Kassandras Fluch
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 107 von Jason Dark, erschienen am 13.02.1990, Titelbild: Vicente B...
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Kassandras Fluch
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 107 von Jason Dark, erschienen am 13.02.1990, Titelbild: Vicente Ballestar
Aus drei Teilen hatte der Ring bestanden; sie mußte ich suchen, um ihn wieder zusammensetzen zu können. Ich fand sie und gab den Ring der Besitzerin zurück. Später erfuhr ich ihren Namen. Sie hieß Kassandra. Ich dachte mir nichts weiter dabei, denn wer schenkte schon den Flüchen oder Voraussagen einer Gestalt aus der griechischen Mythologie Glauben? Erst als die Welt am Rand einer Katastrophe stand, wußten wir, daß die Prophezeiungen wahr geworden waren...
DIE SUCHE
Ausgerechnet jetzt kam der Nebel! Irgendwo über dem Meer mußte er sich gebildet haben, war an den steilen Felsen hochgekrochen, um sich auf dem alten Friedhof auszubreiten wie ein riesiges, wogendes Leichentuch. Unser Pech . .. Ich unterdrückte einige Flüche. Suko, mein Freund und Kollege, der neben mir stand, schnitt Grimassen, die eigentlich auch alles sagten. Jedenfalls hatten wir damit nicht gerechnet und sahen die Grabsteine allmählich verschwimmen. »Den hat der Teufel geschickt«, flüsterte Suko. »Der will einfach nicht, daß wir gewinnen.« »Sonst wäre er nicht der Satan.« Suko verschluckte eine Bemerkung, schaute nach links, wo die halbzerfallenen Mauern eines alten Leichenhauses eine irgendwie schaurige Kulisse bildeten. Überhaupt glich dieser Friedhof einer idealen Kulisse für einen Gespenster-Film. Solche Wesen sollte es hier nicht geben, auch keine Geister, dafür einen anderen. Joaquim Spinosa! Ein Mann, von dem ich nicht viel wußte. Einige hielten ihn für tot, andere wiederum lachten kichernd und wissend, wenn sie das hörten. Sie behaupteten, Spinosa sei nicht tot gewesen. »Er lebt«, flüsterten sie. »Und wie er lebt. Mit der Kraft des Teufels existiert er. Er ist tot, und er ist nicht tot. Wißt ihr Bescheid?« Was immer Spinosa auch war, ob lebend, ob untot, wir hatten den Auftrag, ihn /um stellen und ihm vor allen Dingen etwas abzunehmen. Es war der dritte Teil eines Ringes. Aus drei Teilen bestand der Stein. Wir sollten die drei Teile finden und sie an einen bestimmten Platz bringen, aber soweit war es längst noch nicht. Bisherhatten wir nicht einmal das erste Drittel des Ringes gefunden. Angeblich sollte Spinosa ihn haben, und auf den warteten wir hier. War er tatsächlich ein Zombie, dann konnte er diesen Ort als idealen Unterschlupf bezeichnen. Jedenfalls wußten wir aus sicheren Quellen, daß er seine Finger in einigen Geschäften stecken hatte und hier im nordspanischen Baskenland einen Namen besaß, den viele Menschen fürchteten. Auf diesem Friedhof wurde niemand mehr begraben das hatte uns ein Kenner der Szene mitgeteilt, und wir sahen keinen Grund, ihm nicht zu glauben.
Mit dem Nebel kam die Kühle. Tagsüber war es warm gewesen, aber jetzt, wo sich der Nachmittag allmählich dem Ende zuneigte, zogen von Westen her zusätzlich Wolken auf, und der graue, träge Dunst bekam vom Meer her Nachschub. »Sollen wir die Gräber absuchen?« erkundigte sich Suko. »Toll, kannst du die Namen auf den Steinen lesen?« »Wenn ich mich anstrenge.« »Und Spinosa?« »Tot ist er ja nicht. . .« »Eben.« Suko schüttelte den Kopf, als er grinste und dabei noch sprach. »Zombies, lange Zeit haben wir mit ihnen nichts zu tun gehabt. Ich hatte schon vergessen, daß es sie gibt.« »Ist nicht jeder Vampir ein Zombie?« »Im Prinzip schon.« »Dann bleiben sie uns auch erhalten, Alter.« Und der Nebel nahm zu. Die Umgebung war längst in der bleichen Suppe verschwunden. Aus dem Tal her hörten wir einen schrillen Pfiff. Es war eine Lok, die sich bemerkbar machte, denn hinter dem Friedhof befand sich ein Bahnhof. Natürlich hielten wir uns allein auf dem Friedhof auf. Dennoch hatten wir das Gefühl, als würden irgendwelche Gestalten zwischen den Gräbern einherschleichen. Das aber konnte durchaus an den Nebelwolken liegen, die sich immer mehr verteilten. »Hat es Sinn, daß wir hier stehenbleiben und auf unseren lieben Freund warten?« Ich grinste Suko an. »Wenn du so sprichst, Alter, hast du einen Plan.« »Richtig. Wir sollten uns trennen und den Friedhof von zwei Seiten her untersuchen. Bleiben wir hier, werden wir kaum etwas entdecken können, das ist doch klar.« »Stimmt.« »Dann mach dich auf die Socken.« Suko steckte voller Aktivitäten und bewegte sich nach links weg. Ich schaute ihm so lange nach, bis er im Dunst verschwunden war, dann ging ich ebenfalls los. Der Dunst gab mir das Gefühl, überhaupt nicht den Boden zu berühren, sondern darüber hinwegzuschweben. Vor Jahren einmal mochte der Friedhof gut ausgesehen haben. Davon war nichts mehr übriggeblieben. Vergebens hielt ich nach Wegen oder Pfaden Ausschau. Im Laufe der langen Jahre waren sie zugewuchert. Jetzt wuchs dort nur Unkraut. Alte Grabsteine, manche schief im Boden steckend, als hätten die Kräfte eines Erdbebens an ihnen gezerrt.
Suko war zwischen den Mauern der alten Trauerhalle verschwunden, ich bewegte mich in die entgegengesetzte Richtung und blieb dort stehen, wo die Reste der Friedhofsumrandung aus der Erde wuchsen. Da hatte es einmal eine Mauer gegeben, jetzt aber war sie eingerissen und nur noch lückenhaft vorhanden wie ein schlechtes Gebiß. Der Friedhof lag ziemlich hoch, auf der Kuppe eines kleinen Hügels, wo die Erde eingeebnet worden war. Im Westen schlug die Brandung gegen die Steilküste. Bei normalem Wetter schallte das Donnern an den Felsen hoch, jetzt, wo der Nebel viele Geräusche schluckte, hörte ich die I ,aule als ein fernes Rauschen. Ich sah auch nicht die hellen Kämme der Wellen oder den Schaum der Brandung, nur die grauen Wolken, die weiterhin vom Meer heran den Felsen hinaufkletterten und alles verschlingen wollten. Wenn wir Spinosa faßten, dann ging es uns nicht in erster Linie um seine Person, sondern um den Teil des Rings. Wie wichtig er war, wußten wir nicht. Sir James hatte uns den Auftrag mit sehr ernst klingender Stimme gegeben und ihn auch als eine geheime Mission bezeichnet. Alles andere hatten wir zurückstellen müssen, nur um den Ring war es gegangen. Die drei Teile, in alle Winde verstreut, mußten gefunden werden und zusammenkommen. Die Stille kam mir irgendwie klebrig vor. Sie hüllte mich ein wie ein Umhang. Dabei war es nur der Nebel, der feucht an meinem Körper hochglitt und auch über die Haut kroch. Ich drehte mich wieder um. Es war keine bewußt gesteuerte Bewegung, einfach so, und da sah ich das Unheimliche. Vor mir bewegte sich ein Grabstein! Zuerst hielt ich es für eine Täuschung, bedingt durch den Nebel, aber ich blickte genauer hin und erkannte, daß der Grabstein tatsächlich wegkippte. Er fiel nach hinten, als hätte sich jemand unter ihm verborgen, der ihn anhob und kippte. Vor ihm, wo sich das Grab befand, tat sich plötzlich eine Lücke auf, als hätte man etwas zur Seite geschoben. Eine Luke, eine Klappe oder etwas Ähnliches, im Nebel kaum zu erkennen. Spinosa! Das konnte nur Joaquim Spinosa sein, der sich im Grab versteckt hielt. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, und wahrscheinlich hatte er mich nicht bemerkt, denn erdachte nichtdaran, seine Bemühungen zu stoppen, sondern sorgte dafür, daß der Grabstein umfiel. Da zog ich meine Waffe! Schräg richtete ich die Mündung der Beretta in die Tiefe. Wo sich einmal der Grabstein befunden hatte, sah ich jetzt ein viereckiges Loch, einen Ausgang, der das Ende eines Tunnels darstellte. Jedenfalls sah es so aus.
Kam er, kam er nicht? In den folgenden Sekunden konnte ich nur da stehen und warten. Die Zeit verstrich, der dichte Nebel schien sie sogar träger gemacht zu haben. Ich ging noch näher an die Öffnung heran und veränderte dabei auch den Schußwinkel der Waffe. Irgendwann mußte er doch kommen. Und er kam. Spinosa — ich ging davon aus, daß er es war — machte es sehr spannend. Er zeigte mir zunächst nicht sein Gesicht. Über den Rand der Luke krochen zwei Hände hinweg, wobei die Finger sich krümmten und förmlich in den Rand der Erde eingruben, um dort einen entsprechenden Halt zu bekommen. Bei dieser Sicht war es schwer, herauszufinden, ob es sich bei der aus der Tiefe steigenden Person um einen Zombie handelte. Die Finger konnten einer lebenden Leiche ebenso gehören wie einem völlig normalen Menschen. Ich mußte so lange abwarten, bis ich sein Gesicht und die Reaktion erlebte. Kraft besaß er, das mußte man ihm lassen. Sie steckte sogar in seinen Fingerspitzen. Nur ein leichtes Zittern war für mich zu sehen, als er sich mit einem letzten Ruck noch höher zerrte. Ich sah sein Gesicht! Wirklich ein Gesicht? Im ersten Moment war ich geschockt. Es erinnerte mich an eine bleich und kalkig geschminkte Maske, in der mit roter Farbe überstark Lippen nachgezogen waren und auch die Augen von der roten Schminke umlegt wurden. Für mich sah er schlimm aus und gleichzeitig anders als ein Zombie, der seine Heimat schon einige Monate tief in der feuchten Erde gehabt hatte. Das weiße Gesicht paßte sich den grauen Schwaden an. Irgendwie schien es dazuzugehören; es schwebte zwischen dem treibenden Dunst wie ein zuckender Fleck. Ich räusperte mir die Kehle frei und sprach ihn mit flüsternder Stimme an. »Komm raus, Spinosa! Los, raus mit dir!« Er tat zunächst nichts. Nur der Mund zog sich in die Breite, ließ einen zischenden Laut entweichen, der sich wie das Fauchen einer Katze anhörte. »Ich warte nicht lange!« Er sprach nicht, er nickte mir zu. Das reichte mir ebenfalls. Dann veränderte er die Lage seiner Hände, drehte sie und konnte sie in die feuchte Graberde drük-ken. So stemmte er sich hoch. Ich konzentrierte mich dabei auf diese Gestalt, die für Suko und mich so ungemein wichtig war. Dabei hätte ich lieber meine Umgebung im Auge behalten sollen, denn Spinosa bedeutete für mich keine Gefahr.
Als ich die dumpfen Schritte hörte, war es zu spät. Ich flog zwar herum, sah noch die eine dunkel gekleidete Gestalt, die auf mich zuhetzte, aber die zweite entdeckte ich nicht, weil sie sich in meinem Rücken aufhielt und reagierte. Sie schleuderte etwas. Es streifte mein Gesicht, gelangte an den Hals — und wurde zugezogen. Eine Seidenschlinge, dachte ich noch, dann verlor ich durch den heftigen Ruck den Boden unter den Füßen und prallte auf die harte, von der Sonne ausgetrocknete Friedhofserde... *** Luft bekam ich keine mehr. Wer immer die Schlinge geschleudert hatte, war ein Meister seines Fachs. Ich hielt den Mund weit geöffnet und röchelte . .. Inzwischen kletterte Joaquim Spinosa aus seinem Grabloch, ohne sich um mich zu kümmern. Ich bekam mit, daß er dunkle, verschmierte Kleidung trug. Ich besaß noch meine Waffe. Ein Schuß konnte ihn vielleicht erwischen, er würde auch Suko warnen. Ich feuerte über meinen Kopf hinweg, ohne den Kerl sehen zu können, und hoffte, daß ich ihn durch einen Zufallstreffer erwischte. Schon war der zweite da. Er trat zu, erwischte mein Handgelenk. Die Beretta verschwand irgendwo im Nebel, und Spinosa hatte es geschafft, das Grab zu verlassen. Der Druck im Kopf ließ mir fast die Augen aus den Höhlen treten. Spinosas zweiter Helfer zog unter seiner Kleidung ein Messer hervor. Mit einem gefährlich klingenden >Klick< schnellte die Klinge aus dem Griff. »John!« Sukos scharfer Ruf ließ nicht nur den Messerhelden erstarren, auch der Kerl hinter mir zerrte nicht mehr weiter. Leider ließ er nicht los, während ich versuchte, Finger zwischen die dünne Schlinge und die Haut an meinem Hals zu bringen, um einen kleinen Zwischenraum zu bekommen, der mir genügend Freiheit gab, einzuatmen. Der Messerheld kümmerte sich nicht um mich. Fr suchte nach Suko und huschte an mir vorbei. Spinosa stand wie erstarrt auf dem Fleck, dabei sichtlich irritiert. Dann fiel wieder ein Schuß. Ein Fluch folgte, dumpf klingende Schritte. Ich bekam dies mit, allerdings alles wie durch Watte gefiltert. Ich hörte das Blut in meinem Kopf rauschen, meldete mich allmählich aus dem Diesseits ab. Urplötzlich ließ der Druck nach. Der Messermann huschte an mir vorbei. Zugleich mit Spinosa setzte er sich in Bewegung, auch der andere Kerl nahm Reißaus.
Wieder bellte Sukos Beretta. Ich hatte mich auf die Seite gedreht. Im Dunst sah ich das kurze Aufleuchten des Mündungsfeuers und hatte erkennen können, wo Suko stand. Von den drei anderen war nichts mehr zu sehen. Möglicherweise hatten sie den Friedhof längst verlassen. Ich zerrte an der straff um meinen Hals liegenden Schlinge, lockerte sie auch und konnte sie schließlich über den Kopf streifen und tief durchatmen. Halb liegend, halb aufgestützt hatte ich den Kopf zur Seite gedieht und fing an zu würgen. Mit dem Luftholen bekam ich Schwierigkeiten, meine Arme zitterten. Ich hörte Suko, der sich nach meinem Befinden erkundigte, wobei ich ihm als Antwort nur ein Nicken gab. Einen Ton brachte ich nicht heraus. Ziemlich down stemmte ich mich auf die Beine. Etwas schwankend und zitternd blieb ich stehen, rang noch immer nach Luft und ging mit zögernden Schritten, dabei meinen Hals massierend und den Rücken durchbiegend, dorthin, wo ich meine Beretta vermutete. Ich fand sie auch. Beim Bücken überkam mich der Schwindel. Aus der grauen Nebelbrühe hörte ich dumpf klingende Schreie, aber keinen Schuß mehr. Ich mußte davon ausgehen, daß es den drei Gestalten gelungen war, die Flucht zu ergreifen und sich endgültig abzusetzen. Suko kehrte zurück. Wie ein Gespenst erschien er aus den wallenden Schleiern und fand mich an der offenen Luke stehend vor. Ich hatte die kleine Lampe hervorgeholt und strahlte hinein. Das Loch war nicht tief, aber ein Mensch konnte sich schon darin verbergen. Suko trat gegen den gekippten Grabstein. Dabei entstand ein hohl klingendes Geräusch. »Eine Attrappe, John, eine verdammte Attrappe. Toll gemacht, Señor Spinosa.« »Und wo ist er jetzt?« »Weg.« Ich massierte auch weiterhin meinen Hals. Suko leuchtete ihn an. »Da sind Streifen zu sehen.« »Klar, die Seidenschlinge hat mir überhaupt nicht in den Kram gepaßt. Zehn Sekunden länger . . .« ich verschluckte die nächsten Worte und dachte wieder an die Zukunft. »Hast du erkennen können, wohin sie gelaufen sind?« »Jedenfalls nahmen sie nicht den normalen Weg. Der fängt an der anderen Seite an.« »Aber sie liefen nach unten.« »Das schon.« »Dann werden wir den Weg ebenfalls nehmen.« »Den gleichen?« »Nein, mit dem Wagen.«
Mit dem Leih-Seat waren wir auch hochgefahren. Er parkte vor dem Friedhof und war auch nicht manipuliert worden. Suko wollte fahren, ich fühlte mich noch nicht fit. Immer wieder überkam mich ein Würgegefühl. Nur gut, daß wir wußten, mit wie vielen Gegnern wir es zu tun hatten. Drei waren es also — Spinosa und zwei Helfer. Suko ließ den Wagen auf den schmalen Pfad rollen. Auch hierher hatte der Nebel seinen Weg gefunden. Je tiefer wir fuhren, um so mehr verdichtete er sich. Die Wände rechts und links sahen wir nur als dunkle Schatten. Beide hatten wir das Gefühl, in eine wabernde Schlucht hineinzurollen. »Hast du erkennen können, um was es sich bei Spinosa handelt? Zombie oder Mensch?« »Keine Ahnung. Er hatte ein bleiches Gesicht und Lippen, die aussahen wie geschminkt. Der kam mir eher vor wie ein Clown.« »Ein Zombie-Clown«, sagte Suko sarkastisch. »Möglich.« »Glaubst du, daß wir sie packen?« »Wo denn?« »Unten in Plecia.« So hieß der kleine Ort, den wir als Ausgangsposition ansahen. »Was sollen sie dort?« »Keine Ahnung, Alter. Irgendwo müssen sie hin und ihre Flucht fortsetzen. Weißt du, mir geht der Bahnhof nicht aus dem Kopf. Könnte es sein, daß sie uns dort über den Weg laufen?« Ich lachte. »Da willst du also hin?« »Ja.« Ich hatte nichts dagegen. Ob Erfolg oder nicht, irgendwo müßten wir schließlich anfangen. Je mehr wir uns dem Tal näherten, um so breiter wurde der nicht asphaltierte Weg, der schließlich ganz verschwand und in einen Platz hin mündete, wo wir auch die ersten Menschen sahen, die sich innerhalb der Nebelsuppe wie fremde Wesen bewegten. Die normalen Geräusche klangen alle anders. Gedämpft, beinahe schon unheimlich. Das Fahren der Autos, die Stimmen der Menschen, Lind wir rollten im Schrittempo dahin. Ich hatte das rechte Seitenfenster nach unten gekurbelt, schaute mir den Betrieb an und hielt natürlich Ausschau nach den drei Flüchtlingen. Sie waren nicht zu sehen. Möglicherweise hatten sie auch die sichere Deckung der Nebelwolken ausgenutzt und waren schon längst auf dem Weg zum Bahnhof. Ich wandte mich wieder Suko zu. »Kennst du die Strecke?« fragte ich ihn. »Die zum Bahnhof?« »Sicher.« »Die habe ich noch im Kopf.«
Wir hatten uns zuvor in einem kleinen Küstenort umgesehen, durch den eine Schienenstrecke führte. Sie verband Plecia mit der großen Stadt Bilbao. An einer Kreuzung hielt Suko. Fr ließ einige Jugendliche vorbei, die lachend die Straße überquerten und in einem Fokal verschwanden, dessen bunte Reklame durch den Nebel verwaschen wirkte. Suko blinkte rechts und rollte in eine schmale Straße hinein, die auf die Gleise zuführte und kurz davor endete. Dort standen einige Lagerschuppen. Sie gruppierten sich um einen Platz, auf dem Container wirkten wie geduckte Baracken. Wir luhren nach links. Signallampen leuchteten wie geheimnisvolle Augen in der Nebelbrühe. In der Ferne tutete oder pfiff eine Lok. Dann rollte ein Zug an uns vorbei. Die Kette der Wagen sah aus wie eine Schlange aus Stahl und Glas. Fr hielt im Bahnhot. Wir stoppten davor. Ls gibt Bahnhöfe, die vermitteln einen nostalgischen Eindruck. Dieser hier gehörte mit seinem Bahnhofsgebäude aus Holz dazu. Dazu kam das schräge, vorspringende Dach, das durch starke Pfosten gestützt wurde. Das war schon so etwas wie eine WesternStation. Vor dem Bahnhof gab es genügend freie Parkplätze. Wir stellten den Seat mit dem Heck zum Gebäude hin ab und schauten uns nach den Einstiegen Lim. Der Zug war noch nicht abgefahren. Als wir das Gebäude betraten, durch das wir bis zu den Gleisen durchgehen mußten, schlugen die Türen der Wagen mit heftigen Geräuschen zu. Wenn die drei Flüchtlinge in dem Zug steckten, hatten wir das Nachsehen. Durch eine breite Glastür mit Holzumrandung erreichten wir den Bahnsteig und blieben stehen. Der Zug war bereits verschwunden. Nicht einmal die roten Schlußleuchten des Zuges sahen wir, dafür war der Nebel viel zu dicht. Ein fast leerer Bahnsteig breitete sich rechts und links aus. Es gab für den Personal verkehr nur zwei Bahnsteige, wovon einer überdacht war. Der Rangierbahnhof war viel größer. Vom Meer her flössen immer dichtere Nebeltücher heran und umschlangen die Umgebung mit ihren langen Armen. Hinter uns packten zwei Arbeiter Pakete und Gepäckstücke auf einen flachen Wagen, der von einer Elektromaschine gezogen wurde. Auf Gummirädern rollte dieser kleine Zug sanft an uns vorbei und verschwand durch ein offenstehendes Tor in einem Gepäckschuppen. SLiko ging einige Schritte zur Seite. Unter einer Normaluhr blieb er stehen. »Was hast du für ein Gefühl?« sprach ich ihn an. Er schaute in den Nebel. »Das kann ich dir nicht sagen, John, glaube aber, daß sie noch nicht verschwunden sind. Du hast sie mir
beschrieben: Die fallen in einem Personenzug mit Sicherheit auf. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihnen so etwas gefallen würde.« »Das meine ich auch.« Suko blieb unter der runden Uhr stehen, während ich den Fahrplan studierte. Ich verglich das Gedruckte mit der jetzigen Zeit und stellte fest, daß der nächste Zug erst in vierzig Minuten eintreffen würde. Das war zu lang, wie auch Suko fand, aber er kam mit einem Einwand. »Du sprichst dabei von einem Personenzug, John. Die Güterzüge sind nicht aufgeführt — oder?« »Nein.« »Sie sollten wir aber in unsere Rechnung mit einbeziehen. Ich werde mich mal erkundigen.« Suko verschwand im Stationsgebäude. Ich schob die Hände in die Taschen und wartete. Es war kälter geworden. Bei der hohen Luftfeuchtigkeit spürte man es besonders. Ich schaute über den Bahnsteig hinweg, sah die zahlreichen Gleise, auf denen Güterzüge zusammengestellt wurden. Man hörte die für einen Rangierbetrieb typischen Geräusche: Gleisquietschen, Aufprallgeräusche, Bremsen, das Anfahren von Lokomotiven. Suko kehrte zurück. Er nickte mir zu und blickte dabei auf seine Uhr. »In fünf Minuten wird ein Güterzug halten. Man hängt noch einen Wagen mit Holz an.« »Das könnte eine Chance sein«, murmelte ich. »Da ist der Wagen.« Suko deutete nach rechts, wo eine Lok den flachen, mit Baumstämmen beladenen Waggon auf ein Nebengleis schob, das durch eine Weiche mit dem Hauptgleis verbunden war, wo der Güterzug halten würde. Und er kam. Wenn mich nicht alles täuschte, war er sogar zu früh. Von den drei Gestalten hatten wir nichts gesehen, dabei mußten wir Spinosa unbedingt einfangen, um den dritten Teil des Rings zu bekommen. Noch immer klangen mir die sehr ernsten Worte unseres Chefs in den Ohren. Leider hatte er nicht gesagt, was es für eine Bewandtnis mit dem verfluchten Ring hatte. Die schwere Lok lief in den Bahnhof ein, verlor rasch an Geschwindigkeit. Wir konnten wieder einmal feststellen, daß ein Güterzug gar nicht so langsam fuhr, wie es oft aus der Ferne aussah. Dahinter steckte schon eine immense Kraft. Geschlossene und offene Wagen wechselten sich ab. Unter unseren Füßen vibrierte der Boden. Wind, der einige Nebelschwaden zerfetzt hatte, wehte gegen unsere Gesichter. Dann hielt der Zug.
Weit draußen stand die Lok. Eine andere brachte den mit Baumstämmen beladenen Wagen an das Ende des Zugs. Die Stämme waren durch Ketten gesichert, so daß sie sich nicht selbständig machen konnten. Wir hatten unseren Platz nicht verlassen. Ich schaute nach rechts, wo der neue Wagen angekoppelt wurde. Sukos Blicke glitten in der anderen Richtung über den Zug. »Eigentlich hätte sich einer von uns an der anderen Seite aufstellen müssen«, meinte er. »Sorry, zu spät.« Der letzte Wagen war angekoppelt. Der Rangierer gab dem Lokführer das Zeichen, daß die Arbeit beendet war. Der Zug hatte Ausfahrt und setzte sich langsam in Bewegung. Wir gingen einige Schritte vor bis dicht an den Rand des Bahnsteigs. Ich hatte längst etwas von der Spannung erfahren, die in mir hochgestiegen war. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, daß in den nächsten Sekunden etwas passieren mußte. Und es passierte etwas. Der letzte Waggon näherte sich uns. Die aufgeladenen Baumstämme glichen einem liegenden Ungeheuer, auf dem jedoch einige Gestalten umherturnten und sich jetzt duckten, weil sie das Gleichgewicht nicht verlieren wollten. »Verdammt, das sind sie!« schrie ich. Auch Suko hatte sie gesehen. Er lief bereits los, parallel zum fahrenden Zug. Wollten wir Spinosa schnappen, gab es für uns nur eine Chance. Den schon fahrenden Zug entern und die Kerle dort wegholen . .. Das war etwas für einen Stuntman, der diese Dinger locker in Szene setzte. Leider waren wir in dem Beruf nicht ausgebildet, und wir mußten auf unser Glück hoffen. Ob die drei Gestalten uns gesehen hatten, wußten weder Suko noch ich. Mein Freund hatte es schon geschafft. Vor mir packte er die Außenstange eines Güterwagens. Sie war neben den Stahlstufen angebracht und als Aufsteighilfe und Geländer gedacht. »Los, John!« brüllte er mir zu. Hinter mir hörte ich ebenfalls Schreie. Es waren die Rufe des Rangierers, der uns vor irgendwas warnen wollte. Suko streckte mir die Hand entgegen, um mich, wenn nötig, zu unterstützen. Es war nicht einfach. Beim ersten Greifen schon mußte ich die Stange erwischen, stieß mich ab, packte zu, hatte sie, spürte gleichzeitig ihre Glätte und hatte das Gefühl, den rechten Arm zu verlieren, so heftig war der Ruck in der Schulter. Ich ließ nicht los, schwang die Füße hoch und drehte mich, so daß ich mit dem Rücken gegen Suko stieß, der mich an der Schulter festhielt. Dann stand ich auch schon auf dem Rungenwagen, atmete erst einmal durch und hoffte, daß dieses Zittern im rechten Arm aufhören würde.
»Gut gemacht, John.« »Hör auf.« Ich wischte mir Nässe und Schweiß aus der Stirn, bevor ich mich umdrehte. Mein Blick fiel auf die Baumstämme. Wie übereinan-dergestapelte runde Scheiben ohne Augen glotzten sie mich an, vibrierten leicht, obwohl sie von starken Ketten gehalten wurden. Der Zug hatte den Bahnhof längst verlassen und rollte hinein in die nebelschwangere Dämmerung. »Siehst du sie, John?« »Nein.« »Wir müssen trotzdem hoch.« Ich sagte nichts und schaute mir die Sohlen der Schuhe an. Zum Glück zeigten sie ein Riffelmuster, sie besaßen also Profil, das uns halten konnte. Mit normalen Ledersohlen hätte ich es nicht gewagt, auf die Ladung zu klettern. »Packen wir's?« Ich verzog die Lippen. »Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, schätze ich.« »Der Ring ist eben zu wichtig.« Ich gab die Bemerkung spöttisch von mir. Irgendwo war ich auch wütend, weil ich nicht wußte, um was es da ging. Zwischen dem Kopf des Wagens und den Stämmen existierte ein genügend freier Platz, durch den wir uns schieben konnten. Daß der Güterwagen nicht so komfortabel gefedert war wie ein Intercity, erfuhren wir bei jedem Rucken neu. »Ich mache den Anfang!« erklärte ich. »Gib du mir die entsprechende Rückendeckung.« Suko nickte. Er zog seine Beretta, wobei ich mir bereits einen Stamm aussuchte, von dem ich auf die Rücken der anderen hochhangeln konnte. Das war nicht gerade einfach, weil sie so ziemlich die gleiche Länge besaßen. Ich stieß mich ab. Mit beiden Armen umklammerte ich den Stamm, der am weitesten vorstand. Jetzt war ich über die Rinde froh. Wäre sie schon geschält worden, hätte sie mir den Halt nicht geben können. Trotzdem hingen meine Beine in der Luft. Der Wind fegte mir schräg ins Gesicht, und ich nahm den Geruch des frisch geschlagenen Holzes wahr, der auch den Nebel durchwehte. Suko umfaßte meine Beine, preßte sie zusammen und drückte mich in die Höhe. Es tat gut, seine Unterstützung zu spüren, so kam ich fast ohne Schwierigkeiten auf die Rücken der Baumstämme. Man hatte mich schon erwartet.
Ob Zufall oder nicht, jedenfalls erschien einer der Kerle dicht vor mir und hatte schon den rechten Arm gehoben, um mir die Faust auf den Kopf zu dreschen. Durch Sukos Unterstützung war ich schneller. Er hielt mich noch immer. Ich löste den rechten Arm, holte dabei aus und schlug zu. Der Kerl bekam meine Handkante gegen den Hals. Schreien hörte ich ihn nicht, aber er rutschte weg und blieb in einer Mulde liegen. »Sie warten schon!« brüllte ich Suko zu, bekam Schwung und landete auf den Stämmen. Der Kerl war dabei, sich zu erheben, als ihn mein kurzer Tritt erwischte. Diesmal half ihm nichts mehr. Er riß die Arme hoch, fiel zurück und verschwand. Es sah so aus, als hätte ihn der Fahrtwind einfach weggerissen und irgendwo ins Leere geschleudert. »Hast du ihn, John?« »Ja.« »Dann komme ich.« »Okay.« Ich konnte meinen Freund leider nicht unterstützen, denn meine Aktion war nicht unbemerkt geblieben. Nummer zwei erschien. Geduckt kam er näher, ziemlich breitbeinig, weil er Mühe hatte, sich auf der schwankenden Ladung zu halten. Nebelfetzen umwehten ihn, sahen aus wie abgerissene und zerfetzte Tücher. In der Rechten hielt er das Messer. Die Klinge starrte böse aus seiner geschlossenen Faust hervor. Ich blieb nicht stehen. Ebenso geduckt ging ich ihm entgegen, zog die Beretta, hatte aber Mühe, wegen der Schwankungen auf ihn zu zielen. Gegen den Fahrtwind brüllte ich ihn an. »Weg mit dem Messer!« Er tat mir den Gefallen nicht. Statt dessen rutschte er mit dem rechten Bein weg, fiel, landete auf dem Rük-ken, und ich dachte, schon gewonnen zu haben. Da schleuderte er die Klinge. So schnell, daß ich nicht hatte ausweichen können. Mich rettete die Gleisstrecke oder eine lange Kurve, in die wir soeben einfuhren. Das Messer bekam eine andere Richtung, wischte schattenhaft an mir vorbei und verschwand im Nebel. Ich hörte ihn fluchen. Er kam wieder hoch. Sein Gesicht war böse verzerrt, gezeichnet von Zorn und Haß. Seine Augen glänzten kalt, und als er wieder in die Tasche griff, war ich schneller. Er hatte die Hand noch nicht hervorgeholt, als ich bereits zuschlug. Diesmal mit der Waffe. Ich wollte ihn lebend. Der Lauf traf ihn an der Stirn und riß dort eine Wunde. Erstaunt glotzte er mich für einen Moment an, bevor er nach hinten kippte und in einer Mulde zwischen den Stämmen liegenblieb.
