Christoph Güsken
Lambertis Fluch
Kriminalroman
grafit
© 2003 by GRAFIT Verlag GmbH
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Umschlagillustration: Peter Bucker
Druck und Bindearbeiten: Fuldaer Verlagsagentur, Fulda
ISBN 3-89425-275-8
Eine Schutzgeldmafia, die Arztpraxen unter Druck setzt? Privatdetektiv Henk Voss hält das für nicht so abwegig wie sein Expartner Bernie Kittel, denn schließlich hat er selbst zwei Ärzte tot aufgefunden. Dabei ist er eigentlich auf der Suche nach einer jungen Frau, die angeblich eine Hauptrolle in einem Horrorfilm spielt, der gerade in Münster gedreht wird.
Auf schnellen Schwingen wird der Tod den ereilen, der meine Ruhe stört. Tutanchamun
1
»Denken Sie doch mal an all die Kranken«, sagte der Mann, »die Sie dann nicht mehr gesund machen könnten.« Er war klein und dick und hatte eine Halbglatze, die er unter dem spärlichen Resthaar zu verbergen suchte. Mit einem wenig eleganten Schwung lümmelte er sich auf den Schreibtisch, der unter seinem Gewicht ächzte, und spielte mit einem silbernen Hämmerchen, das er dort neben einem Rezeptblock gefunden hatte. »Das wäre doch schade, oder nicht?« »Bitte, fassen Sie nichts an!«, verlangte Dr. med. Bockmühl nervös. Er nahm dem Dicken das Hämmerchen aus der Hand. Es hatte einen langen Griff, der wie ein Ast geformt war und um den sich eine Schlange rankte. »Das hat man mir zu meiner Approbation geschenkt.« Sein ungebetener Gast zuckte mit den Schultern und zog einen Kamm aus der Tasche. Dann wandte er sich einem Spiegel zu, der an der gegenüberliegenden Wand neben einem Poster hing. Es stellte den menschlichen Blutkreislauf als unübersichtliches Knäuel aus roten und blauen Schläuchen dar. Das Sprechzimmer war nicht besonders groß. Die in kleine Quadrate aufgeteilten, mittelalterlichen Fenster verliehen ihm eine gemütliche Atmosphäre. Außer dem Schreibtisch gab es eine Liege, deren mit blauem Kunstleder bezogene Polster eine breite Bahn Zellstoff bedeckte, und eine Personenwaage, die mit einer silbernen Messlatte bestückt war. Hinter dem Schreibtisch stand ein unauffälliger Schrank mit blau-weißen Wälzern darin. Zwei der Vitrinen waren voll gepackt mit Pillenschachteln.
»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, sagte der Arzt. »Wenn Sie akute Beschwerden hätten…« »Sagen wir lieber«, stellte der andere Besucher richtig, »sie sind nicht akut. Es sind eher prophylaktische Gründe, die uns hergeführt haben.« Ein goldener Sommernachmittag neigte sich seinem Ende zu. Es war die Zeit, zu der draußen in den Biergärten und Restaurants allmählich das Gerangel um die Plätze im Freien begann. Hierzulande waren Sommerabende kostbar. Jeder konnte der letzte sein. Der Kollege des Dicken, ein hagerer Mann mit kantigem Gesicht und dichtem, eisgrauem Haar, stand am Fenster und genoss die Aussicht auf die alte gotische Kirche. Die Turmuhr mit den goldenen römischen Ziffern zeigte halb sechs. Über ihr hingen drei eiserne Käfige, die schwarz im Abendlicht schimmerten. In ihnen waren vor langer Zeit die Körper der Wiedertäufer verfallen, nachdem man die Männer zu Tode gefoltert hatte. Die Vögel hatten in jenem Winter keinen Hunger leiden müssen. »Sie haben eine wunderschöne Praxis«, lobte der Hagere am Fenster mit leicht heiserer Stimme. Sein sanfter Blick streifte den Arzt, während er auf die Käfige am Kirchturm deutete. »Leider liegt sie in einer unsicheren Gegend.« »Eine unsichere Gegend?« Bockmühl glaubte, sich verhört zu haben. »Ich bitte Sie. In dieser Stadt ist das so ziemlich die beste Adresse.« »Egal«, widersprach der Dicke. »Manchmal kommt eben eines zum anderen.« Er grinste breit und öffnete dabei den Mund, dass man sein Lutschbonbon sehen konnte. »Wenn Sie verstehen, was ich meine, Doc.« »Nein«, entrüstete sich Bockmühl. »Ich verstehe nicht das Geringste.«
