Am sechsten Dezember ließ sie sich zwanzigtausend Mark auszahlen, bar wohlgemerkt. Dann blieb ihr Konto konstant – bis gestern, als sie weitere fünftausend Mark abhob, ebenfalls in bar. Ihr augenblickliches Guthaben beläuft sich also nur noch auf die Höhe ihrer Zinsen. – Bitte, überzeugen Sie sich.“ Fiedler überzeugte sich. Er zählte sogar die Nullen nach, so verblüfft war er über die Auskunft. Fünfundzwanzigtausend Mark auf einen Schlag, mein lieber Mann! Dafür mußte eine alte Frau ganz schön lange stricken. Hatte Ruth Felgner diese abgelegene Sparkasse gewählt, weil sie das Geld vor ihrem Mann geheimhalten wollte? Er ließ sich den Beleg zeigen. Herr Banse erklärte, daß es sich um eine Barüberweisung handelte. „Der Betrag wurde in einer anderen Bank eingezahlt und von dort auf dieses Konto überwiesen.“ Der Einzahlungsort war Brandhofen. Sparkasse I stand auf dem Stempel, und der Absender lautete: E. Wätzlaff, Obertalstraße. Es gab keinen Zweifel, der Name war deutlich zu lesen. Onkel Ewald hatte seiner Nichte am einundzwanzigsten Oktober vorigen Jahres fünfundzwanzigtausend Mark … ja was? Geschenkt, geliehen? Auf jeden 120
Fall hatte er sie ihr auf ein eigens dazu angelegtes Konto überwiesen. Und von dem hatte Ruth Felgner gestern fünftausend Mark abgehoben. Fiedler wurde unbehaglich zumute. Wä 25. X. – von wegen Wäsche. Wenn Zschoppe die Blamage erfuhr … Und Bernd Lange jagte wahrscheinlich immer noch durch die Gegend, um einen Wäschebetrieb aufzuspüren. Bloß nicht daran denken. Also gestern hatte Ruth Felgner fünftausend Mark abgehoben und vor einem dreiviertel Jahr, am sechsten Dezember, zwanzigtausend. Wofür? Warum in bar? Zwanzigtausend Mark, das waren zweihundert Einhundertmarkscheine! Helmut Fiedler versuchte sich die Situation vorzustellen. Wie Ruth Felgner am sechsten Dezember den Kassenraum betrat und das Auszahlungsformular ausfüllte. Es lag vor ihm. Oben rechts die fünf Ziffern: 20 000, mit einem Punkt hinter der ersten Null, darunter die Kontonummer. Dann folgte: Mark in Worten. Das Z von Zwanzigtausend war äußerst schwungvoll ausgeführt, energisch oder trotzig. In der nächsten Rubrik standen Name und Vorname, beides in Druckbuchstaben, links unten das Datum, daneben die Unterschrift: Ruth Felgner. Deutlich, nicht besonders ausgeprägt, jeder Buchstabe war ausgeschrieben. Die Unterschrift, weiß Fiedler, muß im Beisein des Schalterangestellten geleistet werden. Also wird Ruth Felgner damit gewartet haben, bis sie an der Kasse stand. Fiedler sieht sie vor sich: Sie trägt einen Mantel, denn es war kalt im Dezember. Ihr Gesicht ist gerötet, und die Finger sind klamm. Der Raum ist klein, zwei Schalter haben geöffnet. Ruth Felgner muß sich anstellen und warten. Sie nimmt ein Formular und streift die Handschuhe ab, bevor sie schreibt. Guckte sie sich ängstlich um? Die Angestellte sieht ihr zu, als sie die Unterschrift leistet. Dann nimmt sie den Auszahlungsschein entgegen, prüft und tut, was für solche Fälle vorgesehen ist. 121
Da alles Bestand vor ihren kritischen Augen hat, zahlt sie. Zweihundert Hundertmarkscheine blättert sie der Kundin hin, zählt wahrscheinlich laut und viel zu schnell vor. Ruth Felgner kommt nicht nach, sie wiederholt die Prozedur, aber viel umständlicher, langsamer. Sie hält den Verkehr auf, unwilliges Gemurre wird laut. Schließlich liegen die zweihundert Scheine vor ihr, gebündelt zu je fünfzig Stück. Frau Felgner steckt sie in ihre Handtasche. Oder? War sie überhaupt allein gewesen? Es war klar, daß sich der Vorgang nicht rekonstruieren ließ, er lag über zehn Monate zurück. Außerdem war die Angestellte, die den Auszahlungsbeleg damals abgezeichnet hatte, nicht mehr bei Herrn Banse beschäftigt, wie er sagte. „Aber ich kann die Kollegin Schönberg hereinbitten. Sie hat gestern Frau Felgner bedient.“ Es dauerte einige Minuten. Herr Banse bemühte sich, das Warten mit einer Unterhaltung zu überbrücken. Seine sanfte Stimme störte Fiedler nicht, im Gegenteil. Es war wie beim Frisör, wo das monotone Summen der Haarschneidemaschine immer zum Träumen anregte. Nur daß er jetzt nicht träumte, sondern nachdachte. Wenn man wüßte, wie Ruth Felgner den sechsten Dezember verbracht hatte. Es war ein Mittwoch gewesen, und da hatte die Sparkasse nachmittags geschlossen. Also hat sie das Geld am Vormittag abgeholt. Was macht eine Frau mit zwanzigtausend Mark in der Tasche, die sie vor ihrem Mann verbergen muß? Sie wird sie nicht nach Hause tragen. Ihm fielen ihre Haushaltbücher ein. Nach Evelyns Schilderung vorhin am Telefon mußte das vom Dezember des vergangenen Jahres noch vorhanden sein. Vielleicht fand sich da eine Eintragung, die weiterhelfen konnte. Eine Bahnfahrt nach Brandhofen zum Beispiel. Ewald Wätzlaff hatte einen Teil des Geldes zurückverlangt, und da er möglicherweise über kein Konto verfüg122
te, brachte Frau Felgner es ihm hin. Und für heute war die restliche Rückzahlung vorgesehen. Onkel Ewald wollte es diesmal bei ihr abholen. Sie erwartete ihn und deckte den Tisch. So ließ sich manches erklären – nur der Mord nicht. Günter Blatt war ja der Meinung, Ruth Felgner habe eine Frau erwartet. Durchaus möglich. Aber das erklärte den Mord auch nicht. Fiedlers Blick fiel auf Herrn Banses Aktenschrank. Dort waren verschiedene Vordrucke gestapelt, darunter auch kleine handliche Kärtchen mit dem Aufdruck Postabholerausweis. Was für eine unsinnige Bezeichnung dachte Fiedler. Alle Menschen, die er kannte, sagten schlicht und einfach Sicherungskarte dazu, was ja den Zweck viel deutlicher auswies. Es ging doch nicht um das bißchen Post, das man von der Bank holte. Sie war als Sicherheit gedacht, man mußte sie an der Kasse vorlegen, wenn man über sein Konto verfü… Moment mal! Also hatte auch Ruth Felgner eine solche Karte vorlegen müssen. Nicht nur am sechsten Dezember, sondern auch gestern. Herr Banse bestätigte das, und zwar entschieden. Er nahm seine Angestellten in Schutz und versicherte, daß niemals … „Ich bitte Sie, Genosse Leutnant!“ Fiedler beruhigte ihn sofort. Er war überzeugt, daß sich Ruth Felgner mit ihrer Karte hatte ausweisen müssen. Aber die Karte war nicht bei ihr gefunden worden. Hatte sie Geld und Karte weitergegeben? Hatte jemand Geld und Karte gestohlen? Es klopfte, und Frau Schönberg trat ein. Sie wirkte scheu. Vielleicht befürchtete sie Unannehmlichkeiten, denn sie wußte inzwischen, worum es ging. Fiedler machte die biederste Miene, der er fähig war, und brachte auch sein behagliches rundes Aussehen mit ins Spiel. Er hoffte, daß er auf die junge Frau wie ein gutmütiger Nachbar wirkte, der eben mal vorbeigekommen war und eine Auskunft wollte. „Kennen Sie Frau Felgner?“ 123
„Ich kenne nur ihr Konto.“ „Frau Felgner hat gestern fünftausend Mark abgehoben. Können Sie sich auf die Uhrzeit besinnen?“ „Ich kann mich an den Vorgang erinnern. Es war gegen Mittag.“ „Kommt es häufig vor, daß jemand mehrere tausend Mark in bar abhebt?“ „Das ist unterschiedlich. Gestern war es nur Frau Felgner.“ Herr Banse reichte ihm den Auszahlungsschein über den Schreibtisch. Fiedler konnte an Ruth Felgners Schrift keinen Unterschied zu der auf dem Formular vom sechsten Dezember erkennen. Höchstens, daß das große F von Fünftausend nicht so schwungvoll aussah wie dort das große Z von Zwanzigtausend. „Herrschte viel Betrieb, als Frau Felgner kam?“ „Es ging. Die Schlange war nicht groß, riß aber auch nicht ab.“ „Als Frau Felgner an der Reihe war, hatte sie da schon alles ausgefüllt?“ „Das macht fast jeder Kunde. Bis auf die Unterschrift, die muß er unmittelbar am Schalter leisten.“ „Sie gab Ihnen also den Schein, Sie kontrollierten, ob er vollständig und richtig ausgefüllt war … War er richtig ausgefüllt?“ „Ja. Sie unterschrieb ihn in meiner Gegenwart. Dann gab sie mir den Schein und ihren Postabholerausweis. Ich prüfte, ob die Auszahlung möglich war, ob ihr Guthaben also ausreichte, und verglich ihre Unterschrift mit der, die sie, wie jeder Kontoinhaber, bei der Eröffnung des Kontos bei uns hinterlegen mußte. Da alles in Ordnung war, zahlte ich das Geld aus.“ „Den Postabholerausweis hat Frau Felgner dann wieder eingesteckt?“ „In ihre Handtasche.“ „Packte sie das Geld auch in ihre Handtasche?“ 124
„Ja. Sie wollte es in Hundertern und möglichst gebündelt haben.“ „Sie erhielt demnach ein Päckchen. Zählte sie nach?“ „Sie zählte mit.“ „Bekam Frau Felgner ihre Kontoauszüge zugeschickt?“ „Nein.“ Herr Banse ergänzte, daß es einen Vermerk in den Unterlagen gebe, wonach die Kundin ausdrücklich verlangt habe, ihr die Auszüge auf keinen Fall zuzusenden. „Sie hat auch niemals ein Scheckheft besessen, wie ich sehe.“ Natürlich, dachte Fiedler, kein Scheckheft, keine Auszüge nach Hause – ein Geheimkonto. Oberleutnant Blatt hatte aus Brandhofen angerufen und Evelyn über sein Gespräch mit Dietrich Bromme und auch über das mit Elvira Kleinert informiert. „Notier dir mal die Adresse von Juditha Ries und Sonja Plaschke“, forderte er sie auf. „Ich bin nach wie vor der Meinung, daß Ruth Felgner eine Frau erwartet hatte. Erwartet, wohlgemerkt. Eine von beiden könnte es gewesen sein.“ Auch Evelyn konnte von einer Frau berichten, von der Dame in Anthrazit im Burgkeller. „Na bitte!“ rief Blatt. „Das Taxi für siebzehn Uhr wurde ja auch von einer Frau bestellt. Das Bild rundet sich also.“ Präziser äußerte er sich allerdings nicht. „Was machst du dort als nächstes, Günter?“ „Ich knöpfe mir einen von Ruth Felgners Verwandten vor, Harald Kranzbach. Den in Berlin habt ihr hoffentlich im Visier.“ „Meinst du den Bruder?“ „Laut Familiengesetz gilt auch der Ehemann als Verwandter. Aber ich meine Dortus.“ Ich werde mit meinem Bruder sprechen. – Ich werde nun doch mit meinem Bruder sprechen. – Wie schon Günter Blatt, dachte nun auch Evelyn über die beiden 125
Sätze nach, wog sie gegeneinander ab. Der zweite signalisierte ihrer Ansicht nach Trotz oder Widerspruch. – Ich werde es doch tun! – Oder eine Meinungskorrektur. – Ich werde nun also doch … Als Leutnant Fiedler eintrat, überfiel sie ihn mit den Sätzen, ohne den Kontext zu nennen, und fragte nach dem Unterschied. Fiedler reagierte unwillig. „Der eine ist kürzer, der andere länger. Der Unterschied zwischen null und fünfundzwanzigtausend ist jedenfalls bedeutend größer.“ Er erzählt von Ruth Felgners Geheimkonto, von Ewald Wätzlaff, der laut Bankbeleg das Geld geschickt hatte, und von den zwei Abbuchungen. „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, Helmut.“ Evelyn Goldmann sah ratlos aus. „Gerade eben sagte mir Günter Blatt am Telefon, Frau Felgner hätte einem Bekannten in Brandhofen, einem Juwelier, ganz verzweifelt erzählt, daß sie dringend fünftausend Mark brauchte, und nun höre ich, daß sie nicht mal vierundzwanzig Stunden später genau diese Summe von ihrem Konto abgehoben hat.“ „Komisch ist das wirklich“, sagte Fiedler. „Da hatte sie vor einem Jahr ein kleines Vermögen auf der Bank, und nun … futsch und hinüber, genau wie sie, wenn ich das mal so respektlos formulieren darf.“ „Auf jeden Fall taucht jetzt allmählich ein Tatmotiv auf. Und was dringt da, so ganz überraschend, an die Oberfläche: Es geht um Geld! Wieder mal um Geld.“ „Ich frage mich nur, wo diese Sicherungskarte geblieben ist. Mit der kann doch niemand etwas anfangen. Ganz abgesehen davon, daß das Konto nahezu leer ist.“ „Das Geheimkonto, Helmut. Und damit es geheim bleibt, mußte die Karte verschwinden. Wer sie an sich genommen hat, will verhindern, daß sie anderen in die Hände fällt. Vielleicht mußte er sie Ruth Felgner mit Gewalt entwenden, und daher stammen die Papierfasern unter ihren Fingernägeln.“ 126
„Und wer aus ihrem bisher ermittelten Bekanntenkreis könnte Interesse haben, daß niemand von dem Konto erfährt? In erster Linie Ewald Wätzlaff, meiner Meinung nach. Er war Frau Felgners Partner in dieser Geldangelegenheit, und er war ja gestern auch in Berlin, sogar zur Tatzeit, wie wir inzwischen wissen.“ „Nun sag bloß noch, du hältst Wätzlaff für den Täter. Wegen fünftausend Mark und einer Sicherungskarte bringt der Onkel seine Nichte um? Wir leben nicht bei den Borgias. Ewald Wätzlaff ist ein bejahrter Herr.“ „Aber überleg doch mal, da stimmt alles: Die Notiz, Ruth Felgner fährt am fünfundzwanzigsten Oktober zur Bank und hebt Geld ab, das ursprünglich Wä gehört hat, und Wä kommt dann auch. Er ist ein netter Onkel, er hat nicht vor, handgreiflich zu werden, er bringt ihr sogar rote Rosen mit und eine Schallplatte … Ich sage dir: selbst wenn es nicht so war, Onkel Wätzlaff muß befragt werden. Also hin zu ihm, auf nach Bad Sogau.“ Und Fiedler erbot sich auch sofort, diese Fahrt auf sich zu nehmen. „Ich habe einen Cousin dort, ein affiger Kerl zwar, aber bei dem könnte ich wohnen und der Abteilung damit Übernachtungskosten ersparen.“ Eine Dienstreise nach Bad Sogau wäre auch ganz nach Evelyn Goldmanns Geschmack gewesen. Sie hatte dort ihren Vater einmal besucht, als er sich einer Kur unterziehen mußte. Sie kannte die schönen Wanderwege in der Umgebung und sah sich schon mit dem alten Herrn Wätzlaff durch den Herbstwald stapfen. – Ein ehrwürdiger und gutmütiger Mann in ihrer Vorstellung, der Fräuleinchen zu ihr sagte und sich ab und zu auf sie stützte. Nach zwei oder drei solcher Spaziergänge, bei einem Gläschen Wein in einem der Lokale vielleicht, würde sie seine Lebensgeschichte erfahren, in der sich, ohne sein Wissen oder Zutun, letztlich das Motiv für Ruth Felgners tragisches Schicksal verborgen hielt. Das sie, Leutnant Goldmann, durch geniale Kombinationen, 127
eventuell auf der Rückfahrt im nächtlichen D-Zug, in einer Ecke gekauert und Schlaf vortäuschend, dann herausfand. – Evelyn träumte oft von solch einem Erfolg, wünschte ihn herbei. Sie war siebenundzwanzig, und was hatte sie denn schon vollbracht? Ihr fiel dieser oder jener Fall ein, gewiß, das war schon etwas. Zwar nichts Großes, die Fälle waren auch nicht groß gewesen, aber immer saubere Arbeit. Doch wirkliche Leistungen? Besondere Aufgaben fielen nicht täglich an. Da mußte man schon zugreifen, wenn man sich beweisen wollte. Aber streiten um die Fahrt nach Bad Sogau wollte sie nicht. Darüber würde ohnehin Zschoppe entscheiden. Die Tür wurde aufgerissen, und herein kam Unterleutnant Lange. „Ist der Dicke … ach da bist du ja. Mein lieber Mann!“ Fiedler wußte nicht, sollte er in Deckung gehen oder den Vorgesetzten herausstreichen. „Mein lieber Mann!“ wiederholte Bernd Lange. „Wenn nicht alle von diesem Onkel Wätzlaff gefaselt hätten, wäre ich auch daraufgekommen. Wä gleich Wäsche – ist doch das Einfachste der Welt.“ Fiedler kniff die Augen zusammen. „Was willst’n damit sagen?“ Er fürchtete, daß man sich lustig über ihn machen wollte. Da marschierte Lange auf ihn zu, nahm einen Recorder aus der Tasche und meldete: „Aussage des Bürgers Gunnar Helmboldt, zwanzig Jahre, Fahrer beim Reinigungsbetrieb Rewatex, der gestern, am fünfundzwanzigsten Oktober, in die Schliersstraße zwölf, Felgner, Wäsche zurückbringen und dort auch neue abholen sollte.“ Er hantierte an dem Gerät, legte eine Kassette ein, und nach wenigen Sekunden ertönte die etwas heisere Stimme eines jungen Mannes. „Es war kurz vor halb fünf, als ich in die Schliersstraße einbog. Ein miserables Wetter. Naß und kalt und 128
dunstig. Frau Felgner war meine letzte Kundin. Eine angenehme Kundin. Wir quatschen immer ein paar Minuten zusammen, auch mit dem Trinkgeld ist sie nicht knauserig. Ich komme da also angetuckert, mit dreißig höchstens, und habe dann vor der Nummer zwölf angehalten. Da war ich echt überrascht, denn das Haus war zappenduster, wie man so sagt. Wohl niemand zu Hause, dachte ich. Trotzdem stieg ich natürlich aus, der Schein kann ja trügen. Ich nahm also das Wäschepaket aus dem Wagen und machte ’nen Fünfzigmetersprint zur Haustür. Und dort blieb ich erst mal ’ne Weile stehen. Ich hörte nämlich Musik, die mächtig fetzte. Die Abbas, wenn Sie wissen, wer das ist. My Mama Said wurde gerade gespielt. Na, ich stellte meine Lauscher auf Empfang und summte ein bißchen mit. Hab’ ja die gleiche Platte. Hätte ich Mutter Felgner gar nicht zugetraut. Und ihrem Mann, der immer so opahaft tut, erst recht nicht. Um den Klasse-Sound nicht zu verderben, wartete ich, bis der Hit zu Ende war. Dann erst klingelte ich. Ich klingelte mehrmals und lange, kam aber niemand. Dance begann, die letzte Nummer auf dieser Seite. Mag ich zwar auch, aber nicht so sehr. Ich nahm das Wäschepaket auf die Schulter, rannte zum Wagen zurück und fuhr ab.“ Diese Aussage hatte es in sich, das begriffen alle. Nicht nur, weil Wä nun eindeutig als Abkürzung für Wäsche enträtselt war und sich die Spekulationen über Ewald Wätzlaff, zumindest in diesem Zusammenhang, erübrigten – sie ermöglichte vor allem eine entscheidende Einengung der Tatzeit. Denn wenn gestern gegen 16 Uhr 30 in Felgners Wohnung der Titel My Mama Said zu hören war, der fünfte auf der A-Seite, mußte jemand die Platte zuvor aufgelegt haben. Hatte dieser Jemand die Aufnahme von Anfang an gehört, dauerte es etwa fünfzehn Minuten bis zu My Mama Said. Da kaum anzunehmen war, daß die Musik angestellt wurde, wäh129