Ein Untoter war er nicht, wahrscheinlich ein gedungener Killer oder Leibwächter. Leibwächter für Spinosa. Ihn hatten wir auf dem Zug noch nicht entdeckt. Suko erschien ebenfalls, sah den Bewußtlosen und grinste mir zu. »Spinosa habe ich nicht gesehen!« rief ich. »Wir holen ihn trotzdem.« Er deutete nach vorn. »Sieh mal zu, daß du darüber hinwegkommst.« »Klar doch, jahrelang selbst Baumstamm gewesen.« So locker, wie ich sprach, war ich überhaupt nicht. Aufrecht auf ihnen zu gehen, würde mir nicht gelingen. Ich war kein Artist. Außerdem befanden sie sich in ständiger Bewegung und zitterten, solange der Zug fuhr. An den Seiten hervorschauende kleine Äste bildeten außerdem Stolperfallen. Suko war einige Schritte vorgegangen. Ich blieb in seiner Spur, die er breitbeinig zeichnete. Auf einmal blieb er stehen, beugte sich dabei nach vorn und stützte sich noch mit den Händen ab. »Was hast du?« Er drehte nur den Kopf. »John, ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich habe das Gefühl, als würde die verfluchte Ladung allmählich ins Rutschen kommen.« »Mach keinen Mist.« »Doch, zum Teufel!« »Und wieso?« »Keine Ahnung.« Dieser schnell gesprochene Dialog hatte nur wenige Sekunden gedauert, aber Suko hatte recht, verflixt. Auch unter meinen Füßen spürte ich die >Unruhe< der Stämme. Gezittert hatten sie schon immer, nun waren sie ins Rollen und Schwanken geraten, so daß sie einmal nach rechts und im folgenden Augenblick nach links schleuderten, als würden Hände an ihnen zerren. Das war überhaupt nicht gut. »Kannst du denn was erkennen?« Suko starrte nach vorn. »Nein!« Keiner von uns traute sich, den Weg fortzusetzen. Ich war sicher, daß es einzig und allein auf die nächsten Sekunden ankam. Plötzlich schwammen wir. Sie kennen sicher alle das Gefühl, wenn sich der Boden plötzlich unter den Füßen bewegt und einfach wegschwimmt. So war es auch hier. Ob alle Stämme in Bewegung geraten waren, konnte ich nicht sagen, jedenfalls schleuderten die oberen schon hin und her, und wir hörten auch ein leises Klirren. Mich durchzuckte es wie ein Blitzstrahl. Mit meiner Warnung kam ich Suko zuvor. »Verdammt, die Ketten! Jemand muß sie gelockert haben. Es gibt keine andere Möglichkeit!«
»Spinosa!« knirschte Suko voller Wut. »Dieser verdammte Teufel hat es geschafft. Wir müssen weiter, John, bevor hier alles zusammenbricht. Noch haben wir eine Chance.« Da hatte Suko ein wahres Wort gesprochen. Der Weg bis zum vorletzten Wagen würde für uns zu einem lebensgefährlichen Tanz auf dem Vulkan werden, das stand fest. Halb aufgerichtet und breitbeinig schritt mein Freund voran. Diesmal schneller. Beide schwankten wir wie Halme im Wind, hatten die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht halten zu können, stemmten uns seitlich mit den Sohlen gegen die Stämme, die immer stärker schwangen, wobei wir schon ein loses Kettenende wie eine huschende Schlange über die Oberseiten der Stämme hinweghuschen sahen. Jetzt lag der Fall endgültig klar. Da hatte sich jemand an der Kette zu schaffen gemacht. Links rutschte der erste Stamm weg. Die anderen gaben ebenfalls nach. Mich durchfuhr ein glühender Schreck, als ich sah, wie Suko auch in diese Richtung wegkippte, sich glücklicherweise noch fangen konnte und mit zwei Sprüngen fast das Ende des Wagens erreichte. So weit war ich noch nicht. Wie ein Tänzer glitt ich über die dicken Baumstämme hinweg, kämpfte ständig mit dem Gleichgewicht und hörte hinter mir ein grollendes Rumpeln, als die schweren Baumstämme, schon stark gelockert, gegeneinan-derstießen, als wollten sie ausprobieren, wer der Stärkere unter ihnen war. »Auf die Plattform, John!« rief der Inspektor. »Wir müssen auf die kleine Plattform.« »Okay, los!« Er sprang nicht, er drehte sich und ließ sich dabei nach unten gleiten. Als er aus meinem Sichtbereich verschwand, hatte ich Angst bekommen und suchte auch nach Spinosa, sah ihn leider nicht. Ich folgte Suko. Urplötzlich bekam ich einen Schlag, der meine Beine auseinanderriß, weil sich die Stämme unter mir lösten. Ich wäre nach hinten gefallen und mitgerissen worden, denn die ersten rollten bereits über den Rand des Waggons hinweg, doch mit einem verzweifelten Sprung schleuderte ich meinen Körper nach vorn, kippte über, rutschte in die Tiefe und spürte Sukos starke Hände. Auf der Plattform hatte er einen relativ guten Halt gefunden, so konnte er mich abstützen. Hinter uns brach eine wahre Hölle los, denn der flache Wagen verlor seine gesamte Ladung. Wir sahen nicht, wie die einzelnen Stämme kippten. Wir klammerten uns fest, denn der gesamte Waggon geriet in schwere Schwingungen, so daß ich schon Angst bekam, er würde aus der Spur kippen und umfallen.
Schattenhaft bekamen wir mit, wie Stämme zur Seite geschleudert wurden. Rechts und links von uns tickten sie zu Boden. Dann war der Spuk vorbei. Wir atmeten beide tief durch, preßten uns mit dem Rücken gegen eine Metallwand und atmeten scharf durch. Über mein Gesicht rann ein Schauer. Ich schaute nach vorn, wo sich die Rückseite des zweitletzten Waggons vor uns abhob. Es war ein geschlossener Wagen mit einem etwas abgerundeten Dach und breiten Schiebetüren an den Seiten. »Spinosa?« schrie ich gegen den scharfen Fahrtwind, der uns umheulte. »Wir müssen ihn packen!« Suko nickte. »Aber wo?« Ich zeigte auf den Wagen. Mein Freund nickte. »Die Leiter, John, und erst über die beiden Puffer. Okay?« »Klar.« Diesmal ging ich als erster. Ich holte noch einmal tief Luft. Auch die beiden Puffer zitterten und tickten gegeneinander. Ich wagte es. Mit zwei Schritten hatte ich den Raum zwischen den Wagen hinter mich gebracht, war auch nicht abgerutscht und klammerte mich an der Leiter fest, an deren Sprossen ich hochkletterte und mich erst umdrehte, als ich die Dachhöhe erreicht hatte. Suko winkte mir zu und nahm den gleichen Weg. Ich schaute bereits über das Dach hinweg und war enttäuscht, weil ich Joacjuim Spinosa nicht entdeckte. Er hatte sich geschickt verkrochen, war bestimmt schon weitergelaufen. »Und?« Ich drehte mich um. »Wahrscheinlich müssen wirauf den nächsten oder übernächsten Wagen.« »Mist!« schimpfte Suko. »Ich hoffe nur, daß er nicht abgesprungen ist, dann sind wir die Gelackmeierten.« »Weiter.« Mich hatte so etwas wie Jagdfieber gepackt. Die Beklemmung war verschwunden. Auf Händen und Füßen gelangte ich auf das Dach und bewegte mich auch in dieser Haltung weiter. Die Bohlen, in bestimmten Abständen durch Eisenbänder verstärkt, waren naß und glitschig. Immer wieder mußte ich kleine Pausen einlegen, besonders dann, wenn der Zug zu sehr schwankte. Von der eigentlichen Gegend oder Landschaft sah ich so gut wie nichts. Wir rasten durch eine dicke Wand aus grauem Nebel, die kein Ende zu nehmen schien. Vom Dach aus gelang es mir, in den drittletzten Wagen zu schauen, er war oben offen. Eine Ladung war zwar auch vorhanden, nur konnte ich nicht ausmachen, um was es sich dabei handelte. Vielleicht Kohlen oder
Schotter. Jedenfalls war der Waggon nur zur Hälfte gefüllt, und cier Inhalt verschwamm wie unter grauen Streifen. Trotzdem sah ich die Bewegung. Auf der Ladung kletterte jemand herum. Das konnte nur Joaquim Spinosa sein. »Suko, ich habe ihn!« Nach diesen Worten rannte ich los. Was der Kerl geschafft hatte, mußte auch mir gelingen, und zwar, von einem Wagen in den anderen zu springen. Der Abstand zwischen ihnen war nicht besonders groß. Kurz vordem Ende des geschlossenen Waggons richtete ich mich auf, prüfte noch einmal meinen Halt, war zufrieden und stieß mich so kräftig wie möglich ab. Für eine kurze, mir aber lang vorkommende Zeit schwebte ich zwischen den beiden Waggons. Ich schaute dabei nach unten und bekam sogar mit, wie sich Spinosa aufrichtete. Er starrte mich an, denn erst in diesem Augenblick hatte er mich gesehen. Mit beiden Füßen voran landete ich auf der Ladung. Ich stach förmlich in sie hinein, denn sie gab unter dem Druck meines Körpers nach. Es waren keine Kohlenstücke, die der Waggon geladen hatte, sondern kleine Steine. Bis zu den Schienbeinen sackte ich ein. Geschafft! Auch Spinosa stand auf einem Splitthügel. Er wußte nicht, was er machen sollte. Noch immer zeigte sein Gesicht diese unnatürlich helle Farbe. Den roten Mund hatte er verzogen. Eine bitterböse Fratze. Eine Waffe sah ich nicht bei ihm. Als ich hinter mir Sukos Ruf hörte, griff ich Spinosa an. Trotz der weichen Unterlage kam ich gut weg. Meine Faust rammte gegen seine Brust und stieß ihn zurück. Splitt umwühlte uns. Spinosa war mit dem Rücken gegen die Wagenwand geschlagen. Er traf auch keine Anstalten, sich wieder aufzurichten und gegen uns vorzugehen. Erstarrte uns an und mußte dabei in die Mündungen der Berettas glotzen. »Aus«, sagte ich, »es ist aus, Spinosa!« Sein Gesicht bewegte sich, als wäre es aus Gummi. »Hat sie mich endlich gefunden?« »Wer?« »Na sie.« »Ich weiß nicht, von wem Sie reden!« Er lachte brüllend. »Sie ist schlau, sie ist raffiniert, sie ist so verdammt. . .« Ein Hustenanfall unterbrach ihn. »Den Ring, Spinosa!« erklärte Suko, »wir wollen den Ring. Geben Sie ihn uns freiwillig?«
Er ging überhaupt nicht auf die Frage ein. »Schaut mich an!« keuchte er, »schaut mich an.« »Das tun wir schon die ganze Zeit.« »Fällt euch etwas auf?« Diesmal antwortete ich, schrie gegen den Wind an, der von allen Seiten in den oben offenen Wagen hineinheulte. »Ihr Gesicht ist weiß, Spinosa, unnatürlich weiß.« »Schön!« kreischte er, »schön. Das hat seinen Grund. Ich werde ihn euch zeigen!« Er hob beide Arme. Da wir in seinen Händen keine Waffe sahen, blieben wir gelassen. Diese Gelassenheit verging uns allerdings rasch, als wir mitbekamen, was er vorhatte. Er hatte die Finger gespreizt, drückte die Spitzen von zwei Seiten gegen sein Gesicht. Er krallte sich fest. Vor unseren entsetzt geöffneten Augen zog er sich die Haut vom Gesicht ab. Zurück blieb eine blutige Masse, durch die helle Knochen schimmerten. »Das bin ich!« brüllte er. »Das bin ich . . .« Es waren seine letzten Worte, bevor er zur Seite kippte und mit dem, was einmal sein Gesicht gewesen war, zuerst in den Splitt fiel. Er rührte sich nicht mehr. Zugleich waren wir bei ihm, nahmen eine kurze Untersuchung vor, und Suko schüttelte den Kopf. »John, er ist tot. Verflixt, kannst du das verstehen?« »Nein.« Spinosa war nicht mehr am Leben, das stand fest. Er konnte es auch nicht sein, wenn ich mir das Gesicht anschaute. Dann untersuchte ich die weiße Maske, die er getragen hatte. Sie fühlte sich tatsächlich wie eine dünne Gummihaut an. Ich wollte es genau wissen, nahm mein Kreuz und hielt es dagegen. Das heftige Zischen ließ mich hastig zurückfahren. Stinkender Rauch quoll in die Höhe und vermischte sich mit den grauen Nebelschleiern, ich verstand die Welt nicht mehr. »Eine dämonische Maske«, sagte Suko, der auf die qualmenden Reste schaute. »Ja — aber woher hat er sie?« »Keine Ahnung.« Vor Wut ballte ich die linke Faust. »Wenn uns Sir James nur richtig eingeweiht hätte, zum Henker!« Der Inspektor hob nur die Schultern. »Er wird seine Gründe gehabt haben. Schau nach dem Ring.« Das tat ich und fand ihn in der rechten Hosentasche des loten. Die Fassung selbst brauchten wir nicht zu suchen. Sir James wares allein um den Stein gegangen.
Ein Drittel davon hielt ich in der Hand und schaute ihn mir sehr genau an. Der Stein zeigte eine ovale Form, wobei er an seinen Enden jedoch spitzer zulief, ohne allerdings so spitz zu sein, daß er in die Haut stechen würde. Im Licht von Sukos Lampe sahen wir uns die Farbe an. Sie schimmerte beigegrün, obwohl das Feil auch etwas Perlmuttartiges besaß. »Nun?« fragte Suko, »ungewöhnlich?« »Das kannst du wohl sagen.« »Dann steck ihn ein.« Ich verstaute ihn sorgfältig in meiner Brieftasche. Suko lehnte an der Wand und grinste mich an. »Ich würde vorschlagen, daß wir diesen gastlichen Zug verlassen.« »Zwischendurch?« »Meinetwegen.« »Nein, wir werden bis zum nächsten Halt warten und dort mit der Polizei reden. Man hat sowieso gesehen, daß wir auf den Zug geklettert sind. Außerdem habe ich keine Lust, mich von der spanischen Polizei jagen zu lassen.« »Dann mußt du bis Bilbao warten.« »Ist mir auch egal.« Etwa eine Stunde später, es war längst dunkel geworden, erreichten wir den Ort und meldeten uns bei den spanischen Kollegen, die mehr als große Augen bekamen, als sie uns sahen. Schließlich — schon in den frühen Morgenstunden — erschien ein hoher Beamter, der auch Sir James kannte. Die beiden telefonierten miteinander, bevor wir mit unserem Chef sprachen, der aufatmete, als erhörte, daß wir es geschafft hatten. »Ein Drittel haben wir, Sir!« »Wunderbar, jetzt brauchen Sie sich nur noch die beiden anderen Teile zu holen.« »Und wo?« »Das sage ich Ihnen, wenn Sie hier sind...« *** Istanbul! Stadt am Goldenen Horn, Ort mit einer wechselvollen, interessanten, aber auch blutigen Geschichte. Tor zwischen Europa und Asien, Schmelztopf zweier Kulturen, ein Hexenkessel, der niemals zur Ruhe kam und immer weiter brodelte. Wir waren da, denn hier sollten wir den zweiten Teil des Steins finden und abliefern. Es gab Spuren, wenige nur, aber sie mußten uns einfach reichen, wie Sir James erklärt hatte. Die Informationen hatte er uns
zusammen mit den Flugtickets gegeben, und abermals hatte er sich sehr zurückhaltend gezeigt und auf unsere Fragen kaum Antworten gegeben. »Finden Sie die zweite Hälfte des Rings und liefern Sie ihn ab.« »Und wo befindet sich das letzte Drittel?« hatte ich wissen wollen. »Das erkläre ich Ihnen, wenn Sie zurück sind.« So waren wir dann aus seinem Büro geschlichen wie Schulbuben, die vom Direktor getadelt worden waren. Wütend und frustriert, selbst Glenda Perkins hatte uns nicht aufheitern können, zudem war sie nicht eingeweiht. Sir James hätte sich gehütet, sie einzuweihen. Sie wünschte uns eine gute Reise und eine glückliche Rückkehr. Jetzt steckten wir in der Stadt am Goldenen Horn und erlebten sie als Horror. Ich meine damit nicht die Stadt, sondern das Klima, das zwischen den Häusern, den Plätzen in den Straßen und Gassen regelrecht festhing. Dumpf, schwül, die Luft stand, war angefüllt mit Gerüchen, die uns als nie abreißender Schwall entgegenwehten. Wir wurden von ihnen eingehüllt. Immer wenn wir Luft holten, hatten wir den Eindruck, etwas zu essen. Nicht nur die Gerüche umgaben uns. Die gesamte Altstadt bildete einen klebrigen Wirrwarr aus Stimmen, Lärm, Gestank, grellem Licht, bunten Farben, Ausdünstungen der Menschen, die sich durch schmale Gassen schoben, wobei sich Einheimische und Touristen vermischten — letztere blieben vor den Werkstätten der Handwerker stehen —, die sich nicht aus der Ruhe bringen ließen und weiterhin hämmerten, schnitzten, gravierten, webten oder stickten. Istanbuls Bazar gab dem Fremden einen ersten tiefen Einblick in das Leben des Orients, wobei auch der europäische Einfluß nicht zu übersehen war. Viele Frauen liefen unverschleiert und gaben sich sehr selbstsicher, was sie auch durch ihre Kleidung demonstrierten. Wir waren unterwegs, um ein Lokal ausfindig zu machen, allerdings nicht, um zu essen oder zu trinken. Uns ging es um eine Frau, die Fatima hieß und zu den besten Bauchtänzerinnen gehören sollte, die Istanbul aufzuweisen hatte. Sir James hatte uns erklärt, daß Fatima die Spur zum zweiten Teil des Rings war. Alles andere mußten wir selbst erledigen. Beide hofften wir, daß uns eine Hetzjagd wie zuletzt im Baskenland erspart bleiben würde. Die Altstadt kochte am frühen Abend. Ich sah in verschwitzte Gesichter, tauchte ein in dumpfe Tunnel aus Knoblauchgerüchen, hörte die fremd klingende Musik der einheimischen Folklore, wurde von Schleppern angesprochen, die mir die tollsten Erlebnisse im Harem versprachen oder mich in gewisse Männerclubs und Bäder bringen wollten. Ich winkte nur ab, ging weiter und wußte, daß Suko einen Schritt hinter mir ging und mir gewissermaßen den Rücken freihielt.
Auf der Hut waren wir immer, weil wir nicht wußten, ob sich unser Kommen bereits herumgesprochen hatte. Es konnte durchaus sein, daß man bereits auf uns lauerte, denn Sir James hatte von einer weltweiten und gefährlichen Organisation gesprochen, aber nicht erklärt, wer nun tatsächlich dahintersteckte. An einer Kreuzung blieben wir stehen. Rechts führte eine Gasse bergauf, hin und wieder von breiten Stufen unterbrochen, die als Gehhilfe dienten. Ein Übergang fiel uns auf. Er war angelegt wie ein Torbogen. Menschen standen dort und schauten in die schluchtartige Tiefe zwischen den Häusern. »Hier muß es doch irgendwo sein«, murmelte Suko. »Ja . . .« Ich ließ meinen Blick wandern. Lokale gab es genug. Jedes bot angeblich andere Attraktionen, und der Bauchtanz wurde überall gepflegt. Er war sowieso >in< geworden und hatte seine angestammte Heimat verlassen. Wie eine Woge war er übergeschwappt nach Mitteleuropa. Frauen übten sich im Bauchtanz, die Kurse waren ausgebucht, es gab Wartezeiten. Suko hielt einen Mann an, der mitteleuropäisch gekleidet war und auf dem Gepäckträger Stoffballen transportierte. Es war schon eine Kunst, damit beim Fahren das Gleichgewicht zu halten. »Sie sprechen Englisch?« Der Mann grinste und hob die Schultern. Es stellte sich heraus, daß er einige Brocken sprach. Es reichte gerade aus, um uns den Weg zu erklären. Grinsend fuhr er wieder weg. Weshalb er die Lippen verzogen hatte, war uns ein Rätsel. »Das kann man auch als Warnung auffassen«, meinte Suko. »Tatsächlich?« »Wir müssen auf der Hut sein.« Das hatten wir sowieso vor. »Weißt du denn jetzt, wo wir hinmüssen?« fragte ich. »In etwa.« Suko deutete nach links. »Da hoch, dann werden wir weitersehen.« Diesmal blieb ich ihm auf den Fersen. Wir passierten die Fassaden, sahen die Lichter in den Lokalen, hörten die Stimmen, wurden erfaßt von der bunten Beleuchtung, aber schauten auch hinein in dunkle, schmale Hauseingänge, die mir vorkamen wie der Beginn von gefährlichen Tunnels, in denen sich Gefahr zusammenballte. Dennoch, es war nichts passiert. Wir waren weder angemacht, noch angegriffen worden. Die Menschen gaben sich locker. Keine Schießereien, keine Schlägereien, man ging, schaute, amüsierte sich und hielt sich ansonsten zurück. »Kennst du den Namen der Bar oder des Lokals, wo Fatima auftritt?«
Suko stieß eine Blechbüchse aus dem Weg. »Nein, aber wir würden es sehen, hat er gesagt.« »Dann schauen wir mal.« Auf der linken Seite entdeckten wir allerhand, aber nicht das, was wir eigentlich suchten. Bis wir wieder an eine schmale Einfahrt gerieten und in grüner Leuchtschrift den Namen FATIMA flimmern sahen. Der Pfeil darunterwies in die Einfahrt. Wir blieben stehen. Männer drängten sich an uns vorbei und in den Schlund hinein, der dunkel war und erst am Ende, wo er allmählich aufhörte, wieder Licht zeigte. Dort waberte ebenfalls ein grünlicher Teppich, durch den die Schatten huschten, als die Menschen, die sich davor aufhielten, aus dem Lokal kamen oder hineingehen wollten. Ich verzog die Mundwinkel. »Vertrauenerweckend sieht mir das gerade nicht aus.« »Da sagst du was.« Noch einmal schaute ich auf die Werbung, dann betrat ich als erster den Durchgang. Auch hier schwebten uns Gerüche entgegen. Dämpfe, die aus einem schmalen Fenster an der rechten Seite drangen, transportierten sie. Es lag so hoch, daß wir hindurchschauen und in eine Küche peilen konnten, wo mehrere Köche arbeiteten und sich dabei anschrien. Da konnte einem der Appetit vergehen. Die Quelle des grünen Scheins am Ende der Einfahrt lag über der Tür einer Bar, die den Namen FATIMA trug. Der Eingang, ein Perlenvorhang, befand sich in ständiger Bewegung. Das Klirren wehte uns entgegen, aber mich interessierten nicht die Personen, die ein-oder ausgingen, sondern einige Männer, die auf dem Hof herumlungerten und vor lauter Langeweile kaum gehen konnten. Zwei von ihnen lehnten an der Motorhaube eines dunklen Mercedes, ein dritter stand auffällig-unauffällig nahe der Tür und schaute sich jeden einzelnen Gast an. Auch Suko waren die Typen aufgefallen. »Die scheinen so eine Art von Kontrolleuren zu sein.« »Fragt sich nur, für wen.« »Hoffentlich nicht für Fatima.« Auch wir wurden gemustert. Ich behielt den Mann im Auge. Blitzschnell musterte er uns, tat jedoch nichts, um uns aufzuhalten. Wir konnten passieren. Die Perlen des Vorhangs hatten Fett und Staub angesetzt. Jedenfalls kamen sie mir schmutzig und klebrig vor. Dahinter lag eine düstere Höhle. Jedenfalls konnte ein Fremder beim Eintreten diesen Eindruck bekommen. Tische, alles ziemlich kleine, verteilten sich um eine Bühne, hinter der die Bar lag. Eine lange Theke, etwas verspielt angebracht, mit orientalischen Motiven und Ornamenten verziert. An den Wänden hingen
Posters, die allesamt eine Frau bei der Arbeit zeigten. Es war Fatima, die Bauchtänzerin. Leider durchzogen dicke Rauchschwaden das Lokal, so daß ich die Frau nicht genau erkennen konnte. Ein Stimmendurcheinander machte es fast unmöglich, sich mit normaler Lautstärke zu unterhalten. Ein gemischtes Publikum herrschte vor. Auf den ersten Blick nur Einheimische und natürlich männliche Personen. Keine einzige Frau entdeckte ich unter den Gästen, auch die Bedienung war männlich. Offiziell trank niemand Alkohol. Es wurden Kaffee, Tee und alkoholfreie Erfrischungsgetränke serviert. Wir suchten freie Plätze und fanden sie nach einigem Herumschauen. Sogar ziemlich günstig, am Rand der Tanzfläche und auch nicht weit von der Theke entfernt. Die Stühle waren hart, die Sitzflächen zu schmal, und der Kellner noch sehr jung, fast ein Kind. Wir bestellten Kaffee. Der Junge brachte ihn. Er trug eine enge schwarze Hose und ein sehr weit geschnittenes Hemd, das mit seinem Saum bis über den Gürtel fiel. Den Kaffee schenkte er uns aus einer Kanne ein. Die braune Brühe füllte zwei hauchdünne Tassen. Heißer Dampf stieg uns entgegen. Ich drehte den Kopf zur Seite. »Sprichst du Englisch?« »Etwas Deutsch.« »Gut.« Ich nickte. »Wann tritt Fatima auf. Wann tanzt sie?« fügte ich hinzu, als ich seinen verständnislosen Blick sah. Er gab trotzdem eine Antwort. »Gleich, gleich, nur Minuten, only minutes . . .« »Danke.« Er ging wieder, wir schauten uns um, und Sukos Stirn zeigte einige Falten. Ich kannte ihn und fragte, was los war. »Es gefällt mir nicht. Hier sind Gäste, die uns aufs Korn genommen haben.« »Wieso?« »Die Blicke, John. Das Lokal scheint keine Anlaufstelle für Europäer zu sein.« Ich hob die Schultern. »Daran sollten sich die Türken gewöhnen. Schließlich wollen sie in die EG.« Mein Freund mußte lachen. »Das sag denen mal hier, Alter. Aber eine gute Antwort, wirklich.« Ich probierte den Kaffee. Er war sehr süß, und das mochte ich nicht so sehr. Jedenfalls konnte die dicke Brühe Tote erwecken oder ein Herz Purzelbäume schlagen lassen. Bisher hatten wir keine Musik gehört. Wo sich die Lautsprecher befanden, konnten wir nicht sehen, aber wir hörten die Klänge, die aus ihnen drangen und als typische, einheimische Folklore unsere Ohren
erreichten. Ich erinnerte mich daran, daß es eine Musik war, nach der auch getanzt werden konnte. Die Stimmen verstummten. Hinter der Theke arbeiteten zwei dunkelhaarige Männer, die ebenfalls nichts mehr taten und in den Hintergrund des Raumes schauten, wo sich ein Vorhang bewegte. Eine Gestalt trat hervor, die mit Beifall und Pfiffen begrüßt wurde. Es war Fatima! Hier wirkte die Schwarzhaarige wie eine Göttin der An t ike, denn sie besaß eine sehr helle Haut, die mich in ihrer Farbe schon fast an das Gesicht des joaquim Spi-nosa erinnerte. Angezogen war sie natürlich wie eine typische Bauchtänzerin. Sie trug ein knappes Oberteil, praktisch nur zwei mit Stickereien und Perlen besetzte Schalen, die ihre Brüste bedeckten. Der Bauchnabel lag frei. Darunter begann ein schmaler Rock, der ebenfalls nur aus Schnüren bestand, auf denen zahlreiche Perlen schimmerten, die, dieses Gefühl hatte ich, bei jeder Drehung einen anderen Farbschimmer bekamen. Fatima trug hochhackige Schuhe. Wenn der Rock zur Seite schwang und sich die Schnüre öffneten, gab er den Blick auf zwei pralle Schenkel frei, deren helle Haut leuchtete wie antike Säulen. Von ihrem Gesicht sah ich nicht viel, weil sie sich zu schnell bewegte und die langen Haare vorhanggleich den Kopf umwirbelten. Das Gesicht wurde so immer wieder verdeckt. Viel Ahnung vom Bauchtanz hatte ich nicht. Doch was Fatima hier zeigte, war super. Sie bewegte sich einfach sagenhaft. . . Sie war wirklich gut, und sie zog nicht nur uns in ihren Bann, auch die einheimischen Gäste waren fasziniert. Es war einfach stark, ihr zuzuschauen, ein Erlebnis ohnegleichen. Es kam sogar soweit, daß ich fast meinen Auftrag vergaß und mich von Fatimas Tanz gefangennehmen ließ. Suko stieß mich an, und ich schrak regelrecht zusammen. »Was ist denn?« »Schau mal auf den Bauchnabel.« »Ja und?« »Der Ring, John!« Verdammt, Suko hatte recht. Mein Blick konzentrierte sich auf den Nabel. Bei den meisten Tänzerinnen leuchtet dort ein Edelstein, nicht so bei Fatima. 11 ier sahen wir die ovale Scheibe, die einen muschelähnlichen Glanz aufwies, ebenso wie die, die wir Spi-nosa abgenommen hatten. Die Spur führte also voll ins Ziel. »Sir James hat es gewußt«, murmelte Suko. »Jetzt brauchen wir ihr nur den Stein abzunehmen.« »Leicht, wie?« »Willst du es versuchen?« fragte er grinsend.
Ich enthielt mich einer Antwort, denn Fatima tanzte nicht auf der Stelle, sie nutzte die gesamte Fläche aus und näherte sich dabei auch unserem Tisch. Mit Drehbewegungen huschte sie über den glatten Boden. Die Arme hatte sie hochgehoben, die Hände über dem Kopf verschränkt. In den rasierten Achselhöhlen glänzte Silberflitter. Dann beugte sie ihren Kopf vor, warf mit Schwung ihre langen Haare zurück, so daß ihr Gesicht für einen Moment zu sehen war. Der Scheinwerfer verfolgte sie die ganze Zeit über. Rauchwolken trieben über die Fläche, die Menschen klatschten, die Musik steigerte sich, nahm aggressive Töne an. Ich rechnete damit, daß sich das Finale und damit das Ende des Tanzes nähern würde. Sie schwang noch näher. Ihr Gesicht zeigte die Anstrengung, obwohl das Lächeln auf ihren Lippen blieb, das mir allerdings sehr verzerrt vorkam. Sie warf ihren Kopf in wilden Bewegungen herum. Die langen Haare peitschten von einer Seite zur anderen, dieser Tanz faszinierte uns, und sie schaffte es auch, noch näher an uns heranzukommen. Vor unserem Tisch blieb sie stehen, bewegte tatsächlich nur ihren Bauch, ließ ihn kreisen, schob ihn vor und zurück, eindeutige Bewegungen, bei denen sie auch ihren Oberkörper nach vorn beugte, uns anschaute und wir zum erstenmal ihre dunklen Augen sahen. »Ich muß Sie sprechen!« Meine Worte erreichten sie bei einer wilden Bewegung. Ich hatte das Gefühl, als wollte sie nicht weitertanzen, denn niemand sprach sie so an wie ich, aber sie hatte sich gut in der Gewalt, ging einen langen Schritt zurück, bewegte den Kopf nach vorn, was mir vorkam wie ein zustimmendes Nicken. Das hatte auch Suko gesehen. »Meinst du, daß sie zugestimmt hat?« »Das hoffe ich für uns.« »Und wo willst du mit ihr reden?« Ich schaute quer über die Tanzfläche. »Da, wo sie hergekommen ist«, sagte ich. »Meinetwegen.« Fatima drehte sich mitten auf der Fläche. Wir erlebten einen gewaltigen Wirbel, eine schon artistische Leistung, was sie da vorführte, und die Gäste begannen zu klatschen, bis zu dem Augenblick, wo Fatima ihren Tanz mit einem langen Schritt beendete und gleichzeitig im Spagat zusammenbrach, wobei sie den Kopf nach vorn drückte und das lange Haar bis auf den Boden fiel. Ein ohrenbetäubender Applaus brandete auf, von dem wir uns nicht ausschlossen, schon allein deshalb nicht, weil wir nicht auffallen wollten. »Nicht schlecht«, sagte Suko und strich über seine Wangen. »Wirklich nicht übel.«
Fatima stand auf. Sie verbeugte sich in alle Richtungen, auch in unsere. Ich hatte sie angesprochen und wartete auf eine Geste ihrerseits, da kam nichts. Ihr Lächeln veränderte sich nicht. Alles wirkte genau einstudiert. Mit leichten, schwebenden Schritten entschwand sie dorthin, wo sie auch hergekommen war. Nun hatte das Personal wieder alle Hände voll zu tun, was uns entgegenkam. So würde kaum jemand auf uns achten, wenn wir der Tänzerin nachgingen. Ich klemmte sicherheitshalber einen Schein unter die Metallkanne und folgte Suko, der bereits den Weg eingeschlagen hatte. Er ging nicht direkt auf das Ziel zu, sondern erst einmal in Richtung Theke, an der er dann parallel entlangschritt. Andere Gäste wollten ebenfalls an der Bar etwas trinken. Sie kreuzten meinen Weg und schauten mich — noch unter dem Eindruck des Tanzes stehend — aus glänzenden Augen an, ohne mich allerdings direkt zur Kenntnis zu nehmen, was auch gut war, denn es sollte niemand sehen, daß wir Fatima einen Besuch abstatteten. Einfach würde es für uns nicht werden, das stand für mich fest. Ich hatte zwar keine festen Vorstellungen, wie die Sache ablaufen sollte, aber ich konnte mir denken, daß sich Fatima nicht so ohne weiteres von ihrem Markenzeichen trennen würde. Suko hatte den Spalt im Vorhang gefunden und wurde von einem düsteren Gang geschluckt, in dem weiter hinten eine Lampe von der Decke hing und ihr Licht auf schmutziggraue, mit Spinnweben übersäte Wände warf. Die Toiletten besaßen keine Türen. Viereckige Löcher, aus denen ein widerlicher Gestank drang, wies demjenigen den Weg, derein menschliches Rühren verspürte, was Suko und mir erspart blieb. Im zweiten Teil des Gangs wurde es besser. Er war etwas sauberer, und dort befanden sich auch mehrere Türen. Eine mußte zur Garderobe der Fatima führen. Aber welche? Drei standen zur Auswahl, und an keiner entdeckten wir einen entsprechenden Hinweis. »Sollen wir würfeln?« fragte Suko. Das brauchten wir nicht, denn Fatima selbst hatte nicht vergessen, daß sie angesprochen worden war. Sie öffnete die rechte der drei Türen spaltbreit. Wir sahen einen Ausschnitt ihres Gesichts und die heftige Bewegung, mit der sie uns zuwinkte. »Alles klar«, sagte ich und machte den Anfang. »Schnell, schnell!« zischte sie uns entgegen, und wir beeilten uns dementsprechend. Hastig, als hätte sie vor irgend etwas schreckliche Furcht, schloß sie die Tür und atmete tief durch.
