Band 31
Komet der Geheimnisse von Rainer Castor
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Band 31
Komet der Geheimnisse von Rainer Castor
MOEWIG
Alle Rechte vorbehalten © by Pabel-Moewig-Verlag KG, Rastatt www.perry-rhodan.net Bearbeitung: Rainer Castor Redaktion: Sabine Kropp/Klaus N. Frick Titelillustration: Arndt Drechsler Vertrieb: edel entertainment GmbH, Hamburg Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany 2007 ISBN: 978-3-8118-4109-3
Prolog 1219. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende HochenergieExplosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 6. Prago der Hara, im Jahre 10.499 da Ark. Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Nach dem Ende der Abenteuer im Mikrokosmos der Varganen und der Ausschaltung Wamloyts, von den eingeborenen Herroffs als Herr des Großen Donners umschrieben, konnte die Lage auf der Versunkenen Welt Gandorakor durchaus als bereinigt beschrieben werden. Wir leben – leider stellt sich nun die Frage, wie wir nach Kraumon zurückkehren sollen. Ein Raumschiff steht uns nicht zur Verfügung, und in Wamloyts Stützpunkt gibt es zwar eine Funkstation, aber der Haupthypersender wurde vor langer Zeit von dem Varganen zerstört, sodass nur noch der Empfänger und ein leistungsschwacher Notsender mit geringer Reichweite zur Verfügung stehen. Ischtars Befragung der Stationspositronik hinsichtlich Transmitter verlief ebenfalls ergebnislos; die vorhandenen Kleingeräte haben nur planetare Reichweite. Hinzu kommt als weiteres Problem, dass sich nirgends Angaben zur galaktischen Position dieser Welt finden lassen. Somit hatten wir nur noch eine Möglichkeit, aber sie ist alles andere als ideal: Wir justierten den schwachen Notsender auf die Notruf welle der arkonidischen Flotte. Sollte jemand reagieren, würde er in einem Kriegsschiff kommen, das war klar. Man wird uns zwar retten, aber wir müssen uns auch auf peinliche Fragen einstellen – und diese werden zweifellos aus dem Mund eines Angehörigen der Tu-Gol-Cel kommen, der Politischen Geheimpolizei des Imperators. Es ist nicht einmal sicher, dass Ischtar und Crysalgira nichts zu befürchten haben. Und dann war der Zeitpunkt, den wir ebenso ersehnt wie
gefürchtet haben, da. Drei Kugelraumer von achthundert Metern Durchmesser materialisierten dicht vor der Bahn des äußersten Planeten. Ich hatte den Herroffs die strikte Anweisung gegeben, für die nächsten Tontas aus dem Tal zu verschwinden – sie wurde widerspruchslos befolgt. Wir suchten unsere Sachen zusammen und legten im Stützpunkt bis zum Eintreffen der Schlachtschiffe methodisch sämtliche Anlagen still, damit die ankommenden Arkoniden keine Möglichkeiten hatten, das Vorhandensein der Station anzumessen. Wir hatten beschlossen, eine bestimmte Rolle zu spielen, und mehrere Varianten von Tarngeschichten besprochen; die Varganenstation passte da nicht in dieses Bild. Mit einer Antigravplattform, die so hergerichtet war, dass sie bei flüchtigem Hinsehen als arkonidisches Erzeugnis durchgehen musste, flogen wir ins Tal zurück und schalteten einen ebenfalls frisierten elektromagnetischen Peilsender ein, um den Schiffen unser Auffinden zu erleichtern. Um kein Aufsehen zu erregen, verzichteten wir schweren Herzens sogar auf unsere varganische Ausrüstung. Es dauerte nicht lange, bis sich die mächtigen Silhouetten der drei Schiffe am Himmel abzeichneten. Sie landeten nicht, sondern schwebten weiterhin hoch über dem Tal. Stattdessen wurden zwei Beiboote ausgeschleust, die wenig später auf einer freien Fläche am Rand der Siedlung niedergingen. Schon als das Beiboot im Hangar des Schlachtschiffs landete und wir ausstiegen, beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl. Zwei Orbtonen im Hangar überwachten die Mannschaft, die sich unserer annahm. Sie brüllten barsch ihre Befehle und waren bewaffnet, die Mannschaften nicht. Ihr Ton den Soldaten gegenüber sagte mir nicht zu, und ganz sicherlich passte er auch den Soldaten nicht. Ihre verbissenen Gesichter sprachen Bände. Während uns als vorläufige Unterkunft Räume in der Krankenstation zugewiesen wurden – die bevorstehende Untersuchung entsprach den Standardvorschriften der Flotte –, starteten die Raumer durch. Alles Weitere wird sich zeigen.
An Bord der ZENTARRAIN: 6. Prago der Hara 10.499 da Ark Selbst durch die Konturpolster der Betten in der Krankenstation hindurch konnte ich das leichte Vibrieren des Antriebs spüren; nach wie vor rasten die Schlachtschiffe dem ersten Transitionspunkt entgegen. Ich blieb ruhig liegen und hielt die Augen geschlossen. Ich vernahm Atemgeräusche von Fartuloon, Corpkor und Eiskralle, die ebenfalls im Zimmer waren. Wir befanden uns in relativer Sicherheit. Allerdings wirklich nur in sehr relativer. Ich öffnete vorsichtig die Augen, als ich leise Schritte hörte. Fartuloon war aufgestanden und näherte sich meinem Bett. Mein väterlicher Freund und ehemaliger Leibarzt meines ermordeten Vaters atmete erleichtert auf, als er sah, dass ich wach war. »Du schläfst wie ein Burrella, das seit zwei Votanii keine Wohnhöhle gefunden hat«, sagte er und setzte sich auf den Rand meines Lagers. »Wir sind in einem Schiff des Großen Imperiums. Was willst du mehr, mein Sohn?« Ich bemerkte das kurze Zwinkern und verstand. Fartuloon rechnete wie ich mit einer Abhöranlage. Das Gespräch musste äußerst behutsam geführt werden. »Du hast recht, wir sind wieder bei unserem Volk und können nun erneut unserem erhabenen Imperator dienen. Ein Glück, dass wir den Hilferuf aussenden konnten. Ich hoffe, der Kommandant dieses Schiffes wird für seine Aufmerksamkeit vom Herrscher belohnt.« »Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen«, sagte Fartuloon. Ich wusste im Augenblick selbst nicht, wen er meinte: Orbanaschol oder den Kommandanten des Kugelraumers, der uns aufgenommen hatte. »Wie geht es dir? Hast du Beschwerden?« »Keineswegs, mir geht es gut. Ich war nur müde. Was ist mit den anderen?« »Schlafen. Die beiden Frauen und das Baby sind nebenan.
Die Tür ist unverschlossen.« Ischtar und mein kleiner Sohn Chapat waren also wohlauf, ebenso Crysalgira, die arkonidische Prinzessin aus dem Quertamagin-Khasurn. Kaum ließ die Nervenanspannung nach, da verspürte ich auch schon Appetit. Wir hatten seit Tontas nichts mehr gegessen. »Ob man uns verhungern lassen will?« Fartuloon strich sich über seinen beachtlichen Bauch. »Meine Reserven reichen noch eine Weile, aber ich werde mich trotzdem darum kümmern.« Wieder zwinkerte er mir zu. »Und keine Sorge, Parendon, ich habe die ganze Geschichte nicht vergessen …« Damit konnte kein nicht eingeweihter Zuhörer etwas anfangen. Als wir den Notruf abgesetzt hatten, mussten wir damit rechnen, dass uns ein Schiff der arkonidischen Flotte aufnahm. Ein Schiff also, das unter dem Oberbefehl des Imperators stand, der der Mörder meines Vaters war. Wenn ich erkannt wurde, schwebte ich in Lebensgefahr, denn ich war der rechtmäßige Thronfolger. Während wir auf das Eintreffen eines Schiffes warteten, blieb uns genügend Zeit, uns eine glaubhafte Geschichte samt Varianten auszudenken, denn ohne Zweifel würden wir einem strengen Verhör unterzogen werden. Niemand durfte erfahren, wer wir in Wirklichkeit waren. »Ich auch nicht, Turoon, keiner von uns. Soll ich mich um die Frauen und das Baby kümmern, oder machst du das?« »Ich sehe nach ihnen«, versprach er und stand auf. »Du kannst noch ruhen.« Mit »ruhen« meinte er natürlich nachdenken. Und dazu bestand genügend Anlass. Die Abenteuer im Mikrokosmos lagen hinter uns, mit der Rückkehr in den Makrokosmos befanden wir uns auch wieder im vertrauten Standarduniversum – und das bedeutete Kampf. Ich musste
dafür sorgen, dass der grausame Diktator Orbanaschol von der Bildfläche verschwand. Und jetzt waren wir in einem seiner Schiffe am Rand des Imperiums. Solange niemand wusste, wer wir waren, drohte uns keine Gefahr, aber wenn unsere wahre Identität herauskam, waren wir erledigt. Im Nebenraum befand sich die Varganin, die ich liebte und die mir meinen Sohn Chapat geboren hatte, dessen begrenzte telepathische Fähigkeiten es ihm erlaubten, mit seiner Mutter und mir Kontakt aufzunehmen. Jetzt schlief er. Ich »sah« seine unruhigen Träume und wäre froh gewesen, hätte Ischtar ihn geweckt. Trotz seines Babyalters war er ungemein intelligent und einer vernünftigen Diskussion fähig. Sobald er wach wurde, konnte ich also auch mit Ischtar in eine lautlose Verbindung treten. Der Kommandant des Schiffes musste getäuscht werden. Es durfte keine Widersprüche geben. Plötzlich wurde die Tür geöffnet. Zwei Arkoniden mit den Gosner’alor-Abzeichen der Yoner-Madrul-Bauchaufschneider – einem Kreuz aus schwarzen Balken mit offenem Zentrum, umgeben von einem vierfach, jeweils an den Kreuzbalken unterbrochenen Kreisring auf goldenem Hintergrund – betraten den Raum. Sie blieben bei der Tür stehen und betrachteten uns, obwohl sie uns vorher schon gesehen hatten. Ich kannte sie wieder. Sie waren es gewesen, die uns bei der Einlieferung bereits oberflächlich untersucht hatten. »Es scheint Ihnen ganz gut zu gehen«, sagte der eine von ihnen, den ich für mich »den Dicken« nannte. Er schien der Vorgesetzte des »Dünnen« zu sein. »Eine Spezialuntersuchung erscheint mir überflüssig. Ich denke, der Kommandant wird Sie auch so verhören können.« »Verhören?« Ich richtete mich auf und stützte mich auf die Ellbogen. »Wieso ein Verhör? Was haben wir verbrochen?« Der Dicke lächelte breit. »Habe ich Verhör gesagt? Es soll
natürlich kein Verhör sein, aber schließlich wollen wir wissen, wie Sie auf diesen Planeten gekommen sind. Sagen wir also: Sie sind fit für eine angeregte Unterhaltung. Einverstanden?« Ich nickte. »Warum nicht? Wie geht es den Frauen?« »Um die kümmern wir uns später. Legen Sie sich hin.« Er entnahm einer mitgebrachten Tasche ein längliches Instrument. Mit seiner Hilfe ließen sich sämtliche Lebensfunktionen ohne jeden Eingriff überprüfen. Er strich damit über meinen Körper und sah auf die Anzeige. »Alles in Ordnung. Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen. Sie sind lediglich erschöpft, das war alles.« Er ging zu Fartuloon, der die Decke zurückschlug und keinen Ton von sich gab. Die Untersuchung bei ihm verlief genauso positiv wie bei mir und dann bei Eiskralle, der als »gläserner« Chretkor natürlich Aufmerksamkeit erregte und eine Abfrage in der Völkerdatenbank erforderlich gemacht hatte. Bei Corpkor allerdings stutzte der Dicke. »Was hat er nur für seltsame Narben?«, fragte er seinen Assistenten. »Hast du jemals solche Narben gesehen?« Das war eine der Fragen, die ich befürchtet hatte. Corpkor hatte sich die fürchterlichen Eiswunden in der Kälte der Eisigen Sphäre im Mikrokosmos eingehandelt. Die Behandlung durch die Herroffs hatte die Entzündungen abklingen lassen, sodass sich die Wunden schlossen. Doch der Tiermeister würde für den Rest seines Lebens von den Eisnarben gekennzeichnet sein. Das möglicherweise Jahrhunderte oder Jahrtausende dauern wird, meldete sich mein Extrasinn. Vorausgesetzt, er ist durch den Wechsel in den Mikrokosmos und zurück unsterblich geworden. Möglicherweise hat Corpkors Regeneration weniger mit der Behandlung der Eingeborenen zu tun als vielmehr mit seiner neu gewonnenen Robustheit und Langlebigkeit. Wie schon mehrfach ignorierte ich Bemerkungen zu diesem Thema; es wurde von uns – vorerst jedenfalls – in keiner Weise
angesprochen. Abgesehen davon, dass es keine Beweise gab und diese sich womöglich erst in einigen Jahrzehnten mangels Alterung einstellen würden, eignete sich unsere Situation nicht für Nachdenklichkeit und Verarbeitung der Erlebnisse und der mit ihnen unter Umständen verbundenen Konsequenzen. Die möglicherweise unverhofft erlangte Unsterblichkeit war da noch in weitaus stärkerem Maß tabuisiert. Über kurz oder lang würde sie natürlich thematisiert werden, aber bis dahin hielt uns alle eine instinktive Scheu davon ab. »Noch nie«, sagte der Dünne überzeugt. Der Dicke fragte Corpkor: »Wo haben Sie das her? Sehen nicht wie Streifschüsse einer Energiewaffe aus. Habe so etwas noch nie behandeln müssen …« »Keine Sorge, Yoner-Madrul«, sagte Corpkor fast kameradschaftlich. »Sie müssen sie auch nicht behandeln, weil sie sich überhaupt nicht behandeln lassen. Sie sehen wie Narben aus, aber in Wirklichkeit sind sie nur die Folgen einer unbekannten Krankheit, die mich vor einiger Zeit erwischte.« »Eine Krankheit …?«, dehnte der Dicke und ließ sein Instrument kreisen. »Merkwürdig, keine entsprechenden Impulse oder Reaktionen.« »Ich sagte ja: unbekannt.« Der Dicke nickte langsam. »Ansteckend?« »Nein«, warf ich ein. »Niemand sonst war betroffen.« Der Dicke gab dem Dünnen einen Wink. »Gehen wir nach nebenan. Der Kommandant hat nicht so viel Zeit.« Ich nickte. Er will sich vor dem Verhör vergewissern, dass er sich keine ansteckende Krankheit holt, deren es auf unbekannten Planeten mehr als genug gibt. Als sie die Tür hinter sich schlossen, sagte Eiskralle: »Ich freue mich, dem Kommandanten die Hand geben zu können …« »Auch ich möchte ihm für unsere Rettung danken. Ich kenne
seine Befehle nicht, aber sicherlich wird es ihm nicht möglich sein, uns direkt nach Arkon zu bringen, wo wir dem Imperator über den Erfolg unserer geheimen Mission Bericht erstatten können.« Ich zwinkerte blitzschnell. »Aber vielleicht kann er uns einem anderen Schiff übergeben, das nach Arkon fliegt. Leider können wir ihm nicht die Wahrheit erzählen.« Genau das stimmte. Corpkor sagte nach einer kurzen Pause: »Ich fühle mich richtig einsam ohne meine Quirrels.« Corpkor hatte die seltene Gabe, mit Tieren auf unglaubliche Weise umgehen und kommunizieren zu können. Sie folgten seinen Anordnungen. Mitunter hatte ich den Eindruck, dass sie mit ihm in einer quasi telepathischen Verbindung standen. Wenn er wollte, griffen sie jeden an, der von ihm als Gegner bezeichnet wurde. Die Quirrels hatten zu seiner merkwürdigen Tiergarde gezählt. »Vergiss sie«, riet ich ihm, ohne näher darauf einzugehen. Die beiden Ärzte kamen aus dem Nebenraum zurück. »Den Frauen geht es gut«, berichteten sie freimütig. »Und dem Kind auch. Wer ist der Vater?« »Das wissen wir nicht«, log ich. »Wir nahmen die Frauen von einem Handelsplaneten mit, sie schlossen sich uns an. Was blieb ihnen anderes übrig? Jemand muss sie dort abgesetzt haben.« Der Dicke grinste hämisch. »Wahrscheinlich der Vater.« Ich nickte betont gleichmütig. »Vielleicht, wir wissen es nicht. Sie hat es uns nie verraten.« Sie gingen zur Tür. Dort drehte sich der Dicke noch einmal um. »Man wird Sie bald holen.« Das bevorstehende »Gespräch« mit dem Kommandanten bereitete mir Sorgen. Aber dann sagte ich mir, dass es früher oder später ohnehin erfolgen musste. Besser möglichst bald. Ich stand auf und ging in den Nebenraum. Die Tür war weiterhin unverschlossen. Ischtar lag im Bett und sah mir
entgegen. Neben ihr entdeckte ich Chapat, halb unter den Decken vergraben. Er schlief noch. »Es geht mir gut«, sagte sie, ehe ich den Mund aufmachen konnte. »Auch unserem Kind. Hast du schon mit dem Kommandanten gesprochen?« »Noch nicht, aber mach dir keine Sorgen. Crysalgira schläft auch noch?« »Sie war müde, sonst geht es ihr gut.« Ich hielt es für besser, nicht allzu viel Besorgnis zu zeigen, und kehrte in das andere Krankenzimmer zurück. Gerade rechtzeitig, ehe sich die Tür öffnete und ein Offizier eintrat. Hinter ihm standen zwei einfache Dienstgrade auf dem Korridor. »Einer von euch begleitet mich zum Kommandanten«, sagte der Orbton, der als Einziger bewaffnet war. »He, Sie da!« Er deutete auf mich. Ich kämmte mir mit den Fingern die Haare und erwiderte: »Gehen wir.« Er führte mich durch die Gänge bis zu einem Lift, der uns in die obere Region des Kugelraumers brachte. Vor einer Tür machte er halt und drückte auf einen leuchtenden Knopf in der Wand. Die Linsen einer Kamera tasteten uns ab, dann öffnete sich die Tür. Der Offizier schob mich in den dahinter liegenden Raum und meldete: »Einer der Gefangenen, Kommandant.« Die Tür schloss sich hinter mir. Der Raum war spärlich und zweckmäßig eingerichtet. Hinter einem wuchtigen Tisch saß ein ungewöhnlich großer und schwer gebauter Arkonide mit finsterem Gesichtsausdruck. Er deutete auf einen Stuhl vor dem Tisch und befahl: »Setzen!« Ich setzte mich und fragte höflich: »Ihr Offizier bezeichnete mich als Gefangenen. Stimmt das?« Etwas wie Erstaunen huschte über sein Gesicht, dann machte er eine verneinende Geste. »Natürlich nicht – vorerst wenigstens noch nicht. Sie werden sicherlich so freundlich
sein, mir einige Fragen zu beantworten – in Ihrem eigenen Interesse. Ich bin Has’athor Wagor de Lerathim. Wer sind Sie?« Als Einsonnenträger war er ein Admiral Vierter Klasse. Sein Adelsprädikat »de« wies ihn als Edlen Zweiter Klasse aus, dem Mittleren Adel zugehörig, dem die Anrede Zhdopandel zustand. »Parendon, Edler. Ich führte einen Handelsfrachter und erlitt Schiffbruch. Der größte Teil meiner Mannschaft kam dabei ums Leben. Die beiden Frauen und das Kind waren Passagiere. Das Schiff ist explodiert. Wir sind froh, dass Sie uns gerettet haben.« Er sah mich durchdringend an, dann schüttelte er den Kopf. »Und was ist mit dem geheimen Auftrag?« Also sind unsere Gespräche in der Krankenstation abgehört worden, wie wir es vermutet haben. Ich sah ihn scheinbar verblüfft an. »Was wissen Sie davon, Admiral?« »Das ist doch egal, oder? Also: Was ist damit?« Mein Gesicht wurde abweisend. »Sollte es wirklich so sein, dass wir einen geheimen Auftrag haben, wissen Sie als Admiral am besten, dass ich nicht darüber sprechen darf. Oder sind Sie bereit, mir etwas über Ihren Auftrag zu erzählen?« Er nickte. »Natürlich, warum nicht? Mein Verband besteht aus insgesamt siebenundzwanzig Schiffen, die nach Stützpunkten und Sammelstellen der Maahks suchen. Die Mannschaften wurden zum Großteil strafversetzt, die meisten sind Kriminelle und politisch Unzuverlässige. Hier, am Rand des Imperiums, sollen und können sich die Kerle bewähren.« Er sah mich forschend an. »Genügt Ihnen das?« »Danke, Edler, ich bin im Bilde. Aber das ist für mich kein Grund, über meinen Auftrag zu reden. Sorgen Sie dafür, dass meine Leute und ich so schnell wie möglich nach Arkon gebracht werden. Man wird Sie dafür belobigen, das kann ich
garantieren.« »Wir bleiben im befohlenen Sektor. Sollten wir Einheiten begegnen, die nach Thantur-Lok verlegt werden, übergebe ich Sie dem entsprechenden Kommandierenden.« Er drückte auf einen Knopf am Tisch. »Man wird Sie in Kabinen bringen, damit die Krankenstation wieder frei wird.« Es war natürlich raffiniert – wenngleich zu erwarten gewesen –, mich von den anderen zu trennen und uns einzeln zu verhören. Der Offizier, der mich in Empfang nahm, gab auf meine Fragen keine Antwort. Wortlos stieß er mich in einen Raum und verschloss die Tür. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich in einer Gemeinschaftskabine stand. Die Betten waren ringsum an den Wänden angeordnet und konnten durch Vorhänge abgetrennt werden. Eine zweite Tür führte zu einem Toilettenraum mit Waschgelegenheit. Ich setzte mich an den Tisch und versuchte, Kontakt mit Chapat aufzunehmen, was mir auch sofort gelang. Über ihn konnte ich mich nun mit Ischtar verständigen, ohne dass eine Abhörgefahr bestand. Ich erfuhr, dass Fartuloon gerade abgeholt worden war. Der Kommandant würde ihn verhören und versuchen, Widersprüche zu entdecken. Um eine solche Gefahr zu verringern, hatten wir ausgemacht, dass wir – Fartuloon, Corpkor, Eiskralle und ich – nichts über unsere »Passagiere« wussten und diese so gut wie nichts über uns. Wir hatten sie ein Stück mitnehmen wollen und waren auf dem Planeten notgelandet – mehr wussten sie nicht. Das Schiff war dabei explodiert. Ich unterbrach den Kontakt zu Chapat, als Fartuloon eintraf. Er warf mir einen zweifelnden Blick zu und zuckte die massigen Schultern. So ganz sicher schien er sich seiner Sache nicht zu sein, aber ich wagte es nicht, Fragen zu stellen. Mit Sicherheit gab es auch hier eine Abhöranlage. Als Nächste trafen Corpkor und Eiskralle ein. Nun wartete ich gespannt
auf das Erscheinen von Ischtar und Chapat, aber nichts geschah. Dafür kam der uns bekannte Offizier und forderte mich barsch auf, ihn zum Kommandanten zu begleiten. Mir schwante Unheil – ich konnte Fartuloon nur noch den vereinbarten Wink geben, der das Zeichen für eine zweite ausgedachte Geschichte war, durch die wir die erste im Notfall ersetzen wollten. Der Admiral fuhr mich wütend an: »Nun aber raus mit der Wahrheit, Parendon, oder wie Sie auch heißen mögen! Eins meiner Schiffe hat den Planeten genauer untersucht. Es wurde keine Spur von einem explodierten Handelsfrachter gefunden. Wie also kamen Sie auf diese verdammte Welt?« »Piraten!«, erwiderte ich, ohne zu zögern. »Es tut mit leid, Zhdopandel, aber es war mir … peinlich, das einzugestehen. Sie haben mir mein Schiff genommen, entführten uns von der Kolonie Yawwith und setzten uns aus. Das ist alles.« Über sein düsteres Gesicht huschte ein Lächeln. »Ach ja! Geheimagenten des Imperators lassen sich von gemeinen Piraten entführen …? Ich glaube Ihnen kein Wort, Mann! Mal hören, was die Frauen dazu sagen. Wir haben Zeit, ich werde schon die ganze Wahrheit erfahren.« Der Orbton brachte mich zurück in die Gemeinschaftskabine. Ich winkte ab, als Fartuloon etwas sagen wollte, und nahm Kontakt zu Chapat auf. Lautlos teilte ich über ihn Ischtar mit: Vorsicht! Die Piratengeschichte ist an der Reihe. Lasst euch nicht beeinflussen. Ihr wart unsere Passagiere, wir alle wurden in der Kolonie Yawwith gefangen genommen und auf dem namenlosen Planeten abgesetzt. Sonst bleibt die Geschichte wie abgemacht. Chapat konnte nur noch bestätigen und mir mitteilen, dass seine Mutter geholt wurde. Die nächste Tonta verging in quälender Langsamkeit. Ich atmete erleichtert auf, als Ischtar endlich mit Chapat erschien, der ihr übergeben worden war.
Sie nickte mir beruhigend zu. Es schien also geklappt zu haben. Nun kam es nur noch auf Crysalgira an. Fartuloon hatte in einem Wandschrank haltbare Lebensmittel entdeckt, von denen wir annahmen, dass sie für uns gedacht waren. Wir stillten unseren Hunger und warteten. Zwei Tontas vergingen, dann wurde die Tür aufgestoßen. Die Prinzessin bekam einen Stoß in den Rücken und taumelte in die Kabine. Hätte Corpkor sie nicht aufgefangen, wäre sie zu Boden gestürzt. Ich sprang auf und eilte zu ihr. »Was ist geschehen?« Sie schüttelte den Kopf. In ihren Augen standen Tränen der Verzweiflung. »Man hat mich erkannt. Niemand glaubt uns jetzt noch. Es ist meine Schuld …« »Wer hat dich erkannt?«, fragte ich, und nun war es mir egal, ob unsere Gespräche belauscht wurden oder nicht. »Einer der Orbtonen – scheint sich sehr für die hochadligen Khasurn zu interessieren.« »De Lerathim weiß also, dass du die QuertamaginPrinzessin bist?« »Ja, ich konnte nicht leugnen. Er war sehr wütend, weil er nun glaubt, wir alle hätten ihn belogen. Ganz sicher ist er seiner Sache noch nicht. Jedenfalls glaube ich, dass er uns wie Gefangene behandeln wird. Es hilft mir nicht, eine Quertamagin zu sein – Mitglieder unseres Khasurn sind schon mehrfach mit solchen der de Lerathim zusammengerasselt, um es höflich zu umschreiben. Eine inzwischen uralte Feindschaft.« Ich legte mich aufs Bett und dachte nach. Noch war nicht alles verloren, denn niemand kannte meinen oder Fartuloons Namen. Bei den anderen spielte das keine so große Rolle. Ich beschloss, bei der Piratengeschichte und dem geheimnisvollen Auftrag zu bleiben. Noch ehe ich den anderen meinen Entschluss mitteilen konnte, öffnete sich abermals die Tür. Diesmal erschien Wagor de Lerathim höchstpersönlich, von
zwei Offizieren begleitet. Ohne jede Einleitung sagte er: »Sie haben sich ab sofort als Gefangene zu betrachten. Die Kabine wird abgeschlossen. Auf dem Korridor stehen zwei Wachtposten. Sie haben den Befehl, Sie bei Fluchtverdacht zu erschießen.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, verschwand er wieder. Wir sahen uns mit gemischten Gefühlen an. Erfreulich war bestenfalls, dass Fartuloon sein Skarg nicht hatte abgeben müssen; offenbar sah man in dem Dagorschwert keine Gefahr. Auf Gandorakor waren wir wenigstens frei gewesen, jetzt aber waren wir Gefangene einer Strafeinheit, für die es nur Tod oder Bewährung gab. Sollte jemand auch nur ahnen, wer ich in Wirklichkeit war, gab es für uns alle keine Rettung mehr. Der Logiksektor flüsterte: Wer Orbanaschol deinen Kopf bringt, hat für den Rest seines Lebens ausgesorgt.
Sicherlich hegte der Einsonnenträger noch einige Zweifel – nicht zuletzt mit Blick auf Crysalgira –, denn meine Andeutungen über eine geheime Mission bereiteten ihm vermutlich Kopfschmerzen. Wenn er Agenten des Imperators festnahm, manövrierte er sich selbst in eine schlimme Lage, auf der anderen Seite tat er nur seine Pflicht. Immerhin: Welche Seite war die richtige? Ich beneidete ihn nicht. Wir mussten fortan von der Möglichkeit ausgehen, auf ein anderes Schiff gebracht zu werden, das direkt ins Arkonsystem flog. Dort erwartete mich der sichere Tod. Fartuloon erriet meine Gedanken, kam zu mir und setzte sich. »Was sollen wir tun? Der Admiral hat Verdacht geschöpft.« Ich zuckte die Achseln. »Wir können überhaupt nichts tun außer abwarten. Vielleicht ändert de Lerathim seine Meinung. Er kann nicht von uns erwarten, dass wir den Befehl des Imperators missachten und von unserem Auftrag berichten.«
Ich blinzelte ihm zu. »Sobald der Höchstedle von unserer Zwangslage erfährt, wird er die geeigneten Schritte unternehmen. Nur fürchte ich, dass de Lerathim dann seine Rangabzeichen wie auch seinen Titel loswird. Schade um ihn, er macht einen intelligenten Eindruck …« Fartuloon unterdrückte nur mit Mühe ein Grinsen. »Ja, er tut mir auch leid. Ein Fehler, der ihm nicht hätte unterlaufen dürfen. Aber es ist eben nicht jeder Offizier der Flotte unfehlbar.« Das war ein Hieb, von dem ich hoffte, dass er saß. Wir wurden belauscht, daran bestand kein Zweifel, vermutlich sogar über verborgene Kameras beobachtet. Kein Wort, das wir sprachen, entging dem Sicherheitsdienst des Schiffes. Lediglich mit Ischtar konnte ich mich über Chapat verständigen, ohne dass jemand davon erfuhr – aber das nutzte den anderen nicht viel, wenigstens nicht in der jetzigen Situation. Has’athor Wagor de Lerathim hatte ganz andere Sorgen. In gewissem Sinne beunruhigten ihn die merkwürdigen Gefangenen natürlich, aus denen er nicht schlau wurde, aber dann sagte er sich, dass sie ihm kaum Schwierigkeiten bereiten würden. Sobald sein Flottenverband in die Nähe eines arkonidischen Stützpunkts kam, würde er sie dort abliefern. Sollten sich dann andere um sie kümmern. Ihm lag nicht einmal daran, sich wegen der Prinzessin mit dem Quertamagin-Khasurn anzulegen. Viel besorgniserregender war etwas anderes: Es war ihm nicht entgangen, dass die Unzufriedenheit seiner Mannschaft in den letzten Votanii gestiegen war. Die strafversetzten Männer versahen ihren Dienst nur noch mürrisch und wagten sogar Widerreden, wenn ihnen die Offiziere Befehle gaben. Möglich, dass die Leute auch nur deshalb unzufrieden waren, weil es noch immer keine Feindberührung gegeben hatte. Bewähren konnten sich ja schließlich nur jene, die Gelegenheit zum Kampf erhielten. Nun, bald würden
sie Gelegenheit dazu haben. Die Orterzentrale hatte einen kleinen Verband Maahks entdeckt. Es handelte sich um fünf Schlachtschiffe, die mit Sublichtgeschwindigkeit flogen. Allein das bewies, dass sie sich in der Nähe eines Stützpunkts der Methans befanden und sich verhältnismäßig sicher fühlten. Wagor de Lerathim zögerte noch mit dem Angriffsbefehl, obwohl er sich mit seinem Verband dem Gegner überlegen fühlte, aber ihm schien es wichtiger zu sein, den Stützpunkt der Methans auszumachen. Während er noch überlegte, reifte an anderer Stelle eine folgenschwere Entscheidung heran.
Der Funktechniker Kurrentos betrat die Kabine des Bauchaufschneiders Arthamor und schloss die Tür hinter sich. Er wusste, dass es in diesem Raum keine Abhöranlage gab. Der Yoner-Madrul nickte ihm vertraulich zu und deutete auf einen Sessel. »Setz dich. Gibt es Neuigkeiten?« »Eine ganze Menge. Das mit den Gefangenen weißt du ja von deinen Kollegen. Aber das ist weniger wichtig. Wir haben fünf Schiffe der Maahks geortet. Es ist anzunehmen, dass Lerathim sie angreift. Das wäre ein günstiger Zeitpunkt, unsere Pläne zu verwirklichen.« Arthamor starrte in eine Ecke des Raumes und schien angestrengt nachzudenken. Dann sah er auf. »Was ist mit Mentares? Bist du sicher, dass er auf unserer Seite ist?« »Davon bin ich überzeugt. Er ist der einzige Orbton an Bord der ZENTARRAIN, der sich stets gerecht und anständig benommen hat. Als er die Verschwörung durch einen Zufall entdeckte, hat er keine Meldung gemacht. Er hat sich auf unsere Seite geschlagen, und zwar aus Überzeugung. Ich glaube sogar, dass er persönliche Gründe hat, Orbanaschol zu hassen.« »Die Leute wissen Bescheid?«
»Ich habe sie informiert. Den entsprechenden Bescheid habe ich verschlüsselt an unsere Freunde weitergeleitet. Sie erwarten nun unser Zeichen, können es kaum noch abwarten, den Kommandanten aus dem Schiff zu stoßen. Einige seiner Offiziere werden ihn dabei begleiten.« »Ich werde nichts dagegen unternehmen«, sagte Arthamor. »Für mich ist es wichtig, dass ich nach der geglückten Meuterei die Medizinische Abteilung übernehmen kann. Ich bin es leid, immer der Prügelknabe dieser Nichtskönner zu sein, die sich überheblich als Bauchaufschneider titulieren. Ich bin davon überzeugt, dass sie nicht einmal wissen, wie ein Arkonide von innen aussieht.« »Du kannst dir ja einige Offiziere vornehmen und sie deinen ehrenwerten Kollegen übergeben, damit sie das Versäumte nachholen.« Arthamor lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Eine ausgezeichnete Idee. Übrigens: Bist du sicher, dass wir keine Verräter unter uns haben? Wenn der Kommandant und seine Offiziere gewarnt werden …« »Keine Sorge, es gibt keinen einzigen Verräter. Wenn die Rebellion gelingt – und davon bin ich überzeugt –, haben wir ganze siebenundzwanzig Schiffe; die Öde Insel ist groß. Wie sollte man uns jemals finden? Wir werden uns auf einem geeigneten Planeten niederlassen und den Rest unseres Lebens in Ruhe und Frieden verbringen.« »Was soll mit den Gefangenen geschehen?« »Die Männer … Nun, wir werden sehen. Lerathim hat sie festgesetzt, das bedeutet, dass sie eigentlich automatisch auf unserer Seite stehen. Und was die beiden Frauen angeht …« Arthamor nickte einige Male, ehe er erwiderte: »Ich bin deiner Meinung. Jetzt ist es wichtig, dass wir im richtigen Augenblick losschlagen. Du musst den Termin bestimmen, denn du bist der Einzige, der jederzeit Kontakt zu den anderen
Schiffen aufnehmen kann. Die Revolte muss überall zugleich beginnen.« »Keine Sorge, die Verbindung klappt. Ein einziges Kodewort genügt, dann werden die Orbtonen festgenommen. Jeder Mann hat genaue Anweisungen. Es wird nur wenige Augenblicke dauern, bis das Schiff in unserer Hand ist.« »Und wann ist es so weit?« »Sobald Lerathim den Befehl zum Angriff auf die Maahks gibt.« »Besteht nicht die Gefahr, dass die Maahks dadurch die Chance erhalten, uns zu vernichten, weil wir mit anderen Dingen beschäftigt sind?« »Die Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen, aber auch da wurde vorgesorgt. Die Männer in der Feuerleitzentrale werden sich nur auf ihre Aufgabe konzentrieren und sich nicht um die Rebellion kümmern. Ihre Offiziere werden festgenommen, das ist alles.« »Das beruhigt mich. Ich kümmere mich um die Mediziner und sperre sie ein. Sie können sich dann noch immer überlegen, aufweiche Seite sie sich schlagen wollen.« Kurrentos stand auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Halt dich bereit. Es kann jederzeit geschehen. Und denk daran: Wer sich der Festnahme widersetzt, wird sofort erschossen.«
Die fünf Schiffe des Gegners verhielten sich so, als hätten sie die Arkoniden nicht bemerkt. Das war zumindest merkwürdig. Sie blieben im Normalraum, ohne ihre Geschwindigkeit zu erhöhen. Fast hätte man glauben können, sie wollten den feindlichen Verband in eine Falle locken. Das war auch genau das, was Wagor de Lerathim annahm. Deshalb änderte er seinen ursprünglichen Plan. Über
Normalfunk nahm er Kontakt mit den Kommandanten der übrigen 26 Schiffe auf. »Kodierte Ringschaltung!«, befahl der Admiral und wartete, bis die Techniker das Freizeichen gaben. »Wir greifen den Verband der Maahks gezielt an, von allen Seiten gleichzeitig. Das Feuer wird erst auf meinen Befehl hin eröffnet, selbst wenn der Gegner den Versuch unternehmen sollte, uns zuvorzukommen. Es ist meine Absicht, eins der Schiffe unversehrt zu kapern, um die Absichten der Methans kennenzulernen. Bestätigung!« Alle Kommandanten bestätigten den Befehl. Dann erhöhten die Schiffe ihre Geschwindigkeit. Die Feuerleitstellen waren einsatzbereit und warteten nur noch auf das Kommando. Ihre automatischen Zielmessgeräte arbeiteten bereits. De Lerathim starrte zur Panoramagalerie. Je länger er den scheinbaren Gleichmut der Maahks registrierte, desto mehr festigte sich die Gewissheit, dass sie einen ganz bestimmten Zweck verfolgten. Der Gegner war zweifellos dem Verband der Arkoniden unterlegen, trotzdem machte er keine Anstalten zur Flucht. Das war nicht nur ungewöhnlich, sondern höchst verdächtig. Diese Taktik änderte sich auch nicht, als die Arkoniden nach den Kurztransitionen auf Schussweite herangekommen waren. Der Has’athor wusste, dass die Offiziere auf den anderen Schiffen unruhig wurden, weil er so lange mit dem Angriffsbefehl wartete. Er spürte, dass er selbst allmählich nervös wurde. Die Ringschaltung bestand noch. »Achtung, an alle Kommandanten! Feuerbereitschaft: Beschuss beginnt in exakt …« Weiter kam er nicht. Das Hauptschott zur Zentrale wurde aufgestoßen. Mehrere einfache Dienstgrade, angeführt von Offizier Mentares, stürmten in den Raum. Alle waren bewaffnet und richteten die Kombistrahler auf den
Kommandanten und die anderen Orbtonen. »Verhalten Sie sich ruhig, dann geschieht Ihnen nichts!«, befahl Mentares und verlieh seinen Worten dadurch Nachdruck, indem er die Mündung seiner Waffe gegen den Rücken des Admirals drückte. »Sie sind durch Beschluss der Mannschaft ab sofort Ihres Postens enthoben. Das Kommando übernehme ich. Stehen Sie auf. Zwei Männer werden Sie abführen.« De Lerathim blieb sitzen. »Sie sind verrückt! Das ist Meuterei!« »Letzteres stimmt«, erwiderte Mentares eisig. »Wir hielten den Augenblick für geeignet. Nun machen Sie schon Platz, damit ich den Angriff leiten kann.« Der Sonnenträger stand langsam und vorsichtig auf. Er wusste, dass er keine Chance hatte. Seine Offiziere standen mit dem Rücken zur Wand und wurden nach Waffen durchsucht. »Die Kommandanten der anderen Einheiten werden Sie zusammenschießen.« Mentares setzte sich hinter die Kontrollen. »Das würde Ihnen kaum weiterhelfen, denn Sie würden mit uns sterben. Aber seien Sie unbesorgt, niemand wird uns unter Beschuss nehmen, höchstens die Maahks. Was jetzt an Bord der ZENTARRAIN geschieht, geschieht gleichzeitig auf allen anderen Schiffen. Die Rebellion ist von langer Hand vorbereitet. Gehen Sie schon! Wir haben keine Zeit zu verlieren.« De Lerathim ließ die entwürdigende Prozedur einer Durchsuchung über sich ergehen und wurde dann von den Männern in den Korridor gestoßen. Aus den Seitengängen kamen andere Offiziere, von den Strafversetzten bewacht und verhöhnt. Der aufgestaute Hass drohte sich zu entladen. Aber die Meuterer waren diszipliniert genug, sich nicht an ihren Gefangenen zu vergreifen. Mit Hohngelächter trieben sie den
Admiral und seine Offiziere in die kahlen Räume von Strafzellen und knallten die Türen hinter ihnen zu. Die so plötzlich ihrer Autorität und Freiheit beraubten Offiziere der Imperiumsflotte waren sich darüber im Klaren, welches Schicksal ihnen bevorstand. Keiner würde dem sicheren Tod entgehen. Inzwischen hatte Mentares Kontakt zu den anderen Schiffen aufgenommen. Zu seiner Überraschung meldeten sich aber nicht die neuen Kommandanten, sondern die bisherigen. Noch ehe er sich identifizieren konnte, meldeten alle übereinstimmend, dass die Meuterei niedergeschlagen worden sei. Man wartete auf den Angriffsbefehl, der angekündigt, aber noch nicht endgültig erfolgt war. Mentares schaltete blitzschnell. »Angriff sofort!«, befahl er. Die Bildübertragung ließ er ausgeschaltet. »Konzentrierter Beschuss! Feuer frei!« Er sah zur Panoramagalerie. Die grellen Energiebündel prallten gegen die Schutzschirme der Maahks und wurden absorbiert. Sie mussten von außergewöhnlicher Kapazität sein, was den unbeeindruckten Flug der Schiffe erklärte. An Bord der anderen Arkonraumer schien niemand bemerkt zu haben, dass er Lerathims Rolle übernommen hatte. Warum ist die Rebellion in allen anderen Schiffen niedergeschlagen worden?, fragte er sich. Warum ist sie nur in der ZENTARRAIN erfolgreich gewesen? Natürlich fand er die Antwort nicht, aber er begriff, dass er seine Rolle den anderen Kommandanten gegenüber nicht mehr lange spielen konnte. Zwei arkonidische Schiffe erhielten verheerende Volltreffer durch Punktbeschuss und explodierten als atomare Sonnen. Die glühenden Trümmer trieben in alle Richtungen davon. Das war der Moment, auf den Mentares gewartet hatte. Kurrentos, der Navigation und Orterzentrale übernommen hatte, stand in Rufweite. »Mentares, wie sieht es aus?«
»Gut! Die Maahks versuchen zu fliehen.« »Das ist überhaupt nicht gut: Wir müssen fliehen! Wenn die anderen Kommandanten erst einmal merken, was auf der ZENTARRAIN passiert ist, machen sie Jagd auf uns. Wir müssen verschwinden, ehe sie Verdacht schöpfen. Programmiere eine Transition, egal wohin.« »Einfach so?« »Richtig. Wir können uns später noch den Kopf darüber zerbrechen, wohin wir uns wenden. Erst einmal müssen wir die Offiziere loswerden, möglichst für immer. Fang schon an!« Arthamor kam in die Zentrale. Sein Gesicht strahlte vor Zufriedenheit, er setzte sich in einen freien Sessel vor den Kontrollen. »Ich habe die Medizinische Station übernommen und die Nichtskönner einsperren lassen«, gab er bekannt. »In der Strafzelle können sie darüber nachdenken, wie viele Leute sie umgebracht haben.« »Verschwinde, wir haben Arbeit. Und davon verstehst wiederum du nichts.« Der neue Chefarzt der ZENTARRAIN war durchaus nicht beleidigt. Folgsam erhob er sich. »Schon gut. Schließlich musst du den Oberbefehl über sämtliche Schiffe übernehmen und …« »Leider nicht. Die Meuterei ist nur uns gelungen. Wir müssen fliehen, so schnell wie möglich. Kümmere dich um die Verwundeten. Sind es viele?« »Ein paar der Offiziere wehrten sich und wurden getötet. Von uns starben nur zwei, aber es gab Verletzte.« »Was ist mit diesen Fremden?« »Um die kümmere ich mich später.« Mentares atmete erleichtert auf, als der Bauchaufschneider ging. Er hatte genug damit zu tun, das Schiff in Sicherheit zu bringen. »Bereit zur Transition«, gab Kurrentos bekannt. »Die
Entfernung genügt, uns aus dem Orterbereich zu bringen. Wann?« Mentares sah wieder zur Panoramagalerie. Er empfing die Meldungen der anderen Kommandanten, die von der erfolgreichen Meuterei auf der ZENTARRAIN keine Ahnung hatten. Der Angriffsbefehl war erfolgt, nun handelte jeder von ihnen nach eigenem Ermessen. Aber die Maahks flohen. Mit höchster Beschleunigung rasten die fünf Schiffe in verschiedene Richtungen davon, um eine Verfolgung zu erschweren. Zwei gingen sehr schnell in Transition, entmaterialisierten und verschwanden von den Orterschirmen der Arkoniden. Die Schiffe der Imperiumsflotte blieben zurück, als Mentares den Kurs änderte. Gleichzeitig erhöhte er die Geschwindigkeit, um möglichst schnell die von Kurrentos programmierte Transition vornehmen zu können, die sie um Lichtjahre versetzen würde. Über Funk kamen verwirrte Anfragen, die Mentares ignorierte. Er wusste, dass die anderen Kommandanten sehr schnell die richtige Antwort finden würden – warum also Zeit verlieren? Hastig kontrollierte er die Instrumentenanzeigen und nickte Kurrentos zu. »Fertig?« »Schon lange.« Der Techniker konnte seine Ungeduld kaum noch verbergen. Ohne noch länger zu zögern, aktivierte Mentares den Transitionsspeicher und lehnte sich zurück, erwartete den unvermeidlichen Entzerrungsschock der Entmaterialisation. Als er eintrat, sah er nur noch, wie die anderen Kugelraumer verschwanden. In Wirklichkeit war es jedoch die ZENTARRAIN, die aus dem normalen Kontinuum verschwand und im Hyperraum etliche Lichtjahre zurücklegte …
1. Bel Etir Baj: Der Mann war hochgewachsen, schlank, hatte dunkelblaue Augen und fast schwarzes Haar. Sein Skelett allerdings verriet, dass er Arkonide war. Er sprach selten, vor allem dann nicht, wenn irgendetwas gefragt wurde. Sein Körper war von Narben übersät; verbrannte Kontaktstellen an seinem Schädel zeigten, dass er auch schonungslos mit Psychohauben verhört worden war. Dennoch wusste keiner mehr von ihm, als er freiwillig ausgesagt hatte. Am 32. Prago der Prikur 10.486 da Ark wurde er in einer Kapsel gefunden. Ein unglaublicher Zufall hatte eins der Schiffe, die im Asteroiden Krassig stationiert waren, in die Nähe des im Raum treibenden Körpers geführt. Da sie sich einen Vorteil davon versprachen, hatten ihn die Verbrecher an Bord genommen. Zu ihrem Leidwesen fanden sie kein Edelmetall, keine seltenen Hyperkristalle oder andere Wertgegenstände. Im Innern der Kapsel, die sich nach ihrem Öffnen bald in eine weiß glühende Metallmasse verwandelt hatte, fand sich lediglich der nackte Körper eines Mannes. Er musste eine unbestimmbar lange Zeitspanne im biologischen Tiefschlaf verbracht haben. Als er erwachte, konnte er nur lallen, erst nach einem halben Jahr vermochte er wieder zu sprechen. Da war ihm allerdings auch schon klar gewesen, wer ihn aufgefischt hatte. Was auch immer Bel Etir Baj zu berichten hatte, sein Wissen war nicht für Verbrecher bestimmt gewesen; selbst der ausgefeilte Sadismus eines Alfert Torpeh hatte nicht ausgereicht, um ihm eine Information zu entreißen. Etir Baj konnte sein Nervensystem so kontrollieren, dass er unempfindlich für Schmerzen war. Keine Psychohaube hatte es geschafft, seinen Willen zu brechen. Bel Etir Baj wusste zu viel. Er wusste entschieden mehr über die Organisation, als den Bewohnern Krassigs lieb sein konnte, und er wusste auch etwas, das die Krassiger nur zu gerne in Erfahrung
gebracht hätten. Vielleicht hätte er unter veränderten Umständen geredet, bei der Geheimpolizei beispielsweise, aber daran war den Verbrechern nicht gelegen. Seit elfeinhalb Jahren trug Bel Etir Baj in seinem Körper eine faustgroße Thermitladung, die ihn innerhalb eines Augenblicks in ein Häufchen Asche verwandeln konnte. Am Gürtel war eine Batterie befestigt, deren drahtlos übermittelte Impulse die Zündung dieser Bombe verhinderten. Einmal in zwanzig Tontas musste Etir Baj die Batterie nachladen, während dieser Zeit lief eine Uhr in der Thermitladung. Brauchteer zum Aufladen der Batterie mehr als eine Dezitonta, wurde die Ladung gezündet. Mit diesem ebenso einfachen wie wirkungsvollen Mittel wurde Bel Etir Baj daran gehindert, Krassig zu verlassen, denn die Steckkontakte der Batterie passten nur zu dem Ladegerät, das speziell hergestellt worden war. Im Innern des Asteroiden durfte sich der geheimnisvolle Mann frei bewegen. Weglaufen konnte er schließlich nicht, und Torpeh hatte noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass Etir Baj eines Tages vielleicht doch gesprächiger werden würde. Die Besatzung von Krassig behandelte ihn mit einem gewissen Respekt, hauptsächlich deswegen, weil er einige der übelsten Raufbolde derartig verprügelt hatte, dass anschließend kosmetische Operationen notwendig gewesen waren. Er war freundlich, hilfsbereit und großzügig. Er beherrschte ein paar exotische Würfel- und Kartenspiele, mit denen er den Männern das Geld aus den Taschen zog. In regelmäßigen Abständen, genau am Jahrestag seiner Entdeckung, pflegte er die gesamte Bande zu einem großen Besäufnis einzuladen. Lagen die Gangster volltrunken unter den Tischen, unternahm Bel Etir Baj einen Fluchtversuch. Er wurde natürlich erwischt, was ihn nicht daran hinderte, im nächsten Jahr wieder eine Orgie zu starten und abermals einen Versuch zu unternehmen. Nachdem er dieses Ritual eingebürgert hatte, wurden am Vortag des »großen Festes« Wetten abgeschlossen, welchen Fluchttrick er in diesem Jahr versuchen würde. Sieger war derjenige, der Etir Baj aufstöbern und festnehmen konnte. Da er sich niemals der Verhaftung widersetzte,
hatten die Männer in der Station ihren Spaß daran. Wäre er eines Tages tatsächlich verschwunden, hätte ihn ein Teil der Männer sogar aufrichtig vermisst. Bel Etir Baj kannte Krassig besser als irgendjemand. Zwölf Jahre lang hatte er Zeit gehabt, den Unterschlupf der Verbrecherorganisation genauestens zu studieren. Er kannte jeden Winkel, jedes Gerät und jeden Mann. Er wusste, wo die Reaktoren standen, die die Station mit Energie versorgten, er kannte den genauen Standort der Geschütze, mit denen die Besatzung ohne große Mühe auch den Angriff einer schweren Einheit hätte abwehren können. Er hatte sich in den Magazinen umgesehen, wusste, wo Lebensmittel lagerten, wo Handwaffen zu finden waren. Er kannte jeden Gefangenen. Torpeh wäre erstaunt gewesen, hätte er gewusst, dass Etir Baj sogar das Versteck kannte, in dem Torpeh seine geheimen Schnapsvorräte verbarg. In den langen Jahren seiner Gefangenschaft hatte Etir Baj vor allem eins getan: Er hatte bei jedem Gespräch sehr genau zugehört und sich anschließend seine Gedanken gemacht. Im Laufe der Jahre hatte er aus den Satzfetzen und angedeuteten Informationen alles herausholen können, was es zu wissen gab. Hunderte von Malen hatte er jeden nur denkbaren Fluchtweg untersucht und durchkalkuliert. Im Schlaf hätte er die Zeiten aufsagen können, die er während einer Flucht gebraucht hätte, um ein Schloss zu knacken oder eine Verkleidung aufzuschrauben. Nur eins hatte ihn bislang von einem echten Fluchtversuch abgehalten. Trotz allen Bemühens war es ihm nicht gelungen, das Hindernis der Thermitladung aus dem Wege zu räumen. Er hatte gehofft, dass es einen relativ einfachen Weg geben würde, die Batterie auch ohne den Impulskontakt aufzuladen. Immerhin war es denkbar, dass für kurze Zeit die Stromversorgung ausfiel oder ein Defekt auftrat. Angesichts der Bedeutung, die Torpeh seinem Gefangenen beimaß, hielt Etir Baj es für unwahrscheinlich, dass der Stationskommandant dieses Risiko eingegangen war. Doch er schien sich getäuscht zu haben – es gab keine andere Möglichkeit der
Aufladung. Und die an die Thermitladung gesandten Impulse hatte Etir Baj ebenfalls nicht entschlüsseln können, sondern nur herausgefunden, dass ihre Grundlage das spezifische Streuemissionsmuster genau dieser speziellen Batterie war. Dennoch sah er sich zum Eingreifen gezwungen, als die CERVAX von Prinzessin Crysalgira da Quertamagin Krassig erreichte.
Krassig: 9. Prago der Prikur 10.498 da Ark Bel Etir Baj wartete auf den Tod: Es war nur noch eine Frage von Augenblicken, dann würde die Thermitladung in seinem Körper gezündet. Immerhin hatte er die Gewissheit, dass der Mann, der ihm die tödliche Ladung in den Leib hatte einpflanzen lassen, das Ende seines Opfers nicht mehr bewusst erleben würde. In dichten Schwaden wälzte sich der Qualm durch die Halle; Explosionen ließen den Boden erzittern. Auch das Ende des Verbrecherasteroiden Krassig war abzusehen. Warte, mein Freund, hörte Bel Etir Baj eine warme Stimme. Ich werde dir helfen! Es wird ganz einfach sein! Er öffnete die Augen. Über ihm erschien ein schwaches Leuchten an der Decke. Verblüfft sah der Arkonide, wie sich der Körper des Olphers durch den massiven Fels bewegte und sich rasch auf Bel Etir Baj herabsenkte. Immer näher kam der feurige Ball; Etir Baj biss die Zähne zusammen, als er die erste Berührung spürte. Es schmerzte nicht, als sich der Olpher weiter sinken ließ und im Körper Etir Bajs verschwand. Glück gehabt, gab der Olpher telepathisch durch. Es fehlte nicht mehr viel. Dann spürte Etir Baj, wie sich sein Körper zusammenkrümmte. Irgendetwas wühlte in seinem Körper und schickte Wellen von Schmerz über die Nervenbahnen. Etir Bajs Muskulatur zuckte krampfhaft, als lägen in Etir Bajs Magen zwei Tiere miteinander im Kampf. Langsam kroch der
Kommandant von Krassig zurück, versuchte sich aus der Nähe des vor Schmerzen um sich schlagenden Etir Baj zu bringen. Bel Etir Baj hatte keine Zeit mehr gefunden, sein Nervensystem auf völlige Schmerzunempfindlichkeit umzustellen. In großen Tropfen lief Schweiß über seine Stirn, sein Atem ging pfeifend. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis der Schmerz nachließ und sich der Olpher wieder meldete. Ich habe die Thermitbombe unschädlich gemacht, raunte das geheimnisvolle Wesen, das aussah wie ein kleiner, feuriger schimmernder Ball aus reiner Energie. Allerdings wirst du für den Rest deines Lebens mit zwei faustgroßen Diamanten im Körper auskommen müssen. »Es gibt Schlimmeres«, antwortete der Mann lächelnd. Die Gewissheit, dass er nicht an der heimtückischen Thermitladung würde sterben müssen, gab ihm neue Energie. Jetzt lag es weitestgehend an ihm, ob er die Vernichtung des Asteroiden überlebte oder nicht. Etir Baj warf einen verächtlichen Blick auf Alfert Torpeh; er stammelte sinnlose Silben und bewegte sich, mühsam kriechend, immer weiter von Etir Baj weg. Du musst dich beeilen, drängte der Olpher. Krassig existiert nicht mehr lange. Etir Baj sprang auf und griff nach seiner Waffe. Er kümmerte sich nicht mehr um Alfert Torpeh; von ihm drohte keine Gefahr mehr. Im Innern Krassigs aber versuchten knapp einhundert Personen in einem rücksichtslosen Kampf jeder gegen jeden, das nackte Leben zu retten. Von den beiden Schiffen war eins bei der Verfolgung der CERVAX vernichtet worden – ob das andere Schiff überhaupt flugtüchtig war, stand in den Sternen, denn es musste einen Grund geben, weshalb die Verfolger auf jene Einheit zurückgegriffen hatten, bei der mehrere Impulstriebwerke ausgebaut waren. Dennoch war es die einzige Chance. Etir Baj rannte los. Obwohl das
Licht flackerte und immer wieder ausfiel, ließ sich der Mann nicht aufhalten. Er kannte den Weg zu den Hangars sehr genau. Als die künstliche Schwerkraft ausfiel, brauchte Etir Baj nur Augenblicke, bis er sich auf die veränderte Lage eingestellt hatte. Mit nach vorn ausgestreckten Armen flog er durch die Gänge, deren Wände immer größere Risse aufwiesen. Nur an einer Gabelung legte er eine kurze Pause ein; er nahm einem Toten den Raumanzug ab und streifte ihn sich in größter Eile über. Ein kurzer Blick auf die Kontrollen genügte, um ihm zu zeigen, dass alle Aggregate des Anzugs einwandfrei arbeiteten. Vorsichtshalber ließ Etir Baj die Helmverschlüsse zuschnappen; er konnte nicht abschätzen, wann die verbliebene Atemluft im Innern Krassigs schlagartig ins Vakuum entweichen würde. »Der gerade Weg wird blockiert sein«, überlegte Etir Baj halblaut. »Ich muss einen Umweg einschlagen.« Jetzt, da sein Leben nicht mehr davon abhing, dass er jeden Prago die Batterie neu auflud, die die Detonation der Thermitladung verhinderte, bewegte er sich freier und zielgerichteter. Er konnte sich seinen Weg aussuchen. Etir Baj entschied sich dafür, sich zu einer der Geschützkuppeln durchzuschlagen, mit denen die Oberfläche Krassigs vor unerwünschtem Besuch geschützt wurde. Nach den Ereignissen der letzten Tonta war anzunehmen, dass die Besatzungen die Geschützstände fluchtartig verlassen hatten. Etir Baj grinste sarkastisch, als er feststellte, dass seine Überlegungen stimmten. Je näher er den Geschützkuppeln kam, desto ruhiger wurde es ringsum. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Bel Etir Baj erreichte den Geschützstand. Die Impulskanone war stark beschädigt, aber die Panzerkuppel darüber zeigte noch keine Zerfallserscheinungen. Der Mann ließ das schwere
Schott hinter sich zufahren, dann öffnete er die Wartungsschleuse, die ins Freie führte. Zwar hätte er durchaus die Möglichkeit gehabt, die innere Schleuse offen zu lassen, aber es widersprach seiner Mentalität, die Bewohner Krassigs auf diese heimtückische Art zu töten, obwohl er sich bewusst war, dass keiner der Männer lange gezögert hätte, wäre er mit dem gleichen Problem konfrontiert gewesen. Etir Baj verwendete das Flugaggregat des Schutzanzugs, um seine Fahrt zu beschleunigen, schwebte über die zernarbte Oberfläche des Asteroiden. Obwohl Etir Baj die Station nie von außen gesehen hatte, wusste er doch sehr genau, wohin er sich zu wenden hatte. Es war eine mühevolle Aufgabe gewesen, aus Hunderten Einzelinformationen ein Puzzle zusammenzusetzen, mit dem sich etwas anfangen ließ, aber Etir Baj hatte sich immerhin zwölf Jahre lang auf diesen Tag vorbereitet. Er wusste, dass Krassigs Stern eine kümmerliche, blassgelbe Sonne in der galaktischen Hauptebene der Öden Insel war und von einer großen Menge Asteroiden umkreist wurde. Krassig selbst – ein Brocken von einigen Kilometern Durchmesser – bewegte sich hierbei abseits des Hauptschwarms. Etir Baj brauchte nur wenige Zentitontas, dann hatte er sein Ziel erreicht. Es war nicht zu verfehlen. Deutlich war im Licht des Helmscheinwerfers das Loch zu erkennen, das von der CERVAX bei ihrer Flucht in die Oberfläche Krassigs geschossen worden war. »Diese Narren«, knurrte Etir Baj verächtlich. Beim Start der CERVAX war die Atemluft schlagartig ins Vakuum entwichen, die Schotten zur restlichen Station hatten sich automatisch geschlossen und verriegelt. Offenbar war noch kein Bewohner Krassigs dazu gekommen, eine der Schleusen zu öffnen. Etir Baj stieß sich ab und schwebte rasch zur oberen Halbkugel des Schiffes hinab. Der Ultraleichtkreuzer hatte
einen Durchmesser von sechzig Metern. Der Mann wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. So rasch er konnte, flog er zur Mannschleuse in der Hoffnung, das Schiff verlassen vorzufinden. Aber ein Rumoren im Innern belehrte ihn, dass sich irgendein lebendes Wesen dort aufhalten musste. Den letzten Beweis für diese Vermutung lieferte die Schleuse, deren Schotten sich schlossen, ohne dass Etir Baj einen Hebel berührt hätte. Wahrscheinlich befand sich jemand in der Zentrale und versuchte nun, das Schiff schnellstens zu starten. Es entsprach der Mentalität der Krassig-Bewohner, dass es dem Betreffenden offenbar nicht einfiel, den Versuch zu unternehmen, einen Teil seiner Genossen zu retten. »Elender Halunke.« Etir Baj konnte nicht sehen, was sich im Hangar abspielte, aber aus den Geräuschen folgerte er, dass das Schiff abhob und langsam an Fahrt gewann. Das »Stottern« der Impulstriebwerke bewies allerdings auch, dass von einer vollen Funktionstüchtigkeit schwerlich die Rede sein konnte. Etir Baj erinnerte sich, dass an beiden Kugelraumern in den letzten Pragos intensiv gearbeitet worden war. Wer auch immer die Steuerung des Schiffes bediente, er überließ seine früheren Kameraden ohne Rücksicht dem Tod, denn es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Asteroid zerplatzte. Etir Baj fühlte sich sicher. Er wusste, dass der Unbekannte in der Zentrale genug damit zu tun hatte, das Raumschiff zu steuern. Diese Aufgabe erforderte so viel Konzentration, dass an eine Überwachung des Schiffsinnern nicht zu denken war. Daher machte sich Etir Baj gar nicht erst die Mühe, sich langsam an die Zentrale heranzuschleichen, sondern benutzte den kürzesten Weg über den zentralen Antigravschacht. Als er den großen Raum erreichte, erkannte er einen Mann auf dem Platz des Piloten, der vollauf damit beschäftigt war, das Schiff schnellstens von Krassig wegzubekommen.
Der Grund für diese Eile war nicht zu übersehen: Krassig war explodiert! Von dem Asteroiden war nicht mehr geblieben als eine sich rasch ausbreitende Wolke aus glühenden Gasen. Die Detonation der Energieanlagen im Innern des Asteroiden hatte das Felsstück zerfetzt, von den Bewohnern des Verbrecherstützpunkts lebte mit Sicherheit keiner mehr. Etir Baj wusste nur zu genau, dass jeder einzelne Krassiger vor normalen Gerichten dutzendmal zum Tode verurteilt worden wäre, dennoch schluckte er heftig, als er die Gaswolke auf der Panoramagalerie sah. Das Schiff war schon zu schnell, um noch von den Ausläufern der Katastrophe erreicht werden zu können. Die vierdimensional-konventionellen Folgen des Energieausbruchs hatte das Schiff ohne Mühe überstanden – ob es Wirkungen auf hyperphysikalischem Gebiet gegeben hatte, wusste Etir Baj nicht zu sagen. Er stand neben dem Antigravschacht und wartete, die Waffe entsichert in der Hand. Mit leiser Genugtuung sah er das Erschrecken in den Augen des Piloten, als sich dieser umdrehte. »Bel Etir Baj!«, rief der Mann. »Wie zum Gork kommst du hierher?« Etir Baj verzog das Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen; er war ziemlich erleichtert. Denn der Mann, der es als Einziger der Krassig-Bewohner geschafft, das Schiff zu erreichen, war zwar ein Hüne von Gestalt, aber geistig nicht beweglich genug, um Etir Baj ernsthafte Schwierigkeiten bereiten zu können. Etir Baj klappte den Raumhelm zurück, der zur Kapuze zusammensank und als Wulst im Nacken zusammenrollte, und lächelte den Mann an. »Ter Mytor«, sagte er halblaut. »Du bist der Letzte, den ich hier vermutet hätte.« Mytor starrte nervös auf die entsicherte Waffe in Etir Bajs Hand. Für den Mann war es unbegreiflich, dass Etir Baj immer noch lebte. Er wusste wie jeder andere in Krassig, dass Etir
Bajs Leben davon abhing, dass die kleine Batterie an seiner Hüfte eine Detonation der Thermitbombe verhinderte. Die Stelle, wo die Batterie sitzen musste, war vom Anzug verdeckt, aber das Objekt hätte sich unter dem flexiblen Gewebe deutlich abzeichnen müssen. »Komm nicht näher«, warnte Mytor hastig, als Etir Baj einen Schritt auf ihn zu machte. »Du weißt, dass ich mit der Ladung in deinem Bauch nichts zu tun habe. Willst du mich aus Rache töten?« »Du brauchst nicht um dein Leben zu jammern. Ich habe die Ladung unschädlich gemacht. Wohin wolltest du das Schiff steuern?« »Ins Arkonsystem natürlich. Leg doch endlich die Waffe weg. Du siehst doch, dass ich unbewaffnet bin.« Etir Baj überlegte kurz. Er suchte in seinen Erinnerungen, dann wusste er, wohin sich Ter Mytor wenden wollte. Etir Baj hatte genügend Gesprächsfetzen aufgeschnappt, um zu wissen, wer die Hintermänner waren, die den aufwendigen Stützpunkt Krassig aufgebaut und unterhalten hatten. Er verzichtete darauf, sein Gegenüber mit diesen Kenntnissen zu verblüffen. »Du hast recht – wir sind aufeinander angewiesen.« Langsam streifte er den Raumanzug ab. Die Wunde an seiner Hüfte schmerzte und blutete stark. Dort hatte die Batterie gesessen, bis Alfert Torpeh sie zerschossen hatte. Der Blutverlust ließ Etir Baj leicht schwanken. »Ich helfe dir«, sagte Mytor hastig und sprang auf. Er kam gerade noch rechtzeitig, um Etir Baj aufzufangen. Langsam ließ Mytor den Körper des Bewusstlosen auf den Boden gleiten, dann verzog sich sein Gesicht. Ter Mytor grinste boshaft. »Warte. Vielleicht gelingt mir das, was Torpeh zwölf Jahre lang nicht geschafft hat. Ich werde herausbekommen, woher du stammst und was das Geheimnis ist, das du so
beharrlich für dich behalten hast.«
Als Etir Baj erwachte, griff er unwillkürlich nach der Hüftwunde. Er seufzte erleichtert, als er den dicken Verband spürte. Ter Mytor hatte die Wunde mit einem Plasmakonzentrat besprüht, das eine rasche Heilung garantierte. Ein Blick auf die Uhr zeigte dem Mann, dass er mehr als siebzehn Tontas ohne Bewusstsein gewesen war – Zeit genug für den durchtrainierten Körper, den großen Blutverlust wenigstens teilweise wieder auszugleichen. Als Etir Baj hochsah, musste er erkennen, dass der Verband keineswegs auf Mytors Mitleid zurückzuführen war: Etir Baj starrte in die Mündung seiner eigenen Waffe, die Mytor auf seinen Kopf gerichtet hielt. »Was soll der Unfug?«, fragte er. »Warum bedrohst du mich?« »Ich glaube nicht, dass du freiwillig ins Arkonsystem mitkommen wirst. Alfert Torpeh war ein Stümper, wenn es darum ging, Leute zu verhören. Ich kenne ein paar Männer, die sich auf solche Aufgaben spezialisiert haben – die werden dich schon zum Sprechen bringen.« »Kaum anzunehmen.« Etir Baj stand langsam auf. »Außerdem habe ich nichts zu verbergen. Das Geheimnis, hinter dem Torpeh jahrelang hergejagt ist, besteht nur in eurer Fantasie.« »Dann beantworte mir ein paar Fragen.« Etir Baj stellte zufrieden fest, dass sein Trick zog; sein Gegenüber wurde sichtlich unruhig bei dem Gedanken, dass Etir Baj jetzt endlich auspacken würde. »Woher kommst du eigentlich? Zu welchem Volk gehörst du?« »Ich bin Arkonide.« Etir Baj lächelte verhalten. Er sagte die Wahrheit, aber niemand würde sie ihm glauben. Die ganze
Wahrheit allerdings würde Etir Baj unter keinen Umständen enthüllen. »Du willst mich wohl veralbern, wie?«, knurrte Mytor gereizt. Er gehörte zu der Sorte Arkoniden, die nichts weniger vertragen konnten als das Gefühl, nicht jederzeit ernst genommen zu werden. Er trat auf Etir Baj zu, einen Schritt nur, aber diese Bewegung reichte. Etir Bajs Fuß schnellte in die Höhe und traf auf die Waffenhand Mytors. Der Mann schrie auf, aber ließ die Waffe nicht fallen. Ein Schuss löste sich und krachte in einen Aggregatblock, der vom Reparatur- und Montagetrupp in der Zentrale platziert worden sein musste, gleichzeitig heulte eine Sirene auf. »Verdammt!« Etir Baj nutzte den winzigen Augenblick, in dem Mytor unaufmerksam war, und griff an. Ein wilder Zweikampf begann. Mytor verlor die Waffe, die geräuschvoll über den stählernen Boden schrammte; dafür gelang es ihm, Etir Baj einen gut gezielten Hieb zu versetzen, der genau die Hüftwunde traf. Zu Mytors Erstaunen verzog Etir Baj keinen Muskel, er schien den fürchterlichen Schmerz überhaupt nicht zu spüren. Jetzt wusste Ter Mytor, dass er gegen seinen Widersacher keine Siegeschance hatte, kämpfte aber mit dem Mut der Verzweiflung, von dem Gedanken ausgehend, dass Etir Baj – wie es für Mytor selbstverständlich gewesen wäre – seinen unterlegenen Gegner kaltblütig töten würde. Es gelang dem Mann, sich Etir Bajs Griff zu entziehen. Hastig sprang Mytor auf die Füße. Obwohl der Versuch völlig sinnlos war, wollte er wieder in den Besitz der Waffe kommen; Mytor versuchte, über Etir Baj hinwegzuspringen. Dieser riss den Fuß hoch und traf Mytor im Sprung. Ter Mytor landete auf dem linken Bein, verlor das Gleichgewicht und ruderte mit den Armen, um nicht zu stürzen. Während er sich drehte, verlor er gänzlich den Halt und fiel rücklings in den Aggregatblock, den sein Schuss beschädigt hatte. Im Bruchteil
eines Augenblicks raste der Hochspannungsstrom durch seinen Körper.
Etir Baj knirschte mit den Zähnen. Er hatte sich die Zeit genommen, das, was von Ter Mytor geblieben war, in den freien Raum zu stoßen. Während dieser Zeit hatte er in Gedanken seine Möglichkeiten durchdacht. Dass der Ultraleichtkreuzer überholt worden war, hatte dem Mann einerseits das Leben gerettet, weil sich sonst nicht der Aggregatblock in der Zentrale befunden hätte, dessen Minifusionsreaktor nach der Beschädigung ausreichend Energie lieferte, um Mytor zu töten. Andererseits war die Überholung noch nicht abgeschlossen gewesen – und somit fehlten wichtige Bauteile des Strukturkonverters. Sie waren mit Krassig vernichtet worden, an eine Transition war unter diesen Umständen nicht zu denken. Immerhin war es Etir Baj gelungen, seinen galaktischen Standort halbwegs präzise zu bestimmen. Nach seinen Berechnungen war er ziemlich weit von den Kernbereichen des arkonidischen Herrschaftsgebiet entfernt. Das war insofern von Vorteil, als Bel Etir Baj wenn möglich mit der arkonidischen Flotte nichts zu tun haben wollte. Andererseits würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als ein Notsignal zu senden. Er hatte abzuwägen: Seinem Wunsch nach Rettung stand das starke Sicherheitsinteresse seiner Art entgegen. Problematisch war auch, dass die eingeschränkte Leistung des Hypersenders nur über wenige Lichtjahre reichte. Die Wahrscheinlichkeit, auf diesem Weg Freunde zu erreichen, war ausgesprochen gering. Unruhig ging der hochgewachsene Mann in der Zentrale des Raumschiffes auf und ab. Er war sich durchaus darüber klar, welches Risiko er einging. Nachdem er den Ultraleichtkreuzer
in die »Deckung« einiger Asteroiden gesteuert hatte, machte er sich an eine intensive Inventur. Bald schon bestätigten sich die Befürchtungen. Wollte er keinen Dilatationsflug riskieren, war an ein Verlassen des Systems von Krassigs Stern nicht zu denken. Das Transitionstriebwerk funktionierte nicht, Defensiv- und Offensivbewaffnung standen nur eingeschränkt zur Verfügung, es gab kein einziges Beiboot. Einziger Vorteil war, dass sich ausreichend Vorräte an Bord befanden, die für eine einzige Person wohl mehrere Jahre reichen würden. Als Etir Baj schließlich das Hyperfunkgerät einschaltete, hatte er den Entschluss gefasst, für den Fall, dass als Erstes Flotteneinheiten des Tai Ark’Tussan erscheinen sollten, das Schiff zu sprengen. Vorsichtshalber fasste er auch den Text so ab, dass seine Freunde erkennen konnten, wer da um Hilfe funkte. Innerlich seufzend machte sich Etir Baj auf eine längere Wartezeit gefasst, ohne in diesem Moment zu ahnen, dass zwei Votanii vergehen würden, bis jemand auf die Notsignale reagierte.
2. Ra: »Lass mich in Ruhe!« Die Worte Ischtars klangen sanft und ruhig, aber sehr bestimmt. Ra verzog verärgert das Gesicht und wich schmollend in den entferntesten Winkel der Zentrale zurück. An diesem 11. Prago des Tartor 10.498 da Ark schwebte die MONDSCHATTEN noch immer außerhalb des Kratakh-System, belauert von Maahkschiffen. Von Atlan fehlte jedes Lebenszeichen, bis heute war ihm die Rückkehr aus dem Mikrokosmos nicht gelungen. Den beiden einzigen Personen an Bord des varganischen Oktaeders blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Die Frau wartete mit dem Gleichmut der Langlebigen auf die Rückkehr des Mannes, den sie liebte,
während Ra von Tonta zu Tonta zappliger wurde. Er hasste Untätigkeit; sie machte ihn fast körperlich krank. Zudem musste er sich eingestehen, dass er alles andere als darauf erpicht war, Atlan wiederzusehen. Drehte es sich um Ischtar, wurde der Barbar zum eiskalten Egoisten. Blieb Atlan verschwunden, war der Weg frei für ihn – so jedenfalls stellte es sich der Barbar vor. Immerhin war er inzwischen deutlich vorsichtiger. Ischtars Drohung nach der Sabotage des Keruhm hatte an Deutlichkeit nichts missen lassen; der nächste Sabotageversuch, hatte sie mit eisiger Stimme verkündet, würde Ras Tod bedeuten. Ra wusste, dass sie es ernst meinte. »Ich halte diese Warterei nicht länger aus«, sagte er brummig und ging unruhig in der Zentrale auf und ab. Ischtar schien ihm nicht zuzuhören, starrte unverwandt auf Bildschirme und Holos, in denen sich langsam Skrantasquor drehte. Dass der Kristallprinz in die Hände der Maahks gefallen war, war ausschließlich Ra zuzuschreiben. Er hatte ihr Entsetzen und den Schmerz gesehen, während sie Atlan schrumpfen sah, bis er komplett verschwand und die Hyperfunkverbindung von den Maahks unterbrochen wurde. Weil es Atlan schon einmal gelungen war, sich aus dem Bann des Mikrokosmos zu befreien, hatte sich Ra zunächst keine Sorgen gemacht, obwohl er insgeheim durchaus hoffte, dass es dort irgendwo »auf der anderen Seite« genügend Gefahren gab, um selbst einen Atlan zur Strecke zu bringen. Obendrein zerrten die großen Maahkwalzen an Ras Nerven. Sie konnten zwar gegen die Defensivbewaffnung des varganischen Schiffs nicht viel ausrichten, aber Ra fühlte sich sehr unbehaglich in der Rolle des Belagerten. »Ich verschaffe mir ein bisschen Bewegung«, verkündete er, zuckte aber mit den Schultern, als Ischtars Antwort ausblieb. Er verließ die Zentrale. Die langen Tage seit Atlans Verschwinden hatten ihn gelehrt, dass Ischtar tontalang mit den Ferntastern die Oberfläche des Riesenplaneten beobachten würde in der Hoffnung Atlans Wiedererscheinen beobachten zu können. Einmal damit beschäftigt, war sie kaum ansprechbar. Ra wusste, dass er jetzt einige Tontas Zeit hatte.
Der Plan des Barbaren standfest: Er wollte sich nicht länger aufs Beobachten beschränken, sondern selbst etwas unternehmen. Immerhin gab es an Bord des Oktaeders Beiboote – und Ra war mit der varganischen Technologie inzwischen hinreichend vertraut, um ein solches Raumfahrzeug auch ohne Ischtars Hilfe steuern zu können. Er wusste auch genau, wo er an Bord des großen Schiffes die nötige Ausrüstung finden konnte. Sich unbeobachtet wissend, schleppte Ra Lebensmittel, Waffen und andere Materialien an Bord eines der 44 Meter hohen Kleinoktaeder. Er wusste, dass Ischtar so in ihre Beobachtungen vertieft sein würde, dass sein Verschwinden tontalang unbemerkt bleiben würde. Sorgfältig überzeugte sich Ra, dass das Beiboot technisch einwandfrei funktionierte, dann erst ließ er das Innenschott der Schleuse auffahren. Nachdem sich das Boot vom Mutterschiff gelöst hatte, wurde Ra bewusst, dass er mehrere Faktoren übersehen hatte: Nach der Sabotage des Keruhm hatte Ischtar ihren Raumer so programmiert, dass bei außerplanmäßigen Aktionen automatisch Vollalarm ausgelöst wurde – und zum Zweiten waren die Besatzungen der anwesenden Maahkraumer, die die MONDSCHATTEN eingekreist hatten, ebenfalls in höchstem Maß wachsam, sodass auf ihren Bildschirmen sich augenblicklich das ausgeschleuste Beiboot abzeichnete. »Egal. Besser, als hier zu verschimmeln«, knurrte Ra und fletschte die Zähne, als die Ortung die gegnerischen Schiffe anzeigte. Er beschleunigte und hörte das verstärkte Arbeitsgeräusch aus der Tiefe, während das Mutterschiff auf den normaloptischen Bildschirmen rasend schnell kleiner wurde und dann nicht mehr mit bloßem Auge zu erkennen war. Sofort nahmen die Maahks die Verfolgung auf. Ra grinste nur; er wusste, dass sie ihn nicht erwischen konnten. Masse war träge, sie setzte jeder Bewegungsveränderung einen Widerstand entgegen. Ras Kleinoktaeder war wendig, seine Kurven und Flugmanöver konnten von den hundertfach größeren Walzenschiffen nicht nachvollzogen werden. Zwar waren die Raumer durchaus in der Lage, die nötigen Energien zur Überwindung der
Massenträgheit zu liefern, aber für derart wahnwitzige Bewegungen, wie Ras sie dank varganischer Technik ausführte, waren ihre Schiffe nicht stabil und leistungsfähig genug. Bevor die Wasserstoffatmer erkannten, dass sie ihre scheinbar leichte Beute so gut wie verloren hatten, war das Beiboot der MONDSCHATTEN schon so weit entfernt, dass an einen wirkungsvollen Beschuss nicht mehr zu denken war. Nach kurzer Zeit gaben sie auf und drehten ab. Ra grinste zufrieden, als er die Manöver auf dem Bildschirm verfolgte, ehe er sich daranmachte, sich ein Ziel für seinen Ausflug zu suchen. Was er eigentlich genau wollte, war ihm unbekannt. Nach Kraumon zu fliegen, hatte er keine Lust; ein Flug nach Arkon wäre ein Selbstmordunternehmen gewesen, sogar an Bord eines Varganenschiffs. Er wusste nur, dass er für eine Weile raus musste. Genau genommen konnte er aber nicht viel mehr tun, als sich in der Umgebung umzusehen und dann zu Ischtar zurückzukehren. »Hätte ich wenigstens einen Anhaltspunkt«, murmelte er. Nur zu gern hätte er seinen Heimatplaneten aufgesucht, aber er kannte die Koordinaten nicht, wusste nicht, wo er sie im Sternenmeer der Öden Insel hätte suchen sollen. Irgendwo in einem äußeren Arm der Sterneninsel, Zehntausende Lichtjahre von der jetzigen Position entfernt war eine zu vage Angabe. Irgendeine urtümliche Welt mit ebenso urtümlichen Tieren wäre genau nach Ras Geschmack gewesen. Er könnte, überlegte er sich, ein paar erlegen und ihre Felle, Zähne oder Hörner Ischtar als Trophäen zu Füßen legen; immerhin liebte sie große Tiere. Der Barbar war ein Wesen, das nicht sehr lange depressiv sein konnte – und hinsichtlich Ischtar war er ohnehin ein unheilbarer Optimist. Immerhin hatte sie ihn einmal geliebt … bis dieser Atlan in ihr Leben getreten war. In Gedanken malte sich Ra bereits aus, wie er Atlan mit seiner Trophäensammlung ausstechen würde, und ignorierte darüber das Schrillen des Hyperfunkempfängers. Vielleicht fand sich auch eine Welt, auf der er sich niederlassen konnte – zusammen mit Ischtar natürlich. Während sich das Beiboot immer weiter von dem Mutterschiff entfernte, gab sich Ra
verführerischen Träumen hin. Sollte das Hyperfunkgerät doch schrillen; auf Vorwürfe der Goldenen Göttin konnte er jetzt verzichten. Kurz entschlossen ging Ra daran, seine Vorstellungen der Wirklichkeit ein bisschen näher zu bringen. Mithilfe der Positronik suchte er sich in der näheren Umgebung eine Sonne aus, die den Eindruck machte, als weise sie geeignete Planeten auf. Ra programmierte den Kurs und überließ dann den Automaten die Steuerung des Kleinoktaeders, das er in Gedanken ISCHTAR getauft hatte. Es dauerte nicht lange, bis das Varganenschiff die Sonne erreicht hatte. Der Barbar stellte zufrieden fest, dass das Gestirn fünf Begleiter aufwies. Fröhlich pfeifend machte er sich daran, die Planeten auf ihre Tauglichkeit für seine Zwecke zu untersuchen.
An Bord der ISCHTAR: 16. Prago des Tartor 10.498 da Ark Nach seinem zweitägigen Jagdausflug war Ra weitergeflogen, ohne ein direktes Ziel zu haben. Wiederholt hatte er aus der Distanz Kampfhandlungen zwischen Arkoniden und Maahks angemessen. Seit dem Überfall auf den Flottenstützpunkt Trantagossa am 2. Prago der Prikur 10.498 da Ark, als dort 17.000 Großkampfschiffe der Wasserstoffatmer materialisierten, versuchten die Arkoniden alles, um das Fiasko auszugleichen. Selbst kleine Scharmützel wurden mit erbitterter Härte geführt. Ras Standort war derzeit nur knapp 1650 Lichtjahre von Trantagossa entfernt; von Skrantasquor dagegen fast 5000 Lichtjahre. Gleich nach der Rückkehr ins Standarduniversum hatte der Funkpeiler des Oktaeders angeschlagen. Ra spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er die Zeichen auf der schmalen Karte studierte. Die Funküberwachung hatte den permanent wiederholten Spruch auf einem Plastikstreifen ausgedruckt; der Sender war nur wenige Lichtjahre entfernt.
»Er funkt nicht auf der normalen Notrufwelle«, stellte Ra sachkundig fest. »Auf Hilfe von staatlichen Organisationen des Arkonimperiums legt er mithin keinen Wert.« Er wusste nicht, wer den merkwürdigen Hilferuf abgesetzt hatte, aber er war sich ziemlich sicher, dass dieser Jemand gute Gründe hatte, nicht von Flotteneinheiten aufgestöbert zu werden. Solche Leute konnten vielleicht nützlich sein; Gegner Orbanaschols waren auf Kraumon immer willkommen, vorausgesetzt, sie handelten aus Gewissensgründen gesetzwidrig. An kriminellen Gestalten lag Atlan wenig. »Egal«, sagte Ra. »Ob kriminell oder Widerständler – ich werde mir den Burschen einmal ansehen. Vielleicht gibt es ein Abenteuer.« Dank der hervorragenden Technik der Varganen dauerte es nicht lange, bis Ra sein Schiff auf das neue Ziel ausgerichtet hatte. Wenig später hatte das Kyri-Überlichttriebwerk die geringe Distanz überbrückt und ließ das Oktaeder im Standarduniversum materialisieren. Die blassgelbe Sonne war ein unscheinbarer Stern, der nur von Asteroiden umkreist wurde. An einer Stelle gab es eine inzwischen extrem verdünnte Gas- und Staubwolke, deren Expansionsrate auf eine Detonation eines mehrere Kilometer großen Brockens vor rund zwei Votanii schließen ließ. Es dauerte keine Zentitonta, bis der varganische Funkpeiler den genauen Standort des Hypersenders angemessen hatte – hyperschnelle Ortung und Tastung lieferten dann die Werte eines sechzig Meter durchmessenden Ultraleichtkreuzers, der im Schutz mehrerer Asteroiden antriebslos im All schwebte. Eine Kurzetappe durch den Hyperraum überbrückte die Distanz; vom Antiortungsfeld eingehüllt und auch rein optisch getarnt, steuerte Ra die ISCHTAR näher heran. Weitere Auswertungen der Masse- und Energietastung liefen ein. Mit großer Wahrscheinlichkeit war der Raumer zu keiner
Transition fähig. Auch ohne positronische Situationsanalyse konnte sich Ra ein Bild machen: Irgendwann Anfang Prikur musste ein Asteroid – vermutlich samt dem dortigen Stützpunkt – vernichtet worden sein, aus dem nur der kleine überlichtuntaugliche Kugelraumer entkommen war und seither auf Hilfe wartete. Nur wenige Kilometer vom Ultraleichtkreuzer entfernt schaltete Ra die optische Tarnung aus und aktivierte das Hyperfunkgerät mit geringer Sendeleistung.
»Bitte melden«, tönte es aus dem Lautsprecher des Hyperfunkempfängers, kaum dass die optische Außenerfassung Alarm ausgelöst hatte, während Ortungsund Tastungsgeräte keine brauchbaren Ergebnisse meldeten. Niemals zuvor hatte Bel Etir Baj ein solches Schiff gesehen. Die fremde Einheit – geformt aus acht gleichseitigen Dreiecken mit einer Kantenlänge von 33 Metern – konnte nicht mehr sein konnte als ein Beiboot. In den Unterlagen seines Volkes und in seinem glänzenden Gedächtnis war nicht ein einziges raumfahrendes Volk enthalten, das solche Konstruktionen baute. Der Pilot des Doppelpyramidenschiffs sprach ein einwandfreies Satron, ein Umstand, der Etir Bajs besonderes Misstrauen weckte. Die Erbauer mussten schon ziemlich intensiven Kontakt mit Arkoniden gehabt haben, ohne dass Etir Baj je etwas davon gehört hatte. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass je auf Krassig von solchen Konstruktionen gesprochen worden wäre, und die Verbrecher hatten über einen bemerkenswert gut informierten Nachrichtendienst verfügt. »Sie haben um Hilfe gerufen«, sagte der Fremde, der sich weiterhin auf die rein akustische Kommunikation beschränkte.
»Was kann ich für Sie tun?« »Ich«, murmelte Etir Baj. »Also nur einer.« Um eine Neukonstruktion der Maahks konnte es sich nicht handeln, dafür verriet die Stimme des Sprechers zu viel Emotion. Etir Baj griff nach dem Mikrofon. »Vielen Dank, dass Sie meinen Hilferuf beantwortet haben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich an Bord Ihres Schiffes ließen; meins kann keine Transition mehr durchführen. Was ist das übrigens für eine Konstruktion? Ich habe dergleichen nie zuvor gesehen.« »Das glaube ich gern«, antwortete sein Gesprächspartner, der Stimme nach zu urteilen, ein Mann. »Schiffsbauten dieser Art sind selten in der Öden Insel. Wohin soll ich Sie bringen? Nach Arkon?« »Nur das nicht«, entfuhr es Etir Baj; er knirschte hörbar mit den Zähnen, als er begriff, dass er sich eine Blöße gegeben hatte. »Sieh an«, bekam er zu hören. »Ein Gesinnungsgenosse.« Etir Baj zog die Brauen in die Höhe; er begann sich Gedanken über seinen merkwürdigen Retter zu machen. »Gesinnungsgenosse? Was für eine Gesinnung haben Sie denn? Wer sind Sie überhaupt?« »Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Aber falls es Sie interessiert – ich bin ein persönlicher Freund des künftigen Imperators von Arkon.« Etir Baj begann zu grinsen. Offenbar hatte er es mit einem größenwahnsinnigen Narren zu tun. Damit war auch die bizarre Form des Schiffes erklärt – reiche Arkoniden ließen sich häufig absonderliche Schiffe bauen. »Und wie wird er heißen, der neue Imperator?«, fragte Etir Baj beiläufig. »Gonozal der Achte«, lautete die Antwort. Etir Baj fuhr ruckartig in die Höhe; er ließ das Mikrofon los, sodass der andere das Stöhnen nicht hören konnte, das über
seine Lippen kam. Etir Bajs Gesicht war verzerrt, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Wer auch immer der Pilot des Oktaederschiffes war, er hatte sich mit diesen Worten das Todesurteil gesprochen.
»Ich öffne die Schleuse«, verkündete Ra. Eine Ausschnittsvergrößerung der Panoramagalerie zeigte, wie sich eine Öffnung in der Außenwandung der Kugel bildete, die in geringem Abstand neben Ras Schiff im Raum schwebte. Dann löste sich eine Gestalt aus dem erhellten Bereich der Schleuse und schwebte langsam zu Ra herüber. »Ich habe Ihre Schleuse erreicht«, verkündete der Mann im Raumanzug. Ra nahm die wenigen Schaltungen vor, die die beiden Schotten zufahren ließen und den Raum der Kammer wieder mit Atemluft füllten. »Ich habe eine Bitte«, sagte der Gerettete. Den Geräuschen nach zu schließen, war er bereits damit beschäftigt, den Raumanzug wieder abzulegen. »Nehmen Sie Fahrt auf und vernichten Sie mein Schiff. Es darf nicht gefunden werden.« »Wird gemacht«, versprach Ra. Der Wunsch ließ sich leicht erfüllen; nach wenigen Salven war von dem Kugelraumer nicht mehr übrig als eine rasch expandierende Wolke aus glühendem Gas. »Folgen Sie der Lichtmarke; sie weist den Weg zur Zentrale.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Bel Etir Baj freundlich, als er die Zentrale des Varganenschiffs betrat. Er hatte die Hand ausgestreckt, Ra drehte sich schnell zu ihm herum. Auf beiden Gesichtern spiegelte sich die Überraschung. Ra konnte sich nicht erinnern, jemals von dunkelhaarigen Arkoniden mit blauen Augen gehört zu haben. Zudem bewiesen die Narben am Kopf – unverkennbar Nachwirkungen rücksichtslos
geführter Psychoverhöre –, dass der Mann seinen Feinden schon einmal in die Hände gefallen war. Ra hatte gehofft, einen wertvollen Verbündeten gefunden zu haben; jetzt war er sichtlich enttäuscht. Etir Baj war nicht minder verblüfft; auch er hatte damit gerechnet, einen typischen Arkoniden vorzufinden, nach Möglichkeit einen steinreichen, leicht verkalkten älteren Herrn, den zu übertölpeln für ihn ein Kinderspiel sein würde. Jetzt sah Etir Baj einen stämmigen Mann mit kräftig ausgebildeter Muskulatur vor sich, geistig hellwach und obendrein mit zwei Kombistrahlern arkonidischer Standardproduktion am Gürtel versehen. Von was für einem urtümlichen Planeten der Mann stammen mochte, interessierte Etir Baj nicht; er erkannte nur, dass er extrem aufpassen musste, wollte er ihn überwältigen. »Ich hatte Sie mir etwas anders vorgestellt«, sagte Ra mit der für ihn typischen Offenheit. »Sie sehen etwas befremdlich aus für einen Arkoniden.« Etir Baj schüttelte die Hand, die ihm der Barbar entgegenstreckte, und grinste. Es war dieses Lächeln, das Ras Misstrauen zusammenbrechen ließ. »Alles nur Maske. Ich hatte einen Einsatz auf Zaoviat durchzuführen. Kennen Sie diese Welt?« »Nie davon gehört.« Ra nannte seinen Namen, setzte sich auf den Platz des Piloten und drehte den schweren Sessel so, dass er Etir Baj ins Gesicht sehen konnte. »Mit ein paar Chemikalien und Biomanipulationen sehe ich nach kurzer Zeit wieder ganz normal aus.« Ra deutete auf die Narben an Etir Bajs Kopf. »Echt?« »Auch gefälscht«, gab Etir Baj zurück. »Wohin fliegen wir eigentlich?« Ra zuckte mit den Schultern. »Irgendwohin. Ich habe nur zugesehen, dass wir schnellstens von dem explodierten Schiff
wegkamen. Haben Sie ein bestimmtes Ziel?« »Einstweilen nicht«, log Etir Baj. »Ich möchte mich zunächst gern ausruhen, etwas essen und ein Bad nehmen.« »Kommen Sie mit.« Ra zeigte Etir Baj die Räumlichkeiten.
Etir Baj hatte die Stiefel ausgezogen und bewegte sich nahezu geräuschlos. Fünf Tontas waren vergangen, seit Ra ihn an Bord genommen hatte. Nach dem Essen hatte sich Etir Baj niedergelegt und so naturgetreu geschnarcht, dass Ra darauf hereingefallen war. Der Mann grinste leicht, als er die Zentrale erreichte und dort Ra vorfand. Der Barbar hatte es sich im Pilotensessel bequem gemacht und schlief, ein Zeichen dafür, dass er Etir Baj traute. Trotz der hervorragenden Reflexe des Barbaren brauchte Ra zu viel Zeit, um zu begreifen, was geschehen war. Zwar hatte er die ruckartige Bewegung gespürt, aber ehe er reagieren konnte, hatte Etir Baj ihm bereits die beiden TZU-4 aus den Halftern gezogen und hielt sie ihm jetzt entgegen. »Was soll das, Mann?«, fragte Ra unwillig. »Bist du verrückt geworden?« »Keineswegs«, wehrte Etir Baj ab. »Setz dich wieder.« Ra bleckte die Zähne und ließ sich wieder zurücksinken. Er begriff, dass er in einer Falle saß, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum ihm sein Gegenüber die Errettung so schnöde vergalt. »Und jetzt?« Er schlug die Beine übereinander und grinste Etir Baj an. »Kannst du mit diesem Schiff umgehen?« »Ich nicht. Aber du, und du wirst jetzt den Kurs programmieren, den ich dir sage.« »Fällt mir überhaupt nicht ein«, begehrte Ra auf. Knapp eine Handbreit neben ihm schlug der nadelfeine Thermostrahl in den Pilotensessel ein. Ra sprang hastig auf, während Etir Baj mit dem Lauf der Waffe seiner Bewegung
folgte. Ra verstand: Etir Baj würde sofort schießen, wenn er sich seinen Wünschen widersetzte. Was Ra besonders irritierte, war der unverhohlene Hass, der nun aus Etir Bajs Zügen sprach. Ein Hass, von dem Ra nicht wusste, was ihm zugrunde lag, der aber bereits alt sein musste und sich dementsprechend gestaut hatte. Ra spürte, dass Etir Baj völlig ruhig und beherrscht war; dieser Hass wurde nicht vom Feuer der Wut genährt, sondern brannte mit steter, kalter Flamme. Entsprechend schwierig war er zu löschen. Ra bedachte seinen Gegner mit ein paar gemurmelten Schimpfworten, die er allerdings vorsichtshalber einer Sprache entnahm, die Etir Baj nicht verstand. Dass der Tonfall den Inhalt seiner Rede unüberhörbar machte, entging ihm dabei. Etir Baj ließ sich davon nicht beirren. Ruhig und gelassen erteilte er seine Befehle, und Ra musste ergrimmt feststellen, dass der Mann ihn keinen Augenblick lang aus den Augen ließ. Etir Baj war extrem vorsichtig, und es würde extrem schwer werden, wieder das Heft in die Hand zu bekommen. »Wohin soll die Reise gehen?«, fragte Ra sarkastisch. »Oder muss das geheim bleiben?« Etir Baj würdigte ihn keiner Antwort. Der Mann stand hinter ihm und hatte die Mündung seiner Waffe auf Ras Nacken gerichtet. Ra konnte in einem spiegelnden Stück Metall sehen, dass Etir Baj lächelte. Es war jenes freundliche, unverbindliche Lächeln, mit dem Etir Baj die Besatzung von Krassig jahrelang gefoppt hatte. Er hatte wieder jene durch nichts zu erschütternde Ruhe wiedergefunden, mit der er seine Feinde zu täuschen und einzulullen pflegte. Ra seufzte und programmierte den befohlenen Kurs; das Ziel war 7786 Lichtjahre entfernt. Den Versuch, Etir Baj zu täuschen, unternahm er gar nicht erst. Die schweigende Drohung genügte völlig, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Etir Baj kannte die psychologische Wirkung dieses Schweigens,
nutzte sie kaltblütig für seine Zwecke aus. Ra musste unwillkürlich an Magantilliken denken, den Henker der Varganen, der ebenfalls ein unerschütterliches Selbstvertrauen zur Schau getragen hatte. Auch der Vargane hatte nicht viel gesprochen, und in den Zeiten, in denen er hartnäckig schwieg, war er Ra besonders gefährlich erschienen. »Verfluchte Varganentechnik!« Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte in einem anderen Schiff gesessen. Ihm war klar, dass sich am Ziel dieser Reise ein Stützpunkt befand, wo Etir Baj Hilfe und Unterstützung erwarten konnte, wahrscheinlich auch Freunde, und je mehr Personen sich mit Ras Bewachung beschäftigten, desto geringer wurden die Aussichten des Barbaren, seiner Gefangenschaft ein Ende zu setzen. Etir Baj ging auf Ras Knurren nicht ein, obwohl Ra gehofft hatte, dass ihn das Stichwort Varganen zu Fragen reizen würde. Auch als er sich umdrehte und Etir Baj die Zunge herausstreckte, zeigte der Mann keinerlei Reaktion. Mit leicht gespreizten Beinen stand er fest und sicher auf dem stählernen Boden der Zentrale und hielt lächelnd die Waffen auf Ra gerichtet. »Der Gott des lautlosen Todes«, spottete Ra. »Oder vielleicht besser der lautlose Gott?« Eben einmal drei Zentitontas vergingen, bis die ISCHTAR fünfzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreichte und vom Kyri-Triebwerk ins übergeordnete Kontinuum gerissen wurde. Im Gegensatz zur arkonidischen Transitions-Technologie beruhte die überlichtschnelle Fortbewegung der Varganen auf einem kontinuierlichen Flug im Inneren einer Blase, die durchaus im Sinne eines eigenständigen Miniaturuniversums zu sehen war. Während bei hohen Überlichtfaktoren von mehr als 30 Millionen das umgebende »Medium« der Hyperraum war, wurde im Bereich darunter jenes verwendet, das die Varganen als »Halbraum« umschrieben – eine Art
Zwischenzone zwischen Standarduniversum und Hyperraum. Sämtliche von der Transition her bekannten Nebeneffekte – Strukturschock, Entzerrungsschmerzen, Nullzeitversetzung ans Ziel – blieben beim Direktflug aus. Über die Panoramagalerie zogen rötlich graue Schlieren und Schwaden, während die ISCHTAR mit dem von Ra gewählten geringen Überlichtfaktor von nur zehn Millionen dem Ziel entgegenraste und es in knapp fünf Tontas erreichen würde. Ras Hoffnung, Etir Baj mit der Varganentechnik beeindrucken zu können, erfüllte sich leider nicht. Mit keiner Miene zeigte er eine Reaktion. Ra trommelte mit den Fingern auf der Lehne des Sessels. Er selbst war nicht sehr geschwätzig, aber dieses Schweigen zerrte sogar ihm stark an den Nerven. Das einzige Zeichen, das bewies, dass Etir Baj überhaupt noch lebte, war das zarte Zittern der Strahler. Ra sah schärfer hin und zählte mit. Er überschlug kurz, dass die Zahl dieser winzigen Bewegungen identisch mit dem Puls des Bewaffneten sein musste. Wenn Etir Baj tatsächlich mit Arkoniden biologisch verwandt war, schien ihn die Situation überhaupt nicht aufzuregen, denn sein Herz schlug so langsam und gleichmäßig, als ginge ihn die Sache nichts an. Endlich kam Bewegung in die Gestalt Etir Bajs. Er trat ein paar Schritte zurück. »Bemerkenswerte Technik«, sagte er kühl. »Wer oder was sind die Varganen?« Diesmal war es an Ra, keine Antwort zu geben. Gegen die auf ihn gerichteten Waffen hatte er zwar kein Mittel, aber wer auch immer am Ziel der Reise auf sie wartete – an der ISCHTAR würde er keinen Gefallen finden. Nach der Sabotage des Keruhm hatte Ischtar nicht nur die MONDSCHATTEN so programmiert, dass bei außerplanmäßigen Aktionen automatisch Vollalarm ausgelöst wurde, sondern auch die Beiboote waren gesichert, wie Ra in den vergangenen Tagen herausgefunden hatte. Er selbst hatte
bis zu einem gewissen Grad Zugriff, doch jeder Fremde würde ohne ihn nicht einmal eine Schleuse öffnen können. »Nur zur Information, mein Freund«, sagte er beiläufig. »Sobald ich das Schiff verlassen habe, wird es sich verriegeln und bei Bedarf in einen Schutzschirm hüllen, dessen Leistung dem eines arkonidischen Schlachtschiffs nicht nachsteht. Die Varganen wissen ihre Geheimnisse zu hüten. Auch ich bin an Bord nur geduldet. Hätte ich Zugriff auf alle Funktionen, wärst du bereits betäubt und entwaffnet. Wie du bemerkt haben wirst, kommt es zu keiner Transition; wir werden das Ziel in knapp fünf Tontas erreicht haben. Entspann dich.«
Schließlich war das vorprogrammierte Reiseziel erreicht – das System einer orangefarbenen Standardsonne mit insgesamt acht Planeten. Nummer zwei von innen gezählt war das eigentliche Ziel. Auf den Bildschirmen der Fernortung erkannte Ra einen durchaus gewöhnlichen Sauerstoffplaneten, mehrere Kontinente, ausgedehnte Meere – eine Welt, wie sie in der Galaxis hunderttausendfach vorkamen und von ihren Bewohnern oft für einzigartig gehalten wurden. Ra hatte gehofft, jetzt etwas mehr über Etir Baj zu erfahren, aber er wurde wieder enttäuscht. Der Mann verwendete ein akzentfreies Satron, als er Ra den Normalfunk aktivieren ließ, die Frequenz nannte und in das Mikrofon sagte: »Keine unnötige Aufregung, Freunde. Hier spricht Bel Etir Baj. Kodewort El Mafus. Ich werde mit einem erbeuteten Fremdschiff landen. Es sieht etwas merkwürdig aus, aber es besteht keine Gefahr.« »Wenn du nicht ganz behutsam landest, Bel Etir Baj«, lautete die Antwort, »werden wir dich abschießen. Du bist bei uns längst als tot gemeldet.« Etir Baj grinste kurz das Mikrofon an; sobald er sich wieder
Ra zuwandte, verhärteten sich seine Züge. Der Wink mit der Waffe war klar und unmissverständlich; Ra seufzte leise und steuerte das varganische Beiboot im Direktflug langsam auf den Planeten hinab. »Ischtar wird mich vierteilen, wenn sie erfährt, dass ich ihr Beiboot verloren habe«, murmelte er düster. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, in der letzten Zentitonta das Oktaeder so schnell sinken zu lassen, dass die Bewohner des Planeten sofort schießen würden. Er war sich über die Konsequenzen seiner Lage im Klaren – die varganische Technik war allem überlegen, was Ra bisher kennengelernt hatte. Vermutlich konnten nicht einmal bodengestützte Waffen der ISCHTAR etwas anhaben, zumindest nicht jene, deren Aktivierung angemessen worden war. Die technologische Delikatesse, die das Beiboot zweifelsohne darstellte, würde aufgrund Ischtars Absicherung nicht in die Hände Etir Bajs und seiner Freunde fallen. Unabhängig davon kam Ra zu dem Ergebnis, dass der Wert seiner Person zweifellos höher einzuschätzen war als der des Oktaeders. Lieber Zeit gewinnen als sofort erschossen. »Langsamer!« Das Lächeln Bel Etir Bajs wurde etwas breiter. Ra ahnte, dass Etir Baj, der zweifellos psychologisch hervorragend geschult war, aus den wenigen Bewegungen und Veränderungen im Mienenspiel ziemlich genau hatte ablesen können, welche Gedanken Ra durch den Kopf geschossen waren. Ra ließ das Beiboot ein wenig tiefer sinken. Deutlich war die Landschaft zu erkennen. Ra sah eine gewaltige Gebirgskette, mehrere tausend Kilometer lang. Aus dem Gewirr kleinerer und größerer Flüsse bildeten sich zwei gigantische Ströme, die nach Südosten flossen, sich zu einem gewaltigen Binnenmeer verbreiterten, das schließlich in einen Ozean abfloss. Als Ra die glitzernde Wasserfläche sah, wünschte er sich impulsiv,
jetzt dort sein zu können, am Strand liegen zu dürfen, zu fischen, zu jagen … »Mehr nach rechts!«, kommandierte Etir Baj und riss Ra aus den Tagträumen. Das Ziel der Reise kam langsam in Sicht, als Ra die Geschwindigkeit weiter verringerte und der Abstand zur Oberfläche des Planeten auf wenige Kilometer zusammenschmolz. Nach Etir Bajs Kommandos steuerte Ra ein weit geschwungenes Tal an, das aus dieser geringen Höhe deutliche Spuren von Bearbeitung aufwies. Allerdings hatte Ra etliche Mühe, bis er den Sinn der Bilder erkannte, die ihm die Ortung lieferte. Zu seinem Erstaunen waren die Drähte und Pfosten der Pferche, in denen Vieh weidete, so geschickt bemalt worden, dass sie mit bloßem Auge nicht vom natürlichen Hintergrund zu unterscheiden waren. Auch die Anordnung der einzelnen Koppeln war so bizarr und verworren, dass der Eingriff denkender Wesen kaum zu erkennen war. Ra begriff, dass sich die Bewohner dieses für ihn noch namenlosen Planeten alle erdenkliche Mühe gaben, die Tatsache, dass diese Welt bewohnt war, vor jedem zufälligen Besucher zu verbergen. In dieses Bild passte, dass die Energieortung erst in geringer Distanz angesprochen hatte. Insgesamt waren die Streuemissionen, vor allem jene des Hyperspektrums, extrem gering. Sofern nicht ohnehin auf unnötigen Technikeinsatz verzichtet wurde, musste es hervorragende Antiortungseinrichtungen geben. Eine Felswand versperrte dem Boot den Weg; Ra zog das Oktaeder in die Höhe und überflog das Hindernis. Dahinter öffnete sich ein Talkessel. An den von der Erosion zernagten Resten eines Ringwalls erkannte Ra, dass dieses annähernd ovale Loch im Gebirge vom Einschlag eines Meteoriten stammen musste. Wahrscheinlich hatte es sich um einen Brocken gehandelt, der von irgendeinem zerplatzten Planeten
stammte, der vielleicht Jahrmillionen durch das All getrieben war, bis er hier zur Ruhe gekommen war. Auch das Innere des mehrere Kilometer großen Kessels wies Zeichen von Bearbeitung auf, bestellte Felder und Äcker, dazwischen wieder Nutztiere, so zwischen die einzelnen Felder verteilt, dass der Eindruck einer geordneten Acker- und Viehwirtschaft wieder verwischt wurde. Ra fühlte sich zusehends unbehaglicher. Der eisig kalte, schweigende Mann, die fast gespenstisch anmutende Besorgtheit der Planetenbewohner vor Entdeckung – Ra spürte, dass man ihm nicht erlauben würde, dieses Geheimnis weiterzutragen. Und wie das sicherste Mittel aussah, einen Verrat zu verhindern, wusste er nur zu gut. Behutsam landete Ra die ISCHTAR auf einem freien Flecken inmitten des Kessels. Nachdem die Hüllensegmente ausgeklappt waren, erloschen die unsichtbaren Antigrav- und Kraftfeldpolster. Mit einem Schalterdruck aktivierte Ra den hervorragenden Ortungsschutz, der auch die optische Tarnung beinhaltete. Aus größerer Distanz wirkte das Schiff nun wie ein nebelverhangener Berg. »Niemand kann das Schiff anmessen oder entdecken. Zufrieden?«, erkundigte er sich Bel Etir Baj, doch der antwortete nicht. Er schien Ra völlig vergessen zu haben und starrte auf das Bild der Landschaft. Langsam schien sein Blick jeden Fels abzutasten, jede Einzelheit in sich aufsaugen zu wollen. Ra spürte, dass er jetzt eine reelle Chance hatte, Etir Baj anzugreifen. Ra überließ Etir Baj seinen Gedanken und studierte ebenfalls die Landschaft ringsum. Schmale Pforten öffneten sich in den Felswänden, auch sie hervorragend getarnt. Dunkelhaarige Arkoniden erschienen in den Öffnungen und kamen langsam näher. Sie waren unbewaffnet, von zwei oder drei Männern abgesehen, aber Ra hatte das sichere Gefühl, dass hinter den
täuschend echten Felsen auch ein paar großkalibrige Geschütze steckten. Interessiert stellte Ra fest, dass die meisten Etir Baj in der Tat verblüffend ähnlich sahen – fast alle hatten langes, dunkles Haar; von roten Augen, wie sie für Arkoniden typisch waren, konnte Ra nichts sehen. Die Haarfarben schwankten zwischen Schwarz – diese Farbe überwog – und Dunkelblond; das charakteristische Weiß der Arkoniden gab es gar nicht. »Öffne die Schleuse!«, befahl Etir Baj, der sich allmählich aus seiner Erstarrung löste. Ra wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Nach wenigen Zentitontas standen zwei weitere Männer in der Zentrale, die Etir Baj recht ähnlich sahen. Verblüfft stellte Ra fest, dass die Bewaffnung der beiden reichlich altmodisch, um nicht zu sagen primitiv war. Beide Männer trugen weit geschnittene Hosen, darüber eine einfarbige Bluse, ebenfalls weit und locker geschnitten. In dem breiten Gürtel aus Rohleder steckten ein langer Dolch mit breiter Klinge, ein unterarmlanges Schwert und verschiedene Kleinigkeiten, deren Sinn und Bedeutung Ra nicht erfassen konnte. Ein Köcher mit Pfeilen und ein Reflexbogen, den Ra mit Kennerblick als vorzüglich einstufte, vervollständigten die Ausrüstung. Für eine Zentitonta herrschte ein beklemmendes Schweigen, dann trat der ältere der beiden Fremden einen Schritt vor und schloss Etir Baj in die Arme. »Willkommen in Magintor.« Er drehte sich zu Ra um und musterte den Barbaren eindringlich; Ra verschränkte die Arme vor der Brust und spannte die Muskulatur ein wenig an – auf diese Weise kam sein Körperbau besser zur Geltung. Er hielt dem Blick des Mannes ohne Mühe stand, bis sich der Fremde wieder Etir Baj zuwandte. »Dein Freund?«, fragte er knapp und nickte anerkennend. »Du hast eine gute Wahl getroffen, Etir Baj.«
»Dieser Mann nennt sich Ra«, sagte Etir Baj. »Er behauptet, der Freund eines Mannes mit Namen Atlan zu sein, der aus dem Khasurn der Gonozals stammt und überdies als Gonozal der Achte künftig über das Tai Ark’Tussan herrschen werde.« Ra sprang gerade noch rechtzeitig zurück, um dem Schwerthieb zu entgehen, den der jüngere der beiden Männer blitzschnell nach ihm führte. Bevor der junge Mann noch einmal ausholen konnte und Ra, der wegen des Pultes hinter sich nicht mehr ausweichen konnte, den Schädel spaltete, fiel ihm Etir Baj in den Arm. »Das ist ein Fall für den Con-TrehThan.« Rat der Con-Treh. Ra zuckte zusammen. Das Wort Con-Treh hatte er schon einmal gehört. Der geflügelte Ausdruck von der Con-Treh-Schlappe war durchaus verbreitet, doch er hatte nicht die leiseste Ahnung, auf was sich der Ausdruck eigentlich bezog. Es musste mit Ereignissen zusammenhängen, die vor langer Zeit geschehen waren – was zu der Geheimnistuerei und der altmodisch wirkenden Ausrüstung und Kleidung passte. Der jüngere Mann schien seinen Hass nur mit Mühe zügeln zu können; mit einem wütenden Knurren steckte er das Schwert zurück in den Gürtel. »Komm mit, Gonozal-Freund«, fauchte er. »Wenn du zu fliehen versuchst, soll es mir recht sein. Ich werde dir mit Vergnügen den Kopf einschlagen.« Ra grinste den Mann unverschämt an. »Vielleicht lasse ich es auf einen Versuch ankommen.« Als der Mann ihn am Arm packte, um ihn vor sich herzustoßen, griff Ra zu. Der Bewaffnete konnte gerade noch einen Ruf der Überraschung ausstoßen, dann beendete er auf einem Instrumentenpult seinen Flug durch die Luft, den er einem geschickt angesetzten Hebelgriff von Ra verdankte. Etir Baj grinste breit, während der Ältere drohend sein Schwert zückte. Ra stand ruhig in der Zentrale. Er hatte dem jungen
Mann eine Lektion erteilt, das genügte ihm. »Sieh dich vor, Thabek«, sagte Etir Baj. »Der Mann ist gerissen und geschickt, du hast es gerade gemerkt.« Thabek kämpfte seinen Rachedurst nieder und brachte aus dem Gürtel ein paar dünne, lederne Riemen zum Vorschein, mit denen er einem gleichmütig dreinblickenden Ra die Hände fesselte. Wenn er darauf spekuliert hatte, Ra einen Schmerzenslaut zu entlocken, indem er die Riemen grausam eng zusammenzog, so sah er sich getäuscht. Ra grinste ihn nur an, obwohl er sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut fühlte. Er war sich sicher, dass der Schmerz in den Handgelenken nur Vorbote von dem war, was ihm noch bevorstand.
Ra hockte auf der schmalen Holzpritsche; er hatte die Beine an den Oberkörper gezogen, hielt die Knie mit den Armen umfangen und sang leise vor sich hin. Durch das dicke Holz der Zellentür hörte er die leisen Schritte des Wachtpostens. Ra hatte inzwischen herausbekommen, dass sich die Bewohner dieser Welt Con-Treh nannten. Der Ort, an dem er sich befand, hieß Magintor; hier lebten etwa fünftausend Con-Treh. Die ganze Stadt war im Fels verborgen, teils in den Felswänden versteckt, in Höhlen und Gängen, teils in einer gewaltigen Anlage unter der grünen Oberfläche des Talkessels. Über die Con-Treh hatte Ra nicht sehr viel in Erfahrung bringen können. Es hatte sich herumgesprochen, dass er ein Freund der Gonozals sei, und dies schien unter den Con-Treh ein todeswürdiges Verbrechen zu sein. »Es ist so schön, Barbar zu sein«, summte Ra leise. Text und Melodie dieses bemerkenswerten musikalischen Kunstwerks hatte er vor wenigen Tontas erfunden; der nervtötende Gesang mit dem schwachsinnigen Text hatte den Posten schließlich zermürbt.
»He, Wächter!«, brüllte Ra. »Was werdet ihr mit mir machen?« »Töten«, lautete die knappe Auskunft. »Und warum?« Ra erhielt keine Antwort. Der Posten war offenbar nicht bereit, über diesen Punkt zu sprechen. Für Ra war es ein Rätsel, warum die Con-Treh ihren grenzenlosen Hass auf die Gonozals geworfen hatten. Ra war kein Experte in arkonidischer Geschichte, aber wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, hatte der Khasurn der Gonozals in der vieltausendjährigen Geschichte Arkons etliche Admiräle, Flottenkommandeure und Imperatoren gestellt. In dieser Reihe fand sich der übliche Anteil von Säufern, Prassern, Wüstlingen, Schwachköpfen und Perversen, der in allen Herrscherhäusern aller Zeiten und Planeten üblich war, wenn uneingeschränkte Macht nicht nach Verdienst und Können, sondern nach Geburt weitergegeben wurde. Die anderen berühmten Dynastien Arkons hatten sich durch den gleichen Anteil von Genialität und Imperatorenwahnsinn ausgezeichnet. Abgesehen von dem Spruch der Con-TrehSchlappe hatte Ra noch nie ein Wort über die Con-Treh gehört, und er war sich sicher, dass dieses Volk, das unzweifelhaft mit den Arkoniden verwandt war, auch für Atlan eine Überraschung gewesen wäre. Irgendetwas musste in der Vergangenheit passiert sein, bei dem die Con-Treh eine Rolle gespielt hatten, etwas, das sie einerseits als Verfolgte in den Untergrund gezwungen hatte und andererseits als besondere »Niederlage« empfunden wurde. Und der Hass auf die Gonozals bedeutete zweifellos, dass sie ebenfalls damit zu tun hatten. Draußen vor der Tür waren Schritte zu hören. Zwei weitere Wachen erschienen, dann drehte sich kreischend der Schlüssel im Schloss. Ächzend schwang die hölzerne Tür zur Seite. »Mitkommen!«, befahl eine der beiden Wachen. Auch diese
beiden Männer waren nur mit Hieb- oder Stichwaffen ausgerüstet. Von Strahl- oder Projektilwaffen schienen sie noch nie etwas gehört zu haben. Wieder wurden Ra die Hände gefesselt, wieder mit ledernen Riemen, allerdings wurden die Fesseln diesmal nicht so schmerzhaft stramm angezogen. Folgsam trottete Ra vor den Wachen her, deren Hände an den Griffen der Schwerter lagen. Um die Blicke, die Ra von allen Seiten zugeworfen wurden, kümmerte sich der Barbar nicht; ihm wurde allerdings klar, dass der Gonozal-Hass der Con-Treh keine Allüre der herrschenden Kreise war, sondern offenbar seit sehr langer Zeit tief im Volk verwurzelt war, und dies ohne massive Propaganda und Massenbeeinflussung. Auf seinem Weg durch ein Labyrinth von Gängen und Räumen machte Ra einige überraschende Entdeckungen. Die dreiköpfige Gruppe marschierte an einem Tor vorbei, das genau in dem Augenblick kurz geöffnet wurde, als die Gruppe auf gleicher Höhe war. Ra warf einen raschen Blick zur Seite und erkannte in dem großen Raum die unverkennbare Silhouette eines großen Energiegeschützes. Einige Details verrieten Ra, dass diese Geschütze allerdings schon sehr alt sein mussten. Die Con-Treh hinkten technologisch um einige Jahrhunderte oder gar Jahrtausende dem arkonidischen Standard hinterher. Ra grinste, als er sich vorstellte, dass ein Mann mit einem Schwert im Gürtel und einem Reflexbogen über der Schulter ein Energiegeschütz bediente. Magintor war eine Stadt mit vielen Widersprüchen, in der eine primitive Lebensführung neben einer hoch entwickelten Technik bestehen konnte. Man verfügte in Magintor sogar über raumtüchtige Schiffe, immerhin hatte Bel Etir Baj den Planeten irgendwann verlassen. Während Ra diesen Gedanken nachhing, vergaß er nicht, sich den Weg, den er geführt wurde, genau einzuprägen. Noch hatte Ra die Hoffnung nicht aufgegeben,
dass es ihm vielleicht gelingen konnte, sich zu befreien. Unter den dunkelhaarigen Con-Treh würde er bei Weitem nicht so stark auffallen wie unter den weißhaarigen Arkoniden. Fünftausend Con-Treh waren zwar zu wenig, um darin regelrecht untertauchen zu können, aber in der allgemeinen Verwirrung konnte es vielleicht gelingen, eins der Con-TrehSchiffe zu erreichen und damit zu verschwinden. An das varganische Beiboot würde Ra sicherlich nicht herankommen; es wurde bestimmt scharf bewacht, war andererseits, wie von ihm angekündigt, nun verriegelt. Der Marsch der kleinen Gruppe endete an einem großen, hölzernen Tor. Zwei Posten mit Speeren hielten davor Wache. Ra hatte nur wenig Zeit, die prachtvollen Schnitzereien zu bewundern, denn die Speerträger öffneten das Tor, die beiden Wachen zerrten Ra vorwärts. Eine große Halle erstreckte sich hinter dem Portal; sie musste ziemlich nahe an der Oberfläche liegen, denn aus unregelmäßig geformten Öffnungen in der Halbkugel der Kuppel fiel Tageslicht in den Saal, gerade genug, um dem Raum mit einem diffusen Dämmerlicht den Charakter eines Tempels oder einer anderen weihevollen Stätte zu geben. Zwei Drittel der runden Halle wurde von Zuschauertribünen eingenommen; zwischen den steinernen Rängen führte der Weg Ras vor ein Podium, hinter dem fünf Gestalten saßen. Als Ra näher kam, konnte er sehen, dass es sich um fünf betagte Männer handelte, die in hochlehnigen Sesseln saßen und Ra ruhig anblickten. Aus einer Nische des Raumes löste sich die Gestalt eines Mannes; Ra erkannte Bel Etir Baj, der ihn in diese Lage gebracht hatte. »Die Sitzung des Con-Treh-Than ist eröffnet«, sagte eine tiefe, kraftvolle Stimme. »Bel Etir Baj, berichte.« Der Angesprochene trat vor die fünf Mitglieder des Rates der Con-Treh und erzählte. Nach seiner Darstellung war sein Erkundungsflug vor zwölf Jahren fehlgeschlagen. Ra notierte
zufrieden, dass er damit den letzten Beweis dafür hatte, dass die Con-Treh über Raumschiffe verfügten. Etir Baj war gezwungen gewesen, sich in die Rettungskapsel zurückzuziehen, in der er schließlich von den Verbrechern aufgefischt wurde, die ihren Stützpunkt in dem Asteroiden Krassig hatten. Ra nickte anerkennend, als Etir Baj sachlich und genau den Hergang seiner Flucht erzählte. Was er über sein Zusammentreffen mit Ra berichtete, stimmte in jedem Detail. Aufhorchen ließ den Barbaren jener Abschnitt, in dem der Mann auf Prinzessin Crysalgira da Quertamagin einging. War es Zufall, dass eine Frau genau dieses Namens auf Skrantasquor von Maahks verkleinert worden und Grund für Atlans jetzigen Aufenthalt im Mikrokosmos war? Die Prinzessin musste nach der Flucht aus Krassig den Methans in die Fänge gefallen sein. Bel Etir Bajs Einsatz für die Frau wurde von Raunen kommentiert. Ra war sich zwar nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, dass in der Vergangenheit die Quertamagins eine ähnliche Rolle wie die Gonozals gespielt haben mussten, wenngleich unter anderem Vorzeichen. Während mit den Gonozals nur Hass verbunden wurde, schwangen bei der Nennung der Quertamagins Anerkennung, Respekt und … Dankbarkeit mit. »Du hast Etir Baj erklärt, du seist ein Freund des Mannes Atlan, der aus der Sippe der Gonozals stammt«, sagte schließlich der Sprecher des Con-Treh-Than. Ra konnte erkennen, dass das Alter die Haare des Mannes gebleicht – und dass der Alte seine Haare dunkel gefärbt hatte. Überhaupt hatte Ra keinen einzigen älteren Mann mit grauem oder weißem Haar erkennen können. War dies eine Mode, oder hing es ebenfalls mit dem Geheimnis zusammen, das die ConTreh umgab? »Stimmt das?« Etir Baj hatte erklärt, dass er Ra sein Leben verdanke, und der Tonfall, in der der Sprecher seine Frage stellte, war
eindeutig. Man war bereit, Ra eine Kristallbrücke zu bauen, obwohl das Murmeln im Hintergrund bewies, dass die Mehrzahl der Con-Treh mit diesem Entgegenkommen durchaus nicht einverstanden war. Fieberhaft überlegte Ra, ob er Crysalgira erwähnen sollte. Er sah davon ab, sondern sagte nur: »Atlan ist mein Freund. Und sein Vater war Gonozal der Siebte, der von seinem Bruder Orbanaschol ermordet wurde.« Hinter sich hörte Ra ein drohendes Knurren; das Publikum zeigte offen seine Wut und den Hass, der sich allein schon an dem Wort Gonozal entzündete. Der Sprecher des Con-TrehThan stand auf und sah Ra lange und intensiv an. Ra glaubte, die Andeutung eines bedauernden Achselzuckens zu erkennen. »Man wird dir Zeit geben, deinen Frieden mit deinen Gottheiten zu machen«, sagte der Sprecher mit ruhiger Stimme. »Morgen bei Sonnenaufgang wirst du sterben. Führt ihn weg!« Ohne Gegenwehr ließ sich Ra abführen; den nachdenklichen Blick, mit dem ihn Bel Etir Baj betrachtete, erfasste er nur am Rande. Ras Gedanken kreisten um Fluchtmöglichkeiten. Viel Zeit blieb ihm nicht, um dem Henker zu entwischen. »Wenn du noch einen Wunsch hast«, sagte einer der Wächter, »sag ihn jetzt. Vielleicht kann er dir erfüllt werden.« Ein Gedanke durchzuckte Ras Hirn; der Barbar unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. Er hatte eine Möglichkeit gefunden, ein wahnwitziges Unterfangen zwar, aber trotz der Risiken dem sicheren Tode vorzuziehen. »Wenn ich zu meinen Gott beten will, dem mächtigen, unüberwindlichen, allessehenden und allesrächenden Barsach, brauche ich das Licht des hinscheidenden Tages in meiner Zelle.« Eine der Wachen kratzte sich hinter dem Ohr. »Ich glaube, das ließe sich bewerkstelligen. Was brauchst du noch für deinen Götzen?« Ra begann aufzuzählen. Die Liste war ziemlich lang und
enthielt eine Menge völlig überflüssigen Krempels, aber dazwischen hatte Ra die Dinge eingestreut, die er wirklich für seinen Plan brauchte. »Heiliger Spiralnebel«, platzte einer der Wächter heraus. »Lässt euch euer Götzendienst eigentlich noch Zeit zum Leben?« »Er gibt uns das Leben.« Ra freute sich über den Hintersinn dieser Worte.