rend Frau Felgner. schon tot am Boden lag – obwohl es vielleicht auch dafür Gründe geben konnte –, durfte man davon ausgehen, daß Ruth Felgner um 16 Uhr 15 noch lebte. Sie selbst oder ihr Besucher, der Täter vermutlich, hatte den Plattenspieler eingeschaltet, und während der Musik, innerhalb der nächsten zehn oder fünfzehn Minuten, wurde sie dann getötet. „Zwischen Viertel und halb fünf erfolgte demnach die Tat“, sagte Fiedler. „Stand um diese Zeit nicht auch ein weißer Wartburg vor dem Haus?“ „Als Helmboldt kam, stand kein Auto auf der Straße“, erwiderte Lange. „Ich habe ihn ausdrücklich gefragt. Bromme muß kurz zuvor abgefahren sein.“ Evelyn schüttelte den Kopf. „Es war nicht Bromme. Er war zwar mit seinem Wartburg in Berlin um diese Zeit, zusammen mit seiner Braut und Ewald Wätzlaff, aber nicht in der Schliersstraße. Das hat er jedenfalls dem Genossen Blatt gesagt. Überprüft haben wir es noch nicht.“ „Um Viertel fünf stand ein weißer Wartburg vor dem Haus“, wiederholte Fiedler. „Dafür haben wir zwei Zeugen. Und um Viertel fünf wurde im Haus die Schallplatte aufgelegt. Wenn da kein Zusammenhang besteht …“ Evelyn Goldmann dachte an die Schuhabdrücke am Hinterausgang. Derbe Männerschuhe. Der Mann war durch den Keller geflohen, hatte sie vor zwei Stunden überlegt. In wahnsinniger Angst hatte er diesen umständlichen und verräterischen Weg genommen, oder weil ihm keine Wahl blieb. Weil jemand kam oder sich schon an der Tür befand. Felgner nicht, das stand nunmehr fest, denn um diese Zeit saß er nachweisbar in einem Taxi, das ihn zum Bahnhof Schöneweide brachte. War der Mann geflohen, als Helmboldt klingelte? – Das würde bedeuten, daß er um halb fünf noch in der Wohnung war. Vielleicht kniete er gerade neben der Toten, völlig fassungslos über seine Tat, und fuhr nun ent130
setzt hoch, als er das anhaltende Läuten hörte. Wohin? Wenn er die Räumlichkeiten kannte, lief er sofort in die richtige Richtung, wenn nicht, irrte er erst von Tür zu Tür, bevor er den zweiten Ausgang fand. Er rannte nach draußen, lief über das Erdbeerbeet und versteckte sich hinter dem Haus. Dort wartete er, daß der andere das Grundstück wieder verließ, und suchte dann das Weite. Doch aus der Wohnung klang währenddessen die Musik der Abbas … Sie zuckte zusammen. Das war ja alles falsch, was sie sich vorgestellt hatte. „Hört mal“, rief sie aufgeregt. „Helmboldt ging zu seinem Lieferwagen zurück, als der letzte Titel begann – Dance. Der dauert etwa drei Minuten. Und was war nach den drei Minuten?“ Sie erhielt keine Antwort. Man wußte mit ihrer Frage nichts anzufangen. „Nach den drei Minuten wurde der Plattenspieler ausgeschaltet.“ Fiedler grinste. „Nicht wurde, hat sich. Der Apparat hat sich ausgeschaltet. Heutzutage geschieht das nämlich automatisch, Evymaus. Wohl gerade gefehlt in der Schule. Und solch ein hochwertiges Gerät wie die Hi-FiAnlage …“ „Schaltet sich eben nicht aus. Wenn die Platte abgespielt ist, hebt sich zwar der Tonarm, der Plattenteller jedoch läuft weiter. Der muß von Hand abgestellt werden. In der Gebrauchsanweisung steht, daß das so konstruiert ist wegen der hochempfindlichen Vibration. Wir haben nämlich das gleiche Gerät zu Hause.“ Ein paar Sekunden hing jeder seinen Gedanken nach. Schließlich sagte Fiedler: „Wenn das so ist, stehen wir wieder am Anfang. Jetzt wissen wir zwar die Tatzeit genauer, aber von dem möglichen Täter überhaupt nichts mehr. Bisher hatten wir als Anhalt wenigstens den weißen Wartburg.“ „Und warum plötzlich nicht mehr?“ Bernd Lange blick131
te von einem zum anderen. „Warum muß denn unbedingt der Täter den Apparat abgeschaltet haben. Das kann doch auch jemand gewesen sein, der später in die Wohnung gekommen ist.“ „Wie denn? Durch den Keller?“ „Warum nicht durch den Keller, Evelyn? Eine Person, die Bescheid wußte.“ „Das ist doch Unsinn“, sagte sie. „Da kommt also jemand in die Wohnung; sieht Ruth Felgner am Boden liegen und hat nichts anderes zu tun, als ausgerechnet den Plattenspieler abzustellen.“ „Vielleicht hat er doch noch etwas anderes zu tun gehabt“, warf Helmut Fiedler ein. „Zum Beispiel Ruth Felgner die fünftausend Mark abzunehmen. Und die Sicherungskarte. Vielleicht gibt es zwei Täter: einen Mörder und einen Dieb.“ „Und welches Motiv sollte der Mörder gehabt haben, wenn nicht das Geld?“ Lange überlegte laut: „Es kann ja auch viel einfacher gewesen sein, viel normaler. Felgner war es, der den Apparat ausgeschaltet hat. Man muß zuerst immer an das denken, was man am leichtesten vergißt, Vers vierzehn unseres Alten.“ Evelyn widersprach. „Felgner hat aber ausdrücklich betont, daß die Hi-Fi-Anlage nicht in Betrieb war, als er die Wohnung betrat.“ „Hat er betont, na und?“ „Warum sollte er lügen? Ich meine – in dieser Frage lügen? Ich sehe keinen Grund.“ „Wenn wir keinen Grund sehen, heißt das ja noch lange nicht, daß es keinen gibt. Vielleicht liegt der Grund ganz woanders, in einer anderen Lüge. Und diese andere, die Initiallüge will ich sie mal nennen, die aufrechtzuerhalten für ihn außerordentlich wichtig ist, zwingt ihn zur nächsten, und so geht das immer weiter.“ Evelyn wußte auch nicht, warum sie Felgner glaubte. 132
Ganz sicher nicht, weil er ihr besonders sympathisch war. Abgesehen davon, daß das sowieso kein Kriterium für eine Kriminalistin sein durfte, stimmte es auch nicht. Sympathie spielte keine Rolle, eher schon Mitleid, eine Gefühlsregung, die zwar ebenso verwerflich war in ihrem Beruf, aber auch nicht einfach verboten werden konnte. Der Mann kam ihr so elend vor, so hilflos und verstört. Fiedler stand plötzlich auf und ging ein paar Schritte durch das Zimmer. „Ich glaube, daß Bernd recht hat, Evelyn. Ich glaube auch, daß Evelyn recht hat, Bernd. Am meisten aber glaube ich, daß ich recht haben werde.“ Er blieb stehen, reckte und streckte sich, wölbte seinen dicken Bauch vor und simulierte ein unterdrücktes Gähnen. „Den Plattenspieler hat weder der Täter ausgeschaltet noch Felgner und auch keine Person, die nach der Tat erst die Wohnung betreten hat. Das Gerät wurde von jemand ausgeschaltet, der sich bereits in der Wohnung befand, als das Verbrechen geschah.“ „Mensch“, murmelte Bernd Lange verblüfft. Fiedler machte eine lässige Handbewegung. „Nicht der Rede wert, Genossen, bin heute eben in Hochform, siehe Wä. Aber laßt mich mal weiterspinnen. Unser Oldtimer ist der Meinung, daß Ruth Felgner eine Frau erwartet hatte. Schließen wir uns dieser Meinung mal an: Die Frau kommt also und bringt, wie das so üblich ist, eine Kleinigkeit mit. Die Schallplatte zum Beispiel, den Rosenstrauß. Die Platte wird aufgelegt, doch bevor sich die Frauen an den gedeckten Tisch setzen können, fährt der weiße Wartburg vor. Wir wissen nicht, wer kam. War es doch Bromme mit seiner Verlobten? Setzte er vielleicht nur Ewald Wätzlaff ab? Es kann natürlich auch jemand gewesen sein, von dem wir noch gar nichts wissen. Ruth Felgner will ihn oder sie in der Veranda abfertigen. Damit ihr Besuch das Gespräch nicht hören kann, stellt sie die Musik auf volle Lautstärke. Die Frau bleibt 133
im Wohnzimmer und wartet. Vielleicht hält sie sich die Ohren zu, oder sie ist ein jungsches Ding und an Diskos gewöhnt. Sie weiß nicht, was draußen geschieht. Sie hört nicht das Wegfahren des Wartburgs und auch nicht das Klingeln des Rewatexfahrers kurz danach. Aber dann ist die Platte zu Ende. Sie steht auf und schaltet das Gerät ab. Eine unheimliche Stille ist plötzlich im Haus. Keine Stimme, keine Schritte, nichts. Sie wird unruhig, öffnet die Wohnzimmertür und meint, ihr Herz bleibe stehen: Ruth Felgner liegt leblos am Boden. Ohne zu überlegen – vielleicht auch mit kühler Überlegung, das wissen wir noch nicht –, rennt sie aus dem Haus.“ Sie rannte zum Burgkeller, fuhr Evelyn in Gedanken fort, zu Kurt Dortus. Eine Frau in Anthrazit, fünfundzwanzig bis fünfundvierzig Jahre alt, kein jungsches Ding also. Sie sagte Dortus, was geschehen war … Tat sie das wirklich? Kurt Dortus war aufgeregt gewesen, völlig durcheinander, hatte Objektleiter Sacher erzählt. Er war der Frau nachgerannt, aber gleich wieder zurückgekommen. Und dann hatte er seinen Dienst weitergeführt. Nein, die Frau kann ihm nicht gesagt haben: Ruth ist tot. Was aber dann? Kurt Dortus hatte Mühe, sich zurechtzufinden in diesem Wirrwarr von Vorderhäusern, Seitenflügeln und Quergebäuden der Mietskasernen aus der sogenannten Gründerzeit. Sonja Plaschkes Name stand an keinem der zerkratzten Briefkästen in den Hausaufgängen, und so mußte er Wohnungstür auf Wohnungstür absuchen. Sie hatte ihm ihre Adresse zwar genannt, aber in der Aufregung über ihr plötzliches Auftauchen im Burgkeller war ihm nur der Straßenname im Gedächtnis geblieben. Ihr Türschild war aus Pappe und mit Reißzwecken angeheftet. S. Plaschke stand handschriftlich darauf und dahinter: 2x klingeln. 134
Eine Frau öffnete ihm. Sie trug eine Kittelschürze, die dicken Füße quollen über die Pantoffeln. „Sind Sie Herr Dortus? Sie möchten bitte warten.“ Sie ging ihm voran, eine alte, herzkranke Frau, die schwer atmend durch den Korridor schlurfte. „Es wird nicht lange dauern. Nehmen Sie derweil schon Platz.“ Es war eine schäbige Wohnung, zum Hinterhof hinaus und im vierten Stock gelegen. Wenn man aus dem Fenster sah, blickte man auf schmutzig-graue, bröckelnde Fassaden, auf überquellende Mülltonnen und streunende Katzen. Es gab kein Grün, und kaum ein Sonnenstrahl verirrte sich hierher. Aus mehreren Etagen dröhnte Musik, Frauen keiften im Treppenhaus und Kinder plärrten. Eine trostlose Umgebung, eine hoffnungslose für manche. Die Möbel wirkten fremd in Sonjas Zimmer. Sie standen klein und verloren in dem hohen Raum. Es sah alles etwas provisorisch aus, nicht gerade ungemütlich, aber vorübergehend, wie auf Abruf. Es wunderte ihn, daß sie sich nicht anders eingerichtet hatte, wohnlicher. Sonja entstammte einer vornehmen Familie in Brandhofen. Ihr Vater war Architekt gewesen, Stadtbaurat. Als Kind erschien ihm die Villa ihrer Eltern stets wie ein indisches Märchenschloß, Welten entfernt und unerreichbar. Später hatte sich diese Anbetung gelegt. Als Sonja Verkäuferin wurde und damit Ruths Arbeitskollegin, war ein ganz normaler Mensch zum Vorschein gekommen. Mit dem man sprechen konnte und auch flirten. Das war ein beliebtes neues Wort gewesen, das soviel wie den Hof machen bedeutete. Oder eine Liebelei anfangen. Kurt Dortus hatte sich mehr auf die zweite Definition gestützt, denn von Hof machen hielt er nicht viel. Offenbar auch Sonja nicht. Sie hatte ziemlich rasch das entscheidende Wort gesagt. „Komm!“ Es wies ihm den Weg durch eine unverschlossene Wohnungstür zu einem Mädchen, das nicht länger Jungfrau bleiben woll135
te. Viele Jahre lag das inzwischen zurück. Und nun waren sie einander wiederbegegnet. Als sie gestern in den Burgkeller gestürzt kam und ihm das Schreckliche mitteilte, hatte er sie zu besänftigen versucht. „Unternimm nichts, ich bringe das in Ordnung.“ Und jetzt saß er hier in ihrem Zimmer, doch in Ordnung gebracht war nichts. Im Gegenteil. Inge wußte, daß Ruth gestern fünftausend Mark in der Tasche hatte, und dadurch war die Situation noch verworrener geworden. Seine Frau würde zur Polizei gehen und ihre Beobachtung melden, wenn er ihr keine Erklärung lieferte. Um vierundzwanzig Stunden Aufschub hatte er sie gebeten, doch wirklich nutzen konnte er nur wenige. Er hatte die Nacht kaum geschlafen. Aber ernsthaft nachdenken konnte er auch nicht. Es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren. Die Gedanken schweiften immer wieder ab und trieben ins uferlose. Das Schlimmste war Ruths Stimme. Immer noch hatte er sie im Ohr, und bis ans Lebensende würde er wohl nicht davon loskommen. Dieses verzweifelte Aufschluchzen am Telefon, als sie vorgestern, vor ihrer Fahrt nach Brandhofen, im Burgkeller anrief. „Ich weiß nicht, was ich tun werde, Kurt. Vielleicht etwas ganz Böses. Wenn ich Erfolg habe, bin ich abends wieder zurück. Wenn nicht …“ Ruth war am Abend wieder zurück gewesen, und am nächsten Tag hatte sie auch Geld gehabt. Hatte sie dafür etwas ganz Böses getan? Gestern mittag wollte sie ihn sprechen. Wäre alles anders gekommen, wenn sie ihn erreicht hätte? Ruth hatte von jeher mit verblüffender Selbstverständlichkeit erwartet, daß er für sie einsprang und seine eigenen Interessen hintenanstellte. Immer mußte er etwas geraderücken, ins rechte Licht setzen, beschwichtigen, helfen oder trösten. Das hatte er bereits während ihrer Kindheit tun müssen und dann erst recht, als seine 136
Schwester ihr eigenes Leben zu leben begann. Nachdem sie von zu Hause weggegangen und zu Sonja Plaschke, ihrer Arbeitskollegin, ihrer Freundin, gezogen war. Als die Eltern Sonjas Ende der fünfziger Jahre die DDR verließen, entschied sie sich, in Brandhofen zu bleiben. Sie mußte die Villa räumen und bekam eine kleine Wohnung zugewiesen. In die nahm sie Ruth wenig später auf. Eine wilde Zeit war das für die beiden Mädchen gewesen. Sie hatten sich eine eigene Moral zusammengezimmert und lebten danach. Erlaubt ist, was gefällt, lautete ihre Devise, und gefallen konnte den beiden vieles damals. Aber nicht immer gefiel es auch den anderen, und so gerieten sie mehr als einmal in arge Bedrängnis. Da entliehen sie sich heimlich Ringe und Ketten aus dem Geschäft, in dem sie arbeiteten, legten den Schmuck an, wenn sie am Wochenende ausgingen, legten ihn zwar wieder zurück, aber nicht immer unbemerkt, weil sie am Montagmorgen selten rechtzeitig im Laden waren. Wurden sie erwischt, flossen Tränen, folgten Beteuerungen, daß nie und niemals wieder … Doch war das Donnerwetter überstanden, reiften bald neue Pläne. Die beiden Mädchen ließen sich an der Oberfläche treiben. Sie sahen die Welt so, wie sie sie sehen wollten, nahmen nur allzugern Schale als Kern, Äußerlichkeit als Substanz. Gut aussehen hieß für sie – auch gut sein. Mußten sie mit solchen Illusionen nicht irgendwann scheitern? Sie balancierten mitunter hart an der Grenze der Gesetzesnorm, im Vertrauen auf die Gutmütigkeit oder Nachsicht oder Dummheit ihrer Vorgesetzten. Und dann war ja immer noch er da, Ruths großer Bruder. Dortus hatte oft geholfen und nicht selten gegen sein Gewissen. Er fühlte sich einfach verpflichtet, der Schwester beizustehen. Denn alles, was er wenigstens noch für ein paar Jahre im Elternhaus gefunden hatte – familiäre Geborgenheit, Mutterliebe, inneren Halt –, blieb der Jün137
geren verwehrt, Ruth mußte sich selbst suchen, was ihm und anderen von Haus aus mitgegeben wurde. Bei und mit Sonja jedoch fand sie das nicht. Von allein hätte sich Ruth eine solche Lebenshaltung nie zu eigen gemacht. Ruth war ein viel zu ängstlicher und gehemmter Mensch, meist beschämend unselbständig und schnell bereit, sich der Meinung anderer anzuschließen. Vorausgesetzt, sie gewannen ihr Vertrauen, doch wie leicht fiel das bei Ruth. Zeitweilig gelang es ihr zwar, die Unsicherheit zu überspielen, Souveränität vorzutäuschen. Doch das Unsichere und Schwankende in ihrem Wesen brach immer wieder durch, und sie verhielt sich dann nicht selten wie ein, in die Jahre gekommenes, Kind. Auch die Ehe mit Felgner und ihr Umzug nach Berlin vermochte daran kaum etwas zu ändern. Nur als Walter durch seine Stellung beim Außenhandel oft ausländische Besucher zu Gast hatte und Ruth als Dame des Hauses im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, war sie selbstsicherer geworden, mitunter selbstherrlich sogar. Da tat sie nicht nur, was sie sollte, sondern endlich mal, was sie wollte. Aber das war lediglich ein Zwischenspiel. Felgner hat das nie begriffen und deshalb die Szenen, die sie ihm damals machte, als er beim Außenhandel aufhörte und Ruth in diese Einsamkeit versetzte, immer nur auf seinen geringeren Verdienst geschoben. Vielleicht hat er diesen Grund auch nur vorgeschoben, um nach den wirklichen Ursachen nicht fragen zu müssen. Ruth hatte mal zu Dortus gesagt: „Ich kann meine Unzufriedenheit schwer begreiflich machen. Es ist einfach langweilig zwischen uns geworden. Ich werde immer trauriger und weiß nicht, warum. Die Ehe macht keinen Spaß, nichts macht Spaß. Immer dasselbe Einerlei. Walter ist ein so ordentlicher Mensch, bei ihm läuft alles nach Programm. Am Morgen weiß ich schon, was um neunzehn Uhr, was um zwanzig Uhr sein wird. Ich 138
weiß, was er sagt, und weiß, was ich sagen werde. Und das noch dreißig oder vierzig Jahre so weiter …?“ Wie oft hatte Dortus die beiden in der für sie fast typischen Gruppierung angetroffen: Ruth, auf der Couch liegend, sah sich eine Fernsehübertragung an, den Oberhofer Bauernmarkt, Lutz Jahodas Evergreens, die Rostocker Hafenbar, während sich Walter, mit dem Rücken zum Fernsehgerät und Kopfhörer auf den Ohren, klassische Musik anhörte. Die Szene war nun wirklich nicht das Idealbild einer vitalen Ehe. Ließ sich Walter vielleicht von der Musik einlullen, floh er in sie vor dem Alltag? Vor dem Alltag mit Ruth also? Dann tat sie später nur das, was er auch gemacht hatte. Anders freilich, ihrer Mentalität entsprechend. Auf seine Flucht in die Musik reagierte sie mit einem Ausbruch, der mehr war oder mehr sein sollte, als nur das Abschütteln ehelicher Eintönigkeit. Felgner muß das gespürt haben. Aber er hat es nicht in Rechnung gestellt, hat das Wissen oder Ahnen verdrängt und sein Unbehagen darüber von Melodien fortspülen lassen. Er verschanzte sich hinter eine Theorie, wonach man nicht eingreifen dürfe in die Bewegungsfreiheit des anderen. Er ließ Ruth laufen, wie und wohin sie wollte, spottete, wenn sie stolperte, lobte bei einem gelungenen Schritt, als einen wirklichen Partner hat er sie nicht gesehen. Bei ihrer letzten Begegnung vorhin war ihm wieder die ganze Lauheit dieses Mannes bewußt geworden. Da schien alles nur angewärmt: die Eifersucht, die Hilflosigkeit, seine elenden Rechtfertigungen. „Was hätte ich denn machen sollen, Kurt? Sollte ich Ruth die Fahrten nach Brandhofen verbieten? Sollte ich sie einsperren?“ Als ob sich Ruth hätte einsperren lassen – gerade nachdem sie begonnen hatte, sich endlich selbst einen Weg zu suchen. In wenigen Minuten würde sich zeigen, 139