Wir hatten uns schon umgeschaut. Die Garderobe war ein schmaler Schlauch, mehr nicht. Über einem Stuhl hing das Kostüm. Eine nackte Glühbirne warf ihr Licht in die Nähe eines Spiegels, dessen Fläche ziemlich blind aussah. Eine Couch sah ich auch. Der Stoff war verschlissen, ebenso wie der Überzug einiger Kissen. Es gab nur eine Sitzgelegenheit. Der Hocker stand vor dem Spiegel. Nicht einmal eine Rücklehne besaß er. Über der Couch lag auch das Kostüm der Tänzerin. Sie hatte sich umgezogen und trug einen hellen Bademantel, dessen seidig glänzender Stoff den Körper eng umspannte. In der Mitte wurde der Mantel durch eine Kordel gehalten. Ihr Gesicht war noch nicht abgeschminkt. Schwarze Umrandungen ließen die Augen noch größer erscheinen. Der Mund war zu schmal, erste Fältchen hatten sich gebildet, der Blick glitt unruhig zwischen Suko und mir hin und her. Fatima war nervös, das sahen wir ihr an. »Ich wußte, daß Sie kommen würden«, sagte sie in einem etwas schlechten Englisch. »Woher?« »Ich wußte es. Es konnte nicht immer gutgehen.« Ihr Blick war lauernd. »Sie wollen ihn haben, nicht wahr? Sie wollen ihn sich holen?« Ich nickte ihr zu. »Den Stein — ja.« Sie öffnete den Mund, um Luft zu holen. »Wenn Sie ihn mir nehmen, werde ich sterben. Dann trifft mich ihr Fluch.« Ich hüstelte. Es roch nach Schminke und Puder. »Wessen Fluch wird Sie treffen?« Sie ging einen Schritt zurück und stieß gegen den schmalen Schminktisch unter dem Wandspiegel. »Warum fragen Sie mich das? Sind Sie nicht die richtigen?« »Schon, wir sind gekommen, um den Stein zu holen. Das zweite Drittel, das erste Drittel haben wir bereits. Aber Sie haben mir die Frage noch nicht beantwortet. Wessen Fluch wird uns treffen?« »Nicht Sie, mich.« »Also?« Sie senkte den Kopf und starrte zu Boden. »Ihr Fluch, Kassandras Fluch wird mich töten.« »Kassandra?« wiederholte ich. Sie nickte. »Das war eine Figur aus der griechischen Mythologie, der niemand Glauben schenken wollte.« »So ist es.« »Was hat es mit dem Ring auf sich oder mit den Steinen, denn die Fassung interessiert uns nicht.« Fatima schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht genau. Mir ist nur bekannt, daß die Steine gedrittelt wurden und daß es einen tödlichen Zusammenhang gibt. Fragen Sie mich nicht, aber seien Sie versichert, daß ich es nicht überleben werde, wenn Sie den Stein an sich nehmen. Dann ist es vorbei.« »Dürfen wir ihn sehen?«
Fatima zögerte. Sie hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt gehabt, überlegte noch, hob dabei in einer Geste der Verzweiflung die Schultern und öffnete mit zitternden Fingern den Knoten des Gürtels. Sie bewegte nur einmal kurz ihre Schultern, der Bademantel klaffte auf, und sie stand fast nackt vor uns... *** Ihre Brüste, nicht mehr gehalten, hingen schwer nach unten. Der Bauch war vorgewölbt, ein muskulöses Gebilde. Sie trug einen schwarzen Slip, auf dem Perlen glitzerten. Im Nabel steckte der Teil des Ringes, der uns interessierte. Dieses grünbeige Stück Stein, ebenso oval geformt wie das des Spaniers Joaquim Spinosa. »Da sehen Sie ihn!« sagte Fatima. Obwohl es mir in den Fingern juckte, den Stein an mich zu nehmen, zögerte ich noch und fragte: »Hat niemand versucht, Ihnen den Stein zu stehlen?« »Nein, das würde niemand wagen.« »Weshalb nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie spüren, daß ich ihn behalten muß.« »Nicht mehr lange.« »Das weiß ich.« »Und Sie werden sich nicht wehren?« erkundigte ich mich. »Wie sollte ich, wo ich weiß, daß ich ihn nicht ewig tragen werde? Ich habe nicht das ewige Leben gepachtet.« Suko und ich schauten uns an. Keiner wußte, was diese Aussage bedeuten sollte. »Könnten Sie uns das erklären?« erkundigte sich Suko. »Ja, der Stein gibt mir das Leben.« »Sie werden also sterben, wenn wir ihn lösen?« »So ist es.« »Was ist der Grund?« »Weil ich schon längst hätte tot sein müssen. Ich bin alt, einfach zu alt für diese Welt.« Ich lachte leise. »So sehen Sie mir aber nicht aus, meine Teuerste. Ich glaube eher, daß Sie uns auf den Arm nehmen wollen.« »Nie.« »Beweisen Sic es.« »Hören Sie meinen Atem?« fragte Fatima. Diese Worte schockten mich. Plötzlich floß Eis über meinen Rücken. Ich hörte sie tatsächlich nicht atmen. Auch bei ihrem Tanz hatte sie keine Erschöpfung gezeigt, sie hatte sich bewegt wie ein Roboter. Konnte sie möglicherweise ein Zombie sein, eine lebende Tote? Ihre Lippen zuckten, bevor sie fragte: »Wißt ihr nun Bescheid? Ist es klar für euch?«
Ich zwinkerte mit den Augen. »Wie alt sind Sie, Fatima? Wie alt genau? Können Sie uns das sagen?« »Nein, aber fast hundert Jahre. Und ich sehe immer noch so aus wie mit dreißig.« »Der Stein?« »Ja, er.« Was sollten wir tun? Wir mußten ihn haben, Sir James brauchte ihn, es hing eine Menge davon ab, auch wenn wir bisher nur Fragmente erfahren hatten, wie den Namen Kassandra. Ein Zurück gab es für uns nicht, und wir konnten auch auf Fatima keine Rücksicht nehmen. Vielleicht wollte sie das auch nicht. Sie kam mir vor wie jemand, der mit seinem Dasein abgeschlossen hatte, der sterben wollte, und das in einem tristen Zimmer ohne Fenster und stickiger Luft, in dem jedes Atemholen zur Qual wurde. »Bitte!« Sie sagte das eine Wort voller Traurigkeit und öffnete die Hälften des Mantels noch weiter. »Bedienen Sie sich. Nehmen Sie das, weshalb Sie hierhergekommen sind. Ich werde Sie daran nicht hindern, Mister.« »Und weiter, Fatima?« Die Antwort klang klar, ihre Stimme war dabei kalt. »Es geht nicht mehr weiter. Heute ist mein Ende gekommen. Nehmen Sie es schnell, sehr schnell. Ich bin beliebt hier, und Sie beide sind fremd. Es könnte Ärger geben.« »Man hat uns beobachtet?« fragte Suko, der sofort geschaltet hatte. »Es entgeht den Menschen hier nichts, gar nichts. Sie haben manchmal vier Augen.« »Wer soll es machen?« fragte ich. »Du hast den Stein von Spinosa genommen, John. Laß mich es diesmal tun.« Ich hatte nichts dagegen, trat zur Seite, um Suko vorbeizulassen. Fatima hielt ihr Versprechen. Sie blieb stehen, weit ausgebreitet den 13ademantel, so präsentierte sie uns ihren nackten Körper, und sie sagte kein einziges Wort, als sie Sukos Hände an ihren Hüften spürte. Er zögerte noch, ließ dann seine Finger nach innen über die Haut wandern und tastete nach dem Steindrittel. »Zieh es ab!« flüsterte Fatima, »zieh es ab. Aber beeil dich. Laß mich nicht warten, aber laßt euch sagen, daß der Besitz dieses Gegenstandes nicht nur Freude bringt.« Der orakelhafte Ausspruch brachte uns nicht weiter. Ich schaute nur auf Fatimas Gesicht, das glatt wie eine Theatermaske geworden war. Da Suko sich gebückt hatte, konnte ich mich auf die Tänzerin konzentrieren. Nichts bewegte sich, der Blick ihrer schwarzen Augen kam mir vor wie leere Röhren, aus denen das Wasser herausgepumpt worden war. Und ich schaute durch sie auf den Grund.
An Fatimas Gesicht erkannte ich, wie weit Suko mit seiner Tat fortgeschritten war. Auf einmal weiteten sich ihre Augen, es glich einem Zucken, wie bei einem Wesen, das einen plötzlichen Schmerz verspürt, mit dem es nicht gerechnet hatte. Auch die Mundwinkel verzogen sich. Das tiefe wissende Stöhnen drang ganz hinten aus ihrer Kehle. Suko hatte es geschafft. Er ging zurück, drehte sich um, hob seine Hand und zeigte mir das beigegrüne Oval, das er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. »Da ist er . . .« Ich hörte die Worte, nur schaute ich auf Fatima, die eine fürchterliche Metamorphose durchmachte. Hatte sie uns nicht berichtet, daß sie hundert Jahre alt wäre? So recht hatte ich daran nicht geglaubt. In diesem Augenblick bekam ich den Beweis. Ihr Körper verlor innerhalb kürzester Zeit sein normales Aussehen. Was sie sich an Muskeln und straffer Haut durch ihren Tanz antrainiert hatte, verschwand, als hätte man es weggewischt. Statt dessen erinnerten mich die nackten Arme und Beine an die Rinde der Baumstämme auf dem letzten Wagen des Güterzugs. Auch die Farbe stimmte. Vom eigentlichen hellen Farbton der Haut übergehend in ein düsteres Grau, das ebenfalls schwand und den Brauntönen Platz schaffte, die krustig wirkten, wo sich Falten und Risse wie mit einem Messer geschnitzt eingruben und auch die Kraft herausfloß, denn Fatima konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie fiel steif zur Seite und krachte auf den schmalen Schminktisch, wo sie das abräumte, was auf ihm seinen Platz gefunden hatte. Tiegel, Töpfe, Pinsel, Puderdosen und zwei Tuben landeten auf dem Boden, wo sie als kosmetischer Wirrwarr liegenblieben. Wir hörten sie stöhnen. Sie lag auf der Seite, das Gesicht schrecklich verzerrt. Einen Arm, den rechten, aufgestützt und ausgestreckt, bewegte sie ihre Finger, die ebenfalls die dunkelbraune Farbe angenommen hatten und wo sich die einst so geschickt gestylten Nägel lösten und als Krümel zu Boden regneten. Ein letzter Laut entließ der halb offene Mund, dann war es auch mit Fatima vorbei. Sie lebte nicht mehr. Vor uns lag eine alte Frau, der man ihre hundert Jahre abnahm. Ich schaute in Sukos Gesicht. Es war ebenso starr wie das meine. »Haben wir das gewollt?« fragte er. Ich hob die Schultern. »Nein, bestimmt nicht, nur hat das Schicksal den Weg vorgezeichnet.« »Welches Schicksal? Eines, das wir nicht kennen. Erst Spinosa, jetzt sie, und was erwartet uns bei der dritten Person?« »Der kalte Horror.«
Suko stimmte mir zu und ließ den zweiten Teil des Steins in seiner Tasche verschwinden. Ich war schon auf dem Weg zur Tür, blieb aber stehen, weil ich von draußen etwas gehört hatte. »Ist was?« flüsterte Suko. Ich drehte mich um. »Hat Fatima nicht davon gesprochen, daß wir beobachtet wurden?« »Sicher.« »Da könnte sich etwas tun.« Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, als die Tür aufflog. So traten keine Gentlemen ein, und es waren auch keine Gentlemen, diese drei Typen, die mir schon auf dem Hinterhof aufgefallen waren. Nur einer von ihnen war bewaffnet, und zwar der Kerl in der Mitte. Er trug eine doppelläufige Schrotflinte, deren Läufe verkürzt waren, um die Streuwirkung zu erhöhen. Wenn er diese Kanone abfeuerte, konnte er ein Blutbad in der Garderobe anrichten... *** Die Männer standen unbeweglich, wir rührten uns ebenfalls nicht. Allerdings standen wir so, daß es ihnen schwerfallen würde, den Körper der Tänzerin ganz zu sehen, weil wir ihnen einen Großteil der Sicht nahmen. Sie sagten nichts, nur die Augen bewegten sich. Der Blick hatte etwas Wütendes und Lauerndes bekommen. Sie wußten nicht so recht, wie sie es anfangen sollten. Wenn ich sie einschätzen mußte, so sah ich in ihnen die Zuhälter des Viertels oder Ganoven, die irgendwelche Schutzgelder erpreßten. Der Typ in der Mitte, er war kleiner und kompakter als seine beiden Kumpane, stieß die Doppelmündung der Flinte vor. Als er sprach, bewegte er seine Lippen nach vorn, sie sahen aus, als wollten sie einen Schnabel bilden. »Weg, ein Stück«, radebrechte er. »Warum?« Er hob die Flinte. »Du sollst gehen, sonst zerfetze ich dich und Schlitzauge. Hier weint keiner um euch. Man wird nicht einmal merken, daß ihr nicht mehr da seid. In Istanbul verschwinden viele Leute. Einfach so, weg. Sie schwimmen im Meer unter der Brücke und tauchen niemals wieder auf.« Seine Kumpane hatten sich drohend hingestellt. Sie wirkten wie Mauern mit ihren kantigen Schultern. Ich schob mich nach rechts. Aus den Augenwinkeln hatte ich zu dem bewegungslos dastehenden Suko geschaut. Es war ihm ja nichts anzusehen, aber ich kannte meinen Freund gut genug. Der würde, wenn
es nötig sein sollte, von einer Minute auf die andere explodieren und sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Jetzt mußte der Kerl die Tote sehen. Ich behielt ihn unter Kontrolle. Sein Gesicht, es war plötzlich kein Gesicht mehr, glich einer staunenden Maske, in der die Haut zuckte, als sie aschfahl wurde. Ein Wort nur würgte er hervor. »Fatima!« Seine Aufmerksamkeit hatte etwas nachgelassen, auch die anderen Kerle waren von seiner Bemerkung abgelenkt worden. Als sie hinschauten, sagte er den Namen noch einmal. Diesmal allerdings heulte er wie ein Wolf. »Fatima!« Er fuhr herum, die Waffe schwang mit. Ich spürte die Läufe, als sie sich über meinem Gürtelschloß in den Körper bohrten. Der Finger lag um den Abzug. Wenn der Mann abdrückte, klebte ich irgendwo an der Wand, und zwar nicht mehr so, wie ich jetzt noch aussah. Deshalb hob ich sicherheitshalber die Arme und tat ungemein erschreckt. »Was hast du gemacht?« »Nichts. Sie ist tot.« »Ver . . . vermodert!« brüllte er. »Vermodert — ja, so heißt es doch. Vermodert!« »Richtig!« »Warum?« Er drückte härter zu. Ich stemmte mich gegen den Druck, weil ich nicht zu weit von Suko wegwollte, denn auf ihn achtete im Moment kaum jemand. »Das wissen wir nicht!« »Doch, ihr müßt es wissen. Ihr wart bei ihr. Sie arbeitete für uns, sie gab uns ab.« »Doch, ich weiß Bescheid!« Suko hatte sich mit einem trocken gesprochenen Satz gemeldet. Die beiden anderen ringerähnlichen Typen hielten keine Waffen in den Händen. Ihre Kraft war Waffe genug, außerdem kannten sie die Streuwirkung einer Schrotflinte. Der kompakte Kerl fuhr herum. Genau darauf hatte Suko gewartet, und ich ebenfalls. Ich sah noch, wie sich mein Partner bewegte, dann sprang ich zur Seite und gleichzeitig auf die Tür zu, wo die Kerle den Weg in den Gang versperrten. Dem einen versetzte ich einen Tritt, der andere wurde von meiner Handkante hart erwischt. Ich mußte freie Bahn haben, denn auch Suko befand sich in Aktion. Er hatte so hart, trocken und kompromißlos zugeschlagen, daß sich das Gesicht des Türken erst verzerrte, als die Schrotflinte bereits auf dem Boden lag. Bücken konnte er sich nicht mehr. Mit einem eisenharten Schlag machte Suko alles klar. Dann faßte er zu, hob die Schrotflinte an und richtete sie gegen die Tür, wo ich zurücksprang, weil ich nicht in die Schußlinie geraten wollte.
Die beiden Ringer waren angeschlagen, nicht ausgeknockt. Dümmlich glotzten sie gegen die beiden Mündungen, ohne begreifen zu können, daß wir es geschafft hatten, sie zu überwinden. Ich scheuchte sie von der Tür weg und ließ sie vor der Wand Aufstellung nehmen. Sie kippten nach vorn, stützten sich ab, und wir konnten ruhig und zielsicher zuschlagen. Schwer sackten sie zusammen. Für diese beiden Schläger war der Käse gegessen. Drei Bewußtlose verteilten sich neben der Toten, wir hatten eine Schrotflinte erbeutet und natürlich den ovalen Stein, auf den es ankam. Suko zeigte ein knappes Lächeln. »Ich glaube, wir können uns absetzen, Alter.« »Dafür wäre ich auch.« Ich war an der Tür und zog sie auf. Suko zielte tierweil mit der Waffe in den Raum hinein. Er wollte schnell handeln können, wenn es Arger gab. Den gab es nicht. Wir konnten die Garderobe verlassen, und auch im Gang begegnete uns kein Mensch. Aus dem Lokal wehte uns die fremde Musik entgegen. Es stank noch immer, die Luft kam mir wie zum Schneiden dick vor. Ein widerliches Gemisch. An den offenen 'Toilettentüren herrschte mehr Betrieb. Wer sich dort traf, redete miteinander. Suko hatte die Waffe unter seine Jacke geschoben. Mit den verkürzten Läufen klappte das gut. Finstere, wachsame und mißtrauische Blicke trafen uns. Wir kamen schließlich aus einer ungewöhnlichen Richtung. Einer stellte sich mir in den Weg und blies fast seinen Brustkasten auf. Ich grinste und tippte ihn an. »Geh schön«, sagte ich. »Mach uns Platz, klar?« Er drückte sich gegen die Wand, wir konnten passieren. Kaum war Suko vorbei, als er auf die anderen Männer einredete. Anscheinend hatten wir ihn doch nicht überzeugt. Bevor wir das Lokal betraten, drehten wir uns noch einmal um. Der Typ, der uns hatte aufhalten wollen, befand sich auf dem Weg zur Garderobe. Ich stieß Suko an. »Das kann noch Ärger geben, wenn er die drei entdeckt.« »Dann nichts wie weg.« So einfach war das gar nicht. Während unserer Abwesenheit hatte sich das Lokal um mehr als das Doppelte gefüllt. Es war schon außergewöhnlich, wer zwischen diesen Wänden noch alles seinen Platz gefunden hatte. Sie saßen, sie standen, sie redeten mit unterschiedlich lauten Stimmen, sie tranken und aßen. Leider versperrten sie auch unfreiwillig einen schnellen Weg. Suko und ich kämpften uns durch die Rauchschleier. Unter der Decke drehte sich
müde ein großer Ventilator. Wir nahmen ihn erst jetzt zur Kenntnis. Er reichte auch nicht aus, um etwas Frische zu bringen. Kurz vor der Tür passierte es dann. Ein irrer Schrei aus dem hinteren Bereich des Lokals ließ die meisten Gäste wie unter einem Blitzschlag erstarren. Bewegungslos standen sie. Ich riß die Tür auf und huschte vor Suko ins Freie. Selbst der verdammte Hinterhof hatte sich belebt. Hier schien kaum jemand etwas zu tun zu haben. Wer sich schnell bewegte, fiel auf, so wie wir. Wir waren aschon an der Einfahrt, als sie aus dem Lokal strömten. Es mußte sich blitzschnell herumgesprochen haben, was geschehen war. Die Horde war bereit, uns zu jagen. Als hätten wir es abgesprochen, blieben wir stehen. Uns deckte bereits die Finsternis der Durchfahrt, und Suko hielt seine Schrotflinte jetzt offen. »Ich glaube, ich werde sie mal stoppen.« »Aber schnell.« Mein Freund behielt die Nerven. Er wartete, bis noch mehr Gäste die Kneipe verlassen hatten. In der Finsternis des Hofes kamen sie uns vor wie eine wabernde Masse. Dann schoß er. Das Krachen peitschte als Echo über den Hof. Es donnerte noch zwischen den Wänden, und die geballten Ladungen fegten über die Köpfe der anstürmenden Männer hinweg, bevor sie im dunklen Nachthimmel verschwanden. Schreie, Fluchen — niemand stürmte mehr weiter. Sie hechteten zu Boden, waren geschockt, und wir bekamen die Chance zur Flucht. Irgendwann unterwegs schleuderte Suko die Schrotflinte weg, er benötigte sie nicht mehr. Dann nahmen wir die Beine in die Hand. Es wurde keine Jagd mehr, wir verliefen uns auch nicht, denn wir hatten uns den Weg gut gemerkt. Suko fing an zu lachen, als er den Kopf schüttelte, wir uns an eine Wand lehnten und uns selbst gratulierten. »Und jetzt?« fragte ich. »Haben wir einen Schluck verdient, würdest du sagen, Alter.« »Ja.« Allmählich wich die Spannung. In einem uralten Taxi ließen wir uns zum Hotel hochfahren. Es lag auf einem Berg, mit einem sagenhaften Blick über die gewaltige Stadt und das Wasser. Im Zimmer stellten wir uns unter die Dusche, zogen leichte Bierkleidung an und trafen uns in einer Außenbar. Bei diesen Temperaturen herrschte wahnsinnig viel Betrieb, und uns kam es vor, als hätten wir eine andere, eine künstliche Welt betreten. Trotz der Gefahren war das andere Istanbul echter gewesen.
Wir hatten alkoholfreie Drinks bestellt, Mixgetränke mit viel erfrischendem Fruchtsaft, wobei wir auf Eis verzichtet hatten. Mit den hohen Gläsern stießen wir an. »Worauf?« fragte Suko, bevor er trank. »Ich würde sagen, auf den zweiten Teil des Jobs.« Mein Freund nickte. »Und was ist mit dem dritten Teil?« »Das wird uns sicherlich Sir James Powell sagen können.« Suko nickte. »Wenn wir das geschafft haben, könnten wir den Fall eigentlich zu den Akten legen — oder?« Ich mußte lachen. »Glaubst du wirklich daran?« »Nein.« »Ich auch nicht, weil ich das Gefühl habe, daß es dann erst richtig zur Sache geht.. .« Der Alpensee lag eingepackt in wattigen Nebel, und über ihm schwebte eine Stille, die man kaum beschreiben konnte. Es war einfach wunderschön, ihn in dieser frühen Morgenstunde zu sehen, wenn das Licht der aufgehenden Sonne noch hinter den Bänken aus Dunst lag, sie anstrahlte, aber nicht durchkam und die Wolken zu hellen, manchmal glänzenden Wolkentürmen machte. Auch die Berge waren noch nicht zu sehen. Als kantiger Hintergrund waren sie eingetaucht in den morgendlichen Dunst. Am Ufer des Sees hielt sich der Nebel besonders dicht. Wind herrschte kaum, deshalb kräuselten sich auch keine Wellen auf der Oberfläche. Flach wie ein Spiegel lag er, nur hin und wieder, wenn Fische vorwitzig ins Frei sprangen und wieder eintauchten, entstanden kleine, kräuselnde Welleninseln. Am Südufer, wo die Berge den See nicht einschlossen, war genügend Platz für die braunen Stege, die als lange Finger einen Teil des Schilfs überwanden und noch in das freie Wasser hineinstachen. Sie waren äußerst wichtig für die Menschen, die mit ihren Booten ausfuhren, um hinauszugleiten in die Stille. An diesem Morgen war nur einer unterwegs. Der Mann löste sich aus dem Dunst am Steg und ruderte mit kräftigen Bewegungen der Seemitte entgegen. Es würde wieder ein sehr warmer Septembertag werden, das stand fest. Jetzt um diese frühe Stunde war es noch kühler, deshalb hatte der etwa sechzigjährige Mann auch eine wetterfeste Jacke übergestreift. Er war für sein Alter noch sehr agil und kräftig. Das Gesicht wirkte wie aus dem Berg herausgeschlagen, so kantig, und auch die Augen paßten dazu. Sie blickten kalt wie Gletscherseen. Das wenige Haar hatte er durch eine Schiebermütze verdeckt, der Mund bildete einen Strich. Er atmete ruhig durch die Nase, während er die Ruderblätter durch das Wasser zog, die beim Eintauchen kaum spritzten, was wiederum zeigte, daß der Mann die Ruderei verstand.
Er wußte, wie weit er zu rudern hatte, um sich die Fische zu fangen, die er am Mittag in die Pfanne legen wollte. Er war auf der Jagd nach Rotbarben und ging davon aus, daß er drei von ihnen am Angelhaken haben würde. Der Mann, der in dieser idyllischen Gegend sein Haus gebaut hatte, ging einem Geschäft nach, das in einem krassen Gegensatz zu dieser ruhigen, majestätischen Bergwelt stand. Er hieß Kramer und handelte mit Waffen. International ein mittlerer Hai, aber Kramer war schon lange im Geschäft, kannte sich aus und hatte treue Kunden, zu der auch die gefährlichste Verbrecherorganisation der Welt gehörte, die Triaden! Eine chinesische Mafia, die dabei war, von Hongkong aus ihren Siegeszug um die Welt anzutreten, ihre Landsleute unter Druck setzte und mit derart brutalen Methoden arbeitete, daß selbst altgediente Polizisten fassungslos vor den Opfern standen. Kramer dachte anders darüber. Seit einem Jahr tätigte er mit den Triaden Geschäfte und konnte sich nicht über sie beklagen. Sie besaßen eine gute Zahlungsmoral und brachten das Geld gleich mit, wenn sie die Waffen abholten. Auch an diesem Tag wollten sie kommen, allerdings nach dem Fischen. Kramer dachte darüber nach, was er mit dem Geld anstellen sollte. Er lebte hier in Lichtenstein und war vor irgendwelchen Steuerfahndern relativ sicher. Die Aktienkurse liefen vor seinem geistigen Auge ab, während er damit beschäftigt war, das Angelzeug zu richten, denn er hatte den Platz fast erreicht, der zu den guten Fischgründen zählte. Kramer angelte, die Kraft der Sonne nahm an Stärke zu. Sie brannte gegen die Feuchtigkeit, machte den Nebel dünner und sorgte schon für große Lücken an den Ufern. Zeit verstrich. Kramer lachte einige Male auf, denn er freute sich, wenn einer der Fische angebissen hatte. Die Rotbarben schienen in den letzten Stunden nichts mehr bekommen zu haben, sie schnappten gierig nach dem Köder. Er fing fünf Fische und ruderte zurück. Kramer besaß mehrere Häuser. Dieses hier am See, etwas oberhalb gelegen, bezeichnete er als seine rustikale Hütte. Rustikal stimmte schon, Hütte weniger, denn das Haus besaß innen allen Komfort. Kramer taute das Boot fest, nahm Angelzeug und auch den Korb mit den Fischen. Er hatte sie nach dem Angeln mit kurzen Schlägen getötet. In wenigen Stunden würden sie in der Pfanne schmoren. Der Nebel und die Kühle hatten das Gras, das Buschwerk und auch den schmalen Weg feucht gemacht. Die Profile der Sohlen hinterließen At>drücke, als Kramer auf sein Haus zuging. Eine schmale Straße führte
von der normalen ab und endete vor seinem Haus. Er hatte sie selbst anlegen lassen. Kramer war ein Mensch, der auch innerhalb der Ruhe seine Wachsamkeit nicht verlor. Er ging zwar gemächlich aufsein Haus zu, aber er schaute sich dabei immer wieder um. Nichts störte ihn, es war normal, daß Nebelschwaden in den Bäumen festhingen, dennoch hatte er das Gefühl, daß dieser Morgen nicht so ablaufen würde, wie er es sich eigentlich vorgestellt hatte. Irgend etwas lag in der Luft. Hing es vielleicht mit den Triaden zusammen? Das wieder konnte er sich kaum vorstellen. Er hatte sie bisher als korrekte Geschäftspartner kennengelernt. Beide Seiten profitierten von den Geschäften miteinander. Der Grund seiner Unruhe mußte ein anderer sein. Trotz des Grübelns fand er ihn nicht heraus. Er hätte einen Bogen schlagen und die Zufahrtsstraße nehmen können, darauf verzichtete er. Lieber bewegte er sich wie ein Dieb in der Nacht auf sein eigenes Haus zu. Kramer kannte jede Pflanze, jeden Grashalm. Trotz der schweren Stiefel bewegte er sich kaum hörbar. Er brauchte noch keine Brille, sein Blick war scharf wie der eines Falken. Er liebte Vogelbeersträucher, sie schützten seine Behausung als dicht gepflanzte Hecke. Hinter ihr verhielt er seinen Schritt und wartete ab. Er konnte den Eingang seines Hauses sehen, wenn er über die Sträucher hin wegblickte. Nichts tat sich auf dem mit Bruchsteinen belegten Vorplatz. Ein Eichhörnchen huschte darüber hinweg, das war alles. Kramer verließ seinen Beobachtungsplatz und ging nach rechts. Das Angelzeug hatte er stehenlassen. Er trug nur mehr einen Korb mit der Beute. Dann sah er den Wagen. Dunkel lackiert, ein kleiner BMW, der auf Kramers Grundstück stand. Auf den Scheiben hatte sich die Feuchtigkeit abgesetzt. An manchen Stellen rann sie in langen Tropfenbahnen nach unten. Ob jemand im Wagen saß, konnte er nicht erkennen. Kramer überlegte. Wer so offen zu ihm kam, konnte ihm nicht ans Leben wollen, der versteckte sein Fahrzeug. Die Chinesen waren es bestimmt nicht. Er erwartete sie erst in den späteren Vormittagsstunden, und sie waren pünktlich, das wußte er. Seine Augen verengten sich, als die Beifahrertür aufgestoßen wurde und ein Mann den BMW verließ. Das war ein Chinese. Jetzt wunderte Kramer sich doch, blieb allerdings mißtrauisch, denn dieser Mann hatte ihn noch nie kontaktiert. Zwar sahen für die Europäer die meisten Chinesen gleich aus, das stimmte jedoch nicht. Wer sich
etwas besser auskannte, der konnte schon Unterschiede feststellen, und diesen Chinesen hatte er noch nie gesehen, auch nicht den Weißen, der ebenfalls den Wagen verließ, sich umschaute und dabei die Arme Streckte. Neue Kunden? Es war möglich, allerdings hätten die Triaden etwas davon erzählt, wenn sie neue Kunden auftaten. Kramer wollte das Versteckspiel beenden. Er löste sich aus seiner Deckung und ging lässig auf die beiden Männer zu, die neben ihrem Fahrzeug mit Liechtensteiner Nummer standen, wie Kramer erkennen konnte. »Sie suchen mich?« Beide fuhren herum, denn sie waren von seinen Worten überrascht worden. »Ja«, sagte der Blonde, »wenn Sie Kramer sind.« »Kann schon sein. Wer sind Sie?« Er hörte die Namen Suko und Sinclair. Der Aussprache nach war der Blonde Engländer, und in London waren neuerdings auch die Triaden aktiv. Also konnte es von dort kommen. »Was wollen Sie?« »Mit Ihnen reden.« Kramer entspannte sich ein wenig. »Weshalb haben Sie sich nicht angemeldet?« »Es ging alles etwas schnell.« »Worüber wollen Sie mit mir sprechen?« »Können wir das nicht im Haus regeln?« Kramer nickte nach einer Weile. »Ja, folgen Sie mir bitte.« Suko und ich atmeten auf. Die erste Hürde war genommen. Seit einer halben Stunde warteten wir auf Kramer. Sir James hatte uns nach Liechtenstein geschickt und uns auch gedrängt, denn der Fall wurde immer prekärer, wie er selbst zugab. Noch immer hatte er uns nicht gesagt, worum es eigentlich ging, aber auch bei uns hatte sich die Spannung verdichtet. Wir folgten ihm und schritten dabei über blanke Bruchsteine, die sehr gepflegt wurden, denn auf ihnen wuchs kaum Moos, und in den Zwischenräumen entdeckten wir nur wenig Unkraut. Aus Bruchsteinen und Holz bestanden auch die Mauern des Hauses. Kramer führte uns in ein sehr großes Zimmer mit einer ebenfalls sehr großen Scheibe, durch die man einen phantastischen Blick auf den See hatte. Der offene Kamin war ebenfalls aus Bruchsteinen gemauert worden. Auf dem Boden lagen dicke Teppiche, die zu den wuchtigen Möbeln paßten. Kramer hatte seine Beute in einem Gefrierschrank verstaut und fragte, ob wir Kaffee wollten. Keiner sagte nein.