Ra betrachtete zufrieden den Lichtfleck auf dem Boden seiner Zelle. Man hatte ihm tatsächlich einen Raum zugewiesen, der nahe der Oberfläche liegen musste. Durch eine verglaste Öffnung fiel das Sonnenlicht in den Raum, allerdings war das Fenster so klein, dass der Lichtstrahl nur für ein schwaches Dämmerlicht ausreichte. Die elektrische Beleuchtung war auf Ras Bitten hin abgestellt worden. An einer Stelle des Raumes, die der wandernde Strahl erst in einer Tonta erreichen würde, hatte Ra seinen Altar gebaut: eine Holzkiste mit einer Decke darüber, auf der eine aus Lehm geformte Gestalt hockte. Ra war kein besonders geschickter Bildhauer, das machte sich jetzt bezahlt. Der Götze war bemerkenswert scheußlich geraten, die zweifelnden Blicke der Wachen besagten, dass es ihnen ziemlich unsinnig erschien, eine derart widerliche Gestalt anzubeten. Die schmalen, farbigen Bänder, mit denen Ra den Götzen Barsach herausgeputzt hatte, konnten den abstoßenden Eindruck nur noch erhöhen. Um seinen Gott milde zu stimmen, hatte Ra ihn mit Nahrungsmitteln versorgt. Ra hatte sich vorgenommen: wenn er schon abtreten musste, dann wenigstens mit einem boshaften Scherz. Daher hatte er bei den Con-Treh ein paar Speisen für seinen Gott in Auftrag gegeben, die kein normaler Arkonide freiwillig gegessen hätte. In der Zelle hing ein Geruch, der die Gesichter der Wachen
blutleer machte. Immer wieder zog sich eine der Wachen würgend zurück. Vor dem Altar hatte Ra ein Räucherbecken aufgebaut, in dem eine Handvoll Kohlen glimmte. Zufrieden stellte er fest, dass ein ziemlich kräftiger Luftzug den Rauch aus der Zelle und die Gänge davor trieb. Ra verzichtete darauf, seine Fähigkeiten als Komponist und Textdichter einzusetzen, denn er brauchte die Wachen in seiner Nähe, nicht einige Räume weit entfernt. Er hatte eine der Wachen gebeten, die Trommel für ihn zu schlagen. Der Barbar konnte sehr zufrieden mit sich sein. Ohne es die Wachen merken zu lassen, hatte er sie in sein Spiel einbezogen. Der verbissene Ernst und Eifer, mit dem er sich anscheinend ausschließlich auf seinen Götzen konzentrierte, hatte die Wachsamkeit der Con-Treh stark vermindert. Die Männer waren so begierig, die absonderlichen Riten des Barbaren zu verfolgen, dass sie nicht darauf achteten, was Ra wirklich im Schilde führte. »Fertig«, sagte Ra schließlich. Seine Vorbereitungen waren beendet. »Schlag die Trommel.« Niemand schien sich daran zu stören, dass plötzlich Ra die Befehle erteilte. Sofort begann der Trommler mit einem wilden, mitreißenden Rhythmus, den die beiden anderen Wachen schnell händeklatschend begleiteten. Dann begann Ra zu tanzen. Er erinnerte sich der Tänze seiner Heimat, von der er nicht wusste, wo in der Galaxis sie zu suchen war; Ra wusste aber, was nötig war, um den Tänzer in einen fast rauschhaften Zustand zu versetzen, dessen Wirkung häufig auch auf die Zuschauer überging. Ra tanzte den Tanz seines Lebens, diesmal nicht begeistert und gläubig wie früher, als die Bezeichnung Barbar für ihn noch sehr zutreffend gewesen war. Diesmal waren seine Bewegungen kontrolliert, der tranceartige Zustand nur gespielt. Während er sich in der kleinen Zelle bewegte, studierte Ra die Gesichter der Wachen. Als er sich sicher war, dass die
Wachen ihm förmlich gebannt zusahen, bewegte er sich langsam tanzend auf den improvisierten Altar zu. Scheinbar beiläufig nahm er eine Handvoll eines grünlichen Pulvers auf, das er sich zusammengemischt hatte. Eine Handbewegung genügte, um das Pulver auf die glimmenden Kohlen zu streuen. Eine Qualmwolke stieg in die Höhe und wurde vom Luftzug verweht. »Hm, das riecht aber …« Zu dem Wort gut kam die Wache nicht mehr. Die Augen des Mannes wurden glasig, seine Beine knickten unter ihm zusammen. Es klapperte vernehmlich, als der Mann auf dem Boden aufprallte, aber die anderen Wachen konnten darauf nicht reagieren. Auch ihre Sinne wurden von dem betäubenden Harzrauch benebelt, nacheinander wurden sie bewusstlos. Ra grinste zufrieden, dann nahm er das Wassergefäß und löschte schnell das Kohlenfeuer. Die kritische Phase seiner Flucht war jetzt gekommen. Ra brauchte einige Augenblicke, bis er den Raum verlassen konnte, denn er selbst war gegen die betäubende Wirkung seiner Mixtur keineswegs gefeit. Ra griff nach dem Bein der vor ihm liegenden Wache und zerrte den Körper des Bewusstlosen heran. Rasch nahm er dem Mann die Waffen ab und streifte seine Kleidung über. Dann tastete er sich langsam vorwärts, immer wieder schnuppernd. Er atmete erleichtert auf, als er merkte, dass sich die Wirkung seiner Mixtur so abgeschwächt hatte, dass er den Raum verlassen konnte. Er stand auf der Schwelle, als ihm ein Gedanke kam. Er raffte in seiner Zelle schnell ein paar brennbare Materialien zusammen und entzündete ein kleines Feuer. In die Flammen setzte er einen hölzernen Napf, den er behutsam mit den Resten des Räucherpulvers füllte. Nach einer gewissen Zeit würden sich die Flammen durch das Holz gefressen haben und wieder das Harzpulver erreichen. Da das Holz vermutlich nur langsam brannte, wurde der gesamte
Zellenbereich für einige Tontas in die betäubenden Schwaden getaucht sein. Wenn Ra etwas Glück hatte, war die gasgefüllte Strecke größer als der Weg, den ein Con-Treh mit angehaltenem Atem laufen konnte – in diesem Fall würde einige Zeit verstreichen, in der niemand sagen konnte, was sich in der Zelle des Todeskandidaten abgespielt hatte. Ra schätzte, dass es mindestens zwei Dezitontas dauern würde, bis man einen Raumanzug herbeigeschafft hatte, mit dem man den gasgefüllten Bezirk gefahrlos betreten konnte. »Viel Glück«, wünschte sich Ra selbst, dann machte er sich auf den Weg. Wo genau die Raumschiffe der Con-Treh zu suchen waren, wusste er nicht, aber es gab immerhin Überlegungen, mit denen man die Zahl der möglichen Orte einschränken konnte. Unterhalb der Wohngebiete Magintors waren die Hangars sicherlich nicht zu suchen; folglich mussten sie weit höher, näher an der Oberfläche liegen. Dicht über dem Boden waren startende Raumschiffe besonders gefährdet, da sie dort naturgemäß nur recht langsam fliegen konnten. Das machte es nötig, die Hangars mit Geschützen gegen Angriffe zu sichern. Auch diese Geschütze mussten dicht an der Oberfläche liegen. Alles sprach dafür, dass die Con-Treh ihre Schiffe in dem zerfallen wirkenden Ringwall versteckt hatten, der nach dem Meteoriteneinschlag übrig geblieben war. Ra hatte ein sehr gut ausgeprägtes Gefühl für räumliche Anordnungen; er erinnerte sich der Himmelsrichtung beim Betreten der Stadt, dann des Weges, den man ihn geführt hatte. Nach kurzem Nachdenken wusste Ra, wo er sich ungefähr aufhielt. Niemand beachtete den Barbaren, als er langsam und ruhig durch die subplanetaren Anlagen der Stadt Magintor schlich. Die Con-Treh hatten die Bergfestung so bequem gestaltet, wie es sich unter den waltenden Umständen einrichten ließ. Nach dem alles überragenden Hass auf alles, was mit dem Namen
Gonozal zusammenhing, war der vorherrschende Charakterzug der Con-Treh ganz offensichtlich ihre panische Angst vor Entdeckung. Ra konnte nur staunen angesichts der Bemühungen der Con-Treh, ihre Existenz zu vertuschen. Jetzt begriff Ra, warum die Con-Treh so wenig arkonidische Technik wie möglich verwendeten, denn die Streustrahlung großer Reaktoren – besonders wenn sie so altertümlich waren wie die Anlagen der Con-Treh – war mit modernen Ortungsgeräten mühelos anzumessen. Auf bewaffnete Männer stieß Ra nur sehr selten. Bei einer so kleinen Gemeinschaft war es offenbar nicht nötig, eine große Polizeitruppe zu unterhalten. Außerdem schien der ständige Druck, unter dem die Con-Treh lebten, die Gefahr, entdeckt zu werden, ausreichend zu sein, eventuelle Zwistigkeiten schnell zu beseitigen. Es war eine alte kosmosoziologische Tatsache, dass äußerer Druck bei einer Gemeinschaft innere Spannungen dämpfte und nicht so stark hervortreten ließ. Erst als der Verkehr auf den Gängen allmählich spärlicher wurde und wesentlich mehr Männer als Frauen zu erkennen waren, war sich Ra sicher, langsam in den Bereich einzudringen, in dem er die Raumschiffe vermutete. Wider Willen halfen ihm die Con-Treh bei seinem Versuch, ein Schiff zu ergattern. Man musste Ras Verschwinden bemerkt haben, das folgerte der Barbar aus dem Heulen einiger Sirenen. Schlagartig wurden die Bewegungen der Leute schneller. Männer rannten durch die Gänge, ohne sich um andere Personen zu kümmern. Ra konnte das nur lieb sein; er rannte mit, bis er an einer Tür ein Symbol entdeckte, das unmissverständlich auf Raumschiffe hinwies. Ra zögerte nicht lange, riss die Tür auf und stürmte in den Raum. Die ersten beiden Räume waren leer, dahinter gabelte sich der Gang. Der rechte Weg führte, wie das Piktogramm auswies, zu einem Geschützstand, der linke zu den Hangars. Ra entschied sich
naturgemäß für den linken Gang, obwohl er kurz zögerte. Auf dem Weg über ein Geschütz an die Oberfläche zu kommen war unter Umständen besser. Er hätte sich in den Wäldern und Tälern rings um Magintor so lange verstecken können, bis die Bewachung der Raumschiffe wieder normal gewesen wäre. Aber Ra konnte nicht wissen, wie die Oberfläche dieser Welt beschaffen war, welche wilden Tiere und giftigen Pflanzen es hier gab. Daher entschied er sich für den riskanteren Fluchtweg. »Glück gehabt«, murmelte Ra, als er den Hangar erreicht hatte. Vor ihm stand ein Sechzigmeterschiff, offenbar startklar. Niemand befand sich im Hangar. Das war nicht verwunderlich, denn einige Augenblicke vor Ras Eintreten hatte eine Lautsprecherdurchsage die Bewohner von Magintor auf eine falsche Fährte gelockt. Irgendein Con-Treh, der das Pech hatte, Ra auf den ersten Blick sehr ähnlich zu sehen, war in einem entfernten Winkel der Stadt aufgestöbert worden und hatte sich in seiner Angst verschanzt. Ziemlich rasch hatte Ra das Schaltpult gefunden, mit dem die auffahrbare Decke des Hangars betrieben und kontrolliert wurde. Ein Knopfdruck genügte, um die meterdicke Felsplatte geräuschlos zur Seite gleiten zu lassen. Über Ras Kopf wurde der Himmel sichtbar. »Bestes Flugwetter!« In das Schiff zu kommen bereitete ihm nur wenige Schwierigkeiten. Zwar war die Konstruktion veraltet wie fast die gesamte technische Ausrüstung der Con-Treh, aber die wesentlichen Konstruktionsmerkmale waren durch die Jahrtausende hindurch gleich geblieben, die Kugelbauweise, der typische Ringwulst – und unter anderem auch der Mechanismus, der die Mannschleuse auffahren ließ. Ra wartete nicht, bis das Schleusentor hinter ihm zuschwang. Er wusste, dass der Automat auch ohne ihn auskam. So rasch es ging, suchte er die Zentrale auf. Die Unterschiede zwischen
den Schiffen, die Ra kannte, und dieser Konstruktion waren fürs Erste unerheblich. Die Ein-Mann-Katastrophensteuerung war annähernd baugleich mit den Mustern, die Ra aus seinen Hypnoschulungen kannte. Ein einziger Handgriff genügte, um die Arbeit, die üblicherweise von einer geschulten Besatzung gemacht wurde, dem zentralen KSOL-Rechner aufzubürden. Natürlich war das Schiff mit dieser Schaltung bei Weitem nicht so präzise zu handhaben wie normal, aber für Ras Zwecke reichte die Steuerfähigkeit durchaus. Die Hand des Barbaren lag schon auf dem Hebel, mit dem die Triebwerke hochgefahren werden sollten, als er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung auf einem Bildschirm wahrnahm. Ein rascher Blick zur Seite zeigte ihm, dass ein Mann den Hangar betreten hatte. Es war der junge Thabek, der kurz nach der Landung versucht hatte, Ra den Schädel zu spalten. Ra trommelte nervös mit den Fingern. Natürlich konnte er jetzt ohne Weiteres starten; die Maschinen des Raumschiffs wurden von der Anwesenheit des Mannes nicht beeinflusst, aber die Impulstriebwerke würden Thabek beim Start mit Alarmwerten im Bruchteil eines Augenblicks atomisieren. »Geh, Junge, bitte geh!« Thabek tat ihm den Gefallen nicht. Der junge Con-Treh stellte fest, dass die Decke des Hangars offen stand – und wenig später schob sich die Felsdecke wieder an ihren alten Platz. Ras Flucht war gescheitert. Zwar hätte er sich den Weg durch die Decke frei schießen können, aber auch dabei wäre Thabek gestorben, ebenso die beiden anderen Männer, die auf Thabeks Rufen hin in den Hangar stürzten. Ra überprüfte schnell die Kontrollen und stellte fest, dass das Schiff noch mit dem Interkomnetz Magintors verbunden war. Ra brauchte nicht lange, bis er die Kameras in der Zentrale so justiert hatte, dass jeder Winkel des Raumes erfasst werden konnte. Noch hatte er die Verbindung nicht hergestellt, aber seine Hand
bewegte sich in dem Augenblick, in dem Thabek in die Zentrale gestürmt kam. Der junge Con-Treh achtete nicht auf die Lichtanzeige, die signalisierte, dass die Bilder aus dem Schiff in das allgemeine Verbundnetz eingespeist wurden. Er riss mit einem Wutschrei das Schwert aus dem Gürtel und stürzte sich auf Ra. Der Barbar zückte schnell seine Waffe. »Ich werde dich jetzt töten«, versprach Thabek, undeutlich vor Wut. »Und diesmal wird mir niemand in den Arm fallen.« »Komm näher, Jüngelchen.« Das Wort Jüngelchen war zu viel, blindwütig stürmte Thabek vor. In seiner Aufregung achtete er nicht darauf, dass nach ihm noch andere Con-Treh die Zentrale betraten; sie waren ebenfalls bewaffnet, teilweise sogar mit Strahlwaffen, aber sie verzichteten darauf, in den Kampf einzugreifen. Vielmehr stellten sie sich entlang der Wände auf und diskutierten leise die Vorzüge der beiden Gegner. Thabek war jung, geschickt und hitzig; Ra konnte seine größere Kraft und seine Routine ausspielen. Einstweilen hatte er mit dem jungen Con-Treh wenig Mühe, aber sobald der Gegner etwas Ruhe gewann, musste Ra ernsthaft auf der Hut sein, wollte er nicht blessiert werden. Funken sprühten durch die Zentrale, wenn die Klingen aufeinander trafen. Beide Waffen waren aus bestem Stahl geschmiedet, an ein Zerspringen war nicht zu denken. Ra hetzte den jungen Con-Treh mit einer Serie wirbelnder Schläge vor sich her, bis er ihn in einen Winkel getrieben hatte, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Dann ging Ra daran, seinen Gegner zu zermürben. Er ließ Thabek keine Möglichkeit zum Angriff, sondern deckte ihn mit einem Hagel von Schlägen ein, den Thabek nur mit Mühe abwehren konnte. In seiner ungünstigen Lage gab sich Thabek bald etliche Blößen, aber Ra verzichtete darauf, die Deckungslücken auszunutzen. Den sachkundigen Zuschauern fiel ziemlich schnell auf,
welche Strategie Ra verfolgte, und sie beobachteten den nun sehr ungleich gewordenen Kampf mit breitem Grinsen. Thabek wurde langsam müde; er begann zu begreifen, dass seine Lage kritisch war, und in der Aufregung entblößte er seine Deckung noch mehr. Ra nutzte die Schwäche seines Gegners erbarmungslos aus; mindestens ein Dutzend Mal zischte seine Klinge auf Thabeks rechten Oberarm herab. Ra schlug nur mit der flachen Klinge zu, das gab zwar keine Verletzungen, tat aber weh und ließ den Arm erlahmen. Dicke Schweißtropfen erschienen auf Thabeks Stirn; jetzt hatte die Angst den jungen Con-Treh fest im Griff. Immer langsamer wurden die Bewegungen, mit denen er die harten Schwertschläge Ras abblockte. Schließlich machte Ra dem Kampf ein Ende – er legte noch einmal alle Kraft in einen Hieb und setzte den Schlag gegen Thabeks Schwert, dicht über dem Heft. Thabek konnte die Waffe nicht mehr halten, sie flog aus seiner Hand und landete klirrend auf dem Boden der Zentrale. »Thabek Scevati Ahuar«, sagte Ra grinsend im Randweltdialekt, und während die Männer in der Zentrale ein tobendes Gelächter anstimmten, färbte sich Thabeks Gesicht dunkelrot. Er wusste, dass er von nun an mit diesem Namen würde weiterleben müssen. Zumindest ein paar Jahre lang würde ihn jeder Mann wie Ra anreden – als den kopflosen Schädelspalter.
»Könnt ihr mir einen Grund nennen, warum der Gefangene mit dem Schiff nicht gestartet ist?« Die Stimme Etir Bajs drang bis in den letzten Winkel der großen Halle, die wieder bis auf den letzten Platz gefüllt war. Nach Ras Fluchtversuch hatte sich der Con-Treh-Than genötigt gesehen, eine weitere Sitzung anzuberaumen. »Ich frage weiter. Jeder hier weiß, dass Thabek, der kopflose Schädelspalter, keinen Augenblick
gezögert hätte, den Gefangenen zu töten. Und Ra konnte aus dem Verhalten der anderen Wachen an Bord des Schiffes ohne Mühe ableiten, dass ihn niemand hindern würde, das Duell damit zu beenden, dass er Thabek tötete.« »Du willst damit sagen«, begann der Sprecher zögernd, »dass Ra das Schiff nicht startete, um Thabeks Leben zu schonen. Auch dein eigenes Leben verdankst du der Hilfe dieses Mannes.« »So ist es!« Mit Staunen hatte Bel Etir Baj den Zweikampf auf dem Interkombildschirm verfolgt. Die Art, in der Ra sein Schwert handhabte, hatte Etir Bajs Anerkennung wachgerufen, die Tatsache, dass Ra sich gescheut hatte, einem Con-Treh das Leben zu nehmen, hatte ihn endgültig davon überzeugt, dass man diesen Mann nicht einfach töten durfte. »Er bleibt nach wie vor bei seiner Behauptung, ein Freund Atlans zu sein«, stellte der Sprecher fest. »Es mag sein, dass seine Handlungsweise unsere Milde förmlich erzwingt, aber können wir es wirklich zulassen, dass ein solcher Mann unter uns Con-Treh lebt?« »Ich habe einen Vorschlag«, meldete sich wieder Etir Baj. »Sprich, Etir Baj.« »Seit zweihundert Jahren ist es keinem Con-Treh mehr gelungen, die Halle der Erinnerung zu betreten. Ich schlage vor, dass wir Ra die Möglichkeit geben, einen neuen Versuch zu machen. Misslingt ihm sein Auftrag, ist sein Problem gelöst. Schafft er es aber, uns den Zugang zur Halle der Erinnerung wieder zu öffnen, soll er sich verpflichten, kein Wort über uns zu sprechen. Ich bin sicher, dass ein Mann wie Ra diesen Eid halten wird. Wir könnten ihn dann irgendwo in der Galaxis mit seinem Schiff freigeben.« Stille breitete sich in der Ratshalle aus. Nach langem Zögern sagte der Sprecher: »Dies ist eine Sache, die zu gewichtig für
den Con-Treh-Than allein ist. Ich frage die Gemeinschaft der Con-Treh: Sollen wir den Vorschlag Bel Etir Bajs annehmen?« »Ich stimme dafür«, erklang eine klare Stimme; Etir Baj drehte sich um und erkannte Thabek, der sich von seinem Sitz erhoben hatte. Auf dem Gesicht des Sprechers zeigte sich der Anflug eines Lächelns. Die Abstimmung war schnell durchgeführt; die Mehrheit der Con-Treh stimmte Etir Bajs Vorschlag zu. Ra, der – diesmal ohne Fesseln – vor dem Rat stand, atmete erleichtert auf; er war noch einmal davongekommen, denn ein zweites Mal hätte er die Wachen nicht übertölpeln können. »Wer sagt uns, ob Ra, wenn er zurückkehrt, tatsächlich die Halle erreicht hat?«, warf eine Frau ein. »Wenn einer nicht tötet, sagt das noch nicht, dass er auch nicht lügt.« »Ich bitte um die Erlaubnis, Ra begleiten zu dürfen«, sagte Etir Baj. Auch dieser Vorschlag wurde angenommen.
»Sieh her«, forderte Etir Baj den Barbaren auf. »Dies ist der Kontinent Quertal, hier liegt Magintor. Dieser breite Strom ist der Donacona, er mündet in das Binnenmeer Abdalor. Im Meer ist eine Insel, und dort befindet sich die Halle der Erinnerung.« »Die Con-Treh haben eine ganz schöne Strecke zwischen sich und ihre Erinnerungen gelegt«, sagte Ra bissig. »Habt ihr Angst davor?« Etir Baj wurde schlagartig ernst. »Ich werde dir die Information geben, die ich für nötig halte. Mehr wirst du nicht erfahren. Wer wenig weiß, kann wenig verraten.« »Auch wer viel weiß, erzählt nicht alles.« Grinsend deutete Ra auf die Narben an Etir Bajs Kopf. »Wie weit ist es bis zu der Halle?«
»Rund zweieinhalbtausend Kilometer.« »Zu Fuß?« Ra ächzte bei dieser Auskunft. »Bis wir am Ziel sind, hat uns die Altersschwäche längst ins Grab gebracht. Warum nehmen wir nicht ein Beiboot oder einen Gleiter?« Etir Baj setzte zu einer Erklärung an, aber Ra winkte schnell ab und seufzte. »Ich weiß. Alles wegen der Ortungsgefahr, kombiniert mit jahrtausendealten Traditionen, die fast schon etwas Religiöses haben. Eines Tages werdet ihr vor Angst noch ein Verfahren finden, wie man völlig ohne Geräusch atmen kann oder für Jahrzehnte ohne Luft auskommt! Was für Waffen können wir mitnehmen? Ich vermute, dass es zwischen Magintor und dem Meer allerhand Viehzeug gibt, das uns auf den Pelz rücken könnte, oder irre ich mich?« »Du kannst dich in der Waffenkammer bedienen. Nur Energiewaffen müssen in den Magazinen bleiben. Ich hoffe, du kannst mit altmodischen Waffen umgehen? Dass du mit dem Schwert kämpfen kannst, habe ich gesehen, aber kannst du auch mit einem Bogen umgehen?« »Ich werde mir Mühe geben«, versprach Ra belustigt. »Wir Barbaren lernen ziemlich schnell.« In den Waffenkammern gab es alles, was man aus Holz, Metall oder Steinen herstellen konnte: Messer aller Arten, Schwerter in verschiedenen Längen, Piken, Keulen, Morgensterne, Kampfbeile, Schleudern und Harpunen. Nach Schusswaffen suchte Ra vergeblich; ihre Herstellung hätte eine entsprechende Industrie verlangt und damit das Ortungsrisiko erhöht. Ra entschied sich für ein unterarmlanges Messer, einen großen Reflexbogen mit mehreren Ersatzsehnen und eine Schleuder. Viel Waffen konnten die beiden Männer nicht mitnehmen; für den ersten Teil der Strecke, der durch unzugängliche Gebirge führte, mussten sie Proviant für einige Tage mitschleppen, außerdem das Werkzeug, mit dem sie später ein Boot bauen wollten.
Schon am Morgen nach Ras vergeblicher Flucht machten sich die beiden Männer auf den Weg.
3. Aus: Namor Zirrhin an Byukon da Tlutzlae – In: Sammlung da Tlutzlae. Gos’Ranton/Arkon I, Kristallpalast, Archiv der Hallen der Geschichte, 6418 da Ark Verzeiht mir meine Offenheit, mein Zhdopan, aber ich bin nur ein alter, verbitterter Mann, der hoffentlich bald das Licht Arbaraiths erblicken wird. Und als ein solcher werde ich vor den verfluchten da Metzat nicht kuschen – sollen sie nur kommen! Weder sie noch irgendjemand sonst kann mich zwingen, die Wahrheit über den Tod meines Herrn zu verschweigen. Und was können die mir auch nehmen, wo mir doch schon alles genommen wurde? So, wie ich es schon vor zwei Perioden aussagte (und ich schwor dabei auf die She’Huhan!), so sage ich es Euch auch heute: Mapoc da Gonozal und seine Familie wurden in Rakkalin ermordet! Der Gleiter stürzte zwar mitten in den Obelisken-Wald aufgrund eines Bedienungsfehlers, aber das ist ja auch kein Wunder, denn der Pilot (den ich persönlich kannte und der absolut vertrauenswürdig war) hatte eine derartig hohe Menge von Niktomar im Blut, dass sie sogar einen Yilld glauben ließe, er sei eine Baziuk-Motte im taumelnden Paarungstanz! Und ist nicht äußerst merkwürdig, dass just zu dem Zeitpunkt die Notfall-Automatik des Gleiters versagt hat?
Im Gebirge: 18. Prago des Tartor 10.498 da Ark Ras anfängliche Sorge, dass Etir Baj den Strapazen einer solchen Wanderung vielleicht nicht ganz gewachsen sein würde, zerstreute sich ziemlich schnell. Die beiden Männer kamen rasch vorwärts. Auf vielen Jagdausflügen hatte Etir Baj
schon vor Jahren ein großes Gebiet rings um Magintor durchstreift; er hatte daher auch die Führung übernommen. Da der Con-Treh nicht bereit war, mehr über sich oder sein Volk zu erzählen, war es auch Ra nicht eingefallen, mehr von sich zu geben, als ihm unumgänglich erschien. Im Stillen amüsierte er sich über Etir Bajs Besorgnis; der Con-Treh hielt Ra für einen Raumfahrer und damit für reichlich degeneriert, für einen Mann, der sich nur hinter Energiegeschützen und unter Schirmfeldern sicher fühlte. Ra tat nichts, um diesen falschen Eindruck zu zerstreuen. Die Con-Treh stellten aus der Haut ihrer Rinder vorzügliche Lederwaren her. Ra und Etir Baj hatten sich für enge Anzüge aus Rohleder entschieden, an den Füßen trugen sie ebenfalls lederne Mokassins. Die Ausrüstung schleppten sie in sorgfältig verschnürten Ballen auf dem Rücken. »Gibt es eigentlich außer euch Con-Treh noch anderes intelligentes Leben auf diesem Planeten?«, fragte Ra plötzlich. Seit Tontas hatten die beiden Männer kein Wort gewechselt, waren schweigend nebeneinander durch den tiefen Schnee gestapft, der den Pass bedeckte. »Außer dir nicht. Das heißt …« Etir Baj stolperte, weil Ra der zu erwartenden boshaften Bemerkung mit einem Fußtritt zuvorgekommen war. Etir Baj rutschte ein Stück, da der Weg leicht abwärts führte, und landete schließlich in einer Schneeverwehung. Die beiden Männer fühlten sich viel zu wohl, um ständig ernsthaft sein zu können. Etir Baj hatte zwölf Jahre im Innern eines Asteroiden verbracht, und erst jetzt spürte er in voller Deutlichkeit, was er in dieser Zeit entbehrt hatte. Auch Ras natürlicher Bewegungsdrang war in der letzten Zeit kaum zur Geltung gekommen; er war froh, zum ersten Mal seit geraumer Zeit den Blick nicht durch stählerne Bordwände versperrt zu sehen. Die Schneeballschlacht dauerte nur wenige Zentitontas, dann marschierten die beiden
Männer weiter. Etir Baj summte leise ein uraltes Lied. Die Sonne stand schon ziemlich tief, als die beiden Männer das Ende des Passes erreichten. Unter sich sahen sie ein dunkles Tal, dicht mit Bäumen bestanden. Dazwischen glitzerte das Wasser des Wildbachs, der hier im Gebirge entsprang und sich später zu dem gewaltigen Strom Donacona entwickelte. »Das Wasser läuft unterirdisch an einem kleinen Vulkan vorbei«, sagte Etir Baj. »Daher konnte sich der Urwald entwickeln. Wir sollten dort unser Lager aufschlagen.« Ra nickte kurz, obwohl er es für ratsamer gehalten hätte, sich am Rand des Waldes aufzuhalten. Dort waren die Fluchtmöglichkeiten größer, falls es irgendeiner Bestie einfallen sollte, den Schlaf der beiden Männer zu stören. Der Abstieg war mit den schweren Lasten auf dem Rücken ziemlich schwierig. Der Hang fiel steil ab, und das Gestein war brüchig. Als sie den Boden des Tales erreicht hatten, sah Ra auch den Wildbach, der weiß schäumend aus einer Felsspalte hervorbrach. Das Bett war mit Geröll übersät; Baumstämme lagen quer zur Strömung. »Wenn der Fluss über lange Strecken so aussieht«, murmelte Ra düster, »werden wir Ewigkeiten brauchen, bis wir unser Ziel erreicht haben.« »Weiter unten wird der Fluss so breit, dass man in seiner Mitte bequem fahren kann«, beteuerte Etir Baj. Ra war skeptisch, aber er widersprach nicht. Die beiden Männer fanden eine Lichtung in dem undurchdringlich erscheinenden Gestrüpp des Waldes. Etir Baj erzählte Ra, dass dieses Gebiet von den Con-Treh noch niemals richtig erforscht worden war. »Gibt es noch andere Siedlungen der Con-Treh auf dieser Welt?«, fragte Ra. Etir Baj nickte kurz, aber er sagte nicht, wo diese Ansiedlungen lagen oder wie kopfstark die Con-Treh insgesamt waren. Auf einer solchen Welt konnten, wenn die Bewohner rücksichtsvoll mit ihrer Umwelt umgingen, knapp
fünfhundert Millionen Arkoniden ein bequemes Leben führen. Ra war sicher, dass die Con-Treh nicht annähernd diese Zahl erreichten. Vermutlich gab es auf dem ganzen Planeten nur ein paar tausend dieser merkwürdig aussehenden Arkoniden. Mit steinernem Gesicht sah Ra zu, wie Etir Baj Holz zusammensuchte und ein Feuer anfachen wollte. Immerhin war der Con-Treh erfahren genug, trockenes Holz auszuwählen. Aber bereits kurze Zeit nachdem die ersten Flammen hochgezüngelt waren, wusste Ra, dass sein Weggefährte in seiner, Ras Heimat, nicht lange überlebt hätte. Die Flammen wurden viel zu groß, die Rauchsäule war bei Tageslicht kilometerweit zu sehen. Während Etir Baj sich weiter um das Feuer kümmerte, nahm Ra den Bogen von der Schulter und schlug sich ins Gebüsch. Da dieser Winkel des Planeten nur überaus selten von Zweibeinern unsicher gemacht wurde, waren die Jagdbedingungen hervorragend. Bereits nach wenigen Zentitontas hatte Ra einen vierfüßigen Säuger erspäht; als Augenblicke später das Tier mit einem Pfeil im Herzen zusammenbrach, wusste Ra, dass er von seinen Fertigkeiten noch nichts eingebüßt hatte. Es war gut, das zu wissen, denn zur Abwehr aller nur möglichen Gefahren waren die beiden Männer auf ihre altmodischen Waffen angewiesen. »Aha, ein Merua«, sagte Etir Baj fest, als Ra seine Beute anschleppte. »Das Fleisch schmeckt hervorragend, liegt aber schwer im Magen.« Ra störte das nicht, er war froh, endlich der Konzentratnahrung entgangen zu sein, die an Bord der meisten Raumschiffe ausgegeben wurde. Nach einigen Zentitontas drehte sich der Braten langsam auf einem improvisierten Grill und verbreitete einen prachtvollen Geruch. »Was ist eigentlich an dieser Halle der Erinnerung so
wichtig?« Ra sprach undeutlich, an seinen Wangen lief der Fleischsaft entlang. »Du wirst es sehen, wenn wir die Halle erreicht haben«, erwiderte Etir Baj kauend. Er warf einen Seitenblick auf seinen Gefährten. Im flackernden Licht des Feuers wirkte das markante Gesicht des Barbaren besonders eindrucksvoll. Etir Baj bedauerte lebhaft, dass er sich verpflichtet hatte, Ra nur mit den allernötigsten Informationen zu versehen. Der Mann gefiel ihm, und Etir Baj würde es sehr bedauern, wenn der Versuch, die Halle zu erreichen, fehlschlagen sollte. Erst ein paar Zentitontas später fiel ihm ein, dass er den Fehlschlag dieses Versuchs vermutlich auch nicht überleben würde.
»Hier?«, wollte Ra wissen. Etir Baj nickte kurz und setzte die Last ab. Die beiden Männer hatten einen weiteren Pass übersteigen müssen, während sich der Fluss den bequemeren, gradlinigen Weg durch die Felsen gebahnt hatte. Die Männer hatten am 20. Prago des Tartor das Ende des Gebirges erreicht. Von ihrem Standort aus konnten sie die weiten Waldgebiete überblicken, die die Landschaft bis an den fernen Horizont bedeckten. Nur geübten Augen war es möglich, das schmale blaue Band zu erkennen, das sich durch die grüne Ebene wand. Der Fluss war hier nicht sehr breit, und an beiden Ufern standen Bäume, teilweise tief im Wasser. »Es fragt sich nur, was wir bauen. Ein Floß oder ein Kanu?« »Das Floß wäre einfacher, aber langsam und ziemlich breit. Der Fluss ist noch so schmal, dass wir mit dem Floß überall hängen bleiben können. Ein Kanu erfordert aber entschieden mehr Aufwand.« »Es ist aber wesentlich schneller. Außerdem schleppen wir nichts mit uns herum, was durch Nässe verdorben werden
könnte!« Damit war die Entscheidung gefallen. Ra übernahm die Aufgabe, einen passenden Baum zu finden, der zu einem Kanu umgebaut werden sollte. Er selbst hätte zwar lieber ein Fell- oder Rindenboot gebaut, aber dazu fehlte die Zeit. Bald hatte er einen geeigneten Baum gefunden, ein fünfmal mannshoher Stamm, gerade gewachsen, und das Astwerk begann erst in beträchtlicher Höhe. Eine unangenehme Überraschung wurde offenkundig, als die beiden Männer dem Stamm mit den mitgebrachten Äxten zu Leibe rücken wollten. Der Mann, der die Äxte geschäftet hatte, war ein erbärmlicher Stümper gewesen. Nach den ersten kräftigen Hieben brachen die Stiele, zu allem Überfluss dicht unterhalb der Schneide. Ra murmelte einen Fluch und schleuderte die nutzlose Axt ins Gebüsch. »Bis wir die Holzreste herausgewühlt und neue Stiele geschnitzt hätten, werden ein paar Tage vergangen sein. Wir müssen anders vorgehen!« »Wie, wenn ich fragen darf?« Ra grinste ihn unverschämt an. »Ein Barbar weiß immer Rat!« Fartuloon hatte einmal bemerkt, dass Ra offenkundig einer hoch entwickelten Steinkultur entstammen müsse. Er hatte richtig beobachtet, und Ra hatte von dem, was er früher einmal gelernt hatte, nichts vergessen. Er brauchte einen halben Tag, dann hatte er zwei Steinbeile angefertigt, von denen er eines an Bel Etir Baj weitergab. »Und du glaubst, dass uns diese primitiven Dinger weiterhelfen werden?« »Wir werden es versuchen«, konterte Ra. Bel Etir Baj musste die verblüffende Feststellung machen, dass die Steinzeit auch ihre guten Seiten gehabt haben musste. In verblüffend kurzer Zeit war der mächtige Stamm gefällt und entastet, dann machten sich die Männer daran, eine Vertiefung in den Stamm zu hauen. Während Etir Baj noch
hackte, entfachte Ra ein neues Feuer, diesmal aus Holzarten, die sehr langsam brannten. Mit den rot glühenden Holzstücken füllte er die Höhlung im Stamm, wo sich die Glut langsam in die Tiefe fraß. Die Arbeit nahm vier Pragos in Anspruch, in denen das Feuer pausenlos überwacht werden musste. Drohte die Gefahr, dass die Bordwand zu dünn geraten könnte, musste das Feuer schnell gelöscht werden. Gleichzeitig war der freie Mann damit beschäftigt, Kiel und Bug mit der Axt roh herauszuhacken. Später wurden die Kanten mit einem Mahlstein und Sand geglättet. Ra sammelte im Wald lange, zähe Lianen, mit denen er einen Ausleger am Boot befestigte. Auf diese Weise wurde das Boot nahezu kentersicher, und am Morgen – nach Arkonstandard der 26. Prago des Tartor 10.498 da Ark – schwamm das Kanu auf dem Wasser des Flusses.
Die Fahrt verlief einstweilen ohne große Störungen. Ein paarmal mussten sich die beiden Männer der wütenden Angriffe eines Rudels Wasserbüffel erwehren, aber dank der Schärfe ihrer Schwerter konnten sich die Männer den Weg frei kämpfen. Inzwischen war der Strom so breit geworden, dass das Boot gemächlich treiben konnte. Ein Mann am Steuer genügte, der andere konnte sich in dieser Zeit ausruhen und dann später das Ruder übernehmen. Auf diese Weise war es möglich, bei Tag und Nacht zu fahren. Ra hatte während einer Pause eine kleine Plattform aus Holz gebastelt, die er überaus sorgfältig mit dünnen Steinplatten belegt hatte. Auf dieser Plattform brannte des Nachts ein Feuer, damit der Rudergänger etwas sehen konnte. Eine Laune der Natur wollte es, dass die Insekten dieser Welt ohne Ausnahme Vegetarier waren; Ras Befürchtung, in der Nacht mit Insektenstacheln gespickt zu werden, hatte sich als grundlos
erwiesen. Der Fischbestand war reichlich, Krebse ließen sich mit der bloßen Hand fangen, und das abendliche Wildbret ließ sich ohne sonderliche Mühe vom Boot aus mit Pfeilen erreichen. Etir Baj lag mit dem Rücken auf dem Boden des Kanus und starrte auf die wenigen Wolken, die der Wind bedächtig über den blauen Himmel schob. »Darauf habe ich zwölf Jahre lang gewartet«, murmelte er nachdenklich. »Manchmal frage ich mich, wozu man überhaupt Raumschiffe baut.« »Wie hättest du diesen Planeten erreicht, wenn nicht mit einem Raumschiff? Wie ist dein Volk eigentlich auf diese Welt gekommen? Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, eure Art sei hier entstanden!« »Mit Raumschiffen vermutlich. Und wie bist du an dein Schiff gekommen? Hast du es selbst gebaut?« Jetzt war die Reihe an Ra, ausweichende Antworten zu geben. Immerhin hatte ihn Etir Baj an etwas erinnert. Nach Ras Überlegungen kreiste Ischtar in ihrem Schiff noch immer um den Maahkstützpunkt. Irgendwann würde sie Ra vermissen, und so, wie Ra die Varganentechnik einschätzte, würde es ihr ein Leichtes sein, den Standort ihres Beiboots herauszufinden. Was dann geschehen würde, daran wagte Ra gar nicht erst zu denken. In Magintor würde eine fürchterliche Panik ausbrechen, wenn das Doppelpyramidenschiff am Himmel auftauchte und sich obendrein gegen den konzentrierten Strahlbeschuss aus den veralteten Geschützen der Con-Treh als gefeit erwies. Und Ischtar war nicht die Frau, die lange fackelte, wenn man ihr Schiff ohne Vorwarnung beschoss. Ra machte ein paar schwache Paddelschläge, um das Boot wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. Das Wasser war kristallklar und erfrischend kühl. Darüber lag ein feiner Geruch nach Moder, der vermutlich von dem Pflanzenmaterial stammte, das am Ufer versunken war. Nur ab und zu war ein Teil eines
umgestürzten Baumstamms zu sehen, der Rest des Ufers wurde kilometerweit von Schwimmpflanzen bedeckt, vor allem einer Sorte mit einer leuchtend roten Blüte, mit einer gelbweißen Maserung an den Blattspitzen. Ra klemmte das Paddel in die Armbeuge und bückte sich; vor ihm lag ein Stück Fleisch, das er am Abend zuvor gebraten hatte. Genussvoll schlug der Barbar seine weißen Zähne in das Fleisch. Die Sonne stand sehr tief am Horizont; noch waren ihre Strahlen kräftig genug, um den Boden zu wärmen. Ihr Schein fiel auf einen verlassenen Lagerplatz, auf ein längst erloschenes Feuer. Daneben lagen einige Steinsplitter; Ra hatte hier eine neue Schneide für sein Steinbeil geschlagen. Die Splitter glänzten im Licht der untergehenden Sonne. Das Gestein war glashart, und an einigen Stellen waren die Bruchkanten glatt wie Eis. Langsam wanderte der Schein der Sonne weiter. Das Splitterstück war knapp handtellergroß, von scharfen Zacken umsäumt. Ras Schlag hatte den Splitter sauber abgetrennt; in der Mitte des Steines war eine sanft gewölbte Vertiefung entstanden, die glatt und spiegelnd war. Langsam wanderten die Lichtstrahlen, die von der Sonne ausgingen und von diesem Spiegel zurückgeworfen wurden, über den Boden, der mit trockenem Laub bedeckt war. Auf dem Weg des gesammelten, zurückgeworfenen Sonnenlichts gab es nur ein Blatt, das genau die Entfernung von dem steinernen Hohlspiegel hatte, die der Brennweite dieses Spiegels entsprach. Dieses Blatt begann zu glimmen, und als die Sonne hinter den Baumwipfeln versank, stand bereits eine quadratmetergroße Fläche in Flammen. Am späten Nachmittag erst öffneten die Wasserblumen ihre roten Kelche. Den ganzen Tag über hatten sie das Gas produziert, das sie jetzt brauchten, um ihre Nahrung finden zu können. In dem klaren
Wasser gab es nicht genügend Nahrung für die Blumen, daher ergänzten sie ihren Vorrat, indem sie die Insekten fingen, die abends in Millionenschwärmen über den Wassern tanzten. Unwiderstehlich wurden die Insekten von dem betäubenden Duft angelockt, und erst wenn das Gas seine todbringende Wirkung schon fast zur Gänze getan hatte, öffneten die Blumen ihre Kelche vollständig und fingen den nahrhaften Regen langsam herabsinkender Insekten auf. Das Gas, das die Pflanzen produzierten, war sehr leicht und brennbar. Wenige Augenblicke nachdem der Laubbrand am Ufer eine der Blumen erreicht hatte, standen bereits einige hundert Meter des Ufers in Flammen. Der Wind trieb den Feuersturm vor sich her, flussabwärts.
Das Feuer, diesmal von Ra angelegt, brannte leise und mit kleiner Flamme. Dieses Geräusch wurde nur ab und zu von einem genussvollen Schmatzen unterbrochen. Vor Tagen hatte Ra ein paar große Schieferplatten gefunden, die er seitdem mitschleppte. Auf dieser Fläche briet er Fleisch und Fisch, röstete Nüsse und buk aus Nussmilch, Fleischfett, Eiern und gequollenem Grassamen hervorragend schmeckende Fladen. Bisher war die Fahrt zwar ab und zu anstrengend, aber noch nicht gefährlich geworden. Wäre nicht die Sorge Ras gewesen, der ein Eingreifen Ischtars befürchtete, hätte der Barbar die Reise als Ferienausflug genießen können. An die Gefahr, dass das Unternehmen misslingen könnte und die Con-Treh ihn um einen Kopf kürzer machen würden, dachte er nicht mehr. Inzwischen verstand er sich mit Etir Baj fast ohne Worte; die beiden Männer passten gut zueinander, vor allem deshalb, weil sie sich in dieser Wildnis wohlfühlten. Welche Strecke sie bisher zurückgelegt hatten, konnte Ra nur schätzen, es konnten annähernd tausend Kilometer sein – inzwischen war der 36. Prago des Tartor angebrochen. Der
Fluss hatte hier ein steiniges Bett und war relativ schmal, entsprechend hoch war die Geschwindigkeit des fließenden Wassers. Nach einigen Tagen hatte Ra gemerkt, dass der Wind tagsüber häufig flussabwärts wehte, daher hatte er ein Segel und einen Mast gebastelt, der die Geschwindigkeit des Einbaums beträchtlich erhöhte. Etir Baj rülpste ungeniert, dann packte er das verbliebene Stück Braten in ein paar große Blätter. So hielt sich das Fleisch tagelang, zudem wurde es von dem Saft der Blätter aromatischer. »Gute Nacht«, wünschte Ra, als sich Etir Baj auf die Seite legte und die Beine anzog. Die Nachtluft war angenehm warm, der Himmel sternenklar. Ra starrte in die Höhe; er versuchte gar nicht erst, irgendeine bekannte Konstellation zu finden. In diesem Raumgebiet, dem galaktischen Zentrum ziemlich nahe, änderten sich die Sternbilder mit jedem Lichtjahr. Irgendwo in dieser Schwärze kreiste Ischtars Schiff um einen Stern, und irgendwo lag auch Ras Heimat. Unwillkürlich sah sich Ra um. »Doch«, murmelte er. »Hier könnte ich mich niederlassen.« Er hörte auf das leise Geräusch des fließenden Wassers, auf die verwirrenden Lebensäußerungen des großen Urwalds, den noch niemand erforscht hatte. Hinter dem Gebirge ging einer der Monde auf; der Trabant musste eine merkwürdige Umlaufbahn besitzen, denn bisher hatte Ra den Mond noch nie gesehen. Es dauerte nur kurze Zeit, bis Ra begriff, dass es sich nicht um einen Mond handelte, sondern um ein gewaltiges Feuer, dessen Widerschein er wahrgenommen hatte. Ra stieß Etir Baj an. Sofort war der Mann hellwach und sprang auf. »Wir müssen verschwinden – und zwar schnell!« Ra deutete über die Schulter, während er schon damit beschäftigt war, die Waffen und Ausrüstungsgegenstände schnell im Boot zu verstauen. Etir Baj unterstützte ihn ohne Zögern, nach
wenigen Zentitontas trieb das Boot schnell auf dem Wasser. Ra kniete kurz hinter der Plattform mit dem Leuchtfeuer; mit harten Paddelschlägen trieb er das Boot vorwärts. Etir Baj saß am Heck und schwang ebenfalls kraftvoll sein Paddel. Ra fluchte erbittert, als er entdeckte, welche Ursache die neue Gefahr hatte. In der Eile des Aufbruchs hatte er vergessen, das Lagerfeuer zu löschen, und nun hatte sich der Brand weitergefressen und ebenfalls die Wasserblumengase entzündet. Mit großer Geschwindigkeit, weit schneller als das Kanu, fraß sich der Brand am Ufer entlang. »Verbrennen werden wir jedenfalls nicht!«, schrie Etir Baj. Er musste sich anstrengen, um das Brausen des Feuers zu übertönen. »Die Blumen wachsen nur in Ufernähe!« »Aber ersticken können wir sehr wohl!«, brüllte Ra über die Schulter. »Wenn der Brand das ganze Ufer erfasst hat und das Unterholz brennt, wird das Feuer jedes Atom Sauerstoff heranziehen, bis uns nichts mehr übrig bleibt.« »Das linke Ufer ist frei. Versuchen wir dort unser Glück.« Der Einbaum war leicht zu lenken, wenn beide Männer zusammenarbeiteten, und nach relativ kurzer Zeit trieb das Boot in Ufernähe. Dieser Uferstreifen war bislang vom Feuer verschont worden, aber der Lichtglanz im Rücken der beiden Männer wies unübersehbar darauf hin, dass der erste, größere Brand beide Uferstreifen erfasst haben musste. Es konnte auch nicht mehr lange dauern, bis der Brand, der aus dem Lagerfeuer erwachsen war, durch Funkenflug auf die andere Seite des Flusses übersprang. »Sollen wir an Land gehen?«, fragte Ra. »Dort haben wir vielleicht eine größere Chance durchzukommen!« Etir Baj schüttelte lebhaft den Kopf. Längst war das Feuer so groß geworden, dass es weite Teile des Urwalds erfasst hatte und hinter sich einen unter Umständen kilometerbreiten Streifen verbrannter Fläche entlang dem Flussverlauf
zurückließ. Niemand konnte wissen, wie dicht der Wald an dieser Stelle stand; unter Umständen wären die Männer nur überaus langsam vorwärts gekommen und vom Feuer eingeholt worden. »Land in Sicht«, rief Ra und grinste. Das linke Flussufer wurde zusehends steiniger; der Bewuchs wurde immer geringer und hörte schließlich ganz auf. Jetzt allerdings war eine Landung unmöglich, denn die Felsen ragten Dutzende von Metern fast senkrecht in die Höhe. In dem Licht, das von dem Uferfeuer ausging, konnte Ra sehen, dass in diesem Bereich an Landung nicht zu denken war. Zudem verengte sich das Flussbett, und dementsprechend höher wurde die Fließgeschwindigkeit des Wassers. In ihrem Eifer, dem Feuer zu entkommen, hatten die Männer darauf nicht geachtet; inzwischen war der Fluss so reißend geworden, dass Körperkraft das Boot nicht gegen die Strömung fortbewegen konnte. Um die Männer herum war das Prasseln des Feuers, durchsetzt von einem langsam anschwellenden Dröhnen. »Das Feuer holt uns ein«, rief Etir Baj. Ra schüttelte den Kopf. »Der Lärm kommt von vorn. Wir treiben auf einen Wasserfall zu.« Auch das rechte Ufer wurde allmählich steiler. Von dem Rand der Klippen leuchtete das Feuer auf den Fluss, auf die wirbelnden Wassermassen, die weißlich leuchtende Gischt. Das Boot wurde unruhig; die Wellen wurden kürzer und härter, und der Einbaum wurde vom Anprall des Wassers herumgestoßen. »Wie hoch ist der Fall?«, schrie Ra, um das Brausen des Wassers zu übertönen. »Ist es überhaupt ein richtiger Wasserfall oder nur eine Stromschnelle?« »Keine Ahnung. Der Fluss ist nie genau vermessen worden.« »Langsam begreife ich, dass von dieser Reise noch keiner zurückgekommen ist.«
Etir Baj konnte die Worte nicht hören, zu laut war inzwischen das Toben des Wassers. Es dauerte nicht lange, dann konnten die beiden Männer nicht mehr paddeln oder das Boot lenken. So heftig tanzte das Kanu auf dem Wasser, dass die Männer ihre ganze Kraft brauchten, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Das Brausen des Falles war zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen angewachsen, das jede Verständigung unmöglich machte. Der Aufprall auf die Felsen zerstäubte die Wassertropfen, der wässrige Nebel drang in die Lungen und ließ die Männer husten. »Festhalten!«, brüllte Ra instinktiv, obwohl Etir Baj ihn nicht hören konnte. Vor sich sah Ra die Felskante, über die das Wasser strömte und in die Tiefe stürzte. Jetzt hing alles davon ab, welche Strecke das Wasser im freien Fall zurücklegte. Ra spürte, wie das Boot angehoben wurde, dann sackte das Vorderteil in die Tiefe. Ra schrie instinktiv, als er den Halt verlor und aus dem Boot geschleudert wurde; neben ihm tauchte für einen Augenblick ein schwarzer Schemen auf und glitt vorüber, dann prallte Ras Körper auf dem Wasserspiegel auf. Ra glaubte seine Knochen brechen zu hören, als er aufschlug; die Strömung packte ihn und wirbelte ihn herum. Die Welt verschwand in einem Wirbel aus weiß schäumendem, wild bewegtem Wasser. Ra schlug um sich und versuchte nach Luft zu schnappen; Wasser drang in die Luftröhre und löste einen unwiderstehlichen Hustenreiz aus. Dann prallte Ras Kopf gegen etwas Hartes, und im Bruchteil eines Augenblicks verlor er das Bewusstsein.
»Wo bin ich?«, stöhnte Ra. Sein Schädel dröhnte wie eine Trommel, er fühlte sich zerschlagen und zerschunden. Aber er lebte noch, und das war das Wichtigste. »In einem Berg«, sagte eine ihm bekannt klingende Stimme.
»Etir Baj!«, murmelte Ra. »Wo steckst du?« Eine Hand legte sich auf Ras Schulter. Es war stockfinster, kein Lichtstrahl fiel in diese Schwärze, und selbst Ras hervorragende Augen konnten nichts wahrnehmen als Dunkelheit. »Einstweilen leben wir noch«, sagte Etir Baj, aber der Ton seiner Stimme klang alles andere als optimistisch. »Ich habe mich im Boot festgeklammert und bin mit dem Kanu abgestürzt. Dabei hat sich das Boot auf den Rücken gedreht, auf diese Weise hatte ich einen kleinen Luftvorrat bei meiner Fahrt und wurde nicht ohnmächtig. Wenn ich mir die Landschaft vorstelle, dann geschieht hier Folgendes: Der Fluss fällt ungefähr zwanzig Meter tief. Ein Teil des Wassers wird durch eine Öffnung im Berg in diesen unterirdischen Fluss gedrückt, der Rest läuft über den Rand des Sturzbeckens und bildet einen zweiten Flusslauf. Wann und wo sich diese beiden Arme wieder vereinigen, weiß ich nicht.« »Was ist von unserer Ausrüstung noch da?« Das Gefühl, fürs Erste sicher zu sein, ließ ihn die Schmerzen rasch vergessen. Etir Baj, der schon einige Zeit länger bei Bewusstsein. war, hatte die Zeit genutzt, um in der Dunkelheit herumzutasten und festzustellen, wo er sich befand. Auf diese Weise hatte er das Boot wiedergefunden, es vertäut und dann nach Ra gesucht. »Das Wasser fließt hier ziemlich ruhig«, sagte der Con-Treh. »Ich habe das Kanu am Ufer angebunden und leer geschöpft, während du betäubt warst.« »Und die Ausrüstung? Wie viel davon hat den Absturz überstanden?« Etir Bajs Seufzen verriet, dass es um die Ausrüstung nicht gut bestellt sein konnte. »Sieh selber nach.« Ra entdeckte an seiner Hüfte das Schwert und den Dolch. Im Boot lag ein Bogen mit gesprungener Sehne. Etir Baj hatte sein
Messer ebenfalls retten können. Mehr war nicht geblieben. »Wir müssen zusehen, dass wir diese Höhle verlassen. Wir müssen hier heraus, sonst verhungern wir.« Glücklicherweise hatten die Paddel den Sturz ebenfalls überstanden, hauptsächlich deswegen, weil Ra die Paddel mit dünnen, aber sehr starken Lederriemen am Boot befestigt hatte, nachdem ihm ein Paddel aus der Hand geglitten und abgetrieben war. »Wie fühlst du dich?«, wollte Etir Baj wissen. »Mäßig«, gab Ra zurück; der Tonfall von Etir Bajs Stimme hatte echte Besorgnis verraten, und das freute Ra. Er verschwieg, dass sein Schädel noch immer dröhnte und schmerzte. »Warten wir nicht lange, fahren wir los.« Die kleine Feuerplattform am Bug war verschwunden, wahrscheinlich war sie beim Sturz ähnlich wie der Ausleger in Splitter verwandelt worden. Ra übernahm die vordere Sitzbank und stieß das Boot vom Ufer ab. Zu sehen war nichts, das einzige Hilfsmittel zur Orientierung war das leise Rauschen des Wassers. Die Luft in der Höhle war kalt und feucht, und die beiden Männer zitterten bald vor Kälte. »Lange halten wir das nicht durch«, prophezeite Etir Baj düster. »Man kann viel ertragen, wenn man muss.« Das Plätschern der Paddel verstärkte sich. Ra und Etir Baj kamen langsam in Schwung. Es war eine einfache Rechnung: Solange die beiden Männer fleißig paddelten, würden sie nicht frieren. Allerdings brauchten sie wegen der Arbeit entschieden mehr Nahrungsmittel, um den Energieverlust wieder ausgleichen zu können. Das wiederum verkürzte die Zeitspanne, die ihnen zur Verfügung stand, um wieder das Tageslicht zu erreichen. Hinzu kam die nervliche Belastung. Schon nach sehr kurzer Zeit wurde der Gehörsinn wesentlich schärfer, aber selbst noch so scharfe Ohren konnten nicht
feststellen, welcher Art die Geräusche waren, die die beiden Männer umgaben. Niemand konnte sagen, ob das leise Glucksen von einem Felsvorsprung stammte, um den das Wasser herumströmte, oder ob es sich um das Geräusch eines Fisches handelte. Ra wusste, dass sich Tiere schon nach wenigen Generationen völlig an ein Leben in absoluter Finsternis anzupassen vermochten. Was er nicht wusste, war die Antwort auf die Frage, wie groß solche Tiere werden konnten. Der Barbar begann zu lächeln, als er weit voraus einen schwachen Lichtschimmer wahrnehmen konnte, zuerst nur verschwommen, dann immer deutlicher zu erkennen. »Ich glaube, wir sind bald wieder im Freien«, gab er an Etir Baj durch. »Ich kann Licht sehen.« »Ich sehe schwarz. Für den Fall nämlich, dass die Ausfahrt aus dieser Höhle verläuft wie die Einfahrt.« Ra gab keine Antwort; er spähte angestrengt nach vorn, versuchte Einzelheiten zu erkennen. Unwillkürlich beschleunigten die beiden Männer den Rhythmus ihrer Paddelschläge. Das Licht reichte bereits aus, um schwach das Ufer des unterirdischen Flusses erkennen zu lassen. Immer stärker wurde der Schein, Ra begann zu hoffen, dass er in ein paar Tontas schon wieder an einem Feuer seine Glieder wärmen und die Kleidung würde trocknen können. Umso größer war die Enttäuschung, als er bemerkte, dass der Lichtschein nicht von der Sonne stammte. Das unwirklich bleiche Licht ging von den Felswänden aus, die den Fluss umgaben. Sogar das Wasser wurde von unten erhellt, und Ra konnte unterarmlange Fische erkennen, die sich träge bewegten. »Woher kommt dieses Leuchten?«, fragte Ra seinen Begleiter. »Ist dieses Material häufig auf dieser Welt zu finden?« Etir Baj schüttelte langsam den Kopf. Ratlos antwortete er:
»Ich habe dieses Material noch nie gesehen. Das heißt, ich kenne eine Substanz, die auch ohne Lichtzufuhr im Dunkeln leuchtet.« »Ich weiß. Ich denke an den gleichen Stoff – chemisch reines Uran!« Die beiden Männer wussten, was sich aus diesen Überlegungen ergab. Eine Konzentration strahlenden Materials von solchem Ausmaß ergab eine Dosis an Radioaktivität, die die beiden Männer in kurzer Zeit töten musste. Ra wäre fast aus dem Boot gekippt, als Etir Bajs Hand klatschend auf seiner Schulter landete. Der Con-Treh begann laut zu lachen. »Heilige Galaxis, was sind wir für Feiglinge«, prustete der Mann. »Wenn das Zeug wirklich strahlend wäre, müssten hier überall Fischleichen herumliegen. Was auch immer das für ein Mineral ist, radioaktiv ist es jedenfalls nicht.« »Wenigstens haben wir jetzt Licht«, sagte Ra mit einem Seufzer der Erleichterung. »Halt nach rechts.« Der subplanetarische Fluss beschrieb einen leichten Bogen, an einer Stelle hatte das stetig spülende Wasser den Berg so unterhöhlt, dass massive Felsen in das Bett gestürzt waren. Vor diesem natürlichen Hindernis hatte sich im Lauf der Zeit allerlei Schwemmholz aufgehäuft. Und dieses Holz lag jetzt auf dem Trockenen. Ra sprang als Erster aus dem Kanu und untersuchte das Holz, während Etir Baj das Kanu am Ufer vertäute. »Das Holz ist zwar ziemlich feucht, aber für unsere Zwecke zu gebrauchen.« Er sammelte einige Steine, hockte sich auf den Boden und fing an zu arbeiten. Etir Baj verfolgte mit Staunen, wie Ra mit den Resten der Bogensehne, ein paar Steinen und dem morschen Holz ein Feuer zuwege brachte. »Ah, das tut gut.« Ra hielt die Hände über die kleinen Flammen des Feuers. Langsam und gründlich rieb er seine
Hände über der Wärme, bis die frühere Geschmeidigkeit zurückgekehrt war. »Sammle das Holz und bringe es ins Boot!«, befahl er Etir Baj. »Ich glaube, wir werden es brauchen.« Er selbst suchte in dem Geröll lange herum, bis er gefunden hatte, was ihm vorschwebte. Es war ein mächtiger Brocken Fels, ungefähr so groß wie Ras Rumpf und entsprechend schwer. Ra stöhnte und ächzte, aber nach einer halben Tonta hatte er den Fels mühsam bis ans Ufer gewuchtet. Wortlos hockte sich Etir Baj neben den Stein und kopierte genau, was Ra ihm vormachte. Der Con-Treh war geschickt und intelligent, aber ihm fehlte die natürliche Begabung dafür, den richtigen Winkel zu finden, um mit einem steinernen Meißel den Fels zu bearbeiten. Das Material war glasartig, sehr hart und überaus spröde; dies erleichterte Ra die Arbeit. Nach zwei Tontas Arbeit war das Produkt fertig, eine große, tief gewölbte Schale aus Stein, die gerade in das Kanu hineinpasste. Ra sorgte dafür, dass sich die Schale nicht bewegen oder verrutschen konnte, dann füllte er die Glut des Feuers in das Behältnis. Jetzt erst begriff Etir Baj den Zweck der gesamten Arbeit. Die Männer konnten nicht darauf hoffen, jedes Mal, wenn sie Holz brauchten, auf eine solche Anhäufung angeschwemmten Materials zu stoßen. Daher hatte Ra dafür gesorgt, dass sie das Feuer mit sich führen und nach Belieben anfachen und vergrößern konnten. »Fahren wir weiter oder essen wir erst?« Ra deutete auf die großen weißen Fische, die sich mit trägem Flossenschlag in dem Wasser bewegten. »Wir können allerdings auch während der Fahrt essen.« »Fahren wir«, entschied Etir Baj. »Je schneller wir diese Höhle verlassen, desto besser.« Ra nickte und löste die Lederschnur von dem Felsen, an dem Etir Baj das Boot befestigt hatte. Neben ihm auf dem Boden lag
der Speer mit der steinernen Spitze, der fast beiläufig bei der Arbeit an der Feuerschale entstanden war. Langsam und fast geräuschlos glitt das Kanu durch die Höhle. Das bleiche Licht der Mineralien und der rötliche Schein des Feuers verbanden sich zu einer geheimnisvollen Beleuchtung, die den gefährlichen Eindruck der Szenerie noch verstärkte. Ra ließ sich von solchen Überlegungen nicht beeindrucken; er hatte sich in den Bug gehockt und versuchte mit dem Speer zu fischen. Er brauchte erst einige Versuche, bis er sich daran gewöhnt hatte, dass die veränderten optischen Verhältnisse im Wasser eine andere Zieltechnik erforderlich machten. Dann aber durchbohrte seine Waffe nacheinander fünf große Fische. Kurze Zeit später brutzelten die ausgenommenen Tiere über dem Becken, dessen Glut von Etir Baj mit größter Aufmerksamkeit gehütet wurde. Die Fische waren nicht sonderlich sättigend, aber der größte Hunger konnte rasch gestillt werden. Angesichts des Fischreichtums dieses subplanetaren Flusses war die Gefahr des Hungertodes wenigstens vorläufig gebannt. »Das Leuchten wird heller«, sagte Etir Baj. Ra grinste mit bläulich verfärbten Zähnen; in dieser Beleuchtung wirkte sein Gesicht wie eine Dämonenmaske. Die Höhle wurde breiter, die Decke wölbte sich in die Höhe; der Raum, den Ra und Etir Baj erreichten, war fast schon als Dom zu bezeichnen. Ra schätzte den Durchmesser des Gewölbes auf fünfhundert Meter, die lichte Höhe auf ein Fünftel. Der Fluss erweiterte sich zu einem unterirdischen See, der von einer schmalen Landzunge fast halbiert wurde. Das Kanu kam fast zum Stillstand, als der See erreicht war. Die plötzliche Erweiterung des Flussbetts war schuld an diesem Effekt. An der engen Stelle, wo die Landzunge in das Wasser ragte, musste das Wasser allerdings seine Fließgeschwindigkeit beträchtlich erhöhen. Der Engpass war nicht zu übersehen,
weiß tanzte die Gischt auf dem aufgewühlten Wasser. Es war nicht dieser Anblick, der Ras Herz schneller schlagen ließ. Die Landzunge hatte eine Verlängerung in den massiven Fels hinein, eine geräumige, fast kreisrund geformte Höhle, die ziemlich steil anzusteigen schien. Auf der gesamten Strecke der Landzunge lagen gelblich schimmernde Körper, schmal und gebogen, dazwischen ähnlich gefärbte Halbkugeln. »Skelette«, flüsterte Ra beklommen. »Hier sind Dutzende gestorben! Alle, die den Wasserfall unbeschädigt überstanden haben, sind dem Flusslauf gefolgt. Und hier sind sie gestorben.« Er bemühte sich, etwas mehr von der Höhle erkennen zu können, aber an dieser Stelle war der Glanz der Mineralien so stark wie eine elektrische Beleuchtung. Was sich hinter dem grellen Licht verbarg, war nicht einmal zu erahnen. Aber die Männer konnten sich ausrechnen, dass es kein Zufall sein konnte, wenn hier Skelette in solcher Zahl zu finden waren. »Wir müssen aufpassen«, murmelte Etir Baj und griff nach seinem Schwert. Ra hielt seinen Speer bereit, während er mit vorsichtigen Paddelschlägen das Kanu langsam näher an die Landzunge heranbrachte. Einen anderen Weg gab es nach seiner Meinung nicht. Die Falle war hervorragend angelegt. Wenn das Kanu den Engpass passierte, waren die beiden Männer sicher so intensiv mit der Lenkung des Bootes beschäftigt, dass sie zu einer Gegenwehr gegen einen plötzlichen Angriff nicht fähig gewesen wären. Ra hatte sich dafür entschieden, dem unbekannten Feind die Stirn zu bieten. Wenn es ihm und Etir Baj nicht gelang, den Erbauer der Landzunge auf festem Boden zu stellen und zu töten, dann gab es auch keine Chance, mit dem Kanu den Engpass zu überwinden. Es schrammte leicht, als das Kanu am Ufer auflief. Jetzt konnte Ra die
Skelette deutlich sehen; es mussten Dutzende Con-Treh gewesen sein, die hier den Tod gefunden hatten, von den Hunderten von Tieren ganz abgesehen. »Wir müssen uns auf allerhand gefasst machen«, knurrte Ra. Er war sicher, dass der helle Glanz, der von der Höhle ausging, kein Zufall war, weit eher das Werk seines Bewohners. Auch die Landzunge war mit Sicherheit künstlich; ein so starkes Hemmnis in seinem Lauf hätte der Fluss in kurzer Zeit abgeschliffen gehabt. »Versuchen wir, das Kanu auf die andere Seite zu schleppen«, schlug Etir Baj vor. »Oder willst du warten, bis sich unser unbekannter Freund zeigt?« Er hatte zweifellos recht, schließlich konnten die beiden Männer nicht an diesem Fleck verweilen. Mit vereinten Kräften zerrten sie das Boot hinter sich her. Glücklicherweise war die Landzunge ziemlich flach, daher ließ sich das Boot verhältnismäßig leicht schleppen. Der Bug des Kanus tauchte auf der anderen Seite schon wieder ins Wasser, als sich der Bewohner der Höhle vorstellte. Er tat dies mit einem Brüllen, das von den Felswänden zurückgeworfen wurde und die Männer zusammenzucken ließ. Blitzartig fuhr Ra herum und legte die Hand über die Augen, um gegen das grelle Licht des Höhleneingangs etwas erkennen zu können. Nur undeutlich sah er eine Gestalt, die sich langsam bewegte. »Noch haben wir eine Chance. Hilf mir!« Er stemmte sich mit der Schulter gegen das Boot, aber allein war er zu schwach, um das Kanu von der Stelle bewegen zu können. Ra wollte ihm helfen und machte einen Schritt auf das Boot zu. Das Geschoss schlug eine Handbreit neben seinem Fuß auf den Fels und zersprang klirrend. Ra spürte einen harten Schlag, dann einen schneidenden Schmerz am Fuß. Er sah hinunter und starrte auf den Splitter, der knapp über dem Knöchel aus dem Bein ragte. Wieder pfiff aus dem
Höhleneingang ein Geschoss herüber und prallte auf den felsigen Boden der Landzunge; diesmal wurde Etir Baj von dem Splitterhagel eingedeckt. Die beiden Männer warfen sich auf den Boden, um dem Beschuss nicht so offen ausgesetzt zu sein. Langsam wurde der Schütze sichtbar, ein gigantischer, grün geschuppter Wurm, der an der Spitze mindestens drei Meter Durchmesser besaß. Ra konnte zwei irrlichternde Augen erkennen, darunter einen kleinen Mund. Aus dieser Öffnung verschoss der Wurm Kristallkugeln. So hoch war die Anfangsgeschwindigkeit dieser Projektile, dass Ra nur eine winzige Bewegung der Lippen des Wurmes sehen konnte, dann krachte das Geschoss vor ihm auf den Boden. Ra hatte noch nie davon gehört, dass Tiere Steinkugeln verschossen, aber er wusste, dass Tiere, die ihre Beute einmal ins Auge gefasst hatten, selten danebengriffen. Es war unwahrscheinlich, dass die Bestie mehr als fünfmal danebengeschossen haben sollte. »Das Biest ist intelligent«, flüsterte er. Etir Baj lag neben ihm und nickte grimmig. »Und sadistisch veranlagt. Es will mit uns spielen!« Inzwischen hatte der Wurm weitere Teile seines Körpers aus der Höhle geschoben und den Vorderteil des Leibes aufgerichtet. Langsam pendelte der hässliche Kopf hin und her, und immer wieder öffneten sich die Lippen zu einem Schuss. Ra betrachtete die Splitter, die in seiner Nähe auf den Boden fielen; sie bestanden aus dem gleichen Material, aus dem an dieser Stelle das gesamte Gewölbe bestand. Offenbar stellte die Bestie den geheimnisvollen, glänzenden Stoff selbst her und verwandte ihn als Waffe. Ra hörte das heftige Pochen seines Herzens, fast übertönt von dem schleifenden Geräusch, mit dem der Wurm sich vorwärts bewegte. »Ein Gloohn«, flüsterte Etir Baj plötzlich. »Wir haben nur ein einziges Mal eine solche Bestie gefunden, und es ist uns nur
mit Energiewaffen gelungen, das Tier zu vernichten. Es ernährt sich von Steinen, und es ist fähig, seine Körperausscheidungen nach Belieben zu kontrollieren. Es kann jedes gewünschte Mineral herstellen. Aber ab und zu braucht es organische Materie, und dafür muss jedes Mal ein Tier sterben.« »Energiewaffen haben wir nicht. Aber vielleicht …« Ra sprach den Satz nicht zu Ende. Mit einem gewaltigen Sprung schnellte er sich einige Meter weit fort, sprang auf die Füße und begann zu rennen. Dem Gloohn schien seine Flucht Spaß zu machen, sofort wechselte es das Ziel und beschoss den Boden rings um Ras Füße. Es war ein grausames Spiel; die Bestie hätte jederzeit Ra mit einem gezielten Treffer außer Gefecht setzen, wahrscheinlich sogar töten können, aber sie hatte mehr Gefallen daran, ihre Opfer zu quälen. Wie präzise die Bestie treffen konnte, zeigte sich bald. Als Etir Baj seinen Standort verändern wollte, wurde er von einem Hagel von Geschossen in seine Deckung zurückgezwungen. Das Gloohn brauchte nur Augenblicke, um seine Bewegung zu sehen, den Kopf zu wenden und Etir Baj zu beschießen. Die Zeit war nicht lang, die Ra zur Verfügung stand, aber in der kurzen Spanne des Zielwechsels konnte Ra das Kanu erreichen. Sofort warf er sich hinter dem Boot in Deckung. Wenig später flogen Holzsplitter um sein Gesicht, das Gloohn machte sich daran, das Boot zu zerschießen. Ra sah nur eine Chance, den Angreifer zu vertreiben; er griff sich ein brennendes Stück Holz aus dem Feuer, wirbelte es über dem Kopf und schleudert den Brand dem Gloohn entgegen. »Treffer!«, schrie Etir Baj. »Noch mal, Ra!« Das Gloohn stieß schrille, trompetenartige Laute aus und zog sich hastig zurück. Offenbar fürchtete es das Feuer. Ra schleuderte einen zweiten Brand, wieder traf er sein Ziel. Das Gloohn kümmerte sich jetzt nur noch um Ra, und Etir Baj
nutzte die Zeit, um alles erreichbare Schwemmholz in der Nähe des Höhleneingangs aufzuhäufen. Das Gloohn schrie und zuckte; der Rauch der Fackeln stieg ihm in die Augen und blendete das Tier. Ra konnte die Kristallgeschosse über seinen Kopf pfeifen hören. Hastig richtete sich der Barbar auf, griff sich zwei Fackeln und rannte damit nach vorne, dem Gloohn entgegen. Die Bestie spürte die Nähe des Feuers und wich angsterfüllt zurück. Ra achtete darauf, dass der Rauch der Fackeln auf das Gloohn zuwehte, als er Schritt um Schritt vorwärts rückte und die Bestie immer weiter in ihre Höhle zurücktrieb. Endlich war der große Kopf des Gloohn in der Höhle verschwunden; sofort schob Etir Baj die Holzstöße, die er aufgetürmt hatte, vor den Eingang. Ra zündete die Holzstapel rasch an, dann rannten die Männer zu ihrem Boot zurück. Es dauerte nicht lange, bis das Kanu wieder schwamm. Die Gefahr des Gloohn hinter ihnen gab ihnen ungeahnte Kräfte, obwohl das schauerliche Heulen und Brüllen der Bestie verriet, dass Etir Baj und Ra ihr gründlich zugesetzt hatten. Noch lange hörten sie das Gloohn schreien, während sie das Boot mit schnellen, harten Paddelschlägen vorwärts trieben. »Hoffentlich gibt es nicht weitere Exemplare dieser Art«, wünschte sich Ra. »Wir Con-Treh haben in unserer ganzen Geschichte nur einmal ein Gloohn gesehen«, behauptete Bel Etir Baj. »Dieses war das zweite, und ich vermute, auch das einzige auf diesem Planeten.« Gern hätte Ra gefragt, über welchen Zeitraum sich die Geschichte der Con-Treh erstreckte, aber da er wusste, dass er nur eine ausweichende Antwort bekommen würde, verzichtete er auf die Frage. Er war sich ziemlich sicher, dass er eines Tages auf alle Fragen, die mit den Con-Treh zusammenhingen, eine vernünftige Antwort bekommen
würde. Dann nämlich, wenn er seine Aufgabe gelöst hatte und nach Magintor zurückkehrte. Es entsprach der Mentalität des Barbaren, dass er überhaupt nicht an einem Gelingen der Mission zweifelte, und sein Optimismus war stark genug, Etir Baj damit zu infizieren. Allerdings hatte der Con-Treh manchmal das Gefühl, als sei dieser Optimismus angesichts der Möglichkeiten, die die Zukunft barg, auch bitter vonnöten.
4. Aus: So lasst uns etwas Großes tun! Die Geschichte des Projektes »Tiga Ranton«; Avvya da Bakelor, Gos’Ranton/Arkon I, zur Zeit von Imperator Gonozal V. im Jahre 10.387 da Ark Relativ lange wurde unter den Historikern darüber gestritten, wer der eigentliche Initiator der Idee der Planetenverschiebung war. Es bestand zwar überhaupt kein Zweifel daran, dass Zhdopanthi Gonozal III. als Mäzen und offizieller Auftraggeber des Projektes fungierte (nicht umsonst wurde er als Einziger unter den Imperatoren »der Weltenbeweger« genannt). Doch die Legende, die besagte, dass Mapoc da Gonozal das Vorhaben kurz nach einer Pilgerfahrt ins Lithaiir-Tal startete, ohne jemals zuvor einen seiner zahlreichen und sehr kompetenten Berater zu konsultieren, hielt sich über Jahrhunderte hartnäckig am Leben. Sie schien so konstruiert, so trivial und so überschaubar auf die glorifizierenden Bedürfnisse der herrschenden Dynastie angepasst, dass man wohl nur unter den naivsten der Gonozal-Essoya bereit war, einer solchen Mär vorbehaltlos zu glauben. Der glückliche Umstand, dass mir bei der Vorbereitung dieses Buches der vor Kurzem den Wissenschaftlern zugänglich gemachte Teil der »Quertamagin-Annalen« zur Verfügung stand, führte zu einer überraschenden, aber nun voll belegbaren Bestätigung dieser Überlieferung: Die dort entdeckten Privatlogs des späteren Dagor-
Meisters Ruviin Ma-Anlaan, des damaligen Kommandanten der Imperialen Garde und persönlichen Beschützers Seiner Erhabenheit Gonozal III. lassen in dieser Frage jeden Zweifel schwinden und beschämen uns aufs Neue, die wir in unserem sicheren KristallKhasurn der Wissenschaft hocken und immer wieder vergessen, dass in jedem Märchen ein wahrer Kern stecken kann und meist sogar auch steckt …
Auf dem Donacona: 3. Prago der Katanen des Capits 10.498 da Ark Ra kniff die Augen zusammen, um vom Licht der Sonne nicht geblendet zu werden. Nach Tagen, in denen die beiden Männer nur das schwache Licht ihres Feuers gehabt hatten, wirkte das helle Licht der Sonne fast schmerzhaft. Das Kanu glitt sanft schwankend über das Wasser. Die Ausfahrt aus dem Höhlensystem war nicht annähernd so hart gewesen wie die Einfahrt. Das Wasser strömte ruhig aus einem großem Tor im Berg hervor und verband sich einige hundert Meter flussabwärts wieder mit dem Hauptarm. »Geschafft«, murmelte Etir Baj und kratzte sich ausgiebig. Die Männer hatten sich nicht rasieren können, waren hungrig. Nach der Landzunge des Gloohn hatten sie nur noch wenige Fische fangen können, beide hatten etliches Gewicht verloren. Die Gesichter waren bleich und eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen. »Programmpunkt eins: ein großer, saftiger Braten.« Ra brauchte nicht auf eine Antwort Etir Bajs zu warten, denn der Con-Treh war genauso ausgehungert wie er selbst. Ra schirmte die Augen mit der Handfläche ab und deutete nach vorne. »Was ist das dort? Ein Vulkan?« Etir Baj fasste den Horizont schärfer ins Auge und schüttelte den Kopf. »Dort gibt es zwar einen Vulkan, aber der ist seit
Jahrhunderten erloschen. Es wäre möglich, dass einige von uns noch immer dort leben.« Ra zog fragend die Brauen in die Höhe, zuckte mit den Schultern. Er hatte es endgültig aufgegeben, nach mehr Informationen zu fragen; aus Etir Baj war nichts herauszuholen. Und wenn die dünne Rauchsäule tatsächlich von Con-Treh stammte, dann würde man diese ohnehin bald sehen, denn der voraussichtliche Weg der beiden Männer führte ziemlich gerade auf den schwärzlichen Faden am Himmel zu. Ein paar kräftige Paddelschläge genügten, um das Kanu an Land treiben zu lassen. Jetzt war Ra wieder in seinem Element. Zwar war auch Bel Etir Baj naturerfahren, ein geübter Jäger und Waldläufer, aber er war immer auf ein gewisses Mindestmaß an technischer Ausrüstung angewiesen. Ohne Messer wäre er wahrscheinlich im Wald verloren gewesen; ihm fehlte die zum Instinkt gewordene Erfahrung, aus Hunderten von Steinen denjenigen herauszufinden, der einen brauchbaren Faustkeil ergab oder scharfkantige Splitter für Pfeile liefern konnte. Während Ra sich um das Feuer kümmerte, ging Etir Baj auf die Jagd. Sein Messer war lang und hervorragend ausbalanciert, so dauerte es nicht lange, bis Etir Baj mit zielsicherer Hand einen Wurf ansetzte und seine Beute genau an der Stelle traf, an der das Messer eindringen sollte. Etir Baj brach das Tier auf und schleppte dann die genießbaren Teile zum Ufer, wo Ras Feuer bereits brannte. Den ganzen Tag verbrachten die beiden Männer damit, ihre Ausrüstung zu vervollständigen. Ra war es, der das Holz für die Bögen auswählte und die Sehnen aus den erbeuteten Tieren schnitt, während Etir Baj aus kopfgroßen Nussschalen neue Gefäße herstellte und die Bugplattform erneuerte, auf der des Nachts das Feuer weiter brennen sollte. Als die Sonne am Horizont verschwand, war die
Ausstattung der beiden Männer wieder halbwegs komplett. Ra stieß das Kanu vom Ufer ab, die Reise konnte weitergehen.
Der Strom war am 7. Prago des Eyilon 10.499 da Ark extrem breit geworden. Das Wasser hatte sich verfärbt; der Fluss schleppte gewaltige Mengen lehmiger Substanz mit sich. Abgerissene und morsche Baumstämme trieben im Wasser. Der Mann am Steuer hatte viel Mühe, den Baumriesen auszuweichen und eine Kollision zu verhindern, bei der das Boot unfehlbar gekentert wäre. »Wenn das ein Lagerfeuer ist«, sagte Ra spöttisch, »dann bin ich der Imperator von Arkon. Das ist ein Vulkan – und zwar ein aktiver!« »Ich fürchte, dass du recht hast«, stimmte Etir Baj ihm zu. »Aber ich kann es mir nicht erklären. Seit die Con-Treh auf dieser Welt leben, gilt er als erloschen.« »Meinetwegen«, brummte Ra. »Noch sind wir weit von ihm entfernt. Wann, glaubst du, werden wir das Binnenmeer erreicht haben?« Etir Baj zuckte mit den Schultern. Das Boot trieb in Sichtweite des rechten Ufers, knapp fünfhundert Meter von dem weißen Sand des Strandes entfernt. Ra fühlte sich versucht, dort ein paar Tage lang auszuruhen. Soweit er die Landschaft hinter dem Ufer erkennen konnte, entsprach sie dem, was man gemeinhin als Paradies bezeichnete. Weite, grasbedeckte Flächen, von kleineren Hügelketten durchbrochen, dazwischen flache Seen. Die Jagdgelegenheiten mussten atemberaubend sein. »Ich glaube«, sagte Etir Baj plötzlich, »wir haben unser Ziel erreicht.« Ra zog das Paddel kräftiger durch, bis auch das Heck des Bootes die Biegung umfahren hatte. Der Augenschein sprach
dafür, dass Etir Baj recht hatte. Das Ufer bog fast rechtwinklig ab. Vor dem Bug war nichts als Wasser zu sehen, mit einer leichten Dünung, die durchaus zu einem großen Binnenmeer gepasst hätte. »Kennst du die Gegend?«, wollte Ra wissen. Etir Baj verneinte. »Wie denn? Ich kenne nur Magintor und seine Umgebung aus eigener Anschauung. Aber ich habe Karten dieses Landstrichs gesehen. Danach muss rechts von uns, ein paar Kilometer entfernt, ein altes Fischerdorf sein. Es wurde vor mehr als zweihundert Jahren verlassen.« Diese zweihundert Jahre waren der einzige Zeitraum, den Ra kannte. Aber die Geschichte der Con-Treh musste viel weiter in die Vergangenheit zurückreichen; in zweihundert Jahren konnte sich kein Volk so weit von den Arkoniden wegentwickeln. »Wurde das Dorf allmählich geräumt oder fluchtartig verlassen?« »Was ist daran so wichtig?«, fragte Etir Baj erstaunt zurück. »Wenn die Bewohner viel Zeit hatten, haben sie vermutlich alles mitgeschleppt, was sich überhaupt tragen ließ. Bei einer raschen Flucht sind dagegen wahrscheinlich Werkzeuge zurückgeblieben und andere Sachen, die wir vielleicht brauchen könnten. Rasiermesser beispielsweise.« Er sah Etir Baj an und grinste. Der Con-Treh bot mit seinem langen, verfilzten Bart einen recht erheiternden Anblick; dass Ra nicht besser aussah, verriet das Lächeln, mit dem Etir Baj antwortete. »Greif zu«, forderte er Ra auf. »Es ist nicht mehr weit.« Bereits nach kurzer Fahrt war ersichtlich, dass mit diesem Kanu eine Überquerung des Binnenmeeres Abdalor ausgeschlossen war. Obwohl die beiden Männer eine recht dicke Bordwand hatten stehen lassen, tanzte das Boot auf den Wellen wie ein Korken. Weiter draußen im Meer würde es wahrscheinlich noch stürmischer werden.
Von der Siedlung der Con-Treh am Ufer des Binnenmeeres war nicht mehr viel geblieben. Zwei Jahrhunderte lang hatten Wind und Wetter Zeit gehabt, die Gebäude einzuebnen, und was die Witterung verschont hatte, war von Pflanzen überwuchert. Und die ehemaligen Bewohner hatten offenbar viel Zeit gehabt, alles mitzunehmen, was irgendwie von Wert war. Immerhin fanden sich noch zwei angebrochene Tuben mit Enthaarungscreme, die erstaunlicherweise trotz ihres hohen Alters noch wirkte. Außerdem fanden sich noch genügend Metallteile, aus denen sich mit etwas Geduld und Sachkenntnis Waffen und andere nützliche Gerätschaften fertigen ließen. Den größten Fund machte Etir Baj. »Du wirst es nicht glauben«, berichtete er, als er die halb verfallene Hütte erreicht hatte, die den beiden Männern als Unterschlupf diente. »Ich habe ein Boot gefunden.« »Aber erst nachdem du den meterhohen Schimmelbewuchs heruntergeschnitten hast«, vermutete Ra bissig. »Plastik schimmelt nicht.« Etir Baj lächelte selbstzufrieden. »Es ist alles vorhanden, sogar Netze habe ich gefunden. Wir können sofort aufbrechen.« Ra deutete wortlos auf den Horizont, wo sich eine grauschwarze Wolkenwand gebildet hatte. Angesichts dieser Wetteraussichten verzichtete Etir Baj auf eine sofortige Abreise. Dafür nahmen sich die Männer viel Zeit für das Boot. Etir Baj hatte nicht übertrieben, das Boot war seetüchtig und praktisch sofort verwendungsfähig. Zwar wurde auch Kunststoffmaterial im Lauf der Zeit abgebaut, aber dieses Boot hatte in einem Schuppen gelegen, der fast vollständig luftdicht geworden war, als die Hütte darüber zusammengebrochen war.
»Es muss damals in deinem Volk auch ein paar Reiche gegeben haben«, sagte Ra mit leisem Spott. »Dieses Boot ist niemals zum Fischen verwendet worden.« Etir Baj konnte ihm nicht widersprechen, denn es war offenkundig, dass Ra recht hatte. Das Boot war offen, ruhte auf zwei Schwimmkörpern und hatte einen übergroßen Mast; es handelte sich um einen ausgesprochenen Hochgeschwindigkeitskatamaran, wie er von Sportseglern verwendet wurde. Das Boot hatte Platz für zwei Personen, nicht mehr. Fische waren darin nicht unterzubringen. »Damit schaffen wir die Strecke bis zur Insel an einem Tag«, freute sich Etir Baj. Ra war ebenfalls erleichtert, denn Katamarane waren dank ihrer speziellen Bauart weitestgehend kentersicher. Er hatte eine lebhafte Abneigung gegen große Wassermengen, vor allem, wenn er nicht in einem guten Boot saß. Der Barbar war weder feige noch wasserscheu, aber die Vorstellung, auf offenem Meer tagelang schwimmen zu müssen, bis er völlig entkräftet versank, hatte etwas Grauenerregendes. Von der Insel selbst war nichts zu sehen, nur die unverkennbare Rauchsäule des Vulkans. Ra war gespannt auf das, was sich hinter dem Begriff der Halle der Erinnerung wohl verbergen mochte. Vor allem eines interessierte die beiden Männer: Wie sah die Gefahr aus, der in den letzten zweihundert Jahren alle Männer zum Opfer gefallen waren, die versucht hatten, zur Halle der Erinnerung vorzudringen? Am nächsten Morgen war der Himmel blau und wolkenlos, von der Küste her wehte ein kräftiger Wind. Besser konnten die Startbedingungen kaum sein. Ra und Etir Baj brauchten etwas mehr als eine Tonta, dann schwamm das Boot auf dem Wasser. Die beiden Schwimmkörper des Katamarans waren unbeschädigt, wie Ra erleichtert feststellte. Rasch packten die beiden Männer ihre Habseligkeiten zusammen und verstauten
sie im Boot. Dann konnte die Fahrt beginnen. Das Boot machte flotte Fahrt, schon nach kurzer Zeit war die Küste außer Sicht. Zu tun gab es wenig, da der Wind sehr gleichmäßig wehte. Ra unternahm einen letzten Versuch, Etir Baj auszufragen. »Da ich es bald ohnehin erfahren werde«, begann er entschlossen, »würde ich schon jetzt gern wissen, was diese Halle der Erinnerung ist.« Etir Baj schwieg. Ra schüttelte fassungslos den Kopf. Der Hang der Con-Treh zur Geheimniskrämerei nahm allmählich fast skurrile Formen an. Oder lag eine gewisse Absicht des Con-Treh-Than dahinter? Ra konnte sich sehr gut vorstellen, dass der Ältestenrat der Con-Treh diesen Weg wählte, um ihn auf diese Weise doch hinrichten zu können. Und ein Gericht, das eine Person nur deshalb zum Tode verurteilte, weil er ein Freund Atlans war, war nach Ras Ansicht auch fähig, einen Con-Treh zu opfern, um den Zweck – nämlich Ras Tod – erreichen zu können. Mit solchen Gedanken verbrachte Ra die Zeit, in der er nichts zu tun hatte. Er wurde erst dann wieder abgelenkt, als sich langsam der Gipfel des Vulkans über den Horizont zu schieben schien. Es gab jetzt keinen Zweifel mehr, der Vulkan war wieder tätig. Es war unverkennbar, dass der Rauch der Spitze des schwarzgrauen Kegels entströmte, allerdings stieg der Qualm so gleichmäßig hoch, als handle es sich um den Rauch eines kleinen, sorgfältig gehüteten Feuers. Von gefährlicher Aktivität des Berges war nichts zu erkennen. Ra spürte, dass sein Herz schneller schlug. Die Gefahr, der die Con-Treh in früheren Jahren erlegen waren, musste zum Greifen nahe sein. Wie sah diese Bedrohung aus? Bestand sie in der wieder aufgeflammten Tätigkeit des Vulkans, von dem die Con-Treh angenommen hatten, er sei erloschen und kalt? Ra wandte sich zu Etir Baj um. Auch der Con-Treh zeigte Zeichen der Erregung. Ra konnte sehen, wie er nervös die Hand um die
Pinne krallte, dann wieder lockerte und wieder fest zugriff. Er kaute nervös auf den Enden des Schnurrbarts, der der Enthaarungscreme nicht zum Opfer gefallen war. Etir Baj hatte sich vorgenommen, den Bart erst dann wieder abzuschneiden, wenn die Halle der Erinnerung wieder zugänglich war. Die Küste wurde sichtbar, ein flacher Sandstrand, der eher anheimelnd als unheimlich wirkte. Erst als das Boot dem Strand immer näher kam, sah Ra die Skelette am Ufer, von der Sonne gebleicht, sodass sie in dem hellen Sand kaum zu erkennen waren. Ra beugte sich etwas vor, um die Knochen besser sehen zu können. Er wäre fast über Bord gegangen, als Etir Baj ruckartig das Steuer herumriss. »Die Insel wird bewacht.« Instinktiv zuckte Ras Hand an den Gürtel und umklammerte den Schwertgriff, während er mit der freien Hand hinter sich tastete, um wieder Halt zu finden. Als er endlich fähig war, sich umzudrehen, sah er in geringer Entfernung von sich ein weit aufgerissenes Maul, mit einer Reihe furchterregender Zähne, die vom Blut früherer Opfer schwärzlich verfärbt waren. »Wasserechsen«, rief Etir Baj. »Pass auf, dass du nicht über Bord gehst. Ich versuche, die Biester auszumanövrieren.« Ra nickte grimmig. Sein Schwert zuckte auf den Schädel des vordersten Angreifers herab. Die scharfe Klinge prallte von der elastischen Haut ab, ohne die geringste Verletzung hervorgerufen zu haben. Ra stieß einen Fluch aus, dann versuchte er, die Spitze der Klinge in die Haut zu treiben. Auch das misslang. »Die Biester sind gepanzert«, rief er über die Schulter hinweg. Etir Baj hatte sich im Heck des Bootes so klein wie möglich gemacht; solange Ra deutlich sichtbar im Bug stand, würden sich die Angriffe der Wasserechsen auf ihn konzentrieren, und nur so lange war Etir Baj in der Lage, das
Boot zu steuern. Er wusste, dass ihn Verteidigung und Steuerung des Bootes überfordert hätten. Ra hatte endlich eine Methode gefunden, die Echsen auf Distanz zu halten: Er hackte und stach nur noch nach den Augen. An diesen Punkten waren die Angreifer verwundbar, das bewiesen die Schreie und das hervorquellende Blut. Der Blutgeruch verstärkte die Angriffswut der Echsen, aber Ra merkte erleichtert, dass sie zunächst über ihre verletzten Artgenossen herfielen und sie zerfleischten. Die geringste Verletzung wurde jedem Angreifer zum Verhängnis. »Halt auf den Strand zu«, rief Ra Etir Baj zu. »Dort können wir vor ihnen weglaufen.« »Und was ist, wenn die Biester ebenfalls schnell rennen können?« Der Einwand war nicht sehr ernst gemeint, denn ihm war klar, dass sie sich im Wasser nur noch kurze Zeit würden halten können. Es war Ra gerade noch gelungen, eine Echse zu verwunden, bevor sie tauchen und das Boot auf den Rücken nehmen konnte, um es umzustürzen. Knirschend lief das Boot auf den Strand, Ra sprang schnell an Land. Doch die Echsen gaben nicht auf, krochen den beiden Männern ohne Zögern nach. »Verdammt, sie können laufen«, fauchte Ra. Er und Etir Baj mussten sich ihren Weg erst bahnen, der Strand war von Knochen übersät. Zum Glück ließen die Echsen das Boot unbehelligt; ohne den Katamaran gab es von der Insel keine Rückkehr. Erst als die Männer den Rand des Strandes erreicht hatten und hinter den ersten Bäumen in Deckung gingen, wichen die Echsen zurück. Es war, als habe sie schlagartig Panik befallen; wild krochen sie zurück, überschlugen sich förmlich, wenn sie in ihrem Eifer übereinander krochen und stürzten. Ra holte keuchend Atem. »Ist das die Gefahr? Allein wäre hier keiner von uns durchgekommen.«
Etir Baj war ebenfalls außer Atem; keuchend antwortete er: »Die Echsen sind nicht so gefährlich. Immerhin sind ein paar hundert davon an diesem Strand gestorben.« Er wies auf die Knochen, die den Strand bedeckten. Etir Baj hatte zweifellos recht, mehr als vier Fünftel der Skelette stammten nicht von Con-Treh, sondern von Wasserechsen. Fraglich war nur, was die großen, kräftigen Tiere mit der starken Panzerung getötet haben konnte. Eine Seuche? Giftige Gase des Vulkans? »Ein Glück, dass sie unser Boot in Ruhe lassen. Sollen wir weitermarschieren?« »Warten bringt uns nicht weiter.« Ra ging langsam voran. Der Bewuchs der Insel war dicht. Jeden Schritt mussten sich die Männer erst mühsam frei hauen. Der Boden war weich und nachgiebig; oft versanken Ra und Etir Baj bis an die Knöchel in einem grünlich schillernden Morast. Unter dem dichten Blattwerk des Urwalds stauten sich die Wärme und die Feuchtigkeit. Ra und Etir Baj fühlten sich bald wie in einem Dampfbad. Merkwürdig war nur, dass außer dem schmatzenden Geräusch des Schlamms unter ihren Füßen nichts anderes zu hören war. Es gab keine kreischenden Baumbewohner, keine schrill pfeifenden Vögel, wie sie typisch gewesen waren für den Oberlauf des Donacona. »Ich traue diesem Frieden nicht.« Ra suchte nach Skeletten, aber er fand keine Knochen. Allerdings konnte das darauf zurückzuführen sein, dass die Gebeine in dem feuchtwarmen Klima längst verrottet waren. Vielleicht hatte auch der Morast sie längst verschluckt. Als das Blattwerk ein wenig aufgelockert wurde, konnte Ra ein Stück nach vorn sehen. Deutlich erkennbar war der hohe Kegel des Vulkans – mindestens zweitausend Meter hoch –, dem eine beständige Rauchfahne entstieg. Davor gab es einen grasüberwachsenen Hügel, annähernd halbkugelig geformt. Vielleicht ein Seitenberg des Vulkans?, dachte Ra. Könnte die
Aufwölbung einer Magmakammer sein. »Wo zum Gork ist diese Halle der Erinnerung?« Der Con-Treh zuckte mit den Schultern. »Zwischen Strand und Vulkan. Früher soll das alles hier ein Park gewesen sein. Siehst du die Ruine dort?« Ra folgte mit dem Blick der ausgestreckten Hand Etir Bajs. Nur mit Mühe war unter dem alles überwuchernden Blattwerk die Silhouette eines Gebäudes zu erkennen. Es war schon vor langer Zeit unter der Last eines gewaltigen Baumes zusammengebrochen, der auf dem Dach gewachsen war. Viel war nicht mehr geblieben von dem kleinen Bungalow außer ein paar schwer erkennbaren Reliefs an der Außenwand, eingestürzten Mauern und ein paar hellen Flecken im eintönigen Grün des Urwalds. Ra hätte sich die Reliefs gerne aus der Nähe angesehen, aber Etir Baj stieß ihn sanft, aber nachdrücklich vorwärts. »Keine Pause«, mahnte er. »Die Halle der Erinnerung wartet auf uns.« Ra spürte am Tonfall seiner Stimme, dass der sonst so beherrschte Con-Treh Mühe hatte, seine Fassung nicht zu verlieren. Die Halle schien in der Geschichte der Con-Treh eine zentrale Rolle zu spielen, allerdings war verwunderlich, dass sie sich nicht schon wesentlich früher aufgerafft hatten, mit einer wohl ausgerüsteten Expedition den Weg zur Halle wieder frei zu kämpfen. Was ihm und Etir Baj jetzt vielleicht gelingen konnte, hätte man schon wesentlich früher erreichen können – allerdings mit dem Einsatz moderner Ausrüstung und Waffen, von denen die Con-Treh nur sehr ungern Gebrauch machten. Wie stark musste dieses Geheimnis der Vergangenheit sein, diese verbissene Furcht vor Entdeckung, dass zweihundert Jahre lang nur halbherzige Versuche unternommen wurden? »Wir sind am Ziel«, flüsterte Etir Baj, der vorangegangen war. »Die Halle der Erinnerung!«
»Man muss ein verdammt gutes Gedächtnis haben, um sich an so etwas zu erinnern.« Was Etir Baj als Halle bezeichnete, waren ein paar geborstene Säulen am steilen Fuß des Hügels, der Ra schon vorher aufgefallen war. Mehr war nicht zu entdecken. »Das ist alles? Ein paar Stücke morschen Marmors? Ein Haufen Pflanzen auf einer Ruine?« Dafür also hatten sie ihr Leben gewagt und beinahe auch verloren. Für dieses brüchige Gemäuer waren zweihundert Jahre lang Con-Treh gestorben? »Die eigentliche Halle liegt dahinter«, sagte Etir Baj lächelnd. Er kam Ra vor wie ein Rauschgiftsüchtiger beim Anblick der Droge. Ra zuckte mit den Schultern. Vielleicht musste man tatsächlich ein Con-Treh sein, um bei diesem Anblick euphorisch zu werden. »Gehen wir hinein.« Unwillkürlich griff Ra das Schwert fester. Bisher waren die beiden Männer auf keine Gefahr gestoßen, die die Unsumme von Knochen am Strand hätte erklären können. Lauerte das Verhängnis jenseits der umgestürzten Säulen des Eingangs? Ra hielt seinen Freund zurück. Erst als er ein Feuer entzündet und aus harzgetränkten Holzspänen eine stattliche Zahl von Fackeln gefertigt hatte, schloss er sich Etir Baj an, der mit dem verklärten Blick eines Schlafwandlers auf die Öffnung zuschritt. Hinter den geborstenen Säulen war es dunkel; diese Schwärze signalisierte Gefahr, das spürte Ra ganz genau. Er hatte einen untrüglichen Instinkt für solche Dinge. Unwillkürlich sah er auf den Boden des Eingangs. Die marmornen Platten waren gebrochen, in den Fugen bewegte sich dürres Gras im leichten Wind. Es sah aus, als hätte seit langen Jahren kein lebendes Wesen mehr diesen Weg genommen. Ra kam die Szenerie nicht geheuer vor, aber er schwieg und folgte Etir Baj. Die metallene Konstruktion, an der der Weg ins Innere vorbeiführte, war nicht zu verkennen. Ra kannte den
Mechanismus und das Aussehen einer Mannschleuse arkonidischer Bauweise ganz genau. Der Hügel, in dem sich die Halle befand, war somit nichts weiter als die Außenhaut eines zur Hälfte im Boden versunkenen Raumschiffes! Ra schätzte grob Höhe und Bodendurchmesser des Hügels und kam zu dem Schluss, dass der Kugelraumer einen Durchmesser von achthundert Metern haben musste. Das Schiff, das zur Hälfte eingesunken vor dem Vulkan stand und vom Gras völlig überwuchert war, musste vor vielen Jahrhunderten oder Jahrtausenden die Con-Treh zu diesem Planeten gebracht haben. Es gab keinen Zweifel mehr, die Con-Treh waren tatsächlich Arkoniden, so unwahrscheinlich das klingen mochte. Der Landepunkt so nahe beim Vulkan deutete auf eine Notlandung hin – und das auf denkbar schlechtem Untergrund. Möglicherweise war eine ehemaliger Magmakanal eingebrochen; spätere Lavaströme und Auswürfe des Vulkans mochten das Ihre dazu getan haben, sodass heute nur noch die obere Hälfte des Raumers aus dem Boden ragte, wenngleich von Ablagerungen bedeckt und völlig überwuchert. »Verdammt!«, entfuhr es Ra. »Vielleicht strahlt der Kasten.« Er verwünschte die Angst der Con-Treh vor hoch entwickelter Technik. Natürlich hatte man den beiden Männern kein Dosimeter mitgegeben; Ra hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob sich sein Verdacht bestätigte. Allerdings wäre dies eine sehr gute Erklärung für die Skelette am Ufer gewesen. Die Eindringlinge waren in kurzer Zeit so stark radioaktiv verseucht worden, dass sie gerade noch das Ufer erreichen konnten. Von Etir Baj war vorläufig keine Hilfe zu erwarten, der Con-Treh war wie benommen. Ra zuckte mit den Schultern. Stimmte sein Verdacht, war er schon jetzt unrettbar verseucht. Die nächste Möglichkeit, Strahlenerkrankungen zu heilen, lag mindestens
zweieinhalbtausend Kilometer entfernt, das hieß, wenn die Con-Treh überhaupt über solche Möglichkeiten verfügten. »Bist du dir darüber im Klaren, wo wir sind?« Etir Baj nickte begeistert. »Das ist die Halle der Erinnerung«, sagte er triumphierend. »Wir haben es tatsächlich geschafft.« »Das wird sich zeigen«, orakelte Ra düster. »Es ist ein Raumschiff, das auf diesem Planeten gelandet ist – in einem Zustand, der einen Start unmöglich machte.« »Ich weiß, dass es eine Raumschiffshülle ist.« »Ach?« Ra schüttelte den Kopf. Im Licht der Fackeln war nicht allzu viel zu sehen. »Wenn wir hier überhaupt etwas finden können, dann vermutlich in der Zentrale.« Ra ging vornweg und leuchtete die Gänge aus. Es war auf den ersten Blick zu sehen, dass dieses Schiff nicht so gelandet war, wie es sich der Kommandant vorgestellt hatte. Die Spuren der Beschädigung waren zwar nicht allzu offensichtlich, aber immer wieder waren verbogene Streben und zerstörte Geräte zu sehen, die an die Bruchlandung erinnerten. Boden- und Deckenplatten waren abgeplatzt, Kabel und Leitungen zerfetzt. Nach einigen hundert Metern jedoch wurden die Fackeln überflüssig. Die Innenbeleuchtung des alten Schiffes funktionierte noch. Ra sah die hell erleuchteten Gänge und schluckte, denn ihm wurde brutal bewusst, was für Folgerungen sich daraus ableiten ließen. Irgendjemand lebte noch im Schiff, denn normalerweise wurde auch die Beleuchtung positronisch kontrolliert. Wenn längere Zeit niemand an Bord war, schaltete die Automatik sämtliche Leuchtkörper aus. Auch Raumschiffe mussten Energie sparen. Ra wusste nicht, welchen Zeitraum in früheren Jahrhunderten die Automatik zuließ, aber er war sich sicher, dass keine Positronik die Lampen länger als ein paar Tage aktiviert lassen würde. Wer war das Wesen, das es sich im Schiffsinneren
bequem gemacht hatte? »Damit hat sich deine Angst, von Strahlung umgebracht zu werden, wohl erledigt?«, fragte Etir Baj mit leisem Spott. »Mir ist es egal, wer oder was mich umbringt … Halt! Was ist das?«
Die Eier auf dem Korridor waren so groß wie ein Arkonidenkopf, ihre Schale war weiß, mit rötlichen Flecken übersät, die im Licht der Lampen leicht glitzerten. »Heilige Galaxis!«, stöhnte Etir Baj auf. Ra zuckte unbehaglich mit den Schultern. Es mussten Hunderte Eier sein. »Ich möchte wissen, was an ihnen so gefährlich ist. Genauer: am Wesen, das diese Eier gelegt hat.« Langsam und vorsichtig drangen die Männer weiter vor. Im Schiff war es sehr ruhig. Die wenigen Reaktoren, die es noch mit Energie versorgten, waren klein und machten keinen Lärm. Die großen Reaktoren, die beim Flug gebraucht wurden, waren desaktiviert. Inzwischen hatte auch Etir Baj seine Benommenheit verloren. Der Anblick der Eier hatte die weihevolle Stimmung zerstört, die er beim Betreten der legendenumwobenen »Halle« empfunden haben mochte. »Der Eierleger war außerordentlich fleißig«, stellte er trocken fest. Überall auf den Gängen lagen die Eier herum. In einer Maschinenhalle machten die beiden Männer eine weitere, überraschende Entdeckung. Jemand hatte sich an den Aggregaten zu schaffen gemacht. Neugierig musterte Ra Geräte und Maschinen. Ein Teil der Beschädigungen, die zweifellos von der Bruchlandung stammten, war vor vielen Jahrhunderten behoben worden. Eine zweite Reihe von Reparaturen war zweifellos jüngeren Datums und von jemandem ausgeführt worden, der handwerklich nicht eben
geschickt war. Immerhin verstand dieser Jemand etwas von Raumschiffstechnik, denn rein fachlich waren die Reparaturen einwandfrei. Ra hatte allerdings seine Zweifel, ob die »Reparaturen« einer stärkeren Belastung gewachsen sein würden. »Also, der Unbekannte legt Eier und versucht, das Schiff startklar zu machen«, fasste Etir Baj die Beobachtungen zusammen. »Die Art, in der er die Schäden zu beheben versucht hat, lässt darauf schließen, dass er über keine sehr gut ausgebildeten feinmotorischen Gliedmaßen verfügt.« »Viel ist das nicht«, sagte Ra seufzend. »Wir sollten jetzt zur Zentrale vordringen.« Etir Baj presste die Lippen zusammen und nickte. Bisher waren sie auf keinen Widerstand gestoßen, nichts war zu sehen, was mit der Gefahr identisch sein konnte, die zweihundert Jahre lang die Halle der Erinnerung blockiert hatte. War es das unbekannte Wesen? Oder gab es eine noch größere, unbekannte Gefahr? »Los!«, knurrte Ra. »Mehr als das Leben kann es nicht kosten.« Der Boden, auf dem die Stadt Siret stand, bebte. Häuserwände rissen auf, die Straßendecke platzte, ein tiefes Grollen erschütterte die Luft. Leute standen auf der weiten Fläche vor der Stadt und schrien vor Entsetzen. Ohnmächtig mussten die Sireten mit ansehen, wie ein Teil ihrer Stadt in Schutt und Asche fiel. Die Ansiedlung war noch jung, erst vor wenigen Jahrzehnten waren die Kolonisten auf Siret gelandet und hatten sie gebaut. In einigen Jahren sollte der zweite Schub Kolonisten landen. Jetzt versank die Arbeit einiger Jahre in wenigen Augenblicken, verschwand in einer gewaltigen Staubwolke. »Diese Bestie!«, flüsterten die Sireten. Sie wagten nicht, laut zu sprechen. Vielleicht hätte das Ergothal sie gehört.
Etir Baj und Ra bewegten sich sehr langsam und vorsichtig, stets gewärtig, zu den Waffen greifen zu müssen. In einer verlassenen Kabine hatte Ra tatsächlich ein paar Strahlwaffen mit vollen Magazinen gefunden. Etir Baj hatte zwar finster dreingeblickt, sich dann aber gesagt, dass sich der Gegner wohl kaum von ein paar Schwertern würde beeindrucken lassen, wenn er fähig war, ein Raumschiff zu reparieren. Piktogramme an den Wänden der Gänge zeigten an, dass die Zentrale nicht mehr sehr weit entfernt war. Etir Baj spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Dann war die Zentrale erreicht. Leise schwang die schwere Stahltür der Schleuse auf und gab den Blick in den Raum frei. Das Erste, was den beiden Männern auffiel, waren die Eier, die auch diesen Raum füllten. Unter der riesigen Zahl von kopfgroßen Körpern verschwanden die Geräte und Instrumentenpulte fast völlig. Nur ein Teil des Raumes war noch eierfrei. Der Besitzer der Eier hielt sich nicht in der Zentrale auf. Ra unterdrückte eine Verwünschung. »Ich möchte jetzt endlich wissen, wie diese Eier von innen aussehen«, murmelte er und hob den auf Desintegratormodus geschalteten Kombistrahler. Helle Nährflüssigkeit quoll aus dem aufgeschnittenen Ei, dann wurde der Dotter sichtbar. Eine dünne, elastische Haut umgab einen winzigen Körper. Ra nahm den Dotter auf; die Membran war sehr zäh und hielt dem Druck der Finger mühelos stand. Im Innern erkannte Ra eine kleine Gestalt. Er sah von rötlichen Flecken übersäte, schuppige Haut, keine Gliedmaßen und einen überproportioniert großen Kopf – eine Art Schlange. »Das Kleine muss von einem echsenartigen Wesen stammen«, vermutete Etir Baj, nachdem er sich den Inhalt des Eies betrachtet hatte. »Aber wo ist die Mutter? Und vor allem –
wo kommt es her?« »Gebt mir ein Raumschiff!«, forderte das Ergothal gnadenlos. »Andernfalls vernichte ich eure ganze Stadt. Ihr wisst, was das heißt?« Die Sireten nickten betroffen. Die kleine Abordnung hatte Mühe, ihr Entsetzen nicht zu zeigen. Mit einem einzigen Biss seines riesigen Maules hätte das Ergothal die Männer verschlingen können. »Wir haben nur das eine Schiff«, stammelte der Leiter der Delegation. »Ohne das Schiff sind wir verloren.« »Mit dem Schiff auch«, lautete die zischende Antwort des Ergothal. »Ich werde euch alle töten, keiner wird mir entgehen, ihr könnt es mir glauben. Also?« »Wir haben keine Wahl«, sagte der Leiter der Abordnung; er ließ den Kopf hängen, seine Begleiter waren ähnlich niedergeschlagen. Die ganze Stadt war machtlos gegen das Ergothal.
»Ich habe etwas gefunden«, rief Etir Baj freudig erregt. »Ein Translator. Wer hat das Gerät angestellt?« »Ich!« Die Männer fuhren herum. Aus dem zentralen Antigravschacht, dessen Feld ausgefallen war, schob sich der mannsgroße Schädel eines Wesens – unverkennbar ein stark vergrößertes Abbild des Embryos aus dem Ei. Langsam wichen die Männer zurück. Ihnen war auf den ersten Blick klar, dass sie mit Schwertern gegen diesen Gegner keine Chance hatten. Und Energiewaffen zu verwenden widersprach zumindest Etir Bajs tiefstem Empfinden; dies war die Halle der Erinnerung, jeder Schuss konnte Unersetzliches zerstören. Zudem würde ein Treffer in die Eier das Geschöpf so wütend machen, dass seine Reaktionen unberechenbar
wurden. »Sieh an.« Der Translator vermittelte sogar den höhnischen Unterton. »Wieder zwei Con-Treh. Hat es euch nicht gereicht? Musstet ihr wiederkommen, obwohl euch bekannt ist, dass es von hier keine Rückkehr gibt?« »Du willst uns töten?«, fragte Ra, obwohl er die Antwort bereits kannte. Jetzt galt es, Zeit zu gewinnen. »Selbstverständlich. Spielen wir also unser Spiel. Fast alle, die mich störten, wollten Zeit schinden und fragten mich aus. Fangt also an.« Wenn das Geschöpf arkonidische Verhaltensweisen deuten konnte, musste es ein sadistisches Vergnügen bei dem Anblick haben, den die beiden Männer boten. Ra fühlte sich, als habe man ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen, und Etir Bajs Gesicht ähnelte verblüffend der Farbe der Eier. »Fragt also«, forderte das Wesen die Männer auf. »Ich werde antworten.« Als das Schiff startete, brachen viele Sireten in die Knie oder wurden ohnmächtig. Sie waren jetzt allein auf dem Planeten, ohne technische Ausrüstung. Die großen Reaktoren des Kolonistenschiffs hatten den Strom für die ganze Stadt geliefert, die Maschinen hatten die Werkzeuge hergestellt, die zum Häuserbau und zur Feldbestellung benötigt wurden. An Bord war auch das medizinische Labor, doch das Ergothal hatte sich geweigert, auch nur eine Ampulle oder eine Diagnosemaschine herauszugeben. Hilflos waren die Sireten ihrem ungewissen Schicksal preisgegeben. Das Ergothal kümmerte sich nicht darum; es verfolgte seinen Plan mit der charakteristischen Hartnäckigkeit seiner Art. Die Ergothal achteten nur sich selbst und sonst nichts. Andere Werte als die eigenen erkannten sie nicht an. Schon vor der ersten Transition hatte das Wesen die Sireten vergessen. Der Sprung brachte das Schiff in einen Raumbezirk, der bisher noch nie von Ergothals besucht worden
war. Zufrieden stellte das Ergothal fest, dass einer der Planeten für seine Zwecke geeignet war, die ausgesuchte Welt war ausreichend warm. Mit der von ihm speziell für seine Zwecke umgebauten Ortung stellte das Ergothal fest, dass es Vulkane gab. Langsam näherte sich das Schiff dem Planeten, so gesteuert, dass sein Kurs an der Welt vorbeiführen musste und keinen Verdacht erregen konnte. Wäre das Ergothal zu einer solchen Gefühlsregung fähig gewesen, hätte es vor Freude gejubelt, als es auf der Ortung die gewaltige Metallmasse entdeckte. Zwar war sich das Wesen nicht sicher, ob es wirklich ein Raumschiff war, aber das Metall war auf jeden Fall bearbeitet. Das ließ auf intelligentes Leben schließen. Sollte der Körper kein Raumschiff sein, mussten eben später die Planetenbewohner eins bauen. Das Schiff des Ergothal hielt seinen Kurs bei. Als es dem Planeten am nächsten war, warf das Wesen eins seiner Eier gezielt von Bord. Es wusste, dass die Schale nicht in der Atmosphäre verglühen würde. Dann verschwand das Schiff in den Weiten des Alls.
Mit Entsetzen hatten sich die Männer die Geschichte angehört. Aus dem abgeworfenen Ei war das Riesenwesen geworden, das das Raumschiff der Con-Treh für sich beanspruchte. Jetzt wussten die Männer auch, was die vielen Eier und die Reparaturversuche zu bedeuten hatten. Das Ergothal wollte mit diesem Schiff starten und seine Eier überall in der Galaxis verteilen. Ra wagte sich nicht vorzustellen, was für Konsequenzen sich daraus ergaben, aber er wusste, dass der Galaxis durch das Ergothal eine unvorstellbare Gefahr erwachsen war. Gelang es ihm, das Schiff zu starten, würde das Ergothal Hunderte von Planeten überfallen können. Dennoch musste es eine Möglichkeit geben, diese Geschöpfe aufzuhalten – denn die Tatsache, das im Großen Imperium noch nie jemand von Ergothal gehört hatte, belegte, dass das
Mutterwesen vermutlich keine weiteren Eier hatte aussetzen können. Vielleicht war das Raumschiff Opfer eines Hypersturms oder einer anderen Katastrophe geworden. »Ihr wisst jetzt genug«, sagte das Ergothal kalt. Die beiden Männer sprangen auseinander. Mit einem gewaltigen Satz ging Ra hinter einem Stapel von Eiern in Deckung. Hier war er am sichersten vor dem Ergothal, denn es würde zwar sein Leben nicht schonen, wohl aber einen gewissen Wert auf die Eier legen. Etir Baj hatte sich eine ähnliche Deckung gesucht, zog seine Waffe und gab einen Schuss auf das Ergothal ab. Aus dem Lautsprecher des Translators kam ein Geräusch, das sich wie die Karikatur eines Lachens anhörte. Etir Baj sah entsetzt, dass das Wesen die Thermoenergie seiner Waffe mühelos absorbierte. Auch der konzentrierte Beschuss aus beiden Waffen konnte das Ergothal nicht beeindrucken. »Macht nur weiter so«, höhnte es. »Ihr entkommt mir nicht.« Langsam kroch das Ergothal auf Etir Baj zu, der fühlte, wie seine Haut kalt vor Angst wurde. Ununterbrochen feuerte er, zielte auf die grünlichen Augen, erzielte aber keine Wirkung. Während sich das Geschöpf Etir Baj immer mehr näherte, bewegte sich Ra schnell und geräuschlos aus seiner Deckung, warf sich nach vorn. Mehrere Meter des langen, geschmeidigen Ergothalkörpers hatten sich inzwischen aus der Öffnung des Antigravschachts geschoben. Ohne zu zögern, warf sich Ra auf den Körper und schlug mit dem Schwert auf den schuppigen Leib ein. Zu seiner Überraschung ließ die Haut die Klinge durch, in weniger als einer Zentitonta hatte Ra den Kopf abgetrennt. Etir Baj kam rasch aus seiner Deckung und zückte ebenfalls sein Schwert. »Das Biest ist also nicht unverwundbar!«, jubelte der Mann. »Los, hacken wir es in Stücke!« »Pech gehabt«, murmelte Ra entsetzt und starrte auf die
Öffnung des Antigravschachts, aus der sich ein neuer Kopf schob. Gleichzeitig löste sich der erste Kopf langsam auf. Immer heller wurde die Hautfarbe des abgetrennten Teiles, schließlich leuchtete der Kopf grellweiß, während sich eine kaum erträgliche Hitze in der Zentrale ausbreitete. »Gib mir Eier«, rief Ra, während er selbst nach einem Ei griff. Augenblicke später prallte dem Ergothal sein Nachwuchs ins Gesicht. Sofort zuckte die Echse zurück. Ohne Pause setzten Ra und Etir Baj das Bombardement fort, bis der Zugang des Schachtes vollständig mit Eiern gefüllt war. »Es kann sich nur langsam zurückziehen. Sonst würden die Eier nämlich den Schacht hinabfallen.« »Auch das wird uns nicht helfen«, sagte Etir Baj mit erstickter Stimme. Ras Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Con-Treh. Aus einer Schleuse schob sich langsam ein weiterer Kopf des Ergothal, der Translator produzierte dazu ein hämisches Kichern, bis ein gut gezielter Schuss Ras den Kasten explodieren ließ. Die Männer gingen sofort zum Angriff über, aber diesmal wich das Ergothal schon zurück, bevor sie in seiner Nähe waren. Dafür öffnete sich eine weiteres Schott, ein neuer Angreifer trat auf den Plan. Ra kümmerte sich um den ersten, Etir Baj um den zweiten Kopf. Die Hitze in der Zentrale war kaum noch zu ertragen. Ra stellte entsetzt fest, dass der weiß glühende, sich auflösende Kopf den Stahl des Bodens rot färbte. Im Stillen dankte Ra dem Einfallsreichtum der Arkoniden, die für solche Fälle vorgesorgt hatten. Die Spezialstähle leiteten Wärme nur in bestimmtem Umfang, andernfalls hätte jeder Strahltreffer den ganzen umliegenden Raum in einen Schmelzofen verwandelt, in dem niemand überleben konnte. »Immer nur kleine Stücke abhacken!«, schrie Ra. »Vielleicht gelingt es uns, die Zugänge zuzuschweißen.« Ra kämpfte wie ein Besessener, schwang sein Schwert und
trieb das Ergothal zurück. Ihm war klar, dass es sich bei den verschiedenen Köpfen nicht um mehrere Ergothal handeln konnte – schließlich hatte das Mutterwesen nur ein Ei auf diesem Planeten abgesetzt. Es handelte sich vielmehr um eine fast an Gestaltwandlung grenzende, extrem hohe Regenerationsfähigkeit. Zu allem Überfluss nahm das Ergothal in seiner Angriffswut nur wenig Rücksicht auf seinen Nachwuchs. Dutzende Eier barsten und ergossen die Nährflüssigkeit in den Raum. Wo die Brühe auf Überreste des Ergothal traf, verdampfte sie zischend und füllte den Raum mit einem kaum zu ertragenden Gestank. »Ich versuche …«, schrie Ra, aber er brach ab. Etir Baj war zu beschäftigt. Ra sprang hinüber, dorthin, wo üblicherweise der Sitz des Piloten sein musste. Jetzt lagen dort Eier. Mit einem Fußtritt schleuderte Ra die Körper weg, dann schaltete er den ersten großen Hauptreaktor ein. Ein leichtes Zittern ging durch das Schiff, als die gewaltigen Maschinen im Innern des riesigen Körpers nach langer Zeit erstmals wieder anliefen. Schnell schaltete Ra die Ortung ein, versuchte sich ein Bild von der Umgebung zu machen. Zufällig blieb sein Blick auf dem Bildschirm der Infrarotortung hängen. Der Mann stöhnte auf. »Heilige Dunkelwolke.« Deutlich zeigte der Schirm das Bild des Vulkans und den Lavastrang, der bis zur Spitze des Kegels führte. Ebenso deutlich aber war der abzweigende Lavafaden, der irgendwo unter dem Schiff endete. War er dort wirklich zu Ende? Das Bild wechselte, die Fortsetzung des Lavastreifens erschien im neu justierten Ausschnitt. Er führte ins Schiff, setzte sich dort fort und endete, stark abgekühlt, in der Zentrale. Auf geheimnisvolle Art und Weise bezog das Ergothal seine Energie aus dem Vulkan. Somit war es nicht verwunderlich, dass es noch niemandem gelungen war, dieser Bestie zu entkommen. Jetzt wusste Ra auch, womit das Mutterergothal
die unglücklichen Bewohner Sirets erpresst hatte. Wahrscheinlich war es einem Ergothal möglich, ganz nach Belieben Beben oder Vulkanausbrüche hervorzurufen. Ra hatte keine Zeit, sich lange mit diesen Gedanken zu beschäftigen. Er übernahm die Hauptkontrolle für die Waffentürme. »Ein Glück, dass Etir Baj mich nicht sieht«, murmelte er in einem Anflug von Galgenhumor. Es dauerte einige Zeit, bis die Waffentürme, die seit Jahrhunderten nicht mehr bewegt worden waren, in der richtigen Stellung waren. Dann feuerte Ra. Die großen Desintegratorgeschütze frästen einen Kanal in den Vulkanberg, verwandelten das Gestein in davonschwebende Staubwolken und fraßen sich in kurzer Zeit immer tiefer in den Fels. Ra zielte auf den Lavafaden. Vielleicht gelang es ihm, dem Ergothal diese Energiezufuhr abzuschneiden. »Es weicht zurück!«, schrie Etir Baj triumphierend. »Es verschwindet!« Ra wusste es besser. Das Ergothal zog zwar einen großen Teil seines rätselhaften Körpers aus dem Schiff zurück, aber nur zu dem Zweck, den Strahlbeschuss aufzufangen. Ra hätte nie für möglich gehalten, dass dergleichen geschehen konnte, aber er sah, wie das Ergothal die Energieflut, die gegen seinen Körper brandete, scheinbar mühelos absorbierte. Rein mechanisch ließen sich die Köpfe abhacken, aber Desintegratorstrahlen zeigten keine Wirkung. »Bist du wahnsinnig, Ra?«, schrie Etir Baj, noch bleicher als beim Auftauchen des Ergothal. »Schalt die Geschütze ab!« Ra stieß ihn zur Seite und wollte gerade die Kanonen neu richten, als ein gewaltiger Stoß alles zittern ließ. Der Boden der Zentrale hob sich um mehrere Meter. Ra und Etir Baj flogen wie Spielzeugpuppen durch die Luft und landeten auf Eiern. Ra kam als Erster wieder auf die Füße und rannte sofort
zurück. Mit einer Handbewegung schaltete er die Geschütze aus. »Sinnlos!«, knirschte er. »Das Ergothal führt die Energie an den Vulkan ab, lässt ihn beben. So kommen wir nicht an das Biest heran.« Auf den Bildschirmen war zu erkennen, dass die Rauchsäule aus dem Vulkan dicker geworden war. Es bestand kein Zweifel, dass das Ergothal mit dem Vulkan in Verbindung stand. Ra gestand sich ein, dass es keinen Sinn hatte, gegen einen Feind zu kämpfen, der quasi über unbegrenzte Kraftreserven verfügte. Man konnte den Feind nur hinhalten, nur den eigenen Todeskampf verlängern. Ra schrak aus seinen Gedanken hoch, als er in seiner Nähe eine Bewegung wahrnahm. Es war der Instinkt des Barbaren, der ihm das Leben rettete; er machte einen gewagten Satz zur Seite, das Schwert Etir Bajs pfiff neben ihm durch die Luft. Jetzt war Bel Etir Baj wieder ganz Con-Treh. Ra hatte die Geschütze feuern lassen – und diese Energieausbrüche waren anzumessen. Allerdings hätte dazu ein Schiff in geringer Entfernung vom Planeten sein müssen. Etir Baj dachte nicht an solche Überlegungen, er schäumte vor Wut und drang mit erhobenem Schwert auf Ra ein. Ra parierte den Schlag und setzte seinerseits einen wuchtigen Hieb gegen Etir Bajs Klinge. Etir Baj war ein entschieden besserer Schwertkämpfer als der junge Thabek. Ra musste extrem auf der Hut sein. Die beiden Männer waren so in ihren Kampf vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie sich ein Kopf des Ergothal aus der Öffnung des Antigravschachtes schob. Auch die Worte, die das Wesen sprach, hörten sie nicht. Sie hätten sie auch nicht verstanden, da der Translator zerstört war, aber den Sinn hätten sie dennoch nach kurzer Zeit begriffen. Das Ergothal amüsierte sich darüber, dass sich die Zweibeiner gegenseitig umbrachten und ihm die Arbeit erleichterten. »Du wolltest uns verraten«, fauchte Etir Baj. »Dafür wirst du
sterben.« »Blödsinn«, keuchte Ra; er hatte alle Mühe, sich den geschickten Etir Baj vom Leibe zu halten. Der Con-Treh schlug eine beängstigend gute Klinge. »Früher oder später wird der Planet doch verraten. Dann nämlich, wenn die Bestie mit dem Schiff startet.« Auch dieser vernünftige Einwand konnte Etir Baj nicht beruhigen. Ra sah keine andere Möglichkeit, als die, seine Fähigkeiten rücksichtslos auszuspielen. Dass er der bessere Schwertkämpfer war, darüber gab es für Ra keinen Zweifel. Es war diese Selbstsicherheit, die schließlich den Ausschlag gab. Etir Baj war zu erregt, um besonnen kämpfen zu können; Ra trieb ihn langsam im Raum herum, einmal sogar in Reichweite des Ergothal, aber das Wesen schien sich über den Zweikampf so zu amüsieren, dass es auf ein Zugreifen verzichtete. Dann ließ sich Ra von Etir Baj absichtlich in die Enge treiben. Mit klirrenden Schwertern kämpften sich die beiden Männer weiter, bis sie kurz vor dem Instrumentenpult waren, an dem der Kampf begonnen hatte. Ra fintete, ließ Etir Baj ins Leere stolpern. Während der Con-Treh nach Halt suchte, griff Ra nach einem Ei und schleuderte es dem Con-Treh ins Genick. Ra hatte keine Zeit, die Wirkung des Geschosses abzuwarten. Im Bruchteil eines Augenblicks krachte seine Hand auf den Sammelschalter, der die Geschütze auslöste. Das Ergothal schrie auf und zog sich blitzartig zurück. Etir Baj schüttelte den Kopf, war leicht benommen. »Los, hilf mir!«, schrie ihn Ra an, der barsche Tonfall wirkte. Etir Baj ließ das Schwert fallen und kam näher. »Wir müssen versuchen, das Schiff zu starten. Übernimm du die Geschütze. Sobald das Ergothal zurückgekrochen kommt, nimmst du das Feuer wieder auf. Wir müssen das Biest beschäftigen!« Etir Baj nickte kurz und übernahm die Kontrollen, während Ra den Platz wechselte. Er suchte nach dem Schalter, mit dem
man das Schiff auf Einmannsteuerung umstellen konnte. Er konnte nur hoffen, dass die Schaltung noch funktionierte, dass die Positronik einwandfrei arbeitete. Ra brauchte nicht lange, bis er den Schalter gefunden hatte, aber ihm schien die Zeit fünffach gedehnt. »Ischtar!«, flüsterte Ra. Es war eine Beschwörung, die ihm Mut machen sollte. Ra zögerte einen Augenblick, dann fuhr er die Kraftwerke hoch. Auf den Bildschirmen sah er, dass sich noch immer Teile des Ergothal im Schiff befanden, es war sogar der größere Teil der Bestie. Dem Ergothal würde das Anlaufen der Maschinen nicht entgehen. Das Schiff schüttelte sich, während Ra die Antigravleistung auf Maximum schaltete. »Feuer einstellen!« Etir Baj nickte und gehorchte. Ra wartete nur kurze Zeit, dann sah er, dass neunzig Prozent der Ergothalmasse an Bord waren. Sofort schob er den Hebel nach vorn, mit dem Antigravleistung und Prallfeldprojektoren synchronisiert gesteuert wurden. Ein Ruck ging durch das Schiff, an den Bordwänden flogen meterdicke Ablagerungen und Grasbüschel vorbei, die sich im Laufe der Zeit aufgeschichtet hatten. Das Schiff ächzte und knirschte in den Verbänden, aber es bewegte sich. »Schneller!«, rief Etir Baj. Ras Stirn war mit Schweiß bedeckt. Er hatte noch nie ein so großes Raumschiff allein gesteuert, dazu hätte es eines Kosmonauten wie Sprangk gebraucht, und selbst dieser Pilot hätte seine Schwierigkeiten mit diesem Koloss gehabt, der für eine unbestimmte Zeit zur Hälfte im Boden versunken war. Ra wusste, dass große Teile des Schiffes, vor allem in der unteren Halbkugel, schwere Beschädigungen aufwiesen. An einen vernünftigen Start war nicht zu denken. Noch war nicht einmal der Ringwulst komplett frei; an eine Aktivierung der Impulstriebwerke war wegen des drohenden Energierückschlags unter diesen
Umständen überhaupt nicht zu denken. Antigravleistung, Prallfelder und gravomechanisch umgepolte Traktorfeldprojektoren mussten als Antrieb ausreichen; es würde ohnehin keinen echten Start oder gar Flug geben, sondern bestenfalls den Aufstieg um einige hundert Meter. Allmählich stieg der riesige Körper in die Höhe. Plötzlich wurde die geringe Fahrt langsamer, kam dann gänzlich zu Stillstand. »Das Ergothal zerrt uns zurück!« Erst jetzt begriff Ra in vollem Umfang, was die Eierladung des Schiffes für die bewohnte Galaxis bedeutete. Ein Wesen, das seine Energie aus einem Vulkan bezog und ein startendes Riesenschiff festhalten konnte – erst recht, wenn es unter Umständen mit paranormalen Kräften arbeitete –, konnte für eine Welt das Ende sein. Ra grinste schief, als er spürte, wie das Schiff langsam sank. Unerbittlich zerrte das Ergothal die Riesenkugel wieder in die Kuhle herab, von der sie sich nur wenige Meter entfernt hatte. »Es dringt in die Zentrale vor!«, warnte Etir Baj. »Gib mehr Energie!« Ra presste die Kiefer zusammen. Er verringerte die gravomechanische Abstoßleistung um einen winzigen Betrag. Sofort wurde der Zug des Ergothal stärker, das Schiff sackte ab. Ra wusste, dass er nur einen Augenblick zur Verfügung hatte, um zu handeln, und diesen musste er genau abpassen. Blitzschnell stieß er den Hebel nach vorn, das Schiff sprang förmlich in die Höhe. Das Ergothal wurde von dieser Aktion völlig überrascht: Es hatte bereits den größten Teil seines absonderlichen Körpers ins Schiff gezogen, als es plötzlich mit unwiderstehlicher Gewalt nach oben gerissen wurde. Verzweifelt wehrte sich die Bestie gegen den Zug des Schiffes. Ra sah aus den Augenwinkeln, wie das Ergothal einen Kopf bildete und in die Zentrale vorstieß. Aber der Angriff war nicht zielgerichtet genug. Der hässliche Kopf prallte weit neben Ra gegen eine Konsole. In diesem Augenblick war das
Schicksal des Ergothal besiegelt. Mit einem letzten Ruck zerrte das nach oben strebende Schiff den Leib des Ergothal ganz aus dem Boden, die Verbindung zum Lavafaden erlosch schlagartig – und damit der zum Energienachschub. In wenigen Augenblicken verfärbte sich das Ergothal, schrumpfte und verfiel. Die Haut löste sich ab, segelte in großen Fetzen durch die Zentrale. Nach kurzer Zeit war von dem Wesen nur noch ein grün schimmerndes Etwas zu sehen. Das Ergothal war tot, es konnte keiner Welt der Galaxis mehr gefährlich werden. Das Schiff bockte. Verzweifelt bemühte sich Ra, den Kugelraumer in der Luft zu halten. Die Antigravaggregate begannen zu stottern, setzten dann teilweise ganz aus. Auf den Monitoren sah Ra das Loch, das das Schiff in den Vulkanhang gerissen hatte. Dieses Loch kam rasend schnell näher. Ra hörte noch das Aufkreischen des Metalls der Schiffshülle, den entsetzten Ruf Etir Bajs, dann verlor er das Bewusstsein, als der Kugelraumer aufprallte, ein paar Meter in die Höhe federte, erneut fiel und mit einem heftigen Ruck endgültig zur Ruhe kam. Nur noch das leise Grollen des Vulkans war zu hören, sonst herrschte auf der Insel eine tödliche Stille.
Ras Kopf schien zu dröhnen wie eine große Trommel. Er stöhnte halblaut auf, während sich die farbigen Wirbel vor seinen Augen langsam zu einem Bild verdichteten. Schmerzhaft kehrte das Bewusstsein zurück. »Wo ist Etir Baj?«, murmelte er und richtete sich langsam auf. Am linken Oberarm war die Haut aufgeplatzt, Blut lief an dem Arm herunter, aber Ra kümmerte sich nicht um die Verletzung. Noch halb benommen von dem Aufprall, wankte er durch die Zentrale. In einem Winkel entdeckte er Etir Baj.
Ra beugte sich hinab und legte das Ohr an die Brust des ConTreh. Das Herz schlug kräftig. Es konnte nicht lange dauern, bis auch Etir Baj wieder erwachen würde. Noch immer lagen Ergothal-Eier zu Tausenden im Schiff. Sie waren äußerst widerstandskräftig. Ra kehrte zu Etir Baj zurück. Dieser erwachte gerade und betastete seinen schmerzenden Kopf. »Es sieht so aus«, murmelte er stöhnend, »als hätten wir es geschafft.« »Das Ergothal ist tot. Aber ihr werdet ziemlich viel Zeit brauchen, bis ihr die Halle der Erinnerung wieder für das Publikum freigeben könnt.« Etir Baj winkte ab und stand auf. »Wie sieht es aus? Was kann man mit dem Schiff noch anfangen?« »Ausschlachten. Abheben wird der Kasten nie wieder.« »Hauptsache, die Halle der Erinnerung ist gerettet. Was machen wir mit den Eiern? Normalerweise hätte ich vorgeschlagen, sie einfach in den Vulkan zu werfen, aber ich befürchte, dass wir auf diese Weise nur neue Ergothal ausbrüten und zum Leben erwecken.« »Wir könnten die See-Echsen damit füttern. Vielleicht sterben sie an den Eiern, aber dann hätten wir zwei Probleme mit einem Schlag erledigt.«
5. Aus: Mein Privatlog; Ruviin Ma-Anlaan, Eintrag zum 12. Prago der Hara 6342 da Ark – im Todesjahr Seiner Erhabenheit, Imperator Gonozal III. Ich glaube nicht, dass es im Leben des Zhdopanthi besonders viele Augenblicke des Glücks gegeben hat – zu hoch die Verantwortung, zu viele Widerstände zu überwinden, wenngleich er diese Bürde
immer souverän und voller Stolz getragen hat. Aber an ein Ereignis werde ich mich mein Leben lang erinnern: Es begab sich damals im Jahr 6304 da Ark, dass der Imperator dem Hofe verkündete, er geruhe mit seiner Familie die Rakkalin-Wälder aufzusuchen, um sich von der urwüchsigen Kraft der Natur inspirieren zu lassen. Man gehorchte natürlich, aber von der Idee war keiner von uns besonders begeistert: Die da Metzat waren erst vor Kurzem erneut in ihre Schranken gewiesen worden, die SENTENZA war nicht gerade untätig und die Mehandor maulten schon wieder wegen zu wenig Profit. Zudem war die kleine Yuuloi eben nur wenige Pragos alt, und die glückliche Mutter hatte sich kaum von der schweren Geburt erholen können. Daher staunten wir auch nicht schlecht, als gerade Imperatrix Sathal, von uns auch »die Sanfte« genannt, ihre Dienerinnen anherrschte: »Ihr habt es gehört! Also los, Bewegung!« Und so lustwandelte bald das Paar, Yuuloi abwechselnd tragend, unter den eleganten Zhdopanthi-Khasurn und den mächtigen TaionKhasurn, während ich mir wegen der Sicherheitsmängel die Haare raufte und die aufgeregten Parkwächter und neugierigen Pilger die Geduld meiner Leute auf eine harte Probe stellten. Besonders der junge Gos’athor Masar – wer denkt nicht an den tragischen Unfall, der ihn, vierzehnjährig, 6313 da Ark das Leben kostete? – genoss den Ausflug über alle Maßen: Es war gerade das Ende der Regenzeit, und die Ommyii da Khasurn, die reifen Vorjahresfrüchte der Khasurn-Bäume, regneten zu Tausenden auf uns herab. Masar hatte viel Spaß, als er versuchte, diese kleinen, wild rotierenden Propeller noch in der Luft zu fangen oder in die riesigen Höhlen der abgestorbenen Stämme zu kriechen. Als alle dann schon recht müde waren, spazierte der Zhdopanthi noch lange durch die Alleen der Reliefs, und ich begleitete ihn durch alle 24 Baumgrotten der She’Huhan. Wir gingen schweigend, behutsam die vorgeschriebene Reihenfolge einhaltend. In der Grotte der Qinshora hinterlegte der Imperator den traditionellen »Chronner der Neugeborenen«, und im Baumdom des Ipharsyn bewunderten
wir die kunstvollen schwimmenden Blumengestecke, die schon seit undenklich alten Zeiten von den Rakkalin-Essoya gebunden werden. Schließlich ermüdete er, wie ich glaubte, und wir setzten uns zwischen den mächtigen Wurzeln des »Herrn des Waldes« (damals lebte er noch, obwohl seine Krone schon recht licht war). »Ruv«, unterbrach er plötzlich das Schweigen, »ich wurde gesegnet!« Sein Gesichtsausdruck wies eindeutig die Anzeichen des Spontanen Zhy auf, und ich wusste sofort, dass das einer der Momente war, die später in die Geschichte eingehen würden. »Schau her!« Er zeigte mir die Khasurn-Frucht. Diese drei kleinen Kugeln mit ihren Flugzungen, die jedes Jahr in einem chaotischen Reigen beinahe schwerelos herabschweben, wie von unsichtbaren Mini-Antigravs in der Luft gehalten. »Drei Kugeln – jede für eine ganze Weltumkreisen sich im ewigen Tanz. Wäre eine solche Symmetrie nicht bestechend? Ja, beinahe Ehrfurcht gebietend?« Sein Blick ruhte jetzt prüfend auf mir- und ich fühlte mich plötzlich so unermesslich klein und unbedeutend. »Wäre das nicht eine wahre Lebensaufgabe?« Ich konnte keinen Laut von mir geben, denn noch vermochte ich es nicht, sein Vorhaben in der gesamten Größe zu begreifen. »So lasst uns etwas Großes tun, Ruv!« Er schlug sich vergnügt auf den Oberschenkel, steckte mir die Ommyi in die Brusttasche und sprach in seinen Minikom: »Mapoc hier. Der wissenschaftliche Stab soll sich bereithalten. Ich brauche jeden guten Wissenschaftler, der die Luft meiner Welten atmet, verstanden? Und sagt Ka’Marentis Sarion da Ragnaari, dass die Mehandor bald ihren Profit haben werden!« Und dann verstand ich endlich …
Halle der Erinnerung: 8. Prago des Eyilon 10.499 da Ark »Ich zeige dir die Halle der Erinnerung.« Etir Baj lächelte geheimnisvoll. »Ich habe den Con-Treh-Than um Erlaubnis gefragt, der Rat hat es gestattet.«
»Langsam«, unterbrach Ra. »Wie und wann willst du mit den Männern gesprochen haben? Sie sitzen Tausende von Kilometern entfernt in Magintor.« »Ich habe über Normalfunk mit ihnen gesprochen. Sie sind schon auf dem Weg hierher.« Ra war erstaunt. Die Con-Treh waren so unglaublich auf ihre Sicherheit bedacht, dass sie die beiden Männer nicht einmal mit Strahlwaffen ausgerüstet hatten, obwohl sie über solche Waffen verfügten. Dass Bel Etir Baj es trotz der Ortungsgefahr gewagt hatte, eine Funkverbindung nach Magintor herzustellen, war ein wahrhaft außergewöhnlicher Vorgang. Nur ein kleiner Reaktor lief noch in dem alten Kolonistentransporter und produzierte den wenigen Arbeitsstrom für die Einrichtungen der Halle. Ra hatte vermutet, dass die Räume rings um die Zentrale die wichtigsten waren, weil dort der Schlüssel zum Geheimnis der Con-Treh lag. Sein Verdacht bestätigte sich, als Etir Baj ihn in einen großen Raum führte, der aus der Zusammenlegung dreier benachbarter Räume entstanden war. Ra sah Reliefs an den Wänden und mehrere Arbeitspulte mit Lesegeräten. Der große dämmrige Saal war vollgestopft mit Büchern, Speichermedien und Bildern. Bel Etir Baj machte eine weit ausholende Geste, mit der er den ganzen Raum umschloss. »Das ist unsere Geschichte, die Geschichte der Con-Treh.« Es klang bitter. »Sieh sie dir an.« Langsam trat Ra näher, betrachtete die Bilder. Er überflog die Titel der Speicherkristalle und Aufzeichnungen. Dann setzte er sich an eins der Pulte und begann zu lesen … »Wer wohl?«, sagte der Mann bitter. »Natürlich ein Con-Treh!« Der Kommandeur der Vierten Flotte presste die Lippen zusammen. Die Arkonflotte hatte wieder ein Schiff verloren, mitten im Frieden.