wie weit und mit wem sie ihn gegangen war. Und anschließend würde auch Felgner die bittere Wahrheit schlucken müssen. Oder kannte er sie etwa schon? Manches an seinem Verhalten, das Lamentieren, Erklären und Beteuern, war Dortus nicht immer echt erschienen. Auch seine Lauheit nicht. Als Walter von Ruths Haushaltsbüchern erzählte, daß sie von der Polizei genauestens überprüft wurden, da hatten seine Worte scharf und aggressiv geklungen, drohend fast: Die Haushaltsbücher werden es an den Tag bringen – das hatte Walter zwar nicht gesagt, aber gemeint. Dortus befürchtete das kaum. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie Eintragungen enthielten, die Ruth verraten könnten. Aber möglich war natürlich auch das. Eine kleine Unvorsichtigkeit vielleicht, ein findiger Kriminalist, und schon wurde nachgestoßen. Um so dringender war es, jetzt mit Sonja ins reine zu kommen. Mehr noch beunruhigte ihn Felgner. Was wußte er, woher, seit wann? Wußte er überhaupt etwas, oder wollte er nur auf den Busch klopfen. Aber mußte er dabei nicht wissen, auf welchen? Dortus hörte Stimmen im Korridor. Sonja war gekommen und sprach mit der Alten. „Machen Sie uns ein Kännchen Kaffee, Frau Schmusek?“ Jetzt kam es drauf an. Schon die ersten Worte konnten entscheiden. Er hatte sich keine zurechtgelegt, weil er von der Situation ausgehen wollte. Dortus stand auf und ging zum Fenster. Er war aufgeregt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, gelassen zu erscheinen. Dann trat sie ein. Sie trug ein grünes Kleid mit langen Ärmeln und einem Bündchen am Hals. Ihre Figur hatte sich kaum verändert in den Jahren. Nur ihr Gesicht war schmaler geworden. 140
„Grüß dich“, sagte sie. Sie ging auf ihn zu und streckte die Hand aus. „Hast du das Geld?“ Oberleutnant Blatt hatte Harald Kranzbach nicht angetroffen. Weder auf der Baustelle noch zu Hause bei seinem Großvater. Der Brigadier sagte ihm, Harald habe sich gleich nach dem Frühstück freigenommen, um zum Arzt zu gehen. Fieber und Kopfschmerzen, vermutlich eine Grippe. Die Poliklinik lag in der Nähe, aber einen Patienten Kranzbach gab es dort nicht. Vom Großvater erfuhr Blatt auch nicht mehr: „Wenn dem Jungen mal was fehlte, ist er immer zur Poliklinik gegangen. Die ist nämlich zuständig für die Bauleute.“ Der alte Hubert war erschrocken, daß ihm schon wieder jemand von der Polizei Fragen stellte, diesmal sogar einer in Zivil. Wo sein Enkel gestern nachmittag gewesen sei, wollte Blatt wissen. „Keine Ahnung, Herr Oberleutnant. Gewöhnlich hat er um halb vier Feierabend, aber er kommt selten pünktlich. Meist hängt er noch ’ne Schicht ’ran, privat.“ „Baut er für jemand?“ „Für Bromme zur Zeit. Den Juwelier in der Obertalstraße, falls Sie den kennen. Ein Sommerhäuschen in der Vorstadt.“ „Und Sie meinen, daß Harald gestern dort gearbeitet hat.“ „Ich weiß nicht, ob ich das meine. Mir sagt er doch nicht, was er treibt. Muß er ja auch nicht.“ „Wann ist er denn nach Hause gekommen?“ „Spät. Gestern ist er spät gekommen … War gestern Mittwoch? Mittwochs kommt er immer spät. Da geht er abends noch zum Proskal-Herbert und hilft dort mit. Von dem bekommt er doch seinen Wagen.“ Endlich mal ein neuer Name. Bisher war das immer im Kreis gegangen. Hinz ist mit Kunz verwandt, Kunz kennt Kinz, und der arbeitet wieder für Hinz. 141
Blatt ließ sich die Adresse geben und fuhr hin. KfzReparaturwerkstatt las er über dem Eingang. Der Hof stand voller Wagen, es sah wie in einem Wartezimmer aus, nur daß diese Patienten geduldiger waren. Das Büro lag in einer Holzbaracke. Als Blatt eintrat, lümmelte sich ein junger Mann hinter dem Schreibtisch. Er hatte langes Zottelhaar und ein Mädchengesicht. Zwischen den Knien hielt er eine Milchflasche und in der Hand eine dicke Zigarre. „Sind Sie Herr Proskal?“ Blatts Stimme klang unwillkürlich etwas zweifelnd, wie: Sie sind doch nicht etwa Herr Proskal? „Bin ich. Und Sie?“ Er machte keine Anstalten, aufzustehen oder ihm Platz anzubieten. Er schien auch auf die Antwort nicht neugierig zu sein. „Haben Sie ’nen Defekt?“ Er hob die Milchflasche an den Mund und trank mehrere Schlucke. Oberleutnant Blatt wies sich aus. „Ich habe keinen Defekt“, sagte er. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. „Kommen Sie dienstlich, geschäftlich oder privat?“ fragte Proskal. „Dienstlich, warum?“ „Weil ich dann meine Haltung ändern muß. Man benimmt sich anständig, wenn man mit der Staatsmacht spricht.“ Er stellte die Milchflasche beiseite und setzte sich aufrecht. Sogar das Hemd knöpfte er zu. „Es geht um eine Auskunft, Herr Proskal. Sie wollen Ihr Auto verkaufen?“ Der junge Mann kniff die Augen zusammen, als habe er Blatt beim Falschspiel ertappt. Dann grinste er unverschämt. „Das läuft bei Ihnen also unter dienstlich. Meine Hochachtung! – Tut mir leid für Sie, der Zug ist durch.“ Blatt hatte nicht bedacht, daß man seine Frage auch so auslegen konnte und mußte jetzt selbst darüber lachen. Zumal Proskal demonstrativ wieder zwei Hemd142
knöpfe öffnete, was wohl dem geschäftlichen Aspekt des Gesprächs entsprach. „Sie haben mich mißverstanden. Ich will Ihren Wagen nicht kaufen, ich möchte wissen, wer ihn gekauft hat?“ „Warum wollen Sie das wissen?“ „Ich sagte schon, daß ich dienstlich hier bin.“ „Na trotzdem. Warum wollen Sie wissen, wem ich mein Auto verkauft habe.“ „Bitte, Herr Proskal. Wir haben beide nicht viel Zeit, und deshalb …“ „Ich habe Zeit. Aber schön, Sie sind die Staatsmacht … ein Bekannter hat ihn gekauft, Kranzbach mit Namen. Harald Kranzbach.“ „Wann?“ „Gestern abend wurde das Geschäft perfekt gemacht. Harald brachte die restlichen Moneten, und ich gab ihm die Wagenpapiere. Jetzt ist er vermutlich bei der VP und läßt die Umschreibung vornehmen. – Ist da etwas faul dran?“ „Woran?“ „Ich weiß nicht, Sie fragen so komisch.“ „Was ist das für ein Wagen, den Sie verkauft haben?“ „Wartburg de luxe.“ „Farbe?“ „Weiß.“ „Wo waren Sie gestern nachmittag, Herr Proskal?“ „Hier. Ich war den ganzen Tag hier.“ „Der Wartburg auch?“ „Am Nachmittag hatte Harald ihn sich ausgeliehen. Er ist damit nach Berlin gefahren, um das restliche Geld zu holen.“ Blatt blieb ruhig. Nur wer ihn genau kannte, hätte das leichte Vibrieren seiner Nasenflügel deuten können. „Erzählen Sie mal, wie das vor sich ging, wie es zum Verkauf und Kauf kam, wie das so ablief.“ Proskal wurde unruhig. Wahrscheinlich fürchtete er, 143
sein Geschäftsgebaren stünde zur Debatte. Blatt war das nur recht. Proskal brauchte nicht zu wissen, worauf er in Wirklichkeit zielte. „Was gibt’s da groß zu erzählen. Ich wollte meinen Wartburg loswerden, weil ich Geld für einen neuen brauche. Ich hatte verschiedene Interessenten an der Hand, einer davon war Harald. Ich bin kein Schacherer, Herr Oberleutnant. Nicht wer am meisten bietet, hat die Nase vorn, sondern wer mir als erster die Scheinchen auf den Tisch blättern kann. Es eilt nämlich. Ich verlangte neuntausend, ein solider Preis. Harald machte ’ne Anzahlung von vier, den Rest sollte ich vorgestern bekommen. Vorgestern kam er auch, hatte das Geld aber noch nicht. Jemand hatte ihn sitzenlassen, sagte er. Es läge in Berlin, er brauche es nur zu holen. Na, da hole es mal, sagte ich. Ich lieh ihm den Wagen, und so gegen drei Uhr fuhr er los. Am Abend kam er zurück und brachte das Geld.“ „Fünftausend Mark demnach.“ „Genau fünfzig blaue Scheinchen. Ordentlich gebündelt.“ Unterleutnant Lange, der künftige Schreibtischstratege, hatte Fiedlers Entwurf, wie es sich zugetragen haben könnte im Hause der Felgners, inzwischen analysiert und geprüft. Auseinandergenommen, sagte er in Gedanken. „Der Teufel steckt bekanntlich im Detail, Helmut, und da gibt es einige, die, will mir scheinen, sich nicht recht einfügen in deine Spekulationen. Du gestattest, daß ich Spekulationen sage statt Kombinationen. – Der Rewatexfahrer sprach von einem zappendusteren Haus. Frage: Hat die Frau, Ruth Felgners Besuch, hat sie die ganze Zeit über im Dunkeln gesessen? Alle Dinge auf dem gedeckten Tisch waren unberührt. Frage: Hätte sie nicht wenigstens eine Praline gegessen oder einen Keks oder, 144
falls Raucherin, nicht eine Zigarette genommen? Sie müßte inmitten der dröhnenden Musik etwa fünfzehn Minuten lang dagesessen haben, bewegungslos wie ein Buddha. Denn vor keinem Sessel, auch nicht vor der Couch und unter dem Tisch wurden irgendwelche Dreckkrümel gefunden. Überall gab es solche Spuren, was bei dem Wetter ja ganz natürlich ist, nur rings um den Tisch nicht. Ich sage dir: Dort hat niemand gesessen.“ Fiedler empfand das offenbar nicht als Kritik. Jedenfalls war ihm nichts anzumerken. „Na ja“, meinte er gutmütig, „ich habe nur den großen Rahmen abgesteckt, die Details sind deine Sache. Wie vorhin mit Wä: Ich gab das Stichwort, du übernahmst die Ausführung. Gib dir Mühe, vielleicht gelingt auch dir solch genialer Wurf.“ Evelyn Goldmann sprach im Nebenzimmer mit Polizeimeister Schütte, der die Haushaltshefte gebracht hatte. Sie nahm sich etwas Zeit, weil ihr an seiner Meinung gelegen war, der ABV jedoch anfangs recht gehemmt wirkte. Seine Worte klangen amtlich, distanziert, gestelzt oft. „Ich glaube, es ist Selbstschutz, der Herrn Felgner so reagieren läßt. Er braucht Angriffsflächen und sucht sie in Bereichen, die sich anbieten.“ „Und was bietet sich ihm an?“ „Eifersucht. Daß seine Frau ihn betrogen hat. In Wirklichkeit glaubt er nicht daran.“ „Sie denken, daß er uns etwas vormacht?“ „Das will ich nicht behaupten, Genossin Leutnant. Aber Eifersucht paßt so gar nicht zu ihm. Ich denke, daß Walter diesen Verdacht nur vorschiebt, sich selbst etwas vormacht. Daß er etwas viel Schlimmeres hinter dem Verbrechen befürchtet. Etwas, das mit Geld zu tun hat und sich eventuell in den Haushaltsheften nachweisen läßt. Denn er sagte: ‚Schade, daß ich sie weggeben muß. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie zu prüfen. Vielleicht hätte ich noch etwas retten können.‘ “ 145
Hatte Felgner etwa Seiten herausgerissen? Hatte er vielleicht die aus dem Oktoberheft herausgerissen? Aber warum dann extra sein Hinweis auf die fehlenden Seiten? Es gab überhaupt keinen Grund, sie zu erwähnen. Von allein wären sie vermutlich nie daraufgestoßen. Schütte hatte dafür auch keine Erklärung, aber seine Meinung über Walter Felgner konnte durchaus richtig sein. Immerhin kannte er Felgners recht gut. Er wohnte seit vielen Jahren mit ihnen in der gleichen Straße und hatte auch privat Kontakt zu den beiden. Nachdem Schütte sich verabschiedet hatte, nahm Evelyn die Hefte und ging zurück zu den anderen. „Wann hat Ruth Felgner die zwanzigtausend Mark von ihrem Konto abgehoben, Helmut?“ „Am sechsten Dezember.“ Für diesen Tag waren fünf Positionen vermerkt. Enttäuschende Positionen – keine Fahrt nach Brandhofen. Lediglich zwölf Mark Frisör, zwei Mark Kaffee, sechzig Pfennig S-Bahn, zwanzig Pfennig Garderobe, zehn Pfennig Toilette. „Die hat wirklich bis auf den Pfennig abgerechnet“, sagte Bernd Lange. „Aber vielleicht war sie in Kleinigkeiten so penibel, um ihren Mann Sand in die Augen zu streuen! Sieh mal, wie gewissenhaft ich bin! Und da sie es in den letzten Tagen nicht mehr war, hat sie die entsprechenden Seiten einfach entfernt.“ Auch in den nachfolgenden Tagen gab es keinen Vermerk über eine Fahrt nach Brandhofen, zu Ewald Wätzlaff. Was hatte sie mit den zwanzigtausend Mark gemacht? Evelyn sagte: „Sie war noch in einem Lokal, nehme ich an. Ein Kännchen Kaffee, Garderobe, Toilettenbenutzung. Vielleicht im Burgkeller bei ihrem Bruder?“ „Da hätte sie den Kaffee nicht selbst bezahlen müssen, oder?“ 146
In der Spalte Sonstiges, wo die Pfennigbeträge eingetragen waren, standen zwei Buchstaben hinter den Zahlen. Winzige Buchstaben, die kaum zu entziffern waren. Ein m und ein … war es ein I? „Klein m, Punkt, groß I, Punkt – heißt das wohl. Na, du kühner Analytiker, nun analysiere mal“, forderte Fiedler den Unterleutnant auf. „Kein Problem für mich“, sagte Lange. „Ruth Felgner war am sechsten Dezember mit I. Kaffee trinken gewesen. Und I. könnte sehr gut Inge sein, Inge Dortus, ihre Schwägerin.“ Inge Dortus hatte Schnitzel gebraten, dazu Möhrengemüse gemacht und als Nachspeise Pudding. Felgner aß nur wenig, und sie redete ihm nicht zu. „Du kannst das Fleisch heute abend auch kalt essen, Walter. Wenn du nicht doch lieber zu uns kommen willst.“ Sie hatte ihm das Angebot schon mehrmals gemacht. „Was willst du hier allein herumhocken. Bei uns sind die Kinder, die lenken dich vielleicht ab.“ „Wovon?“ hatte er sie gefragt. Sie saßen in der Küche. Felgner hatte nicht gewollt, daß sie im Wohnzimmer deckte. Er wollte auch jetzt, nach dem Essen, nicht dorthin. „Es ist gut, daß kein Schnaps im Hause ist. Ich glaube, ich würde mich vollaufen lassen.“ Den Arat, den seine Frau noch besorgt hatte, schien er vergessen zu haben. Er trank selten Alkohol, wußte sie. Geraucht hatte er in letzter Zeit auch nicht mehr. Und früher nur sehr wenig. Ein grundsolider Mann, der kaum eine Kneipe von innen kannte. Der eigentlich überhaupt kein Laster besaß. Seine Leidenschaften waren Schallplatten und die Arbeit vielleicht. Sie war mit ihm immer gut ausgekommen. Besser jedenfalls als mit Ruth. Bei Ruth war sie nie auf Grund 147
gestoßen. Man konnte sie abschälen wie eine Zwiebel, Haut für Haut, ohne ihr Wesen zu treffen. So vieles an ihr war Pose gewesen. Inge Dortus zwang sich, auch in dieser Situation ihr Verhältnis zu Ruth nicht anders zu sehen, als es gewesen war. Sie wollte sich nicht durch Trauer, durch aufrichtig empfundene Trauer, das klare Denken vernebeln lassen. Sie durfte es nicht. Ruth war nicht gestorben, sie wurde getötet. Folglich gab es einen Menschen, der das getan hatte. Es gab Kurt, der sich mit einem Geheimnis herumschlug und Angst hatte. Und es gab auch sie, Inge, die der Polizei etwas verschwieg. Da waren Fäden gelegt, die sie nur undeutlich erkannte, wohl aber deutlich zu spüren bekam. Fäden, in die auch Ruth sich verfangen, die sie vielleicht sogar selbst gesponnen hatte. Deshalb mußte sie die Trauer zurückdrängen und klaren Kopf behalten. „Wie lebt ihr eigentlich zusammen, du und Kurt?“ Felgner hatte gefragt, ohne aufzusehen. Er hielt den Kopf ein wenig schräg und stierte vor sich hin. Er hatte den Stuhl ein Stück zurückgeschoben und die Beine ausgestreckt. Aber er wirkte noch immer verkrampft. „Klappt bei euch alles, ich meine auch das Sexuelle?“ Inge Dortus fand nicht gleich eine Antwort. Sie war überrascht, auch ein bißchen verlegen. Für sie war das ein Lebensbereich, der weitgehend von Kurt bestimmt wurde und problemlos war. Sie vermißte nichts. Das hatte nichts mit fehlender Emanzipation zu tun, sie fühlte sich keineswegs unterdrückt. Sie hatte ihren Beruf, den sie wieder ausüben würde, sobald Bettina zur Schule kam, sie hatte das gleiche Recht wie ihr Mann, sie hätte es auch auf diesem Gebiet, wenn sie darauf pochte, doch wozu? Wozu einen Zustand ändern, mit dem sie zufrieden war, nur weil alle Welt plötzlich von sexueller Gleichberechtigung sprach. Das sagte sie natürlich nicht. Es wäre ihr unangenehm, darüber lange Ausführungen zu machen. 148
Sie sagte: „Zwischen mir und Kurt hat es nie Differenzen darin gegeben.“ Felgner verzog sein Gesicht. Es sollte wohl ein Lächeln sein. „Zwischen Ruth und mir auch nicht. Dachte ich wenigstens. Sie hat sich nie beklagt, meine ich.“ Inge Dortus nickte. Was hätte sie auch sagen sollen. Es war doch gut, daß Ruth sich nie beklagt hatte. Sie wollte weg von dem Thema. An einem Gespräch über ihre Schwägerin war ihr schon gelegen, aber es mußte nicht unbedingt bis ins eheliche Schlafzimmer dringen. Etwas anderes interessierte sie mehr. „Ich fand, Ruth war in letzter Zeit furchtbar nervös. Das wurde ja von Tag zu Tag schlimmer. Ich hatte schon zu Kurt gesagt – ob Felgners finanzielle Sorgen haben?“ „Felgners?“ Er zischte das Plural-S überdeutlich. „Ich habe noch nie Geldsorgen gehabt. Wenn man gesund und tüchtig ist, braucht man Sorgen darüber nicht zu haben.“ „Aber man stellt schließlich Ansprüche ans Leben. Auch materielle.“ Sie sprach absichtlich so. Sie wollte ihren Schwager zu einem Gespräch über Geld provozieren. Schließlich hatte Ruth 5 000 Mark in ihrer Handtasche gehabt, von denen jetzt keine Rede mehr war. Aber Felgner ging nicht darauf ein. Möglich, daß er die Absicht nicht merkte, vielleicht auch, daß er sie nicht merken wollte. Er reagierte erstaunt. „Und das sagst ausgerechnet du, Inge? Du lebst doch wirklich genügsam.“ Ja, weil ich muß, dachte sie. Weil ihr keinen Finger gerührt habt, eure sechstausend Mark Schulden abzuzahlen. Weil Kurt so gutmütig ist und seiner Schwester alles nachgesehen hat. „Meine Genügsamkeit ist doch kein Maßstab, Walter. Meine ganze Lebensart nicht. Ich hätte niemals solch eine Rolle spielen können, wie Ruth sie spielte, als du noch beim Außenhandel warst. Mir liegt so etwas nicht. 149