»Busreisende, die alles voll kotzen, zum Beispiel«, präzisierte der Hagere geduldig. »Touristen, die ihre leeren Blechdosen und Hamburgerschachteln abladen. Und die Studenten nicht zu vergessen. Die sind wie Heuschrecken.« »Oder Banden von Maskierten, die Ihre schöne Inneneinrichtung kurz und klein schlagen«, fügte der Dicke hinzu. »Damit meinen Sie sich selbst, so ist es doch?«, schnaubte Bockmühl wütend. Der Mann mit dem grauen Haar wandte sich vom Fenster ab. Er schüttelte den Kopf und verzog den schmalen Mund zu einem sparsamen, aber milden Lächeln. »Wir sind dazu da, um Sie vor all dem zu beschützen.« »Nur ist das eben nicht umsonst«, freute sich der Fettwanst und gab dem Schreibtischsessel einen Tritt, dass er quer durch den Raum sauste. »Security ist ein boomendes Geschäft.« »Sie müssen verrückt sein!« Bockmühl schüttelte den Kopf wie einer, der die Welt nicht mehr versteht. »Was denken Sie sich eigentlich? Das hier ist keine Pizzeria.« »Nach neuesten Erhebungen«, dozierte der Hagere, »sind Arztpraxen erheblich stärker von Vandalismus bedroht als italienische Restaurants. Glauben Sie mir, auch ich war erstaunt, als ich davon las. Die wenigsten wissen das. Umso größer ist der Schutzbedarf für eine Praxis wie diese.« Bockmühl begab sich hinter seinen Schreibtisch und legte den silbernen Hammer dorthin zurück, wo er hingehörte: neben den Rezeptblock. »Sie glauben doch nicht im Ernst…« »Was wir glauben, ist ziemlich scheißegal«, ließ sich der Lümmel auf dem Schreibtisch vernehmen. »Tatsache ist jedenfalls, wenn wir Ihnen helfen sollen, dann müssen Sie dafür wenigstens zweitausend Ocken im Monat abdrücken.« »Ocken?« »Er meint Euro«, erläuterte der Hagere.
»Ich habe keinerlei Interesse an Ihrer Hilfe.« »Verstehen Sie doch: Dafür bekommen Sie nicht nur den Schutz. Es gibt noch so manchen Zusatzservice. Wir könnten Ihrer Praxis zu Wohlstand verhelfen. Zu mehr Patienten…« »Sie wollen mir Patienten verschaffen? Dass ich nicht lache!« »Wir könnten dafür sorgen, dass sich mehr Leute ein Bein brechen. Dass ihnen ein Missgeschick passiert oder ein Unfall.« »Hören Sie auf! Schluss mit dem Affentheater. Sie verschwenden meine kostbare Zeit.« »Wir sind nun bereits das dritte Mal hier.« Der Hagere schenkte Bockmühl ein weiteres friedfertiges Lächeln. »Ihre nette Sprechstundenhilfe hält uns inzwischen für alte Patienten. Vielleicht ist Ihr Zögern ja darin begründet, dass Sie unser Honorar ein bisschen happig finden. Nur zu, dafür hätten wir Verständnis. Die Praxismiete in dieser unsicheren Gegend ist bestimmt gesalzen. Also gut, sagen wir nicht zweitausend. Sagen wir achtzehnhundert. Was halten Sie davon?« Bockmühl lachte plötzlich auf. »Schutzgelderpressung in einer Arztpraxis, das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe! Das glaubt mir keiner!« »Ob das nun wirklich komisch sein mag oder Sie es nur dafür halten«, kommentierte der Hagere weise, »ist eigentlich nicht der Punkt, über den wir hier reden. Warum zeigen Sie nicht einfach Ihren guten Willen und – « »Meinen guten Willen?« Der Arzt war fassungslos. »Sie spazieren hier ganz lässig herein und bedrohen einen unschuldigen Menschen – « »Sie halten sich also für unschuldig?« Unsicher schüttelte Bockmühl den Kopf. »Was wollen Sie damit andeuten?«
»Dass es vermessen ist, sich vorschnell für unschuldig zu erklären«, der Mann mit dem grauen Haar nickte in Richtung Kirche und bekreuzigte sich. »Vor dem Herrn.« »Lassen Sie den Herrn gefälligst aus dem Spiel!« »Dann vor Ihrer Gattin, Gott hab sie selig.« Bockmühl zuckte zusammen und legte den Kopf zur Seite. Seine Augen verengten sich und die Lippen bebten, obwohl er sie aufeinander presste. »Was erlauben Sie sich!«, zischte er wütend. »Scheren Sie sich aus meiner Praxis oder ich rufe die Polizei!« »Ist das Ihr letztes Wort?