Es war einfach explodiert, mitten im Flug. Es gab keinerlei Hinweise, die die Katastrophe erklärt hätten. »Ich halte, mit Verlaub, diese ganze Con-Treh-Hysterie für albern«, sagte der junge Sair Tenguin; die Abzeichen an seiner Schulter wiesen ihn als Adjutanten des Admirals aus. »Die Geschichten, die sich die Männer erzählen, sind nichts weiter als Latrinengeschwätz.« »Sie sind mit einer Con-Treh verheiratet, nicht wahr?«, fragte der Kurier beiläufig. Tenguin lief rot an. »Ja, das stimmt. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, was dies damit zu tun hat, dass man bei jeder Panne sofort einen Con-Treh verdächtigt. Was haben diese Leute eigentlich verbrochen, dass man sie derartig verabscheut?« »Das wissen Sie so gut wie ich. Die Con-Treh sind eine große, alte Familie. Es gibt, glaube ich, mehr als zehntausend Con-Treh allein auf Arkon Drei.« »Ich sehe da keinen Zusammenhang«, warf Tenguin ein. »Diese ganze Familie besteht aus Arkoniden, die hinter der Entwicklung zurückgeblieben sind«, sagte der Kurier. »Alle Arkoniden haben sich fortentwickelt und sind schon von ihrem Äußeren her als Herren des Imperiums zu erkennen. Die von Ihnen so geschätzten Con-Treh sind auf einer primitiveren Entwicklungsstufe einfach stehen geblieben. Sie haben dunkle Haare und sehr absonderlich gefärbte Augen.« »Mag sein, dass die Con-Treh nicht aussehen wie jene Arkoniden, die Sie als normal bezeichnen. Aber das hat mit den Vorwürfen nicht viel zu tun, die allenthalben gegen die Con-Treh erhoben werden!« »Verstehen Sie das nicht?«, fuhr der Kurier fort. »Diese Wesen sind nicht nur körperlich zurückgeblieben, sie stehen auch geistig auf einer niederen Stufe. Es ist doch allgemein bekannt, dass die ConTreh mit den Raumgeistern in Verbindung stehen und ihre Widersacher verhexen.« Sair Tenguin schüttelte fassungslos den Kopf. »Glauben Sie an
Raumgeister?« »Selbstverständlich nicht. Ich bin schließlich ein aufgeklärter Arkonide.« »Dann sind die Con-Treh also gefährlich«, fuhr Tenguin mit ätzendem Spott fort, »weil sie mit Geistern in Verbindung stehen, die es überhaupt nicht gibt. Merken Sie eigentlich nicht, was für ein sinnloses Zeug Sie zusammenschwätzen?« Der Kurier zog die Brauen zusammen, offenbar passte ihm der Tonfall nicht, in dem Sair Tenguin sprach. Der Admiral sah den Augenblick gekommen, um einzugreifen. »Es steht fest, dass die ARKEX detoniert ist. Und verantwortlich für die Maschinen war ein Angehöriger der Familie der Con-Treh. Halten wir einfach diese Tatsachen fest. Mehr will ich dazu einstweilen nicht sagen. Berichten Sie weiter, was macht das Programm zur Änderung der Umlaufbahn?« »Wir haben gute Fortschritte zu verzeichnen«, berichtete der Kurier. »Die großen Generatoren sind bereits aufgebaut, die Vierte Flotte, die die Bahnänderung überwachen soll, hat ihre Standorte bezogen. Das Experiment kann theoretisch sofort gestartet werden.« »Das freut mich«, sagte der Admiral, »Sie können sich zurückziehen.« Der Kurier salutierte und verließ den Raum, nicht ohne Tenguin mit einem abschätzigen Blick bedacht zu haben. »Lassen Sie sich von diesem arroganten Laffen nicht einschüchtern«, sagte der Admiral. »Er ist jung und vorlaut, das wird sich geben.« »Ich weiß«, sagte Tenguin halblaut. »Aber mich stört der Aussiedlungsplan. Was haben die Con-Treh getan, dass man sie ausweisen will?« Der Admiral trat zu dem jungen Mann und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das müssen Sie verstehen, Tenguin. Ich bin zwar auch nicht für diesen Plan, aber ich kann mir vorstellen, wie er entstanden ist. Wir haben die letzten Kriege schnell gewonnen, wir Arkoniden sind die Herren dieses Sternhaufens und greifen immer
weiter auf die Öde Insel zu. Vielleicht haben die Nachrichtenkanäle sogar recht, wenn sie behaupten, es gäbe in der Galaxis kein bedeutenderes Volk als die Arkoniden. Und jetzt sehen Sie sich die Bürger an. Sie sind einfach größenwahnsinnig geworden, und in diesem Wahn werden sie vom Imperator noch bestärkt. Er ist auf den Gedanken gekommen.« Tenguin warf einen Blick auf das Bild an der Wand, das Seine Erhabenheit Gonozal III. zeigte. »Er hatte den Einfall, das Arkonsystem müsse jedem Besucher schon beim Anflug klarmachen, dass er den Lebensraum des führenden Volks des Universums betrete«, sagte der Admiral. »Das ist Größenwahn in Vollendung, aber leider die Meinung der Mehrheit der Arkoniden. Daher Gonozals Plan, die Planeten zwei und vier des Systems auf die gleiche Umlaufbahn zu bringen wie Arkon Drei selbst. Ein solches Dreiplanetensystem wäre einmalig in der Galaxis, mithin genau der richtige Aufenthaltsort für ein in der Galaxis einmaliges Volk. Und in einem solchen perfekten Volk sind die Con-Treh Störfaktoren! Sie zeigen deutlich, dass wir Arkoniden früher einmal genauso ausgesehen haben wie die Kolonialvölker, die aus uns hervorgegangen sind.« » Und deshalb müssen die Con-Treh weg. Sie sind reinblütige Arkoniden wie wir, aber sie sehen ein wenig anders aus. Aus rein ästhetischen Gründen wird ein Teil des Volkes einfach vertrieben.« »Ich weiß, dass diese Maßnahme ungerecht ist.« Der Admiral begann in dem Raum auf und ab zu laufen. »Aber glauben Sie mir, diese Lösung ist vielleicht die beste. Seit vier Jahren läuft die Kampagne gegen die Con-Treh, in der dem Khasurn Sabotage, Verrat und Unfähigkeit vorgeworfen wird. Eigentlich sollte dieser Pressewirbel nur die Bevölkerung einstimmen, bis sie der Ausweisung der Con-Treh beipflichtet. Aber die Aktion ist ihren Initiatoren aus den Händen geglitten, das Publikum schreit nach den Schauermärchen über die Con-Treh.« Der Admiral blieb vor Tenguin stehen und sah ihn intensiv an. » Tenguin«, sagte er leise. »Wenn diese Aussiedlungsaktion nicht bald stattfindet, wird man
die Con-Treh wie tollwütige Tiere erschlagen. Es ist zu spät, die Entwicklung umzukehren. Die Meute hat Blut geleckt. Noch hält sie still, aber es genügt jetzt ein kleiner Vorfall, um die Katastrophe auszulösen. Ich werde den absurden Bericht natürlich nicht in dieser Form weiterleiten. Ich werde schreiben, dass die ARKEX durch einen technischen Fehler zerstört wurde.« »Ich danke Ihnen, Admiral. Wissen Sie zufällig, wann die ConTreh Arkon verlassen müssen?« »In einem halben Jahr«, sagte der Flottenkommandeur. »Seien Sie. unbesorgt, ich werde persönlich dafür Sorge tragen, dass die Umsiedlung friedlich vonstatten geht. Ich habe auch schon einen passenden Planeten gefunden und Ark’alor getauft.« »Arkons Rettung«, wiederholte Tenguin. »Ich nehme an, Sie wissen bereits, dass ich selbstverständlich meine Frau begleiten werde.« »Ihre Entlassung ist bereits vorgemerkt.« »Danke.« Tenguin salutierte und zog sich zurück. Regir da Quertamagin, Kommandeur der Vierten Arkonflotte, schüttelte resignierend den Kopf. »Hoffentlich geht das gut.« »Ich habe meinen Instinkt, der mich noch nie getrogen hat.« Quertamagins Stimme klang drängend. »Und mein Instinkt sagt mir, dass dieses Experiment scheitern wird. Es wird eine Katastrophe geben. Die hyperenergetische Anzapfung der Sonnenkräfte mag ja funktionieren, aber die großräumige Manipulation der Gravitation …« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine solche Katastrophe aussehen sollte«, widersprach der Imperator. »Das Laaha-System ist völlig unbelebt, wir können also unbesorgt mit den Planeten und Monden herumspielen. Außerdem ist die Vierte Flotte in der Nähe. Was soll dort passieren?« »Ich weiß es nicht«, murmelte Regir da Quertamagin düster. »Aber ich spüre es. Mag sich Ka’Marentis Sarion da Ragnaari noch
so sicher sein – es wird ein Fehlschlag werden! Aber vielleicht wird dich das von der Wahnsinnsidee abbringen, solche Experimente auch mit Arkons Planeten zu veranstalten. Du wirst damit unser Volk vernichten; was alle Gegner nicht geschafft haben, wirst du an einem Prago erreichen – Arkon wird untergehen.« »Du darfst mir glauben, alter Freund, dass ich an diesem Tage hier in diesem Palast sitzen werde«, versprach Gonozal III. »Wenn Arkon stirbt, sterbe ich auch. Und du weißt, dass ich sehr an meinem Leben hänge. Ich werde schon alle Vorsorge treffen, um das große Werk gelingen zu lassen.« Regir da Quertamagin schüttelte zweifelnd den Kopf. Nachdenklich füllte er die Pokale auf dem Tisch wieder auf. Er stellte den schweren Krug aus Luurs-Metall ab, dann sah er auf die Uhr. Vor wenigen Zentitontas an diesem 1. Prago des Tedar 6310 da Ark war das Große Experiment angelaufen, bald würden die ersten Nachrichten über Hyperfunk auf Arkon eintreffen. Regir spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er war ein schlachterprobter Kämpfer, der einen untrüglichen Instinkt für drohende Gefahren hatte, und dieses Gefühl sagte ihm ganz deutlich, dass sich im LaahaSystem eine fürchterliche Katastrophe anbahnte. Es galt als unschicklich, am Hofe des Imperators seine Gefühle zu zeigen, daher kam der Bote mit der Nachrichtentafel gemessenen Schrittes näher und übergab nach dem Zeremoniell den Plastikstreifen an den Imperator. Quertamagin starrte auf das Gesicht seines Freundes, das jäh die Farbe wechselte. Der Imperator ließ die Hände sinken und richtete den Blick auf seinen Freund. »Du hast dich nicht geirrt«, sagte Gonozal III. tonlos. »Es hat eine Katastrophe gegeben!« Regir da Quertamagin griff nach dem Plastikstreifen und überflog den Text. Der erste Teil des Versuchs war ohne Schwierigkeiten abgelaufen, dann aber war das hyperphysikalische Kräftegefüge des Systems schlagartig zusammengebrochen. Die Planeten und Monde verließen ihre Bahnen und rasten frei durch das All. In diesem gravitatorischen und hyperphysikalischen Chaos hatten die
Flotteneinheiten ihr Heil in der Flucht gesucht, aber die hyperstrukturellen Veränderungen verfälschten die Absprungdaten bei den Transitionen. Die meisten Schiffe verschwanden im Hyperraum und kehrten nicht zurück, andere waren von Trümmern des zerplatzten Mondes zerfetzt worden. Die Katastrophe konnte nicht vollständiger sein. »Du hast nicht mehr viel Zeit«, murmelte Gonozal III. schwach. »Ich kann diese Information nicht lange zurückhalten. In ein paar Tontas wird das ganze Tai Ark’Tussan wissen, dass das Projekt fehlgeschlagen ist. Bringe die Con-Treh in Sicherheit, und das schnell!« Regir da Quertamagin stand auf und sah den Imperator lange an, dann murmelte er: »Leb wohl, Freund! Ich glaube, wir werden uns nicht mehr wiedersehen.« Er schüttelte die Hand des Imperators, der geistesabwesend auf einen Punkt in der Luft zu starren schien, dann verließ er schnell den Raum.
Ra blinzelte. Etir Baj stand neben ihm und knirschte mit den Zähnen. »Ich werde dir sagen, was danach geschehen ist«, sagte er undeutlich; Ra sah ihm an, wie viel Energie es den Mann kostete, einigermaßen ruhig zu bleiben. »Nur fünftausend Con-Treh ist damals die Flucht gelungen, alle anderen wurden niedergemacht. Komm mit!« Ra stand auf und folgte dem Con-Treh. Vor einem durchsichtigen Plastikblock blieben die beiden Männer stehen. Etir Baj deutete auf eine Karte, die von dem Plastikmaterial umhüllt wurde. »Lies das«, sagte er. »Dann wirst du wissen, warum wir Con-Treh die Gonozals hassen.« Ra beugte sich vor und las die wenigen Zeilen. Alle Con-Treh, wo immer sie anzutreffen sind, sind gefangen zu nehmen und ohne weitere Umstände sofort zu exekutieren. Durch
Sabotage der Con-Treh ist das Große Projekt fehlgeschlagen und die Vierte Flotte nahezu vernichtet worden. Die Gesamtheit der ConTreh ist hiermit zum Tode verurteilt! – Gegeben im Kristallpalast, im fünfzehnten Jahr seiner Regierung, Gonozal III. Ra starrte auf das Dokument. Neben der charakteristischen Unterschrift war der Daumenabdruck des Imperators zu erkennen, mit dem er Unterschriften von besonderer Bedeutung kennzeichnete. Ra hatte zwar keine Möglichkeit, die Echtheit dieser Unterschrift zu prüfen, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es sich um eine Fälschung handelte. »Verstehst du uns jetzt?«, fragte Etir Baj. »Wir leben auf dieser Welt in Angst, denn dieser Befehl gilt noch immer. Seit Jahrtausenden leben wir auf Ark’alor in Angst und Schrecken, immer in der Gefahr, von den Arkoniden entdeckt zu werden. Nur selten wagt sich ein Con-Treh von Ark’alor weg – dann meist, um unsere Dankesschuld abzutragen. Mit diesem Schiff hier landete als letzter Flüchtling Regir da Quertamagin, schwer verletzt. Er starb hier. Seit dieser Zeit helfen wir den Quertamagins, wenn wir können. Ein Gonozal aber …« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Todesurteil echt sein soll«, sagte Ra. »Natürlich, es ist von Gonozal dem Dritten unterschrieben worden, aber wahrscheinlich nicht ganz freiwillig.« »Wie meinst du das?«, fragte Etir Baj verblüfft. »Der Imperator wusste, dass es keine Macht gab, die die Con-Treh noch hätte retten können. Das Volk wartete nur darauf, sie massakrieren zu dürfen. Nun stell dir vor, es wäre zu dem Massaker gekommen, ohne dass der Imperator diesen Befehl ausgestellt hätte. Später nämlich hätte er jeden Arkoniden, der an der Tötung eines Con-Treh beteiligt gewesen war, vor Gericht stellen und aburteilen müssen. Kannst du dir die Folgen vorstellen? Millionen Arkoniden vor Gericht, wegen gemeinschaftlicher Verschwörung zum Mord?
Es hätte einen Bürgerkrieg gegeben! Um das zu verhindern, musste Gonozal der Dritte die Lynchjustiz seines Volkes in irgendeiner Weise legalisieren – und das hat er mit diesem Befehl getan.« Bel Etir Baj starrte Ra nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf. »Es hört sich logisch an, was du sagst. Aber ich kann dir einfach nicht glauben! Eine jahrtausendealte Tradition wirft man nicht so schnell über Bord.« »Wenn nicht jetzt, dann später. Du wirst sehen, Atlan hat mit dem Gonozal, wie du ihn mir geschildert hast, keinerlei Ähnlichkeit. Bei der Verhandlung vor dem Con-Treh-Than hast du von Crysalgira da Quertamagin und ihrer Flucht aus Krassig berichtet. Ich weiß, dass die Prinzessin in die Hände der Maahks gefallen ist! Auf der Stützpunktwelt Skrantasquor wurde sie einem Experiment unterzogen, dessen Einzelheiten mir nicht bekannt sind. Fest steht allerdings, dass das Zwergenmacher genannte Gerät Personen verkleinern kann, bis sie in einem … hm, Mikrokosmos verschwinden. Es war Atlan, ein Gonozal, der der Prinzessin zu helfen versuchte. Er wurde von den Methans gefangen genommen. Ischtar, die dem Volk der Varganen entstammt, welches die Oktaederschiffe gebaut hat, hätte es vielleicht geschafft, Atlan aus der Gewalt der Maahks zu befreien. Er aber wollte der QuertamaginPrinzessin helfen und ließ sich ebenfalls verkleinern. Er war nämlich schon mal im Mikrokosmos – die Methans haben den Zwergenmacher beim Angriff auf Trantagossa eingesetzt –, und ihm ist die Rückkehr ins Standarduniversum gelungen.« Ra verzichtete darauf, näher auf die Rolle einzugehen, die er selbst bei den Ereignissen gespielt hatte. Der mehr als skeptische Blick des Con-Treh sprach ohnehin für sich. »Wie auch immer – du magst mir glauben oder nicht –, Atlan jedenfalls hat euren Hass nicht verdient. Wann können wir damit rechnen, dass der hoch verehrte Con-Treh-Than hier
eintrifft? So schön eure Welt auch ist, ich möchte trotzdem wieder fort. Ischtar wartet, vielleicht sind Atlan und diese Crysalgira inzwischen wieder zurück …« »Vielleicht findet sich eine Möglichkeit. Ich habe da ein paar Ideen, die man in die Tat umsetzen könnte.«
Ra lehnte an der Wand und lächelte vergnügt. Der ehrwürdige Con-Treh-Than benahm sich wie ein Kindergarten auf Reisen. Die alten Männer des Rats der Con-Treh tanzten förmlich in der Halle der Erinnerung. Für sie war dieses uralte Schiff heilig, sie hatten lange warten müssen, bis sie ihr Heiligtum wieder betreten konnten. Etir Baj hatte ein Übriges getan. Offen und wahrheitsgetreu hatte er von der Rückeroberung der Halle berichtet und dabei Ras Anteil hervorgehoben. Sobald sich die Männer wieder beruhigt hatten, wandten sie sich dem vorerst wichtigsten Thema zu. Ra war von dem ConTreh-Than zum Tode verurteilt, er sollte allerdings begnadigt werden, wenn es gelang, die Halle der Erinnerung für die Con-Treh zurückzugewinnen. Nichts sprach deutlicher für die Erfüllung dieser Bedingung als der Umstand, dass die neuerliche Verhandlung über das Geschick des Barbaren in eben dieser Halle stattfand. »Er hat die geforderten Bedingungen erfüllt«, sagte Bel Etir Baj. »Sein Leben ist damit unantastbar. Ich habe Ra mit der Geschichte unseres Volkes vertraut gemacht, wie ihr es befohlen habt. Dabei hat Ra einen völlig neuen Gedankengang entwickelt.« Etir Baj schilderte, wie Ra die Existenz des Todesurteils zu erklären versucht hatte, und der Con-Treh-Than hörte ihn geduldig an. »Eine kühne These«, sagte der Sprecher schließlich. »Es gibt aber keine Beweise für die Richtigkeit seiner Auffassung.«
»Auf dieses Thema wollte ich zu sprechen kommen«, fuhr Etir Baj fort. »Wenn es möglich ist, Beweise für Ras Hypothese zu finden, dann nur im Arkonsystem. Ich bitte daher den ConTreh-Than um die Erlaubnis, Arkon aufsuchen zu dürfen.« »Und ich möchte ihn begleiten«, mischte sich Ra sofort ein. Er hatte nicht die geringste Lust, den Rest seines Lebens auf Ark’alor zu fristen. Vielleicht war es auch möglich, auf den Arkonwelten irgendetwas in Erfahrung zu bringen, was für Atlan von Nutzen sein konnte. Seit der Kristallprinz gegen seinen verbrecherischen Onkel kämpfte, war vermutlich keiner seiner Mitarbeiter so nahe an den Gegner herangekommen. Und wenn die übervorsichtigen Con-Treh einen Mann nach Arkon schmuggeln konnten, musste dieser Schleichweg außerordentlich gut gesichert sein. »Wir stimmen dir zu, Bel Etir Baj«, sagte der Sprecher am Ende der leise geführten Beratung. »Und deinen neuen Freund kannst du mitnehmen. Genau betrachtet gehen wir ein großes Risiko ein, wenn wir Ra erlauben, nach Arkon zu gehen. Aber wir können und wollen einem Mann nicht länger misstrauen, der uns das größte Heiligtum unseres Volkes wieder zugänglich gemacht hat. Zieht also nach Arkon. Seid wachsam und vorsichtig.« »Seid wachsam und vorsichtig«, wiederholten die Männer den traditionellen Gruß der Con-Treh. Ra und Etir Baj zogen sich zurück. Am Strand der Insel herrschte ein geschäftiges Treiben. In seiner fast euphorischen Stimmung hatte der Con-Treh-Than viele der Sicherheitsbestimmungen gelockert. Wie von Etir Baj vorgeschlagen, wurden die Ergothal-Eier an die Wasserechsen verfüttert. Darüber hinaus galt es, eine schnelle Verkehrsverbindung zwischen der Insel und der Hauptstadt Magintor zu schaffen. Sogar Gleiter hatte die Regierung der Con-Treh bewilligt.
Mit einem dieser Fahrzeuge flogen Ra und Etir Baj die Strecke zurück, die sie in endlos lang erscheinenden, qualvollen Märschen zurückgelegt hatten. Nur mit Schaudern dachte Etir Baj an das gefährliche Gloohn, das noch immer irgendwo im Felsen lebte und eine Gefahr für jeden war, der in seine Nähe geriet. Ras Überlegungen gingen mehr in die Zukunft. Vielleicht war es möglich, die Con-Treh von ihrem Hass auf alles, was mit dem Namen Gonozal zu tun hatte, abzubringen. Gelang dies, hatte Atlan unter Umständen einige tausend hervorragende Freunde und Mitkämpfer gefunden. Nachdenklich betrachtete Ra den Mann, der neben ihm in dem Gleiter saß. Bel Etir Baj war etwas größer als Ra, nicht ganz so breit in den Schultern. Seine Haut zeigte einen satten Bronzeton, die Haare die dunkle Färbung, die typisch für die Con-Treh war. Ra freute sich darauf, den Mann Atlan vorstellen zu können – sofern es dem Kristallprinzen gelang, wieder ins Standarduniversum zurückzukehren. Irgendwie hatte der Barbar nicht den geringsten Zweifel, dass es Atlan über kurz oder lang gelingen würde. Kurz spielte er mit dem Gedanken, Etir Baj den Vorschlag zu machen, mit dem Varganen-Beiboot nach Skrantasquor zu fliegen, doch dann entschied er sich dagegen. Er wollte das gerade gewonnene Vertrauen nicht überstrapazieren – und ein Abflug mit dem Oktaeder hätte vielleicht genau das bedeutet. Von Etir Baj hatte Ra erfahren, dass sich die Con-Treh an dem Schiff nach wie vor die Zähne ausbissen; es war ihnen, wie von Ra erwartet, bis heute nicht gelungen, in das Oktaeder einzudringen.
Einige Tontas waren seit dem Abflug von der Insel vergangen; inzwischen war der 10. Prago des Eyilon 10.499 da Ark nach Arkon-Standard angebrochen. In Flugrichtung kamen
langsam die Berge näher. Dort lag in einem großen Tal, das ein Meteorit förmlich aus dem Gebirge gestanzt hatte, die Stadt Magintor, zum weitaus größten Teil in den Fels hineingebaut. Von den Siedlungen der Con-Treh war aus der Luft nichts zu sehen, ein weiteres Zeichen ihrer großen Angst vor Entdeckung. Etir Baj wandte den Kopf zur Seite und betrachtete das Gesicht Ras. »Ich überlege gerade«, murmelte er, als er Ras fragenden Blick bemerkte, »wie wir es anstellen, aus dir einen Arkoniden zu machen. Bei mir ist das relativ einfach, wir sind seit Langem darin geübt. Aber ich frage mich, wie unsere Färbemittel auf dein Haar wirken. Vielleicht wirst du kahl davon werden.« Instinktiv gingen Ras Hände in die Höhe. »Nur das nicht.« »Keine Angst. Die Haare wären nicht weiter wichtig, aber ich kann nicht abschätzen, ob es möglich sein wird, deine Augen zu färben. Die Gefahr, dass du dabei erblindest, ist entschieden zu groß.« »Barbar bleibt Barbar. Ihr werdet mich nicht ummodeln können.« »Dann wirst du mich als Diener begleiten müssen. Ich werde als Kaufmann nach Arkon reisen. Und du wirst ein barbarischer Sklave von irgendeinem Kolonialplaneten sein.« Ra zuckte zusammen. Er war lange Zeit Sklave gewesen; die Zeit, die er auf dem Sklavenplaneten Mervgon zugebracht hatte, hatte er nicht vergessen. Ra schüttelte den Gedanken ab. Diesmal würde er den Sklaven nur spielen – und dieser Unterschied zählte.
Es war erstaunlich, wie schnell sich Ansichten ändern konnten. Noch vor Kurzem hätte man Ra in Magintor erschlagen; jetzt drängten sich immer wieder Männer heran, um Ra auf die Schulter zu klopfen und ihm zu gratulieren.
Und Etir Baj stellte im Stillen fest, dass auch der weibliche Teil der Con-Treh Gefallen an dem stämmigen Barbaren gefunden hatte. Dass auch Ra seine Geheimnisse hatte, wurde angesichts der Con-Treh-Geschichte bemerkenswert bereitwillig akzeptiert; nicht einmal seine strikte Weigerung, den Con-Treh das varganische Schiff und seine überlegene Technik zugänglich zu machen, wurde ihm übel genommen. Sein Hinweis darauf, dass es sich nur um eine Leihgabe handele und er die Varganin Ischtar als eigentliche Besitzerin nicht verärgern oder hintergehen wolle, fand Verständnis. Man gönnte den Männern einen Tag der Erholung, dann machte sich Etir Baj an die Arbeit. Mit Staunen sah Ra, wie sich der Con-Treh in einen waschechten Arkoniden verwandelte. Ein Bleichmittel färbte die Haare des Mannes weiß, eine andere Chemikalie verlieh den Augen den typischen Rotton. Ein weiteres Bleichmittel sorgte dafür, dass Etir Bajs Körper die Sonnenbräune verlor. Braun gebrannte Arkoniden gehörten meist nur der untersten Schicht der Bevölkerung an. Arkoniden von Rang hatten blass zu sein, es sei denn, man gehörte zur Flotte, wo sich Sonnenbestrahlung nicht vermeiden ließ. Einem hohen Offizier ließ man die Bräune durchgehen, doch war es üblich, die Haut mit Cremes zu bleichen. Nach wenigen Tontas hatte Etir Baj den alabasternen Leib eines vornehmen Arkoniden. Nur die gut ausgebildete Muskulatur ließ sich nicht entfernen, aber darauf legte der Con-Treh auch wenig Wert. Nach einem Tag waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Zwar würden noch ein paar Tage vergehen, bis die Narben an Etir Bajs Schädel vollständig verheilt waren, aber den Mann hielt es nicht länger in Magintor. Die Narben, die von den grausamen Psychoverhören in Krassig geblieben waren, hatte eine kosmetische Operation nahezu verschwinden lassen. Nur die Narben auf dem Brustkorb und auf dem Rücken, ebenfalls
Überreste von Folterungen, waren geblieben. Aber nach einer kosmetischen Operation auch dieser Narben hätte Etir Baj mindestens fünf Pragos länger auf Ark’alor bleiben müssen, und dazu hatte er keine Lust. »Ich heiße von nun an Immo Kalee«, sagte Etir Baj. »Jetzt brauchen wir nur noch einen Namen für dich.« »Ich bin Ra und werde es bleiben. Ich habe es nicht nötig, mir einen falschen Namen zuzulegen.« »Einverstanden. Meine Ausrüstung ist fertig, wie sieht es bei dir aus?« Ra trug die Lederbekleidung, die er zu Beginn der Expedition auf Ark’alor erhalten hatte. An seiner Seite hing ein langes Schwert mit einer hervorragenden Klinge, dazu kamen ein Dolch und eine Schleuder. Im Nacken verborgen war eine weitere, nadelspitze Klinge, eine mörderische Überraschung für den, der dieses Versteck nicht kannte. Als Sklave konnte Ra natürlich keine Hochenergiewaffe tragen, wie sie in Etir Bajs Gurt steckte. Der rohlederne Anzug, den Ra trug, war eng geschnitten, einige Verehrerinnen von Ra hatten den Anzug mit Stickereien verziert. Ra machte den Eindruck eines erstklassigen Kriegers aus einem Jägervolk; niemand hätte vermutet, dass er auch mit modernen Waffen sehr gut umzugehen verstand. »Ich bin bereit«, sagte Ra.
6. Aus: Das Familientreffen. Terraner, Báalol und Iprasa-Arkoniden beim gemeinsamen Philosophieren. Dr. Arthura Maslo, Lhasa University Press, Terra 2788 n.Chr. Hoshat: »Die Zahl spielt doch überhaupt keine Rolle! Wären die
Khasurn-Früchte fünfspaltig, würde heute auch Iprasa in einem Gebilde mitrotieren, das da hieße: Wes Ranton …« Vahoaá: »Dann sollten wir der Natur wohl sehr dankbar sein, dass sie keine Ommyii mit achtundzwanzig Sammelfrüchten vorgesehen hat. Einen Planeten von außerhalb des Arkonsystems zu holen hätte sogar unsere titanischen Ahnen vor ziemliche Probleme gestellt …« (grinst) Hoshat: »Ich wiederhole: Die Zahl ist irrelevant. Was wirklich zählt, ist der Wille zum Wagnis. Arthura, sagte nicht einer Eurer Weisen: So gebt mir einen Ansatzpunkt, und ich hebe die ganze Welt aus den Angeln?« Arthura: »Ja, sicher … Aber das war eigentlich nur allegorisch gemeint. Universell auf das gesamte Sein anwendbar.« Hoshat: »Und genau das ist der Unterschied zwischen den Terranern und uns: Ihr definiert Allegorien – wir Arkoniden leben sie konsequent aus!« Arthura: »Und doch hütet Euer Orden die berühmte Ommyi des Ruviin wie eine Reliquie.« Hoshat: »Jawohl! Zur ewigen Erinnerung daran, dass wahre Revolutionen immer klein und scheinbar unbedeutend anfangen.« Vahoaá:“… und doch auch daran, dass das Kleine und das Große sehr wohl dieselbe Form, aber nicht den gleichen Gehalt haben können, Hoshat.« Arthura: »Interessant. Das Gleichgewicht zwischen Gehalt und Form wurde bei uns schon von Meister Kung postuliert.« Hoshat: »Meister Kung? Erzählt mir mehr von ihm, meine Freundin …«
Ark’alor: 12. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Die Con-Treh hatten den beiden Männern einen Ultraleichtkreuzer zur Verfügung gestellt. Das Schiff war ziemlich alt, aber es erfüllte noch seinen Zweck. Der kleine Laderaum war mit seltenen Fellen, getrockneten Heilkräutern
und anderen Produkten des Planeten bis an den Rand gefüllt. Dies war ein weiterer Grund, weshalb man die beiden Männer gewähren ließ. Ab und zu brauchten die Con-Treh Nachschub an hoch technisierter Ausrüstung. Immer wenn es so weit war, schickten sie eine Ladung ihrer angeblich Wunder wirkenden Kräuter und der Felle hinaus und tauschten sie gegen die Güter ein, die sie brauchten. Da die Con-Treh sehr sparsame Leute waren, wurden solche Ausflüge nur sehr selten unternommen. Entsprechend rar waren die Con-Treh-Felle im Großen Imperium und dementsprechend hoch der Erlös für jedes einzelne Fell. Etir Baj hatte die lange Liste von Dingen, die auf Ark’alor gebraucht wurden, im Kopf, er wusste auch, wie er diese Dinge vom Arkonsystem herschaffen würde, ohne dass ihm jemand folgen konnte. Ra hätte lieber das Beiboot von Ischtars MONDSCHATTEN verwendet, weil dieses Schiff von den Strukturtastern nicht erfasst werden konnte. Aber die varganischen Konstruktionen waren derart auffällig, dass man sich sofort um die Insassen gekümmert hätte, wo immer sie auch erschienen wären. Aufsehen aber war das mit Abstand Letzte, was sich die Männer wünschen konnten. Die COTAWBA konnte zur Not von nur einem Mann gesteuert werden. Mit kleinen, aber leistungsfähigen Schiffen dieser Bauart pflegten abenteuerlustige Männer die Öde Insel zu durchstreifen, auf der Suche nach Abenteuern, seltenen Mineralien, Hyperkristallen und anderen Dingen, die – sofern man eine solche Fahrt überlebte – auf Arkon II hohen Gewinn abwarfen. Ihrer Bestimmung gemäß sah die COTAWBA ziemlich heruntergekommen aus. Ra traute dem Kugelraumer nicht ganz, aber als er beim Start die gleichmäßigen Arbeitsgeräusche der Triebwerke hörte, wusste er, dass sich die Brüchigkeit der COTAWBA auf den äußeren Anblick beschränkte.
Fast einen ganzen Prago hielt sich das Sechzigmeterschiff am Rand des Ark’alor-Systems auf. Sorgfältig prüfte Etir Baj die Messungen der Strukturtaster. Als die Männer sicher sein konnten, dass ihre Transition nicht bemerkt oder gar angemessen werden würde, starteten sie. Den nächsten Sprung berechnete Etir Baj nach ähnlichen Kriterien. So dauerte es fast vier Pragos, bis die beiden Männer endlich am 16. Prago des Eyilon ihr Teilziel erreicht hatten: Die COTAWBA kreiste in einem stabilen Orbit um den Planeten Vor’phamor, einen Handelsknotenpunkt des Großen Imperiums, 5981 Lichtjahre von Ark’alor entfernt. Von hier aus betrug die Distanz bis zum Arkonsystem knapp 20.000 Lichtjahre. Von seinen Daten her war der Planet äußerst durchschnittlich. Die Bewohner fühlten sich sehr sicher, nach einer überaus flüchtigen Kontrolle durften Etir Baj und Ra auf einem der kleinen Häfen landen. Etir Baj hatte sich für Cortereal entschieden, die zweitgrößte der Städte des Planeten. »Und vergiss nicht«, ermahnte Etir Baj seinen Begleiter. »Ich heiße Immo Kalee. Wenn du dich verplapperst, reißt man uns in Stücke.« »Keine Sorge.« Zur Ausrüstung des Beiboots gehörte ein kleiner Gleiter mit zwei Sitzplätzen und einer geräumigen Ladefläche, speziell geschaffen für die Schiffe der Prospektoren und Tauschhändler. Niemand kümmerte sich um die Männer, als Ra hinter dem Steuer Platz nahm und sich Immo Kalee hoheitsvoll auf den anderen Platz setzte. »Halt auf den großen Turm zu!«, befahl Immo. Ra nickte und schob den Beschleunigungshebel nach vorne. Langsam und mit winselnden Generatoren setzte sich der Gleiter in Bewegung. Immo Kalee hatte vor dem Abflug dafür gesorgt, dass das Fahrzeug tatsächlich Spuren starken Gebrauchs aufzuweisen hatte. Das wichtigste Indiz war der
mörderische Gestank, den die Ladefläche verbreitete. Erst am Rand des kleinen Landefelds wurden die beiden Männer angehalten. Zwei Einwohner der Stadt überprüften die Papiere. Selbstverständlich waren die Unterlagen von Immo Kalee einwandfrei, immerhin hatten die Con-Treh einige Jahrtausende lang das Fälschen von Dokumenten üben können. »Und der da?«, fragte einer der beiden Posten und deutete auf Ra. »Was ist mit dem Burschen?« Immo Kalee zog die Brauen zusammen. »Erstens«, sagte er langsam und drohend, »werde ich für gewöhnlich mit Erhabener angeredet, wie es sich für einen Arkoniden von Geblüt geziemt. Und zweitens ist dieser Mann mein Eigentum. Ich habe vor, ihn amtlich als Sklaven registrieren zu lassen.« Der Posten zuckte zusammen. Es war nicht ratsam, sich mit einem hochwohlgeborenen Arkoniden anzulegen. Die Herren des Großen Imperiums verstanden keinen Spaß, wenn man sie in ihrer Ehre kränkte. Den Bewohner Cortereals erwarteten beträchtliche Schwierigkeiten, wenn sich ein Arkongeborener über ihn beschwerte. »Verzeihung, Erhabener«, stammelte der Posten. »Die Durchfahrt ist frei.« Immo Kalee gab Ra einen Wink, der Barbar beschleunigte den Gleiter. Im Vorbeifahren warf Immo dem Posten ein Geldstück zu, das der Mann grinsend auffing. Korruption war weit verbreitet, besonders auf Welten wie Vor’phamor. Vorsichtig fädelte sich Ra in den dichten Verkehr auf den breiten Straßen ein. In Cortereal trafen sich nicht die ganz großen Händler, die ganze Konvois mit der gleichen Ladung füllen konnten. Die Stadt war ein Tummelplatz der Abenteurer, die nach oft jahrelanger Abwesenheit mit erlesenen Kostbarkeiten zurückkehrten. Entsprechend bunt und vielgestaltig war das Leben in der Stadt. Die Behörden
sahen zwar nicht gerne, dass sich allerlei lichtscheues Gesindel in der Stadt ein Stelldichein gab, aber solange sich die Zahl der Messerduelle in Grenzen hielt, drückten die Polizisten ein Auge zu. Ein besonderes Interesse an dem Leben und Treiben in Cortereal hatte die Tussan Goldan Celis – frei übersetzt die »Goldan-Augen des Imperiums« –, deren Spitzel in vielfältigen Verkleidungen durch die Märkte und Spelunken zogen, um Informationen zu sammeln. Den wüsten Männern, die sich berufsmäßig in der Stadt trafen, tat die »Politische Geheimpolizei des Imperators« mit dem verharmlosenden Akronym Tu-Gol-Cel nichts, aber die Informationen, die die Männer ausplauderten, waren für die TGC von Bedeutung. Während Celis wörtlich Augen bedeutete, war es im weiteren Sinne auch die Umschreibung für alle Agenten und Geheimdienstler. Goldan oder auch Goltan war ein aus den Heroen-Sagas überliefertes Ungeheuer mit Hunderten überaus scharfsichtigen Augen. Cortereal lag in einem weiten, sanft geschwungenen Tal. Die Stadt war gewachsen wie eine Krebszelle, wild und zügellos. Entsprechend verwirrend und faszinierend war das Bild, das sich dem Betrachter bot. Kurz, die Stadt war voller Leben und Bewegung. Cortereal hatte etwas mehr als zehntausend Einwohner, hinzu kamen je nach Geschäftslage bis zu einhunderttausend Händler, Prospektoren, Dirnen, Taschendiebe, Spieler, Glücksritter, Vagabunden. Die Bewohner der Stadt mochten keine Gleiter, daher stellten Immo Kalee und Ra ihr Fahrzeug am Stadtrand ab und gingen zu Fuß weiter. Warum in den Straßen Fahrzeuge nur in Ausnahmefällen zugelassen waren, begriffen die Männer sehr schnell. Überall trafen sie auf kleine Gruppen, die singend und lärmend durch die Straßen zogen, in der Rechten eine dickbauchige Flasche, in der Linken die Hand eines Mädchens – Cortereal war eine Stadt der fröhlichen Zecher und der
ungehinderten Lebenslust. Ra fühlte sich in dem wilden Haufen außerordentlich wohl. Er mochte Leute, die sich natürlich gaben. Die Männer kamen nur langsam voran. Immer wieder boten ihnen wildfremde Gesellen Drinks an, und die Mädchen versuchten ihr Bestes, um die Männer von ihren eigentlichen Zielen abzubringen. »Vorwärts«, sagte Immo Kalee und zerrte Ra mit sich, der dem dunkelhaarigen Mädchen mit einem Achselzucken und einer Kopfbewegung klarmachte, dass er nicht so konnte, wie er gern gemocht hätte. »Wir haben allerhand zu besorgen.« Vor einer bunt bemalten Fassade eines alten Hauses blieb Immo Kalee stehen. Über der Tür hing ein altes, fleckiges Schild. Die Aufschrift Zum ehrlichen Würfel war kaum noch zu lesen, dafür steckten in der hölzernen Tafel dicht nebeneinander vier Messer. Aus der Tür klangen das Geräusch aneinanderschlagender Gläser und der ohrenbetäubend laute Gesang eines Dutzends Männer, die mangelnde Kunstfertigkeit mit Lautstärke wettzumachen suchten. Ra brauchte einige Zeit, bis er sich an den Dunst und den Rauch im Innern der Taverne gewöhnt hatte. In der Luft lag der Geruch nach viel Alkohol und einem vorzüglichen Braten. Mädchen liefen zwischen den hölzernen Bänken und Tischen hin und her, damit beschäftigt, Wein, Braten und abwehrende Klapse auszuteilen. »Was wollen wir hier?«, fragte Ra so leise, wie es die Geräuschkulisse des Lokals zuließ. »Leute treffen. Ich war zwar noch nie selbst hier, aber andere Männer haben mir von dieser Kneipe erzählt. Wer hier verkehrt, gehört zu den anerkannten Händlern der Stadt. Mach dich auf Schwierigkeiten gefasst.« Ra ging voran und schob die Personen zur Seite, die sich ihm in den Weg stellten. Wütende Rufe wurden laut, die schlagartig verstummten, als sich Immo Kalee auf den
einzigen noch freien Platz setzte. Der hölzerne Stuhl war frei, obwohl sich Männer in der Nähe des Platzes drängten, Immo Kalee war sich sicher, dass dieser Sitz für einen besonders wichtigen Mann frei gehalten wurde. Schlurfend kam der Wirt näher, ein speckiger Zaliter mit einem verschlagen wirkenden Gesichtsausdruck. »Hör zu, Freundchen«, sagte er leise. »Dieser Sitz ist für Gabdraman Schwati reserviert. Sitzt du darauf, wenn er kommt, wirst du mein Lokal mit den Füßen voran verlassen. Ich gebe dir den guten Rat zu verschwinden, bevor Schwati kommt.« »Dafür ist es zu spät«, murmelte eine heisere Männerstimme. »Er kommt gerade herein.« Alle Köpfe wandten sich zur Tür, in der sich die Umrisse eines ungewöhnlich großen und breitschultrigen Mannes abzeichneten. Im Näherkommen wurden Einzelheiten des Mannes sichtbar. Gabdraman Schwati war ein Arkonide. Seine Haut war von der Sonne tief gebräunt, das Kinn wurde von einem langen weißen Bart verdeckt. Die Muskulatur des Mannes war, soweit das locker geschnittene Hemd sie erkennen ließ, beängstigend gut entwickelt. Schwati trug einen breiten ledernen Gürtel, dessen Schnalle aus Luurs-Metall bestand. In den Holstern steckte links ein Impulsstrahler, rechts ein Desintegrator. Der Schnitt des Gesichts verriet eine unbändige Energie, gepaart mit hoher Intelligenz. Schwati kam langsam näher und blieb vor Immo stehen. Flüchtig streifte sein Blick Ra, der neben dem falschen Arkoniden stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Eindringlich musterte Gabdraman Schwati den frechen Eindringling, dann beugte er sich langsam hinab und packte den Stuhl an zwei Beinen. Mit ausgestreckten Armen hob er Immo in die Höhe und schwenkte ihn langsam zur Seite. Immo schlug die Beine übereinander und lächelte freundlich. Schwati erwiderte das Grinsen, dann ließ er den Stuhl los.
Zu seiner grenzenlosen Überraschung fiel der Mann nicht. Etwas schneller als Schwati schwenkte Ra den Stuhl auf seinen ursprünglichen Platz zurück. Es war dem Barbaren ansehen, welche Kraft dieses Kunststück kostete. Es wurde sehr still in der Taverne, als Ra den Stuhl behutsam an seinem alten Standort wieder absetzte. Schwati achtete nicht mehr auf Immo, sondern konzentrierte sich ganz auf Ra, streckte die rechte Hand. Der Barbar ergriff die Hand und ging einen Schritt zurück. Mit weit ausgestreckten Händen standen sich die Männer gegenüber, dann strafften sich die Armmuskeln. Die Füße scharrten über den steinigen Boden, als sich die Männer besseren Halt zu verschaffen suchten. Schweißtropfen wurden auf den Stirnen sichtbar, während sich die Spannung im Saal steigerte. »Zwanzig auf den Barbaren!«, gellte eine Stimme. »Ich halte fünfzig dagegen«, meldete sich ein anderer Mann. Der Kampf ging in die vierte Zentitonta, als der Wettumsatz fünfstellige Beträge erreichte. Immo heizte den Kampf weiter an, als er weitere zehntausend Chronners auf Ra setzte, obwohl der Barbar schnaufte und stark schwitzte. Lange konnte er sich gegen den Hünen Schwati nicht mehr halten. Dann griff der falsche Arkonide in die Tasche und holte einen kleinen, dunkel gefärbten Gegenstand hervor, den er scheinbar achtlos Schwati zuwarf. Der Mann erkannte noch im Flug, was ihm zugeworfen wurde, und schnappte danach. Im gleichen Augenblick wurde er von Ra zur Seite gewirbelt und fiel, doch es gelang ihm, den Gegenstand zu fangen, bevor er auf den Boden prallte. Die Leute im Lokal waren vor Überraschung sprachlos, während Immo schnell seinen Gewinn einstrich. Ra massierte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Krampf im rechten Arm. »Einen Augenblick länger«, stöhnte er, »und ich hätte dort gelegen.«
Gabdraman Schwati stand langsam auf. Mit einer Handbewegung machte er sich einen Platz unmittelbar neben Immo Kalee frei. Fasziniert betrachtete der Mann den Gegenstand. »Ein Porträt Borlacs des Ersten, in einen schwarzen Diamanten geschnitten«, staunte Schwati. »Mann, wie bist du an diese Kostbarkeit gekommen?« »Mein Geheimnis«, sagte Immo lächelnd. »Interesse?« »Langsam.« Schwati winkte den Wirt heran. »Zwei kleine Krüge vom Besten für meinen Freund und mich und einen besonders großen für den Barbaren. Er hat ihn sich verdient!« Er grinste Ra an und schlug ihm auf die Schulter. Kurze Zeit später erschien der Wirt und brachte die drei Krüge. Ra gab den Wein sofort an andere weiter; seit er auf dem Sklavenplaneten Mervgon einen fürchterlichen Rausch mit einem noch entsetzlicheren Kater ausgekostet hatte, fürchtete er Alkohol. Die umherstehenden Männer waren von dieser Geste sehr erfreut, nach kurzer Zeit nahm das Gelage seinen Fortgang. »Lass mich nachrechnen«, murmelte Schwati. »Von diesen Gemmen gibt es nur sehr wenige. Zwei liegen in der privaten Sammlung Orbanaschols. Er lebe hoch, aber nicht allzu lange.« »Es lebe Seine Erhabenheit!«, schrie ein Mann und imitierte die fistelnde Sprechweise des Imperators. Brüllendes Gelächter war die Antwort. An jedem anderen Ort wäre dieser Spott für den Sprecher das sichere Todesurteil gewesen, aber an die freien Händler von Vor’phamor wagte sich niemand heran. Sie lieferten die Daten für neue Kolonialwelten, sie brachten die Spezereien von Planeten, die kein Flottenkommando zu betreten wagte, sie lieferten die Edelsteine, die es sonst nirgendwo in der Galaxis zu kaufen gab. Die olghsche Seide, die man bei Hofe trug, konnte nur über Vor’phamor bezogen werden. Der Imperator, der diese Quelle verstopft hätte, wäre von einer Palastrevolution
innerhalb von Tontas weggefegt gewesen. »Ein weiteres Exemplar gehört den Zoltrals, das letzte liegt in den Safes der Quertamagins«, beendete Schwati seine Aufzählung. »Sprich, Halunke, wo hast du das Stück … besorgt?« Immo Kalee grinste, als er die bezeichnende Pause zwischen den letzten beiden Worten hörte. »Ein solches Stück kann man nicht stehlen. Man kann es auch nicht fälschen. Nur eine neue, echte Ausgabe ist von Wert, nur sie kann man verkaufen.« »An die Tu-Gol-Cel. Sie werden dich erwischen; wenn du ihnen den Stein freiwillig überlässt, lassen sie dich vielleicht am Leben.« »Ich weiß«, gab Immo Kalee zurück. »Darum suche ich auch einen Partner, einen Mann, der so viel Einfluss auf Arkon hat, dass ihm auch die Tu-Gol-Cel nicht so ohne Weiteres ans Leder kann.« »Besten Dank für das Kompliment.« Schwati grinste. »Einverstanden, ich mache das Geschäft. Was willst du für den Stein haben?« »Zweierlei«, sagte Immo Kalee. »Ich habe hier erstens eine Liste von Dingen, die ich kaufen will. Übrigens habe ich noch eine Ladung von beträchtlichem Wert zu verkaufen.« »Darüber reden wir später. Was ist Nummer zwei? Wo ist der Haken?« »Du wirst mich und Ra ins Arkonsystem bringen.« Schwati schüttelte sofort den Kopf. »Ausgeschlossen! Das ist sogar mir zu heiß. Ich bin gewiss kein Feigling, aber auch noch lange kein Selbstmörder. Weißt du, wie scharf alle Wege nach Arkon bewacht werden?« »Sicher weiß ich das. Eben darum komme ich zu dir. Wenn es einer schaffen kann, dann du.« »Haha!«, machte Schwati säuerlich. »Für diese zweifelhafte Ehre bedanke ich mich. Tut mir leid, über Geld können wir verhandeln, über mehr nicht.«
»Dann nicht.« Immo steckte die Gemme in die Tasche zurück. »Schade, es hätte sich für dich gelohnt, Gabdraman Schwati entdeckt die fünfte Bolarc-Gemme. Eine bessere Werbung für dein Geschäft kann ich mir kaum vorstellen.« Schwati rieb sich nachdenklich das Kinn. »Meine PRONKER-MOKLON startet in zwei Pragos. Die Männer auf den Wachschiffen kennen mich, bei den beiden letzten Einflügen bin ich nur sehr oberflächlich kontrolliert worden. Nun ja, der Komet Blahur ist derzeit die große Attraktion, es gibt deutlich mehr Touristen als sonst.« Bel Etir Baj verzog keine Miene, obwohl er jetzt wusste, dass Schwati auf den Handel eingehen würde. Hätte der Händler geahnt, dass sich auf Ark’alor noch weitere sechs der seltenen Gemmen befanden, wäre er Immo Kalee vermutlich an die Kehle gesprungen. »Eine Person«, sagte Schwati nachdenklich. »Du kannst mitfliegen, aber der Barbar muss hier bleiben. Und wie du auf mein Schiff kommst und dich dort versteckst, ist ausschließlich deine Sache. Wie heißt du eigentlich?« »Immo Kalee.« »Den Namen kenne ich. Hat dein Vater nicht auch schon hier gehandelt?« »Mein Onkel«, sagte Immo wahrheitsgetreu. »Aber ich bestehe darauf, dass Ra mich begleitet. Ich brauche einen Diener.« Schwati schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage. Es ist schwierig genug, einen Mann zu verstecken. Wenn die TGCMänner auch nur einigermaßen gründlich kontrollieren, landet die ganze Mannschaft auf einem Strafplaneten oder gar in Torren-Box. Da hilft uns dann auch die Bolarc-Gemme wenig.« Kalee brachte das Schmuckstück wieder zum Vorschein und spielte scheinbar nachlässig damit. Der Diamant glitzerte im
Licht, Schwati brachte es nicht fertig, den Blick von dieser Kostbarkeit zu wenden. Das Material an sich war nichts Besonderes, kristallisierter Kohlenstoff – den eigentlichen Wert machten Schliff und Herkunft sowie die damit verbundene Geschichte aus. Imperator Borlac I. hatte von 6198 bis 6227 da Ark regiert; seine schwarzen Diamantgemmen waren eine Auszeichnung für außergewöhnliche Verdienste gewesen und insgesamt nur vierundzwanzigmal verliehen worden. Immo wusste, dass die Dinge, die auf seiner langen Liste standen, bei Weitem nicht den Betrag erreichten, den Schwati für die Gemme erzielen konnte. Es konnte das Geschäft seines Lebens werden, darüber war sich der Händler klar. Allein die Tatsache, dass er das Stück »herbeigeschafft« hatte, würde seinen Namen berühmt machen. Schwati stand vor der Chance, zum Handelsherrn aufzusteigen. Er konnte sich vielleicht auf Arkon I niederlassen, wo zwar die Schmiergelder zehnmal so hoch waren wie anderswo, aber auch die Gewinne ein paar Zehnerpotenzen über dem Üblichen lagen. »Krone oder Konverter«, murmelte der Mann. »Gelingt es, habe ich ausgesorgt, schlägt es fehl, ist das mein Ende.« »So oder so«, sagte Kalee grinsend. »Deine Sorgen bist du in jedem Fall los. Oder hast du Angst?« Schwati richtete sich auf und sah Kalee verweisend an. »Ein Schwati kennt keine Angst. Aber ich muss an meine Mannschaft denken, schließlich gehen die Männer das gleiche Risiko ein wie ich.« »Und wir beide auch. Glaubst du, ich würde dich darum bitten, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass es funktioniert?« »Gib her«, sagte Schwati schließlich. »Ich mache das Geschäft. Zum Gork mit dem Leben, wenn es sich nicht lohnt.« Er winkte dem Wirt zu, der eilfertig einen neuen Krug Wein anschleppte; hastig schüttete der Händler ein großes Glas der
dunklen Flüssigkeit in sich hinein. »Ich habe deinen Onkel gekannt, Immo. Das war ein Mann. Und ein Händler, wie es nur wenige im Imperium gab. Du scheinst ihm nacheifern zu wollen. Was willst du eigentlich auf den Arkonwelten?« »Handeln. Ich habe ein hübsches kleines Sternsystem entdeckt, an dem Orbanaschol vielleicht Interesse hat. Ich will es ihm verkaufen.« »Ein Sternsystem? Mit bewohnbaren Planeten?« »Richtig! Ich kann dir sogar die Koordinaten nennen.« Schwati überlegte einen Augenblick lang, bis er die Daten verstanden hatte, dann begann er dröhnend zu lachen. Diese Koordinaten kannte jedes Schulkind. Es war die galaktische Position Arkons. Gabdraman Schwati fand den Scherz hervorragend und lachte dementsprechend lange und laut.
»Es kann losgehen«, sagte Ra. »Die Ladung ist verstaut und gesichert.« Immo nickte zufrieden. Vor den berüchtigten Bewohnern Cortereals hatte er keine Angst, von ihnen würde keiner versuchen, sich der Ladung zu bemächtigen. Nur von der Polizei drohte Gefahr. Wie in vielen autoritären Regierungssystemen hatte auch hier nicht einmal die Polizei die Möglichkeit, ihre berechtigten Ansprüche gegen die Obrigkeit durchzusetzen. Die Männer waren unterbezahlt, zudem hinkte die Löhnung Votanii zurück. Die Beamten waren fast dazu gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch andere Weise zu bestreiten – durch Erpressung, willkürliche Beschlagnahme, manchmal durch offenen Diebstahl. Immo hatte das Gerücht durchsickern lassen, sein Schiff sei gegen Einbruchsversuche mit ein paar Bomben gesichert; das würde voraussichtlich ausreichen, um unerwünschte Besucher fernzuhalten.
Gabdraman Schwati hatte Wort gehalten und pünktlich und prompt geliefert. Die Waren waren einwandfrei. In zwei Flügen hatten Ra und Immo die Waren zu einem kleinen Asteroiden geschafft; von dort würde ein weiteres Schiff der Con-Treh die Ladungen abholen und nach Ark’alor verfrachten. Es war bereits dunkel, als die beiden Männer das Boot verließen. Über der Stadt hing der kleine Mond des Planeten, der gerade genug Licht lieferte, um die Straßen erkennbar zu machen. Immo Kalee hatte einen Mietgleiter bestellt, der die beiden Männer am Kontrollturm auflas und in die Stadt brachte. Am Stadtrand stiegen die Männer aus. Nach Einbruch der Dämmerung verwandelte sich Cortereal in ein einziges riesiges Vergnügungsviertel; aus den Häusern drang der Geruch nach schwerem Wein, würzigem Braten und atemberaubenden Parfüms. Niemand achtete auf die Männer, die zielstrebig durch das Gewimmel marschierten. Das große Landefeld, auf dem die berühmten Händler ihre Schiffe landeten, lag auf der anderen Seite des Tales. Die Hügelkette schirmte die Stadt vor dem Lärm der Triebwerke weitgehend ab, dennoch waren die startenden Schiffe gut zu sehen, wenn sie in den nächtlichen Himmel stiegen, begleitet von guten Wünschen und einem kräftigen Schluck auf das Wohl der Abfliegenden. Die Männer verzichteten darauf, am Stadtrand ein zweites Fahrzeug zu mieten, sondern schlichen sich auf Seitenwegen langsam an das Landefeld heran. Zwei Hindernisse galt es zu überwinden – zum einen die Polizei, die außerhalb der Umzäunung wachte, zum anderen die Privattruppe der Händler, die innerhalb der Umzäunung ein wachsames Auge auf die Polizei hatte. Den Sperrriegel der Polizei zu durchbrechen machte den Männern keine Schwierigkeiten. Gefährlich wurde es erst, als sie den Zaun erreichten. Immo
Kalee sah auf seine Uhr. »Noch drei Dezitontas«, flüsterte er. Gabdramans Männer waren noch damit beschäftigt, den Papierkrieg mit den Beamten im Kontrollturm auszufechten; der Händler hatte versprochen, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Keilerei zu veranlassen, in deren Verlauf die Hochspannung für höchstens zwei Zentitontas abgeschaltet werden würde. Gelang ihm das nicht, blieb den Männern nur der eine Trost, dass der Strom ihre Körper so schnell verkohlen würde, dass sie ihren Tod nicht einmal wahrnehmen würden. Auf dem Rücken trugen sie Beutel, angefüllt mit seltenen Edelsteinen, Hyperkristallen und anderen Gütern, die den Vorzug geringer Größe mit höchstmöglichem Wert verbanden. Immo Kalee war sich klar darüber, dass er im Arkonsystem nur etwas erreichen konnte, wenn er mit genügend Bargeld versorgt war. Zum Glück waren die Con-Treh reich an Gegenständen, die auf den Arkonplaneten zu Höchstpreisen als Antiquitäten gehandelt wurden. In diesem Punkt machte sich die Tatsache, dass die Con-Treh um etliche Jahrhunderte hinter dem Standard des Imperiums zurückgeblieben waren, bezahlt. »Jetzt«, flüsterte Immo, der sorgfältig seine Uhr beobachtet hatte. Viel Zeit hatten die Männer nicht, aber sie warteten ein paar Augenblicke, um die Umzäunung zu testen. Ras Messer, gegen das Metallgeflecht geworfen, löste keine Funkenkaskade aus. Rasch nahm der Barbar die Waffe wieder an sich und sprang in die Höhe. Immo half ihm, den Zaun zu überwinden. Als die Männer auf der anderen Seite der Umzäunung angekommen waren, warfen sie sich sofort in das hohe Gras, das den Rand des Landefelds bedeckte. »Wo steht die PRONKER-MOKLON?«, flüsterte Ra. »Auf der anderen Seite. Zum Glück ist heute eine Nacht, in der nicht sehr viele Schiffe starten wollen.«
Das Landefeld einfach zu durchwandern erschien den Männern zu gefährlich, sie bewegten sich am Rande des Feldes entlang. Immer wieder mussten sie sich im Gras verstecken, wenn die Privatwachen der Händler die Umzäunung abschritten und nach Eindringlingen suchten. Sehr aufmerksam waren die Wachen nicht, wie Ra kopfschüttelnd feststellte. Allerdings musste er einräumen, dass diese Männer mehr elektronische oder positronische Alarmsysteme gewohnt waren. Ihnen fehlte der Instinkt, der Ra oder Etir Baj sehr schnell die Anwesenheit eines Unbekannten verraten hätte. Die Männer brauchten nicht lange, bis sie das Schiff des Händlers erreicht hatten. Die PRONKER-MOKLON war in der typischen Art der Arkonidenschiffe gebaut; die Kugelzelle erreichte zweihundert Meter Durchmesser – für ein privates Frachtschiff eine ansehnliche Größe. Immo Kalee hatte sich den richtigen Mann ausgesucht. Gabdraman Schwati war tatsächlich ein Händler von Bedeutung. Wie abgesprochen stand die untere Polschleuse noch offen. Ra und Immo Kalee zauderten nicht lange, sondern schlichen sich über die Bodenrampe schnell an Bord. Rasch hatten sie auch die beiden Kisten gefunden, in denen sie sich verstecken sollten. Im Innern der Behälter gab es Wasser und Lebensmittel, für den allergrößten Notfall sogar einen halbwegs brauchbaren Raumanzug mit gefüllten Lufttanks. Immo Kalee hatte sich dies ausbedungen. Er wusste, dass es die Besatzungen von Handelsschiffen mit der Gründlichkeit nicht sehr genau nahmen. Es kam immer wieder vor, dass die Luft aus den großen Laderäumen entwich. Der Besatzung machte dies nichts aus; zwischen Laderaum und den übrigen Räumen an Bord gab es sichere Schotten, aber für blinde Passagiere konnte dieser Leichtsinn zu einer tödlichen Überraschung werden. Rasch verschwanden die Männer in
ihren Verstecken. Es vergingen einige Zentitontas, dann wurden Stimmen hörbar. Nicht zu verkennen war das Organ des Händlers, der sich offenbar mit seinem Ersten Offizier unterhielt. »Schade um die beiden«, sagte er bedauernd. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es in den sechs Millitontas geschafft haben. Zu dumm, dass wir den Strom nicht länger ausschalten konnten.« »Die Wachen waren ohnedies schon misstrauisch genug«, antwortete ein anderer. »Jedenfalls werden wir jetzt keine Schwierigkeiten bei der Einreise nach Arkon haben.« Gabdraman Schwati kicherte. »Schließlich zahle ich auch genug, um nicht belästigt zu werden. Los, starten wir. Ich möchte am einundzwanzigsten Eyilon auf Arkon Zwei landen.« Immo knirschte leise mit den Zähnen, als er hörte, wie sich die Männer entfernten. Hätte er gewusst, dass die Zeitspanne zur Überwindung des Zaunes so kurz sein würde, hätte er diesen Versuch nicht unternommen. »Egal«, murmelte er im Selbstgespräch. »Immerhin haben wir es geschafft.«
7. Aus: Privatlog – Retrospektiven: Hintergründe und Zusammenhänge, Imperator Bostich I., Eintragung vom 12. November 1289 NGZ Mapoc da Gonozal, 6268 da Ark geboren und insgesamt neunmal verheiratet, regierte als Imperator Gonozal III. von 6295 bis 6342 da Ark; diese 47 Arkonjahre waren ab dem 25. Regierungsjahr vom Projekt der Synchronwelten Arkons geprägt, später kurz Tiga Ranton – Drei Welten – genannt, dessen Ursprungsidee, wie wir
heute wissen, auf einen Besuch der Rakkalin-Wälder im Jahr 6304 da Ark zurückging. Ein erster Vorversuch hatte am 1. Prago des Tedar 6310 da Ark im unbewohnten Laaha-System stattgefunden, doch es kam zur Katastrophe, bei der das Gros der Vierten Flotte vernichtet wurde. Am 1. Prago des Eyilon 6320 da Ark folgte dann die Aktion im Arkonsystem selbst, bei der die Planeten zwei und vier auf die des dritten gebracht wurden. Die Grobpositionierung war 6330 da Ark nach zehn Arkonjahren abgeschlossen, die endgültige Stabilisierung und Feinjustierung dagegen beanspruchte weitere rund 3000 Jahre. Ka’Marentis war in jener Zeit Sarion da Ragnaari, der von 6273 bis 6386 da Ark lebte und über den jedoch nahezu keine Informationen vorliegen, und das, obwohl er eigentlich im gleichen Atemzug mit einem Belzikaan oder einem Epetran genannt werden müsste … Seither umkreisten die Planeten Arkon I, II und III als Eckpunkte eines exakt gleichseitigen Dreiecks die Sonne Arkon auf der gemeinsamen Umlaufbahn in einer Entfernung von rund 620 Millionen Kilometern – eine derart außergewöhnliche Erscheinung, dass ihre wahre Entstehung mit zu den größten Staatsgeheimnissen gehörte. Schon Gonozals Nachfolger, vor allem aber Metzat III, hatten damit begonnen, die wahre Herkunft von Tiga Ranton zu verschleiern. Wie sagte es der Höchstedle in einer meiner TraumzeitVisionen völlig zutreffend? »Aus der gewaltigen Pionierleistung unserer Wissenschaftler wurde das angeblich natürlich entstandene Dreiersystem. Zur Selbstglorifizierung, der eigenen Erhebung, als Auserwählte der She’Huhan! Wie die arkonidische Geschichte wiederholt verfälscht und gefälscht, die Stammväter geleugnet und unsere Anfänge um Jahrzehntausende zurückdatiert wurden, genau in der gleichen Weise rankten sich bald die phantastischsten Erzählungen rings um Tiga Ranton. Das total verbaute, in eine Technowüste verwandelte Arkon Drei sollte der Ursprung der Besiedlung sein? Nein, nein, nur
die herrliche Kristallwelt, schon vor der Umgruppierung als reine Wohnwelt genutzt, durfte diesen Anspruch erheben. Und so ging es weiter: hier eine Ergänzung, dort eine Änderung. Dann der Erlass zur strikten Geheimhaltung, aufbauschende künstlerische Werke, die plötzlich als Wahrheit angesehen wurden. Mein Projekt und sein Zeitpunkt waren schließlich ein Staatsgeheimnis und nur Eingeweihten bekannt. Die offizielle Lesart lautete, dass dieses einmalige System vorbestimmt war für die Glorie und den Ruhm Arkons und der Arkoniden. Irgendwann wusste außer den wenigen Informierten niemand mehr, wie die wahren Zusammenhänge aussahen. Was blieb, war die Außergewöhnlichkeit der Drei Welten selbst.« In den Kreisen der Gonozals erhielt sich jedoch stets das Wissen um die wahren Hintergründe; dieses sicherte ihrem Khasurn die fürstliche Macht, wurde jedoch niemals zur eigenen Profilierung ausgenutzt. Arkon II war die Handelswelt, Mehan’Ranton, auf der riesige Mengen von Gütern erzeugt, umgeschlagen und überallhin in das Imperium geliefert wurden. Der größte Raumhafen gehörte zu Olp’Duor – neben Torgona die bedeutendste Stadt. Bei Arkon III, als Gor’Ranton -Kampfwelt – umschrieben, handelte es sich um einen ausgesprochenen Industrieplaneten, dessen Oberfläche fast ein einziger riesiger Raumhafen war. Die planetare Kruste war bis in große Tiefe ausgehöhlt, überall gab es gewaltige Raumschiffswerften, unzählige Fertigungsbetriebe für alles nötige Zubehör, außerdem ausgedehnte Wohnstädte für die darin Beschäftigten und für die Besatzung der Kampfflotten des Tai Ark’Tussan. Während Arkon III, die Welt des Siedlungsbeginns, im Laufe der Zeit eine »Totalverbauung« erfahren hatte, blieb Arkon I, ursprünglich der zweite Planet, ein ausgesprochener Wohnplanet, eben Gos’Ranton, die Kristallwelt, wie sie es schon vor seiner Neupositionierung auf der Bahn des dritten Planeten gewesen war. Im offiziellen
Sprachgebrauch der Inbegriff der Herrlichkeit: schön, prächtig, prunkvoll – und in jeder Hinsicht künstlich!
Arkon II: 21. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Er nannte sich Alpertur und war auf dem Planeten Zalit geboren, der als vierte Welt die rote Riesensonne Voga umkreiste. Das Voga-System war eins der allerersten Systeme gewesen, das von Arkoniden angeflogen worden war. Ihre Nachkommen, die Zaliter, galten als besonders bündnistreu. Etwas anderes blieb ihnen auch nicht übrig, immerhin betrug die Distanz zwischen Arkon und Zalit nur etwas mehr als drei Lichtjahre. Alpertur konnte, abgesehen von seinem beträchtlichen Leibesumfang, als typischer Zaliter gelten. Er war hochgewachsen, hatte eine rotbraune Haut und die charakteristischen, kupferfarbenen Zaliterhaare. Alpertur war noch relativ jung; er hätte als attraktiver Mann gelten können, wären nicht sein ausgeprägter Speckbauch und der wenig anheimelnde Blick seiner dunklen Augen gewesen. Schon der erste Eindruck verriet, dass Alpertur keine Mittel und Wege scheute, seine Interessen durchzusetzen. Er wäre gefährlich gewesen, hätten sein Ehrgeiz und seine Geldgier nicht durch eine ausgeprägte Feigheit einen Dämpfer erfahren. An Skrupellosigkeit hätte er jederzeit mit Orbanaschol wetteifern können.
Ra warf nur einen Blick auf den Mann, dann hatte er genug gesehen. Alperturs Trichterhaus am Rand von Olp’Duor war mit einem Aufwand geschmückt worden, wie ihn bestenfalls noch der Zarlt von Zalit hätte überbieten können. Kostbarste Edelsteine formten das Mosaik des Bodens, Wände und Boden
waren mit edelstem Rauchwerk bedeckt, die Türgriffe bestanden aus Cholitt. »Mit diesem Kerl willst du Geschäfte machen?«, murmelte Ra in das Ohr von Immo Kalee. »Er würde seine leibliche Mutter verkaufen, wenn er Aussichten hätte, dafür Geld zu bekommen.« »Mag sein. Aber er kann uns nützlich sein, das allein zählt.« Alpertur war zweifelsohne kein angenehmer Geschäftspartner. Als Zaliter, die von den Arkoniden stets mit gewissem Hochmut behandelt wurden, hatte er sich etwas Besonderes einfallen lassen, um sein angegriffenes Selbstvertrauen wieder aufzurichten. Als Mätressen und weibliches Dienstpersonal hielt er sich ausschließlich junge, reinrassige Arkonidinnen, meist Strafgefangene oder nahe Verwandte von Arkoniden, die er geschäftlich fest im Griff hatte und nach Belieben erpressen konnte. »Ihr wollt mich sprechen, Erhabener?«, säuselte der feiste Zaliter, als er Immo Kalee näher treten sah. Die Männer hatten sich nach der Landung schnellstens abgesetzt, so schnell, dass Gabdraman Schwati vermutlich nie erfahren würde, dass er tatsächlich zwei blinde Passagiere befördert hatte. »Mein Name ist Immo Kalee«, stellte sich der Con-Treh vor. »Sagt Euch der Name etwas?« Alpertur zog die Stirn in Falten und dachte nach. Mit zusammengezogenen Brauen musterte er den Con-Treh. »Ich erinnere mich«, sagte er dann zögernd. »Was kann ich für Euch tun?« »Wir brauchen Papiere. Zwei vollständige Sätze – und zwar echte falsche Papiere.« »Echte falsche« Papiere waren Dokumente, deren Daten abgesichert waren und einer normalen Überprüfung standhielten. Fragte ein Beamter beim positronischen Register nach, durfte es nicht geschehen, dass Immo Kalees Ausweisnummer zu einem Personalpapier gehörte, das
eigentlich von einer alten Frau verwendet wurde. »Das wird eine Kleinigkeit kosten, Freunde«, sagte Alpertur grinsend. »Wir zahlen wie üblich. Und gegen die üblichen Sicherheiten.« Alpertur lächelte säuerlich. Ra begriff, dass die Con-Treh den Mann irgendwie in der Hand hatten. Dass sie den Zaliter dennoch für seine Dienste gut bezahlten, entsprach ihrem ausgeprägten Sinn für doppelte und dreifache Sicherungen. »Und was soll aus dem Burschen werden? Als Arkonide kann man ihn kaum bezeichnen.« »Für Ra brauche ich einen Dienstkontrakt. Er ist mein Diener. Kannst du die Dokumente besorgen?« Alpertur grinste selbstzufrieden und machte eine Handbewegung, die in der gesamten Galaxis verstanden worden wäre. »Ich biete zwei Miniaturen von Octal, dem Blinden«, sagte Immo Kalee freundlich. »Das dürfte wohl genügen.« Alperturs Unterkiefer sank herunter, erregt sprang er von dem fellbelegten Lager auf. Der Becher fiel ihm aus der Hand, und der dunkle Wein versickerte in den Fellen. »Machst du Witze? Seit zweihundert Jahren ist kein Bild von Octal mehr auf dem Markt gewesen!« »Umso höher wird der Wert sein.« Immo zog die beiden Bilder aus der Umhängetasche. »Sieh sie dir an.« Mit zitternden Händen nahm der Zaliter die beiden Elfenbeinminiaturen. Von Kunst verstand er etwas, denn er prüfte die Bilder lange und gründlich. Als er wieder aufsah, grinste er sehr zufrieden. »Dafür tue ich alles für euch, Freunde. Wo wollt ihr wohnen? Bei mir? Ich habe genügend Raum, bequeme Betten und freundliche Mädchen.« Immo Kalee betrachtete für Augenblicke die junge Arkonidin, die vor dem Zaliter kniete und ihm einen neuen
Becher anbot. Der Mann war Immo zuwider, aber es gab triftige Gründe für sein Angebot. »Ich nehme an. Ich brauche zwei Räume, die nebeneinander liegen. Ich will meinen Diener jederzeit um mich haben.« »Selbstverständlich. Steh auf. Das goldene Zimmer für Immo Kalee, das rote für seinen Barbaren.« Das Mädchen stand rasch auf. Ra grinste sie mit seinen weißen Zähnen an. Erschrocken wich das Mädchen einen Schritt zurück, dann erwiderte es das Lächeln. Immo Kalee schüttelte verweisend den Kopf. »Was wollt ihr auf Mehan’Ranton?«, fragte Alpertur. »Handeln?« »Wir wissen es noch nicht genau. Als Erstes werden wir Kontakte brauchen. Ist für die nächste Zeit ein Fest geplant, bei dem man einflussreiche Leute kennenlernen könnte?« Alpertur zeigte ein selbstgefälliges Grinsen. »Ein Fest? Freunde, es wird das Fest geben! Bis zum letzten Prago des Eyilon findet das alljährliche Zalitertreffen statt. Alles, was Rang und Geld hat, wird sich dort treffen, auch führende Männer vom Hofe. Wahrscheinlich wird sich sogar Seine Erhabenheit höchstpersönlich einfinden.« »Orbanaschol? Was hat der Imperator bei einem zalitischen Händlerfest zu suchen?« »Diplomatie. Seit dem Desaster bei Trantagossa werden einige Kolonialvölker aufsässig. Der Imperator will deutlich machen, wie freundlich er gegenüber den treuen Vasallen ist. Und wir Zaliter sind ihm ja treu ergeben.« Der Spott in den letzten Worten war nicht zu überhören. »Ist es sicher, dass der Tai Moas kommen wird?«, fragte Immo weiter. »Offiziell ist noch nichts bekannt, aber ich habe schließlich meine besonderen Quellen. Du kannst sicher sein, dass der Höchstedle einen großen Auftritt haben wird.«
Immo Kalee lächelte zufrieden. »Ich habe eine Idee«, sagte Alpertur plötzlich. »Dein Barbar sieht ziemlich gut aus. Kann er kämpfen?« Es gab ein leises Knacken, als das Wurfmesser einen Daumenbreit neben Alperturs rechter Hand in das Holz des Sessels einschlug. Ra grinste den erbleichenden Alpertur an, ehe er sich die Waffe zurückholte. »Recht beeindruckend. Allerdings möchte ich bitten, meine Fragen künftig nur mündlich zu beantworten. Kalee, wenn Ra gewillt ist, an den Kämpfen teilzunehmen, und wenn er es schafft, den ersten Preis zu erringen, wäre es möglich, dass Imperator Orbanaschol mit dem Herrn des Mannes reden will. Ist das ein Angebot?« »Was für Kämpfe?«, fragte Ra. »Ganz harmlos. Männer gegeneinander, Männer gegen wilde Tiere, gegen Roboter – das Übliche. Natürlich wird die Hälfte der Männer nicht überleben.« Ra wandte sich zu Immo und grinste ihn an. »Genau deswegen sind wir doch gekommen. Ich mache mit!« »Einverstanden«, sagte schließlich auch Immo. »Dies dürfte die beste Lösung sein. Ich hoffe, dass du es schaffen wirst, Ra. Ich würde dich nur ungern verlieren.« Ra schüttelte den Kopf und lächelte geringschätzig. »Was ein rechter Barbar ist, der fürchtet sich weder vor Männern noch vor Tieren.« »Es hängt ganz davon ab, wie diese Männer beschaffen sind«, sagte Alpertur. »Du könntest Überraschungen erleben, Ra.« »Berichte noch einmal.« Sarn Lartog stöhnte auf. Seit vier Pragos wurde er fast ohne Pause verhört, immer wieder hatte er seine Geschichte erzählen müssen. »Erhabener – ich habe Euch bereits alles erzählt, was ich weiß. Mehr
kann ich nicht sagen.« »Berichte noch einmal!«, wurde er aufgefordert. »Von Anfang an, und lass keine noch so winzige Kleinigkeit aus! Los!« Sarn Lartog saß gefesselt auf dem Stuhl. Er war müde, erschöpft, man hatte ihm nichts zu essen gegeben, er spürte peinigenden Durst. Mit krächzender Stimme nahm er seinen Bericht wieder auf. Er hatte zur Besatzung des fünfhundert Meter durchmessenden Forschungskreuzers KARRETON gehört, die von Atlan und seinen Freunden gekapert worden war. Kommandant Grahn Tionte war angewiesen worden, das Slohraeder-System anzufliegen. Tionte sollte sich bei Kur Zammont melden, dem arkonidischen Sektorenstatthalter, und von ihm einen »geheimnisvollen Fremden« in Empfang nehmen. Dieser schien für Orbanaschol sehr wichtig zu sein, denn der Einsatzbefehl war über das Flottenzentralkommando direkt vom Imperator gekommen. Unter Tharg’athor Sarn Lartogs Führung hatte die Besatzung versucht, das Schiff zurückzuerobern, dabei war die KARRETON so beschädigt worden, dass man sie nur mit Mühe und viel Glück auf einer Ödwelt hatte landen können – XRO-17.351-0075 laut Kodebezeichnung der Datenbank, von Atlan Xiros getauft. Während die Männer um Atlan damit beschäftigt gewesen waren, das Schiff zu reparieren, hatte Lartog einen zweiten, verzweifelten Versuch unternommen, das Schiff wieder unter seine Gewalt zu bringen. Vor allem dem Barbaren Ra war es zu verdanken gewesen, dass auch dieser Versuch scheiterte. Während Atlan und seine Freunde den verzweifelten Versuch wagten, das weiterhin beschädigte Schiff ohne brauchbaren Kartentank zu starten, waren die Männer der KARRETON auf dem Planeten zurückgeblieben, weil sie gefürchtet hatten, der Raumer würde bereits beim Start explodieren. Doch Atlan hatte es geschafft. Er hatte ihnen neben einem Beibootsender ein Dutzend Roboter und mehrere Container mit Basismaterial überlassen. Überdies hatte er versprochen, Hilfe zu organisieren, sofern es gelang, das Schiff in den Raum zu bringen. Als endlich ein Schiff eintraf – aus anonymer Quelle informiert –,
waren alle Männer bis auf Lartog den mörderischen Bedingungen der Ödwelt erlegen gewesen. »Erzähl mir mehr über Atlan«, forderte der Mann den Gefangenen auf. »Ist er wirklich der Sohn des verstorbenen Imperators?« Sarn Lartog nickte schwach. Er hatte keine Chance gehabt. Man hatte ihn aufgelesen, seinen ersten Bericht angehört und ihn gefesselt. Sarn Lartog wusste nicht einmal genau, wo er sich befand. Er konnte nur durch das Fenster erkennen, dass das Haus, in dem er gefangen gehalten wurde, in der Nähe des Kristallpalasts stand. Der Besitzer musste demnach zur absoluten Führungsschicht des Imperiums gehören. Den Mann selbst hatte Lartog nicht zu Gesicht bekommen, denn er hielt sich stets im Rücken des Gefangenen auf. Nur seine Stimme war zu hören, eine leise, sanfte Stimme, an der nur das sehr hart ausgesprochene »R« auffiel. »Beschreibe mir den Barbaren«, forderte diese Stimme. Sarn Lartog gab sich alle Mühe, aber es gelang ihm nicht, den Barbaren so zu beschreiben, dass er nur anhand dieser Beschreibung aus einer Gruppe ähnlich aussehender Männer hätte herausgepickt werden können. »Ich kann nicht mehr«, krächzte Lartog schließlich, sackte in sich zusammen. »Ich brauche Wasser!« Er spürte eine harte Faust im Nacken, wurde in die Höhe gerissen und noch fester an den Sessel geschnallt. Dann spürte der junge Mann, wie sich etwas Hartes auf seinen Schädel herabsenkte. Als Lartog begriff, was ihm drohte, war es bereits zu spät. Die Psychohaube war aktiviert, durchkämmte systematisch das Hirn des Mannes, sammelte alles, was an Informationen darin enthalten war. Auf einem Bildschirm waren Szenen zu erkennen. Deutlich erkannte der Betrachter die Gesichter von Ra, Atlan und ihren Freunden. Dann löste sich das Bild plötzlich auf, eine Welle farbiger Schleier zog sich über den Schirm, bis das Bild völlig dunkel wurde. »Nehmt ihn«, sagte der Mann. »Ihr wisst, was ihr zu tun habt.« Während die Männer den Leichnam des jungen Mannes losschnallten und aus dem Raum schafften, ging der Mann zum Fenster und starrte zum Kristallpalast hinüber. »Ich darf jetzt keinen
Fehler machen«, murmelte er. »Nur wenn die Pläne mit Bedacht und größter Sorgfalt durchgeführt werden, wird es ein Erfolg.« Er sah zum Palast des Imperators und lächelte kühl.
»Wir haben der Stadt sogar einen Namen gegeben«, sagte Alpertur. »Sie heißt Segor, obwohl sie nur für ein paar Pragos Bestand haben wird. Nach dem großen Fest wird man sie abreißen.« »Ein beträchtlicher Aufwand«, murmelte Immo Kalee. »Aber notwendig. Wir müssen dem Imperium zeigen, dass es uns Zalitern sehr gut geht unter arkonidischer Herrschaft. Wie gut es uns tatsächlich geht, werden wir Händler natürlich nicht verraten – die Steuern sind ohnedies schon hoch genug.« Segor war eine Stadt aus Zelten und Traglufthallen. Es verstand sich, dass die einzelnen Gebäude prachtvoll geschmückt waren. Ob die glitzernde Pracht echt war, ließ sich nur bei näherer Betrachtung feststellen. In der Mitte des gewaltigen Areals war das große Stadion erbaut worden. Fast eine halbe Million Zuschauer fasste das riesige Oval, selbstverständlich gab es für jeden Besucher einen vollklimatisierten Sitzplatz. Immo Kalee betrachtete den Bau mit einem leisen Schauder. Was hier innerhalb weniger Tage an Geld verbraucht wurde, hätte Ark’alor reich gemacht. Aber auf Tiga Ranton galten andere Maßstäbe als auf den Kolonialwelten. Auf den drei Arkonwelten konnte ein zalitischer Händler sich schmücken wie ein Diamantvogel; es war erlaubt, damit niemand ärmlich aussehen konnte. Auf Zalit selbst hätte sich der Zarlt beträchtliche Schwierigkeiten eingehandelt, hätte er versucht, an Prachtentfaltung mit einem durchschnittlichen Arkoniden zu wetteifern. »Kommt mit«, forderte Alpertur die Männer auf. »Ich zeige euch das Trainingslager.«
Ra grinste zufrieden. Es war warm auf Arkon II, wesentlich wärmer als auf Ras Heimatwelt, aber der Barbar vertrug Hitze entschieden besser als Kälte. Getreu seiner Rolle als Diener und Kämpfer trug er nur einen ledernen Lendenschurz, der, um das Vermögen des Besitzers zu betonen, üppig mit Halbedelsteinen besetzt war. An der Hüfte trug Ra ein langes Schwert und einen nadelspitzen Dolch, beide mit edelsteinbesetzten Griffen. Sein dunkles Haar wurde von einem schmalen ledernen Band um die Stirn gehalten; auf das Band hatte eines der Mädchen von Alpertur Ras Namen eingestickt. Das Material dazu war aus einem seltenen Schwingquarz gewonnen worden, der selbst bei Tageslicht deutlich erkennbar pulsierte. Immo Kalee hatte alles getan, um seinen Begleiter propagandistisch aufzuwerten – an den interessierten Gesichtern der Umstehenden erkannte er, dass ihm dies auch vorzüglich gelungen war. Alpertur lächelte wohlgefällig, als er bemerkte, dass Ra zum allgemeinen Gesprächsgegenstand aufgestiegen war. Jeder Erfolg des Barbaren war auch für ihn von Vorteil, abgesehen von den beträchtlichen Summen, die der Zaliter durch hohe Wetteinsätze auf Ra zu gewinnen gedachte. Alpertur handelte nebenbei mit Kampfsklaven, sodass sein Ansehen beträchtlich steigen würde, wenn Ra erfolgreich war. Immerhin nahm der Zaliter den Ruhm für sich in Anspruch, den Barbaren für die Arena entdeckt zu haben. Das Trainingslager befand sich auf der Windschattenseite des Stadions. Den Grund für diese Maßnahme entdeckten die Männer im Näherkommen. Über dem hermetisch abgeriegelten Bezirk lag der Geruch von Schweiß und den Ausdünstungen zahlreicher Tiere. Es verstand sich von selbst, dass niemand wagte, die empfindsame Nase Seiner Erhabenheit mit solchen Gerüchen zu belästigen. Die schwer bewaffneten Wachen am Eingang des Lagers ließen Alpertur nach kurzer Kontrolle durch. Die
Männer kannten den Zaliter. »Dein Mann, Alpertur?«, fragte eine der Wachen und deutete auf Ra. »Taugt er was?« »Ich würde nicht auf ihn setzen«, sagte Alpertur lächelnd. Der Posten grinste verständnisvoll zurück. »Natürlich nicht. Das würde deine Quoten mindern. Besten Dank für den Tipp.« Immo Kalee war als Arkonide von allen Kontrollen befreit, ungehindert betraten die Männer das Trainingslager. Ra nutzte die Zeit, um sich seine mutmaßlichen Kontrahenten näher anzusehen. Er hatte sich zuvor in Alperturs Haus anhand von Nachrichten und Speicherkristallen informiert; in dem Lager tummelte sich alles, was Rang und Namen hatte. Es waren Männer darunter, die seit mehr als zehn Jahren kämpften, oftmals verwundet worden waren, aber noch niemals einen Kampf verloren hatten. Es gab wendige Zaliter unter den Kämpfern, Naats vom fünften Planeten des Arkonsystems, auch etliche Bewohner der drei Arkonwelten, die mit sich nichts Besseres anzufangen wussten, als ihr Glück in der Arena zu erproben. Vor allem diese Arkoniden waren ausgezeichnete Kämpfer, da sie ohne den Druck kämpften, den die anderen Männer ertragen mussten. Sie riskierten ihr Leben nur dann, wenn sie sich freiwillig zum Kampf mit wilden Tieren stellten. Ra machte ein verblüfftes Gesicht, als er feststellte, dass es sogar weibliche Arenakämpfer gab. Leiter des Lagers war ein hagerer Zaliter, der auf den Namen Carox hörte. Sein nackter Oberkörper war von Narben übersät, ein Schwerthieb hatte ihn ein Auge und die halbe Nase gekostet. Ra kannte den Mann aus den Kristallen, er war früher ein gefürchteter Mann gewesen, der mehr Männer im Sand sterbend zurückgelassen hatte als irgendein anderer. Carox bedachte Ra mit einem abschätzenden Blick, dann wandte er sich Alpertur zu. »Wollt Ihr den Mann kämpfen
lassen?«, erkundigte er sich. Carox konnte nur noch heiser flüstern, seit ihm ein Handkantenschlag den Kehlkopf zertrümmert hatte. Als Alpertur mit einem Nicken bestätigte, fuhr Carox fort: »Hat er schon einmal in einer Arena gestanden?« Alpertur verneinte. Ra sah den fürchterlichen Fausthieb erst im letzten Augenblick; hastig sprang er zur Seite, instinktiv griff er zu. Ein Hüftwurf legte Carox in den Sand. Der Trainer rollte geschickt ab und stand schnell wieder auf den Beinen. »Seine Reflexe scheinen gut zu sein. Aber ich habe meine Zweifel, ob er die Vorrunden überstehen wird. Er scheint zu intelligent zu sein, um ein guter Arenakämpfer sein zu können.« »Überlass das mir«, knurrte Ra. »Noch habe ich jeden Gegner geschlagen.« Das war zwar beträchtlich übertrieben, aber Ra wusste, dass die bevorstehenden Kämpfe unter anderem auch auf dem Feld angewandter Psychologie ausgefochten wurden. Es war wichtig, sich vom Gegner nicht beeindrucken zu lasse; unter Umständen gewann Ra einen beträchtlichen Vorteil durch die Tatsache, dass er als Aufschneider eingeschätzt wurde, der mit dem Mund mehr zuwege brachte als mit dem Schwert. Fehleinschätzungen dieser Art wurden leicht zum Bumerang. »Einverstanden«, krächzte Carox schließlich, nachdem er lange nachgedacht hatte. »Ich nehme den Mann. Aber er bekommt einstweilen keinen Hauptkampf. Ich kann es mir nicht leisten, ihn gegen einen guten Mann zu stellen. Das Publikum mag es nicht, wenn einer seinen Gegner schon in den ersten Zentitontas von den Beinen bringt.« »Wie wäre es mit Tieren?«, erkundigte sich Immo Kalee. »Schade um den Barbaren. Ihr wisst vielleicht nicht, Erhabener, dass es bei Tierkämpfen kein Pardon gibt. Entweder siegt der Mann, oder die Bestie reißt ihn in Stücke.
Eine ehrenvolle Niederlage gibt es da nicht.« Immo wandte sich zu Ra um. »Wir können es uns noch anders überlegen. Es ist deine Entscheidung, Ra.« Ra registrierte die Verblüffung des Trainers, der nicht begreifen wollte, wie ein Arkonide derart freundlich mit seinem Diener sprach. Der Barbar grinste verächtlich. »Es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen es wagen. Vielleicht helfen mir ein paar Tricks weiter.« Im Stillen dachte Ra an Corpkor und seine Tiere. Natürlich verfügte Ra nicht annähernd über die Möglichkeiten des Tiermeisters, mit Tieren aller Art in ein nahezu freundschaftliches Verhältnis zu treten, aber er hatte doch einiges von seinem Freund gelernt, vor allem die Fähigkeit, Handlungen vorauszuahnen, aus winzigen Bewegungen die nächsten Aktionen abzuleiten und entsprechend zu reagieren. »Dann komm mit«, sagte Carox. »Es sind dein Wille und dein Leben. Du musst es wissen.« Ra verabschiedete sich von Immo Kalee und Alpertur. Während die Männer die entsprechenden Verträge unterschrieben, ließ Ra sich ein Quartier im Trainingslager zuweisen.
Ra musste das kleine, allerdings klimatisierte Zelt mit einem Arkoniden und zwei Zalitern teilen. Der Arkonide war noch ziemlich jung. Geld schien er genug zu haben, wie seine schmucküberladene Rüstung bewies. Was ihn in die Arena getrieben hatte, fand Ra schon nach kurzer Zeit heraus: Liebeskummer war das mit Abstand letzte Motiv, das Ra in eine solche Lage hätte bringen können. Wenn einer schon den Tod aus Liebesgründen suchte, dann nach Ras Geschmack nicht auf Raten. Die linke Hand hatte der junge Mann schon eingebüßt, nach allem Ermessen würde ihn eines Tages ein
Gegner vollends zum Krüppel schlagen. Ra zuckte mit den Schultern, dann wandte er sich den Zalitern zu. Robal und Efrem waren hartgesottene Profis. Nach dem Gesetz gehörte die Hälfte des Gewinnes dem Kämpfer, mochte er Sklave sein oder nicht. Die beiden Männer hatten mit ihren Herren einen Vertrag, der sie zu fünfzig Arenakämpfen verpflichtete. Überlebten sie, waren sie frei und durften mit ihrem Gewinn abziehen. Verloren sie, blieb nur die Gewinnsumme für die Angehörigen. »Wir haben noch Glück gehabt«, sagte Robal säuerlich grinsend. »Wir dürfen unsere Gewinne tatsächlich behalten. Viele Herren lassen ihre Sklaven nur dann antreten, wenn die Sklaven Gebühren zahlen. Viele Sklaven überleben ihre Kontrakte zwar, sind aber anschließend verkrüppelt und haben leere Taschen. Wenn wir überleben, sind wir auf Zalit gemachte Leute.« »Und wie oft müsst ihr noch in die Arena?«, wollte Ra wissen. »Dreißigmal«, sagte Efrem seufzend. »Vielleicht bekommen wir dich zum Gegner, dann wird es etwas leichter.« Ra verzog das Gesicht zu einem Lächeln, die Ehrlichkeit der beiden Sklaven war verblüffend. »Und was versprecht ihr euch davon?« Efrem sagte: »Es gilt als nicht sehr anständig, einen Neuling gleich zu töten. Aber für uns ist es ein gewonnener Kampf. Müsste einer von uns gegen dich antreten, brauchte er dich nicht zu töten, um weiterzukommen.« »Und was geschieht, wenn ich gewinne?« Robal machte ein finsteres Gesicht. »Das wäre das Ende. Das Publikum fordert dann meist das Leben des Unterlegenen. Ich hoffe nicht, dass du das willst.« Jetzt erst erkannte Ra, dass sie ihn gründlich veralbert hatten. Die beiden Zaliter taten alles, um eventuelle Gegner
schon vor dem Treffen aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Ra empfand ein gewisses Bedauern, aber er hatte nicht die geringste Lust, sich von den beiden einwickeln zu lassen. Ras Plan konnte nur dann aufgehen, wenn es ihm gelang, den Ehrenpreis zu gewinnen, der – das war inzwischen offiziell bestätigt worden – von Orbanaschol III. persönlich übergeben werden sollte. Ra stellte sich an den Eingang des Zeltes und musterte das Treiben im Lager. Auf einem freien Platz trainierten zwei Männer den Schwertkampf. Ra sah interessiert zu. Die beiden Gegner waren gut, sehr gut sogar. Sollte Ra auf einen von ihnen treffen, stand ihm allerhand bevor. Einen Trumpf aber hatte er, und er war fest entschlossen, ihn voll auszuspielen: Ra verfügte über eine meisterhafte Körperbeherrschung. Vor allem konnte er einen Bewegungsablauf, den er bei einem anderen sah, sehr schnell und ohne langes Training wiederholen. Sprünge und Hiebe, die andere Männer lange hätten üben müssen, vermochte Ra sofort nachzuvollziehen. Daher studierte Ra die Männer sehr genau, und nach einigen Zentitontas wusste er, wie er mit jedem der beiden Kämpfer fertig werden konnte. Im Hintergrund schritt ein Mann durch die Menge, der Haarfarbe nach ein Arkonide. Mehr als die Haare konnte Ra nicht erkennen, denn der Mann trug eine Maske, die das Gesicht vollständig bedeckte. Sie bestand aus einem leichten, feinen Gewebe und war auf ähnliche Weise bestickt wie Ras Stirnband. Allerdings bildeten die Stickereien auf der Maske ein verwirrendes System von Linien und Schlingen, abstrakten Figuren und Bildern. Ein faszinierender Anblick, dachte Ra, und im gleichen Augenblick erkannte er auch den Zweck der Tarnung. Es würde schwierig sein, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als die Maske, wenn man gegen diesen Mann anzutreten hatte – und in der Arena konnte jeder unaufmerksame Augenblick den Tod bringen. Ein ganz
besonderes Gor-Mehinda! Ra wusste, dass vergleichbare Makeups nur in der Zeit der KAYMUURTES von Angehörigen der Mittleren und Großen Khasurn aufgetragen wurden. Efrem trat zu Ra und sah sofort, wem die Aufmerksamkeit des Barbaren galt. »Auch ein Neuling. Ich habe ihn beim Üben gesehen, er führt eine verdammt geschickte Klinge.« »Weißt du mehr über ihn? Wie sieht er ohne Maske aus?« Efrem machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Er legt die Maske nie ab. Einer hat versucht, ihm das Ding in der Nacht abzuziehen, aber der Mann liegt jetzt in der Krankenabteilung. Vielleicht kommt er durch.« Ra legte den Kopf auf die Seite und sah Efrem an. War dies ein neuer Versuch, ihn einzuschüchtern? Efrem grinste leicht. »Keine Sorge. Auch dieser Mann ist zu schlagen. Es haben schon einige versucht, sich mit solchen Maskeraden in den Vordergrund zu spielen, aber das hat nur dann einen Sinn, wenn es ihm gelingt, bis zum Endkampf vorzustoßen. Wird er vorher besiegt, nimmt man ihm solche Mätzchen übel – und was das heißt, kannst du dir ausrechnen.« Der Weg des Maskierten führte am Zelt der Männer vorbei. Der Mann würdigte Ra und Efrem keines Blickes, sondern schritt achtlos an ihnen vorbei. »Dem möchte ich in der Arena begegnen.« Efrem ballte die Hände zu Fäusten. »Wahrscheinlich ist es einer dieser verfluchten Arkoniden, die aus purer Langeweile in die Arena gehen. Oft genug schaffen sie es, einem erprobten Kämpfer den Weg in die Freiheit zu verlegen. Ich hasse diese Burschen. Wenn du verlierst, töten sie dich ohne Zögern, aber wenn du siegst, musst du immer warten, ob das Publikum auf deiner Seite ist. Und meistens steht es auf der Seite des Edlen.« Diesmal versuchte Efrem keine Täuschung, der Tonfall seiner Stimme war eindeutig. Ra wandte den Kopf nach hinten und betrachtete den einhändigen Arkoniden, der Efrems Bemerkung sicher gehört haben musste. Der junge Mann
hockte teilnahmslos auf seinem schmalen Bett und starrte ins Leere. Efrem folgte Ras Blick, grinste und machte eine Handbewegung, die unverkennbar war. Die Zaliter hielten ihren Zeltgenossen für nicht zurechnungsfähig. »Wenn du auf ihn triffst«, murmelte Efrem, »sieh dich vor. In der Arena ist er anders. Ich habe schon einige gute Kämpfer gegen ihn verlieren sehen. Er tötet ohne Rücksicht.« »Wie viele Männer kämpfen überhaupt in den nächsten Tagen?« Efrem begann zu rechnen. »Wenn man alle Tierkämpfe und anderen Zweikämpfe mit in die Rechnung aufnimmt, werden schätzungsweise dreihundert Kämpfe stattfinden. Die Sieger kommen jeweils eine Runde weiter.« Ra schluckte. Allmählich begann er zu ahnen, auf was er sich eingelassen hatte. »Sind meine Befehle ausgeführt worden?«, fragte der Mann. »Wie Ihres befohlen habt, Hochedler«, sagte der Diener sofort. »Wir haben an jede Einzelheit gedacht. Es ist nichts vergessen worden.« »Gut so. Teil eins des Planes ist also bereits Wirklichkeit geworden.« Er wandte dem Diener den Rücken zu, sein Blick hing am Kristallpalast; hoch am Himmel schwang sich der lange Schweif des Kometen Blahur durch die Dämmerung. »Ist unser Mann auf Arkon Zwei informiert? Kennt er seine Aufgabe?« »Ganz genau.« »Du weißt, es darf nicht der kleinste Teil des Planes fehlschlagen. Nur wenn ein Rädchen ins andere greift, wenn alle Mitspieler, auch die, die von ihrer Rolle gar nichts wissen, genau so handeln, wie ich es vorausberechnet habe, wird der Plan gelingen. Der Leichnam des Mondträgers ist nach Arkon Zwei gebracht worden?« »Er wird in den nächsten zwei Tontas aufgefunden werden«,
wurde ihm geantwortet. »Die Leiche wurde entsprechend Euren Anweisungen vorbereitet.« »Sehr gut. Dann wollen wir aufbrechen. Es ziemt sich nicht, nach dem Imperator einzutreffen.«
Die Arena bildete ein großes Oval, das mit feinkörnigem Sand bedeckt war. Mehr als zehn Meter stieg die äußere Umrandung empor, dann erst begannen die Sitzreihen für das Publikum. Die Zaliter hatten Vorsorge getroffen, dass nicht etwa ein wildes Tier zu den Zuschauern gelangen konnte. Der Tod eines Arkoniden auf den Tribünen wäre für die Vereinigung der zalitischen Händler eine Katastrophe ersten Ranges gewesen. Die besten Plätze waren durch deutlich erkennbare Prallfelder von den anderen Sitzen abgetrennt. Noch war die private Loge des Imperators leer. Da Orbanaschol III. die Eröffnungsfeier am 23. Prago des Eyilon vollständig erleben wollte, musste der Veranstalter warten, bis der Höchstedle eingetroffen war. Im Publikum wagte niemand zu murren, zu offensichtlich war die Zahl der TGC-Leute und anderer Celistas unter den Zuschauern. Für ein wenig Ausgleich sorgte ohnehin die Ankunft des Zarlt-da-Zalit, in den Augen der Zaliter vermutlich ohnehin ein wichtigerer Ehrengast. Der Herrscher von Zalit fungierte traditionsgemäß als Vize-Imperator, wenngleich er – ebenfalls traditionsgemäß – auf Imperialer Ebene keine Macht hatte. Vom Zarlt und Zalit aus wurde allerdings der zehn Lichtjahre durchmessende Zentral- oder Kernsektor im Herzen von Thantur-Lok verwaltet. Der Zarlt musste nicht zwangsläufig ein Zaliter sein – es gab, wenn auch wenige, Arkoniden, die diesen Titel innehatten. Ab den Jahren um 10.470 da Ark erlangte das Zarlt-da-Zalit-Regiment einen besonderen Ruf; es diente als Leibwache des jeweiligen Zarlt und war wegen
seiner prächtigen und aufwendigen Paradeuniformen allgemein bekannt. In diesem Regiment dienten jedoch nur solche Männer, die in der Zalit- und Arkon-Gesellschaft hohe und höchste Ämter bekleideten und über das nötige Geld verfügten. Der Beitritt zu dem Regiment musste nämlich erkauft werden, denn diese Truppe hatte einen einzigartigen Vorzug – sie brauchte nicht zu befürchten, im Methankrieg eingesetzt zu werden.
Unter den großen Tribünen lagen die Räume, in denen die Kämpfer vor ihren Einsätzen warteten. In den engen Kammern herrschte eine Spannung, die nicht mehr zu überbieten war. Keiner der Kämpfer wusste, gegen wen oder was er anzutreten hatte. Wehe dem, der die undankbare Aufgabe hatte, den ersten Kampf zu bestreiten. Wehe ihm, wenn er schlecht war, und wehe dem Nachfolger, sofern der erste Kampf hervorragend ausgefallen war. Glück hatten die Männer, die als Letzte in der ersten Runde starteten. Sie konnten, falls sie den Kampf gewannen, ihre zukünftigen Gegner studieren. Noch waren die Männer unbewaffnet. Der Ablauf des Programms stand fest. Nach der feierlichen Begrüßung des Imperators wurde der erste Kämpfer aufgerufen und vorgestellt. Dann erst wurde ihm seine Aufgabe genannt. Er durfte zurückkehren und sich in der Waffenkammer ausrüsten, erst danach begann der eigentliche Kampf. Wer herausgerufen wurde, bestimmten die Ausrichter oder der Zufall. Es gab Paarungen, nach denen das Publikum fieberte; sie bildeten die ersten Höhepunkte des blutigen Spektakels. Ra konnte sicher sein, dass seine Aufgabe ausgelost worden war. Noch war er niemandem bekannt. Efrem und Robal, die sich in den langen Jahren der Kämpfe angefreundet hatten,
wurden vielleicht gegeneinander gesetzt – das Publikum mochte es, wenn Freunde sich gegenseitig an die Kehlen mussten. Noch marschierte auf dem Sand eine Musikkapelle auf und ab und versuchte, das Publikum bei Laune zu halten. Ra sah auf die große Stadionuhr. Orbanaschol III. hatte sich um mehr als eine Tonta verspätet. »Ruhig bleiben«, sagte Efrem. »Für gewöhnlich lässt der Imperator seine Untertanen zwei Tontas und länger warten.« Schmetternde Trompetenstöße verkündeten, dass sich der Imperator zu seiner Loge begab. Offenbar wollte Orbanaschol auch durch diese kurze Wartezeit seine besondere Huld öffentlich zeigen. »Ziemlich mäßig, der Beifall«, murmelte Robal. »Offenbar hat der Imperator an Beliebtheit verloren.« »Kein Wunder. Nach dieser typischen Con-Treh-Schlappe bei Trantagossa!« Ra seufzte. Im Gegensatz zum Sprecher kannte er nun den wahren Hintergrund dieser Redewendung. Efrem grinste breit, als die Lautsprecher die ersten Kämpfer in die Arena riefen. Für den ersten Kampf war der Maskierte ausgewählt worden. Er wurde vom Publikum ziemlich kühl aufgenommen, die Zuschauer hielten nicht viel von der auffälligen Maskerade. Sein Gegner war ein besonders groß gewachsener Naat, der auf einem Flottenschiff unangenehm aufgefallen und deshalb zu Arenakämpfen verurteilt worden war. Fasziniert betrachtete Ra die Gestalt. Mehr als drei Meter groß war der Naat, er stand auf ziemlich kurzen Beinen, hatte aber überlange Arme, vor denen man sich zu hüten hatte. Naats lebten auf einem Planeten, der eine Schwerkraft von 2,8 Gravitationseinheiten aufwies. Entsprechend ausgebildet war die Muskulatur dieser Kolosse mit der braunschwarzen, lederartigen Haut. Der Lautsprecher gab bekannt, dass sich beide Kämpfer nach Belieben mit Hieb-, Stich- und
Wurfwaffen versehen konnten. Es vergingen nur wenige Zentitontas, dann standen die Gegner wieder auf dem Sand. Der Naat hatte sich für ein Schwert entschieden und sich zusätzlich mit einem Bündel Speeren ausgerüstet. Der Maskierte trug nur ein Schwert und eine mit Stacheln gespickte Keule. »Der Naat ist nicht …« „… dumm«, wollte Efrem sagen, aber er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich zur Seite werfen. Genau an der Stelle, an der er gestanden hatte, bohrte sich der erste Speer des Naat in die Holzverkleidung der Umfassungsmauer. Der Maskierte hatte sich ebenfalls nur mit einem tollkühnen Satz in Sicherheit bringen können. Die Klinge des Speeres war mindestens fünf Handbreit lang – und vollständig im Holz verschwunden. Besser konnte der Vorteil der hohen Schwerkraft kaum demonstriert werden. Der Naat blieb an seinem Platz stehen und warf einen Speer nach dem anderen. Ums Haar hätte er den Maskierten getroffen, die Waffe zischte scharf an der Schläfe des Mannes vorbei. Die Maske verrutschte, sofort griff der Mann in die Höhe, um sie wieder zu befestigen. Mit einer derartigen Wahnsinnshandlung hatte der Naat nicht gerechnet; sein nächster Speer bohrte sich weit entfernt vom Ziel in den Sand. Jetzt zeigte das Publikum Aufmerksamkeit. Dass der Maskierte solche Risiken einging, nur um seine Identität nicht zu verraten, machte den Kampf spannend. Stürmisch feuerte das Publikum den Naat an, der immer wieder seine Speere schleuderte. Aber die hohe Wurfgeschwindigkeit und die Kraft des Naat machte der Maskierte mit unglaublicher Behändigkeit zunichte. Er strengte sich nur an, die fehlgegangenen Geschosse des Naat mit seinem Schwert zu zerstören, verzichtete aber darauf, seinerseits den Naat mit Wurfgeschossen einzudecken. Der letzte Speer des
Dreiäugigen zersplitterte unter einem Schwerthieb des Maskierten, der jetzt energisch dem Naat zu Leibe rückte. Der Kampf war nach kurzer Zeit entschieden, gegen seinen flinken, beweglichen Gegner hatte der schwerfällige Koloss letztlich keine Chance. Nach kurzer Zeit lag er reglos im Sand, während das Publikum den ersten Sieger des Tages feierte. Der nächste Kämpfer war Efrem, der gegen einen der Veranstalter antreten musste, jenen Mann, der es zugelassen hatte, dass der Naat Speere bekommen hatte. Bei seiner Wurfkraft wäre es dem Naat leicht möglich gewesen, sein Geschoss zielsicher bis zu Orbanaschol III. zu schleudern. Für diesen Fehler büßte der Zaliter mit dem Tode. Efrem gab ihm nicht einen Augenblick lang eine Chance zur Gegenwehr. Auch Robal freute sich, als Efrem in die Räume unter den Tribünen zurückkehrte. »Er ist tot«, stellte Efrem fest und grinste erleichtert. »Und damit ist unser Kontrakt hinfällig. Das war nämlich unser Besitzer.« Ra schluckte, dann sah er ein, dass er diese Männer nicht mit normalen Maßstäben messen durfte; seit Jahren trugen sie ihre Haut zu Markte, da war es nur zu begreiflich, dass sie sich über den Tod ihres Peinigers freuten. Wenig später wurde Ra aufgerufen. Während er langsam auf den freien Platz schritt, sah er, dass die Zugänge zu den Räumen unter den Tribünen abgeriegelt wurden. Schwere Metallplatten schoben sich in die Höhe. Ra fragte sich besorgt, was das zu bedeuten hatte. Die Antwort bekam er wenig später: Er war für einen Kampf mit einem Seeungeheuer vorgesehen. Ra schluckte nervös. Zwar konnte er recht gut schwimmen, aber als Freund größerer Wasseransammlungen konnte man ihn schwerlich bezeichnen. Ein üblerer Streich hätte dem Barbaren kaum gespielt werden können. Ra ging zurück – und sobald sich das Tor wieder hinter ihm geschlossen hatte, begannen große Pumpen das
Oval der Arena mit Wasser zu füllen. »Kein schlechter Einfall«, sagte Orbanaschol und grinste zufrieden. Sein Blick suchte die Augen eines seiner Nachbarn. »Wasserkämpfe habe ich schon immer gern gesehen. Was meint Ihr dazu?« »Ich bin sicher, dass man dieses Arrangement eigens zu Eurem Vergnügen geschaffen hat«, sagte der Angesprochene; er gab sich Mühe, die harte Aussprache des R etwas zu dämpfen. »Ich will nur hoffen, dass der größte Teil des Kampfes nicht unter Wasser stattfindet.« »Auch dies würde den Genuss nicht trüben. Seht die Projektionsflächen, Euer Erhabenheit. Das Unterwassergeschehen wird mit Kameras verfolgt und auf den Projektionsflächen überlebensgroß abgebildet. Keine Einzelheit des Kampfes wird uns entgehen.« Orbanaschol nickte zufrieden, dann wandte er sich einem anderen Mann auf der Ehrentribüne zu. Sein erster Gesprächspartner winkte schnell einen Bediensteten heran und flüsterte: »Hast du den Barbaren gesehen?« »Ja, Erhabener. Er entspricht Lartogs Beschreibungen.« »Auf jeden Fall muss der Barbar sorgfältig beobachtet werden. Sieh zu, dass er nicht aus den Augen gelassen wird. Er tritt als Diener auf, also stellt seinen Besitzer fest, die Vorbesitzer, und vor allem ermittelt, wie er es geschafft hat, ins Arkonsystem zu kommen.« Der Dienstbote nickte kurz, dann zog er sich zurück. »Was meint Ihr?«, erkundigte sich Orbanaschol. »Hat der Barbar Chancen gegen einen Viermäuler von Tor’phylth?« »Das wird von der Klugheit des Mannes abhängen, Euer Erhabenheit. Ich habe schon Männer gesehen, die einen Viermäuler bezwungen haben, aber dies geschieht nur selten.« »Nun, auf jeden Fall werden wir einen unterhaltsamen Kampf erleben«, freute sich der Imperator. »Dieser Barbar gefällt mir. Er sieht so herrlich urtümlich aus. Ich frage mich, von welcher Welt er
stammt.« »Vielleicht wurden seine Eltern in einen Strahlungsunfall verwickelt und zeugten daher diese Mutation. Ihr wisst, dass die Kämpfer gerne ihre Vergangenheit in geheimnisvolles Dunkel hüllen, um sich interessant zu machen.« »Ja, ja.« Orbanaschol bedachte den Sprecher mit einem nachdenklichen Blick. »Wessen Vergangenheit hat keine dunklen Flecken, außer der des Imperators?« »Ihr sagt es, Euer Erhabenheit. Seht, der Kampf beginnt.«
»Du hast Pech, mein Freund.« Efrem starrte auf die Wasserfläche. Er stand neben Ra auf einer kleinen Plattform, die sich knapp fünf Meter über dem Wasserspiegel befand. Das Wasser war annähernd zwei Meter tief, klar und durchsichtig. Deutlich war der Leib des Viermäulers von Tor’phylth zu erkennen – ein amphibisches Lebewesen, das allerdings vorzugsweise auf dem Land lebte. Im Wasser bewegte er sich nicht ganz so geschickt wie an Land. Der lange, tonnenförmige Körper ruhte auf vier kurzen Beinen, deren Zehen – jeweils acht an jeder Extremität – durch Schwimmhäute verbunden waren. Ra erkannte auf der einen Seite einen langen, mit Dornen gespickten Schwanz, auf der anderen Seite an langen, biegsamen Hälsen die vier Köpfe, die der Bestie den Namen gegeben hatten. Die Hälse waren fast so lang wie der übrige Tierkörper, die Köpfe ungefähr so groß wie Ras Brustkorb. Gemächlich schwamm der Viermäuler im Wasser umher, der blaue Kamm auf dem grün geschuppten Rücken war aufgestellt. »Hast du schon einmal gegen einen Viermäuler gekämpft?«, erkundigte sich Ra beeindruckt. »Bisher nicht.« Efrem schüttelte sich. »Und ich wünsche mir auch keinen Kampf dieser Art. Ich hab zwei Männer gesehen,
als sie gegen einen Viermäuler kämpften – beide sind gestorben.« »Los, Ra!«, forderte der Trainer den Barbaren auf. »Die Menge wartet schon auf dich! Oder willst du deine Ausrüstung noch ergänzen?« »Ich hätte gerne noch ein Stück Brot«, sagte Ra freundlich. Der Trainer sah ihn fassungslos an, schüttelte den Kopf und murmelte: »Das ist das Verrückteste, was ich je erlebt habe. Aber du bekommst dein Brot.« Die kurze Zeit, die zum Heranschaffen des Brotes benötigt wurde, nutzte Ra, um aus einem Holzpfeiler, der aus dekorativen Gründen statt eines Stahlträgers verwendet wurde, einen schmalen Span zu schlagen. Das Holz war fest und zäh, es hatte genau die Eigenschaften, die sich Ra wünschte. Sobald der Trainer mit dem Brot erschien, bog Ra den Span zusammen und steckte die beiden Enden in das Brot. Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, dass das Brot die Spannung des gebogenen Spanes ertrug. »Bis später, Freunde«, sagte er, dann trat er auf den Rand der Plattform. Er wurde vom Gebrüll der Menge empfangen, die schon ungeduldig geworden war. Trotz der deutlich hörbaren Pfiffe nahm sich Ra noch die Zeit, auf die Knie zu sinken und beschwörende Gesten auszuführen, so deutlich, dass jedermann sie gut erkennen konnte. Das Publikum wurde still und ließ den Kämpfer gewähren. Dass der Barbar irgendetwas einem unbekannten Götzen opferte, störte niemanden. Erst als der Viermäuler die Opfergabe respektlos verschlang und Ra erschreckt aufsprang, wurde das Publikum wieder lauter. Ra machte zwei Schritte, wollte sich offenbar vor dem Kampf drücken. Das Publikum begann zu pfeifen, während der Trainer ihn langsam auf den Rand der Plattform zudrückte. Angesichts von so viel Feigheit begann die Menge vor Wut zu
toben. In dem gellenden Pfeifen des Publikums brachte es der Trainer schließlich fertig, Ra über den Rand der Plattform zu stoßen. Der Barbar überschlug sich mehrmals und klatschte ins Wasser. Der Viermäuler griff sofort an. Wie eine Peitschenschnur bewegte sich einer der Hälse und brachte das Maul an die Stelle, an der Ra eingetaucht war. Das Knacken der zuschnappenden Kiefer war deutlich zu hören, aber das Maul schnappte ins Leere. Rasch streckte der Viermäuler sämtliche Köpfe aus dem Wasser und suchte nach seinem Opfer.
Ra hatte gewusst, dass ihn der Sturz sofort bis auf den Grund des Beckens bringen würde. Sobald er den Sand unter den Füßen spürte, stieß er sich mit aller Kraft wieder ab. Er ahnte, dass die Bestie sofort an der Einschlagstelle nach ihm suchen würde, sodass er sich nach dieser Einsicht unter Wasser bewegte. Es enthielt keine Salze, daher konnte Ra die Augen öffnen und gut sehen. Er sah die schemenhafte Bewegung des großen Körpers, den Aufprall des großen Schädels, der dort das Wasser aufpeitschte, wo sich Ra noch vor Augenblicken befunden hatte. Unmittelbar neben dem gewaltigen Rumpf der Bestie tauchte er wieder auf. Niemand sah ihn in den ersten Augenblicken, damit hatte Ra gerechnet. Aus den Reaktionen der Zuschauer hätte der Viermäuler Ras Standort ablesen können, doch Ra wusste nicht, wie intelligent die Bestie war. Er nutzte die kurze Zeitspanne, die ihm blieb, um das scharf geschliffene Messer aus dem Gürtel zu ziehen und sich zwischen die Zähne zu klemmen. Keinen Augenblick zu früh tauchte er wieder ab. Einer der Köpfe hatte ihn gesehen und kam mit der Geschwindigkeit eines Geschosses näher. Als sich das mit nadelspitzen Zähnen besetzte Maul schloss, hatte Ra
die andere Seite des Leibes erreicht. Wieder tauchte er für kurze Zeit auf, schnappte nach Luft und griff schnell nach dem Messer. Er wusste, wo er zu treffen hatte, die Klinge bohrte sich tief in das Hinterbein. Der Viermäuler von Tor’phylth schrie schmerzerfüllt auf, die Zuschauer übertönten den Schrei mit ihrem Applaus. Endlich hatten die Kameras den Barbaren erfasst und verschafften der Menge einen genaueren Eindruck vom Ablauf des Kampfes. Das Tier sah nur eine Möglichkeit, sich des Widersachers zu erwehren, und schlug mit dem Schwanz nach dem Peiniger. Als die Stacheln heransausten, war Ra schon wieder unter Wasser, während sich der Viermäuler die natürlichen Dolche in den eigenen Leib jagte. Der Schmerz verwirrte das Tier. Aufgeregt pendelten die großen Köpfe an den langen Hälsen über dem Wasser und hielten nach Ra Ausschau. Ra merkte, dass seine Taktik erfolgreich war. Er wusste, dass er nur eine einzige Möglichkeit hatte, den mörderischen Kiefern zu entgehen. Um sich um sich selbst zu drehen, brauchte der Viermäuler viel Platz. Solange es Ra gelang, im Innenraum dieses Wendekreises zu bleiben, war er einigermaßen sicher. Der Trick bestand darin, das Tier dazu zu zwingen, sich auf einer kürzeren Strecke als der eigenen Körperlänge zu drehen. Gelang ihm das nicht, war Ra halbwegs sicher. Und bei einem erfolgreichen Versuch würde sich der Viermäuler selbst das Rückgrat brechen. Wieder tauchte Ra unter dem ungefügen Leib der Bestie weg, diesmal um den Bruchteil eines Augenblicks zu spät. Zwar schnappten die Kiefer zusammen, ohne Ras Fleisch dazwischen zu spüren, aber die Vorwärtsbewegung des Schädels ließ den Kopf hart gegen Ras Brust prallen. Der Schlag trieb die Luft aus seinen Lungen, er schlug um sich und versuchte, auf der anderen Seite der Bestie in die Höhe zu kommen. Diesmal hatte er nicht genügend
Zeit, um in Ruhe aufzutauchen. Wenn der Viermäuler nicht schon die Bewegungen des Mannes gespürt hatte, wurde er spätestens von dem Schrei, mit dem Ra wieder Atem schöpfte, auf den Mann aufmerksam gemacht. Fast gleichzeitig stießen zwei Köpfe herab. Ra versuchte sich abzuducken und schlug gleichzeitig mit dem Messer um sich. Er hatte Glück, die Klinge bohrte sich in einen Hals. Unwillkürlich zuckten die beiden Hälse wieder zurück. Ra holte noch einmal Luft, dann tauchte er wieder. Bereits nach wenigen Augenblicken erschien sein dunkles Haar wieder über dem Wasserspiegel. Der Viermäuler hatte sich auf Ras Taktik eingestellt, das war nicht zu übersehen. Alle vier Köpfe lauerten stoßbereit, warteten auf das Opfer und pendelten leicht. Ra hatte damit gerechnet und war an der gleichen Stelle wieder aufgetaucht, an der er getaucht war. Die kurze Zeitspanne, die ihm blieb, nutzte er zu einem wuchtigen Hieb mit dem Messer. Die scharfe Klinge durchtrennte ohne Mühe einen schlanken Hals des Viermäulers, ein Blutstrahl spritzte hervor, der abgetrennte Kopf versank schnappend im aufgewühlten Wasser. Enttäuscht musste Ra feststellen, dass der Organismus des Viermäulers auf solche Verletzungen eingestellt war. Wenige Augenblicke nach dem Abtrennen des Kopfes schloss sich die große Schlagader, die vom Körper zu dem Kopf führte. Vermutlich würde das Tier nur wenige Tontas brauchen, bis sich die Wunde vollständig geschlossen hatte. Spätestens in einem Votan würde die Bestie wieder über vier gierig zuschnappende Mäuler verfügen. »Verdammt!«, knurrte Ra. »Wie ist diesem Biest beizukommen?« Wieder tauchte er – und als er auftauchte, lähmte er mit einem raschen Schnitt das zweite Hinterbein des Viermäulers. Nun war das Tier in seiner Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt, ungefährlich war es aber noch lange nicht, das bewies der Schwanz, dessen Dornen Ra nur knapp
verfehlten. Jetzt hatte Ra eine ziemlich gute Position erreicht, hielt sich an den gelähmten Hinterbeinen fest und hielt den Kopf dicht an der Wasseroberfläche. Die nach hinten gestreckten Hälse des Tieres reichten nicht ganz bis an Ra heran, der lange Schwanz war nicht beweglich genug, um Ra erreichen zu können. Das Publikum war von dem Kampf begeistert. Sitzkissen flogen auf das Wasser, aber Ra konnte sich ausrechnen, dass er diese Begeisterung nicht mehr lange würde auslösen können. An einem Remis waren die Zuschauer nicht interessiert. Entweder starb der Viermäuler, oder aber Ra musste sein Leben verlieren – beendete er nicht bald den Kampf zu seinen Gunsten, würden die Arenawachen auftreten und dafür sorgen, dass der Kampf spannender wurde. Ra brachte mit einer kraftvollen Beinschere den Oberkörper in die Höhe und legte sich flach auf den Rücken des Tieres. Sofort wurde er von den verbliebenen drei Köpfen angegriffen. Einen der Köpfe konnte Ra an einem Auge verwunden, bevor er wieder ins Wasser zurückglitt. Langsam wurde Ra müde, der Kampf forderte viel Kraft und sehr viel Luft. Ras Atem ging stoßweise, er spürte das Hämmern seines Herzens. Noch während er in Gedanken an einer neuen Taktik arbeitete, änderte sich die Szenerie. Aus allen drei Köpfen schrie der Viermäuler, sein Körper begann unkontrolliert zu zucken. »Endlich!«, stöhnte Ra auf. »Es hat lange genug gedauert.« Er wusste genau, warum die Bestie zu toben begann und ihn völlig vergessen hatte. Die Magensäfte des Viermäulers hatten das Brot, das er zu Beginn des Kampfes gierig verschlungen hatte, so sehr aufgelöst, dass die Masse den gespannten Span nicht mehr zusammenhalten konnte. Das Holz schnellte in seine ursprüngliche Form zurück und riss dabei klaffende Wunden in die Magenhäute des Viermäulers. Ra wusste, dass er den Kampf gewonnen hatte,
aber er durfte natürlich nicht verraten, mit welchem Trick er die Auseinandersetzung zu seinen Gunsten entschieden hatte. Daher schwamm er schnell wieder auf den tobenden Viermäuler zu. Wild peitschten die langen Hälse das Wasser auf. Vorsichtig näherte sich Ra der Bestie, schwang sich mit einem gewaltigen Ruck auf den Rücken. Das Tier wurde von den Schmerzen in seinem Inneren derart gequält, dass es den Mann nicht wahrzunehmen schien. Ra hatte leichtes Spiel – in weniger als einer Zentitonta hatte er die drei restlichen Hälse durchtrennt, dann konnte er ohne allzu große Schwierigkeiten nach dem achten Rückenwirbel des Tieres suchen. Dort lag der Nervenknoten eingebettet, der bei einer Verletzung den sofortigen Tod des Tieres herbeiführte. Normalerweise wurde dieser Fleck von dem Viermäuler erbittert verteidigt, aber jetzt musste sich Ra nur des ungezielt schlagenden Schwanzes erwehren, während er nach dem Nerv suchte. Ein Stich genügte, um den Viermäuler auf der Stelle zu töten. Noch einmal peitschte der Schwanz ins Wasser, dann erschlaffte der mächtige Körper. Ra stieß einen Triumphschrei aus, der vom tobenden Applaus des Publikums beantwortet wurde. Langsam und erschöpft ließ sich der Barbar von dem Körper gleiten und schwamm auf den Rand des Arenabeckens zu. Er atmete tief und ruhig, aber er war vorsichtig genug, den Kadaver nicht aus den Augen zu lassen. Ra hatte längst gelernt, dass man bei fremdartigen Lebewesen sehr vorsichtig sein musste. Dass ihn sein Instinkt nicht getrogen hatte, zeigte sich wenige Augenblicke später: Der Körper des Viermäulers begann mit großer Schnelligkeit zu schrumpfen. Immer kleiner wurde der gewaltige Leib, war nach wenigen Augenblicken vollständig verschwunden. »Unmöglich!«, murmelte Ra. »Das ist völlig ausgeschlossen. Ein Körper kann doch nicht einfach verschwinden.« Er überlegte fieberhaft, dann hatte er begriffen, warum
bisher nur selten ein Zweikampf mit einem Viermäuler zugunsten des Mannes ausgegangen war, und dann auch nur, wenn der Kampf auf trockenem Boden stattgefunden hatte. Natürlich war der Körper des Viermäulers nicht völlig verschwunden; selbst wenn er in seine chemischen Bestandteile zerfallen wäre, hätte es eine Trübung des Wassers geben müssen. Ra kam zu der Erkenntnis, dass sich der angeblich tote Viermäuler verwandelt hatte. Am Ende dieser Metamorphose musste ein Wesen stehen, das so konstruiert war, dass sein Körper im klaren Wasser nicht zu erkennen war. Nervös hielt Ra nach dem Endprodukt der Verwandlung Ausschau. Vollständig lichtdurchlässig konnte der Körper des neuen Wesens nicht sein. Aber wahrscheinlich lagen die Lichtbrechungsindizes so nahe beieinander, dass der Körper nur mit hochwertigen Messinstrumenten wahrgenommen werden konnte. Ra spürte einen leisen Anflug von Angst; gegen einen nahezu unsichtbaren Gegner ankämpfen zu müssen war eine beinahe unlösbare Aufgabe. Dann kam Ra ein Gedanke, eine Wahnsinnsidee, aber vielleicht die einzige Möglichkeit, das Problem zu lösen. Erregt sprang Orbanaschol von seinem Sitz auf. »Was macht der Barbar da? Will er sich drücken?« »Ich glaube nicht, dass er feige ist«, sagte der Zarlt von Zalit. »Der Mann ist geschickt und wagemutig.« Auf den großen Projektionsflächen war deutlich zu sehen, wie Ra mit dem Messer seine Handgelenke bearbeitete. Blut strömte ins Wasser.
Ra wusste, dass er jetzt gegen die Zeit kämpfte. Zwar hatte er nur eine der dicht unter der Haut gelegenen Venen
angestochen, aber dennoch würde er ziemlich viel Blut verlieren. Die Verletzung war schmerzhaft, Ra presste die Kiefer zusammen, um nicht aufzustöhnen. Immerhin zeichnete sich sehr schnell ab, dass sein verzweifelter Trick funktionierte. Das Wasser ringsum verfärbte sich. Versuchte der geheimnisvolle Körper einen Angriff, würde er sichtbar sein. Langsam zog sich Ra zurück, in Richtung des Tores, das sich öffnen würde, wenn dieser Kampf beendet war. Auf einer Plattform darüber standen mehrere Männer. Ra erkannte Efrem und den Trainer, daneben einige Männer, deren Abzeichen bewiesen, dass sie als Rettungsmannschaft vorgesehen waren. Sie würden ihn also nicht einfach verbluten lassen. Ra seufzte erleichtert auf, als er das Tor erreicht hatte, obwohl er wusste, dass ihn einstweilen niemand herauslassen würde. Erst musste der Gegner besiegt werden, der aus der Metamorphose des Viermäulers hervorgegangen war. Ra brauchte nicht lange zu warten. Plötzlich erschien im blutgefärbten Wasser ein Körper. Das Tier war armdick, sehr lang und nur dort zu sehen, wo sich sein transparenter Körper vom blutigen Wasser unterschied. Sofort hackte Ra mit dem Messer nach dem Gegner. Ein heftiger Schmerz zuckte durch das unverletzte Handgelenk, als die Klinge an der zähen Haut abprallte. »Dürft ihr das Wasser so weit ablassen, dass ich stehen kann?«, rief Ra in die Höhe. Carox’ Stimme antwortete ihm: »Das wurde bereits eingeleitet. Bald stehst du auf dem Boden.« Ra atmete erleichtert auf, aber er spürte auch, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. In stetem Strom floss das Blut aus der verletzten Vene, es war nur eine Frage der Zeit, bis Ra das Bewusstsein verlieren würde. Vielleicht würde ihm geholfen werden, aber bis das Publikum entschieden hatte, ob er tapfer genug gekämpft hatte, um verschont zu werden, konnte er
bereits ertrunken oder von dem Glaswurm erdrosselt sein. Ra spürte den glatten Körper des Wurmes an seinem linken Bein, das er schnell zurückzog. Er konnte sehen, dass der Wasserspiegel konstant sank; wenig später fühlte er den festen Sand unter den Füßen. In diesem Augenblick griff der Barbar zu. Mit beiden Händen packte er den Leib des Glaswurms, von dem er nicht wusste, wie lang er tatsächlich war. Mit aller Kraft zerrte Ra das Tier in die Höhe, aber im gleichen Augenblick, in dem ein Teil des Körpers über die Wasseroberfläche geriet, schien sich das Gewicht des Wurmes verdoppelt zu haben. Ra stöhnte vor Anstrengung, aber er ruckte und zerrte weiter. Sobald der Körper des Wurmes mit der Luft in Berührung kam, wurde er hart und sichtbar. Wasser wurde aufgewühlt, als sich der Wurm dagegen wehrte, aber Ra hatte jetzt einen festen Stand und kämpfte entschlossen weiter. Sein Atem ging immer schneller, der Blutverlust machte sich zusehends bemerkbar. Stück für Stück brachte Ra das Tier an die Wasseroberfläche, im Stillen hoffend, dass er in der richtigen Richtung arbeitete. Wenn er als Erstes das Ende des Wurmes zum Vorschein brachte, blieb ihm wahrscheinlich keine Zeit und vor allem keine Kraft mehr, nach dem Kopf des Tieres zu suchen. Ra stieß einen triumphierenden Schrei aus, als er spürte, dass der Körper des Tieres erstarrte. Ra hatte den Kopf des Glaswurms erreicht, der sich nur durch zwei kaum erkennbare Fühler und eine Speiseöffnung vom restlichen Körper unterschied. Ra sah noch, wie auf die rote Fläche des Wassers ein Regen bunter Sitzkissen niederging, dann verschwand die Welt vor seinen Augen. Den Schrei, den die Menge ausstieß, als er langsam versank, nahm er nicht mehr wahr.