Während Ruth … ich glaube, das war ihr eigentliches Metier.“ Das Thema rutschte ihr etwas weg, merkte sie. Sie war nicht geübt, ein Gespräch zielgerichtet zu führen. „Ach, weißt du“, antwortete Felgner, „wer kennt das schon vom anderen? Ich könnte höchstens aufzählen, was bestimmt nicht ihre Stärke war. Energie zum Beispiel. Beharrlichkeit, vielleicht auch simpler Fleiß. Das zielstrebige, unauffällige Tätigsein, verstehst du? Ruth brauchte ständig Glanz und Anerkennung, Bewunderung. Aber sie tat nichts dafür. Man sollte es ihr sozusagen zu Füßen legen. Sie erhob einen durch nichts gerechtfertigten Anspruch darauf.“ „Den du nicht erfüllen konntest.“ „Nicht konnte, aber auch nicht wollte.“ Sie sprachen nur halblaut miteinander, fast im Flüsterton. Trotz der Mittagszeit war es schon dämmrig in der Küche. Am Himmel hingen schwere Wolken, und unaufhörlich rann der Regen. „Es war doch ihr Leben, Inge. Natürlich an meiner Seite, aber sie mußte es ausfüllen, nicht ich.“ „Aber deinetwegen hat sie ihre Arbeit aufgegeben.“ „Und wie gerne sogar. Damit begann ja die große Epoche der Madame Rüth.“ „Das konnte sie nicht voraussehen. Sie ist Hausfrau geworden, weil du es gewünscht hattest. Du mußtest viele Gäste empfangen und brauchtest eine charmante Gastgeberin zu Hause.“ Es war nur eine milde Rüge, die Inge austeilte. Sie nahm die Tote in Schutz, weil die Ehrlichkeit es forderte. Felgner schien selbst dazu nicht bereit. „Mein Angebot traf sich damals genau mit ihren Wünschen. Es paßte ihr nicht, nur einfache Verkäuferin zu sein. Eine neben vielen. Das entsprach nicht ihrem Geltungsbedürfnis. Und um sich zu qualifizieren und vielleicht Verkaufsstellenleiterin zu werden, hätte sie ja Mühe auf150
wenden müssen. Da griff sie lieber meinen Vorschlag auf, der ihr das ersparte und trotzdem zum Erfolg führte.“ Zu dem, was Ruth als Erfolg ansah, korrigierte Inge Dortus für sich. Ihre Schwägerin stellte von jeher unmäßige Forderungen ans Leben, die jedoch mit einem fast tragisch anmutenden Unvermögen zur eigenen Leistung gekoppelt waren. Konnte man so sagen? Inge wußte es nicht. Sie war überrascht, daß sie in Gedanken das Wort tragisch eingefügt hatte. Warum mit einemmal? War sie nicht immer der Meinung gewesen, Ruth habe sich ihre Unzufriedenheit selbst zuzuschreiben? Ihrer Oberflächlichkeit, ihrem Hang zu Äußerlichkeiten? „Und sieh mal“, fuhr Felgner fort, „als ich aufhörte beim Außenhandel, als es wieder ruhiger wurde in unserem Hause, da hätte Ruth ihren Beruf doch wieder aufnehmen können. Was hielt sie noch daheim? Ich will es dir sagen: Das Nichtstun hielt sie. Sie hatte Geschmack daran gefunden. Wenig leisten, aber viel fordern, das war ihre Devise geworden.“ „Vielleicht hast du ihr zuwenig Antrieb gegeben, Walter.“ „Antrieb? Wenn ich das schon höre! Was denn für Antrieb? Sind Ehefrauen stumpfe Maschinen, die angeworfen werden müssen? Ich denke, sie sind in allen Bereichen gleichwertig. Wozu brauchen sie Antriebe? Wer gab mir Antrieb? Aber ich weiß schon. Ich lese genug Gegenwartsromane und sehe Gegenwartsfilme. Immer liegt es am Ehemann, wenn die Frau nicht vorwärtskommt oder sogar strauchelt.“ Wie meinte er das? War Ruth gestrauchelt? Inge Dortus kam nicht dazu, ihre Gedanken auszusprechen. Walter Felgner hatte sich in Schwung geredet, es drängte ihn, den Packen abzuschütteln, der ihn belastete. 151
„Du kennst ja das Gezeter, als ich beim Außenhandel kündigte. Ein Schritt, den Ruth überhaupt nicht begreifen konnte. Hundert Mark weniger Gehalt, keine Auslandsreisen mehr, nicht mehr die guten Beziehungen, der Mann muß doch irre sein. Aber sieh mal, ich gehe auf die Vierzig zu, da muß man doch wissen, welchen Platz man im Leben einnehmen will. Und mir liegt nun mal diese ständige Hektik nicht. Ich arbeite am liebsten still für mich, nicht geruhsam, ganz und gar nicht, aber unauffällig. Ich muß nicht Mittelpunkt sein. Ich sitze über meinen Problemen, ich tüftele und bin glücklich, wenn man meine Arbeit lobt. Und in der ELMO finde ich das alles. Warum, in drei Teufels Namen, sollte ich da nicht zugreifen! – Ruth waren solche Gedanken fremd.“ „Hast du ihr das nie erklärt? So wie mir eben?“ Felgner winkte ab. „Unsere Dialoge in der letzten Zeit waren ja keine Gespräche, in denen wir uns einander öffneten. Wenn wir uns nicht stritten, hätten Rede und Gegenrede willkürlich ausgetauscht werden können. Aber auch solche Ehen können von Dauer sein, sagte ich mir. Man muß der Zeit vertrauen, die von allein vieles in Ordnung bringt.“ „Obgleich ihr doch eigentlich auf verschiedenen Ebenen gelebt habt, Walter.“ „Das war ja nicht immer so. Aber im Laufe der Jahre merkte ich, daß Ruth mehr und mehr zu der Ansicht neigte, ihr Horizont müßte der allgemein menschliche sein. Jeder müßte in denselben Kategorien und auch in denselben Grenzen denken. Wenn sie sagte: gut leben, war es für sie selbstverständlich, daß jeder das gleiche darunter verstand. In Wohlstand leben, Ansehen genießen, bequem leben. Daß jemand auch außerhalb dieser Kriterien mit seinem Leben zufrieden sein könnte, war ihr einfach unfaßbar, das lag gänzlich außerhalb ihres Denkvermögens.“ 152
Ein bitterer Vorwurf. Auch ein berechtigter? Inge Dortus war sich nicht mehr sicher. Noch vor Tagen, sogar vor Stunden noch hätte sie ihm zugestimmt. Doch seit sich das Wort tragisch in ihre Gedanken gedrängt hatte, fühlte sie sich befangen in ihrem Urteil. Konnte man denn einem Menschen seine begrenzte Vorstellungskraft einfach so zum Vorwurf machen? Und – lag es nicht auch am Partner, wenn es in zehnjähriger Ehe nicht gelang, dem anderen wenigstens ein bißchen von seiner Welt zu vermitteln? Sie dachte an ihre eigene Ehe. Lebten Kurt und sie auch auf verschiedenen Ebenen? Bestimmt nicht. Da hatte jeder gegeben und jeder genommen, jeder hatte etwas eingebracht. Der eine hatte sich hier, der andere dort gebeugt, anders ging es wohl auch nicht. Vielleicht hatte sie ein bißchen mehr zurückgesteckt als Kurt, schon möglich, doch es war kein Schaden dadurch entstanden. Und seine Lüge gestern abend? Das Geheimnis, an dem er schleppte? Für eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Dann fragte Felgner: „Fährt Kurt eigentlich auch hin und wieder nach Brandhofen? Es ist doch auch sein Geburtsort, auch seine Verwandten wohnen dort.“ Inge schüttelte den Kopf. „Eine Verwandtschaft über sieben Ecken. Ich kenne die Leute kaum.“ „Ich auch nicht. Zur Hochzeit waren sie da, aber es kamen so viele, daß ich nicht durchsah. Und ich glaube auch nicht, daß es einer aus der Verwandtschaft war.“ „Wer?“ „Ihr Geliebter. Der Mörder vielleicht.“ Sie sah ihn erschrocken an. Sie war fassungslos, sprachlos für einen Moment. Gar nicht so sehr über das, was er gesagt, als darüber, wie er es gesagt hatte. Diese Bestimmtheit im Ton. Die gefährliche Ruhe und Beherrschtheit. Er lächelte sogar dabei. Aber es war ein böses Lächeln, das ihr Angst einflößte. 153
Sie hatte das Empfinden, ihren Schwager warnen, ihn von etwas zurückhalten zu müssen. Mach keine Dummheiten, wollte sie ihm sagen. Doch statt dessen sagte sie: „Das glaube ich nicht, Walter. Ich glaube nicht, daß Ruth dich betrogen, daß sie einen anderen hatte.“ Und als Begründung fügte sie in Gedanken an: Dazu war Ruth gar nicht fähig. Nicht aus moralischen Erwägungen, sondern weil sie den Mut dazu nicht aufgebracht hätte. Felgner erzählte von dem Haushaltsbuch und den herausgerissenen Seiten. „Das macht doch nur jemand, der etwas verbergen will. Und was sollte Ruth vor mir verbergen wollen, wenn nicht so etwas.“ Er hatte den letzten Satz nicht als Frage formuliert, aber sein Blick war fragend und mißtrauisch, lauernd dazu. Inge Dortus fühlte sich unbehaglich. Wahrscheinlich wußte er selbst nicht, was er glauben sollte. Es sprach so viel für den Verdacht, von seiner Frau betrogen worden zu sein, und so wenig dagegen. Eigentlich nur die Hoffnung. Oder der Wunsch, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Er hätte gegen den Verdacht Vertrauen setzen müssen. Doch konnte man das bei dieser Art Ehe erwarten? Und da erzählte Inge von den 5 000 Mark. Sie kam sich schäbig ihrem Mann gegenüber vor, gemein, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte Mitleid mit Felgner und brachte es nicht übers Herz, ihn in dieser Ahnungslosigkeit zu belassen. Doch das war nicht der einzige Grund. Obwohl sie in diesem Moment eher spontan reagiert als mit Vorbedacht formuliert hatte, entsprach die Preisgabe ihres Wissens doch einer im Unterbewußtsein gehegten Absicht. Inge Dortus hatte mit ihrer Aussage eine Entscheidung getroffen, die kein Zurück mehr erlaubte. Unabhängig davon, was Kurt nach diesem einen Tag an Wahrheit oder 154
Lüge bringen würde, sie war jetzt festgelegt. Was einmal ausgesprochen war, existierte. Und wenn nicht vor der Polizei, so vor Walter Felgner. Er war nun Mitwisser geworden, und das Schweigen oder Verschweigen lastete nicht mehr nur auf ihr. Doch wie reagierte Felgner? Reagierte er überhaupt? Er saß stumm da, mit etwas dümmlicher Miene. Er hatte alles mitbekommen, das sah sie, doch er zeigte keine Wirkung. Keine sichtbare wenigstens. Um die Situation zu überspielen, begann sie, das Erzählte zu kommentieren. „Ich habe mich gewundert über das viele Geld und bin sogar ausfallend geworden. Ich habe auf eure Schulden angespielt und Ruth gesagt, sie soll wenigstens fünfhundert Mark rausrücken, damit man den guten Willen sieht …“ Sie brach ab, aber Felgner sagte noch immer nichts. Er sah sie nicht an, hing nicht an ihren Lippen, wie sie eigentlich erwartet hatte. Er zeigte überhaupt kein Interesse. Und da wurde sie noch ausführlicher. Dieses unbegreifliche Schweigen machte sie auf eine seltsame Art schuldbewußt. Als müsse sie sich rechtfertigen und Erklärungen liefern. „Ich habe der Polizei noch nichts davon gesagt, denn auch Kurt meinte …“ Da gab er endlich sein Schweigen auf. „Kurt war vorhin bei mir.“ „Und?“ fragte sie ängstlich. Sie fürchtete, schon wieder etwas Unangenehmes, etwas Schlimmes zu hören. Es geschah ja fast nichts anderes mehr. „Verhör reiht sich heute an Verhör. Allerdings sind die Interessen der Verhörer grundverschieden.“ Sie verstand diese Anspielung nicht. „Was meinst du damit, Walter?“ „Was ich meine? Hans Schütte war gerade gegangen, da erschien dein lieber Kurt und hat mich ausgefragt. Regelrecht ausgehorcht. Denkst du, ich habe nicht ge155
merkt, was er wollte? Ich bin nicht so ahnungslos, wie ihr denkt. Und nun hat dein Mann dich wohl hergeschickt. Weil ich nicht auf ihn reingefallen bin, sollst du es versuchen, was?“ Inge Dortus saß wie versteinert. Sie schluckte, um nicht losheulen zu müssen. Das war ja Haß, was aus Felgners Augen sprach. „Vielleicht hat dich Kurt auch nur ausgenutzt. Bist ein gutmütiges kleines Dummchen, das macht, was man ihm sagt.“ Sie verstand das alles nicht. Sie zermarterte sich den Kopf, als sie abwusch und das Geschirr wegstellte. Sie wollte nicht fragen, sie wollte überhaupt nichts mehr hören davon. Nicht von Felgner. Jedes Wort konnte neue Zweifel hervorrufen, neues Mißtrauen säen. Sie wollte sich das Vertrauen zu ihrem Mann erhalten und spürte, wie es immer brüchiger wurde. Inge Dortus war sehr niedergeschlagen, als sie nach Hause ging. Was konnte sie machen? Nichts. Warten mußte sie. Sie mußte die beiden Großen empfangen, wenn sie aus der Schule kamen, und Bettina von der Nachbarin abholen. Sie mußte ihnen beibringen, daß Tante Ruth tot war, und eine Geschichte erfinden. Stellt euch vor, sie stürzte so unglücklich auf der Treppe, daß sie mit dem Kopf … Oder sollte sie die Wahrheit sagen? Das waren auch Sorgen und Probleme. Auf ein Verbrechen als Todesursache war man ja nicht vorbereitet. In keiner Elternversammlung wurde davon gesprochen, in keinem Lehrbuch darüber geschrieben. Warum eigentlich nicht? Nur weil Morde bei uns selten waren? Den Hinterbliebenen nützte diese Seltenheit wenig. Sie mußte wohl den Kindern Rede und Antwort stehen, wollte sie nicht ihr Vertrauen verlieren. Noch immer regnete es. Sie hielt den Schirm gegen den Wind und machte lange Schritte über die Pfützen. Aus Rücksicht auf die Kinder hatte sie noch keine Trau156
erkleidung angelegt. Nun mußte sie das Schwarze hervorholen, das sie zuletzt bei der Beerdigung ihrer Mutter getragen hatte. Würde es überhaupt noch passen? Sie stöhnte auf bei diesem Gedanken. War es nicht furchtbar, daß man selbst in großer Verzweiflung an solche Nebensächlichkeiten dachte? Aber vielleicht war es nicht furchtbar, sondern ganz gut so. Es war meist der Alltag, der über Kummer hinweghalf. Kurt Dortus hatte es ihr geradeheraus gesagt: „Ruth ist ermordet und beraubt worden, Sonja. Das Geld hat der Mörder.“ Das war ihm ganz plötzlich eingefallen. Als sie so naiv lächelnd gefragt hatte: „Hast du das Geld?“ Sonja Plaschke hatte aufgeschrien und dann vor sich hin geweint. „Das ist nicht wahr!“ rief sie mehrmals. „Das kann nicht wahr sein.“ Sie fragte nach Einzelheiten, als könnte sie ihn dadurch der Lüge überführen. „Ruth hatte das Geld und erwartete dich. Sie war vorher bei meiner Frau gewesen, und da hatte sie es in der Handtasche. Inge erzählte mir erst gestern abend davon, sonst wäre ich gar nicht so erschrocken gewesen im Burgkeller.“ Er malte das Zusammentreffen der beiden Schwägerinnen aus, wiederholte in aller Ausführlichkeit ihre Kontroversen, sprach lang und breit über Bettina, die nicht zu ihrer Tante durfte – alles Wahrheiten, die nur dadurch ein bißchen korrigiert wurden, daß Dortus zu den 5 000 Mark stillschweigend 20 000 hinzuaddierte. „Ruth hatte den Tisch gedeckt und freute sich auf dich. Doch dann kam jemand, der von dem Geld gewußt haben muß.“ „Wieso? Wieso muß das jemand gewußt haben? Kein Mensch hat davon gewußt.“ „Zwei mindestens, Sonja. Ruth und du.“ „Ich habe zu niemand … Ich wäre ja dämlich … Und Ruth hat bestimmt auch nicht. Oder?“ 157
Dortus umging eine klare Antwort. „Meinst du, dem Mörder ist das Geld rein zufällig in die Hände gefallen? Der hat genau gewußt, was er bei Ruth finden würde.“ Sonja Plaschke rauchte. Sie war wieder dem Weinen nah. Sie wollte Kaffee eingießen, aber ihre Hände zitterten. „Bedien dich, Kurt.“ „Danke, ich mag nicht.“ Er hatte Angst, daß seine Hände ebenfalls zittern könnten. „Du hast gestern im Burgkeller gesagt, Ruth hätte dir nicht geöffnet?“ Sonja Plaschke nickte. „Ich war vorher noch nie bei ihr zu Hause gewesen und neugierig, wie sie wohnte. Das letzte Mal hatten wir uns in einem Lokal getroffen, vor über einem Jahr nun schon, und da schwärmte sie von ihrem Grundstück. Ich rief also bei ihr an, und wir verabredeten uns für gestern, sechzehn Uhr. Ruth selbst schlug diese Zeit vor. Walter geht auf Dienstreise, da sind wir ungestört, sagte sie. Aber sie war nicht erfreut, daß ich wegen des Geldes kommen wollte. Sie tat zwar so, doch ihre Stimme klang ziemlich gekünstelt, das merkte ich. Ich hatte so ein Gefühl, als ob unsere Begegnung nicht sehr harmonisch verlaufen würde, und beschloß deshalb, mich gar nicht erst lange aufzuhalten. Ich bestellte gegen Mittag ein Taxi, das mich um siebzehn Uhr bei ihr abholen sollte. Ich fuhr mit der Straßenbahn hin, hatte mich aber verkalkuliert und traf etwa zehn Minuten nach vier ein. Da sah ich einen Wartburg vor dem Haus stehen und war schon bedient. Jetzt hat sie auch noch Besuch, dachte ich. Trotzdem klingelte ich natürlich, aber Ruth machte nicht auf. Obwohl sie in der Wohnung war, denn ich hörte Musik und auch Schritte. Ich klingelte noch einmal – und wieder vergebens. Da packte mich die Wut, und ich kam zu dir in den Burgkeller … Aber vielleicht hat Ruth da schon nicht mehr gelebt, und die Schritte, die ich hörte, waren die Schritte des Mörders.“ „Des Mörders und Diebes, Sonja. Denn es war Raubmord.“ 158
Ich darf das nicht zu oft betonen, nahm er sich vor. Ich habe es ihr gesagt, und damit gut. „Du sprachst von einem Wartburg. Wo soll der gestanden haben?“ „Auf der Straße, genau vor dem Haus. Ein weißer Wartburg. Das Schiebedach war etwas auf, obwohl es regnete.“ „Das mußt du melden, Sonja. Das kann für die Polizei wichtig sein.“ Wenn sie jetzt sagte: ‚Ja, gehen wir‘, war alles aus. Er wartete. Doch Sonja Plaschke sagte nicht ja, sie schwieg. „Was ist das eigentlich für Geld, Sonja? Wie kam es überhaupt zu dieser merkwürdigen Verpflichtung?“ Er glaubte sie in eine Verfassung gebracht zu haben, wo sie losreden und ihrem Herzen Luft machen würde. Aber soweit war es wohl noch nicht. „Gib dir keine Mühe, Kurt. Von mir erfährst du nichts.“ Er mußte einen Gang zulegen. „Ich vielleicht nicht. Aber ob sich die Polizei auch mit dieser Antwort begnügen wird? Denn du mußt dich auf alle Fälle an sie wenden, als Geschädigte, nicht wahr? Oder willst du auf das Geld verzichten?“ Er ließ sie nicht aus den Augen. Sie hatte den Kopf gehoben, und ihre Blicke trafen sich. „Und nun stell dir mal die Fragen vor, mit denen man dich überschütten wird. – Was ist denn das für Geld, auf das Sie Anspruch erheben, Frau Plaschke? Nun erzählen Sie mal, Verehrteste. Wie kommt eine Frau wie Ruth Felgner, die nicht arbeitet, die kein Vermögen besitzt, die im Gegenteil Schulden bei ihrem Bruder hat, wie kommt sie dazu, Ihnen eine solche Summe zuzusagen? Freiwillig? Oder steckt vielleicht eine kleine Gaunerei dahinter, ein bißchen Zwang, die Ausnutzung einer Notlage eventuell? – Fragen, Sonja, die unweigerlich kommen werden.“ Sie konnte ihn nicht täuschen. Zu der Verzweiflung stellte sich Angst ein. Das genügte ihm. „Ist es da nicht klüger, wenn wir 159