Wir tranken ihn im Arbeitszimmer und saßen uns gegenüber. Kramerließ uns nicht aus den Augen. Seine Jacke hatte er ausgezogen. Der Pullover darunter besaß braune Streifen. »Bitte, worum geht es? Wie kann ich Ihnen helfen?« Ich trank erst einen Schluck, bevor ich anfing. »Wir wissen, daß Sie etwas besitzen, das wir gern haben möchten, Mr. Kramer.« »Und was?« »Keine Waffen!« sagte Suko. Diese Antwort hatte Kramer überhaupt nicht gefallen. Er setzte sich aufrecht hin, starrte uns an und fragte mit gefährlich leiser Stimme. »Wer hat denn etwas von Waffen gesagt?« »Es spricht sich eben herum.« Er deutete gegen die Wände, wo Gewehre der unterschiedlichsten Art hingen. Angefangen vom alten Vorderlader bis hin zur Jagdbüchse. Die meisten allerdings standen hinter Glas in einem breiten Waffenschrank. Er reichte fast hoch bis zur mit Holz getäfelten Decke. »Die sind unverkäuflich.« »Die meinen wir auch nicht«, sagte Suko. Der Mann lehnte sich zurück und spielte den Harmlosen. »Sorry, mit anderen kann ich Ihnen nicht helfen. Trinken Sie Ihren Kaffee und gehen Sie wieder. Das Rudern hat mich angestrengt, ich möchte mich noch einmal hinlegen.« »Wir brauchen einen bestimmten Gegenstand von Ihnen, Kramer, ohne ihn verschwinden wir nicht.« Hart blickte er Suko an, dann mich. »Wer sind Sie?« flüsterte er und schüttelte den Kopf. »Nein, lassen Sie mich raten. Ich spüre etwas. Ich kann etwas riechen, verstehen Sie? Ich rieche gewisse Typen, ob sie sich nun in England, in den Staaten oder selbst im kleinen Liechtenstein aufhalten. Der Bullengeruch ist international.« Ergriff zur Kaffeetasse. »Sie sind Polizisten, das weiß ich, und ich will Sie fragen, von welcher Organisation?« Ich lächelte grimmig. »Wenn Sie sich schon so sicher sind, sagen Sie es selbst.« »Geheimdienst, Secret Service.« »Feilsch.« »Aber aus England.« »Stimmt.« Er schaute uns noch einmal an. »Söldner sind Sie nicht, so etwas sehe ich. Okay, normale Bullen?« »Scotland Yard«, erklärte Suko. Kramer wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Das . . . das darf doch nicht wahr sein. Hören Sie, wer schickt den Yard-Bullen zu mir nach Liechtenstein?« »Unser Chef.« »Und weshalb?« Suko zeigte beim Sprechen die Zähne. »Ganz einfach. In Ihrem Besitz befindet sich etwas, das wir unbedingt brauchen.«
»Was denn?« »Ein Stein. Das letzte Drittel eines Steins. Zwei haben wir schon.« Kramer sagte zunächst nichts. Auf seiner breiten Stirn bildeten sich Schweißperlen, und die stammten bestimmt nicht nur vom heißen Kaffee. Unsere Forderung mußte ihn getroffen haben. »Sie kennen ihn?« Er schüttelte den Kopf und schaute gegen die mächtige Steinplatte des Tisches. »Hören Sie, Mr. Sinclair, ich will nicht abstreiten, daß ich etwas von diesem Stein weiß. Aber ich versichere Ihnen, daß er mir gehört. Sie bekommen ihn nicht.« »Wir brauchen ihn aber.« »Für wen?« peitschte uns seine Frage entgegen. »Hat die Lady Sie zu mir geschickt? Will sie jetzt . . .?« Er winkte ab. »Spielt auch keine Rolle, zum Teufel. Gehen Sie, setzen Sie sich wieder in Ihren Wagen und machen Sie den Abflug. Hier gibt es nichts zu holen.« »Wir gehen nicht ohne den Stein!« Auch ich hatte hart gesprochen und damit die Lage verschärft. Zwischen uns schien die Luft plötzlich zu knistern. Kramer dachte scharf nach, es war ihm anzusehen. Schließlich nickte er uns zu. »Okay, wenn Sie ihn wollen, dann schauen Sie sich um. Ich stelle Ihnen mein Haus zur Verfügung. Durchsuchen Sie es.« »Danke für den Vorschlag. Gerade das werden wir nicht tun, Kramer.« »Und weshalb nicht?« »Weil wir den Stein hier nicht finden würden.« Er lachte uns kalt an. »Weshalb sind Sie dann gekommen? Haben Sie sich geirrt?« »Nein, bestimmt nicht. Sie besitzen den Stein. Nur würden Sie nicht den Fehler machen und ihn hier irgendwo verstecken. Er ist nur wichtig, wenn Sie ihn am Körper tragen.« Kramer blieb gelassen. »Dann wollen Sie mich durchsuchen, wenn ich es recht verstehe?« »Ja. Falls Sie ihn uns nicht freiwillig geben. Es wäre besser für Sie. Wir sind keine Menschen, die gern Gewalt anwenden, aber in diesem Fall muß es sein.« Er atmete durch den Mund ein. »Sie fühlen sich wohl sehr stark?« »Kaum«, sagte Suko, »aber wir haben einen Job, und der ist nicht immer einfach.« Kramer breitete die Arme aus. »Glauben Sie mir, daß ich ihn nicht bei mir trage?« »Nein.« »Gut, dann durchsuchen Sie mich. Aber machen Sie schnell, ich habe noch zu tun.« Erst sein Sträuben, jetzt die Bereitschaft, das gefiel uns beiden nicht, gar nicht.
Er grinste uns an. »Na, trauen Sie sich nicht? Haben Sie sich zuviel vorgenommen? Ich werde mich vor Ihnen ausziehen, wenn Sie wollen, danach reden wir dann weiter.« »Sie haben ihn!« sagte ich. »Sie müssen ihn einfach haben. Wir irren uns nicht.« »Bitte.« Kramer stand auf und streifte seinen Pullover über den Kopf. »Ich bin bereit.« Die Lage hatte sich nicht direkt entspannt, sie war nur etwas lächerlich geworden, und ich überlegte, ob wir ihn tatsächlich duchsuchen sollten. War er ein eiskalter Bluffer, oder trug er den Stein tatsächlich nicht bei sich. Er streckte uns seine rechte Hand entgegen. »Hier sehen Sie meinen Ring.« Wenn je das Wort protzig gestimmt hatte, bei diesem Ring traf es zu. Er war so breit wie sein Mittel fingerund nahm in der Länge die Hälfte davon ein. Ein wuchtiger Goldring, sehr dick, der bestimmt ein Vermögen gekostet hatte. »Meinen Sie ihn?« »Sie wissen genau, Kramer, daß wir einen anderen meinen«, erwiderte Suko. »Dann tut es mir leid.« Er nestelte an seinem Hosengürtel. »Soll ich mich weiter ausziehen?« »Es reicht«, winkte ich ab. »Striptease sehen wir lieber von Frauen an.« »Wie schön.« »Aber wir geben nicht auf, Kramer. Wenn Sie uns den Ring hier nicht geben, sind wir leider gezwungen, Sie mit nach London zu nehmen. So einfach ist das.« »Das glauben Sie?« »Ja.« »Es wäre eine klassische Entführung, denn ich werde nicht freiwillig mit Ihnen gehen.« »Dann unfreiwillig«, sagte Suko. »Wir haben mit den Behörden alles geregelt. Es gibt Fälle, wo man wirklich über den eigenen Schatten springen muß, weil einfach zuviel auf dem Spiel steht. Sie können das vermeiden, wenn Sie uns den Ring geben.« Kramer stand noch immer, er schaute uns an und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht begreifen, daß Bullen so unvernünftig sind. Ich kann es einfach nicht.« Er setzte sich wieder, streckte seine Arme aus und schüttelte den Kopf. Dann griff er zu, und er hatte Glück dabei, weil wir ihm gegenübersaßen. Er hatte die breite Tischkante gepackt, wuchtete das Möbelstück hoch und bewies, welch eine Kraft er besaß. Er stemmte uns den schweren
Tisch entgegen, wollte uns einklemmen, und wir kamen tatsächlich nicht so schnell aus den Sesseln hoch. Kramer handelte sofort. Wir wehrten den Tisch noch ab, als er auf seinen Waffenschrank zuraste, ihn aufriß und sich eine Jagdflinte schnappte. »Gleich wird es tote Bullen geben!« keuchte er und fuhr mit dem Gewehr herum. Da schleuderte Suko den Aschenbecher. Auch er war schwer und vom Tisch gerutscht. Dicht neben Sukos Füßen hatte er gelegen. Der Ascher erwischte Kramer im Gesicht! Der Mann schrie auf und kippte gegen den Glasschrank, dessen Scheibe nicht zerbrach, wahrscheinlich bestand sie aus Panzerglas. Zum Schuß kam Kramer auch nicht, er blutete im Gesicht, und Suko befreite sich mit einem Sprung. Geduckt hechtete er auf den Waffenhändler zu. Als Kramer sein Gewehr herumschwang, war Suko bei ihm und riß es ihm aus der Hand. Mit dem Kolben stieß er zu. Kramer spürte den Schlag im Genick. In seinem Kopf mußte tausend Sonnen explodieren, die ihn dann hineinrissen in eine gräßliche Schwärze. Bewußtlos fiel er auf den Teppich. Suko blieb neben ihm stehen und wartete, bis ich mich aus der Klemme befreit hatte. Am linken Oberschenkel hatte ich etwas mitbekommen. Da würde ein blauer Fleck bleiben. »Er hat es versucht«, sagte Suko, »was mir wiederum zeigt, daß er den Stein trotzdem besitzt.« »Aber wo?« »Das ist die Frage.« Ich überlegte. »Spinosa und Fatima haben die Teile an ihrem Körper getragen, sogar tragen müssen. Sie waren für sie so etwas wie Lebensenergie, bei Kramer kann es einfach nicht anders sein, Suko.« »Durchsuche ihn.« Was er uns freiwillig angeboten hatte, taten wir jetzt. Wir durchwühlten seine Taschen, wir faßten in der Kleidung nach, aber der Stein ließ sich nicht finden. Im Bad hatte Suko einen Verbandskasten entdeckt. Er verpflasterte den Bewußtlosen, und ich wurde allmählich mehr als sauer, weil ich keinen Hinweis fand. »Er muß ihn bei sich haben«, flüsterte ich. »Es gibt keine andere Möglichkeit.« »Wo denn?« Wir ließen unsere Blicke noch einmal über die halbnackte Gestalt wandern. Es war in der Tat mehr als schwierig, den Stein noch zu entdecken, weil es keine Stelle an seinem Körper gab, die uns nicht einsichtig war. »Eine Möglichkeit gibt es noch«, sagte ich. »Und welche?«
»Unter der Haut. Ich kann mir vorstellen, daß er ihn unter der Haut sitzen hat. Man kann diese kleinen Dinge auch einoperieren.« Suko wurde bleich. Diese Möglichkeit gefiel ihm überhaupt nicht. »Weißt du auch, was das bedeuten würde, John?« »Ja, wir müßten ihn in ein Krankenhaus schaffen und den Ärzten klarmachen, was sie tun sollen.« »Die würden sich weigern.« »Zu Recht.« Suko hob die Schultern. »Wo kann er diesen verdammten Stein haben?« Er schaute auf den Liegenden. Soeben hatte es die Sonne geschafft. Sie schleuderte ihre ersten frühmorgendlichen Lichtspeere über das Land und den See. Sie erreichten auch das Fenster, drangen ins Innere des Zimmers und verteilten sich. Ein Strahl erwischte die rechte Hand des Bewußtlosen und dort den dicken, goldenen Ring, der plötzlich aufblitzte, als wollte er uns ein Zeichen geben. Suko schnippte mit den Fingern. »Ich glaube, John, daß es noch eine Möglichkeit gibt.« »Welche denn?« »Der Ring.« Ich schüttelte den Kopf, weil ich den Gedankengängen meines Freundes nicht folgen konnte. »Bist du dir sicher?« »Das nicht, aber schau dir den protzigen Ring an. Er besitzt nicht nur Breite und Länge, sondern auch eine gewisse Höhe. Leicht vorstellbar, daß man ihn auch aufklappen kann.« Erst staunte, dann grinste ich. »Mensch, Suko, das ist eine Idee. Wenn du recht hast. . .« »Moment.« Er bückte sich und untersuchte den Ring. Den Finger hatte er etwas angehoben. Suko tastete den Ring von allen Seiten ab und schrak plötzlich zusammen. »Das ist es.« »Was?« »Paß auf, John. Man kann es kaum sehen, aber fühlen. So etwas wie ein winziger Nippel.« Suko bewegte ihn, nicht einmal eine Sekunde später sprang das Oberteil des protzigen Gold rings in die Höhe wie ein Deckel. Das Unterteil war noch vorhanden. Darin lag, völlig harmlos, oval und beigegrün schimmernd, das dritte Teil des Rings, nach dem wir so heftig gesucht hatten... ***
Ich nickte meinem Freund zu, weil ich sah, daß er damit zögerte, den Stein an sich zu nehmen. »Ich glaube kaum, daß er vergiftet ist«, sagte ich grinsend. »Man kann nie wissen.« Suko klappte ein Taschenmesser auf. Mit der Spitze der Nagelfeile versuchte er es, setzte sie in eine schmale Lücke und gab leichten Druck. Fs klappte, der Stein hob sich an, ohne dabei einen Riß oder Sprung zu bekommen. Er hatte genau in den Hohlraum der unteren Ringhälfte hineingepaßt. Wie für ihn gemacht. »Willst du ihn haben, John?« »Nein, behalte ihn.« Suko steckte ihn vorsichtig weg. »Der dritte also«, sagte er. »Jetzt hätten wir alle zusammen.« »Und das Rätsel noch immer nicht gelöst.« Ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, als es geschah. Wir hörten beide das schwere, seufzende Stöhnen, vermischt mit den erstickten Lauten. Dann bäumte sich der Körper des Bewußtlosen in die Höhe, seine Augen weiteten sich vor Schreck, wobei das einfallende Sonnenlicht genau gegen sein Gesicht tupfte, dessen Haut einen bläulichen Farbton bekommen hatte. Wir konnten nichts mehr machen. Ich fühlte keinen Herzschlag mehr. Der Infarkt war blitzschnell über ihn hereingebrochen. Aus und vorbei mit ihm. Für einen langen Augenblick schloß ich die Augen, strich über meine Stirn und hob die Schultern. »Wie ist das möglich?« flüsterte ich. »Wie kann das sein?« »Ich weiß es nicht«, murmelte Suko. »Oder weiß ich es doch?« Er schaute ins Leere. »Denk daran, daß keiner, dem wir den Stein abgenommen haben, überlebte.« »Stimmt.« »Bei ihm war es ein Herzschlag, ein verdammter Herzschlag. Nichts mehr zu machen.« Ich starrte ins Leere. Der dritte Tote, dessen Leben mit dem Stein in Verbindung gestanden hatte. Weshalb? Was war der Grund dafür? Die Begriffe Kassandra und Lady waren gefallen. Hing es vielleicht damit zusammen? Suko war schon auf dem Weg zur Tür. »Wir sollten uns vornehm zurückziehen, John. Der Arzt wird Herzschlag feststellen, dessen bin ich mir sicher.« »Du hast recht. Kramer war auch Waffenhändler. Die Polizei wird sich freuen, wenn sie sein Haus durchsuchen kann.« »Damit hat er rechnen müssen.«
Wir verließen das Haus. Der Morgen war hoch frisch. Sonnenwärme dampfte gegen kleine, perlenartige Tautropfen, die an zahlreichen Zweigen und Blättern hingen. Ein wunderschöner Morgen in den Bergen, dessen hohe Massive sich allmählich aus dem Dunst hervorschälten. Liechtenstein ist ein herrliches Land, ich kannte es von einem Fall her, als ich die Fliegen-Königin gejagt hatte. Auch die Außenhaut unseres Leihwagens trocknete allmählich. Vögel zwitscherten. Sie hatten mit alledem nichts zu tun. Das Sonnenlicht warf lange Streifen in den nahen Wald. Wie blasse Tücher trieben die letzten Dunstschwaden davon. Suko wollte fahren. Ich machte es mir auf dem Beifahrersitz bequem und dachte an die Zukunft. Okay, wir hatten die drei Teile jetzt zusammen, der Stein war wieder ganz. Aber wie ging es weiter? Das würde uns allein Sir James sagen können. Nach Zürich fuhren wir noch nicht, sondern sprachen mit den Liechtensteiner Kollegen, die sofort losbrausten, um die >Hütte< zu untersuchen. Eine derartige Gelegenheit bekamen sie nie wieder. Zudem hatte Kramer auch bei ihnen schon unter Verdacht gestanden, nicht ganz saubere Geschäfte zu tätigen. Daß der Liechtensteiner Polizei noch zwei fremde Chinesen ins Netz gingen, hörten wir nur am Rande. Da befanden wir uns schon in London, wo Feil zwei des rätselhaften Falls eingeläutet werden sollte...
KASSANDRA
Glenda Perkins, unsere Sekretärin, gehörte zu den freundlichen Menschen, die schon am Morgen meist lächelten und jeden Tag optimistisch erwarteten. An diesem Vormittag fiel sie uns zusätzlich um den Hals, als wir das Büro betraten, und diese Begrüßung gefiel uns beiden gut. »He!« rief ich, »was ist denn los?« Sie trat zurück. »Eigentlich gar nichts.« »Wirklich nicht?« »Ich bin nur froh, daß ihr es geschafft habt und wieder gesund zurück seid.« »Danke.« »War's hart?« »Der letzte Fall hielt sich in Grenzen. Sag mal, ist Sir James schon da?« »Er ruft an.« »Okay.« Bevor ich in unser Büro ging, deutete ich auf Glendas frische weiße Bluse mit den Borden. Als Unterteil trug sie einen weit geschnittenen und perfekt fallenden senfgelben Hosenrock, der ihr ausgezeichnet stand.
»Neu?« fragte ich. »Ja. Gefällt es dir?« »Du gehst chic in den Herbst.« »Man muß was tun.« Sie strich durch ihr dunkles Haar. »Wie wäre es mit Kaffee?« »Ich habe nichts dagegen.« »Für mich bitte Tee!« rief Suko. Er hockte schon hinter dem Schreibtisch und schlug mit der flachen Hand auf die Akten. »Soll ich sie aus dem Fenster werfen?« »Aber immer doch.« Er tat es nicht, sondern schob sie mir zu, und ich drückte sie zur Seite. Suko hatte mittlerweile ein kleines Etui hervorgeholt, das er vor sich auf den Schreibtisch legte. Er klappte es auf und drehte es mir zu. »Da liegen sie.« In der Tat hatte Suko die drei Teile des Steins sorgfältig nebeneinander drapiert. Kleine Samtbänder hielten sie an den Oberseiten fest. »Drei Teile, drei Tote, John. Weshalb?« »Das werden wir Sir James fragen.« »Und eine Antwort bekommen.« »Bestimmt.« Zunächst erschien Glenda mit den Getränken. Ich hatte lange auf ihren herrlichen Kaffee verzichten müssen. Jetzt, wo ich ihn roch, bekam ich glänzende Augen. »Einmalig!« stöhnte ich. Auch Suko freute sich über seinen Tee. Glenda hätte gern etwas Näheres über unsere Abenteuer gehört, aber sie mußte zurück in ihr Zimmer, weil dort das Telefon summte. Wir prosteten uns mit den Tassen zu. Wenig später schloß ich die Augen, lehnte mich zurück und genoß dieses Getränk. Draußen war es noch immer Sommer. Ein warmer Indian Summer, wie die Amerikaner sagten. Selbst das gute alte London hatte sein Nebelkleid vergessen und eines aus strahlendem Sonnenschein angelegt. »Weißt du, was ich jetzt möchte?« hörte ich Suko fragen. »Sicher. Das Büro hier verlassen und einen Spaziergang durch den Hyde Park machen.« »Genau.« »Wir können den Alten ja in den Park bestellen.« Suko lachte. »Der wird uns was husten.« »Leider.« Mußestunden im Büro sind selten, auch an diesem Morgen wurde uns keine Pause gegönnt, denn das Telefon meldete sich. Ich hob ab und hörte die Stimme unseres Chefs. »Guten Morgen, John, ich hoffe, Sie und Suko haben eine gute Reise hinter sich.« »Es gab keine Schwierigkeiten.« »Und den dritten Teil haben Sie auch?« »Natürlich, Sir.« »Gut, ich erwarte Sie.«
Suko hatte schon das Etui zugeklappt und es in seine Hosentasche gesteckt. »Was sagt der Alte?« »Wir sollen rüherkommen.« »Das habe ich mir gedacht. Wie klang seine Stimme?« »Sehr freundlich.« Suko verzog das Gesicht und winkte mit beiden Händen ab. »So etwas ist verdächtig. Wenn Sir James freundlich ist oder auch nur so tut, kommt das dicke Ende nach.« »Damit rechne ich auch.« An der Tür trafen wir mit Glenda zusammen, die ihr Büro betrat und einen dicken Umschlag in der Hand hielt. »Geht ihr jetzt zu ihm rüber?« »Wir müssen.« »Dann macht's mal gut. Ich glaube, daß eure Reisen noch nicht beendet sind.« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Weißt du mehr?« »Ja und nein. Jedenfalls habe ich Tickets für euch bereitliegen.« »Wohin?« »Spanien.« Suko und ich verdrehten gemeinsam die Augen. »Aber da waren wir doch schon.« »Trotzdem, der Fall greift tiefer. Mehr südlich, meine ich. Aber das wird euch Sir James besser sagen können.« »Sicher.« Er lächelte uns an. Nicht gerade herzlich, eher lauernd und auch bewundernd. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß Sie es so schnell schaffen würden.« »Es eilte ja«, meinte Suko locker. »Das stimmt.« Wir hatten uns hingesetzt, und Suko hielt das Etui in der rechten Hand. Als Sir James den Arm ausstreckte, gab er es ihm und schaute zu, wie der Superintendent hinter seinem Schreibtisch Platz nahm und den Deckel behutsam öffnete. Wir ließen ihn in Ruhe und beobachteten nur sein Gesicht, das auch nicht viel preisgab. Sir James hatte sich eben zu gut unter Kontrolle. Vielleicht weiteten sich seine Augen etwas mehr, das war auch alles. Er schaute sich die drei wichtigen Teile nur an, hob nicht einen davon aus dem Etui, nickte schließlich, schob die Schatulle zur Seite und hob beide Arme, als wollte er uns seinen Segen geben. »Ich gratuliere Ihnen beiden. Sie haben es tatsächlich geschafft, Gentlemen.« Wie vornehm er war! Aber derartigen Reden folgte zumeist das dicke Ende nach. »Das war nicht alles, Sir James.« Ich sagte es lauernd und grinste dabei. »Vorerst ja.« »Mehr nicht?« »Doch, noch etwas.« »Und was, bitte?«
Er schaute uns bei seiner Erklärung nicht an, sondern zum Fenster hin, hinter dessen Scheibe die Sonne leuchtete. »Ich will es Ihnen sagen. Sie lieben doch Spanien.« »Nun ja«, meinte Suko. »Wenn man Urlaub machen will. . .« »Und keine Blutfrau trifft.« Ich sprach damit einen Fall an, den ich dort einmal erlebt hatte.* »Dafür kann ich nicht garantieren, aber wenn Sie sich schon die Mühe gemacht haben, dann sollten Sie den Stein auch der Besitzerin zurückbringen.« »Wie heißt die Dame denn, Sir? Kassandra oder Lady?« »Oh, Sie wissen Bescheid?« »Wir hörten etwas.« »Ja, Kassandra oder auch die Lady genannt. Sie ist Britin und lebte eigentlich in Spanien.« Ich wunderte mich. »Wieso eigentlich?« »Haben Sie noch nie etwas von den Affen von Gibraltar gehört, John?« Meine Augen weiteten sich. »Ach, Gibraltar, das praktisch zu uns gehört und wo wir die Soldaten neben den letzten Affen sitzen haben, die in Europa vorkommen.« Sir James lächelte. »Sie haben recht. So lange es die Affen noch gibt, werden auch wir auf der Halbinsel sein.« »Gutes hört man davon nicht.« »Wieso?« »Zu heiß, zu felsig, oben einsam, unten hektisch. Und die Spanier beanspruchen Gibraltar als ihr Hoheitsgebiet! Ich frage mich, Sir, was eine Frau wie Lady Kassandra dort zu suchen hat?« Sir James lächelte. »Man kann sie nicht vertreiben, sie ist auf Gibraltar eine Institution.« »Und trägt einen besonderen Namen«, fuhr Suko fort. »Ich wundere mich darüber.« »Kassandra?« murmelte unser Chef. »Ja, der Name ist nicht gerade häufig, außergewöhnlich selten, will ich mal sagen. Sie hat ihn nicht grundlos bekommen.« »War da nicht etwas mit der Wahrheit?« fragte Suko. »So ist es.« Sir James schob seine Brille zurück. »Sie ist eine Figur aus der griechischen Mythologie. Nicht die Kassandra auf der Halbinsel, nein, ich spreche von der anderen. Sie war die Tochter des Priamos und der Hekate, einer Hexe, deren Namen Ihnen ja nicht unbekannt ist. Gleichzeitig war sie die Schwester von Hektor und Paris. Apollo hatte sich später in sie verliebt. Sie aber wies ihn zurück, und Apollos Liebe wandelte sich um in Zorn oder Haß. Sie besaß seherische Kräfte, doch Apollo schaffte es, die Frau mit einem Fluch zu belegen. Kassandra sah zwar noch immer, sie pries auch stets du-Wahrheit, nur gab es keinen mehr, der ihr Glauben schenkte. Das ist ihre Geschichte, das ist gleichzeitig ihre Tragik, meine Herren.«
Ich nickte. »Gut gesprochen, Sir, nur weiß ich nicht, was wir damit anfangen sollen.« * Siehe Sinclair-Taschenbuch 73088: »Mein Flirt mit der Blutfrau«
»Sie sollen ihr den Ring bringen und ihr meine besten Grüße bestellen.« »Das ist alles?« »Vorerst.« Ich schaute unseren Chef an. Auch Suko war nicht gerade fröhlich gestimmt. Beide hatten wir den Eindruck, übertölpelt oder reingelegt zu werden. »Was stimmt an der Geschichte nicht, Sir? Wo befindet sich der Haken? Sagen Sie es!« »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Suko spreizte drei Finger ab. »Es hat drei Tote gegeben, Sir, als wir ihnen die Ringstücke abnahmen. Drei Tote, zum Henker! Das ist nicht normal. Ist der Ring verflucht, besitzt er Kräfte, die Menschen am Leben halten?« »Das kann so sein.« »Aber wie kamen die drei Personen an die einzelnen Teile? Wie war so etwas möglich?« »Ich kann Ihnen da keine Auskunft geben. Das müssen Sie Kassandra selbst fragen. Ich kann Ihnen nur mitteilen, daß sie eine bemerkenswerte Frau ist, die ein immenses Wissen über gewisse Dinge besitzt.« »Auch über magische?« fragte ich. »Es ist möglich, John. Ich jedenfalls möchte, daß Sie die Insel besuchen und ihr den Stein geben, damit sie den Ring damit füllen kann. Das ist alles.« »Was geschieht dann?« »Ich möchte, daß Kassandra ihre Kraft und ihr Wissen zurückerhält. Mehr nicht.« »Was könnte dann geschehen, Sir?« »Vielleicht wird sie dann sehr wertvoll für uns. Möglicherweise sagt sie uns Dinge, die passieren werden.« »Kennen Sie die Lady?« fragte Suko. »Sehr gut sogar.« »Weshalb fliegen Sie dann nicht auf die Halbinsel.« »Nein!« erwiderte Sir James hart. »Das wäre nicht gut, das wäre überhaupt nicht gut. Es ist Ihr Job. Sie werden fliegen und ihr den Ring überreichen. Klar?« »Eine Frage hätte ich trotzdem«, sagte Suko. »Was ist sie für ein Mensch? Ist sie alt, jung . . .?« »Sie gehörte einmal zu unseren besten. Jetzt wird auch sie ihr Alter haben. Deshalb ist es ungemein wichtig, daß sie den Ring voll und ganz zurückbekommt.«
Je mehr Sir James redete, um so weniger verstanden wir und konnten uns nur gegen den Kopf schlagen. Daß er uns etwas verheimlichte, stand fest, aber was es war, darüber gab es nicht einmal Spekulationen. Jedenfalls stimmte einiges nicht. »Und wir sollen sofort wieder zurückkehren?« »Ja, John. Ich möchte, daß ihre alten Kräfte geweckt werden. Sie muß den Ring haben.« »Weshalb wurde der Stein denn geteilt?« »Das wird sie Ihnen möglicherweise selbst erzählen. Ich möchte da nicht vorgreifen, um nichts Falsches zu sagen. Jedenfalls bin ich Ihnen beiden sehr dankbar, wenn Sie mir diesen schon persönlichen Gefallen erweisen und zu ihr fahren.« Ich schaute Sir James ins Gesicht. »Sie scheinen die Lady gut zu kennen.« »Da haben Sie recht. Ich kenne sie gut.« Er sprach leise und schaute dabei in die Sonne. »Sie ist . . . sie ist . . .«, er hob die Schulter. »Nun ja, fliegen Sie. Die Tickets habe ich bereits Miß Perkins gegeben. Man ist auf dem Felsen über Ihre Ankunft ebenfalls informiert worden und wird Ihnen keinerlei Schwierigkeiten machen.« »Das hoffe ich doch.« »Wann können wir starten?« fragte Suko. »Noch am heutigen Nachmittag. Sie fliegen bis Malaga und nehmen sich dort einen Wagen, mit dem Sie am anderen Tag auf die Halbinsel fahren. Das ist alles geregelt. Ihre Hotelzimmer in Malaga sind reserviert. Wir hören dann später voneinander«, sagte er mit leiser werdender Stimme und wünschte uns noch einen guten Flug. »Und wenn Sie mich fragen, warum Sie nicht direkt nach Gibraltar fliegen sollen, es gibt täglich vier Linienflüge, dann kann ich nur antworten, daß ich das nicht möchte.« Im Gang schauten wir uns an. Gemeinsam schüttelten wir die Köpfe. »Das geht nicht an, John, so habe ich den Alten noch nie erlebt. Du denn, du bist doch länger da.« »Nein.« »Was kann dahinter stecken?« »Keine Ahnung. Wenn ich von meinem Gefühl ausgehe, dann habe ich den Eindruck, als würden die beiden sich kennen, als bestünde zwischen ihnen ein gewisses Band, das zerschnitten wurde. Wobei es uns allerdings durch unsere Aktionen gelungen ist, wieder einen Knoten hineinzuknüpfen. Mehr weiß oder ahne ich auch nicht.« »Und Glenda?« »Wird sich hüten, uns die ganze Wahrheit zu sagen, falls sie informiert ist. Sir James wird sie schon entsprechend geimpft haben, darauf kannst du dich verlassen.«
So war es auch. Glenda hielt zwar die Flugkarten parat, doch was genau hinter dem Fall steckte, davon hatte sie keine Ahnung. »Ich schwöre es sogar.« »Hattest du denn nicht den Eindruck, daß Sir James von diesem Fall persönlich betroffen war?« Sie überlegte einen Moment. »Nein, mir gegenüber hat er sich sehr sachlich verhalten.« Suko schlug mir auf die Schulter. »Denk nicht nach, die Lösung bekommen wir auf dem Felsen serviert.« »Klar. Wie kann man dort nur wohnen?« Ich schüttelte den Kopf. »Felsen, Affen, Vögel . ..« »Eine Lady Kassandra«, erklärte Suko. »Ich bin gespannt, wie sie wohnt und glaube nicht daran, daß sie in einer Felsenhöhle steckt...« *** Gibraltar! Ich hatte bisher nur vom Affenfelsen gehört oder einiges gelesen. Jetzt erlebten wir ihn, und die Beschreibungen hatten nicht übertrieben. Ein verdammtes Stück Land, hineingedrückt in die mächtigen anlaufenden Wellen des Mittelmeeres, eine Meerenge, strategisch ungemein günstig und seit Jahrhunderten in der Hand Großbritanniens, womit sich die Spanier nicht abfinden wollten. Zahlreiche Versuche waren fehlgeschlagen, diesen Felsen unter spanische Flagge zu stellen, aber die Engländer blieben hart, und Maggie war schließlich aus Eisen. Bei klarer Sicht konnte man hinüber bis Tanger schauen, die erste große Station Afrikas. Sehr groß ist die Halbinsel nicht. Sie mißt 6,5 km- und besteht aus einem Jurakalkfelsen an der Südseite der Insel, der etwas über 1200 Fuß hoch ist. Auf diesem Felsen leben auch die einzigen Affen Europas. Daß dort auch Bäume wuchsen, hatte ich nicht gedacht, jedenfalls zeichnete ein dunkles Grün die obere Hälfte. Alif der Westseite der Insel existiert noch die Stadt Gibraltar. 25000 Menschen leben dort, gleichzeitig ist sie britische Luft- und Flottenstützpunkt. Zwei Häfen standen ebenfalls zur Verfügung. Ein Kriegs- und einen Handelshafen mit einem ziemlich großen Umschlagvolumen für Tabak, Kaffee, Konserven, und auch der Fremdenverkehr kam nicht zu kurz. Freiwillig würde ich da keinen Urlaub machen und nicht einmal von Bord des Kreuzfahrtschiffes gehen.*
* Die Geschmäcker sind verschieden. Der Sinclair-Redakteur hat dort Urlaub gemacht und sich zwischen den behaarten Zweibeinern wohl gefühlt...