8. »Lebt der Barbar noch?« Wenn sich Orbanaschol III. erregte, wurde seine Stimme besonders unangenehm. Der Imperator war ungewöhnlich gedrungen für einen Arkoniden, beinahe schon fett. Sein Gesicht war feist und rundlich, die kleinen listigen Augen verschwanden fast unter den dicken Tränensäcken; die ganze Person wirkte unangenehm und verschlagen. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, sobald er den Mund auftat. Seine Stimme klang dünn und fistelnd und schlug über, sobald er in Erregung geriet, aber niemand in seiner Nähe wagte es, auch nur eine Miene zu verziehen. »Er lebt noch, Höchstedler«, wurde gemeldet. »Der Blutverlust wird zurzeit durch eine Transfusion ausgeglichen. In einer Tonta wird der Mann wieder an den Kämpfen teilnehmen können.« »Sehr gut«, lobte Orbanaschol. »Ich bin gespannt auf die nächsten Kämpfe.« Um die Loge des Imperators flammte der Schutzschirm auf, stark genug, um selbst dem Beschuss eines Leichten Kreuzers standhalten zu können. Erst nach dem Aufbau der Energieglocke wurden die Kampfroboter in die Arena gelassen, um die Reste des Glaswurms zu vernichten. Nach wenigen Augenblicken war das Tier verdampft, zurück blieb eine rot glühende Fläche kochenden Sandes. Bald würde sie wieder erkalten und spiegelglatt werden, eine heimtückische Falle für jeden weiteren Kämpfer, der dumm genug war, sich von seinem Gegner auf diesen Fleck locken zu lassen. Auf Befehl des Imperators wurde, sobald der geschmolzene Sand halbwegs ausgekühlt war, frischer Sand über die Stelle gestreut. »Solche Scherze steigern die Spannung«, sagte Orbanaschol grinsend. »Der Humor Eurer Erhabenheit ist das Entzücken der Öden Insel«, sagte einer seiner Begleiter; es war der Versorgungsmeister Grothmyn, der sich mit solchen Reden bei Orbanaschol einschmeicheln wollte. Grothmyns Aufstieg war untrennbar mit dem
Orbanaschols verbunden. Als junger Mann einer der Assistenten des damaligen Oberbeschaffungsmeisters Sofgart, war Grothmyn nach der Gründung der gefürchteten Kralasenen-Truppe Versorgungsmeister geworden. Die Position des Ka’Chronntis als einer der höchsten Zivilbeamten im Berten Than hatte Orbanaschol III. nach Sofgarts Ausscheiden aus dem Zwölferrat nicht mehr neu besetzt. Zuständig für die Finanzen, Wirtschaft, Steuern, Sektorenaufsicht und die gesamte zivile Logistik vor allem Handel, Nachschub und Logistik auf Arkon II, war der jeweilige Oberbeschaffungsmeister des Imperiums schon von Amts wegen einer der mächtigsten Männer im Imperium. Zu mächtig für eine Person wie Orbanaschol. Dass die vakant gebliebene Position ein Vakuum hinterließ, das nachgeordnete Versorgungsmeister wie Grothmyn nach Gutdünken ausfüllten, war ein anderes Thema … Wer ihn beschreiben wollte, verfiel meist auf Worte wie schleimig, glatt, schmierig. Es gab kaum einen Mann im Kristallpalast, der so stark von allen gehasst wurde. Eine Qualität allerdings hatte Grothmyn, und diesem Talent verdankte er seine Stellung am Hof: Grothmyn konnte organisieren. Er wusste stets, welche Männer für welche Verwendung am besten taugten. Er beschaffte Material, an das kein anderer heranzukommen vermochte. Gingen den Fabriken die Schwingquarze aus, trieb Grothmyn einen Händler auf, dessen Schiff bis an die Polkuppel damit angefüllt war. Woher der Händler die nötigen Materialien besorgt hatte, blieb Grothmyns Geheimnis. Manch ein hoher Beamter war nur durch Grothmyns Geschick davor bewahrt worden, wegen Wirtschaftssabotage in den Konvertern zu verschwinden. Für Versorgungsschwierigkeiten hatte Orbanaschol keinerlei Verständnis; entsprechend groß war das Risiko der Beamten. Trotz der Dienste, die Grothmyn diesen Männern geleistet hatte, dachte keiner der Betroffenen daran, dem Versorgungsmeister dankbar zu sein. Es kreisten am Hofe Gerüchte, dass an den verwegen ausgeführten Rohstoffdiebstählen kein Geringerer als Grothmyn selbst beteiligt war, dem es dann natürlich leicht möglich war, den Verlust durch seine Diebesbeute wieder
auszugleichen – mit entsprechenden Profiten selbstverständlich. Grothmyn war unverheiratet, indes selten unbeweibt. Wie er es schaffte, selbst die Töchter hochedler Familien für sich zu gewinnen, blieb sein Geheimnis, aber man munkelte, dass in diesen Fällen meist Erpressung im Spiel war. Erst als der Schutzschirm wieder abgebaut worden war, näherte sich ein Mann der Loge. Er trug keine Uniform, aber der Imperator erkannte den Mann sofort und winkte ihn heran. »Sprich, Klertonh. Hat die Tu-Gol-Cel endlich einen Erfolg zu melden?« Das Gesicht des Mannes zuckte; ihm war anzusehen, dass er überzeugt war, einen glanzvollen Auftritt vor sich zu haben. »Kennt Ihr einen Mann namens Sam Lartog, Höchstedler?« Orbanaschol schüttelte nach kurzem Nachdenken den Kopf. »Was ist mit dem Mann?« »Lartog gehörte zur Besatzung der KARRETON unter Kommandant Grahn Tionte. Das Schiff ist seit geraumer Zeit überfällig.« »Meine Haare, meine Haare«, äffte Orbanaschol den Kommandanten des Schiffes nach. »Um der Galaxis willen, bringt mir mein Haarwasser. Ich nehme an, dass dieser Tionte gemeint ist. Ein unerträglicher Kerl. Rede weiter!« »Lartog wurde gefunden. Man fand ihn hier auf Arkon Zwei, tot. Wie er dorthin gekommen ist, konnten wir nicht herausfinden.« Orbanaschol stutzte. »Was wurde aus dem Rest der Besatzung? Wie konnte der Mann durch die Kontrollen schlüpfen?« »Beide Fragen können wir einstweilen nicht beantworten, Höchstedler. Aber wir haben den Leichnam des Mannes genau untersucht. Sein Kopf ist völlig zerquetscht, er wurde nur anhand seiner Kennmarke identifiziert; seine Gendaten stimmen mit den Speicherwerten überein. Und dann fanden wir noch etwas – einen Datenkristall. Er steckte unter einem Nagel des rechten Fußes. Auf ihm ist eine hochinteressante Geschichte gespeichert.« Orbanaschol warf einen Seitenblick auf das Geschehen in der Arena, wo sich zwei Männer einen erbitterten Kampf mit bloßen
Fäusten lieferten. Da dabei nur wenig Blut floss, konzentrierte sich der Imperator wieder auf Klertonhs Bericht. »Die Männer, die die KARRETON kaperten, wurden von einem Mann angeführt, der sich Atlan nannte.« Klertonh machte an dieser Stelle eine dramatische Pause, er wusste genau, warum. Orbanaschol schrak zusammen, sein Blick wurde unstet. Mit hörbarer Erregung fragte er: »Sind diese Angaben sicher? Gibt es keinen Zweifel?« »Keinen«, bestätigte Klertonh selbstsicher. »Die Unterlagen sagen einwandfrei aus, dass es sich bei dem Raumpiraten um jenen Mann handelt, der sich als Kristallprinzen ausgibt.« Obwohl er genau wusste, dass es den Kristallprinzen gab und es sich nicht um einen Hochstapler handelte, wählte er diese Formulierung. »Wir haben bei dem Toten noch etwas gefunden. Ein präzises Individualschwingungsdiagramm.« Orbanaschol fasste den Mann schärfer ins Auge, sein Gesicht rötete sich. Leise fragte der Imperator: »Doch nicht etwa …« »Von Atlan!«, bestätigte Klertonh triumphierend. »Offenbar wollte Lartog dieses wichtige Dokument zur nächsten TGC-Stelle bringen, als er ermordet wurde.« »Ein Individualschwingungsdiagramm von diesem Hochverräter.« Orbanaschols Züge veränderten sich zu einem bösartigen Grinsen. »Gebt das Diagramm weiter, an alle TGC-Stellen, jede Wacheinheit der Flotte. Endlich haben wir ein Mittel, den Verräter zu finden.« Noch heute drohte den Imperator die Wut zu überfallen, dass es einem Vertrauten dieses verfluchten Fartuloon damals gelungen war, die Individualdaten des Gonozal-Sohns aus dem großen Zentralgehirn auf der Kristallwelt zu löschen. »Man wird ihn in jeder beliebigen Maske entdecken und festnehmen können«, sagte Klertonh. »Eine Gefahr für das Leben Eurer Erhabenheit besteht folglich nicht mehr. Atlan wird keine Chance haben, unentdeckt in Eure Nähe zu gelangen.« Orbanaschol III. legte sich in seinem Sitz zurück und grinste selbstzufrieden. Es war ihm anzusehen, wie sehr er sich über diese
Nachricht freute. »Eine Frage noch, bevor ich dich entlasse, Klertonh. Wer hat Lartog getötet? Gibt es Hinweise auf den oder die Täter?« Klertonh zuckte mit den Schultern. »Wir haben so gut wie keine Anhaltspunkte. Die Täter sind zweifelsfrei im Bekanntenkreis oder unter den Helfershelfern des falschen Kristallprinzen zu suchen. Einige Mitarbeiter wagen sogar zu behaupten, dass sich Atlan persönlich im Arkonsystem aufhält.« Orbanaschol richtete sich in seinem Sitz steil auf. »Atlan hier?«, keuchte er erschrocken. »Habt Ihr die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt?« »Selbstverständlich!«, sagte der TGC-Mann. »Mascant Offantur leitet alles von Gos’Ranton aus. Euer Erhabenheit werden schärfstens bewacht! Euer Leben ist nicht in Gefahr!« Erleichtert sank Orbanaschol zurück, auf den Chef der TGC war Verlass – schon aus eigenem Interesse. »Grothmyn!« Sofort stand der Versorgungsmeister neben seinem Herrn. »Sorg dafür, dass dieser Mann der Bedeutung seiner Nachrichten gemäß entlohnt wird!« Zu Klertonh gewandt, fuhr er fort: »Ich danke dir. Deine Informationen waren sehr wertvoll. Ich wünsche, dass überall nach diesem Verbrecher gefahndet wird. Du kannst dich entfernen.« Klertonh salutierte, dann zog er sich zusammen mit Grothmyn zurück. Der Versorgungsmeister musterte nachdenklich den TGCMann. Wie tief würde Grothmyn in die Truhen des Imperators greifen müssen, um den Mann auf seine ganz persönliche Seite ziehen zu können? Innerlich grinste der Versorgungsmeister bei dem Gedanken, dass es Orbanaschol selbst war, der ihn mit solchen Befehlen in die Lage setzte, seine privaten Interessen zu verfolgen. Leider war aus unbekannten Gründen der hervorragende Stützpunkt bei Krassigs Stern vernichtet worden. Grothmyn hatte weitreichende Pläne, er hatte Zeit und – dank Orbanaschols gelegentlicher Großzügigkeit – auch Geld; die nötige Skrupellosigkeit war Grothmyn seit Langem zu eigen. Orbanaschol sah den beiden Männern nach; er lächelte zufrieden
und wandte sich wieder den Kämpfen zu. Vielleicht war es besser, überlegte er sich, Atlan nicht kurzerhand hinzurichten, sondern durch ausgesuchte Gegner in einer Arena allmählich zu Tode zu schinden. Fähige Leute für diesen Zweck gab es genug; beispielsweise den geheimnisvollen Maskenträger, der seinen dritten Kampf bestritt.
Arkon II: 23. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Es war nicht das erste Mal, dass Ra ziemlich viel Blut verloren hatte, aber bisher hatte er sich noch nie so schnell erholt. Man hatte ihm Blut transfusioniert, dann die Wunden mit einem heilaktiven Plasmafilm besprüht. Nach erstaunlich kurzer Zeit fühlte sich der Barbar frisch und ausgeruht, bereit, sofort wieder in die Arena zu gehen. Er stand neben einigen anderen Kämpfern am Rand des Kampfplatzes und verfolgte den Kampf des Maskierten mit einem zweiten Mann. Der Gegner war mit einem Wurfseil und einer schweren Keule bewaffnet, der Maskierte benutzte einen langen, biegsamen Degen. »Seine Haltung ist nicht schlecht«, kommentierte Carox den Kampf. »Ich habe allerdings Zweifel, ob sein Handgelenk lange so geschmeidig bleiben wird.« Der Mann mit der Keule verfügte zweifellos über beträchtliche Erfahrung im Arenakampf, war schnell und wendig; die Ausbildung seiner Muskeln ließ vermuten, dass er nur einen einzigen Hieb gebraucht hätte, um seinem Widersacher den Schädel zu zertrümmern – so, wie er es im ersten Kampf mit einem defekten Kampfroboter gemacht hatte. Der Maskierte versuchte, seine körperliche Unterlegenheit durch Raffinesse und Einfallsreichtum wettzumachen. Immer wieder blitzte die Klinge seines Degens im Licht der Sonne, aber der Keulenträger vermochte den
Attacken jedes Mal knapp zu entgehen. Einzig Ra erkannte, dass der Maskierte mit seinem Gegner spielte, dass der Mann mit der Keule nicht die geringste Aussicht hatte, den Kampf zu gewinnen. Offenbar wollte der Maskierte Eindruck schinden, einen spannenden Kampf vortäuschen, um das Publikum bei Laune zu halten. Überdies musste er befürchten, dass ihm fast unlösbare Aufgaben serviert wurden, wenn er seine Gegner zu schnell und leicht besiegte. Einem Nahkampf wich der Maskierte geschmeidig aus, dann aber beging er den Fehler, sich zu weit von dem Keulenträger zu entfernen. Nur Augenblicke vergingen, bis der Mann sein Seil geschwungen und geworfen hatte. Am vorderen Ende des Seiles waren drei Kugeln befestigt, die sich um die Beine des Gegners bewegen und ihn zu Boden reißen sollten. Begleitet von einem Aufschrei des Publikums, kam der Maskierte tatsächlich zu Fall, aber er sprang blitzschnell wieder auf die Füße, packte das Seil und zog daran. Er wusste, warum er bei seinen Degenhieben stets den Kopf des Keulenträgers verfehlt hatte; stattdessen hatte er, ohne dass das Publikum es wahrgenommen hatte, das über die Schulter gelegte Seil des Keulenträgers getroffen. Das Seil war ausgefranst, und als sich der Keulenträger gegen den Zug stemmte, riss es. Ra grinste anerkennend. Schnell befreite sich der Maskierte, wenig später war er damit beschäftigt, das Seil nach dem Keulenträger zu werfen. Danach dauerte der Kampf nur noch kurze Zeit. Der Mann mit der Keule stürzte, einen Augenblick später fühlte er die Spitze des Degens an seinem Hals. Dem Publikum hatte der Kampf gefallen – es schonte das Leben des Keulenträgers. Hinkend schritt der Besiegte an Ra vorbei, dahinter folgte der Maskierte. Ra erkannte, dass dieser Kampf den Mann angestrengt hatte. Völlig unbesiegbar war er mit Sicherheit nicht, aber er war ausdauernd und zäh. Ein hervorragender
Kämpfer, das musste auch Ra zugeben.
Langsam zeichnete sich ab, wie der Rest des Turniers verlaufen sollte. Offenbar war geplant, als Höhepunkt einen Endkampf mit dem Maskierten zu arrangieren. Fraglich war nur, wer der Gegner des Mannes sein würde. Unübersehbar für die Kämpfer war, dass die Veranstalter für den Maskierten nur noch vergleichsweise leichte Gegner auswählten, damit der Geheimnisvolle in jedem Fall den Endkampf erreichte. »Das wird extrem schwer«, murmelte Efrem in Ras Ohr. »Wer im Endkampf sein Gegner ist, muss ihn unbedingt besiegen und ihm die Maske abnehmen. Das Publikum wird niemals zulassen, dass er mit der Maske den Platz verlässt; der Besiegte hat keine Gnade zu erwarten.« »Auch dieser Mann ist zu schlagen«, keuchte Ra. Der Kampf gegen eine Raubkatze war anstrengend und gefährlich gewesen, aber Ra hatte schließlich gesiegt, ohne bei der Auseinandersetzung verletzt worden zu sein. Das Publikum wurde leiser, um hören zu können, wie die nächsten Paarungen aussahen. Der Maskierte hatte ein Gefecht mit Strahlwaffen auszutragen. Allerdings waren die Thermostrahler so eingestellt, dass sie bei Treffern nur leichte Verbrennungen hervorriefen, die nicht unmittelbar tödlich waren. Der Maskierte musste zwei Treffer einstecken, bis er es geschafft hatte, den Strahler so zu beschädigen, wie er es wollte. Fassungsloses Entsetzen malte sich auf dem Gesicht seines Gegners ab, als dieser sah, dass ihm der Maskierte die Waffe unmittelbar vor die Füße warf. Bevor der Mann zur Seite springen konnte, detonierte das Magazin und riss den Mann von den Beinen; schwer verletzt wurde er aus der Arena getragen. »Dieser Gork!«, flüsterte Efrem. »Der Kerl kommt
geradewegs aus der finstersten Unterwelt. Es wird besser für dich sein, wenn du dir eine ehrenhafte Niederlage einhandelst. Der Maskierte wird dich töten, glaub mir.« Ra schüttelte den Kopf, mehr konnte er nicht sagen, da er auf den Kampfplatz gerufen wurde. Der Lautsprecher gab seinen Gegner bekannt. Ra erstarrte förmlich; sein nächster Gegner war eine Frau.
Eine kleine, fast zierliche Gestalt näherte sich dem Mittelpunkt der Arena. Langes weißes Haar wehte im Wind, das Gesicht der Frau war von der Sonne in sattem Bronzeton gebräunt. Ra schluckte nervös. Natürlich war diese Frau nicht Ischtar, die Ähnlichkeit beschränkte sich auf wenige Äußerlichkeiten, aber sie reichte aus, um Ra unsicher zu machen. Er hatte die Frau noch nicht kämpfen sehen, bei ihren Auftritten hatte er sich jeweils von seinem Kampf ausgeruht. Aber er konnte sich ausrechnen, dass er keinen leichten Stand haben würde. Der Sieger aus diesem Treffen würde gegen den Maskenträger antreten müssen; so dicht vor dem Finale trafen normalerweise keine Anfänger mehr aufeinander. Langsam kam die Frau näher. Sie trug ein eng anliegendes Gewand aus geschmeidigem Leder, das ihre Figur betonte. Ra fragte sich, was ein so attraktives Weib ausgerechnet auf dem blutgetränkten Boden dieser Arena zu suchen hatte. Dass er sie nicht unterschätzen durfte, merkte Ra wenig später. Im letzten Augenblick konnte er dem fast ansatzlos geschleuderten Messer ausweichen und sich zur Seite werfen. Die Klinge aus Arkonstahl pfiff an seinem Ohr vorbei und blieb zitternd im Gebälk am Rand der Arena stecken. »Ischtar, hilf«, murmelte Ra verzweifelt. In seinem Gürtel steckte ebenfalls eine stattliche Sammlung hervorragend ausbalancierter Wurfmesser, aber er scheute
sich, diese Waffen sofort einzusetzen. Die Frau zeigte weit weniger Hemmungen; wieder machte Ra einen Satz, um nicht getroffen zu werden. In dem Augenblick, in dem sein Bein den Boden wieder berührte, warf er sich noch einmal nach vorne. Dieser Sprung war seine Rettung, denn das nächste Geschoss bohrte sich genau dort in den Sand, wo Ras erster Sprung geendet hatte. Er begriff, dass diese Frau eine zu allem entschlossene, eiskalte Kämpferin war, die ihre Chancen rücksichtslos nutzte. Sie würde keinen Augenblick zögern, ihm eins der Messer in den Körper zu jagen. Ra wich zurück, bis er die Umrandung der Arena spürte. Er nahm ein Messer zur Hand und spielte mit der Klinge. Auch die Frau wich einen Schritt zurück. Endlos lang schienen die Augenblicke zu sein, die Ra brauchte, um das erste von der Frau geworfene Messer zu erreichen. Er wusste, was er riskierte, als er die Klinge aus dem Holz zog. Regungslos blieb er für einen Herzschlag stehen. Die Frau hatte mit einem Ausweichmanöver gerechnet, daher verfehlte auch dieser Wurf den Körper des Barbaren. Rasch nahm Ra auch dieses Messer an sich. Ohne sich umzusehen, warf er die beiden Messer der Frau über die Schulter; er war sicher, dass sie auf der anderen Seite der Umgrenzung aufgefangen werden würden. Sie beide waren mit je zehn solchen Wurfmessern ausgestattet; vier ihrer Geschosse hatte die Frau verwendet, davon waren zwei für den Rest des Kampfes verschwunden. Zwei weitere Messer steckten im Sand; Ra hatte noch nicht geworfen, rein rechnerisch war er im Vorteil. Es war beängstigend still in der großen Arena, die Besucher folgten gespannt dem Geschehen. Ra zögerte nur einen Augenblick, dann begann er zu laufen. Mit weiten Sprüngen eilte er über den sandigen Boden, sofort holte die Frau zum Wurf aus. Sie zielte genau, schleuderte mit aller Kraft die gefährliche Waffe.
Der Barbar sah die Bewegung aus den Augenwinkeln, ließ sich mitten im Lauf zur Seite fallen, schlug hart auf und rollte ab. Im Eifer des Gefechtes hatte er vergessen, dass Orbanaschols Roboter diesen Fleck zu einer spiegelglatten Fläche zusammengeschmolzen hatten. Ra ruderte mit den Armen und Beinen, aber er konnte seine Rutschbewegung nicht stoppen. Ein Messer prallte eine Handbreit neben seinem rechten Arm auf den Boden, eine Funkenkaskade sprühte auf, während Ra fühlte, wie ihm die Klinge den Arm aufriss. Tief war die Wunde nicht, auch nicht sehr schmerzhaft, aber sie würde ihn beim Zielen empfindlich behindern. Endlich stoppte die unfreiwillige Bewegung; Ra überschlug sich noch einmal, kam auf die Füße und warf sich sofort wieder vorwärts. Die Frau rannte auf ihn zu, schleuderte noch im Laufen das nächste Messer. Ra sah in ihrem verzerrten Gesicht, dass sie zu verzweifeln begann. Sie hatte noch zwei Messer zur Verfügung und mit den acht anderen Messern nicht mehr erreicht als eine harmlose Fleischwunde. Zudem bewegte sich der Barbar so, dass er zwischen ihr und den von ihr verworfenen Messern stand. Ra grinste zufrieden. Er blutete nun aus zwei Wunden, denn das letzte Messer der Frau hatte ihn am Bein gestreift. Sein Plan war vollständig aufgegangen, die Frau war nun waffenlos. Unwillkürlich drehte sich Ra um, wollte feststellen, wo das letzte Messer eingeschlagen hatte. Hinter ihm gab es eine kleine Öffnung in der Umrandung, die vom Wartungsmeister benutzt wurde, der feststellen musste, wie weit die Kämpfe gediehen waren. Das Messer der Frau steckte in der Brust des Mannes, der fast zeitlupenhaft langsam zur Seite kippte. Was er im Fallen berührt hatte, konnte Ra nicht sehen, aber der Aufschrei des Publikums zeigte ihm, dass etwas Unvorhergesehenes eingetreten war. Ra fuhr herum. In der gegenüberliegenden Arenawand
klaffte nun eine metergroße Öffnung, aus der sich langsam vier Körper in die Arena schoben. »Springlöwen!« Einer war als Gegner schon lebensgefährlich, noch nie wurden zwei der Tiere zusammen auf einen Mann gehetzt. Ra winkte der Frau, die mit weißem Gesicht mitten in der Arena stand. »Hierher! Ich helfe dir!« Die Tiere schoben sich langsam vorwärts und gerieten in den Bereich, der von großen Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde. Dämmerung war über der Zeltstadt angebrochen; noch vor Mitternacht sollten die Kämpfe ein Ende finden. »Kein Eingreifen!«, schrie Orbanaschol mit seiner Fistelstimme. »Lasst die beiden mit den Bestien allein!« Der Zeremonienmeister katzbuckelte, dann gab er den Befehl des Imperators an die Männer hinter den Bedienungsautomatiken weiter. Es wäre leicht gewesen, die Tiere mit Traktorstrahlen einzufangen und den beiden bedrängten Kämpfern zu helfen, aber der Wille des Imperators verhinderte eine solche Hilfe. Die Lautsprecher gaben den Befehl Orbanaschols an das Publikum weiter. Der Imperator machte ein verdrießliches Gesicht, als unter den Zuschauern plötzlich eine beklemmende Stille entstand. Es war nicht zu übersehen, dass sie mit diesem Befehl überhaupt nicht einverstanden waren, aber die Menge wagte auch nicht, ihren Unmut laut zu äußern. So lag über der Arena eine Stille, die an den Nerven zerrte, besonders an denen des Imperators, dem die Bedeutung dieses Schweigens nicht verborgen geblieben war. Der Vorfall wäre in einigen Tontas vergessen gewesen, hätte Orbanaschol seine Anordnung schnell zurückgenommen, aber es entsprach dem Charakter dieses Mannes, Härte und Entschlusskraft gerade da zu zeigen, wo sie unangebracht waren. Missmutig sah sich Orbanaschol um, aber keiner seiner Begleiter achtete auf ihn. Alle
Personen in der Loge des Imperators starrten wie gebannt in die Arena.
Ra warf der Frau eines seiner Messer zu; geschickt fing die junge Frau die Waffe auf und lächelte. »Jetzt kannst du wirklich zeigen, wie gut du zu werfen verstehst«, knurrte Ra. Besorgt betrachtete er die Gegner. Springlöwen waren an den gewaltig ausgebildeten Hinterbeinen sofort zu erkennen. Die vorderen Extremitäten waren weit weniger gut ausgebildet. Die großen Muskeln der Hinterbeine ließen das Tier Sätze machen, denen kein Arkonide folgen konnte. Zwanzig Meter Weite und mehr waren keine Seltenheit; in der Höhe erreichten Springlöwen bis zu acht Metern. Springend bewegten sich die Tiere auch rückwärts, mit der Geschwindigkeit eines Gleiters. Ein langer, muskulöser Schwanz diente den Springlöwen, die meist auf den Hinterbeinen ruhten, als Stütze und Stabilisator im Flug. »Wir müssen uns an die Wand drücken«, zischte die Frau. »Das ist unsere einzige Chance.« Das von schwärzlich gefärbten Zähnen starrende Maul eines Springlöwen ging weit über die Reichweite der kleinen Vorderbeine hinaus. Daher war es für die Tiere nicht so einfach, an ihre Gegner heranzukommen. Kamen sie langsam näher, konnte die Beute leicht fliehen; riskierten die Springlöwen einen Angriff mit weiten Sätzen, wie sie ihn in freier Wildbahn vortrugen, liefen sie Gefahr, sich an der Umrandung die Schädel einzuschlagen. Durch die Arena klang das Fauchen der Tiere, sonst war nichts zu hören. Die Tiere scharrten im Sand, beäugten ihre Beute, während sich Ra und die Frau langsam am Rand der Arena entlangbewegten. »Wir sollten uns trennen«, murmelte Ra. »Vielleicht haben wir dann bessere Chancen.«
Er griff in den Gürtel, holte vier Messer heraus und gab sie weiter. Die Frau lächelte ihm dankbar zu, dann entfernte sie sich. Die Springlöwen waren hungrig, aber sie ließen sich Zeit, schienen zu wissen, dass ihnen die Beute nicht entkommen konnte. Sie trennten sich, zwei folgten Ra, die anderen rückten langsam der Frau näher. Endlich sah der Barbar eine Möglichkeit zum Angriff. Er zielte sorgfältig und gut, dann warf er das erste Messer einem Angreifer entgegen. Der Wurf traf präzise ins Ziel. Das Tier brüllte schmerzerfüllt auf und kippte schnell zur Seite. Ra wusste, dass er von vorn niemals an das Herz herankommen konnte. Dafür waren die Klingen zu kurz. Stattdessen hatte er auf den Schwanz gezielt und auch getroffen. Einer der Springlöwen hatte ein großes Stück seines Schwanzes eingebüßt – und ohne dieses Stück vermochte er sich nicht auf den Beinen zu halten. Nur mühsam gelang es dem verwundeten Tier, sich aufzurichten, aber immer wieder knickten die schwachen Vorderbeine unter dem Gewicht des massigen Körpers zusammen. »Nummer eins«, knurrte Ra zufrieden. Auf den Rängen blieb es weiterhin still; die Zuschauer wussten, dass die Gefahr noch lange nicht ausgestanden war. Wenige Augenblicke später brüllte ein zweiter Löwe schmerzerfüllt auf; die Frau hatte Ras Taktik nachgeahmt. Zentitontas vergingen, dann waren drei der vier Springlöwen nahezu kampfunfähig. Jetzt konnte Ra es wagen, die Deckung der Arenaumrandung zu verlassen. Er bewegte sich langsam auf einen der Springlöwen zu, der immer wieder versuchte, sich vorwärts zu bewegen. Das Tier fand keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, dass sich Ra in seinen Rücken schlich; wenige Augenblicke später knickten die Beine des Tieres vollends weg. Ras Messer hatte das Herz des Springlöwen getroffen. Die verwundeten Tiere schienen zu begreifen, was ihnen bevorstand; wild schlugen sie um sich,
aber Ra ließ sich nicht abschrecken. Nacheinander tötete er die beiden anderen verletzten Tiere. Er hockte noch auf dem Rücken des dritten Springlöwen, als er von einem plötzlichen Aufschrei der Menge überrascht wurde. Ra fuhr herum. Die junge Frau war für einen winzigen Augenblick unaufmerksam gewesen – sofort war der unverletzte vierte Springlöwe über sie hergefallen. Ra sah das schmutzig braune Fell des Tieres, darunter den glänzenden Lack des Lederanzugs, den die Frau trug. Ohne sich zu besinnen, rannte Ra los, schwang sich in den Nacken des Löwen und stieß mit aller Kraft zu. Das Tier brüllte, peitschte mit dem Schwanz; Ra wurde getroffen und heruntergeworfen. Eine Hinterpranke streckte sich nach ihm aus, aber dann überlief den Körper des Tieres ein Zittern. Noch einmal zuckte der Schwanz, ehe der Springlöwe tot zur Seite kippte. Ra kümmerte sich um die bewusstlose Frau. Sie würde am Endkampf nicht teilnehmen können. Aber es stand nun fest, wer der Gegner des Maskierten sein würde. Das Publikum jubelte dem Barbaren zu; der Unmut über die Entscheidung des Imperators war vergessen. Orbanaschol räkelte sich in seinem Sitz und lächelte zufrieden. Er freute sich auf den Endkampf, der nach einer kurzen Pause beginnen würde. In der Arena wurden unterdessen die Tierkadaver fortgeschafft, auch die Wurfmesser wurden eingesammelt. Der Imperator winkte den Zeremonienmeister heran und flüsterte dem Mann etwas ins Ohr, der sich beeilte, den Befehl des Höchstedlen weiterzuleiten.
Immo Kalee machte ein sorgenvolles Gesicht, während sich Alpertur die Hände rieb. Der Zaliter hatte trotz seines
beträchtlichen Geizes erhebliche Summen auf Ra verwettet und rechnete sich nun seinen Gewinn aus. Schaffte es der Barbar tatsächlich, auch den letzten Kampf siegreich zu überstehen, hatte der Zaliter sein Vermögen um einen nicht unerheblichen Teil vermehrt. »Prachtvoll«, freute er sich. »Einfach prachtvoll, dieser Barbar. Willst du ihn mir nicht verkaufen?« Immo schüttelte unwillig den Kopf. Mehr als einmal in den letzten Tontas hatte er vermutlich mehr Angst ausgestanden als sein Freund unten in der Arena. Er wusste, was Ra konnte, aber er war sich auch klar darüber, dass der Barbar sehr viel Glück gebraucht hatte, um sein Leben zu verteidigen. »Seine Erhabenheit, Imperator Orbanaschol der Dritte, haben befohlen«, meldete der Lautsprecher. »Angesichts der herausragenden Tapferkeit beider Kontrahenten wird der letzte Kampf nach den Regeln des Haag’thar geführt.« Während das Publikum diese Nachricht mit begeistertem Beifall begrüßte, sah Immo fragend den Zaliter an. »Was hat das zu bedeuten? Etwas Schlimmes?« Alpertur schüttelte wütend den Kopf. »Für mich vielleicht. Für deinen Barbaren nicht. Das Haag’thar schreibt vor, dass sich die Kämpfer nicht töten müssen. Der Sieger hat den todbringenden Schlag oder Stich nur anzudeuten, mehr nicht. Falls er im Verlauf des Kampfes seinen Widersacher doch töten sollte, darf es nur unabsichtlich geschehen.« »Dann könnte man den ganzen Kampf gleich ausfallen lassen«, sagte Immo Kalee. »Kämpfen müssen die beiden Männer. Wenn Ra so dumm ist, seinem Gegner genau in die Klinge zu springen, hat er Pech gehabt. Aber ein solcher Kampf hat noch andere Finessen. Du wirst sie bald zu sehen bekommen.« Immo atmete erleichtert auf; er hatte den Maskierten eingehend studiert, und er war sich nicht sicher, ob Ra auch
diesen Gegner würde bezwingen können.
9. Aus: Trekking-Paradiese des Arkonsystems: Arkon I; Ernest Kidada, Galaxian Traveller Books, Eureka, Terra 2131 n.Chr. Da die gesamten Khasurn-Wälder von Rakkalin (insbesondere die sogenannten Verehrungswürdigen Haine am Lithaiir-Fluss) nicht nur unter imperialem Schutz stehen, sondern von zahlreichen Einheimischen als ein arkonidisches Heiligtum angesehen werden, raten wir dringend davon ab, dieses Naturwunder ohne einen kundigen Führer zu bewandern. Jegliche Art von Kampieren, Picknicken oder Zelten in den Ruinen von Rakkalin-Stadt ist untersagt. Die Parkverwaltung schreibt zudem eine saubere, in dezenten Farben gehaltene Kleidung vor (Rot- und Brauntöne werden als verheißungsvoll angesehen). Der Zutritt zum »Hügel der Baumgiganten« (Thek TaionMhinorii) ist Nicht-Arkoniden strengstens untersagt! Bitte beachten Sie auch die verschärften Sonderbestimmungen für den Flugverkehr in diesem Gebiet: Das Überfliegen des »Obelisken von HaraeRakkalin« ist genehmigungspflichtig! Der Autor möchte insbesondere vor dem »prüfenden« Ablecken der salzhaltigen Reliefs der Obelisken warnen: Diese leider immer noch verbreitete Unsitte ist nicht nur eines Terraners unwürdig und stellt uns den Arkoniden gegenüber in einem schlechten Licht dar, sondern wegen der in den Überresten der Baumstämme enthaltenen (giftigen!) Abbauprodukte auch nicht ungefährlich.
Carox drückte Ra das Schwert in die Hand. Der Griff lag gut in der Hand, die Klinge war lang und schmal, beide Schneiden waren frisch geschärft. »Eine gute Waffe. Ich wünsche dir viel
Glück.« »Du wirst es brauchen«, rief Efrem. »Dieser Kampf hat seine ganz besonderen Tücken.« »Welche?«, fragte Ra knapp; er war froh, dass keiner bemerkt hatte, dass er in seinem Gürtel noch ein Wurfmesser trug. Efrem deutete auf die Umrandung der Arena. Zahlreiche kleine Öffnungen waren zu erkennen, dahinter glänzte es metallisch. »Hinter jeder dieser Öffnungen verbirgt sich eine unliebsame Überraschung. Entweder ein Paralysator oder ein schwach eingestellter Thermostrahler, vielleicht ein Projektor für Traktorstrahlen, ein Psychostrahler oder eine Waffe, die dir irgendwelche Medikamente in die Blutbahn schießt. Jede dieser Waffen wird von einer Positronik geschwenkt und abgefeuert.« Ra schluckte. »Hat je ein Kämpfer die Arena wieder verlassen?« Efrem zeigte ein beruhigendes Lächeln. »Alle diese Waffen werden von einem Zufallsgenerator gespeist. Niemand weiß, was ihn erwartet, ob die Waffe, die auf ihn gerichtet ist, abgefeuert wird oder nicht. Eben weil dieser Kampf zu mehr als siebzig Prozent ein Glücksspiel ist, gibt es meistens keine Toten.« »Ein geschickter Zug von Orbanaschol«, knurrte Carox. »Er will dem Publikum die beiden Helden des Tages erhalten, damit sie sich noch ein paarmal gegenübertreten können, bis einer den anderen tötet. Heute brauchst du um dein Leben nicht zu bangen, du musst nur aufpassen, dass du dem Maskierten nicht in die Klinge läufst.« Ra zuckte mit den Schultern, ehe er langsam in die Arena schritt. Aus der Öffnung eines anderen Tores trat die Gestalt des Maskenträgers. Im Licht der Scheinwerfer wirkte die Maske besonders eindrucksvoll. Ra versuchte herauszuhören,
wie das Publikum eingestellt war. Es hatte den Anschein, als würde die knappe Mehrheit der Besucher auf seiner Seite stehen und ihn anfeuern. Langsam näherten sich die beiden Männer. Ra erkannte in der Rechten des Maskierten ein ähnliches Schwert, wie er es benutzte; am Handgelenk der Linken hing an einer Schnur eine kleine Keule, die immerhin groß genug war, um einen Mann niederschlagen zu können. Beide Männer trugen lederne Kleidung, Ra in Rot und der Maskierte in einem dunklen Blauton, dazu einen kreisförmigen Schild aus massivem Holz, auf das dicke Lagen zähen Leders geklebt waren. Ein paar Dutzend Hiebe konnte ein solcher Schild auffangen, aber lange würde er keinen Schutz bieten. Den Männern wurde Zeit gegeben, sich mit Blicken zu bekämpfen, da Orbanaschol die Gelegenheit nutzte, um eine sorgfältig vorbereitete Rede zu halten. Im Publikum war es still, obwohl der literarisch bewanderte Teil des Publikums schon nach den ersten Sätzen herausgefunden hatte, dass von dieser Rede kein Wort von Seiner Erhabenheit selbst stammte. Die Handschrift eines der führenden Rhetoriker des Imperiums war unverkennbar, aber nicht einmal die glänzenden Formulierungen dieses Mannes brachten es fertig, das Publikum wirklich zu begeistern. Es war nicht zu überhören, dass der allgemeine Beifall nach dem Schluss der Rede mehr eine Pflichtübung als Ausdruck von Begeisterung war. Ein lauter Beckenschlag verkündete dem Publikum und den beiden Kämpfern den Beginn der Auseinandersetzung. Der Maskierte sprang sofort auf Ra zu. Der Barbar duckte sich und fing den Schwerthieb mit dem Schild auf. Der Maskierte verfügte über enorme Körperkräfte, das spürte Ra an der Wucht, mit dem die Klinge auf den Schild traf. Ra konterte sofort, aber seine Klinge glitt am Schwert des Gegners ab.
Funken sprühten, wenn die Klingen aufeinander trafen, ab und zu fetzte der Stahl Lederstücke oder Holzsplitter von den Schilden. Die Männer kämpften verbissen, waren ziemlich gleichwertig. Vielleicht war der Maskierte im Umgang mit dem Schwert sogar ein wenig geschickter als Ra, aber der Barbar war sich sicher, dass er den Kampf gewinnen konnte. Er hatte einen Vorteil, den der Maskierte nicht auszugleichen vermochte. Ra war in einer Kultur geboren worden und aufgewachsen, die tägliche, harte Arbeit erforderte, um das nackte Leben zu bewahren. Nur zum Überleben hatte Ra schon sehr früh derart hart körperlich arbeiten müssen, wie es als Trainingsleistung kein noch so fanatischer Mann freiwillig erbracht hätte. Irgendwann im Verlauf des Kampfes würde sich dieses gnadenlose Training wider Willen bezahlt machen, dessen war sich der Barbar sicher. Bevor die Kondition seines Gegners aber nachließ, hatte Ra genug zu tun, sich den Maskierten vom Leib zu halten. Es war still in der Arena. Lautsprecher übertrugen das Keuchen der Kämpfer, das Scharren der Füße und das Klirren der Schwerter, wenn sie gegeneinander prallten. Ra machte eine Bewegung zur Seite, um einem Schlag auszuweichen, der sonst seinen Kopf getroffen hätte. In diesem Augenblick feuerten die versteckten Waffen zum ersten Mal. Etwas pfiff durch die Luft und landete knapp zwei Schritte von Ra entfernt in dem Sand der Arena. Einer der Injektionsprojektoren hatte gefeuert, aber Ra wusste nicht, ob es sich bei dem Medikament um ein Aufputschmittel handelte oder etwa um ein Präparat, das einen unerträglichen Juckreiz hervorrief. Diese Ungewissheit machte den Kampf spannend und abwechslungsreich, zu einem Vergnügen für die Zuschauer. Der Maskierte war der Erste, der von den Spielereien des Zufallsgenerators betroffen wurde. Der breite Fächer eines Paralysatorschusses traf ihn an der linken Hand.
Zwar reichte die Strahlkraft nicht aus, sie vollständig zu lähmen, aber sehr viel konnte der Getroffene mit der Hand einstweilen nicht anfangen. Allerdings würde die Wirkung in einigen Zentitontas wieder abklingen. Ra wollte die Chance nutzen, machte einen Satz auf den Maskierten zu und holte zum Schlag aus. Die Klinge sollte das Handgelenk des Waffenarmes treffen, das bei beiden Kämpfern durch stählerne Armschienen geschützt wurde. Hätte der Schlag getroffen, hätte der Maskierte wahrscheinlich seine Waffe eingebüßt. Ra schrie schmerzerfüllt auf und prallte zurück. Ein Thermostrahl hatte ihn voll an der Brust getroffen. Die Haut rötete sich blitzschnell, während Ra rasch zur Seite sprang. Er stöhnte vor Wut und Schmerz. Jetzt hatte er eine entscheidende Schlappe erlitten, vielleicht sogar eine Con-Treh-Schlappe. Er wusste, dass in kurzer Zeit sein Brustkorb mit Brandblasen bedeckt sein würde. Keine der versteckten Waffen wirkte tödlich, aber oft reichte ein einziger Treffer aus, um den Kampf zu entscheiden. Der Maskierte sah, dass sein Gegner blessiert war, deshalb versuchte er, dem Kampf jetzt ein schnelles Ende zu bereiten. Zwar hing der Schildarm schlaff herab, aber der Mann hob das Schwert zum Schlag und drang auf Ra ein. Der Barbar wehrte den ersten Hieb ab, aber er hatte nicht die Kraft, die Blöße zu nutzen, die sich der Maskierte gab. Er konnte dem Mann nur seinen Schild vor die Brust stoßen und ihn abdrängen. Der Zufallsgenerator hatte noch andere Überraschungen für die beiden Gegner bereit. Während sich die Männer in beträchtlichem Abstand umkreisten, füllte sich die Arena wieder mit Wasser. Teils strömte das Wasser aus großen Röhren auf den Sand, zum Teil wurde es aber auch durch den feinkörnigen Sand nach oben gedrückt. Zentitontas vergingen, in denen sich die Männer von den Auswirkungen ihrer Treffer erholten. Als der Schmerz der
Brandverletzungen allmählich geringer wurde und Ra sich wieder voll einsatzbereit fühlte, standen die Männer bis an die Hüften im Wasser. Unter diesen Begleitumständen wurde der Kampf besonders schwierig. Eine Maschinerie versetzte das Wasser in Schwingungen, die Kämpfer hatten genug damit zu tun, sich auf den Beinen zu halten. Derjenige, der als Erster das Gleichgewicht verlor, hatte kaum noch eine Chance, den Kampf zu seinen Gunsten zu entscheiden. Davon abgesehen bestand immer noch die Gefahr, von einer der versteckten Waffen getroffen zu werden. Ra hatte versucht, die verschiedenen Öffnungen in der Arenaumrandung abzuzählen, er war bis dreißig gekommen, bevor er die halbe Umrandung abgesucht hatte. Die Männer waren mehrere Meter voneinander entfernt. Zurzeit war ein Kampf aussichtslos, die Männer hatten mehr als genug damit zu tun, sich vor der unberechenbaren Positronik in Sicherheit zu bringen. Wasserdampf legte sich über die Arena, als mehrere Thermostrahler gleichzeitig feuerten und den Wasserspiegel trafen. Nur die Zuschauer konnten noch erkennen, was in der Arena vorging; Infrarotkameras lieferten das Bild für die großen Projektionsflächen, auf denen die beiden Akteure zu sehen waren. Aus dem Gelächter ringsum folgerte Ra, dass sich die Menge über sie amüsierte, während sie damit beschäftigt waren, sich gegen die immer höher steigenden Wellen zu wehren. »Verdammte Positronik!«, knurrte Ra. Täuschten ihn seine Sinne, oder wurde das Wasser tatsächlich kälter? Ra verharrte einen Augenblick, dann wusste er genug. Die Wassertemperatur sank rapide, innerhalb weniger Zentitontas musste sie den Gefrierpunkt erreicht haben. Ra begann vor Kälte zu zittern. Er war Wärme gewohnt; zu seinem Glück würde es dem Maskierten nicht besser ergehen. Arkoniden vertrugen Kälte noch weniger gut
als Ra. Die Maschine, die die Eiseskälte erzeugte, musste sich unter dem Sand der Arena befinden; dort war die Kälte auch am größten. Ra merkte es, als er unter seinen Füßen den Boden hart werden fühlte. Knapp eine Zentitonta lang ertrug Ra die beißende Kälte, dann war das gesamte Wasser in der Arena gefroren. Eine gewellte, von Bruchstücken übersäte Eisfläche füllte das Oval. Ab und zu stiegen Dampffontänen auf, wenn ein Thermostrahl auf die Eisfläche traf. Ra hatte große Mühe, auf dem glatten Eis nicht auszurutschen, aber er bewegte sich auf den Maskierten zu, der mit aller Kraft am Griff seines Schwertes zerrte. Die Spitze war im Eis eingefroren und rührte sich nicht um Haaresbreite. Der Maskierte stieß einen Fluch aus, als er Ra kommen sah. Rasch gab er die sinnlosen Versuche auf, die eingefrorene Waffe freizubekommen; er wechselte schnell die Schildhand und griff nach der Keule. Ra verfügte nun über die weitreichendere Waffe, aber der Maskierte wehrte sich geschickt. Ra musste aufpassen, um nicht von der gefährlichen Keule getroffen zu werden. Immerhin gelang es ihm, nach und nach immer größere Stücke aus dem Schild seines Gegners zu hauen. Ra wollte erreichen, dass der Mann nur auf seine Keule angewiesen war, dann wollte er ihn durch Schläge mit der flachen Klinge gegen Hand- oder Fußgelenke lähmen und zur Aufgabe zwingen. Mehr beabsichtigte der Barbar nicht. Zweimal schon hatte sich der Maskierte Blößen gegeben, die Ra hätte ausnutzen können, aber in beiden Fällen hätte dieses Ausnutzen darin bestanden, dem Mann das Schwert in den Unterleib zu rammen. Obwohl Ra sich ausrechnen konnte, dass sein Gegner an seiner Stelle keinen Augenblick gezögert hätte, verzichtete er auf solche Mittel. Schritt für Schritt wich der Maskierte zurück. Ra begann zu grinsen, denn langsam gewann er die Oberhand in diesem Zweikampf. Der Atem der beiden Männer ging schwer, die
Zuschauer konnten es an den weißen Wolken sehen, die die Kälte aus der Atemluft formte. Dennoch froren die Männer nicht, an ihren Körpern lief der Schweiß in dicken Tropfen herunter. »Jetzt hab ich dich!«, knurrte Ra und holte zu einem neuen Hieb aus. Die Klinge prallte auf den Rand des schon arg zugerichteten Schildes und trennte einen breiten Span ab. Beim nächsten Schlag dieser Art würde Ra das Handgelenk des Maskierten treffen. Übergangslos begannen die beiden Männer zu lachen. Sie ließen die Waffen fallen und umarmten sich, dann begannen sie auf dem Eis zu tanzen. Die Zuschauer auf den Rängen begleiteten die Szene mit Gelächter. Sie wussten, dass ein Psychostrahler die Kämpfer erfasst hatte und sie beeinflusste. Gespannt warteten die Zuschauer auf das Nachlassen des hypnotischen Einflusses. Welcher der Männer würde sich auf die veränderte Lage rascher einstellen, schneller nach seinen Waffen greifen und vielleicht in diesem winzigen Augenblick der Verwirrung den entscheidenden Treffer anbringen? Schlagartig ließ der Einfluss des Strahlers nach. Die Männer ließen einander los, sahen sich für Augenblicke in die Augen und reagierten fast gleichzeitig. Der Maskierte war ein wenig schneller als Ra, aber seine Waffen lagen weiter verstreut. Es vergingen nur wenige Augenblicke, dann standen sie sich wieder bewaffnet gegenüber und setzten den Kampf fort. Ra spürte, dass er diesen Anstrengungen nicht mehr lange gewachsen sein würde. Es war sein achter Kampf an diesem Tag, seit einer Tonta bekämpfte er mit aller Kraft und höchster Konzentration den Maskierten, der es zumindest bei seinem letzten Gegner an diesem Tag wesentlich einfacher gehabt hatte. Hinzu kam die stets drohende Gefahr von den Strahlern, von denen niemand wusste, wann sie wohin feuerten. Wofür sich anstrengen, wenn im nächsten Augenblick ein
positronischer Zufall den Kampf entschied? Ra spürte den Paralysatorschuss sofort; sein linker Fuß knickte weg, er stürzte zu Boden, rollte er sich über die Schulter ab. Sofort setzte der Maskierte nach. Ra wehrte die Keulenhiebe mit dem Schild ab und versuchte gleichzeitig, wieder Kontrolle über den Fuß zu bekommen. Irgendwie gelang es ihm, den Knöchel des Maskierten mit der flachen Klinge zu treffen, aber außer einem schmerzlichen Stöhnen zeigte der Mann keine Reaktion. Ra rutschte über das Eis, duckte sich unter den Schild und wartete, dass ein Wunder geschah. »Ich werde dich töten«, zischte der Maskierte. »Niemand soll sich je rühmen können, mich fast besiegt zu haben.« Ra hatte alle Konzentration aufzuwenden, um die auf ihn einprasselnden Hiebe abzuwehren. Sein Arm drohte zu erlahmen, während sein Fuß die Auswirkungen des Paralysatorschusses allmählich stärker zu spüren bekam. Ra wusste, wie schmerzhaft die Auflösung einer solchen Erstarrung war, und verhielt sich dementsprechend. Er versuchte, aus der Reichweite seines Gegners zu kommen, aber der Maskierte ließ nicht locker. Ra schlug ungezielt mit dem Schwert um sich, versuchte wenigstens einen Fuß des Mannes zu treffen, um sich Luft zu machen. Der Maskierte stöhnte dumpf auf, trat einen Schritt zur Seite. Ras Klinge hatte den Knöchel getroffen, zum zweiten Mal, und diesmal hatte der Stahl ein Stück der Knochenhaut aufgerissen. Ra wusste, dass solche Verletzungen extrem schmerzten, da die Knochenhaut mit Nerven förmlich gespickt war. Der Maskierte verbiss den Schmerz sehr schnell, aber die kurze Spanne Zeit, die er brauchte, um sich wieder zu fangen, genügte Ra. Der Fuß ließ sich wieder gebrauchen, Ra richtete sich schnell wieder auf. Jetzt war der Barbar wieder an der Reihe, seinen Gegner Schritt für Schritt zurückzutreiben. Er wusste, dass er sich
nicht mehr lange halten konnte, seine Kräfte waren bis zum Äußersten beansprucht worden. Gelang ihm nicht innerhalb der nächsten fünf Zentitontas der entscheidende Treffer, würde er diesen Kampf verlieren. Ohne sich um die Strahler zu kümmern, rückte Ra dem Maskierten immer näher. Stück für Stück zerschmetterte er mit wuchtigen Schwerthieben den Schild. Ra konnte nicht erkennen, was hinter der Maske vorging, aber am Blick des Mannes erkannte er, dass der Maskierte Angst bekommen hatte. Ra ließ ihn keinen Augenblick lang in Ruhe, kämpfte mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Ein Fußtritt, im Ansatz kaum zu erkennen, ließ den Schild aus der Hand des Mannes fallen. Das zerhauene Stück Holz rollte über das Eis und blieb weit entfernt liegen. Der Maskierte versuchte einen Ausfall, um wieder an den Schild heranzukommen, aber Ra führte einen Hieb durch die Luft, der den Mann zurückprallen ließ. Ra grinste, als er den gehetzten Blick seines Gegners sah. Der Kampf war entschieden. Ra stand mitten in der Arena, noch hatte er sein Schwert und einen leidlich intakten Schild. Der Maskierte wehrte sich verzweifelt mit der Keule, aber er hatte jetzt keine Chance mehr. Das Publikum tobte vor Begeisterung, genau diesen Ausgang des Kampfes hatte es sich gewünscht. Ra sprang vorwärts und rammte den Schild gegen den Oberkörper des Maskierten, der strauchelte, dann auf den Rücken fiel und liegen blieb. Ras Schwert zielte auf seinen Hals. Es bedurfte nur noch einer kleinen Bewegung, um den Kampf endgültig zu beenden. Ra brauchte nur noch einen tödlichen Hieb anzudeuten, dann war sein Sieg unanfechtbar. »Du wirst noch ein wenig warten müssen, mein Freund«, keuchte Ra schwer atmend. »Erst werde ich herausfinden, wer du bist.« Ringsum tobte die Menge, das Publikum war begeistert. Sitzkissen flogen durch die Luft und landeten im
blutgetränkten Sand der Arena. Wildfremde Arkoniden fielen sich in die Arme, glücklich darüber, dass ihre Wetten gewonnen waren. Ra hatte es tatsächlich geschafft. Der Barbar stand über seinem Gegner, die Schwertspitze gegen den Hals des Mannes gedrückt. Zwei Bänder hielten die Maske des Mannes hinter den Ohren. Ra ließ die Schwertspitze zur Seite zucken und zerschnitt das erste Band. Dann hob er den Rand der Maske an und schlug sie zur Seite. Ra erstarrte in der Bewegung, sein Unterkiefer klappte herunter. Aus weit geöffneten Augen starrte er ins Gesicht des Mannes. Er kannte ihn, er hatte ihn schon oft gesehen. Die Lippen des Barbaren bewegten sich, formten lautlos ein Wort: »Atlan?« Die linke Hand des Maskierten schnellte nach oben, die Keule traf Ra an der Schläfe. Der Barbar knickte ein, kippte bewusstlos zur Seite. Noch während der Barbar fiel, befestigte der Mann erneut seine Maske. Nur für einen winzigen Augenblick war sein Gesicht zu sehen gewesen, aber dieser Augenblick war nicht lang genug gewesen, um die Kameras eine genaue Aufnahme machen zu lassen. Ruhig befestigte der Mann seine Maske, dann ging er langsam zu den Tribünen hinüber. Dort wollte er seinen Preis in Empfang nehmen. »Ärgerlich«, murmelte Orbanaschol. »Höchst ärgerlich. Ich hätte zu gerne gewusst, wer sich hinter dieser Maske verbirgt. Warum konnte der Barbar nicht aufpassen. Jetzt muss ich dem Maskierten den Preis übergeben.« »Dafür können wir uns freuen, dass das Geheimnis bei den nächsten Kämpfen vielleicht gelüftet wird«, sagte der Zarlt. »Uns stehen also noch einige sehr interessante Kämpfe bevor.« »Mag sein«, sagte der Imperator verärgert. »Aber ich ertrage langes Warten nicht. Lasst nach der Siegerehrung den Barbaren befragen. Er hat das Gesicht gesehen. Ich verlange, dass er sagt, wer
dieser Maskierte ist. Er scheint den Mann erkannt zu haben, habt ihr das ebenfalls gesehen?« »Es ist so, wie Euer Erhabenheit es sagt. Es scheint sich um einen Freund oder Verwandten des Barbaren zu handeln, anders lässt sich die seltsame Reaktion kaum erklären.« Orbanaschol lächelte zufrieden. »Ich werde der einzige Zuschauer sein, der bei späteren Kämpfen weiß, wer der Maskenträger ist. Es ist niemals gut, wenn jemand mehr weiß als der Imperator.« »Gewiss. Keiner ist so kenntnisreich wie Seine Erhabenheit.« Orbanaschol nahm diese Schmeicheleien selbstgefällig hin, während in der Arena die Siegerehrung vorbereitet wurde. Zehn TGC-Männer hatten den Maskierten umkreist und untersuchten ihn peinlich genau nach Waffen. Orbanaschol liebte Sicherheit über alles, besonders, wenn es um die Sicherheit seiner Person ging. Einer der Geheimpolizisten gab durch, dass bei dem Mann keinerlei Waffen gefunden worden seien. Orbanaschol erhob sich und schritt langsam und feierlich zum Rand der Arena. Eine Schwebeplattform sollte dort den Sieger annähernd in die Höhe des Imperators bringen, um dem Höchstedlen die Mühe zu ersparen, in die Arena zu steigen. Unter dem Beifall des Publikums stieg die Plattform langsam in die Höhe.
Ra schüttelte den Kopf. Er konnte vor Schmerz nicht klar sehen, die Wirkung des betäubenden Hiebes ließ nur langsam nach. Ra stützte sich auf die Arme und hob den Kopf. In einiger Entfernung sah er den Rücken des Mannes, der ihn besiegt hatte. Der Maskierte stand auf einer kleinen Plattform, die von Antigrav- und Prallfeldprojektoren sanft in die Höhe gehoben wurde. »Verloren!«, murmelte Ra. »Ich habe verloren.« Er richtete sich weiter auf und kam mühsam auf die Füße; er war noch so benommen, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Wie durch einen matten Schleier hindurch
verfolgte er die Ehrung des Siegers. Orbanaschol trug in der Hand eine große Scheibe aus blauer Keramik. Ra erinnerte sich, dass man ihm gesagt hatte, die Scheibe zeige das Gesicht des Imperators auf der Vorderseite und Szenen aus der Kolonialzeit von Zalit auf der Rückseite. Das Ding war ziemlich geschmacklos, aber es erhielt seinen Wert durch den Umstand, dass es von Seiner Erhabenheit persönlich überreicht wurde. Ra stand jetzt etwas fester. Langsam ging er auf die Ehrentribüne zu; er wusste selbst nicht, warum er diesen Weg einschlug und sich nicht in die Kabinen der Kämpfer zurückzog. Der Maskierte nahm die Scheibe in Empfang, hielt sie in die Höhe, drehte sich herum, damit jeder Zuschauer den Ehrenpreis in seinen Händen sehen konnte. Zum ersten Mal, seit er die Arena betreten hatte, zeigte der Maskierte eine emotionale Reaktion. Er sprang von einem Bein aufs andere, warf die Scheibe in die Luft und fing sie wieder auf. Neben ihm stand Orbanaschol, selbstgefällig lächelnd. Er bezog das begeisterte Schreien und Rufen des Publikums auf sich. Dann senkte sich die Schwebeplattform langsam wieder dem Boden der Arena entgegen. Immer noch tanzte der Sieger begeistert auf der Plattform herum und spielte mit der schweren, dicken Keramikscheibe. Was dann geschah, ereignete sich im Verlauf weniger Augenblicke. Die Scheibe war schwer, der Mann fing sie nicht richtig auf. Begleitet von einem erschreckten Aufschrei des Publikums fiel sie auf den stählernen Boden der Plattform und zerbrach. Ra sah als Einziger, dass sich der Maskierte blitzschnell bückte und nach etwas griff. Der Barbar handelte, ohne zu überlegen. Im Bruchteil eines Augenblicks lag das Wurfmesser in seiner Hand, dann zischte die Klinge durch die Luft. Auf den Projektionsflächen war in Großaufnahme zu sehen, wie das Messer im Rücken des Maskierten einschlug. So groß war die Aufprallwucht, dass
sich der Mann ein Stück drehte. Wirkungslos zischte der Feuerstrahl der Waffe in seiner Hand in den nachtdunklen Himmel. Der Maskierte knickte in den Knien ein, ehe er langsam zur Seite sank. Der Mann, der die Schwebeplattform steuerte, verlor die Nerven und reagierte falsch. Aus einigen Metern Höhe stürzte die Plattform ab. Im Fallen kippte sie leicht zur Seite und prallte hart auf den Boden der Arena. Ein kleiner, dunkler Körper flog weit durch die Luft und landete unmittelbar neben Ras Füßen. Der Barbar bückte sich, noch immer halb benommen, und hob den Gegenstand auf, während er murmelte: »Ich muss weg.« Die Geheimpolizisten der Tu-Gol-Cel stürzten von allen Seiten auf die Absturzstelle der Schwebeplattform. Auch die überlebenden Kämpfer eilten herbei und füllten die Arena. Ra wankte langsam in seine Kabine zurück, die Waffe, die er gefunden hatte, hielt er sorgfältig versteckt. Dem Barbaren blieb nicht viel Zeit. Er konnte sich ausrechnen, dass es im Bereich der Arena innerhalb weniger Zentitontas von Polizisten wimmeln würde, die jedes Personalpapier zehnmal kontrollieren würden, bevor sie eine Person durchließen. Ra konnte an einer so peniblen Kontrolle naturgemäß keinen Gefallen finden. Während sich andere Arenakämpfer noch neugierig um den Tatort drängten, suchte er schnell das Weite.
Dickperliger Angstschweiß stand auf dem Gesicht des Zaliters Alpertur. Er bewegte sich in einer endlos lang erscheinenden Schlange auf den Ausgang zu, auf den einzigen Ausgang, den die Polizei freigegeben hatte. Inzwischen war das gesamte Gebiet abgeriegelt worden. Immo Kalee war wesentlich ruhiger. Er hatte noch sehen können, wie Ra unter den Tribünen verschwand, bevor er von der Menge
davongeschoben worden war. Er als Arkonide hatte von den Polizisten wenig zu befürchten; gefährlich wurde es erst, wenn Prüfgeräte die Echtheit der Ausweise kontrollierten. Daher blieb Immo auch ständig in der Nähe des Zaliters, der ihm die Dokumente geliefert hatte. Sollte es bei der Kontrolle Schwierigkeiten geben, war er fest entschlossen, den Zaliter nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. »Ich hoffe für dich, Alpertur, dass die Papiere jeder Überprüfung standhalten werden«, murmelte der getarnte Con-Treh so leise, dass nur der Zaliter die Worte hören konnte. Alpertur schüttelte unwillig den Kopf. »Das ist die geringste Sorge. Ich fürchte, dass sich Orbanaschol für diesen Attentatsversuch an allen auf Arkon Zwei lebenden Zalitern rächen wird. Würde mein Haus durchsucht werden …« Immo kannte den gierigen Zaliter inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er seine wohl manikürten Hände in alles tauchte, was Geld brachte, so schmutzig die Sachen auch sein mochten. Eine Hausdurchsuchung hätte Alpertur mit Sicherheit den Kopf gekostet. Die Schlange bewegte sich nur langsam vorwärts. Sehr sorgfältig wurden die Ausweise überprüft, Spezialgeräte forschten nach versteckten Waffen. Und als Waffe sahen die TGC-Männer fast alles an, was größer als ein Finger und härter als ein Haar war. Ab und zu wurden tatsächlich waffenähnliche Gegenstände gefunden, Taschenmesser, altmodische Uhren an langen Ketten, die als Schleuder hätten benutzt werden können. Wer solche Gerätschaften mit sich herumschleppte, sah schweren Zeiten entgegen. Ungefähr jeder hundertste Besucher wurde aussortiert und von großen Gleitern abtransportiert. Immo kannte die Ermittlungsmethoden der Tu-Gol-Cel nur vom Hörensagen, aber er hatte keine Lust, von diesen Männern peinlich genau befragt zu werden.
Nur noch zwei Frauen standen zwischen Immo und der Energiesperre. An einer zweiten Öffnung in dem Energiegatter wurden die Arenakämpfer kontrolliert – wesentlich härter als die Besucher. Jeder zehnte Mann musste einen der Gleiter besteigen. Immo sah, dass die Männer zusehends wütender wurden; die hochnäsigen arkonidischen Beamten machten keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, dass Arenakämpfer eigentlich allesamt Verbrecher seien, die in einem Konverter wesentlich besser aufgehoben gewesen wären. In lauten Flüchen machten sich die Männer Luft. Als die Polizisten immer noch nicht freundlicher wurden, gab es ein Handgemenge. Zwei Kampfroboter, die die Polizisten zu schützen hatten, kamen gar nicht erst zum Einsatz – sie waren blitzschnell von Spezialisten auf dem Gebiet des Robotduells außer Gefecht gesetzt worden. Andere TGC-Männer kamen ihren Kollegen zu Hilfe, das Chaos vergrößerte sich. Die Polizisten standen vor einem Dilemma, wagten nicht, auf ihre Kollegen zu schießen, denn irgendwo mitten in dem Haufen steckte der ranghöchste TGC-Orbton der Region. Aus naheliegenden Gründen wagte es niemand seiner Untergebenen, einen Paralysatorschuss abzufeuern, der den Offizier hätte treffen können. Die Polizisten sahen sich gezwungen, die randalierenden Arenakämpfer mit reiner Körperkraft auseinanderzutreiben. Es half ihnen nicht viel, dass sie Verstärkung anforderten. Die bereits aussortierten Kämpfer überwältigten die Wachen, verbanden sich mit ihren Kollegen und schlugen auf die TGCMänner ein. Gegen die ausgefuchsten Kämpfer hatten die Polizisten keine reellen Chancen, zumal sich das unentwirrbare Knäuel aus Leibern langsam auf die Schlange zubewegte, in der auch Immo stand. Vergeblich versuchte der Mann auszuweichen; ehe er sich’s versah, beförderte ihn ein Fußtritt mitten in den Kreis der Kämpfenden. Hätte er nicht
mitten in dem Knäuel gesteckt, hätte sich Immo wahrscheinlich prächtig amüsiert. Eine Massenkeilerei zwischen mehreren Hundertschaften war sogar für ihn eine seltene Darbietung. Männer brüllten, fluchten und stöhnten. Dazwischen mischte sich das gellende Kreischen einiger Frauen und Mädchen, die wider Willen in die Auseinandersetzung einbezogen worden waren. Immo Kalee kämpfte verbissen, nach einiger Zeit gelang es ihm, sich wieder frei zu kämpfen. Inzwischen hatte sich die Zahl der Kämpfenden weiter erhöht, denn die erwartete Verstärkung der Polizei war eingetroffen. Da der Raum zwischen den Absperrungen zu klein war, wurden die Strukturlücken im Energiegatter vergrößert. Zu Hunderten strömten die Zuschauer durch die Lücken, um sowohl der TGC als auch der Massenprügelei zu entgehen. Immo sah sich nach Alpertur um, aber der Zaliter war verschwunden; er warf noch einen Blick auf die Kämpfenden, dann zog er es vor, diesen Ort zu verlassen. Niemand hielt ihn auf, als er sich davonmachte.
Alpertur machte ein sehr erleichtertes Gesicht, obwohl sein linkes Auge dunkel umrandet war und zwei Zähne fehlten. Er war heilfroh, der Keilerei entkommen zu sein, bevor die TGC eine solche Übermacht aufgeboten hatte, wie sie zum Sieg über die Arenakämpfer erforderlich war. Der Anzug des Zaliters war stark mitgenommen worden, aber Schäden dieser Art ließen sich mit Geld wieder leicht begleichen. »Wir haben Glück gehabt, viel Glück sogar«, sagte Immo Kalee. »Ums Haar wären wir verhaftet worden – das hätte übel ausgehen können.« »Die Gefahr ist vorbei. Als ich mich aus dem Staub machte, konnte ich gerade noch hören, dass ein paar Gebäude in
Flammen aufgegangen sind, darunter auch das Büro des Trainingslagers. Niemand wird mehr herausfinden können, wer Ra ist und woher er kommt. Alle Spuren, die zu uns führen könnten, sind verwischt worden.« »Stopp!«, unterbrach Ra seinen Redefluss. »Ich will die Nachrichten hören.« Auf dem Bildschirm an der Wand erschien das Zeichen, das eine besonders wichtige Eilmeldung ankündigte. Im Hintergrund war der Kristallpalast zu sehen. Augenblicke später war das Gesicht des Ersten Regierungssprechers zu sehen. »Ich habe eine besonders wichtige Mitteilung bekannt zu geben«, begann der Mann. »Anlässlich des Festes der Zalitischen Händlervereinigung auf Arkon Zwei wurde heute ein Attentatsversuch auf Seine Erhabenheit, Imperator Orbanaschol der Dritte, unternommen. Der Versuch schlug fehl!« Das Bild wechselte und zeigte die Originalaufnahmen aus der Arena. Deutlich war zu sehen, wie der Maskierte die Keramikscheibe fallen ließ und zwischen den Trümmerstücken eine Strahlwaffe sichtbar wurde. Außerhalb des Bildes schleuderte Ra sein Wurfmesser. Die Bilder zeigten, wie das Messer traf und der Attentäter zusammenbrach. Auch die abstürzende Plattform wurde gezeigt. »Der Attentäter fand noch am Tatort seine gerechte Strafe. Beim Absturz der Schwebeplattform wurde der Schädel des Meuchelmörders derart verletzt, dass eine Identifizierung zunächst unmöglich erschien. Es gelang aber, an dem Sterbenden noch eine Individualschwingungsmessung vorzunehmen. Das Ergebnis ist eindeutig.« Der Sprecher machte eine Pause, um die Wirkung der nächsten Sätze zu verstärken. »Bei dem feigen Attentäter handelt es sich zweifelsfrei um jenen berüchtigten Hochverräter, Raumpiraten und Hochstapler, der sich Atlan nennt und behauptet,
Kristallprinz von Arkon zu sein. Sein verdienter Tod steht nunmehr fest!« Ra sah die Verblüffung im Gesicht Immos und grinste leicht. »Gleichzeitig ergeht ein Aufruf an einen der Arenakämpfer. Jener Barbar, dessen Messerwurf das Attentat vereitelte, konnte bisher nicht aufgefunden werden. Er wird aufgefordert, sich zu melden, um eine hohe Belohnung in Empfang zu nehmen.« »Das würde euch passen«, knurrte Ra und schaltete den Empfänger ab. »Das war Atlan?«, fragte Immo verblüfft. »Hattest du nicht gesagt, Atlan befände sich wahrscheinlich irgendwo im Mikrokosmos?« »Selbstverständlich war dieser Mann nicht Atlan. Er sieht dem Kristallprinzen ziemlich ähnlich, aber mehr auch nicht. Die Ähnlichkeit ist allerdings so groß, dass sogar ich verblüfft war, als ich die Maske herunterzog.« »Du könntest dich irren«, wandte Immo ein. »Seit du dich von Atlan getrennt hast, ist ziemlich viel Zeit verstrichen. Es wäre durchaus möglich, dass das Schicksal Atlan nach Arkon geführt hat. Kannst du wirklich sicher sein?« »Was ist sicher – außer dem Tod?«, fragte Ra irritiert. »Völlig sicher kann ich nicht sein, aber mein Instinkt sagt mir, dass dieser Mann nie und nimmer Atlan war.« »Und das Individualschwingungsdiagramm?«, warf Alpertur ein. »Das ist doch ein Beweis, oder?« Mit keinem Wort ging er darauf sein, dass seine Gäste Umgang mit gesuchten Verbrechern hatten, wie es der »Hochstapler, der sich Atlan nennt und behauptet, Kristallprinz von Arkon zu sein« ohne Zweifel einer war. Ra zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals ein solches Diagramm in die Hände seiner Gegner gefallen ist. Glaubt mir, es war nicht Atlan. Er
bewegte sich anders, kämpfte anders – ich werde doch meinen Freund kennen.« Einen Augenblick lang dachte er daran, dass er alles andere als unschuldig daran war, dass es Atlan in den Mikrokosmos befördert hatte, von dem es unter Umständen kein Zurück mehr gab. Dann unterdrückte er diesen Impuls wieder. »Atlan würde niemals versuchen, Orbanaschol durch ein Attentat zu beseitigen. Das entspräche nicht seiner Art. Außerdem …« Er brachte eine Waffe zum Vorschein, und er richtete die Mündung auf Alpertur. Der Zaliter starrte in die Mündung und wurde bleich. »Leg die Waffe weg«, forderte er Ra auf. »So ein Ding kann leicht losgehen, auch wenn man es nicht will!.« »Diese Waffe geht nicht einmal los, wenn man will«, behauptete Ra und zog den Abzug durch. Ein greller Lichtstrahl zuckte aus der Mündung und erleuchtete einen Fleck an der Wand. »Punkt eins: Diese Waffe hat überhaupt kein Magazin. Punkt zwei: Das Visier ist so verstellt worden, dass man damit so gut wie nichts treffen kann. Und drittens: Die Waffe verschießt nur ganz gewöhnliches Licht, wenngleich in hoher Konzentration. Das Ding ist ein hervorragender Handscheinwerfer, aber keine Waffe, um einen Imperator zu erschießen.« Immo schüttelte fassungslos den Kopf, während Alpertur mit käsigem Gesicht auf die Waffe starrte. Ra legte die Waffe zur Seite, stand auf und ging unruhig im Raum auf und ab. »Wir sind nach Arkon gekommen, um Antworten zu finden. Was haben wir jetzt: Fragen, Fragen, nichts als Fragen. Und nicht den Ansatz einer einzigen Antwort.« Ra verstummte. Er war sich sicher, dass der Mann, den er getötet hatte, nicht Atlan war. Aber schließlich – was war schon sicher?
10. »So etwas gibt es nur bei uns«, behauptete die junge Frau. Der Mann neben ihr lächelte nur. Er wusste, warum er mit seiner Gattin diese Raumreise unternommen hatte. Derzeit gab es im Arkonsystem schwerlich einen romantischeren oder geheimnisvolleren Platz als den Raumbezirk um den Kometen Blahur. Zu Tausenden umschwirrten kleinere Raumschiffe die auf mehr als eine Million Kilometer angewachsene leuchtende Koma, Millionen Arkoniden hatten die Farbenpracht des aus Plasma bestehenden, mehr als zwanzig Millionen Kilometer langen Ionenschweifs bereits bestaunt. Angeblich war in keinem Handbuch ein Komet aufgeführt, der einen derart farbenprächtigen Schweif aufzuweisen hatte wie Blahur. Bunte Streifen zwischen goldenen Filamenten zogen hinter dem Himmelskörper her, bildeten Schlingen und Turbulenzen, Schlieren und seltsam geformte, bizarre Muster. Der eigentliche Kometenkern war ein annähernd kugelförmiges Objekt von nur rund fünfzig Kilometern Durchmesser. Seit einigen Jahren näherte sich Blahur wieder dem sonnennächsten Punkt seiner extrem weiten Bahnellipse, die fast senkrecht zur Ekliptik stand. Knapp 444 Arkonjahre benötigte Blahur für einen Umlauf – der sonnenfernste Punkt lag hierbei mit rund 23 Milliarden Kilometern außerhalb des »äußeren Festungsrings«, während sich der Punkt der größten Annäherung an die Sonne mit etwa 236 Millionen Kilometern noch innerhalb der Bahn des ersten Planeten befand. Die astronomischen Datenbanken besagten, dass Blahur um 6330 da Ark von der Sonne Arkon eingefangen wurde, diverse Legenden verbanden den Kometen dagegen mit der Formung von Tiga Ranton durch die She’Huhan. Ursprünglich soll sich seine extrem komplizierte, gewundene und verschraubte Bahn durch mehr als zwanzig Sonnensysteme erstreckt haben.
»Warum zeigt der Schweif immer von Arkon weg?«, wollte die junge Frau wissen. »Es wäre doch wesentlich praktischer, würde er auf die Sonne zeigen.« »Der sogenannte Sonnenwind drückt den Schwanz immer vom Zentralgestirn weg«, sagte der frischgebackene Ehemann. »Zudem wird ein Kometenschweif auch nur dann sichtbar, wenn es diesen Sonnenwind gibt. Er ist nämlich für das Entstehen des Kometenschweifs verantwortlich.« Die junge Frau presste sich enger an ihren Mann. »Was haben die Farben zu bedeuten?«, murmelte sie und deutete auf den Kometenschweif. »Sie ändern sich immer wieder, als würde der Komet leben. Gibt es so etwas, lebende Kometen?« »Kometen sind nichts weiter als kosmischer Abfall und Eis; sie treiben leblos und kalt durch das All. Wenn du willst, zeige ich dir im astronomischen Handbuch eine genaue Analyse von Kometen.« »Kann er nicht auf die Arkonwelten stürzen?« »Nein. Die Bahn von Blahur ist genau vermessen. Er wird nicht mit einem der Planeten kollidieren, sondern Äonen durchs Weltall ziehen, bis er irgendwann zerbricht und in die Sonne stürzt oder am Ende aller Zeiten verschwinden wird wie der Rest des Universums.« Fasziniert betrachtete die junge Frau das Spiel der Farben; es hatte wirklich den Anschein, als würde der kosmische Vagabund leben. Immer wieder änderten sich die Streifen, die aus dem grell leuchtenden Ball des eigentlichen Kometenkörpers hervorzubrechen schienen. Farbige Blitze und flächige goldene Streifen zuckten durch den gasförmigen Schleier des Schweifes. »Vielleicht hat uns Blahur doch etwas zu sagen«, überlegte die junge Frau träumerisch. »Eine Botschaft durch Zeit und Raum, vielleicht aus einer sehr entfernten Zukunft, vielleicht aus einer Vergangenheit, in der es noch kein Arkon gab, jenseits aller Zeiten, außerhalb aller Räume …« »Du solltest dich zu einem Dichterwettbewerb melden«, sagte der Mann mit leisem Spott. »Blahur ist ein ganz gewöhnlicher Komet, er sieht nur etwas anders aus. Ein Ölfleck auf einer Wasseroberfläche
schillert auch, aber es handelt sich nur um ein bisschen Kohlenwasserstoff, der auf dem Wasser schwimmt; nicht mehr und nicht weniger.« » Und doch …«, murmelte die junge Frau. Ihr Ehemann gab es auf; gegen solche Überlegungen gab es nichts einzuwenden. Zudem fiel ihm ein, dass auch er nicht viel mehr war als eine zwar hoch komplizierte, nichtsdestotrotz aber wissenschaftlich erklärbare Zusammenballung von Atomen. Die gleichen Gründe, die seine Frau dazu verführten, in Blahur mehr zu sehen als einen simplen Kometen, hatten vielleicht auch dazu geführt, dass sie sich unter etlichen Milliarden Zellzusammenballungen ausgerechnet ihn als Mann ausgesucht hatte. Er vergaß seine naturwissenschaftliche Verstandeskälte, fasste seine Frau fester und gab sich hemmungslos den irrealen, nicht erklärbaren Gefühlen hin, die das Farbenspiel des Kometen auch bei ihm auslöste.
Arkon II: 25. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Dass Perytlth für die Tussan Goldan Celis arbeitete, hatte einfache Ursachen. Der Zaliter in arkonidischen Diensten war äußerst unglücklich verheiratet – mit einer reinblütigen Arkonidin, die es dem Schicksal nie verzeihen würde, dass es nur zu einem Zaliter gereicht hatte. Die Tatsache, dass sie keinen besseren Mann hatte finden können, musste Perytlth täglich büßen. Der zweite, stichhaltigere Grund war die brutanthsche Knochenpest, an der Perytlth litt. Diese furchtbare Krankheit nahm ihren Anfang in einer Entzündung der Gelenke im unteren Bereich der Wirbelsäule. Dann arbeitete sie sich langsam in die Höhe. Die unerträglichen Schmerzen führten dazu, dass sich der Betroffene krümmte und versuchte, eine Haltung einzunehmen, in der er möglichst wenig Schmerzen litt. In dieser Haltung erstarrte der Kranke
schließlich, vornübergebeugt, kaum noch fähig, zu atmen oder zu gehen. Perytlth litt seit etlichen Jahren an dieser Krankheit, die von den Ärzten schlicht als »idiopathisch« bezeichnet wurde, was eine hochwissenschaftliche Umschreibung für die Tatsache war, dass die Bauchaufschneider keine Ahnung hatten. Perytlth litt an Körper und Geist – deshalb störte es ihn auch nicht, wenn andere leiden mussten. Im Gegenteil, es bereitete dem Krüppel größtes Vergnügen, kräftige, gesunde Männer an die Tu-Gol-Cel auszuliefern und sicher zu sein, dass diese Männer, wenn überhaupt, in ähnlicher Verfassung wie er selbst die Folterkammern der TGC verlassen würden. Natürlich kam niemand auf den Gedanken, in dem brüchigen Mann einen TGC-Spitzel zu vermuten. Perytlth war einigermaßen beliebt, auch bei den Männern und Frauen, die er zu verraten gedachte. Was den Mann störte, war nur die Tatsache, dass er ihnen nicht verraten durfte, dass ausgerechnet er, der Zayna, sie ans Messer lieferte. Diese abwertende arkonidische Bezeichnung für Behinderte und Krüppel war von Zay – »Patient« bei den Arkoniden oder »Klient« bei den Aras – und Essoya abgeleitet, dem nach der grünen Blätterfrucht benannten und durchaus auch als Schimpfwort verwendeten Umschreibung nichtadliger Arkoniden. Perytlth konnte nur dann sein schmutziges Geld verdienen, wenn er im Schutze einer völligen Anonymität arbeitete. Einmal von den Gegnern durchschaut, hätte der Mann aufgeben müssen. Die TGC würde ihn fallen lassen, und was man dann mit Perytlth anstellen würde, war leicht auszurechnen. Feigheit, gepaart mit einem alles verzehrenden Hass, das waren die herausragenden Charaktermerkmale des Zaliters. Die Feigheit machte ihn vorsichtig, der Hass gefährlich.
Am Rand der großen Raumhäfen, die die Oberfläche von Arkon II bedeckten, gab es für den alten Zaliter genug zu schnüffeln. Für reguläre Polizeieinheiten war es ein Ding der Unmöglichkeit, die riesige Personenzahl genau zu kontrollieren, die täglich auf Arkon landete und wieder abflog. Rings um die Landefläche gab es, wie überall im Imperium, eine unbestimmbare Grauzone, in der die Reden freier geführt wurden als anderswo. Dort war Perytlths Revier. Auch an diesem Abend war er unterwegs. Der kleine Gleiter, der ihn trug, war speziell für ihn angefertigt worden, eine Art frei beweglicher Sessel. Antigrav- und Prallfelder hielten die Konstruktion eine Handbreit über dem Boden in der Schwebe, sodass Perytlth nur kleine Bewegungen mit der Hand auszuführen brauchte, um sein seltsames Gefährt in Bewegung zu setzen und zu steuern. Das Metall des Krankengleiters war verschrammt und unansehnlich geworden, aus dem Innern ertönten in unregelmäßigen Abständen Geräusche, die jeden Uneingeweihten vermuten lassen mussten, dass der Minireaktor im nächsten Augenblick detonieren würde. Wer Perytlth kannte, wusste aber, dass diese Gefahr einstweilen nicht bestand, obwohl die mechanischen Krämpfe des Gefährts von Mal zu Mal geräuschvoller und bedrohlicher ausfielen. Perytlth allein wusste, dass die hinfällige Schale einige positronische Finessen enthielt, die für jeden Unvorsichtigen zur tödlichen Falle werden konnten. Manch ein Raumfahrer war Tage nach seiner Verhaftung mit Tonaufzeichnungen konfrontiert worden, die seine staatsfeindlichen Ansichten mehr als deutlich bewiesen. Perytlths klappriger Gleiter verbarg unter anderem auch Geräte, mit denen Individualschwingungsdiagramme aufgezeichnet werden konnten, dazu Stimmspektrografen, Kameras und eine ansehnliche Sammlung von Waffen, die Perytlth durch
einfachen Knopfdruck betätigen konnte. Ein Raumfahrer ging pfeifend an Perytlth vorbei, stutzte dann und grüßte den Zaliter mit einer Handbewegung. »Hier hast du etwas«, rief er und warf Perytlth eine Münze zu. Perytlth grinste zurück und fing die Münze auf, obwohl ihm die schnelle Bewegung des Armes starke Schmerzen bereitete. Dies war einer der rauen Scherze, die man mit dem Krüppel trieb, vielleicht aus Bosheit, vielleicht aber auch aus Unkenntnis. Perytlth hatte sich nie die Mühe gemacht, andere genau über seine Krankheit aufzuklären. Hätte der Raumfahrer den Blick sehen können, den ihm der Krüppel nachschickte, wäre er erschrocken. Perytlth kniff die Augen zusammen, drückte den Fahrthebel leicht nach vorne. Kreischend setzte sich das Fahrzeug in Bewegung; ein kleines Pelztier, das aus einem Kanalrohr hervorlugte, suchte erschreckt das Weite. Perytlths Weg war in den vergangenen Jahren fast zu einem Ritual geworden. Hätte es keine vollpositronische Zeitabstimmung gegeben, die Wirte hätten ihre Uhren nach Perytlths Auftauchen und Verschwinden stellen können. Stets um die gleiche Zeit erschien der Mann in seinem Stammlokal, bekam seine Almosen, trank etwas und schwebte wieder davon. Auch die Reihenfolge, in der der Mann seine Stammkneipen aufsuchte, war festgelegt. Erstes Ziel an jedem Abend war eine jener verrufenen Spelunken, die von einer Sorte Männer bevorzugt wurden, die im Raum tagtäglich ihr Leben aufs Spiel setzten und sich so eine beneidenswerte Freiheit der Gedanken erhalten hatten. Gerade die Besatzungen von privaten Prospektorenschiffen dachten nicht daran, ihre Zungen zu zügeln. Für manchen wurde dieser Leichtsinn verhängnisvoll, andere wiederum blieben ungeschoren, um der TGC Gelegenheit zu geben, tiefer in die subversiven Kreise einzudringen.
Der Wirt begrüßte Perytlth mit einem freundschaftlichen Handschlag und winkte dem Servierrobot, dem Gast etwas zu trinken zu bringen. »Was machen die Geschäfte, Alter?« Der Wirt machte es sich in der Nähe des Zaliters bequem. »Wenn du Hunger hast, dann sag es mir.« Perytlth lächelte. Er hatte lange gebraucht, bis dieses Lächeln so ausfiel, wie er es brauchen konnte. Dank musste zu erkennen sein, ein Schuss melancholischer Weisheit, Resignation – Perytlth konnte sich des Erfolges sicher sein, wenn er dieses Lächeln produzierte. »Es könnte besser sein. Aber auch wesentlich schlechter. Ich bin zufrieden. Und du, genügend Umsatz?« Der Wirt sah flüchtig durch das Lokal, ehe er mit den Schultern zuckte. »Ich habe schon bessere Abende erlebt. Hunger?« Perytlth schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus dem Glas, das der Robot neben ihm abgestellt hatte. Anerkennend verzog er das Gesicht. »Ein guter Tropfen. Es würde mich wundern, wäre der Weg, den dieser Wein bis zu deiner Spelunke zurückgelegt hat, ein gerader gewesen.« Unwillkürlich sah sich der Wirt um, als befürchte er, dass irgendjemand den Alten gehört haben könnte. »Psst!« Der Wirt sah Perytlth vorwurfsvoll an. »Du weißt, dass hier die Wände Ohren haben.« Perytlth grinste unverschämt. Mit Bemerkungen dieser Art hatte er sich den Ruf eines boshaften Spötters und Regimegegners verschafft. Er galt als bissig, aber ungefährlich. Perytlth wusste aus sicherer Quelle, dass bei der nahe gelegenen Dienststelle der Hafenpolizei ein umfangreiches Dossier über ihn geführt wurde. Dort hielt man ihn für einen Kritiker des Imperators; der Alte wusste dieses Image zu schätzen. »Jeder hier«, behauptete er anzüglich, »weiß, dass deine Getränke entweder gepanscht oder geschmuggelt sind.
Nun ja, mich geht es nichts an. Ich bin nur ein armer, kranker Mann, der für jeden wärmenden Schluck dankbar sein muss.« In Wirklichkeit hatte der Wirt Perytlth einiges zu verdanken. Der Krüppel, der tagsüber ständig an den Landefeldern herumlungerte und Raumfahrer anbettelte, hatte sich als Schlepper hervorragend bewährt. Hunderte von zahlungskräftigen Gästen waren nur dank seiner Tipps in diese Kneipe gekommen und hatten den Kontostand des Wirts erhöht. Dass sich der Wirt für die Dienste des Krüppels revanchierte, verstand sich von selbst. Allerdings sprachen die Männer nie offen über ihre gegenseitigen Geschäfte; diese Dinge erledigten sich diskret und unbeobachtet fast von selbst. Ab und zu bat der Wirt seinen Gast, bei einer wichtigen Nachricht Kurier zu spielen, und in den Umschlägen fand Perytlth dann das Entgelt für seine Schlepperdienste. »Irgendwelche neuen Gesichter?« Perytlth schlürfte den heißen, belebenden Wein. »Ich habe lange keine gute Geschichte mehr gehört.« Der Wirt deutete mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung auf einen Tisch im Hintergrund des weitläufigen Lokals. Das Gasthaus war vierstöckig und bestand aus insgesamt vierzehn verschiedenen Kneipen, Gaststätten und Restaurants, sorgfältig den einzelnen Geschmäckern angepasst. Im Keller gab es das von den lokalen Behörden stillschweigend geduldete Geheimzimmer, in dem um hohe Einsätze gespielt wurde. Der Tisch, auf den der Wirt gedeutet hatte, gehörte zum Bereich des Lokals, der für das normale Laufpublikum gedacht war, für Männer, die schnell einen Drink nehmen wollten, bevor sie zur Arbeit oder nach Hause gingen. Stammgäste zogen andere Räumlichkeiten des Etablissements vor. »Ein komischer Vogel«, murmelte der Wirt. »Trinkt nichts, jedenfalls nichts, was Alkohol enthält. Sitzt da, grinst die Leute
an und hört allen Gesprächen mit auffallendem Interesse zu. Vielleicht ein Spitzel der Tu-Gol-Cel oder sonst ein Celista.« Der Zayna war daran gewöhnt, sich so wenig zu bewegen, wie es irgend möglich war, da er keine Körperbewegung mehr ausführen konnte, ohne von kleineren oder größeren Schmerzanfällen gepeinigt zu werden. Daher zuckte Perytlth auch nicht zusammen, als der Wirt seinen Verdacht äußerte. Perytlth spürte, wie ihn Angst befiel. War dieser Unbekannte tatsächlich ein TGC-Mann, befand sich der alte Zaliter in höchster Gefahr. War es schon so weit, wurde er abgelöst? Brauchte die Geheimpolizei die Dienste des Kranken nicht mehr? Perytlth war nicht so dumm, dass er nicht gewusst hätte, dass er als TGC-Spitzel nur so lange von Wert war, wie er für die Untergrundorganisationen und Regimegegner gefährlicher war als für die Tu-Gol-Cel. War Perytlth erst einmal von den geheimen Widerstandsorganisationen enttarnt, konnte er höchstens noch TGC-Geheimnisse ausplaudern – und vor solchen unangenehmen Überraschungen pflegte man sich bei der Geheimen Polizei des Imperators recht drastisch und wirkungsvoll zu schützen. »Wo kommt der Mann her?«, fragte der Spitzel leise. »Ein Arkonide?« Der Wirt zuckte mit den Schultern und bedeutete dem Robot mit einer Handbewegung, die beiden Gläser wieder aufzufüllen. »Die Sorte habe ich noch nie gesehen. Arkonide ist er sicher nicht, er hat dunkle Augen und auch dunkles Haar. Zaliter ist er auch nicht. Ich habe in meinem Gedächtnis gesucht, aber ich kenne keine Welt, auf der es solche Männer gibt. Es sei denn, er stammt von einer der Welten, die nur bei Sklavenjägern bekannt sind, aber dann würde er wohl kaum so friedlich hier sitzen. Willst du ihn dir ansehen?« Perytlth kniff die Augen zusammen. Was meinte der Wirt mit dieser Frage, vor allem mit dieser Formulierung? Ahnte er,
in wessen Diensten Perytlth stand, war er eingeweiht? Perytlth, durch das Auftauchen des Fremden ohnehin überrascht, wurde nervös. Gerade er, der sich im Stillen darüber freute, Angst und Schrecken verbreiten zu können, war für Angst besonders empfänglich. Aber ein schneller Seitenblick auf den Wirt zeigte dem Zaliter, dass der Mann mit seinen Worten keinen Hintergedanken ausdrücken wollte. »Vielleicht kennt er ein paar neue Geschichten.« Perytlth setzte seinen Sesselgleiter in Bewegung. »Ich werde versuchen, mit dem Mann ein Gespräch anzufangen.« Er sah verstohlen nach der Uhr. Es blieb ihm noch mehr als eine Tonta, bis er, um den Ruf seiner sagenhaften Pünktlichkeit zu rechtfertigen, das Lokal wieder verlassen musste. Langsam schwebte der klapprige Untersatz, der Prothese und Fahrzeug zugleich war, zu dem Tisch, an dem der Fremde saß. Das Erste, was Perytlth sehen konnte, waren eindrucksvoll breite Schultern. Nein, ein Arkonide war dieser bestimmt Mann nicht; er konnte sich auch nicht verkleidet haben. Für einen Arkongeborenen war er zu klein, zu breit und zu muskulös. »Darf ich?«, fragte Perytlth unterwürfig. Der Fremde drehte sich halb herum, sah den Zaliter schnell an und lächelte. »Natürlich. Hier ist schließlich Platz genug.« Es gab zu diesem Zeitpunkt mehr als zwanzig freie Sitzplätze in dem Lokal, die Perytlth ohnehin nicht hätte in Anspruch nehmen können. Was der Mann in dem Krankengleiter wollte, musste dem Fremden sofort klar gewesen sein. Er änderte seine Sitzposition so, dass er Perytlth ansehen konnte. Der Zaliter hielt diesem Blick nicht lange stand. Perytlth war kein Psychologe, aber selbst er spürte sofort, dass dieser Fremde kein TGC-Mann sein konnte. In dem Netz von Ängsten, Schrecken, Terror, Verdächtigungen, offenem und verstecktem Widerstand, in dem Arkon seit der
Machtergreifung gefangen war, konnten sich weder Täter noch Opfer auf beiden Seiten einen so offenen Blick leisten. Der Fremde sah Perytlth freundlich an. »Darf ich dich zu etwas einladen?« In diesem Augenblick begann Perytlth den Fremden zu hassen. Natürlich war der Zaliter daran gewöhnt, etwas ausgegeben zu bekommen, schließlich gehörte es zu seiner Rolle, andere anzubetteln. Aber er hatte immer gewusst, weshalb ihm etwas zugeschoben wurde, sei es aus Selbstgerechtigkeit, um ihn loszuwerden, um ihn seine Minderwertigkeit fühlen zu lassen, um ihn auszuhorchen, als Bezahlung für geleistete, illegale Dienste – all diese Motivationen kannte der Zaliter. Dieses Angebot aber war anders; vergeblich suchte der Mann im Blick des Fremden den wohlvertrauten Ausdruck: Du bist ein armer Hund und ich ein feiner Kerl, da hast du! In Perytlths Welt, die von Hass und Bosheit, von Feigheit und Niedertracht eingegrenzt wurde, war diese einfache, ungekünstelte Geste nicht vorhanden, es durfte sie auch nicht geben. Nur solange er die Möglichkeit hatte, in jedem anderen den Halunken, kalten Egoisten, den schlechten Charakter zu entdecken, konnte er seine eigene Schlechtigkeit vor sich selbst rechtfertigen. Er verzog das Gesicht und produzierte sein Standardlächeln Nummer eins. »Vielen Dank, Bruder«, säuselte er. »Es tut gut, in diesen harten Zeiten ein freundliches Wesen zu treffen. Sag, Bruder, woher kommst du?« »Ich weiß es nicht. Ich bin sozusagen ein galaktisches Findelkind, das von einem großen Geheimnis umgeben ist.« Perytlth machte ein interessiertes Gesicht. Geheimnisse aller Art liebte er sehr, besonders den Verrat dieser Geheimnisse. Er machte es sich in seinem Schwebesessel bequem und hörte dem Fremden fasziniert zu.
»Habt ihr den Barbaren gefunden?« Ein starker Gegensatz zu seiner sonst sanften, freundlichen Stimme war die Aussprache des Buchstaben R. Ein Mann wie er konnte es sich leisten, diesen Sprachfehler zu behalten. Jemand in seiner Stellung machte man für gewöhnlich nicht auf solche Unzulänglichkeiten aufmerksam. Wer hätte es schon gewagt, Imperator Orbanaschol III. unter die Nase zu binden, dass seine Stimme eine Tortur für jeden war, dessen Gehör nicht gerade so verkümmert war, dass er Musik lediglich für eine Abfolge von Geräuschen hielt? »Nein, Hochedler«, sagte der Kurier leise. »Warum nicht?« »Der Barbar ist nach dem missglückten Attentat auf den Imperator untergetaucht«, berichtete der Kurier. »Ihr werdet Euch erinnern, dass es bei der Räumung des Stadions zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Kämpfern und der Polizei kam. Dabei konnten einige hundert Personen unkontrolliert das Gelände verlassen.« »Und was ist mit den Unterlagen in der Verwaltung?«, bohrte der Mann weiter. Er wandte dem Kurier den Rücken zu. »Man wird mir doch nicht erzählen wollen, es habe beim Fest der zalitischen Händler keinen Verwaltungsapparat gegeben.« »Es gab entsprechende Büros. Aber sie sind abgebrannt. Ein bedauerlicher Unglücksfall, Zhdopanda!« »Wer ist dafür verantwortlich zu machen? Eine Person, die mir untersteht?« »Nein, Hochedler. Welche Befehle soll ich der Organisation auf Mehan’Ranton übermitteln?« »Alle verfügbaren Männer und Frauen sollen die Augen offen halten. Wir müssen diesen Barbaren zu fassen bekommen. Schließlich kann er sich nicht in Luft aufgelöst haben.« »Arkon ist groß und der Imperator nicht überall«, zitierte der Kurier eine alte Spruchweisheit. »Wie soll man einen einzelnen Mann unter so vielen finden?«
»Durch Suchen! Dieser Barbar weiß genau, dass der Atlan in der Arena nicht echt war. Er kann unsere gesamte Organisation zum Zusammenbruch bringen. Was das bedeutet, kann sich wohl jeder ausrechnen.« »Lebenslanges Arbeitslager, Fronteinsätze ohne Rückkehrchance. Oder der Konverter!« »Ihr wisst also, worum es geht. Es ist im Interesse eines jeden von uns, dass der Barbar schnellstens gefunden wird. Von seinem Verhalten, das wir nicht einwandfrei einschätzen können, hängt unser Leben ab.« »Wir werden unser Bestes tun, Zhdopanda.« Vier andere Männer im Raum, die bisher geschwiegen hatten, nickten beifällig. Der Kurier zog sich zurück, während der Mann am Fenster eine unruhige Wanderung durch den Raum begann. »Ich sehe es Euch an, etwas quält Euch«, sagte einer der Besucher. »Dürfen wir den Grund erfahren?« »Lartog«, seufzte der Mann. »Ich denke an Sarn Lartog. Es ist meine Schuld, dass er gestorben ist. Ich war so versessen auf das, was der junge Mann zu erzählen hatte, dass ich jede Hemmung verlor. Ich habe das Psychoverhör befohlen, das ihn getötet hat.« »Es ist kein großer Trost, gewiss«, warf jemand ein, »aber Lartog wäre andernfalls in die Hände Orbanaschols gefallen. Das hätte seinen Tod nur um einige grauenvolle Wochen verzögert. Gestorben wäre Lartog so oder so.« »Das ist kein Argument. Wir hätten Lartog mit falschen Papieren versorgen, ihn wegschmuggeln können. Haben wir die Macht, die Tu-Gol-Cel übertölpeln zu können, oder haben wir sie nicht?« »Wir sind zweifellos dazu in der Lage. Aber …« »Nichts aber!«, wehrte der unruhige Wanderer ab. »Ich hatte den Faden in der Hand, ich war fest entschlossen, ihn aufzuspulen. Seit Jahren der erste wirklich brauchbare Hinweis auf Atlan, endlich eine Möglichkeit, mit ihm vielleicht Verbindung aufzunehmen – was wird der Kristallprinz sagen, wenn er erfährt, dass wir so leichtfertig mit dem Leben seiner Untertanen umgesprungen sind?«
»Er wird es verstehen«, lautete die Antwort. »Er wird wissen, wie wenig dieser äußere Schein der inneren Wirklichkeit entspricht.« Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte der Mann, der jetzt wieder zum Fenster trat, in die Höhe schaute und den langen Schweif des Kometen Blahur musterte. »Du hast recht.« Er lächelte schwach. »Nicht immer entspricht der äußere Schein, sei er noch so schön und beeindruckend, der Wirklichkeit – und dafür bin ich dankbar, denn der innere Wert der Dinge überwiegt bei Weitem alle Masken, Schleier und sonstigen aufgeblasenen Larven.« Die Männer im Raum sahen sich leicht verwundert an, aber niemand wagte zu fragen, was der Hochedle, der weiterhin zu Blahur hinaufsah, mit dieser Äußerung gemeint haben mochte.
Ra wusste selbst nicht, wie er dazu kam, dem offenbar schwer kranken Zaliter solche Märchen aufzutischen. Aber der Barbar hatte ein sicheres Gespür für Qualitäten; sein Instinkt sagte ihm, dass sein Gegenüber als Erzschurke zu bezeichnen war. Daher erlegte er sich keine Hemmungen auf. »Ich wurde vor zwanzig Jahren gefunden«, erzählte er mit gedämpfter Stimme, »und zwar in einem sehr großen Raumschiff, das steuerlos durchs All trieb. Ein Handelskapitän hatte das Schiff gefunden und las mich auf. Mit dem Schiff konnte er nicht viel anfangen, da die Technologie dem, was er kannte, um mindestens fünftausend Jahre voraus war. Das Einzige, was er brauchen konnte, war ein Datenkristall für eine Hypnoschulung. Leider wurde der Frachter auf dem Weg nach Arkon von Maahks erwischt und nahezu völlig zerstört. Der Kapitän starb und mit ihm fast die ganze Besatzung. Auch der Datenkristall wurde vernichtet. Nur ein alter Raumfahrer und ich überlebten die Tragödie, und dieser Mann, der vor wenigen Wochen gestorben ist, hat mir wenigstens einen Teil des Geheimnisses auf dem Sterbebett enthüllen können.«
Gierig trank Perytlth aus seinem Glas. »Wie mir der alte Mann berichtete, ist dies gar nicht mein eigentlicher Körper. Es ist nur eine Übergangsform auf dem Weg zu meiner richtigen Gestalt. Viel konnte mir der Sterbende nicht mehr über meine wirkliche Gestalt erzählen, aber ich konnte herausbekommen, dass ich in meinem späteren Leben lange, kräftige Beine haben werde, viel Zeit im Wasser zubringen werde und einen großen, aufblasbaren Mund besitzen werde, obwohl ich nicht begreifen kann, wozu das alles gut ist. Ich soll der Erbe eines einstmals überaus mächtigen Volkes sein, herrlicher und gewaltiger als alle bekannten Völker der Galaxis. Aber von unserem Volk soll außer mir nur noch ein Wesen leben, in seiner wirklichen Gestalt. Die Botschaft des Hypnoschulungskristalls lautete so, dass ich dieses Wesen finden muss, das an einer goldenen Kugel leicht zu erkennen sei. Es würde mir meine wahre Gestalt geben, und dann könnte ich mir mit dem Erbe meines Volkes die Galaxis Untertan machen!« »Lass das nicht Orbanaschol hören«, murmelte Perytlth. Ra hatte Mühe, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Der Alte schien die haarsträubende Geschichte tatsächlich zu glauben. Ra beschloss, sie Atlan zu erzählen, vielleicht konnte der Kristallprinz eines Tages auf sie zurückgreifen. »Orbanaschol, pah!« Ra grinste verächtlich. »Wenn ich erst das Schiff gefunden habe, in dem ich entdeckt wurde, werde ich bald auch das geheimnisvolle Wesen mit der Goldkugel finden, und dann wird es aus sein mit Seiner Erhabenheit, dem Imperator.« Ra hatte laut genug gesprochen, um in jedem Winkel verstanden worden zu sein. Wer wollte, konnte Ra jetzt der Tu-Gol-Cel ausliefern, aber der Barbar spekulierte darauf, dass man ihn absichtlich überhörte. »Das würde den Imperator böse überraschen«, sagte
Perytlth. Er setzte Lächeln Nummer zwei auf: geheimnisvoll, verschwörerisch. »Und warum sitzt du hier herum? Warum suchst du nicht nach dem Schiff?« Ra machte die überall verbreitete Geste des Geldzählens. »Ich finde keine Geldgeber.« Er seufzte leise. »Woher soll ich ein raumtaugliches Schiff nehmen? Niemand will mir helfen, obwohl ich meine ersten Helfer belohnen würde, wie kein Wesen je belohnt worden ist. Sternenreiche könnte ich vergeben, gewaltige Reichtümer. Schließlich ist mein Volk das technisch höchstentwickelte der Galaxis.« »Auch auf medizinischem Gebiet?« Ra zögerte kurz. Was sollte er dem Schwerkranken auf diese Frage antworten? Durfte er das Märchen fortsetzen, dem Mann eine Hoffnung geben, die nicht zu realisieren war? Ra wusste selbst nicht genau, warum, aber er nickte kurz. Perytlths Augen weiteten sich, er begann zu lächeln.
»Es ist nicht zu glauben«, knurrte Pathor Margib. »Wo steckt dieser Bursche? Das wäre das erste Mal, dass sich Perytlth verspätet. In mehr als zehn Jahren Arbeit für uns hat er sich das noch nie erlaubt.« Mehn Sulk zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist er dem Liebreiz irgendeiner Schönen am Hafen verfallen.« »Obwohl ihn sein erstes Abenteuer mit Frauen genug gelehrt haben sollte.« Die beiden Männer kannten die Frau des Zaliters; als Perytlth eingestellt worden war, hatte man natürlich auch die Frau gründlich überprüft, und die Männer der geheimen TGCStation waren froh, dass ein anderer als sie in diese Falle getappt war. »Trotzdem«, murmelte Margib. »Mir ist nicht ganz wohl. Ich werde den Bauchaufschneider rufen. Ich habe das Gefühl, wir
werden ihn brauchen.« Die vor der Öffentlichkeit und allen anderen Behörden geheim gehaltene Station der Tu-Gol-Cel hatte sich als Diagnosezentrum getarnt. Bei dem großen Besucherverkehr fielen einige Agenten und Außendienstmitarbeiter nicht auf. Vor allem war es möglich, jederzeit Dutzende von Männern in Alarm zu versetzen. Anderswo wären Männer, die blindlings durch die Gänge rannten, aufgefallen, hier war derlei üblich. Immer wieder musste Margib mit boshafter Freude an den Ausspruch einer alten Frau denken, die beim Anblick eines wie besessen rennenden Mannes gesagt hatte: »Lieb, wie sich die Männer für unsereins einsetzen.« Späße dieser makabren Art waren typisch für Margib, der seine gute Stellung bei der TGC zum größten Teil seinem ausgeprägten Zynismus und seiner Verachtung verdankte. Im Fall der alten Frau hatte der betreffende eilige Mann die gesamte Familie der Frau verhaftet und wenig später dem Konverter überantwortet. »Zehn Zentitontas zu spät«, stellte Margib fest, als Perytlth endlich in den Raum schwebte. »Wo haben Sie gesteckt, Mann?« Perytlth machte ein verlegenes Gesicht. »Mir wurde übel«, gestand er. »Das hat mich aufgehalten, aber nur auf dem Weg hierher. Meine Runde habe ich pünktlich absolviert.« »Sie machen uns Sorgen«, sagte Sulk. »Wir haben den Doktor kommen lassen, um Ihren Gesundheitszustand überprüfen zu lassen. Wenn Sie sich schlecht fühlen, dann sagen Sie es. Sie haben sich einen längeren Urlaub ehrlich verdient. Wir sind schließlich keine Leuteschinder.« Perytlth lächelte schwach. Diese Worte hörten sich aus dem Munde des berufsmäßigen Leuteschinders befremdlich an, aber Perytlth wusste aus langer Erfahrung, dass die TGC zu ihren Mitarbeitern äußerst großzügig war, wenn diese
Mitarbeiter wertvoll waren. Wem es gelang, zum Rang eines Offiziers aufzusteigen, wie es Margib und Sulk geschafft hatten, konnte für den Rest seines Lebens – Verschwiegenheit und Regimetreue vorausgesetzt – sorgenfrei leben. Sulk winkte den Bauchaufschneider heran, der Perytlth eingehend untersuchte. Dem Mediziner folgten zwei Robots, die Perytlth behutsam aus seinem Schwebesessel lösten und zu einem Untersuchungstisch trugen, der im Nachbarraum stand. Während sich der Arzt um Perytlth kümmerte, öffneten die beiden TGC-Männer eine Klappe am Sessel, von deren Existenz Perytlth aus naheliegenden Gründen nichts wusste. Hinter der Öffnung steckte ein Aufzeichnungsgerät, das alle Gespräche speicherte, die Perytlth geführt hatte. Normalerweise wurden die Unterhaltungen auf einem anderen Gerät aufgezeichnet, aber man hatte, um den Speicherkristallwechsel nicht allzu häufig vornehmen zu müssen, Perytlth freigestellt, wann er das Gerät einschalten wollte. In den Pausen, die so entstanden, zeichnete das zweite Gerät auf. Auf diese Weise war die TGC nicht nur im Besitz eines jeden Wortes, das Perytlth gesprochen hatte, sondern der Krüppel sortierte unfreiwillig auch jene Bemerkungen aus, die ihm selbst gefährlich werden konnten. Es dauerte nicht lange, dann hatte Margib den Speicherkristall gegen einen neuen ausgetauscht und die Klappe wieder geschlossen. Wenig später kehrte der Arzt mit den Robots zurück, die Perytlth sanft wieder an seine Prothese anschlossen. »Abgesehen von der Knochenpest ist der Mann gesund«, sagte der Bauchaufschneider. »Wahrscheinlich hat er etwas gegessen, was ihm nicht bekommen ist. Ich schlage allerdings vor, dass man ihm einen längeren Kuraufenthalt zubilligt. Er macht einen leicht geschwächten Eindruck.« »Nur das nicht«, stöhnte Perytlth. »Meine Frau hat schon eine Kur beantragt. Stellen Sie sich vor, wir landen am
gleichen Ort.« »Dann nicht. Es ist Ihr Wille. Wie bereits gesagt, meine Herren, der Mann ist im Großen und Ganzen gesund.« »Passen Sie besser auf sich auf«, ermahnte Sulk den Zaliter beim Abschied. »Sie werden gebraucht, das wissen Sie. Sie sind einer unserer besten Männer.« Sulk konnte den merkwürdigen Ausdruck in Perytlths Augen nicht deuten, aber er kümmerte sich auch nicht darum. Was interessierte ihn, den erfolgreichen TGC-Orbton mit einer steil ansteigenden Karriere, schon das Innenleben eines verkrüppelten Denunzianten. Die Führungsoffiziere der TuGol-Cel kannten ihre V-Männer viel besser, als diese ahnten. Selbstverständlich wussten Mehn Sulk und Pathor Margib genau, aus welchen Gründen Perytlth seine gnadenlose Jagd betrieb; sie verachteten den Zaliter deshalb. Die beiden Männer warteten, bis sowohl der Arzt als auch Perytlth verschwunden waren, ehe sie den Kristall von der Positronik auslesen ließen. Wenig später klang Ras Stimme durch den Raum. Die beiden Männer hörten dem Gespräch mit fassungslosem Staunen zu, sie hatten Mühe, den aufkommenden Lachreiz zu unterdrücken. Ein Bild des fremden Märchenerzählers hatten sie nicht, weil der ausgewechselte Kristall nur Audioaufzeichnungen speicherte. »Heilige Milchstraße!« Sulk schnappte nach Luft. »Dieser Schwätzer hat Perytlth völlig eingewickelt. Ich bin sicher, dass der Zaliter jedes Wort geglaubt hat.« »Unvorstellbar. Perytlth ist doch sonst nicht so leichtgläubig.« »Ich würde vor allem gerne wissen, warum der Fremde gar nicht erst auf Perytlth eingegangen ist, sondern ihn ohne jedes Vorgeplänkel belogen hat, einfach so. Was für einen Grund hat dieser Mann gehabt?« Margib runzelte die Stirn und biss sich auf die Lippen.
»Sollte der Bursche geahnt haben, dass er Perytlth gegenüber vorsichtig sein muss?« »Du meinst, man weiß inzwischen, dass der Zaliter für uns arbeitet? Kann ich mir kaum vorstellen. Wer vermutet in Perytlth schon einen V-Mann der Tu-Gol-Cel?« »In jedem Fall werden wir uns diesen Mann näher ansehen müssen. Und wir werden auch Perytlth im Auge behalten müssen. Ich habe das Gefühl, dass er dem Fremden glaubt, dass der ihn wieder gesund machen könnte. Und dafür würde Perytlth jeden verraten. Ich kann es ihm nicht einmal verdenken.« »Lassen wir Perytlth weiter diesen Fremden beobachten«, schlug Sulk vor. »Wir konstruieren einen Spielfall, unterstützen Perytlths Wahnglauben und setzen ihn auf die Fährte dieses Märchenerzählers. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.« »Einverstanden. Ich bin gespannt, was Perytlth uns als Nächstes servieren wird.«
Ra fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, während er dem Mann, der in seinem Krankensessel das Lokal verließ, mit gemischten Gefühlen nachsah. Er hatte den alten, kranken Mann hinters Licht geführt, und der Alte war darauf hereingefallen. Zwar hatte Ra instinktiv gespürt, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmte, aber dies gab ihm noch lange nicht das Recht, ein übles Spiel mit den Gefühlen des Mannes zu treiben. Ra biss sich auf die Lippen, als er mit dem überscharfen Gehör eines Naturwesens hinter sich Schritte hörte. Sofort drehte sich der Barbar um. Ein Mann näherte sich dem Tisch, an dem Ra saß. Der Mann war breitschultrig und hochgewachsen, ein Arkonide mit weißem Haar und roten Augen. Die dunklere Färbung seiner
Haut verriet, dass er sich dem Sonnenlicht aussetzen musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Folglich gehörte der Mann den unteren sozialen Schichten an. Das alabasterne Weiß einer Leiche war derzeit Modefarbe für Arkoniden von Rang und Geblüt. Ohne um Erlaubnis zu fragen, setzte sich der Mann zu Ra an den Tisch und musterte ihn eindringlich. Zentitontas vergingen, in denen kein Wort fiel. Von einer Sitzgruppe in einer dämmerigen Ecke wurde Ras Tisch unausgesetzt beobachtet. Endlich brach der Besucher das Schweigen. »Mein Name ist Sarat Tohl. Ich bin Raumfahrer und – nebenbei – ein wenig Schmuggler.« Aha, dachte Ra. Das dürfte der Köder sein. Laut sagte er: »Ich heiße Ra, bin Raumfahrer und – nebenbei – ein wenig Barbar.« Er erreichte seinen Zweck – der Mann fühlte sich veralbert. »Hör zu: Wir haben dich genau beobachtet. Du bist hier hereingekommen, hast kaum etwas getrunken und einem alten Stammgast das Blaugrüne vom Himmel heruntergeflunkert. Was zum Gork suchst du hier? Bist du von der Polizei? Oder gar von der Tu-Gol-Cel?« »Weder noch.« Ra trank einen Schluck Fruchtsaft. Er wusste jetzt ziemlich genau, woran er war. Die unverblümte Frage nach der gefürchteten Geheimpolizei ließ nur den einen Schluss zu, dass der Fragende nicht viel von der TGC hielt. Alternativ dazu bestand natürlich immer die Gefahr, dass der Frager selbst zur TGC gehörte, aber dieses Risiko erschien Ra in diesem Fall ziemlich gering. Obendrein hätte er es, gleichgültig unter welchen Umständen auch immer, eingehen müssen. Das Ziel des Barbaren war, in die sicherlich vorhandene Untergrundwiderstandsorganisation Arkons einzusickern und dort gute Verbindungen zu schaffen, die ihm, Atlan oder den Männern und Frauen auf Kraumon später von Nutzen sein konnten. »Was hältst du von Seiner Erhabenheit? Magst du Imperator Orbanaschol, wünschst du
ihm langes Leben und Gesundheit?« »Die Knochenpest an den Hals!«, knurrte Sarat Tohl. Er hätte ein hervorragender Schauspieler sein müssen, um den verhaltenen Hass in der Stimme aufs Stichwort hin so naturgetreu mitschwingen lassen zu können. »Dann bin ich bei dir richtig.« Ra grinste den Mann an. »Leute wie euch habe ich gesucht. Wollen wir gehen?« »Gehen? Wohin?«, fragte Tohl verblüfft; er kam mit dem Tempo nicht mit. »In euren Versammlungsraum. Dorthin, wo ihr eure geheimen Besprechungen abhaltet. Oder wollen wir hier weiterreden?« Die Überrumpelungstaktik funktionierte. Tohl schüttelte verwirrt den Kopf, winkte den Kassiererrobot heran und zahlte. Vergnügt stellte Ra fest, dass der Mann in seiner Verwirrung beide Zechen beglich. Sarat Tohl ging voran. Auf der Straße sah er sich immer wieder um, ob ihm jemand folgte. Ra wurde schon nach kurzer Zeit skeptisch. Tohl schien nicht eben die geistige Spitze des arkonidischen Widerstands zu sein. Bei den Schulungstontas in konspirativem Verhalten dürfte er jedenfalls häufig gefehlt haben. Verblüfft stellte Ra fest, dass der Mann zielsicher auf eine öffentliche Bedürfnisanstalt zumarschierte. Sobald die Männer den Innenraum erreicht hatten, sah sich Tohl schnell um. Außer ihm und Ra hielt sich niemand in dem kleinen Gebäude auf. Rasch brachte der Mann einen Impulsschlüssel zum Vorschein, dessen Sendekopf er an den Boden hielt, der aus Stahlplatten bestand. Ra spürte, wie der Boden unter ihm nachgab; senkrecht stürzte er ein paar Meter in die Tiefe, dann fing ihn ein Feld sicher auf. In den wenigen Augenblicken des freien Falles hatte sich die Öffnung über ihren Köpfen wieder geschlossen. Ra kannte sofort den Grund dafür; da die Anstalt nicht verschließbar war, musste das
Verschwinden der Besucher blitzschnell vonstatten gehen, bevor ein ahnungsloser Besucher plötzlich mit einem großen Loch im Boden konfrontiert wurde. Ra warf einen schnellen Blick auf den Impulsschlüssel, den Tohl hastig wieder verschwinden ließ. Dieser kurze Blick reichte Ra. Er wusste jetzt, dass Tohl einen Schlüssel benutzte, wie er in jedem Großkaufhaus zu erhalten war; wenn sich die Polizei für dieses Versteck interessierte, dann würde sie kaum mehr als eine Zentitonta brauchen, um das Schloss zu öffnen. Langsam dämmerte Ra, dass er nicht gerade an professionelle Widerstandskämpfer geraten war. »Mir nach«, knurrte Sarat Tohl; er hatte viel von seinem Selbstvertrauen wiedergefunden. Die Männer befanden sich nun im Untergrund von Arkon II, mitten in dem unentwirrbar erscheinenden System von Kanälen, Schächten, Stollen und Röhren, den eigentlichen Lebensadern des Handelsplaneten. Es war erstaunlich, dass die planetare Polizei dieser Untergrundwelt kaum Aufmerksamkeit schenkte. Nirgendwo war Arkon II so verwundbar wie hier. Eine radikale, umsichtig geführte Stadtguerilla konnte in aller Ruhe an jedem wichtigen Schaltpunkt eine Bombe anbringen. Bei gleichzeitiger Sprengung hätte sich auf dem Planeten nichts mehr bewegt. Was das für eine so hochgezüchtete, auf perfekter Technik basierende Gesellschaft bedeutete, war abzusehen. Leise Schauder durchliefen Ra, als Tohl ihn durch einen Gang führte, unter dessen Boden eine Haupttrinkwasserleitung verlief. Zwar waren Messfühler zu erkennen, die jeden Rohrbruch melden und vollrobotisch beseitigen würden, aber was würde geschehen, sollte ein geisteskranker Fanatiker es sich einfallen lassen, das Trinkwasser um einige Kilogramm eines chemischen Kampfstoffs zu bereichern? Ra warf einen besorgten Blick auf seinen Begleiter, aber Sarat
Tohl machte nicht den Eindruck, als sei er zu solchen Wahnsinnshandlungen fähig. Aber wer konnte ein solches Urteil mit ausreichender Verlässlichkeit fällen? Wenn Sarat Tohl sich vorgenommen hatte, Ra zu verwirren, indem er ihn kreuz und quer durch das Labyrinth der Kanalisation führte, so hatte er sich gründlich getäuscht. Ra hätte zwar nicht sagen können, wo er sich exakt befand, aber er hätte den Weg, den er geführt worden war, jederzeit wieder an seinen Ausgangspunkt zurückverfolgen können. »Warte hier!«, befahl Tohl. »Ich komme bald zurück.« Wieder wurde der Impulsschlüssel benutzt, wieder öffnete sich der Boden. Tohl schwang sich ins Loch und verschwand. Ra nutzte die Zeit, um sich umzusehen. Viel gab es nicht zu erkennen, nur ein Tiefbauingenieur hätte sich in dieser übel riechenden Unterwelt vielleicht wohlfühlen können. Immerhin wusste Ra, dass vom perfekten Funktionieren aller Maschinen und Anlagen dieser Unterwelt das Leben einiger Millionen Arkoniden abhing. Was die einzelnen Farbmarkierungen bedeuteten, welche Stoffe die Röhren und Leitungen transportierten, fand Ra nicht heraus. Allerdings ließen die Dichte und Häufigkeit der Verbindungen den Schluss zu, dass das Versteck der Widerstandskämpfer in unmittelbarer Nähe eines bedeutsamen Knotenpunkts lag. »Immerhin ein Vorteil«, murmelte Ra. Sollte die Polizei jemals dieses Versteck aufspüren, dann hatten die Verschwörer den beträchtlichen Vorteil, dass die Beamten es sich nicht erlauben konnten, wahllos in der Gegend herumzuschießen. Hier konnte jeder Treffer verheerende Folgen für die Stadt haben. Nur wenige Zentitontas vergingen, bis Tohl wieder auftauchte. Er machte ein finsteres Gesicht; offenbar war man nicht sehr erfreut über den Gast, den er mitgebracht hatte. »Komm mit. Man will dich untersuchen. Wenn du ein Spitzel
bist, wirst du diesen Ort nicht mehr lebend verlassen.« Das klang einigermaßen bedrohlich, aber Ra ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Er war sich längst darüber klar geworden, dass es sich bei Tohl und seinen Freunden zwar um Arkoniden handelte, die das Terrorregime Orbanaschols verabscheuten, aber viel zu dilettantisch vorgingen, um dem Diktator gefährlich werden zu können. Brav, ehrlich, aber harmlos – so stufte Ra Tohl ein, und seine Freunde würden vermutlich vom gleichen Schlage sein. Es waren sieben Männer, die noch unter dem Niveau der Kanalisation auf Ra warteten und ihn mit finsteren Gesichtern musterten. Eindruck konnten sie damit nicht machen; es war ihnen anzusehen, dass sie ihre Kenntnisse über Untergrundkampf aus populären Trividsendungen bezogen hatten. »Was willst du und wie heißt du?«, schnauzte einer der Männer Ra an, der diesen skurrilen Haufen am liebsten sofort verlassen hätte. Aber er sagte sich, dass er hier wenigstens einen kleinen Zipfel der Widerstandsbewegung gegen Orbanaschol in die Hand bekommen hatte. Vielleicht stand diese Gruppe mit fähigeren Gruppen in Verbindung. Ra jedenfalls hätte als Führer einer kaltblütig und entschlossen geführten Untergrundtruppe solche kleinen, harmlosen Gruppen überwacht, und sei es nur, um nicht im unpassendsten Augenblick über einen allzu eifrigen Amateur zu stolpern. »Ich heiße Ra«, stellte sich er zum zweiten Mal vor und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin ein Freund des Kristallprinzen Atlan.« Schmerzlich wurde sich Ra der Tatsache bewusst, dass Atlans Schicksal im Mikrokosmos mehr als ungewiss war; dass er, Ra, dafür verantwortlich war, sollte Atlan nicht zurückkehren; dass wahrscheinlich noch immer Ischtars MONDSCHATTEN um den Maahk-Stützpunkt kreiste, auf den verschwundenen Kristallprinzen wartend. Was ihm
bevorstand, wenn Atlan nicht zurückkehrte und Ra wieder Ischtar gegenübertreten musste, wagte sich der Barbar nicht zu vergegenwärtigen. Er gestand sich ein, dass diese Furcht mit ein Grund gewesen war, sich in dieses Arkon-Abenteuer zu stürzen, statt ernsthaft zu versuchen, mit dem Varganenoktaeder von Ark’alor zu starten. »Atlan ist tot!«, sagte der Sprecher. »Ganz Arkon hat es miterlebt. Er hat versucht, den Imperator zu töten, und ist dabei selbst umgekommen. Versuche nicht, uns für dumm zu verkaufen.« Im Hintergrund des karg möblierten Raumes erkannte Ra eine junge Arkonidin, die ihn mit unverhohlener Neugierde musterte. Ra hatte den Eindruck, als sei in Wirklichkeit die Frau der Kopf dieser Gruppe; in jedem Fall machte sie einen weitaus energischeren Eindruck als die Männer. »Atlan lebt, ich weiß es genau«, behauptete Ra. »Der Mann, den ich in der Arena getötet habe, war nicht Atlan. Ich werde doch keinen meiner Freunde töten.« Ra konnte aus den Augenwinkeln heraus erkennen, dass sich die Augen der Frau blitzartig verengten. In diesem Augenblick erinnerte sie Ra an ein sprungbereites Raubtier. »Kannst du das beweisen?«, wollte einer der Männer wissen. »Wenn der Kristallprinz noch lebt, wo ist er dann?« Die Antwort auf diese Frage hätte Ra gern selbst gewusst. »Er ist fern von Arkon«, sagte er wahrheitsgemäß. »Er sammelt seine Getreuen um sich.« In diesem Augenblick mischte sich die Frau ein. »Du bist der Mann, der beim Fest der zalitischen Händler gegen den Maskenträger gekämpft hat?« Ra nickte kurz. »Was willst du von uns?«, fragte der Sprecher. »Wenn wir Orbanaschol stürzen wollen, brauchen wir Helfer in großer Zahl, Männer und Frauen, die bereit sind, ihr
Leben für die Freiheit Arkons zu wagen.« Ra war kein Redner, aber er hatte ein gutes Gedächtnis. Die gleiche Rede hatte der arkonidische Tharg’athor in dem Trivid-Spektakel Stützpunkt der Verlorenen gehalten, das vor einigen Tagen ausgestrahlt worden war. Die Qualität dieser Produktion war augenfällig geworden, als der heroische Einmondträger mit vier Helfern es in auswegloser Lage fertig brachte, eine Raumarmada der Methans zu vernichten. Ra wandelte den Text ein wenig ab, streute noch einige Male Worte wie Heldenmut, Heroen und Triumph ein. Nach kurzer Zeit hatte er die Männer für sich gewonnen. Allerdings sah Ra auch, dass sich die Frau abgewandt hatte. Nur Ra konnte sehen, dass ihre Rückenmuskulatur in mühsam unterdrücktem Lachen zuckte. Die Männer standen auf und umarmten Ra feierlich, klopften ihm auf die Schulter und hießen ihn im Kreis der »Freien Söhne Arkons« willkommen. Bevor die Männer dazu kamen, die nächsten Schritte des gemeinschaftlichen Kampfes zu erörtern, was Ra in peinlichste Verlegenheit gebracht hätte, wurde ein scharfes Zischen hörbar. Verblüfft stellte Ra fest, dass die Widerstandsgruppe der »Freien Söhne Arkons« mit akustischen Alarmanlagen arbeitete. Sarat Tohl hantierte an einem Schaltpult im Hintergrund des Raumes, abermals machte Ra eine erstaunliche Beobachtung. Die Gruppe überwachte die Räumlichkeiten rings um ihren Stützpunkt mit uralten elektronischen Kameras, die allerdings den Vorzug hatten, dass ihre Streufelder leichter abgeschirmt werden konnten. »Ein Trupp Roboter nähert sich uns«, sagte Tohl. »Es wird am besten sein, wenn wir uns zurückziehen.« »Ra kommt mit mir«, sagte die Frau sofort. »Ich stelle ihn unserem Gruppenleiter vor.« Um den Versammlungsraum verlassen zu können, mussten sie weiter in die Tiefe steigen. Ra schätzte, dass er sich nun
knapp einen halben Kilometer unterhalb der Oberfläche von Arkon II befand. Die Frau hatte Ras Hand gefasst und zog ihn hinter sich her. Er war gespannt auf das, was ihn erwartete.
11. Abton Cehar war ein alter Mann. Das weiße Haar war schütter, die Gelenke knirschten bei jeder Bewegung vernehmlich. Der Atem des Wissenschaftlers ging pfeifend wie ein Notsignal, dazwischen mischte sich ein Rasseln, das Schlimmes ahnen ließ. Wenn Cehar, was häufig geschah, einen seiner Hustenanfälle bekam, lief er im Gesicht blaurot an; weiß hingegen wurde er, wenn sein Herz – wie er behauptete – für ein paar Augenblicke Luft schnappen musste. Abton Cehar leitete seine Rede mit einem keuchenden Einatmen ein. »Erlauchte«, sagte er. »Wir haben endlich neue Nachrichten von Mehan’Ranton.« Langsam drehte sich die Frau zu dem Alten um. Sie war zwar deutlich jünger als Abton Cehar, der sie von Kindesbeinen an kannte, aber auch ihr Gesicht war gezeichnet, von langen Jahren, die mit Sorgen und Entbehrungen angefüllt gewesen sein mussten. Ihr Blick schien durch Abton Cehar hindurchgehen zu wollen, ihr Lächeln wirkte teilnahmslos, eine aufgesetzte Maske, die über echte Gefühle hinweghelfen sollte. »Sprich, Alter. Ich hoffe auf gute Nachricht.« »Atlan ist tot«, sagte Abton Cehar ächzend. Die Frau zuckte zusammen, ehe sie verstehend lächelte. »Unser Atlan ist tot, wolltest du sagen, nicht wahr, alter Freund? Kennst du Einzelheiten?« »Es gibt Aufnahmen von den Ereignissen auf Arkon Zwei.« Cehar schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Den Geräuschen nach zu schließen, mussten seine Bronchien mit völlig verrosteten Dampfleitungen vergleichbar sein. »Wollt ihr sie sehen?«
»Ja. Wie sieht es draußen aus?« »Kein Grund zur Besorgnis. Nicht mehr Touristen als üblich. Den Funksprüchen nach zu schließen, ist auch ein übergeschnappter Modefotograf darunter. Ich bin sicher, wir werden noch zum Modeschlager.« Der Alte knickte in den Beinen ein, fing sich aber sofort wieder. Unkontrollierte Muskelschwächen waren bei ihm keine Seltenheit. Sobald sich die Frau in einen bequemen Sessel gesetzt hatte, entstand vor einer Wand die Trividprojektion. Cehar musterte die Frau aus den Augenwinkeln und sah, wie stark sie von den Kämpfen in der Arena berührt wurde. Wider Willen wurde auch er mehr und mehr von dem Geschehen gefesselt. »Wer ist dieser Mann?« Die Frau deutete auf den Mann, der im Endkampf der Gegner des Maskierten war. »Das konnten wir einstweilen noch nicht in Erfahrung bringen. Unsere Verbindungsleute versuchen, den Mann zu finden. Er ist nämlich sehr interessant.« Die Frau biss sich auf die Lippen, als sie erkannte, dass der Maskierte den Endkampf zu verlieren drohte. Sie atmete erleichtert auf, als es dem Maskierten zum Schluss doch gelang, seinen Gegner niederzustrecken. Plötzlich stutzte die Frau. »Wiederholung. Der Augenblick, an dem der Mann unserem Atlan das Schwert an die Kehle setzt.« Ihr Befehl wurde schnell befolgt; Augenblicke später wurden die Ereignisse, die sich vor vier Pragos in der großen Arena beim zalitischen Händlerfest zugetragen hatten, zum zweiten Mal gezeigt. »Halt!«, rief die Frau, stand auf und ging ein paar Schritte auf die Holoprojektion zu. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck nervöser Spannung an. »Er kennt ihn«, flüsterte sie erregt. »Es ist nicht zu übersehen. Er kennt ihn! Deshalb war er so überrascht, dass er sich überrumpeln ließ. Abton, wer ist dieser Mann? Wir müssen es um jeden Preis herausfinden.« »Kein Grund zur Aufregung«, versuchte der Alte die Frau zu beruhigen.
»Kein Grund?«, wiederholte sie aufstöhnend. »Abton, begreifst du nicht? Dieser Fremde kennt ihn, er weiß, wo er ist! Vielleicht wird er ihn verraten.« Sie kümmerte sich nicht weiter um die Aufzeichnung. Zielsicher eilte sie zur Nachrichtenabteilung. Dort arbeitete eine der Personen, deren Heimat ein in der Galaxis einmaliges Versteck war. Insgesamt lebte die Frau mit fast einhundert Arkoniden in ihrem Stützpunkt. »Du musst sofort eine Nachricht durchgeben. Es ist sehr wichtig. Der Text lautet …«
Arkon II: 30. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Perytlths Dossier nahm allmählich an Gestalt und Umfang zu. Seit Tagen belauerte er Ra und versuchte festzustellen, zu welchen Personen der geheimnisvolle Erbe der Galaxis Kontakt aufnahm. Und immer wieder versuchte er Ra auszuhorchen, obwohl er auf diese Weise riskierte, dass er damit das Misstrauen des Barbaren steigerte. Ra revanchierte sich mit immer neuen Erzählungen, Andeutungen und Märchen, die Perytlth umso williger schluckte, als die Aussichten für ihn immer rosiger wurden – jedenfalls, wenn es nach dem Erben der Galaxis ging.