beide uns vorher aussprechen und unsere Aussagen abstimmen?“ „Ich mit dir? Was hast du damit zu tun?“ Ihre Stimme klang kalt. „Ich war immer schon der getreue Eckehard meiner Schwester. Weißt du das nicht mehr?“ Sonja Plaschke stand auf und ging zum Schrank. Sie zog ein Schubfach auf und nahm ein Blatt Papier heraus. „Bitte lies! Was willst du da noch abstimmen?“ Dortus erkannte Ruths Schrift. „Ich verpflichte mich, Frau Sonja Plaschke im Oktober 1976 25 000 Mark zu übergeben.“ Datum, Unterschrift. Vor einem Jahr hatte Ruth das geschrieben. „Meinst du, die Polizei gibt sich damit zufrieden? Mit solch einem nichtssagenden Satz?“ Sonja antwortete nicht. Sie fragte: „Weiß jemand, daß du hier bist?“ „Außer deiner Frau Schmusek niemand.“ „Dann bist du nicht hiergewesen. Komm morgen. Ich erfahre von dir erst morgen, was geschehen ist. Ich brauche diesen einen Tag.“ Mit den gleichen Worten hatte er gestern abend auf Inge eingeredet. Aber anders. Herzlicher, bittender. Sonja dagegen hatte eine Forderung gestellt. „Das geht nicht“, antwortete er. „Meine Frau wendet sich heute abend an die Polizei und berichtet von dem Geld, das Ruth in der Handtasche hatte.“ „Das hat sie noch nicht?“ Sonja sah ihn erstaunt an. Dann prüfend, argwöhnisch. Sie kniff die Augen zusammen und schob ihre Unterlippe vor. Eine Angewohnheit, die er noch von früher kannte. „Willst du damit sagen, daß die Polizei noch gar nichts weiß von dem Geld?“ „Ich hoffe es.“ „Warum hoffst du das?“ „Weil ich das mit dir bereinigen möchte. Ohne Polizei.“ 160
„Ach? Willst du mir das Geld geben? Oder …“ Ihr Gesicht wurde starr. „Jetzt durchschaue ich dich. Das Geld ist gar nicht gestohlen worden! Jemand anders hat das Geld, ein Herr Dortus vielleicht. Ein blendendes Geschäft, was? Fünfundzwanzigtausend Mark für eine tote Schwester. O nein, mein Lieber, daraus wird nichts! Lieber gehe ich zur Polizei und lasse diese Fragen über mich ergehen. Dann rette ich wenigstens die Hälfte.“ Dortus wurde schwarz vor Augen. Was denn für eine Hälfte? Gab es jemand, mit dem Sonja teilen mußte, hatte sie einen Kompagnon, einen Komplizen? Aber noch ehe er fragen konnte, klopfte es an die Tür, und die Frau Schmusek trat ein. „Da ist ein Herr, der Sie sprechen möchte, Frau Plaschke. Ein Herr Bromme.“ „Überlassen Sie Harald Kranzbach uns und den Genossen in Brandhofen, Genosse Blatt. Die wichtigste Person für Sie ist jetzt Ewald Wätzlaff. Wenn Sie einen Zahn zulegen, können Sie in einer Stunde in Bad Sogau sein. Rufen Sie vorher dort an, damit man ihn vorlädt. Und über das Ergebnis dann Blitzgespräch an mich.“ Hauptmann Zschoppe legte auf. Er fühlte sich wie ein Läufer im Startblock. Aber einer, der sich eine Stunde zu früh hingehockt hatte. Als er noch Fußball gespielt hatte in seiner Jugend, immerhin Kreisklasse, hatte er vor manchen Spielen einen schrecklichen Alptraum gehabt. Immer denselben: Er stürmt vor, umdrippelt mehrere Gegner, und als er frei vor dem Tor steht und abschießen will, merkt er, daß er ohne Ball ist. Der Ball in diesem Spiel war Ewald Wätzlaff. Die Kriminalisten Goldmann, Fiedler und Lange hatten berichtet. Im Anschluß konnten sie ihre Versionen entwickeln. Unausgereifte waren ausnahmsweise erwünscht. Sie durften einander widersprechen und machten Gebrauch davon. Selbstverständlich gab es keine Tagesordnung. 161
Zschoppe saß hinter dem Schreibtisch und strahlte Ruhe aus. Er zwang sich dazu. Die übereinandergeschlagenen Beine, die aufgestützten Arme täuschten Gelassenheit jedoch nur vor. Seine nervöse, gereizte Energie machte sich in gelegentlichen Seufzern bemerkbar, die er als Luftholen zu tarnen versuchte. Er gab keine Zusammenfassung. Er war nicht in der Lage, zu diesem Zeitpunkt Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Was ihm jetzt vielleicht nebensächlich erschien, konnte in der nächsten Stunde das Sesamöffne-dich bedeuten. Nein, nicht zusammenfassen, sondern korrigieren und lenken wollte er. Mußte er. „Alles, was Sie vorgebracht haben, kann brauchbar sein. Auch das, was jetzt vielleicht noch abwegig sein mochte. Behalten Sie jedes Detail im Auge, ich will es auch versuchen. Aber ich muß kritisieren, daß Sie einen wichtigen Grundsatz unserer Arbeit mißachtet haben: Man muß zuerst immer an das denken, was man am leichtesten vergißt. Und gerade das haben Sie nicht getan. Sie haben bei Ihren Untersuchungen und Überlegungen völlig außer acht gelassen, daß Frau Felgner früher einmal einen Beruf ausgeübt hat. Sie war Fachverkäuferin für Schmuckwaren. Und betrachten Sie unter diesem Gesichtspunkt mal das uns bisher bekannte Figurenensemble. Da gibt es eine Frau Plaschke, die nicht nur eine Freundin der Toten war, wie Sie mehrmals und zu Recht hervorhoben, sondern auch den gleichen Beruf ausübte; da gibt es einen Dietrich Bromme nebst Braut, die nicht nur Helfer und Vertraute des Opfers waren, sondern auch Berufskollegen; und da gibt es schließlich einen Ewald Wätzlaff, der nicht nur ihr Onkel war und ihr fünfundzwanzigtausend Mark überwiesen hat, sondern jahrzehntelang ebenfalls zu dieser Branche gehörte. Beziehen Sie diesen Aspekt bitte in Ihre Ermittlungen mit ein. – So, und nun zu zwei neuen Untersuchungsergebnissen.“ 162
Die eine betraf die Papieranalyse. Die Fasern unter Ruth Felgners Fingernägeln waren nicht identisch mit dem Papier ihrer Haushaltshefte. Und gleich gar nicht mit dem Pappmaterial einer Sicherungskarte, eines Postabholerausweises. Sie stammten vielmehr von einem glänzendweißen, holzfreien Schreib- oder Briefpapier. „Die Experten sind sich darin einig, daß Ruth Felgner ein solches Blatt fest umklammert hielt. Frau Felgner wollte das Papier nicht aus den Händen lassen, kurz gesagt.“ Zschoppe machte eine Pause. Er blickte in die ihn nun schon vertrauten Gesichter seiner Mitarbeiter und wunderte sich wieder mal, wie unterschiedlich sie doch in ein und derselben Situation reagierten. Da saß der dicke Fiedler, breitbeinig, die Hände über dem Bauch gefaltet, konzentriert, das sah man. Der nichts mitschrieb, der nur zuhörte und mitdachte, der Zusammenhänge suchte. Neben ihm der Benjamin, Unterleutnant Lange. Er war tief über sein Notizbuch gebeugt, stenografierte offenbar jedes Wort genau mit, um es bei der nächsten Gelegenheit auszuwerten, zu analysieren. Und beiden gegenüber Evelyn Goldmann, die sich Stichpunkte machte, mit Frage- und Ausrufezeichen und vielen Symbolen, die wahrscheinlich nur sie kannte. Es berührte ihn immer, wenn er ihr schmales Gesicht sah und die blauen Augen unter dem blonden Pony, aus denen es mitunter trotzig blitzte. So etwa hatte seine erste Frau ausgesehen, als er sie kennenlernte. „Mir liegt nun auch der Obduktionsbefund vor, Sie können ihn anschließend lesen. Es steht fest: Ruth Felgner wurde erwürgt. Weder die Schläge gegen den Kopf noch der Sturz von der Treppe haben ihren Tod herbeigeführt. Danach erst wurde sie getötet. Ich will Ihnen folgenden Satz zur Kenntnis geben: ‚Es ist vom medizinischen Standpunkt aus nicht ausgeschlossen‘, heißt es in dem Gutachten, ‚daß das Opfer nach den 163
schweren Schlagverletzungen und dem nachfolgenden Sturz noch einige Zeit bewußtlos am Fuße der Treppe gelegen hat, bevor sie erwürgt worden ist.‘ – Damit verändert sich auch Ihre Tatzeitberechnung. Als der Rewatexfahrer kam, gegen halb fünf also, war Ruth Felgner mit ziemlicher Sicherheit ohne Besinnung. Aber getötet haben, kann man sie auch später.“ Was hieß später ? Die Ärzte hatten darüber keine Angaben gemacht und Zschoppe auch nicht. Zschoppe hatte Aufträge erteilt, Befehle. Leutnant Goldmann schickte er zu Walter Felgner. Wiedermal. Warum richten wir nicht gleich ein Büro bei ihm ein, hatte sie gedacht. Der dicke Fiedler sollte mit Frau Plaschke sprechen, Bernd Lange mit Brommes Verlobten, der schönen Juditha. „Bei dem geringsten Zweifel“, hatte Zschoppe gesagt, „bitten Sie die Damen her.“ Warum er gerade diese Aufteilung vorgenommen hatte, war ihr ein Rätsel. Ihre Aufgabe war leicht. Sie sollte zunächst, durch Befragung Walter Felgners, die verwandtschaftlichen Kontakte zwischen Felgners und Dortussens ergründen. „Anschließend gehen Sie zu Frau Dortus und stellen ihr die gleichen Fragen. Dabei lenken Sie das Gespräch auf den sechsten Dezember. Sie wissen ja, Kaffeetrinken mit I.“ Zschoppe hatte ihr einen Wagen zur Verfügung gestellt. Schon nach wenigen Metern sagte der Fahrer: „Machen Sie nicht die Kultur bei uns? Wir bräuchten mal ein paar Distel-Karten.“ „Was denn, Sie auch?“ Es war wirklich ein Kreuz mit diesem Kabarett. Ihr Vater hatte kürzlich gesagt, wärst du nicht zur Kriminalpolizei, sondern zur Feuerwehr gegangen, könntest du dich in der Hoffnung wiegen, vielleicht 1992 mal einen Dienstplatz zu ergattern. Der Fahrer schwieg dann Gott sei Dank. Vielleicht aus Respekt vor ihr, vielleicht auch, weil er enttäuscht war. 164
Die verschachern die Karten doch sowieso unter sich, wird er gedacht haben. Evelyn überlegte: Wenn die Tat in zwei Etappen erfolgte – Bewußtlosigkeit und Tod –, konnte es auch zwei Täter geben. Der eine schlug Ruth Felgner nieder, der andere erwürgte sie. Später. Der eine raubte ihr das Geld, der andere das Papier, das sie in der Hand hielt. Der eine könnte der Fahrer des weißen Wartburg gewesen sein, und der andere? Walter Felgner? Er kam nach Hause, da lag seine Frau vor ihm. Vielleicht kam sie gerade zu sich. Er beugte sich zu ihr nieder, kniete neben ihr. Sie sagte etwas, was ihn wütend machte. Er wollte ihr eigentlich aufhelfen, hatte sie am Kopf gefaßt. Sie wiederholte die kränkenden, verletzenden Worte. Da verlor er die Beherrschung und drückte zu. Dann sah er das Papier in ihren Händen, das ihn verraten oder beide kompromittieren könnte. Er versuchte, es aus ihrer Hand zu lösen, aber das gelang nicht. Er mußte es ihr mit Gewalt entwenden. War das die Initiallüge, von der Bernd Lange gesprochen hatte? Als Evelyn in die Schliersstraße einbog, sah sie einen Wartburg vor der Nummer zwölf stehen. In seiner Grundfarbe mochte er weiß sein, es gab einige Stellen, wo das durchschimmerte. Die vorherrschende Tönung war ein schmutziges Grau. Daß es ein Wagen de luxe war, ließ sich gerade noch erkennen. Leutnant Goldmann klingelte, und kurz darauf öffnete Walter Felgner. Stand sie einem Mörder gegenüber? „Haben Sie einen sechsten Sinn, Frau Leutnant? Ich war schon am Überlegen, ob ich Sie anrufen sollte. Ich habe nämlich Besuch.“ Er trug einen dunklen Anzug, ein gedecktes Hemd und eine schwarze Krawatte darauf. Er hatte schwarze Lackschuhe an, und später sah Evelyn, daß er auch schwarze Seidensocken trug. Felgner wartete geduldig, bis sie in der Diele ihren 165
Mantel abgelegt hatte. Er wirkte jetzt akkurat, gefaßt, ein Mann, der Kondolenzen entgegennimmt. Er war frisch rasiert, der angenehme Duft eines Gesichtswassers ging von ihm aus, die Haare lagen tadellos gescheitelt. Er führte sie ins Wohnzimmer, das inzwischen geheizt war. Auf dem Tisch standen zwei Tassen und eine Kanne, zwei kleine Aschenbecher. In dem einen Sessel lag ein eingewickelter Blumenstrauß, Herbstastern, im anderen saß ein junger Mann. Der sich nun erhob, der sich langsam erhob, vorsichtig fast, der immer größer und breiter wurde, ein Tarzan, ein Recke. „Herr Kranzbach“, stellte Felgner vor. „Ein Verwandter aus Brandhofen. Wir sehen uns heute zum zweiten oder dritten Mal. Harald wollte zu Ruth …“ Er zeigte auf den Blumenstrauß. „Ich habe ihm gesagt, was geschehen ist.“ Der Recke nickte und zeigte ebenfalls auf die Blumen. Dann nestelte er an seiner Lederjacke. Die Krawatte hatte sich im Reißverschluß verklemmt, der nun weder zu- noch aufging. Felgner besann sich seiner Pflicht und stellte nun sie vor. „Das ist Leutnant Goldmann von der Kriminalpolizei.“ Kranzbach war blaß geworden. Er machte eine ungeschickte Verbeugung und wollte sich wieder setzen. Schnell gab Evelyn ihm die Hand, obwohl ein Zunicken auch gereicht hätte. Sie lächelte freundlich und biß zugleich die Zähne zusammen. Sie war auf Daumenschrauben gefaßt, auf einen Griff, der sie in die Knie zwang. Fest war er ja, und zugedrückt wurde auch. Aber es war eine feuchte, kalte Hand, die da zupackte, eine schweißnasse Hand, die sofort wieder zurückgezogen wurde. Als spürte der Mann das Verräterische, das von ihr ausging, als fürchtete er, daß sich seine Angst in der Handfläche abzeichnen könnte. 166
Denn es war Angst, was in Harald Kranzbachs Verhalten zum Ausdruck kam, mußte Angst sein. Es gab keine andere Erklärung. Wie er gleich niedersackte in den Sessel, obwohl die anderen noch standen, wie er seine Hände an der Hose trocken zu reiben versuchte, wie er sich über das Haar strich, mal mit der linken, mal mit der rechten Hand, wie seine Beine zuckten und die Augen hin und her huschten, das entstellte Gesicht, die Grimasse, die er zog, als er erneut auf den Blumenstrauß wies – das war ein nervöser, ein total verschüchterter Mensch, der da vor ihr saß. Evelyn Goldmann wartete keine Aufforderung ab, sondern setzte sich auf die Couch, Kranzbach gegenüber. Neben ihr nahm Felgner Platz. „Waren Sie mit Frau Felgner verabredet, Herr Kranzbach?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Sie wollten ihr nur mal einen Besuch abstatten?“ Kranzbach räusperte sich. „Nicht direkt.“ Er begann wieder an seinem Reißverschluß zu nesteln, er suchte Beschäftigung für seine Hände. „Was heißt – nicht direkt?“ „Ich wollte ihr etwas bringen. Ich war gestern schon mal da.“ Felgner starrte ihn an. „Wann waren Sie gestern hier?“ „So nach vier. Ruth hat mir Geld geliehen, für den Wagen draußen.“ Er zeigte hinter sich, wo er die Straße vermutete. „Fünftausend Mark. Nun wollte ich ihr die Quittung geben.“ Kranzbach zitterte. Der ganze massige Körper schien zu beben. Während er ein weißes Blatt Papier aus der Brieftasche nahm, huschten seine Augen ängstlich von einem zum anderen. Evelyn las das Schreiben. Kranzbach bestätigte, von Frau Felgner am 25. Oktober 5 000 Mark erhalten zu 167
haben. Als Rückzahlungstermin war der 31. Dezember genannt. „Warum haben Sie Frau Felgner nicht gestern schon die Quittung gegeben? Als Sie das Geld bekommen haben?“ „Wir hatten es vergessen. Es ging alles so schnell, und da …“ Er wollte noch etwas sagen und bewegte die Lippen. Er brachte keinen Ton hervor. „Aber Sie hatten sie dabei?“ Kranzbach nickte. Evelyn steckte die Quittung ein. „Wenn wir sie nicht mehr brauchen, bekommen Sie sie zurück.“ Sie beobachtete ihn, entdeckte aber keinerlei Wirkung. „Waren Sie gestern auch mit dem Wagen hier?“ „Ja. Er gehörte mir da aber noch nicht.“ „Erzählen Sie mal. Sie kamen vorgefahren, stiegen aus und klingelten an der Haustür. Weiter.“ „Ich klingelte und mußte ’ne Weile warten. Ruth war nicht sehr erfreut, als sie mich sah. Erst wollte sie mich gar nicht reinlassen, sie hatte wohl jemand anders erwartet. Im Wohnzimmer war der Tisch gedeckt. ‚Ich habe überhaupt keine Zeit‘, sagte sie dauernd.“ Er saß nach vorn gebeugt und stützte die Arme auf die Knie. „Ruth war furchtbar aufgeregt. Sie hatte einen ganz roten Kopf, schon als sie mir öffnete. Ich hatte ihr eine Schallplatte mitgebracht, anstelle von Blumen gewissermaßen. Ruth hat sie dann auch aufgelegt und unheimlich laut gestellt.“ Er redete vor sich hin, den Kopf gesenkt, ohne jemand anzusehen. Er sprach langsam, quälend langsam. „Das Geld hatte Ruth schon bereitgelegt. In der Handtasche vielmehr hatte sie es. Als sie es mir vorzählen wollte, klingelte es plötzlich an der Haustür. ‚Man braucht dich nicht zu sehen‘, sagte sie. ‚Verschwinde durch den Keller.‘ Das habe ich dann auch getan.“ Kranzbach lehnte sich zurück und schloß die Augen. 168
Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Felgner hielt sein Gesicht in den Händen und stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte. Evelyn schaltete die Stehlampe an. Bisher hatte das Dämmrige im Raum nicht gestört, im Gegenteil. Kranzbach waren die Worte leichter über die Lippen gegangen in dieser Stimmung. Er glaubte sich nicht so beobachtet. Aber jetzt mußte sie Fragen stellen, und da war klare Sicht notwendig. Sie mußte herausfinden, was Dichtung und was Wahrheit war. Sie mußte Widersprüche aufdecken, wenn es sie gab. Es konnte alles so geschehen sein, wie Kranzbach erzählt hatte. Es konnte auch ganz anders gewesen sein. Die zeitliche Übereinstimmung seines Besuches mit der Tatzeit machte ihn verdächtig, auch wenn seine Erklärung glaubhaft schien. „Ihren Worten entnehme ich, daß Sie gestern ungelegen zu Frau Felgner kamen. Hatten Sie keine Zeit verabredet?“ „Wir hatten uns ursprünglich für vorgestern verabredet, bei mir zu Hause in Brandhofen. Ruth war auch gekommen, aber sie wartete nicht auf mich.“ „Und da sind Sie gestern zu ihr gefahren. Sie brauchten schließlich das Geld. Wann haben Sie die Schallplatte gekauft?“ „Vor ein paar Wochen schon, als es die bei uns mal gab. Da habe ich gleich zwei genommen. Eine für mich und eine zum Verschenken.“ „Und die Rosen?“ „Die sind nicht von mir. Als ich kam, standen sie in der Küche. Als Ruth dann immerzu hin und her lief, trug sie dabei die Vase ins Wohnzimmer.“ „Warum lief Frau Felgner hin und her?“ „Ich sagte doch, sie war sehr aufgeregt, nervös. Sie hat mir nicht mal einen Stuhl angeboten, nichts.“ „Lief sie auch nach oben?“ „Ja, auch.“ 169