«, erkundigte sich der Dicke leutselig. Er stand vom Sessel auf und schlenderte zum Schreibtisch zurück. Dort schnappte er sich den Rezeptblock und blätterte ihn durch wie ein kostbares Buch. »Sie werden es vielleicht bereuen«, gab sein Kumpel zu bedenken. »Das wird sich noch zeigen.« Bockmühl ging zur Tür und öffnete sie. Er wartete. »Wir werden wiederkommen.« »Mir doch egal. Lassen Sie sich von meiner Sprechstundenhilfe einen Termin geben.« »Aber klar doch«, freute sich der Fettwanst. »Wir kommen zum Blutabnehmen oder zum Belastungs-EKG. Oder zum Krankschreiben. Auf jeden Fall sehen wir uns wieder.« Die beiden ungebetenen Gäste verließen die Praxis und traten ins Treppenhaus. Der Graue mit dem kantigen Gesicht zog die rechte Augenbraue hoch, was den Dicken an Mr. Spock erinnerte. »Gehen wir«, sagte er. »Heh, warten Sie!« Dr. Bockmühl stand in der Tür. Die Miene des Dicken erheiterte sich. »Na, sehen Sie, Doc. So gefallen Sie mir.«
»Das Hämmerchen. Her damit.« Bockmühl hielt seine Hand auf. »Ich sagte Ihnen doch, dass Sie hier nichts anzufassen haben.«
2
Die Stadt ist halb so groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, hatte ich auf einer Kneipentoilette gelesen, aber doppelt so tot. Man sollte nicht alles glauben, was auf Klowänden steht. Natürlich war das mit der Größe stark übertrieben, selbst wenn man alle Vororte dazurechnete. Abgesehen davon hatte die Stadt aber ein ganzes Bündel guter Eigenschaften, mit denen kein Zentralfriedhof der Welt mithalten konnte. Zum Beispiel war das hiesige Klima milder und ausgeglichener als sonst wo. Die Wohnverhältnisse vorbildlich. Stadtviertel und Wohnanlagen hatten schon des Öfteren diverse Auszeichnungen eingeheimst. Die medizinische Versorgung der Region galt als eine der besten im Bundesland, der Nahverkehr spielte bundesweit oben mit und die Müllentsorgung war unbestritten ein Vorbild für den ganzen Erdball. Delegationen aus Japan und Kuala Lumpur begaben sich regelmäßig hierher, um Verkehrskonzepte der Zukunft vor Ort zu erleben. Es gab kaum etwas, das nicht jederzeit einen Preis bekommen konnte. Selbst die Kriminalität, da war ich sicher, würde irgendwann mit dem Titel Kinderfreundlichste Kriminalität in NRW geehrt werden. Es war ein sonniger Spätnachmittag im August. Ich hockte in einem muffigen kleinen Ladenlokal direkt am Hafen, sah über die auf dem Bürgersteig geparkten Autos auf den Kanal hinaus und fühlte mich schlecht. Wenn es nach Kittel, meinem Expartner, gegangen wäre, hätte ich mich schon längst hier niedergelassen, um mit ihm
wie in alten Zeiten gemeinsame Sache zu machen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich den nächsten Zug nach Hause genommen. Wieso sehnst du dich nach einer Stadt, erkundigte sich meine innere Stimme, die an einem Fluss liegt, der meilenweit nach Chemikalien stinkt und zweimal im Jahr sämtliche Keller der Südstadt überflutet? Sie meinte das ruhige Wasser, das gleich jenseits der Autodächer glitzerte. Das Gewässer dort mag nur eine langweilige, künstliche Wasserstraße sein, aber es entspricht so ziemlich allen Umweltrichtlinien. Aktuellen Untersuchungen zufolge soll es sogar gesünder sein, das Zeug aus dem Kanal zu trinken als seinen Durst mit billigem Tafelwasser aus dem Supermarkt zu stillen. Genau deswegen, entgegnete ich, will ich zurück. Ich bin nicht umweltfreundlich. Ich gehöre zu denen, die lieber Wasser trinken, das nach Chemikalien stinkt. Darauf hatte die Stimme nichts zu entgegnen. Das Dumme war nur, dass ich nicht zurückkonnte. Und das hatte ich Axel Vollmer, meinem zweiten Expartner, zu verdanken. Die Zusammenarbeit mit ihm hatte von Anfang an unter einem schlechten Stern gestanden. Axel hatte einen reichen Papa und keine Ahnung von der Privatschnüffelei, ich hatte dringend einen Geldgeber gebraucht und keine Ahnung von Kölnkrimis gehabt. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, dass mir Axel mit seinem kölschen Lokalnarzissmus so sehr auf den Wecker fiel, dass ich etwas dagegen unternehmen musste. Also behauptete ich, über vage Informationen zu verfügen, denen zufolge er sich mitten im Feindesland, auf der bösen Rheinseite und obendrein in der Vereinskneipe von Bayer 04 Leverkusen, den Beweis dafür beschaffen könnte, dass die hässliche Spendenaffäre der Kölner SPD eine infame Schmutzkampagne sei, deren Drahtzieher im Düsseldorfer