Ra war sich inzwischen fast sicher, welche Rolle der Krüppel spielte. Und er wusste auch, welche Schlussfolgerungen er daraus zu ziehen hatte. Solange Perytlth die Märchengeschichte glaubte, würde er alles tun, um Ra ungestört weiterarbeiten zu lassen. Einen besseren Schutz konnte sich Ra kaum denken. Gefährlich wurde es allerdings in dem Augenblick, in dem Perytlth entdeckte, dass man ihn gefoppt hatte. Dann galt es, sofort zu verschwinden. Ra war genügend sicher, diesen Zeitpunkt rechtzeitig erahnen zu
können, um sein Spiel weiterzutreiben. Er saß wieder in dem Lokal, in dem er Perytlth und Sarat Tohl kennengelernt hatte. Der Krüppel würde in acht Zentitontas erscheinen; Ra hatte inzwischen mehr über die sprichwörtliche Pünktlichkeit Perytlths erfahren. Obwohl Perytlth am liebsten jede Zentitonta in Ras Nähe verbracht hätte, änderte er seine Lebensweise nicht; er wusste, dass ein Abweichen von seiner gewohnten Verhaltensweise gefährlich werden konnte. Ra wartete auf Themar Irwig. Viel mehr wusste er nicht über die junge Frau. Sie hatte ihn zwar aus dem Labyrinth der Kanalisation geführt, aber weitere Mitglieder ihrer Gruppe hatte er noch nicht kennengelernt. Erst heute wollte sie ihn in die Gruppe einführen. Ra war gespannt, wie diese Mannschaft aussah. Themar jedenfalls machte den Eindruck eines kaltblütigen, gut geschulten Professionals; waren die anderen Mitglieder dieser Vereinigung ähnlich eingestellt, hatte Ra eine wirklich wertvolle Verbindung hergestellt. Er freute sich schon darauf, Bel Etir Baj davon erzählen zu können. Der ConTreh war bei dem zalitischen Händler Alpertur geblieben und versuchte auf seine Weise, Kontakte zu knüpfen und wichtige Verbindungen herzustellen. Während Ra sozusagen von unten her in die Widerstandsorganisationen einsickern wollte, versuchte Etir Baj die Köpfe aufzuspüren. Dieser Weg war zwar kürzer, aber weit beschwerlicher und schwieriger, denn aus einem Anführer war naturgemäß weniger herauszuholen als aus einem einfachen Mitglied, das normalerweise auf Fangfragen nicht vorbereitet war. Themar erschien zwei Zentitontas, bevor Perytlth auftauchen würde. Sie stand in der Eingangstür, sah sich kurz um und verließ dann das Lokal wieder. Ra wartete noch eine halbe Zentitonta, ließ den bereits bezahlten Fruchtsaft stehen und folgte ihr. Beim Betreten der Bedürfnisanstalt konnte Ra gerade noch sehen, wie Perytlth in seinem Krankengleiter in
die Kneipe schwebte. »Ich muss dir die Augen verbinden«, sagte Themar. Aus einer der Taschen ihres Hosenanzugs zog sie ein dunkles Tuch, das sich Ra widerstandslos über die Augen binden ließ. Interessiert nahm er zur Kenntnis, dass die Ränder der Maske mit einem Hautkleber bestrichen waren, wie sie üblicherweise beim Theater verwendet wurden, um falsche Bärte dauerhaft zu befestigen. Ra, der gehofft hatte, durch kleine Lücken am Rand trotzdem etwas von der Wegstrecke wahrnehmen zu können, stellte fest, dass es um ihn herum finster war. Nicht das kleinste Lichtquant fand seinen Weg durch die Maske. Themar nahm Ra bei der Hand und zog ihn hinter sich her. Sie stellte sich wesentlich geschickter an als Sarat Tohl, schlug mit Sicherheit ebenfalls Umwege ein, aber sie benutzte dazu Antigravschächte, die Ras Orientierungsvermögen nach kurzer Zeit zum Bankrott zwangen. Niemand konnte mit verbundenen Augen feststellen, wie das künstliche Schwerefeld in einem Schacht eingestellt war – bei entsprechender Konstruktion konnte eine Röhre auch waagerecht verlaufen, ohne dass der Benutzer es feststellen konnte. Ra war sich sogar sicher, dass sie ihn mit einem Messgerät nach möglichen Spionsonden abgetastet hatte. Er schätzte, dass etwas mehr als zehn Zentitontas vergangen waren, bis Themar erklärte, dass das Ziel erreicht sei. Sie entfernte die Binde, und Ra sah sich, wegen des grellen Lichtes heftig zwinkernd, in der fremden Umgebung um. Themars Gruppe war in jedem Fall finanziell besser gestellt als der Widerstandskreis um Sarat Tohl. Ra befand sich in einem Kontrollraum, von dem aus ein beträchtlicher Maschinenpark überwacht und gesteuert wurde. Offenbar gab es hier tatsächlich eine kleine Stadt unter der Stadt. Die Bildschirme zeigten ausgedehnte Räumlichkeiten, große Lagerräume, Waffenarsenale; es gab Platz genug für eine Raumlandearmee
samt ihrem Gerät. »Donnerwetter!«, staunte Ra. »Ein eindrucksvolles Bild.« »Die Wirklichkeit sieht noch besser aus«, versprach Themar lächelnd. »Warte es ab.« Zu einem schwer bewaffneten Posten gewandt, fuhr sie fort: »Ich soll diesen Mann zum Chef bringen. Sind die Zugänge frei?« »Sie müssen noch etwas warten. Es wird nicht lange dauern.«
Perytlth war verärgert. Er wartete, ohne sich dies anmerken zu lassen, seit geraumer Zeit auf Ra, ohne ihn zu Gesicht zu bekommen. Langsam lief die Zeit ab, die Perytlth für dieses Lokal zur Verfügung stand. Perytlth hatte zwar fast jedes Wort geglaubt, das Ra ihm erzählt hatte, aber das Misstrauen war dem TGC-Mann so zur zweiten Natur geworden, dass er seine speziellen Tricks auch bei Ra nicht unterlassen hatte. Seit zwei Pragos schleppte Ra, ohne es zu wissen, einen Infrarotmarkierer mit sich – mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Das dazugehörige Aufnahmegerät war in Perytlths Gleiterarsenal vorhanden. Der Krüppel beschloss, diese Technik jetzt einzusetzen. Vor dem Lokal nahm er die Fährte auf und folgte ihr hartnäckig. Wie Ra bereits vorhergesehen hatte, brauchte der Mann nur wenig Zeit, bis er den geheimen Zugang in der Bedürfnisanstalt aufgespürt und geöffnet hatte. Vorsichtig ließ Perytlth seinen Gleiter in die Öffnung schweben. Wenig später fluchte er leise: Das Signal des Infrarotmarkierers war abrupt erloschen.
»Nicht schlecht, der Gedanke.« Sulk betrachtete das Bild auf dem Schirm, das von einer versteckten Kamera in dem
Spezialfahrzeug des Kranken aufgenommen wurde. Auch von diesem Gerät wusste Perytlth nichts. »Die Idee, den Zugang zu den Verstecken so zu tarnen, ist wirklich gut«, lobte Pathor Margib. »Ich bin gespannt, welche Vögel uns durch Perytlth ins Netz gehen werden.« »Sollen wir unser Einsatzkommando in Alarmbereitschaft versetzen lassen?« Margib schüttelte den Kopf. »Warten wir ab. Ich möchte erst wissen, was Perytlth herausfinden kann. Vor allem will ich wissen, wie viel er uns davon erzählt. Wenn es zu wenig ist, werden wir wohl oder übel daraus Konsequenzen zu ziehen haben.« »Perytlths Frau wird sich freuen. Der Krüppel hat sich mit beträchtlichen Summen gegen einen vorzeitigen Tod versichert, sofern dieser Todesfall nicht unmittelbar oder mittelbar mit seiner Krankheit in Zusammenhang steht. Viel Voraussicht für einen V-Mann.« »Ich grüble seit Tagen. Irgendwo habe ich den Namen Ra schon mal gehört, aber ich erinnere mich nicht mehr, in welchem Zusammenhang das der Fall war.« »Wir werden es noch herausfinden. Ich bin mir sicher, wir werden eine Überraschung erleben.«
Ra stöhnte unterdrückt auf. Sie gingen nicht gerade milde mit ihm um. Die Männer waren misstrauisch und wollten sichergehen, dass sie von Ra nichts zu befürchten hatten. Seit etlichen Tontas prasselten ihre Fragen auf ihn herab. Er war gefesselt, sein Körper zeigte die Spuren von Schlägen. Der Mann, der unmittelbar vor ihm stand, verstand sein Handwerk, schlug so zu, dass keine offenen Wunden entstanden oder Knochen brachen, aber er wusste auch, wohin er zielen musste, um dem Getroffenen ein Höchstmaß an
Schmerzen zu bereiten. »Was willst du bei uns?«, fragte der Mann, von dem Ra nur den Decknamen Glahrn kannte. Er war der unumstrittene Anführer der Gruppe, ein hochgewachsener Mann, schlank und mit dünnen, nervösen Fingern. An jedem Finger trug er einen Ring, an den Handgelenken Ketten, die leise klirrten. Die Augen blickten freundlich, aber Ra spürte, dass dieser Mann ein ausgewachsener Sadist sein konnte, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. »Rede, Bursche! Du hast behauptet, Atlan lebe noch. Wie kommst du dazu?« Zum fünften Male erzählte Ra seine Geschichte. Wichtige Teile allerdings verschwieg er, beispielsweise die Tatsache, dass der Kristallprinz unerreichbar im Mikrokosmos steckte. Ra erzählte auch nur andeutungsweise von Kraumon. Da ihn schon sein Äußeres als unterentwickelten Barbaren auswies, wurde ihm sofort geglaubt, als er behauptete, die galaktische Position Kraumons nicht zu kennen. Ra schmückte die Geschichte so aus, wie sie für ihn brauchbar war. Warum er nicht die volle Wahrheit erzählte, verstand sich von selbst – je weniger selbst die besten und treuesten Verbündeten wussten, desto weniger konnten sie verraten. »Weißt du, dass wir eine Psychohaube haben?«, fragte Glahrn freundlich. »Wir könnten deine Angaben sofort überprüfen, ich brauche nur ein Zeichen zu geben.« Ra spuckte das Blut aus, das sich in seinem Mund gesammelt hatte, grinste verzerrt und antwortete: »Du weißt so gut wie ich, dass ich dieses Verhör nicht überleben würde – jedenfalls nicht als intelligentes Wesen. Was wird der Kristallprinz sagen, wenn er erfährt, dass du seinen besten Gefolgsmann zum lallenden Idioten gemacht hast?« »Treffer. Nur – ich weiß immer noch nicht, ob es diesen Kristallprinzen wirklich gibt. Du könntest auch ein TGC-
Spitzel sein, der uns mit dieser Geschichte ködern will. Du brauchst nicht verzweifelt den Kopf zu schütteln, auch solche Geschichten kann man erfinden und in Szene setzen. Wir wissen viel zu gut, was unsere Gegner können. Wer die TuGol-Cel unterschätzt, ist schon halb in ihrer Hand.« »Habt ihr eine Positronik zur Verfügung? Wenn ja, rechnet die verschiedenen Möglichkeiten und Risiken durch. Dieses Folterverhör ist sinnlos; ihr werdet niemals beweisen können, ob ich lüge oder die Wahrheit sage.« »Wir können ihn testen«, schlug Themar vor. »Anders werden wir nie sicher sein können.« »Einverstanden«, sagte Glahrn lächelnd. »Wir stellen dich auf die Probe, Ra. Du wirst einen Auftrag bekommen. Erfüllst du ihn, werden wir dich gerne bei uns aufnehmen und dir helfen. Andernfalls … Wir werden dich überall finden! Glaub nicht, dass du uns entkommen könntest. Nimmst du die Bedingung an?« Ra nickte nur. Er wurde erst dann bewusstlos, als seine Fesseln gelöst waren und ihm die Möglichkeit gegeben war, zusammenzubrechen. Er kam in einem öffentlichen Park wieder zu sich, knapp eine Zentitonta vor dem Zeitpunkt, an dem ein Robotpolizist den nächtlichen Park kontrollierte und dem seltsamen Schläfer sicher unangenehme Fragen gestellt hätte. Ra machte sich schnellstens aus dem Staub. Zwar war er im Besitz hervorragend gefälschter Papiere, aber einer gründlichen Überprüfung hätten diese Dokumente nicht standgehalten. Wie der Auftrag aussehen würde, konnte sich Ra an den Fingern abzählen. Man würde ihn auffordern, eine bestimmte Person aufzusuchen und zu töten. Tat er dies, war er so tief in Schuld verstrickt, dass er es nicht mehr wagen konnte, ein normales Leben zu führen. Von diesem Zeitpunkt an wäre er gezwungen gewesen, in die Illegalität zu flüchten.
Nachdenklich betrachtete Ra die Anschrift auf der Karte, die er in seiner Tasche gefunden hatte. Sein Geld war nicht angerührt worden. Ra erinnerte sich dumpf, die betreffende Adresse schon einmal gehört zu haben, aber er konnte sich nicht besinnen, in welchem Zusammenhang das gewesen sein mochte. »Wenigstens ist es nicht der Imperator«, murmelte Ra grinsend. »Wir werden sehen.« »Ist diese Frau vollständig verrückt geworden?«, schimpfte der Hochedle. »Was fällt ihr ein, ihr Versteck zu verlassen? Seit dem Attentat auf Orbanaschol sind die TGC-Männer dreimal wachsamer als normal. Will sie unbedingt im Konverter enden?« »Dazu kann ich nichts sagen, Hochedler«, antwortete der junge Nachrichtentechniker. »Ich habe nur diesen verschlüsselten Spruch aufgefangen, dekodiert und weitergeleitet. Ihr wisst, dass wir nur über Umwege eine Antwort durchgeben können.« Der Mann warf die schmale Karte auf einen Tisch und ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. »Seit Jahren«, stöhnte er in unterdrücktem Ärger, »seit Jahren predige ich, dass sie sich so selten rühren soll wie irgend möglich. Jetzt will sie ihr Versteck verlassen und auf eigene Faust nach diesem Barbaren suchen. Und zu allem Überfluss will sie Abton Cehar mitnehmen, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Ruf sofort einen Kurier …« »Das führt zu nichts, Hochedler. Sie hat angekündigt, dass sie ihr Versteck bereits verlassen haben wird, wenn uns die Nachricht erreicht. Ihr werdet sie nicht mehr aufhalten können.« Der Mann unterdrückte einen Fluch. »Alarmiert jeden Mann, der uns zur Verfügung steht. Wir müssen diesen Barbaren finden, den der Boden offenbar verschluckt hat, und zum anderen die Frau und ihren Vertrauten. Haltet vor allem nach Cehar Ausschau, eine solche Gestalt dürfte es kein zweites Mal in der Galaxis geben.«
Die Männer zogen sich zurück, sobald sie ihre Befehle erhalten hatten. Nach kurzer Zeit war der Mann allein. Nachdenklich sah er auf ein großes Porträt an der Wand. Es zeigte einen Mann mit den Insignien des Imperators, an seiner Seite eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm. »Hätte ich gewusst, Yagthara«, murmelte der Mann, »dass du im Alter noch temperamentvoller und dickköpfiger werden würdest, hätte ich meinem Freund niemals zu dieser Ehe geraten.« Sein Blick wanderte zur Seite, fiel auf den Kristallpalast, der in der Nähe aufragte. »Deinem Mann habe ich nicht mehr helfen können. Aber ich werde deinem Sohn zu seinem legitimen Recht verhelfen!«
Genüsslich betrachteten die beiden Geheimpolizisten die Aufzeichnung, die von der versteckten Kamera aufgenommen worden war. Die TGC-Männer konnten kaum glauben, dass Perytlth noch immer an die abenteuerlichen Geschichten des Fremden glaubte; er tat es aber, dafür waren die Aufzeichnungen Beweis genug. Selbst die Panne mit dem Infrarotmarkierer hatte ihn nicht entmutigt. »Halt!«, rief Mehn Sulk plötzlich. Ein Knopfdruck stoppte die Filmdatei. Auf der Projektionsfläche war das Gesicht eines nichtarkonidischen Mannes zu sehen. »Irgendwoher kenne ich ihn«, sagte Pathor Margib. »Ich frage mich nur, wo ich ihn schon mal gesehen haben könnte.« »Überprüf die Fahndungsliste, dann hast du schnellstens eine Antwort.« Eine einfache Schaltung genügte, um das Gesicht vom KSOL-Rechner mit einigen hunderttausend anderen Gesichtern vergleichen zu lassen. Die Überprüfung dauerte nicht lange, dann lag das Ergebnis vor. Ein Mann mit diesem Aussehen wurde nicht von der TGC gesucht. »Wir fahnden nicht nach ihm«, murmelte Sulk nachdenklich.
»Trotzdem kenne ich das Gesicht.« Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Dabei fiel sein Blick aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Seite der Straße. Sulk machte noch zwei Schritte, ehe er stehen blieb, als sei er gegen ein Schirmfeld gerannt. »Dort drüben steht der Mann. Sieh!« Margibs Blick folgte dem Finger, mit dem Sulk auf den Mann deutete. Es gab keinen Zweifel – auf der anderen Straßenseite stand der geheimnisvolle Mann, der seit geraumer Zeit Perytlth mit immer neuen Lügengeschichten umgarnte. »Jetzt weiß ich, wer der Bursche ist! Das ist jener Arenakämpfer, der beim Fest der Zalitischen Händler das Attentat auf den Höchstedlen vereitelt hat! Er wird zwar auch gesucht, aber nicht in den Listen geführt.« »Sollen wir ihn festnehmen?« Margib schüttelte langsam den Kopf. »Wir warten noch. Ich habe das Gefühl, dass dieser Mann tatsächlich ein Geheimnis mit sich herumschleppt. Und ich möchte unbedingt wissen, um was es sich handelt. Wir werden ihn beschatten lassen.« »Und dann?« »Nehmen wir ihn fest. Wer sich in solchen Häusern herumtreibt, hat etwas zu verbergen. Was, werden wir in Erfahrung bringen.«
Ra betrachtete nachdenklich das Haus. Das große Schild an der Eingangstür besagte, dass es sich um ein Diagnosezentrum handelte, und dementsprechend viele Kranke konnte Ra sehen. Der Auftrag, den man ihm erteilt hatte, besagte, dass er zwei der Ärzte, die in diesem Zentrum arbeiteten, aufzuspüren und zu töten hatte. Ra würde diesen Befehl natürlich nicht befolgen, aber er suchte nach Möglichkeiten, ihn zu umgehen. Vielleicht ließ sich mit entsprechendem Geldeinsatz etwas regeln. Man konnte einen Unfall
vortäuschen, die beiden Männer mit ihrem Einverständnis verschwinden lassen und dergleichen mehr. Fraglich war nur, ob die beiden Opfer dieses Spiel mitmachen würden. Wenn es Ra gelang, sich über den Zaliter Alpertur, der der Vertrauensmann der Con-Treh auf Arkon II war, falsche Papiere zu besorgen, müsste es möglich sein, eine Täuschung in Szene zu setzen. Ra verließ seinen Standort, ging zum weitläufigen Park und fand rasch Gesprächspartner. Geduldig hörte er sich endlos lang erscheinende Krankengeschichten an, dann fragte er die Patienten behutsam aus. Am Abend hatte er umfangreiche Dossiers, kannte fast jeden Bauchaufschneider, seine Schwächen und Stärken, seine medizinischen Fähigkeiten ebenso wie eventuell vorhandene Trunksucht oder eheliche Untreue. Vor allem die weiblichen Patienten zeigten sich erstaunlich gut informiert, wenn es um das Privatleben ihrer Ärzte ging. Nur eins störte Ra beträchtlich: Er hatte so gut wie nichts über die beiden Männer erfahren können, auf die er angesetzt worden war. Es gab eine kleine Gruppe Yoner-Madrulii, die ebenfalls nur dem Namen nach bekannt waren. Das war mehr als verwunderlich. Was trieben diese Männer in dem Gebäude? Ra hatte ohne Mühe auch viel über solche Personen herausfinden können, die normalerweise im Hintergrund blieben. Sogar über einige Verwaltungsangestellte, die kaum mit Patienten zu tun hatten, konnte er einiges berichten – nur über diese Gruppe von Männern nicht. Langsam keimte in Ra der Verdacht auf, dass seine Opfer etwas zu verbergen hatten. Was konnte eine Gruppe von Männern in einem Gebäude treiben, das einen derart hohen Publikumsverkehr aufzuweisen hatte? Die Antwort lag auf der Hand. Diese Männer brauchten eine Absicherung für ihre Besucher, die in einer größeren Personenmenge weniger auffallen würden. In Gedanken ging Ra die Berufsgruppen durch, die unter solchen
Bedingungen arbeiteten. Wenn er zusätzlich berücksichtigte, dass man ihn dazu ausersehen hatte, zwei dieser Männer zu töten, blieb genau betrachtet nur noch eine Möglichkeit – die Männer waren Gegner der Untergrundbewegung, vermutlich handelte es sich um Angehörige der Tu-Gol-Cel. Als Ra zu dieser Erkenntnis gekommen war, zog er es vor, sich so schnell wie möglich zu entfernen. TGC-Männer waren die Letzten, die er zu treffen wünschte.
12. Imperator Orbanaschol III. konnte, wenn es für ihn wichtig war, die Freundlichkeit selbst sein. Er mühte sich, liebenswürdig zu sprechen. In diesem Fall hatte er es bitter nötig. Der Imperator plauderte via Trividverbindung mit Regir da Quertamagin, dem derzeitigen Oberhaupt und Führer des berühmten Khasurn. Die Quertamagins gehörten zu den ältesten und einflussreichsten Geschlechtern des Imperiums, sodass selbst ein Gewaltherrscher wie Orbanaschol zusehen musste, sich das Wohlwollen der uralten Adelsgeschlechter nicht zu verscherzen. Eifersüchtig wachten die Hochedlen Arkons über ihre Privilegien und Rechte, und der Imperator, der diese ohne triftigen Grund einzuschränken wagte, ging ein großes Risiko ein. Orbanaschol III. wäre nicht der Erste gewesen, der von der Kristallkamarilla abgesetzt worden wäre. Es gab im Großen Imperium der Arkoniden Machtkonstellationen, die von keiner Verfassung erwähnt wurden. Höflingsgeplauder konnte Schlachten entscheiden, Planetensysteme wanderten von einem Besitzer zum anderen, ohne dass offiziell etwas verlautete. Zu den heimlichen Mächtigen, deren Einfluss der Imperator durchaus Respekt einflößte, gehörte auch Regir da Quertamagin. Eigentlich hieß er Ertonn, aber seit er Khasurn-Oberhaupt des ThiKhasum der Quertamagins mit dem Titel eines »Ta-Fürsten Erster
Klasse« war, trug er den traditionellen Vornamen Regir. »Es freut mich«, sagte Orbanaschol liebenswürdig, »dass Ihr nun den schmerzlichen Verlust, der Eure Familie getroffen hat, leidlich überwunden habt.« Quertamagins Erstgeborene Crysalgira war verschollen, seine beiden Söhne im Krieg gegen die Methans gefallen. Er wusste, dass der Imperator auf das geheimnisvolle Verschwinden seiner Tochter anspielte. Niemand wusste, ob sie noch lebte, niemand, ob nicht Orbanaschol seine Hände im Spiel gehabt hatte, als die Prinzessin verschwand. Quertamagin war sich allerdings ziemlich sicher, dass Orbanaschol nichts mit dem Verschwinden Crysalgiras zu tun hatte – einen derartigen Übergriff hätte sich selbst der Tyrann nicht erlauben dürfen. Am Hof wurde sogar gemunkelt, er habe an Crysalgira »gewisses Interesse« gezeigt, »nicht zuletzt aus dynastischen Gründen«. » Würde ich über jeden Verlust trauern, der unseren Großen Kelch betrifft«, sagte Quertamagin, »käme ich zu keiner anderen Arbeit mehr. Ihr wisst, wie weit verzweigt und groß unsere Familie ist.« Orbanaschol verstand die Andeutung richtig und zeigte sein freundlichstes Lächeln, als er fortfuhr: »Ich habe Euch einige Zeit nicht mehr gesehen. Werdet Ihr ebenfalls Gast beim Khasurn fest der Zoltrals sein? Ich verspreche mir einige amüsante Überraschungen davon, außerdem würde ich gerne wieder einmal Euren trefflichen Rat in Angelegenheiten des Imperiums einholen. Ihr wisst, wie wichtig Ihr für den Bestand des Reiches seid.« Quertamagin ließ sich von den Schmeicheleien nicht beeindrucken. Er wusste zu gut, wie wichtig er und seine Familie waren. Orbanaschols Essoyafängerei verfing bei ihm nicht. »Ich werde kommen.« »Es wird sich lohnen. Wie ich hörte, soll bei dem Fest der Zoltrals eine berühmte Wahrsagerin auftreten. Vielleicht kann sie mir sagen, wie mein künftiges Schicksal aussieht.« Quertamagin lächelte gewinnend. »Glänzend«, prophezeite er. »Ihr werdet noch lange der Mann sein, dessen Nähe im Imperium
am meisten geschätzt wird.« Das konnte ebenso gut bedeuten, dass der Imperator den obersten Platz auf einer Fahndungsliste einnahm, aber Orbanaschol entging der Doppelsinn dieser Worte. Er nickte Regir freundlich zu, dann trennte er die Funkverbindung. Quertamagin rührte sich nicht. Geistesabwesend starrte er auf den Bereich des erloschenen Projektionskubus. »Sie hat es tatsächlich gewagt«, murmelte er. »Diese Wahnsinnige!«
Arkon II: 32. Prago des Eyilon 10.499 da Ark »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, gestand Ra. »Ich kann doch nicht einfach zwei Leute ermorden, selbst wenn es sich um Männer der TGC handelt. Auf der anderen Seite will und muss ich den Kontakt zur Untergrundbewegung aufrechterhalten. Diese Männer und Frauen sind hervorragend ausgerüstet, bestens bewaffnet und geschult. Eine regelrechte Armee mit Depots, kompletter Logistik, Generalstab und einer guten Truppe hat sich gebildet. Auf diese Unterstützung können wir nicht verzichten.« Auf Etir Bajs Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. Der Con-Treh schüttelte besorgt den Kopf. »Ich traue der Angelegenheit nicht. Die Verbindungen unseres Volkes nach Arkon sind eigentlich sehr gut. Wir müssten längst wissen, dass es eine so starke Untergrundarmee gibt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Tu-Gol-Cel eine so ausgedehnte Organisation nicht längst entdeckt haben soll. Eine geistige Widerstandsbewegung könnte ich mir vorstellen, der Intellektuelle und Oppositionspolitiker angehören, aber dergleichen …« »Dass es diese Armee gibt, kann nicht bezweifelt werden. Fraglich ist nur, ob wir uns ihr anschließen sollen. Ich überlege mir, wie viel ich verraten darf. Immerhin steht viel auf dem
Spiel.« Die beiden Männer waren allein im Haus des reichen Zaliters Alpertur. Der Zaliter ging seinen Geschäften nach. Er hatte viel zu tun, um die Kostbarkeiten, die ihm Bel Etir Baj als Bezahlung für seine Arbeit im Dienste der Con-Treh überlassen hatte, zu versilbern. Die Con-Treh wussten genau, was sie von Alpertur zu halten hatten. Der Zaliter war geldgierig und feige, zum Glück überwog die erste Eigenschaft. Wer ihm genügend bezahlte, konnte seiner Dienste sicher sein. Hinzu kam, dass der Zaliter inzwischen schon so viel für die Con-Treh getan hatte, dass es für ihn kein Zurück mehr gab. Ihm war genau das passiert, was sich die Untergrundverschwörer für Ra ausgedacht hatten. Es klopfte, Alpertur trat in den Raum. Die Stirn des Mannes glänzte von Schweiß, obwohl der Raum angenehm kühl war. Alpertur strahlte vor Freude. »Ich habe mehr verdient, als ich dachte. Etir Baj, deine Mitbringsel waren außerordentlich wertvoll, ich stehe in deiner Schuld.« Das war ein bloßes Lippenbekenntnis, das wusste Etir Baj. Dennoch beantwortete er Alperturs Höflichkeit mit einem Lächeln. Der Zaliter ließ sich ächzend in einen Sessel fallen und klatschte in die Hände. Wenig später erschien eins der arkonidischen Mädchen, die Alpertur sich als Hausgehilfinnen hielt, wie es offiziell hieß. In Wirklichkeit unterschied sich dieses Dienstverhältnis nur geringfügig von nackter Sklaverei. »Bring zu trinken! Für mich Roten von Zalit. Und ihr?« Ra und Etir Baj zogen alkoholfreie Getränke vor. Während das Mädchen die Wünsche seines Herrn erfüllte, griff Alpertur die Unterhaltung wieder auf. »Kann ich etwas für euch tun?«, erkundigte er sich. Genießerisch trank er den ersten Schluck Wein. »Braucht ihr Geld?« Etir Baj schickte einen warnenden Blick zu Ra. Es war nicht ratsam, den Zaliter ins Vertrauen zu ziehen. Beim geringsten Druck würde der Mann alles verraten,
was er wusste; je weniger man ihn informierte, desto besser. »Für dich, Etir Baj, habe ich etwas. Dank der seltenen Werke, die ich anzubieten hatte, bekam ich zwei Einladungen. Du ahnst nicht, wohin man mich einlud.« »Das Begräbnis Orbanaschols wird es nicht sein«, sagte Etir Baj. »Sprich, ich habe keine Lust, Rätsel zu raten.« »Zwei Karten für das Khasurnfest der Zoltrals am letzten Prago des Eyilon«, sagte Alpertur mit großem Stolz. »Ist das eine Nachricht?« Ra durchforschte schnell sein Gedächtnis nach Informationen. Die Zoltrals waren neben den Gonozals, Orbanaschols, Quertamagins und anderen eine der führenden Familien. Sie hatten bereits mehrere Imperatoren gestellt und würden auch in Zukunft bei der Vergabe dieser Würde ein gewichtiges Wort mitzusprechen haben. Dass Alpertur es geschafft hatte, sich Einlass in diese Kreise zu verschaffen, sagte über seine Gerissenheit und Geschäftstüchtigkeit viel aus. Ra erinnerte sich allerdings auch, dass es zu solchen Festlichkeiten Einladungen unterschiedlichen Grades gab – kein Hochedler würde den Zaliter mit brüderlicher Umarmung empfangen, dies stand nur der absoluten Spitze der Verwandtschaft zu. Weit eher würde er einer unter Zehntausenden sein, die es geschafft hatten, zu diesem glanzvollen Ereignis geladen zu werden, aber üblicherweise von Robotpersonal beköstigt wurden. »Einen von euch kann ich mitnehmen. Ra wird wohl kaum eingelassen werden, aber für dich, Etir Baj, wäre dies eine vorzügliche Gelegenheit, mit führenden Persönlichkeiten des Imperiums bekannt zu werden.« »Nimm die Einladung an«, schlug Ra vor. »Ich kümmere mich derweilen um die Untergrundarmee. Vielleicht fällt mir etwas ein.« Eins der Mädchen betrat leise den Raum und übergab dem
Zaliter einen versiegelten Brief. Hastig öffnete der Mann das Schreiben und las die kurze Nachricht. Ra sah, wie er erbleichte. »Bei allen Sternengorks!«, schimpfte der Zaliter. »Ich bin bestohlen worden!« »Bestohlen?«, wiederholte Etir Baj. »Am helllichten Tage! Unbekannte sind in eins meiner Lager eingedrungen und haben Waren im Werte von Millionen Chronners mitgehen lassen. Ich kann es kaum fassen.« »Hoffentlich bist du versichert«, sagte Ra leichthin. Alpertur stöhnte gequält auf. »Natürlich bin ich versichert. Aber … es gab in diesem Lager Waren, die sehr kostbar waren und der Versicherung und einigen staatlichen Behörden verborgen bleiben mussten.« »Schmuggelware also«, stellte Etir Baj fest. »Wie war die Ware beschaffen, hinterlässt sie Spuren?« Der Zaliter schüttelte traurig den Kopf. »Die Polizei wird nichts mehr finden. Alles hat sich buchstäblich in Rauch aufgelöst.« Ra atmete erleichtert auf. Es wäre fatal geworden, wäre die Polizei dem geschäftstüchtigen Zaliter auf die Spur gekommen. Wer von den Behörden einmal verdächtigt wurde, musste ein extrem reines Gewissen haben, wenn er sich nicht ärgste Schwierigkeiten auf den Hals laden wallte. »Ist der Verlust so groß?«, wollte Etir Baj wissen. »Ziemlich. Aber ich werde deswegen kein armer Mann werden. Ich möchte nur wissen, wer sich im Imperium ausgerechnet für solche Waren interessiert. Dahinter steckt eine gut informierte Bande, die auch entsprechende Hehler hat. Vielleicht wird man auch versuchen, die Waren an mich zurückzuverkaufen.« Unwillkürlich dachte Ra an seine neuen »Freunde«, aber eine politische Widerstandsorganisation würde wohl kaum Diebstähle in diesem Ausmaß begehen. Ra entschloss sich, den
Auftrag abzulehnen, und nahm sich vor, eins der Verstecke der Gruppe aufzusuchen und zu erklären, dass er zu solchen Taten nicht bereit sei. Vielleicht bestand der eigentliche Test gerade darin, ob er bereit war, für die Erreichung der angestrebten Ziele nötigenfalls auch über die Leichen Unbeteiligter zu gehen.
Perytlth knirschte mit den Zähnen. In den letzten Pragos waren die Schmerzen fast unerträglich geworden. In langen Jahren hatte er gelernt, seine Schmerzen weitgehend zu unterdrücken, aber nun zeichnete sich für den Krüppel ein Ende seiner Leiden ab. Umso ärger wurden daher seine Schmerzen in der Zeit, die bis zur endgültigen Heilung noch verstreichen musste. Der Zayna hatte seine Routine verlassen. Seit Tagen schon hielt er sich nicht mehr an seinen bekannten Fahrplan. Dies wurde allgemein als erstes Anzeichen für sein Ende angesehen. Perytlth hatte sich entsprechende Papiere beschafft und trieb sich nun als Leitungsinspektor in der Unterwelt von Olp’Duor herum. Irgendwann musste er nach seiner Ansicht auf eine Spur des Fremden stoßen, den er seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Da der Trick mit dem Infrarotmarkierer nicht funktioniert hatte, wusste er nicht, wo er nach Ra zu suchen hatte, aber er hatte den festen Glauben, dass er ihn im Untergrund finden würde. Perytlth hatte einen Knotenpunkt erreicht. Welche Leitungen sich dort kreuzten, verbanden und wieder auseinanderliefen, kümmerte ihn nicht. Er hätte wenigstens eine Woche gebraucht, um sich die vielen Farben, Kennzeichen und anderen Markierungen zu merken, an denen die einzelnen Leitungen voneinander zu unterscheiden waren. Seine ganze Aufgabe bestand offiziell darin, die Leitungen abzufahren und
lecke Stellen zu melden. Sein Lohn war mehr als bescheiden; Perytlth hatte die Stellung erst dann bekommen, als seine Gehaltsforderung unter den laufenden Unkosten eines Wartungsroboters lag. »Es kommt mir nicht auf die Bezahlung an«, hatte er vor dem Inspektor behauptet. »Ich möchte nur etwas tun, was der Gemeinschaft nützt. Es würde mein Selbstwertgefühl außerordentlich heben!« Glatzköpfiger Laffe, hatte der Krüppel gedacht, als er diesen Text aufgesagt hatte. Für das mitleidige Lächeln des Beamten hätte Perytlth den Mann am liebsten geohrfeigt. Immerhin, er hatte die Stelle bekommen. Es war still in diesem Bereich von Olp’Duor, den nur selten ein Arkonide zu sehen bekam. Irgendwelche Flüssigkeiten strömten mit leisem Geräusch durch dick ummantelte Rohre. Zwischen Strom führenden Leitungen sprangen ab und zu kleine Entladungen knisternd hin und her. Umformerbänke summten schwach. Eines der lautesten Geräusche war das Schlagen von Perytlths Herzen. Der Zayna hatte sich gesagt, dass er an der Stelle der Verschwörer die Verstecke ziemlich tief unter der Oberfläche anlegen würde. Eine dicke Schicht Erdreich, durchsetzt von Kabeln, Leitungen und Hohlräumen, bot einen nahezu perfekten Schutz vor Beobachtung durch Messgeräte. Allein die Umformerbänke gaben eine Streustrahlung ab, die jedes Messgerät irreführen musste. Daher bewegte sich der Krüppel auf der untersten Sohle seines Arbeitsgebiets. Nach seiner Schätzung war hier seit etlichen Generationen kein lebendes Wesen mehr gegangen. Der Boden war knöchelhoch mit Staub bedeckt. Vereinzelte Fußspuren zeigten, dass es dennoch in dieser kalten, von der Technik beherrschten Welt Leben gab. Vermutlich huschten ab und zu kleinere Nager durch die Gänge. Erstaunlich war, dass überall Licht brannte, auch die
Belüftung funktionierte einwandfrei. Unter anderen Bedingungen hätte sich der Krüppel nicht in diesen Bereich der Arkon-II-Unterwelt gewagt. Perytlth erreichte einen Antigravschacht. Die Kontrolllampen leuchteten, folglich konnte der Schacht benutzt werden. Amüsiert stellte Perytlth fest, dass ein offenbar recht zerstreuter Techniker sogar den Schachtboden mit einer Schaltanlage versehen hatte, mit der zwei Bewegungsrichtungen gewählt werden konnten. Er schwebte langsam näher und starrte in die Höhe. Unter ihm lag der dicke Beton des Schachtbodens, das obere Ende der langen vertikalen Röhre war nicht zu sehen. Das Antigravfeld war nicht eingeschaltet; ein Handgriff genügte, um es zu aktivieren. Die Röhre, in der sich Perytlth befand, war für wenige Personen bestimmt. Ein Schalterdruck bestimmte die Richtung des sehr schwachen Kraftfelds, mit dem der Flug des Benutzers stabilisiert wurde. Es hatte vor langer Zeit, als die ersten Schächte eingeführt worden waren, Kritiker gegeben, die behauptet hatten, solche Beförderungsmittel seien nur für Spitzenathleten und Kunstturner geeignet, aber schon nach einigen Jahren hatte sich gezeigt, dass das Gegenteil der Fall war. Zur einfachsten Variante der Schächte zählten jene, die jeweils einen Einstieg und einen Ausstieg hatten, die einander genau gegenüberlagen. Wer einen solchen Schacht benutzen wollte, trat an den Rand und machte einfach einen Schritt nach vorn. Mit der Hand wurde dann eine der zahlreichen Haltestangen gefasst, die an den Wänden des Schachtes entlangliefen. Der Benutzer konnte nun mit einer einfachen Handbewegung den frei schwebenden Körper in Bewegung setzen, nach Wunsch aufwärts oder abwärts. Die unvermeidlichen Abweichungen von der geraden Linie wurden mit der Hand abgefangen und korrigiert, die über die Haltestange glitt. Natürlich gehörte ein wenig Übung dazu, aber selbst Kinder konnten sich schon
nach kurzer Zeit sicher in Antigravschächten bewegen. Während des Fluges wurde die Haltestange gewechselt, bis der Benutzer die Ausstiegseite erreicht hatte. Zum Ausstieg selbst genügte eine einfache Handbewegung, die den Benutzer mit sanftem Schwung aus dem Bereich der Schwerkraftaufhebung beförderte, unterstützt von einem Prallfeld. Zwar setzte am Ausstieg schlagartig wieder die normale Anziehungskraft des Planeten ein, aber der »Fall« des Schachtbenutzers führte nur in seltenen Fällen über mehr als zehn Zentimeter. Selbst Krüppel konnten solche Anlagen ohne besondere Schwierigkeiten benutzen. Neben dieser Variante gab es diverse andere Formen, die alle unter der Bezeichnung Antigravschacht liefen; je technisch hochwertiger die Anlage war, desto mehr Hilfsmittel standen zur Verfügung. Es gab Lifte, die holografische Kabinen simulierten, solche mit aktiver Prallfeldunterstützung bei sämtlichen Bewegungen und vieles mehr. Prallfelder, Traktorstrahlen und rein mechanische Fangnetze gehörten neben Notleitern und ähnlichen Hilfsmitteln zu den umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen. Das einzige, noch immer ungelöste Problem der Antigravtechnik war weniger technischer als pädagogischer Natur: Eltern hatten immer wieder größere Schwierigkeiten, ihre antigravbegeisterte Nachkommenschaft davon zu überzeugen, dass man nicht einfach in jedes tiefe Loch hinunterspringen durfte … Perytlth lächelte bitter, als er an die Zeiten zurückdachte, da er ein kleiner Junge gewesen war, der tontalang in großen und kleinen Antigravschächten auf- und abgeschwebt war. Plötzlich stutzte der Mann. »Wer ist hier der Dummkopf?«, murmelte er nachdenklich. »Ich oder der Techniker?« Perytlth hatte schon viele Schächte gesehen, aber noch keinen, bei dem es auch an den Enden die Auswahl zwischen zwei Bewegungsrichtungen gab. War dies am Ende vielleicht gar
kein Zufall oder Versehen? Der Krüppel verließ den Schacht und schwebte zur Schalttafel. Es klickte leise, als er die Bewegungsrichtung Abwärts einstellte. Der Zayna grinste zufrieden. Langsam bewegte sich der Boden des Antigravschachts zur Seite. Eine Öffnung entstand, aus der Licht in die Höhe strahlte. Perytlth zögerte ein wenig, ehe er sein Krankenfahrzeug entschlossen vorwärts gleiten ließ. Langsam schwebte er in die Tiefe. Wieder knackte es leise, Perytlth sah die kleine Fotozelle an der Wand, die einer Schaltung mitgeteilt hatte, dass ein Körper vorbeigeschwebt war. Wenige Augenblicke später war der Antigravschacht wieder verschlossen. »Ein raffinierter Trick.« Er fasste seine Dienstwaffe fester, obwohl der Strahler nur zur Abwehr von kleineren Tieren gedacht war. Einen Arkoniden konnte man damit zwar ebenfalls verletzen, aber selbst die kleinsten Schirmfeldgeneratoren boten vor dem Thermostrahl einen ausreichenden Schutz. Dennoch fühlte sich Perytlth mit der Waffe in der Hand sicherer. Leise und vorsichtig bewegte er sich weiter, und mit jedem Meter, den er zurücklegte, wuchs seine Angst. Er war auf ein Warenlager gestoßen, auf eine Lagerhalle ganz besonderer Art. Der Zayna wusste sehr bald, dass dies kein geheimes Lager der Regierung für Notfälle sein konnte. In solchen Arsenalen wurden für gewöhnlich keine Kunstwerke aufgestapelt, die zudem in den letzten Jahren bei spektakulären Raubzügen und Einbrüchen verschwunden waren. Und angesichts der bedrohlichen Lage des Imperiums im Methankrieg war es kaum anzunehmen, dass jemand so leichtsinnig sein würde, etliche tausend Zweihandstrahler einzulagern, die an den Fronten bitter nötig gebraucht wurden. Nach einer halben Tonta hatte Perytlth genug gesehen. Er sagte sich, dass für ihn jede weitere Zentitonta, die er sich in diesem Arsenal aufhielt, zum Verhängnis werden konnte.
Hastig zog sich Perytlth zurück, im Stillen hoffend, dass keine Person dieses Lager überwachte und auch kein Automat sein Auftauchen registriert hatte. Der Krüppel atmete erst dann freier, als er sich mehrere Kilometer vom Einstieg in das Lager entfernt hatte. Während er scheinbar eifrig Leitungen kontrollierte, begann er seine Lage genau zu durchdenken. Er hatte mehrere Möglichkeiten. Er konnte das Lager an die Kriminalpolizei verraten. In diesem Fall hätten ihm die atemberaubend hohen Belohnungen gehört, die auf die Wiederbeschaffung vieler verschwundener Kunstwerke ausgesetzt waren. Fraglich war zweierlei: Wie viel von diesen Beträgen würde in den Taschen von Polizisten verschwinden – und wer garantierte ihm, dass eine derart erfolgreiche Verbrecherbande nicht auch gute Beziehungen zur Polizei hatte? Unter Umständen war gerade der Beamte, dem Perytlth sein Geheimnis anvertraute, ein Helfershelfer der Bande. Diese Gefahr war nicht von der Hand zu weisen. Perytlth hätte die Angelegenheit vergessen können. Wer aber gab ihm die Sicherheit, dass sein Eindringen in das subplanetare Arsenal nicht beobachtet worden war? Es war denkbar, dass der Besitzer der Waren schon jetzt einen Trupp zusammenstellte, der dem Neugierigen das Spionieren für alle Zeiten verleiden sollte. War er nicht beobachtet worden, konnte sich Perytlth an den Schätzen der subplanetarischen Halle bedienen. Angesichts der dort gestapelten Mengen würde der Verlust von einigen kleineren Vermögen kaum auffallen. Perytlths Überlegungen nahmen nicht viel Zeit in Anspruch. Die Gefahr war nicht von der Hand zu weisen, dass irgendein verstecktes Aufnahmegerät sein Eindringen aufgezeichnet hatte. Da sich der Zayna ausrechnen konnte, welche Konsequenzen daraus erwachsen würden, gab es für ihn nur eine Möglichkeit – er
würde »gewissen Kreisen« einen unmissverständlichen Tipp geben.
»Das wird Glahrn nicht gern hören«, sagte Themar kopfschüttelnd. Wer sie nicht kannte, hätte fast glauben können, dass sie tatsächlich Mitleid mit dem Barbaren empfand. Aber Ra wusste inzwischen ziemlich genau, was er von ihr zu halten hatte. Sie unterschied sich in ihrer Skrupellosigkeit und Brutalität nur unwesentlich von ihrem Vorgesetzten. »Du weigerst dich also, den Auftrag auszuführen? Weißt du, welche Konsequenzen das für dich haben wird?« Ra zuckte mit den Schultern und bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, obwohl er sich zu fürchten begann. Langsam dämmerte ihm, dass irgendetwas mit diesen Männern und Frauen nicht stimmen konnte. »Glahrn wird in wenigen Augenblicken hier eintreffen. Noch kannst du dir deine Entscheidung überlegen.« Sie lächelte Ra an und fuhr halblaut fort: »Es täte mir leid um dich, Ra.« Dieser Beweis von Zuneigung würde Ra sehr wenig helfen, wenn es ihm an den Kragen ging, das wusste der Barbar sehr genau. Und er ahnte auch, dass die Lage ernst war. Eine Tür wurde geöffnet, Glahrn trat in den Raum, sah Ra finster an. Instinktiv wanderte Ras Blick zum Gürtel des Mannes. Glahrn war bewaffnet, aber er hatte sich – vermutlich aus Eitelkeit – ein Schmuckhalfter zugelegt. Bis er die Waffe in Anschlag gebracht haben würde, hätte er Augenblicke gebraucht, eine sehr kurze Zeitspanne nur, aber für einen Kämpfer von der Reaktionsschnelligkeit des Barbaren reichte es. Themar war unbewaffnet, während Ra noch sein Messer im Gürtel trug. »Du weigerst dich?«, lautete Glahrns knappe Frage. »Allerdings!«, gab Ra ebenso kurz angebunden zurück.
»Es ist dein Wille – und dein Tod. Du wirst noch ein wenig Zeit haben, um dich mit deinen Gottheiten zu arrangieren, dann wirst du getötet.« Ra spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Die Eiseskälte, mit der Glahrn sein Todesurteil verkündete, hatte etwas Erschreckendes an sich. »Muss das sein?«, fragte Themar. Ra registrierte erstaunt, dass sie offenbar tatsächlich etwas für ihn übrig hatte. »Es muss doch auch andere Möglichkeiten geben.« Glahrn schüttelte ruhig den Kopf. »Er gefährdet unsere Sicherheit, und Sicherheitsrisiken können wir uns nicht leisten. Du weißt, was für uns auf dem Spiel steht. Willst du seinetwegen den Konverter riskieren?« Der Mann sprach völlig ruhig, als handle es sich um die Lösung eines mathematischen Problems. Die Person schien ihm völlig nebensächlich zu sein, wichtig war nur, dass die Organisation ungefährdet arbeiten konnte. Wahrscheinlich hätte er mit der gleichen Ruhe auch Familienangehörige geopfert. Themar biss sich auf die Lippen, sah Glahrns forschenden Blick auf sich ruhen und lächelte verzerrt. In diesem Augenblick wusste Ra genau, was die junge Frau dachte. Sie musste spüren, dass Glahrn auch sie ohne Zögern opfern würde, sofern es ihm geboten erschien. Und diese Notwendigkeit konnte schon dann gegeben sein, wenn zu befürchten stand, dass Themar private Neigungen über ihre Pflichten und die Organisation stellte. »Du hast recht«, sagte sie schließlich; der schnelle Blick in Ras Richtung blieb von Glahrn unbemerkt. »Wir müssen ihn opfern!« Im Gesicht des Mannes zuckte kein Muskel. »Ich schicke einen der Männer her, damit er Ra bewacht. Es wird besser sein, wenn du dich entfernst.« Themar nickte zögernd. Sie wollte gerade den Raum
verlassen, als ein gellendes Pfeifen sie und Glahrn zusammenzucken ließ. Ra sah, wie Glahrns Gesicht fast blutleer wurde. Der Mann kümmerte sich nicht mehr um den Barbaren. Mit einem Handgriff riss er einen Hebel herunter, eine Tür öffnete sich, die zu einem Raum führte, der mit technischem Gerät vollgestopft war. Ra erkannte, dass es sich um die Zentrale dieser künstlichen Unterwelt handeln musste. Hastig aktivierte Glahrn ein Dutzend Geräte, nach kurzer Zeit zeigten ihm die Monitoren, wie es um ihn stand. »Von allen Seiten!«, knurrte der Mann; Themar war blass geworden. »Irgendjemand muss der Polizei einen Tipp gegeben haben.« »Alles verloren?«, fragte sie ängstlich. Glahrn zuckte mit den Schultern. »Wir werden es überleben. Noch besteht Hoffnung, dass wenigstens wir uns absetzen können.« Er drehte sich um und stieß einen Fluch aus: Ra war verschwunden.
Der Barbar verspürte keine Lust, in engeren Kontakt zur arkonidischen Polizei zu geraten, deshalb hatte er den kurzen Augenblick genutzt, in dem sich die Aufmerksamkeit seiner Bewacher wichtigeren Dingen zugewandt hatte. Sobald er den Raum verlassen hatte, begann er zu laufen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin der Gang führte, aber er lief dennoch. Ra wollte versuchen, sich irgendwie zur Oberfläche durchzuschlagen, wie genau das vonstatten gehen sollte, war ihm unklar. Er wusste, dass er in ebenso großer Gefahr schwebte wie die Gangsterbande, der dieses Versteck gehörte. Jetzt war ihm endgültig klar, dass er es nicht mit einer politischen Widerstandsorganisation zu tun gehabt hatte, sondern mit einer Bande ausgekochter Verbrecher.
Wahrscheinlich hatten sie die naiven Regimegegner um Sarat Tohl für ihre Zwecke eingespannt. Ra fand einen Antigravschacht. Ohne sich darum zu kümmern, in welche Richtung er transportiert werden würde, stürzte er sich in die Öffnung. Das Kraftfeld trug ihn langsam in die Höhe. In regelmäßigen Abständen waren Leuchtkörper in die Wandungen des Schachtes eingelassen. Ra zerstörte sie kurzerhand mit dem Messer. Viel würde das nicht helfen, aber Augenblicke konnten unter Umständen entscheiden. Zum Glück wussten Etir Baj und Alpertur, wo Ra sich herumtrieb; die genauen Daten hatte er allerdings nur seinem Freund anvertraut. Ra schätzte, dass er mehr als hundert Meter an Höhe gewonnen hatte, als eine Ausstiegsöffnung sichtbar wurde. Dort stand ein Bewaffneter und zielte auf den Kopf des Barbaren. »Ich warne dich«, rief der Mann zu Ra herunter. »Eine falsche Bewegung, und ich drücke ab! Nimm die Hände in die Höhe und komm langsam näher!« »Ohne die Hände zu benutzen, kann ich den Schacht nicht verlassen.« Ra grinste den Mann an. »Habt ihr schon Erfolge erzielen können?« Der Mann stutzte. Verwirrt suchte er an Ras Körper nach irgendeinem Zeichen, das etwas über seine Identität hätte aussagen können. Ra beschloss, seine Rolle als Polizist im Sondereinsatz weiterzuspielen. »Unten liegen zehn Männer«, sagte er unbefangen, während er allmählich dem Ausstieg immer näher kam. »Fünf andere sind mir leider entwischt, aber die werden wir auch noch stellen können. Wie sieht es oben aus? Sind die Ausgänge besetzt?« Er schwang sich geschickt aus dem Schacht und deutete lässig einen Gruß an. Es war kennzeichnend für den Drill bei der arkonidischen Polizei, dass der Mann sofort zusammenzuckte und den Gruß in aller Form erwiderte. Auf diese Gelegenheit hatte Ra gewartet. Die Faust des Barbaren,
die noch immer das Messer umklammert hielt, bohrte sich mit Wucht in die Herzgrube des Beamten. Der Mann riss den Mund auf und schnappte nach Luft, seine Waffe ruckte in die Höhe, aber bevor der Mann abzudrücken vermochte, verlor er die Besinnung. Langsam sackte der Polizist in sich zusammen. Ra sah auf den bewusstlosen Mann hinunter und kratzte sich hinter dem rechten Ohr. »Meine Größe hat er ja.« Wenn das Gewebe dehnbar war, hätte Ra die Kleidung des Polizisten als Tarnung benutzen können, obwohl der Beamte in den Schultern erheblich schmaler war als der stämmige Ra. Aber der Mann war Arkonide, und Ra wusste nicht, ob er in der Uniform mit seinen dunklen Haaren nicht noch wesentlich auffälliger wirkte als in normaler Kleidung. Ra zögerte nur kurze Zeit, dann hatte er sich entschieden. Wenig später stürmte der in dieser Zeit erschaffene Sonderagent der Spezialabteilung VI weiter. Ra war der Ansicht, dass ein raffinierter Angriff die beste Form der Verteidigung sei, deshalb verhielt er sich seiner Rolle gemäß. Auf einem der Gänge begegneten ihm zwei Beamte, die auf Ras scharfes Kommando sofort folgsam wurden und sich ihm unterstellten. Er grinste zufrieden, während er weiter in das Innere der Verbrecheranlage eindrang. Ra wusste annähernd, wo er Glahrn und Themar zu suchen hatte; der Begleitschutz, den ihm seine beiden Untergebenen verschafften, schützte ihn wirkungsvoll vor lästigen Fragern. Die Gangster setzten sich erbittert zur Wehr. Mehr als ein Beamter der Einsatzpolizei wurde verletzt, einige sogar getötet. Immerhin stellte Ra fest, dass sich die Polizisten nach Kräften bemühten, die Gangster lebend zu fangen; nur in Einzelfällen rächten sich die Beamten an den Gefangenen für den Tod eines Kollegen. »Aufgepasst!«, schrie eine Stimme. »Sie setzen Roboter ein!« Ra knirschte mit den Zähnen. Natürlich konnte man auch bewaffnete Robots ausschalten, aber das erforderte entweder
eigene Kampfroboter oder aber einen ziemlich rücksichtslosen Einsatz von Personal. Ra war sich nicht ganz sicher, ob die Offiziere so lange warten würden, bis Polizeiroboter auf dem Kampffeld auftauchen konnten. »Vorwärts, Männer!«, befahl ein Unbekannter. »Kämpft die Maschinen nieder!« »Die Sternenpest soll ihn holen«, zischte ein Mann hinter Ra. »Dem Burschen ist es völlig egal, ob wir das überleben oder nicht. Ihm kommt es nur darauf an, für die Gefangennahme von vielen kleinen Gangstern belobigt zu werden.« Zum Glück für die Männer handelte es sich bei den Kampfmaschinen um veraltete Modelle, deren Reaktionsschnelligkeit durch umständliche Gelenkkonstruktionen beeinträchtigt wurde. Gefährlich aber waren sie dennoch, das bewies der gellende Schrei eines getroffenen Beamten. Ra zielte schnell und sorgfältig. Der Strahlschuss traf einen Roboter am Kopf und setzte seine Sehfähigkeit auf fast null herab. Zwei andere, darauf programmiert, auch das eigene positronische »Leben« zu schützen, sahen sich durch den wie besessen herumschießenden Gefährten bedroht und ließen ihn in einem Schusshagel zu einem weiß glühenden Metallhaufen zusammenschmelzen. Ein widerlicher Gestank nach glühendem Metall hing in der Luft, die von den Schüssen aufgeheizt wurde, bis sich Ras Haare an den Spitzen zu kräuseln begannen. Fetter schwarzer Qualm zog durch die Gänge, legte sich auf die Lungen und machte das Atmen schwer und schmerzhaft. »Vorwärts, Männer!«, schrie der Orbton wieder. Er musste sich in sicherer Deckung aufhalten, anders war die Klarheit seiner Stimme nicht zu erklären. Und seine Männer gehorchten, stürmten auf die Roboter ein. Das Zischen und Krachen der Schüsse erfüllte die Luft, Schreie gellten, immer
wieder explodierten zusammengeschossene Maschinenwesen. »Mir nach!«, befahl Ra, ohne sich darum zu kümmern, ob dieser Befehl üblich war. Die erstaunten Blicke seiner Untergebenen zeigten, dass Offiziere normalerweise erst einmal ihre Männer vorschickten, bevor sie sich selbst in brenzlige Situationen begaben. Ra rannte vorwärts, seine Männer folgten ohne Zögern. Ein Robot stellte sich ihnen in den Weg und flog nach einer Serie von Schüssen donnernd auseinander. Ra warf sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, einen Augenblick später schlug der weggerissene Kopf eines Robots gegen die Wand und fegte eine Handvoll Gesteinssplitter durch den Gang. Einer der Männer stöhnte unterdrückt auf, ein Splitter hatte ihn am Arm getroffen. Ra hatte lange und intensiv den Umgang mit hochmodernen Schusswaffen geübt, dementsprechend gut waren seine Schießleistungen. In Situationen wie dieser verließ sich der Barbar voll und ganz auf seine Instinkte, die ihn Gefahren fast hellseherisch vorherahnen ließen. Noch bevor der Körper des Robots seine Deckung vollständig verlassen hatte, schlug der Maschine bereits der Waffenstrahl des Barbaren entgegen. »Beeilt euch!«, rief er den beiden Männern zu, die seinem Sturmlauf folgten. »Je mehr wir rennen, desto schwieriger sind wir zu treffen!« Ra wusste sehr wohl, dass dies nur für Arkoniden galt. Robots pflegten die Bewegungen von Zielen auf Zentimeter genau vorher zu kalkulieren und trafen entsprechend exakt. Ra atmete schnell und krampfhaft. Die Luft war fast unerträglich heiß und stickig geworden. Die Zentitontas schienen sich wie zähflüssige Schmiermasse in die Länge ziehen zu wollen. Die Männer verloren fast zur Gänze ihre Beziehung zu dem, was in ihrer Nähe vorging. Sie rannten und schossen wie Automaten, warfen sich blindlings hin, um Schüssen auszuweichen, sprangen wieder auf und setzten den
Angriff fort. Ra brauchte mehrere Augenblicke, bis er begriff, dass der Kampf ein Ende hatte, zumindest was ihn anging. Kein Widerstand war mehr festzustellen. »Wir haben ihre Linien durchbrochen«, keuchte einer der Polizisten mühsam. Sein Gesicht war von Rauch geschwärzt, über das Gesicht lief ein schmaler Streifen frischen Blutes. »Wohin jetzt?« »Weiter!«, bestimmte Ra. Er hatte sich inzwischen erinnert und wusste nun halbwegs genau, wo er sich befand. Im Rücken der drei Männer wurde der Kampflärm lauter. Von irgendwoher kamen zwei Männer angerannt, die keine Zeit mehr fanden, die Waffen zu verwenden. Zwei gezielte Paralysatorschüsse ließen sie zusammenbrechen. Ra führte seine kleine Armee an. Viel hatte er nicht in Erfahrung bringen können, aber er hatte eine annähernde Kenntnis, wie dieses Labyrinth angelegt war. Und er wusste auch, dass es einen bestimmten Bereich dieser unterirdischen Welt gab, der von den vielen Beobachtungsgeräten nicht erfasst wurde. Wenn es für die Köpfe der Verbrecherorganisationen einen Fluchtweg selbst für diese extreme Notlage gab, dann musste sie in diesem Bezirk zu suchen sein. Unterwegs passierte der Trupp ein Waffenlager. Deutlich war zu sehen, wie sehr der Angriff der Polizei die Gangster überrascht hatte. In wilden Haufen lagen die Waffen verstreut, jeder hatte sich offenbar das Erste gegriffen, was ihm unter die Finger geraten war. »Thermitladungen«, freute sich Ra. »Ich glaube, wir werden sie gut brauchen können.« Er stopfte sich die Taschen mit den Hitzeladungen voll. Seine Begleiter sahen ihn verwundert an, dann begriffen sie, dass es letztlich unwichtig war, ob eine oder hundert Ladungen durch Zufall oder Unvorsichtigkeit detonierten. Wer nur einige Meter vom Detonationszentrum entfernt war, wurde in jedem Fall in ein Häufchen Asche verwandelt.
Die nächsten Räume waren leer. Offenbar leisteten die Gangster der Polizei einen erbitterten Widerstand – schließlich ging es in den meisten Fällen um das Leben der Verbrecher, auf die der Konverter oder – vielleicht noch schlimmer – das Straflager wartete. Die Männer kämpften mit der wilden Entschlossenheit von Todeskandidaten. Endlich erreichte Ra eine Tür, die mit hellroter Farbe gekennzeichnet war. Besondere Sicherheiten schien es nicht zu geben, aber Ra hatte als Kampfgefährte des Kristallprinzen breite Erfahrung im Umgang mit unverdächtigen Eingängen und Räumen. Er war auf jede Heimtücke vorbereitet. Zwei Thermitladungen wurden an der Tür befestigt, dann rannten die Männer rasch zurück. Hinter ihnen brach wenige Augenblicke später das Inferno aus. Sonnenhitze, auf engstem Raum geballt, ließ die stählerne Tür verdampfen und das umgebende Gestein in breiten Bächen herabfließen. Der Boden erbebte unter der Wucht der Explosion, und die drei Männer schnappten wie an Land geworfene Fische nach Luft, als die Hitzewelle an ihnen vorbeifegte. Ein Mitglied der Verbrecherbande, das den bedrängten Freunden zu Hilfe eilen wollte, wurde durch die Hitzewelle von den Beinen gerissen und über den Boden gefegt. Der Vormarsch zu der zerstörten Tür war eine Tortur, aber Ra wusste, dass er sich nicht viel Zeit lassen durfte, wenn er noch eine der führenden Persönlichkeiten der Bande zu fassen bekommen wollte. Dass er sich wieder einmal zu Recht auf seinen Instinkt verlassen hatte, wurde unwiderleglich klar, als er die Tür erreicht hatte. Die Herren der Unterwelt von Arkon II nahmen wenig Rücksicht auf ihre Kumpane, wenn es ihnen an den Kragen ging. Hinter der Tür war eine Selbstschussanlage eingebaut, die entsichert und einsatzbereit war. Wer immer die Tür zu öffnen wagte, wurde von einer Salve aus miteinander gekoppelten Handstrahlern im
Bruchteil eines Augenblicks atomisiert. Von der mörderischen Falle war nicht mehr viel zu sehen. Was die Thermitbomben nicht zerfetzt hatten, war zerstört worden, als die Magazine der Waffen hochgegangen waren. Nur annähernd ließ sich der Verwendungszweck der Konstruktion anhand der Überreste erraten. Ra passte auf, als er den Raum betrat. An vielen Stellen war der Boden mit noch zähflüssigem, geschmolzenem Metall bedeckt, und vor solchen Temperaturen schützten auch die Raumfahrerstiefel nicht, die die Männer an den Füßen trugen. Es galt, sehr sorgfältig die wenigen Stellen zu finden, an denen man den Fuß ohne Gefahr auf den Boden setzen konnte. Es war nicht jedermanns Sache, sich auf diese Weise fortzubewegen, aber die beiden Polizisten zögerten keinen Augenblick, nachdem Ra ihnen vorangegangen war. Aus eigenem Antrieb hätten die Männer es wahrscheinlich vorgezogen, den weiteren Fortgang der Ereignisse in Ruhe abzuwarten. Ra hatte das sichere Gefühl, dass mit der Selbstschussanlage das Repertoire seiner Gegner noch lange nicht erschöpft war – er irrte sich nicht, nur den hervorragenden Reflexen verdankte er sein Leben. Sie ließen ihn blitzschnell nach hinten kippen, als er den scheinbar soliden Boden des Ganges unter seinen Füßen wegsacken spürte. Im Boden des Ganges klaffte ein kreisrundes, mehr als drei Meter durchmessendes Loch. Ra schaffte es im Fallen gerade noch, eine halbe Drehung auszuführen, und bekam mit einer Hand die Kante zu fassen. Lange hätte er sich so nicht halten können, aber die Polizisten reagierten schnell und richtig. Schnell packten sie zu und zerrten Ra hoch, kurz bevor er endgültig abrutschen konnte. Er holte tief Luft. »Danke«, sagte er ächzend. »Das war verdammt knapp.« Langsam richtete er sich wieder auf. »Ich verspeise meine Uniform«, brummte er, »wenn diese Falle damit erledigt wäre.«
Er nahm eine Thermitbombe aus dem Gürtel, zog den Sicherungsstift und ließ den Sprengkörper über den Boden rollen. Im gleichen Augenblick, in dem die Bombe ins Loch fiel, zuckte aus der Tiefe eine Strahlensalve in die Höhe. Ob noch weitere Schüsse fielen, konnten die Männer nicht bestimmen, denn wenige Augenblicke später stieß die detonierende Thermitbombe eine rötliche Qualmsäule in die Höhe. Ra grinste, als er die käsigen Gesichter seiner Begleiter sah. Die Männer waren keineswegs feige, aber so viel infame Heimtücke ging über ihr Begriffsvermögen. Ohne Ra wären sie vermutlich abgestürzt, aber selbst wenn sie dieser Falle entgangen wären, hätten sie zweifellos versucht, das Loch zu überspringen. Dabei wären sie von den am Boden des Loches fest eingebauten Strahlern mit Sicherheit getroffen worden. Was die Waffen nicht erreichen konnten, musste von dieser Überraschung zumindest so irritiert werden, dass er in das Loch stürzte. Was dort auf die unglücklichen Opfer dieser Falle wartete, war nur noch in Bruchstücken zu erkennen. Ra vermutete, dass die Metallteile, die aus der Wand des Schachtes ragten, vor der Detonation der Thermitbombe einmal ein scharfkantiges Gitter gebildet hatten. Selbst Robots hätten wenig Chancen gehabt, den Aufprall auf die messerscharfen Stahlkanten zu überstehen. »Wer sind diese Kerle?«, fragte einer der Beamten bleich. Vorsichtig robbte er zurück und stand langsam wieder aus seiner liegenden Haltung auf. Ras Misstrauen war noch immer nicht beseitigt. Er richtete seinen Strahler auf die gegenüberliegende Wand und gab einen ungezielten Schuss ab. Die Beamten schrien überrascht auf, während Ra den Strahler zurücksteckte und zufrieden nickte. Er hatte mit derlei gerechnet. Der Gang, der auf der anderen Seite des Loches seine Fortsetzung hatte, endete in Wirklichkeit hart am Rand des Schachts. Die Fortsetzung war nichts weiter als eine
raffinierte Täuschung, wahrscheinlich durch ein kompliziertes System von Spiegeln und Linsen hervorgerufen. »Unfassbar«, stöhnte einer der Polizisten auf. »Richtig«, murmelte Ra. »Aber wo geht es jetzt tatsächlich weiter?« Den Polizisten war anzusehen, dass sie an der Klärung dieser Frage nicht sehr interessiert waren. Ihr Bedarf an Überraschungen war mehr als gedeckt. Ra überlegte kurz und kam zu der Überzeugung, dass der Eingang zu weiteren Räumen wahrscheinlich dort zu finden sein würde, wo man ihn am wenigsten vermuten würde. Obwohl er seiner Sache ziemlich sicher war, zog er es doch vor, sich vor Überraschungen abzusichern. Aus einem der benachbarten Lagerräume beschaffte Ra einen starken Strick, den er sich um die Hüften schlang und sorgfältig verknotete. Dann nahm er zwei Schritte Anlauf und sprang. Sein Fuß berührte auf der anderen Seite des Loches den Boden. Ra streckte die Arme aus und versuchte, seinen Schwung mit den Armen abzufangen. Gelang dies nicht, mussten ihn seine beiden Helfer an dem Seil wieder in die Höhe ziehen. Eine solche Rettung war nicht nötig, denn die scheinbar massive Wand aus Stein bewegte sich ohne jeden Widerstand zurück und versank nach einigen Metern im Boden. Ra winkte seinen Helfern zu; wenig später standen alle drei Männer auf der anderen Seite der Todesfalle. »Weiter!«, kommandierte Ra. »Ich bin sicher, dass wir die Burschen bald erwischt haben werden!«
13. Gellor Ma-Kynaan: Institutionen des Großen Imperiums, ein Wegweiser für Karrierebewusste (Sonderausgabe für unsere
terranischen Freunde); kopiergeschützte Kristallspeicherversion, 19.016 da Ark Khasurn – wörtlich übersetzt »Kelch« – ist einerseits eine Umschreibung für den Adel insgesamt und wird andererseits im Sinne »Haus, Geschlecht« verwendet: Ursprünglich war es der Name des arkonidischen Riesenlotos, auf den die typische Bauweise zurückgeht, weil er mit Stamm und Kelch schon ein fertiges Haus formte. In Ableitung davon ergibt sich die Gliederung in Kleine, Mittlere und Große Kelche zur Kennzeichnung des Adelsranges. Die Edlen Dritter Klasse gehören zum niedrigsten (Hinweis für unsere terranischen Freunde: der Rang entspricht etwa den irdischen Baronen), gekennzeichnet durch die Silben nert, ter und on; sie sind grundsätzlich mit Erhabener oder Erlauchte anzusprechen, obwohl dies bei anderen Adligen, Vorgesetzten oder älteren Personen ebenfalls vorgeschrieben ist. Der mittlere Adelsrang (Grafen gleichzusetzen) kennt die Stammsilben de, del und dom; ihre klassische Anrede lautet Edler oder Edle. Der Hochadel, Edle Erster Klasse, belehnt mit den Namenspräfixen Ta-, Ma- und Agh’, kann als Fürsten und Herzöge angesehen werden und besteht auf der Anrede Hochedler und Hochedle. Einziger Höchstedler ist der Imperator! Einschließlich der Unterklassifizierungen gibt es insgesamt 34 Adelstitel, während ganz unten die Essoya stehen: Symbol und Name der armen, bedeutungslosen, nichtadeligen Arkoniden, benannt nach einer grünen Blätterfurcht, die, wie zu hören ist, einem terranischen Kohlkopf recht ähnlich sieht. Und doch empfinden sogar sie sich jedem anderen Kolonialarkoniden oder erst recht einem Fremdvolk gegenüber weit überlegen. Deshalb, Karrierebewusster, der du dich anschickst, die Institutionen Arkons zu erobern, beachte die Feinheiten, die Untertöne, vor allem das, was nicht laut gesagt wird. Mit Missachtung und Hass gestraft zu sein ist ein schweres Los; unser aller geliebter Imperator, Seine Erhabenheit Gonozal VIII. weiß davon – diese terranischen Redensarten, herrlich! – eine lange Arie
zu singen …
Arkon I: 36. Prago des Eyilon 10.499 da Ark In einer steilen Parabel stieg das Wasser des hier vier Kilometer breiten Druncen-Stroms dreitausend Meter in die Höhe und fiel wieder in die Tiefe. Von Hunderten starker Scheinwerfer angestrahlt, glitzerte der weiße Schaum der Gischt. Kein Gast versäumte es, unter dem Bogen hindurchzufliegen. Selbstverständlich war durch unsichtbare Prallfelder dafür gesorgt, dass die Edlen und Feinen unter dem Bogen hindurchgehen oder -fliegen konnten, ohne einen Tropfen abzubekommen. Die Parabel aus Wasser war das Wahrzeichen des Khasurn, »Tor der Zoltrals« genannt. Die Konstruktion bestach durch die Technik und die Brillanz der Idee. Nicht sonderlich weit von der Südküste des Sha’shulukSichelbinnenmeers entfernt erhob sich unter dem »Torbogen« der »Wasserpalast« der Zoltrals – ein strahlend weißes Trichtergebäude mit traumhaft schönen Innengärten und einer fünfzig Meter durchmessenden Aussichtsplattform, die, von Prall- und Antigravfeldern getragen, aus dem Innenhof aufsteigen konnte. Der zylindrische Stiel des Riesentrichters war hundert Meter hoch und erreichte einen Durchmesser von vierhundert Metern; das Gebäude insgesamt hatte eine Höhe von fünfhundert Metern, der Kelchrand-Durchmesser betrug achthundert Meter. Umgeben war er von einem weitläufigen Park mit uraltem Baumbestand, aus dem sich vereinzelt kleinere Trichter erhoben – Gebäude, in denen hohe Gäste untergebracht werden konnten. Mancher Arkonide beneidete sogar das Dienstpersonal der Sippe um seine Unterkünfte. Arkon I, die Kristallwelt, hatte mehrere Milliarden Einwohner. Entsprechend rar waren die Eintrittskarten für das
Khasurnfest, entsprechend hohes Ansehen genossen die Personen, die eine solche Einladung bekamen. Ein Arkonide, der nicht mehr eingeladen wurde, war gesellschaftlich tot. Bei ihrer Anreise von Arkon II hatten Etir Baj und Alpertur keine Schwierigkeiten gehabt. Sie wurden in einer Privatjacht abgeholt, und bei solchen Fahrzeugen fiel die Dokumentenkontrolle sehr glimpflich aus. Alpertur betrachtete beim Anflug immer wieder die Karte, die ihn und Etir Baj zu der Feier einlud. Der Zaliter, der als Händler einen exzellenten Ruf zu verteidigen hatte, konnte sich nicht erinnern, dass jemals in der Geschichte des Imperiums eine solche Menge Carathay-Leder auf dem Markt gewesen war. Das Leder dieses überaus seltenen Tieres verschaffte dem, der es auf der Haut trug, ein leichtes Gefühl der Euphorie, ein sanftes Wohlbefinden. Es machte nicht süchtig, aber leider verlor das Leder nach zwei Jahren seine wohltuende Eigenschaft. Es entsprach dem Selbstwertgefühl der Zoltrals, dass sie ihre Einladungen auf Carathay-Leder gedruckt hatten. Es verstand sich von selbst, dass die Gäste diese Kostbarkeiten behalten durften. Allerdings würden sie Schwierigkeiten haben, die wertvollen Stücke zu veräußern, denn der Text der Einladungen war mittels eines unerhört aufwendigen Materiewandlungsverfahrens aus dem Leder herauskristallisiert worden. Man musste dazu »nur« den im Leder enthaltenen Kohlenstoff bewegen, in bestimmter Form an der Oberfläche des Leders zu kristallisieren – in Form lupenreiner Diamantsplitter. »Das ist Arkon«, sagte Alpertur leise und machte eine weit ausholende Handbewegung, mit der er den Park und die Parabel einschloss. »Die gesamten Einladungen sind zehnmal so wertvoll wie der gesamte Inhalt meiner Lager – und trotzdem werden die Zoltrals den Verlust kaum spüren. Ich frage mich nur, wie andere Familien diesen Schlag verdauen
werden. Immerhin müssen sie, wenn sie ihren gesellschaftlichen Rang behaupten wollen, in ähnlich eindrucksvoller Art ihr Khasurnfest feiern!« Bel Etir Baj schwieg verbittert. Vor Zeiten hatte auch sein Volk hier gelebt, waren die Con-Treh Arkoniden gewesen, nicht heimatlose Flüchtlinge, die ein Leben in steter Angst führen mussten. Während sich die Con-Treh furchtsam in den Höhlen von Magintor verborgen hielten, verschenkten einflussreiche Familien den Wert halber Planeten an eine Unzahl von Gästen, von denen sie den weitaus größten Teil vermutlich nicht einmal kannten. Inbrünstig hoffte Etir Baj, dass sich diese arkonidische Großmannssucht eines fernen Tages rächen würde. Ein hochgewachsener Zaliter nahm die beiden Gäste in Empfang und parkte den Gleiter, mit dem Etir Baj und Alpertur abgeholt worden waren. Die beiden Männer waren, wie es sich gehörte, unter den ersten Gästen. Als Erster zu kommen, galt als blamabel, eine Verspätung nur beim Hochadel als zulässig. Etir Baj wusste, dass dafür gesorgt worden war, dass er und Alpertur auf die Millitonta genau unpünktlich angekommen waren. Die Abweichung des Eintreffens vom offiziellen Beginn des Festes zeigte die soziale Ranghöhe an – wer sich mehr als schicklich verspätete, galt als ausgemachter Flegel. »Eigentlich ganz vorteilhaft«, murmelte Alpertur; die Männer schritten langsam durch den Park. Etir Baj fragte sich, wie es möglich war, dass der Park erleuchtet war, denn die Quellen des Lichtes konnte er nicht entdecken. »Wir können alle ankommenden Gäste beobachten. Jeder wird versuchen, möglichst eindrucksvoll aufzutreten.« Endlich fand Etir Baj die Lösung des Lichtproblems. Die Lampen wurden von kleinen Antigravplattformen in der Luft gehalten und dann durch Deflektorfelder unsichtbar gemacht.
Nur ein Teil des Lichtes durchbrach den Schutz dieser Felder und erhellte die Landschaft. Ein unerhörter technischer und finanzieller Aufwand für einen Effekt, der von den meisten Gästen wahrscheinlich überhaupt nicht bemerkt werden würde. Etir Baj schätzte, dass sich rund zehntausend Personen auf dem Grundstück unter der riesigen Wasserparabel bewegten, darunter natürlich viel Personal, denn wirklich wichtige Gäste würden erst im Verlauf der nächsten Tontas erscheinen. Vermutlich rangierten Etir Baj und Alpertur knapp über alten Bediensteten der Zoltrals, deren jahrzehntelange Ergebenheit zum Abschied mit einer Einladung honoriert wurde. Etir Baj lächelte, so, wie er es in dem Asteroiden Krassig gelernt hatte. Dieses Lächeln war eine perfekte Maske. Mit solchen Gedanken beschäftigt, wanderte Etir Baj neben dem geschwätzigen Zaliter durch den Park. Die zahlreichen Kunstwerke, die im Park aufgestellt waren, nahm der ConTreh nicht wahr. Es hätte seinen Abscheu nur noch verstärkt, hätte er gewusst, dass das Honorar des Künstlers, der die berühmte blaurote Sphäre geschaffen hatte – in einem diffusen blauen Nebel rotierte eine frei schwebende rote Kugel –, erheblich höher gewesen war als der Jahresetat Magintors. Der Weg der Männer führte am Stiel des Trichterpalastes vorbei, in dem die Spitze der Familie wohnte. Interessiert betrachtete Alpertur das Relief, das die gesamte Außenfläche des Hauses bedeckte. Der berühmte Altorg Hanar hatte es vor einigen Jahrhunderten geschaffen. Der Wert dieser Arbeit ließ sich in Zahlen kaum noch ausdrücken. Alpertur fragte sich, was mit dem Gebäude geschehen würde, wenn es alt und baufällig wurde. Die beiden Männer versuchten nicht, in das Innere des Hauses zu gelangen. Man hätte sie vermutlich sanft, aber nachdrücklich daran gehindert, denn dieser Bereich war nur auserlesenen Gästen zugänglich. Widerstandslos ließ sich Etir Baj mitzerren, als Alpertur in einem Winkel des
Gartens die aufgestapelten Lebensmittel und Getränke gesichtet hatte und zielstrebig darauf lossteuerte. Die Auswahl an Delikatessen aus allen Winkeln der Öden Insel verschlug selbst dem genusssüchtigen Alpertur die Sprache. Eins konnte jeder Gast bereits nach kürzester Zeit feststellen: Die Zoltrals hatten alles getan, um dieses Fest in jeder Beziehung zum Superlativ zu machen, ohne dies jedoch in der protzigen Weise zu tun, die bei anderen Khasurn so unangenehm auffiel. Allerdings wusste Alpertur, dass die Zoltrals einige Jahrtausende Erfahrung im Ausrichten glanzvoller Feste aufzuweisen hatten. »Immo!«, rief Alpertur und deutete auf den Torbogen. »Sieh!« Der Con-Treh folgte der Handbewegung mit den Augen. Ein kleiner Gleiter jagte mit höchster Geschwindigkeit im Tiefflug durch den Bogen, schoss steil in die Höhe und raste auf den großen Trichter zu. Wie von einer unsichtbaren Faust festgehalten, stoppte das Fahrzeug plötzlich. Feuerschweife zogen über den nächtlichen Himmel, als der Gleiter mindestens vierzig Raketen verschoss, die rasch nacheinander detonierten. Etir Baj hörte das Raunen der Menge, als sich die sprühenden Feuerbälle zu einem Bild vereinigten und von einer riesigen Holoprojektion überlagert wurden. Deutlich zu sehen war das Abbild einer modernen Raumjacht, die langsam über den Himmel zog. Plötzlich schlugen große Flammen aus den Luken, Explosionen waren zu sehen, das Raumfahrzeug neigte sich langsam dem Boden zu. Dann erkannten die völlig verblüfften Zuschauer, wie sich eine Luke öffnete und sich zwei Gestalten vom Raumschiff lösten. Während immer heftigere Explosionen die Jacht in Stücke rissen, schwebten die beiden Passagiere langsam und ungefährdet auf die Öffnung des Trichterpalastes zu. Niemand konnte sich erklären, wie die beiden Arkoniden plötzlich in die Raumschiffsprojektion geraten waren. So perfekt war das Schauspiel der Feuerwerkskörper gewesen,
dass viele Zuschauer allen Ernstes an ein havariertes Schiff geglaubt hatten. »Die Passagiere müssen sehr enge Freunde der Zoltrals sein«, stellte Alpertur fest. »Hast du das Emblem an der Spitze der Jacht gesehen? Danach wurde das Schiff in einer Werft gebaut, die den Zoltrals gehört. Ein lustiger Einfall.« »Fürwahr«, murmelte Etir Baj erbittert. »Sehr lustig.«
Orbanaschol war so gekommen, wie es seinem Geschmack entsprach, in der Begleitung einer kompletten Raumlandedivision, die sich, so hieß es, anschließend wieder in ihre Kasernen begeben würde. Manche hatten starke Zweifel an der Wahrhaftigkeit dieser Angabe. Es sah Orbanaschol III. außerordentlich unähnlich, sich ohne starken Begleitschutz in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der Imperator wirkte aufgeräumt, jovial, geradezu freundlich. »Sehr geschmackvoll«, lobte er die Arrangements. »Überaus geschmackvoll. Wer auch immer dieses Fest gestaltet hat, er verdiente es, in meine Dienste zu treten.« »Wer wäre wirklich dieser Auszeichnung würdig?«, fragte der Gastgeber höflich, den Doppelsinn der Worte geschickt verbergend. »Indes soll es mich freuen, wenn es Euch freut. Ich habe mir erlaubt, für Euer Kurzweil besondere Sorge zu tragen. Ihr werdet überrascht sein, Höchstedler.« Tamoas Vardgor Aktel da Zoltral zog sich mit einer Verbeugung zurück und überließ das zweifelhafte Vergnügen einer Unterhaltung mit dem Imperator seinen Gästen.
Im Freien tobte das Publikum vor Lachen. Regir da Quertamagin war so aufgetaucht, wie es seinem Ruf als dem Mann mit der schärfsten Zunge am Hof entsprach. Mit
kunstvollen Projektionen hatte er neben dem berühmten Wahrzeichen der gastgebenden Familie einen zweiten Bogen in der gleichen Größe erscheinen lassen und so das Firmenemblem eines Unternehmens kopiert, das seit Jahren Arkon mit einer fürchterlichen, aber nicht einmal billigen Fertigkost überflutete. »Ihr seid überaus sarkastisch, lieber Freund«, sagte Zoltral und schüttelte Quertamagin die Hand. »Ich versichere dir, dass meine Küche besser ist, als deine Anspielung vermuten lässt!« Quertamagin lachte unterdrückt. »Ich wusste, dass du den Scherz verstehen würdest. Ist er bereits hier?« Wer mit diesem »er« gemeint war, wussten alle Gäste des Festes. Für jeden Arkoniden, der sich noch etwas Selbstachtung bewahrt hatte, war es eine Tortur, den Imperator zu Gast zu haben. Die Clique von Schmeichlern und Speichelleckern, die den Imperator umgaben, sorgte dafür, dass auch andere Personen vor Orbanaschol katzbuckelten und krochen. Immer wieder mussten sich die Besucher bei Orbanaschol erniedrigen. »Er ist«, bestätigte Zoltral. »Freundlich und gefährlich wie immer. Nimm dich in Acht. Du weißt, dass er der Schärfe deines Witzes nicht gewachsen ist.« »Ich werde schon mit ihm auskommen. Ich fürchte Orbanaschol nicht.« Er trennte sich von Zoltral und durchstreifte auf eigene Faust das Gelände. Er konnte sicher sein, ausschließlich bekannte Gesichter zu sehen; in diesen Bereich des Hauses wurden nur Verwandte und gute Freunde geladen. Wäre es nach dem Willen des Gastgebers gegangen, so hätte sich auch der Imperator auf dem Parkgelände wiedergefunden, aber eine derartige Brüskierung hätte den Tod des Mannes zur Folge gehabt. Quertamagin kannte Festlichkeiten dieser Art zur Genüge. Er selbst hatte auch
schon oft als Gastgeber fungiert. Nach einiger Zeit erschöpften sich die Möglichkeiten, ein Fest mit Höhepunkten zu versehen, bis man genötigt war, auf Altbekanntes zurückzugreifen. Er beschränkte sich darauf, die Gesichter zu studieren. Wer dieser vielen Arkoniden unterstützte Orbanaschol aus freiem Willen, wer hätte ihm, falls es möglich gewesen wäre, die Gefolgschaft aufgekündigt? Quertamagin wusste, dass er aus den Gesichtern allein keine Antwort auf diese Fragen ablesen konnte. Die Zukunft würde zeigen, wie viele Arkoniden es gab, die das Gewaltregime des Diktators unterstützten und davon profitierten. Ein Mann näherte sich Quertamagin. »Mogbar Klote«, murmelte er. »Was treibt dich her? Ist etwas Wichtiges geschehen?« »Wir haben den Barbaren auf Arkon Zwei aufgetrieben«, berichtete der Gefragte; er war noch relativ jung und ein wenig übergewichtig. »Er ist irgendwie mit einer Verbrecherbande zusammengestoßen, die zurzeit von der Polizei ausgehoben wird.« »Woher weißt du das? Sind die Nachrichten sicher?« Mogbar Klote nickte hastig. »Wir hatten selbst einen Mann in die Reihen der Gangster eingeschleust. Unserem Mann ist gerade noch die Flucht geglückt, bevor die Polizei das Verbrechernest stürmte. Unser Mann ist absolut sicher, dass er in den subplanetaren Anlagen eine Person gesehen hat, auf die die Beschreibung des Barbaren bis aufs Haar passt.« »Ausgezeichnet«, lobte Quertamagin. »Versucht, den Barbaren im Auge zu behalten. Wir müssen diesen Mann zu fassen bekommen.« »Wir werden unser Möglichstes tun«, versprach Klote sofort, dann verschwand er wieder in der Menge. »Ein Diener von Euch?«, erkundigte sich eine junge Frau beiläufig. »Ihr beschäftigt organisches Personal?«
»Ich bin ein wenig altmodisch. Ich liebe es, Lebewesen um mich zu haben.« »Aber die Ansteckungsgefahr! Denkt an die vielen Bakterien und Viren, die von lebenden Wesen mitgeschleppt werden. Ich ziehe Maschinen vor; man kann sie oft genug unter eine Strahlendusche stellen, um sie absolut keimfrei zu halten.« Erst jetzt fiel Quertamagin auf, dass der Körper der Frau nicht völlig klar zu erkennen war. Die Konturen verschwammen leicht gegen den Hintergrund. Vermutlich schützte sich die übervorsichtige Frau mit einem hautengen Schirmfeld vor den Bazillen, die sie so sehr fürchtete. »Arkoniden sind weitaus reizvoller als Maschinen.« Eigentlich hatte er gar keine Lust, sich mit irgendjemand zu unterhalten, denn bei solchen Festen nahmen die Gespräche ohnehin nach kurzer Zeit stets den gleichen Gang. Da es aber aus Höflichkeitsgründen unerlässlich war, am allgemeinen Geplauder teilzunehmen, konnte es Regir gleichgültig sein, mit wem er seine Zeit vertat. »Das mag sein«, räumte der weibliche Hypochonder ein. »Ich habe gehört, unser verehrter Gastgeber habe es geschafft, die legendäre Methayda für ein Auftreten zu gewinnen. Kennt Ihr die Frau?« »Nur flüchtig«, murmelte Quertamagin, der spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. »Sie soll hervorragend begabt sein.« »Man munkelt …«, begann seine Gesprächspartnerin, aber Quertamagin hörte ihr nicht zu. Seine Gedanken waren weit vom Geschehen rund um das Fest entfernt. Er dachte an Methayda, deren Geheimnis in höchster Gefahr war, und das alles nur eines kleinen dunkelhäutigen Barbaren wegen.
Ra schwitzte. Er befand sich einige hundert Meter unter der
Oberfläche von Arkon II. Zudem war Ra in der letzten Tonta kaum zur Ruhe gekommen. »Wollen wir nicht umkehren?«, keuchte der Polizist an seiner Seite. Der zweite Beamte hatte kapituliert, hockte jetzt irgendwo in dem Labyrinth von Gängen und versuchte seinen Schock zu überwinden. Nach der dritten mörderischen Falle war er zusammengebrochen und nicht zu bewegen gewesen, noch einen Schritt zu tun, weder vorwärts noch rückwärts. Ra wusste, dass ein Verharren dem Mann nichts half, früher oder später musste er den Weg zurückgehen, den er gekommen war. Da er ihn nur belastet hätte, hatte Ra den Mann zurückgelassen, in der Hoffnung, dass er wieder zu sich finden würde. »Jetzt, so dicht vor dem Ziel?« Ra spürte, dass er Glahrn und der jungen Frau dicht auf den Fersen war. Und er war entschlossen, den Mann gefangen zu nehmen. Er wusste, dass eine solche Organisation nur aufzubauen war, wenn Glahrn höchst einflussreiche Freunde hatte, Freunde, die über Beziehungen und Informationen verfügen mussten. An diese Freunde wollte Ra herankommen. Auf seinem Weg durch die subplanetare Festung der Gangster hatte Ra genügend Beweismaterial gesehen, um die Bedeutung dieses Syndikats einschätzen zu können. Hier waren keine einfachen Profis am Werk gewesen; die Verbindungen der Gangster mussten bis hinauf in die Nähe des Imperators reichen, dessen war sich Ra sicher. Inzwischen hatte er genügend Erfahrungen im Umgang mit den Fallen des Labyrinths gesammelt. Er brauchte nur noch wenig Zeit, um die Hinterhalte zu erkennen und auszuschalten. Sein unfreiwilliger Begleiter schwitzte unterdessen Blut und Wasser. Es war dem Mann anzusehen, dass er es vorgezogen hätte, sich schnellstens abzusetzen, aber das hätte Fahnenflucht bedeutet und damit den sicheren Tod.
Deshalb ging der Beamte, der Not gehorchend, hinter Ra her und schickte immer wieder Stoßgebete zum Himmel in der Hoffnung, die Sternengötter mögen ihn erhören. Mit leichtem Grinsen hatte Ra festgestellt, dass der Mann sehr vorsichtig war – um ganz sicherzugehen, hatte er neben allen Göttern auch so ziemlich alle Götzen und Dämonen um Hilfe angefleht, die im Imperium angebetet wurden. Ra bog um eine Ecke des Ganges und verharrte. Mit einer Handbewegung bedeutete er dem Polizisten, sich hinter ihm zu halten. »Wir haben es geschafft«, murmelte er zufrieden. »Hier gibt es keine Fallen mehr.« »Die She’Huhan mögen geben, dass du dich nicht irrst.« Ra hatte inzwischen festgestellt, dass der Mann normalerweise bei der Verkehrsüberwachung tätig war. Aufgaben wie diese gingen weit über seine Kräfte, dennoch hatte er sich erstaunlich gut gehalten. Ra hätte ihn, wäre er dazu berechtigt gewesen, augenblicklich befördert. »Jetzt müssen wir nicht mehr nach Fallen Ausschau halten, sondern nach Personen.« Er hatte einen ungefähren Plan der Anlage im Kopf. Es entsprach logischem Empfinden, dass sich das Kernstück der Anlage in ihrem Mittelpunkt befand. Nach Ras Schätzung war er der geografischen Mitte bis auf wenige hundert Meter nahe gekommen. Es wäre ausgesprochen leichtsinnig und zudem überflüssig gewesen, auch diesen Teil des Verstecks mit Fallen zu spicken. Allerdings fragte sich Ra, was sich die führenden Köpfe der Bande hatten einfallen lassen, um ihren Bedrängern entkommen zu können. Die Polizei hielt den Bereich der Unterwelt, den die Gangster in ihren Besitz gebracht hatten, fest umschlossen, an ein Durchbrechen war nicht zu denken. Es sei denn, es gab noch kleinere Verbindungen zwischen einzelnen Räumen und Abteilungen. Ra schätzte die Kugel, die von den Gangstern beherrscht wurde, auf einen Durchmesser von mindestens zweihundert Metern. Es musste
der Polizei schwerfallen, sämtliche Löcher, die es an der Oberfläche dieser imaginären Kugel gab, zu stopfen. Wahrscheinlich gab es im ganzen Imperium niemanden, der einen genauen, umfassenden Plan von diesen Örtlichkeiten hatte. Seit Jahrhunderten wurde die Oberfläche des Planeten immer wieder baulich verändert, wurden ganze Städte abgerissen und neu und angeblich schöner wieder aufgebaut. Nur an dieser Unterwelt war wenig getan worden, sie war nicht geplant, vielmehr im Laufe vieler Jahre und unzähliger Änderungen und Umbauten wild gewachsen. Sich hier wirklich auszukennen war fast ausgeschlossen. Langsam bewegte sich Ra vorwärts, hinter ihm schlich, bleich, aber tapfer, der Polizist, der seinem Schicksal dankbar war, dass es ihm einen Vorgesetzten beschert hatte, der seinen Leuten voranging und sich nicht hinter ihnen versteckte. »Leise!« Vor den Männern wurde es allmählich lauter. Eine Maschine lief mit höchster Kraft und produzierte dabei einen ungewöhnlichen Lärm. Ein schrilles Kreischen erfüllte die Luft, gemischt mit Wimmern und Prasseln. Vergeblich versuchte sich Ra eine Maschine vorzustellen, die diese Geräusche hervorrufen konnte. Ra gab dem Polizisten ein Zeichen und blieb stehen. Er erinnerte sich, dass ziemlich genau über diesem Bezirk der Unterwelt ein großer Platz lag, der um diese Tageszeit wahrscheinlich von Tausenden Arkoniden gefüllt war. Zwischen dem Platz und dem Versteck der Verbrecher gab es nur wenig Hohlräume, denn der Platz existierte schon lange. Nie war auf ihm gebaut worden, unter ihm weg liefen nur wenige Leitungen und Rohre. Das bedeutete, dass es über den Köpfen der Männer eine feste Steindecke von beträchtlicher Dicke gab, mehrere hundert Meter massiven Felsgesteins. Es war ausgeschlossen, dass es dort ein Durchkommen gab.
Ra begann leicht zu grinsen. »Natürlich. Nur hier, nicht woanders.« Wenn die Polizei Pläne dieser Unterwelt hatte, war dort gewiss auch die Felsschicht aufgezeichnet. Jedem musste sofort klar sein, dass es dort keine Fluchtmöglichkeit gab. Genau das aber hatten sich die Gangster auch ausgerechnet. Sie waren raffiniert genug gewesen, sich genau dort einen Fluchtweg zu schaffen, wo er am wenigsten vermutet wurde. Ra machte eine Bewegung mit dem Kopf und schob sich weiter vorwärts, der Quelle des Geräusches entgegen. Der Gang endete in einem Antigravschacht, der senkrecht in die Höhe führte. An Arbeitsspuren war zu erkennen, dass dieser Schacht in Handarbeit aus dem Felsen gehauen worden war. Ra stieß sich ab und ließ sich in die Höhe tragen. Seufzend folgte der Polizist seinem Beispiel. Die Männer hatten frische Magazine in ihre Waffen geschoben. Der Lärm wurde von Meter zu Meter lauter und war am oberen Ende des Schachts nahezu unerträglich. Das half den Männern, sich der Quelle des Lärms ungehört zu nähern, vergrößerte aber das Risiko, selbst entdeckt zu werden. Aber die Gangster hatten in diesem Teil ihres Fuchsbaus keine Wachen aufgestellt. Ra und der Polizist könnten ungehindert den Schacht verlassen. Ra blickte noch einmal an der Wandung hinunter. Nach seinem Gefühl hatte er eine beträchtliche Strecke in dem Schacht zurückgelegt. Die Gesteinsschicht, die ihn noch von der Oberfläche trennte, konnte sicherlich nicht mehr sehr dick sein. Es war gefährlich, sich in diesem Bereich zu bewegen. Die Kammern und Räume, Gänge und Korridore waren nur roh aus dem Felsen geschlagen worden, kaum abgestützt und gesichert. Allem Anschein nach war dieser Teil der Anlage noch nicht völlig ausgebaut worden. Ra bedeutete dem Polizisten zurückzubleiben. Der Barbar hatte in einem Raum einen Mann gesehen, der intensiv mit einem Rechner
beschäftigt war. Der Mann war so in seine Arbeit vertieft, dass er Ra gar nicht wahrnahm, als dieser im Schutz des allgemeinen Lärms lautlos in den Raum schlüpfte. Ra wusste schnell, was die Arbeit des Mannes zu bedeuten hatte. In diesem Raum waren die Speicher der Positroniken untergebracht, mit denen die Gangster arbeiteten. Die Aufgabe des Mannes war es offenbar, die Inhalte der Speicher nach einer speziellen Katastrophenprogrammierung abzurufen, auszuwählen und in transportable Speichereinheiten zu senden. Mit einem Handkantenschlag streckte Ra den Mann nieder, er brach geräuschlos zusammen. Ra durchquerte zwei weitere Räume, dann hatte er die Lösung des Rätsels gefunden, die Quelle des infernalischen Lärms. Offenbar hatte man den großen Gesteinsbohrer in Einzelteilen herangeschafft, anders ließ sich das Vorhandensein der gewaltigen Maschine nicht erklären. Ra kannte derartige Geräte. Sie wurden meist bei Tunnelbohrungen eingesetzt. In einem komplizierten Zusammenspiel von Desintegratoren, Schirmfeldern, Traktorprojektoren und Kompressoren fraß sich eine solche Maschine in kurzer Zeit durch viele Meter festesten Gesteins und hinterließ dabei eine kreisrunde Höhlung. Spitzengeräte bewältigten einen Kilometer oder mehr pro Tag bei einem Tunneldurchmesser von bis zu zwanzig Metern. Was die Gangster planten, war auf den ersten Blick ersichtlich. Sie wollten die letzten Meter der Felsschicht durchbohren. Tauchten sie auf dem großen Platz plötzlich auf, würden sie die allgemeine Verwirrung ausnutzen, um sich abzusetzen und zu verschwinden. Dabei spekulierten die Verbrecher mit der Mentalität der Arkoniden. Sie vertrauten darauf, dass die Passanten erst einmal abwarten würden, was für ein Ungeheuer plötzlich aus dem Boden aufstieg, erst dann würden sie die Polizei alarmieren. Diese Zeitspanne reichte für
die Zwecke der Gangster vollauf aus. Noch war der Bohrer nicht startbereit. Offenbar war die Maschine erst vor kurzer Zeit installiert worden. Ra konnte Glahrn sehen, der in dem Gestänge herumturnte und erbittert fluchte. Themar saß in der Führerkabine des Tunnelbohrers. Sie entdeckte Ra sofort und stieß einen lauten Schrei aus, der aber in dem Getöse unterging. Themar versuchte, ihren Partner mit Handzeichen auf die Gefahr aufmerksam zu machen, aber Glahrn war zu sehr mit der Maschine beschäftigt. Ra winkte Themar zu, forderte sie mit Zeichen auf, sich zu ergeben und die Maschine zu verlassen. Themar zog einen Strahler und feuerte auf Ra. Gerade noch rechtzeitig konnte sich Ra zur Seite werfen. »Bestie!«, zischte Ra und suchte schleunigst eine neue Deckung, als die Frau sein Versteck systematisch unter Feuer nahm. Sie mochte Sympathie für Ra empfunden haben, aber in diesem Augenblick war ihr die eigene Haut entschieden wichtiger. Aus den Augenwinkeln heraus sah Ra, wie sein Begleiter langsam näher kam. Er hielt sich dabei sorgfältig außerhalb des Bereichs auf, den Themar und Glahrn mit ihren Waffen bestreichen konnten. Entsetzt sah Ra, dass der Mann am Gürtel nestelte. »Stopp!«, brüllte der Barbar, aber er wurde nicht gehört. Der Beamte hatte begriffen, dass er die Köpfe der Bande gefunden hatte; er hatte keine Lust, sich diesen Fang wieder entgehen zu lassen. Ohne sich um den lebhaft protestierenden Ra zu kümmern, entsicherte er eine Thermitbombe und warf das Geschoss zu der Tunnelfräse hinüber. Ra zögerte nicht länger, sprang so schnell wie möglich auf und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. In seinem Nacken lauerte der Tod. Hielten die Schirmfelder der Tunnelfräse der Bombe nicht stand, würde die Explosion auch den schweren Reaktor der Fräse zünden. Was dann geschah, wagte sich Ra nicht
auszumalen. Er rannte, bis seine Lungen zu schmerzen begannen. Obwohl schwarzrote Schleier vor seinen Augen wallten, zwang er sich weiter vorwärts. Als ihn die letzten Ausläufer der Explosion erreichten, war er bereits so erschöpft, dass er sich gegen den Luftstoß nicht mehr zur Wehr setzen konnte. Die Druckwelle stieß ihn vorwärts, die Knie gaben nach – und mit einem dumpfen Laut prallte Ra auf den Boden. Er verlor schlagartig das Bewusstsein.
Regir da Quertamagin langweilte sich maßlos. Er hatte ein vorzügliches Gedächtnis, auch ohne den fotografischen Bereich seines Extrasinns in Anspruch zu nehmen, und dieses Gedächtnis machte ihm immer wieder klar, dass er mehr als die Hälfte der gesprochenen Dialoge bereits kannte. Man musste nur die Namen der/des Geliebten, die Farbe des Anzuges/Kleides austauschen, dann bekam man für jeden Gesprächspartner eine neue Möglichkeit der Unterhaltung. Quertamagin starrte über die Brüstung des Trichterhauses hinunter in den Park. Dort hatten sich ein paar jüngere Leute zusammengetan und das Fest in ihrem Sinne umgestaltet. Regir konnte das freie Lachen der jungen Leute heraufschallen hören und murmelte seufzend: »Beneidenswert.« »Beeilt Euch«, mahnte ein Gast seinen Nachbarn. »In wenigen Zentitontas soll die berühmte Methayda ihren Auftritt haben.« Quertamagin atmete tief ein, ehe er sich dem Strom der Gäste anschloss. Ziel der kleinen Völkerwanderung war die Bodenplattform des Trichters, wo eine kleine Arena improvisiert worden war. Seit Tontas führten auf der Fläche Gaukler aus allen Teilen des Imperiums ihre Kunststücke vor. Illusionisten waren aufgetreten, Feuerfresser und sogar ein sehr exotisch gekleideter Arkonide, der – angeblich – eine
Patrone Sprengstoff geschluckt und als Feuerwerk wieder ausgespien hatte. Das verwöhnte Publikum hatte sich kaum darum gekümmert. Eine Frau stieß Regir mit dem Ellbogen an. »Das ist sie!« »Ich weiß«, murmelte Quertamagin düster. Methayda war sehr schlicht gekleidet, ein krasser Gegensatz zu den prunkvollen Roben der anderen Gäste. In ihrer Begleitung befand sich der ebenfalls berühmte Magier und Illusionist Telfonkh, zusammen mit einer Schar Hilfspersonal. Telfonkh trat als Erster auf, schaffte es tatsächlich, seine Zuschauer zu fesseln. Niemand, Regir ausgenommen, wusste, dass die verblüffenden Tricks eigentlich recht einfach waren – man hatte sie nur im Laufe vieler Jahrhunderte vergessen. Vor allem verblüffte der Mann sein Publikum durch die Tatsache, dass er ohne jedes technische Gerät arbeitete. Nur einmal gab es in der Vorführung einen kleinen Zwischenfall. Telfonkh verwandelte gerade einen Blumenstrauß in eine Schar kleiner Vögel, als ihn einer seiner Assistenten unabsichtlich rempelte. Der Trick misslang kläglich. Eine Handvoll Fische lag Luft schnappend am Boden, die restlichen Blüten flatterten aus eigener Kraft davon. »Tölpel!«, rief der Magier und versetzte dem Assistenten eine Ohrfeige. Der Mann war wesentlich jünger als der Magier und nicht gewillt, sich so behandeln zu lassen. Er holte aus und versetzte Telfonkh einen wuchtigen Faustschlag an den Kopf. Der Magier brach wie vom Blitz getroffen zusammen, begleitet von einem entsetzten Aufschrei der Zuschauer. Zwei Männer liefen sofort auf die Bühne und kümmerten sich um den zusammengebrochenen Alten. Schon nach kurzer Zeit erhoben sie sich wieder. »Kein Puls, keine Atemtätigkeit«, stellte einer der Männer fest. »Der Mann ist tot!« Lähmendes Entsetzen machte sich breit, die Zuschauer
betrachteten einander ängstlich und verwirrt. Nur Quertamagin lehnte gleichmütig an einer Säule. Der junge Mann, der den Magier getötet hatte, wurde sofort von zwei zivilen Polizisten festgenommen. Regir sah, wie einer seine Waffe zückte und den jungen Mann erschoss. Eine gespenstische Stille entstand. Polizisten packten den Leichnam des jungen Mannes und flogen mit ihm, für alle auf riesigen Projektionsflächen sichtbar, zum Rand des Trichterpalastes. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Der alte Magier, dessen vermeintlicher Mörder soeben vom Rand des Trichterhauses herabgeworfen worden war, bewegte sich wieder. Telfonkh stöhnte und ächzte. »Ich brauche meine Medizin«, jammerte er lautstark. »Sie steckt in der hölzernen Kiste dort.« Er deutete auf den Behälter, der schon seit Beginn der Vorstellung auf der Bühne stand und einigen seiner Helfer als Sitzgelegenheit diente. Die Assistenten öffneten die große Kiste. Quertamagin konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Orbanaschol, der offenbar nicht begriff, was sich vor seinen Augen abspielte. Der Imperator wurde weiß, als der erschossene Assistent aus der Kiste stieg und dem alten Magier seine Medizin übergab. Orbanaschols Blick wanderte unsicher über das begeistert applaudierende Publikum. Jeder konnte ihm ansehen, wie sehr er erschrocken war. Der junge Mann war vor seinen Augen erschossen und dann vom Trichterrand gestürzt worden – wie kam er jetzt in die Kiste? »Fantastisch, dieser Trick«, schwärmte einer von zwei jungen Männern neben Quertamagin. »Es ist kein Trick. Es handelt sich um eineiige Zwillinge. Deshalb führt er den Trick auch so selten vor.« Der junge Mann wurde bleich und zog seinen Zwillingsbruder mit. In wenigen Augenblicken waren sie verschwunden. In diesem Augenblick bedauerte Quertamagin seinen boshaften Scherz, aber er hatte sich abreagieren müssen. Äußerlich zeigte er
keinerlei Anzeichen einer Gemütsbewegung, in seinem Innern jedoch tobte die Angst. Nur sehr genaue Beobachter hätten feststellen können, dass sich trotz der nächtlichen Kühle feine Schweißtropfen auf seiner Stirn gebildet hatten.
Methaydas Auftritt verlief weniger geräuschvoll, aber nicht minder eindrucksvoll. Die Antworten, die sie gab, verrieten, dass sie sich hervorragend auskannte. Sie spielte auf Dinge an, die niemand außer den Betreffenden wissen konnte, nannte Namen und Daten, die als streng geheim galten. Ein hoher Offizier wurde ohnmächtig, als die alte Frau ihm mitteilte, dass er in wenigen Tagen entlassen werden würde. Die Angaben der Frau waren selbstverständlich korrekt, sie machte keinen Fehler. Sie las aus der Hand, erforschte die Vergangenheit und erklärte die Zukunft. Während die Zuschauer leise die verblüffenden Fähigkeiten diskutierten, betrachtete der Imperator aufmerksam die bemerkenswert alte Frau. Jeder konnte förmlich sehen, wie sich seine Erregung steigerte. Die Greisin war zweifellos ein Phänomen. Sofern sie keine Hellseherin oder Prophetin war, musste sie über unglaublich gute Nachrichtenverbindungen verfügen. Sie kannte jede Kleinigkeit des Hofklatsches, und nur Orbanaschol wusste, dass er selbst vor wenigen Tontas die Entlassung des hohen Offiziers veranlasst hatte. Der Imperator stand langsam auf und ging zu der Gruppe hinüber, die sich um die Frau gebildet hatte. Es ärgerte ihn, als er nur zögernd durchgelassen wurde. »Sagt auch mir, was mir die Zukunft bringen wird«, forderte Orbanaschol die alte Frau auf, deren Gesicht von unzähligen Falten bedeckt war. Er streckte ihr die rechte Hand entgegen. Langsam fasste die Frau zu, sah Orbanaschol aufmerksam an. In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel. Dann beugte sie sich
über die Fläche, studierte die Linien der Hand. »Ich sehe Freunde, Imperator«, sagte sie laut genug, um viele das Gespräch mithören lassen zu können. »Ihr habt einige Freunde, die Euch nie verlassen werden. Solltet Ihr von ihnen getrennt werden, dann nur für kurze Zeit.« »Wie lange werde ich regieren?« »Nachkommen werden Eure Regierungszeit als sehr lang bezeichnen. Man wird noch sehr lange nach Eurem Tod von Euch sprechen und sich Eurer erinnern.« Quertamagin glaubte seinen Herzschlag aussetzen zu fühlen. Was die Frau wagte, konnte gradlinig zum Tod führen. Die Arkoniden in ihrer Nähe standen wie erstarrt. »Werde ich bald sterben?«, fragte Orbanaschol erregt. »Nein. Euer Einzug in die Hallen von Hocatarr wird noch lange auf sich warten lassen.« Orbanaschol zog seine Hand zurück und lächelte zufrieden. »Wer seid Ihr wirklich, woher kenne ich Euch?« Er bekam keine Antwort, weil sich sofort einige Personen näher an die Greisin schoben und sie ebenfalls mit Fragen bedrängten. Orbanaschol machte ein verärgertes Gesicht, watschelte dann aber wieder zu seinem Ehrensessel. Quertamagin schloss die Augen und holte tief Luft. Erleichtert lehnte er sich an eine Säule aus kühlem Marmor. Eine Gestalt näherte sich ihm langsam. »Hochedler!«, sagte der Mann. »Wichtige Nachricht!« »Sprich. Was gibt es, Mogbar?« »Wir wissen inzwischen, wo der Barbar steckt.« »Endlich. Und wo befindet er sich jetzt?« »Bei der Polizei«, berichtete Klote niedergeschlagen. »Er wurde verhaftet!«
»Dräng dich nicht vor! Du wirst nur auffallen!«
Etir Baj versuchte vergeblich, den Zaliter am Arm festzuhalten. Alpertur riss sich los und verschwand im Gedränge. Etir Baj fluchte leise in sich hinein. Die beiden Männer hatten den Auftritt der berühmten Wahrsagerin nur über Bildprojektionen miterlebt, aber Alpertur war schon nach wenigen Augenblicken fest davon überzeugt gewesen, dass nur ein Gespräch mit Methayda seinem Leben noch einen Sinn geben könne. Jetzt war er verschwunden, wahrscheinlich würde er sich mit Ellbogen und seiner flinken Zunge einen Weg ins Innere des Palastes bahnen. Bel Etir Baj wanderte länger als zwei Tontas durch den Park. Das Fest näherte sich langsam dem Ende – zumindest für die Ehrengäste. Orbanaschol war bereits verschwunden, die großen Namen machten sich ebenfalls allmählich rar. Dafür feierte das übrige Publikum umso intensiver weiter. Besonders turbulent ging es in einem Winkel des Parks zu, wo die Absolventen des ZoltralStipendiums der Galaktonautischen Akademie von Iprasa ein eigenes Fest aufgezogen hatten. Als Etir Baj sich endlich von der munteren Gruppe löste, fühlte er sich prächtig, auch wenn er sich darüber klar war, dass er regelrecht versackt war. Die Uhr sagte ihm, dass er wenigstens vier Tontas länger geblieben war, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Von Alpertur fehlte jede Spur. Am Ausgang des Parks waren die Posten abgezogen worden. Wer wollte, konnte jetzt mitfeiern, solange die Vorräte reichten. Etir Baj konnte sich ausrechnen, dass die Stipendiaten feiern würden, bis der letzte Tropfen ausgetrunken war – und das konnte sich noch über Tage erstrecken. »Ein munteres Völkchen«, murmelte Etir Baj grinsend. Er hatte einen kleinen Rausch und fühlte sich aufgeräumt und fröhlich. Diese Stimmung verflog sehr schnell, als Etir Baj den Gleiter auf sich zurasen sah. Das Fahrzeug verhielt knapp neben dem Con-Treh, vier Männer sprangen heraus und
umringten Etir Baj. »Kommen Sie bitte mit«, forderte einer der Männer Etir Baj auf. »Es handelt sich weder um eine Verhaftung noch um einen Überfall, aber wir haben strikte Anweisungen.« Etir Baj folgte der Aufforderung. Die Waffen in den Händen der Männer ließen ihm keine andere Wahl; es war ihm lieber, auf diese Weise abtransportiert zu werden, als nach einem Paralysatorschuss das gleiche Schicksal zu erleiden und an den Nachwirkungen des Schusses tontalang zu leiden. Etir Baj wurden die Augen verbunden, dann setzte sich der Gleiter wieder in Bewegung. Wenig später befand er sich auf dem Rückflug nach Arkon II. An Bord mussten sich, sofern sein Gehör noch funktionierte, mindestens noch vier weitere Personen aufhalten. Etir Baj erkannte die Stimmen von drei Männern und einer Frau. Nervös begann sich er sich zu fragen, was man mit ihm zu tun gedachte. Was hatte der Zaliter Alpertur der Frau erzählt, die sich Methayda nannte und deren Stimme Etir Baj herausgehört hatte?
Als Ra wieder zu sich kam, lag er auf einem flachen, harten Bett. Ächzend richtete er sich auf. Wenige Augenblicke später war ihm klar, wo er sich befand. Offenbar ihn hatte die Polizei besinnungslos aufgelesen und mitgenommen. Jetzt war er vorläufig festgenommen. Sein Schädel schmerzte, er verspürte auch Hunger, aber wichtiger für ihn war jetzt, seine Freiheit wiederzubekommen. Wurde er nicht sehr bald entlassen, würde er arge Schwierigkeiten bekommen. Ra griff in seine Taschen. Er war waffenlos, seine Papiere waren ebenfalls verschwunden. Was das bedeutete, brauchte er sich nicht erst lange auszurechnen. Einer oberflächlichen Kontrolle würden die Dokumente noch standhalten, aber wenn man sich ernsthaft mit ihnen beschäftigte, würde die Polizei nach kurzer
Zeit wissen, dass die Papiere gefälscht waren. Und bei den Methoden, die von der arkonidischen Polizei praktiziert wurden, würde es auch nicht lange dauern, bis man herausgefunden hatte, wer Ra wirklich war. Er fluchte leise, aber er konnte nichts unternehmen. Die Fenster waren mit Energiegittern gesichert, Boden, Wände und Decke waren fest und solide. Er wartete nur kurze Zeit, dann wurde seine Zelle geöffnet. Ein finster dreinblickender Mann stand im Rahmen und starrte Ra an. »Mitkommen!«, befahl er knapp. »Beim geringsten Widerstand wird sofort scharf geschossen!« Damit hatte Ra gerechnet. Er wurde in ein Verhörzimmer geführt. In einer Ecke des düsteren Raumes stand, sorgfältig ausgeleuchtet, eine Psychohaube. Ra wusste: Wurde das Gerät aktiviert, würde von ihm nicht mehr übrig bleiben als ein Haufen von Zellen, die kaum fähig waren, die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Im günstigsten Fall blieb er als lallender Idiot zurück. Ra warf einen Blick auf die Maschine und leckte sich nervös die Lippen. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann und kommentierte Ras Befangenheit mit einem Lächeln, dem nicht anzusehen war, wie es gemeint war. »Wie kommst du zu der Polizeiuniform?« Ra zog es vor, keine Antwort zu geben. Was hätte er dem Mann auch erzählen sollen? Wahrheit oder Lüge wären für ihn gleichermaßen bedrohlich geworden. »Wenn du nicht reden willst«, sagte der Beamte, den Abzeichen nach ein hoher Offizier, »wir haben auch andere Mittel.« Er deutete auf die Psychohaube und lächelte sarkastisch. Dann trommelte er eine Zeit lang mit den Fingerspitzen auf der Platte des Schreibtischs. Zentitontas vergingen, bis der Mann die Geduld verlor. Mit einem Knopfdruck rief er zwei Beamte herein, die Ra ergriffen und zur Haube schleppten. Ra wehrte sich, obwohl er sich wenig
davon versprach. Die Männer waren stärker und geübter als Ra; nach kurzer Zeit hatten sie ihn auf dem Stuhl festgeschnallt. In diesem Augenblick betrat ein Mann den Raum und zeigte seinen Ausweis vor. Der Mann machte ein sehr entschlossenes Gesicht; sein Ausweis besagte, dass er aktiver Agent der Tu-Gol-Cel war. »Wir brauchen diesen Häftling«, sagte der TGC-Mann. »Er ist von besonderer Bedeutung für uns.« Der Leiter der Dienststelle machte ein finsteres Gesicht. »Haben Sie einen entsprechenden Befehl?« »Brauche ich so etwas? Wissen Sie nicht, welche Vollmachten ich habe?« Die Anspielung war mehr als deutlich; der Polizist schluckte – er bedeutete seinen Männern, Ra loszubinden. Zwei weitere Männer betraten den Raum und fesselten Ra erneut, schleppten ihn aus dem Raum. Schweigend verstauten die Männer Ra auf der Ladefläche eines kleinen Transportgleiters. Der Mann, der sich als Mogbar Klote vorgestellt hatte, setzte sich hinter das Steuer und startete den Gleiter. »Nur keine Sorge, Ra«, sagte er. »Du bist unter Freunden!« Ra fand diese Bemerkung überhaupt nicht witzig und fletschte die Zähne, was dem Mann am Steuer ein erneutes Grinsen abnötigte.
Pathor Margib fluchte leise in sich hinein, Mehn Sulk wanderte unruhig im Raum auf und ab. »Wir hätten besser aufpassen müssen«, stellte Sulk erbittert fest. »Wer konnte ahnen, dass Perytlth einen derartigen Tatendrang entwickeln würde?« Die Männer hatten gerade die neuesten Nachrichten gehört. Nach diesen Informationen war in den letzten Tontas eins der größten Verbrechersyndikate ausgehoben worden, die Arkon II je gesehen hatte.
Bedauerlicherweise waren dabei die beiden Rädelsführer ums Leben gekommen. Helden des Tages waren ein verkrüppelter Mann namens Perytlth und ein unbekannter Fremder, der in der Uniform eines Polizisten aufgefunden worden war. Die TGC-Männer hatten sofort gewusst, wer dieser Fremde gewesen sein musste. »Was machen wir jetzt?« Margib fasste als Erster einen Entschluss. »Ich rufe bei der Polizei an und fordere die Herausgabe des Fremden. Wenn der zuständige Beamte mehr wissen will, lasse ich ein paar geheimnisvolle Bemerkungen fallen – Sonderkommando, Spezialauftrag des Höchstedlen. So etwas wirkt immer.« Mit einer Handbewegung erklärte sich Sulk mit diesem Vorschlag einverstanden. Das Gespräch dauerte nur wenige Zentitontas, dann wussten die Männer Bescheid. Mehn Sulk murmelte etwas und setzte sich an das Eingabesegment einer Positronik. Nach kurzer Zeit stand das Ergebnis fest. »Es gibt zwar einen Mogbar Klote in der Tu-Gol-Cel, aber er hatte keinen Auftrag, sondern eigenmächtig gehandelt. Hm, in seinem Dossier steht, dass er enge Beziehungen zu Regir da Quertamagin unterhält«, sagte er triumphierend. »Der Barbar ist mit einem Trick aus der Hand der Polizei entführt worden. Ich bin sicher, dass dahinter mehr steckt, als wir auf den ersten Blick vermutet haben. Soll ich eine Einsatzgruppe alarmieren?« »Wir müssen diesen Burschen finden.«
Der Raum war groß und gemütlich eingerichtet. Drei Personen saßen darin und starrten nach Möglichkeit aneinander vorbei. Aber immer wieder wanderte Ras Blick zu der alten Frau hinüber, die ihm merkwürdig bekannt erschien. Man hatte ihn in diesen Raum geführt, seine Fesseln gelöst und ihm befohlen zu warten. Wenig später war die gebückt schlurfende Greisin
erschienen und hatte sich schweigend auf einen freien Platz gesetzt. Abermals einige Zentitontas später wurde Etir Baj in den Raum geführt. Die Männer wussten, was auf dem Spiel stand, und verrieten mit keiner Miene, dass sie sich kannten. Leise öffnete sich die Tür. Mogbar Klote erschien, in seiner Begleitung ein unbekannter Mann. »Ich bin Regir da Quertamagin«, sagte der Mann freundlich. Ra fiel auf, dass er das R ungewöhnlich hart aussprach. »Du bist Ra, der Barbar – jedenfalls wurdest du mir so bezeichnet …« »Bel Etir Baj«, sagte der Con-Treh lakonisch. Er hatte inzwischen die Seherin Methayda erkannt. Quertamagin stutzte, dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Du bist ein Con-Treh!« Bel Etir Baj wurde fahl. »Keine Aufregung. Seit langer Zeit helfen wir den Con-Treh, wo wir nur können – vor allem dadurch, dass wir ihr Geheimnis bewahren. Du kannst beruhigt sein, Bel Etir Baj, niemand wird euch oder Ark’alor verraten. Der Traditionsvorname Regir des Khasurn-Oberhaupts geht bis auf jenen Regir zurück, der euch dorthin gebracht hat …« »… und auf Ark’alor gestorben ist.« »… mit Wissen und Billigung Seiner Erhabenheit, Gonozals des Dritten!« Während der Con-Treh noch fahler wurde und einen Blick mit Ra wechselte, wandte sich Quertamagin an den Barbaren: »Du bist der Mann, der beim Zalitischen Händlerfest Furore machte und das Attentat auf Orbanaschol verhinderte. Warum?« Ra lächelte und schwieg. »Ich will es dir sagen«, mischte sich die Frau ein, die plötzlich gar nicht mehr so gebeugt saß. »Du hast in dem Maskenträger einen Freund erkannt.« Nur ein leises Zucken verriet Ras Überraschung. »Du erkanntest deinen Freund Atlan, deshalb konnte dich
der Maskenträger überwinden. Dann aber wurde dir klar, dass der Mann nicht Atlan sein konnte, denn du weißt, wo sich der Kristallprinz aufhält.« Im Mikrokosmos, sofern er überhaupt noch lebt, dachte Ra bekümmert, schwieg aber weiter. »Du schweigst, also stimmst du mir zu. Wo ist Atlan?« Ra lächelte die Frau freundlich an, fest entschlossen, auch weiterhin keine Informationen preiszugeben. »Regir, was meinst du?«, wandte sich die Frau an den Mann. »Sind sie Freunde Atlans? Oder suchen sie ihn, um ihn zu töten? Können wir ihnen trauen?« Diesmal reagierte Ra heftiger. Er hatte ein natürliches Empfinden für Stimmungen; sein Instinkt sagte ihm, dass die Sorge der Frau echt, nicht gespielt war. »Für Atlan und Arkon«, sagte er halblaut. »Auf Leben und Tod!« Die Frau zuckte zusammen und fuhr herum. »Bitte?« Ra wiederholte die Formel. »Du musst mir sagen, wo er ist, ich muss es wissen!« »Die Tu-Gol-Cel auch«, stellte Etir Baj kalt fest. Er hätte Ra am liebsten verprügelt, denn der Barbar hatte mit seiner Reaktion eindeutig bewiesen, dass der Attentäter auf Orbanaschol nicht der Kristallprinz gewesen sein konnte. »Vertrauen gegen Vertrauen«, sagte Quertamagin. »Das Attentat auf Orbanaschol wurde von uns inszeniert.« Ra starrte den Mann ungläubig an. »Mit einer untauglichen Waffe?« »Der junge Mann, der die Rolle des Maskenträgers gespielt hat«, sagte die Frau zögernd, »war ein Freund unserer Sache. Er war sehr krank, kurz nach den Kämpfen wäre er mit Sicherheit gestorben. Er wusste, wie ähnlich er Atlan war, dessen Bild ja seit seinem Auftritt vor den Pressevertretern am vierundzwanzigsten Prago des Messon zehn-viersiebenundneunzig da Ark auf Largamenia nach der ARK
SUMMIA überall bekannt ist. Darum hat er uns förmlich gezwungen, dieses Spiel mitzumachen. Wir wollten Orbanaschol und seine Häscher auf eine falsche Spur locken. Ein wirkliches Attentat war selbstverständlich nicht geplant, mit solchen Mitteln arbeiten wir nicht.« »Wer ist wir?«, fragte Ra kühl. Quertamagin biss sich auf die Lippen, dann berichtete er vom Ende Lartogs. Ra spürte, dass sich der Mann schwere Vorwürfe machte, aber das konnte den Tharg’athor nicht wieder ins Leben rufen. Als Quertamagin endete, ergriff wieder die Frau das Wort. »Ich muss wissen, wo Atlan ist!« »Warum?«, fragte Ra einfach. Die Antwort war ebenso einfach; sie griff an ihren Hals und löste die Faltenmaske vom Gesicht. »Ich bin seine Mutter!«
14. Aus: Privatlog Imperatrix Yagthara (geb. Agh’Hay-Boor; 10.433 bis 10.515 da Ark), Eintrag vom 35. Prago des Dryhan, 10.479 da Ark; Arkon I, Khasurn-Archiv derer von Gonozal … trotz leichter Geburt am frühen Morgen von Gonozals Starrsinn sehr deprimiert und verärgert! Bauchaufschneider Fartuloons letzter Versuch eines Zuspruchs half ebenfalls nicht; mein Gatte besteht kategorisch auf der Namensgebung »Mascaren«, ich dagegen möchte den Jungen weiterhin »Atlan« nennen, weil ich fest davon überzeugt bin – nur Wunschtraum einer glücklichen Mutter? Oder mehr? Im Zhy liegen Kraft und seherische Weisheit! – , dass er wie der Heroe aus den Sagen ein besonderes Schicksal haben wird, wichtig für Arkon und das gesamte Imperium! Den Fetten erfreut unser Streit natürlich; kann so weitere Giftspritzen schleudern. Warum erkennt Gonozal nicht den schlechten Charakter seines Bruders Veloz? Schwager Upoc jedenfalls hat sich schaudernd
abgewandt; will sich nur noch seiner Musik widmen …
»Mein wirklicher Name ist Yagthara«, sagte sie leise und lächelte, als schmerze es, sich dieser Tatsache zu erinnern. »Ich war die Frau des ermordeten Imperators Gonozal. Atlan, der Kristallprinz, ist mein Sohn.« Während Ra noch mühsam diese Informationen verdaute, geschah etwas, womit er niemals gerechnet hätte. Etir Baj stand langsam auf, reichte der Frau die Hand und verbeugte sich. Ein Gonozal war es gewesen, der nach Ansicht der ConTreh für das elende Schicksal dieses Volkes verantwortlich war; seit dieser Zeit hassten die Con-Treh alles, was mit diesem Namen zu tun hatte. Einzig Etir Baj hatte es geschafft, sich von diesem Kollektivhass zu lösen – wie sehr, das zeigte seine Geste. Schneller als Ra hatte er überdies die Zusammenhänge erkannt und feststellen müssen, dass die Gonozals und Quertamagins von jeher engstens zusammengearbeitet hatten und dies bis heute taten. Wenn aber ein Nachkomme des Retters der Con-Treh der Frau eines Gonozal half …
Margib seufzte leise auf und rieb sich die Nase. »Was machen wir jetzt? Wir können doch nicht einfach vor Quertamagins Wohnsitz aufmarschieren und sein Personal unter die Lupe nehmen. Der Mann ist ein Freund des Imperators, überdies das Oberhaupt eines der mächtigsten Khasurn. Wenn wir so einen Hochedlen ärgern, wird er dafür sorgen, dass wir strafversetzt werden – sofern uns nicht Schlimmeres blüht.« Sulk machte ebenfalls ein säuerliches Gesicht. »Sollen wir die Aktion beenden? Wir haben zwei Einsatzkommandos in Marsch gesetzt. Schließlich müssen wir unsere Befehle vor
unseren Vorgesetzten rechtfertigen.« »So oder so«, murmelte Margib. »Wir sind in einer miesen Lage. Bist du völlig sicher, dass der Mogbar Klote, der in der Polizeistation war, mit Quertamagins Vertrautem identisch ist?« »Es gibt keinen Zweifel. Wir können ja behutsam vorgehen, behaupten, alles sei nur eine Routinebefragung. Du kennst die Masche.« »Wir werden viel Glück brauchen«, prophezeite Margib düster.
»Und wer ist dieser Mann?«, wollte Ra wissen und deutete auf Mogbar Klote. »Wie kommt er zu einem TGC-Ausweis?« »Als Mitglied des Planungsstabs habe ich selbstverständlich einen echten Dienstausweis«, sagte Klote grinsend. »Nur meine Treue zu Orbanaschol ist gespielt. Viel Einfluss habe ich allerdings nicht, da unser Haufen selbst innerhalb der TGC nur wenig bekannt ist. Aber es gibt nicht nur einen Mann in der TGC, der auf unserer Seite steht.« »Trotz dieser Freunde bei der TGC«, sagte Quertamagin, »seid ihr hier nicht mehr sicher. Yagthara, du musst so schnell wie möglich dein Versteck wieder aufsuchen – oder am besten sogar Thantur-Lok verlassen. Du kannst dir vorstellen, das Ra intensiv gesucht werden wird – immerhin ist er in kurzer Zeit zum zweiten Male öffentlich aufgefallen. Ich stelle euch einen Leichten Kreuzer zur Verfügung; seine Besatzung ist mir treu ergeben.« »Mich hält nichts mehr im Arkonsystem«, sagte Etir Baj. »Ich werde Ra begleiten.« Die Diskussion währte nur kurz, dann war der Entschluss gefasst. Yagthara, Ra, Etir Baj und Abton Cehar wollten so schnell wie möglich das Arkonsystem verlassen. Das wenige
Gepäck, das Etir Baj und Ra im Haus des Zaliters zurückgelassen hatten, konnte leicht verschmerzt werden. Auf einen feierlichen Abschied von Alpertur konnten die Männer verzichten. Yagthara packte ihre Utensilien zusammen, die sie für ihre Rolle als uralte Seherin brauchte. Cehar verwandelte sich wieder in den Magier Telfonkh, dann bestiegen die vier Personen einen Gleiter, den ihnen Quertamagin zur Verfügung stellte. Als er die weitläufigen Grünflächen verließ, die Quertamagins Wohnsitz auf Arkon II umgaben, bemerkte Ra in beträchtlicher Entfernung einen Fahrzeugkonvoi, der sich dem Trichtergebäude näherte. Ra dachte an Dienstboten und kümmerte sich nicht darum. Er sah, wie Yagthara nachdenklich den gepflegten Park betrachtete. Vor langer Zeit hatte sie in ähnlich schöner Umgebung gewohnt, damals, als sie noch Gattin von Imperator Gonozal VII. gewesen war. Würde sie den Kristallpalast noch einmal betreten dürfen, als Mutter des rechtmäßigen Imperators? Ra konnte diese Frage nicht beantworten. Er wusste nur, dass er der Mutter des Kristallprinzen noch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte – dass nämlich die Chancen vermutlich ziemlich gering waren, dass Atlan je wieder den Mikrokosmos verlassen würde. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatten er wie auch Etir Baj darauf verzichtet, Regir da Quertamagin vom Schicksal seiner Tochter Crysalgira zu berichten.
Margib machte ein ebenso wütendes Gesicht wie Sulk. Es gab keinen Zweifel – der Ausweis war echt, der Verdächtigte gehörte tatsächlich der TGC an und war zu allem Überfluss auch noch entschieden ranghöher als die beiden. Dennoch: Sulk wurde seinen Verdacht nicht los. Quertamagin machte einen ausgesprochen nervösen Eindruck. Hatte er Grund
dazu? Fühlte er sich unsicher, obwohl ein hoher TGC-Offizier zu seinen Mitarbeitern zählte? Mehn Sulk gab sich einen Ruck, entschloss sich zum Frontalangriff. »Mogbar Klote und Regir da Quertamagin, ich erkläre euch für verhaftet!« Pathor Margib schluckte nervös. Er wusste, dass Sulk die Vollmacht dazu hatte, wenn begründeter Verdacht vorlag, aber diese Vollmacht konnte sehr leicht zum Bumerang werden, sollte bei den Ermittlungen nichts herauskommen. TGC-Männer fesselten Regir und seinen Angestellten und trieben sie zu den wartenden Gleitern. Dann ließ Sulk das Trichtergebäude gründlich untersuchen in der Hoffnung, dort das Beweismaterial zu finden, das ihm jetzt noch fehlte. Zusätzlich gedachte er, Hilfe von Arkon I anzufordern. Dort sollte es einen Kriminalisten von außerordentlicher Begabung geben. Er hatte vor, diesen Lebo Axton auf Quertamagin anzusetzen.