„Wann legte sie die Schallplatte auf. Gleich zu Anfang?“ „Nicht gleich. Nach ’ner Weile.“ „Ich kenne die Aufnahme. Der erste Titel heißt My Mama Said …“ „My Mama Said kommt später, Frau Leutnant. Als erstes kommt die Titelnummer, Waterloo.“ „Wie lange waren Sie bei Frau Felgner?“ „Eine Viertelstunde vielleicht. Höchstens.“ „Dann haben Sie die Platte also nicht bis zu Ende gehört. Wissen Sie, was gespielt wurde, als sie gingen?“ „Das weiß ich nicht mehr.“ „War die Musik im oberen Stockwerk auch zu hören?“ „Ja. Sogar im Keller.“ „Aber was Sie dort hörten, wissen Sie auch nicht mehr.“ „Nein.“ „Was hatte Frau Felgner gestern an?“ „Rock und Bluse, glaube ich.“ „Trug sie das schon, als sie Ihnen öffnete, oder hat sie sich im Schlafzimmer umgezogen? Sie sagten doch, daß sie nach oben gegangen war.“ „Sie hat sich nicht umgezogen. Im Schlafzimmer hat sie …“ Kranzbach schwieg. Er sah sich um, als stünde jemand hinter ihm. Felgner hatte sich aufgerichtet und die Beine angezogen, saß wie sprungbereit. „Was hat Frau Felgner im Schlafzimmer gemacht, Herr Kranzbach?“ „Sie hat … Ich war natürlich nicht mit drin, aber sie hatte die Tür aufgelassen. Da sah ich, daß sie ihr Bett aufschlug und unter der Matratze einen Brief hervorholte. Vielleicht war es auch kein Brief, ich weiß nicht, was es war.“ „Aber es war ein Bogen Papier. Weiß?“ „Ich glaube. Er war zusammengefaltet.“ „Was machte Frau Felgner damit?“ 170
„Sie hielt ihn in der Hand.“ „Aber doch nicht ständig.“ „Doch.“ „Auch als sie Ihnen die fünftausend Mark vorzählte? Wie hat sie denn das gemacht?“ „Ruth hat mir das Geld nicht vorgezählt. Sie wollte es. Aber gerade da klingelte es doch. Sie sagte, nimm es dir aus der Tasche und hau’ ab.“ Wie hilflos er jetzt aussah, wie gehetzt. „Ich verstehe nur nicht, warum Sie auch den Postabholerausweis mitgenommen haben. Sie wissen, was das ist?“ „Natürlich. Aber den habe ich nicht mitgenommen, was sollte ich denn damit?“ „Lag er in Frau Felgners Handtasche?“ „Das weiß ich nicht. Ich bin doch auf dem schnellsten Weg … weil Ruth doch gesagt … weil es doch geklingelt hatte …“ „Sie verließen also das Haus durch den Keller. Wo stand Ihr Wagen?“ „Vorn auf der Straße.“ „Da müssen Sie doch gesehen haben, wer vor der Tür stand, als Sie vor zur Straße gingen.“ „Ich bin nicht gleich … weil Ruth doch nicht wollte, daß mich jemand sah … da bin ich … Ich habe hinter dem Haus gewartet, bis die Luft rein war.“ „Bis Frau Felgner den Besuch hereingelassen hatte, meinen Sie.“ „Nein … Natürlich doch, was denn sonst.“ Er kam immer mehr ins Stottern. „Aber Sie sahen nicht, wen sie hereingelassen hat?“ „Nein.“ „Herr Felgner, als Sie gestern abend nach Hause kamen und die Haustür öffneten, schlug eine Tür in Ihrer Wohnung zu. Wissen Sie, welche?“ „Die Tür, die von der Diele in den Keller führt.“ 171
„Haben Sie diese Tür zugeworfen, Herr Kranzbach?“ „Ja.“ „Das wissen Sie bestimmt?“ „Ganz bestimmt. Ich hatte sie viel zu laut zugeworfen, zugeknallt richtig.“ „Aber Herr Felgner ist erst um fünf gekommen. So lange halten sich keine Schallwellen. – Herr Kranzbach, sind Sie vielleicht noch mal umgekehrt, hatten Sie vielleicht etwas vergessen in der Wohnung?“ „Ich? Ich bin doch nicht … ich war ja froh … um fünf Uhr? Niemals, Frau Leutnant. Sie können ja Fräulein Ries fragen. Die wohnt auch in Brandhofen, war gestern aber hier in Berlin. Ich weiß nicht, ob sie mich gesehen hat. Aber vielleicht kann sie sagen, wann sie gestern nachmittag mit dem Wagen in der … in der zweiten Querstraße von hier stand. Ich bin nämlich an ihr vorbeigefahren. Sie saß hinter dem Lenkrad und rauchte.“ Mit diesem Erfolg hatte Evelyn nicht gerechnet, er fiel ihr in den Schoß. Ihre Fragen hatten nur den Zweck gehabt, sicherzugehen, daß nach Kranzbach und vor Felgner jemand in der Wohnung gewesen sein müßte, der die Tür zum Keller dann offengelassen hatte. „Saß Fräulein Ries allein im Auto?“ „Ja.“ „Und in welcher Fahrtrichtung stand der Wagen?“ „Mir entgegen. Ich fuhr etwas in der Mitte und strahlte sie mit den Scheinwerfern an. Es war bestimmt noch vor fünf, weit vor fünf, nicht mal halb fünf war es.“ Sie wußte, daß das zutraf. Nach 16 Uhr 20 stand der weiße Wartburg nicht mehr vor Felgners Haus, hatten die beiden Zeugen ausgesagt. Und der Rewatexfahrer hatte fünf Minuten später ebenfalls kein Auto gesehen. Das also stimmte in Kranzbachs Aussage. Dafür sprach auch sein Eifer. Er fühlte sich sicher auf diesem Gebiet. „Noch mal zurück zu Frau Felgner, Herr Kranzbach. Sie war nach oben in ihr Schlafzimmer gegangen und 172
hatte einen Brief oder ähnliches geholt. Mit dem Schreiben in der Hand ging sie wieder ’runter. Und sie gingen mit, ja?“ „Ja.“ „Wo stand die Handtasche?“ „Auf dem Garderobeschränkchen.“ „Wollte Frau Felgner das Schreiben vielleicht in die Tasche stecken?“ „Ja.“ „Hat sie das gesagt?“ „Nein, nicht direkt.“ „Aber Sie hatten diesen Eindruck. Was hat Frau Felgner gesagt? Sie sind doch nicht schweigend hoch- und wieder runtergegangen.“ „Sie hat … Ich weiß nicht mehr … Ich bin immer hinter ihr hergelaufen, wie so’n Hund.“ „Warum?“ „Sie blieb ja nicht eine Minute stehen. Sie behandelte mich wie den letzten Dreck.“ „Aber immerhin hat sie Ihnen fünftausend Mark gegeben. Was ist eigentlich auf dem Treppenabsatz geschehen? Da waren Blumentöpfe umgeworfen. Ist Frau Felgner gestolpert?“ „Ja.“ „Oder sind Sie gestolpert?“ „Ich auch.“ „Sie sind beide gestolpert. Erst gegen die Wand und dann gegen die Pflanzen. Oder war es umgekehrt?“ „Das weiß ich nicht mehr.“ „Und wann haben Sie ihr das Schreiben abgenommen? Diesen Brief aus dem Schlafzimmer?“ „Den habe ich nicht genommen! Den habe ich nicht genommen, Frau Leutnant, glauben Sie mir. Ruth hielt ihn in der Hand, die ganze Zeit über, auch noch, als sie … Ich habe den Brief nicht!“ Es bereitete Evelyn Goldmann nur wenig Genugtuung, 173
zu sehen, wie Kranzbach sich abstrampelte und versuchte, mit dem Rücken an die Wand zu kommen, kaum noch eine Krume festen Boden unter den Füßen. Es störte sie auch, wie Walter Felgner dieses Katz-und-MausSpiel verfolgte. Jede ihrer Fragen sog er begierig ein und weidete sich dann an den unbeholfenen Antworten Harald Kranzbachs. Es schien ihm eine teuflische Lust zu bereiten, zu beobachten, ob diesem Kerl vielleicht doch noch ein raffinierter Schachzug gelang oder ob er ein Netz fand, das ihn nach einem verwegenen Salto mortale auffangen könnte. Ein solches Schauspiel wollte sie Kranzbach nicht zumuten und Felgner nicht gönnen. Kranzbach standen dieselben Rechte zu wie ihm. Sie waren beide Tatverdächtige. „Wir setzen das Gespräch im Präsidium fort. Wir müssen ein Protokoll aufnehmen. Das ist in Ihrem eigenen Interesse. Herr Felgner, Sie kommen bitte auch mit.“ Sonja Plaschke saß vorn im Wagen, neben Leutnant Fiedler. Er hatte sie über Ruth Felgner befragen wollen, sie dann aber, zusammen mit Dortus und Bromme, ins Präsidium gebeten. Sehr höflich hatte er das getan, aber Sonja Plaschke war sicher, daß ein Nein wenig genützt hätte. Die Fahrt würde etwa zehn Minuten dauern. Und diese zehn Minuten blieben ihr, um über ihre Lage nachzudenken. Dann würde sie Rede und Antwort stehen müssen, dann würden ihr wohl solche Fragen gestellt werden, wie Kurt sie angedeutet hatte. Die beiden Männer saßen hinter ihr. Sie konnte ihre Gesichter nicht sehen, und umdrehen wollte sie sich nicht. Wie Dortus sich verhielt, interessierte sie sowieso nicht, und Bromme war zu klug, als daß er ihr ein Zeichen zu geben versucht hätte. 174
Was für ein Zeichen auch. Er war wegen des Geldes gekommen, und was damit geschehen war oder sein konnte, wußte er nun. Sie hatten nicht lange miteinander sprechen können, und allein überhaupt nicht. Dortus wegzuschicken war nicht möglich gewesen. Damit wäre auch nichts gewonnen. Sie mußte das Gespräch mit ihm fortsetzen und hatte gehofft, daß Bromme ihr beistehen würde. Für ihn war schließlich das Geld bestimmt. Schon bei den ersten Worten hatte er ungläubig von einem zum anderen gesehen. Es schien ihr, als hätte er Dortus ebenfalls in Verdacht, ein falsches Spiel zu treiben. „Was denn“, hatte er gesagt, „alle fünfundzwanzigtausend Mark sind gestohlen worden?“ Doch dann war sein Blick anders geworden. Nicht mehr ungläubig, eher verwirrt. Sie hatte ihm Ruths Schreiben gezeigt, damit er sehen sollte, daß sie wirklich mit dieser Summe rechnen durfte. Bromme las an dem einen Satz, als müsse er jeden Buchstaben einzeln entziffern. Es war eine schreckliche Minute gewesen. Sie ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Dortus hatte sich Kaffee eingeschenkt und trank. Er wollte Gleichgültigkeit vortäuschen. Niemand sagte etwas. In der Wohnung unter ihr weinte ein Kind. Jemand spielte Klavier, das Heideröschen. Frau Schmusek, mit der sie vorläufig noch zusammen leben mußte, hantierte in der Küche herum. Es war wie ein Wunder, daß nirgends Lautsprecher dröhnten. Bromme faltete das Schreiben dann wortlos zusammen. Er hatte sich unheimlich in der Gewalt. Er kam auf sie zu und gab es ihr, auch wortlos. Er sah sie nur an, prüfend, interessiert – nein, kühl und abschätzend, durchaus nicht mehr interessiert. Sonja hatte den Blick verstanden. Bromme hatte das Geld aufgegeben – und dazu auch sie. 175
An die Folgen wagte sie nicht zu denken. Seit sie Bromme kannte, hatte Sonja ihr Leben ganz auf ihn und die 25 000 Mark ausgerichtet. Oder sollte sie lieber sagen: auf die 25 000 Mark und ihn? Ohne das Geld kein Dietrich Bromme an ihrer Seite. Er hatte von Anfang an mit offenen Karten gespielt. „Ich brauche Kapital für meine Zweigstelle in Berlin, und ich brauche eine erfahrene Leiterin. Wenn Sie das eine bieten, können Sie das andere werden, Sonja.“ Seine Ehrlichkeit gefiel ihr. Auch der Mann gefiel ihr, aber auf diesem Gebiet hatte Bromme beizeiten abgebremst. „Ich bin verlobt und gedenke demnächst zu heiraten.“ Sie hatte Juditha Ries kennengelernt und ihre Hoffnungen so gut wie begraben. Dietrich war ein Mann, der Frauen noch respektierte. Ihre Würde, ihre Ehre. Er unternahm nie den Versuch, ihr zu nahe zu treten, obwohl sie auf Würde und Ehre gern gepfiffen hätte. „Wenn Sie nicht in Terminnot sind, Dietrich, könnte ich im Oktober fünfundzwanzigtausend lockermachen“, hatte sie ihm angeboten. Vor zwei, drei Monaten war das gewesen, und seitdem arbeitete er an dem Projekt. Bromme legte ihr Zeichnungen und Kalkulationen vor und fragte sie manchmal um Rat. Er kannte eine Menge Firmen, und vielen privaten schoß er großzügig Geld vor, damit sie ihn nicht in die lange Reihe der Wartenden eingliederten. „Natürlich belasten mich diese Vorschüsse“, hatte er ihr gesagt, „aber ich vertraue ganz Ihrer Zusicherung. Im Oktober, wenn Sie das Geld haben, machen wir einen ordnungsgemäßen Vertrag, dann sind Sie nicht nur Miteigentümer dieses Unternehmens, Sie sind auch sein Chef.“ „Der kleine Chef, Dietrich, denn der große Boß bleiben nach wie vor Sie.“ Und nun würde es weder das eine noch das andere 176
geben. Trotz ihrer eigenen Niederlage imponierte es ihr, wie gelassen und souverän er dieser Situation ins Auge sah. Eigentlich hatte sie ihn noch nie anders erlebt. Den vielen Schwierigkeiten und Rückschlägen begegnete er immer so: überlegen, sachlich, gefaßt. Nie ließ er sich hinreißen, durch nichts und zu nichts. Aber war das Ausbleiben einer Lieferung von Steinen, die Absage eines Handwerkers, die ablehnende Stellungnahme einer Behörde vergleichbar mit dem, was jetzt auf ihn zukam? Sie wußte, daß er auf ihr Geld angewiesen war. In den letzten Tagen hatte er sehr gedrängt und von offenen Rechnungen gesprochen. „Ich habe mich ein bißchen übernommen. Es sind nur Lappalien, aber auch sie machen Ärger.“ Im Grunde war Bromme ihretwegen in diese Lage geraten. Sie hätte sich schon Anfang des Monats an Ruth wenden können, denn ein bestimmter Tag im Oktober war nicht festgelegt. Aber sie wollte erst die Einspruchsfrist ihres geschiedenen Mannes abwarten. Bei der Vermögensaufteilung hatte es trotz ihrer Großzügigkeit Streit gegeben. Um einige Gegenstände hatte sie hartnäckig gekämpft und sie dann einfach mitgenommen, obwohl sie darauf mit Leichtigkeit hätte verzichten können. Sie mußte sich so zickig zeigen, damit ihr Mann keinen Verdacht schöpfte. Ende voriger Woche nun war der Termin abgelaufen, und damit war auch der Weg zu den 25 000 Mark frei geworden. Und jetzt sollte er wieder versperrt sein, unabänderlich vielleicht? Warum wußte Bromme keinen Ausweg, warum versagte er diesmal? Brauchte er das Geld nicht mehr? Aber er versagte ja nicht. Er war nur gefaßter und sah den Tatsachen offen ins Auge. Auch vor ein paar Minuten wieder, als der Leutnant in der Tür stand. Sonja war maßlos erschrocken gewesen und Dortus nicht minder. Dietrich dagegen? Er war auf 177
den Leutnant zugegangen, souverän, wie sie ihn kannte, hatte sich vorgestellt und … Sonja Plaschke fuhr zusammen. War sie denn taub gewesen? „Mein Name ist Bromme. Ich habe heute früh bereits mit Ihrem Kollegen, Oberleutnant Blatt, gesprochen, stehe Ihnen natürlich auch jetzt zur Verfügung.“ Über was hatte er gesprochen? Über sie … oder über Ruth etwa? Er hatte nie erwähnt, daß er Ruth Felgner kannte. Der Name war niemals gefallen zwischen ihnen. Sie hätte sich sowieso gehütet, von Ruth zu sprechen. Und Ruth müßte auch von ihr geschwiegen haben, denn so war es ausdrücklich vereinbart gewesen. „Es braucht keiner zu wissen, daß wir wieder Kontakt miteinander haben.“ Darauf baute schließlich ihr Plan. Selbst hier in Berlin hatte sie nicht gewagt, sich mit Ruth zu treffen. Die gleiche Vorsicht hatte sie auch von ihr erwartet, und Bromme und sie waren sich ebenfalls von Anfang an einig, vorerst nichts über ihre zukünftigen Geschäftsbeziehungen verlauten zu lassen. Sonja drehte sich nun doch um. Bromme saß in der Wagenecke, die Hände in den Manteltaschen. Er sah kurz auf, drehte dann den Kopf zur Seite und blickte aus dem Fenster. Unterleutnant Lange kam allein zurück. „Fräulein Ries ist abgereist“, meldete er. „Vor zwei Stunden hat sie überraschend den Koffer gepackt und das Hotel verlassen.“ „Wieso überraschend?“ fragte Hauptmann Zschoppe. Er saß hinter dem Schreibtisch und schien nicht sehr erstaunt über die Nachricht. „Weil das Zimmer bis Ende der Woche bestellt war“, sagte Lange. „Und weil sie heute abend eigentlich ins Theater gehen wollte.“ „Allein?“ „Sie hatte über die Rezeption eine Karte reservieren 178
lassen. Erst wollte sie in die Staatsoper, doch dann entschied sie sich für das Berliner Ensemble.“ Bernd Lange hatte sehr gründlich recherchiert und genauso gründlich unterwegs seinen Bericht vorbereitet. Er sollte knapp und präzise werden, diesmal ganz auf Zschoppes Ökonomie des Ausdrucks zugeschnitten. Während der Formulierung hatte er ständig dessen verkniffenes, bärbeißiges Gesicht vor Augen gehabt und sich vorgestellt, daß der Hauptmann, enttäuscht oder wütend über die Meldung, sofort Maßnahmen ergreifen und auf Eile drängen würde. Doch dann stand er vor einem etwas müden KarlHeinz Zschoppe, der weder erregt aufsprang noch Verwünschungen ausstieß, sondern sich geruhsam zurücklehnte und sagte: „Setzen Sie sich doch, Genosse Lange, und erzählen Sie der Reihe nach. Ich warte auf einen Anruf.“ Die Reihe begann gegen Mittag mit Juditha Ries. Die war außer Haus gewesen und gegen 13 Uhr zurückgekommen. Sie betrat die Hotelhalle und verlangte an der Rezeption ihren Schlüssel. Der Angestellte teilte ihr dabei mit, daß die gewünschte Theaterkarte an der Kasse für sie bereitläge, worüber sie sehr erfreut war. Sie bat ihn, eine halbe Stunde vor Beginn ein Taxi zu besorgen. Dann ging sie auf ihr Zimmer. Von dort bestellte sie telefonisch ein Kännchen Mokka. Als der Kellner ihn brachte, saß sie auf dem Bett und las in einer Zeitschrift. „Es gab bis dahin also keinerlei Anzeichen, daß sie noch am gleichen Tag abreisen wollte, Genosse Hauptmann. Und doch erschien sie wenig später mit Koffer und Taschen bepackt an der Rezeption, ließ alles stornieren und sich die Rechnung geben. Anlaß zu diesem plötzlichen Entschluß muß ein Anruf gewesen sein, den sie um diese Zeit erhalten hat. Sie trank nicht mal ihren Kaffee aus.“ Bernd Lange hatte sich ihr Zimmer angesehen. Es 179
befand sich noch im gleichen Zustand, wie Juditha Ries es verlassen hatte. Auf dem Nachttischchen stand das Tablett mit der halbvollen Kanne, zwei schon ausgewickelte Stück Würfelzucker lagen daneben. Schränke und Schubfächer waren leer, die Türen angelehnt. „Ein eiliger und überraschender Auszug also, aber kein überhasteter“, schloß Unterleutnant Lange. „Sie hat sogar das Bett glattgestrichen und auch die Zeitschrift mitgenommen.“ „Und daß sie den Mokka stehenließ … wer sollte ihr das verübeln, nicht?“ Zschoppe grinste. „Er wird ihr zu stark gewesen sein. – Haben Sie über den Anruf etwas in Erfahrung bringen können?“ „Nur, daß es ihn gab. Ich nehme an, daß es ihr Verlobter war, Herr Bromme.“ „Warum nehmen Sie das an?“ „Weil ich sonst niemand wüßte.“ „Das ist kein Argument, Genosse Lange. Ist Fräulein Ries mit einem Taxi weggefahren, zum Bahnhof beispielsweise?“ „Nein. Der Hotelangestellte wollte ihr eins rufen, aber sie sagte, das sei nicht nötig.“ „Sehen Sie, das ist schon eher ein Argument. Herr Bromme hat sie wahrscheinlich nicht nur angerufen, sondern auch abgeholt. Er war aus Brandhofen gekommen und auf dem Weg zu Frau Plaschke. Dort hat Fiedler ihn dann getroffen. Bromme war ohne Wagen da, worüber wir uns schon wunderten. Jetzt haben wir eine Erklärung. Bromme hat seine Braut im Hotel abgeholt, ist bei Frau Plaschke ausgestiegen, und Fräulein Ries ist daraufhin allein weitergefahren … oder auch nicht. Vielleicht hat er gesagt, warte hier, es dauert nicht lange. Dann hätte sie das ganze Schauspiel beobachten können: wie Dietrich Bromme wieder aus dem Haus trat, aber nicht allein, sondern mit Frau Plaschke und mit Dortus und Fiedler, die sie beide aber wohl nicht kannte; wie die 180