Wir hatten die Reise gut überstanden und in Malaga erstklassig geschlafen, obwohl sich das Hotel als Touristenbunker entpuppt halte, aber nicht ausgebucht war. Ja, es war heiß, und die Sonne knallte auch weiterhin von einem azurblauen Himmel, der nur weit im Westen einige verwaschene Wolkenstreifen zeigte. In praller Sonne heizen sich die Autos rasch auf. In unserem fühlten wir uns wie in der Sauna. »Ja, ja, mit uns kann man es ja machen«, erklärte Suko zum wiederholten Male. »Ich würde uns sogar für eine TV-Serie vorschlagen.« »Und welchen Titel sollte die haben?« »Weiß ich noch nicht.« »Aber ich. Zwei Trottel auf Achse.« »Gut. Oder zwei Trottel auf dem Weg zur Hölle.« »Ja, das paßt auch.« Noch bestand die Hölle nur aus Hitze und nicht aus dem Teufel und einem Meer von Flammen und Folter. Die Straße war gut, mußte sie sein, war sie überall, wo die Militärs das Sagen hatten. Die bekamen ja genug Geld, im Gegensatz zu den Leuten, die es eigentlich gebraucht hätten. Auf dem Weg nach Gibraltar kamen wir uns vor wie in einem Militärlager. Selbst wenn Panzer gefahren wären, hätte uns das nicht weiter gewundert. Die Stadt schluckte uns. Von der Silhouette her modern, aber es gab auch eine Altstadt mit engen Gassen, vielen Torbögen und kleinen Innenhöfen, die auch bei größter Hitze teilweise noch schattig waren. Wir sollten uns mit einem gewissen Captain Lahmer treffen. Ich rechnete mit einem hohen Militäroffizier, wunderte mich allerdings, als wir ihn in der Bar eines Hotels erwischten und einen Mann vor uns sahen, der mir gerade bis zur Schulter reichte, aussah wie ein braver Schüler und das Haar auch so trug. Nur die Augen paßten nicht zu seinem unauffälligen Gesicht. Sie waren gletscherhart, wie auch der Händedruck, mit dem er uns begrüßte. »Man hat Sie von London aus avisiert. Wollen Sie sich erst einmal frisch machen?« »Das wäre gut.« »Wann kann ich Sie hier erwarten?« »In dreißig Minuten.« Suko hatte die Stirn gerunzelt. Im Lift sagte er zu mir: »Wenn der dreißig Minuten sagt, dann meint er das auch.« »Dann sei mal pünktlich.« »Du nicht?« »Kommt es auf eine Minute an? Wie sagen die Spanier so richtig? Mañana, morgen.«
»Ja, stimmt auch.« Über mein Zimmer regte ich mich nicht auf, obwohl es viel Geld kostete und klein war. Iis besaß eine Klimaanlage, die auch funktionierte, und das wog vieles wieder auf. Das Wasser aus der Dusche floß etwas dünn, deshalb blieb ich länger unter den Strahlen, trocknete mich ab und legte mich noch etwas aufs Ohr. Erst als Suko klopfte, schreckte ich hoch. Angezogen war ich schon, sah das Grinsen meines Partners und hörte seine Stimme, in der ein Vorwurf mitschwang. »Du bist schon fünf Minuten über die Zeit.« »Na und?« »Latimer wird sich irgendwohin beißen.« »Soll er.« Ich reckte mich, schnappte mir mein dünnes Jackett und streifte es über. Latimer wartete wieder in der Bar. F.r sah so aus, als hätte er seine Hallung um keinen Millimeter verändert, sein Blick kam mir böser vor als bei unserer Ankunft. »Ja, wir sind drüber, Meister. Nehmen Sie es nicht tragisch, der Tod kommt früh genug, auch für Sie.« »Möchten Sie etwas trinken?« »Wasser.« Er bestellte für Suko und mich. Kaum standen die Getränke, kam er zur Sache. »London hat mich nur wenig informiert. Soviel ich weiß, geht es um diese...«, er verzog die Mundwinkel, »diese Frau . . .« »Genau.« »Was wollen Sie von ihr? Weshalb ist sie plötzlich so wichtig für unser Land geworden?« »Keine Ahnung«, erwiderten Suko und ich wie aus einem Mund. »Erzählen Sie doch nichts.« Ich beugte mich vor. »Vielleicht wissen Sie mehr, Latimer. Euch Geheimdienstfritzen bleibt doch nichts verborgen. Ihr hört ja sogar, wenn Lady Di hustet.« »Sie scheinen über unsere Arbeit nicht informiert zu sein, Mr. Sinclair.« »Das will ich auch im allgemeinen nicht sein, aber reden wir über den speziellen Fall der Lady Kassandra. Was ist sie für ein Mensch? Weshalb lebt sie hier?« »Sie war einmal ein Star.« »Auf der Leinwand?« fragte Suko völlig harmlos. Latimer lief etwas an. »Sind Sie eigentlich gekommen, um mich hierauf den Arm zu nehmen?« Suko hob beide Arme. »Bewahre, Meister. Aber wir wissen tatsächlich wenig über sie.« »Lady Kassandra war im Geschäft ein Star!« Jetzt wurde ich sauer. »In welch einem Geschäft, verdammt? Doch nicht in einem Bäckerladen.«
»In unserem.« »Ah — Spionage.« »Abweh r.« »Geheimdienst«, sagte Suko. »Exakt.« »Und weiter? Bitte.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf Latimer. »Lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.« Der Captain nickte. Lady Kassandra kannte fast alles. Sie fütterte uns mit Informationen, über die wir nur die Köpfe schütteln konnten. Diese Frau besaß ein Wissen, phänomenal.« »Sie haben davon profitiert?« »Nicht ich persönlich, Mr. Sinclair. Ich habe nie mit ihr zusammengearbeitet, ich bin einfach zu jung gewesen. Das war alles vor meiner Zeit.« »Darf ich dann davon ausgehen, daß man Lady Kas-sandra in Pension geschickt hat?« »Das dürfen Sie.« »Und sie hat hier ihren Alterssitz bekommen. Oder sehe ich das falsch?« »Nein, das sehen Sie richtig.« »Wo denn?« Er hob die Schultern und hielt bei seinem kratzigen Lachen die Hand vor den Mund. »Auf den Felsen hat sie es geschafft, ein Haus zu bauen. Vielmehr wurde es ihr hingestellt. Für besondere Verdienste, die sie sich erworben hat.« »Wie alt ist diese Dame denn?« fragte ich. »Über sechzig.« »Da wäre es auch nicht gut, in ihrem harten Job noch länger zu arbeiten«, sagte ich. »Das meinen wir auch, aber wir meinen noch etwas«, sagte Lahmer mit leiser Stimme. »Was denn?« »Daß Ihr Besuch eine Gefahr für Lady Kassandra und uns alle hier darstellen kann.« »Weshalb?« »Wir haben das Gefühl, daß sie reaktiviert wird, und so etwas wollen wir und auch fremde Dienste nicht. Es könnte zuviel herauskommen, was bisher im dunkeln gelegen hat. Die Lady ist alt geworden, sie hat sogar ihr Gedächtnis verloren. Wir kennen Sie, Mr. Sinclair, und auch Sie, Suko. Wir wissen, daß Sie einen verantwortungsvollen Job haben und auch schon für unsere Organisation tätig waren. Diesmal jedoch sind wir sehr skeptisch, wenn Sie verstehen.« »Überhaupt nicht«, sagte ich. »Dann will ich deutlicher werden. Es paßt uns nicht, wenn Sie die Lady reaktivieren.« »Und das sollen wir machen?« fragte Suko. »Weshalb sind Sie sonst hier?«
»Dann wissen Sie mehr als wir«, erklärte mein Freund. »Viel mehr sogar.« »Ich verstehe, daß Sie nicht reden wollen.« Langsam wurde ich sauer. Ich beugte mich vor. »Hören Sie, Latimer, das hat mit Wollen oder Wissen nichts zu tun. Man hat uns geschickt, um der Lady einen Besuch abzustatten.« »Schön, schön.« Er nickte. »Hoffentlich wissen Sie, was der Name Kassandra bedeutet?« »So schlau sind wir auch.« Er stand auf. »Dann erinnern Sie sich zur richtigen Zeit daran.« An der Bar zahlte er die Rechnung und verschwand. Suko ließ die Hand vor seiner Stirn kreisen. »Sag mal, John, tickt der noch richtig?« »Und wenn, dann falsch herum«, erwiderte ich nachdenklich. Dann winkte ich ab. »So kann man es auch nicht sehen. Mittlerweile habe ich den Eindruck, daß hinter der Lady so etwas wie Dynamit steckt, das leicht detonieren kann.« Suko stand auf. »Dann zünden wir die Lunte mal an und fahren richtig harmlos zu ihr hoch.« Ich nickte. So locker wie Suko sah ich den Fall nicht. Ich glaubte fest daran, daß einiges dahintersteckte und uns noch böse Überraschungen erwarteten... *** In der >Sauna< rollten wir in Richtung Norden! Durch eine Landschaft, die von der Sonne ausgeglüht war, aber auch einen grünen Gürtel besaß, zwischen dem dieses helle Gestein schimmerte. An manchen Stellen sah es aus wie verwaschen und wieder getrocknet. Diejenigen, die es sich leisten konnten, hatten ihre Häuser auf die Hänge gebaut, Straßen angelegt und auch für eine entsprechende Pflege gesorgt. Schon sehr bald bekamen wir einen phant¿lstischen 131ick hinab gegen den Felsen und das Meer. Ein gewaltiger blaugrüner Teppich, der gegen die Küste anrollte und dabei zu hohen Wellen aufschäumte. Bis Afrika allerdings konnten wir nicht schauen, dazu war es zu diesig. Überhaupt hatte sich nur Suko gedreht, weil ich am Steuer des kleinen, aber wendigen Fiat saß. »Für die Landschaft interessierst du dich doch bestimmt nicht so stark«, machte ich Suko an, als ersieh zum wiederholten Male auf seinem Sitz gedreht hatte. »Richtig.« »Was ist dann?«
»Ich denke an Verfolger. Diesem Latimer traue ich alles zu. Ich kann mir auch vorstellen, daß er gegen uns eingestellt ist und versuchen wird, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen.« »Weshalb sollte er das?« fragte ich. »Das möchte ich auch gern wissen. Zumindest hängt es mit Lady Kassandra zusammen.« Ich wiederholte den Begriff. »Ein Deckname«, murmelte ich. »Nichts Ungewöhnliches. Das kommt halt im Spionage-Job häufiger vor. Ich möchte wissen, wie sie wirklich heißt.« »Frag sie doch, wenn du ihr den Ring überreichst. Sie wird es dir sicherlich gern sagen.« »Das glaube ich kaum. Aber ich halte sie schon jetzt für eine sehr ungewöhnliche und interessante Frau, obgleich ich sie noch nicht zu Gesicht bekommen habe.« »Sie ist schon älter«, meinte Suko. »Vielleicht hat sie etwas von einer Lady Sarah an sich.« »Könnte hinkommen.« Sonnenflecken und Schatten wechselten sich ab. Ein unsicheres Licht, an das sich meine Augen nicht gewöhnten. Ich mußte achtgeben, die Straße war kurvig und zudem viel befahren. Allerdings auch so ausgebaut, daß schwere Militärlaster sogar bei Gegenverkehr um die Kurven fahren konnten. Das Haus konnten wir nicht übersehen. Als Kuppelbau stand es auf einer Felsenplatte und gleichzeitig zum Wasser hin günstig gelegen. Ich konnte mirdurch-aus vorstellen, daß es innerhalb der Felsen vom Haus her einen Zugang gab. Die anderen Häuser lagen tiefer. Ebenfalls weiß gebaut, viele kastenartig und in Form von Bungalows, nur das der Lady Kassandra besaß eine Kuppel als Dach. »Sehr schön«, sagte Suko. »Wen meinst du?« »Dich nicht, Alter, das Haus.« Er drehte sich wieder um. »Nein, Latimer hat uns keinen seiner Leute geschickt. Wie schön.« »Warum sollte er auch? Der weiß doch, wo wir zu finden sind und wird schon alles in die Wege leiten.« Suko wiegte den Kopf. »Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, daß unser Freund Latimer mehr weiß, als er zugeben will. Da steckt einiges dahinter, glaube mir.« »Noch aus alten Zeiten?« »Ja. Und ich bin froh, daß ich ihm nicht alles erzählt habe. Außerdem wird der Ring noch eine große Rolle spielen. Er ist unser wichtigstes Indiz.« »Du meinst die Steine.« »Auch, du Korinthenkacker.« »Was ist das denn?« fragte Suko.
Ich bewegte die Stirn. »Kennst du den nicht? Korinthenkacker sind Menschen, die, wenn sie ihr Auto putzen, noch mal gegen die Chromverzierung hauchen, um sie besonders blank zu bekommen. Anschließend suchen sie mit einer Lupe den Lack nach Staub ab.« »Jetzt weiß ich Bescheid.« Ich grinste und bog nach rechts ab, wo grüne Hecken die Sicht auf Häuser nahmen. Wassertropfen klatschten gegen die Scheiben. Sie stammten nicht von Regenwolken, sondern waren über die Hecken geschleudert worden, denn auf vielen Rasen und in manchen Gärten drehten sich die Kreisel der Bewässerungsanlagen. Zum Haus führte ein Weg hoch. In den hellen Felsen hineingesprengt, zu beiden Seiten von wuchtigen Mauern begleitet. Das Kuppeldach war unseren Blicken entschwunden. Erst am breiten Tor aus Schmiedeeisen entdeckten wir es wieder. Da die beiden Flügel geschlossen waren, ließ ich den Wagen dicht vor dem Tor ausrollen. Zu sehen war niemand. Wir warteten ungefähr eine halbe Minute, bevor ich ausstieg. In der Mauer sah ich eine Klingel und darüber die Rillen einer Gegensprechanlage. Ich meldete mich akustisch und hörte aus der Anlage die Frage. »Wer ist dort bitte?« Ich sagte Sukos und meinen Namen. »Ah ja, wir haben Sie erwartet. Bitte, fahren Sie durch. Ich werde das Tor sofort öffnen.« Der Knabe hielt Wort. Ich saß kaum wieder, da schwangen die beiden Torflügel nach innen, und wir konnten passieren. Ein großer Hof nahm uns auf. Weiße Steine füllten ihn, ließen nur hin und wieder kleine Inseln für irgendwelche Gewächse und Blumenrabatten frei. Zur linken Seite hin, weg vom Haus, neigte sich das Gelände etwas. Dort schimmerte himmelblau das Wasser eines Pools. Laternen ragten wie weiß abgestrichene Arme in die Höhe. Sie markierten auch den Weg zum Haus, den wir gingen. Das Kuppeldach konnten wir nun aus unmittelbarer Nähe betrachten. Das Anwesen besaß einen maurischen Touch, wegen der starken Sonne gab es nur wenige Fenster. Die hell gestrichenen Mauern reflektierten das Licht. Natürlich war auch das breite Eingangsportal weiß gestrichen. Zu klingeln brauchten wir nicht. Ein Butler hatte uns bereits gesehen und öffnete. »Bitte, treten Sie ein, Gentlemcn, die Lady erwartet Sie bereits mit großer Spannung.« Einen englischen Butler, zudem noch in der typischen Butlerkleidung, den hätten wir nicht erwartet. Eine schwarze Hose, die schwarz-weiß
gestreifte Weste, dazu das blütenweiße Hemd, er war eben perfekt. »Wie heißen Sie?« fragte ich. »Sagen Sie nur nicht Henry oder Charles. Für so einfallslos halte ich die Lady nicht.« »Mein Name ist Malcolm.« Ich lächelte. »Habe ich mir doch gedacht.« Malcolm verbeugte sich, den Grund wußte keiner von uns. Er gehörte mit seinen rötlichen Haaren und der hellen Haut zu den Typen, die Sonne unbedingt vermeiden sollten, um nicht von ihr verbrannt zu werden. Seine Augen wirkten sehr hell und wäßrig. Vom Alter her konnten er und Sir James sich die Hand reichen. Wahrscheinlich arbeitete er schon jahrelang für die Lady. Malcolm verschwand mit leisen Schritten. Mich wunderte es, daß dieser Mann es schaffte, auf dem Marmorboden so leise zu gehen, denn die Teppiche, zumeist marokkanische Arbeiten, lagen woanders. Die Einrichtung war modern, meist in Schwarz gehalten, mit einem Ledersessel als Farbklecks. Ein wuchtiges Möbel, knallrot, das ungemein bequem aussah. Die Hausbar war in einem erlesenen Barschrank untergebracht. Ein Möbelstück aus der Renaissance, das auf zart wirkenden, geschwungenen Beinen stand. »Einen Drink?« fragte ich Suko. »Nicht jetzt.« »Aber ich.« Der Whisky gehörte zu den besten Marken, die es gab. Ich verdünnte ihn stark mit einem kräftigen Strahl aus der Sodawasser-Flasche. Mit dem Glas in der Hand durchschritt ich den großen Raum, der sechseckig angelegt war. In jeder Ecke befand sich ein schmales Fenster. Es schloß mit dem Fußboden ab. So fiel genügend Licht in die Halle, ohne sie allerdings zu überschwemmen. ' »Ein schönes Haus«, lobte ich. »Möchtest du hier am Ende Europas wohnen?« »Nein.« »Dann ist mir meine Bude im Hochhaus lieber. Da bin ich wenigstens zentral.« So gesehen hatte mein Freund recht. Auch mich würden keine zehn Pferde auf die Halbinsel schaffen. Der Butler war durch eine helle Für verschwunden, die sich auch bewegte, als er zurückkehrte. »Die Lady läßt bitten. — Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Ich leerte mein Glas, stellte es weg und ging hinter Suko her. Neben Malcolm — er hielt uns die Tür offen — blieb ich stehen. »Sagen Sie, wie geht es der Lady?« Sein Gesicht zeigte keine Reaktion. »Den Umständen entsprechend, Sir. Es ging ihr schon einmal besser.« »Ist sie krank?«
»Das kann man nicht so genau sagen, Sir. Sie ist seelisch ein wenig bedrückt, seit langem schon, aber das wird sich mit Ihrem Besuch hoffentlich ändern.« »Ihr geht es wirklich um den Ring?« »So ist es, Sir.« »Da können wir ihr helfen.« Der Butler lächelte, bat darum, vorangehen zu dürfen, und führte uns durch einen kühlen Flur. Auf dem blanken Marmorboden sahen wir kein Stäubchen. Dieses Haus schien kaum zu altern. Wenn mich nicht alles täuschte, würden wir in den Kuppelbau gelangen, zu dem die Marmortreppe hinführte, deren Stufen breit und wendeiförmig angelegt worden waren. Blumen hatten sogar auf ihnen Platz gefunden, und vom Boden her wuchs eine Pflanze durch den Schacht in die Flöhe. Sie kletterte an schmalen Stützbalken entlang. Nur unsere Schritte waren zu hören, Malcolm ging nach wie vor lautlos auf seinen Gummisohlen. Und er schritt so steif daher, als hätte er sich einen Stock in den Rücken geklemmt. Wir befanden uns tatsächlich am Ende der Treppe innerhalb des Kuppelbaus. Sehr groß war er und außen mit einer Galerie von Scheiben versehen, die Panzerglasdicke besaßen, denn die Sonnenstrahlen drangen kaum durch. Dafür befanden wir uns auf einer lichterfüllten Galerie, die einen phantastischen Blick in alle Himmelsrichtungen zuließ, je nachdem, wo man sich aufhielt. Ich nickte anerkennend. »Das ist wirklich einmalig gelöst.« Der Butler stimmte mir zu. »Die Lady hat es nach ihren Vorstellungen bauen lassen.« »Arbeiten Sie schon lange für sie?« fragte Suko. »Sehr lange.« Auf Einzelheiten ging er nicht ein, trat jedoch an eine Für, klopfte zweimal — wohl ein Zeichen — und öffnete dann. »Die Gentlemen sind hier, Mylady.« »Bitte, Malcolm, führen Sie die Herren herein.« »Sehr wohl.« Ich dachte über die Stimme der Lady Kassandra nach. Sie hatte für meinen Geschmack ein wenig zu brüchig geklungen, wie jemand, der alt war und unter Druck stand. Der Butler Iieß uns den Vortritt, diesmal betrat ich als erster den Raum und wiederum eine andere Welt, die sich vor meinen Augen öffnete wie ein Tor. Englisch, wohin mein Blick auch fiel. Alte Mahagonimöbel, ein Fußboden aus Holz, wertvolle Ledersessel mit hohen Rückenlehnen, blanke Fische und Leuchten, die ebenfalls aus der Zeit der Queen Victoria stammten. Sogar die englische Flagge sah ich. Sie stand aufrecht an einer der runden Wände und bewegte sich leicht im Durchzug. Fenster gab es in diesem sehr großen Raum nicht. Für Frischluft sorgte eine Klimaanlage.
Die Lady sahen wir nicht, bisher hatten wir nur die Stimme vernommen, das aber änderte sich, denn sie schaltete eine Lampe ein, und der warme Lichtkegel fiel über ein altes, aber sehr bequemes Ledersofa, auf dem die Lady ihren Platz gefunden hatte. Halb saß, halb lag sie. »Bitte kommen Sie zu mir.« Das taten wir auch. Der Butler hielt sich im Hintergrund und wurde dann hinausgeschickt. Er ging ohne ein Wort der Klage oder des Widerspruchs. Wir aber wurden aus Augen gemustert, die im Gegensatz zu dem vom Leben gezeichneten Gesicht überaus jung und frisch wirkten. Diese Augen allein taten uns kund, daß die Lady etwas Besonderes war. Sie trug ein langes, rotes Hauskleid, dessen Stoff ein Muster aus Frühlingsblumen zeigte. Das Gesicht zeigte wegen der nach hinten gekämmten Haare einen noch strengeren Ausdruck, die Lippen besaßen jedoch eine ungewöhnliche Fülle, und ich konnte mir vorstellen, daß diese große alte Dame früher einmal eine sehr hübsche Frau gewesen war. Dicht neben dem Sofa verhielten wir unsere Schritte und warteten, bis die Frau mit der Musterung fertig war. Dann streckte sie mir ihre Hand entgegen, über die ich mich beugte und den kühlen Handrücken kurz mit den Lippen berührte. »Oh — formvollendet«, kommentierte sie meinen Handkuß. »Ich wußte nicht, daß die Mitglieder des Yard auch heute noch derart gute Manieren besitzen.« »Haben Sie schlechte Erfahrungen gemacht, Lady?« »Das nicht gerade.« Sie begrüßte Suko und bat uns, Platz zu nehmen. »Holen Sie sich bitte zwei Ledersessel heran. Sie sind sehr bequem. Man kann in ihnen lange sitzen.« Die Sessel, so schwer und wuchtig sie auch aussahen, liefen auf Rollen, was einen Transport erleichterte. Wir setzten uns so, daß wir uns gegenseitig anschauen konnten. »Falls Sie sich etwas zu trinken holen wollen, die Hausbar finden Sie in…« Wir winkten ab, was die Lady zu der Bemerkung ver-anlaßte, daß wir hier ja nicht direkt im Dienst wären. Dann nickte sie. »So also sehen die Männer aus, denen Sir James sein volles Vertrauen geschenkt hat, damit sie mir den Stein zurückbringen, den ich leider dritteln mußte.« Bisher hatten wir ihre linke Hand kaum gesehen, da sie an der anderen Seite des Körpers lag. Jetzt aber hob sie den Arm langsam und legte die Hand auf ihren Körper. Im Gegensatz zu ihrer rechten war die linke beinahe ringlos. Nur den Mittelfinger schmückte ein Ring. Leider fehlte ihm der Stein. Es war eine sehr große Fassung, ebenfalls ein Oval. Wenn mich nicht alles täuschte, würden die drei Teile des Steins genau hineinpassen.
Lady Kassandra hatte unseren Blick sehr deutlich bemerkt. »Nun? Bin ich die richtige Person?« »Das scheint so.« Sie lachte leise. »Es ist mein Ring, den Sie vervollständigen werden. Als mich James anrief, hätte ich vor Glück schreien können. Ich habe mich nur mühsam beherrscht. Für eine Frau in meinem Alter schickt es sich nicht, Jubelschreie auszustoßen.« »Das möchte ich nicht sagen. Jeder ist irgendwo Mensch.« »Da haben Sie recht, Mr. Sinclair.« »Darf ich fragen, was den Ring für Sie so ungemein wichtig macht?« erkundigte sich Suko. Lady Kassandra schaute ihn an. »Sie dürfen fragen, doch die Antwort werde ich Ihnen jetzt noch nicht erteilen. Statt dessen möchte ich Sie fragen, ob Sie den Stein bei sich haben.« »Gedrittelt«, antwortete ich. »Ich habe mit nichts anderem gerechnet, denn ich war es, die den Stein damals auseinanderbrach.« Ich wußte, daß sie darauf wartete, ihn zu sehen, deshalb holte ich das kleine Etui hervor. Als sie es in meiner Hand sah, holte sie zischend Luft. Sie konnte sich nur mühsam beherrschen. Zum erstenmal merkten wir, wie wichtig dieser Stein für sie war. Bevor ich das Etui aufklappte, hielt ich es so, daß Lady Kassandra hineinschauen konnte. Plötzlich zuckte es in ihrem Gesicht. Freude breitete sich darin aus, die Augen fingen an zu leuchten, der volle Mund begann zu zittern. »Es ist der, den Sie gesucht haben, nicht wahr?« »Ja, das ist er. Himmel, das ist der Ring. Ich . . . ich kann es kaum fassen.« Ihre Hände bewegten sich unruhig. Ich wartete ab, bis sich die Frau wieder gefangen hatte. Ich wollte weitere Anweisungen von ihr haben. »Wollen Sie den Stein zunächst. . .?« »Nein, Mr. Sinclair, nein, auf keinen Fall. Ich will gar nichts. Ich werde Ihnen meine Hand reichen, dann tun Sie mir einen Gefallen und legen die drei Steine in die Fassung. Sie werden passen, sie müssen passen, Mr. Sinclair.« »Können wir danach gehen?« Da schlug sie gegen ihre Stirn. »Wenn Sie es schaffen, bestimmt, aber das glaube ich nicht.« »Was hat es mit dem Ring auf sich?« »Bitte, Mr. Sinclair, nehmen Sie die einzelnen Teile und legen Sie sie in die Fassung.« Ich hatte längst bemerkt, daß sie es damit eilig hatte. Für diese Frau bedeutete der Ring etwas ungemein Kostbares, was sich allerdings nicht auf den materiellen Wert bezog, sondern auf den ideellen.
Mit spitzen Fingern nahm ich das erste Stück hervor. Suko saß unbeweglich und leicht vorgebeugt neben mir und beobachtete uns beide. Lady Kassandra war aufgeregt. Sie hatte Mühe, ruhig liegenzubleiben, und die linke Hand zitterte stärker als die rechte. Ich lächelte ihr zu. »Bitte, es wird alles glatt ablaufen, Sie brauchen nicht so aufgeregt zu sein, Lady.« »Wenn Sie wüßten, Mr. Sinclair . ..« Ich wußte nichts und dachte deshalb über die Bemerkung nach, ohne sie verstanden zu haben. Es spielte keine Rolle, wie ich die einzelnen Ovale in die Fassung hineinlegte, sie würden sich immer wieder treffen und zu einer Einheit zusammenschmelzen. Sehr behutsam ging ich zu Werk, schließlich wollte ich nichts zerstören. So etwas wie eine andächtige und gleichzeitig erwartungsvolle Stimmung hatte sich ausgebreitet. Da schien die Luft zwischen uns zu vibrieren, und auch mich erfaßte ein leichtes Zittern, als ich das zweite Oval aus dem Etui hervorholte. Die alte Dame schaute auf ihren Ring. Ihre Augen glänzten in einer stummen, aber sehr intensiven Freude. Man sah ihr an, daß sie sehr lange auf diesen Augenblick gewartet hatte. Auch der zweite Stein paßte haargenau in die Fassung. Es blieb noch genügend Flatz, um den dritten hineinlegen zu können. Obwohl es innerhalb des großen Raumes kühl war, bedeckten Schweißtropfen die Stirn der alten Dame. Ich allerdings stellte mir die Frage, ob die Steine auch mit einer gewissen Magie gefüllt waren, sonst hätten diesen Job auch andere Männer übernehmen können. Sir James jedenfalls hatte uns darüber nichts gesagt und eigentlich noch nie so geheimnisvoll getan wie gerade in diesem ungewöhnlichen Fall. »Jetzt noch der letzte«, flüsterte sie. »Dann ... dann ist alles vorbei, dann werden wieder die alten Zeiten anbrechen, daran glaube ich fest, sehr fest.« Ich fragte nicht, was sie damit genau meinte, das hätte zu diesem Zeitpunkt nicht gepaßt. Mit sehr behutsamen Bewegungen nahm ich auch das letzte Drittel aus dem Etui und näherte mich der flach auf dem Körper liegenden Hand. Wenn alle drei Steine zusammenfanden, würde sich etwas verändern, davon war ich überzeugt. Mein Freund Suko nickte mir zweimal zu, auch er wollte, daß wir die Auflösung sahen. Ich legte den Stein genau in die Lücke. Jetzt war die letzte Lücke gefüllt, und es sah so aus, als hätte der Stein die Fassung niemals zuvor verlassen. Selbst Lücken, wo sie gegeneinanderstießen, konnte ich nicht erkennen.