»Auf Wiedersehen«, sagte der Mann freundlich, bevor er den Raum verließ. »Ich freue mich auf unsere nächste Unterhaltung.« Regir da Quertamagin war dem Zusammenbruch nahe. Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Verzweiflung gespürt. Mehn Sulk hatte ihn so lange festgehalten, bis der Verhörspezialist von Arkon I angekommen war. Dieser hatte gerade den Raum verlassen – und Regir zitterte vor dem Augenblick, an dem er ihn wieder betreten würde. Der Mann war freundlich gewesen, manchmal hatte Regir sogar das Gefühl gehabt, dass er diesem Lebo Axton vertrauen konnte. Axton hatte trotz seiner verwachsenen Gestalt einen fast sympathischen Eindruck gemacht, aber der Gefangene hatte abgrundtiefe Angst vor diesem Mann, der kein Arkonide war. Sanft und freundlich hatte Axton Quertamagin in die Enge
getrieben. Geduldig hatte er während des Verhörs erklärt, wo er sich – ohne es selbst zu merken – versprochen hatte. Manchmal hatte Regir Schwierigkeiten gehabt, der Beweisführung Axtons zu folgen, aber immer hatte er zum Schluss einsehen müssen, dass sein Gegenüber richtig überlegt hatte. Aus winzigen Andeutungen, aus Händezittern und anderen Kleinigkeiten hatte der Zayna in kurzer Zeit mehr abgelesen und gefolgert, als Quertamagin lieb sein konnte. Der Gefangene wusste, dass er verloren war. Noch zwei oder drei Tontas Verhör durch Lebo Axton, dann würde der Spezialist Quertamagins Lügengebäude in seine Bestandteile zerlegen und die Wahrheit hervorzerren, eine Wahrheit, die in ihrem vollen Ausmaß niemals bekannt werden durfte. Noch hatte er nicht viel aus dem Gefangenen herausholen können, aber das würde sich sehr bald ändern. Quertamagin fühlte sich am Ende. Fieberhaft überlegte er alle Möglichkeiten, die ihm noch blieben. Viel konnte er nicht mehr bewirken. Der Verdacht gegen ihn blieb bestehen, unter diesen Umständen nutzte es nichts mehr, dass er Oberhaupt eines berühmten und wichtigen Khasurn war. Bei Hochverrat kannte Orbanaschol keine Gnade und würde nachträglich alles für rechtens erklären, mochte der ursprüngliche Verhaftungsgrund noch so wacklig gewesen sein. Nach Tontas endlich fand Regir da Quertamagin einen Ausweg – eine endgültige Lösung …
An Bord der TIGA RANTON: 1. Prago der Hara 10.499 da Ark »Von wem stammt die Idee, Blahur als Tarnung zu verwenden?«, wollte Ra wissen. Der Leichte Kreuzer hatte sich unter die Touristenschiffe gemischt, die den Kometen umschwärmten. Noch bestand keine Klarheit darüber, ob der
getarnte Stützpunkt weiterhin sicher war; sofern nicht, sollte zumindest versucht werden, die dortigen Mitstreiter zu retten. Yagthara deutete auf Abton Cehar, der vor Freude über das Lob errötete. Das Blut stieg ihm derart zu Kopf, dass dieser langsam einen dunkelroten Farbton annahm, der allmählich ins Bläuliche hinüberzuspielen begann. Entsetzt sah Ra, wie Cehar in den Knien einknickte, aber bevor der Mann zusammenbrach, erholte er sich in erstaunlich kurzer Zeit wieder. Ra begann sich zu fragen, ob Cehar seine tausend Tode nur spielte oder ob er tatsächlich medizinisch derart absonderlich konstruiert war. »Du hast während des ganzen Flugs geschwiegen, Ra.« Yagthara machte es sich auf einem Sessel bequem. »Nun rede, wo ist Atlan?« »Ja, wo ist der kleine Kristallprinz?«, warf Cehar ein. »Der kleine Kristall …«, wiederholte Ra nervös, druckste herum, versuchte sich vor der Antwort zu drücken. Mit stiller Schadenfreude sah Bel Etir Baj die Verlegenheit seines Freundes. Stockend begann Ra zu berichten. Es kostete ihn Mühe, der Mutter des »kleinen Kristallprinzen« zu erklären, wie klein ihr Sohn inzwischen tatsächlich geworden war. Daher holte Ra weit aus und erzählte alles, was er bislang zusammen mit Atlan erlebt hatte oder vom Hörensagen kannte. Ehrlich, wie er war, berichtete er auch, wer Atlan zu seiner Reise in den Mikrokosmos »verholfen« hatte. Etir Baj behielt Yagthara fest im Auge, während Ra berichtete. Er sah, wie die Frau zusammenzuckte, als Ra auf die Varganin Ischtar zu sprechen kam. Eine derartige Reaktion war in gewisser Weise verständlich; Mütter waren von jeher eifersüchtig auf die Frauen, die ihnen die Söhne wegzunehmen drohten. Es gab Fälle, in denen Mütter ihre Söhne sogar mit Mitteln eines ausgefeilten Psychoterrors
peinigten, manchmal bis hart an die Grenze beiderseitigen Wahnsinns. Bel Etir Baj konnte nur hoffen, dass Atlans Mutter nicht von dieser Art war. Der Con-Treh sah auch, wie die Frau förmlich im Sessel zusammenzuschrumpfen schien, als Ra endlich auf Atlans Schicksal zu sprechen kam. »Im Mikrokosmos?«, wiederholte Yagthara entsetzt. Ra konnte ihre Gefühle verstehen. Seit vielen Jahren war sie auf der Suche nach ihrem Sohn, und nun musste sie erfahren, dass sie von ihm nicht nur durch viele tausend Lichtjahre getrennt war, sondern dass eine unbegreifliche Grenze der Dimensionen zwischen ihr und ihrem Kind war. »Ich hatte lange Zeit keinen Kontakt mehr mit Ischtar oder Kraumon«, versuchte Ra Atlans Mutter zu beruhigen. »Vielleicht ist er längst zurückgekehrt und wartet auf uns, wer weiß?« Der Barbar wirkte außerordentlich hilflos. Im Hintergrund erholte sich Cehar von seiner dritten Ohnmacht, die ihn während Ras Bericht überfallen hatte. Ächzend und stöhnend schleppte sich der alte Wissenschaftler aus dem Raum, um nachzuforschen, wer sich in der Nähe des Kometen Blahur herumtrieb.
»Er hat einen Fehler gemacht«, sagte Mehn Sulk. »Er hätte das Gift schnell schlucken sollen. So hat er einen Teil wieder ausgespuckt, es wirkt deshalb nur langsam. Noch können wir etwas aus ihm herausholen.« Pathor Margib kannte keine Hemmungen, riss Quertamagin in die Höhe. Hageldicht prasselten seine Fragen auf den Sterbenden herab. »Wer ist dieser Ra?« »Freund … von … Atlan«, ächzte der Gefangene, in dessen Hirn das Gift wühlte und sein Bewusstsein verwirrte. »Atlan ist tot!«, brüllte Sulk.
»Nicht tot«, ächzte Quertamagin. »Täuschung …« »Beeil dich. Wir haben nicht mehr viel Zeit! Frag ihn, wo sich die Bande versteckt hält.« Margib schrie den Gefangenen an, hielt das Ohr an den Mund des Sterbenden, dann ließ er den leblosen Körper fallen. Hart prallte der Leichnam auf den Boden. »Was hat er gesagt?« Margib schüttelte nachdenklich den Kopf. »Er konnte nur noch hauchen«, murmelte er ratlos. »Aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist der Komet Blahur das Versteck der Gruppe.« »Wir schicken ein Einsatzgeschwader zum Kometen. Dann sehen wir, ob es stimmt.«
15. Aus: Flora Arconidica, Bd. I (Gosrantoniales), B. Esser & E. Richter; Moskwa, Terra 2092 n.Chr. Zhdopanthi-Khasurn (Imperator-Khasurn); Gosrantonia imperialis (Ordnung: Gosrantoniales, Familie: Gosrantoniaceae); nach Biathon dom Bess Regengrüner Baum von 30 bis 35, maximal 40 m Höhe. Stamm von zahlreichen netzartig verwobenen Kanälen mit SiliziumoxidAblagerungen durchzogen. Borke glatt, hellgrau. Krone charakteristisch umgekehrt kegelförmig. Blätter linealisch, jeweils zu dritt auf der Basis des Blütenstandes sitzend, nur während der Blütezeit vorhanden. Kurztriebe am terminalen Ende der Langtriebe scheinwirtelig angeordnet, fotosynthetisch aktiv, abgeflacht, Rand wellig und glatt. Die reduzierten, gestauchten Blütenstände immerzu dritt am terminalen Ende der Kurztriebe angeordnet. Blüten zwittrig, unscheinbar, im kugeligen Hohlraum des Blütenstandes eingeschlossen, Blütenhülle reduziert. Frucht als
Sammelnuss über die nächste Vegetationsperiode am Baum bleibend, bräunlich schwarz. Offenwälder der semiariden Tropen von Arkon I. Taion-Khasurn (Riesen-Khasurn); Gosrantonia gigantea (Ordnung: Gosrantoniales, Familie: Gosrantoniaceae); nach Biathon dom Bess Immergrüner Baum von 110 bis 130 m Höhe. Stamm mit zylinderförmigem, netzartigem Verstärkungssiphon aus Siliziumoxid-Ablagerungen. Borke glatt, dunkelgrau. Krone blumenkohlförmig. Blätter rötlich bis bordeauxrot, länglich-oval, gegenständig, Blattspitze abgerundet. Blattrand bewimpert. Kurztriebe stark abgeflacht, fotosynthetisch aktiv, flaumig behaart. 5 bis 15 zygomorphe, zwittrige, weißliche, wohlriechende Blüten, in 8 bis 12 cm langen Trauben angeordnet, Blütenstandachse abgeflacht, flaumig behaart. Frucht rundlich, schwarz, geflügelt. Meridionale Hartlaubwälder von Arkon I. Kyagthar-Khasurn (See-Khasurn); Gosrantonia pseudolotos (Ordnung: Gosrantoniales, Familie: Gosrantoniaceae); nach Biathon dom Bess und Ka’Marentis Sheffal da Sisaal Kurzstämmiges Holzgewächs. Stamm extrem gestaucht, nur wenige Zentimeter über den Wasserspiegel hinausragend, bei älteren Exemplaren bis zu 2,5 m durchmessend. Schwimmblätter (nur während der Regenzeit ausgebildet) rundlich bis nierenförmig, bis 30 cm durchmessend, Blattgrund Stängel umfassend. Emmerse Blätter nur an den Blütenstandachsen ausgebildet, rauten- bis spateiförmig, Blattgrund durchwachsen. Blütenstände bis 4,5 m lang, zu Hunderten dem Stammesrand entspringend. Blüten in 10 bis 12 cm großen Scheindolden angeordnet, nur die zentral stehenden, miteinander verwachsenen Blüten fertil, aber unscheinbar, die sterilen Blüten zygomorph, auffallend blau gefärbt, silbrig schimmernd. Frucht als Sammelkapsel auffallend orangefarbig, umgekehrt kegelförmig, die fleischigen Trennwände der Frucht
essbar. Ränder stehender Gewässer humider Regionen der nemoralen Zone von Arkon I. Zuchtformen werden auf Arkon II, Arkon III und Iprasa kultiviert. Zucht außerhalb des Arkonsystems verboten und strafrechtlich verfolgt!
An Bord der ZENTARRAIN: 7. Prago der Hara 10.499 da Ark Als wir den Entzerrungsschmerz spürten, wussten wir sofort, dass unser Schiff eine Transition durchgeführt hatte. Ich hatte genügend Erfahrung, um an der Stärke und Dauer des Schmerzes abschätzen zu können, dass wir höchstens zwanzig Lichtjahre zurückgelegt hatten. Das sah nicht nach einer wohlüberlegten Transition aus. »Es wurden Schüsse abgegeben«, sagte Fartuloon. »Wahrscheinlich gab es eine Begegnung mit den Maahks. Nottransition?« »Ein Has’athor wie Wagor de Lerathim flieht nicht vor den Maahks«, wies ich ihn zurecht, obwohl ich vom Gegenteil überzeugt war. »Es muss andere Gründe geben. Vielleicht erfahren wir sie bald.« In der Tat brauchten wir nicht lange zu warten. Die Tür wurde geöffnet, und ein mir unbekannter Offizier betrat unsere Kabine. Zwar trug er einen Impulsstrahler im Gürtel, aber er war allein. Die üblichen Wachtposten fehlten. Er ließ die Tür geöffnet und setzte sich auf eins der Betten. »Ich weiß, dass Sie Lerathim ein Märchen erzählt haben, als Sie durchblicken ließen, in geheimer Mission für das Imperium unterwegs zu sein. Sie wollten damit eine Freilassung erreichen, um nicht nach Arkon gebracht zu werden. Sie sind Feinde des Imperiums, habe ich recht?« Schon die Tatsache, dass er einfach »Lerathim« sagte und nicht etwa »Kommandant« oder »Has’athor de Lerathim«,
brachte mich sofort auf die richtige Spur. Unter normalen Umständen war damit zu rechnen, dass der Admiral das Verhör, wenn es eins sein sollte, über Interkom verfolgte. Eine solche Disziplinlosigkeit würde er auf keinen Fall durchgehen lassen. Also hörte de Lerathim nicht zu – er konnte nicht zuhören. »Und wenn es so wäre?«, fragte ich vorsichtig. Er betrachtete mich lange, dann sagte er, ohne auf meine Frage zu antworten: »Sie scheinen der Anführer Ihrer Gruppe zu sein, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ich will also offen mit Ihnen reden, danach können Sie sich entscheiden. Lerathim wurde festgenommen und sitzt mit seinen Offizieren im Bordgefängnis. Wir haben das Schiff in unseren Besitz gebracht. Es wird uns an einen Ort bringen, an dem wir vor Verfolgung sicher sind. Sie wissen wahrscheinlich, welche Strafe einen Meuterer erwartet?« Und ob ich das wusste. Aber das interessierte mich im Augenblick nicht so sehr wie die erstaunliche Tatsache, dass die Meuterer meine natürlichen Verbündeten waren, wenn ich ihr Vorgehen auch nicht gutheißen durfte. Um Zeit zu gewinnen, fragte ich: »Wer ist der neue Kommandant?« »Das bin ich. Mein Name ist Mentares. Wir werden uns später noch unterhalten. Jetzt wollte ich Sie nur von der Lage unterrichten und Ihnen mitteilen, dass die Kabinentür ab sofort unverschlossen bleibt. Trotzdem möchte ich Sie bitten, nicht im Schiff herumzulaufen. Sie können aber jederzeit Kontakt mit mir aufnehmen, wenn Sie Wünsche haben. Ich hoffe, wir verstehen uns.« »Wir sind also keine Gefangenen mehr?« »Betrachten Sie sich als unsere Gäste.« Mentares stand auf. »Ich werde Ihnen den neuen Chefarzt schicken, sobald er mit den Verwundeten fertig ist. Wie geht es den beiden Frauen?« »Wir können uns nicht beklagen«, sagte Ischtar, ehe ich
antworten konnte. »Aber einige Medikamente für mein Kind würden nicht schaden.« »Ich werde Arthamor entsprechend informieren«, versprach Mentares und verließ uns, ohne die Tür zu verschließen. Ich warf Fartuloon einen Blick zu und wollte etwas sagen, schwieg aber, als ich sein Gesicht sah. Es verriet angestrengtes Nachdenken und Konzentration. Dann huschte so etwas wie Erschrecken über seine Züge, vermischt mit Unsicherheit. Ich entsann mich der letzten Worte des neuen Kommandanten. Arthamor? Fartuloon winkte mir zu. Er saß auf seinem Bett und deutete stumm auf den freien Platz neben ihm. Das bedeutete, dass er mit mir reden wollte, ohne dass jemand ein Wort verstand. Eiskralle und Corpkor mussten annehmen, dass es eine der üblichen Vorsichtsmaßnahmen war, denn auch sie würden nichts hören können, wenn wir flüsterten. Als ich neben ihm saß, sagte Fartuloon leise: »Arthamor … Wenn ich nur wüsste, woher ich den Namen kenne. Es muss am Hof deines Vaters gewesen sein, vor vielen Jahren. Ich glaube, einer der Bauchaufschneider hieß so. Ja, Arthamor … jetzt erinnere ich mich. Hoffentlich erkennt er mich nicht. Wenn ich mich richtig entsinne, hat er damals den Gerüchten zufolge gehofft, zum Gos-Laktroten bestellt zu werden. Natürlich eine irreale Hoffnung; wie du weißt, hat dein Vater mich kurz vor seiner Ermordung zum Kristallmeister und damit zum Oberaufseher der Privaträume des Höchstedlen ernannt.« »Das fehlte uns gerade noch«, gab ich erschrocken zurück. »Aber wie kommt ein Arzt vom Hof auf dieses Schiff?« »Er muss sich unbeliebt gemacht haben und wurde strafversetzt. Nun versucht er sich zu bewähren; das könnte er in der Tat, wenn er mich erkennt und gut kombiniert. Schließlich ist bekannt, dass ich damals floh und dich als Kind mitnahm, um dein Leben zu retten.« Das war allerdings eine böse Überraschung. Wenn die
Meuterer erfuhren, wer wir wirklich waren, war es aus mit der gerade erst begründeten »Freundschaft«. Die Belohnung, die Orbanaschol für meine Ergreifung ausgesetzt hatte, war zu hoch. Niemand würde einer solchen Versuchung widerstehen können. Erst recht nicht die Meuterer, die durch meine Auslieferung ihren Kopf retten – und Reichtum dazu erlangen konnten. »Es ist schon lange her, vielleicht erkennt er dich nicht«, flüsterte ich in Fartuloons Ohr. »Kriech unter die Decken. Ich behaupte, dass du schläfst. Vielleicht gibt er sich damit zufrieden.« »Ich kann es ja versuchen …« Er legte sich ins Bett, während ich zu Ischtar ging. Chapat sah mir mit seinen klugen Augen entgegen, die mehr Intelligenz verrieten, als er in seinem Babyalter besitzen durfte. Das war ein weiterer Gefahrenpunkt, den ich nie außer Acht lassen durfte. »Was habt ihr geflüstert?«, wollte Ischtar wissen. Ich schüttelte den Kopf. »Nichts von Bedeutung, meine Liebe. Versuch jetzt zu schlafen, bis der Arzt nach uns sieht. Du wirst müde sein.« »Ich fühle mich frisch und munter, Parendon«, erwiderte sie und betonte mit Nachdruck meinen falschen Namen. »Sind wir nun keine Gefangenen mehr?« »Die Strafversetzten haben sich ihrer Fesseln entledigt und ihre Peiniger eingesperrt. Uns wird nichts geschehen, sorge dich also nicht. Bald werden auch wir wieder frei sein, Mentares ist ein gerecht denkender Mann.« Davon war ich zwar nicht so ganz überzeugt, aber ich wollte Ischtar und Crysalgira nicht beunruhigen. Eiskralle und Corpkor vertrieben sich die Zeit mit einem mir unbekannten Spiel, zu dem sie nichts als ihre Finger brauchten. Ich beobachtete sie eine Weile, dann legte ich mich auf mein Bett und dachte nach.
Arthamor war nicht ganz so beleibt wie Fartuloon, aber immerhin sah man ihm jetzt noch an, dass er bei Hof nicht schlecht gelebt hatte. Er kam allein und schloss die Tür. Ich sah ihm entgegen. Er begegnete meinem Blick und lächelte breit. »Nun, junger Mann, wie fühlen Sie sich? Ich bin der neue Chefarzt und damit für Ihr Wohl verantwortlich. Ist der Dicke da krank?« Mit dem Dicken meinte er Fartuloon, dessen Körpermasse sich nur zu deutlich unter den Decken abzeichnete. Hastig sagte ich: »Er ist nur müde, Chefarzt Arthamor. Er schläft. Es gibt keinen hier, der gesünder wäre als er.« Er betrachtete mich forschend. »Sie kennen meinen Namen?« »Mentares kündigte Ihren Besuch an.« »Ah, Mentares. Ich dachte, wir seien uns schon früher einmal begegnet.« Seine Stimme wurde lauernd. »Wäre das möglich?« »Kaum«, sagte ich gleichmütig. »Ich war bisher noch nie an Bord eines Kriegsschiffs.« Er gab sich nicht damit zufrieden und bohrte weiter. »Sie haben eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Mann, den ich vor vielen Jahren einmal kannte. Er lebt nicht mehr. Seltsam, aber ich habe vergessen, wer es war.« »Sie wissen, dass er tot ist, aber Sie können sich nicht mehr an den Namen erinnern?« »Ich kannte zu viele Männer, die sterben mussten.« Er studierte mein Gesicht mit einer Sorgfalt, die mir unheimlich wurde. »Doch das ist schon lange her. Nun ja, vielleicht ist es auch nur ein Zufall.« Er kümmerte sich um die anderen; ich war überzeugt, dass er auch in ihren Gesichtern bekannte Züge zu entdecken
hoffte. Dann blieb er vor Fartuloons Bett stehen und zog an der Decke. Ich begann allmählich zu schwitzen. Fartuloon mochte wohl einsehen, dass er sich noch verdächtiger machte, wenn er weiterhin den Schlafenden spielte. Er grunzte und richtete sich unwillig auf. »Der Bauchaufschneider? Warum denn, ich fühle mich so wohl wie selten in meinem Leben.« Arthamor starrte ihn verblüfft an – und ich wusste sofort, dass er Fartuloon erkannt hatte. Vielleicht kannte er seinen Namen nicht mehr, aber er musste wissen, dass er ihn gesehen hatte. Endlich fand er die Sprache wieder. »Natürlich, am Hof des Imperators! Wer sind Sie?« »Ich bin Turoon. Was wollen Sie von mir? Sie tun ja so, als wären wir alte Bekannte.« »Ich glaube, das sind wir auch. Ihr Name ist nicht Turoon.« Er deutete auf mich. »Und das ist auch nicht Parendon oder wie immer er sich nennen mag. Bei allen Universen, das ist eine Überraschung. Der Sohn Gonozals lebt! Und Sie sind Faruton … nein, Fartuloon! Sie waren damals der Leibarzt des Imperators und flohen mit dem kleinen Kristallprinzen, als sein Vater bei der Jagd verunglückte.« Er war so erschüttert, dass er sich setzen musste. »Das ganze Imperium sucht Sie – und ausgerechnet ich finde Sie! Das nenne ich aber Glück …« Leugnen war zwecklos, das wusste ich. Uns blieb nur noch der Versuch, ihn auf unsere Seite zu ziehen, aber ich zweifelte daran, dass es uns gelingen würde. Arthamor war zu geldgierig. »Sie könnten sich irren«, sagte ich ruhig. »Stellen Sie sich vor, was geschehen würde, wenn Sie uns Orbanaschol auslieferten und es würde sich herausstellen, dass Sie ihn nur täuschen wollten. Sie haben sich auf die Seite der Meuterer geschlagen und wollen sich rehabilitieren – und haben sich geirrt. Es gäbe keine Strafe, die ausreichend genug wäre.« »Sie sind Atlan!«, sagte Arthamor mit einer Festigkeit, die
keinen Platz für Zweifel ließ. »Solche Zufälle gibt es nicht. Ich habe Fartuloon erkannt – und Ihre Ähnlichkeit mit Ihrem Vater ist kaum zu übersehen. Jedes Leugnen ist zwecklos.« »Ich könnte der Imperator sein«, erinnerte ich ihn. »Und es ist möglich, dass ich es auch eines Tages sein werde. Sie könnten an den Hof zurückkehren und eine bedeutende Stellung bekleiden. Der Imperator wäre Ihr Freund.« Arthamor schien wirklich einen Augenblick mit dieser verführerischen Aussicht zu liebäugeln, aber dann machte er eine abwehrende Geste. »Ich bin keine Spielernatur. Was ich in der Hand halte, das gehört mir auch. Sie kennen den Befehl Orbanaschols: Bringt mir seinen Kopf! Und genau das werde ich auch.« Er ging zur Tür, drehte sich dort noch einmal um und zeigte auf mich. »Keine Sorge, ich bringe Sie lebendig nach Arkon, aber nur dann, wenn Sie sich ruhig verhalten. Jetzt muss ich mit Mentares sprechen.« »Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun«, knurrte Fartuloon. »Und warum nicht?« »Sie wären gezwungen, mit ihm und den anderen zu teilen.« Arthamor dachte darüber nach, dann sagte er: »Das muss ich in jedem Fall, denn was nutzt mir mein Geheimnis, wenn Sie frei herumlaufen können? Früher oder später würden Sie mich hereinlegen. Nein, da teile ich lieber. Außerdem ist Mentares mein Freund; Freunde betrügt man nicht.« Er trat auf den Korridor und verschloss die Tür. Wir waren abermals gefangen, doch unsere Lage hatte sich nun erheblich verschlechtert. Ich begann mir ernsthafte Sorgen um die Zukunft zu machen. Auf der anderen Seite würden auch die Meuterer ihre Probleme haben. Sie hatten ein Verbrechen begangen, das sofort mit dem Tod bestraft wurde. Das wusste auch Mentares. Wer garantiert ihm, dass Orbanaschol ihn schont, auch wenn er mich ausliefert? »Nun können wir wenigstens offen sprechen«, unterbrach
Fartuloon das bedrückende Schweigen und deutete vage zur Decke, an der er wahrscheinlich die Abhörvorrichtung vermutete. »Ich hoffe nur, Mentares ist klüger als Arthamor mit seiner verpfuschten Laufbahn. Ich konnte ihn schon damals nicht leiden. Er war zu ehrgeizig und verriet seine Freunde um des eigenen Vorteils willen. Ich bin überzeugt, dass er auch Mentares betrügen wird.« »Höchstwahrscheinlich ist das seine Absicht«, unterstützte ich Fartuloons Bemühungen, Zwietracht zu säen. Ischtar ging mit Chapat auf dem Arm in der geräumigen Kabine hin und her. Ich empfing seine Gedanken sehr intensiv. Er hatte die Lage begriffen und dachte über die Rettungsmöglichkeiten nach, hatte damit genauso wenig Erfolg wie ich. »Was geschieht nun?«, fragte Ischtar und blieb vor mir stehen. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, wir werden es bald erfahren …«
Mentares wirkte ruhig und überlegen, als er nach zwei Transitionen in Begleitung von drei bewaffneten Männern erschien. Arthamor war nicht dabei. »Ihre Identität ändert natürlich die Situation«, begann er ohne Einleitung. »Wir werden Sie ausliefern, obwohl damit vermutlich einige Schwierigkeiten verbunden sind. Bis dahin haben Sie sich wieder als unsere Gefangenen zu betrachten. Es tut mir leid.« »Es gäbe eine andere Lösung«, sagte ich und versuchte, überzeugend zu wirken. »Sie vergessen, wer wir sind, und setzen uns irgendwo ab. Sie selbst ziehen sich mit der ZENTARRAIN auf einen unbekannten Planeten zurück und warten, bis Orbanaschol gestürzt ist. Dann kehren Sie rehabilitiert zurück und haben für alle Zeiten ausgesorgt. Nun?«
Er schüttelte den Kopf. »Das klingt verlockend, zugegeben, aber wer garantiert mir, dass Sie Ihr Ziel jemals erreichen? In dieser Hinsicht denke ich realistisch, ich jage keinen Hirngespinsten nach. Wir fliegen zum Stützpunkt Varlakor.« »Und Sie glauben, dass man mit Meuterern überhaupt noch spricht? Ich muss sagen, Sie sind sehr naiv, kein Mann jedenfalls, der es wagen dürfte, dem Großen Imperium zu trotzen – und genau das ist es doch, was Sie tun wollen.« »Sie unterschätzen mich, Kristallprinz. Ich habe nur der ungerechten Behandlung durch Lerathim und seine Handlanger getrotzt, nicht dem Imperium. Ich bin ein treuer Untertan des Imperators und ebenso der Ihre, wären Sie der Höchstedle.« Ich sah ein, dass es wenig Sinn hatte, ihn umstimmen zu wollen. Er hatte sich ein Ziel gesetzt, das er unter allen Umständen zu verfolgen versuchte, was immer auch geschah. Tief im Unterbewusstsein machte sich bei mir allerdings der Verdacht breit, dass Arthamor seine eigenen Pläne hatte, von denen Mentares nichts ahnte. Wenn das stimmt, raunte der Extrasinn, ergibt sich daraus ein Vorteil für euch. In der Tür erschien ein Mann, den ich vorher noch nicht gesehen hatte. »Mentares, wir nähern uns Varlakor. Kommst du?« Mentares scheuchte die drei Wachtposten aus unserer Kabine. An der Tür wandte er sich um und sagte: »Was immer auch geschieht, es würde wenig Sinn haben, wenn Sie irgendjemandem auf Varlakor etwas von einer Meuterei auf der ZENTARRAIN erzählen. Niemand wird Ihnen glauben, dafür sorgen wir schon.« Ich starrte Augenblicke später gegen die verschlossene Tür. Fartuloon seufzte: »Und das alles nur, weil ich meinen dicken Bauch noch habe. Ich hätte versuchen sollen abzunehmen, dann hätte mich dieser verdammte
Bauchaufschneider nicht wiedererkannt. In Zukunft werde ich weniger essen.« »Wenn es für uns eine Zukunft gibt«, murmelte Eiskralle mutlos. »Jedenfalls werde ich versuchen, Orbanaschol die Hand zu drücken, wenn er uns zum Tode verurteilt. Das wird der schönste Augenblick meines Lebens sein, wenn ich sehe, wie er sich in einen Eiskristall verwandelt.« »So weit ist es noch nicht«, dämpfte ich seinen makabren Optimismus. »Vor uns liegt Varlakor. Wer weiß, was der Kommandant des Stützpunkts von der ganzen Sache hält …«
Mentares befand sich tatsächlich in einer Zwangslage. Sein ursprünglicher Plan, einen unbekannten Planeten außerhalb der Grenzen des Großen Imperiums aufzusuchen und den Rest seines Lebens in Ruhe und Frieden in einer paradiesischen Umgebung zu verbringen, geriet ins Wanken. Atlan befand sich in seiner Hand, der meistgesuchte Mann des arkonidischen Sternenreichs. Aber wenn er dieses Faustpfand seiner eigenen Sicherheit leichtfertig aus der Hand gab, war er verloren. Natürlich war er an einer Rehabilitierung unter diesen Umständen interessiert, wenn sie auch die erwünschten Vorteile mit sich brachte. Das aber war eben das große Problem. Der Kommandeur von Varlakor war ein gewisser Daftokan Jalvor. Obwohl ein Nichtadliger und somit kein Mitglied der maßgeblichen Khasurn, stand der Zweisonnenträger im Rang eines Keon’athors. Mentares kannte den Mann nur dem Namen nach. War mit ihm ein Geschäft zu machen – oder nicht? Konnte er ihn bluffen? Würde der andere versuchen, ihn hereinzulegen, um die sagenhafte Belohnung für sich allein zu kassieren? Das alles waren Fragen, die Mentares beschäftigten und unsicher machten, während das Schlachtschiff nach der letzten
Transition am Rand des Varlakor-Systems materialisierte. Und schließlich waren sie auch die Ursache für seine Entscheidung, auf keinen Fall mit der ZENTARRAIN auf Varlakor zu landen. Er würde auch darauf verzichten, die wahre Identität der Gefangenen preiszugeben. Sein Entschluss stand plötzlich fest. »Kurrentos, ruf Arthamor über Interkom. Ich will mit ihm sprechen.« »Ist es wegen der Gefangenen?« »Du hast es erraten. Er war es schließlich, der sie erkannte, also soll er auch versuchen, Jalvor hereinzulegen.« »Den Kommandeur von Varlakor? Ob er das schafft?« »Mit unserer Hilfe – bestimmt.« »Man hat auf unsere Identifikation positiv reagiert. Es scheint also so zu sein, wie wir vermutet haben. Der Rest unseres Verbandes hat noch keine Warnung gefunkt. Vielleicht sind sich die einzelnen Kommandanten auch nicht einig.« »Es könnte auch eine Falle sein«, vermutete Mentares düster. »Man wird wissen wollen, warum wir allein kommen. Nun haben wir eine gute Begründung: die Gefangenen.« Arthamor kam in die Zentrale, war sich seiner plötzlichen Bedeutung durchaus bewusst und benahm sich dementsprechend. Großspurig setzte er sich und streckte die Beine weit von sich, als gehöre ihm bereits das ganze Schiff. »Du wolltest mich sprechen, Mentares?« »In kurzer Zeit werden wir Kontakt mit Jalvor herstellen, der mit Sicherheit eine Erklärung verlangt. Ich werde ihm sagen, dass unser Verband einen Auftrag erfüllt, während wir wichtige Gefangene abliefern möchten. Ich weiß, dass der Zweisonnenträger überlastet ist. Er wird keine Zeit haben, sich um die Gefangenen zu kümmern, aber er wird sie zumindest sehen wollen. Natürlich darf er nicht erfahren, wer sie wirklich sind. Ich bin überzeugt, dass er uns damit beauftragen wird,
sie selbst nach Arkon zu bringen.« »Und wenn er es nicht tut?« »Das ist unwahrscheinlich. Varlakor ist ein RandsektorStützpunkt. Wiederholt gab es Angriffe durch die Maahks, außerdem dürfte der ganze Laden überorganisiert sein. Bürokratie also, damit überflüssige Arbeit für die Verantwortlichen. Besonders für Jalvor, dem alles in die Schuhe geschoben wird, wenn etwas nicht klappt. Der gibt uns den Marschbefehl und ist froh, dass er uns wieder los ist.« »Kennt er den Verbandskommandeur persönlich?« »Lerathim?« Mentares zögerte. »Ich weiß es nicht. Aber das ändert nichts. Sollte er nach ihm fragen, erklärst du ihm, Lerathim sei krank und könne nicht erscheinen. Schließlich bist du Bauchaufschneider.« Arthamor seufzte. »Ich beginne zu begreifen, dass es gar nicht so einfach ist, eine Belohnung zu kassieren. Wann ist es so weit?« »Es kann nicht mehr lange dauern. Such dir inzwischen die Leute zusammen, die dich begleiten sollen. Ordentliche Uniformen und gepflegtes Erscheinen!« Arthamor verließ die Zentrale. Seinem Gesicht war anzumerken, dass er nicht ganz zufrieden war. Eine Belohnung einzustecken war einfach, aber dafür ein Risiko auf sich zu nehmen, das war eine andere Sache … »Er hat Angst«, fasste Kurrentos seinen Eindruck zusammen. »Natürlich hat er Angst. Aber einer von uns muss gehen. Sollte die Sache schieflaufen, haben wir noch immer die Möglichkeit, mit der ZENTARRAIN zu fliehen. Programmier am besten bereits den Alarmstart und eine Nottransition.« Wenig später meldete sich die Hauptfunkstation von Varlakor und erteilte die Landeerlaubnis für ein Beiboot. Die ZENTARRAIN selbst sollte im geostationären Orbit bleiben.
»Sieht gut aus«, sagte Kurrentos erleichtert. »Niemand hat verlangt, dass der Kommandant persönlich erscheint. Die werden nicht einmal vermuten, dass bei uns ein Kommandowechsel stattgefunden hat.« »Hoffentlich«, murmelte Mentares; er war sich seiner Sache nicht so sicher wie Kurrentos. Aber schließlich war es Arthamor, der das ganze Risiko auf sich nehmen musste.
Fartuloon war der Einzige von uns, der schon von Varlakor gehört hatte. Der einzige Planet einer düsteren roten Sonne war einst – wie der Bauchaufschneider zu berichten wusste – ein kleines Paradies gewesen. Dann hatte sich die arkonidische Flotte seiner angenommen und ihn in einen RandweltStützpunkt verwandelt. Von der Natur war nahezu nichts mehr übrig geblieben. Lande- und Startflächen reihten sich aneinander. Abwehrforts reckten ihre Kuppeln in den düsteren Himmel, gewaltige Fertigungsanlagen wechselten mit riesigen Docks. Klima und Atmosphäre mussten inzwischen auf künstliche Weise aufbereitet werden. Varlakor war neben den Bereichen der Hauptfertigung und der Flottenraumhäfen grob in drei Sektionen eingeteilt: in Garthak, das Kommando- und Kontrollzentrum, das Wohngebiet Samorth und den zivilen Freihafen Elkinth. Überdies war Varlakor eine Welt, die aus vielen Etagen bestand. Die Flotte hatte sich nicht nur darauf beschränkt, die Oberfläche nahezu nahtlos mit Beschlag zu belegen, sondern hatte sich auch ins Innere des Planeten gegraben. Dort unten gab es weitläufige Anlagen, die zumeist von Robotern gewartet und bevölkert wurden. »Wenn man erfährt, wer wir sind, gibt es keine Rettung mehr – allerdings auch nicht für Mentares, Arthamor und Konsorten.«
»Was weißt du sonst noch von Varlakor?« »Ich war noch nie dort, aber ich hörte einiges. Daftokan ist schon lange Kommandeur, einstmals Gonozal ergeben, heute seinem Mörder. Hat den Rang eines Zweisonnenträgers.« Eiskralle und Corpkor verhielten sich ungewöhnlich schweigsam, beteiligten sich kaum an unseren Gesprächen, sondern waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Dann wurde ohne Ankündigung die Tür aufgestoßen. Arthamor erschien mit einigen Bewaffneten. In barschem Ton sagte er: »Der Kommandeur von Varlakor verlangt euch zu sehen. Es kann nur euer Vorteil sein, wenn ihr eure falschen Namen nennt. Macht also keinen Fehler!« Natürlich begriff ich sofort, warum unsere wahre Identität geheim bleiben sollte. Der Kuchen sollte nicht noch mehr verteilt werden. Widerstandslos ließen wir uns die Magnetfesseln anlegen. Die auf uns gerichteten Waffen ließen uns keine andere Wahl. Fartuloon allerdings konnte es nicht lassen, Arthamor als »verräterischen Dickwanst« zu bezeichnen, was ihm einen Schlag ins Gesicht einbrachte. Sie führten uns in den Hangar, wo ein großes Beiboot auf uns wartete. Mentares war nicht zu sehen. Er blieb also zurück und überließ Arthamor das Risiko. Während des kurzen Fluges gab es Funkverkehr mit den Bodenstationen, aber den knappen Mitteilungen und Anfragen war nicht viel zu entnehmen. Jedenfalls passierte das Beiboot sämtliche Kontrollen und setzte zur Landung an. Arthamor war längst nicht mehr so selbstsicher wie an Bord der ZENTARRAIN. Immer wieder warf er uns Blicke zu, als wolle er uns beschwören, Jalvor auf keinen Fall die Wahrheit zu sagen. Ich war innerlich ganz seiner Meinung. Der Zweisonnenträger durfte nie erfahren, wer wir wirklich waren. Wir würden ihm die Piratengeschichte auftischen. Die Luke öffnete sich. Arthamor stieg als Erster aus und grüßte die
wartende Wachmannschaft so lässig, als sei er der kommandierende Admiral einer arkonidischen Einsatzflotte. Der Gruß wurde zwar erwidert, aber ohne besondere Ehrerbietung. Wir wurden in Gleiter verbracht und schwebten davon.
Abgesehen davon, dass Keon’athor Daftokan Jalvor in dienstlicher Hinsicht total überlastet war, war er auch noch auf die verrückte Idee gekommen, sich eine Freundin anzuschaffen. Piralla war eine sehr hübsche, junge Frau, die bei einer gesellschaftlichen Zusammenkunft seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Dass sie mit einem höheren Beamten verheiratet war, störte ihn nur für einige Tage, dann wurde der Beamte versetzt und durfte seine Frau nicht mitnehmen. Jalvor nahm sich ihrer liebevoll an. Das kostete nicht nur Zeit, sondern auch Nerven. Und mit denen war es nun wirklich nicht gut bestellt. Als die Nachricht eintraf, dass die ZENTARRAIN mit Gefangenen an Bord Varlakor anflog, befand er sich gerade in Gesellschaft von Piralla, der er versprochen hatte, alles in seiner Macht Stehende zu versuchen, ihren Gatten zurückzuholen – natürlich nicht umsonst. Und Piralla bezahlte anstandslos, im wahrsten Sinne des Wortes. Er verabschiedete sich ziemlich hastig, als er die Nachricht erhielt, das Beiboot des Schlachtschiffs sei gelandet. Mit dem Gleiter kehrte er in sein subplanetares Hauptquartier zurück und befahl, man solle die Gefangenen und die Begleitmannschaft zu ihm bringen. Sein Erstaunen war nicht gering, als er feststellen musste, dass nicht Wagor de Lerathim die Delegation anführte. Er kannte den Has’athor, schätzte seine Gesellschaft. Der dicke Arthamor gefiel ihm ganz und gar nicht. »Das also sind wichtige Gefangene? Wer sind sie?
Was haben sie verbrochen? Warum werden sie zu mir gebracht?« Arthamor fühlte sich sofort überfordert. Welcher Verbrechen sollte er die Gefangenen beschuldigen, ohne ihre Identität zu verraten? »Sie fielen uns in die Hände«, log er. »Wir kaperten ein Maahkschiff, und diese dort …« – er deutete auf die Gefangenen – »… fanden wir an Bord. Sie waren frei, demnach muss es sich um Deserteure handeln, um Verräter! Ich bin überzeugt, dass sie dem Imperator überaus wichtige Informationen geben können.« Jalvor streifte ihn mit einem verächtlichem Blick. Und er hatte sich so auf den Abend mit Piralla gefreut. »Denkt Wagor de Lerathim das auch?« Arthamor nickte eifrig. »Selbstverständlich, deshalb bin ich ja hier, um Sie zu bitten, uns den Marschbefehl nach Arkon auszustellen. Wir wollten nicht selbstständig handeln und …« »Wer ist wir? Hat ein Kommandeur wie de Lerathim nicht die Befugnisse, selbstständig zu handeln? Muss er mich fragen, wenn er nach Arkon fliegen will?« Er betrachtete Arthamor misstrauisch. »Warum ist Has’athor de Lerathim nicht selbst gekommen? Was hält ihn davon ab, einen alten Freund zu begrüßen?« »Zurzeit befindet er sich in der Krankenstation und wird behandelt. Aber er gab mir den Auftrag, Sie herzlich zu grüßen.« »So, tat er das?« Jalvor wurde noch misstrauischer, wusste, wie die Mannschaften der Schiffe am Rand des Imperiums zusammengesetzt waren. Er traute niemandem. »Wie wäre es, wenn ich ihm an Bord der ZENTARRAIN einen Besuch abstatten würde? Jetzt gleich.« Nun saß Arthamor endgültig in der Falle, aber ich hatte, am wenigsten Grund, mich darüber zu freuen. Das sollte ich schnell erfahren. »Oh … Lerathim …«
»Has’athor Wagor de Lerathim!«, korrigierte Jalvor mit Nachdruck. »Natürlich, Has’athor Wagor de Lerathim – aber er ist krank. Er hat mir Grüße für Sie aufgetragen, aber von einem Besuch hat er kein Wort gesagt. Sein Stellvertreter ist Mentares.« »Mentares? Nie gehört. Welchen Dienstgrad bekleidet er?« »Dienstgrad … Ah, ich glaube … ich …« »Meuterer schaffen gern Dienstgrade ab, habe ich mal gehört«, unterbrach ihn Jalvor eiskalt. »Raus mit der Wahrheit! Was ist auf der ZENTARRAIN geschehen? Was ist mit den Gefangenen? Lebt de Lerathim noch, oder habt ihr ihn umgebracht? Reden Sie, Arthamor! Sie stehen unter Arrest!« Die Begleitmannschaft Arthamors befand sich außerhalb des Raumes und konnte nicht eingreifen. Es wäre wohl auch sinnlos gewesen, denn Jalvor brauchte sicher nur auf einen Knopf zu drücken, um seine Leibgarde zu alarmieren. Der Bauchaufschneider saß unrettbar in der Klemme. Die ZENTARRAIN aber noch lange nicht … »Admiral Jalvor, ich habe Ihnen eine äußerst wichtige Mitteilung zu machen. Ich gebe zu, dass wir die ZENTARRAIN durch eine Meuterei in unseren Besitz brachten und den Kommandeur wie seine Offiziere gefangen nahmen. Sie sind gesund und wohlauf. Wir werden sie auf einem unbewohnten Planeten absetzen, dessen Koordinaten wir noch bekannt geben. Aber …« »Ruhe!«, brüllte Jalvor und holte tief Luft, ehe er fortfuhr: »Mann, Sie haben soeben Ihr eigenes Todesurteil gesprochen! Ist Ihnen das klar? Sind Sie denn verrückt geworden? Was hat das mit den Gefangenen zu tun?« »Das versuche ich gerade, Ihnen zu erklären, Erhabener. Wir haben gemeutert. Die Behandlung zwang uns dazu. Wir waren Gefangene, die sich bewähren sollten. Wie kann das ein Mann, wenn er wie ein Verbrecher behandelt wird? Warum
behandelt man Leute, die sich eines Vergehens schuldig gemacht haben, nicht wie Männer? Sie wären mutiger, tapferer und für den Feind gefährlicher. So aber staute sich der Hass gegen die Vorgesetzten auf, bis der Augenblick kommen musste, in dem er sich entlud. Das ist geschehen.« Daftokan Jalvor erholte sich von der Überraschung. Vor ihm stand ein Rädelsführer der Meuterer und berichtete ihm ohne Scheu von den Motiven. Er hatte Angst, aber keine Todesangst. Warum? »Sie sind erledigt, alle sind erledigt! Ich brauche nur zu befehlen, dann hört die ZENTARRAIN auf zu existieren.« Arthamor ließ sich kaum davon beeindrucken, antwortete ruhig: »Wagor de Lerathim aber auch.« Jalvor starrte ihn wütend an. »Also auch noch Erpressung! Na schön, verraten Sie mir endlich, was der Trick mit den so überaus wichtigen Gefangenen mit allem zu tun hat. Warum sind Sie nicht geflohen? Warum haben Sie sich nicht in Sicherheit gebracht, statt hierherzukommen?« »Sie werden es gleich verstehen«, versicherte Arthamor. »Die Gefangenen sind bedeutender als unsere Meuterei, das können Sie mir glauben, Sonnenträger. Und wenn Sie klug sind, ist es durchaus möglich, dass Sie in Zukunft einen einträglicheren Posten bekleiden werden. Wissen Sie, wer der junge Mann dort ist, der neben dem Fettwanst sitzt und so unschuldig in die Welt schaut? Das ist der schon lange gesuchte Atlan, der Sohn Gonozals, auf dessen Kopf eine ungeheure Belohnung ausgesetzt wurde! Seine Erhabenheit Orbanaschol würde die Meuterei einer ganzen Flotte verzeihen, überbrächte man ihm Atlan. Verstehen Sie nun, warum ich zu Ihnen kam?«
16. Aus: Quortan da Keehada an Sargor del Heve-She, 13. Prago des Tedar 4011 da Ark. In: Privatkorrespondenz der Heve-SheSammlung (2. Auflage), Heve, 4312 da Ark Du fragtest, hochgeschätzter Freund, wem die Verehrung des Volkes und die Gnade der She’Huhan für die Entdeckung der formidablen Essoya gelten sollen. Sicher, die Verdienste von Sheffal da Sisaal während seines Dienstes als Ka’Marentis von Imperator Zoltral I. nötigen Respekt und Hochachtung ab. Nicht umsonst gehören seine »Botanischen Exkurse« zu dem Kanon der arkonidischen Biowissenschaften. Du darfst allerdings nicht vergessen, lieber Großcousin, dass Sheffal seine Forschung erst nach den Zarakhgoth-Votanii betrieb, längst nachdem die Essoya zum festen Begriff in der Arkon-Küche geworden war. Seine Arbeiten weisen zudem den Charakter von Kompilationen auf, die, obzwar in ihrer systematischen Logik bestechend und ihrem generalisierenden Blickpunkt genial, in großen Teilen nachweislich auf den Werken unserer heroischen Urahnen basieren. Wie Du weißt, beschäftige ich mich in der (ach so knappen!) Zeit der Muße mit dem Studium der Geschichte unseres Gos’RantonLehens. Die Khasurn-Chroniken derer da Keehada, mit denen Du ja über Deine verehrte Frau Großmutter verwandt bist, wissen von einem gewissen Cayal da Myndaq zu berichten, angeblich ein Urururenkel von Tamayn da Bargk, der seinerseits in den Imperialen Annalen als Höchstedler Bargk I. einging (mögen ihn die She’Huhan nach Arbaraith entrückt haben!). Jener Cayal, unbedeutend in der Erbfolge und zudem körperlich leicht behindert, also ein Zayna, soll seinen nicht unbeträchtlichen Wissensdurst an der kühlen Quelle der Imperialen Akademie der Künste und Naturwissenschaften der Kristallwelt gestillt haben, die damals zu den größten planetaren Horten des »Gath-Faehrl« gehörte [wörtl. »ferne(s) Schule/Wissen«, auch »entschwundenes Wissen« –
Umschreibung für das über die Archaischen Perioden gerettete Wissen von Hypertechnik, Raumfahrt etc. Anm. d. Übers.]. Im Besitz meines kürzlich verstorbenen Großvaters (das Licht der She’Huhan möge mit ihm sein!) fand ich zufällig eine kleine Kostbarkeit: Es ist eine handschriftliche Notiz von Sheffal da Sisaal, in der er ebenjenen Cayal erwähnt. Das Dokument, auf echtem Khasurn-Blatt mit Chimon-Tinte niedergeschrieben, diente meinem verehrten Großvater wohl als eine eindringliche Warnung vor den törichten und unbesonnenen Handlungen eines wissbegierigen, jedoch auf dem glatten Kristall der imperialen Politik völlig unerfahrenen Phantasten, der Cayal in seinen Augen sicher war. Sheffal berichtet darin von der Anklage gegen Cayal, in der ihm aufwieglerische Aktivitäten gegen den Höchstedlen Bargk VI. zur Last gelegt werden. Der Unglückliche soll mit der Äußerung: »In der Wüste ist mir die hässlichste Essoya lieber als der schönste Khasurn im Garten des Imperators« angeblich um die Gunst des Volkes bei seinen Vorbereitungen für den Umsturz gebuhlt haben (eine vollkommen verrückte Idee, die wohl nur dem kranken Extrasinn der Bargk-Bestie entspringen konnte – in jener Zeit, 3785 da Ark, startete übrigens von Mehan’Ranton aus der »erste Handelsmann« Torgona, nach dem später die Stadt auf Arkon IV benannt wurde). Sheffal zitiert ferner Passagen aus einigen uralten Quellen, in denen er andere Aussagen zum Thema »Essoya« fand; als da wären: »Die Beschreibung der Welt« von Jarkon dom Auschiya (»Tief in der Savanne, wo das Wasser so kostbar ist, dass nach jedem Regen Dorfkatanen gefeiert werden, gedeiht die unscheinbare Essoya, in ihrem Inneren das kostbare Nass speichernd.«) und »Die Wunder und Curiosa der Trockenlande« von Atlan nert Hobo (»Die Savanne ist ein strenger Zuchtmeister: Sie tötet mit Mehinda und rettet mit Essoya.«) …
Varlakor: 7. Prago der Hara 10.499 da Ark Nun war genau das geschehen, was ich hatte kommen sehen. Arthamor hatte uns und seinen neuen Kommandanten Mentares verraten, um sich selbst zu retten. Das Gesicht Jalvors war nicht zu beschreiben. Es machte sämtliche Stadien vom Unglauben bis zum höchsten Entzücken durch, starrte mich an wie einen Geist, und als er endlich seine Sprache wiederfand, fragte er nur: »Stimmt das?« Es hatte wenig Sinn, jetzt noch leugnen zu wollen. »Es stimmt«, gab ich zu und fuhr fort: »Mein Vater, Imperator Gonozal, wurde von Orbanaschol umgebracht. Es war kein Jagdunfall, sondern Mord! Ich bin der rechtmäßige Nachfolger. Sie begreifen wohl, warum mein Kopf so wertvoll ist. Überlegen Sie sich Ihre Entscheidung gut, denn es könnte sein, dass ich mich später an sie erinnere.« Für eine Weile war er sprachlos, aber dann begriff er, welche schwere Entscheidung er zu treffen hatte, deshalb sicherte er sich nach allen Seiten ab. »Sie bleiben in Haft, wer immer Sie und Ihre Freunde auch sein mögen. Der Fall muss untersucht werden. In wenigen Pragos erwarten wir eine Inspektionsflotte von Arkon. Ihrem Kommandeur werde ich den Fall vortragen. Wenn es stimmt, dass Sie der gesuchte Atlan sind, muss ich die letzte Entscheidung dem Imperator überlassen.« Er wandte sich an den total überforderten Arthamor: »Ich habe Sie nie in meinem Leben gesehen. Kehren Sie zur ZENTARRAIN zurück und verschwinden Sie! Grüßen Sie de Lerathim, falls er noch lebt. Ich habe immer gedacht, er sei klüger, aber er hat sich von Meuterern überlisten lassen.« »Aber der Kristallprinz … Ich brachte ihn hierher und …« »Sie werden ihn vergessen, so, wie ich Ihre Meuterei vergesse. Verschwinden Sie, ehe ich es mir anders überlege!« Arthamor befand sich in einer verzweifelten Lage. Er war Mentares Rechenschaft schuldig, der ihn mit dieser Aufgabe
betraut hatte. Zweitens verlor er alles, was er sich durch meine Gefangennahme erhofft hatte. Rehabilitierung, Ansehen und Reichtum – das alles ging an Jalvor, der nun am Drücker saß. In diesem Augenblick hätte Arthamor mir fast Leid getan, aber dann dachte ich daran, dass er nicht nur an seinem, sondern auch an unserem Unglück schuld war. Hätte er von Anfang an den Mund gehalten, wäre es vielleicht sein Vorteil gewesen, zischte der Extrasinn, aber seine Habgier und sein unersättlicher Ehrgeiz haben ihn in eine Sackgasse getrieben, aus der es nun keinen Ausweg mehr gibt. »Nun?«, fragte Jalvor ungeduldig. »Haben Sie sich entschieden?« Arthamor ging bis zur Tür. Sie öffnete sich automatisch. »Ich habe noch eine Bitte, Erhabener«, sagte er fast unterwürfig. »Darf ich bis morgen bleiben?« »Warum? Vielleicht ändere ich meinen Entschluss.« »Wir waren viele Jahre im Schiff, Varlakor soll Vergnügungen bieten …« »Ich verstehe. Gut, bleibt bis morgen, aber wenn das Beiboot mittags noch nicht gestartet ist … Ich glaube, wir haben uns verstanden.« »Danke, Erhabener«, erwiderte Arthamor und verließ den Raum. Ich war sicher, ihn nicht das letzte Mal gesehen zu haben. Jalvor betrachtete mich mit einer Mischung aus Neugier und Mitleid. Er wusste, welches Schicksal mir bevorstand, wenn er mich auslieferte. Aber genau das war seine Absicht. Nie mehr würde sich ihm eine solche Chance bieten. »Sind Sie wirklich Atlan, der Sohn Gonozals?« »Ich bin es«, erwiderte ich nur. Sein Blick fiel auf Fartuloon und dann auf Eiskralle. »Und wer sind diese dort? Ihre Freunde, nehme ich an. Der eine ist ein Chretkor – so nennen sie sich wohl. Die beiden Frauen,
was ist mit ihnen?« Ich erzählte ihm die Piratengeschichte. Es genügte wahrhaftig, wenn er wusste, wer ich war. Fartuloons Identität kannte er nicht, weil Arthamor erst gar nicht so weit mit seinen Erklärungen gekommen war. Er rief nach seinen Leuten. »Bringt sie ins provisorische Untersuchungsgefängnis. Für heute ist es zu spät, sie ins Fort zu schaffen. Und verdoppelt die Wachen!« Er sah mich an. »Wir sprechen uns morgen noch, heute habe ich keine Zeit mehr.« Als wir das Gebäude verließen, sah ich das Landefeld und das Beiboot der ZENTARRAIN. Einige der Meuterer hielten sich in der Nähe auf. Einen Augenblick dachte ich daran, unsere vier Wächter niederzuschlagen und den Versuch zu unternehmen, mit dem Beiboot zu flüchten, aber dann gab ich den Plan wieder auf. Mir allein wäre die Flucht vielleicht geglückt, aber nicht uns allen. Unser Ziel war ein flacher Bau mit zwei Wachtürmen unmittelbar neben dem Landefeld. Die Fenster waren vergittert und abgesichert. Das provisorische Untersuchungsgefängnis. Ehe sich das Tor öffnete, sah ich Arthamor. Zusammen mit einem anderen Meuterer stand er neben einem Flugtaxi am Rand einer breiten Straße, die wohl in die nahe Stadt führte. Er blickte zu uns herüber, gab aber keine Zeichen, wie ich es fast erwartet hatte. Seine Gefühle konnte ich mir vorstellen. Seine ganze Zukunft und sein Reichtum verschwanden in einer Gefängniszelle, wenngleich in einer provisorischen Gefängniszelle. Plötzlich wusste ich, warum er sich ausgebeten hatte, bis zum Morgen bleiben zu dürfen. Nicht die Stadt und ihre zweifelhaften Vergnügungen waren es, die ihn hielten, sondern ich. Er hatte noch nicht aufgegeben, sondern plante, zumindest mich aus dem Gefängnis zu befreien. Die vier Wächter trieben uns durch das Tor in einen Hof, führten uns in das Gebäude und sperrten uns in eine große Zelle, die nur
spärlich eingerichtet war. Die ganze Prozedur war vor sich gegangen, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Die Tür schloss sich, wir waren uns selbst überlassen. Es gab auch nichts zu essen oder zu trinken, aber wir verspürten vorerst weder Hunger noch Durst. Fartuloon kam zu mir und setzte sich neben mich. Wir unterhielten uns nur flüsternd. »Wir sitzen verdammt tief im Dreck.« »Das weiß ich auch, aber vielleicht gibt es einen Lichtblick. Arthamor ist viel zu geldgierig, um aufzugeben. Außerdem hat er nun nichts mehr zu verlieren. Ich glaube nicht, dass Jalvor sein Wort hält und ihn starten lässt. Nicht einmal die ZENTARRAIN dürfte noch ein sicherer Ort sein.« »Willst du damit andeuten, dass Arthamor versuchen könnte, uns aus dem Gefängnis zu holen?« »Allerdings. Aber nicht uns, sondern nur mich. Aber es ist sein Pech, dass wir zusammengeblieben sind.« »Du meinst wirklich, dass er ein solches Risiko eingeht?« »Für ihn ist es keins mehr. Kehrt er ohne uns zur ZENTARRAIN zurück, lässt Mentares ihn ohne Raumanzug im Vakuum spazieren. Hier bleiben kann er auch nicht. Was also bleibt ihm übrig?« Fartuloon nickte. »Du hast recht, er hat keine andere Wahl. Wir sind seine einzige Chance. Wann, glaubst du? Heute Nacht?« »Natürlich. Bereiten wir uns darauf vor. Wir müssen die anderen unterrichten, aber leise. Vielleicht gibt es auch hier Abhöranlagen.« Es fiel weiter nicht auf, dass wir in kleinen Gruppen zusammensaßen und miteinander flüsterten. Ischtar zeigte sich Chapats wegen besorgt. Ich beruhigte sie: »Wenn wirklich das geschieht, was wir vermuten, nehme ich ihn, damit du mehr Bewegungsfreiheit hast. Ich bin nur gespannt, wie
Arthamor es schaffen will, unbemerkt in das Gefängnis einzudringen.« »Er ist listig.« »Das ist es ja, was mir Sorgen bereitet …« Draußen musste es schon dunkel sein, als zwei Posten uns Essen und einen Krug Wasser brachten. Ich versuchte, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen, begegnete aber nur abweisenden Blicken. Wir stärkten uns, dann riet ich meinen Freunden, ein wenig zu schlafen. Bald würden wir alle unsere Kräfte benötigen, um zu überleben.
Meiner Schätzung nach war es gegen Mitternacht, als mich ein Geräusch weckte. Jemand war an der Tür. Schnell weckte ich Fartuloon, dann die anderen. Die Tür öffnete sich – herein trat Arthamor in der Uniform eines Chefarztes der arkonidischen Raumflotte. Er blinzelte mir zu, was die beiden Wachtposten, die hinter ihm standen, nicht sehen konnten. Mit herrischer Stimme sagte er: »Keon’athor Jalvor hat eine medizinische Untersuchung angeordnet. Kommen Sie mit! Der Kommandant des Gefängnisses stellt seine Amtsräume zur Verfügung, sodass eine Überführung in die Stadt überflüssig wird.« Das also war sein Trick. Er gab sich einfach als Beauftragter Jalvors aus. Wahrscheinlich hielt sich dieser an einem unbekannten Ort auf und konnte nicht erreicht werden. Solange ich die beiden Kombistrahler schussbereit hinter mir wusste, konnten wir nichts unternehmen. Wir folgten Arthamor, der seine erste Enttäuschung darüber, nicht mich allein mitnehmen zu können, bereits überwunden hatte. Er musste sich vorher schon über die Örtlichkeiten informiert haben, denn er tat ganz so, als sei er hier zu Hause. Wir kamen im oberen Korridor an der Wachstube vorbei. Die Tür stand
offen, ich zählte drei weitere Posten; insgesamt also fünf. Fartuloon sah mich an. Den Blick kannte ich. Unmerklich nickte ich, wir hatten uns verstanden. Aber auch Corpkor und Eiskralle reagierten blitzschnell, als hätten wir den Überfall in allen Einzelheiten genau geplant. Ehe Arthamor überhaupt begriff, was gespielt wurde, und noch ehe er seine eigenen Absichten, die mir nicht ganz klar waren, in die Tat umsetzen konnte, drehte ich mich um und riss den beiden überraschten Posten die Waffen aus den Händen. Bevor sie reagieren konnten, schlug ich sie nieder und überzeugte mich davon, dass sie für längere Zeit bewusstlos waren. Dann kümmerte ich mich um Fartuloon und die beiden anderen. Eiskralle hatte es nicht sein lassen können, einem der drei Arkoniden in der Wachstube kräftig »die Hand zu drücken«. Der Unglückliche überlebte es nicht. Den beiden anderen erging es besser. Fartuloon hatte sich mit seinem ganzen beachtlichen Gewicht auf sie geworfen und zu Boden geschleudert, ehe sie reagieren konnten. Corpkor klopfte sie ab, um sich dann befriedigt aufzurichten und zu sagen: »Mindestens für eine Tonta vernehmungsunfähig.« Das alles war so schnell gegangen, dass Arthamor noch immer regungslos im Korridor stand. Ich ging zu ihm und zog den kleinen Nadler aus seiner Tasche. »Wir haben Ihnen zu danken«, sagte ich und versuchte, nicht ironisch zu klingen; er war keinen Schritt weitergekommen. »Bringen Sie uns zum Beiboot.« Ich sah, wie er erleichtert aufatmete, nahm also an, wir wollten mit ihm zur ZENTARRAIN zurückkehren; ich ließ ihn in dem Glauben. Es war mir völlig klar, dass der unerlaubte Start des Beiboots Alarm auslösen würde. Man würde es verfolgen und stellen. Und dann saßen wir abermals in der Patsche. Das aber wollte ich vermeiden.
»Draußen sind noch zwei Wachtposten«, sagte Arthamor hastig. »Sie werden uns nicht passieren lassen, wenn sie keinen Befehl dazu erhalten. Ich war schon froh, dass sie mich hereinließen.« »Keine Sorge, mit denen werden wir schon fertig.« Ungehindert konnten wir das Gefängnis verlassen, nachdem Fartuloon sein Skarg gefunden und wieder an sich genommen hatte. Der Hof wurde von Scheinwerfern hell angestrahlt. Das Tor war geschlossen. Wir konnten die gleichmäßigen Schritte der Posten deutlich in der stillen Nacht hören. Ich nickte Arthamor zu. »Sagen Sie ihnen, sie sollen das Tor öffnen, weil Ihre Mission beendet sei.« Arthamor ging zwei Schritte weiter, dann rief er: »Öffnen! Hier ist der Chefarzt, der die Gefangenen untersuchte.« Das ist nicht besonders einfallsreich, dachte ich, aber schließlich handelt es sich auch nur um ein provisorisches Untersuchungsgefängnis. Jedenfalls dauerte es nur einige Augenblicke, dann öffnete sich tatsächlich das Tor. Fartuloon, Eiskralle und ich waren inzwischen in Stellung gegangen. Kaum war der Spalt groß genug, uns durchzulassen, stürmten wir nach vorn und überwältigten die beiden ahnungslosen Männer im Handumdrehen. Ihre Waffen nahmen wir an uns. Ein Knopfdruck bewirkte, dass sich das Tor wieder schloss, nachdem wir die bewusstlosen Posten in den Hof geschafft hatten. »Ich kenne den Weg zum Beiboot«, erbot sich Arthamor, ehe ich ihn erneut auffordern konnte, uns zu führen. Wir folgten ihm, während ich versuchte, mir die Umgebung genau einzuprägen. Da es dunkle Nacht war, erkannte ich nur an den Lichtern die Lage der einzelnen Gebäude und der Stadt. Auch das Raumfeld war beleuchtet, aber nicht so sehr wie das Gefängnis, das nun hinter uns lag. Während wir weitergingen, teilte ich Fartuloon meinen Plan mit. Arthamor
ging voran, neben Eiskralle und Corpkor. Er konnte nichts hören. »Bist du sicher, dass es der beste Weg ist?« »Das Beiboot wird mit Sicherheit abgefangen, damit hätte sich nichts geändert. Und selbst wenn es uns gelänge, damit zu fliehen, wohin sollten wir uns wenden? Wir könnten natürlich versuchen, die ZENTARRAIN zu kapern, aber das halte ich für aussichtslos. Das Beiboot selbst verfügt nur über einen beschränkten Aktionsradius. Nein, ich glaube, wir bleiben besser hier.« »Kein schöner Planet«, gab Fartuloon zu bedenken. »Stimmt, aber er bietet uns viele Verstecke. Und ich bin ziemlich sicher, dass wir hier auch ein Schiff finden.« »Hoffentlich behältst du recht.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn; es war warm und schwül. Wir erreichten das Landefeld. Die Scheinwerfer waren nicht in der Lage, das gesamte Gelände lückenlos zu erhellen. In der Ferne erkannte ich das Beiboot nur als Silhouette. »Äußerst günstig«, sagte Arthamor. »Allerdings«, gab ich ihm recht. Er schien sich keine Gedanken über den Verlust seines Nadlers zu machen, den ich eingesteckt hatte. Natürlich musste er annehmen, dass wir froh waren, dem Gefängnis entflohen zu sein. An Bord der ZENTARRAIN würde er mir die Waffe wieder abnehmen lassen. Er sollte sich täuschen. Unbemerkt erreichten wir das Beiboot. Die äußere Schleusenluke war geöffnet. Einer der Meuterer erwartete uns bereits und fragte: »Alles in Ordnung?« »Wir müssen mit Notstart abheben«, erwiderte Arthamor. »Ist alles vorbereitet?« »Klerados sitzt schon hinter den Kontrollen.« »Gut.« Er wandte sich um und sagte: »Los, steigt ein. Es wird höchste Zeit.«
Ich warf Fartuloon einen Blick zu und nickte unmerklich. Das sollte bedeuten, dass wir noch immer das taten, was Arthamor von uns verlangte. Im Beiboot befanden sich vier Meuterer, die wir ausschalten mussten, sollte unser Plan gelingen. Also stiegen wir ein. Ich hatte den Kombistrahler Corpkor gegeben und nur den kleinen Nadler behalten, der sich in der Tasche verbergen ließ. Als wir im Boot waren, befahl Arthamor: »Gebt mir die Waffen! Meinen Nadler auch!« Zwei der Meuterer unterstrichen seine Forderung mit ihren eigenen TZU-4, deren Mündungen allerdings noch auf den Boden gerichtet waren. Fartuloon und Corpkor hatten die ihren bereits auf Paralysemodus geschaltet, denn wir wollten niemanden töten. Ich unternahm nichts und überließ die drei Arkoniden meinen Freunden, die spielend mit ihnen fertig wurden. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie gelähmt auf dem Boden des schmalen Korridors lagen. Wir schoben sie in eine der angrenzenden Kabinen und schlossen die Tür. Die beiden übrigen Meuterer in der Zentrale waren nun kein Problem mehr; sie waren so überrascht, dass sie keinen Versuch der Gegenwehr unternahmen und sich fesseln ließen. Dann setzte ich mich hinter die Kontrollen und programmierte den Autopiloten; das Boot sollte den Orbit erreichen und vom Schlachtschiff aufgenommen werden – am besten, ehe der Alarm auf Varlakor ausgelöst werden konnte. Und das, hatte ich mir ausgerechnet, würde einige Zeit dauern, da niemand wusste, was geschehen war und welche Befehle Jalvor erlassen hatte. In der Zwischenzeit konnten wir ein sicheres Versteck suchen, während man auf Varlakor annehmen musste, uns sei die Flucht mit dem Beiboot gelungen. Auf dem Planeten jedenfalls, hoffte ich, würde man uns nicht mehr suchen. Als ich aufstand, blieben uns nur wenige Augenblicke. Die Frauen und Eiskralle warteten schon draußen, während Fartuloon und ich uns durch die Luke zwängten und sie
schlossen. »Richtung Stadt«, sagte ich. »Schnell!« Wir hatten nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie es auf Varlakor aussah, aber bis jetzt hatte ich den Eindruck, es mit einem durchschnittlichen Stützpunkt des Imperiums zu tun zu haben. Das bedeutete in diesem Fall, dass sich die meisten Anlagen unter der Oberfläche befanden und die Kontrollen ziemlich scharf waren. Aber es würde auch Tausende Verstecke geben. Wir erreichten den Rand des Landefelds und die Straße zur Stadt. Hinter uns erklang das plötzliche Aufheulen von Impulstriebwerken, dann sahen wir das Beiboot mit hoher Beschleunigung in den Nachthimmel rasen. »Weiter«, keuchte ich atemlos. »Wir müssen verschwinden.« Wir waren noch nicht weit gekommen, als beim Raumhafen Abwehrkuppeln aus dem Boden fuhren und das Feuer auf das unerlaubt gestartete Beiboot eröffneten, das überdies auf keine Anfrage reagiert hatte. In Gedanken stieß ich eine Verwünschung aus. Entweder hatte Jalvor schneller reagiert, als ich angenommen hatte, oder seine Offiziere handelten eigenmächtig. Jedenfalls begann eine gnadenlose Jagd auf das Beiboot. Das, was ich nun befürchten musste, trat kurze Zeit später ein: Im dunklen Nachthimmel erschien ein flammender Glutball. Eine Miniatursonne entstand, als der Antrieb des Beiboots explodierte und sich das kleine Schiff in seine Atome auflöste … »Nun muss Jalvor annehmen, wir seien tot«, sagte Ischtar eisig. »Er wird nicht nach uns suchen.« »Trotzdem müssen wir vorsichtig sein«, warnte ich. »Es kann lange dauern, bis wir ein Schiff finden, das uns mitnimmt. Das Leben in einem vorgeschobenen RandweltStützpunkt verläuft straff geregelt und organisiert. Ohne Kontakt zu zweifelhaften Charakteren, die es zum Glück überall gibt, wird man uns bald erwischen. Aber nun weiter – verlieren wir keine Zeit mehr …«
Während wir marschierten, versuchte ich mir Jalvors Reaktion auszumalen. Er musste annehmen, der endlich gefangene Atlan sei mit dem Beiboot geflohen und tot. Offiziellen Stellen gegenüber würde er wohl alles verschweigen, denn er konnte niemals Orbanaschol gegenüber behaupten, den Kristallprinzen getötet zu haben, ohne seinen Kopf als Beweis vorzeigen zu können. Er würde nur den Zorn des Imperators auf sich ziehen – und das war sicherlich das Letzte, was er wollte. Eine weitere Konsequenz war vermutlich, dass die ZENTARRAIN entweder gekapert oder gar vernichtet werden würde. Mein Logiksektor bestätigte: Das Schicksal der Meuterer ist so oder so besiegelt. Fartuloon holte auf, bis er neben mir war. Eiskralle übernahm mit Corpkor und den Frauen die Führung, Chapat schlief in Ischtars Arm. Die Straße war leer und ohne jeden Verkehr. Sie führte durch eine steinige und vegetationslose Ebene. »Soweit ich mich erinnere, gibt es ein paar Flugtontas von hier entfernt den Handelshafen, Sektion Elkinth genannt. Der eigentliche Stützpunktbetrieb hat damit kaum etwas zu tun, denn es ist ein ziviler Hafen. Was das bedeutet, weißt du …« »Zweifelhafte Existenzen, verkrachte Offiziere und vermutlich sogar gesuchte Schmuggler. Aber einige Flugtontas sind eine hübsche Strecke, wenn man sie marschieren muss. Und die Rohrbahnen, die es wohl geben wird, können wir kaum benutzen. Roboter kontrollieren unfehlbarer als Arkoniden. An einen Privatgleiter brauchen wir auch nicht zu denken, weil der Luftverkehr genau überwacht wird.« »Warten wir es ab. Wir finden einen Weg.« Das hoffte ich auch. Natürlich musste ich froh sein, dem Mikrokosmos entkommen zu sein. Dort war ich meiner Aufgabe ferner denn je gewesen. Doch nun, zurück im Standarduniversum und meiner Sterneninsel, hatten sich die
Gefahren nicht verringert. Im Gegenteil, sie hatten eher noch zugenommen. Ich nahm Chapat auf den Arm, um Ischtar zu entlasten. Sie lächelte mir dankbar zu und schritt schneller aus. Wir hatten fast Mühe, ihr zu folgen. Hinter uns erschien plötzlich ein Licht. Fast geräuschlos holte ein offener Gleiter auf, in dem nur der Fahrer saß – ein Roboter, wie wir bald erkannten. Der Gleiter hielt neben uns. Mit der typischen emotionslosen Stimme eines primitiven Roboters wurden wir aufgefordert, Platz zu nehmen. Es musste sich um ein ziviles Transportmittel handeln, sonst wäre die Frage nach Ausweisen unvermeidlich gewesen. Wir stiegen ein, ich setzte mich neben den Fahrer. Er sah grob aus wie ein Arkonide, aber sein Metall- und Plastikkörper war unbekleidet. »Wohin wünschen Sie gebracht zu werden, Gebieter?« »Wie groß ist der erlaubte Aktionsradius?«, erkundigte sich Fartuloon, der unmittelbar hinter mir saß, ehe ich etwas sagen konnte. »Sektion Garthak bis Raumhafen.« Da war nichts zu machen. Eine Ausdehnung der Fahrt hätte nur den Verdacht der Positronik hervorgerufen. »Gut«, sagte Fartuloon, »dann bring uns in die Stadt.« »Verstanden, Gebieter.« Ich spielte mit dem Gedanken, den Roboter außer Gefecht zu setzen und das Fahrzeug zu übernehmen, verwarf ihn aber sofort wieder. Mit Sicherheit standen alle Taxiroboter in Funkverbindung mit der Positronik einer zentralen Verkehrskontrolle. Jeder Ausfall würde automatisch registriert und ausgeforscht werden. Wir würden nicht weit kommen. Die Lichter der Stadt kamen schnell näher. Sie waren nicht mehr so hell wie vorher, denn der Morgen begann bereits zu grauen. Es wurde höchste Zeit, dass wir ein sicheres Versteck fanden. Die ersten Straßen, die wir überquerten, waren ebenfalls leer. So etwas wie ein Nachtleben schien es in der
Sektion Garthak nicht zu geben, die als Rechenzentrum und Kommandostelle des Stützpunkts galt. Der Gleiter hielt an, als wir einen runden Platz im Zentrum der Stadt erreichten. Wir stiegen aus. Ein wenig ratlos standen wir auf dem Platz und betrachteten die Fronten der flachen und lang gestreckten Häuser. »Wir müssen unter die Oberfläche, bevor es Tag wird«, rief Fartuloon. Wo war der Eingang zum subplanetarischen Teil der Sektion Garthak? Ich konnte keinen entdecken. Wir irrten eine Zeit lang durch verschiedene Straßen, während es schnell heller wurde. Bald würde die rote Sonne aufgehen und die Stadt zum Leben erwachen. Bevor das geschah, mussten die beiden Frauen und Chapat von der Bildfläche verschwunden sein. Leichter gesagt als getan. Wieder einmal war es Fartuloon, der einen Erfolg für sich verbuchen konnte. Er deutete nach vorn: »Los, Beeilung! Ein Notausstieg, nehme ich an, dafür aber wahrscheinlich unbewacht. Es kann uns höchstens passieren, dass wir vor einer verschlossenen Tür stehen, aber wozu haben wir die Kombistrahler?« Wir rannten, bis wir den überdachten Niedergang erreichten. Die Stufen bewiesen, dass es sich in der Tat um einen Notausstieg handelte. Ein Lift oder ein Rollband waren nicht vorhanden. Wir hasteten weiter und waren froh, als wir das beginnende Tageslicht nicht mehr sahen. Die Hauptsache war, wir fanden ein provisorisches Versteck. Die befürchtete verschlossene Tür kam nicht. Ganz so streng, wie wir angenommen hatten, schienen die Kontrollen auf Varlakor nun doch nicht zu sein. Aber das konnte auch täuschen. Überall gab es vielleicht verborgene Kameras und Mikrofone, die sich automatisch einschalteten, wenn Bewegungen, Geräusche oder Lichtreflexe wahrzunehmen waren. Fartuloon und ich hatten nun die Führung übernommen. Corpkor und
Eiskralle bildeten die Nachhut, während Ischtar, Chapat und Crysalgira in der Mitte blieben. Wir folgten dem Hauptkorridor, der schwach beleuchtet war. Die Nebengänge lagen im Dunkeln. Vom Hauptkorridor zweigte schließlich ein Gang ab, der sich im ersten Augenblick nicht von den anderen unterschied, aber ich bemerkte das kleine Schild, das schlicht und einfach besagte, dass sich hier der Zugang zu den Notunterkünften bei Angriffen aus dem All befand. »Da ist jetzt bestimmt niemand«, flüsterte Fartuloon, als ich ihn darauf aufmerksam machte. »Und erfolgt wirklich ein solcher Angriff, wird niemand auf uns achten.« Wir folgten dem Gang, der in einem Saal endete. Ohne Zweifel handelte es sich um ein Massenquartier. Wir suchten weiter und entdeckten kleinere Räume, die der gehobenen Schicht vorbehalten waren. Wir beschlossen, hier unser vorläufiges Lager aufzuschlagen. Eiskralle entdeckte Lebensmittelvorräte in Hülle und Fülle, sodass wir auf keinen Fall verhungern würden. Die vorhandenen Betten versprachen einen Luxus. Auch die Klimaanlage funktionierte einwandfrei. Die Luft war rein und nicht so warm wie an der Oberfläche. »Wir ruhen uns ein paar Tontas aus«, schlug ich vor. »Dann gehen Fartuloon und ich auf Erkundung. Wir sind am unauffälligsten. Eiskralle und Corpkor übernehmen die Wache und den Schutz von Ischtar und Crysalgira. Sie behalten einen Kombistrahler und den Nadler.«
Als ich einige Tontas später erwachte, saß Fartuloon bereits munter auf seinem Bett und schien in die Ferne zu lauschen. »Hörst du es auch?«, fragte er, als er sah, dass ich mich aufrichtete. »Da muss eine Fabrik in der Nähe sein.« Jetzt hörte ich es auch. Das Stampfen und Brummen schwerer Maschinen war unverkennbar.
»Werften und Fabriken.« »Das sollten wir uns ansehen«, schlug Fartuloon vor. »Hast du vielleicht die irre Hoffnung, ein Schiff kapern zu können? Das schlag dir aus dem Kopf.« Er grinste. »Natürlich nicht, aber vielleicht erhalten wir einige Hinweise. Wir müssen mit den Leuten sprechen, sonst erfahren wir nie, wo unerlaubte Geschäfte gemacht werden. Ich habe den Wächtern im Gefängnis einige Chronners abgenommen, sogar einige Münzen von hohem Wert. Möchte den sehen, der nicht scharf darauf wäre.« Wir weckten Eiskralle, der nun die Wache übernahm. Ich überprüfte den Kombistrahler; er war vollgeladen und schussbereit. Ohne Schwierigkeit erreichten Fartuloon und ich den Hauptkorridor und folgten ihm in Richtung des deutlicher werdenden Maschinenlärms. Mehrmals begegneten wir Männern und Frauen in Arbeitskleidung, die jedoch kaum Notiz von uns nahmen. Wahrscheinlich hielten sie uns für Mitglieder irgendeiner Kommission, von denen es genug geben mochte. Die Anlagen wurden regelmäßig von solchen Prüfgruppen aufgesucht. Es dauerte lange, ehe wir uns entschlossen, jemanden anzusprechen. Natürlich durfte es kein intelligenter Techniker oder gar einer der Aufseher sein, die durch besonders auffällige Rockaufschläge kenntlich gemacht waren. Sie würden uns nach der Erkennungsmarke oder einer Identitätskarte fragen. Wir gerieten mitten hinein in eine Gruppe einfacher Arbeiter, die uns mit scheuen Blicken betrachteten und fast schüchtern unseren Gruß erwiderten. Ich überließ es Fartuloon, Kontakt aufzunehmen. »Wir gehören zur Inspektionsgruppe«, sagte er, als handele es sich um die natürlichste Sache der Welt. »Uns interessieren die Lebensbedingungen auf Varlakor. Können Sie uns da Informationen geben?« Zwei oder drei gingen langsamer, die anderen ließen sich
nicht stören und eilten weiter. Sie schienen nicht schnell genug an ihre Arbeitsstätte kommen zu können. »Wir sind zufrieden«, gab schließlich einer der langsamer gehenden Arkoniden Auskunft. »Wir werden uns nicht beschweren.« »Das verlangt auch niemand«, sagte Fartuloon fast väterlich. »Die Arbeitszeit ist gesetzlich geregelt, die Verpflegung gut? Wo wohnen Sie? Oben in der Stadt?« Der Mann blieb stehen und sah Fartuloon so verblüfft an, dass ich fürchtete, mein Freund habe einen Fehler gemacht. Dann sagte der Arbeiter: »Wir wohnen in der Sektion Samorth, alle wohnen dort. In der Sektion Garthak leben nur die Beamten und Soldaten. Wir arbeiten hier nur.« Fartuloon nickte beifällig, als habe er das bereits gewusst und wolle sich lediglich versichern, ob es auch stimme. »Samorth, richtig. Ziemliche Strecke, nicht wahr?« »Mit dem Tunnelzug geht es schnell. Aber ich muss weiter, sonst komme ich zu spät. Meine Ablösung wartet sicher schon.« Wir hielten ihn nicht auf. Als niemand mehr in Hörweite war, sagte Fartuloon: »Tunnelsysteme und Rohrbahnen – dachte ich es mir doch. Wahrscheinlich Robotkontrolle.« Wir folgten dem Gang, aus dem die Arbeitsgruppe gekommen war. Er musste zu einer der Bahnstationen führen, die wir uns ansehen wollten. Unterwegs sprachen wir eine Frau an, von der wir einige andere wichtige Einzelheiten erfuhren. Sektion Samorth war die Wohnsiedlung der Arbeiter und sonstigen Zivilisten. Sie lag an der Oberfläche, war aber für die Bewohner nur mit der Tunnelbahn zu erreichen, die auch zu dem weiter entfernten Handelshafen der Sektion Elkinth führte. In Samorth gab es auch die Vergnügungsviertel, teilte sie uns mit gerümpfter Nase mit. Dort triebe sich allerhand Gelichter herum und vielleicht wäre es sehr gut, wenn sich die Kommission einmal darum kümmern würde.
Wir versprachen es ihr und gingen weiter. »Scheint ja ein sündiger Ort zu sein.« Fartuloon grinste. »Das sollten wir uns wirklich mal ansehen. Vielleicht finden wir dort, was wir suchen. Hast du übrigens eben den Luftzug verspürt? Das muss die Bahn sein. Scheint wieder Passagiere gebracht zu haben.« Wir erkannten den Bahnhof an der hellen Beleuchtung. Der Zug war eben erst eingelaufen und entleerte sich. Die Arbeiter beachteten uns nicht. Lediglich ein Aufseher schien sich zu wundern, dass wir die entgegengesetzte Richtung wie die anderen eingeschlagen hatten, aber er stellte keine Fragen. Aus anderen Gängen wiederum strömten die Ablösungsmannschaften auf den subplanetarischen Bahnhof, um den Zug, der nach Sektion Samorth zurückfuhr, zu besteigen. Und wir sahen das, was wir befürchtet hatten: Jeder der langen, zylinderförmigen Wagen hatte nur eine Tür, von einem unbestechlichen Roboter bewacht. Sie kontrollierten die Reisenden und ließen sich Marken vorzeigen, erst dann ließen sie sie passieren. Wir konnten den Zug nicht benutzen, ohne uns in größte Gefahr zu begeben.
Ziemlich niedergeschlagen kehrten wir in unser Versteck zurück. Als wir berichtet hatten, sagte Corpkor zuversichtlich: »Aber Freunde, das ist doch alles halb so schlimm. Wir besorgen uns eben ein paar Marken, dann fahren wir.« »Und wie willst du die Marken besorgen? So einfach wird das nicht sein. Wer trennt sich schon davon?« »Freiwillig niemand, das ist klar. Wir nehmen sie jemandem ab.« Wahrscheinlich war es in der Tat die einzige Möglichkeit, aus Garthak herauszukommen. Fartuloon und ich würden es bei Schichtwechsel versuchen. Es kam nur darauf an, zwei oder drei Arbeiter ein wenig abseits zu locken und zu
betäuben. Dann mussten wir sie in unser Versteck bringen und ihnen Kleidung und Marken abnehmen. Das war alles. Ich hatte nun ein wenig Zeit, mich um Ischtar und Chapat zu kümmern. Die Varganin hatte ihren Optimismus nicht verloren. Froh, endgültig dem Henker der Varganen entronnen zu sein, nahm sie nun die Strapazen einer ständigen Flucht vor den Häschern Orbanaschols in Kauf. Nachmittags schlief ich sogar ein, obwohl Eiskralle und Corpkor ziemlich lautstark ihr seltsames Spiel mit den Fingern spielten. Fartuloon hockte dabei und versuchte, hinter den Sinn ihrer merkwürdigen Handbewegungen zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Keiner der beiden machte Anstalten, es ihm zu erklären.
Ischtar weckte mich. »Es ist so weit. Fartuloon kam eben von einem kurzen Erkundungsgang zurück. Die Ablösung ist eingetroffen und begibt sich zur Arbeit.« Ich folgte Fartuloon. Kurz bevor der Gang in den Hauptkorridor mündete, machte er eine Biegung, die nicht eingesehen werden konnte. Es war kaum damit zu rechnen, dass jemand den Gang vom Korridor her betrat. Eine Gruppe von Arbeitern kam vorbei. Wir warteten, bis die Letzten die Gangmündung passierten, dann eilten wir hinterher. Wir hatten insofern Glück, als zwei der Männer ein wenig trödelten und hinter der Gruppe zurückblieben. Wir holten sie ein und hielten sie am Arm fest. »Im Gang liegt ein Toter«, sagte Fartuloon aufgeregt. »Gehört er zu eurer Schicht?« Sie starrten uns ungläubig an, aber wir ließen ihnen keine Zeit zum Überlegen. »Nun kommt schon mit, wir müssen ihn identifizieren.« Mein Ton ließ keine Widerrede zu. Wahrscheinlich hielten sie
uns für Beamte in Sondermission, jedenfalls gehorchten sie und kamen mit. Fartuloon ging voran, dann die beiden Arkoniden, ich bildete den Abschluss. Die anderen Arbeiter waren längst verschwunden. Der Rest war einfach. Tief genug im Gang, überwältigten wir die völlig Überraschten und zwangen sie, uns in das Versteck zu begleiten. Corpkor hatte den Kombistrahler auf starke Paralyse geschaltet. Die beiden Opfer würden mindestens zwei Tage gelähmt sein. Nicht lange, und man würde die Suche nach ihnen beginnen. Hastig durchwühlte ich ihre Taschen, bis ich die beiden Metallmarken und auch etwas Kleingeld fand. Epnor und Tulonfar waren die Namen, die auf den erbeuteten Erkennungsmarken standen. Fartuloon zog die Männer aus, wir wechselten die Kleidung. Unsere ließen wir in der Obhut Ischtars und beeilten uns, den Zug nach Samorth noch zu erreichen. Es musste der letzte Zug dieser Schicht sein, denn es stiegen kaum noch Passagiere ein. Der Roboter überprüfte unsere Marken und ließ uns passieren. Wir fanden ein leeres Abteil und setzten uns. Fartuloon warf mir einen bezeichnenden Blick zu, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Er sah in der Tat aus wie ein Arbeiter, der froh war, am Abend endlich nach Hause fahren zu können. Der Wagen hatte keine Fenster. Sie wären auch völlig überflüssig gewesen, denn die Bahn verkehrte nur subplanetarisch. Fartuloon hatte die besseren Nerven: Er schlief ein und begann zu schnarchen. Einmal kam ein Arkonide in der Kleidung des Technikers vorbei, sah kurz zu uns herein und wandte sich indigniert wieder ab, als er uns »gewöhnliches Volk« erblickte. Als der Zug hielt, fand Fartuloon in die Wirklichkeit zurück. »Na, dann los ins Vergnügen«, knurrte er und schob sich vor mir her durch den Gang. »Aha, wieder eine Kontrolle.« Wir zeigten unsere Marken vor und konnten den Zug
verlassen. Eine typische Erscheinung der bürokratisierten Gesellschaft, dachte ich. Ohne Marke kommt man nicht in den Zug, Zusteigen während der Fahrt im Tunnel ist unmöglich, aber beim Aussteigen wird man abermals überprüft. Von mir aus, bitte. Wir hatten ja die Marken. Ein Lift brachte uns nach oben. Und das, was uns da erwartete, verschlug uns für einige Zeit den Atem. Sektion Samorth war nicht nur die Wohnsiedlung der Arbeiter, sondern auch ihr Vergnügungsviertel. Straßen und Häuser waren in grelles und farbenprächtiges Licht getaucht. Leuchtreklamen und Holoplakate lockten Neugierige an, zu denen, wie ich bemerkte, auch Raumfahrer der Handelsflotte gehörten. Sie waren es, die wir suchten. Wir mischten uns unter die sich langsam vorbeischiebende Menge, was weiter nicht auffiel. Viele der abgelösten Arbeiter gingen nicht erst nach Hause, sondern verschwanden in Lokalen oder Videokinos. Fartuloon deutete auf ein Haus, das von langsam nach oben steigenden und in allen Farben schillernden Rauchwolken eingehüllt war. »Da gehen wir hinein, ich möchte mal wieder Urwald und Meer riechen.« »Bist du übergeschnappt?« Er grinste. »Keineswegs. Kennst du kein Dufthaus?« »Dufthaus? Was ist denn das?« »Ein Dufthaus ist ein Dufthaus. Na, komm mit, ich zeig es dir. Wundert mich nicht, dass sie so etwas hier haben. Der ganze Planet stinkt ja nach Synthetik.« Fartuloon hielt schon das Kleingeld bereit, um den Eintritt zu bezahlen. Aber der Roboter am Eingang wollte nicht nur Geld, er wollte auch unsere Marken sehen und prüfte, ob wir Freischicht hatten. Im Innern gab es eine Menge Tische und fast ebenso viele hübsche Frauen, die den Gästen das Geld aus der Tasche zu locken versuchten. Doch das war nicht der eigentliche Sinn des Hauses. Ich roch es sofort: Ozean!
Salzwasser! Meeresluft! Fartuloon zog mich zu einem freien Tisch und bestellte irgendein Getränk. Dann jagte er zwei Frauen fort, die sich zu uns setzen wollten. »Wir befinden uns jetzt auf einem paradiesischen Planeten«, begann Fartuloon zu schwärmen und verdrehte genießerisch die Augen. »Unmittelbar vor uns liegt ein grenzenloses Meer mit klarem, sauberem Wasser – du kannst es riechen. Dann der Duft der blühenden Bäume am Strand – aha, da ist er schon.« Und nüchtern fügte er hinzu: »Wirklich gut organisiert, wie alles hier.« Auf der gewölbten weißen Wand uns gegenüber entstand genau das Bild, das Fartuloon gerade geschildert hatte. Die Illusion war so täuschend, dass ich fast meine Umgebung vergessen hätte. Aber man roch und sah nicht nur das Meer und die Bäume, sondern man hörte auch das leise Gluckern der Wellen und das Rauschen der Zweige im Wind. Darüber spannte sich ein makellos blauer Himmel, wie ich ihn bisher nur selten gesehen hatte. Der Strand bestand aus feinem gelbem Sand. »Wundervoll, nicht wahr?«, erkundigte sich Fartuloon stolz, so als sei er der Besitzer des Dufthauses. »Genieße es, denn bald kommt ein anderes Bild. Manchmal servieren sie einem auch unangenehme Dinge, damit man sich wieder über die Wirklichkeit freuen kann.« Wir erlebten noch einen wilden Urplaneten mit stinkenden Sauriern und muffigen Wohnhöhlen primitiver Eingeborener, wurden in eine moderne Großstadt des Imperiums versetzt und rochen vor der Pause schließlich noch den Duft vieler Blumen. Ich war froh, dass es schummerig blieb und die Beleuchtung nicht voll eingeschaltet wurde. Das geschah wahrscheinlich mit Rücksicht auf jene Gäste, die Animierdamen am Tisch hatten. Trotzdem war es noch immer hell genug, um Einzelheiten erkennen zu können. An einem
Tisch saß eine ganze Runde typischer Handelsfahrer. Sie schienen ziemlich angeheitert zu sein, denn sie nahmen nur wenig Rücksicht auf ihre Umgebung. Das konnten sie sich auch erlauben, denn schließlich waren sie keine Strafversetzten, sondern freie Zivilisten. Allerdings hatten auch sie bei der Landung Erkennungsmarken erhalten, um sich ungehindert auf Varlakor bewegen zu können. »Interessant, meinst du nicht?«, flüsterte Fartuloon. »Man sollte unauffällig mit ihnen ins Gespräch kommen. Es muss doch ein Schiff hier geben, das von illegalen Geschäften existiert.« »Wir können ja mal dumm fragen«, schlug ich vor. Davon jedoch riet Bauchaufschneider erschrocken ab und meinte, wir müssten uns den Mann vorher genau ansehen. Ein einfaches Besatzungsmitglied eines Frachters könne uns auch nicht weiterhelfen, wir müssten uns schon an den Kapitän wenden. Die Frage war nur: Wie fanden wir einen? Ich ließ die Gruppe nicht aus den Augen, auch dann nicht, als der zweite Teil des Programms vor unseren Augen, Ohren und Nasen abrollte. Dann erweckte jemand meine Aufmerksamkeit, der zur Eingangstür hereingeschwankt kam und mit grölender Stimme nach seinen Männern rief. Allgemeines Gebrüll der fröhlichen Runde antwortete ihm. »Aufpassen«, riet Fartuloon, der den Vorgang ebenfalls beobachtet hatte. »Das könnte unser Mann sein.« Er war stark und untersetzt gebaut und wirkte nicht gerade besonders intelligent, aber er war offensichtlich der Vorgesetzte der Gruppe, die wir den ganzen Abend schon beobachtet hatten. Wir konnten fast jedes Wort verstehen, das an dem Tisch gesprochen wurde, denn die fröhliche Runde tat, als gehöre ihr das Etablissement. »Hallo, Skipper«, rief jemand. »Fein, dass du da bist. Wie war es bei den Frauen?« Der so Angesprochene grinste von einem Ohr zum anderen.
»Frag nicht so dämlich. Wie soll es schon gewesen sein nach einer Ewigkeit auf unserem altersschwachen Kahn? Bestellt was zum Trinken, ich habe Durst. In wenigen Tagen sind wir wieder unterwegs.« Nach einer Weile wussten wir auch, mit wem wir es zu tun hatten. Der Untersetzte war Handelskapitän Basnorek und Eigentümer eines Frachters, der zwischen den Welten des imperialen Randgebiets pendelte und nicht immer ganz saubere Geschäfte machte – also ganz genau der Mann, den wir suchten. Trotzdem konnten wir ihn jetzt nicht einfach ansprechen, denn es war ja auch möglich, dass er lieber mit Jalvor als mit uns ein Geschäft abschloss. Fartuloon und ich überlegten, wie wir am sichersten vorgehen sollten, und als wir uns entschieden hatten, bereiteten sich Basnorek und seine Leute auf den Aufbruch vor. Sie wohnten in einem billigen Hotel gleich um die Ecke, denn die Strecke bis Elkinth war zu weit, um sie jeden Tag zurückzulegen, sofern es nicht unbedingt notwendig war. Wir zahlten ebenfalls und folgten dem lärmenden Haufen, der sich durch die engen Gänge zwischen den dicht stehenden Tischen zwängte. Auf der Straße lockten die fröhlichen Männer Basnoreks sofort einen ganzen Schwarm geldhungriger Frauen an, die mit freudigem Gebrüll begrüßt wurden. Gleichzeitig löste sich naturgemäß der Verein auf, denn bei dieser Art von Abwechslung wollte jeder lieber für sich allein sein. Basnorek blieb schließlich allein zurück, schien für heute genug zu haben. Er torkelte vor uns her und versuchte sich zu orientieren. Die Entgegenkommenden wichen ihm geflissentlich aus, denn er rempelte jeden an, der ihm nicht aus dem Weg ging. Einfach ansprechen wollten wir ihn noch nicht, das wäre zu verdächtig gewesen, also warteten wir auf eine Chance. Die kam auch prompt, wie wir es erwartet hatten. Wir hatten vorausgesehen, dass es unvermeidlich war, denn
Basnorek war inzwischen total betrunken. Zwei Möglichkeiten hatten wir uns ausgerechnet: Entweder verlor er das Gleichgewicht und fiel hin, oder aber er begann Streit mit jemandem, der keine Angst vor ihm hatte. In beiden Fällen würden wir Gelegenheit erhalten, die Bekanntschaft des Handelskapitäns zu machen. Er fiel nicht hin, wenn es manchmal auch so aussah, dafür rannte er in eine Gruppe verkommen aussehender Gestalten, die ihn zuerst mit Hallo begrüßten, ihn dann jedoch verprügeln wollten, als er sie verfluchte. Es musste sich bei den Männern ebenfalls um Raumfahrer handeln, aber sicherlich von einem anderen Schiff. »Nun aber ran«, knurrte Fartuloon und setzte sich in Bewegung. Ich lief hinter ihm her und bereitete mich auf einen ordentlichen Faustkampf vor, aber ich kam um einige Augenblicke zu spät. Basnorek hatte zwei der ebenfalls nicht mehr ganz nüchternen Männer niedergeschlagen, als Fartuloon schnaubend heran war und den Rest niederwalzte. Basnorek war sichtlich beeindruckt. Schwankend kam er auf Fartuloon zu und umarmte ihn stürmisch. Ich stoppte meinen vergeblichen Anlauf und hörte Basnorek sagen: »Freund und Retter, lass dich umarmen. Solche Männer wie dich könnte ich brauchen. Dagegen sind die meinen Schwächlinge. Aber ich wäre auch allein mit den Kerlen da fertig geworden.« Er stieß einen, der sich gerade erheben wollte, mit dem Fuß zurück. »Kommt, wir müssen verschwinden, ehe jemand die Polizei ruft. Wo ist denn nur mein Hotel?« Da konnten wir ihm leider auch nicht helfen, aber als wir ein Stück gegangen waren, entsann er sich wieder. »Ihr kommt mit, Freunde, dann trinken wir noch einen Schluck zusammen.« »Wir müssen morgen zur Schicht«, sagte ich. Innerlich war ich froh, eine vorläufige Unterkunft gefunden zu haben, denn
vor morgen konnten wir nicht nach Garthak zurückfahren. »Aber wir haben nichts gegen einen guten Schluck einzuwenden.« Er sagte uns die Richtung, wir führten ihn, damit er nicht stolperte. Zum Glück befand sich das Hotel ganz in der Nähe der Bahnstation, sodass wir später nicht lange würden suchen müssen. Er bestellte beim Robotportier einige Flaschen und schleppte uns auf sein Zimmer – das heißt, eigentlich schleppten wir ihn. Zuerst wollte er gleich im Lift schlafen und beschwerte sich über die kleinen Buden, die man hier als Luxusräume anbot, doch dann konnten wir ihn überzeugen, dass wir noch nicht am Ziel angelangt waren. Ein Robot brachte die Flaschen und Gläser und verschwand wieder. Basnorek fiel auf sein Bett und begann sofort zu schnarchen – uns schien er völlig vergessen zu haben. Fartuloon winkte mir zu. »Soll er sich ein wenig ausschlafen, das kann nicht schaden. Ein bisschen Ruhe tut uns auch gut, außerdem schlagen wir die Zeit so besser tot. Der erste Zug geht erst bei Morgengrauen.« Wir machten es uns in den beiden Sesseln bequem, wurden aber nach einer Weile durch Lärm auf der Straße aufgeschreckt. Vorsichtig sah ich aus dem Fenster. Eine uniformierte Patrouille hielt die Passanten an und kontrollierte die Erkennungsmarken. Da ihre Besitzer nicht mehr ganz nüchtern waren, kam es zu heftigen Diskussionen zwischen ihnen und der Polizei. Meist endete sie damit, dass der Angetrunkene trotz lautstarken Protests in ein Fahrzeug verfrachtet und davongefahren wurde. Unsere Befürchtung, dass man auch das Hotel überprüfen würde, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Aber Basnorek war wach geworden. »Wo kommt ihr denn her?«, fragte er und sah uns mit großen Augen erstaunt an. »Ist dies mein Zimmer oder nicht?« Fartuloon setzte sich zu ihm ans Bett. »Aber Basnorek, hast
du deine Freunde schon wieder vergessen? Wir haben dir doch das Leben gerettet, weißt du denn nicht mehr?« Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Er nickte und wäre dabei fast aus dem Bett gekippt. »Richtig, stimmt.« Er deutete auf mich. »Und der war auch dabei?« »Das ist Epnor«, klärte Fartuloon ihn auf. »Und ich bin Tulonfar. Willst du etwas trinken, bevor wir dich verlassen?« Jetzt wurde Basnorek plötzlich munter. »Ihr wollt schon gehen? Jetzt, da es gemütlich wird? Nein, ihr könnt mich nicht im Stich lassen, jetzt nicht. Ich bin so froh, dass ich euch getroffen habe. Bleibt, trinken wir noch einen.« Wir tranken nicht nur einen, sondern mehrere. Das Zeug hatte nur einen geringen Alkoholgehalt und schadete uns nichts, wohl aber Basnorek, der bereits mehr als genug getrunken hatte. Er wurde immer gesprächiger. Und dann kam er endlich zu dem Punkt, den wir vorsichtshalber nicht selbst angeschnitten hatten. »Ihr arbeitet also auf Varlakor? Ihr müsst verrückt sein, oder habt ihr etwas verbrochen?« »Nicht der Rede wert«, sagte ich. »Aber du weißt ja, wie das so ist. Missgunst und so … und schon haben sie uns hierher verfrachtet. Was glaubst du, wie gern wir hier weg möchten?« So, nun ist es heraus. Basnorek brauchte einige Zeit, um das Gehörte zu verdauen, dann setzte er eine halb volle Flasche an und leerte sie in einem Zug. Er betrachtete uns mit glasigen Augen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er nicht mehr denken konnte. Im Gegenteil, sein Gesicht verriet nur allzu deutlich, dass er in diesem Augenblick sehr klar dachte. »Ihr wollt weg?«, vergewisserte er sich, in seiner Stimme war etwas Lauerndes. »Warum geht ihr dann nicht weg?« »So einfach ist das auch nicht«, mischte sich nun auch Fartuloon ein, als wolle er bekunden, wie einig wir uns seien. »Praktisch werden wir hier gefangen gehalten. Wie sollten wir
auch wegkommen? Passagierschiffe gibt es kaum, die Kontrollen sind scharf. Man würde uns nicht an Bord lassen.« Er betrachtete uns lange und forschend, aber noch zögerte er, mit einem Angebot herauszurücken. Vielleicht war es kein Misstrauen, das ihn davon abhielt, sondern seine angeborene Vorsicht, ohne die er wahrscheinlich schon längst in einem Gefängnis gelandet wäre. »Ich könnte ein paar Männer wie euch brauchen«, wiederholte er schließlich das, was er schon einmal im Scherz gesagt hatte. Aber diesmal meinte er es ernst. »Vielleicht gibt euch die Behörde die Ausreisegenehmigung, wenn ich ein gutes Wort einlege.« Fartuloon wehrte mit beiden Händen ab. »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen, Kapitän. Die haben noch nie jemanden ausreisen lassen. Schade, wir hätten dir gern geholfen.« Der Bauchaufschneider war unverschämt genug, den Spieß umzudrehen. Basnorek sank in die Kissen zurück. »Wisst ihr was?« Er schloss die Augen. »Ich muss das überschlafen. Habt ihr Platz in den Sesseln? Dann schlaft auch. Morgen reden wir weiter. Jetzt bin ich voll.« »Wir müssen morgen zur Arbeit«, erinnerte ich ihn. »Weckt mich rechtzeitig – mit kaltem Wasser.« Wir sahen uns an. Fartuloon zuckte mit den Schultern. »Schlafen wir auch ein paar Tontas. Wir versäumen nichts.« Trotz der Ungewissheit gelang es mir nach einiger Zeit, die Schnarchtöne meiner beiden Zimmergenossen zu ignorieren und ebenfalls in einen unruhigen Schlummer zu verfallen. Ich träumte von einem herrlichen Meeresstrand auf einer paradiesischen Urwelt.
Als mich Fartuloon weckte, roch es nach allen möglichen Dingen, nur nicht nach einem Paradies. Basnorek schlief noch. Ich stand auf, öffnete das Fenster und wusch mich. Mit einem Glas Wasser kehrte ich ins Zimmer zurück. »Hoffentlich erschrickt er nicht.« »Lass mich das machen.« Fartuloon nahm mir das Glas ab und entleerte es über des Kapitäns friedlichen Zügen. »So, das wird genügen.« Er gab mir das Glas zurück und rüttelte so lange an des Schlafenden Schultern, bis dieser erwachte und sich aufrichtete. Diesmal erkannte er uns sofort. »Aha, ihr seid noch da? Bestens! Da können wir ja noch einmal über die Sache reden. Ich habe es mir überlegt.« »Du hast geschlafen«, erinnerte ich ihn. »Dabei kann ich am besten denken. Also, wenn ihr wollt, nehme ich euch mit. Ich bin ohnehin knapp an guten Leuten. Abgemacht?« Fartuloon gab mir durch einen Blick zu verstehen, dass ich den Rest ihm überlassen solle. Vielleicht hatte er recht, denn sein gestriger Auftritt hatte Basnorek ungemein imponiert. »Da ist noch ein Haken an der Geschichte: Wir sind nicht allein. Es sind noch andere, die weg möchten. Können wir sie mitbringen?« »Wenn es gute Leute sind, habe ich nichts dagegen.« »Es sind gute Leute, Kapitän. Ich verbürge mich dafür. Wie machen wir es nun? Bringst du uns nach Elkinth?« »Unmöglich! Wie stellt ihr euch das vor? Offiziell darf ich mit der ganzen Sache nichts zu tun haben, das ist doch klar. Ihr müsst schon selbst nach Elkinth kommen, wie, ist mir egal. Dort erwarte ich euch in fünf Pragos. Einen Weg, euch unbemerkt ins Schiff zu bringen, finde ich schon. Aber das ist auch alles, was ich tun kann.« »Wie weit ist es bis Elkinth?«
»Mit der Tunnelbahn ungefähr drei Tontas.« Ich rechnete mir aus, dass man zu Fuß für diese Strecke etwa eine Arkon-Periode benötigen würde, keinesfalls fünf Pragos. »Also gut«, sagte Fartuloon. »Dann ist es abgemacht. Wir sind in fünf Pragos in Elkinth.« »Erwartet mich im Tauschbecken der Stadt. Verschafft euch andere Bekleidung, wenn möglich. Habt ihr Geld?« »Genug«, sagte Fartuloon, ehe ich »nein« sagen konnte. Basnoreks Gesicht verriet noch mehr Interesse als zuvor. »Das ist sehr gut. Geld kann man immer gebrauchen.« Wir tranken noch eine Flasche auf das Gelingen unseres Plans, dann nahmen wir Abschied von Kapitän Basnorek. Unangefochten verließen wir das Hotel und mischten uns unter den Strom der Arbeiter, die dem Bahnhof zustrebten. Wir zeigten unsere Marken vor und bestiegen den Zug, der sich wenig später in Bewegung setzte. Leider waren wir nicht allein in dem Abteil, so dass wir uns nicht unterhalten konnten. Aber das war jetzt auch überflüssig. Wir kannten unsere Rolle. Und vor uns lag ein wenig neue Hoffnung.
Unser Optimismus erhielt einen schweren Schlag, als wir endlich unser Versteck erreichten. Corpkor hatte allein einen Erkundungsgang unternommen und war noch nicht zurückgekehrt. Er hatte keine Erkennungsmarke und würde bei jeder Kontrolle auffallen und festgenommen werden. Wahrscheinlich war das auch geschehen. Wir drängten die Sorge um den vermissten Gefährten in den Hintergrund und berichteten von unserem bisher erfolgreichen Ausflug. Die Frage war: Wie kamen wir nach Elkinth, ohne die Rohrbahn zu benutzen? Als wir alle Möglichkeiten durchgesprochen hatten, kehrte die Sorge um Corpkor zurück. Wurde er einem Psychoverhör unterzogen, würde er uns unweigerlich
verraten, ob er wollte oder nicht. Zum Glück ahnte er noch nichts von Kapitän Basnoreks Existenz. Aber unser Versteck war nun nicht mehr sicher. Der Logiksektor sagte: Ihr müsst so schnell wie möglich ein anderes suchen. Da wir die Richtung nach Elkinth kannten – im Hotel hatte es eine entsprechende Karte gegeben, die für jeden zugänglich an der Wand der Vorhalle hing –, war es vernünftig, diese auch gleich einzuschlagen und Corpkor einen versteckten Hinweis zurückzulassen. Ich entsann mich eines uralten Spiels, das mich schon als Kind auf Gortavor fasziniert hatte. Einer hatte einen gewissen Vorsprung erhalten und musste sich verstecken, die anderen sollten ihn suchen und finden. Bedingung war jedoch, dass der Gesuchte an wichtigen Stellen eine Spur hinterließ und so Fingerzeige gab, wohin er sich geflüchtet hatte. Im Falle Corpkors war es nun wichtig, dass wir eine Spur hinterließen, die nur er lesen konnte, nicht aber eventuelle Häscher Daftokan Jalvors. Wir besprachen uns kurz. Eiskralle erklärte sich bereit, die mit seiner Fähigkeit unauffällige Spur zu legen, die jedoch für Corpkor offensichtlich sein musste. Gegen Mittag brachen wir auf und nahmen Lebensmittelvorräte mit. Ischtar trug unseren Sohn, während Fartuloon ihr Paket zu dem seinen packte. Da Corpkor ohne Waffe gegangen war, hatten wir die beiden Kombistrahler und den kleinen Nadler sowie Fartuloons Skarg. Eiskralle machte den Schluss, nicht ohne Grund. Das erste Zeichen brachte er gleich im Versteck an – an der Wand über dem Platz, an dem Corpkor geschlafen hatte. Er konzentrierte sich und berührte die massive Kunstmasse mit seiner fast durchsichtigen Hand. Sofort entstand Raureif, ein wenig Nebel stieg empor, dann zog Eiskralle die Hand wieder zurück. In der Wand war eine wenig auffällige Markierung entstanden, die ungefähr die Umrisse einer Hand aufwies. Niemand außer Corpkor würde
wissen, was das war und woher sie stammte. Sofern er nicht verhört worden war, würde er allein zurückkehren und sich alles zusammenreimen. Hatte man ihn aber gefasst, würden die Häscher ohne ihn kommen und vor einem Rätsel stehen, falls sie den Abdruck überhaupt entdeckten. Bei jeder Richtungsänderung würde Eiskralle fortan einen solchen Abdruck hinterlassen. Wir legten vorsichtig eine kurze Strecke auf dem Hauptkorridor zurück, bis wir eine größere Abzweigung in Richtung Elkinth fanden. Wir mussten immer aufpassen, dass uns niemand entgegenkam oder uns einholte, denn eine Gruppe wie die unsrige war viel zu auffällig. Ich musste an Epnor und Tulonfar denken, die wir in unserem bisherigen Versteck zurückgelassen hatten, nicht ohne ihnen eine zweite starke Paralysedosis zu verabreichen. Erst in vier Tagen klang die Lähmung ab, früher konnten sie keine Aussagen machen. Fand Corpkor sie, wusste er sofort, was geschehen war – und wenn seine eventuellen Häscher sie entdecken, würden sie vorerst nichts mit ihnen anfangen können. Der Korridor war schwach beleuchtet und endete weit vor uns an einem großen Tor. Wir hielten an, um zu beraten. »Wir müssen weiter«, drängte Fartuloon, der mein Zögern missverstand. »Tor oder nicht Tor, wir können nicht mehr zurück. Das ist die Richtung nach Elkinth. Irgendwo finden wir später vielleicht ein Fahrzeug. Sehen wir uns das Tor an und finden heraus, was dahinter ist.« Schon von Weitem hörten wir, was hinter dem Tor war. Die Geräusche verrieten es eindeutig. Dann standen wir vor dem Tor und suchten nach dem Öffnungsmechanismus. In Augenhöhe war ein schmaler Schlitz angebracht, der mich auf den richtigen Gedanken brachte. Ich nahm Epnors Marke aus der Tasche und schob sie vorsichtig bis zur Hälfte in den Schlitz. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann ertönte ein
leises Surren. Das Tor glitt auf. Eiskralle hatte inzwischen sein Spurenzeichen neben dem Tor angebracht. Ein Finger zeigte auf den Schlitz, ein anderer auf den glatten Boden, auf den ich meine Marke legte, damit Corpkor sie fand. »Jetzt haben wir nur noch eine«, sagte Ischtar beunruhigt. Ich gab keine Antwort. Wie erwartet befanden wir uns in einer riesigen Montagehalle, in der kein einziger Arkonide zu sehen war, nur einige Wartungsroboter waren vorhanden. Sie kümmerten sich jedoch nicht um uns. Die ganze Anlage arbeitete vollautomatisch und wurde positronisch gesteuert. Auf langen Bändern wurden die fertiggestellten Teile abtransportiert. Es handelte sich meist um Waffenteile, die in einem anderen Teil der subplanetarischen Riesenfabrik zusammengesetzt wurden. Wahrscheinlich hatten Epnor und Tulonfar dort gearbeitet. Wir gingen in der bisherigen Richtung weiter und kamen nun schnell voran, da wir hier kaum eine gefährliche Begegnung zu erwarten hatten und außerdem jederzeit schnell ein Versteck gefunden hätten. Eiskralle versäumte es nicht, hin und wieder sein Zeichen anzubringen. Mehrere Tontas marschierten wir durch die gewaltige Anlage, bis wir endlich wieder eine breite Tunnelstraße erreichten, die in Richtung Elkinth verlief. Eingelassene Steuerschienen verrieten, dass auf ihr auch ferngelenkte Fahrzeuge verkehrten. Und dann entdeckte Fartuloon wieder das kleine Schild, das wir schon kannten: Notunterkunft für den Fall eines Angriffs aus dem All. Das bedeutete auch, dass sich in der Nähe ein Weg zur Oberfläche befand. Wir beschlossen, hier unser zweites Lager aufzuschlagen, legten das Gepäck ab und hielten es für ratsam, hier zumindest den morgigen Tag abzuwarten, um Corpkor Gelegenheit zu geben, uns einzuholen. Als ich neben Ischtar auf dem bequemen Lager Platz
genommen hatte, fragte sie: »Was meinst du, findet er uns? Wir können doch nicht ohne ihn weiter.« Ich wusste keine Antwort auf ihre Frage, aber sicherlich hatte sie recht, wenn sie meinte, dass wir Corpkor nicht im Stich lassen konnten. Mehr als einmal hatte er mir das Leben gerettet und war in gefährlichen Situationen immer ein zuverlässiger Freund gewesen. Dass sich auch die Varganin um ihn sorgte, zeigte mir, wie sehr sie sich verändert hatte. »Wenn er morgen nicht auftaucht, gehe ich zurück und suche ihn«, sagte ich und schloss die Augen. Aber ich konnte nicht einschlafen, Corpkors ungewisses Schicksal beschäftigte mich zu sehr.
17. Aus: Flora Arconidica. Bd. XII (Yonkinales, Sagathaies und Sagasathinales); C.H. Leng & A. Dobson; Moskwa, Terra 2097 n.Chr. Essoya-yonki (Arkonidische Stinkwurz) Essoya arconidica; Ordnung: Yonkinales, Familie: Essoyaceae; nach Cayal da Myndaq und Ka’Marentis Sheffal da Sisaal Xerophyt. Unter den 9 nur in der Regenzeit vorhandenen, blau bereiften, ganzrandigen Blättern können 5 bis 6 untere, stängelumfassende, abgerundete, sitzende, und 3 bis 4 obere, tief herzförmige, gestielte unterschieden werden. Blüten direkt der kurzen, nur 6 bis 10 cm langen Sprossachse terminal aufsitzend, klein, gelblich, unangenehm nach Schwefel riechend. Früchte trocken, braun bis braunschwarz, oval, 4 bis 5 mm lang, 2 Widerhaken. Die 20 bis 25 cm große, ovale bis kugelige, Wasser speichernde Knolle enthält zahlreiche Myndaqin-Derivate (Tonikum, Antidepressivum). Ursprünglich wohl für die Trockentäler der Hesin-Hou-Halbwüste
(Arkon I) endemisch. Später in unzähligen genetisch teilweise stark veränderten Varianten und Zuchtformen (E. arconidica ssp. domestica-Komplex) in den gesamten Trockentropen von Arkon I verbreitet. Wildform strengstens geschützt!
Varlakor: 9. Prago der Hara 10.499 da Ark Natürlich war sich Corpkor darüber im Klaren, dass er ein Risiko einging, wenn er sich selbstständig machte, aber er verfolgte dabei ein ganz bestimmtes Ziel. Zwei Spähtrupps waren besser als einer, und der erste war nun schon zu lange unterwegs. Er wollte herausfinden, was passiert war. Er teilte Eiskralle und den Frauen seinen Plan mit und stieß nur auf geringen Widerstand, als er versprach, bald wieder zurück zu sein. Der Zufall brachte es mit sich, dass ihm einer der überall umherstreifenden Aufseher begegnete, als er sich auf dem Weg zur Oberfläche befand. Der Beamte schöpfte sofort Verdacht und hielt ihn an. Corpkor fasste einen schnellen Entschluss, schlug den Aufseher nieder und schleppte ihn in einen Seitengang, nahm ihm die Marke ab und zog ihn aus, um sich selbst die Uniform anzulegen. Seine eigene Kombination behielt er darunter an. Vorsichtshalber richtete er den kleinen Narkosestrahler auf den Kopf des ohnehin schon Bewusstlosen und sorgte so dafür, dass er einige Zeit schlief. Mit Uniform, Erkennungsmarke und Waffe ausgerüstet, setzte der Tiermeister seine Erkundung fort. Er stieg die Nottreppe hinauf und erreichte die Oberfläche, aber bei Tageslicht sah Garthak noch trostloser aus als bei Nacht. Er kehrte um und ging zum Bahnhof. Während der normalen Arbeitszeit verkehrten hier nur wenige Züge; als gewöhnlicher Arbeiter hätte der Roboter am Wagen ihn sicherlich aufgehalten. Aber so konnte er ungehindert passieren, als er seine Marke vorzeigte. Er fand ein leeres
Abteil und wartete. Zu seinem Missvergnügen blieb er jedoch nicht lange allein. Ein anderer Aufseher sah ihn, als er im Gang vorbeikam, öffnete die Tür und setzte sich zu ihm. Corpkor gab den Gruß mit gezwungener Freundlichkeit zurück und tat so, als sei er müde von der anstrengenden Arbeit des Aufsehens. Der andere schien aber nicht müde sein zu wollen. »Wollen Sie auch nach Samorth?«, begann er das Gespräch. »Manchmal muss man dorthin, finden Sie nicht auch?« »Ja«, gab Corpkor einsilbig zurück, ohne durchblicken zu lassen, dass er sein Gegenüber auf den nächsten unbewohnten Planeten wünschte. »Ich kenne da ein paar nette Lokale und hübsche Mädchen. Seltsam, dass ich Sie noch nie getroffen habe. Sie sind wohl noch nicht lange in Garthak?« »Noch nicht sehr lange, stimmt.« »Wo machten Sie denn vorher Dienst?« »Elkinth.« »Oh, der Handelshafen«, schwärmte der lästige Reisende. »Wie gerne würde ich dorthin versetzt werden. Man bekommt die abenteuerlichsten Burschen dort zu sehen, und wenn man klug ist, kann man auch einen guten Fang machen, der einem die Beförderung einbringt.« »Hm.« »Ach, Sie haben damit wohl bisher kein Glück gehabt? Sind Sie darum nach Garthak versetzt worden?« »Möglich.« Wenn der nicht bald seinen Mund hält, dachte Corpkor, gehen mir die Nerven durch. Der muss doch sehen, dass ich schlafen will. Oder hat er vielleicht schon Verdacht geschöpft? Er beschloss, vorsichtiger und freundlicher zu sein. »Ja, so ist das«, fuhr der fremde Aufseher unbeirrt fort. »Man erntet nur Undank – aber das dürfen Sie nicht laut sagen. Was
glauben Sie wohl, warum ich nach Samorth fahre? Ich will es Ihnen verraten: um zu vergessen. Ich müsste schon längst Kommandant eines kleinen Stützpunkts sein, und was bin ich? Ein Hilfspolizist, nicht mehr und nicht weniger.« »Jawohl, Sie haben völlig recht. Auch ich wurde so behandelt. Nur hatte ich noch keine Gelegenheit, nach Samorth zu fahren.« »Das trifft sich ja ausgezeichnet. Ich werde Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen. Ich kenne mich da aus. Meine Frau meint zwar, ich arbeite länger, aber Frauen müssen ja auch nicht alles wissen. Sind Sie auch verheiratet?« »Ich habe keine Familie.« Und so ging das die ganze Fahrt, bis der Zug endlich im Bahnhof von Samorth einlief und hielt. Corpkor ahnte, dass er den Aufseher so schnell nicht mehr loswurde, und beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Vielleicht ergab sich später eine Gelegenheit, ihn einfach zu »verlieren«. Torentok, so hieß der übereifrige »Kollege«, schleppte Corpkor in eine üble Kneipe mit sogenannten Vorstellungen. Es gab billigen Wein, der nach Wasser schmeckte. Corpkor langweilte sich entsetzlich bei den Verrenkungen der »Schauspielerinnen«, die sich auf der schmalen Bühne herumdrängten, denn er hatte ganz andere Sorgen. »Gefällt es dir?«, fragte Torentok, schon vertraulicher werdend. »Sehr«, gab Corpkor zurück, obwohl es ihm überhaupt nicht gefiel. »Gleich zeige ich dir einen anderen Laden, da wirst du staunen. Wenn meine Frau wüsste …« Der Kerl gefiel Corpkor immer weniger; er überlegte krampfhaft, wie er ihn loswerden konnte, ohne Verdacht zu erregen. Er wollte Erkundigungen einziehen, aber nicht mit so einem Wüstling seine kostbare Zeit vertrödeln. Die anderen im
Versteck würden sich schon Sorgen um ihn machen. »Ich habe noch eine Verabredung«, sagte er schließlich, als er glaubte, Torentok sei angetrunken genug, um nicht mehr klar denken zu können. »Es war nett von dir, mich eingeladen zu haben, aber nun muss ich wirklich gehen.« Torentok blinzelte und sagte dann: »Verabredung? Mit wem denn? Ich meine, du bist fremd hier und kennst niemanden …?« »Ein Bekannter aus Elkinth«, versuchte Corpkor den Fehler zu bereinigen. »Wir wollten uns heute hier treffen.« »Und wo?« Nun war Corpkor natürlich überfragt. »Ei, verflucht! Den Namen habe ich vergessen.« »Auch den des Bekannten?«, fragte Torentok, misstrauisch werdend. »Natürlich nicht. Aber das Lokal … oder war es ein Hotel? Ich muss nachdenken. Vielleicht fällt es mir wieder ein.« Torentok nippte, zurückhaltender geworden, an seinem Wein. »Du erzählst seltsame Geschichten, Corpkor. Weißt du was? Ich glaube dir kein Wort.« Er stellte sein Glas auf den Tisch zurück und bekam schmale Augen. »Du lügst schon die ganze Zeit.« Corpkor versuchte es im Guten. »Red keinen Unsinn. Warum sollte ich dich belügen? Du bist nur betrunken, das ist alles. Ich habe mich wirklich mit einem Bekannten hier verabredet. Was kann ich denn dafür, dass ich den blödsinnigen Namen vergessen habe?« »Vielleicht war es das Dufthaus«, schlug der Aufseher vor. »Nein, das hätte ich behalten.« Es kamen noch andere Namen, aber Corpkor hütete sich, bei einem »ja« zu sagen. Torentok wäre mitgekommen. Er musste ihn anders loswerden. Aber wie nur? Sie wechselten das Lokal, ohne dass sich eine Gelegenheit ergab, eine
unverdächtige Trennung vorzunehmen. Corpkor begann Blut und Wasser zu schwitzen. Torentok schob ihn durch die Eingangstür. »Das hier ist etwas vornehmer, hier verkehren fast nur unsere Kollegen, nicht die Arbeiter-Essoya. Dort drüben sitzen ein paar Bekannte von mir. Ich stelle dich ihnen vor.« Das war natürlich das Allerschlimmste, was Corpkor passieren konnte, aber nun gab es kein Zurück mehr. Er bereute es längst, so eigenmächtig gehandelt zu haben. Torentok wurde mit großem Hallo begrüßt, auch Corpkor wurde freundlich, wenn auch mit Zurückhaltung, akzeptiert. Er beantwortete einige belanglose Fragen, dann sagte jemand: »In Elkinth war ich längere Zeit stationiert, auch als Aufseher in der Lagerverwaltung der Händler. Wie geht es dem alten Markendor in der Kantine?« »Oh, ganz gut«, reagierte Corpkor schnell. Leider hatte er den Fehler begangen, nicht darauf zu achten, dass Torentok vorher mit dem Fragesteller geflüstert hatte. Sonst wäre er mit seiner Auskunft vorsichtiger gewesen. Und so war er zu Tode erschrocken, als der Mann sagte: »Es geht ihm gut? Das ist aber erfreulich zu hören. Er ist nämlich schon vor längerer Zeit gestorben. Das wussten Sie nicht?« »Ich … ich komme nur selten in die Kantine«, versuchte er sich herauszureden. Die anderen Arkoniden am Tisch waren aufmerksam geworden, unterbrachen ihre Gespräche und hörten zu. Torentok sagte: »Er kam mir von Anfang an verdächtig vor, dieser Corpkor. Ich bin überzeugt, dass er lügt. Vielleicht wird er sogar von der Polizei gesucht.« »Das haben wir gleich«, erbot sich jemand und stand auf. »Ich kenne jemanden in der Fahndungsabteilung. Ein Anruf genügt, dann wissen wir Bescheid. Ich bin gleich wieder da.« Corpkor sah mit gemischten Gefühlen hinter ihm her.
Niemand kannte seinen Namen auf Varlakor. Aber warum war er auch so leichtsinnig gewesen, diesem Schnüffler Torentok nicht den Namen anzugeben, der auf seiner erbeuteten Marke stand? Vielleicht half eine Ausrede. »Lasst doch den Blödsinn, Freunde. Natürlich habe ich Torentok einen erfundenen Namen genannt. Es muss ja niemand wissen, dass ich nach Samorth gefahren bin – oder möchtet ihr gern, dass eure Frauen von euren Besuchen hier erfahren? Na also.« Er griff in die Tasche und warf die Marke auf den Tisch. »So heiße ich, jetzt werdet endlich vernünftig.« Torentok griff nach der Marke und betrachtete sie. »Barraskont also. Hättest du auch gleich sagen können. Niemand von uns würde dich verraten. Ah, da kommt Jerkos schon zurück. Was macht er nur für ein Gesicht?« Jerkos blieb stehen. »Ein Corpkor wird nicht gesucht, denn es gibt überhaupt keinen Aufseher, der so heißt. Dafür wurde ein gewisser Barraskont soeben in Garthak gefunden, in der Nähe eines Notausstiegs. Er wurde niedergeschlagen und halb nackt liegen gelassen. Seine Marke fehlt.« Torentok warf sie zurück auf den Tisch. »Das ist sie. Er hatte sie bei sich.« Corpkor wollte in die Tasche greifen, um den Narkosestrahler zu ziehen, aber die anderen reagierten schneller als er. Vereint fielen sie über ihn her, entwaffneten ihn und trieben ihn aus dem Lokal. Einer bezahlte die Getränke und folgte nach. »Ich habe ihn entdeckt. Wenn eine Belohnung ausgesetzt ist, steht sie mir allein zu.« »Und ohne mich würdest du jetzt noch mit ihm saufen«, hielt Jerkos ihm entgegen. »Ich schlage vor, wir teilen uns alle die Belohnung, wenn es überhaupt eine gibt.« Er bog Corpkors Arm zurück. »Na, wie ist es? Bist du wertvoll genug, dass es sich lohnt?« Corpkor hatte beschlossen, keinen Ton mehr von sich zu geben. Sollten sie ihn doch zur Polizei schleppen und dort
abliefern. Er würde schon einen Weg finden, wieder freizukommen. Was immer seine ehemaligen »Freunde« auch beschlossen, die Entscheidung wurde ihnen aus der Hand genommen. Eine der Streifen kam mit einem Fahrzeug die Straße entlang und hielt, als sie Corpkor und seine Begleiter erblickte. Sie schienen wohl anzunehmen, es handele sich um eine beginnende Prügelei, wie es sie hier oft geben mochte. Die Beamten stutzten zwar, als sie feststellten, dass es sich ausschließlich um Aufseher handelte, aber sie kannten ihre Pflicht. »Was ist hier los?«, wollte einer von ihnen wissen und klopfte auf den Handgriff seiner Dienstwaffe, wobei er Corpkor durchdringend ansah. »Warum halten sie dich fest?« Ehe Corpkor antworten konnte, kam ihm Jerkos zuvor: »Er hat Barraskonts Marke. Wir haben ihn erwischt. Gibt das eine Belohnung?« Nun kam auch der Beamte dahinter, dass es sich nicht um eine der gewöhnlichen Schlägereien handelte. Ob es eine Belohnung gab, wusste er natürlich auch noch nicht, aber wenn es eine gab, dann würde er sie kassieren. Dementsprechend sagte er: »Das wird noch entschieden. Übergebt ihn mir und meinen Leuten. Falls ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt ist, werdet ihr benachrichtigt. Zeigt mir eure Marken.« Er notierte sich die Namen und Nummern und gab die Marken zurück. Während Corpkor abgeführt und zum Gleiter gebracht wurde, hörte er die Zurückbleibenden miteinander streiten. Wahrscheinlich ging es um die zu erwartende Belohnung. Wäre seine Lage nicht so bedrohlich gewesen, hätte er schadenfroh sein können. So war er nur wütend, dass seine Mission ein so jähes Ende gefunden hatte. Bald ließen sie die Stadt hinter sich und erreichten ein einsames Gebäude, das von einer stabil aussehenden Mauer umgeben war. Am Tor stand ein Posten, der zuerst grüßte und dann öffnete.
»Aussteigen!« Corpkor befolgte den Befehl und wunderte sich, dass man ihm noch keine Fesseln angelegt hatte. Man führte ihn in eine kahle Stube. Hinter einem Tisch saß ein höherer Polizist, wahrscheinlich der Kommandant des Polizeipostens. »Wen bringt ihr denn da?« »Haben wir in Samorth aufgegriffen, Erhabener. Muss der Mann sein, der Barraskont niederschlug, denn er hat seine Marke und seine Uniform. Vielleicht wollte er von Varlakor fliehen.« Der Kommandant blätterte durch eine Akte und sah Corpkor an. »Gestehen Sie?« Corpkor wusste, dass er seine Lage kaum noch verschlimmern konnte. Störrisch schüttelte er den Kopf. »Ich sage überhaupt nichts.« »So, Sie wollen nichts sagen? Na schön, das hat auch Zeit bis morgen, dann wissen auch wir mehr über den Vorfall. Sie werden im Keller eingesperrt, dort werden Ihnen die Rebbchen Gesellschaft leisten. Viel Vergnügen.« Corpkor hatte nicht die geringste Ahnung, wer diese Rebbchen waren. Vielleicht ein spezieller Ausdruck für Landstreicher oder Gauner, die man festgenommen hatte. Ihm konnte es gleich sein, wer ihm Gesellschaft leistete, wenn sie nur den Mund hielten, damit er ungestört nachdenken und einen Fluchtplan entwickeln konnte. Sie brachten ihn eine Treppe hinunter, öffneten eine Holztür, was auf dieser Welt geradezu einem Wunder gleichkam, und gaben ihm einen Stoß in den Rücken. Er stolperte in einen dunklen Raum und hielt sich an der Wand fest, um nicht den Halt zu verlieren und zu stürzen. Die Tür knallte zu, ein primitiver Riegel schnappte ein, dann war Stille. »Ist hier jemand?«, fragte Corpkor vorsichtshalber, weil er es vermeiden wollte, auf einen anderen Gefangenen zu treten,
aber er bekam keine Antwort. Allmählich nur gewöhnten sich seine Augen an die Dämmerung. In einer Ecke war eine trübe Lampe, mehr Beleuchtung gab es nicht. Sie genügte jedoch, ihn allmählich seine Umgebung erkennen zu lassen. Die Zelle war ziemlich geräumig. Mehrere leere Lagerstätten standen ringsum an den Wänden, aber von einem »Rebbchen« entdeckte er keine Spur. »Die spinnen, die Varlakorii«, murmelte er schließlich, suchte sich ein Bett aus, setzte sich und streckte die Beine von sich. »Möchte wissen, wie es den anderen inzwischen ergeht. Mich jedenfalls sind sie vorläufig los.« Er hatte vorher Appetit verspürt, aber der war ihm inzwischen gründlich vergangen. Nur Durst hatte er; mit Wehmut dachte er an den billigen und schlechten Wein von Samorth. Da es aber nichts gab, weder zu essen noch zu trinken, legte er sich lang und versuchte zu schlafen, was ihm natürlich nicht auf Anhieb gelang. Während er so vor sich hin döste und vergeblich versuchte, einen Ausweg aus der mehr als heiklen Lage zu finden, hörte er ein feines Geräusch. Es klang wie das leise Schaben eines stumpfen Messers auf Stein. Er lauschte eine Weile, dann gab er es auf, die Ursache zu ergründen. Vielleicht versuchte ein anderer Gefangener, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Es interessierte ihn vorerst nicht. Etwas später schlief er ein.