Rathaus säßen. Natürlich hatte Axel mir kein Wort geglaubt, aber er musste sich vergewissern, ob an der Sache nicht doch etwas dran war. Er sollte sich blamieren oder das eine oder andere blaue Auge kassieren. Dass er überhaupt nicht zurückkehrte, war auch für mich eine Überraschung. Axel Vollmer war und blieb spurlos verschwunden und ich – jedenfalls in den Augen seines rachsüchtigen Daddys – derjenige, der ihn aus dem Weg geräumt hatte. Ich hatte es für besser gehalten unterzutauchen, jedenfalls so lange, bis sich die Wogen etwas glätteten. Der lange Arm des Vollmer senior reichte weit, aber nicht bis in die westfälische Musterstadt. Die muffige Räumlichkeit, in der ich Asyl gefunden hatte, war früher ein Frisörsalon gewesen und danach eine Änderungsschneiderei. Jetzt war sie eine Detektei, wenn auch nicht meine. Bernie Kittel hatte sie angemietet, weil sie das einzige Büro war, das er sich zurzeit leisten konnte. »Allerdings kann sich das schon sehr bald ändern«, hatte er orakelt. Das hatte mich neugierig gemacht. »Raus mit der Sprache: Hast du im Lotto gewonnen? Oder erpresst du jemanden?« »Feste Anstellung«, hatte er geschwärmt. »Geregeltes Einkommen. Rentenanspruch. Regelmäßige Gehaltserhöhung. Na, wie hört sich das an?« »Nach einem tollkühnen Leben voller Extreme«, hatte ich angewidert geantwortet. »Wart’s ab«, hatte er gesagt. »Wär nett, wenn du den Laden inzwischen ein bisschen in Schwung halten könntest.« Kittel hatte sich verändert. Oder besser, er hatte vor, sich zu verändern. Das ordentliche Leben mit Urlaubsanspruch und Fortzahlung im Krankheitsfall schien ihn zu faszinieren.
Eine tragische Faszination. Er erinnerte mich ein wenig an einen Esel, der sich in den Kopf gesetzt hatte, ein berühmter Sänger zu werden. Momentan war Kittels Klitsche meine Bleibe. Besser als nichts. An den unausrottbaren Geruch von Haarwasser und abgetragenen Klamotten hatte ich mich schon gewöhnt. Ich blätterte die Zeitung durch und landete bei einer reißerischen Schlagzeile. WEITERER RÄTSELHAFTER TOD! FILMPRODUZENT ERMORDET? Heute gab es Entwarnung: Andro Steck, Produzent von DIE GRUFT, erschien unversehrt vor der Presse und erklärte die Gerüchte um sein Ableben für stark übertrieben. Dessen ungeachtet habe er entschieden den Eindruck gewonnen, dass so manches, was sich am Rand der Dreharbeiten ereigne, als ›höchst mysteriös‹ zu bezeichnen sei. Für nähere Infos empfahl er eine Hotline und eine Internetseite, die Ich las nicht weiter. In Köln ist das anders, erklärte ich meiner inneren Stimme. Wenn du da was von Mord in der Zeitung liest, kannst du wenigstens davon ausgehen, dass wirklich jemand umgelegt wurde. Auch wenn er nur aus Spaß an der Freud dran glauben musste. Es klopfte, dann rüttelte jemand von außen an der Klinke. Wieder einmal klemmte die Tür. Ich legte die Zeitung beiseite und öffnete. Vor mir stand ein dürrer Mann in einem dunklen Rollkragenpullover, der sein Jackett ordentlich gefaltet und über den linken Arm gelegt hatte. Er hatte hellgraues Haar und trug eine grün schimmernde Brille auf der Nase, die sofort