vier in einen Wagen stiegen … Sie ist ihm vielleicht nachgefahren und weiß demnach, daß ihr Verlobter bei uns ist. Hm. Bedeutet das etwas?“ Zschoppe hatte immer nachdenklicher gesprochen. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Es lag im Schatten der Schreibtischlampe, deren Schein das Zimmer weniger erhellte, als die Dunkelheit ringsum hervorhob. Ein Fensterflügel war geöffnet, und manchmal drang ein kühler Luftzug herein. Bernd Lange gab keine Antwort. Es war ihm klar, daß die Frage nicht an ihn gerichtet war. Er erwartete, daß Zschoppe weitersprechen und sie selbst beantworten würde. Oder mit einem genialen Gedanken herausrückte und dann wie üblich Befehle erteilte. Aber Hauptmann Zschoppe hatte vermutlich keinen genialen Einfall parat. Im Gegenteil. Er zog sogar seine Überlegungen sämtlich wieder zurück und sagte, daß sie nichts taugten. „Ein typisches Beispiel, wie leicht man sich verrennen kann. Man schwelgt in Kombinationen, hangelt sich von einem kühnen Gedanken zum nächsten, und je mehr man sich vom Ausgangspunkt entfernt, desto blasser wird er. Man übersieht, daß ja auch er nur Spekulation ist.“ „Deshalb soll man immer zuerst an das denken, was man am leichtesten vergißt“, rutschte es Bernd Lange heraus. Zschoppes Gesicht tauchte unter der Schreibtischlampe auf. „Gut gelernt die Lektion. Danke.“ „Nicht nur gelernt, sondern auch beherzigt, Genosse Hauptmann. Ich erfuhr nämlich im Berolina-Hotel, daß Fräulein Ries recht häufig dort wohnt. Immer wenn sie in Berlin ist, sagte man mir. Und um das nicht zu vergessen, ließ ich mir heraussuchen, wann das in den letzten zwölf Monaten der Fall war. Hier ist die Aufstellung.“ Zschoppe warf einen schnellen Blick auf die Liste. Er 181
hatte sofort gefunden, worauf Lange anspielte. „Das haben Sie gut gemacht“, sagte er. Das Telefon summte und Zschoppe nahm ab. „Endlich“, seufzte er. Er ließ durchstellen und flüsterte Lange zu: „Oberleutnant Blatt aus Bad Sogau. Bleiben Sie.“ Dann rief er in den Hörer: „Haben Sie mit Ewald Wätzlaff sprechen können, Genosse Blatt?“ Offenbar ja, denn Zschoppe sagte: Na prima. Aus den weiteren Bemerkungen konnte Bernd Lange nicht allzuviel entnehmen. Ja, nein, wieso, wann – das reichte weder zum Analysieren noch zum Kombinieren. Einige Male klang das Nein Zschoppes überrascht, fast ungläubig. Nein – mit Fragezeichen und nach oben schwingender Stimme. Nein wirklich? – so ungefähr. Hin und wieder fügte Zschoppe auch ein paar andere Worte ein, und die boten etwas mehr Raum zum Mitdenken. „Einen Blumenstrauß, sagten Sie, Rosen?“ Und kurz darauf: „Ich bin überzeugt, daß es derselbe ist, nur beweisen können wir das nicht.“ Oder: „Sie haben das schon überprüft? Und was sagt man in der Sparkasse? – Eine Dame, sieh mal an!“ Dann hüllte sich Zschoppe längere Zeit in Schweigen. Bernd Lange nahm an, daß Blatt wieder mal frisch drauflos kombinierte und eine Version entwickelte, die dem Alten einzuleuchten schien. Das gelegentliche Knurren, mit dem er auf die Ausführungen des Oberleutnants reagierte, deutete jedenfalls ganz darauf hin. Erst am Schluß raffte Zschoppe sich auf, nun auch seinerseits ein paar Informationen zu geben. „Wir haben sie alle beisammen, ein Glücksfall. Dortus und Bromme und Felgner. Auch Frau Plaschke ist hier. Und Harald Kranzbach, der schon gestanden hat, die fünftausend Mark genommen zu haben. Wie bitte? Stimmt, Frau Dortus fehlt, ebenfalls Fräulein Ries, wie ich eben erfahren habe. Ich fange trotzdem an. Es wäre einfach sträflich, wenn ich die Gelegenheit nicht ausnutzen 182
würde. Wie sagten Sie? Ja, leider nur fünf auf einen Streich.“ Hauptmann Zschoppe legte auf. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und schaltete die Oberbeleuchtung ein. „Ich werde jetzt reden müssen und reden müssen …“ Er sah sich suchend um, als hoffte er, irgendwo einen Ersatzmann zu finden. „Vor nicht mal vierundzwanzig Stunden sind wir losgezogen, einen Fall aufzuklären, den man Tod unter verdächtigen Umständen nennt“, murmelte er. „Und auf was sind wir gestoßen? Auf Betrug, Urkundenfälschung, Veruntreuung, auf Diebstahl und Mord. Fünf Delikte, vorläufig. Und fünf Personen vorläufig. Sauber hingekriegt, was? Jede bekommt eins ab … Wenn das so einfach wäre.“ Lange hatte sich ebenfalls erhoben. Der Hauptmann ging ein paar Schritte auf und ab, dann blieb er vor ihm stehen. „Ich weiß jetzt, wer den Rosenstrauß für Ruth Felgner gekauft hat. Ich kann mir auch zusammenreimen, wie es sich mit den fünfundzwanzigtausend Mark verhält. Aber wer hat die Frau getötet? Wer und warum?“ Er blickte Lange durchdringend an, als wollte er ihm die Antwort verweigern. „Ja, mein Lieber: wer und warum? Es sind immer dieselben Fragen, die uns beschäftigen.“ Dann ließ er Leutnant Goldmann und Leutnant Fiedler rufen. Die Unterredung dauerte nur wenige Minuten. Evelyn und Fiedler hatten in Zschoppes Auftrag verschiedene Einzelgespräche geführt, über die sie ihm berichteten. Die Informationen fielen knapp und bündig aus, trocken. Es kam auf Resultate an. Zschoppe steuerte eine Version bei, die ihm Oberleutnant Blatt am Telefon durchgesagt hatte. Sie fand Zustimmung, weil keine bessere vorlag. „So könnte es gewesen sein“, sagte Helmut Fiedler. 183
„So könnte einiges gewesen sein“, korrigierte Evelyn. Und Karl-Heinz Zschoppe knurrte: „Auf jeden Fall werde ich mich auf sie einstellen.“ Anschließend legte er die Sitzordnung fest. „Frau Plaschke als einzige Dame kommt an die Stirnseite des Tisches, mir gegenüber. Das gehört sich so. Rechts möchte ich Felgner und Bromme haben, auf der anderen Seite Kranzbach und Dortus. Die beiden Schwager sollen sich in die Augen sehen können. – Unterleutnant Lange, Sie placieren die Herrschaften entsprechend.“ Hauptmann Zschoppe begann mit einer kurzen Einleitung. „Im Oktober vergangenen Jahres wurden Frau Felgner fünfundzwanzigtausend Mark überwiesen. Dieses Geld ist nicht mehr vorhanden. Es gibt zwingende Anhaltspunkte, daß sein Verbleib eng mit dem Verbrechen zusammenhängt, das gestern nachmittag verübt worden ist. Vielleicht auch sein Erwerb. Wir wissen, daß die Herkunft dieses Betrages ebenso verschleiert werden sollte wie seine Verwendung. Wir wissen allerdings nicht, ob aus denselben Gründen.“ Evelyn hatte sich so gesetzt, daß sie sowohl Felgner und Bromme als auch Sonja Plaschke beobachten konnte. Alle drei hatten fast die gleiche Haltung eingenommen. Sie saßen zurückgelehnt, hielten die Hände auf dem Tisch gefaltet und blickten Zschoppe an. Sogar ihr Gesichtsausdruck schien derselbe: ernst und gesammelt und von Erwartung geprägt. Doch schon nach den ersten Worten zeigten sich Unterschiede. Während sich in Felgners Miene immer deutlicher Spannung und Erschrecken widerspiegelten, überwog bei Dietrich Bromme zunehmend das Flair höflicher Aufmerksamkeit. Als wollte er zeigen, daß hier ein Fall verhandelt würde, der nicht der seine war. Ganz anders wiederum reagierte Sonja Plaschke. Frau 184
Plaschke war Beteiligte. Sie fühlte sich sofort angesprochen. Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, wie eine Schülerin, die von ihrem Lehrer rangenommen werden sollte. Daß Hauptmann Zschoppe sie in dieser Phase noch nicht rannahm, wunderte Evelyn keinesfalls. Der gerade Weg war zwar immer der kürzeste, nicht immer aber auch der erfolgreichste. Es verstand sich von selbst, daß die erste Frage dem Ehemann galt. „Herr Felgner, wußten Sie von diesen fünfundzwanzigtausend Mark?“ „Nein. Ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin fassungslos.“ „Aber daß Ihre Frau sich ein Konto zugelegt hatte, wußten Sie?“ „Seit jetzt, Herr Hauptmann. Gestern abend, als ich die Sicherungskarte in Ruths Handtasche fand, diesen Postabholerausweis, habe ich gedacht, er gehöre ihr nicht. Sie wissen ja, daß mein Verdacht in eine ganz andere Richtung ging“ „Und deshalb haben Sie ihn an sich genommen und uns nichts davon erzählt.“ „Auch deshalb. Vor allem wollte ich mit Kurt darüber sprechen. Es gab leider Dinge, die Ruth nur ihm anvertraute.“ „Haben Sie mit Herrn Dortus über die Karte gesprochen?“ „Nein. Als er heute vormittag bei mir war, merkte ich an seinem Verhalten und seinen Fragen, daß er mir nichts sagen würde.“ „Herr Dortus, hätten Sie Ihrem Schwager sagen können, daß seine Frau ein Konto mit fünfundzwanzigtausend Mark besaß?“ „Nein. Ruth hat nie darüber gesprochen. Sie überraschte mich aber mal mit der Ankündigung, nun bald 185
ihre Schulden an uns begleichen zu können. Es handelt sich um sechstausend Mark, die Abfindung für das Haus.“ „Wann hatte Ihnen Frau Felgner diese Ankündigung gemacht?“ „Voriges Jahr. Kurz vor Weihnachten.“ „Nicht schon im Oktober?“ „Ich weiß genau, daß es kurz vor Weihnachten war.“ „Haben Sie das Geld inzwischen bekommen?“ „Nein.“ „Ihre Frau vielleicht?“ „Natürlich auch nicht. Das wüßte ich.“ Zschoppe zögerte einen Moment. Vor ihm lag Ruth Felgners Haushaltsbuch vom Dezember. Er hatte schon die Hand ausgestreckt, um es aufzuschlagen, schob es dann aber nur ein Stück zur Seite. „Frau Plaschke. Ihnen schuldete Ruth Felgner ebenfalls Geld. Haben Sie es bekommen?“ „Ich sollte es bekommen. Gestern nachmittag sollte ich es bei ihr abholen. Aber ich habe Ruth nicht gesprochen.“ „Wissen Sie, wann Sie bei ihr waren?“ „Zehn nach vier. Als ich vergeblich geklingelt hatte, habe ich zur Uhr gesehen.“ „Haben Sie in der Wohnung etwas bemerkt?“ „Ich hörte Musik und Schritte. Und dann knallte eine Tür zu.“ „Herr Kranzbach, das muß gewesen sein, als Sie das Haus durch den Hintereingang verließen und die Kellertür zuwarfen. Allerdings fiel die gleiche Tür wieder zu, als Herr Felgner die Wohnung betrat. Wir kommen noch darauf. – Herr Bromme, bei Ihnen hatte Frau Felgner keine Schulden, aber sie wollte welche machen.“ „Ich hätte die fünftausend Mark, um die sie mich bat, niemals als Schulden betrachtet, Herr Hauptmann.“ „Als was dann? Als Geschenk?“ „Als Hilfe. Ruth war in Not, in großer Not.“ 186
„Und sie hat wirklich nur fünftausend haben wollen?“ Zschoppe tat erstaunt. „Immerhin brauchte sie ein Mehrfaches. Sie hatte Herrn Kranzbach Geld für sein Auto versprochen. Nun gut, das Versprechen lag einige Zeit zurück. Nehmen wir an, sie hatte es vergessen oder es nicht für so verbindlich angesehen. Das gleiche mag auf die Abfindung an ihren Bruder zutreffen. Aber ganz bestimmt nicht zu vergessen und sehr verbindlich war der angekündigte Besuch von Frau Plaschke. Und Sie hätten sich nicht mit fünftausend Mark abspeisen lassen, Frau Plaschke.“ „Wohl kaum. Ich brauchte das Geld dringend. Und zwar alles.“ Sie hatte sich eine Zigarette angezündet und rauchte hastig. Nach jedem Satz nahm sie einen Zug. „Meine ganze Zukunft habe ich auf dieses Geld gesetzt, habe mein Leben darauf eingerichtet. Es gehört mir. Ruth hatte sich verpflichtet. Schriftlich. Ich habe ihr Versprechen schriftlich, Herr Hauptmann.“ „Würden Sie uns sagen, wofür Sie das Geld so dringend brauchen? Sie müssen in diesem Kreis nicht darauf antworten, Sie können …“ „Warum sollte ich drum herumreden? Herr Bromme hat mir angeboten, in sein Geschäft einzusteigen. Ich kann mein Geld bei ihm anlegen und Verkaufsstellenleiterin werden.“ „Stimmt das, Herr Bromme.“ „Völlig. Ich will mein Geschäft erweitern und brauche dazu nicht nur Kapital, sondern auch geschultes Personal. Frau Plaschke ist eine ausgezeichnete Fachkraft mit erstklassigen Beurteilungen.“ „Wußte Frau Felgner auch, daß Sie Ihren Betrieb vergrößern wollten?“ „Natürlich. Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht.“ „Und hatte sie da nicht Lust, die Stelle zu übernehmen? Schließlich war sie ebenfalls in diesem Beruf ausgebildet.“ 187
„Ruth besaß nicht die Qualifikation als Verkaufsstellenleiterin.“ „Dafür verfügte sie über das entsprechende Kapital.“ „Wovon ich aber nichts wußte, Herr Hauptmann, und das ihr ja wohl auch nicht gehörte.“ „Und wenn Sie ersteres gewußt hätten und letzteres nicht – wem hätten Sie den Vorzug gegeben?“ Bromme zeigte sekundenlang ein winziges, nicht zu deutendes Lächeln. „Diese Frage ist erstens unlauter und zweitens rein hypothetisch.“ „Für das Unlautere bitte ich um Entschuldigung“, sagte Zschoppe. „Das Hypothetische hingegen … es gehört zu unserem Beruf.“ Er hob die Hände: Ich kann auch nichts dafür, sollte das wohl heißen. Evelyn behielt Sonja Plaschke im Auge. Die Frau machte ein merkwürdiges Gesicht. Als sei ihr soeben ein Licht aufgegangen. Oder sei gerade im Begriff aufzugehen. Wie ein Ahnen, das allmählich zur Gewißheit wird. Ihre Augen zogen sich zu einem schmalen Spalt zusammen, und ihr Blick bekam etwas ungemein Hartes dadurch. Er war auf die Zigarette gerichtet, die sie vor den Mund hielt, und auf den Rauch, der nach oben stieg. Sie sagte nichts. Sie preßte die Lippen aufeinander und saß unbeweglich. Auch die anderen rührten sich nicht. Felgner hielt den Kopf gesenkt, Bromme hatte die Arme vor der Brust verschränkt, ein Bein übergeschlagen, Kranzbach saß weit nach vorn gebeugt, die Stirn fast auf den gefalteten Händen, Dortus sah seinen Schwager an und ließ keinen Blick von ihm. Ein paar Sekunden war es still im Zimmer. Zschoppe guckte einmal reihum, von einem zum anderen, dann auf seine drei Mitarbeiter. Das kurze Schweigen war wie eine verabredete Überleitung. Welchen Komplex wird er nun angehen, fragte sich Evelyn. Die Herkunft der 25 000 Mark? Ihre Verwen188
dung? Oder wird er die unmittelbare Tat herausgreifen? Zu allen hatte er bereits Brücken gebaut, es lag an ihm, welche er beschreiten würde. „Frau Plaschke, Sie fuhren gestern nachmittag zu Ihrer Freundin, um das Geld abzuholen. Was machten Sie, als Ihnen nicht geöffnet wurde?“ „Ich?“ Sie war zusammengezuckt, als ihr Name fiel. „Ich suchte Herrn Dortus auf, im Burgkeller.“ „Warum?“ „Warum? Na, hören Sie mal. Ich war außer mir, wütend war ich. Ich habe Kurt gesagt, daß ich mir das nicht bieten lasse. Daß ich von Ruth Geld zu kriegen habe und sie anzeigen werde, wenn sie mich hintergehen will.“ Zschoppe lächelte ungläubig. „Sie hätten Anzeige erstattet, Frau Plaschke? Wirklich?“ „Warum denn nicht? Die Hälfte hätte ich …“ Sie vollendete den Satz nicht. „Ich habe Ruths Versprechen schriftlich, und Schriftliches gilt vor Gericht.“ Ihre Stimme klang trotzig. Oder bockig wie die eines Kindes, auch enttäuscht und verzweifelt. „Wie reagierte denn Herr Dortus auf Ihre Drohung?“ „Erst war er erschrocken. Dann versuchte er, mich zu beruhigen. Er würde alles in Ordnung bringen. Er wollte mit Ruth reden und mir am nächsten Tag Bescheid geben. Also heute.“ „Haben Sie mit Ihrer Schwester gesprochen, Herr Dortus?“ „Ich habe sofort bei ihr angerufen. Nicht vom Lokal aus, ich bin in eine Telefonzelle gelaufen. Aber bei Felgners meldete sich niemand. Da dachte ich, Ruth ist nicht zu Hause und Sonja wird sich geirrt haben mit der Musik und den Schritten. Was wirklich geschehen war, habe ich erst erfahren, als ich nach Dienstschluß hinkam … aber das wissen Sie ja.“ „Aber doch nicht tot!“ hatte er gerufen. „Ruth kann doch nicht tot sein, tot doch nicht.“ 189
Evelyn konnte sein Gesicht nicht sehen, er hatte es Zschoppe zugewandt. Nur daß er die Arme auf den Tisch stützte, sah sie. Und daß er die Füße hinter die Stuhlbeine klemmte. „Sie haben vorhin erklärt, Herr Dortus, daß Ihre Schwester voriges Jahr angekündigt hatte, Ihnen die Abfindung für das Haus auszuzahlen.“ „Nicht angekündigt, Herr Hauptmann. Angedeutet.“ „Gut, angedeutet. Und Sie haben weiter behauptet, dieses Geld bis heute nicht erhalten zu haben. Auch Ihre Frau hätte es nicht bekommen. Nun muß ich Ihnen sagen, daß Frau Felgner am sechsten Dezember zwanzigtausend Mark von ihrem Konto abgehoben hat und damit zu einer Verabredung gefahren ist. Und zwar mit jemand, dessen Name mit I anfängt, Inge zum Beispiel. Sehen Sie, Ihre Frau hat uns verschwiegen, daß Ruth Felgner gestern mittag fünftausend Mark bei sich trug, als sie bei ihr war …“ „Auf meine Bitte hin hat Inge das verschwiegen.“ „Das bestreitet niemand. Es ist doch aber möglich, daß Sie beide sich verabredet haben, uns auch von den zwanzigtausend Mark nichts zu sagen. Ihre Schwester hat ziemlich exakt Buch geführt, das wissen Sie ja wahrscheinlich. Und eine Eintragung über den sechsten Dezember, als sie also mit zwanzigtausend Mark in der Tasche von der Bank kam, bedeutet: Kaffee trinken mit I.“ „Aber nicht mit I. Dortus!“ Er wandte sich an Felgner: „Kannst du dir vorstellen, Walter, daß Inge und Ruth zusammen Kaffee trinken gegangen sind? Vielleicht früher mal, ganz früher …“ „Ich kann mir jetzt alles vorstellen, selbst das“, sagte Felgner müde. „Deine Frau hat mir heute mittag auch von den fünftausend Mark erzählt. Aber wenn das Verbrechen nicht geschehen wäre, hätte sie vermutlich kein Wort davon gesagt.“ „Ich werde noch wahnsinnig! Sonja, glaubst du etwa 190