Er wusste nicht, wie lange er geschlafen und was er alles für entsetzliche Dinge geträumt hatte, aber das schabende Geräusch, von vereinzelten Pfiffen, weckte ihn. Es war lauter und intensiver geworden. Nein, das konnte kein Mitgefangener sein. Das war überhaupt kein Arkonide, das war ein Tier – oder mehrere. Nagetiere – die Rebbchen? Er blieb ganz ruhig liegen und versuchte sich zu konzentrieren.
Nach einiger Zeit glaubte er, die wichtigsten Kommunikationspfiffe der Tiere erfasst zu haben. Er befahl das Aufhören des Nagens oder Schabens – sofort wurde es still, kein Laut war mehr zu hören. Corpkor entspannte sich und schöpfte neue Hoffnung. Nun kam es nur noch darauf an, wie groß diese Rebbchen waren und was sie alles konnten. Sie mussten zumindest unangenehme Zeitgenossen sein, sonst hätte der Kommandant nicht hämisch auf sie hingewiesen. Kommt zu mir!, befahl Corpkor mit Pfeiflauten. Das Schaben und Nagen begann erneut. Es war stärker als zuvor und kam näher. Corpkor rutschte von seinem Lager und ging dem Geräusch nach, bis er an die untere Seite der gegenüberliegenden Wand kam. Das Nagen und Pfeifen war nun genau vor seinen Füßen. Er bückte sich, um besser sehen zu können, und bemerkte den feinen, mehligen Steinstaub, der aus einer schmalen Ritze fiel und den Boden zu bedecken begann. Es lag schon ein richtiger kleiner Haufen dort. Aus der Ritze wurde langsam ein Loch, so groß wie eine Faust. Und dann schaute ein kleiner, spitzer Kopf in das Gefängnis. Corpkor musste sich nun wieder konzentrieren und stieß sanftmütige und friedfertige Pfiffe aus. Seine Bemühungen waren von Erfolg gekrönt. Nur war es nicht ein Rebbchen, das durch das Loch schlüpfte, sondern gleich ein volles Dutzend. Sie tummelten sich in dem Raum und suchten allem Anschein nach Fressen. Corpkor seufzte, aber er hatte selbst nichts Nahrhaftes bei sich. Er überlegte fieberhaft, wie er die possierlichen Tierchen zu seiner eigenen Rettung einsetzen konnte. Den Worten des Kommandanten nach zu urteilen, griffen die Rebbchen auch größere Lebewesen an. Wenn man sie auf die Polizisten hetzen konnte, war schon viel gewonnen. Aber was würde das schon nützen? Mit den Energiestrahlern würde man ihnen den Garaus machen. Es war überhaupt ein
Wunder, dass die Plagegeister nicht schon längst ausgerottet wurden. Aber die Station lag weit außerhalb der Stadt am Rand der dürftigen Steppe. Wovon mochten sie leben? Viel Fressbares konnten sie in dieser Landschaft nicht finden. Corpkors suchender Blick fiel auf die Tür. Sie war, wie er schon früher verwundert festgestellt hatte, aus Holz. Tiere, die Stein zernagen konnten, wurden auch mit dem viel weicheren Holz fertig. Vielleicht fraßen sie es sogar. Als er wiederum melodisch pfiff, reagierten die kleinen, ellenlangen Nager sofort. Sie beendeten ihre Suche nach Nahrung und blieben dort sitzen, wo sie sich gerade befanden, lauschten den Anordnungen Corpkors. Dort ist Holz! Er ging zur Tür, strich sanft mit der flachen Hand darüber, damit kein Missverständnis entstehen konnte. Fressen. Er zog einen Kreis mit dem Finger um die Stelle, an der das Schloss auf der anderen Seite sitzen musste. Hier ist es am besten. Die Rebbchen sprangen wie besessen auf ihn zu, schlüpften zwischen seinen Beinen hindurch und stürzten sich auf die Tür. Ihre Krallen waren so scharf, dass sie in dem Holz Halt fanden, dann begannen ihre feinen, spitzen Nagezähne zu knabbern, als würden sie von unermüdlichen Motoren angetrieben. Corpkor stand dabei und bewunderte die Schnelligkeit, mit der die Tiere ihre Aufgabe erfüllten. Sie fraßen das Holz tatsächlich, sodass es kaum Sägemehl gab. Aber in der Stille der Nacht musste das Nagegeräusch ziemlich weit zu hören sein. Hoffentlich wurde kein Polizist darauf aufmerksam. Um das Türschloss entstand ein Halbkreis. Es war Corpkor klar, dass die Rebbchen zum ersten Mal Holz fraßen, sonst wären die Türen längst durch metallene ersetzt worden. Jetzt fielen sie mit einem wahren Heißhunger darüber her. Schließlich konnte er die Hand durch die Öffnung stecken und den Riegel zurückschieben. Die Tür öffnete sich.
Kommt mit!, befahl er den Rebbchen. Bleibt bei mir! So leise wie möglich stieg er die Treppe empor, die zur Wachstube und den Räumen des Kommandanten führte. Die Tiere blieben dicht hinter ihm und bewegten sich nahezu geräuschlos. Sie gehorchten immer besser. Licht fiel in den Korridor – die Tür zur Wachstube war halb geöffnet. Vorsichtig sah Corpkor hinein und entdeckte nur einen einzigen Mann, der den Kopf auf den Tisch gelegt hatte und anscheinend schlief. Auf Zehenspitzen näherte er sich ihm und zog ihm den Kombistrahler aus dem Gürtel. Der Mann schlief so fest, dass er nicht erwachte. Corpkor fragte sich, ob draußen beim Tor nachts auch ein Wachtposten stand oder ob man es hier draußen damit nicht so genau nahm. Um das herauszufinden, musste er seinen Gefangenen aufwecken. Er tat es, indem er ihm den Mund zuhielt. Der Mann war so erschrocken, dass er auch ohne diese Vorsichtsmaßnahme keinen Ton hervorgebracht hätte. Dafür sorgten schon die Rebbchen, die auf dem Tisch hockten und ihn lüstern betrachteten. Wahrscheinlich würden sie ihn liebend gern aufgefressen haben, wenn man es ihnen befohlen hätte. »Keinen Laut!«, warnte ihn Corpkor. »Beantworte meine Fragen flüsternd, sonst lasse ich die Rebbchen auf dich los. Also: Wie viel Posten sind beim Tor, und wer ist sonst noch außer dir wach?« Der vor Schreck halb Gelähmte schüttelte nur den Kopf, erst als Corpkor seine Frage wiederholte, gab er zu, dass die ganze Verantwortung auf ihm allein laste und alle anderen schliefen oder auf Streife waren. »Gut, dann wirst du mich mit einem Gleiter nach Samorth bringen. Vorher besorgst du mir eine Uniform und die entsprechende Marke. Schnell, wir haben keine Zeit. Denk an die Rebbchen.« Es dauerte nicht lange, bis Corpkor sich umgezogen hatte. Er steckte die Marke ein, ebenso den kleinen Kombistrahler. Dann schob er den Polizisten vor sich her in den Hof. Die
Rebbchen wollten folgen, aber sie erhielten den Befehl, in das Gebäude zurückzukehren und sämtliche Gegenstände aus Holz zu zernagen. Damit erreichte Corpkor, dass auch die anderen Gefangenen befreit wurden und ihre Flucht Verwirrung stiftete. Er rechnete damit, dass die Polizei in den nächsten Tontas genug damit zu tun hatte, sie wieder einzufangen. Der Bodengleiter war ein kleines, offenes Fahrzeug mit starken Scheinwerfern. Corpkor setzte sich neben den Mann und hielt die Waffe auf ihn gerichtet. »Höchstgeschwindigkeit, wenn ich bitten darf. Und keine Dummheiten! Wenn uns die zurückkehrende Streife begegnet, Scheinwerfer anlassen. Ruf ihnen zu, dass die Gefangenen entkommen sind und du in der Stadt Verstärkung holst. Und dann weiterfliegen, was immer man auch antwortet. Verstanden?« Der Polizist nickte wortlos. Er kam nicht über die Sache mit den Rebbchen hinweg. Die Straße war eben und hatte kaum Kurven. Der Gleiter, auf dem fußhohen Prallfeld schwebend, entwickelte eine beträchtliche Geschwindigkeit, was Corpkor auf der einen Seite sehr gelegen kam, ihn auf der anderen jedoch beunruhigte. Er hatte das Gefühl, es nicht mit einem guten Fahrer zu tun zu haben. Im Osten dämmerte rot der Morgen, es wurde schnell Tag. Endlich erschien am Horizont die Silhouette von Samorth. Und damit leider auch eine scharfe Kurve, die um einen Felsen führte. Der Fahrer verlangsamte seine Geschwindigkeit nicht, das Unvermeidliche passierte: Er verlor die Gewalt über den Gleiter, der über die Böschung raste, ein Stück durch die Luft flog und dann wieder auf dem Prallfeld landete. Corpkor hatte die Waffe fallen lassen, um sich festzuhalten. Der Fahrer hingegen wurde aus seinem Sitz geschleudert und beendete seinen Flug zwischen einigen vertrockneten Büschen. Der Gleiter selbst wurde wenig später durch einige größere Steine gestoppt. Corpkor prüfte, ob seine
Knochen noch heil waren, nahm die Waffe und kletterte aus dem Fahrzeug. Er kümmerte sich um den Fahrer, der sich gerade wieder aufrappelte. Es war ein Wunder, dass er den Sturz überlebt hatte. »Das nächste Mal bring ich dich um«, versprach ihm Corpkor, wütend über den Zeitverlust. »Los, wir müssen weiter.« Aber der Antrieb reagierte nicht mehr. Der Gleiter sah aus, als sei er gegen einen Panzer geprallt. Selbst wenn er noch bewegungsfähig sein würde, hätte es wenig Sinn gehabt, sich damit in die Stadt zu wagen. Die erste Streife hätte ihn unweigerlich angehalten. »Na schön«, entschied Corpkor nach kurzer Überlegung. »Dann gehen wir eben zu Fuß. Du bleibst bei mir; vergiss nicht, dass ich eine Waffe in der Tasche habe.« »Warum muss ich denn …?« »Keine Widerrede. Komm schon.« Der Marsch war nicht ungefährlich, denn kehrte der Streifenwagen zurück, konnte er sie kaum übersehen. Zwar gab es rechts oder links von der Straße manchmal Deckungsmöglichkeiten, aber eben nicht immer. Doch zum Glück war das Gelände eben, sodass man weit sehen konnte und rechtzeitig gewarnt wurde. Als die ersten Häuser sichtbar wurden, erblickte Corpkor auf der Straße einen Gleiter. Er zog seinen unfreiwilligen Begleiter in den Seitengraben und setzte ihm die Mündung des Strahlers an den Hinterkopf. Es erübrigte sich, den Mann zu warnen, der stocksteif in der Deckung lag. Es war tatsächlich der Streifengleiter, der sehr langsam schwebte und voll besetzt war. Zwei Polizisten brachten sechs oder sieben Zivilisten in das Landgefängnis. Der Tiermeister vermutete, dass sie in etwa einer knappen Tonta eine unangenehme Überraschung erleben würden, dann würde es Alarm geben. Bis dahin musste er bereits im Zug
nach Garthak sitzen, denn zuerst würden sie ihn wohl in Samorth suchen. Sie gingen nun schneller und erreichten bald die Peripherie der Stadt. Der Polizist kannte den kürzesten Weg. Er schien es selbst eilig zu haben, endlich nach Garthak zu kommen, um seinen unheimlichen Begleiter loszuwerden. Niemand hielt sie auf, aber sie wurden von jedermann respektvoll und ein wenig ängstlich gegrüßt. Alle schienen ein schlechtes Gewissen zu haben, wenigstens wirkte es so. Eine kürzere Strecke benutzten sie die Rollstege. Endlich erreichten sie den Bahnhof; seit ihrer Begegnung mit dem Streifengleiter war nicht ganz eine Tonta vergangen. Es würde höchste Zeit. Sie passierten die Robotkontrolle und fanden ein Abteil. Der einzige Fahrgast, ein verspäteter Arbeiter, räumte es eiligst, als er sah, wer da kam.
Nach schneller Fahrt lief der Zug in Garthak ein, sie verließen ihn nach abermaliger Kontrolle. Corpkor teilte seinem Gefangenen mit, dass er ihn noch ein Stück in das Labyrinth hinein begleiten müsse, um sicher zu sein, dass die Verfolgung nicht sofort aufgenommen werde. Bald kannte er sich wieder aus. Rechts war der Gang, in den er Barraskont geschleppt hatte. Der Polizist an seiner Seite schien davon gehört zu haben, denn er warf scheue Blicke in die entsprechende Richtung. Wahrscheinlich sah er sich im Geiste auch schon dort liegen. Drei Aufseher kamen ihnen entgegen. Sie waren bewaffnet und schienen sehr aufgeregt zu sein. Misstrauisch blieben sie stehen und warteten, bis Corpkor und sein Begleiter auf ihrer Höhe anlangten. »Es wurde Fluchtalarm in Samorth gegeben, seid ihr deshalb unterwegs?« »Ja, wir wurden informiert. Es heißt, die Entflohenen
befänden sich noch in Samorth. Die Bahn soll überwacht werden.« Corpkor deutete auf ihre Waffen. »Sucht ihr sie hier?« »Was heißt sie? Es ist doch nur einer entflohen …« Also haben es die Rebbchen doch nicht geschafft, dachte der Tiermeister enttäuscht, aber ihm blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufseher waren hellhörig geworden. »Nur einer? Dann wurden wir falsch informiert.« »Ja, nur einer, dazu in der Uniform eines Polizisten. Können wir eure Marken sehen? Wir haben das Recht zur Kontrolle in einem solchen Fall, das wisst ihr. Vielleicht ist einer von euch der Mann, den wir suchen.« »Er ist es!«, rief Corpkors Begleiter überraschend und machte einen Satz zur Seite, ehe ihn jemand daran zu hindern vermochte. »Er hat mich gezwungen mitzugehen. Schnappt ihn euch!« Für einen Augenblick waren die drei Aufseher verwirrt, denn sie konnten nicht so schnell entscheiden, wer von den beiden der entflohene Verbrecher war. Aber Corpkor machte es ihnen leicht. Er riss den Kombistrahler hoch und begann zu laufen. Dabei rannte er die Unschlüssigen zuerst einmal um; ehe sie sich aufgerappelt hatten, war er schon ein paar Dutzend Meter entfernt. Sie nahmen die Verfolgung auf und eröffneten das Feuer. Nun blieb ihm keine Wahl. Als der Korridor eine Biegung machte, blieb er stehen und duckte sich hinter den Vorsprung. Die drei Männer boten in dem Dämmerlicht ein nur undeutliches Ziel, aber Corpkor war ein ausgezeichneter Schütze. Ein besserer jedenfalls als die Arkoniden. Zwei wurden sofort getroffen und stürzten gelähmt zu Boden. Der dritte huschte in einen Seitengang und bestrich Corpkors Deckung mit Thermostrahlen. Das Gestein begann zu brodeln und schmolz. Die Hitze wurde bald unerträglich. Hundert Meter weiter zweigte der Gang zum
Versteck ab, aber Corpkor wusste, dass er es nur verraten würde, wenn er sich jetzt dorthin zurückzog. Ob er wollte oder nicht, er musste zuerst den verbliebenen Verfolger unschädlich machen. Er wartete, bis der andere eine Feuerpause einlegte, dann rannte er auf die andere Seite des Korridors und hielt sich dicht an der Wand, während er schnell den Weg zurücklief, den er gekommen war. Wollte ihn sein Gegner aufhalten, musste er aus seinem Versteck heraus. Und das tat er auch. Breitbeinig stand er plötzlich mitten in dem Hauptgang, die schwere Waffe in beiden Händen, um sicher zielen zu können. Corpkor warf sich seitlich auf den Boden und schoss sofort. Das Paralysebündel traf den Aufseher mitten in die Brust. Noch während der Gegner stürzte, wandte sich Corpkor um und rannte zurück, bis er den Seitengang zum Versteck erreichte. Er hatte viel Zeit vergeudet, es musste bereits Mittag sein. Die Frage war, ob Atlan und Fartuloon schon zurückgekehrt waren. Er war sicher, keine Spuren hinterlassen zu haben, aber er fürchtete sich vor den Vorwürfen, die ihn mit Sicherheit erwarteten. Und dann hielt er erschrocken den Atem an, als er das Versteck leer fand. Sie waren ohne ihn weitergezogen. Aber … wohin?
Als er seinen ersten Schock überwunden hatte, begann er, den Raum systematisch zu untersuchen. Es war ihm völlig klar, dass es einen besonderen Grund dafür geben musste, dass sie das sichere Versteck verlassen hatten. Zwar lagen die beiden Arbeiter immer noch gelähmt in einer Ecke, aber das hatte nur wenig zu bedeuten. Die Freunde hatten ihm mit Sicherheit ein Zeichen hinterlassen. Aber was für eins? Zuerst ging er zu seinem Platz, um nachzusehen, ob sie sein Bündel mit den Vorräten mitgenommen hatten. Es war nicht mehr da. Dann
entdeckte er den Handabdruck, maß ihm aber keine besondere Bedeutung zu. Erst später, als er den ganzen Raum nach einer Spur vergeblich durchsucht hatte, fiel ihm der Abdruck wieder ein. War das die Hand eines Arkoniden, die sich – als das Material noch frisch und weich war – dort verewigt hatte? Er ging noch einmal hin, und dann erkannte er den Unterschied. Eiskralles Hand! Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Nun fiel ihm auch auf, dass einer der feingliedrigen Finger in Richtung des Ausgangs zeigte. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Sie waren gegangen, aber sie wiesen ihm den Weg. Erleichtert atmete er auf. Atlan und Fartuloon waren also heil und unversehrt zurückgekehrt, aber wahrscheinlich wurden sie verfolgt. Daher der überhastete Aufbruch, der einer Flucht glich. Er sah ein, dass auch er nun keine Zeit mehr verlieren durfte, denn die Häscher konnten jeden Augenblick erscheinen. Gleich am Ende des Ganges fand er den zweiten Handabdruck, dann bei der Hauptabzweigung den dritten, der ihm die Richtung wies. Die Mittagsschicht eilte zum Bahnhof, aber die Arbeiter kümmerten sich kaum um ihn. Im anderen Korridor war kein Betrieb. Corpkor erinnerte sich daran, was Fartuloon behauptet hatte: Hier lägen die vollautomatisierten Fabriken, hier gäbe es wahrscheinlich kaum Arbeiter, höchstens Wartungsroboter. Er eilte weiter, bis er vor dem geschlossenen Tor stand. Nun allerdings war guter Rat teuer. Doch dann überlegte er sich, dass auch seine Freunde weitergegangen sein mussten, denn sonst hätte er ihnen begegnen müssen, oder zumindest hätte er einen entsprechenden Hinweis gefunden. Er entdeckte wieder Eiskralles Abdruck und fand die Marke. Er hob sie auf und schob sie in die Tasche, nahm seine eigene und steckte sie in den dafür vorgesehenen Schlitz. Wie erwartet öffnete sich das Tor. Schnell schlüpfte er
hindurch und vergaß die Marke. Ehe er zurückkehren konnte, war der Spalt so klein geworden, dass er nicht mehr zurückkonnte. Dann war das Tor wieder verschlossen. Er nahm sich nicht mehr die Zeit, das Tor noch einmal mit der neuen Marke zu öffnen, sondern spähte in die riesige Halle hinein, immer in der Hoffnung, seine Freunde zu sehen. Aber sie mussten einen großen Vorsprung haben. Der nächste Handabdruck des Chretkors gab ihm die Gewissheit, dass es weiter geradeaus ging. Die Wartungsroboter beachteten ihn nicht. Der Alarm schien noch nicht bis hierher vorgedrungen zu sein, oder er ging die Roboter nichts an. Die Halle wollte kein Ende nehmen. Riesige Anlagen produzierten die Einzelteile schwerer Energiegeschütze, schoben sie auf Förderbänder, die sie weiterleiteten. Das Ende dieser Bänder war nicht abzusehen. Corpkor hatte den Eindruck, dass sie erst auf der anderen Seite des Planeten an ihr Ziel gelangten. Kurz bevor er die gegenüberliegende Seite der Fertigungshalle erreichte, ereignete sich ein Zwischenfall, der ihn beinahe zu einer Unvorsichtigkeit verleitet hätte. Einer der Wartungsroboter verließ seinen ihm zugeteilten Bezirk und kam ihm entgegen. Corpkor steckte die rechte Hand in die Tasche, seine Finger umklammerten nervös den Griff der Waffe. In der linken Hand hielt er seine Marke. Wenige Meter vor ihm blieb der Roboter stehen und sagte: »Sektion zwei-neun-vier-BN hat einen Defekt. Ich bitte um Anweisungen, Gebieter.« In die Erleichterung Corpkors mischten sich berechtigte Zweifel. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was Sektion 294BN bedeutete und was in ihr hergestellt wurde. Natürlich hätte er dem Roboter irgendetwas sagen können, damit er weitergehen konnte, aber das war zu riskant. Sie standen alle mit einer Kontrollstation in Verbindung, die sie ständig überwachte. Auch seine Worte würden genauestens registriert
werden. Und wenn er etwas Falsches sagte, würde man auf ihn aufmerksam werden. »Seit wann?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen. »Seit der letzten Schicht. Ich habe versucht, den Schaden zu beheben, aber es sind Spezialisten notwendig. Es ist Vorschrift, dass Sie eine Inspektion vornehmen, Gebieter.« »Ich bin im Dienst.« Endlich kam Corpkor der rettende Gedanke, wenngleich er volles Risiko ging. »Außerdem habe ich nichts mit dieser Fertigungsabteilung zu tun. Ich bin auf der Suche nach einem entflohenen Verbrecher – oder siehst du nicht, dass ich Polizist bin?« Ohne jede Erwiderung drehte sich der Roboter um und kehrte an seinen Wartungsplatz zurück. Corpkor hatte keine Ahnung, ob er das auf Anweisung seiner Kontrollstation tat oder ob sein KSOL-Rechner entsprechend reagiert hatte. Der Weg war wieder frei. Corpkor ging weiter und atmete auf, als er das Ende der Halle erreichte und damit die Straße, die doppelt so breit wie die Hauptkorridore war. Er fand sofort das in der Wand angebrachte Hinweiszeichen der Vorausgeeilten. Das nächste war unter dem Schild. Als er ein Stück in den Seitengang eingedrungen war, hörte er Stimmen, lauschte, dann wusste er, dass er seine Freunde gefunden hatte.
18. Aus: Altarkonidische Sprichwortsammlung Er ist wie das sechste Essoya-Blatt. Altarkonidische Bezeichnung für eine unentschlossene, unsichere Person, die je nach Lage das Lager wechselt; basierend auf der Beobachtung, dass nur das sechste Essoya-
Blatt (abhängig vom Wasserangebot) entweder mit oder ohne Stängel ausgebildet werden kann.
Varlakor: 10. Prago der Hara 10.499 da Ark Am späten Nachmittag hatte ich den Entschluss gefasst, allein aufzubrechen und nach Garthak zurückzugehen. Ich hoffte, dass man die beiden bewusstlosen Arbeiter weder vermisst noch gefunden hatte, aber ich ahnte natürlich nichts von dem inzwischen durch Corpkor ausgelösten Alarmzustand. Fartuloon wollte mich begleiten, es kam zu einem heftigen Streitgespräch, das mit dem überraschenden Erscheinen von Corpkor endete. Er kam in den Raum und sagte von der Tür her: »Ihr schreit so laut, dass man euch bis Samorth hören kann.« Meine Erleichterung war zu groß, als dass ich ihm hätte gleich zu Anfang Vorwürfe machen können. Fartuloon hingegen ging zu ihm, klopfte ihm kräftig auf die Schultern und sagte: »Wegen dir hätte ich beinahe Ärger mit Atlan bekommen, schämst du dich nicht?« Corpkor berichtete von seinem Abenteuer, das fast mit seinem Tod geendet hätte. Aber immerhin brachte er auch einige neue Erkenntnisse über den Raumhafen Elkinth mit, die mir wertvoll erschienen. Schließlich beruhigten wir uns alle ein wenig. Wir hatten nun die Gewissheit, dass wir weiter fliehen konnten, ohne auf jemanden warten zu müssen. Fartuloon setzte sich zu mir, als Ruhe eingetreten war. »Was hältst du von der ganzen Sache? Glaubst du, dass wir Elkinth noch rechtzeitig erreichen? Es müssen mehr als dreitausend Kilometer sein. Wenn wir keine Rohrbahn nehmen oder kein Fahrzeug finden, schaffen wir es nicht.« Ich war genauso ratlos wie er. »Die Tunnelstraße führt nach Elkinth, das ist alles, was wir wissen. Vielleicht nimmt uns
jemand mit, das ist ja schon einmal geschehen. Wir haben zwei Marken, wenn auch nur so lange, bis sie für ungültig erklärt werden. Notfalls besorgen wir uns neue – schließlich haben wird drei Kombistrahler und einen Nadler, mehr als genug, um eine ganze Gruppe von Arbeitern zu überfallen.« »Vielleicht müssen wir aber auch durch eine automatische Sperre, die uns nur dann passieren lässt, wenn wir die Waffen zurücklassen. So etwas gibt es hier auch, habe ich mir sagen lassen.« Das war eine Möglichkeit, die wir einkalkulieren mussten. Und wir hatten nur noch vier Pragos Zeit, diese gewaltige Strecke bis Elkinth zurückzulegen. Kapitän Basnorek würde vergeblich auf uns warten, wenn wir es nicht schafften. Sein Schiff würde ohne uns starten, und wir waren um eine Hoffnung ärmer. »Wir müssen durchkommen, und wir werden es auch«, sagte ich entschlossen. »Und wenn wir den ganzen Planeten gegen uns haben, wir werden es trotzdem schaffen. Aber das Gute ist, dass wir auch Freunde auf dieser Welt besitzen. Es gibt bestimmt nicht nur einen Basnorek.« »Hoffentlich hast du diesmal recht«, sagte Fartuloon, aber es klang nicht besonders zuversichtlich. Ich unterhielt mich noch mit Ischtar, schlief zwei Tontas und mahnte dann zum Aufbruch. Es hatte wenig Sinn, noch mehr Zeit zu verlieren. Wir packten unsere Vorräte und verließen das sichere Versteck, um einer ziemlich ungewissen Zukunft entgegenzumarschieren. Aber wenn wir auch nicht wussten, was vor uns lag, so waren wir doch alle ausnahmslos entschlossen, unter allen Umständen zu versuchen, Elkinth zu erreichen. Elkinth – das klang in unseren Ohren nun fast wie ein Zauberwort, das neue Energie und Zuversicht verlieh. Dabei würde es wohl kaum etwas anderes sein als ein mittelmäßiger Raumhafen. Solche Häfen wurden nur meist schlecht kontrolliert, aber auf dem Stützpunktplaneten
Varlakor war das anders. Hinzu kam, dass die Vorgänge in Garthak und Samorth ein gewisses Aufsehen erregt hatten. Sicher, Zweisonnenträger Daftokan Jalvor würde niemals vermuten, dass meine Freunde und ich dahintersteckten, denn uns musste er für tot halten. Es hätte mich interessiert, was mit der ZENTARRAIN passiert war. Hatte sie noch rechtzeitig fliehen können? Für uns spielte das nun keine Rolle mehr. Wir folgten der breiten Tunnelstraße und gingen mehr als vier Tontas, ohne jemandem zu begegnen, dann standen wir abermals vor einem metallenen Tor. Fartuloon öffnete es mit seiner Marke. Dahinter führte der Tunnel nach Elkinth in gerader Linie weiter. Rechts und links zweigten Schleusen zu riesigen Montagehallen und Hangars ab, angefüllt mit Zellenrohbauten von Raumern bis zur Größe von Leichten Kreuzern in allen Stadien der Montage. Es mussten Tausende sein! Hier entstand eine beachtliche Flotte und wartete auf die Mannschaften und den Einsatzbefehl, der eines Tages unweigerlich eintreffen musste. Der Krieg gegen die Maahks war noch lange nicht entschieden. »Schade«, sagte der Bauchaufschneider bedauernd, »dass wir uns nicht eins davon nehmen können. Dann wären wir alle Sorgen los.« »Sie würden erst recht beginnen«, gab ich zurück. »Abgesehen davon, dass die Raumer nicht flugbereit sind – selbst wenn wir starten könnten, was der Sicherungen wegen unmöglich ist, würde uns die automatische Abwehr erwischen, ehe wir die Atmosphäre verlassen hätten. Nein, es gibt nur einen einzigen Weg, von Varlakor fortzukommen: ein unverdächtiger Frachter und ein korrupter Kapitän.« »Basnorek …« »Er oder ein anderer.« Schweigend setzten wir den Marsch fort, bis wir endlich ein
günstiges Versteck für die imaginäre Nacht fanden. Diesmal verkrochen wir uns in der noch nicht fertiggestellten Hülle eines Kreuzers. Vier Pragos blieben uns noch, um Elkinth zu erreichen. Im Augenblick fühlten wir uns sicher. Meist arbeiteten wir so, dass Fartuloon und ich vorausgingen und das Gelände ausspähten, während die Übrigen zurückblieben und auf unsere Nachricht warteten. Eiskralle war von Natur aus ein friedliebendes Geschöpf das seine tödliche Begabung nur dann einsetzte, wenn es ernsthaft bedroht wurde. Als solches war er zum Beschützer der Frauen wie geschaffen. Corpkor wäre wohl ein besserer Späher gewesen ab Fartuloon oder ich, aber die Eisnarben machten ihm wieder zu schaffen. Er musste sich schonen, auch wenn er das nicht einsehen wollte. Immerhin war es uns gelungen, neben den Waffen auch Kommunikationsgeräte und einige sonstige Dinge zu beschaffen. In den Tiefen von Varlakor gab es Magazine, in denen alle Arten von Ausrüstungsgegenständen lagerten. Technisch waren wir bald vorzüglich ausgestattet. Wenn ich unseren seelischen Zustand hätte beschreiben wollen, wäre mir das schwergefallen. Wir waren uns wohl darüber im Klaren, dass wir so gut wie keine Aussicht hatten, Elkinth innerhalb von vier Pragos zu erreichen. Trotzdem gab es keine Mutlosigkeit, jeder tat sein Bestes, um unser Vorwärtskommen zu beschleunigen.
Der Angriff erfolgte ohne jede Warnung, nachdem ich die Tür zu einem finsteren Gelass geöffnet hatte. Aus der Dunkelheit ertönte ein wütendes Fauchen, dann flog etwas auf mich zu – ein gedrungener, haariger Körper. Die Wucht des Aufpralls riss mich zu Boden. Benommen hörte ich Fartuloons wütenden Schrei: »So haben wir nicht gewettet …« Ich hörte einen Kombistrahler im Thermostrahlmodus
fauchen, gleich darauf blendete mich ein greller Blitz. Fartuloon gab ein ächzendes Geräusch von sich. Danach hörte ich den Fall eines schweren Körpers und das Hasten eiliger Schritte, wie von den Tatzen einer Großkatze. Das alles hatte sich in zwei oder drei Augenblicken abgespielt. Ich war nicht verletzt, nur ein wenig durcheinander von dem Sturz. Kopfschüttelnd richtete ich mich auf. Auf dem glatten Boden lag Fartuloon und rührte sich nicht, doch er war nur bewusstlos. Den TZU-4 hielt er noch in der Hand, er hielt die Augen geschlossen. Von dem fremdartigen Geschöpf war keine Spur mehr zu sehen. Fartuloon und ich befanden uns in einem dreieckigen Raum. In die Decke waren Leuchtplatten eingelassen, die ein mattes, rötliches Licht verbreiteten. In jeder Dreiecksseite mündete einer der Gänge, die das subplanetarische Gelände durchzogen. Aus einem dieser Gänge waren wir gekommen. Außer den drei Mündungen gab es eine Metalltür … nämlich die, die ich unvorsichtigerweise geöffnet hatte. Ich zog den Kombistrahler. Mit der Linken fasste ich die Lampe und schaltete sie ein. Eine breite Lichtbahn stach in die Finsternis. Der Raum war leer. Auf dem Boden gab es, wie überall in diesen Gängen, eine dünne Staubschicht. Jetzt war sie zerrissen von den Spuren des Bestie, die hier auf der Lauer gelegen hatte. Fartuloon kam stöhnend zu sich. Ich half ihm auf. »Was … was war das?«, ächzte er und griff sich an den Schädel. »Was es auch immer war … es war viel zu schnell, als dass ich es hätte erkennen können.« Fartuloon war ein Mann, der selten den Überblick verlor. Nichts hasste er mehr, als sich in einer Lage zu finden, in der er sich nicht auskannte. So etwas machte ihn wütend. So auch jetzt. Er fluchte. »Es hat mindestens sechs Beine«, stieß er
hervor. »So groß wie anderthalb Männer. Bunt gefleckt. Ein Vieh, wie ich es niemals zuvor gesehen habe.« »Du hast geschossen«, erinnerte ich ihn. »Was geschah dann?« »Ich hatte nicht viel Zeit. Aber ich bin sicher, dass ich getroffen hätte. Das Ding ließ sich jedoch nicht treffen. Es leuchtete plötzlich auf, ich bekam einen fürchterlichen Schlag vor den Schädel, und dann …« Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Fartuloon in seiner hilflosen Wut bot einen erheiternden Anblick. Er jedoch nahm mir meine Heiterkeit übel. »Dir wird das Lachen noch vergehen, mein Kristallprinz!«, sagte er ärgerlich. »Dreitausendzweihundert Kilometer bis nach Elkinth! Es wird Schwierigkeiten genug geben – auch ohne dass wir uns obendrein noch mit sechsbeinigen Bestien einlassen.«
Weder Fartuloon noch ich wussten, wohin sich das Tier gewendet hatte. Als wir den dreieckigen Platz verließen, um weiter in Richtung Elkinth vorzustoßen, waren wir nicht sicher, ob wir nicht gerade den Spuren des Tiers folgten. Zur vereinbarten Zeit setzte ich über den ArmbandKommunikator – ein schlichtes Meldegerät, das ich am linken Handgelenk trug – eine Nachricht an die Zurückgebliebenen ab. Ich sprach mit Corpkor. In ihrem Versteck war alles ruhig. Ich erwähnte nichts von der Begegnung mit dem sechsbeinigen Geschöpf. Der Stollen, durch den wir vordrangen, zog sich schier endlos dahin. Mehr als eine Tonta war vergangen, bis Fartuloon plötzlich stehen blieb. »Es wird kühler.« Ich hatte es ebenfalls schon wahrgenommen. Die Temperaturen tief unter der Oberfläche von Varlakor waren alles andere als gemütlich. Mir troff der Schweiß von der
Haut, Eiskralle hatte bereits mehrmals die Befürchtung geäußert, er werde zerfließen, wenn es nicht bald kühler würde. Gleichzeitig bemerkte ich etwas anderes. Aus den Tiefen des Geländes vor uns drang ein leises, vibrierendes Summen, das sich dem Boden mitteilte und mir durch den Stiefel an den Sohlen kitzelte. Kein Zweifel: Wir näherten uns dem Bereich aktiver Maschinen. Das Sinken der Temperatur deutete darauf hin, dass sie in klimatisierter Umgebung arbeiteten. Wir waren deshalb nicht überrascht, dass der Gang schließlich in eine geräumige Klimaschleuse mündete. Auf der anderen Seite lag eine weite Halle, in der die Temperatur für unsere an übermäßige Wärme gewöhnten Körper fast ungemütlich niedrig war. Hier war die Quelle des Summens. Im düsteren Licht der Leuchtplatten erkannten wir lange Reihen quaderförmiger Maschinenklötze, die die Halle durchzogen. »Datenspeicher«, sagte Fartuloon. »Ein Rechenzentrum.« Es lag eine gewisse Genugtuung in seiner Stimme, ich glaubte zu wissen, warum. Wo immer Maschinen aufgestellt waren, gleich welcher Art sie sein mochten, hatten die Architekten des Stützpunkts Zufahrtsstraßen angelegt, über die Ersatzteile herbeigebracht und schadhaftes Gerät entfernt werden konnte. Wir brauchten uns nur umzusehen, um eine dieser Straßen zu finden. Wir durchstreiften die Halle. Es gab mehrere Ein- und Ausgänge. Uns interessierten in erster Linie diejenigen, die in Richtung Elkinth lagen. Fartuloon hatte in einem der Magazine ein kleines Orientierungsgerät entdeckt. Es benutzte den Drehimpuls von Negativteilchen in einem tiefgekühlten Eiskristall aus Magneteisen, um Anzeigen zu liefern, die sich je nachdem veränderten, wie das kleine Gerätekästchen gehalten wurde. Die Anzeige bestand aus einer winzigen Leuchte, die in der Helligkeit variierte. Fartuloon hatte das Messgerät auf die Richtung Elkinth
kalibriert. Wenn die Markierung, die sich auf einer der Seitenflächen des Kästchens befand, in Richtung Elkinth zeigte, erlosch die Leuchte. Fartuloon nannte das Gerät Pfadfinder. Es war nicht unser Fehler, dass wir die falsche Tür probierten. Sie wies genau in die Richtung, die uns am liebsten war. Der Raum, der dahinter lag, war im Vergleich zu der großen Speicherhalle winzig, enthielt einige Maschinen, die sich von den Speichern draußen unterschieden. Das Summen war hier intensiver. Ich erkannte eine Batterie von Prozessoren. Fartuloon trat durch die Öffnung, ich folgte ihm. Es war unwahrscheinlich, dass es hier einen weiteren Ausgang gab, aber wir wollten unserer Sache sicher sein. Es wäre besser gewesen, wir hätten uns weniger auf die Systematik des Suchens versteift. Es gab tatsächlich keine zweite Tür. Wir kehrten zum Eingang zurück. Fartuloon schritt noch immer vor mir. Ich sah, wie er plötzlich zusammenzuckte und stehen blieb. Gleichzeitig hörte ich draußen, aus der Halle, ein klapperndes Geräusch. »Verdammte Feinmesstechnik«, hörte ich Fartuloon knurren.
Es dauerte eine Zeit lang, bis ich begriff, was er meinte. Die Prozessoren waren empfindliche Geräte. Ohne sie funktionierten Hunderte Speicher nicht, die draußen in der Halle standen. Die Prozessoren waren deshalb in einem abseits gelegenen, kleinen Raum untergebracht, damit das Klima besser kontrolliert werden konnte. Anscheinend hatte unsere Anwesenheit eine geringfügige Erhöhung der Raumtemperatur bewirkt. Feinfühlige Messinstrumente hatten darauf angesprochen und die Roboter alarmiert, die jetzt auf uns zukamen. Es waren keine gefährlichen Roboter, das erkannte ich sofort, als ich einen Blick durch die offene Tür warf. Ich sah drei Räummaschinen, die auf staksigen
Metallbeinen den Korridor zwischen zwei Maschinenreihen entlangkamen. Sie hatten jede ein halbes Dutzend gelenkiger Greifarme, mit denen sie Gegenstände packten, die es abzuräumen galt. »Rühr deine Waffe nicht an!«, zischte Fartuloon. Das war unser Problem. »Eigentlich« hätten wir die drei Räummaschinen einfach abschießen können. Aber die Kombistrahler erzeugten zusätzliche Hitze, dadurch mochte ein Großalarm ausgelöst werden, der uns vollends den Weg abschnitt. Ich schätzte den Abstand zu den Robotern. Es blieb uns keine Zeit mehr zu entkommen. Von der Tür fort führte nur der Korridor zwischen den Speicherreihen, durch den die Räummaschinen herankamen. Sie hatten uns erspäht. Ihre baumelnden Greifarme erwachten zum Leben. »Ich hoffe, du bist beweglich.« Fartuloon trat von der Tür zurück. Hinter den Blöcken der Prozessoren entschwanden wir den Blicken der drei Roboter. Noch wusste ich nicht, was der Bauchaufschneider vorhatte. Ich selbst hatte mir vorgenommen, eher den TZU-4 zu gebrauchen und den Großalarm zu riskieren, als mich von dem Räummaschinen schnappen zu lassen. Denn was sie einmal in den Klauen hatten, das ließen sie erst wieder los, um es in den Füllschacht der Desintegrationsanlage zu werfen. Mit blechernen Schritten kam einer der Roboter an der Reihe der Prozessoren entlang. Fartuloon und ich hatten uns gegen die Verkleidung der hintersten Maschine gepresst. Ich sah einen glitzernden Metallarm über der Prozessorenbatterie auftauchen. Er schwankte unsicher und schien nicht zu wissen, wo er suchen sollte. Schließlich aber senkte er sich auf uns herab. Da hatte der Bauchaufschneider den TZU-4 in der Hand. Er hielt die Waffe beim Lauf, als die stählerne Klaue des Greifarms nahe genug gekommen war, schlug er mit dem Handgriff voller Wucht gegen das empfindliche Drehgelenk,
in dem die Klaue sich bewegte. Es gab einen scheppernden Knall. Der Arm wurde hastig zurückgezogen. Die Maschine stieß ein schrilles Pfeifen aus, was bedeutete, dass sie beschädigt war. Der kleine Prozessorraum war plötzlich voller Geräusche. Der Räumroboter hatte wohl in beschränktem Maße die Fähigkeit, sich selbst zu reparieren. Indem er das tat, setzte er jedoch Aggregate in Tätigkeit, die selbst ebenfalls wieder dazu beitrugen, die Temperatur in diesem Raum zu erhöhen. Die anderen beiden Maschinen eilten herbei, um die in Not geratene Maschine vor allen Dingen erst einmal in die Halle hinauszuzerren. Fartuloon und ich nutzten das Durcheinander, um uns unbemerkt zu entfernen. Manch ein stählerner Greifarm sauste uns unmittelbar über die Köpfe; aber schließlich waren wir in der Halle. Die Roboter folgten uns nicht. Ihre Aufgabe war, die Ursache der Temperaturerhöhung im Prozessorraum zu entfernen – und die war im Augenblick eine der drei Räummaschinen selbst. Fartuloon prüfte den Pfadfinder, um die Richtung von Neuem zu bestimmte. Es gab insgesamt vier Ausgänge, von denen einer von besonderer Breite war. Wir gingen darauf zu. Die Metalltür öffnete sich auf dieselbe Weise wie alle anderen Türen in diesem Teil des subplanetarischen Stützpunkts: Die Sensoren registrierten unsere Annäherung, die Tür teilte sich in zwei Hälften, je eine Hälfte verschwand zur Rechten und zur Linken in der Wand. Der erste Blick durch die weite Öffnung belehrte mich, dass wir gefunden hatten, wonach wir suchten. Jenseits der Tür lag das weite Rund des Wendepunkts einer Robotbahn. Mehrere Fahrzeuge, mit breiten Landeplattformen ausgestattet, standen bereit. Die Strecke führte nach rechts in einen düster beleuchteten Stollen hinein. Das war zwar nicht ganz die Richtung, die wir einzuschlagen gedachten, aber immerhin brachte sie uns der Sektion Elkinth näher.
Über seinen Kommunikator gab Fartuloon den Zurückgebliebenen die Nachricht unseres Erfolges. Er forderte sie auf, unserer Spur zu folgen, und teilte ihnen mit, dass ich ihnen auf halbem Wege entgegenkommen würde.
Mir war leichter ums Herz, als ich sie den langen, matt erleuchteten Stollen entlangkommen sah, den Fartuloon und ich vor mehr als vier Tontas durchquert hatten – lange bevor wir dem sechsbeinigen Tier begegneten. Voran schritt Corpkor. Hinter ihm ging Ischtar. Für Chapat hatten wir aus der Beute des letzten Magazineinbruchs eine Art Tragschlinge gefertigt. Ischtar trug sie um die Schulter, der Junge ruhte friedlich an ihrer Seite. Ich wollte ihr die Bürde abnehmen, aber sie winkte ab. Ich wusste nicht, was ich mehr an ihr bewundern sollte: ihre Schönheit oder ihre Gelassenheit. Selbst in der schlecht sitzenden Montur, die wir aus dem Magazin erbeutet hatten, bot sie einen Anblick, der jedes Mannes Herz schneller schlagen lassen musste. Die matte Beleuchtung brachte den wundervollen Kontrast zwischen der bronzefarbenen Haut und dem Gold des Haares erst richtig zur Geltung. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte. Sie bemerkte es und reagierte mit einem kleinen Lächeln. Neben ihr stand Crysalgira, die Prinzessin aus der Familie der Quertamagins, hochgewachsen, von vollendeter Schönheit und kühl. Die Göttin der Liebe und die Göttin der Jagd, verglich ich die Frauen in Gedanken. Crysalgira ist schön, aber Ischtar hinreißend. Laut sagte ich: »Wir werden heute noch ein ganzes Stück weiterkommen.« »Das haben wir auch nötig«, brummte Corpkor. Seine Eisnarben waren wieder aufgebrochen. Ich wusste, dass er Schmerzen hatte. Aber sein Gesicht war nicht verbissener als sonst. Er hatte durchaus Ähnlichkeit mit Fartuloon. Aber wo
der Bauchaufschneider manchmal schon behäbig wirkte, war Corpkor, der ehemalige Kopfjäger und Tiermeister, nur Muskeln und Spannkraft. Eiskralle, zierlich und klein, mit durchsichtigem Körper, als sei er als Lehrstück für eine Schule aus Glassit hergestellt worden, bildete den Abschluss des kleinen Trupps. »Weiter vorne wird es kühl, Eiskralle«, sagte ich. Er blickte zu mir auf. Sogleich trat der Ausdruck von Besorgnis in seine Augen. »Wahrscheinlich so kalt, dass ich sofort erfriere, nicht wahr?« »Nicht annähernd. Nur schön angenehm kühl, sodass man freier atmen kann.« Das beruhigte ihn ein wenig. Unter meiner Führung setzte sich der Trupp wieder in Bewegung. Ich schritt neben Corpkor und erzählte ihm von dem sechsbeinigen Tier. Er hörte sich die Geschichte an, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Danach machte er die Geste des Unglaubens. »Das ist entweder ein ganz merkwürdiges Geschöpf, wie ich noch nie eines gesehen habe … oder ihr habt euch getäuscht.« »Niemand hat sich getäuscht.« »Was sollte ein Tier hier unten anfangen? Ein Tier lebt von anderen Tieren … oder Pflanzen. Hier unten gibt es keins von beiden.« »Es gibt steinfressende Tiere, nicht wahr?« »Ja, auf Wasserstoffwelten gibt es Wesen, die sich nur von Gestein ernähren. Varlakor ist aber eine Sauerstoffwelt.« Ich wusste leider nichts zu sagen. Corpkor, das erkannte ich, dachte über unser seltsames Erlebnis nach. In raschem Tempo passierten wir den Dreiecksplatz, auf dem die Begegnung mit dem Tier stattgefunden hatte. Ich wies den Tiermeister auf die Tür hin, hinter der es sich verborgen gehalten hatte. Aber er interessierte sich merkwürdigerweise nicht dafür. Wir durchquerten den Stollen, der zur Speicherhalle führte,
erreichten schließlich die Halle selbst, betraten sie und schickten uns an, sie zügig zu durchqueren. Da summte plötzlich mein Armband-Meldegerät. Ich hob den Empfänger in Ohrnähe und hörte Fartuloons Stimme sagen: »Achtung – Roboter!«
Wenige Augenblicke später sah ich sie. Sie waren in der Nähe des kleinen Raums beschäftigt, in den Fartuloon und ich aus Versehen eingedrungen waren. Die zentrale Überwachung war durch unseren Trick also nicht getäuscht worden. Wir hatten ihr weiszumachen versucht, dass die Temperaturerhöhung im Prozessorraum von einem der Räumroboter verursacht worden war, den man ausgeschickt hatte, um die Ursache der Temperaturerhöhung zu beseitigen. Es nahm mich nicht ernstlich wunder, dass der Überwachung die Unlogik aufgefallen war. Umso unangenehmer war mir die Art und Weise, wie sie reagiert hatte. Hier ging es um Augenblicke. »Ischtar, Corpkor, Crys … nach rechts ausweichen«, sagte ich hastig. »Fartuloon wartet im Hintergrund der Halle. Eiskralle und ich lenken die Roboter ab.« Wir waren aufeinander eingespielt. Die Frauen und der Tiermeister suchten sich den nächsten nach rechts führenden Korridor und verschwanden hinter den Klötzen der Speicher. Meine Anweisung war keinen Atemzug zu früh gekommen. Im nächsten Augenblick nahmen uns die Roboter wahr. Ich versuchte, die Chancen abzuschätzen, die sich uns boten, wenn wir im Gewirr der Speichergeräte zu entkommen versuchten. Ich war noch zu keinem Schluss gekommen, als ich erkannte, dass die Roboter besser programmiert waren, als ich gedacht hatte. Vielleicht wurden sie auch aus der Ferne gesteuert. Auf jeden Fall fächerten sie aus und kamen in
breiter Front, deren Flanken leicht nach vorne gebogen waren, auf uns zu. »Eiskralle … ich hoffe, du weißt, was das heißt«, sagte ich. »Wir werden kämpfen.« Das war seine Art: von Natur aus ein friedlicher Typ – aber wenn ihm Friedliebe nicht mehr weiterhalf, wurde er zum Kämpfer. Ich lockerte den Kombistrahler im Gürtel, nahm an, dass Fartuloon die Fahrzeuge der Robotbahn inzwischen untersucht und einen Weg gefunden hatte, sie in Bewegung zu setzen. Wenn es uns die Bahn ermöglichte, sofort zu fliehen, gab es keinen Grund mehr, darauf zu achten, dass die Salven unserer Strahler die Temperatur in diesem Raum nicht erhöhten. Ich erhob deswegen keinen Einwand, als ich sah, wie der Chretkor seinen TZU-4 ergriff. Diesmal hatten wir es mit mehreren Robottypen zu tun. Es gab darunter Räummaschinen und Messroboter, die mit sensitiven Spürgeräten ausgestattet waren. Es gab aber auch – und das beunruhigte mich zutiefst – schwer bewaffnete Kampfroboter, die hinter den übrigen Maschinen herschritten und einzugreifen bereit waren, sobald die Räumer oder Spürer auf aktiven Widerstand stießen. Die Anordnung der Speicher bot uns einen gewissen Vorteil. Die Roboter waren in ihren Bewegungen behindert. Die Korridore zwischen den Speicherbänken waren schmal. Wir würden es niemals mit mehr als vier Robotern zur gleichen Zeit zu tun haben: einem aus jeder Himmelsrichtung. »Wir nehmen die Kampfmaschinen zuerst«, raunte ich dem Chretkor zu und nahm eine der Kampfmaschinen aufs Korn, die hinter einem Räum- und einem Messrobot durch einen geradewegs zu unserem Standort führenden Korridor auf uns zukam. Meine Thermosalve übertönte mühelos die klappernden Geräusche, die die Roboter bei der Fortbewegung erzeugten. Die Schüsse trafen die
Kampfmaschine im Mittelteil des metallenen Körpers. Es gab eine donnernde Explosion, die zwei Speicherklötze aus ihren Befestigungen hob und zur Seite schleuderte. Schrilles Gepfeife lag plötzlich in der Luft – akustische Signale, die die Roboter untereinander austauschten. Ich sah, wie die Räumund Messmaschinen plötzlich zur Seite auswichen. Sie wollten nichts mehr mit uns zu tun haben. Von einem Augenblick zum anderen sahen wir uns einer halbkreisförmigen Front von Kampfrobotern gegenüber, die durch die Korridore zwischen den Speicherblöcken auf uns vorrückten. Wir waren so gut wie eingekeilt. Eiskralle und ich konnten uns nur nach zwei Seiten hin wehren, aber die Roboter griffen aus vier Richtungen an. Es sah nicht so aus, als ob es für uns überhaupt noch eine Überlebenschance gäbe. In diesem Augenblick startete der Chretkor zum Gegenangriff.
Er zwängte sich zwischen zwei Speicherblöcken hindurch und geriet dadurch in einen Korridor, den die Roboter nicht besetzt hatten. Ich verlor ihn ein paar Augenblicke lang aus der Sicht, aber dann sah ich ihn weiter hinten wieder auftauchen, jenseits des Einschließungskreises, den die Kampfroboter um uns geschlossen hatten. Die Aufmerksamkeit der Kampfmaschinen war ausschließlich nach vorn gerichtet. Eiskralle schaffte es mühelos, sich von hinten an einen der Roboter anzuschleichen. Er sprang ihn an und landete auf seinem blechernen Rücken. Die Maschine blieb sofort stehen, erschien wie gelähmt und unternahm keinen Versuch, den Angreifer von sich abzuschütteln. Nach kurzer Zeit sprang Eiskralle wieder ab. Seine Fähigkeit, durch physische Berührung jedem Gegenstand, ob belebt oder nicht, Wärme zu entziehen, schaltete den Kampfroboter aus: Statt aber zu Eis zu
erstarren, versagte die Positronik in seinem Innern. Die Kampfmaschine drehte durch. Eiskralle hatte kaum Zeit, sich vom Rücken des Maschinengeschöpfs zu lösen, als der Roboter mit seinem Zerstörungswerk begann. Seine schweren Waffen begannen zu fauchen. Wahllos trafen die grellen Energiestrahlen die Speicherbänke, andere Roboter, Decke, Boden und Wände des Raums. Die Kampfmaschine torkelte unter unkontrollierten Bewegungen einher. Die weite Halle verwandelte sich in eine Szene des Schreckens. Der Chretkor war zu mir zurückgeeilt. Wir wichen zur Seite hin aus, wie es kurz zuvor Corpkor, Ischtar und Chapat getan hatten. Im Schutz der klobigen Speichergeräte waren wir vor dem außer Rand und Band geratenen Kampfroboter einigermaßen sicher. An der Wand der Halle entlang eilten wir bis zum Ende. Von der Ecke aus war der Ausgang, hinter dem der Wendepunkt der Robotbahn lag, etwa zweihundert Schritte entfernt. Ich sah eine winkende Gestalt und erkannte Corpkor. Sie hatten es also geschafft. Der Lärm war ein wenig hinter uns zurückgeblieben. Der durchgedrehte Kampfroboter fuhr mit seinem Zerstörungswerk fort, aber wir waren schon ziemlich weit von ihm entfernt. Ohne Mühe erreichten wir den Ausgang. Corpkor hatte auf uns gewartet. Fartuloon hatte sich inzwischen offenbar erfolgreich mit einem der Robotfahrzeuge beschäftigt; eins stand bereit. Ischtar hatte es sich auf der Plattform bequem gemacht, Chapat ruhte an ihrer Seite. Der Bauchaufschneider hatte die Verkleidung des Kontrollaggregates gelöst und bastelte an den Schaltungen. Crysalgira war an seiner Seite; als er mich sah, knurrte er: »Du hättest auch etwas früher kommen können.« »Sind wir fahrbereit?« »Immer …«, brummte der Bauchaufschneider. »Ihr müsst nur zusteigen.« Corpkor, Eiskralle und ich nahmen auf der Plattform Platz.
Durch den offenen Eingang drang gedämpft der Lärm, den der außer Kontrolle geratene Kampfroboter vollführte. Ein paar Augenblicke vergingen. Eiskralle fragte zaghaft: »Warum fahren wir nicht?« Fartuloon stieß einen erbitterten Fluch aus. »Das verdammte Ding bewegt sich nicht.« Wir alle sahen ihn an. Nur Corpkor hatte genug Umsicht, die Umgebung zu beobachten. Er war es, der plötzlich einen halblauten Warnruf ausstieß. Wir fuhren herum. Mein Blick fiel auf die breite Öffnung, die zur Speicherhalle führte. Unter der Öffnung sah ich die Gestalten dreier Arkoniden. Sie trugen die schmuck- und farblose Montur der arkonidischen Flotte. Außerdem trugen sie Waffen, deren Läufe auf unser Fahrzeug gerichtet waren. »Sie bemühen sich umsonst«, sagte einer von ihnen. »Die Fahrzeuge sind vorläufig stillgelegt. Strecken Sie die Arme weit von sich und steigen Sie aus.«
Aus Mangel an anderen Möglichkeiten hätte ich der Aufforderung wahrscheinlich Folge geleistet. Nicht so aber Fartuloon. Er sah von seiner Arbeit auf – ganz so wie ein Mann, der sich über die Störung ärgerte und überzeugt war, dass er sie schnell abwimmeln könne. »Dann setzen Sie sie eben wieder in Betrieb«, fauchte er die drei an. »Sehen Sie nicht, dass wir ein Kind bei uns haben? Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Einer trat unter der Öffnung hervor und kam ein paar Schritte auf uns zu – er war ein junger Mann, schlank und hochgewachsen. Das Rangsymbol der schwarzen Scheibe mit der gelben Mondsichel auf der Montur wies den Orbton als Tharg’athor aus, als einfachen Mondträger. Er machte einen entschlossenen Eindruck. »Schau mal an«, sagte er spöttisch.
»Der Herr Informationsräuber hat es eilig.« »Was soll ich sein? Informationsräuber?« Fartuloon sprang vom Fahrzeug auf die glatte Bodenfläche, die sich bis an den Bahnstollen erstreckte. Er hielt weder die Arme zur Seite gereckt, wie es die Arkoniden verlangt hatten, noch bewegte er sich sonderlich vorsichtig. »Was bin ich? Ein Informationsräuber?« Der Offizier wahrte mithilfe seines Luccot-Impulsstrahlers den nötigen Abstand. Fartuloon war nicht so dumm, ihm so nahe auf die Haut zu rücken, dass er von der Waffe Gebrauch machen musste. Der Bauchaufschneider blieb in gebührendem Abstand stehen. »Versuchen Sie nicht, mir Theater vorzuspielen«, sagte der Offizier ernst. »Sie und Ihre Gruppe sind für das Chaos verantwortlich, das sich in der Speicherhalle abspielt.« »Ich weiß nicht, was ein Informationsräuber ist!«, schrie Fartuloon in höchstem Zorn. »Sie nehmen wahrscheinlich an, dass wir irgendetwas Geraubtes bei uns führen. Gut – durchsuchen Sie uns! Und dann, wenn Sie sich vergewissert haben, dass wir nichts Unerlaubtes an uns haben, setzen Sie diese Fahrzeuge wieder in Betrieb und lassen uns dorthin fahren, wo wir Nahrung für das Baby bekommen.« Der Bauchaufschneider spielte seine Rolle vorzüglich. Aber alle Schauspielkunst reichte nicht aus, um den jungen Offizier irrezumachen. Dessen Stimme klang merkwürdig ernster und schärfer, als er sagte: »Ich bin nicht hierhergekommen, um mit Ihnen zu diskutieren. Legen Sie Ihre Waffen ab und befehlen Sie Ihren Leuten, das Gleiche zu tun. Dann kommen Sie mit mir; der Sicherheitsdienst wird feststellen, ob Sie wirklich so harmlos sind, wie Sie tun.« Fartuloon tat so, als setze er zu einer letzten Erwiderung an. Dann jedoch gab er auf, wandte sich zu uns um. Seine Stimme klang niedergeschlagen, als er sagte: »Ich glaube, wir müssen
dem jungen Narren zu Willen sein. Vielleicht können wir uns irgendwo über ihn beschweren, aber im Augenblick, fürchte ich …« Was dann kam, war überraschend. Irgendwo hinter uns geriet etwas in Bewegung. Ich hörte ein dumpfes Rollen, als bewege sich ein schwerer Gegenstand über den Boden. Ich sah den Offizier die Blickrichtung wechseln und erstarren. Aus unnatürlich großen Augen blickte er auf etwas, das sich hinter mir befand. Ich wollte mich umdrehen; aber die Ereignisse begannen sich zu überstürzen. Ich hörte das charakteristische, helle Summen eines Schockstrahlers. Fartuloon stieß einen gellenden Schrei aus und vollführte einen Satz, der einem Akrobaten alle Ehre gemacht hätte. Er hatte einen Streifschuss abbekommen. Die drei Arkoniden dagegen befanden sich voll im Wirkungsbereich der Salve. Ich hörte sie halb erstickte Schreie ausstoßen, dann gingen sie bewusstlos zu Boden. Schließlich brachte ich es fertig, mich umzudrehen. Auf der anderen Seite des Raumes, am Rand des Stollens, in dem sich die Fahrzeuge bewegten, war in der Wand eine breite Öffnung entstanden. Dort erschien eine Gruppe abenteuerlich gekleideter Gestalten. Sie turnten an den abgestellten Wagen vorbei und sprangen auf die Plattform unseres Fahrzeugs. Ich griff unwillkürlich nach der Waffe, aber mein Extrasinn riet mir, die Fremden nicht für Feinde zu halten. Ein kleines, dickes Individuum mit verwachsenem Rücken baute sich vor mir auf. Der Mann war in ein wallendes Gewand gekleidet, dessen grellbunte Muster ins Auge stachen. Er hatte einen Kahlkopf, die Farbe seiner Iris war ein fast stechendes Rot. »Ich bin Yukkar, genannt das Rotauge«, krächzte er. »Wie es scheint, gerade im letzten Augenblick noch rechtzeitig zur Rettung der Höchstedlen erschienen.«
Meine erste Reaktion war Schreck. Kennt er mich? Er schien die Sorge in meinem Blick zu lesen und missdeutete sie. »Keine Angst«, versuchte er, mich zu beruhigen. »Wir sind gewappnet gegen alle Schnüffler, die womöglich durch jenes Tor kommen können.« Dabei deutete er zum Ausgang der Speicherhalle hinauf. »Sie haben die Robotbahn lahmgelegt, als der Aufruhr begann. Wir bemerkten das und kamen hierher, um nachzusehen. Denn die Bahn ist gewissermaßen unser Lebensnerv; wir können es nicht dulden, dass die Schnüffler sie abschalten.« Er hatte eine helle, krächzende Stimme, die dem Ohr Schmerz bereitete. Außerdem begleitete er seine Worte mit heftigen Grimassen. Er war ein merkwürdiger Kauz. Sein Satron hatte einen harten Akzent, was darauf hinwies, dass er von den Außenkolonien stammte. Vermutlich sprach er uns deshalb bewusst als Höchstedle an – eine Anrede, die nur dem Imperator persönlich zustand. »Und was wird jetzt weiter?«, fragte ich. Er machte eine ehrerbietige Geste in Richtung der Öffnung, durch die er mit seinen Begleitern gekommen war. »Wenn die Höchstedlen sich dorthinein bemühen wollen, können wir gern darüber beraten, wie wir Ihnen weiterhelfen.« Fartuloon hatte sich inzwischen von dem schmerzlichen Streifschuss erholt und trat heran. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Die Geste, mit der er mir antwortete, besagte, dass er auch nicht gescheiter war als ich. Die Frauen waren bereits von der Plattform gestiegen und schritten zwischen den reglos verharrenden Gestalten der Buntgekleideten hindurch auf die Öffnung zu. Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen. Ich warf einen letzten Blick auf die drei bewusstlosen Offiziere. Yukkar und seine Leute folgten uns. Es sah nicht so aus, als wollten sie sich an den Arkoniden vergreifen. Jenseits der Öffnung befand sich
ein breiter Gang, dessen unbehauenen Wänden ich ansah, dass er nicht ursprünglich zur Anlage gehört hatte, sondern später entstanden war. Auch die aus einer Felsplatte bestehende Tür, die beim Öffnen und Schließen das rollende Geräusch verursachte, machte den Eindruck, als sei sie erst später und nur unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit der Anlage hinzugefügt worden. Wir blieben ein paar Augenblicke stehen und warteten, bis Yukkar die Öffnung wieder verschlossen hatte. Zu diesem Zweck hantierte er an einer primitiven Schalttafel, die in die Seitenwand des Ganges eingelassen war. Als er fertig war, kam er auf mich zu und sagte: »Wenn die Schnüffler wieder zu sich kommen, werden sie ein paar hundert andere Schnüffler herbeirufen und diesen Gang zu stürmen versuchen. Aber sobald sie durch die Tür brechen, gehen hier ein paar Minen los, die erstens den Gang zum Einsturz bringen und zweitens so viel betäubendes Gas verbreiten, dass die Schnüffler zwei oder drei Tage lang nicht wieder zu sich kommen.« Deswegen also hatte er so umständlich geschaltet. »Bedeutet Ihnen dieser Gang nichts?«, fragte ich. »Wie kommen Sie zur Robotbahn, wenn die Öffnung nicht mehr existiert?« Er feixte, wobei sein Gesicht mehrere Augenblicke lang in wilder Bewegung war. »Es gibt viele solcher Gänge, jeder hat eine verschließbare Öffnung.« Es klang ausgesprochen fröhlich. »Unsere Organisation ist vorzüglich ausgestattet … mit allem. Wenn wir zu einer Einigung kommen, Höchstedler, will ich Ihnen darüber gerne mehr berichten.« Meine Sorge, dass er mich vielleicht erkannt haben mochte, wurde bald darauf zerstreut. Ich hörte ihn mit Crysalgira sprechen, auf die er ein Auge geworfen zu haben schien. Die Prinzessin behandelte ihn mit Zurückhaltung und ein wenig
von oben herab. Ich hörte, wie Yukkar sagte: »O doch … wir sind eine mächtige Organisation, Höchstedle, und die Schnüffler wissen das. Sie haben Angst vor uns.« Es war also seine Eigenart, jedermann mit Höchstedler anzusprechen. Ich brauchte mir deswegen keine weiteren Sorgen zu machen. Stattdessen begann ich mich zu fragen, wohin unser Weg führte. Der breite Gang schien unendlich, die Beleuchtung war hier wesentlich besser als draußen in den eigentlichen Räumen des Stützpunkts. Hier waren die Leuchtkörper auf das Sehvermögen von Arkoniden abgestimmt, während sie draußen in erster Linie den optischen Sensoren der Roboter zu dienen hatten. »Wohin führst du uns?«, fragte ich. Er aber antwortete ausweichend. Auch als Fartuloon ihn ziemlich grob anfuhr, dass er keinen Schritt weitergehen werde, wenn ihm nicht sofort das Ziel unseres Marsches genannt würde, gab Rotauge keine Auskunft. Stattdessen redete Yukkar freundlich auf den Bauchaufschneider ein, bis dieser erkannte, dass es ihm nichts einbringen werde, seine Drohung wahr zu machen. Nach einiger Zeit endete der breite Stollen in einem quadratischen, kahlen Raum, der keinem anderen Zweck als dem zu dienen schien, den Abschluss des Stollens zu bilden. Wir blieben stehen und sahen uns ratlos um. Mehr am Rande fiel mir auf, dass Yukkar und seine Leute sich plötzlich allesamt hinter uns befanden. Auch Fartuloon schien die Umgruppierung bemerkt zu haben. Wenigstens hörte ich den leicht besorgten Unterton in seiner Stimme, als er Rotauge fragte: »Und wie geht es jetzt weiter?« Yukkar hatte nichts von seiner unterwürfigen Freundlichkeit verloren. »Es stehen uns einige schwierige Verhandlungen bevor«, antwortete er, ohne zu erklären, wen er mit »uns« meinte. »Wir sind der Ansicht, dass man dafür erst das
richtige Klima schaffen muss. Dieses sind wir bereit zu tun.« Ich versuchte noch, in seinen Worten einen Sinn zu erkennen, als mein Extrasinn signalisierte: Gefahr! Aber da war es schon zu spät. Yukkars Leute hatten unvermittelt ihre Schockstrahler in der Hand. Ich hörte ein helles Summen, dann traf mich etwas mit der Wucht einer einstürzenden Mauer, und danach war vorläufig nichts mehr …
19. Aus: Altarkonidische Sprichwortsammlung Mit Mehinda dringst du bis zum Imperator vor – mit Essoya überallhin.
Varlakor: 11. Prago der Hara 10.499 da Ark Nur zögernd kehrte das Bewusstsein zurück. Die Nachwirkungen des Treffers aus dem Schockstrahler waren unverkennbar: pochender Kopfschmerz und würgende Übelkeit. Ich spürte, dass ich mich einigermaßen frei bewegen konnte, und richtete mich auf. Ich befand mich in einem engen Raum. Vor mir saß eine der bunt gekleideten Gestalten aus Yukkars Gefolge. Der Mann grinste mich an und stand auf. Mit leicht verschwommenem Blick erkannte ich, dass sich in einer der Wände des Raums, der im Übrigen völlig kahl war, eine Öffnung auftat, durch die der Buntgekleidete verschwand. Ich war, bis auf die Nachwirkungen der Schocksalve, unbeschädigt, wie ich mich rasch überzeugte. Inhaber des dritten Grades der ARK SUMMIA wussten, wie man mit so etwas fertig wurde. Der Raum maß rund fünf
Schritte im Quadrat und bestand ringsum aus kahlem Felsgestein. Die Leuchtplatte in der Decke war älteren Kalibers und verbreitete eine weniger als zureichende Helligkeit. Was ist mit den anderen? Ischtar … Chapat … Mein Zorn auf Yukkar stieg und war umso schlimmer zu ertragen, als ich keine Möglichkeit hatte, ihm Luft zu verschaffen. Sie hatten mir selbstverständlich alles abgenommen, was ich zu meiner Verteidigung hätte benützen können: die Waffen, sämtliches Kleingerät und selbst den Kommunikator. Die Öffnung entstand von Neuem. Mein Wächter kehrte zurück, begleitet von Rotauge selbst. Yukkars Gesicht befand sich in wilder Bewegung, seine Grimassen machten meinen Zorn noch größer. Es juckte mich in den Fingern, mich auf ihn zu stürzen und ihm mit den Fäusten eine derbe Lektion zu erteilen. Yukkar aber war kein Dummkopf. Sein Begleiter musste sich mit schussbereiter Waffe so postieren, dass er mich ständig im Auge hatte. Yukkar selbst hielt gebührenden Abstand. »Diese Entwicklung muss für den Höchstedlen ein wenig überraschend gekommen sein«, eröffnete er die Unterhaltung. Ich antwortete nicht. Die Feststellung war zu trivial, als dass ich darauf etwas hätte sagen wollen. »Aber es gibt eine Erklärung. Eine höchst plausible Erklärung, von der ich annehme, dass Sie Ihnen einleuchten wird.« Noch immer kein Grund zum Antworten, obwohl Yukkar mich auffordernd ansah. Als von meiner Seite nichts kam, nahm er einen dritten Anlauf: »Sie werden sich denken können, um wen es sich bei mir und meinen Leuten handelt, nicht wahr?« Da hatte er recht. Ich erinnerte mich an die Beschuldigungen, die der Offizier Fartuloon entgegengeschleudert hatte. »Ihr seid Informationsräuber!« Yukkar verzog schmerzlich das Gesicht. »Die Schnüffler nennen uns so«, verbesserte er mich. »Wir selbst nennen uns Informationshändler. Sie glauben nicht, welchen Wert …«
»Ihr könnt euch nennen, wie ihr wollt«, fiel ich ihm wütend ins Wort. »Gesindel seid ihr allemal! Wo sind meine Begleiter? Welch hirnverbrannter Plan hat dich bewogen, uns in einen Hinterhalt zu locken?« Da schien er auf einmal um eine Handbreit zu wachsen, das unruhige Zucken in seinem Gesicht verlor sich, und seine tiefroten Augen leuchteten zornig auf. In diesem Augenblick erkannte ich, welch gefährlicher Mann Yukkar in Wirklichkeit war. »Sie sprechen eine harte, ungerechtfertigte Sprache«, schleuderte er mir entgegen. »Wären die Gesetze in diesem Reich so, wie sie sein sollten, gäbe es keinen Informationshandel. Mein Plan, den Sie hirnverbrannt nennen, hängt unmittelbar mit dem Handel an Informationen zusammen. Und Ihre Begleiter werden Sie erst zu sehen bekommen, wenn Sie auf meine Bedingung eingegangen sind.« Durch seine unerwartete Heftigkeit verblüfft, fragte ich: »Und welche Bedingung ist das?« »Sie bringen eine Ladung Information zu unserem Kontaktmann in Elkinth.«
Ich hatte Zeit genug, darüber nachzudenken. Der Wächter hatte anscheinend nur die Aufgabe gehabt, Yukkar mein Erwachen zu melden. Jetzt war er nicht mehr da. Die trübe Platte glomm schwach. Ich hatte die Wände in der Nähe des Ausgangs untersucht, aber den Mechanismus nicht gefunden, mit dem sich die Geheimtür öffnen ließ. Ich hatte mit den Fäusten gegen den Fels getrommelt, um zu erfahren, ob irgendjemand den Lärm, den ich dabei vollführte, hören konnte. Vielleicht gelang es mir auf diese Weise, mit Fartuloon oder Corpkor in Verbindung zu treten. Aber auch hier war mir kein Erfolg beschieden. Ich hockte mich in eine Ecke, lehnte
mich gegen das kühle Gestein und dachte nach. Varlakor war ein Flottenstützpunkt. Die Daten, die in den subplanetarischen Speicherhallen aufbewahrt wurden, befassten sich mit militärischen Dingen. Yukkars Kunde konnte niemand anders sein als die Kriegsleitung der Methans. Der Arkonide Yukkar verdiente sein Geld damit, dass er sein Volk an den Feind verriet! Es gab für mich keinen Zweifel, dass ich mich für den Transport von Yukkars Informationen nicht hergeben konnte. Ich stand mit dem Regime des arkonidischen Reiches auf Kriegsfuß. Aber das Imperium war nicht identisch mit Orbanaschol III.; dem Tai Ark’Tussan gehörte alles, was ich besaß: Leben, Ehre, Gesundheit. Was also blieb für mich? Ich würde Yukkars Bedingung ablehnen. Und dann? Einer, der sein Volk verrät, sagte der Extrasinn, kennt vermutlich auch keine Skrupel gegenüber denen, die sich weigern, ihm zu Diensten zu sein. War es wirklich unvermeidlich, dass ich mein Leben in der Unterwelt von Varlakor beschloss? Würde Orbanaschol, der machtgierige Mörder meines Vaters, auf so lächerlich einfache Weise zu dem Ziel gelangen, den letzten Gonozal-Spross zu liquidieren? Auf keinen Fall wollte ich meine Entscheidung kundtun, bevor ich mich mit Fartuloon und den anderen besprochen hatte. Als Yukkar schließlich zurückkehrte, um meine Antwort zu hören, verkündete ich ihm meinen Entschluss. Er verzog das Gesicht zu einer bösartigen Grimasse. »Hier unten ist Yukkar, das Rotauge, der Einzige, der Bedingungen stellt. Sie bleiben hier; wenn Sie ein paar Tage ohne Nahrung und Trunk verbracht haben, werden Sie wohl geneigt sein, die Lage nach meinen Vorstellungen zu interpretieren.« Er machte seine Drohung wahr. Ich verbrachte die Zeit in bissigem Grübeln und unruhigem Schlummer. Von Tonta zu
Tonta wuchs meine Sorge um die anderen, besonders um Ischtar und Chapat, aber auch um Crysalgira und den Chretkor. Der Mangel an Nahrung machte mir vorläufig nicht sonderlich zu schaffen. Nicht nur bei der ARK SUMMIA auf Largamenia hatte ich schon Schlimmeres erduldet. Ich fing mit Übungen an, die das Bewusstsein in Bewegung hielten und es daran hinderten, sich auf die Hoffnungslosigkeit der gegenwärtigen Lage zu konzentrieren. Yukkar kam zweimal, um sich zu erkundigen, ob sich meine Ansicht geändert habe. Er ließ nicht erkennen, ob ihn meine Standhaftigkeit beeindruckte. Ich rechnete damit, dass er uns brauchte. Womöglich hatte er nicht Leute genug, um die geraubte Information selbst nach Elkinth zu bringen. Wenn er aber auf uns angewiesen war, dann würde er einlenken und mich nicht verhungern lassen, nur weil ich mich weigerte, meine Entscheidung ohne die Freunde zu treffen. Und dann erlebte ich den Augenblick des Erfolges. Yukkar trat in meine Kammer. »Ihre Freunde warten auf Sie«, verkündete er und trat zur Seite, sodass ich die Öffnung passieren konnte.
Die Beratung fand in einem Raum statt, dessen Behaglichkeit mich überraschte. Es gab Mobiliar hier, das ich in den Tiefen von Varlakor nicht zu finden erwartet hätte. Fartuloon, Crysalgira, Ischtar, Chapat, Corpkor und Eiskralle waren anwesend. Sie starrten mir wortlos entgegen. Sie hatten gelitten, das sah ich ihnen an. Mein Zorn wuchs. Ich wandte mich um. Yukkar stand fünf Schritte hinter mir, aber jetzt hatte er einen Wächter an seiner Seite, der die Mündung der Waffe auf mich gerichtet hielt. »Es hat keinen Sinn, sich zu erregen«, sagte er mit schneidender Schärfe. »Uns allen ist eher damit gedient, wenn wir nüchtern und sachlich über die Dinge
sprechen.« Nur eines milderte meine Wut: Chapat sah nicht so aus, als habe man auch ihn Not leiden lassen. »Ich kann nicht sprechen«, röhrte Fartuloon plötzlich. »Mein Mund ist zu trocken.« »Sie erhalten zu trinken und zu essen.« Yukkar hielt sein Versprechen. Seine Leute brachten Proviant und Getränke. Wir achteten nicht der Männer, die ihre Waffen auf uns gerichtet hielten, sondern bedienten uns, obwohl die Nahrung, die Yukkar uns vorsetzen ließ, alles andere als delikat war. Danach begann die Verhandlung. Yukkars Leute hatten die Ess- und Trinkgefäße abgeräumt. Außer uns und Rotauge befand sich nur noch ein Wächter hier, der darauf achtete, dass wir uns nicht an seinem Herrn vergriffen. »Sie kennen meine Bedingung«, begann Yukkar. »Äußern Sie sich dazu.« Mein Blick war auf Fartuloon gerichtet. Ich sah ihn mir auffordernd zunicken. »Wir sind Arkoniden«, beantwortete ich Yukkars Aufforderung. »Wir haben nicht die Absicht, durch den Transport deiner Informationen zum Untergang des Reiches beizutragen.« Er bedachte mich mit einem langen, ernsten Blick. »Sind die übrigen Mitglieder Ihrer Gruppe derselben Meinung?« Ich blickte in die Runde. Ischtar und Eiskralle hatten mit Arkon wenig, wenn überhaupt etwas gemeinsam. Konnte ich wirklich für sie sprechen? Aber ich begegnete nur zustimmenden Blicken. »Sie sind!« »Ungeachtet der Folgen, die sich aus dieser Weigerung für Sie ergeben?« Diesmal brauchte ich mich nicht mehr umzusehen. »Ungeachtet der Folgen.« Da geschah etwas Seltsames. Das Rotauge begann zu lächeln. Der bittere Ernst war von seinem Gesicht gewichen. Er winkte dem Wächter zu, die Waffe zu senken. Dann sagte
er: »Sie sind eine tapfere Gruppe. Ich glaube, wir werden doch noch zu einer Einigung kommen, denn Sie gehen von falschen Voraussetzungen aus. Sie glauben, dass ich hier geheime Informationen raube, um sie an die Methans zu vermitteln. Sosehr mich dieser Verdacht schmerzt, bin ich doch gezwungen anzuerkennen, dass Sie wahrscheinlich zu keinem anderen Schluss kommen konnten. Die Wahrheit aber sieht ganz anders aus. Der Imperator hat die Freizügigkeit des Informationsaustauschs unter Berufung auf das Kriegsrecht drastisch eingeschränkt! Zum Teil dient diese Einschränkung seinen privaten wirtschaftlichen Interessen, denn er arbeitet mit gewissen Industrieunternehmen zusammen, die für die Flotte fertigen. Diesen Unternehmen kommen alle Informationen zu, die sie brauchen, um ihre Fertigung noch weiter nach dem Bedarf der Flotte auszurichten und mit der Flotte gute Geschäfte zu machen. Konkurrierende Unternehmen haben dagegen keine Aussicht, mit der Flotte jemals ins Geschäft zu kommen, weil sie keine Informationen über den Bedarf der Flotte haben und daher nicht wissen, auf welchen Zweig der Fertigung, auf welche Sparte der Forschung und Entwicklung sie die Schwerpunkte legen sollen.« Er schwieg, um uns Zeit zum Verstehen zu geben. Er behauptete nicht mehr und nicht weniger, als dass er und seine Leute nicht wirklich Verräter, sondern vielmehr Informanten seien, die weiter nichts taten, als einem von der Regierung benachteiligten Zweig der Industrie zu ihrem Recht zu verhelfen. »Ich bin bereit, den Beweis für meine Behauptung anzutreten«, sagte Yukkar, als er sah, dass seine Worte auf einigermaßen fruchtbaren Boden gefallen waren. »Die Information, die wir den Speichern entnehmen, wird auf kleine Speicherkristalle überspielt. Die Sendung, die ich Sie
mitzunehmen bitte, besteht aus insgesamt vierzig solcher Kristalle. Sehen Sie sich alle an, oder wählen Sie aufs Geratewohl einige davon aus … Mir ist es gleichgültig. Sie mögen das, was ich tue, Industriespionage oder sonst irgendwie nennen. Auf keinen Fall ist es Spionage zugunsten des Feindes. Ich hasse die Methans – sie haben meine Heimat vernichtet!« Er schwieg. Ich sah ihm an, dass er alles gesagt hatte, was er sagen wollte, nun wartete er auf unsere Entscheidung. Ich war bereit, auf seine Bedingung einzugehen – vorausgesetzt, wir konnten uns durch Abruf der Speicherkristalle von seiner Aufrichtigkeit überzeugen. Bevor ich aber meine Antwort noch formulieren konnte, sagte Fartuloon bedächtig: »Sag uns, Rotauge: Wer ist der Kontaktmann, an den wir die Ladung abzuliefern haben?« Ein müdes Lächeln huschte über Yukkars Gesicht. »Er heißt Basnorek und ist der Kapitän eines alten Handelsschiffs.« Und dann fügte er mit halblauter Stimme hinzu: »Aber ich glaube, das wusstest du schon vorher, du schlauer alter Mann!«
Wir hatten uns überzeugt: Yukkars Information würde dem Feind, selbst wenn sie ihm in die Hände fiel, nichts nützen. Ich wollte nicht sagen, dass ich den Informationsräuber zu achten begonnen hatte. Aber auf jeden Fall war meine Einstellung eine andere geworden. War er schließlich nicht wie ich einer, der gegen die Ungerechtigkeit Orbanaschols kämpfte? Wir hatten uns geeinigt. Fartuloon, Corpkor, Crysalgira und ich nahmen je zehn der insgesamt vierzig Kristallspeicher an uns. Danach eröffnete uns Yukkar, der inzwischen veranlasst hatte, dass uns all unser Besitztum zurückgegeben wurde, dass es in der Unterwelt von Varlakor einen geheimen Schmugglerpfad gab, der gefährliche Stellen umging und
dennoch auf ziemlich geradem Wege nach Elkinth führte. Zum Teil benutzte dieser Pfad Rohrbahnen und Antigravstollen, die von der Flotte als stillgelegt betrachtet, von den Informationsräubern jedoch wieder aktiviert worden waren. Der Pfad war markiert. An gewissen Orten waren kleine Sender installiert, deren Impulse zum Festlegen der Marschrichtung verwendet werden konnten, sofern geeignete Geräte zur Verfügung standen, die nur auf diese Emissionen ansprachen. Yukkar händigte uns drei dieser Geräte aus. Mit fünf seiner Getreuen brachte er uns durch einen langen, breiten Korridor bis zu einem Ausgang, der unmittelbar auf den Stollen einer Robotbahn mündete. Es war, wie er uns erklärte, dieselbe Bahn, an deren Wendepunkt uns die Informationsräuber gegen die Soldaten beigestanden hatten, nur eben zwei Kilometer bahnabwärts. Ich hatte von Yukkar eine Karte erhalten, die die subplanetarischen Anlagen und den Verlauf des Schmugglerpfads in einigen Details beschrieb. Die Bahnstrecke war kaum fünfhundert Kilometer lang. Mit ihrer Hilfe würden wir unserem Ziel in kurzer Zeit um ein beträchtliches Stück näher kommen. Auf dem Weg durch den langen Korridor hörte ich, wie Corpkor den Informationsräuber ins Gespräch nahm. »Gibt es hier unten Tiere?« Yukkar wusste zunächst nicht, was er mit der Frage anfangen sollte. »Große Tiere, meine ich. Sechsbeinige, bunte Bestien.« Yukkar sah ihn an, als zweifle er an der Gesundheit seines Verstandes. »Nein, solche Tiere gibt es hier nicht. Ich habe überhaupt noch keine größeren Tiere gesehen. Es gibt Insekten, auch ein paar Würmer …« Mehr hörte ich nicht. Aber ich wusste, dass Corpkor sich noch immer um das sechsbeinige Vieh sorgte, das Fartuloon und mir begegnet war. Im Stollen der Rohrbahn stand ein Plattformwagen für uns bereit. Die Informationsräuber
beherrschten die Bahn mittels kleiner Fernsteuermechanismen, die sie selbst entwickelt hatten. Die beiden Frauen nahmen zuerst Platz. Dann kam der Chretkor. Nach ihm suchte sich Corpkor einen Sitzplatz. Fartuloon und ich blieben am Rand des Stollens zurück. Yukkars Begleiter waren nicht bis an den Stollen herangekommen, sondern warteten in etwa zwanzig Schritten Entfernung. Ich machte die Geste des Abschieds. »Unser Zusammentreffen war getrübt, und unser Abschied leidet noch unter dieser Trübung. Aber ich bin sicher, dass wir in Zukunft einander begegnen könnten, ohne uns an das Unangenehme unserer ersten Begegnung zu erinnern.« Sein faltiges Gesicht hellte sich auf. »Ich bin glücklich, dass Sie so denken.« Ich merkte, dass ihm die Freude aus dem Herzen kam. »Ich werde die Ehre in meinem Innern bewahren, die mir zuteil wurde, als ich mit dem Kristallprinzen von Arkon zusammentraf.« Ich hatte Mühe, meine Haltung zu wahren. Er kannte mich also doch? Welche Druckmittel hätte er anwenden können, um mich zum Eingehen auf seine Forderungen zu zwingen. Wie leicht wäre es für ihn gewesen zu sagen: Wenn du meinen Wunsch nicht erfüllst, liefere ich dich den Häschern des Imperators aus. Mein Abschied gestaltete sich daraufhin ein wenig verwirrt. Ich stand auf der Plattform des rasch an Geschwindigkeit gewinnenden Fahrzeugs und blickte noch lange Zeit dorthin zurück, wo ich das Rotauge infolge der unzureichenden Beleuchtung schon längst nicht mehr sehen konnte.
Die Fahrt war nicht eben bequem. Der Wagen bewegte sich mit bedeutender Geschwindigkeit. Den Gütern, die er üblicherweise beförderte, mochte der Fahrtwind wenig ausmachen. Wir aber empfanden ihn als unangenehm. Die
fünfhundert Kilometer lagen binnen weniger als eineinhalb Tontas hinter uns. Fartuloon bildete die Vorhut unserer Gruppe. Ich hielt mich in Ischtars Nähe. Gesprochen wurde wenig. Es ging jetzt in erster Linie darum, herauszufinden, ob wir uns auf das verlassen konnten, was Yukkar uns mit auf den Weg gegeben hatte. Die kleinen Empfänger taten ihre Schuldigkeit, darüber waren wir uns schnell im Klaren. Sie gaben halblaute, quäkende Geräusche von sich, deren Lautstärke sich veränderte, sofern sie hin und her gedreht wurden. Sie verhielten sich, auch wenn sie nach einem anderen Prinzip funktionierten, wie Fartuloons Pfadfinder. Von der Wendestelle der Rohrbahn aus führten mehrere Stollen weiter. Mithilfe der Quäker, wie Fartuloon sie nannte, fanden wir ohne Mühe den Schmugglerpfad; die Pfadfinder bestätigten uns, dass er annähernd in Richtung Elkinth führte. Nach Yukkars Beschreibung würden wir wenige Kilometer später abermals auf eine stillgelegte Rohrbahn treffen. Es konnte uns keine Schwierigkeiten bereiten, eins der Fahrzeuge in Betrieb zu nehmen. Wenn Basnorek wirklich der Mann war, an den wir die geschmuggelten Informationen abzuliefern hatten, erschien es glaubhaft, dass Yukkar uns den Weg gewiesen hatte, der uns innerhalb der gebotenen Frist zur Freihafen-Sektion bringen würde. Wir alle beschäftigten uns mit diesem Gedanken. Und als wir sahen, dass die Quäker wirklich funktionierten und sich unserem Marsch kein Hindernis in den Weg legte, begann unsere Zuversicht zu wachsen. Wir würden es trotz allem noch schaffen, redeten wir uns ein. Wir wussten inzwischen, dass uns nur unsere gereizte Fantasie vorgegaukelt hatte, wir seien in Yukkars Sträflingsgelassen mehrere Tage lang gefangen gewesen. In Wirklichkeit handelte es sich kaum um einen Tag, den wir durch die Begegnung mit den Informationsräubern verloren hatten. Und diesen Zeitverlust, dessen waren wir sicher,
würden wir mithilfe der Weisungen, die wir von Yukkar erhalten hatten, mühelos wieder aufholen. Es war ziemlich warm, aber außer Eiskralle, der ständig vor dem Zerfließen Angst hatte, merkte niemand etwas davon. Nur noch zwei Kilometer, dann waren wir an einem Ort, von dem uns die nächste Bahn weitere Hunderte Kilometer in Richtung Elkinth transportieren würde. Es war, wenn ich unsere Lage betrachtete, eine gefährliche Stimmung, in der wir uns befanden. Nur ein Einziger nahm nicht daran teil: Corpkor. Er schritt vor uns her, seitdem Fartuloon die Führung der Gruppe abgegeben hatte. In jeden Seitengang spähte er misstrauisch hinein. Seine Vorsicht erschien mir übertrieben. Ich wusste nicht, wonach er Ausschau hielt – bis mir auf brutale Weise klargemacht wurde, dass wir uns noch längst nicht in Sicherheit befanden. Wir erreichten einen subplanetarischen Platz, auf dem sich insgesamt acht Gänge kreuzten. Der Platz war auf der Karte verzeichnet, die Yukkar uns gegeben hatte. Wir wussten genau, in welcher Richtung wir ihn zu überqueren hatten. Da gab Corpkor plötzlich einen warnenden Laut von sich. Wir wandten uns nach ihm um. Corpkor stand an der Mündung eines der acht Gänge. Ich sah ihn mit einem gewaltigen Satz beiseite springen. Und dann kam es aus dem Stollen hervorgerast: ein lang gestreckter, bunter Körper, sechs Tatzen, die den felsigen Boden in trommelndem Rhythmus schlugen. Jemand stieß einen schrillen Schrei aus. Ich hörte Fartuloon schreien: »Nicht schießen!« Das Tier stürzte sich auf Crysalgira. Es musste sich dazu aufrichten, ich sah, dass es sich auf dem hinteren Beinpaar allein recht flink bewegen konnte. Die vier dicht behaarten Pranken fassten die Prinzessin und rissen sie von den Beinen. Das Tier drehte sich und schoss davon, verschwand blitzschnell, fast lautlos, in der Tiefe des Stollens, aus dem es
gekommen war.
Ich musste gestehen: Ich verlor nicht weniger die Fassung als die anderen. Ein paar hastige Atemzüge lang stand ich starr vor Schreck, die Hand am Griff der Waffe, und starrte in den finsteren Stollen hinein, in den das Tier mit Crysalgira verschwunden war. Ich glaubte, noch das schleifende Schlagen der Tatzen zu hören; aber das war nur mehr eine Reaktion des überreizten Gehörs. Das Tier war längst verschwunden. Nur einen gab es, der an der allgemeinen Fassungslosigkeit nicht teilnahm: Corpkor, den Tiermeister. Wie einen Blitz hatte ich ihn in den Stollen hinein verschwinden sehen. Jetzt, da meine Überraschung wich, wollte ich ihm folgen. Aber Fartuloon hielt mich zurück. »Du bringst ihm keinen Nutzen. Lass ihn gewähren.« Ich gehorchte. Chapat hatte zu weinen begonnen. Der Chretkor stand mitten auf der Gangkreuzung und starrte aus großen Augen vor sich hin. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Corpkor kündete seine Rückkunft durch keinerlei Geräusch an. Plötzlich glitt er aus der Mündung des Stollens, und sein vernarbtes Gesicht zeigte ein grimmiges Lächeln. »Kommt mit, wenn ihr etwas sehen wollt.« Ohne zu beachten, ob jemand der Aufforderung folgte, drehte er sich um und war einen Augenblick später wieder im Stollen verschwunden. Ich war der Erste, der sich ihm auf die Fersen heftete. Er bewegte sich so gut wie geräuschlos, ich versuchte, es ihm nachzutun. Nach einiger Zeit erschien in der Ferne vor uns ein winziger Lichtfleck. Er wurde heller, schließlich sah ich, dass der Stollen in einen kleinen, kreisrunden Raum mündete, der durch eine matte Lampe erleuchtet wurde. Corpkor bewegte sich jetzt noch vorsichtiger
als zuvor, durch einen Wink gab er mir und den anderen zu verstehen, dass wir dem Ziel nahe seien. Er trat schließlich zur Seite und ließ mich durch die Mündung des Stollens in den runden Raum blicken. Da hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, das Tier in aller Ruhe zu betrachten. Es kauerte auf dem Boden, den schlanken Körper lang ausgestreckt; neben ihm lag Crysalgira, immer noch bewusstlos. Das Tier war gut fünf Schritte lang. Dort, wo die Beinpaare aus dem Körper ragten, war dieser leicht eingeschnürt. Die Extremitäten waren kurz, aber kräftig, endeten in krallenbewehrten Tatzen. Das Fell war kurzhaarig und vielfarbig. Ein tiefes Grau herrschte vor, aber dazwischen gab es gelbe, rote, grüne und blaue Flecken. Der Schädel war im Vergleich zu der Schlankheit des Körpers fast unförmig, ein grob geformter Klotz, aus dem die großen, facettenartig gemusterten Augen hervorquollen. Ein weißer Strich, der sich quer durch das bunte Fell zog, musste das Maul sein. Riechund Hörorgane waren nicht zu erkennen. Das Tier hatte uns entdeckt, hob den Schädel und hielt ihn witternd in Richtung der Stollenmündung. Corpkor schob mich beiseite und trat vorsichtig in den Raum. Ich hörte ihn dunkle, beruhigende Laute ausstoßen. Ich kannte seine Fähigkeit, sich die Zuneigung sämtlicher Tiere zu erwerben und sie sich zu seinen Freunden zu machen. Als so unfehlbar hatte er sich in dieser Hinsicht bisher erwiesen, dass ich keinen Augenblick zweifelte, er werde auch mit diesem Tier zurechtkommen. Es kam jedoch anders, als ich erwartet hatte. Corpkor war noch drei Schritte von dem bunten Tier entfernt, war stehen geblieben und schien seiner Sache nicht mehr allzu sicher zu sein. Das Tier beobachtete ihn scharf, aber bisher hatte es noch keinen einzigen Laut von sich gegeben. Corpkor streckte die Hand aus – langsam und vorsichtig, um das Tier nicht zu erschrecken. In diesem Augenblick geschah es: Das
Tier fuhr mit einem Satz in die Höhe, schnellte sich förmlich vom Boden ab. Der haarige Körper prallte gegen den völlig überraschten Corpkor und schleuderte ihn zu Seite. Das Tier bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Schneller, als mein Blick ihm zu folgen vermochte, erreichte es die Mündung des Stollens und raste an mir vorbei. Von hinten erschollen teils entsetzte, teils wütende Schreie derer, die dem lebendigen Geschoss nicht rechtzeitig hatten ausweichen können. Danach trat Ruhe ein. Corpkor stand fluchend auf. Ich kniete neben der Prinzessin, die der Lärm aus der Bewusstlosigkeit geweckt hatte. Verwirrt blickte sie sich um. Und dann sagte sie etwas Erstaunliches. »Lass mich in Ruhe!«, fuhr sie mich an. »Ich weiß nicht, wo unser Ziel ist.«
Das Tier war spurlos verschwunden, davon hatte sich Corpkor überzeugt. Und Crysalgira war inzwischen vollends zu sich gekommen, hatte mich erkannt und bedauerte, dass sie so grob zu mir gewesen war. Sie kauerte auf dem Boden des runden Raumes und hatte den Rücken gegen die Wand gelehnt. Ich wiederholte, was sie unmittelbar nach dem Erwachen zu mir gesagt hatte. »Warum sagtest du das?« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Ihre Augen waren in die Ferne gerichtet. »Ich weiß nicht«, antwortete sie nach einer Weile, ohne mich dabei anzublicken. »Ich hatte … ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass ich ausgefragt werden sollte.« »Die ganze Zeit über …?« »Ja, das klingt merkwürdig, nicht wahr?« Jetzt sah sie mich an, und ein kleines, hilfloses Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Während ich bewusstlos war. Irgendwo in meinem Schädel saß etwas, das fortwährend Auskünfte von mir forderte.« Corpkor näherte sich. »Das ist kein Tier!«
»Wie meinst du das?« Er hockte sich auf den Boden. Fartuloon, Eiskralle und Ischtar mit Chapat standen in der Nähe des Ausgangs und unterhielten sich halblaut. »Ich kenne alle Tiere. Und alle Tiere kennen mich. Die Natur hat mich so geschaffen, dass ich sie verstehe – die großen wie die kleinen, die hoch entwickelten wie die primitiven. Aber dieses Geschöpf war mir fremd.« Er schwieg und starrte finster vor sich hin. Ich kannte ihn und seine Weise, mit Tieren umzugehen, deshalb nahm ich seine Worte ernst. »Was ist es also?« Er machte die Geste des Widerwillens. Dann stand er auf und brummte: »Ich weiß es nicht.« Mürrisch ging er fort. Crysalgira sagte: »Ich weiß wirklich nicht, wie das gekommen ist.« Ich dachte zuerst, sie bezöge sich auf Corpkor, und war etwas verwirrt. Dann bemerkte ich, dass sie über ihren eigenen Fall sprach. Ich stand auf und ließ sie alleine, fand es schwierig, mit meinen Gedanken ins Reine zu kommen. Fartuloon und Ischtar blickten mir entgegen, als ich auf sie zutrat. »Lasst uns weitergehen«, sagte ich. »Diese sechsbeinige Vieh ist mir unheimlich.« »Es hat sich das richtige Opfer ausgesucht, um seine Unheimlichkeit unter Beweis zu stellen«, antwortete Ischtar mit fast gehässiger Stimme. Verblüfft sah ich sie an. »Jeder andere von uns hätte aus der Situation mehr herausgebracht als eine mit merkwürdigen Eindrücken untermalte Ohnmacht.« Ich sah das harte Glitzern in ihren Augen. Das Bild Farnathias tauchte plötzlich vor mir auf. Ich fragte mich unwillkürlich, wie tief und echt die Liebe war, die sie für mich empfand … »Wir brechen auf«, wiederholte ich meine Aufforderung. »Hier ist es nicht geheuer.« Der Bauchaufschneider machte die Geste der Zustimmung
und gab den entsprechenden Befehl. Ich beobachtete Crysalgira. Sie erhob sich zögernd und mit sichtlichen Schwierigkeiten. Der Zwischenfall war nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiss und die vollen Lippen zu einem schmalen Strich wurden. In diesem Augenblick bewunderte ich sie und empfand zugleich tiefes Mitleid. Crysalgira war während der unwirklichen Abenteuer im Mikrokosmos meine Gefährtin gewesen. Und wir waren Freunde geworden, gute Freunde. Ischtar hat absolut keinen Anlass, abfällig über die Prinzessin zu sprechen.
Nach kurzer Zeit erreichten wir den Stollen der Rohrbahn und fanden ohne lange Suche ein Fahrzeug, das genug Ladekapazität besaß, um uns alle aufzunehmen. Fartuloon und ich beschäftigten uns mit der Positronik des Fahrzeuges. Sie war einfach genug, sodass es uns geringe Mühe kostete, den Wagen zu kontrollieren. Ich bemerkte, dass sich Fartuloon trotz der Einfachheit der Aufgabe ziemlich viel Zeit ließ. Inzwischen machten es sich die anderen im Innern des Fahrzeugs bequem. Erst als er sicher war, dass niemand uns hören konnte, sagte der Bauchaufschneider: »Ich möchte sie mit meinen Gedanken nicht unnötig erschrecken. Ich bin nämlich der Ansicht, dass wir auf das sechsbeinige Vieh ein scharfes Auge haben müssen.« Der Ansicht war ich allerdings auch; es wunderte mich nur, warum er so geheimnisvoll tat. »Ich hörte, wie Corpkor zu dir sagte, das Sechsbeinige sei kein Tier. Das gab mir zu denken. Denn Corpkor kennt sich bestens mit Tieren aus.« Daran gab es nichts zu rütteln. Worauf aber will der Alte hinaus? »Ich erinnere mich noch an unsere erste Begegnung. Ich bekam die Waffe gerade noch in die Hand. Zum Zielen hatte ich nicht viel Zeit, aber ich bin sicher, dass die Mündung
irgendwo auf den Leib des Sechsbeinigen zeigte. Und was geschah, als ich abdrückte? Es gab einen grellen Blitz. Ich wurde von irgendetwas getroffen und verlor für kurze Zeit das Bewusstsein. Es war mir, als hätte der Körper des Sechsbeinigen die Energie meiner Waffe aufgesogen und in geballter Form auf mich zurückgeschleudert!« Das gab mir zu denken. Es war durchaus möglich, dass die Natur Wesen erschaffen hatte, die sich auf diese Weise gegen ihre Feinde schützten; indem sie die Energie, die der Feind zu ihrer Vernichtung einsetzte, auf diesen selbst zurückschleuderten. Aber ich war noch keinem solchen Tier begegnet – und Fartuloon offenbar auch nicht. Wie aber wäre es dann zu erklären, dass ausgerechnet ein solch exotisches Geschöpf, das weder Fartuloon noch ich – und vor allen Dingen auch Corpkor nicht! – kannten, sich in das Gewirr der Gänge, Hallen, Räume, Stollen und Schächte unter der Oberfläche des Stützpunktplaneten Varlakor verwirrt hatte? »Denk an Crysalgira«, fuhr Fartuloon fort. »Das Sechsbeinige nahm sie mit. Ich bin sicher, dass sie in diesem Augenblick das Bewusstsein verloren hat. Und nicht wieder zu sich kam, bevor du dich zu ihr hinknietest. Woher hat sie dann den Eindruck, dass sie in der Zwischenzeit ausgefragt werden sollte?« Er hatte natürlich recht. Dieser Gedanke lag mir auf der Seele, seitdem ich mit Crysalgira gesprochen hatte. Ich hatte die störende Überlegung allmählich beiseite geschoben – eine Haltung, die eines Inhabers des dritten Grades der ARK SUMMIA wahrscheinlich unwürdig war. »Ist es möglich, dass es ein abgerichtetes Geschöpf ist, vielleicht auch mit Intelligenz, das die Aufgabe hat, unseren Weg auszukundschaften?« Ähnliche Gedanken hatten auch mich schon bewegt, aber ich hatte sie als überspannt und unbegründet zurückgewiesen. Jetzt aber kam Fartuloon, dessen Weisheit für mich außer
allem Zweifel stand, und hatte dieselben Bedenken. »Du hast recht«, sagte ich. »Wir müssen ein scharfes Auge auf das sechsbeinige Vieh haben.«
Die Fahrt mit der Rohrbahn zerstreute unsere Bedenken und richtete unser Selbstvertrauen wieder auf. Jeder Kilometer, die der Wagen dahineilte, ruhig, schwankungsfrei, auf fast geräuschlosen Prallkissen gleitend, brachte uns Elkinth näher. Aus der Karte, die Yukkar uns mitgegeben hatte, war zu entnehmen, dass die Strecke annähernd dreizehnhundert Kilometer lang war. Allerdings mussten wir unsere Fahrt etwa in der Mitte unterbrechen. Dort befand sich das Gebiet der Werften, auf einer kurzen Strecke wurde der Bahnstollen von der Flotte benutzt. Kurz vor der kritischen Zone hatten die Informationsräuber einen Stollen durch das Naturgestein gebrochen. Der Stollen umging die Gegend, in der die Techniker der Flotte aktiv waren, unter- oder überquerte die Korridore. An einer Stelle hatten die Informationsräuber einen Abgasschacht benutzt, um sich die Arbeit etwas leichter zu machen. Es handelte sich um den Schacht eines Docks, in dem die Triebwerke von Großraumschiffen getestet wurden. Der Stollen mündete von Westen her auf die Sohle des Schachtes und führte im Osten auf der anderen Seite weiter. Später vereinigte er sich wieder mit dem Stollen der Rohrbahn, von da an hatten wir freie Fahrt bis ans Ende der Bahn. Crysalgira war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Ich sah ihr das an, zumal sie sich nicht an unserer Unterhaltung beteiligte. Ich ließ sie gewähren, kannte sie. Wenn sie zu einem Schluss gekommen war, würde sie mit mir darüber sprechen. Ischtar gegenüber verhielt ich mich vorläufig zurückhaltend. Mir gefiel die abfällige Art nicht, in der sie über Crysalgira gesprochen hatte, und ich glaube, dass sie das bemerkte. Was
die Prinzessin betraf, erwies sich schließlich, dass ich sie richtig beurteilt hatte. Sie sah plötzlich auf, rückte näher zu mir heran. »Ich kann es mir noch immer nicht erklären«, sagte sie, »aber als ich zu mir kam, hatte ich das Gefühl, ich sei die ganze Zeit über verhört worden.« »Auch ich habe keine Erklärung, aber es würde uns womöglich weiterhelfen, wenn du dich erinnern würdest, worüber du ausgefragt worden bist.« Sie strich sich über die Stirn. »Ich habe nur noch eine dumpfe Erinnerung. Es ist alles so … unwirklich.« »Du sagtest: Lass mich in Ruhe – ich weiß nicht, wo unser Ziel ist.« »Ja … das war das eine. Jemand wollte von mir wissen, wohin wir gehen. Außerdem wollte er erfahren, wer wir seien und wer uns diesen Weg gewiesen hat.« Ich dachte darüber nach, aber es gab alles keinen Sinn. Ich konnte mir leicht vorstellen, dass es einen Unbekannten gab, der sich für unsere Belange interessierte. Aber wer war dieser Unbekannte? Das sechsbeinige Geschöpf selbst? Kaum anzunehmen. Daftokan Jalvor? War er dahintergekommen, dass wir uns nicht an Bord des zerstörten Beiboots befunden hatten? Aber warum würde er, der fast unumschränkte Herrscher dieser Welt, auf eine solch ausgefallene Methode verfallen, uns auszuspionieren?
Als wir uns der Gegend näherten, in der wir den Bahnstollen nicht benützen durften, wurden die Empfänger, die uns Yukkar mitgegeben hatte, plötzlich aktiv. Ihre Wirkungsweise war einfach: Je näher sie dem geheimen Sender waren, desto lautere Geräusche gaben sie von sich. Wir fuhren ein Stück weit über die Stelle hinweg, an der die Signale am deutlichsten waren. Dann jedoch brachten wir den Wagen rasch zum
Halten und kehrten zurück. Die Stelle, an der sich der Eingang zum Umgehungsstollen befand, war vorzüglich getarnt. Es kostete uns einige Mühe, die geheime Tür zu finden. Der Stollen selbst war finster und nur roh aus dem Gestein gefräst. Yukkars Leute hatten keinen Wert auf Bequemlichkeit gelegt, der Boden war nur annähernd eben. Corpkor schritt vorläufig vorweg und benutzte unsere einzige Lampe, um ab und zu einen kurzen Lichtschein auf den Boden fallen zu lassen, damit wir wenigstens vor den gröbsten Hindernissen gewarnt waren. An den Wänden waren noch die Spuren der Desintegratoren zu sehen, mit denen die Informationsräuber gearbeitet hatten, um diesen Stollen zu schaffen. Die Luft war dumpf und stickig. Wir schlugen wie von selbst eine ziemlich flotte Gangart ein, um diesen Ort der Finsternis so bald wie möglich hinter uns zu lassen. Nach einiger Zeit übernahm Fartuloon die Führung, Corpkor und Eiskralle folgten ihm dichtauf. Dann kamen Ischtar und Chapat. Crysalgira und ich bildeten den Abschluss. Wortlos tappten wir durch die Finsternis. Nur von vorn kam ab und zu ein verbissener Fluch, wenn Fartuloon oder Corpkor irgendwo angestoßen waren, oder ein unterdrücktes Stöhnen, wenn sich der Chretkor die vermeintlichen Gefahren ausmalte, die in der stickig heißen Finsternis auf ihn lauerten. Nach meiner Schätzung näherten wir uns dem oben offenen Abgasschacht. Nach Yukkars Darstellung wurde er kaum mehr benutzt. Vom Prinzip her handelte es sich eigentlich um ein U-förmiges Gebilde: Über der Mündung des ersten Schachts wurden die Triebwerke gezündet, während Prallfelder, die jenen der Impulstriebwerksdüsen glichen, dazu dienten, die Emissionen umzulenken, sodass sie durch den zweiten Schacht nach oben in die ohnehin malträtierte Atmosphäre des Stützpunktplaneten abgeleitet werden konnten.
Über diesem Teil von Varlakor musste es nach unseren Uhren gegenwärtig Nacht sein. Wir konnten uns also ungesehen über den Boden des Schachtes bewegen und würden ein wenig frische Luft schnappen können. Ich verließ mich darauf, dass einer der vor mir Gehenden uns darauf aufmerksam machen würde, wenn wir den Schacht erreichten. Das war, wie sich herausstellte, eine Bequemlichkeit, auf die ich besser verzichtet hätte. Es wurde plötzlich noch wärmer und stickiger ringsum. Schweiß troff von der Stirn und rann in die Augen. Eiskralle stöhnte und jammerte in einem fort. An der Spitze der Gruppe war Fartuloon wegen der Nähe des Schachts so vorsichtig geworden, dass er die Lampe kaum noch aufflammen ließ. Da glaubte ich plötzlich zu spüren, dass das Echo meiner Schritte anders geworden war. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte in die Höhe. Wenn wir uns im Schacht befunden hätten, wären Sterne zu sehen gewesen. Ich sah jedoch keinen einzigen Lichtpunkt, also befanden wir uns noch immer im Stollen. Ein paar Schritte weiter stolperte ich über ein Hindernis, das mir im Weg lag. Ich kam aus dem Gleichgewicht und warf mich unwillkürlich nach vorn, um nicht gegen eine der scharfen Zacken zu prallen, die aus der Stollenwand ragten. Ich stürzte, kam federnd wieder auf die Beine und horchte nach Ischtars Schritten, die mir den Weg wiesen. Sie kamen von links. Hatte der Stollen die Richtung geändert? »Langsam!« Meine Stimme hatte einen eigenartigen, flachen Klang. Und dann kam das Echo meiner Worte aus weiter Entfernung. Ich stand starr, ein Gefühl eisiger Kälte verbreitete sich in mir. Ich erfasste instinktiv die fürchterliche Gefahr, in der wir uns befanden, ohne dass mein Verstand sich noch mit ihr hatte beschäftigen können. Nur mein Extrasinn war wach, raunte mir zu, was der Instinkt schon wusste. »Oh, wir Narren!«, schrie ich aus vollem Hals. »Wir sind mitten im
Schacht und haben es nicht gemerkt! Vorwärts!«
Weit vorn flammte Fartuloons Lampe auf, es zeigte sich, dass wir den Stollen tatsächlich schon längst verlassen hatten. Die Lampe war ein schwächliches Instrument. Mit Mühe nur erreichte sie die gegenüberliegende Schachtwand und die finstere Öffnung, von der aus der Stollen weiterführte. Ich aber wusste genau, warum ich vorhin keine Sterne erblickt hatte, als ich nach oben sah: Die Öffnung des Schachts wurde vom Rumpf eines Raumschiffs verschlossen! Das Dock wurde benutzt! Auch Fartuloon hatte die Gefahr erkannt, sein Schrei gellte: »Lauft!« Als er sich in Bewegung setzte, begann der Lichtkegel seiner Lampe zu schwanken und zu zucken. Ich hatte mir gemerkt, wo sich die gegenüberliegende Stollenmündung befand, und eilte darauf zu. »Rasch, Prinzessin!«, rief ich Crysalgira zu, deren Schritte ich irgendwo hinter mir hörte. Sie antwortete nicht, oder ich konnte ihre Antwort über dem Keuchen meiner Lunge nicht hören. Einen Atemzug lang sah ich den Schein der Lampe über eine graue, rissige Wand huschen, die vor mir in die Höhe wuchs. »Hier ist der Stollen«, rief jemand von links. Ich änderte die Richtung. Das war der Augenblick, in dem es hoch über mir zu rumoren begann. Die nackte Angst griff nach mir. Blasser Lichtschein fiel plötzlich aus der Höhe. Ein Schwall atemberaubender Hitze erfüllte den Schacht. Ich torkelte. Die Lampe glomm vor mir auf, kaum noch wahrnehmbar in der blitzartig stärker werdenden Helligkeit, die von oben kam. Eine kräftige Hand griff nach mir, packte mich am Arm. »Nichts wie weg«, hörte ich Corpkor dicht neben mir
keuchen. Wir hasteten durch den Stollen. Vor uns tanzte Fartuloons Lampe. Der Fels hatte zu beben begonnen. Staub rieselte herab, als der Feuerorkan der Raumschiffstriebwerke losbrach. Ein paar Dutzend Schritte weit schien es, als könnten wir der entsetzlichen Heißluftwelle nicht mehr entkommen, die von der Stollenmündung her hinter uns herfauchte. Ich wusste, dass es sich hierbei bestenfalls um die geringste Stufe der Drosselung handelte. Erst wenn die Prallfelder volle Leistung erreicht hatten, würden auch die Triebwerke weiter hochgefahren werden. Eine Biegung des Stollens. Und wirklich: Die Hitze ließ nach. Es sah so aus, als befänden wir uns vorerst in Sicherheit. Fartuloon war stehen geblieben. Die Lampe erzeugte einen kleinen Lichtkreis. Ich sah Ischtar, Chapat in der Schlinge tragend, die Augen geweitet, die Haare von Schweiß verklebt. Und den Chretkor, dessen gläsernes Gesicht zu einer Grimasse der Furcht verzerrt war. Fartuloons Miene war grimmig und verschlossen wie immer. Hinter mir stand Corpkor und brummte bösartig vor sich hin. Da durchzuckte es mich siedend heiß. Das Entsetzen war so intensiv, dass ich mehrmals zum Sprechen ansetzen musste, bevor mir das erste Wort über die Lippen kam: »Crys … Sie ist nicht hier!«
Zwei … vier … sechs Hände hielten mich fest. Ich hatte nur noch einen Gedanken: hinaus zu Crysalgira! In das wummernde Dröhnen der Raumschiffstriebwerke mischten sich gellende Stimmen. »Draußen ist der Tod!«, hallte es mir in den Ohren. Mein Extrasinn warnte mich vor den Gefahren meines Vorhabens. Ich hätte seine Mahnung diesmal wahrscheinlich außer Acht gelassen. Es waren die kräftigen Fäuste, die meinen selbstmörderischen Plan vereitelten. Plötzlich wurde
es ringsum ruhig. Die Fäuste zerrten nicht mehr, sie hielten nur noch. Und das dumpfe Dröhnen hatte aufgehört. Die Triebwerke des Raumschiffs waren verstummt. »Jetzt!«, stieß ich hervor. »Wir können nicht länger warten!« »Warte«, knurrte Fartuloon, schritt an mir vorbei, um die Krümmung des Stollens. Wenige Augenblicke später war er wieder zurück. Seine Augen tränten, die Gesichtshaut hatte eine rötliche Farbe angenommen. »Trotz der Prallfelder noch zu heiß … Wir müssen warten.« Seine Lampe lag auf dem Boden und strahlte gegen die Stollenwand. Im Augenblick waren es nur noch Corpkors Fäuste, die mich hielten. Ich straffte mich blitzschnell. Corpkors Griff löste sich. Mit einer raschen Bewegung hatte ich die Lampe gepackt. »Wartet hier!«, schrie ich, sprang um die Biegung des Stollens. Im Umlenkbereich des U-förmigen Schachtsystems verengte sich die Prallfeldröhre, die die Gewalten der Impulstriebwerke bändigte; genau hier wirkten die größten Kräfte. Dem hatten Yukkars Leute beim Bau des Stollens Rechnung getragen – an der Biegung wie auch an der Stollenmündung waren zusätzliche Prallfeldprojektoren im Fels versenkt, um mit ihren Kraftfeldern als Sicherheitsschleuse zu dienen. Sie aktivierten sich automatisch, sobald ein bestimmter Temperaturwert überschritten war, der von Messfühlern ermittelt wurde. Ich rannte mehrfach gegen die Prallfeldbarriere an, bis sie endlich zusammenbrach. Dennoch schlug mir noch kochend heiße Luft entgegen. Ich erinnerte mich an einige der Regeln, die ich auf Largamenia für alle Zeiten gelernt hatte. Ich musste Kräfte sparen, musste mit halb geöffnetem Mund atmen, weil ich nur so die heiße Luft auf Mund und Nase verteilen konnte. Rasch tappte ich durch den Stollen. In mir war die brennende Angst um Crysalgira – und zugleich die niederschmetternde
Gewissheit, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte. Ich fand sie wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der der Stollen in den Abgasschacht mündete. Der Lichtkegel der Lampe erfasste das armselige Häuflein Geschöpf, das dort am Boden lag. Sie hatte zwar noch die erste zusätzliche Prallfeldbarriere passiert, doch das war ausreichend gewesen. Ich blieb stehen, beugte mich zu der reglosen Gestalt hinab, berührte sie und fühlte das versengte Gewand unter den Fingern zu Staub zerfallen, graue Qualmschwaden stiegen auf. Ich sah das von Brandblasen bedeckte Gesicht. Die Kehle war mir zugeschnürt, die Tränen schossen mir haltlos in die Augen. Für einen winzigen Augenblick beseelte mich wilde, zügellose Hoffnung, als ich spürte, dass noch Leben in dem geschundenen Körper war. Crysalgira gab ein halblautes Stöhnen von sich, öffnete die Augen. An ihrem Blick sah ich, dass alle Hoffnung umsonst war. Der Mund der Prinzessin versuchte, Worte zu formen. Ich beugte mich hinab, um den Hauch zu erfassen, der ihr über die Lippen kam. »Sag Chergost … ich liebe …« Dann spürte ich den Körper in meinen Händen schlaff werden. Crysalgira da Quertamagin, die Prinzessin, meine treue Gefährtin in zahllosen Gefahren, hatte die Welt der Sterblichen verlassen. Ich wusste später nicht, wie lange ich noch dort hockte, den leblosen Körper in den Armen. Sehr lange konnte es nicht gewesen sein. Fartuloons gedrungene Gestalt tauchte aus der Finsternis des Stollens auf. Kräftige Fäuste packten mich unter den Armen und zogen mich in die Höhe. Ich hatte mir einige Brandwunden eingehandelt.
20. Aus: Biographie Atlans – Anhang: Fragmente, Anmerkungen, Marginalien (in vielen Bereichen noch lückenhaft); Professor Dr. hist. Dr. phil. Cyr Abaelard Aescunnar; Gäa, ProvconFaust, 3565 n.Chr. Was aus Crysalgiras Leiche wurde, weiß ich bis zum heutigen Tag noch nicht. Heute noch, wenn ich an jene Augenblicke zurückdenke, mache ich mir Vorwürfe, dass ich nicht den Prinzipien der ARK SUMMIA gehorchte, die von jedem verlangte, dass er ständig selbst über seine Lage im Klaren sei und deren Beurteilung nicht anderen überlasse. Ich hätte die Gefahr viel früher und schneller erkennen müssen. Und auch meine panische Reaktion, die Angst um Crys, während mich die Freunde bändigten, bleiben als stechender Schmerz in Erinnerung. Allerdings: Wie lange ich so tobte, weiß ich heute nicht mehr, trotz fotografischem Gedächtnis. Mir erschien es wie eine Ewigkeit. Ich weiß auch nicht, was zuerst kam: das Erlahmen der Kräfte oder die Erkenntnis der Unsinnigkeit meines Vorhabens. Es gab später Leute, die mich einen harten Mann nannten. Wenn Fartuloon davon hörte, pflegte er sie darüber aufzuklären, dass es das Erlebnis vom Tod der Prinzessin gewesen sei, das mir diese Härte verliehen hatte. Ich weiß heute, dass auch das Empfinden der Schuld eine gewichtige Rolle dabei gespielt hat …
Die Ereignisse der nächsten Tontas nahm ich nicht bewusst wahr, die Freunde kümmerten sich um mich. Fartuloon gab sich alle Mühe, mich mit den geringen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, zu verarzten. Irgendwann wurde der Vormarsch fortgesetzt. Allmählich jedoch begann mein Verstand, sich wieder am Ablauf der Geschehnisse zu beteiligen. Wir hatten das Ende des Umgehungsstollens erreicht und schickten uns an, mit der
Robotbahn weiterzufahren. Mir fiel jede Bewegung schwer, die Brandwunden schmerzten. Jeder Schritt jagte mir feurige Schauer durch den Körper. Ich fieberte. Nicht zuletzt meinetwegen ordnete Fartuloon an, dass wir am Ende des Stollens ein paar Tontas ausruhen sollten. Auch den anderen kam dies zugute. Denn abgesehen von der kurzen Ruhepause bei Yukkar hatten wir seit unserem Aufbruch von Garthak nur wenig Gelegenheit zum Verschnaufen gehabt. Fartuloon trug ein paar Medikamente bei sich, die er in einem der Magazine erbeutet hatte. Sie halfen uns, ohne Schlaf auszukommen. Aber mittlerweile ging zweierlei zur Neige: der Vorrat an Drogen und unsere Fähigkeit, auf das Aufputschmittel in der gewünschten Weise zu reagieren. Ich schlief trotzdem nicht. Fantasiebilder des Grauens hielten mich wach. Inmitten des Entsetzens tauchte immer wieder Crysalgiras geschundenes Gesicht auf, eine Maske des Todes. Der Extrasinn wies mich darauf hin, dass dies die Art sei, wie mein Unterbewusstsein mit dem schrecklichen Erlebnis fertig zu werden versuchte. Ich sträubte mich nicht dagegen; aber die Tontas, die ich schlaflos in der Finsternis des Stollens verbrachte, gehörten zu den schrecklichsten meines Lebens. Als ich die Gefahr erkannte, die uns von den Triebwerken des über uns liegenden Raumschiffs drohte, hatte ich nur daran gedacht, mich selbst in Sicherheit zu bringen. Ich hatte Crysalgira sich selbst überlassen, obwohl ich wusste – oder mich daran hätte erinnern müssen –, dass sie infolge des Erlebnisses mit der sechsbeinigen Bestie noch immer verwirrt war. Atlan, der Feigling!, hämmerte es in meinem Bewusstsein, Atlan, der Mörder! Als wir aufbrachen, stellte sich heraus, dass wenigstens meine Brandwunden von der Ruhepause profitiert hatten. Es schmerzte nicht mehr so sehr, wenn ich die Füße aufsetzte.
Auch im Gesicht hatte ich nicht mehr das Gefühl, es wolle mir jemand die Haut bei lebendigem Leibe abziehen. Stumm setzten wir uns in Bewegung. Aus dem Stollen gelangten wir in den Bereich der Rohrbahn. Wir hatten noch einen Kilometer zu marschieren, bevor wir einen auf der Strecke abgestellten Wagen erreichten.
Einen Teil der Fahrt verbrachte ich schlafend, nachdem der gequälte Geist den Widerstand gegen den seine Rechte fordernden Körper endlich aufgegeben hatte. Ich wurde geweckt, als wir das Ende der Strecke erreichten. Yukkars Karte besagte, dass es von hier aus mehrere Kilometer zu Fuß weitergehe, bis wir den Beginn eines großen Lastentunnels erreichten, durch den Gegenstände mithilfe eines horizontal angelegten künstlichen Schwerefeldes befördert wurden. Dieser Tunnel war von beträchtlicher Länge und endete innerhalb des Gebietes der Sektion Elkinth. Dort endete auch Yukkars Schmugglerpfad. Meine Brandwunden zwangen die Gruppe noch immer zu langsamer Gangart. Ich riet Fartuloon, mit Corpkor, Ischtar, Chapat und dem Chretkor vorzumarschieren und sich durch mich nicht aufhalten zu lassen. Der Bauchaufschneider jedoch hielt mein Angebot nicht einmal einer Antwort wert. Die Korridore, durch die wir uns jetzt bewegten, gehörten zur ursprünglichen Anlage der Flottenbasis Varlakor. Dass sie nicht mehr benutzt wurden, wies darauf hin, dass sich die Hauptaktivitäten auf modernere Anlagen in größerer Distanz verlagert hatten. Unseren Zwecken war die Einsamkeit unter Varlakors Oberfläche nur dienlich. Weniger unsere körperliche als vielmehr unsere seelische Verfassung war nicht danach, dass wir uns mit einem halbwegs entschlossenen Gegner mit Aussicht auf Erfolg hätten herumschlagen können.
Vor allen Dingen lag uns daran, Daftokan Jalvor in seinem Glauben zu belassen, wir seien an Bord des Beiboots umgekommen. Denn Orbanaschols Befehl »Bringt mir seinen Kopf!« galt nach wie vor. Wer diesen Befehl befolgte, war höchster Ehren sicher, und das wiederum war ein Ansporn, dem auch Daftokan Jalvor sich nicht widersetzen würde. Der Kopf aber, um den es ging, war meiner. Nach etwa drei Kilometern mündete der Korridor, durch den wir uns bewegten, in eine runde Felsenhalle, deren Höhe etwa fünfzig Meter betrug. Die Intensität ihrer Beleuchtung erstaunte, denn die Anlagen waren im Allgemeinen so ausgeleuchtet, dass die Helligkeit den Bedürfnissen der Roboter genügte. Da Roboter jedoch im Allgemeinen im Bereich roten Lichts am schärfsten sahen, empfanden unsere Augen die Beleuchtung im Innern der Flottenbasis als unzureichend. Hier war es anders. Unter der hohen Decke gab es ein halbes Dutzend grellweiße Leuchtplatten. Die Helligkeit entsprach der eines sonnigen Tages. Das war verwunderlich, aber es gab noch anderes, worüber wir uns wundern mussten. Es gab nämlich anscheinend nur einen einzigen Zugang zu dieser Halle: den, durch den wir gekommen waren. Yukkars Karte wies einen Stollen auf, der von der anderen Seite der Halle aus weiterführte. Diesen Stollen konnten wir jedoch nicht finden. Fartuloon befragte seinen Quäker, doch das Gerät reagierte nicht. Offenbar befand sich keiner der geheimen Sender in der Nähe. Das wiederum entsprach den Angaben der Karte, auf der die Standorte der Sender mit kleinen Zeichen markiert waren. In der Nähe dieser Halle aber gab es keine solche Markierung. Wir alle waren kampferfahren genug, um zu wissen, dass diese Unstimmigkeit Gefahr bedeutete. Wir griffen zu den Waffen, mein Blick wanderte. Als ich an der Rundwand der Halle hinaufsah, bemerkte ich eine Öffnung,
die sich etwa in halber Höhe gebildet hatte. Bewegung! Der Lauf meines Kombistrahlers wies sofort in ihre Richtung. Ich war bereit zum Abdrücken, aber die Bewegung war nur flüchtig gewesen; noch immer zeigte sich dort oben niemand. Dafür hörte ich eine Stimme: »Es muss Rotauge schlecht gehen. Jetzt verwendet er sogar schon Frauen und Kinder als Boten.«
Fartuloon schritt auf die jenseitige Wand der Halle zu. Aber kaum hatte er ein paar Schritte getan, da gellte von oben eine Stimme: »Bleib stehen, Alter!« Gleichzeitig fauchte ein Thermostrahl herab, schlug wenige Schritte vor Fartuloon in den Boden und brachte das Gestein zum Glühen. Der Lauf meiner Waffe war noch immer nach oben gerichtet, aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte dort oben niemand sehen. »Wer seid ihr … und was wollt ihr?«, schrie Fartuloon wütend. Von oben antwortete zunächst ein meckerndes Gelächter. Dann hörten wir die Stimme rufen: »Das hat Yukkar euch wohl verschwiegen, dass auf diesem Weg ein Zoll zu entrichten ist, wie?« Wir antworteten nicht. »Werft eure Waffen fort! Wir wollen nichts Schlimmes von euch … nur den üblichen Zoll. Aber es hat schon Narren gegeben, die lieber mit ihrem Leben bezahlten als mit Geld.« Mir war klar, worum es hier ging. Es gab auf Varlakor einige Leute, die dahintergekommen waren, dass Yukkar mit gestohlenen Informationen einen schwunghaften Handel betrieb. Sie wussten auch, dass die Informationshändler einen Schmugglerpfad hatten, auf dem sie das gestohlene Gut nach Elkinth brachten. Die Informationshändler handelten ungesetzlich. Was war also leichter, als ihnen irgendwo ein
Hindernis in den Weg zu legen und sie zu erpressen? Zoll nannten sie das! Und Geld hatten wir keins, abgesehen von ein paar Münzmarken, die Fartuloon noch bei sich haben musste. »Wie viel verlangt ihr?«, rief ich in die Höhe. »Werft die Waffen fort!«, drängte die Stimme. Uns blieb keine andere Wahl. Von oben herab beherrschten sie die Halle, wir standen mitten auf einer Zielscheibe. Mein TZU-4 war der Erste, der zu Boden fiel. Die anderen folgten meinem Beispiel. Wir verstanden einander, ohne dass es der Worte bedurfte. Fartuloon, Corpkor, Eiskralle, sogar Ischtar schienen erkannt zu haben, dass ich die Verhandlung mit den Erpressern weiterzuführen gedachte. »Tretet zurück!«, befahl die Stimme. Wir gehorchten, jedoch ohne übertriebenen Eifer. Für das, was ich im Sinn hatte, kam es darauf an, dass ich mich nicht allzu weit von den weggeworfenen Waffen entfernte. Ich mochte sie nötig haben. »Jetzt zieht das Geld aus den Taschen und werft es ebenfalls auf den Boden.« »Wie viel verlangt ihr?«, fragte ich. »Den üblichen Satz.« »Den kenne ich nicht.« »Wie viel Information habt ihr bei euch?« »Fünf Datenkristalle«, antwortete ich, ohne zu zögern. Wir hatte noch insgesamt dreißig Kristalle. Die zehn, die Crysalgira getragen hatte, waren verloren. Von oben her gellte spöttisches Gelächter. »Du willst den Preis niedrig halten, Bursche, nicht wahr? Yukkar schickt keinen Treck von vier Männern, einer Frau und einem Kind, um fünf Kristallspeicher transportieren zu lassen.« Ich lauschte aufmerksam. Bislang hatte ich nur eine einzige Stimme gehört. Entweder war der Mann alleine, oder seine Begleiter waren von der schweigsamen Art. Auf keinen Fall,
glaubte ich, hatten wir es mit einem zahlenmäßig starken Gegner zu tun. »Das ist müßiges Gerede«, rief ich hinauf. »Wir haben ohnehin kein Geld dabei.« Oben war es eine Zeit lang still. Mit einer so dreisten Behauptung war den Wegzöllnern wohl noch nie zuvor die Abgabe verweigert worden. Schließlich rief es von oben herab: »Bleibt stehen, wo ihr seid. Wir werden euch durchsuchen.« Es sah so aus, als sollte mein Plan Erfolg haben. Oben waren scharrende Geräusche zu hören. Dann wurde es eine Weile still. Schließlich öffnete sich dort, wo wir den Beginn des Stollens vermuteten, die Wand der Felsenhalle. Ein hochgewachsener, schlanker Mann in der Arbeitsmontur der Flottentechniker trat hervor. Er blieb ein paar Augenblicke stehen und musterte uns misstrauisch. Ich benutzte die Gelegenheit, um einen raschen Blick in die Höhe zu werfen – ich sah den Lauf eines Blasters, der aus der Öffnung hervorragte und auf uns wies. Ich schloss daraus, dass sich oben nur noch ein Mann befand. Die Gruppe der Erpresser bestand wahrscheinlich also nur aus zwei Leuten. Ich warf dem Chretkor einen unauffälligen Blick zu, er verstand mich sofort, trat zwei kleine Schritte nach vorn und war somit der Vorderste in unserer Reihe. Die Entscheidung stand unmittelbar bevor.