meinen Blick auf sich zog. »Herr Kittel?« Er reichte mir die Hand. »Guten Tag.« »Bedaure«, sagte ich. »Kittel ist nicht da. Ich bin sein Partner.« »Terjung«, stellte der Mann sich vor. »Heiner Terjung. Sie sind Herrn Kittels Vertretung?« Offenbar hörte er nicht gut. »Sein Partner«, stellte ich richtig. »Mein Name ist Voss. Worum geht’s denn?« Die Hand zog sich wieder zurück. »Also ich wollte schon lieber mit Herrn Kittel…« »Na schön«, sagte ich. »Wenn Sie so wollen, bin ich seine Vertretung. Normalerweise arbeite ich in Köln, aber da kann ich mich im Moment nicht sehen lassen. Dicke Luft, verstehen Sie? Deshalb lässt Kittel mich hier wohnen. Zum Ausgleich gieße ich die Blumen und mache Praxisvertretung, allerdings nur montags und mittwochs. Die anderen Tage können Sie Kittel selbst hier erreichen.« Ich zeigte ihm ein offenherziges Lächeln. »Sie machen die Praxisvertretung…« Terjung machte ein skeptisches Gesicht. Ich war ihm nicht seriös genug, und das konnte nur bedeuten, dass er Kittel noch nicht kennen gelernt hatte. »Vielleicht sollte ich lieber später wiederkommen«, sagte er und rückte seine Brille zurecht. »Ich bitte Sie«, hielt ich ihn zurück und bugsierte ihn zu einem der beiden Stühle im Raum. »Wo Sie sich extra herbemüht haben, sollten Sie wenigstens Ihr Anliegen vorbringen.« »Also, ich weiß nicht…« Terjung weigerte sich, Platz zu nehmen. Mir wurde es zu bunt. »Sie haben Recht, man sollte keinem Fremden trauen. Ich habe auch genug anderes zu tun.« Demonstrativ widmete ich mich meiner Zeitung. »So habe ich das nicht gemeint«, lenkte er ein.
Terjung war schätzungsweise Ende dreißig, Anfang vierzig. Es waren nicht der Anzug und das korrekte Äußere, sondern die Brille, die ihn wie einen alten Herrn aussehen ließ. Dabei hatte er sie sich vermutlich zugelegt, um jünger und verwegener zu wirken. »Also?«, fragte ich, nachdem er endlich Platz genommen hatte. »Ich suche einen Menschen, der spurlos verschwunden ist«, sagte Terjung. »Inzwischen mache ich mir Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.« »Es handelt sich also um eine Frau?« Er nickte. »Ihr Name ist Lawinia Scholl.« Terjung reichte mir ein Foto herüber, dessen Kanten er vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger klemmte, um keine Abdrücke auf dem Bild zu hinterlassen. »Sie erwähnte, dass sie in ärztlicher Behandlung sei. So wie ich sie verstand, wohl nicht wegen irgendeiner Lappalie, und deshalb…« Die Frau auf dem Foto war attraktiv und für meine Begriffe etwas zu jung für meinen Besucher. Sie war schlank, hatte langes, dunkles Haar und trug einen weiten Rock, der hippihaft aussah. Eine Frau im Outfit der frühen Siebziger auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. »Wie gut sind Sie mit ihr bekannt?«, fragte ich. Terjung räusperte sich. »Wie gut ich mit ihr bekannt bin? Ich habe sie nur ein paarmal getroffen. Auf einer Fortbildung in Havixbeck. Wir haben dort ein Bildungshaus.« »Wir?« »Ich meine die LVM, meinen Arbeitgeber. Ein großes Versicherungsunternehmen.« »Also ist Frau Scholl Ihre Kollegin?« »Nein, nein. Ich traf sie in einer Grünanlage, wo ich mir in der Mittagspause die Beine vertrat.« Terjung hielt die Hand auf. »Dürfte ich das Foto zurückhaben?«
»Bezieht sich Ihre Sorge ausschließlich auf den Gesundheitszustand dieser Dame?« Terjung wiegte unentschlossen den Kopf hin und her. »Sagen wir, ich möchte sie Wiedersehen.« »Haben Sie es schon einmal mit dem Telefonbuch versucht?« »Wenn ich sie so einfach finden könnte, säße ich nicht hier.« Terjungs bescheidene Körpersprache signalisierte, dass er gekränkt war. »Aber sie scheint überhaupt nicht zu existieren.« »Falls ich sie suchen soll, brauche ich einen Punkt, an dem ich anfangen kann.« »Womit können Sie anfangen?«, wiederholte er meine Frage. »Nun, ich weiß leider nicht viel über Lawinia. Sie sagte, dass sie Schauspielerin ist und gerade einen Film dreht.« »Sie wissen nicht zufällig welchen?« »Der Film interessierte mich nicht. Irgendein platter Reißer über einen Toten, der seinem Grab entsteigt und Leute umbringt.« »Sie kennen ihn ja doch.« Ich deutete auf eine Schlagzeile in der Zeitung, die auf dem Boden lag. Es war die von dem rätselhaften Mord, der keiner war. »Die Gruft. So heißt der Streifen. Die veranstalten einen Mordsrummel drum herum.