Da paßte alles. Und Lady Kassandra atmete auf. Sie hielt den Mund weit offen, saugte die Luft ein, als wollte sie die trinken. Ich bekam Angst um sie, dann sah ich das Lächeln um ihre Lippen zucken und erkannte, wie gut es der alten Dame ging. »Ich ... ich danke Ihnen«, sagte sie mit leiser, kaum verständlicher Stimme. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihnen danke, denn nun habe ich ihn zurückbekommen. Nun wird alles wieder so werden wie früher. Es gibt kein Alter, es gibt keinen Tod mehr, der Ring hat mich gerettet, nein, Sie haben mich gerettet.« Während sie sprach, lag sie auf dem Rücken, ohne uns dabei anzusehen. Ihr Blick war zur Decke gerichtet, als könnte sie dort etwas erkennen. Ich wollte etwas sagen, das Wort jedoch schnitt mir Suko ab, indem er mich hart anfaßte und seine Finger meinen linken Arm in Ellbogenhöhe umspannten. »Da, John . . .« Ich sagte nichts, starrte, staunte und wußte nicht, wie ich den rätselhaften und ungewöhnlichen Vorgang erklären sollte. Lady Kassandra war eine Frau gewesen, die ungefähr siebzig Jahre zählte. Jetzt aber fing sie damit an, sich zu verjüngen... *** Es war unglaublich, es war unwahrscheinlich und gleichzeitig unerklärlich für uns. Wir saßen da, rührten nicht einmal den kleinen Finger und schauten zu. Bisher hatten wir nur den umgekehrten Vorgang erlebt. Wenn wir einen Gegner gejagt hatten, einen Vampir oder Dämon, vielleicht auch einen Zombie, dann war er, wie auch die Tänzerin Fatima, gealtert und oft zu Staub zerfallen. Hier nicht... Vom Zuschauen brannten mir die Augen, aber die Szene wardermaßen faszinierend, daß ich kaum einen Blick von ihr wenden konnte und jedes Detail mitbekam. Es fing am Gesicht an und griff gleichzeitig über auf die Haare, die nicht mehr ihre steingraue Farbe behielten. Von innen her bekamen sie Glanz, der auch die Grauschleier wegtrieb, dem Haar wieder die richtige Fülle und seine ehemalige Farbe gab. Dunkel, sehr dunkel, fast schwarz! Aber es blieb nicht beim Haar, denn auch die Haut auf ihrem Körper veränderte sich. Das fing im Gesicht an, wo die Falten verschwanden, die Haut sich wieder glättete, aber nicht so künstlich aussah wie bei
einem Menschen, der von der Schönheitsfarm kommt und sich manchmal im Spiegel selbst nicht mehr erkennt. Nein, diese Haut machte eine völlig normale Metamorphose durch. Sie glättete sich wunderbar, und das Altern, das Jahre gedauert hatte, spielte sich nun in Minutenschnelle rückwärts ab. Aus einem alten Menschen wurde ein junger. Selbst die Lippen bekamen mehr Fülle und Röte. Nur der Ausdruck der Augen hatte sich nicht verändert, und ich mußte zugeben, daß Lady Kassandra eine wunderschöne Frau um die Dreißig war. Aber auch die Hände veränderten sich. Die braunen Altersflecken waren längst nicht mehr zu sehen. Die Flaut sah aus, als hätte man sie genau an diesen Stellen überpinselt. Mir rannen Schauer über den Rücken, als ich diesem Vorgang zuschaute. Auch Suko reagierte nicht anders. Er strich über sein Gesicht, ohne die Gänsehaut vertreiben zu können. Es war einmalig. Frische Hände bekamen wirzu sehen. Die drei Steine des Rings hatten dafür gesorgt. Ein Phänomen ein magisches Rätsel, der Stein war nichts anderes als ein Jungbrunnen. Nun verstand ich, weshalb uns Sir James nicht eingeweiht hatte. Er aber hatte genau Bescheid gewußt. Wenn er uns jetzt hätte sehen können, meine Güte, er hätte sicherlich über unsere Starr- Lind auch Betroffenheit gestaunt. Während der Verwandlung atmete die Frau heftig. Manchmal rann auch ein Zucken über ihren Körper und machte auch vor dem Gesicht nicht Halt. Doch der Glanz war für uns ebenfalls nicht zu übersehen. Kein Leuchten aus dem Jenseits, sondern ein Strahlen von innen, das die unwahrscheinliche Freude dokumentierte, die diese Frau empfand. Wie festgeklebt saßen wir in unseren Sesseln und schauten sie an. Ein volles Gesicht, eine gerade kleine Nase, eine Frau, die aussah, als würde Zigeunerblut in ihren Adern fließen. Sehr interessant und auch willensstark. Um das zu erkennen, brauchten wir nur in die dunklen Augen zu schauen. Dann sprach sie uns an. Zum erstenmal nach ihrer Verwandlung öffnete sie den Mund, um zu reden. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen beiden bin. Ich habe es geschafft! Ja, ich habe es endlich geschafft, der Ring, der mir so viel bedeutete, ist nun wieder in meinen Besitz gelangt. Er hat seine Kräfte nicht verloren, was ich schon heimlich befürchtete.« »Wieso?« hauchte ich. »Später, Mr. Sinclair, später. Sie werden alles erklärt bekommen, denken Sie nicht, daß Sic schon das Hude der Fahnenstange erreicht
haben. Ich aber kann nur sagen, daß Fady Kassandra wieder da ist und daß ihre Flüche nur gut gemeint sind.« Wir begriffen nicht, was sie damit meinte, aber wir erhoben uns, als wir sahen, daß auch Fady Kassandra Anstalten traf, sich zu erheben. Sehr vorsichtig zog sie die Beine an, als wollte sie ausprobieren, ob sie sich auch noch so bewegen konnte wie früher. Sie stellte die Füße auf den Boden, wartete und betastete dabei ihr Gesicht, als wollte sie nachfühlen, ob noch alles vorhanden war. Ihr Nicken zeigte an, daß sie mit sich selbst zufrieden war. Fangsam sanken die Hände wieder nach unten. Auf den Oberschenkeln fanden sie Platz, und mit einem Ruck stand die Lady auf. Sie schaute uns an, lächelte, kam auf mich zu und küßte mich. Ich zuckte zusammen, dann spürte ich ihre weichen Lippen und nahm diese Geste als Dankeschön hin, wie auch Suko, der allerdings leicht rot anlief und sich verlegen räusperte. Die Frau trat zurück, schaute an sich herab und schüttelte den Kopf. »Meine Güte, ich bin ja völlig verkehrt angezogen. Entschuldigen Sie mich einen Moment, ich bin gleich wieder da.« Kaum gesprochen, war sie hinter einer der zahlreichen schmalen Füren verschwunden, die zu anderen Räumen führten. Ich schaute gegen die runde Decke, die weiß gestrichen war und deshalb noch höher wirkte. »Was ist hier geschehen?« flüsterte ich. »Was, zum Teufel?« »Das darfst du mich nicht fragen, John, ich denke auch darüber nach und kenne die Antwort nicht.« »F.ine Verjüngung.« »Richtig, und zwar durch den Ring, dessen Stein wir ihr gebracht haben.« Ich schaute gegen meine Fußspitzen Lind murmelte: »Lady Kassandra, ein ungewöhnlicher Name, aber ein Name mit Bedeutung. Die hat in der Mythologie die Wahrheit gesagt, aber niemand hat ihr je geglaubt. Wenn sie ihren Namen zu Recht trägt, müßte sie auch jetzt Lind früher immer die Wahrheit gesagt haben. Hat man ihr geglaubt?« »Wer sollte ihr denn geglaubt haben?» Ich starrte Suko an. »Der Geheimdienst. Oder kennst dLi eine andere Lösung?« »Nein. Dabei denke ich an Latimer. Er war nicht begeistert davon, daß wir hiereinen Besuch machen.« »Schlechte Erfahrungen?« »Was weiß ich.« Ich streckte meinen rechten Zeigefinger in die Höhe und bewegte ihn einige Male. »Gehen wir mal davon aus, daß der Ring magisch geladen ist und Lady Kassandra gewisse Kräfte verleiht, die man mit dem Wort Hellseherei umschreiben kann. Wenn das zutrifft, wird sie Dinge sehen,
die sich in der Zukunft abspielen und die für die Geheimdienste interessant sein könnten.« »Oder auch nicht. Weißt du denn, ob so etwas in ihre Pläne paßt? Die kochen lieber ihre eigene Suppe, auch wenn sie manchmal anbrennt. Den Burschen traue ich nicht.« »Wahrscheinlich zu Recht.« Ich stieß die Luft schnaufend durch die Nase aus. »Vielleicht könnte sie uns dann die Gefallen tun, die ihr die Geheimdienste verwehren und uns erklären, wann und wo sich etwas anbahnt. Vorausgesetzt, sie besitzt ein l'eeling hin zur anderen, zur dämonischen oder magischen Seite.« »Das sehe ich auch so.« »Nicht ohne Grund hat Sir James uns beide losgeschickt.« Suko gestattete sich ein Lächeln. »Der wußte schon Bescheid, John. Sir James war mal wieder mit allen Wassern gewaschen. Ich kann mir auch vorstellen, daß er und Lady Kassandra früher einmal sehr gute Bekannte gewesen waren.« Fr schnickte mit den Fingern. »Was wissen wir eigentlich von der Vergangenheit unseres Chefs, John?« »Nichts — so gut wie nichts.« »Der Ansicht bin ich auch. Sie verschwimmt in einem trüben Grau. Auch deshalb, weil wir keine Fragen stellten.« »Hatten wir denn Gründe?« »Sicher nicht.« »Eben.« »Jedenfalls ist der Fall für mich noch längst nicht beendet«, erklärte der Inspektor. »Das dicke Ende kommt noch. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sir James uns nur geschickt hat, damit wir die drei Steinteile besorgen. Da muß noch etwas anderes dahinterstecken. Vielleicht geht es jetzt erst richtig zur Sache.« »Bestimmte Vorstellungen hast du nicht — oder?« Suko hob die Schultern. »Was heißt hier Vorstellungen? Ich könnte mir durchaus denken, daß Lady Kassandra jetzt, wo sie sich verjüngt hat, wieder so reagiert wie früher. Das alles ist möglich. Bestimmt sieht sie eine Gefahr, die sie uns mitteilt und die wir dann stoppen sollen.« »Das ist weit hergeholt, Suko.« »Zu weit?« »Wir werden sehen.« Er ging zur Bar und ließ Sodawasser in ein Glas schießen. »Ich jedenfalls habe da so meine eigenen Vorstellungen und nehme eigentlich alles hin, ohne großartig überrascht zu werden.« »Warten wir auf ihre Rückkehr.« Das dauerte nicht mehr lange, denn in den nächsten Sekunden öffnete sich wiederdie'Für, durch die sie verschwunden war. Lady Kassandra kehrte zurück. Aber wie sie kam.
Himmel, ich hatte Mühe, einen Pfiff oder ein lautes Staunen zu unterdrücken. Mit dieser Aufmachung hatte ich nicht gerechnet. Lady Kassandra trug einen modernen schilfgrünen Hosenrock mit weiten Beinen, die dicht über den Knöcheln endeten. Der goldfarbene Gürtel paßte zu den weichen Schuhen mit dem Goldmuster aus Wellenlinien, ebenso die grundweiße Seidenbluse mit den goldenen Stickereien. Das Haar hatte sie frisiert-unfrisiert gelassen. Um ihren Hals hing eine breite Kette, und die Finger der Rechten waren voll beringt, im Gegensatz zur Linken, an der sie nur einen Ring trug, eben den, den wir aufgefüllt hatten. »Sind Sie es tatsächlich?« fragte ich. Die Frau lachte. »Ja, ich bin es. Und ich bin wieder so geworden wie früher. Ich habie mein Alter überstanden. Ich habe die Jugend zurückgeholt, obwohl sehr viele junge Leute eine Dreißigjährige nicht mehr als jung ansehen, wenn Sie verstehen.« »Sicher, das begreife ich.« »Trinken wir einen Schluck zusammen?« fragte sie und bewegte sich dabei wie eine sichere Gastgeberin, die es gewohnt war, Feste zu geben und im Mittelpunkt zu stehen. Wir hatten nichts dagegen und konnten unter mehreren Whiskysorten aussuchen. Suko blieb bei Sodawasser. Ich verdünnte mir meinen Drink, was auch Lady Kassandra tat. Sie hob ihr Glas, darüber hinweg lächelte sie uns zu. »Trinken wir auf das Leben, auf die Jugend und darauf, daß Sie beide das eigentlich Unwahrscheinliche geschafft haben und mir den Stein zurückbrachten. Cheers!« Wir tranken. Ich sah ihr Lächeln und fühlte, wie glücklich diese Frau war. »Hatten Sie den Ring verloren, Lady?« »Nein, Mr. Sinclair. Man nahm ihn mir ab, man raubte ihn mir, es war sehr schlimm.« »Sie können sich bestimmt denken, daß wir darüber gern mehr erfahren hätten.« »Natürlich, das wird auch geschehen, allerdings nicht jetzt, denn ich möchte warten, bis noch jemand zu unserer Runde gestoßen ist. hin sehr lieber Mensch, dem ich viel verdanke und der die ganzen Jahre um mich gezittert hat.« »Wann kommt er denn?« fragte Suko. Sie schaute auf die Uhr. Lächelnd hob sie den Kopf wieder an. »Wie ich ihn einschätze, müßte er eigentlich hier sein, denn Unpünktlichkeit hat er immer gehaßt.« Da war ich aber gespannt, wen sie uns präsentieren wollte. Fine der Türen öffnete sich nach einem zaghaften Klopfen, und Malcolm schaute in den Raum. »Er ist bereit, Mylady.«
»Dann bitten Sie ihn herein.« Sie stellte sich nach diesen Worten etwas abseits, um uns den Blick auf die Tür nicht zu versperren. Wir hörten die Schritte. Ich lauschte ihrem Klang und dachte daran, daß ich sie kannte. »Das ist doch«, flüsterte ich, »das ist doch . . .« Den Satz sprach ich nicht zu Ende, denn auf der Türschwelle erschien jemand, den Suko und ich sehr gut kannten. Es war Sir James, unser Chef! *** Da wurde doch der Hund in der Pfanne verrückt. Uns dermaßen reinzulegen, uns nichts davon zu sagen, daß auch er den Weg nach Gibraltar gefunden hatte. Es wollte mir nicht in den Kopf, und auch Suko war völlig perplex. Er bekam kein Wort hervor. Sir James nickte uns zu, lächelte und sah eigentlich aus wie immer. Er hatte sich nicht den hier vorherrschenden Witterungsverhältnissen gemäß angezogen. Er trug einen grauen Anzug, darunter das obligatorische Streifenhemd, alles geschneidert in der Savile Road, London, aus bestem Tuch. Schweiß glänzte nicht auf seiner Stirn. Er behielt das Lächeln bei, nickte uns zu und kümmerte sich dann um die Frau, die ihm beide Arme entgegenstreckte. »Lieber James«, sagte sie. »Mein lieber James, ich freue mich, dich endlich wiedersehen zu können.« »Es hat auch lange genug gedauert, Agathe.« »Sicher — Jahre sind vergangen. Aber du hast die Zeit doch nicht vergessen, James?« »Wie könnte ich das? Wie oft habe ich an dich gedacht und auch an die Dinge, die damals leider nicht möglich waren.« »Ja, das stimmt.« Suko und ich standen wie zwei Ölgötzen da, starrten uns an, staunten und wußten nicht, was wir davon halten sollten. Es war für uns unbegreiflich, denn so hatten wir unseren Chef noch nie erlebt. Daß er und eine Frau sich dermaßen gut kannten, konnten wir nicht fassen. Aber letztendlich war auch Sir James ein Mensch, mit allen Vor- und Nachteilen, die das Menschsein eben mit sich brachte. Er ging ihr entgegen, für uns hatte er keinen Blick übrig. Waren seine Augen hinter den dicken Gläsern der Brille feucht geworden, oder täuschten wir uns nur? Genau konnten wir es nicht erkennen und schauten zu, wie Sir James auf Lady Kassandra zuschritt, die ihm auch weiterhin die Arme entgegenstreckte.
Sie war jung, er relativ alt. Sie konnte seine Tochter sein. Auf mich wirkte es schon etwas befremdend, als sich beide schließlich in die Arme nahmen und sie ihn küßte. »Mann o Mann«, staunte Suko laut. »Da muß man so lange zusammenarbeiten, um so etwas zu erleben. Ich begreife die Welt nicht mehr, John, ich nicht.« »Ich ebenfalls.« Sie küßten sich, und die Hände der Frau streichelten dabei die Wangen unseres Chefs. Wir standen herum wie zwei Schulbuben, die dem Direktor vorgeführt worden waren, und ich mußte meinem Gefühl recht geben. Die Überraschungen rissen wirklich nicht ab. Erst die ungewöhnliche Verjüngungskur der Frau, und nun das Erscheinen des Sir James. Sie lösten sich voneinander. Ein letztes Mal glitten Agathes Hände streichelnd über sein Gesicht, dann atmete sie tief durch. »Es ist wirklich nicht zu fassen, daß ich dich wiederhabe, James. Ich . . . ich kann dir meine Freude kaum beschreiben.« Sir James nickte. »Nur bin ich älter geworden, viel älter, meine Liebe.« »Das war ich auch. Dann aber brachte man mir den Stein. Und du hast dafür gesorgt.« »Richtig.« Er atmete tief ein. »Meine Güte, nach so vielen, langen Jahren.« Bevor das Ganze zu einem sehr langen Dialog ausartete, stellte ich eine Zwischenfrage. »Sir, bitte, können Sie uns zwei armen Zuschauern mal erklären, was das zu bedeuten hat? Sie kamen hier herein, umarmten und küßten diese Frau und . . .« »Moment, John, ich gebe Ihnen die Erklärung. Seit wann ist es verboten, seine eigene Frau zu küssen...?« *** Ich schloß die Augen, Suko hielt sie offen, das hat er mir später berichtet. Wie dem auch war, wir konnten es nicht fassen, waren wie vor den Kopf geschlagen. Sir James war verheiratet oder verheiratet gewesen? Das war der Klopfer des Jahres, der Hammer der Stunde, und ob ich wollte oder nicht, ich konnte mir ein etwas dumm klingendes Lachen nicht verkneifen. »Ist was?« fragte Sir James. Ich nickte einige Male. »Eine ganze Menge, würde ich sagen. Sir, Sie ... Sie verstehen es wirklich prächtig, einen Menschen zu überraschen. Ich
persönlich habe auch nichts dagegen, daß es jedoch so dick kommt, damit haben Suko und ich nicht gerechnet.« »Genau«, sagte mein Freund. Sir James hob die Schultern. »Als was haben Sie mich denn bisher angesehen? Konnten Sie sich nicht vorstellen, daß ich auch einmal verheiratet gewesen war oder es noch bin?« »Ehrlich gesagt, nein, Sir«, gab Suko zu. Der Superintendent nickte. »Manchmal ist es sogar verständlich. Sie haben mich nie mit einer Frau zusammen gesehen und gingen davon aus, daß mein Leben sich zwischen dem Büro und dem Club abspielt. Habe ich recht, John - Suko?« Wir nickten beide. »Das mag auch so stimmen, aber denken Sie daran, daß es auch bei mir ein Früher gab, wo ich noch nicht beim Yard beschäftigt war und mir andere Aufgaben übertragen wurden.« »Geheimdienstlicher Art?« »So ist es. Agathe Stanhope war ebenfalls für die Regierung tätig, also auch im Secret Service, wo sie als Person galt, die fast alles wußte. Man nannte sie das Gehirn oder eben Lady Kassandra. Sie besitzt die Begabung, Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben. Aber wie in der griechischen Mythologie hat auch hier das Schicksal mitgespielt. Niemand glaubte ihr.« »Auch Sie nicht, Sir?« »Doch, John, ich glaubte ihr. Ich habe mich sogar in diese außergewöhnliche Frau verliebt. Sie erwiderte meine Liebe und wollte nicht mehr von meiner Seite weichen. Wir haben geheiratet, was allerdings kaum jemand wußte. Leider trennte uns der Job zu oft. Es war zwar eine gute Ehe, aber keine glückliche, weil wir eben nicht zusammen waren.« »Woran lag es denn, daß Lady Agathe in die Zukunft schauen konnte? Spielte der Ring dabei eine Rolle?« Sir James nickte. »Ja, er war das ein und alles.« »Woher kam er?« wollte Suko wissen. »Das müssen Sie schon meine Frau fragen.« Einen derartigen Satz hatten wir von Sir James noch nie gehört und zeigten uns dementsprechend irritiert. Lady Kassandra achtete nicht darauf. Sie erklärte uns, daß ihr der Ring von jemandem geschenkt worden war, dem sie das Leben gerettet hatte. »War das in Europa?« »Nein, im Orient. Der Mann gehörte zu der Gruppe Menschen, die man heute als Gurus bezeichnen würde, aber er war mehr, das spürte ich sofort. Er besaß Kontakt zu jenseitigen Welten. Er sagte mir ein bestimmtes Detail aus meinem zukünftigen Leben genau voraus, und da wurde mir klar, daß dieser Mensch kein Scharlatan war. Ich rettete ihm
das Leben, vordem Tod konnte ich ihn nicht bewahren. Man brachte ihn um, und er übergab mir, als ich zufällig in seiner Todesminute bei ihm war, den Ring, der mein Leben verändern sollte.« »Und nicht nur das ihre«, erklärte Sir James, »ich wurde damals zum erstenmal mit Gebieten konfrontiert, über die ich zuvor nur gelacht oder die Nase gerümpft habe. Ich merkte jedoch, daß es nicht nur unsere Welt gibt, und eine andere oder viele andere ebenfalls vorhanden waren. Man mußte sie nur finden und fest zu ihnen stehen. Ich lernte also um und war derjenige, der ihr glaubte, wenn ihre Ahnungen sie überkamen. Viel später trennten wir uns dann. Ich übernahm eine Aufgabe beim Yard, Agathe wollte in einem wärmeren Klima leben. Der Kontakt riß nie ab. Wir telefonierten oft miteinander, wurden älter, aber ich war stets über ihr Schicksal informiert.« »Dann besaßen sie den Ring nicht mehr«, sprach ich Lady Kassandra an. »Das stimmt. Er wurde mir gestohlen, und zwar ausgerechnet von einem unserer größten Widersacher, dem Bulgaren.« »Der Name sagt uns nichts«, sprach ich für Suko gleich mit. »Das kann ich mir denken. Der Bulgare war gefahrlich, ein gnadenloser Killer und Doppelagent, der aus irgendwelchen Quellen über die Funktion des Rings Bescheid wußte. Fr hat ihn mir genommen, den Stein gedrittelt und ihn an seine Agenten verteilt, die für ihn arbeiteten. An zwei Männer und eine Frau. Die Frau war Tänzerin in Istanbul und hieß Fatima. Die Männer hörten auf die Namen Spinosa und Kramer. Sie merkten schon bald, welche Kraft der Ring besaß, denn sie lebten weiter, ohne dabei zu altern. So konnte die Tänzerin ihrem Job nachgehen, und auch die Männer wurden immer wieder eingesetzt. Sie überlebten als junge Leute die anderen, die älter wurden.« »Fiel es nicht auf?« fragte Suko. Lady Kassandra hob die Schultern. »Das kann ich nicht genau sagen. Und wenn schon, in unseren Kreisen redet man nicht davon. Ich hatte mich ebenfalls mit dem Schicksal abgefunden und alterte wie andere Menschen auch. Meinen Mann sah ich kaum noch, denn er war zu Scotland Yard gegangen und hatte dort einen Job angenommen.« »Das stimmt«, sagte Sir James. »Aber ich habe das Erlebnis mit dem Ring niemals vergessen. Aus diesem Grunde auch sorgte ich dafür, daß wir eine Spezialein-richtung schufen, die sich mit der Bekämpfung übersinnlicher Phänomene befaßt. Daß sich diese Abteilung dermaßen ausweiten würde, daran habe ich nie gedacht, das hat mich selbst überrascht, doch ich brauche es Ihnen beiden nicht zu sagen. Sie haben es ja selbst miterlebt.« Für eine Weile schwiegen wir. Jeder hing seinen Gedanken nach, und ich formulierte schließlich eine
Frage. »Wie haben Sie es denn geschafft. . .« Ich schüttelte den Kopf, war noch ganz durcheinander. »Anders gefragt. Wieso kamen Sie erst jetzt auf den Gedanken, Sir, den Ring wieder suchen zu lassen?« »Das ist ganz einfach. Einer unserer Leute fand eine Spur. Die führte uns zu Spinosa. Dem Mann gelang es, mehr zu erfahren, und plötzlich wußte ich Bescheid.« »War der andere auch ein Doppelagent?« »Ja. Für Sie, John und Suko, war er nicht wichtig. Ich besaß schließlich die Namen derjenigen, die die Ringteile besaßen, und es waren noch die gleichen wie früher. Da der Stein magisch aufgeladen war und er seine Magie auch nicht verloren hatte, ist die Suche nach ihm zwangsläufig ein Fall für Sie geworden, und Sie beide haben mich nicht enttäuscht. Dafür möchte ich Ihnen noch einmal danken, und dies auch im Namen meiner Frau,denn wirsind in der ganzen Zeit nicht geschieden worden.« Er warf ihr einen lächelnden Blick zu, wobei sich sein Gesicht sehr schnell verdüsterte und er auch gleich eine Erklärung mitgab. »Du bist eine schöne Frau, Agathe, so habe ich dich kennengelernt. Die Kraft des Ringes hat dich verjüngt, während ich weiterhin altere, was ganz natürlich ist.« Das waren in der Tat Probleme. Jeder von uns dachte darüber nach. Wie sollte sich Sir James verhalten? Wie hätte ich mich in seinem Fall verhalten? Nein, darauf eine Antwort zu finden, war für mich schwer genug, so etwas schaffte ich nicht in einer kurzen Zeitspanne. Wenn ich ehrlich sein sollte, wollte ich nicht in der Haut meines Chefs stecken. Doch er gehörte zu den Menschen, die nichts auf die lange Bank schoben und sich schnell entschlossen, was er mit einem Nicken andeutete, als er seine Frau ansprach. »Ich möchte nicht, Agathe, daß sich etwas ändert zwischen uns.« Ihre Stirn umwölkte sich. »Du sprichst dabei indirekt die räumliche Trennung an.« »So ist es. Du fühlst dich hier wohler, ich habe meinen Platz in London beim Yard.« »Ja, das habe ich mir gedacht.« Sie lächelte etwas verloren. »Nur hat sich für mich in der letzten Stunde einiges verändert. Ich bin wieder so geworden wie früher, und ich besitze noch das gesamte Wissen. Es ist nichts verlorengegangen.« »Willst du wieder in deinem alten Job arbeiten?« »Ebnest du mir den Weg, James?« »Das wird schwer sein, sehr schwer, Agathe. Es hat sich vieles verändert, die Geheimdienste arbeiten nicht mehr auf der Basis, wie sie
es damals getan haben. Junge Männer sind nachgerückt, die Technik hat ungemein an Land gewonnen und übt einen großen Einfluß aus.« »Aber sie hat die Magie nicht verdrängen können, James.« »Das stimmt allerdings.« »Deshalb könnte ich weitermachen.« »Leider ohne Unterstützung. Man wird dich nicht mehr begreifen, das ist nun mal so.« »Und was soll ich tun?« Da lächelte der Superintendent und strich mit einer zärtlichen Bewegung über ihre Wange. »Dieser Ring gibt dir Macht. Du könntest deine Kraft für uns einsetzen.« Agathe überlegte. »Ich soll also auf die Mitarbeit beim Secret Service verzichten?« »Das wäre am besten.« »Wie du meinst.« »Überzeugt bist du nicht, wie?« »Nein, James, ich bin es nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich, euch so sehr helfen kann, wie du dir das vorstellst. Das müßte man alles herausfinden.« »Eben.« »Du sagst es so, als sollte ich .. .« »Genau, Lady Kassandra. Ich möchte, daß du es jetzt und hier einmal versuchst. Mach es so wie damals. Konzentriere dich, du schaffst es, glaube mir. Die Jahre sind zwar vergangen, aber was innen war, ist nicht abgestorben. Versenke dich noch einmal, versuche, diesen Schlaf zu finden, der dir dann den Traum der Wahrheit bringt. Mehr verlange ich nicht von dir. Sollte dir der Ring etwas zeigen, das einmal passieren wird, dann rede mit uns darüber.« Sie schüttelte den Kopf, lachte aber dabei, »Irgendwie bist du noch genauso verrückt wie früher, James.« Das konnte ich mir wiederum nicht vorstellen und gestattete mir deshalb ein Lächeln. Fürsorglich nahm Sir James den Arm seiner Frau und führte sie auf das Sofa zu, auf dem sie gelegen hatte. Sie ließ sich dort langsam nieder, den etwas flackernden Blick zu ihrem Mann erhoben, der allerdings nichts sagte und ihr nur aufmunternd zunickte. Auch wir gingen auf die Couch zu und rahmten unseren Chef ein. »Ich hoffe, es war ebenfalls in Ihrem Sinne!« »Was wollen Sie damit bezwecken?« fragte Suko. »Ich möchte«, murmelte er, »jemand finden, der noch immer frei herumläuft.« »Und wer?« »Den Bulgaren.« »Der ihr den Ring stahl?« fragte ich. »So ist es.« Lady Kassandra hatte sich gelegt. Ihr Hinterkopf ruhte auf einem Kissen, die Arme hielt sie halb ausgestreckt, die Ellenbogen dabei auf die Hüften gestützt. An den Fingern der rechten Hand funkelten zahlreiche Ringe in
verschiedenen Farben, an der linken sahen wir nur den einen, den großen, den Schicksalsring. Würden ihre Weissagungen — vorausgesetzt, sie schaffte es - zu einem Fluch werden? Was immer sie auch sagte, ich würde ihr Glauben schenken, das stand einwandfrei fest. »Konzentriere dich, Agathe, konzentriere dich bitte!« flüsterte Sir James. »Denk daran, wie du es früher geschafft hast. Da bist du keinem Problem aus dem Weg gegangen, und der Ring hat es geschafft, dir dein altes Aussehen zurückzugeben.« »Ja, James, ich weiß ...« »Bist du bereit?« »Natürlich.« Sirjames breitete die Arme aus und stieß uns dabei an. Er wollte, daß wir uns tiefer in den Raum zurückzogen, damit seine Frau die Ruhe bekam, die sie brauchte. Neben den hochlehnigen Sesseln blieben wir stehen und schauten sie an. Unsere Blicke waren konzentriert, fast so wie die ihren, denn sie schaute einzig und allein auf ihre Finger. Beide Hände hielt sie gespreizt, wobei sie die rechte dann veränderte und die Finger noch mehr krümmte, damit sie mit den Kuppen über den Ring streichen konnte. Es war ein vorsichtiges Betasten. Auf mich wirkte es, als wollte sie eine längst verflossene Zeit noch einmal zurückholen und dafür sorgen, daß sich der Ring stärker auflud. Lady Kassandra bewegte ihre Lippen, ohne ein Wort zu sagen. Sie >sprach< stumm. Gern hätte ich gewußt, was in ihr vorging, aber nichts drang dabei nach außen. Noch immer bewegte sie die Finger. Sehr genau zeichnete sie ihren wertvollen Ring nach und blieb dabei nicht nur an der Oberfläche, sondern fühlte die gesamte Fassung nach. Wichtig waren die Steine. Auf sie konzentrierten auch wir uns, denn wir hatten das Gefühl, als sollten sie sich verändern, wenn sie eine Nachricht gaben. Die Spannung wuchs. Sir James schluckte einige Male. Die Brille war auf dem schweißfeuchten Nasenrücken ins Rutschen gekommen, aber er bewegte sich nicht und ließ sie an dieser ungewöhnlichen Stelle. Was geschah bei Lady Kassandra? Noch nichts. Sekunden später aber hörten wir ihr Flüstern. »Er ... er ist noch da«, hauchte sie, »ich ... ich spüre genau seinen Einfluß. Er schwebt über allem, denn er ist der Grausame, er ist Mensch und Dämon zugleich. Nichts hat sich verändert, nichts . ..«
Sie verstummte. Die Pause wurde mir zu lang, und ich erkundigte mich bei Sir James. »Von wem hat sie gesprochen? Wen meinte sie mit ihren Worten?« »Es gibt nur einen, den wir nicht haben fassen können. Den Dieb des Ringes, den Bulgaren.« »Und sie spürt ihn?« »Bestimmt.« Wir redeten nicht mehr weiter, weil Agathe plötzlich heftig atmete. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem langen Luftholen und dem Ausstoßen. »Ich spüre . ..« »Kannst du sagen, was?« fragte Sir James. »Bitte, versuch es. Das ist wichtig, auch für dich.« »Ich .. . ich kenne ihn.« »Von damals?« »Sicher, James, von damals. Wir . . . wir haben ihn unterschätzt, weißt du?« »Nein, wieso?« »Er... er ist der Bulgare, der mir den Ring nahm, aber er ist auch ein anderer. In ihm stecken zwei Personen. Es ist nur zu spüren, aber ihr müßt mir glauben. Zwei Personen . . .« Sie sprach mit schwerer Stimme, als würde sie jedes Wort ungemein anstrengen. »Auch er hat die Jahre überstanden und ist mächtig geworden, erstarkt.« Sir James runzelte die Stirn. Ich fragte ihn: »Können Sie das begreifen, Sir?« »Nicht genau.« »War der Bulgare normal?« wollte Suko wissen. »Oder stand auch er mit finsteren Mächten in Verbindung?« »Das ist eben das Problem. Eine genaue Antwort kann ich Ihnen nicht geben, aber ich gehe einmal davon aus, daß auch er sich damit eingelassen hat, sonst hätte er nichts über die Funktion des Ringes erfahren können, meine ich.« »Wenn Sie das so sehen, könnten Sie recht haben.« »Bestimmt, Suko. Aber sie quält sich. Vielleicht hindert sie etwas daran. Ich weiß nicht, ob wir sie weitermachen lassen sollen.« Sir James zeigte große Sorge wegen seiner Frau. Und die dachte nicht daran aufzugeben, obwohl sie ihren Oberkörper aufbäumte und das Gesicht verzerrte. Dabei jedoch umklammerte sie den Ring, und ein lauter Ruf drang aus ihrer Kehle. Danach ein schnell gesprochener Kommentar. »Er ist es, ich sehe es deutlich. Er ist es, aber er hat sich in den Dienst eines anderen gestellt. Himmel, über ihm schwebt ein Schatten mit langen Hörnern . ..« Wir bekamen eine Gänsehaut, als wir die Worte vernahmen. Diese Aussage konnte nur eine Bedeutung haben. Der Bulgare hatte sich in den Dienst des Satans gestellt. Und Sir James fragte auch sehr richtig: »Ist es der Teufel, Agathe? Siehst du hinter ihm den Schatten des Satans?«