Der Hochgewachsene fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. »Tretet zurück!«, herrschte er uns an. »Ich will dieses Glasmännchen als Ersten durchsuchen.« Meine Taktik hatte Erfolg. Eiskralle bot zwar einen fremdartigen Anblick, aber gleichzeitig war er der Kleinste und mochte dem Mann daher als der am wenigsten Gefährliche vorkommen. Wenn er gewusst hätte, wie falsch
diese Überlegung war. Die Stimme des Hochgewachsenen war nicht die, die die ganze Zeit über zu uns gesprochen hatte. Es gab dort oben also wenigstens noch einen weiteren Mann. Ich konnte nur hoffen, dass es nicht mehr waren. Behutsam näherte sich der Arkonide dem Chretkor. Eiskralle stand starr. Der Arkonide verlangte: »Heb die Arme zur Seite!« Eiskralle gehorchte. Der Hochgewachsene begann, das etwas füllig geratene Gewand zu durchsuchen. Keiner von uns sah, wie der Chretkor es schaffte, den Mann zu berühren. Aber die Berührung fand statt, ihre Wirkung wurde noch im selben Augenblick sichtbar. Der Arkonide erstarrte. Mit seinem Gesicht ging eine fürchterliche Veränderung vor sich. Es verzerrte sich zu einer Grimasse des Entsetzens, die Grimasse aber gefror, als Eiskralles tödlicher Griff dem Körper sämtliche Wärme entzog. Ein röchelndes Stöhnen war alles, was der Erpresser noch hervorbrachte. Von einem Atemzug zum anderen hatte sich seine Haut bläulich schwarz gefärbt. Er stürzte, beim Aufprall erzeugte sein erstarrter Körper einen klirrenden Laut. Aus der Höhe gellte ein entsetzter Schrei. Ich hatte mich abseits gehalten. Der Kombistrahler glitt mir wie von selbst in die Hand, während ich mich abrollte. In der Öffnung sah ich die Mündung des Blasters eine ruckartige Schwenkung vollführen. Mein Strahler summte hell, als ich den Auslöser im Paralysatormodus betätigte. Aus der Höhe gellte ein zweiter Schrei. Ein Mann erschien, taumelnd und mit den Armen um sich schlagend. Mein erster Lähmschuss hatte ihn nur gestreift und auf die Beine gerissen. Der zweite traf ihn voll – er stürzte vornüber und prallte zwanzig Meter unterhalb des Loches auf den Felsboden der Halle. Im Loch blieb alles ruhig. Corpkor hatte sich ebenfalls bewaffnet und hastete zum Ausgang, erschien kurz darauf oben in der Öffnung. »Es ist niemand mehr hier. Wir hatten es nur mit zwei Leuten zu tun.«
Die beiden Erpresser waren tot. Früher hatte ich beim Anblick von Personen, die durch mein Dazutun ums Leben gekommen waren, einen Schauder empfunden. Der Tod der beiden Wegelagerer ließ mich jedoch völlig kalt. Crysalgiras entsetzliches Schicksal hatte mir das Herz verhärtet. In den Taschen der beiden Toten fanden wir. Geld. Es war nicht viel, aber es würde ausreichen, uns allen in Elkinth eine anständige Mahlzeit und eine Unterkunft für eine Nacht zu verschaffen. Wir verließen die Halle. Vom Stollen aus führte eine in den Felsen gefräste Wendelrampe zu der Öffnung, in der die Erpresser auf der Lauer gelegen hatten. Ich fragte mich, wie lange sie ihr schändliches Handwerk schon betrieben hatten und ob Yukkar etwas davon gewusst hatte. Schließlich erreichten wir den Eingang des großen Kraftfeldtunnels. Es war etwas ungewöhnlich, wie sich die Welt, sobald wir uns in den Einflussbereich des künstlichen Schwerefelds begaben, plötzlich zur Seite zu neigen schien. Wir jedoch gewöhnten uns rasch an die veränderte Umgebung. Das Feld trug uns rasch dahin. Wir waren etwa eineinhalb Tontas unterwegs. Am Ende des Tunnels war das Feld umgepolt, sodass eine bremsende Wirkung entstand. Wir landeten sanft in einer Halle, von der aus eine breite Rampe in die Höhe führte. Sie war mit Rollbändern belegt, die sich jetzt jedoch nicht bewegten. Wir machten uns an den Aufstieg. Die Rampe brachte uns bis in das Innere eines Gebäudes, dessen einziger Raum eine riesige, leere Lagerhalle mit staubbedecktem Boden war. Dicht unter der Decke aber gab es schmale Lichtdurchlässe, durch die von einer Seite her heller Sonnenschein hereinfiel. Fartuloon öffnete eins der großen Tore, durch die in früheren Zeiten Lagergüter in die Halle gebracht worden waren. Wir blickten hinaus auf eine breite, leere Straße. Am Rand wuchs verkümmertes Gebüsch, weit im Hintergrund ragten die charakteristischen Silhouetten von
Trichterhäusern in die Höhe. Wir waren in Elkinth …
Vorerst waren wir weiterhin auf die Füße als einziges Transportmittel angewiesen. Die Landschaft ringsum war ein hässliches Gemisch aus zerfallenen Industrieanlagen und kümmerlichem Pflanzenwuchs. Varlakors rötliche Sonne brannte nichtsdestoweniger mit erheblicher Intensität, der Chretkor hatte wieder einmal Angst, er müsse zerfließen. Wir schritten die Straße entlang, von der wir am Stand der Sonne erkannten, dass sie nach Osten führte – in die Richtung, in der das Tauschbecken lag, bei dem wir uns mit Basnorek verabredet hatten. Es blieb uns fast noch ein Tag, um die Verabredung einzuhalten. Wir waren erst ein paar Kilometer gegangen, als wir abseits der Straße in einem Gebüsch ein Fahrzeug bemerkten und gleich darauf auch lärmende Stimmen hörten. Wir gingen auf das Gebüsch zu. Das Fahrzeug war ein ziemlich heruntergekommener Luftkissengleiter älterer Bauart. Einen ähnlichen Eindruck machten die merkwürdig gekleideten, mit dichtem Haar- und Bartwuchs ausgestatteten Männer, denen das Fahrzeug anscheinend gehörte und die hier heraus in die Einöde gekommen waren, um eine Art »Picknick« zu veranstalten. Es war kein allzu erfreulicher Anblick, der sich uns bot. Die Bärtigen waren offenbar Raumfahrer. Irgendwo in Elkinth hatten sie ein paar Frauen aufgegabelt, die für geringes Entgelt jedweder Beschäftigung nachzugehen bereit waren. Es war ein Platz voller Unrat und halb betrunkener Leute. Fartuloon wollte umkehren, noch bevor die Betrunkenen uns entdeckten. Aber ich stand hinter ihm und versperrte ihm den Weg. Zimperlichkeit bedeutete mir nichts mehr. Einer der Bärtigen sah uns schließlich. Es war erstaunlich, mit welcher Vehemenz er aufsprang – besonders
wenn man beobachtete, wie schwer es ihm fiel, das Gleichgewicht zu wahren, als er auf uns zutorkelte. Er baute sich vor mir auf und schien Schwierigkeiten mit dem Fokussieren der Augen zu haben, denn er öffnete und schloss die Lider in rascher Folge. »Wer sei … seid ihr?«, lallte er in holprigem Satron. Er stank nach billigem Fusel. »Wir haben uns verirrt und suchen nach einer Fahrgelegenheit zum Tauschbecken«, antwortete ich. Unsicheren Blicks überflog er unsere Gruppe. Inzwischen hatten auch seine Genossen unsere Ankunft bemerkt. Sie kamen taumelnd auf die Beine, schüttelten die kreischenden Weiber von sich ab und traten herbei, um uns aus der Nähe zu betrachten. Ich sah gierige Blicke, die sich auf Ischtar richteten. »Da … das ließe sich vielleicht einrichten«, stammelte der nach Fusel Stinkende. »Wie viel zahlt ihr?« »Wir haben nicht viel bei uns.« Ich zog ein paar Münzen aus der Tasche und ließ sie ihn sehen. Er schenkte ihnen nicht sonderlich viel Beachtung. »Das ist in Ordnung. Wir fahren euch. Aber zuerst kommt her und trinkt mit.« Die Bereitwilligkeit, mit der er auf mein billiges Angebot einging, war Hinweis genug, dass wir uns vor diesen Burschen in Acht nehmen mussten. Ihrem eigenwilligen Aufzug nach zu schließen, waren sie Freie Händler. Diese waren dafür bekannt, dass sie von moralischen Grundsätzen nichts hielten und den Begriff »Skrupel« nicht kannten. Offenbar hatten sie es auf Ischtar abgesehen. Sie waren betrunken und daher nicht in der besten Form für eine Auseinandersetzung. Trotzdem mussten wir ein Auge auf sie haben. »Einen Trunk brauchen wir nicht, aber wir danken dir für deine Einladung«, antwortete ich so höflich, wie es mir eben
gelang. »Noch dankbarer aber wären wir dir, wenn du uns gleich jetzt zum Tauschbecken brächtest.« Er warf seinen Leuten einen fragenden Blick zu. Ich sah sie die Geste der Zustimmung machen, und wieder wanderten ihre brennenden, gierigen Blicke zu Ischtar zurück. »Auch das ist in Ordnung«, sagte der Stinkende, der mit jedem Augenblick nüchterner zu werden schien. »Ich werde euch auf dem schnellsten Weg zum Tauschbecken bringen, so wahr ich Phogymar bin.«
Der Aufbruch geriet zum Drama. Das Fahrzeug hatte nämlich nicht genug Platz für alle. Also entschieden sich die Freihändler, die verlotterten Weiber zurückzulassen. Das wiederum behagte diesen wenig, es kam zu einer unappetitlichen Szene, in der angetrunkene Männer und Frauen einander verprügelten. Schließlich jedoch waren wir die Weiber los. Wir pferchten uns in den alten Gleiter. Phogymar selbst übernahm das Steuer. Ich drängte ein paar seiner Leute beiseite, um ganz in seiner Nähe zu sitzen. Fartuloon blieb dicht hinter mir. Corpkor und Eiskralle dagegen hielten sich in Ischtars Nähe und hinderten die Freien Händler daran, sich allzu dicht an sie heranzudrängen. Fartuloon wusste ebenso gut wie ich, dass wir auf der Hut sein mussten. Der Bauchaufschneider trug Yukkars Karte, auf der auch der Weg vom Ende des Schmugglerpfades bis zum Tauschbecken noch skizzenhaft eingezeichnet war. Phogymar bugsierte den Gleiter zunächst auf die Straße und ging auf Ostkurs. Die Sonne neigte sich allmählich dem Horizont entgegen. »Wie weit ist es bis zum Tauschbecken?«, fragte ich. »Etwas mehr als hundertfünfzig Kilometer«, antwortete der Freie Händler.
Ich tat so, als nähme ich es einfach zur Kenntnis. Aber ein paar Augenblicke später suchte ich Fartuloons Blick. Er hatte die Karte in der Hand und machte eine verneinende Geste. Lautlos formte er mit den Lippen das Wort: »Drittel!« Da wusste ich, dass Phogymar uns hereinlegen wollte: Das Tauschbecken war höchstens fünfzig Kilometer entfernt. Wenig später kamen wir in bewohnte Gegend. Das Herz krampfte sich mir im Leibe zusammen, als ich die kümmerlichen, von Zerfall bedrohten Trichterhäuser sah, die sich aus halb totem, verdorrtem Dornbusch erhoben. Wir kamen an eine Straßenkreuzung. Phogymar bremste die Fahrt des Gleiters und bog nach links, also nach Norden, ein. Ein Blick auf Fartuloon belehrte mich, dass wir den Kurs zum Tauschbecken verlassen hatten. Es war an der Zeit, auf eine Entscheidung zu drängen. »Warum fährst du nicht den kürzesten Weg?«, fragte ich den Piloten. Phogymar hatte meine Ortskenntnis offenbar nicht richtig eingeschätzt, kam einen Augenblick lang aus dem Gleichgewicht. »Aber … es ist doch der kürzeste Weg.« »Nein! Der kürzeste Weg hätte geradeaus geführt.« »Die Straße ist dort unterbrochen. Dieses Fahrzeug ist nicht mehr das jüngste. Ich bin darauf angewiesen, einen ebenen Straßenbelag unter mir zu haben.« Ich tat so, als ließe ich ihn gewähren. Aber mein Blick ging rundum. Fartuloon war bereit. Auch Corpkor signalisierte mit den Augen, dass es nur noch der Aufforderung zum Zuschlagen bedurfte. Ich zog den Kombistrahler. »Geh zum Gork!«, sagte ich und drückte ab. Der Schuss traf Phogymar voll. Er sackte zur Seite, ohne einen Laut von sich zu geben. So schnell ich konnte, griff ich ins Steuer und hinderte das Fahrzeug, von der Straße abzuweichen. Hinter mir gab es ein paar Augenblicke lang wüsten Lärm. Fartuloon,
Corpkor und Eiskralle waren am Werk. Die angetrunkenen Händler waren uns nicht gewachsen. Binnen kurzer Zeit hatten wir sie überwältigt. Nur einer von ihnen war noch bei Bewusstsein. Ich setzte das Fahrzeug auf der Straße ab. Beim Ausladen der Händler verfuhren wir nicht sonderlich behutsam. Wir warfen die schlaffen Körper durch die geöffnete Luke ins dürre Gras am Straßenrand. Der eine, der noch bei Bewusstsein war, sprang vor lauter Angst aus eigenem Antrieb hinaus. »Ihr findet das Fahrzeug beim Tauschbecken«, rief ich ihm nach. »Das nächste Mal, wenn ihr auf Planetenurlaub seid, haltet euch an die bezahlten Weiber und lasst die Augen von Frauen, die nicht für euch bestimmt sind.« Dann schloss ich die Luke und übernahm selbst das Steuer. Ich glaubte, die lüsternen Kerle ein für alle Mal hinter mir gelassen zu haben.
Das Tauschbecken war ein weitläufiger Talkessel, dessen Sohle tatsächlich die leicht gewölbte Form eines Beckens oder einer Schüssel hatte. Er war der Treffpunkt aller, die in Elkinth zu tun hatten, ohne hier zu wohnen. Die Mannschaften der Handelsschiffe also, die Varlakor nicht anders anfliegen durften als über den kleinen Raumhafen Elkinth. Im Tauschbecken gab es alles, was das Herz eines Raumsfahrers begehrte, der den größten Teil des Jahres zwischen den Sternen zubrachte: Händler mit fremdartigen Waren, Kneipen, Freudenhäuser, Spielplätze, Wechselstuben … und vor allen Dingen ein Publikum, das so gemischt war wie nirgendwo sonst in diesem Sektor des Großen Imperiums. Gerade dieser letztere Umstand war ein Vorteil. Ischtar und Chapat, besonders aber Eiskralle, fielen unter arkonidischem Volk immer auf. Das Vielvölkergemisch des Tauschbeckens von
Elkinth bewahrte uns vor neugierigen und womöglich gefährlichen Blicken, denn unter denen, die sich hier bewegten, gab es für arkonidische Augen so viel Groteskes, dass die Arkoniden es längst verlernt hatten, sich nach anderen umzudrehen, nur weil sie ein ungewöhnliches Äußeres zur Schau trugen. Wir parkten den Gleiter am Rand der Hügelkette, die das Tauschbecken einschloss. Dann mischten wir uns in das bunte Gedränge, das den mehr als zwei Kilometer weiten Talkessel erfüllte. Basnorek hatte uns keinen bestimmten Treffpunkt genannt. Wir aber glaubten, seine Gewohnheiten zu kennen, suchten ihn in erster Linie in den zahllosen Kneipen. Ihre Architektur war atemberaubend exotisch bis schäbig oder erbärmlich. Es gab Trichterbauten, an denen man außen über eine Leiter hinaufklettern musste, weil das Innere des Trichterstiels baufällig geworden war. Es gab Kasten-, Kellerund Wabenhäuser, und ein Kaschemmenwirt hatte einen riesigen künstlichen Baum errichtet und bewirtete seine Gäste auf Bänken, die aus von Ast zu Ast geschlagenen Brettern bestanden. Er machte ein Riesengeschäft; aber es hieß, dass er Schwierigkeiten habe, seine Bedienung zu halten. Den Schankmädchen war das Umherturnen im Baum zu anstrengend und zu gefährlich. Wir suchten bis gegen Mitternacht. Die Genossenschaft der Händler und Wirte hatte den Talkessel mit einem Netz von Masten überzogen, von denen grelle Sonnenlampen leuchteten. Im Tauschbecken wurde es nie dunkel. Aber so unerträglich hell es dort auch sein mochte: Basnorek kam uns nirgendwo unter die Augen, während die paar Händler, die wir nach ihm zu fragen wagten, seinen Namen nie gehört hatten. Schließlich gaben wir uns geschlagen. Es gab Unterkünfte und Gästehäuser im Tauschbecken. Sie waren nicht das, was unserem Geschmack entsprach, eher
Ausnüchterungslöcher für diejenigen, die den Weg zurück zu ihrer eigentlichen Behausung oder ihrem Raumschiff nicht mehr finden konnten. Andererseits aber waren auch unsere Finanzmittel nicht danach, dass wir besonders wählerisch hätten sein können. Wir fanden schließlich ein einigermaßen passables Haus, in dem wir drei Räume für eine Nacht mieteten. Unten gab es eine Schenke, die die Nacht mit Lärm erfüllte. Uns machte es nichts aus. Die Mühen der vergangenen Tage hatten uns so erschöpft, dass wir im Haus des Donners selbst hätten schlafen können. Ich sagte »wir« – und dennoch bildete ich eine Ausnahme. Seit Crysalgiras Tod hatte das Unterbewusstsein die Kontrolle über mein Ich übernommen. Der Körper kam nicht mehr zu seinem Recht. Auch der Zustand akuter Erschöpfung brachte keinen Schlaf über meine Lider. Ich wartete, bis die anderen zur Ruhe gegangen waren, dann ging ich hinab in die Schenke und betrank mich. Das half. Ich wankte nach oben, fiel auf mein Lager und war einen Atemzug später eingeschlafen.
Am nächsten Morgen leistete ich die entsprechende Buße: Mir war nie übler gewesen. Fartuloon polterte in meine Kammer. Der Lärm, den er dabei machte, ließ mir die Haare zu Berge stehen, zumal er dröhnte: »Corpkor ist verschwunden.« Der donnernde Klang seiner Stimme ließ mich in die Höhe fahren. Ich schloss unwillkürlich die Augen, so wild war der Kopfschmerz. Als ich wieder aufzublicken wagte, stand Fartuloon vor mir und musterte mich mit besorgtem Blick. »Hier stinkt’s wie im Innern eines alten Weinfasses«, sagte er in so strengem Tonfall, wie ich ihn seit den frühesten Tagen unserer Freundschaft nicht mehr gehört hatte. »Ich weiß«, krächzte ich. »Der Schlaf kam nicht. Ich habe
mich betrunken!« »Du bist durch die Schule von Largamenia gegangen. Du wirst dir keinen Schaden zugefügt haben.« »Ganz bestimmt nicht. Was war das mit Corpkor?« »Er hat sich über Nacht davongeschlichen.« Ich hörte das Misstrauen aus seinen Worten, es schien mir absurd. »Er wird wiederkommen.« »Das hoffst du!« Ich blickte dem Bauchaufschneider gerade in die Augen. »Nein, das weiß ich!«, antwortete ich mit so viel Bestimmtheit, wie mir meine miserable Konstitution zugestehen wollte. Fartuloon gab ein knurrendes Geräusch von sich. Es war keine Zustimmung, so viel konnte ich mühelos erkennen. Wir wurden abgelenkt. Draußen auf dem Gang, an dem unsere Kammern lagen, hörte ich laute Stimmen. Das Organ des Chretkors war unter Tausenden herauszuerkennen. »Wen hast du da?« Das Pochen im Schädel hinderte mich nicht mehr. Ich sprang auf und trat auf den Gang. Das Gästehaus war alles andere als modern eingerichtet. Der Verbindung zwischen den Stockwerken diente eine Treppe mit breiten, ausgetretenen Stufen. Über sie sah ich ein Individuum heraufkommen, dessen Anblick mich erschreckte. Der Mann war hoch aufgeschossen, nach Haut- und Augenfarbe ohne Zweifel ein Arkonide. Dabei war er so entsetzlich dürr, dass man meinen konnte, er müsse jeden Augenblick auseinanderbrechen, zumal er sich mit einer schlingernden Gangart bewegte, bei der der Oberkörper ständig hin und her schaukelte. Hinter dem Mann, auf dessen fahlem, eingesunkenem Gesicht die Angst stand, schritt Corpkor – grimmig entschlossen. Der Dürre sah sich immer wieder nach ihm um, als fürchte er, dass er auf ihn einprügeln werde. Ich warf Fartuloon einen triumphierenden Blick zu; aber der Bauchaufschneider
bemerkte ihn nicht. Corpkor trieb den Dürren vor sich her, bis er unmittelbar vor mir stand. Ich sah, dass der Mann zitterte; er war so ausgemergelt, dass ihm die Gesichtshaut in langen, schlaffen Falten über die Wangen hing. Ich sah, dass Fartuloon ihn mit großer Aufmerksamkeit musterte. »Dies ist Kaljorr, ein Händler vom Rand des Tauschbeckens«, sagte Corpkor. »Ich war zufällig in der Nähe, als ich ihn mit einem seiner Kunden über Basnorek reden hörte. Darum brachte ich ihn her.«
Das waren einfache Worte, wie Corpkor sie zu sprechen pflegte. Dabei hatte er sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, um nach Basnoreks Spur zu suchen. Niemand hatte ihn damit beauftragt. Aus eigenem Antrieb hatte er sich auf den Weg gemacht. »Du weißt von Basnorek, Kaljorr?«, wandte ich mich an den Dürren. Ich sprach freundlich zu ihm; denn er befand sich in einem Zustand höchster Angst, sodass es mir angebracht erschien, ihn zuerst zu beruhigen. Nur dann würden wir Zusammenhängendes erfahren. »O Herr, das ist wahr«, antwortete er übereifrig. »Aber ich habe nichts mit Basnoreks verwerflichen Tätigkeiten zu tun.« »Aber wir wissen nichts davon, dass er Verwerfliches tut. Wir trafen ihn in Samorth, und er versprach uns eine Passage auf seinem Raumschiff, wenn wir bis zum heutigen Tag in Elkinth einträfen.« »O Herr, er wird euch auf seinem Schiff nicht mehr mitnehmen können.« »Warum nicht?« »Weil sich die Nachrichtenpolizei seiner angenommen hat. Es heißt, dass Basnorek mit den Informationsräubern zusammenarbeitet.«
»Was hat man mit ihm vor?« »Nichts weiter, o Herr, denn Basnorek ist tot. Die Polizei behauptet, er habe zu fliehen versucht und sei auf der Flucht erschossen worden.« Ein mattes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Wir aber, die Zunft der Händler des Tauschbeckens, kennen die Methoden der Polizei und sind sicher, dass Basnorek einfach aus dem Weg geräumt wurde.« »Was wurde aus seinem Raumschiff?« »Die Besatzung ist darin eingeschlossen, das Schiff wird von der Polizei bewacht, o Herr.« Das waren schlechte Nachrichten. Basnorek tot, seine Mannschaft gefangen, das Raumschiff in Quarantäne. Wir hatten die dreitausendzweihundert Kilometer nach Elkinth umsonst zurückgelegt. Und Crysalgira … »Kaljorr, wir brauchen ein Raumschiff, das uns von Varlakor zu einer Welt bringt, auf der wir eine wichtige Verabredung einzuhalten haben. Du wirst uns helfen, wir werden dich dafür bezahlen.« Sein Gesicht wurde aschgrau vor Furcht. »O Herr, ich bin ein armer, unbedeutender Händler«, jammerte er. »Ich lebe noch, weil ich der Polizei niemals aufgefallen bin. Wenn ich jetzt umhergehe und nach einer Passage für euch suche, dann wird die Polizei im Nu auf meiner Spur sein, und dann ist es aus mit mir.« In diesem Augenblick griff Fartuloon in die Unterhaltung ein und behauptete in grobem Tonfall: »Es wird ohnehin bald aus mit dir sein.« Kaljorr erschrak. »Wie meinst du das, o Herr?« »Ich sehe es dir an. Du bist zu viel mit Freihändlern zusammen gewesen. Die Va-Vormo-Krankheit wird dich höchstens noch ein Jahr leben lassen.« Da fing Kaljorr von Neuem an zu zittern. Er schien den Halt zu verlieren und wäre um ein Haar in die Knie gegangen.
Corpkor jedoch stand hinter ihm und stützte ihn. »O Herr, woher weißt du …« »Ich bin Bauchaufschneider«, antwortete Fartuloon würdevoll. »Ich kenne alle Krankheiten, auch die Va-Vormo. Und ich bin einer der wenigen, die sie heilen können. Und ich sage dir: Besorg uns eine Passage, gib deinen Handel auf, komm mit uns – dann heile ich deine Auszehrung.«
Wir alle waren schweigsam. Ich hatte von der Va-VormoAuszehrung gehört. Sie wurde durch winzige Parasiten ausgelöst, die sich in der Hauptsache an Bord von Handelsschiffen fanden. Wahrscheinlich nahmen die Schiffe die winzigen Erreger auf irgendeiner Handelswelt auf; aber man wusste nicht, welche Welt das war. Einmal im Körper eines Arkoniden – andere Völker schienen nämlich nicht davon betroffen zu sein –, vermehrte und verbreitete sich der Va-Vormo-Parasit und fraß mit der Zeit den Wirtskörper auf. »O Herr … ich glaube dir«, stammelte Kaljorr, ein Schimmer der Hoffnung leuchtete aus seinen hellroten Augen. »Wenn du uns ein Raumschiff besorgst, das uns an den Ort unserer Verabredung bringt, heile ich dich binnen weniger Tage von der Va-Vormo-Auszehrung. Willst du es schriftlich? Soll ich vor Zeugen schwören?« Kaljorr hatte plötzlich Tränen in den Augen. »O Herr, ich werde tun, was du von mir verlangst. Ich brauche keine Zeugen und kein Schriftstück, denn in deinen Augen wohnt die Güte, ich glaube dir.« Fartuloon traf die nötigen Vereinbarungen mit Kaljorr. Deren Bestandteil war unter anderem, dass wir über keinerlei Finanzmittel verfügten und den Kapitän des Raumschiffs erst nach Ankunft auf der Zielwelt würden bezahlen können. Ich konnte diese Sache getrost dem alten Bauchaufschneider
überlassen. Er würde mit Kaljorr keine Vereinbarung treffen, die uns Schaden oder Nachteile verursachte. Derweil hatte ich Zeit, über die Grausamkeit unserer Gesellschaft nachzudenken. Jedermann wusste, dass die Va-VormoAuszehrung unweigerlich zum Tode führte. Jedermann wusste ebenso, dass es eine Handvoll Ärzte gab, die die Auszehrung zu heilen vermochten. Die Mehrzahl der Ärzte jedoch war unwissend, was die Va-Vormo anging, und hielten sie für unheilbar. Es gab im arkonidischen Imperium kein Gesetz, keine Verpflichtung, nicht einmal moralischen Druck auf die wenigen Bauchaufschneider, die die Heilmethode kannten, ihre Kenntnisse an andere Ärzte weiterzuvermitteln und auf diese Weise den Fluch der Va-Vormo zu bannen. Die wenigen, die die Auszehrung zu behandeln vermochten – meist Aras –, hüteten ihr Wissen wie ihren Augapfel. Denn es sicherte ihnen ein Monopol und somit einen stetigen Fluss horrender Einkünfte. Wer sich gegen Va-Vormo behandeln lassen wollte, musste einen der wenigen Spezialisten aufsuchen und ihn entsprechend bezahlen. Den Armen – zu denen Kaljorr sicherlich gehörte – blieb nur der Ausweg: zu sterben. Kaljorr machte sich schließlich auf den Weg. Am späten Nachmittag sahen wir ihn wieder. Schon glaubten wir, es sei ihm innerhalb solch kurzer Zeit gelungen, eine Passage für uns ausfindig zu machen. Er aber näherte sich Fartuloon mit unterwürfigen Gebärden und zog aus der Tasche seines schäbigen Gewandes eine Rolle Chronners hervor. »O Herr, ich habe mich an eure Not erinnert. Da ich mit euch gehen werde, damit du mich heilen kannst, habe ich mein Geschäft verkauft und ein wenig Geld daraus erlöst. Dieses aber bringe ich euch, weil ihr ohne Geld seid und keine Nahrung für euch kaufen könnt, nicht einmal für das kleine Kind, das die herrliche Frau in der Schlinge trägt.«
Ich hätte ihn am liebsten umarmen mögen. Fartuloon aber nahm die Rolle entgegen und gebärdete sich so, als habe er gar nichts anderes erwartet. Kaum, dass Kaljorr ein dürftiges Lob von ihm erntete.
21. Aus: Arkonidische Mehinda-Muster der Archaischen Perioden – Herkunft, Systematik und kulturelle Bedeutung, S.A. Warda. In: Schriften des Institutes für vorterranische Geschichte (Sonderheft 301), Akademia Terrania, Terra 2133 n.Chr. Die Feldherren-Mumien des Tonscherben-Feldes von Rakkalin tragen ausnahmslos Mehinda-Make-up, dessen Wirksamkeit bis heute (nach über 18.000 Jahren!) praktisch unverändert geblieben ist (De Rosariova 2111). Erst die späteren Generationen verzichteten allmählich auf eine »Ganzkörper-Behandlung« und gingen zu filigraneren, kunstvollen Motiven über. Der Übergang zu den ausschließlich auf das Gesicht begrenzten Mustern der Gruppe A (nach al-Ribini und Ferencs) vollzog sich wohl schon kurz nach der Wiederherstellung der Raumfahrt um 3800 da Ark, als Mehinda ein Zeichen für Wohlstand und hohe soziale Stellung des Trägers wurde. Die anderen Arkoniden übernahmen diese Sitte innerhalb weniger Generationen, doch sorgten die »Erfinder« der Kristallwelt dafür, dass sich die Heraldik der »Neureichen« qualitativ niemals der ihrigen angleichen konnte. Interessanterweise ähneln einige Mehinda-Muster der Gruppe A denen der akonischen FingernägelGravuren (De Rosariova 2113) – ein Hinweis auf die direkte Abstammung der Khasurn dieser Gruppe von den ersten UrdnirKolonisten? Aus: Institutionen des Großen Imperiums, ein Wegweiser für
Karrierebewusste (Sonderausgabe für unsere terranischen Freunde), Gellor Ma-Kynaan; Arkon 1,19.016 da Ark Mehinda; abgeleitet von: Meh’in da Khasurn (»Linie/Zeichen von Kelch/Geschlecht«) – eine aus dem Saft des Zharg-Strauches (s. Zharg-notah) gewonnene, cremige, meist in bläulich-grünlichen Tönen schimmernde Paste, die der Herstellung des rituellen arkonidischen Make-ups dient. Das Tragen des M. ist nur den Adelsgeschlechtern erlaubt, das kostbare und in der Herstellung entsprechend aufwendige »GorMehinda« (Kampf-Mehinda) darf allerdings nur ein Mitglied eines Mittleren oder Großen Kelches ausschließlich in der Zeit der KAYMUURTES auftragen. Das Muster und die Farbgebung des M. entsprechen der Heraldik des jeweiligen Khasurn … Aus: Flora Arconidica. Bd. XVI (Aathales und Cyanoflorales), G. Clairvaux-Sidorenko; Moskwa, Terra 2099 n.Chr. Echter Mehinda-Strauch (Zharg-notah) nach Ka’Marentis S. da Sisaal und Q. da Keehada Agathodaemon mehindiferus; Ordnung: Aathales, Familie: Agathodaemonaceae. Strauch mit zwittrigen purpurroten Blüten. Blätter reduziert, dornenartig; Nebenblätter fünflappig, nur während der Regenzeit vorhanden. Blüten- und Nebenblätterstiele dicht stieldrüsig, wohlriechend. Ihr Saft für revitalisierende und antiparasitäre Wirkung bekannt (Aathin, Mehindin). Stängel aufrecht, mit 2-5 mm langen Stacheln, schwarzviolett. Rinde im zweiten Jahr abblätternd, schwarz, giftig (Agathodaemonin und Derivate)! Frucht grünlich, klein, unscheinbar, zuweilen bis zu drei Jahren auf der Pflanze verbleibend, außerhalb des Gebietes nur selten reifend. Gebüsche und Trockenwälder der Gipshügel von Rakkalin (Arkon I), eingeschleppt und kultiviert auf Arkon II und Arkon III. Zahlreiche Zuchtformen und Klonide. Wildform strengstens geschützt!
Aus: Sekundäre Stoffwechselprodukte der Aathales – physikalische und chemische Eigenschaften, A. H. H. Falley. In: Spezielle XenoSystematik, Vorlesungsskript der Botanischen Institute der Universität Terrania. Akademia Terrania, Terra, Terrania, 2123 n.Chr. Zu den weniger bekannten Eigenschaften der AgathodaemoninDerivate gehört die Absorption des ultravioletten Lichtes im Spektralbereich zwischen 170 und 330 nm …
Varlakor: 14. Prago der Hara 10.499 da Ark Wir bekamen Kaljorr nicht zu Gesicht. Corpkor wollte auf Kundschaft gehen und erfahren, ob der Dürre sich wirklich für uns bemühte. Ich verbot es ihm, hatte Vertrauen zu Kaljorr, ebenso wie dieser Fartuloon vertraute. Er würde uns nicht im Stich lassen. Für uns freilich bedeutete jeder Tag, den wir uns länger auf Varlakor aufhielten, zusätzliche Gefahr. Denn wenn auch das Vielvölkergemisch in der Sektion Elkinth die Arkoniden dazu erzogen hatte, anderen keinerlei Neugierde entgegenzubringen, waren doch Fartuloon und ich infolge der Fahndungsbefehle, die Orbanaschol erlassen hatte, durchaus bekannte Personen in gewissen Kreisen. Es mochte sich leicht jemand finden, der unsere Bilder gesehen hatte und die Belohnung begehrte, die auf unsere Ergreifung ausgesetzt war. Auch Ischtars Aussehen war danach, die Aufmerksamkeit selbst eines uninteressierten Elkinthers zu erregen. Es kam für uns also darauf an, dass Kaljorr so schnell wie möglich Erfolg hatte … und außerdem, dass wir uns so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit sehen ließen. Obwohl ich diese Notwendigkeit erkannte, hielt es mich nicht in der Enge meiner Kammer. Am frühen Nachmittag, als die rötliche Sonne auf dem Land brannte und das Leben im
Tauschbecken für kurze Zeit einschlief, schlich ich mich aus dem Gästehaus. Ich wandte mich nicht dem Becken zu, sondern den Hügeln, in die es eingebettet war. Abseits der Straßen wuchs schütterer Buschwald. Dort wollte ich umherwandern, bis die Dunkelheit einbrach, um mit meinen Gedanken alleine sein, da sie mir ohnehin keine Ruhe gaben. Das Gebüsch war trocken und dornig. Mehr als einmal riss ich mir durch das Gewand hindurch die Haut auf. Da meine Brandwunden trotz Einsatzes von Heilplasma noch nicht völlig verheilt waren, verursachten die Dornenstiche beißende Schmerzen. Ich aber achtete nicht darauf, im Gegenteil: Ich empfand jeden Stich mit Genugtuung, denn der Schmerz war meine Buße für das, was ich Crysalgira angetan hatte. Tief in Gedanken versunken, trat ich auf eine Lichtung, deren Boden aus heißem, staubigem Sand bestand. So heiß war der Sand, dass er durch die Sohlen der Sandalen brannte. Ich blieb stehen und konzentrierte mich auf den Schmerz. Dabei blickte ich auf und gewahrte eine Gestalt, die ein paar Schritte vor mir am gegenüberliegenden Rand der Lichtung kauerte. »Ischtar«, stieß ich hervor. Dunkle Trauer lag in ihren Augen. »Ich habe auf dich gewartet.« Ich ging zu ihr. »Du bist mir fremd geworden. Ich bin ein dummes Weib. Ich sah nicht – oder wollte nicht sehen –, dass du der Prinzessin …« Ihre Worte schmerzten heftiger als der Stich der Dornen und die glühende Hitze des Sandbodens. »Deine Gedanken gehen in die falsche Richtung. Crysalgira war meine Gefährtin in vielen Gefahren. Es war tiefe Freundschaft, aber keine Liebe zwischen uns. Ich gehörte nicht der Prinzessin, sie gehörte nicht mir. Jeder zweite ihrer Gedanken galt dem Sonnenträger Chergost dom Ortizal.« Ich kauerte neben ihr. Sie blickte starr auf die Lichtung
hinaus. »Warum behandelst du mich dann mit dieser Kälte, seitdem die Prinzessin nicht mehr bei uns ist?« Ich dachte lange darüber nach, was ich darauf antworten sollte. »Mein Herz ist stumm, mein Verstand erschauert vor dem, was ich Crysalgira angetan habe.« »Du brachtest dich in Sicherheit, was jeder andere auch getan hätte. Die Prinzessin aber war ein intelligentes Wesen. Sie hätte sich selbst in Sicherheit bringen müssen, ohne auf deine Hilfe zu warten.« Das war es, was ich mir selbst oft genug eingeredet hatte. Aber es war weniger als die Hälfte dessen, womit mein Bewusstsein seit Crysalgiras Tod rang. Ich hatte mich darauf verlassen können, dass Crysalgira aus eigener Kraft die Mündung des rettenden Stollens fand. Mich traf keine Schuld deswegen, weil ich nicht zurückgeblieben war und ihr geholfen hatte. Aber das andere … Ich stand auf. »Du kennst die Zusammenhänge nicht.« Meine Stimme musste hart und unfreundlich geklungen haben, denn Ischtars Blick war plötzlich feindselig. »Ich bin sicher, dass du mir sie eines Tages erklären wirst«, antwortete sie bitter. Sie sprang auf und verschwand im Dickicht des dornigen Buschwaldes. Ich folgte ihr nicht, blieb stehen, wo ich war. Ich musste lange dort gestanden haben, denn als ich mich wieder in Bewegung setzte, stand die Sonne schon tief. Mehr mit dem Instinkt als mithilfe der Erinnerung fand ich den Weg zurück zum Rand des Tauschbeckens. Mittlerweile wurde es dunkel; aber dennoch bewegte ich mich mit Vorsicht, sobald ich die Straße erreichte. Vor unserem Gästehaus bemerkte ich eine Gestalt, die im Schatten eines Nebengebäudes kauerte. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei, schritt aber dennoch auf den Kauernden zu, denn in unserer Lage konnte man nicht vorsichtig genug sein und musste auf jede Kleinigkeit
achtgeben. Der Lauscher bemerkte mich erst im letzten Augenblick, sprang auf und hetzte über den hell erleuchteten Platz davon, der vor dem Gästehaus lag. Ein langer Bart wehte hinter ihm her; als er einen halben Atemzug lang in das Licht einer Laterne geriet, erkannte ich Phogymar.
An diesem Abend war ich rechtschaffen müde und fiel in Schlaf, ohne mich vorher zu betrinken. Am nächsten Morgen erzählte ich Fartuloon von der Beobachtung, die ich bei der Rückkehr gemacht hatte. »Freie Händler sind rachsüchtig«, antwortete er. »Der Kerl will sich wahrscheinlich an uns rächen. Wir sollten die Augen offen halten, aber mehr brauchen wir nicht zu tun.« Es fiel mir nicht schwer, seine Ansicht anzunehmen. Wir hatten Phogymar beleidigt, in seinen Augen womöglich sogar geprellt. Er war hinter uns her, um uns dafür zu bestrafen … das war alles. Kurz vor Mittag erschien Kaljorr, der sich gestern den ganzen Tag nicht hatte sehen lassen. Er strahlte über das faltige, eingefallene Gesicht. Bezüglich der Hierarchie in unserer Gruppe schien es für ihn keine Unklarheit zu geben: Er wandte sich direkt an Fartuloon. »O Herr, ich komme, um den Erfolg zu melden.« Fartuloon erhob sich gemächlich von seinem Lager, auf dem er die Zeit der Mittagshitze zu verbringen gedacht hatte. »Wenn du die Wahrheit sprichst, kann ich dir meine Anerkennung nicht versagen. Was für ein Schiff ist es, dessen Kapitän uns an den Zielort bringen will?« »Kein besonders schönes Schiff, o Herr. Aber du musst verstehen, dass es schwierig ist, auf dieser Welt eine Passage zu bekommen; es finden sich nur diejenigen Kapitäne bereit, Passagiere mitzunehmen, die nicht auf andere Art und Weise
ein besseres Geschäft machen können.« »Du sprichst, was ich schon lange weiß. Aber ich brauche ein Schiff, das weite Strecken fliegen kann, und bei mir befindet sich ein Kleinkind, das gewisse Bequemlichkeiten braucht.« »All das ist mir klar, o Herr«, beteuerte Kaljorr. »Ich habe darauf geachtet. Ogloths Raumer gehört nicht zu den jüngsten, von außen macht es keinen vornehmen Eindruck, aber Ogloth versicherte mir, dass es …« »Ogloth?« »Ogloth del Parim, o Herr. Wenn du willst, führe ich ihn sogleich zu dir.« Fartuloons Blick begegnete dem meinen. Ein Freihändler mit einem halbwracken Raumschiff – denn wir wussten Kaljorrs euphemistische Beschreibung wohl zu deuten –, der einer arkonidischen Adelsfamilie angehörte? Dass es so sein musste, bewiesen die Mehinda-Muster an den Schläfen. »Ich will den Mann sehen«, forderte Fartuloon. »Wo befindet er sich?« »Er sitzt unten in der Kneipe, o Herr.« Fartuloons Augen sprühten zornige Funken unter dichten Brauen hervor. »Du hast ihn hierher gebracht? Weiß er, dass wir hier wohnen?« Kaljorr lächelte ein wenig. »Natürlich nicht, o Herr. Ich hatte den Eindruck, dass du deine erhabene Identität als ein Geheimnis betrachtet haben wolltest. Deswegen lockte ich Ogloth unter einem Vorwand hierher und sorgte dafür, dass ihm ordentlich eingeschenkt wird.« Abermals begegneten mein und Fartuloons Blick einander. »Ich werde mir den Mann ansehen. Du zeigst ihn mir … aber so, dass er mich vorerst noch nicht sehen kann.« Kaljorr verneigte sich. »Ich werde tun, was du mir befiehlst, o Herr.« Er führte Fartuloon und mich durch einen der
Hintereingänge in die Schenke. Von einer Säule gedeckt, zeigte er uns einen stiernackigen, vierschrötigen Mann, der allein an einem Tisch saß, den Kopf in die Hände gestützt hielt und einen riesigen Becher vor sich stehen hatte. Die Schenke war voll. Am Tisch des Vierschrötigen standen fünf leere Stühle. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, da erfuhren wir, wie Ogloth del Parim es fertig brachte, inmitten dieser Fülle so alleine zu sein. Zwei Männer näherten sich seinem Tisch. Sie trugen bunt zusammengestückelte Monturen, wie es unter den Freihändlern üblich war. Der eine erkundigte sich höflich: »Dürfen wir an Ihrem Tisch sitzen, mein Freund?« Er bediente sich der Sprache der gehobenen Schichten. Ogloth tat das nicht. »Schert euch zum Gork!« »Aber es gibt hier noch viel Platz«, beschwerte sich der höfliche Frager. Daraufhin stand Ogloth del Parim auf. Er tat es ganz gemächlich, als führe er nichts Böses im Schild. Dabei sah ich, dass seine Größe der Breite seiner Schultern entsprach. »Ich habe gesagt, ihr sollt euch zum Gork scheren.« Und dann, schneller, als die Augen folgen konnten, griff er nach den beiden Freien Händlern, bekam sie bei den Hälsen zu fassen, schlug ihnen die Köpfe gegeneinander und schleuderte sie sodann von sich, dass sie ein paar Schritte weit zwischen die Tische der übrigen Gäste fielen. Ogloth setzte sich wieder hin, als sei nichts geschehen, und nahm einen ausgiebigen Schluck aus seinem Becher. Fartuloon sagte: »Das wird eine lustige Fahrt werden.«
Wir gaben Kaljorr den Befehl, bei der Säule zu warten. Dann gingen wir zu Ogloths Tisch. Er sah uns kommen und musterte uns mit einigem Interesse. Ich beobachtete ihn scharf. Hätte er uns erkannt, wäre seine Reaktion eine andere
gewesen. Es gab keinen Zweifel: Er wusste nicht, wer wir waren. Wir fingen es anders an als die beiden Freihändler. Ehe Ogloth es sich versah, saßen wir an seinem Tisch. Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, sogar die Mehinda-Muster verfärbten sich. Er hatte eine grob geschnittene, finstere Visage; was uns daraus entgegenblickte, verhieß uns nichts Gutes. Er stemmte die Fäuste auf den Tisch und schickte sich an aufzustehen. »Bleib ruhig sitzen, Mann!«, rief ich. »Wir haben gesehen, wie du mit den Freien Händlern umgesprungen bist. Aber die Stühle, auf denen wir sitzen, gehören dem Wirt und nicht dir.« Er war verblüfft, dass jemand so mit ihm zu reden wagte. Aber die Überraschung dauerte nicht lange. »Sieh her, mein feines Bürschchen«, verspottete er mich. »Wenn du dich mit deinem Großvater nicht alsbald von meinem Tisch entfernst, schleudere ich euch beide in die Luft, dass ihr die Anziehungskraft dieses Planeten verlasst und im Weltraum elend erstickt.« »Oho! Ogloth del Parim, du bist ein lästerliches Großmaul. Wenn du weiter nichts kannst als große Reden schwingen und harmlose Gäste belästigen, wollen wir nicht mit dir fliegen.« Das brachte ihn vollends aus dem seelischen Gleichgewicht. »Du kennst meinen Namen, Bürschchen? Und du willst …« »Wenn du mich noch einmal Bürschchen nennst, zeigte ich dir ein paar ausgesuchte Siima-Ley-Griffe.« Siima-Ley war eine spezielle Selbstverteidigungskunst, die arkonidische Stabsoffiziere beherrschten und aus dem Dagor entwickelt hatten. Unsere Unterhaltung begann, ringsum Aufmerksamkeit zu erregen. Das lag nicht in unserem Sinn. Ich winkte Kaljorr, der hinter der Säule hervorkam. Als Ogloth del Parim ihn erblickte, spiegelte sein grobes Gesicht plötzlich Verstehen wider. »Aha – daher bläst der Wind.« Wir bestellten für uns Wein und ließen auch Ogloth einen
neuen Becher kommen. Der Grobschlächtige hatte sich inzwischen beruhigt. »Wie viel verlangst du?«, fragte Fartuloon. »Das kommt darauf an, wohin ihr wollt.« »Das Ziel sagen wir dir, sobald wir im Raum sind«, gab ich ihm zu verstehen. Er machte die Geste der Zustimmung. Dann nannte er seinen Preis. »Wenn du nicht sofort sagst, dass du auch mit einem Drittel zufrieden bist«, fuhr Fartuloon ihn wütend an, »stehen wir auf und suchen uns einen anderen Kapitän.« Ein breites Grinsen erschien auf Ogloths Gesicht. »Das würde dir nicht so leicht fallen, Großvater. Ich sehe euch an, dass ihr Leute seid, denen es darauf ankommt, diesen Planeten möglichst rasch und unerkannt zu verlassen. Es würde euch teuer zu stehen kommen, wenn ihr die FALSERATH ausschlüget.« Er war so klug, mit gedämpfter Stimme zu reden, sodass seine Worte an anderen Tischen nicht verstanden werden konnten. Und er fügte hinzu: »Also gut – ein Drittel. Seid ihr bereit?« Fartuloon nahm die Frage nicht einmal zur Kenntnis. »Hat Kaljorr dir gesagt, dass du das Geld erst am Ende der Reise bekommst?« »Das hat er gesagt«, bestätigte Ogloth. »Gibt es an Bord deines Schiffes genug bequeme Unterkünfte für uns?« »Es gibt sie.« »Kannst du heute Nacht starten?« »Ich kann.« »Gut.« Fartuloon stand auf. »Dann wollen wir uns jetzt dein Raumschiff ansehen.«
FALSERATH hieß das Schiff, wie wir schon wussten. Kein
sehr schönes Schiff, hatte Kaljorr uns berichtet. Er hatte untertrieben. Die FALSERATH, die in einem Randsektor des kleinen Raumhafens von Elkinth stand, war das baufälligste Raumschiff, das ich je vor Augen bekommen hatte. Seine Größe entsprach dem eines Leichten Kreuzers der Raumflotte. »Das Ding hält nicht einmal die erste Transition aus«, sagte ich zu Ogloth del Parim, der uns mit einem gemieteten Luftkissengleiter zum Raumhafen gebracht hatte. »Wie wäre es dann hierhergekommen, Erhabener? Im Umkreis von hundert Lichtjahren gibt es keinen Planeten, den ein Freier Händler wie ich nicht anfliegen würde.« Er sprach seit Neuestem mit sehr viel Respekt zu uns, bediente sich sogar der gehobenen Sprache und siezte uns. Was diese Sinneswandlung bewirkt hatte, das war mir unklar. »Vielleicht ist es hier gebaut worden«, sagte Fartuloon. »Und gleich danach wurde es als Ausschuss verworfen und als Denkmal für fahrlässige Raumschiffbauer aufgestellt.« »Alter Mann, Sie beleidigen mich«, knurrte Ogloth. Wir gingen an Bord. Innen allerdings machte die FALSERATH einen wesentlich besseren Eindruck. Wir inspizierten insbesondere die Triebwerkssektion und überzeugten uns, dass der Kreuzer wenigstens noch ein Dutzend Transitionen schaffen würde. Beim Rundgang begegneten wir einigen Besatzungsmitgliedern. Sie machten den Eindruck wildverwegener Gesellen, wie man es von Freien Händlern erwartete. »Ist das deine ganze Mannschaft?«, fragte Fartuloon. »Natürlich nicht, alter Mann. Die Mehrzahl meiner Leute ist auf Urlaub.« »Aber sie werden bei Anbruch der Dunkelheit zurück an Bord sein?« »Ich sende Boten aus, sobald Sie mir sagen, dass Sie mit mir fliegen wollen.«
Fartuloon sah mich an. Ohne Zweifel hatte er sich seine Meinung längst gebildet. Sein fragender Blick war nur eine Reverenz dem Kristallprinzen gegenüber. Ich machte das Zeichen der Zustimmung. Daraufhin sagte Fartuloon zu Ogloth: »Halt dich bereit. Denn wir werden eine Tonta vor Mitternacht hier sein; nicht später als Mitternacht sollst du starten.« Ogloth del Parim deutete eine Verbeugung an. »Es soll an nichts fehlen, Erhabener.«
Es bereitete uns keine Mühe, uns auf den Abflug vorzubereiten. Wir hatten wenig Gepäck. Die Frage war, was wir mit den dreißig Datenkristallen anfangen sollten, die Yukkar an Basnorek abzuliefern uns aufgetragen hatte. Ich entschied, dass wir sie behalten sollten. Yukkar war im Großen und Ganzen ehrlich mit uns verfahren. Wenn sich irgendwann doch noch einmal eine Möglichkeit ergab, würden wir die Spulen weitergeben. Ein paar Tontas nach Sonnenuntergang machten wir uns auf den Weg. Kaljorr begleitete uns. Das Geld, das wir von ihm bekommen hatten, ermöglichte es uns, einen Mietgleiter zu nehmen. Beim Flug zum Raumhafen saß ich neben dem Dürren. »Es erscheint mir merkwürdig«, sagte ich, »dass Ogloth sich bereit erklärt hat, uns für einen so geringen Preis zu befördern.« Denn das, was Ogloth zuerst verlangt hatte, war gewiss übertrieben gewesen. Aber ein Drittel davon entsprach kaum dem Preis, den wir hätten bezahlen müssen, wenn wir auf regulärem Weg eine Passage über diese Entfernung gebucht hätten. Als Kaljorr nichts sagte, fuhr ich fort: »Es erscheint mir umso merkwürdiger, als Ogloth nicht weiß, ob wir am Zielort wirklich bezahlen können.« Da fühlte er sich denn doch zu einer Äußerung veranlasst.
»Du darfst nicht glauben, o Herr, dass Ogloth del Parim unvorsichtig oder gar uneigennützig handelt. Ich weiß, dass der mächtige alte Herr meine Heilung bewirken wird. Dafür, dass ich meine Gesundheit wiedererhalte, ist mir kein Preis zu hoch. Ich habe mein Geschäft verkauft. Es war ein glücklicher Verkauf. Einen kleinen Teil des Erlöses gab ich euch, da ihr kein Geld hattet. Den Rest aber bezahlte ich Ogloth del Parim. Mit dem, was ihr ihm noch zahlen werdet, hat er so viel, wie noch niemals jemand für eine solche Fracht bezahlt hat.« Ich empfand Dankbarkeit und zugleich Befriedigung. Denn es hatte mich gewundert, dass Ogloth bereit war, uns für einen vergleichsweise geringen Preis an einen Ort zu bringen, den er nicht einmal kannte. Die Angelegenheit wurde nun verständlicher, da ich wusste, dass Kaljorr den größeren Teil seines Vermögens geopfert hatte. Für uns und seine Heilung, versuchte mein Verstand, die Größe des Opfers zu verringern. Aber Kaljorr wusste nicht wirklich, ob ihm Heilung zuteil werden würde. Umso höher war sein Vertrauen einzuschätzen. Wir näherten uns dem Raumhafen, da beugte sich Fartuloon zu mir und sagte in der Sprache des arkonidischen Hofes, die Kaljorr nicht verstand: »Wir dürfen Ogloth auf keinen Fall die Koordinaten von Kraumon geben, bevor wir seiner sicher sind.« Kraumon war unsere letzte Hoffnung, unser derzeit einziger sicherer Stützpunkt. Gaben wir die Koordinaten Ogloth del Parim preis, bevor wir wussten, ob er es ehrlich mit uns meinte, verstießen wir gegen das Gesetz der Vorsicht, das wir uns selbst auferlegt hatten. Kurze Zeit später – inzwischen war der 16. Prago der Hara angebrochen – kam der Raumhafen in Sicht, Ischtar seufzte beim Anblick der FALSERATH.
Wir wurden freundlich empfangen. Ogloth selbst war geleitete
uns in die Kabinen, die für uns bereitet worden waren. Die Bequemlichkeit war ausreichend; größer jedenfalls als in dem Gästehaus, in dem wir die vergangenen Tage verbracht hatten. Ich fragte Ogloth: »Wann seid ihr startbereit?« Er blickte auf seine Uhr. »In weniger als einer Tonta.« »Wir werden bei dir in der Zentrale sein.« Er hatte anscheinend nichts dagegen, denn er reagierte nicht darauf. Wir richteten uns ein, so gut es ging. Uns standen drei Kabinen zur Verfügung. In die eine teilten sich Corpkor, Fartuloon und ich, die beiden anderen fielen an Ischtar mit Chapat, Kaljorr und Eiskralle. »Ist dir etwas aufgefallen?«, fragte Fartuloon, während wir unsere kargen Habseligkeiten verstauten. Mir war nichts aufgefallen, und ich äußerte mich dementsprechend. »Er hat noch immer ebenso wenig Leute an Bord wie zuvor.« Jetzt, da er mich darauf aufmerksam machte, kam es auch mir zum Bewusstsein, dass ich nicht mehr Leute der Mannschaft zu sehen bekommen hatte als am Morgen. »Meinst du, dass es ihm schwerfällt, genug Leute zu bekommen?« Er machte die Geste der Unentschlossenheit. »Ich weiß nicht. Aber es kann nicht schaden, wenn wir wachsam sind.« Ich vergewisserte mich, dass es Ischtar an nichts fehlte. Chapat, dem es heute nicht an Nahrung gemangelt hatte, schlief tief und sorglos. Ischtar verhielt sich mir gegenüber zurückhaltend, hatte mir die gestrige Unterhaltung noch nicht vergeben. Zusammen mit Fartuloon ging ich zur Zentrale. Ogloth hatte dort das Kommando, außer ihm waren fünf seiner Leute anwesend. Die FALSERATH hatte Starterlaubnis erhalten. Wir kamen eben zurecht, um den Aufbruch mitzuerleben. Die FALSERATH mochte ein heruntergekommenes Raumschiff und ihr Kapitän ein großmäuliger Raufbold sein, aber beim
Start ging es streng nach den Vorschriften der Flotte zu. Knapp und präzise kamen die Kommandos. Rasch blieb die malträtierte Oberfläche des Stützpunktplaneten unter uns zurück. Auf der Panoramagalerie wölbte sich das Dunkel des freien Raumes, bestückt mit Tausenden Sternen. Ein Gefühl abgrundtiefer Erleichterung kam über mich. Abermals hatten wir eine gefährliche Wegstation hinter uns gelassen. Es war Daftokan Jalvor nicht gelungen, uns zu fassen. Wir waren unterwegs in die Freiheit, unterwegs – ja, wohin eigentlich? Ogloth del Parim vergewisserte sich mit einem letzten Blick, dass alle Messgeräte die richtigen Werte zeigten. Dann löste er den Gurt, stand auf und kam auf uns zu. »Fünf Tontas bis zur ersten Transition: Wohin geht es eigentlich?« »Ich gebe dir die Koordinaten«, sagte Fartuloon. Wortlos führte Ogloth uns zu dem Schaltpult, an dem er bis vor wenigen Augenblicken gearbeitet hatte, deutete auf ein kleines Datengerät. Fartuloon nannte die Koordinatenwerte, Ogloth wiederholte laut und tippte sie Ziffer für Ziffer ein. Die Zahlen erschienen auf einem kleinen Bildschirm, sodass Fartuloon sie überprüfen konnte. Er nickte befriedigt, als die Übertragung beendet war. »Das sind die richtigen Werte«, brummte er. »Ortanoor, die Paradieswelt – etwas mehr als fünfzehnhundert Lichtjahre entfernt.«
Die FALSERATH war nicht das schnellste Raumschiff. Aber sie war entgegen allen Erwartungen ein zuverlässiges Fahrzeug, das eine Transition nach der anderen absolvierte, ohne dass es in den Fugen ächzte und knarrte. Die Gesamtflugzeit schätzte Ogloth del Parim auf fünfeinhalb Pragos, weder er noch wir hatten es sonderlich eilig. Ortanoor war eine mir unbekannte Welt; ich erkundigte mich bei Fartuloon danach.
»Ein Gehetzter wie ich ist darauf angewiesen, an möglichst vielen Orten in der Weite des Weltalls kleine Verstecke zu haben, in denen er sich verbergen kann. Du kennst bereits Kraumon und eine Reihe anderer Stützpunkte. Ortanoor gehört dazu.« Er sprach bescheiden und beiläufig. Kein Wort darüber, woher er die unermesslichen Summen beschafft hatte, die der Ausbau von Stützpunktwelten erforderte. Fartuloon, einst Leibarzt und Vertraute meines Vaters, war ein wohlhabender Mann. Aber so reich, dass er ein Dutzend Planeten in private Verstecke verwandeln konnte? In einigen Fällen mochte er die Unterstützung meines Vaters gehabt haben. Aber das war bestenfalls die Hälfte der Erklärung. Es gab vieles an meinem Pflegevater und Lehrmeister, was mir auch nach so vielen Jahren unserer Freundschaft rätselhaft und geheimnisvoll war. Manchmal beunruhigte es mich, dass Fartuloon auf seinem Recht bestand, sich mir nicht gänzlich zu offenbaren. Aber dann wiederum dachte ich an die vergangenen Jahre zurück und erinnerte mich daran, dass der Bauchaufschneider niemals etwas getan hatte, woraus mir Schaden erwachsen wäre. Er war mein Freund. Mochte er seine Geheimnisse behalten. Kaljorr war begierig, dass mit seiner Va-Vormo-Kur begonnen wurde. Fartuloon jedoch machte ihm klar, dass er damit warten müsse, bis wir das Ziel erreicht hatten. An Bord fehlten ihm die medizinischen Mittel, die er brauchte, um den Dürren zu behandeln. »Gibt es sie denn auf Ortanoor?«, fragte ich den Alten später, als wir unter uns waren. »Es gibt genug, dass ich mit der Kur beginnen kann. Außerdem werden wir uns dort nicht lange aufhalten. Ortanoor ist nur der Prüfstein, an dem es sich erweist, ob wir uns auf Ogloth verlassen können. Er bekommt dort sein Geld
– und das Angebot, uns für den doppelten Preis weiter an unser eigentliches Ziel zu befördern.« Am 21. Prago der Hara 10.499 da Ark führte die FALSERATH die letzte Transition aus. Der Schmerz, den dieser Vorgang auslöste, war kaum verebbt, da bat Ogloth Fartuloon und mich in die Zentrale. Nach drei Tontas Anflug bot sich uns auf der Panoramagalerie ein zauberhafter Anblick. Die Sichel eines grünblauen Planeten, dessen Oberfläche mit den blütenweißen Flecken von Wolkenfeldern bedeckt war. Ich erkannte die Silhouette einer Küstenlinie. Fartuloon hatte nicht übertrieben, als er Ortanoor eine Paradieswelt nannte. »Sind wir richtig?«, erkundigte sich Ogloth. »Genau richtig«, bestätigte der Bauchaufschneider. »Wo soll ich landen?« Fartuloon wies Ogloth auf eine markante Ausbuchtung der Küstenlinie hin und bezeichnete den Meridian, der sie kreuzte, als den Nullmeridian. Danach gab er Länge und Breite des Landeortes an. Ogloth rechnete schnell und runzelte die Stirn. »Das ist mitten auf der Nachtseite, alter Mann. Die FALSERATH ist ein tüchtiges Fahrzeug, aber die Landung auf einem völlig unbekannten Planeten möchte ich doch lieber bei Tageslicht ausführen.« Fartuloon hatte nichts dagegen einzuwenden. Das bedeutete, dass wir bis zur Landung noch etwa sieben Tontas zu warten haben würden; denn Ortanoor drehte sich nicht besonders rasch um seine Achse. »Ich halte den Planeten für unbewohnt«, sagte Ogloth. »Wenigstens gibt es keine Anzeichen von Zivilisation. Mit wem wollen Sie sich dort treffen, alter Mann?« »Das, mein Sohn«, antwortete Fartuloon väterlich-spöttisch, »wirst du erfahren, sobald wie gelandet sind.«
Auf dem Rückweg zu unseren Quartieren schritten wir einen langen Korridor entlang. Als wir uns dem Ende näherten, glaubte ich, dort eine schattenhafte Bewegung wahrzunehmen. Ich wollte Fartuloon darauf aufmerksam machen, aber was immer sich dort bewegt hatte, war ziemlich schnell. Der Bauchaufschneider bekam nichts mehr zu sehen. Am Ende des Korridors führte der Gang zu unseren Kabinen nach rechts. Mir aber ließ die Neugierde – und womöglich die Ahnung drohender Gefahr – keine Ruhe. Während Fartuloon zu den Quartieren zurückkehrte, wandte ich mich nach links. Zur Sicherheit zog ich den Kombistrahler. Der Gang war schmal und unzulänglich beleuchtet. Der Richtung nach zu urteilen, führte er zur Triebwerkssektion. Zur Linken gab es eine Reihe von Schotten, die alle geschlossen und verriegelt waren. Ich ging etwa vierzig Schritte weit und erreichte ein weiteres Schott, das das Ende des Ganges bildete. Es war mir niemand begegnet, ich hatte niemanden gesehen. Halb beruhigt wandte ich mich um und machte mich auf den Rückweg, da wuchs aus dem Halbdunkel plötzlich eine breitschultrige Gestalt. Sie stand mitten im Gang und bewegte sich nicht, als ich auf sie zuschritt. Ich hatte den Finger auf dem Auslöser des Strahlers. Das Erste, was ich erkannte, war der lange, zu mehreren Strähnen geflochtene Bart, den der Mann trug. Als ich näher trat, wandte er sich mir vollends zu, sodass ich auch sein Gesicht zu sehen bekam. Ich blieb stehen und lauschte auf den Alarmimpuls meines Extrasinnes. Der Impuls blieb jedoch aus. »Phogymar«, sagte ich. »Du bist der Letzte, den ich an Bord dieses Schiffes zu sehen erwartet hätte.« Er zeigte ein verlegenes Lächeln. »Wäre es nach Ogloth gegangen, hättest du mich auch nicht zu Gesicht bekommen. Der Kapitän weiß von unserem Streit; als er hörte, dass ihr an
Bord kommen würdet, schickte er mich und meine Leute auf ein tieferes Deck mit dem Befehl, uns nicht zu zeigen.« Er machte einen harmlosen Eindruck. Ich glaubte nicht, dass er auf seine Rache verzichtet hatte. Aber an Bord der FALSERATH, nahm ich an, waren wir vor ihm sicher. »Du kannst mir schaden, wenn du Ogloth von dieser Begegnung erzählst.« »Tritt zur Seite und lass mich vorbei. Ich habe dich nicht gesehen.« Er tat, wie ich ihn geheißen hatte. Als ich weiterschritt, hörte ich seine Stimme hinter mir: »Du bist ein edler Arkonide.« Täuschte ich mich – oder lag Spott in den Worten? Ich berichtete Fartuloon von meiner Begegnung, zum ersten Mal wischte der Alte meine Besorgnis nicht einfach beiseite, sondern machte ein bedenkliches Gesicht und brummte: »Phogymar gehört also zur Besatzung der FALSERATH. Das sind mir schon beinahe zu viele Zufälle …«
Ich hatte wach bleiben wollen, aber schließlich hatte mich der Schlaf doch übermannt. Ich fuhr in die Höhe, als ich einen halblauten Ruf hörte. Nur das Nachtlicht erhellte schwach die Kabine. Fartuloons und Corpkors Lager waren leer, ich war allein. Wer hat gerufen? Da vernahm ich den Ruf ein zweites Mal. Gefahr! Es war nicht wirklich ein Ruf. Ein Gedanke, von außen kommend, hatte sich in meinem Bewusstsein gebildet. Chapat! Das Kind hatte – wie alle Varganen – die Fähigkeit, auf telepathischem Weg zu kommunizieren. Überdies verfügte es über Fähigkeiten und Kenntnisse, die weit über sein Alter hinausgingen. Ohne Zweifel: Es war Chapat, der zu mir gesprochen hat, er befindet sich in Gefahr! Ich hatte in voller Kleidung geschlafen. Die Waffe lag auf dem Tisch. Ich raffte
sie auf und schob sie in den Gürtel, dann öffnete ich das Schott. Der Korridor lag ruhig im Halbdunkel. Ich wandte mich nach rechts. Das Schott der Kabine, in der sich Ischtar mit Chapat befinden musste, stand offen. Der Raum war leer. Ich hetzte den Gang entlang. Das Schiff schien wie ausgestorben. Dort, wo der breite Hauptkorridor begann, zögerte ich einen Augenblick. Wohin sollte ich mich wenden? Geradeaus, dorthin, wo ich Phogymar begegnet war? Oder nach links Richtung Zentrale? Die Entscheidung fiel auf links. Ich wartete, während ich durch den Gang hetzte, auf ein Signal meines Extrasinns; er hatte die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, die dem Normalbewusstsein verborgen blieben. Aber gerade jetzt ließ mich auch der Extrasinn im Stich. Er spürte mein ungeduldiges Drängen und antwortete: Die Information reicht noch nicht aus. Auch auf dem Weg zur Zentrale begegnete mir niemand. Ich versuchte, das Schott zu öffnen, das in den Kommandostand führte. Aber es war verriegelt und widerstand meinen Bemühungen. Ich überlegte, ob ich den Kombistrahler einsetzen sollte. Chapats telepathische Rufe waren vor kurzer Zeit abgebrochen. Das konnte nur bedeuten, dass er das Bewusstsein verloren hatte – oder nicht mehr lebte! Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wirbelte herum, den TZU-4 schussbereit. Auf der anderen Seite des Ganges hatte sich ein Schott geöffnet. Der Raum dahinter war matt erleuchtet. Vorsichtig trat ich auf die Öffnung zu. Da sah ich das Unglaubliche: Der unförmige Schädel, das kurzhaarige graue Fell mit den bunten Sprenkeln, der vielfach eingeschnürte Leib, die hervorquellenden Facettenaugen … Die sechsbeinige Bestie hatte uns eingeholt. Ich riss den Lauf in die Höhe. Schon krümmte sich der Finger um den Auslöser, als eine Bombe in meinem Gehirn explodierte und mein Bewusstsein augenblicklich auslöschte.
Als ich zu mir kam, saß ich in einem Sessel, konnte nur den Kopf bewegen. Der Rest des Körpers war mit soliden Metallbändern gefesselt. Es pochte und hämmerte in meinem Schädel, die unverkennbaren Nachwirkungen eines Betäubungsstrahls. Ich hatte Mühe, die Augen zu fokussieren, aber schließlich gelang es mir, die Umgebung zu erkennen. Ich befand mich in der Zentrale der FALSERATH. Neben mir saßen, ebenso gefesselt wie ich, Fartuloon, Corpkor, Eiskralle, Ischtar mit Chapat und Kaljorr. Der Chretkor war noch immer bewusstlos. Die anderen dagegen hatten den Blick auf mich gerichtet, als sie bemerkten, dass ich zu mir kam. Vor uns stand Ogloth del Parim, neben ihm Phogymar. Auf dem Boden aber lag das sechsbeinige Tier, merkwürdig schlaff und leblos, die großen Facettenaugen ohne Glanz. Ich blickte auf und sah, dass die Panaromagalerie erloschen war. Auch fiel mir auf, dass ich das Geräusch der Triebwerke nicht mehr hörte. Die FALSERÄTH ist also gelandet. Ogloth musterte uns mit kühlem Blick. »Sie kennen meinen Namen«, sagte er förmlich. »Er ist echt. Den Beruf des Freien Händlers allerdings habe ich Ihnen vorgespiegelt. Ich bin Orbton des Nachrichtendienstes, Phogymar ist mein Stellvertreter.« Eisiger Schreck fuhr mir in die Glieder. Ogloth del Parim, Offizier des Nachrichtendienstes. Hat er mich erkannt? Und Fartuloon? »Wir sind dem Informationshandel auf Varlakor seit Langem auf der Spur«, fuhr Ogloth fort. »Aber der durchschlagende Erfolg blieb uns versagt, bis ich die Erlaubnis erhielt, diese Maschine zu bauen und in der subplanetarischen Halle einzusetzen.« Dabei gab er dem Sechsbeiner mit dem Fuß einen Stoß. »Ein fantastisches Kunstwerk, wenn man es
genau betrachtet. Von den besten Technikern gefertigt. Ausgestattet mit Seh- und Hörvermögen, durch Funk steuerbar. Das Fantastischste aber ist der Schutzschirm, in den sich die Maschine hüllen kann. Energieschüsse prallen von ihm ab und auf den Angreifer zurück.« Er lächelte ein wenig. »Sie haben das einmal am eigenen Leib erfahren. Der hochwertige Prallschirm war eine Notwendigkeit bei der Konstruktion der Maschine. Sie kostete nämlich so unverschämt viel Geld, dass ich es nicht darauf ankommen lassen wollte, dass sie mir der erste beste Informationsräuber über den Haufen schoss.« Er betrachtete das leblose Gerät mit einem fast liebevollen Blick, dann fuhr er fort: »Mithilfe der Maschine erkundete ich das Gelände und erforschte Stück für Stück des Schmugglerpfads, den die Informationsräuber benutzen. Schließlich wurde ich auf Sie aufmerksam. Ich beschloss, Ihnen die Maschine folgen zu lassen. Als es mir günstig erschien, ließ ich sie ein Mitglied Ihrer Gruppe ergreifen und fortschleppen. Die Maschine verfügt über einen Mechanismus, mit dessen Hilfe sie meine Stimme übertragen kann. Ich hatte diesen Mechanismus ursprünglich als Überraschungseffekt einbauen lassen – man denke sich: ein sprechendes Tier! –, aber jetzt kam er mir plötzlich auf andere Weise zugute. Ich wollte die Frau, die die Maschine gefangen hatte, aushorchen. Leider kam ich nicht zum Erfolg. Sie kennen die Geschichte selbst: Sie waren zu schnell. Mittlerweile hatten Phogymar und seine Leute am Ende des Schmugglerpfades ihr Lager aufgeschlagen. Sie sollten Sie in Empfang nehmen und dafür sorgen, dass Sie mir nicht mehr entkommen konnten. Leider spielten die Männer ihre Rolle ein wenig zu echt. Daher kam es, dass sie von Ihnen übertölpelt werden konnten. Wir verloren jedoch Ihre Spur nicht, und als dieser dürre Kerl in Ihrem Auftrag nach einer Passage suchte, boten wir uns an.
Denn Basnorek war inzwischen festgenommen worden – nicht von meiner Abteilung, leider, überdies zu einem für mich nicht gerade günstigen Zeitpunkt –, aber niemand kann verlangen, dass die Koordination immer bis ins Letzte klappt.« Sein Blick wanderte zu einem Tisch. Ich sah unsere Waffen und die dreißig Datenkristalle dort liegen. »Trotz aller Zwischenfälle stellte sich der Erfolg schließlich doch ein. Ich habe eine Bande von Informationsschmugglern festgenommen, ich kenne den Schmugglerpfad von Varlakor, ich habe gestohlene Informationen sichergestellt – und ich hoffe, auf dieser Welt die Verbindungsleute zu finden, für die die geraubte Information bestimmt ist.« Er wirkte selbstbewusst und zufrieden. Nun war er nicht mehr der lärmende, polternde Tölpel, dessen Rolle er in Elkinth so vorzüglich gespielt hatte. Seine Sprache war die der Edlen, und wenn die Geschichte wahr war, die er uns erzählt hatte, war er einer der besten Taktiker, denen ich bislang Auge in Auge gegenübergestanden hatte. »Und was wird aus uns?«, fragte ich. Er machte eine verächtliche Geste. »Sie gehen den üblichen Weg. Es gibt kein Gericht im arkonidischen Reich, das Sie nicht aufgrund der Beweislast für schuldig befinden würde. Es kommt auf die Art der gestohlenen Informationen an, ob Sie am Leben bleiben oder zum Tode verurteilt werden.« Ohne dass er es bemerkte, atmete ich erleichtert durch. Hätte er gewusst, dass ich der Kristallprinz war, auf dessen Kopf der Imperator die höchste aller Belohnungen ausgesetzt hatte, hätte er nicht so leichtfertig davon gesprochen, dass er mich einem Gericht überantworten wolle. »Sie täuschen sich«, sagte Fartuloon plötzlich, »wenn Sie glauben, dass uns mit den Informationsräubern mehr als eine zufällige Bekanntschaft verbindet. Und vor allen Dingen täuschen Sie sich, wenn Sie glauben, Sie könnten hier auf
Ortanoor den Pfad des Informationsschmuggels weiterverfolgen.« »So?«, machte Ogloth spöttisch. »Vor allen Dingen lassen Sie sich vor den Gebäuden warnen, in deren Nähe Sie wahrscheinlich gelandet sind – das heißt: sofern Sie sich nach meinen Koordinaten gerichtet haben.« Der Bauchaufschneider sprach mit eindringlichem Ernst. »Ich selbst habe diese Gebäude errichten lassen. Es gibt Sicherheitsvorkehrungen, die für jeden Uneingeweihten unweigerlich den Tod bedeuten, sollte er sich Zutritt verschaffen. Lassen Sie uns frei, ich verspreche Ihnen …« »Sie reden zu viel, alter Mann«, fiel ihm Ogloth del Parim schroff ins Wort. Ein befehlender Blick auf Phogymar, der Bärtige raffte die Waffen zusammen, die auf dem Tisch lagen, die beiden Männer verließen den Kommandoraum. Das Schott schloss sich hinter ihnen. Wir waren alleine.
»Verfluchte Niedertracht«, knurrte Corpkor. Eiskralle war noch immer bewusstlos. Aus den Schilderungen der anderen erfuhr ich, wie es die Männer des Nachrichtendienstes fertig gebracht hatten, unsere ganze Gruppe zu überwältigen. Während ich schlief, war Fartuloon die Nachricht überbracht worden, dass auf Ortanoors Nachtoberfläche eine eigenartige Erscheinung beobachtet worden war. Fartuloon war daraufhin zur Zentrale gegangen, Corpkor hatte sich ihm angeschlossen. Sie hatten mich ursprünglich wecken wollen, dann jedoch davon abgesehen, weil ich zu tief schlief. In die anderen Kabinen war anscheinend ein betäubendes Gas eingeblasen worden. Denn Ischtar und Kaljorr erinnerten sich nur daran, dass sie eingeschlafen und später gefesselt wieder aufgewacht waren. Anscheinend hatte Chapat der Wirkung des Gases eine Zeit
lang widerstanden. Er war auch jetzt schon wieder wach und blickte mit großen, unschuldigen Augen um sich. Dass Ogloth uns allein gelassen hatte, bewies, wie sicher er sich fühlte. Mein Blick suchte ungeduldig den Chretkor. Sobald er nur zu sich kam, wollte ich dem Nachrichtendienstler gerne beweisen, wie unrecht er hatte. »Es bleibt uns nicht viel Zeit«, sagte Fartuloon plötzlich. »Ogloth wird bald zurückkehren. Und er wird einen von uns mitnehmen, damit der die Sicherheitsvorkehrungen an den Gebäuden entschärft. Ich werde euch nicht erklären, wie das zu machen ist, dazu ist die Zeit zu kurz; ein einziger Fehlgriff … Aber wenn der Chretkor rechtzeitig erwacht, werde ich euch so behandeln, dass euch die Lähmstrahlen nichts anhaben können. Aber weiter: Die Gebäude stehen nur zum Schein dort. Die eigentliche Anlage ist subplanetarisch. Die fünf Gebäude markieren die Ecken eines regelmäßigen Fünfecks. Die ganze Anlage befindet sich in einem weiten Tal. An der Spitze des Fünfecks, die talaufwärts weist, steht das Gebäude, von dem aus ein direkter Zugang zur subplanetarischen Waffenkammer führt. Es gibt dort spezifische Lähmkanonen. Kommt einer von euch dorthin, wird er wissen, was er zu tun hat.« In diesem Augenblick gab Eiskralle ein stöhnendes Geräusch von sich. Er kam zögernd zu sich, verwirrt und erschreckt blickte er sich um. Zuerst verstand er nicht, was wir von ihm wollten. Aber dann begriff er. Plötzlich zersplitterte das Metallband, das seine Hände auf den Lehnen des Sessels festgehalten hatte. Eiskralle griff weiter um sich. Wo seine Hände zupackten, verwandelte sich Metall in berstende, spröde Splitter. Im Nu war der Chretkor frei. Mit uns freilich durfte er nicht auf dieselbe Weise verfahren. Er sah sich um und fand ein Werkzeug, mit dem er unsere Fesseln beseitigen konnte. Wenige Augenblicke später waren wir alle frei. Mein
Blick fiel auf die Kommandokonsole. »Wer hindert uns …«, begann ich, aber Fartuloon schnitt mir das Wort ab. »Keine überflüssigen Fantastereien. Der Weg in die Freiheit führt anderswo entlang. Komm her, mein Junge.« Ich war ziemlich verblüfft, als er mich zu massieren begann. Während seine geschickten Finger meine Schultern bearbeiteten, sprach er halblaut auf mich ein: »Eine physische Vorbehandlung der Hauptnerven erzeugt Resistenz gegen die Wirkung der Lähmstrahlen. Sobald die verborgenen Waffen zu feuern beginnen, wirst du nur ein leichtes Schwindelgefühl spüren. Deine Begleiter jedoch verlieren das Bewusstsein. Das gibt dir Zeit, in die Waffenkammer vorzudringen.« Nach mir behandelte er Corpkor, denn wir wussten nicht, wen Ogloth zu seinem Begleiter bestimmen würde. Allerdings blieb uns die Möglichkeit zu behaupten, dass nur Fartuloon, Corpkor und ich uns mit den Sicherheitsvorrichtungen auskennten. Corpkors Behandlung war eben beendet, als sich das Schott öffnete. In der Öffnung erschien Ogloth del Parim mit fünf schwer bewaffneten Männern. Er überflog die Szene mit einem zornigen Blick. Die Mündungen der Waffen waren auf uns gerichtet. Niemand wagte es, sich zu bewegen. »Ihr werdet mir immer unbegreiflicher. Bevor ich euch ausliefere, werdet ihr mir das Geheimnis zeigen, wie man Stahlfesseln zersplittern lässt. Vorläufig aber …« – er wandte sich dabei an Fartuloon -“… muss ich diesem alten Mann seine Aufrichtigkeit bescheinigen. Der Versuch, in eins der Gebäude einzudringen, hat mich meinen besten Mann gekostet, Phogymar. Ich weiß nicht, ob er tot oder nur bewusstlos ist. Auf jeden Fall wird man euch auch für diese Hinterlistigkeit zur Rechenschaft ziehen.« Er musterte uns der Reihe nach, auf mir blieb sein Blick haften. »Sie kommen mit mir, junger Mann. Die Sternengötter mögen Ihnen gnädig sein, damit Sie
die geheimen Mechanismen finden.«
Ich ging vor ihm her. Er hielt ständig drei Schritte Abstand, nicht mehr und nicht weniger, die Mündung seiner Waffe war auf meinen Rücken gerichtet. Die Landschaft war so, wie Fartuloon sie beschrieben hatte. Ein weites grünes Tal, die Berghänge zur Rechten und Linken mit dichtem Wald bestanden. Helles Sonnenlicht beschien das Land, hoch über der FALSERATH zogen große Vögel ihre Kreise und gaben kurze, kreischende Laute von sich. Die Gebäude waren eingeschossig und lang gezogen, glichen den Lagern auf Kraumon. Das Schiff war außerhalb der Anlage gelandet. Das Gebäude, das Fartuloon bezeichnet hatte, lag der FALSERATH nicht am nächsten. Als ich mich dennoch dorthin wandte, fragte Ogloth: »Warum dorthin?« »Weil sich dort der Abschaltmechanismus befindet.« Er knurrte nur. Ich konnte mir vorstellen, dass er sich in seiner Haut nicht wohlfühlte. Er war auf mich angewiesen, ohne mir vertrauen zu können. Schritt um Schritt näherten wir uns dem Gebäude. In der schmalen Stirnwand gab es eine Tür, die sich bereitwillig öffnete, als ich auf sie zutrat. Auf der Schwelle zögerte ich einen Augenblick. Das Innere des Gebäudes bestand aus einem einzigen Raum. Es gab nur wenige Fenster, sodass hier ein dämmriges Halbdunkel herrschte. Auf dem Boden lag Staub. Ein paar leere Lagergestelle standen wahllos herum. Im Hintergrund bemerkte ich eine Unebenheit des Bodens, die eine Art Falltür zu sein schien. Zur linken Hand gab es an der Wand einen Metallkasten. »Worauf warten Sie? Wo ist der Abschaltmechanismus?« Ich deutete auf den Kasten.
»Bis Sie dorthin kommen, sind Sie ein toter Mann.« Ich aber hörte nicht auf ihn, sondern schritt vorwärts, empfand das prickelnde Schwindelgefühl, vor dem Fartuloon mich gewarnt hatte, schüttelte es jedoch mühelos wieder ab. Ich öffnete den Kasten und tat so, als mache ich mich im Innern zu schaffen. Dann wandte ich mich nach Ogloth um, der noch immer unter der Tür stand. »Kommen Sie.« Zögernd betrat er das Innere des Gebäudes, tat zwei Schritte, dann schien ihn ein unsichtbarer Blitz zu treffen. Er brach lautlos zusammen. Ich lief zur Tür und warf einen Blick hinaus. Bei der FALSERATH war alles ruhig. Mit weiten Schritten hetzte ich quer durch die Halle und öffnete die Falltür. Eine schmale Stiege führte in einen hell erleuchteten Raum, der fast dieselbe Größe wie das Gebäude hatte. Einen Atemzug lang war ich verwirrt von der Fülle der Waffen und Geräte, die sich hier unten befanden. Ich identifizierte mehrere Lähmkanonen. Ein stetiges Summen bewies mir, dass die Waffenkammer ständig mit Energie versorgt wurde. Der Zielbildschirm flammte auf. Ich drehte an der Einstellung, bis die FALSERATH auf der kleinen Bildfläche erschien. Das Geschütz entlud sich mit hellem, zornigem Summen.
Ich traute meinem Glück nicht ganz und blieb beim Rückweg zur FALSERATH äußerst vorsichtig. Vor allen Dingen hatte ich Ogloths Blaster an mich genommen. Ein zweites Mal wollte ich mich nicht überrumpeln lassen. An Bord des Schiffes herrschte Ruhe. Auf dem Weg zur Zentrale fand ich die bewusstlosen Mannschaftsmitglieder. In der Zentrale selbst lagen Ischtar, Corpkor, Chapat, Eiskralle und Kaljorr gemeinsam mit ihren Wächtern reglos am Boden. In der Nähe der Kommandokonsole aber stand Fartuloon und rieb sich ächzend das Genick. »Gegen eine volle Salve hilft die beste
Pressur-Massage nichts, mein Junge.« Dabei war er nicht einmal bewusstlos geworden. Er kam auf mich zu. »Ich will dir sagen, wie es jetzt weitergeht. Das Schiff ist tüchtig genug, um uns nach Kraumon zu bringen – bei den knapp dreiunddreißigtausend Lichtjahren wird es zwar etwas dauern, aber immerhin. Ogloth und seine Leute sind unsere Gefangenen. Wir werden uns später überlegen, was mit ihnen zu tun ist. Wenn wir sie mit nach Kraumon nehmen – und ich sehe im Augenblick keine andere Möglichkeit –, müssen wir sie entweder für immer dort einkerkern oder später einen Teil ihrer Erinnerung löschen.« Er lächelte plötzlich. »Aber das sind geringfügige Sorgen im Vergleich zu denen, die wir bisher hatten, nicht wahr? Kaljorr wird geheilt werden, er hat es verdient. Kraumon ist ein Hort des Friedens. Auch du, mein Junge, brauchst diese Ruhe. Die Varganin ist sich deiner Liebe nicht mehr sicher, doch weiß ich, dass sie nichts dergleichen zu fürchten braucht. Es ist etwas anderes, was den Kristallprinz bedrückt …« Er war jetzt todernst. »Du weißt …?«, kam es mir über die Lippen. Er machte langsam und bedächtig die Geste der Zustimmung. Dann griff er in die Falten seines Gewandes und brachte ein Kästchen zum Vorschein. Ich traute meinen Augen nicht. »Du … du hast …« »Ich habe es dir abgenommen, als du mit uns kämpftest und in den Abgasschacht zurückeilen wolltest, um Crysalgira zu helfen. Es ist ungeheuer wertvoll. Ich fürchtete, du würdest das Letzte, was dir noch bleibt, an Crysalgira … verschwenden!« Das Wort traf mich wie ein Peitschenhieb. Ich zuckte zusammen. Fartuloon reichte mir das Kästchen. Es schien mir in den Fingern zu brennen. Ich öffnete das kleine Behältnis und sah das letzte rote Kügelchen jener geheimnisvollen
Substanz, die die Fähigkeit hatte, Tote zum Leben zu erwecken! »Verschwenden!« Das Wort hallte im Innern meiner Seele nach. Und doch war es dasselbe, das auch mir durch den Kopf geschossen war, als ich neben Crysalgira kauerte und ihr Leben vor meinen Augen entschwand. Nicht, dass ich mich im Abgasschacht zu wenig um sie gekümmert hatte, sondern dass ich nicht willens war, das letzte, kostbare Lebenskügelchen »zu verschwenden«. Das ist die Last, die ich seither mit mir herumtrage! Ich hatte die Berührung des Kästchens vermieden, hatte mir einzureden versucht, es existiere überhaupt nicht. Deswegen hatte ich bewusst gar nicht bemerkt, dass ich es längst nicht mehr bei mir trug. Für Augenblicke überwältigte mich ein kurzer Erinnerungsschub; abermals durchlebte ich die Situation. Ich greife in eine Gürteltasche meiner Kombination und atme auf. Die beiden Lebenskügelchen sind noch da! Jetzt weiß ich, dass Crysalgira noch einmal gerettet wird. Egal, welche Schäden sie durch die Hinrichtung erlitten hat, ich werde sie »zurückrufen« und ihr dabei helfen, alle Schmerzen der Wiedererweckung zu überwinden. Ich nehme eins der roten Kügelchen und lege es zwischen ihre Lippen, lasse es vorsichtig in ihre Mundhöhle gleiten. Dort verbindet es sich augenblicklich mit dem Speichel, wallt auf und verwandelt sich in einen rötlich leuchtenden Gallertklumpen. Jetzt muss ich abwarten. Die Ereignisse auf Somor mit den riesigen Schmetterlingen stehen mir vor Augen. Später kam es bei der defekten Gefühlsbasis zur Wiedererweckung einer geopferten Frau. Leider war die Unglückliche schon zu lange tot. Die Kügelchen vermochten zwar ihren Organismus wiederzubeleben, doch ihr Bewusstsein, ihr Ich, ihre Seele – oder wie immer es umschrieben wurde – war verloren gewesen. Ein Stöhnen reißt mich aus meinen Gedanken. »Sie lebt!«, stößt Zaphiro ungläubig hervor. Crysalgira lebt, abermals von einem Lebenskügelchen
reanimiert, dessen Herkunft vermutlich mit dem schwarzen Protoplasma der Gefühlsbasen in Zusammenhang steht und letztlich auf die Varganen zurückzuführen ist. So lautet zumindest meine Vermutung, sicher bin ich mir nach wie vor nicht. Ihre Wangen nehmen wieder eine rosige Färbung an. Ihre Augen leuchten. Die entsetzliche Todesstarre ist aus ihnen gewichen … Das allerletzte mir verbliebene Lebenskügelchen hatte ich nicht benutzen wollen; es war zu wertvoll, einzigartig und deshalb nur für einen außergewöhnlichen Einsatz bestimmt, der wohlbedacht sein wollte. Für Crysalgira jedenfalls war es nicht bestimmt. Ich fühlte Fartuloons schwere Hand auf meiner Schulter. »Es wird der Tag kommen, an dem du erkennst, dass du richtig gehandelt hast, Kristallprinz«, sagte er mit ernster Stimme. »Bis dahin, mein Junge … lerne, dass das Leben schwer ist!« Was er nicht aussprach, war das seit unserer Rückkehr aus dem Mikrokosmos tabuisierte Thema. Denn das Leben war nicht nur schwer, sondern unter Umständen auch verdammt lang – zumindest für einen »Unsterblichen«, der keine normale Alterung mehr kannte und nur durch Gewalt sein Leben verlieren konnte …
22. 1222. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende HochenergieExplosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 30. Prago des Dryhan, im Jahre 10.499 da Ark Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Als wir am 25. Prago des Dryhan 10.499 da Ark auf Kraumon eintrafen, lag eine
Reise quer durch das Große Imperium über eine Distanz von 32.662 Lichtjahren hinter uns, die den Kreuzer FALSERATH bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit belastet hatte. Ich bin sicher, dass das Schiff nach diesem Gewaltflug über mehr als zwei Perioden nach Arkon-Zeitmaß kaum mehr als ein Wrack ist und somit auch technisch gesehen seinem heruntergekommenen Äußeren entspricht. Fast hundert Transitionen mussten durchgeführt werden; die maximale Einzelsprungdistanz lag bei etwas mehr als 500 Lichtjahren, die benötigte Zeit zur Transitionsspeicheraufladung verging jedes Mal quälend langsam. Aber wir haben es geschafft, konnten wachsamen Patrouillen der Imperiumsflotte ebenso ausweichen wie den Kriegsschauplätzen und angreifenden Verbänden der Methans, die mehr und mehr Kolonialwelten blitzschnell attackieren, um sich, ehe die Raumflotte eintrifft, wieder zurückzuziehen. Auf Kraumon, wo wir fast euphorisch begrüßt wurden, erwartete uns dann eine große Überraschung: Von Ischtar hatten wir ja schon erfahren, dass sich der Barbar Ra mit einem Beiboot der MONDSCHATTEN abgesetzt hatte, während sie noch im KratakhSystem auf Atlans Rückkehr wartete. Nach bemerkenswerten Abenteuern hatte Ra an Bord des Quertamagin-Kreuzers am 12. Prago der Hara 10.499 da Ark Kraumon erreicht – und in seiner Begleitung hatte sich Yagthara befunden. Yagthara! Imperator Gonozals Gattin, Atlans Mutter – als Seherin Methayda getarnt, hatte sie in den vergangenen Jahre mehrfach spektakuläre Auftritte gehabt; nicht einmal mir war diese Tarnung bekannt gewesen, obwohl mir das Aussehen der »Greisin« vertraut erschienen war. Und auch von ihrem Versteck im Kometen Blahur hatte ich nichts gewusst. Mir war nur bekannt gewesen, dass Blahur seinerzeit »eingefangen« und Teil des Arkonsystems wurde, als Imperator Gonozal III. als »Weltenbeweger« Tiga Ranton schaffen ließ. Und schon damals soll als Grundstock eine kleine geheime Station entstanden sein, von deren Existenz nur ein winziger Kreis Eingeweihter wusste.
Und nun existiert Blahur nicht mehr! Flottenschiffe haben die Touristen vertrieben und den Himmelskörper nach intensiver Durchleuchtung gnadenlos zusammengeschossen. Nur noch kleine Trümmer zeugen von dem Kometen mit dem märchenhaft schönen Farbenspiel. Was aus der Besatzung des Verstecks wurde, haben die Flüchtigen an Bord des Quertamagin-Kreuzers nicht mehr erfahren – zum Zeitpunkt des Angriffs hat sich das Schiff bereits am Rand des Arkonsystems dem ersten Transitionspunkt genähert. Sie konnten nur hoffen, dass alle Sicherungen – einschließlich der NotfallTransmitter –, die für diesen Notfall getroffen worden waren, funktioniert und der Besatzung das Leben gerettet haben. Die Schlussfolgerungen, die sich aus dem Flottenangriff auf den Kometen ergaben, lagen auf der Hand. Nur wenige Arkoniden wussten von der Existenz des Geheimstützpunkts, einer war Regir da Quertamagin gewesen. Einer der Informierten musste das Geheimnis preisgegeben haben; es stand zu befürchten, dass dieser Informierte Quertamagin war. Bei ihrer ersten Begegnung haben Yagthara und Atlan einander wie Fremde gegenübergestanden; die Umarmung ließ sich bestenfalls als zaghaft beschreiben – der hilflose und fragende Blick des Jungen dabei traf mich bis ins Innerste. Nicht zuletzt, weil darin auch ein stummer, zweifellos eher unbewusster Vorwurf mitschwang, diese ewige Frage nach dem »Warum?«, verbunden mit dem Gefühl verpasster Gelegenheiten. Verstandesmäßig war ihm wie seiner Mutter klar, dass ich damals nicht anders hatte handeln können; nur so war das Leben des kleinen Kristallprinzen zu retten gewesen. Aber die Gefühle …Ihr Sternengötter! Die damit verbundenen Gefühle von Ungerechtigkeit und anderem; die unterbewusst bohrenden Vorwürfe, das Suchen nach Alternativen und das nagende Fragespiel des »Was wäre, wenn …« – Leider hat Abton Cehar die Begegnung mit dem Kristallprinzen nicht überlebt. Erstarb in der Nacht still und friedlich. Wir stellten verblüfft fest, dass der alte Mann im Tod wesentlich gesünder als je zuvor aussah – eine merkwürdige Ironie der Natur.
Wie auch immer – nun heißt es, ein neues Kapitel aufzuschlagen! Mutter und Sohn sind ausgeprägte und starke Persönlichkeiten, die – dessen bin ich mir sicher – einen Weg zueinander finden werden. Momentan ist Yagthara jedenfalls mit der Organisation des »standesgemäßen Festes« beschäftigt, das für Atlans zwanzigsten Geburtstag am 35. Prago des Dryhan vorbereitet wird. Vermutlich wird es nie zu einer wirklich innigen Beziehung kommen, dafür verliefen die Wege zu unterschiedlich und getrennt, aber Freundschaft wiegt unter den gegebenen Umständen vielleicht sogar mehr. Der Hass auf den Dicken ist jedenfalls beiden zu eigen; eine Gemeinsamkeit, die vielleicht mehr verbindet als sonstige Gefühle. Fest steht darüber hinaus, dass Yagtharas innige Kenntnisse und Beziehungen für uns von unschätzbarem Wert sind – über Jahre hinweg hat sie ein Netzwerk bestens informierter Leute am Hof wie in den Kreisen der Edlen und Hochedlen geknüpft, dessen Möglichkeiten schon nach der ersten Grobanalyse zu Freudensprüngen Anlass gäben, wäre ein solches Handeln nicht unschicklich für hochwohlgeborene Kreise. Egal, hüpfen und springen wir- was schert uns das Gehabe der Kristallkamarilla und ihrer Heuchler, Speichellecker und Ja sagenden Mitläufer? Vor allem, wenn wir uns die tragische Seite unserer Aktivitäten vergegenwärtigen! Regir da Quertamagins Tod – inzwischen bestätigt und offiziell, wie nicht anders zu erwarten, als »Unfall« deklariert – zeigt mehr als deutlich, dass immer wieder schmerzliche Verluste einkalkuliert werden müssen. Für uns Informierte reicht die Tragik jedoch noch viel weiter, kennen wir doch die unsichtbaren Verknüpfungen, die beispielsweise die Quertamagins, Gonozals und Con-Trehs seit Jahrtausenden aneinanderketten. Bel Etir Baj jedenfalls wird niemals wieder jenen Hass empfinden, der auf Ark’alor seit Jahrtausenden so »gepflegt« wird; eigenes Erleben sowie die direkte Begegnung mit Yagthara und Atlan haben ihn und seine Einstellung verändert. Umso bedauerlicher, dass Regir wie Crysalgira aus dem großartigen Quertamagin-Khasurn die erschütternden Ereignisse nicht überlebt
haben und der Dicke, ganz seiner Natur entsprechend, bereits alles unternimmt, um seine fetten Pranken nach dem Erbe auszustrecken. Nun, dem haben wir einen Riegel vorgeschoben – Regirs jüngerer Bruder Thorral, zwar deutlich hitzköpfiger, aber mindestens ebenso mutig und gewitzt, wurde bereits kontaktiert. Als erbberechtigter Nachfolger ist er fortan das neue Khasurn-Oberhaupt; mit Datum des 1. Prago des Tarman 10.499 da Ark hat er den traditionsreichen Vornamen Regir angenommen. Er steht auf unserer Seite und wird, in enger Absprache mit unseren zukünftigen Aktivitäten, mit seinen Möglichkeiten verdeckt gegen den Brudermörder auf dem Kristallthron vorgehen. Ein vorerst letzter Punkt betrifft die mit unserem Abenteuer im Mikrokosmos verbundenen Konsequenzen, die leider ein eher widersprüchliches Bild ergeben; durchaus möglich, dass es noch Jahre dauern wird, bis wir wirklich Klarheit gewinnen können. Ich für meinen Teil bin – wenngleich nicht einmal Atlan über diesen Aspekt informiert ist – das denkbar schlechteste »Versuchsobjekt«, um ein Urteil abgeben zu können; was man ohnehin schon hat, kann einem nicht zusätzlich verliehen werden. Die von mir vorgenommenen Untersuchungen Eiskralles und Corpkors dagegen scheinen zumindest auf den ersten Blick ein vielversprechendes Ergebnis zu liefern: Die körpereigenen Immunkräfte und das damit verbundene Regenerationsvermögen sind in einem Ausmaß gesteigert, dass bei ihnen fortan in der Tat zumindest von ausgeprägter Langlebigkeit ausgegangen werden muss! Messungen im der arkonidischen Wissenschaft und Technik nur begrenzt zugänglichen Bereich der ultrahochfrequenten Hyperenergie belegen, dass die Emissionen ihrer Individualauren deutlich intensiviert sind und vom Muster her sehr jenem gleichen, das auch Ischtar und mir selbst zu eigen ist – vermutlich gleichbedeutend mit einer »hyperphysikalischen Aufladung«, wenngleich das alles und nichts besagt. Ob das als Beweis ausreicht, lasse ich an dieser Stelle bewusst offen. Nicht einmal ich kenne sämtliche Aspekte, die unter Umständen ebenfalls hineinspielen.
Ganz anders sieht es dagegen bei Atlan und Chapat aus (Crysalgira lebt ja leider nicht mehr, zumal bei ihr noch die mehrfache Anwendung der Lebenskügelchen hinzuzurechnen gewesen wäre). Während der Kleine über eine Individualaura verfügt, deren Emissionsintensität sogar die seiner Mutter übertrifft, derzeit sogar weiter wächst und somit eher auf mehr oder weniger latente Parakräfte schließen lässt, weichen die Werte des Kristallprinzen nur minimal von den Speicherdaten ab. Weder Ischtar noch ich haben dafür eine Erklärung! Atlans Eindringen in den Mikrokosmos über den » Umweg« des maahkschen »Zwergenmachers« und der damit verbundenen »Nebenwirkungen« dürfte hierbei bestenfalls ein Teilaspekt im Sinne eines wie auch immer gearteten »Störeffekts« sein – schließlich kam bei seinem kurzfristigen Aufenthalt im Standarduniversum, der ihn zur Welt der Lothurne-Rebellen befördert hatte, ebenso ein varganischer Umsetzer zum Einsatz wie bei unserer Rückkehr. Andererseits hat mich Atlans Beschreibung, bei der Versetzung die Vision eines Etwas gehabt zu haben, das ihn an einen Omirgos erinnerte, ziemlich irritiert. Fest steht für mich, dass wir das tiefere Geheimnis der Varganen, ihrer Herkunft und der mit ihnen verbundenen Dinge längst nicht gelöst haben. Die Zukunft mag zeigen, wie die Konsequenzen wirklich aussehen. Das derzeitige Resümee muss unbefriedigend bleiben: Die Wahrscheinlichkeit, dass Eiskralle und Corpkor langlebig, vielleicht sogar »unsterblich« geworden sind, erscheint recht hoch, während es beim Kristallprinzen eher unwahrscheinlich erscheint und mit mehr als nur einem dicken Fragezeichen versehen werden muss. Was Chapat betrifft, beunruhigen mich einige vage Andeutungen Ischtars, sodass ich davon ausgehen muss, dass uns in dieser Hinsicht noch einiges bevorsteht, sofern sich die Varganin nicht zu einem Entschluss durchringt, den sie mir gegenüber unter vier Augen zwischen den Zeilen angedeutet hat. Tja, und ich selbst? Nun, das ist eine ganz andere Geschichte …
Kraumon: 31. Prago des Dryhan, 10.499 da Ark Ich war endlich wieder zu Hause. Dabei war der Begriff »zu Hause« längst relativ für mich geworden. Meine Kindheit und Jugend hatte ich auf Gortavor verbracht, seit ich meine wahre Herkunft kannte, war ich im Grunde überall dort zu Hause, wo sich auch meine Freunde aufhielten. Unser Stützpunkt auf Kraumon kam somit der Umschreibung noch am nächsten. Mein richtiges Zuhause hatte ich damals verloren, als die Verschwörer von Arkon meinen Vater ermordeten. Von eher vagen Kindheitserinnerungen abgesehen hatte es lange gedauert, bis ich meiner Mutter wieder leibhaftig gegenüberstand – für uns beide ein Augenblick voller Verlegenheit und Unsicherheit, aber auch großer Freude. In langen Gesprächen hatten wir versucht, einander kennenzulernen; es würde noch viel Zeit vergehen, bis wir einander wirklich kannten. Die lange Trennung hatte ihre Spuren hinterlassen, die auch vom geplanten Geburtstagsfest nicht fortgewischt werden konnten. Ich bemerkte allerdings die Begeisterung, mit der sich meine Mitstreiter auf die Vorbereitungen stürzten. Mit Gespür und Sinn für feine Unterströmungen hatte Mutter erfasst, dass meine lange Abwesenheit von Kraumon und die Unsicherheit über mein Schicksal die Frauen und Männer verunsichert hatten; was gab es also Besseres als ein Fest wie dieses, um den inneren Zusammenhalt wieder zu stärken? Verstand, Logik und militärisch-logistische Organisation waren nun mal nicht alles, Psychologie, Symbolik, Rituale, Protokoll und dergleichen Faktoren spielten keine geringere Rolle – und ich fürchtete, dass ich, als auf Gortavor aufgewachsener »Randweltler«, genau in dieser Hinsicht gewisse Defizite aufwies. Die Zeremonienmeister des künftigen Imperators Gonozal VIII. würden an mir zweifellos
keine Freude haben … Mehr denn je war ich entschlossen, dem Treiben des Diktators ein Ende zu bereiten. Doch das war alles andere als leicht. Orbanaschol standen nun einmal alle Machtmittel zur Verfügung, über die der Herrscher eines riesigen Sternenreichs gebot. Dazu gehörten Flottenstützpunkte, viele zehntausend Schiffseinheiten aller Größen und mit der modernsten Bewaffnung, die die arkonidische Technologie zu bieten hatte, ein Millionen- oder gar Milliardenheer von bestausgebildeten Raumsoldaten, diverse Serien nahezu perfekter Kampfroboter, gut funktionierende Geheim- und Nachrichtendienste und zahlreiche Gefängnisse. Nur mit Schaudern dachte ich an die Schreckenszellen von Torren-Box, von denen mir die fünf Greise aus dem GlaathanSystem berichtet hatten. Die Folterknechte des Imperators quälten dort die politischen Widersacher zu Tode. Das Raumgefängnis war ein Ort des Entsetzens, von dem es kein Entrinnen gab. Wurde ein Verurteilter erst einmal dort eingeliefert, war sein Schicksal besiegelt; er hatte keine Aussicht mehr, jemals wieder in die arkonidische Gesellschaft zurückzukehren. Die fünf Greise waren die bislang Einzigen, denen eine Flucht gelungen war. Inzwischen lebten sie auf Kraumon, hatten sich in den Bergen ein Fertighaus errichten lassen. Sie waren bei unserer Landung nicht erschienen; doch ich wusste, dass es ihnen gut ging. Was habe ich gegen die geballte Schlagkraft des Diktators zu bieten? Ich hatte den unbeugsamen Willen – heute vielleicht mehr noch, als an dem Tag, als ich von meiner Herkunft erfuhr –, eines Tages mit dem Mörder meines Vaters abzurechnen. Irgendwann würde es so weit sein, dann würde ich den Thron von Arkon beanspruchen. Ich war der Kristallprinz, mir gebührte die Nachfolge. Ich hatte inzwischen – unterstützt von Fartuloon und all den anderen
Freunden – viele loyale Mitstreiter. Viele waren auf Kraumon, andere über das Imperium verstreut; manche nur harmlose Beobachter, die Nachrichten an unscheinbaren Orten ablegten, andere aktive Widerstandskämpfer, untereinander durch ein ausgeklügeltes Zellensystem verknüpft, das höchste Sicherheit versprach. Ich bezweifelte, dass Orbanaschol im Ernstfall auf so zuverlässige Frauen und Männer zurückgreifen konnte; er regierte durch Angst und Schrecken, durch Korruption und Bestechung. Er nutzte die Schwächen und Leidenschaften seiner Untertanen skrupellos aus; spielte einen gegen den anderen aus, wenn es darum ging, die persönliche Macht zu vergrößern oder zu festigen. Am Hof war jeder der Feind des anderen, Misstrauen herrschte Tag und Nacht; der Schwache trat den Nächstschwächeren und buckelte nach oben. Es war ein System des Schreckens, das leider viel zu gut funktionierte. Trotzdem war ich optimistisch. Fartuloon, Leibarzt meines ermordeten Vaters und väterlicher Lehrmeister, entwickelte mit unseren besten Köpfen eine neue Strategie, um Orbanaschol zu attackieren. Weitere Mitstreiter würden bald eintreffen, der Kraumon-Stützpunkt weiter ausgebaut werden. Unsere Verbindungen zu den Piraten der Sterne in der Sogmanton-Barriere waren bestens; langsam wuchs unsere »Flotte«. Und dass sich mutige Einzelaktionen durchaus sehen lassen konnten, hatte nicht zuletzt Ra mit seinem Vorstoß bis ins Arkonsystem bewiesen. Nicht nur durch ihn und meine Mutter wussten wir, dass es Leute gleicher Gesinnung auch auf Tiga Ranton gab, potenzielle oder gar konkrete Verbündete, die nur auf den richtigen Zeitpunkt warteten. Ich saß vor den Monitoren und Holoprojektionen der Zentrale in der Hauptkuppel und ließ den Blick über die Bilder des Stützpunkts schweifen, über die Hallen, Türme, Versorgungsbunker und neu angelegten Startschächte, Abwehrstellungen und Wohneinheiten. »Gonozal-Mitte« hatte
sich in der Zeit meiner Abwesenheit verändert; Morvoner Sprangk hatte den Ausbau energisch vorangetrieben. Ich suchte etwas – und plötzlich wusste ich, was mich die ganze Zeit beunruhigt hatte: Ich konnte keinen telepathischen Kontakt zu Chapat herstellen; die Varganin war mit meinem Sohn verschwunden. Ich stellte die Interkomverbindung zu Fartuloon her; er befand sich in einer spärlich eingerichteten Zelle. Der Raum lag tief unter den Oberflächenanlagen und war vielfach gesichert. »Ja, Atlan, was gibt’s?« »Hast du eine Ahnung, wo sich Ischtar aufhält? Ich empfange die Signale Chapats nicht mehr.« »Dann will der Kleine im Augenblick nichts von dir wissen.« Er grinste. »So was soll zwischen Sohn und Vater vorkommen.« Damit war für ihn eigentlich die Angelegenheit erledigt. Ischtar und unser Sohn überließ er lieber mir. Seine tiefe Skepsis gegenüber der Varganin hatte sich zwar gelegt, aber ein Rest von Misstrauen blieb bestehen. Hinzu kam, dass ihm Chapat, der in Gestalt des Babys mehr Wissen und Geisteskräfte als ein normaler Erwachsener besaß, zweifellos unheimlich war. Bevor ich die Verbindung unterbrach, erkundigte ich mich nach dem Befinden unserer Gefangenen. Fartuloon ließ die Aufnahmeoptik wandern; ich sah Ogloth del Parim, Phogymar und all die anderen auf ihren Pritschen. Parims Gesicht war zu einer wütenden Fratze verzerrt. »Noch schweigen sie«, sagte Fartuloon. »Aber nicht mehr lange. Ich bekomme alles aus ihnen heraus, was uns bei späteren Aktionen gegen Orbanaschol nützlich sein kann.« Ich wusste, dass der Bauchaufschneider Wort halten würde. Er kannte genügend Tricks, um selbst den Widerstandsfähigsten zum Reden zu bringen.
»Gutes Gelingen«, murmelte ich und schaltete ab. Auf einem der Bildschirme schwebte ein Lastengleiter vorüber und verschwand in einer Halle. Der Blick auf die fernen Berge war von Wolken verschleiert. Nordwind trieb eine Regenfront heran, in spätestens einer Tonta würde es regnen. Du hast Angst, Ischtar könnte dich verlassen! Der Impuls des Extrasinns war von fast schmerzhafter Intensität. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte – es stimmte. Sie ging mir aus dem Weg und kümmerte sich nur noch um Chapat. Mitunter hatte ich den Eindruck, unser Sohn würde sie tyrannisieren. Es gab keinen Beweis, aber ich hätte schwören können, dass er irgendeinen geheimnisvollen Zwang auf seine Mutter ausübte. Nicht einmal unplausibel, wenn du die Fähigkeiten des Kinds berücksichtigst. Vielleicht weiß Morvoner, wo sich Ischtar befindet? Als Stützpunktkommandeur würde er mir sicher mehr sagen können; er kontrollierte sämtliche Gleiter, wusste stets alles, was im Stützpunkt vor sich ging. Als ich Morvoner über Interkom anrief, startete ein Einmanngleiter, wie ich aus den Augenwinkel mitbekam. Das kleine Fahrzeug beschrieb auf dem Bildschirm eine elegante Wende und schoss dann mit zunehmender Geschwindigkeit schräg in den dunstigen Himmel. Ein entgegenkommender Lastengleiter musste ein Ausweichmanöver fliegen; um ein Haar wären beide zusammengestoßen. Ich rief: »Hey, Morvoner – welcher Idiot ist eben gestartet?« Aus dem Lautsprecher drang ein trockenes Husten; das narbige Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Wenn einer solch riskante Manöver fliegt, solltest du auch ohne Nachfrage wissen, wer das ist.« Ich seufzte. »Ra hat sich einen Gleiter geschnappt und reagiert nicht auf die Funksprüche.« Ra würde sich für dich die Kehle durchschneiden lassen, behauptete mein Extrasinn, doch sobald es sich um Ischtar dreht,
setzt sein Verstand aus. Er begehrt die Varganin wie am ersten Tag, hat sich nie damit abgefunden, dass sie mit dir einen Sohn zeugte. Dass er gerade jetzt so auffällig startet, bedeutet nichts anderes, als dass er sich ebenfalls um Ischtar sorgt. »Er sucht sie also?« »Was?« »Nichts«, entgegnete ich. »Sollte jemand was von mir wollen, sag ihm, dass ich die nächsten Tontas nicht zu sprechen bin.« Bevor Morvoner seinem Erstaunen Ausdruck verleihen konnte, hatte ich die Interkomverbindung beendet. Ich sprang auf, eilte zum Antigravlift und rannte zum nächstgelegenen Gleiterhangar. Ich war fest entschlossen, Ra zu folgen. Im Gegensatz zu ihm wusste ich zwar derzeit nicht, wo sich Ischtar aufhielt, aber ich war mir sicher, dass mich der untrügliche Instinkt des Barbaren zu ihr führen würde.
Auf dem Instrumentenpult des Gleiters blinkte ein Lämpchen. Jemand wollte mich sprechen; vermutlich Fartuloon. Aber ich schaltete das Funkgerät nicht ein, sondern starrte verbissen auf den Ortungsschirm. Die Beschriftung des grünen Leuchtpunkts zeigte, dass Ras Gleiter an Höhe verlor und dann bewegungslos verharrte. Ein Pfeifen erklang, der grüne Punkt begann zu pulsieren. Er ist gelandet, sagte der Extrasinn, während ich mich fragte, was Ra wirklich hier in den Bergen suchte. Ischtar konnte doch nicht mit Chapat in diese Höhe geflogen sein, immerhin mehrere tausend Meter mit entsprechend dünner Luft; der Blick auf den Höhenmesser zeigte, dass ich in genau sechstausend Metern Höhe schwebte. Unter mir trieb eine Gewitterfront vorbei, vereinzelt kam eine vereiste Bergspitze in Sicht. Die kahlen Felsen ragten wie Inseln aus
dem Wolkenmeer. Oder befindet sie sich doch auf einem der vereisten Gipfel? Kälte macht weder ihr noch Chapat etwas aus. Ich hielt auf den gelandeten Gleiter zu. Was zuvor nur ein Leuchtpunkt der Ortung gewesen war, erkannte ich bald durch die Frontscheibe als Ras Gleiter. Der Barbar war in einer windgeschützten Mulde gelandet. Ich stoppte die Fahrt und ging dicht neben dem anderen Gleiter nieder, verankerte die Landekufen und riss das seitliche Luk auf – nur um sofort zurückzuprallen. Heulender Sturmwind drang in die Kabine, Eiskristalle wehten herein. Schlagartig sank die Temperatur weit unter den Gefrierpunkt. Ich schloss den Magnetsaum meiner Kombination und setzte vorsichtig den rechten Fuß ins Freie. Die Felsen waren völlig vereist; die geringste Unvorsichtigkeit würde mich in eine Fels- oder Gletscherspalte befördern. Das Ganze wurde immer rätselhafter. Hier oben gab es keine Tiere, die Ra hätte jagen können. Folglich drehte es sich wirklich um Ischtar, ohne dass die Angelegenheit verständlicher wurde. Ich wurde immer unruhiger, fürchtete, dass Chapat etwas zugestoßen sein könnte. Die Witterung war rau, ohne Schutzkleidung würde ich es keine Tonta aushalten. Ich fröstelte und rieb die Hände. Atemwolken verwehten vor meinem Gesicht, während ich mich suchend umsah. Ein schmaler Durchbruch erstreckte sich über fast hundert Meter zu einem benachbarten Felsplateau. Dazwischen wirbelten Eiskristalle einen flirrenden Reigen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Im verharschten Schnee waren Ras Stiefelabdrücke ganz deutlich zu erkennen. Er hatte den schmalen Durchgang benutzt und vermutlich das Nachbarplateau bereits erreicht. Unwillkürlich fragte ich mich, wie die Varganin hierhergekommen war. Ein Gleiter wurde jedenfalls nicht angemessen. Hat er andere Anhaltspunkte als ich? Aus der Luft war Ischtar nicht zu sehen.
Die Felswände waren von glitzernden Adern durchzogen. Plötzlich machte der Weg einen Knick, ich musste mich überdies bücken, um weitergehen zu können. Rechts ging es steil abwärts, mindestens fünfhundert Meter. Ich schauderte, als sich unter meinen Stiefelsohlen kleine Eisbrocken lösten und in die Tiefe rutschten. Links weitete sich eine Höhle. Du bist nicht allein, warnte der Logiksektor. Sie befinden sich in der Höhle. Wie zur Bestätigung erklang unweit Ras kehlige Stimme; er sprach Varganisch. Für einen Augenblick fühlte ich Eifersucht und das Erwachen der alten Rivalität – es war vermutlich aber nur ein Abklatsch dessen, was der Barbar empfand. Für ihn war ich der Nebenbuhler, der seine Goldene Göttin begehrte. Ein telepatischer Impuls von extremer Stärke, der problemlos durch meinen Monoschirm stach, ließ mich innehalten. Chapat! Er hatte natürlich längst mein Kommen bemerkt. Aber er begrüßte mich nicht auf gewohnte Weise, sondern begnügte sich damit, mich seine Stärke fühlen zu lassen. Meine Vermutung, dass er inzwischen die Weisungen für Ischtars Verhalten gab, erhielt neue Nahrung. Ein lautloses Lachen gellte durch mein Bewusstsein. Ich verzog das Gesicht und strich mir gepeinigt über die Schläfen. Chapat erfasste meine Gedanken! Aber er war mein Sohn, ich machte keine weiteren Anstrengungen, mein Bewusstsein abzuschirmen. Zu sehr drängte die Sorge um Ischtar, deshalb betrat ich vorsichtig die Höhle. Ras Stimme klang dumpf; die Wände erzeugten ein Echo, das mich noch mehr frösteln ließ. Schräg über mir öffnete sich ein kreisrunder Kamin. Die Wände waren rissig. Eiszapfen hingen an den Spalten, Sturm wehte Schneeflocken herein. Da blitzte es dicht vor mir metallisch auf. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich den Gleiter, mit dem Ischtar in den vergangenen Tagen mehrmals gestartet war. Die Luke
war geschlossen, sämtliche Aggregate ausgeschaltet. Nachdem ich das Fahrzeug umrundet hatte, sah ich die Gesuchten endlich. Durch kleine Felslöcher drang Licht in den Hohlraum; bizarre Tropfsteine hingen von der gewölbten Decke. Unter den Spitzen hockte die Varganin mit untergeschlagenen Beinen, Chapat auf dem Schoß. Das Kind verhielt sich still, doch eine nur fühlbare Aura der Kraft umgab es. Ich war mir sicher, dass Chapat Ra und mich telepathisch überwachte. »Du bleibst bei mir, Ischtar!«, schrie der Barbar. »Ich lasse dich nicht weggehen!« Sie reagierte nicht. In ihren großen, golden schimmernden Augen stand eine unsagbare Traurigkeit, die mir das Herz zu zerreißen drohte. Sie sagte keinen einzigen Ton, sondern starrte ins Leere. Ihr Verhalten änderte sich auch nicht, als ich zwischen sie und Ra sprang. Er funkelte mich an – während sie meine Anwesenheit längst bemerkt haben musste, wurde er überrascht. »Was suchst du hier? Ohne mich hättest du sie nie gefunden – du bist mir gefolgt. Sie wird sterben, wenn sie länger hier bleibt. Du verdienst die Goldene Göttin nicht!« Ich nagte an der Unterlippe, tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich verstand Ras Erregung sehr gut, wollte seinen Gefühlsausbruch aber nicht entschuldigen. Erst mit Verzögerung wurde mir bewusst, was er gesagt hatte. Ischtar wollte uns verlassen, mied unsere Nähe. Meine Befürchtungen, die ich bislang verdrängt hatte, bestätigten sich also. »Sag mir, dass er unrecht hat.« Sie antwortete nicht, während ich in Chapats Augen für Augenblicke ein spöttisches Funkeln zu erkennen glaubte, ehe der Kleine abrupt sein Gesicht abwandte. »Ischtar«, begann ich von Neuem. »Sag mir endlich, was das alles zu bedeuten hat. Warum flüchtest du dich in die Einsamkeit?« Die Varganin hob langsam den Kopf. In ihre
Augen trat ein fast flehender Ausdruck, der mich zutiefst irritierte. Mein Eindruck, dass sie unter Chapats Bann stand, verstärkte sich weiter. »Ich verlange eine klare Antwort.« »Die kannst du haben, ich kann es nicht mehr hinausschieben. Ich muss endlich den Mut haben, dir und Ra meinen Entschluss mitzuteilen. Ich muss euch verlassen. Es tut mir leid, aber ich sehe keinen anderen Ausweg.« Es aus ihrem Mund zu hören ließ die Welt zusammenbrechen. Ich schüttelte den Kopf, verstand sie nicht, wurde mir in diesem Augenblick nur zu sehr bewusst, wie sehr ich sie liebte. Im gleichen Augenblick stieß Ra einen fast tierischen Schrei aus. Der Barbar trat wuchtig gegen einen Tropfstein, brach die Spitze ab und hob ihn auf, schwang ihn als Keule durch die Luft. Geistesgegenwärtig sprang ich zurück. Aus seinen Augen sprach pure Mordlust! Er will dich töten!, warnte der Extrasinn. Ganz gleich, ob aus eigenem Wunsch oder durch Chapats Beeinflussung.
Ra wirbelte den Tropfstein geschickt durch die Luft, hielt das spitze Ende mit beiden Händen umklammert. Indem er sich mehrmals um die eigene Achse drehte, brachte er noch mehr Schwung in den Angriff. Keulengleich raste das dumpfe Ende auf mich zu. Ich duckte mich im letzten Augenblick, der Tropfstein pfiff dicht über mein Haar hinweg. Als Ra mit dem Stein die Felswand streifte, brach die Spitze ab. Ein grollendes Geräusch drang aus seiner Brust, die Stammesnarben auf seiner Stirn pulsierten. Ich wusste, dass der Barbar keinem Argument mehr zugänglich war, sondern bis zum Tod kämpfen würde. Ich dagegen wollte ihn nicht töten; hätte ich dergleichen vorgehabt, hätte ich nur den Kombistrahler zu ziehen brauchen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob seine jetzigen Handlungen der eigenen Motivation entsprangen. Ra
durfte nicht sterben, er gehörte zu uns. »Aiiieeeee!« Sein Kampfschrei dröhnte durch die Höhle, als er den abgebrochenen Tropfstein wie einen Rammbock benutzte und auf mich zustürmte, um mir die Brustplatte zu zerschmettern. Ischtar hatte sich aufgerichtet; ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, während sie Chapat an sich presste. »Nehmt endlich Vernunft an«, stieß sie hervor. »Ich könnt mich nicht festhalten. Ich muss euch verlassen, auch zu eurer eigenen Sicherheit.« Ra schien sie nicht zu hören, hielt nur kurz inne und funkelte mich an. Sein Mund verzerrte sich, erneut stieß er den Kampfschrei seiner steinzeitlichen Sippe aus. Aus seinem Bericht wusste ich, dass er so dem gefährlichen Wollnashorn gegenübergestanden hatte, nur mit einem Faustkeil bewaffnet, aber beseelt durch das unerschütterliche Vertrauen auf seine Kraft und Geschicklichkeit. Ich duckte mich blitzschnell und unterlief den Mann, erwischte die Beine. Ra gab einen verblüfften Ton von sich, als ich seine Knöchel mit stählernem Griff umfasste. Der Tropfstein polterte davon – das Ding krachte neben mir auf den Boden und zersplitterte. Während ich ihn mit einem Bein niederdrückte, fasste ich mit der Rechten nach seiner Schulter und bekam den Aufschlag seiner Kombination zu fassen. Ich riss ihn zurück, schmetterte ihm gleichzeitig die geballte Linke vors Kinn. Ich ließ ihn schwer atmend los, aber Ra schüttelte nur benommen den Kopf. Schwankend kam er wieder auf die Beine und stieß sich in meine Richtung ab. Ich ließ ihn gar nicht erst herankommen, sondern streckte den Arm aus, um ihn zwischen Schulter und Schlüsselbein zu packen. Mein Daumen presste sich in die Vertiefung, im Wissen, dass der Dagorgriff augenblicklich wirkte. Ra blieb stehen, als sei er
gegen eine Wand geprallt, dann sackte er ohnmächtig zusammen. Ich fing den schlaff werdenden Körper auf und hielt ihn fest. Ischtars Gesichtausdruck pendelte zwischen Abscheu, Zorn und Selbstmitleid. Ich sah sie nachdenklich an. Ich liebte diese Frau, Ra empfand ebenso. Und Chapat … Ich glaubte ein spöttisches Signal zu empfangen, war mir aber nicht sicher. Ich sagte nur kühl: »Komm mit zum Stützpunkt. Bevor du uns verlässt, solltest du uns eine Erklärung geben.«
Kraumon: 32. Prago des Dryhan, 10.499 da Ark Ischtar hatte sich keinen Augenblick von Chapat getrennt. Sie hielt das Kind im Arm und strich ihm mehrmals beruhigend über die Stirn. Mir fiel auf, dass die Schläfenadern unnatürlich aufgequollen aussahen und stark pulsierten. Starke Anspannung, behauptete der Extrasinn. Seine Kräfte und Fähigkeiten wachsen immer schneller. Ich ging davon aus, dass Chapat permanent mit seiner Mutter in Verbindung stand. Wie sehr er sie beeinflusste, wusste ich nicht, vermutete es aber. Ischtar stand vor der Bodenrampe des Ultraleichtkreuzers DIRRET, den wir für sie ausgerüstet hatten. Die freiwillige Besatzung, zu der auch der Con-Treh Bel Etir Baj gehörte, hatte von mir den Auftrag erhalten, alles für Ischtar zu tun und sie überall hinzubringen, wohin sie wollte. Ich ging davon aus, dass Ark’alor das erste Ziel sein sollte, denn dort befand sich das Beiboot der MONDSCHATTEN. Kommandant Gresta Hankort war zwar noch nicht lange auf Kraumon, aber er war ein hervorragender Kommandant. Morvoner bürgte für ihn, das sagte mir genug. »Weshalb willst du Kraumon verlassen?«, fragte ich. Ischtar seufzte. »Von Wollen kann keine Rede sein, Atlan.
Ich muss mit Chapat ins All starten. Unser Sohn hat eine Entwicklungsstufe erreicht, die besondere Maßnahmen erfordert. Ich muss ihn zu einer Welt bringen, auf der er unter angebrachten Bedingungen aufwachsen kann.« Viel schlauer war ich nach dieser Aussage nicht. Weshalb sollte Kraumon keine geeignete Welt sein? Uns stand jeder technische und medizinische Komfort zur Verfügung, den das Große Imperium zu bieten hatte. »Warum nicht Kraumon?«, begann ich ohne viel Hoffnung, Ischtar doch noch umstimmen zu können. »Was meinst du mit angebrachten Bedingungen, unter denen Chapat aufwachsen muss?« »Ich könnte dir jetzt einiges über varganische Entwicklungsprozesse verraten, Atlan, die bei Chapat durch sein Mischgenom noch verstärkt werden. Aber du würdest doch nur nach einer Möglichkeit suchen, mich in deiner Nähe zu behalten. Genau das aber ist unmöglich. Wir müssen uns wegen Chapat trennen.« Ich fasste ihre Schulter und zog sie an mich. Nur der Kleine befand sich trennend zwischen uns, von Ischtars Arm an die Brust gepresst. Ich lächelte bitter – die Varganin wusste es sofort zu deuten. »Ja, Atlan. Unser Sohn steht zwischen uns, im wahrsten Sinn des Wortes.« Lautlos war Fartuloon hinzugetreten; jetzt legte er schwer die Hand auf meine Schulter. »Quäl dich nicht unnötig. Ischtar ist fest entschlossen und hat ihre berechtigten Gründe. Mach es euch nicht schwerer, als es ohnehin ist.« Ich nickte schwermütig, sah Ischtar in die Augen. »Leb wohl! Pass auf Chapat auf. Gibt ein Lebenszeichen, sobald die Zeit reif ist; ich werde zu dir kommen.« »Das weiß ich, Atlan. Eines Tages werden wir uns wiedersehen.« Sie drehte sich abrupt um und eilte die Rampe hinauf. Ohne
sich noch einmal umzusehen, verschwand sie mit Chapat in der Schleuse. Kommandant Hankort grüßte, die letzten Besatzungsmitglieder gingen an Bord. In Gedanken versunken nahm ich im Gleiter Platz, der, von Fartuloon gesteuert, zum Raumhafenrand schwebte. Ich dachte an Ischtar, die Goldene Göttin, unsterbliche Varganin. Der Bauchaufschneider hielt an, ich drehte mich um. In diesem Augenblick hob das Sechzigmeterschiff mithilfe seiner Antigravprojektoren ab und stieg langsam auf. Kurze Stöße der Impulstriebwerke folgten, die DIRRET wurde schneller, raste dem wolkenverhangenen Himmel entgegen. Nieselregen setzte ein, während die Impulstriebwerke losdonnerten. Das Brausen der verdrängten Luftmassen rauschte und pfiff über das Landefeld, ein dumpfes Grollen erschütterte alle Zwerchfelle. In einiger Distanz entdeckte ich eine einsame Gestalt. Auch Ra hatte den Abflug Ischtars beobachtet. Er stand reglos da, hatte den Kopf in den Nacken gelegt, während die Arme schlaff herabhingen. Der zum leuchtenden Stern gewordene Raumer war längst verschwunden, doch der Barbar starrte weiterhin nach oben. Genauso hatte er vermutlich auf seiner Heimatwelt dem Oktaeder nachgesehen. Damals, als Ischtar den Planeten der steinzeitlichen Jäger besucht hatte und Ra erstmals begegnet war. Der erste Bericht des Barbaren stand mir vor Augen, genau wie meine erste Begegnung mit der Varganin. Wie Ra war ich vom ersten Augenblick an fasziniert gewesen. Er liebte sie mit dem Ungestüm des Barbaren, während zwischen mir und ihr eine Art Seelenverwandtschaft bestand – und mich hatte sie als Vater ihres Sohns ausgewählt. Plötzlich zuckte ich zusammen, weil ein stechender Schmerz durch mein Inneres fuhr. Chapat!, signalisierte der Extrasinn. Er verabschiedet sich auf seine Weise. Etwas wie ein höhnisches Gelächter hallte durch mein Bewusstsein; Chapat hatte mich angepeilt und strahlte seine
telepathischen Impulse mit schmerzhafter Intensität direkt in meine Gedanken. Niemand außer mir hörte es, Fartuloon interpretierte meine Erstarrung als Trennungsschmerz. Ich wusste es besser, fühlte den Ansatz von Verständnis durch mein Gehirn kriechen. Ja, es war besser, dass Chapat Kraumon verlassen hatte; wäre er geblieben, hätte er für uns alle zur Gefahr werden können, dessen war ich mir plötzlich sicher. Irgendwann verstummten die Impulse, machten Totenstille Platz. Ich sah mich um – niemand war mehr in der Nähe. Die Freunde wussten, dass ich jetzt allein sein wollte. Aus: Biographie Atlans – Anhang: Fragmente, Anmerkungen, Marginalien (in vielen Bereichen noch lückenhaft); Professor Dr. hist. Dr. phil. Cyr Abaelard Aescunnar; Gäa, ProvconFaust, 3565 n.Chr. … kehrte die DIRRET knapp einen Monat nach dem Aufbruch wieder nach Kraumon zurück. Wie von mir vermutet, war in der Tat Ark’alor das Ziel gewesen. Der Raumer hatte nicht einmal zu landen brauchen – während Bel Etir Baj mit einem Beiboot seine Heimatwelt anflog, reichte Ischtar ein kurzes, kodiertes Hypersignal, um die komplette Kontrolle über das Oktaederbeiboot zu gewinnen und den fein gesteuerten Start einzuleiten, den die Con-Treh nicht aufhalten konnten. Im All erfolgte dann das Rendezvousmanöver; die Varganin wechselte mit Chapat über, verabschiedete sich und war kurz darauf verschwunden. Fast 10.900 Jahre sollten vergehen, bis ich erneut von ihr und vor allem von Chapat hörte – aber das ist eine ganz andere Geschichte … ENDE
Nachwort Im Rahmen der insgesamt 850 Romane umfassenden ATLANHeftserie erschienen zwischen 1973 und 1977 unter dem Titel ATLAN-exklusiv – Der Held von Arkon zunächst im vierwöchentlichen (Bände 88 bis 126), dann im zweiwöchentlichen Wechsel mit den Abenteuern Im Auftrag der Menschheit (Bände 128 bis 176), danach im normalen wöchentlichen Rhythmus (Bände 177 bis 299) insgesamt 160 Romane, die nun in bearbeiteter Form als »Blaubücher« veröffentlicht werden. In Band 31 flossen, ungeachtet der notwendigen und möglichst sanften Eingriffe, Korrekturen, Kürzungen, Umstellungen und Ergänzungen, um aus fünf Einzelheften einen geschlossenen Roman zu machen, der dennoch dem ursprünglichen Flair möglichst nahekommen soll, folgende Hefte ein: Band 201 Die Höhlen von Magintor, Band 207 Der Kämpfer mit der Maske, Band 213 Komet der Geheimnisse – alle von Peter Terrid –, Band 218 Raumschiff der Meuterer von Clark Darlton sowie Band 219 Die Unterwelt von Varlakor von Kurt Mahr. Das letzte Kapitel ist aus Band 221 Duell auf der Totenwelt von Dirk Hess vorgezogen. Nachdem Atlan und seine Freunde dem Mikrokosmos der Varganen entkommen konnten und wieder das Standarduniversum erreicht haben, müssen sie im vorliegenden Roman 31 einen Weg zurück zu ihrem Rebellenstützpunkt auf Kraumon finden, ohne in die Hände von Orbanaschols Truppen zu fallen. Die dramatischen Ereignisse finden ihren Höhepunkt auf dem Stützpunktplaneten Varlakor, wo Prinzessin Crysalgira da Quertamagin den Tod findet. Unterdessen erlebt der Barbar Ra eigene Abenteuer im
Großen Imperium der Arkoniden: Auf dem Planeten Ark’alor begegnet er den rätselhaften Con-Treh und erfährt den Grund ihres Hasses auf alle Gonozals. Dieser hat seinen Ursprung in der Zeit, als das System der drei Arkonwelten auf Befehl von Imperator Gonozal III. errichtet und die wenig schmeichelhafte Umschreibung »Con-Treh-Schlappe« zum geflügelten Wort wurde. Schon vor Jahrtausenden begannen die Verwicklungen, in die seither die Con-Treh und die Familien der Quertamagin und Gonozal verstrickt waren. An der Seite des Con-Treh Bel Etir Baj erreicht Ra dann im Arkonsystem sogar die Handelswelt Arkon II und die Kristallwelt Arkon I. Hier muss der Barbar eine Reihe von Intrigen überstehen und wird schließlich mit dem Geheimnis des Kometen Blahur konfrontiert, das nicht nur für ihn eine faustdicke Überraschung darstellt. Die Ideen für die Ra-Trilogie stammten ursprünglich von Peter Terrid, die von Willi Voltz aufgegriffen wurden. Parallel zu Atlans Abenteuern im Mikrokosmos sollte hierbei auf Zusammenhänge in der Geschichte Arkons eingegangen werden. Peter Terrids Vorschläge gingen sogar noch weiter, wurden dann aber auf die drei Bände beschränkt, wie Voltz als Hinweis im Expose von Band 213 schrieb: Dies ist der letzte Band des Ra-Unterzyklus, der nach Ideen des Autors W. Ritter gestaltet wurde. Um einen vernünftigen Abschluss zu finden, habe ich die letzten Vorschläge W. Ritters nach eigenem Konzept geändert – wofür ich um Verständnis bitte. Mit Buch 31 findet auch die Varganen-Thematik insofern ihren Abschluss, als im letzten Kapitel Ischtar und Chapat aus dem Leben des jungen Atlan verschwinden. Jahrtausende wusste er nichts vom weiteren Schicksal der »Goldenen Göttin« und seines Sohns. Erst im Jahr 2844 – Atlan war nach seinen Abenteuern unter den Barbaren von Larsaf III und dem Zwischenspiel als Imperator von Arkon inzwischen
Lordadmiral der USO – sollte er Chapat unter dramatischen Umständen wieder begegnen. Verwickelt in diese Ereignisse war auch der USO-Spezialist Sinclair Marout Kennon, dem fortan eine besondere Rolle zugedacht sein sollte. Durch den Einfluss der Traummaschine in Atlans Jugendzeit materialisiert, lebte er als Lebo Axton im Arkonsystem und dem Großen Imperium der Arkoniden – und hat in diesem Buch bereits einen ersten kleinen Auftritt. Wie es dazu kam und welche Abenteuer er zu bestehen hat, werden wir ab dem nächsten Blauband erfahren. Wie stets gilt der Dank allen Helfern im Hintergrund – sowie Sabine Kropp und Klaus N. Frick. Rainer Castor