« Ich bückte mich, um die Zeitung aufzuheben. Da passierte es. Ein stechender Schmerz jagte durch meinen Rücken bis hinunter in die Zehenspitzen. Er wurde schlimmer, als ich mich wieder aufrichten wollte, und ließ nicht nach, als ich mich weiter bückte. Ich konnte weder vor noch zurück. »Probleme?«, erkundigte sich mein Gast kühl. »Ach was, das ist so eine Art Gymnastik, die mache ich jeden Tag«, stöhnte ich. »Erzählen Sie nur weiter.« »Ich habe mit den Verantwortlichen am Set gesprochen«, sagte Terjung. »Man kennt dort keine Lawinia Scholl. Sehr merkwürdig, wo sie mir doch erzählt hat, sie würde die Hauptrolle spielen.«
»Dann meinte sie wahrscheinlich einen anderen Film.« »Ausgeschlossen. Warum sollte sie mir den falschen nennen? Sie wusste doch, dass ich sie Wiedersehen will.« Vorsichtig, ganz vorsichtig hatte ich es geschafft, meinen Oberkörper zurückzubiegen. Aber er war noch lange nicht gerade. »Genau das könnte der Punkt sein«, ächzte ich. Terjung runzelte misstrauisch die Stirn. »Wie soll ich das verstehen?« »Haben Sie schon mal daran gedacht, dass sie Sie vielleicht nicht Wiedersehen will?« »Dass sie mich nicht Wiedersehen will?« Terjungs Mundwinkel zuckte. Seine Angewohnheit, an ihn gerichtete Fragen zu wiederholen, bevor er sie beantwortete, machte mich nervös. »Weil sie mich für langweilig und spießig hält? Wollten Sie das sagen?« »Woher soll ich das wissen?«, versuchte ich einem Streit auszuweichen und tastete mit den Fingerspitzen mein Rückgrat ab. »Schließlich kenne ich die Frau nicht. Und Sie kennen sie auch nicht viel besser, wie mir scheint.« Terjung räusperte sich, sah vorwurfsvoll aus und legte die Hände in den Schoß. »Es geht hier nicht um persönliche Dinge«, stellte er klar. »Wie Lawinia und ich zueinander stehen, braucht Sie nicht zu interessieren. Ich will nur, dass Sie sie finden. Deshalb habe ich Sie aufgesucht, genauer gesagt Herrn Kittel. Werden Sie den Auftrag übernehmen, ja oder nein?« Wenn ich es tat, würden wir es beide nicht leicht miteinander haben. »Ich nehme vierunddreißig Euro die Stunde zuzüglich Spesen«, informierte ich ihn. »Jede angefangene Stunde berechne ich als ganze. Für Nachtarbeit werden fünfundzwanzig Prozent Zuschlag fällig und für Sonn- und
Feiertage fünfzig Prozent. Zum Schluss kommt noch die Mehrwertsteuer drauf.« Terjung schien die Kosten, die auf ihn zukamen, zu kalkulieren. »Das ist ganz schön gesalzen«, monierte er. »Wenn Sie gute Arbeit wollen, müssen Sie sie gut bezahlen.« Er erhob sich, zögerte, ob er mir die Hand reichen sollte, und entschied sich dagegen. »Vielleicht komme ich auf Sie zurück«, sagte er frostig. »Sie werden verstehen, dass ich noch andere Angebote einholen will.« »Moment mal«, wunderte ich mich. »Sie haben mir die rührende Geschichte also nur erzählt, damit ich Ihnen einen Kostenvoranschlag mache?« Terjung rückte pikiert seine Brille zurecht. »Es lag nicht in meiner Absicht, Sie zu langweilen.« Schon wieder machte er ein beleidigtes Gesicht. Der Mann brauchte keinen Detektiv, sondern jemanden, der ihm schonend beibrachte, was ihm eine Frau durch ihr Verschwinden eigentlich schon deutlich genug gesagt hatte. »Sie haben Recht«, sagte ich. »Persönliche Dinge gehen mich nichts an. Wenn Ihre langweilige Ausstrahlung das Problem sein sollte, dann wäre es am besten, Sie wenden sich an jemanden, der etwas davon versteht.« Ich versuchte mich ganz aufzurichten und stöhnte vor Schmerz. Terjung musterte mich emotionslos durch seine grüne Brille. »Von solchen Dingen verstehe ich ein wenig«, sagte er und deutete auf meinen krummen Rücken. »Regelmäßig Sport treiben hilft. Gesunde Ernährung. In Ihrem Alter sollten Sie das ernst nehmen, sonst werden Sie sich eines Tages gar nicht mehr bewegen können.« Ich mochte ihn nicht.