auch, daß Inge und ich …“ Dortus sprach nicht weiter. Er machte eine hilflose Handbewegung, als sei es völlig sinnlos, den Satz zu vollenden. „Warum denn nicht?“ antwortete Frau Plaschke. Ihre Stimme klang kalt und anklagend. „Ich bin schon vorhin auf diesen Gedanken gekommen, wie du dich erinnern wirst. Dein Bemühen, die Polizei aus dem Spiel zu lassen und dich mit mir zu arrangieren, war doch deutlich genug.“ „Aber doch nur, um Zeit zu gewinnen“, rief er verzweifelt. „Ich hatte schreckliche Angst, daß Ruth in irgendeinen Schlamassel geraten sein könnte. Vielleicht konnte ich noch etwas retten. Und damit du endlich sprichst und auspackst, habe ich dich reizen wollen. Ich wollte die Wahrheit herauskriegen. Vor zwei Tagen, als Ruth nach Brandhofen gefahren war, hat sie mich vorher angerufen. Sie war ganz verzweifelt. ‚Ich weiß nicht, was ich tun werde, vielleicht etwas ganz Böses‘, hat sie gesagt. Und verzweifelt war sie auch schon die Tage zuvor. Und dann kommst du gestern in den Burgkeller gestürzt, knallst mir um die Ohren, daß Ruth dir fünfundzwanzigtausend Mark schuldet und du sie anzeigen willst. Zwei Stunden später erfahre ich, daß sie tot ist, getötet. Und am Abend sagt mir meine Frau, Ruth hatte fünftausend Mark in der Handtasche. Da drehte sich doch alles in mir.“ Evelyn wußte, daß das Gespräch jetzt einen entscheidenden Punkt erreicht hatte. Zschoppe hatte darauf zugesteuert, wollte über den Fortgang aber erst entscheiden, wenn er das Umfeld sondiert hatte, wie er es nannte. Ihrer Meinung nach war das jetzt zu überblicken. Der Hauptmann hatte konzentriert zugehört und nur Dortus dabei angesehen. Jetzt drehte er langsam den Kopf. „Frau Plaschke, wie hoch ist Ihre Forderung an Ruth Felgner?“ „Fünfundzwanzigtausend Mark.“ 191
„Also genau die Summe, die Frau Felgner ein Jahr zuvor überwiesen wurde. Handelt es sich dabei vielleicht um eine Rückzahlung? Haben Sie Ihrer Freundin das Geld, sagen wir mal, auf ein Jahr zur Aufbewahrung gegeben und nun zurückgefordert?“ Schweigen. „Frau Plaschke, haben Sie meine Frage nicht verstanden. Ich möchte wissen, ob …“ „Ja.“ „Warum haben Sie den Namen E. Wätzlaff als Absender angegeben und nicht Ihren?“ „Ich wollte nicht, daß … Ruth hat ihren Onkel vorgeschlagen. Das sei unverfänglich, hat sie gesagt.“ „Unverfänglich, wenn es herauskommen sollte. Der gute Onkel hat seiner Nichte und so weiter. – Gehören die fünfundzwanzigtausend Mark Ihnen, Ihnen allein?“ „Nach meiner Überzeugung: ja.“ „Nach dem Gesetz: nein. Es war ein Lottogewinn, den Sie kurz vor Ihrer Scheidung machten, nicht wahr? Aber Sie waren noch verheiratet, und da hätte die Hälfte des Geldes Ihrem Mann gehört. Um das zu verhindern, verschwiegen Sie den Gewinn und brachten ihn, wie Sie hofften, in Sicherheit. Gestern nun wollten Sie das Geld bei Frau Felgner abholen, aber zwanzigtausend Mark davon waren schon seit dem sechsten Dezember nicht mehr vorhanden. Kaffee trinken mit I. – nicht wahr, Herr Dortus?“ Zschoppe schlug das Haushaltsbuch auf. „Wie sagte Frau Plaschke vorhin: Schriftliches gilt.“ „Für Inge lege ich meine Hand ins Feuer!“ rief Dortus aufgebracht. „Da können Sie noch so viel herauskramen. Ist Ihnen denn als Kriminaloffizier nie der Gedanke gekommen, daß Ruth das I als Tarnung genutzt haben könnte? Vor ihrem mißtrauischen, kleinlichen Ehemann, dem sie jedes Kännchen Kaffee abrechnen mußte?“ „Als Tarnung? Dann hätte sie ja den Namensanfang ganz weglassen können: zwei Mark Kaffee, aus. Nein, 192
nein ich bin der festen Überzeugung, daß Ihre Schwester einen ganz wichtigen Grund hatte, gerade dieses Zusammentreffen zu notieren.“ Zschoppe hatte die Seite gefunden. „Hier, sechster Dezember: zwei Mark Kaffee – und am Rand steht …“ Er stutzte, blätterte etwas zurück, las dort und tat, als fiele ihm etwas auf. „Herr Felgner, Sie kennen die Schrift Ihrer Frau besser als ich. Was heißt dieses Wort hier?“ „Joghurt.“ „Joghurt? Dann ist das also ein …“ Er schlug wieder den sechsten Dezember auf. „Dann kann das auch ein J. sein. Nicht mit I. hatte Frau Felgner sich getroffen, sondern mit J. Mit Juditha vielleicht, Herr Bromme?“ „Meinen Sie Fräulein Ries, meine Verlobte?“ „Die meine ich.“ „Und warum gerade sie?“ „Weil Fräulein Ries am sechsten Dezember in Berlin war. Sie hat, genau wie gestern und wie schon oft, auch damals im Hotel Berolina gewohnt.“ „Na und? Nur weil sie irgendwann im Dezember …“ „Nicht irgendwann, Herr Bromme. Am sechsten. An dem Tag, an dem Ruth Felgner zwanzigtausend Mark von der Bank geholt hatte.“ Bromme lächelte etwas spöttisch und überlegen. „Und dieses Geld hat sie meiner Braut gegeben. Auch zur Aufbewahrung wie Frau Plaschke zuvor ihr? Taler, Taler, du mußt wandern …“ „Nicht zur Aufbewahrung. Das Geld sollte arbeiten, Pfründe sollte es abwerfen. Die zwanzigtausend Mark waren Ruth Felgners Kapitaleinlage bei Ihnen. Als Lohn versprachen Sie ihr trotz fehlender Qualifikation den Posten einer Verkaufsstellenleiterin. Es war das gleiche Geschäft, das Sie auch mit Frau Plaschke abschließen wollten. Allerdings war es auch das gleiche Geld, auf das Sie spekulierten. Nur wußten Sie das nicht. Mit dem 193
Trick, Ihren Betrieb erweitern zu wollen, köderten Sie beide Damen. Die eine, Frau Felgner, gab Ihnen das Geld sofort, die andere, Frau Plaschke, versprach es Ihnen für heute. Sie versprach Ihnen Geld, das Sie schon hatten.“ „Genau!“ rief Sonja Plaschke. „Das ist mir vor ein paar Minuten auch aufgegangen. Jetzt weiß ich auch, warum ich nie nach Brandhofen kommen sollte. Dort hat er mit Ruth verhandelt, hier in Berlin mit mir. Sie Gauner, Sie, Sie Betrüger!“ „Bitte werden Sie nicht ausfallend, Sonja. Ich hatte Ihnen …“ „Nennen Sie mich nicht Sonja! Für Sie bin ich Frau Plaschke!“ „Ich hatte Ihnen ein ganz reelles Abkommen vorgeschlagen, Frau Plaschke. Mit vertraglicher Bindung, Rückzahlungsfrist, Gewinnbeteiligung und so fort. Daß es nicht zustande kommt, liegt ausschließlich an Ihnen. Sie sind es schließlich, die Ihren Anteil nicht leistet.“ Evelyn sah hinüber zu Helmut Fiedler, der schräg hinter ihr saß. Ihre Blicke trafen sich und signalisierten den gleichen Gedanken: Das Motiv war gefunden, Bromme hatte eben den entscheidenden Hinweis geliefert. Auch Hauptmann Zschoppe war das nicht entgangen. „Einen solchen schriftlichen Vertrag hatten Sie mit Frau Felgner bereits abgeschlossen. Sie hielt ihr Exemplar in der Hand, als sie getötet wurde. Sie wollte es Frau Plaschke vorlegen, sozusagen als Beweis, daß sie das Geld nicht verjubelt, sondern gut angelegt hatte. Dabei war Frau Felgner längst klargeworden, daß sie das Geld in ein höchst zweifelhaftes Geschäft gesteckt hatte.“ Bromme schwieg. Er hatte nicht entrüstet eingegriffen, sich solche Vorwürfe verbeten oder sie von sich gewiesen, wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Taktik oder exzellente Beherrschung? Auf Evelyn hatte er bei der ersten 194
Begegnung einen zwiespältigen Eindruck gemacht. Sie schwankte zwischen Faszination und Abneigung. Jetzt rief er nur noch Abneigung hervor. Zschoppe ließ sich durch Brommes Schweigen nicht beirren. „Der Ablauf der Ereignisse stellt sich uns etwa so dar: Am sechsten Dezember hob Frau Felgner zwanzigtausend Mark ab und übergab sie Fräulein Ries. Herr Bromme schloß daraufhin mit ihr einen Darlehensvertrag ab, der eine Laufzeit bis Oktober hatte. Bis dahin mußte sie das Geld zurück haben, um es Frau Plaschke geben zu können. Ruth Felgner war überzeugt, daß diese Frist eingehalten würde, und sie rechnete mit einer reichen Gewinnbeteiligung, die ihr versprochen worden war. Das veranlaßte sie, ihrem Bruder die baldige Abfindung für das Haus in Aussicht zu stellen. Aber aus alledem wurde nichts. Die Monate vergingen, und außer Vertröstungen geschah nichts. Doch mit Frau Felgner geschah etwas. War sie in erster Zeit voller Schwung und Optimismus aus Brandhofen heimgekehrt, so wurde sie von Monat zu Monat immer unruhiger und nach Frau Plaschkes Anruf geradezu verzweifelt. Vor zwei Tagen war sie, nach vielen vergeblichen Mahnungen und vielen vergossenen Tränen, wieder bei Herrn Bromme gewesen, aber auch diesmal zahlte er nicht. Er konnte nicht zahlen. Er wartete auf das Geld von Frau Plaschke, mit dem er seine Schulden an Ruth Felgner decken wollte. Er hätte ewig darauf warten müssen. In der Auseinandersetzung vorgestern drohte sie, ihren Bruder einzuschalten. Einen Tag später, kurz vor ihrem Tod, ließ sie die Warnung noch einmal ausrichten, telefonisch: ‚Sagen Sie Herrn Bromme, ich werde nun doch mit meinem Bruder sprechen.‘ – Mit ihrem Bruder wollte sie sprechen, Herr Felgner, nicht mit ihrem Mann! – Herrn Bromme erreichte diese telefonische Durchsage nicht mehr, aber er war auch schon durch die gleichlautende Absichtserklärung bei ihrem letzten Besuch genügend aufgescheucht. Er wollte es nicht zum Äu195
ßersten kommen lassen. Da er sowieso in Berlin Zwischenstation machen mußte, nutzte er die Gelegenheit und suchte Frau Felgner auf. Er war auf Versöhnung eingestellt. Er brachte ihr einen Strauß Rosen mit, den Fräulein Ries gekauft …“ „Woher wissen Sie das? Hat Juditha Ihnen …“ Der Gedanke, von seiner Braut verraten worden zu sein, brachte ihn um seine Vorsicht, seine Beherrschung. Alle Beschuldigungen waren bisher von ihm abgeglitten oder abgeprallt. Und nun hatte er sich selbst ausgeliefert. Zschoppe hätte die Frage nicht beantworten müssen, sondern ein vielsagendes Gesicht machen und abwarten können. Aber das schien ihm nicht mehr erforderlich zu sein. Er schüttelte den Kopf und sagte: „Wie könnte sie. Sie haben Fräulein Ries ja rechtzeitig abgerufen. Nein, von Herrn Wätzlaff wissen wir das. Er hat gesehen, wie Ihre Braut den Strauß kaufte und dann damit zu Ihnen in den Wagen stieg. Und später hat er gesehen, daß Sie ohne Blumen zurückkamen. Für ihn stand fest, daß Sie bei seiner Nichte waren. Für uns steht es auch fest, Herr Bromme.“ Alle Blicke waren auf Bromme gerichtet, der ihnen vergeblich auszuweichen versuchte. Seine Augen huschten von einem zum anderen. Dann sah er wieder Zschoppe an und sagte: „Sie haben recht, ich war gestern bei Ruth. Es war dumm, daß ich es Ihnen bisher verheimlicht habe. Ich … ich wollte da nicht mit reingezogen werden. Das Geschäft und so. Als Juwelier muß man besonders auf seinen Ruf achten.“ „Wann waren Sie bei Frau Felgner?“ fragte Zschoppe. „Wir sind vom Hotel sofort hingefahren. Noch vor vier. Ich konnte nicht lange sprechen mit Ruth. Es klingelte, und Herr Kranzbach kam.“ „Sind Sie einander begegnet?“ „Nein. Ruth wollte das nicht. Sie ließ mich durch die Hintertür ’raus.“ 196
„Wie können Sie dann behaupten, daß Herr Kranzbach vor der Tür stand?“ „Ruth hat es gesagt.“ „Frau Felgner kann es nicht gesagt haben. Frau Felgner hat ihre Freundin erwartet. Herr Kranzbach erschien völlig überraschend für sie. Überraschend und ungelegen.“ „Dann weiß ich es, weil Sie es gesagt haben. Als Frau Plaschke klingelte und nicht reingelassen wurde, war Herr Kranzbach in der Wohnung. Das haben Sie vorhin selbst gesagt, Herr Hauptmann.“ Jetzt windet er sich genauso wie Harald Kranzbach zuvor, dachte Evelyn. Das war kein Mann mehr, der Paniken meistert und Ängste weglächelt, wie Günter Blatt ihn beschrieben hatte. „Sie haben Frau Felgner also gegen vier Uhr wieder verlassen. Was haben Sie anschließend gemacht?“ „Mit Juditha die vorgesehene Spritztour durch Berlin.“ „Das trifft wieder nicht zu. Ihre Braut stand mit dem Wagen in einer Nebenstraße und wartete noch auf Sie, als Herr Kranzbach schon davonfuhr. – Ich will Ihnen sagen, was Sie gemacht haben! Sie haben das Haus überhaupt nicht verlassen, Sie haben sich in der Wohnung versteckt.“ „Das ist nicht wahr! Ich habe …“ „Das ist wahr! Sie stehen unter Mordverdacht, Dietrich Bromme!“ „Ich? Mich haben Sie in Verdacht?“ Er war aufgesprungen. „Der da war es, den müssen Sie festnehmen!“ Er wies mit ausgestrecktem Finger auf Harald Kranzbach. „Der hat Ruth umgebracht, weil sie ihm das Geld nicht geben wollte. Niedergeschlagen hat er sie und dann liegenlassen, als sie die Treppe herunterstürzte. Er hat ihr das Geld geraubt und ist auf und davon damit.“ „Stimmt das, Herr Kranzbach?“ 197
„Ja. Aber ich habe es nicht gewollt. Ich wollte Ruth nicht töten. Ich habe die Beherrschung verloren. Sie hat mich so gemein behandelt, und ich war so wütend, daß ich einfach zuschlug. Aber nicht, um sie zu töten, Herr Hauptmann. Glauben Sie mir doch!“ „Wie haben Sie zugeschlagen? Mit der Faust?“ „Ich war schrecklich aufgebracht, so durcheinander auch, und da habe ich nicht bedacht, daß ich die Autoschlüssel in der Hand hielt … Mein Gott, ich wollte Ruth doch nicht töten …“ Ein heulendes Bündel war dieser massige Kerl jetzt, schluchzte und wimmerte und beteuerte immer wieder, daß er es nicht gewollt habe. „Auch wenn das, was Sie getan haben, nicht vorsätzlich geschah, Kranzbach, Ihr Schuldkonto ist dennoch mehr als genug belastet. Aber getötet haben Sie Frau Felgner nicht. Frau Felgner ist erwürgt worden. Kaltblütig und vorsätzlich. Mit Händen, die dort auf dem Tisch liegen. Mit Ihren Händen, Bromme. Als Sie aus Ihrem Versteck kamen, lag Frau Felgner leblos in der Diele. Ihre Finger umschlossen ein Blatt Papier. Sie gingen näher und sahen, daß es der Darlehensvertrag war. Wenn Sie den nahmen, waren Ihre Schulden mit einem Schlag getilgt. Sie beugten sich herunter, sie legten die Hände um ihren Hals …“ „Nein!“ schrie Bromme. Er sah sich verzweifelt um. Er sah zur Tür, zum Fenster. Dann gab er auf. „Nein“, flüsterte er. „Ruth kam zu sich, als ich neben ihr kniete. Sie ahnte, was ich wollte. Ihre Hand krallte sich fest um das Papier. Und diese entsetzten Augen … Da erst habe ich …“ Es schien, als hielten alle für einen Moment den Atem an. Beklemmende Stille breitete sich aus. Evelyn Goldmann saß wie die anderen bewegungslos da, nur ihr Blick wanderte hin und her zwischen dem blindwütigen Schläger und dem kaltblütigen Mörder: 198
Kranzbach war nach seiner Tat in heilloser Angst aus dem Haus gelaufen, Dietrich Bromme jedoch gingen nicht die Nerven durch. Er wartete den Rückzug des Rewatexfahrers ab, schaltete dann den Plattenspieler aus und öffnete die Tür zum Keller, um Kranzbachs Fluchtweg anzudeuten. Hatte er den Strauß vergessen oder absichtlich stehenlassen? Wahrscheinlich letzteres. Er konnte ja nicht mit den Blumen zu seiner Braut zurückkommen. Es sei denn, er hätte Juditha Ries die Tat sofort gestanden. Aber dagegen sprach ihr Verhalten am nächsten Tag. Vielleicht hat er sie erst vor ein paar Stunden eingeweiht, als er sie aus dem Hotel holte, vielleicht auch gar nicht. Sehr wahrscheinlich aber wußte sie von seinen Geldmanipulationen und betrügerischen Absichten den zwei Frauen gegenüber. Doch ob das jemals zu beweisen war? Sie würden es in den nächsten Stunden und Tagen noch klären müssen. Auch, wo die Seiten aus Ruth Felgners Haushaltbuch verblieben waren. Obwohl das für den Abschluß des Falles kaum noch von Bedeutung war. Mochte Ruth Felgner sie nun vernichtet oder versteckt haben. Wo aber lag der Ursprung dieses Verbrechens, wo die Initiallüge, von der Bernd Lange gesprochen hatte, die Initialschuld in diesem Fall? Kann sein, bei Sonja Plaschke, die sich mit einem Trick über gesetzliche Bestimmungen hinwegsetzen wollte. Was Ruth Felgner anfangs als Freundschaftsdienst auf sich nahm, wurde dann der Ausgangspunkt zu eigenem Unrecht. Das Geld Sonja Plaschkes verleitete sie zu seiner Veruntreuung. Und beide Frauen, zwei Betrügerinnen letztlich, wurden Opfer eines noch größeren Betrügers. Eine Kausalkette mithin, die zwangsläufig zu diesem schrecklichen Abschluß führen mußte? Sicherlich nicht. Der verheimlichte Totogewinn war nicht die Ursache für das, was danach geschah. Die lag tiefer. Evelyn sah hinüber zu Walter Felgner, der wie hypno199
tisiert auf Bromme gestarrt hatte und sich jetzt fast zeitlupenhaft langsam von seinem Stuhl erhob. Den Blick fest auf den Mörder seiner Frau geheftet. Hauptmann Zschoppe wartete nicht ab, was geschehen würde. Behutsam drückte er Felgner zurück auf den Stuhl und wandte sich dann Bromme zu: „Wissen Sie, es gibt Frauen – Witwen zum Beispiel, die mit einem ansehnlichen Vermögen zurückbleiben, oder Geschiedene, die aus einer Ehe entlassen werden und als Pflaster ein hohes Bankkonto mitbekommen; andere wiederum, die selbst ausbrechen aus der Ehe und sich mit Winkelzügen ein beträchtliches Guthaben erschleichen; Verheiratete schließlich, die sich langweilen –, Menschen also, die unzufrieden sind und glauben, nur mit Geld ihr Leben ändern zu können. Frauen mit solchen Illusionen waren schon immer leicht zu machende Beute. Es gibt Methoden, sich dieser Beute zu bemächtigen. – Sie, Bromme, haben sie wahrscheinlich ausgezeichnet beherrscht. Ihr Pech war nur, daß Sie diesmal auf zwei Frauen gestoßen sind, die über ein und dieselbe Summe verfügen wollten. Der ganze Schwindel wäre schon viel eher aufgeflogen, wenn sich die beiden nicht ebenfalls mit unlauteren Absichten getragen hätten. Nur weil sie selbst daran interessiert waren, sich in dieser Zeit möglichst aus dem Wege zu gehen, konnte Ihr Doppelspiel so lange geheim bleiben.“ Zschoppe gab Fiedler einen Wink. „Abführen, beide!“ Als sich die Tür hinter Kranzbach und Bromme schloß, drehte er sich langsam um. Nachdenklich sah er Sonja Plaschke an, dann Kurt Dortus und Walter Felgner. Doch niemand erwiderte seinen Blick.
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