»J. . . nein, nicht er.« »Wer dann?« »Sehr lange Hörner, ein schreckliches Gesicht, dazu Augen, die unheimlich kalt funkeln und gnadenlos sind.« Ich hatte die Lösung. »Baphometh!« rief ich. »Ja!« Die Antwort glich schon einem Schrei, und die Frau schüttelte dabei den Kopf, als hätte jemand einen Kübel mit eiskaltem Wasser über sie geleert. »Es ist Baphometh . . .« Hektisch bewegten sich ihre Hände. Sie strich immer wieder über den Ring, als wollte sie ihn aufheizen oder seine restliche Kraft aus ihm hervorlocken. »Machen Sie weiter!« drängte ich, obgleich Sir James ein gequältes Gesicht machte, weil er ebenfalls unter den Anstrengungen litt, die seine Frau durchmachte. »Da ist noch was!« stieß sie plötzlich hervor. »Ja, da ist noch etwas Furchtbares.« »Können Sie es erkennen?« »Noch nicht, zu schwach.« Sie ließ ihren Ring los, als wäre er glühend geworden. Zwischen ihren gekrümmten Händen war ein Raum entstanden, in dem es plötzlich flimmerte. Das war eine Erscheinung oder eine Materialisation, wenn mich nicht alles täuschte. Um mehr sehen zu können, gingen wir vor. Ihre Stimme erwischte uns in der Bewegung. »Jetzt merke ich es. Nein, es darf nicht wahr sein. Es ist zu grauenhaft. Keiner wird Kassandra glauben, doch ich allein weiß, daß es den Tatsachen entspricht. Er will etwas zerstören, er wird etwas zerstören, was schon lange dagewesen ist.« »Was denn?« schrie ich. Die Antwort bekamen wir optisch geliefert, denn in der Lücke zwischen ihren Händen erschien für einen winzigen Moment das Bild einer Kirche. Es leuchtete weißgolden auf, bevor es wieder verschwand. Ich hatte die Kirche dennoch erkannt und erbleichte. Es war der Kölner Dom! *** Lady Kassandra schlug plötzlich die Hände gegeneinander, bevor sie zusammenzuckte und die Beine anzog, als hätte sie einen Schlag bekommen. Sir James lief sofort zu ihr, während ich mit bleichem Gesicht stehenblieb und von Suko angesprochen wurde. »Du hast es gesehen?« »Natürlich.« »Ich ebenfalls. Hast du es auch erkannt?«
Suko zog die Stirn kraus, ein Zeichen, daß er nachdachte. »Kann es?« fragte er nach einer kurzen Pause, »möglicherweise der Dom in Köln gewesen sein?« »Ja, es war der Kölner Dom!« »Muß ich dich fragen, was das zu bedeuten hat? Ich glaube nicht«, gab er sich selbst die Antwort. »Sie hat etwas vorausgesehen, sie ist nicht umsonst Lady Kassandra genannt worden. Wird sich das erfüllen, was sie und wir sahen?« »Sprichst du von den Händen, die den Dom dazwi-schengenommen haben?« Suko nickte. »Ich denke daran, daß dieses wunderbare Bauwerk zerquetscht werden könnte. Das wäre, John, ein Triumph für Baphometh. Dieser Sieg wäre wahnsinnig.« Ich schüttelte den Kopf und gab Suko eine Antwort, mit derer bestimmt nicht gerechnet hatte. »Nein, Suko, der Dom wird meiner Ansicht nach nicht zerquetscht werden. Ich glaube eher daran, daß dieses Bild nur symbolisch gewesen war. Es sollte uns zeigen, wo die Gefahr lauert. Was wir daraus machen, müssen wir selbst entscheiden. Jedenfalls haben wir wieder eine Reise vor.« Suko wollte die Stationen unserer bisherigen Reisen in diesem Fall aufzählen, ließ es aber bleiben, weil er Kassandras Stimme hörte, die schluchzend an unsere Ohren drang. »James, keiner will mir glauben, keiner wird mir glauben.« Lady Kassandra hatte sich halb aufgesetzt und ihre Hände in die Schultern des Superintendenten gekrallt. Über ihr Gesicht rannen Tränen, sie war verzweifelt. Neben unserem Chef blieben wir stehen. »Doch, wir glauben dir, Agathe. John, Suko und ich. Wir haben gesehen, was plötzlich zwischen deinen Handflächen entstand.« »Eine Kirche«, hauchte sie, »ein berühmtes Bauwerk. Über ihm schwebte der Schatten des Teufelanwärters. Ich habe es genau gespürt, es war einfach grauenhaft.« »Wir werden etwas tun.« »Was denn?« schrie sie, »was wollt ihr tun? Was könnt ihr überhaupt tun?« »Das laß unsere Sorge sein. Freu du dich darüber, daß dich deine alten Kräfte noch nicht verlassen haben. Das ist doch auch etwas — oder nicht?« »Schon, James, schon. Ich fühle mich nur so hilflos. Ich weiß es, aber ich kann nichts tun, und das ist das Schlimme an der Sache. Ich bin Kassandra, und ich fühle mich verflucht. So verflucht wie selten in meinem Dasein.« »Sir«, sagte ich, »finden Sie nicht, daß wirendlich zur Sache kommen sollten?« Er richtete sich auf. »Ja, das meine ich auch. Wir reden noch zusammen, Agathe.«
Lady Kassandra erwiderte nichts, ich aber zog Suko und meinen Chef ein Stück zur Seite. »Wenn ihr Sehen zutrifft, haben wir es mit einer Gefahr zu tun, die den Kölner Dom angeht. Und weiterhin muß dieser Bulgare dahinterstecken.« Da niemand widersprach, fuhr ich mit meinen Bemerkungen fort. »Dieser Bulgare bedeutet also eine große Gefahr. Eine erkannte Gefahr ist nur eine halbe. In diesem Fall stimmt das geflügelte Wort leider nicht, weil ich nicht weiß, wie der Mann aussieht, und Suko ergeht es ebenso. Sie, Sir, müßten es wissen.« »Nein, denn auch an ihm sind die Jahre nicht spurlos vorbeigegangen. Er wird sich verändert haben.« »Das ist mir klar, Sir. Existiert ein Foto von ihm?« Der Superintendent schaute mich fast schon traurig an. »John, ich bitte Sie. Der Bulgare ist wie ein Schatten, er taucht auf und wieder ab. In Geheimdienstkreisen gehört er zu den gefährlichsten Agenten. Man weiß ja nicht, für welche Seite er arbeitet. Der ist wie ein Hecht im Karpfenteich. Es gibt keine Autnahmen von ihm, das steht einwandfrei fest.« »Dann sind wir vom Glück abhängig, wenn wir nach Köln fahren.« »Sicher. Sie kennen die Stadt ja und auch die unmittelbare Umgebung des Doms.« »Ja, sogar die Altstadt.« »Allerdings frage ich mich, wie dieser Bulgare den Dom zerstören will«, sagte Suko. »Das Bild war nicht echt. Es werden keine zwei großen Hände entstehen, die das Bauwerk zertrümmern. Dieser Bulgare wird es auf eine andere Art und Weise versuchen. Da kommen mir zwei Möglichkeiten in den Sinn. Entweder durch Magie, oder er versucht es mit der nackten Gewalt.« Suko schaute Sir James an. »Was halten Sie für wahrscheinlicher?« »Da muß ich weit zurückdenken«, murmelte der Superintendent. »Wir sind nie direkt aufeinander getroffen und haben uns nur aus der Ferne bekämpft. Ich kann nicht viel über diese schillernde Gestalt sagen.« »Hat er sich damals schon mit Magie beschäftigt?« »Wahrscheinlich halbherzig, als er meiner Frau den Ring abnahm.« Sir James wich etwas vom Thema ab. »Es muß sich für Sie beide ungewöhnlich anhören, wenn ich von meiner Frau spreche, aber das trifft nun mal zu. Wir sind verheiratet, auch wenn ich darüber nie gesprochen habe, denn ich wollte mein Privatleben immer außen vor lassen. Ich möchte Sie nur um eines bitten. Behalten Sie es für sich. Es braucht nicht an die große Glocke gehängt zu werden -- okay?« Suko und ich nickten beide. »Wenn Sie das wünschen, Sir, handeln wir in Ihrem Sinne.« »Danke sehr.« Er reichte uns beiden die Fland und wandte sich wieder seiner Frau zu. »Du weißt, daß ich in der Pflicht stehe, Kassandra?« »Natürlich.«
»Ich muß zurück nach London.« »Geh nur, ich bleibe hier. Ich bleibe auch deine Frau, aber laß uns weiter getrennt leben. Nur um eines möchte ich dich bitten. Um einen besseren Kontakt als früher. Jetzt, wo du dafür gesorgt hast, daß ich den Ring zurückbekam, kann ich dir und euch vielleicht behilflich sein. Und das ist doch auch schon etwas.« Sir James beugte sich vor und küßte ihr die Hand. Auch für uns war es außergewöhnlich, einen derartig menschlichen Superintendenten zu erleben. Sie drückte ihn an sich. »Lebe wohl, James, besuch mich mal. Ich bleibe hier. Und versucht bitte alles, um den Fluch zu stoppen. Ich werde auch zusehen, daß ich mit meinem Schicksal fertig werde, denn überlege dir mal eines. Man kennt mich als ältere Person. Was glaubst du, werden die Menschen sagen, wenn hier eine Frau wohnt, die gut dreißig Jahre jünger ist? Was ist dann?« »Fahr mit nach England.« »Das will ich auch nicht. Ich werde einen Weg finden, und Malcolm wird mir dabei helfen. Ich habe ihn bereits vorgewarnt, er wird mich auch mit meinem neuen Aussehen akzeptieren.« »Das glaube ich auch.« Lady Kassandra kam auf uns zu und umarmte Suko und mich. Sie bedankte sich noch einmal, dann verließen Suko und ich das Zimmer, um Sir James und seiner Frau einen Abschied unter vier Augen zu gönnen. Ich schaute gegen die Helligkeit und schüttelte den Kopf. »Begreifen, Suko, kann ich es noch immer nicht. Das . . . das ist mir ein völliges Rätsel.« »Ja, mir auch. Ich weiß auch nicht, wie so etwas möglich ist. Sir James — was haben wir je von ihm gewußt?« »Nicht viel.« »Zu wenig.« »Wissen wir jetzt mehr?« Ich hob die Schultern. »Ein Problem hat er sich gewissermaßen aufgeladen. Seine Frau ist für einen Mann in seinem Alter zu jung. Und es ist gut, daß er sie hier auf der Halbinsel läßt. In London oder beim Yard wäre er möglicherweise zum Gespött der Menschen geworden, die warten doch nur auf so etwas.« »Stimmt, er hätte sich um sie kümmern müssen. Aber ein Problem hat sie trotzdem, ihr Alter. Sie ist plötzlich jünger geworden, und jetzt frage ich dich, John. Was geschieht, wenn sie den Ring wieder von ihrem Finger abzieht?« »Dann müßte sie ihr wahres Alter zurückbekommen.« Ich schaute gegen die Helligkeit hinter der Scheibe. »Möglicherweise wird sie eines Tages so reagieren. Es ist nicht gut, wenn die Menschen um einen herum älter werden und man selbst bleibt stehen. Das ist nicht unser Problem. Ich
gönne ihr jedenfalls eine lange Zeit, auch deswegen, weil sie uns behilflich sein kann. Wenn Lady Kassandra etwas sieht, was wichtig für uns ist, kann sie uns warnen. Stell dir vor, Suko, sie hätte die Gefahr, die dem Kölner Dom droht, nicht gesehen? Dann wären die Menschen, das Bauwerk und was weiß ich nicht alles voll in die Falle hineingelaufen.« »Und wer sagt dir, John, daß der Dom in diesem Moment noch steht? Daß er nicht angegriffen wurde?« »Das hoffe ich doch.« Sir James öffnete die Tür. Er sah uns kaum, so nachdenklich war er geworden. Erst als er uns fast berührte, hob er den Kopf. »Jetzt wissen Sie über alles Bescheid.« Mit einem sorgfältig gefalteten Tuch tupfte er sich den Schweiß von der Stirn. »Es waren schlimme Minuten, wie Sie sich bestimmt denken können, sehr schlimme sogar, und ich möchte sie nicht noch einmal erleben.« »Das glauben wir Ihnen gern, Sir.« Er lächelte, doch es sah nicht echt aus. »Wir werden so rasch wie möglich nach London zurück müssen. Und ich werde versuchen, einen Militärhubschrauber zu chartern, der uns nach Malaga zum Flughafen bringt.« »Da müssen die spanischen Behörden mitspielen.« Fr winkte ab. »Das wird klappen. Ich kenne dort jemand, der mir noch einen Gefallen schuldig ist.« Wir verließen das extravagante Haus, ohne den Butler Malcolm noch einmal zu Gesicht bekommen zu haben. Bevor wir in den heißen Seat stiegen, drehte sich Sir James noch einmal um, nahm die Brille ab und wischte über seine Augen. Schweigend stiegen wir ein, und schweigend fuhren wir auch davon. Die schwere Bürde einer drückenden Erinnerung zurücklassend...
DER FLUCH
Köln - Weltstadt am Rhein. Kunst, Karneval, Kneipen, Klüngel und natürlich das alles überragende Bauwerk - der Dom. Seit ein paar Jahren gab es den Colonius, der Fernsehturm, der noch um einiges höher war. Auf dem großen, zumeist windigen Platz vordem Dom trafen sie zusammen. Touristen aus aller Herren Länder. Sie kamen aus Europa, Asien, den Staaten und sogar Australien. Der Platz war groß genug und ging direkt über in einen zweiten, der die neue Philharmonie umschloß. Für geschichtlich Interessierte lagen Museen zum Greifen nahe, und auch Kunstausstellungen konnten besucht werden, ohne daß viel gelaufen werden mußte.
In Köln traf sich die Welt. Besonders zur warmen Jahreszeit. Da versammelten sich auch die Künstler um den Dom. Maler, Musiker in Gruppen oder als Alleinunterhalter, Zauberkünstler, Artisten, die ihre Kunststücke aufführten. Die echten Kölner waren häufig in der Minderheit. Wenn sie dort zu sehen waren, meist in Hetze, wenn sie zu den Bussen rannten oder den nahegelegenen Bahnhof ansteuerten. Über Köln stand eine herrliche Sonne. Den morgendlichen Dunst hatte sie längst vertrieben und gab sogar dem bleigrauen Wasser des Rheins einen freundlichen Schein, durch den sich die Umrisse der Schiffe schoben. Köln zeigte sich an diesem Tag wieder einmal von seiner besten Seite, was auch Suko und ich mitbekamen, denn wir hatten vom Flughafen Kön/Bonn aus einen Wagen genommen und tatsächlich noch einen Parkplatz in Domnähe bekommen. Tief unter der Erde, in einer Garage, die zur Philharmonie gehörte. Wir verließen die Unterwelt, traten hinein in das helle Licht und waren sofort von der Atmosphäre gefangen. Sie lebte, sie prickelte. Das hatte nichts Frommes an sich, wie man es machmal in der Nähe alter Kirchen erlebt. Hier waren Menschen, ein besonderer Menschenschlag, denn der Rheinländer war ein Mensch, der lebte und leben ließ. Das eben machte Köln so sympathisch, und mir war es da nicht anders ergangen. Ich erinnerte mich noch genau an die nicht weit entfernt liegende Altstadt, an den breiten, trägen Fluß, natürlich an den Dom, den ich auch jetzt betrachtete, als er in seiner gesamten Pracht in unser Blickfeld geriet. »Da ist er«, sagte ich zu Suko. Mein Freund nickte. »Ja, man kann ihn wohl nicht übersehen.« »Mehr hast du dazu nicht mitzuteilen?« »Sollte ich noch etwas?« »Mal sehen.« Ich ließ meinen Blick über das prächtige Bauwerk gleiten und dachte daran, daß er erst vor etwas über 100 Jahren fertiggestellt worden war. Aber auch an seinem Gemäuer fraß die schlechte Luft. Kleine Gerüste zierten die Außenwände, hier arbeiteten Menschen, die den Dom renovierten, denn ein Bauwerk, wie eres war, mußte einfach erhalten bleiben. Wenn möglich, bis ans Ende aller Tage. Skateboard-Fahrer huschten an uns vorbei. Wie bunte Schatten jagten sie über den Platz, führten auf ihren rollenden Brettern regelrechte Tänze auf, und manchmal schien es so, als würden die Skateboards an ihren Fußen kleben. Köln lebte, es vibrierte, und auch die Kneipen und Lokale in Domnähe konnten sich über den Zustrom an Gästen nicht beklagen, denn einen freien Platz zu ergattern glich schon einem Suchspiel. Wenn ich mir dieses Leben anschaute, den Platz, den Dom und dann mit der Vision verglich, die Kassandra gehabt hatte, rann mir ein Schauer über den Kücken. Unvorstellbar, daß die gesamte Szenerie durch Dämonenhand zerstört werden sollte, aber im Gegensatz zu der Kassandra in
der griechischen Mythologie glaubten wir ihrer >Nachfolgerin<. Zwar rechnete ich nicht damit, daß zwei riesige Hände erscheinen würden, um den Dom zu zerquetschen, ich sah die Szene noch immer mehr als ein Sinnbild dafür an, daß dem Bauwerk eine dämonische Gefahr drohte, die auch einen entsprechenden Namen besaß. Baphometh! Er und seine abrünnigen Templer hatten sich in der letzten Zeit immer stärker in den Vordergrund geschoben. Baphometh war ein Drittel des absolut Bösen, zu den beiden anderen zählten Asmodis und Beelzebub. Alle drei zusammen ergaben Luzifer, gegen den wohl niemand ankam. Das Böse war darauf angelegt, Macht zu erreichen. Jeder wollte mehr haben als der andere, und so kam es, daß die drei Gewalten sich oft gegeneinander ausspielten, Lücken entstanden, von denen wir profitierten und in die wir hineinstoßen konnten. Wir schlenderten weiter und dabei direkt auf die altehrwürdige Fassade des Dom-Hotels zu, vor dem die Terrasse bis auf den Domplatz reichte. Seit meinem letzten Besuch hatte sich am Hotel einiges getan. Ein kleiner Wintergarten, als Bar benutzt, war noch angebaut worden. Hier konnte man bei schlechtem Wetter sitzen, auf den Platz schauen und hatte dabei das Gefühl, im Freien zu sein, ohne jedoch Regen oder Schnee abzubekommen. »Einen Plan wirst du nicht haben, wie ich dich kenne«, sagte Suko zu mir. »Was soll das denn heißen?« »Ich habe auch keinen.« »Ach so.« »Und? Wie sieht es wirklich aus?« »Laß uns einen Schluck trinken.« Vor dem Dom-Hotel war ein lisch frei geworden. Die Sommermöbel besaßen gelbweiße Unterlagen, auch die Ober brauchten keine steifen schwarzen Jacketts zu tragen, man gab sich locker und lächelnd. Wir bestellten beide Wasser und hatten uns so hingesetzt, daß wir den Dom im Auge behalten konnten, und natürlich auch die Menschen, die über den Platz fluteten. Viel Hoffnung besaß ich zwar nicht, aber es konnte ja sein, daß irgend etwas auf einen derBaphometh-Temp-ler hinwies und wir ihn erkannten. Hinzu kam ein weiteres Manko. Keiner von uns wußte, wie der Bulgare aussah. Ihn hatte auch Sir James' Frau nicht beschreiben können. Die Klasse der Spione zeigt sich ja darin, daß der Feind nie weiß, wie der andere aussieht. Und Fotos gab es erst recht nicht. Wir tranken in kleinen Schlucken, beobachteten durch die dunklen Gläser unserer Sonnenbrillen, und Suko fragte plötzlich: »Wie es Sir James jetzt wohl ergeht?« »Der ist in London.«
»Ja, ich weiß. Ich meine das mehr innerlich. Ich muß immer daran denken, wie mir zumute war, als Shao verschwand. So ähnlich wird es auch ihm ergangen sein.« Ich hob die Schultern. »Nur mit dem einen Unterschied, daß sich Sir James daran hat gewöhnen können. Er hat über lange Jahre hinweg eine Ehe auf Distanz geführt.« »Und doch scheinen sich die beiden geliebt zu haben.« »Warum sollten sie nicht? Diese Heirat war nicht nur eine Zweckgemeinschaft. Jetzt wissen wir auch das Motiv, weshalb Sir James die Abteilung gegründet hat. Ich habe ihn nie danach gefragt, obwohl ich darauf eigentlich hätte kommen müssen. Du weißt ja, wie das ist. Man nimmt sich etwas vor, vergißt es, und die ganze Sache ist schließlich in Vergessenheit geraten.« »Das stimmt.« Wir saßen am Rande eines großen Sonnenschirms, der uns an einer Seite Schatten brachte. Dennoch fiel ein weiterer Schatten über den Lisch. Das wäre nichts Außergewöhnliches gewesen, aber der Schatten bewegte sich nicht weiter, er blieb. Ich schaute auf. Genau in dem Augenblick vernahm ich die Stimme. Sie sprach in einem etwas harten Englisch, östlich gefärbt. »Ja, die Londoner Polizei, da sieht man es wieder. Sitzt in Germany, in Köln, und läßt es sich auf Spesenkosten gutgehen.« Ich wollte es nicht glauben, saß da wie startbereit und hörte Sukos leises Lachen. »Sag, daß ich mich täusche, Suko!« »Kann ich nicht.« »Dann ist es wahr? Ich leide an keinem Traum?« »Bestimmt nicht.« Jetzt erst blickte ich hoch - und genau in das Gesicht unseres russischen Freundes Wladimir Golenkow... *** Er war es wirklich. Kein Trugbild, keine Halluzination, keine Fata Morgana oder was auch immer. Der russische KGB-Agent stand vor uns, grinste breit und schaufelte sein blondes Haar zurück, weil der Wind seine Frisur immer wieder zerstörte. »Du solltest mal zu einem westlichen Friseur gehen, alter Junge, der verpaßt dir dann einen total gestylten Sturmschnitt.« »Sony, John, so weit geht Glasnost nun doch nicht. Wir bleiben bei uns immer noch an der Heckenschere kleben.« »Für Bonzenköpfe?« fragte Suko. »Willst du mich beleidigen?«
»Nein, ich will, daß du dich endlich setzt!« Das tat er nach seiner Begrüßung. Wir umarmten uns, denn wir waren — das kann man mit Fug und Recht behaupten - echte Freunde. Da spielten auch die unterschiedlichen Systeme keine Rolle, denn das Böse nahm darauf sowieso keine Rücksicht. Irgendwie war ich auch erleichtert, Wladimir Golen-kow bei mir sitzen zu haben. Ja, ich freute mich darüber, denn ich ging davon aus, daß er aus dem gleichen Grund in Köln war wie wir. Er bestellte noch eine Runde Wasser und streckte die Beine von sich. In seinem hellen Anzug fiel er nicht auf, denn die Kleidung besaß westlichen Zuschnitt. »Darf ich raten, Wladimir, weshalb du dich hier auf dem Domplatz herumtreibst?« »Sicher.« »Bulgarien?« Ich hatte bewußt das Land angesprochen und nicht den anderen Namen. Er grinste breit. »Ein Pluspunkt für dich.« »Wenn ich Bulgare sage, bekomme ich dann auch einen?« »Richtig, Suko.« »Du willst ihn also fangen?« »Ja.« »Wir ebenfalls.« Golenkow wartete, bis die Bedienung das Wasser gebracht hatte, und zahlte gleich alles. »Er ist zu einer verdammten Gefahr geworden, Freunde, und zwar nicht nur für euch, auch für uns. Er ist aus dem Untergrund aufgetaucht und hat es verstanden, seinen Arm dorthin auszustrecken und Hilfe zu erwarten, wo man mächtige Dämonen vermutet.« »Baphometh!« präzisierte ich. »Du weißt schon mehr?« »Nicht viel, vielleicht weniger als du. Aber wir haben Informationen bekommen, daß hier am oder im Dom etwas geschehen soll. Was das ist, können wir nicht sagen.« Der Russe nickte und dachte dabei nach. »Auch meine Infos sind mehr als spärlich. Ich gehe davon aus, daß er sich bei den anderen Kreisen einen guten Einstieg verschaffen will.« »Bei Baphometh!« »Der steckt dahinter?« »Wir gehen davon aus«, sagte Suko. Golenkow schaute über den Platz. »Menschen«, murmelte er, »nichts als Menschen, Unschuldige, die für den Bulgaren zu einer leichten Beute werden können.« »Wie gefährlich ist er?« wollte ich wissen.
»Gefährlich ist falsch, John. Dieser Mann ist absolut tödlich. Der ist gnadenlos.« »Schön. Andere Frage: Wie sieht er aus?« »Wenn ich das wüßte ...« »Was?« Ich beugte mich vor. »Du weißt nicht, wie der Bulgare aussieht? Das gibt es doch nicht.« »Nicht genau. Ich habe in unseren Dossiers nachgeschaut. Daß er ein alter Doppelagent ist, steht fest. Daß er nicht mehr zu den Jüngsten gehört, wissen wir ebenfalls. Aber sein genaues Aussehen ist uns unbekannt.« Er holte ein Foto hervor, eine sehr verwaschene Aufnahme, die mehr einen Schatten als ein Gesicht zeigte. »Ist er das?« Golenkow nickte mir zu, bevor ich das Foto an mich nahm. Suko schaute von der Seite her auf das Bild und schüttelte den Kopf ebenso wie ich. »Darauf kann man kaum etwas erkennen.« »Das ist es ja eben«, nickte Golenkow. Ich ließ es noch nicht los. Der Bulgare war nur ein huschender Schatten, der aus dem Bild laufen wollte, mehr nicht. Daß er dunkles Haar besaß, war gerade noch zu erkennen, aber von seiner Figur sahen wir nichts, und natürlich keine Gesichtszüge oder irgendeinen markanten Punkt, der aufgefallen wäre. Ich legte das Bild auf den Tisch. Wladimir steckte es sehr schnell wieder ein. »Das ist wenig«, sagte ich, »fast überhaupt nichts. Schau dich mal um. Wie viele dunkelhaarige Menschen laufen hier über den Platz? Dann kannst du vergleichen.« »Zu viele«, gab Suko grinsend zur Antwort. »Der ist wie ein Schatten.« Wladimir schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Schon die ganzen Jahre über war er nicht zu fassen. Der hat den KG13 ebenso geleimt wie die CIA und andere Geheimdienste. Bei den Japanern steht er auf der Abschußliste ganz oben, die Israelis sind auch nicht gut auf ihn zu sprechen. Wie wir hörten, soll er jetzt bei Gaddhafi eingestiegen sein.« »Mit seiner Templer-Magie?« »Warum nicht? Der Bulgare ist ein Mensch, der das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet, wenn ich das mal so sagen darf. Er beweist dem Libyer durch seine Tat hier, wie gut er ist und kann anschließend machen, was er will.« »Welche Tat?« »Das weiß ich nicht.« Suko fragte etwas anderes. »Bist du eigentlich allein gekommen oder in Begleitung?« »Ich habe noch zwei Leute mitgebracht. Sie sollten sich in der Tiefgarage umschauen.« »In der unter uns?«
»Ja.« Golenkow holte ein flaches Sprechfunkgerat mit eingebauter Antenne hervor und versuchte, Verbindung mit seinen Leuten aufzunehmen, was ihm nicht gelang. »Schlafen die, verflucht?« »Müssen sie schlafen, Wladimir?« Der Russe hatte den Unterton in meiner Stimme genau verstanden. Er krauste die Stirn. »Bezahlt haben wir, nicht?« Dabei stand er schon auf. »Wir gehen mit!« entschied ich. Bis zur Treppe, die in den Bauch der Garage führte, waren es nur ein paar Schritte. Golenkow lief sehr schnell los, mußte dann an die Wand, denn eine Familie, mit Einkaufstüten bepackt, kam uns entgegen. In der ersten und zweiten Ebene hockten Golenkows Leute und lauerten auf den Bulgaren. Der Geruch einer Tiefgarage ist fast überall auf der Welt gleich. Abgase und anderer Mief legten sich auf die Lungen. Hier unten roch es zudem noch nach frischer Farbe, denn einige Säulen waren gestrichen worden. Golenkow lief vor. Er nahm einen der breitesten Gänge. Dabei visierte er einen schwarzen Opel Senator an, der mit der Schnauze zum Gang hin stand. Obwohl wir uns hinter Golenkow befanden, erkannten wir, daß zwei Personen im Fahrzeug hockten. »Ausgerechnet«, schimpfte der Russe. »Sie sollten beide Parkdecks beobachten.« Er klopfte gegen die Scheibe. Weder der Beifahrer noch der Fahrer rührten sich. Sie hockten da, als wären sie eingeschlafen. »John, Suko«, sagte Golenkow, »ich habe das Gefühl, daß sie nicht mehr reden können.« »Das glaube ich auch.« Wladimirs Gesicht wirkte steinern, als er die Tür an der Fahrerseite aufzog. Viel Platz war zwischen den Wagen nicht mehr, so blieben wir zurück. Da die Innenbeleuchtung brannte, konnten wir auch die beiden Männer besser erkennen. Wir hörten den Fluch des Russen. Er trat zur Seite und machte uns Platz. Zuerst schaute Suko nach, dann ich. Der Fahrer hing angeschnallt in seinem Gurt und schien dem Klatschen der Blutstropfen zu lauschen, die aus seiner Wunde am Hals flössen. Er war tot. Der Beifahrer mußte sich gewehrt haben. Dennoch war er erwischt worden, aber er bewegte die Augen und stöhnte leise. Ich gab Golenkow ein Zeichen. »Versuch es, der Mann lebt noch. Vielleicht kann er dir etwas sagen. Er muß den Bulgaren gesehen haben.« »Okay.«
Suko und ich sicherten ab. Wir schauten nicht in den Wagen. Unsere Blicke glitten über die Dächer der anderen hinweg und suchten nach einer verdächtigen Bewegung. Nichts erkannten wir. Es blieb alles ruhig. Wer die Tiefgarage betrat oder verließ, war harmlos. Es geriet auch niemand in unserer Nähe, was uns sehr entgegenkam. Golenkow tauchte wieder auf. Vorsichtig schloß er die Tür. »Er hat es hinter sich«, sagte er mit leiser Stimme. »Der Bulgare ist ein Schwein, ein Hundesohn.« »Konnte er noch reden?« »Er stach mehrmals auf ihn ein.« Der Russe schüttelte den Kopf, als wollte er ein schlimmes Bild fortwischen. »Ja, er hat noch etwas gesagt. Es war leider nicht viel. Der Bulgare erklärte ihm, daß er seine Probe bestehen würde, was immer das auch sein mag.« »Die Probe für Baphometh«, sagte ich. »Dann hat es etwas mit dem Dom zu tun.« »Bestimmt.« »Und weiter?« Suko zeigte Ungeduld. »Hat er den Bulgaren beschreiben können?« Wladimir hob die Schultern. »Nun ja, er hat es versucht. Der Mann soll eine dunkle Jacke tragen, grauschwarzes Haar haben, und ein altes Gesicht. Das war alles.« »Nicht viel«, murmelte ich. »Zu wenig«, stimmte mir auch Suko zu. Golenkow ging zur Seite. »Womit könnte er sich denn einen Namen machen? Der kann doch keine Bomben an oder in den Dom legen, das ist unmöglich. So etwas schafft er nicht. Aber er weiß Bescheid, der muß mit einem Instinkt ausgerüstet sein, der schon an Wahnsinn grenzt. Sonst hätte er meine Leute nicht gefunden.« »Ihm traue ich alles zu«, erklärte Suko. »Auch das mit den Bomben. Besonders schlimm ist für mich seine Menschenverachtung. Mich würde interessieren, ob er Helfer besitzt oder alles allein unternommen hat.« »Das habe ich noch gefragt. Der Sterbende war sich nicht ganz sicher. Er schloß es nicht aus.« »Jedenfalls müssen wir uns auf einen Mann mit dunkler Jacke und grauschwarzem Haar konzentrieren«, sagte ich. »Kommt, hier unten werden wir ihn kaum finden.« Wir rannten trotzdem nicht wie die Wilden nach oben, gingen gemächlich, sahen uns um und entdeckten nichts Außergewöhnliches. Oben auf dem Platz, wo die Sonne schien, herrschte das Leben. Unter uns lagen zwei Tote. Ziemlich ratlos standen wir beisammen, automatisch suchten wir nach einem Mann mit grauschwarzen Haaren und einer dunklen Jacke. Ältere Menschen gab es ebenso wie jüngere. Die Suche würde verflixt schwer für uns werden.
»Außen oder innen«, sagte Suko. Ich nickte. »Daran habe ich ebenfalls gedacht.« »Was meint ihr?« fragte Golenkow. »Wir sollten in den Dom gehen.« Der Russe wischte über sein Gesicht. »Glaubt ihr denn, daß der Bulgare sich dort versteckt hat?« Ich lachte leise. »Versteckt, sagst du? Das hat er nicht nötig. Er wird schon als Siegertyp den Dom betreten, das glaube mal nur. Und er wird sich auch nicht von der Atmosphäre zwischen den Mauern abschrecken lassen. Der Bulgare besitzt die Unterstützung eines mächtigen Dämons, der wird ihn psychisch gestärkt haben und dafür sorgen, daß er Hindernisse locker überwindet.« »Das macht mir fast Angst«, sagte der KGB-Mann. Suko nickte. »Okay, Freunde, das lange Warten hat keinen Sinn. Nehmen wir eine Dombesichtigung vor.« Ich dachte an einen Fall, der uns vor nicht allzu langer Zeit nach Wien geführt hat. In den Katakomben des dortigen Doms war es zu grauenhaften Vorfällen gekommen, als eine Templer-Klaue zum Leben erwachte und wütete. Auch damals hatte Baphometh seine Hände mit im Spiel gehabt. Allmählich häuften sich die Fälle, hinter denen erstand. Es kam mirso vor, als wollte er an vielen Fronten gleichzeitig zuschlagen und in jedem Geschäft mitmischen. Wir gingen über den Platz, ohne den Dom zu beobachten. Unser Interesse galt verstärkt den Menschen, die uns entgegenkamen oder uns überholten. Vielleicht hatten wir ja Glück und sahen ihn. Einmal schrak ich zusammen, weil ich glaubte, einen Mann gesehen zu haben, der aussah wie Sir James. Eine Schulklasse nahm mir einen Augenblick später die Sicht auf die Person. Bei freiem Blick war sie verschwunden. Ich traute Sir James alles zu. Auch, daß er sich wieder in die Maschine setzte, um nach Köln zu fliegen. Er war ein rätselhafter Mensch. Mir fiel ein, daß er uns mal erzählt hatte, Witwer zu sein. Nun stellte sich heraus, daß er verheiratet war. Ein seltsames Spiel . . . Da verschiedene Eingänge zur Verfügung standen, nahmen wir direkt den nächsten. Er war von zahlreichen Menschen umlagert, wahrscheinlich auch, weil er der größte war. Neben zahlreichen Stimmen war das Klicken der Kameras die einzigen Geräusche, die uns umgaben, denn die Musiker saßen weiter hinten und waren vor dem Dom kaum zu hören. Es war mir egal, ob ich einigen Fotografen durch das Bild lief, ich wollte in den Dom und betrat ihn als erster.