3
Etwa eine Viertelstunde lang versuchte ich mein Problem auszusitzen. Ich manövrierte mich auf den Schreibtisch, weil ich dort in einem halb stehenden und halb sitzenden Zustand verharren konnte. Mittlerweile war es siebzehn Uhr zehn, zu spät, fand ich, um noch einen Arzt zu konsultieren. Aber ich hatte keine andere Wahl, wenn ich nicht riskieren wollte, diesen herrlichen Sommerabend mitsamt der darauf folgenden Nacht steif wie ein Brett gegen eine Wand gelehnt zu verbringen. Ich suchte vergeblich auf Kittels Schreibtisch nach den Gelben Seiten. Schließlich fand ich in einer Schublade neben einem angebissenen Apfel die Visitenkarte seines Hausarztes. Glücklicherweise stand das Telefon in Griffweite. Ich wählte. »Praxis Dr. Bockmühl?«, meldete sich eine weibliche Stimme. »Ich habe einen Hexenschuss«, sagte ich mit leidender Stimme. »Kann mich kaum bewegen.« »Moment…« Die Sprechstundenhilfe blätterte. »Ich könnte Ihnen einen Termin für nächste Woche geben. Passt es Ihnen am Freitag, acht Uhr fünfzehn, Herr…?« »Voss. Hören Sie, ich brauche eine Spritze. Jetzt sofort. Der Doktor wird schon wissen welche. Nur ein kleiner Piks«, bettelte ich, »und die Sache ist in einer Viertelstunde überstanden.« »Na gut«, ließ sich die Frau herab, »dann kommen Sie sofort vorbei. Ich habe schon seit zehn Minuten Feierabend, aber der Doktor ist noch bis siebzehn Uhr dreißig hier.«
»Prinzipalmarkt«, las ich von der Visitenkarte ab. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich da hin…« Sie hatte aufgelegt. Die Antwort auf meine Frage konnte keine simple Wegbeschreibung sein. Sie beinhaltete die Lösung einer schier unlösbaren Aufgabe: Wie konnte ich, ein quasi unbeweglicher Gegenstand, eine Strecke von A nach B zurücklegen? Falls es mir je gelingen sollte, die Praxis dieses Arztes zu betreten, würde sich ja damit der Anlass meines Besuches wohl glatt erübrigt haben. Nicht zu fassen! Wie konnte Kittel eine Detektei betreiben ohne ein Telefonbuch? Immer noch hockte ich mit dem Hintern auf der Schreibtischkante, auf der Suche nach der Position, die die geringsten Schmerzen verursachte. Mit dem Fuß zog ich einen Stuhl heran und legte mein Bein darauf. Allmählich fühlte ich mich besser. Draußen fuhr ein Taxi vorbei, auf dessen Tür eine sechsstellige Nummer zu lesen war. Das war meine Rettung. Kittel und seine Unordnung konnten mich mal! Ich brauchte kein Telefonbuch. Knapp zwanzig Minuten später stand ein Taxifahrer in der Tür, die zum Glück dieses Mal nicht klemmte. Das Auto zu besteigen war eine umständliche Prozedur. Während ich mich auf den Rücksitz schob, ließ der Fahrer eine Art Sicherheitsabstand zwischen uns und verfolgte meine Bewegungen mit einer Mischung aus Neugier, Ekel und Hilflosigkeit. Wir hielten an zwei oder drei Ampeln. Es war ein schöner Abend. Rudel von Fahrradfahrern kreuzten die Straße wie Antilopenherden die Wildwechsel in der afrikanischen Savanne. Die Abendsonne stand tief.