Von der Wucht dieses Bauwerks, die auch innerlich zu spüren war, wurde man fast erschlagen. Ein Gefühl wie Ehrfurcht überfiel mich, ich spürte auf dem Rücken einen Schauer, warf etwas in die bereitgestellte Sammelbüchse und sah auch die Aufpasser in ihren langen, roten Talaren. Einige von ihnen hatten die Gesichter verzogen. Wahrscheinlich ärgerten sie sich über den Betrieb innerhalb der Gänge, denn einen stillen Winkel, um in sich gehen zu können, fand man kaum. Die Kühle tat gut, das Halbdunkel ebenfalls. Die hohen, bunten und kunstvoll gestalteten Fenster sahen aus wie lichterfüllte Tore, die das Mauerwerk durchbrachen, als wollten sie dem Suchenden einen Weg in eine bessere Welt zeigen. Ich schüttelte diese Symbolik ab und achtete wieder auf die Realitäten. Wo verbarg sich der Bulgare? Suko und Wladimir hielten sich in der Nähe auf. Sie waren einige Meter vor und auch zur Seite gegangen, um möglichst viel im Auge behalten zu können. Touristen verteilten sich oder strömten tiefer in den Dom hinein. Glücklicherweise kamen sie nicht bis zum Hochaltar durch, weil dort abgesperrt war, aber sie ließen keinen Gang aus, und davon gab es genug, ebenso wie versteckte Nischen. Wladimir kam zu mir. »Am besten wäre es, wenn wir uns trennen würden«, schlug er vor. »Du denkst an eine richtige Durchsuchung?« »Sicher.« »Auch unten?« Ich dachte an die Schatzkammer, die dort vorhanden war, und in der unersetzliche Kostbarkeiten aus vergangenen Jahrhunderten standen. Auch Reliquien waren vorhanden. »Wenn es sein muß, aber wir bleiben zunächst an der Oberfläche.« Kr drehte sich Suko zu. »Oder?« »Dafür wäre ich auch.« Mein Freund schaute auf die Uhr. »Wie lange werden wir brauchen?« Ich schaute auf die Uhr. »Sagen wir, in einer halben Stunde wieder hier am Eingang?« Damit waren beide einverstanden. Wladimir verschwand nach rechts, Suko ging in die andere Richtung. Schon bald hatten sie sich unter die Besucher gemischt und fielen nicht mehr auf. Wenn die Für aufgezogen wurde, fiel Lichtschein in den Dom. Ein Wechselspiel zwischen Hell und Dunkel, dem ich mit zwei Schritten entwischte. Über meine Haut rann ein Kribbeln. Es lag nicht an der herrschenden Kühle, sondern mehr an meiner inneren Spannung, die sich von Minute zu Minute verdichtete. Ich konnte mich auf dieses Gefühl verlassen. Wahrscheinlich würde schon bald etwas passieren und sich hier einiges verändern.
Einer der Dom-Schweizer trat auf mich zu. »Kann ich Ihnen helfen?« sprach er mich freundlich an. »Wieso?« Er lächelte. »Sie haben mir einen etwas unruhigen Eindruck gemacht und kommen mir wie ein Mensch vor, der etwas sucht, aber es nicht gefunden hat.« »Möglich.« »Was suchen Siadenn?« »Mir geht es um einen Mann . ..« »Vielleicht um Ihre beiden Begleiter?« »Nein, um die nicht. Es ist ein anderer. Sie werden wache Augen haben, mein Herr. Ist Ihnen vielleicht jemand aufgefallen, der ein dunkles Jackett trägt, grauschwarzes Haar hat und den Dom betrat?« Da lachte er leise. »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Schauen Sie sich mal um, dann sehen sie genau, wer alles den Dom betritt. Das sind schon eine Menge Besucher, zu viele - leider. Ich achte nicht auf die Gesichter, zudem ist das Licht hier nicht das beste.« »Es war auch nur eine Frage.« »Darf ich mich erkundigen, was an diesem Mann für Sie so interessant ist?« Ich hob die Schultern. »Er ist ein Bekannter, mehr nicht. Jedenfalls vielen Dank.« »Bitte.« Der Schweizer ging wieder davon. Auch ich blieb nicht mehr an der gleicnen Stelle stehen, denn ich wollte auf keinen Fall auffallen. Den Bulgaren kannte ich nicht, mußte jedoch davon ausgehen, daß er mich kannte, da mein Gesicht in gewissen Kreisen doch sehr bekannt war. Suko und Wladimir hatten ihren Weg tiefer in den Dom eingeschlagen. Ich hielt mich mehr im Bereich der Eingänge auf, denn dort gab es breite Nischen, ausgefüllt mit kleinen Altären und Weihwasserbecken. Aber auch mit brennenden Kerzen, die ihren zuckenden Lichtschein über die Wände gleiten ließen. In einer Nische knieten zwei Frauen vor der Kerzenfront und schauten zu einem Mutter-Gottes-Bild hoch. Ich passierte sie, um ihre Andacht nicht zu stören. Trotz der vielen Besucher überkam mich der Eindruck, ziemlich allein zu sein. Hier konnte jeder seine Gedanken schweifen lassen. Das fleckige Licht irritierte, ich hörte meine eigenen Schritte, die des anderen hatte ich nicht vernommen. Ich roch ihn, als er hinter mir stand, dann fühlte oder spürte ich ihn auch, denn er drückte mir etwas Hartes ins Kreuz, wobei es sich bestimmt nicht um einen Zeigefinger handelte. »Und jetzt wirst du weitergehen!« zischte er mir in einem schlechten Englisch ins Ohr. »Immer weiter, bis ich stopp sage. Glaub nur nicht, daß
es mir etwas ausmachen würde, dir eine Kugel durch den Körper zu schießen!« »ja, ist okay. Wohin?« »Geradeaus.« Ich ärgerte mich, daß ich mich trotz, meines warnenden Gefühls dermaßen hatte überrumpeln lassen. Also ging ich mit steifen Schritten und den Druck im Rücken spürend weiter, wütend über mich selbst und über die gesamte Situation. Eines war sicher. Der Bulgare hatte sich hierher zurückgezogen. Er befand sich im Dom und sicherlich nicht allein, denn ich glaubte nicht daran, daß mich der Boß persönlich unter Kontrolle hielt. Niemand achtete auf uns. Wer den Dom betrat, der war von seiner Größe und der Pracht gefangen, der schaute nicht auf andere. Schon einmal hatte ich hier in Köln einen Kampf erlebt. Allerdings nicht im Dom, sondern auf der Domplatte, als es mir gelungen war, einen alten Fluch zu löschen. Immer wieder taten sich kleine Nischen auf. Manche auch durch Säulen gedeckt. In eine der Nischen dirigierte mich der Kerl mit seiner Waffe hinein. »Noch was«, flüsterte er, »ich habe einen Schalldämpfer auf die Mündung geschraubt.« »Wie schön.« »Geh weiter.« Drei Schritte brachten mich in die Nische hinein, in der zwar Kerzen standen, deren Dochte aber nicht brannten. So erkannte ich den Rücken des Mannes ziemlich spät. Der Kerl trug ein dunkles Jackett. Er richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf, und sein Haar paßte ebenfalls zu der Beschreibung. Vor mir stand der Bulgare. Ich konnte nicht viel von seinem Gesicht erkennen, weil es einfach zu dunkel in der Nische war, bis der Mann drei Kerzen anzündete. Ein altes Gesicht, das stimmte. Ein alter Spion, doch mit Augen, in denen die Gnadcnlosigkeit nicht erloschen war. Sie fixierten mich wie Kristalle aus Eis. »Du also bist Sinclair.« »Ich leugne es nicht. Sie sind der Bulgare.« »Ja.« »Und woher kennen Sie mich?« Er bewegte seine Finger. Ich hörte das Knacken, danach sein Lachen. »Woher? Das ist einfach. Man kennt dich eben, wenn man mit gewissen Mächten zusammenarbeitet.« »Wie Baphometh.« »Du bist gut informiert.« »Das habe ich so an mir.«
»Dann wirst du auch wissen, daß er sich über dich geärgert hat, Sinclair. Es hat ihm überhaupt nicht gefallen, wie du dich in Wien benommen hast und die Würgeklaue zerstörtest. Da steht noch eine Rechnung offen.«* »Wollen Sie die begleichen?« »Und noch mehr. Ich werde diesen Dom hier entweihen, Sinclair. Ich werde ein Zeichen setzen, sein Zeichen, Baphomeths Omen!« Als er sah, daß ich keine Reaktion zeigte, wurde er leicht sauer. »Du sagst ja nichts, Sinclair, wieso?« »Es hat mich nicht überrascht. Ich habe damit gerechnet.« »Schön.« Er kam näher. In seinen Augen sah ich das Glänzen. »Aber du wirst es nicht verhindern können. Hinter dir steht Jekov. Wenn du dich einmal dumm bewegst, wird er abdrücken, dann zerreißt dich die Kugel. Wir haben die Spitze abgefeilt. Die Kugel ist zu einem Dum-DumGeschoß geworden. Du weißt, was das bedeutet?« »Ja.« Er deutete es trotzdem an und präsentierte mir seine linke Handfläche. »Solche Löcher, Sinclair, solche Löcher wird das Geschoß reißen. Niemand wird dich retten, du wirst hier in der Nische verbluten.« Er wechselte das Thema. »Wo steckt eigenlich der gute Golen-kow?« »Noch draußen.« Er nahm es mir ab. »Schön, er sucht uns dort. Es läuft immer besser.« Dann verengte er die Augen. »Hast du deinen Chinesen auch wieder mitgebracht?« »Sicher. Er durchsucht die unterirdischen Anlagen des Doms.« »Gut, wirklich gut. Bis der zurück ist, haben wir alles gerichtet.« Er hob eine Hand und strich mit dem Zeigefinger über sein Kinn. »Was mich noch interessieren würde ist, wie du die Spur zu mir gefunden hast. Wer verriet mich?« »Der Fluch der Kassandra, Bulgare. Er hat dich verraten. Du nahmst ihr vor langer Zeit den Stein aus dem Ring und hast ihn gedrittelt. Ich fand die drei Teile und gab sie ihr zurück. Kassandras Ring ist wieder komplett. Und auch ihre Kräfte sind zurückgekehrt. Nicht immer geht Ihre Rechnung auf.« »Danke, daß du es mir gesagt hast. Jekov und ich werden uns anschließend um sie kümmern.« Jekov stand noch immer wie ein Fels hinter mir und blies mir seinen Atem in den Nacken. »Behalte ihn nur im Auge«, erklärte der Bulgare. »Ich habe noch etwas zu tun.« Er drehte sich um und verschwand im Hintergrund derbreiten Nische, wo sich an der Wand ein langer Gegenstand in die Höhe schob, den ich bisher nur als Schatten ausgemacht hatte. Der Bulgare keuchte, als er ihn anhob, sich drehte und in den flackernden Schein der Kerzen stellte. * Siehe John Sinclair Nr. 603: »Die Pestklaue von Wien«
Es gab kein chrstliches Symbol mehr in der Nische. Wahrscheinlich hatte der Bulgare sie verschwinden lassen. Und nur ein paar Schritte weiter strömten die Besucher vorbei, trauten sich nicht, in die Nische zu gehen, weil sie besetzt war. Wir mußten uns wie auf einer Insel vorkommen. Der Bulgare stellte den Gegenstand hin. »Ich habe ihn schon in den frühen Morgenstunden gebracht und mich an den Wachen vorbeigeschlichen«, erklärte er. »Weißt du, was das ist?« »Nein.« Er streichelte über den Gegenstand, der durch eine Decke meinen Blicken verborgen war. »Das ist der Sieg, das ist der Triumph des Bösen. Ich habe sie mir von einem Künstler schnitzen lassen. Sie besteht aus Holz, und sie zeigt ihn.« »Baphometh, nicht?« »Ja . . .!« Fast stöhnend gab er die Antwort und zerrte an der Decke, die sich oben öffnete und zusammenfiel. Er hatte nicht gelogen. Unter der Decke kam tatsachlich eine Statue des Baphometh zum Vorschein. Diese widerliche Gestalt mit dem grinsenden, faunhaften Gesicht, der breiten Stirn, den langen Hörnern, die gebogen aus der Fläche hervorstachen, den schwarzen Flügeln und den leuchtenden Karfunkelaugen. Sie stand auf Beinen, die aussahen wie lange Tierpfoten, auch kam sie mir leicht geduckt vor, als wollte sie den Betrachter jeden Augenblick anspringen. »Er«, sagte der Bulgare, »wird die Macht über diesen Dom bekommen, denn Baphometh persönlich hat sie geweiht und ihr den Atem eingehaucht. Hier fange ich an, Sinclair, und du wirst derjenige sein, der die Statue durch diese Kirche zum Altar tragen wird...« *** Kassandra hatte den Drang gespürt und ihm nicht widerstehen können. Es war ein innerer Trieb gewesen, eine Warnung, ein Zeichen, es zu tun und die Hindernisse zu überwinden. Dann hatte sie nicht mehr lange überlegt, sich in die erstbeste Maschine gesetzt und war nach Köln gereist. Jetzt stand sie vor dem Dom. Überwältigt von der Erinnerung ihrer Vision, bekam sie zittrige Knie und schaffte es kaum, sich auf den Beinen zu halten. Sie fand eine Bank, ließ sich darauf nieder und schaute gegen das wuchtige Gemäuer. Links von ihr flutete der Verkehr vorbei und wurde unterirdisch am Bahnhof vorbeigeleitet. Der Dom . . . Sie schluckte, sprach den Namen mehrmals flüsternd aus und sagte dann: »Nein, er darf nicht in die Klauen des Bösen fallen. Er muß
gerettet werden, er muß es!« Sie senkte den Kopf und blickte ihren Ring an, der wie festgegossen an der Linken steckte. Konnte er ihr möglicherweise helfen? War er der Weg, um den Dom vor einer Versuchung durch das Böse zu retten? Eine sichere Antwort gab es auf diese Frage nicht, es kam auf einen Versuch an. Kassandra rechnete damit, daß sich auch John Sinclair und sein Kollege Suko in der Nähe aufhielten. Gesehen hatte sie bisher keinen der beiden. Vielleicht war auch schon alles vorbei, war sie zu spät gekommen, obwohl es nicht den Anschein hatte, denn alles lief auf dem Domplatz völlig normal ab. Die Menschen verhielten sich harmlos und nicht so, als hätten sie etwas Schreckliches erlebt, gespürt oder beobachtet. Kassandra stand auf. Sofort wurde ihr Platz von einem Pärchen eingenommen. Mit etwas müde wirkenden Schritten ging sie über den Platz, und steuerte einen der Domeingänge an. Daß es genau der war, durch den auch die beiden Geisterjäger das Bauwerk betreten hatten, konnte sie nicht wissen. Sie gehörte zu den wenigen Personen, die allein unterwegs waren. Die meisten waren in Gruppen gekommen und blieben auch beim Eintritt in den Dom zusammen, so daß es immer wieder dauerte, bis der Platz vor der Tür freigegeben wurde. Kassandra drängelte sich dazwischen. Neben ihr gingen Japaner, die Kameras schußbereit in den Händen haltend — wie Jäger ihre Gewehre. Die Frau tauchte sofort nach links weg, damit sie aus dem Flackerlicht geriet und sich etwas allein fühlte, denn nichts anderes wollte sie. Man hatte ihr den Weg gewiesen, der Ring konnte einfach nicht lügen. Am, im oder über dem Dom hatte sich eine dämonische Gefahr verdichtet, die das Bauwerk radikal verändern konnte. Unwillkürlich dämpfte sie die eigenen Schritte, obwohl sie von genügend Geräuschen umgeben war und die Blitzlichter zuckten. Sie hörte das Klicken der Kameras, ging wieder einige Schritte weiter und wäre fast gegen einen hochgewachsenen, breitschultrigen, blonden Mann gestoßen, der einfach dastand und sich umschaute. »Sorry«, sagte sie. Der Mann nickte nur. Für die Dauer einer Sekunde streifte sein Blick ihr Gesicht, und Kassandra fühlte sich erkannt. Doch der Mann schaute zur Seite. Sie ging an ihm vorbei. Menschen drängten sich in die Gänge hinein und verteilten sich. Auch die anderen Eingänge befanden sich in ständiger Bewegung, und Kassandra kam sich vor wie in einem Karussell, nur der Schwindel fehlte noch. Sie schrak zusammen, als ihr jemand eine Hand auf die Schulter legte.
Sofort drehte sie sich nach rechts und blickte in ein erstauntes Gesicht mit asiatischen Zügen. »Suko!« »Kassandra!« klang es ebenso erstaunt zurück. »Sie hier?« »Ja, Suko, ja.« Sie faßte ihn an. »Ich . .. ich mußte einfach kommen. Ich hatte keine Ruhe.« »Sir James auch?« »Nein, er weiß von nichts.« »Hoffentlich.« »Aber wo ist John?« Suko hob die Schultern und schaute sich um. »Wir haben uns geteilt und wollten uns hier treffen.« Dann winkte er. Als Kassandra sich drehte, sah sie den hochgewachsenen blonden Mann näherkommen. Sehr bald erfuhr sie, um wen es sich handelte. »Ah, Wladimir Golenkow. Ein Mann, der Karriere gemacht hat beim KGB, aber nicht auf die rauhe Tour.« »Sie sind gut informiert, Madam.« »Das ist mein Beruf und meine Berufung.« Wladimir hatte schnell geschaltet. »Kassandra?« »Ja.« »Sie sind auch in meiner Heimat ein Begriff, Madam. Kompliment. Aber wo steckt John?« »Ich habe ihn nicht gesehen«, erklärte Suko. »Wahrscheinlich ist er noch unterwegs.« »Dann kann er nicht weit sein«, sagte der Russe. »Er wollte nahe des Eingangs bleiben.« »Schauen wir uns um.« Suko wollte Kassandra ansprechen, sie aber war verschwunden. Urplötzlich hatte es sie überfallen. Es war nur mehr ein Gedankenstrahl gewesen, eine Information, ein Wissensschock, auch die gleichzeitige Warnung aus dem Innern. Gefahr! Der Blick richtete sich auf ihre linke Hand, wo der Ring einen matten Glanz abstrahlte, der ihm sonst fehlte. Er mußte etwas gespürt haben. Jetzt hätte sie gern die Ruhe gehabt, um sich zu konzentrieren und auch >sehen< zu können. Das war nicht möglich. Sie spürte gleichzeitig, daß die Zeit drängte. So lief sie vor und wußte mit einemmal, daß etwas geschehen war und wohin sie zu gehen hatte... *** Der Bulgare stand neben der Statue und hielt sie fest. Es sah aus, als würde er sie stützen. »Na, Sinclair, wie gefällt dir mein Vorschlag denn? Du hast ihn nicht kommentiert, was ich sehr schade finde.« »Es ist klar, daß ich mich darüber nicht freue.«
Der Bulgare nickte. »Sicher, ganz bestimmt. Aber du wirst es machen, du kannst dich nicht wehren, es sei denn, du willst von Jekov erschossen werden.« »Wo soll er hin?« »Schon besser.« Der Bulgare nickte. »Schon viel besser. Er soll zum Altar gebracht werden. Du gehst mit ihm durch den Dom. Es ist doch der Triumph für ihn.« »Wie geht es weiter?« »Das sage ich dir noch.« »Wird Jekov schießen?« »Keine Ahnung. Vielleicht nimmt er auch das Messer. Möglich ist alles, es kommt auf die Situation an. Komm jetzt her, Sinclair, ich möchte sie dir übergeben.« Verdammt, ich stand unter Strom, war auf achtzig. Wäre die Schalldämpfer-Kanone nicht gewesen, hätte ich dem Kerl schon gezeigt, wo die Glocken hingen, so aber war ich quasi eingesperrt, ein Gefangener, denn ich brauchte nur an Golenkows Leute in der Tiefgarage zu denken, um zu wissen, was auch mir blühte. Als ich vorging, verschwand der Druck der Mündung. Die Waffe blieb trotzdem auf mich gerichtet, und auch der Bulgare hielt plötzlich eine Pistole in der Hand. Ein kleines Kaliber, sie war in seiner großen Faust kaum zu sehen. Er ging zur Seite. »Nimm sie, nimm den Baphometh und umarme ihn!« Seine Worte hörte ich wie aus weiter Ferne, denn ich konzentrierte mich auf das widerliche Machwerk. Wo blieben Suko und Wladimir? Sie wußten doch, daß ich mich nicht allzu weit vom Eingang entfernt hatte. Also könnten sie ruhig nachschauen. Ich haßte die Statue und konzentrierte mich dabei auf das blasse Leuchten der Karfunkelsteine, die ihre Augen darstellten. Bewegten sie sich? Lebte sie etwa? Hatte Baphometh ihr von seinem Geist des Bösen einen Feil hinterlassen? Mein Hals war längst trocken geworden. Die Luft im Dom kam mir stickig vor. Ich fühlte mich gedemütigt, und was ich tun sollte, war die reinste Gotteslästerung. »Nein, das . . . »Faß sie an, Sinclair!« säuselte der Bulgare. »Faß sie nur an. Du mußt sie spüren.« »Hör auf, Bulgare!« Der Mann lachte. Er stand neben der Statue, ich vor ihr, und ich sah den Triumph in seinen Augen leuchten. Sehr langsam streckte ich meinen rechten Arm aus, u m sie zu berühren. Das war genau der Moment, als ich eine bekannte Stimme hörte. »Nein, John Sinclair, nimm sie nicht!« Kassandra hatte gesprochen!
*** Ich erstarrte, der Bulgare ebenfalls, und auch Jekov rührte sich nicht, wie ich annahm. Sekundenlang herrschte überraschtes Schweigen. Der Bulgare starrte an mir vorbei, zwinkerte mit den Augen und fragte flüsternd: »Wer bist du, Weib?« Niemand griff ein, als ich mich leicht drehte, so daß ich auch Kassandra im Auge behalten konnte. »Erkennst du mich nicht an der Stimme, Bulgare?« »Eigentlich müßte ich es. Ich könnte raten«, erwiderte er lauernd. »Und ich glaube, ich würde ins Schwarze treffen.« »Da! Schau genau hin!« Kassandra hatte ihren linken Arm angehoben und die Hand zur Faust geballt. In dieser Lage war besonders gut der Ring zu sehen, der ihr gehörte. »Erinnerst du dich, Bulgare? Erkennst du ihn wieder? Es ist lange her, es waren die Zeiten des Kalten Kriegs, als du ihn mir genommen hast. Jetzt habe ich ihn wieder, und ergab mir die Jugend und Spannkraft zurück. Im Gegensatz zu dir, denn du bist ein alter Mensch geworden, Bulgare.« »Ja, das stimmt. Ich kann es nicht leugnen.« Er deutete ein Nicken an und mußte lachen. »Wie sich die Zeiten doch ändern. Den Ring habe ich dir schon einmal abgenommen, ich glaube fest daran, daß ich es auch ein zweitesmal schaffen werde.« »Wann denn?« »Jetzt und hier. In dieser Nische. Oder hast du damit gerechnet, lebend herauszukommen?« »Ja, das habe ich.« »Nein, Kassandra. Du nimmst mir sogar eine Reise ab. Ich wäre nach meinem Sieg hier zu dir gekommen und hätte dich vernichtet. So wird es jetzt geschehen. Jekov — leg sie um!« Da griff ich ein! *** Jekov würde es tun. Er war ein Mensch, der auf ähnliche Befehle nur wartete, aber er stand verhältnismäßig ungünstig, denn ermußteauch mich im Auge behalten. So zielte die Mündung weder direkt auf mich, noch auf Kassandra. Ich machte es mit dem Fuß. Zwar war ich nicht so geschmeidig wie Suko, was Kung Fu oder Karate anging, für einen Europäer reichte es schon aus. Jekov gurgelte, als er den hammerartigen Treffer dicht unterhalb der Gürtellinie kassierte. Er sackte in die Knie, das bekam ich noch mit, bevor ich mich um den Bulgaren kümmerte.
Der war ebenfalls überrascht worden. Bis er abdrük-ken konnte, war ich bei ihm. Zwei Finger schoß ich gegen sein Gesicht, traf gut und hämmerte mit der anderen Hand gegen seinen rechten Arm, so daß er die Waffe loslassen mußte. Sie fiel auf den Steinboden und rutschte davon, während er mit dem Rücken gegen die Wand krachte. Ich ließ die Statue stehen, sprang auf ihn zu und riß ihn auf die Beine. Er war ziemlich angeschlagen, seine Augen tränten, Gegenwehr gab es bei ihm nicht, dafür keuchte er wie ein Schwerverletzter. Ich schlug noch einmal zu. Auf seinen Hals hatte ich gezielt. Er zog den Kopf noch ein, ich traf ihn. Er sackte endgültig zusammen und blieb verkrümmt vor der dunklen Wand liegen, denn das Licht der Kerzen streifte sie kaum. I )ann drehte ich mich um, denn mir war eingefallen, daß Jekov noch schießen konnte. Nein, das schaffte er nicht mehr, denn Suko und Wladimir waren erschienen wie zwei Geister. Der Inspektor hatte sich des Killers angenommen und ihn dermaßen überrascht, daß es Jekov nicht möglich gewesen war, sich zu wehren. Soeben beförderte ihn Suko ins Reich der Bewußtlosigkeit und zerrte ihn in die Dunkelheit der Nische. Bisher war keinem weiteren Besucher diese Aktion aufgefallen. Wladimir Golenkow hatte sich noch nicht gerührt. Er stand da und staunte. »War's das?« fragte Suko. »Bestimmt nicht«, erwiderte ich und deutete auf die Statue. »Die werde ich mir vornehmen.« »Willst du sie draußen zerhacken?« »Bestimmt nicht. Es soll nicht auffallen, deshalb werde ich mich hier mit ihr beschäftigen.« Ich nestelte mein Kreuz hervor und streifte die Kette über den Kopf. Der Bulgare hatte mir erklärt, daß sie durch Bapho-meths Odem verseucht worden war. Wenn es stimmte, würde sie eine Berührung mit dem Kreuz nicht überstehen. Ich sah das Gesicht der häßlichen Statue dicht vor mir, nahm das Kreuz und preßte es mitten in die flache, widerliche Fläche, wo tatsächlich sofort eine Reaktion stattfand. Die künstlichen, mit bösem Odem gefüllten Augen knackten weg wie Nußschalen. Das Holz selbst knisterte, es begann zu schwelen, der Geruch war widerlich. Vor meinen Augen knirschte die Statue zusammen. Als verbrannte, schwarze Reste breitete sie sich auf den Boden aus. Sie hatte es nicht geschafft, den Dom zu entweihen. Erleichtert drehte ich mich um.
Kassandra, Suko und Wladimir Golenkow standen zusammen, sie lächelten, waren froh, wollten etwas sagen, doch das Gesicht des Russen verzerrte sich plötzlich. »Verflucht, der Bulgare!« Wir wischten herum, aber Golenkow sagte: »Den hole ich mir. Zu lange habe ich darauf gewartet.« Wir ließen ihn. Er tauchte in das Dunkel der Nische ein, und wir rechneten damit, daß er den Bulgaren ins Reich der Träume schicken würde. Statt dessen ging er rückwärts, geriet in den Schein der drei Kerzen, die auch sein starres Gesicht beschienen. »Was ist los?« zischte ich ihm zu. Golenkow deutete nach vorn, wo der Bulgare auftauchte, und zwar in einer etwas ungewöhnlichen Haltung, denn er hatte einen Arm angehoben und gleichzeitig gewinkelt und hielt dabei die rechte Hand dicht vor seinem geöffneten Mund. Die Hand verdeckte die Lippen nicht. Daumen und Zeigefinger berührten dabei den an einem dünnen Stahlband hängenden Stift einer Handgranate. Auch ohne Worte wußten wir Bescheid. Wenn erzog, dann sprengte er nicht nur sich selbst in die Luft, auch Unschuldige würden in Mitleidenschaft gezogen werden. Das wußte er, und deshalb leuchteten seine Augen in einem nahezu wahnsinnigen Triumph. Die linke Hand hatte er frei, ließ sie pendeln und deutete auf Golenkow. Es war klar, was er von ihm wollte, der Russe sollte ihn aus dem Dom heraus begleiten... *** »Du kannst dich nicht wehren!« flüsterte ich. Wladimir nickte. »Das weiß ich.« »Dann geh.« »Vielleicht packe ich es noch!« hauchte er mir zu, bevor er sich zu dem Bulgaren begab, der ihn unterhakte, als wären beide ein Liebespaar. Sie drehten uns den Rücken zu und gingen davon. Auch durch einen blitzschnellen Schlag in den Nak-ken des Mannes hätten wir nichts erreicht. In einem Reflex hätte der Bulgare noch immer die Handgranate scharfmachen können, die seinen Mund ausfüllte. Ich stellte mir allerdings die Frage, wie er sich draußen auf dem Domplatz verhalten würde, wo sich Hunderte von Menschen aufhielten, denn auch dort konnte eine detonierende Granate manchen irreparablen Schaden anrichten. Sie schritten direkt dem Ausgang entgegen, und niemand kümmerte sich um sie. Wir blieben ihnen auf den Fersen und ließen sie aus dem Dom herausgehen.
»Man kann einfach nichts tun!« flüsterte Suko, »das macht mich fast wahnsinnig.« Ich schaute auf Kassandra. Sie starrte ihren Ring an, als suche sie dort eine Lösung. »Was ist mit ihm?« flüsterte ich. »Kann er uns helfen?« »Ich glaube nicht.« Suko trat als erster ins Sonnenlicht, Kassandra folgte ihm, ich machte den Schluß. Wir blieben irritiert stehen, denn wir sahen die beiden nicht mehr. Die Menschen schienen sie in der Masse verschluckt zu haben. Ich ging einige Schritte vor und schaute nach links. Dort sah ich sie gehen, noch immer dicht beisammen, und sie schritten auf die Vorderseite und damit den Eingang des Dom-Hotels zu. Wollten sie dort hinein? Ich holte auf, huschte an den Besuchern vorbei, duckte mich, kam weiter und erkannte auch, daß die beiden Männer aulgefallen waren. Wahrscheinlich besonders der Bulgare, weil er die Handgranate in seinem Mund stecken hatte. Ob sie auch von jedem Zeugen erkannt wurde, war fraglich, ich hoffte nicht, es hätte zu leicht eine Panik geben können. Aber wie würde sich Golenkow aus der Affäre ziehen? In seiner Haut wollte ich nicht stecken. So etwas erforderte Nerven aus Stahl, das war kaum in den Griff zu bekommen. Selbst mir rann bei diesem Anblick eine kalte Haut über den Rücken. Sie gingen nicht in das Hotel, sondern drehten nach links ab. In einer diagonal verlaufenen Linie führte der Weg geradewegs auf einen der Tiefgarageneingänge zu. Das Sonnenlicht strahlte nicht nur über den Platz, es berührte auch die Fontäne eines Brunnens und ließ das dort hochspritzende Wasser kostbar aussehen. Beide mußten den Brunnen passieren. Golenkow ging rechts, der Bulgare an der linken Seite. Und er geriet auch nahe an den Brunnen. In seinem Wasser tobten oft Kinder herum. Sichtbar hielt niemand sich in diesem kniehohen Wasser auf. Jeder bekam die plötzliche Bewegung mit. Er rammte seinen linken Arm ebenfalls nach links, bevor Suko noch seinen Stab einsetzen und das bestimmte magische Wort hatte rufen können. Es wäre die letzte Möglichkeit gewesen, er mußte nur eben auf Rufweite an die beiden herankommen und war schon dabei gewesen, einen Bogen zu schlagen. Der Bulgare kippte über die Mauer hinweg. Das Wasser schluckte ihn und auch den Detonationsknall der Eierhandgranate. Eine riesige Fontäne schäumte hoch, erst weiß, dann rötlich gefärbt.
Wladimir Golenkow stand da, war naß, schaute gegen den Brunnen und hörte erst dann die Schreie der Menschen. Kassandra und ich stürmten auf ihn zu, zogen ihn weg, schauten selbst in den Brunnen und erkannten, daß der Bulgare nie mehr einen Mordauftrag würde geben können. Die Kraft der Handgranate hatte sich gegen ihn selbst gerichtet. Suko war ebenfalls herbeigelaufen, überblickte alles und entdeckte auch die grünen Uniformen der Polizisten. »Ich glaube, John, ich setze mich ab!« flüsterte Wladimir. »Wir sehen uns bestimmt wieder.« Dann war er weg. Ich traute ihm ohne weiteres zu, sich nicht erwischen zu lassen. Es wäre für einen KGB-Mann fatal gewesen, sich den deutschen Behörden stellen zu müssen. Ich winkte dem Russen nicht einmal nach, denn vier finster blickende Polizisten umringten uns, schauten auch in den Brunnen... Ihre Gesichter bekamen noch mehr Härte. »Ich glaube, Sie sind uns eine Erklärung schuldig«, sagte einer von ihnen. »Nicht Ihnen«, erwiderte ich. »Ihren Chefs. Gehen Sie zuvor in den Dom. Dort liegt in einer Nische ein bewußtloser Killer. Seine beiden Opfer finden Sie tot in der Tiefgarage unter der Domplatte. Sagen Sie der Mordkommission Bescheid.« Die Beamten bekamen tatsächlich einen >Bullenblick<. Sie hielten uns für verrückt. Im Beisein zahlreicher Zuschauer legten sie uns Handschellen an, nachdem wir entwaffnet worden waren. Wenig später führte man uns ab wie Schwerverbrecher. Die Leute klatschten noch. »Das ist mir auch noch nicht passiert«, sagte Lady Kassandra. »Man lernt eben nie aus.« »Und das noch als Frau eines hohen Scotland-Yard-Beamten«, fügte ich grinsend hinzu. Weshalb Lady Kassandra plötzlich so laut und lange lachte, wußten die Beamten nicht. Sie versprachen uns zwar, daß uns das Lachen vergehen würde, doch das tat der Laune einer Lady Kassandra keinen Abbruch. Sie meinte nur: »Diesmal lacht der am besten, der zuerst lacht.« Das bestätigte sich noch am gleichen Nachmittag, als ich mit einigen hohen Beamten sprach, wir freigelassen wurden und trotzdem eine Strafe aufgebrummt bekamen. Wir mußten ein Protokoll verfassen, und so etwas hasse ich ebenso wie der Teufel das Weihwasser...
ENDE