»Jetzt ist Rushhour«, erklärte der Mann am Steuer und deutete auf das rote Licht der Ampel. »Da dauert das natürlich schon mal was länger.« Er machte sich keine Vorstellung von dem, was Rushhour eigentlich bedeutete, weil er mit seinem Taxi noch nie eine geschlagene Stunde unbeweglich auf einer Rheinbrücke verbracht hatte. »Bei uns in Köln«, erklärte ich ihm, »ist Straßenverkehr, der sich bewegt, ein Anachronismus. Die Leute haben aufgehört unterwegs zu sein. Sie suchen sich ihre Stauplätze danach aus, ob sie einen schönen Ausblick bieten oder nicht. Die mit Blick auf den Dom oder auf den Rhein sind allerdings für Jahre ausgebucht. Da kommen Sie nur mit Beziehungen ran.« Die Autoreifen machten ein gedämpft schallendes Geräusch, als sie über Kopfsteinpflaster rappelten. Links und rechts erhoben sich malerische Häuser mit Bogengängen, in denen sich Horden von Eis essenden Einkäufern tummelten. Eine Kirche mit einem schwarz angelaufenen Turm, an dem eine goldene Uhr prangte, ragte aus der Menschenmenge. Das Taxi stoppte. »Sie müssen da drüben hin, noch ein paar Meter weiter«, sagte der Fahrer. »Und wieso halten Sie jetzt schon?« »Hier geht’s nicht weiter.« Er deutete auf ein rot-weißes Band, das über die Straße gespannt war. Links und rechts auf den Bürgersteigen drängten sich Schaulustige und starrten auf den leeren Platz vor der Kirche. »Wieso denn nicht?« Er zuckte mit den Schultern. Ich bezahlte und brauchte nur zwei Minuten fürs Aussteigen. In der Haltung des Glöckners von Notre Dame humpelte ich los und kletterte über die Absperrung. Die Schaulustigen applaudierten.
»Scheiße, was soll das denn jetzt wieder?«, schallte eine Stimme in weinerlich gequältem Ton herüber. »Das gibt’s doch nicht!« Ich blieb stehen. »Ja, dich meine ich!«, brüllte jemand, während er sich mir näherte. »Hat dir irgendwer gesagt, dass du hier rumschleichen sollst? Die ganze Szene ist am Arsch!« Ein Schönling in einem weißen Anzug stand vor mir. Er hatte feucht glänzendes, blondes Haar, das wie eine Schaumkrone auf seinem Kopf klebte, und eine gepiercte Nase. In der Hand hielt er eine Flüstertüte. »Bist du blind, oder was?« »Zum Glück nicht«, sagte ich. »Es ist nur der Rücken.« »Soll witzig sein, oder was?« Er drehte sich um. Drüben beim Kirchenportal standen ein Mann mit einer Videokamera, der auf einen Typen und eine Blondine zielte, und ein Pkw mit der Aufschrift AndroFilm. »Vivien!«, brüllte der Gepiercte. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht jede Dumpfbacke als Statisten anheuern!« »Meinen Sie mich damit?«, erkundigte ich mich argwöhnisch. »Willst du mir den letzten Nerv rauben, oder was?«, fragte er zurück. Ich wollte ihm ins Gesicht sehen, aber mein Blick wurde von dem silbernen Ring, der seinen rechten Nasenflügel verunzierte, magisch angezogen. »Ich hab’s ziemlich eilig«, sagte ich und setzte mich wieder in Bewegung. Er rief mir eine hässliche Bemerkung nach, die ich mit einem Achselzucken quittierte. Um ein Haar wäre ich in eine beachtliche Grube gestolpert, die sich ohne Vorwarnung direkt vor mir auftat. Nicht genug mit der Filmerei, sie mussten auch noch die Kanalisation reparieren. Es dauerte Minuten, bis ich die Baugrube umrundet und auf der gegenüberliegenden Seite das Haus identifiziert hatte, in dem sich die Praxis befand.
Mittlerweile war es Viertel vor sechs. Ich war hoffnungslos zu spät. Mit Mühe arbeitete ich mich durch ein enges Treppenhaus in den ersten Stock. Die Tür mit der Aufschrift Dr. med. Bockmühl, Praxis für Allgemeinmedizin öffnete sich auf Druck. Rechts vom Empfangstresen, der nicht mehr besetzt war, befand sich das Sprechzimmer, links das Wartezimmer. An den Wänden hingen Hochglanzfotos von der Kirche gegenüber, den Glastisch am Fenster bedeckte ein loser Haufen Illustrierte, die sich allesamt in einem langweiligen bräunlichen Pappumschlag versteckten. Auf dem Aluminiumsessel neben dem Tisch saß ein alter Mann mit weißem Haar und einer leuchtend roten Gesichtsfarbe. Also war ich doch noch nicht zu spät. Ich nahm ebenfalls Platz. Der Alte legte die Zeitschrift, in der er gelesen hatte, auf den Tisch. Ich nahm sie, schlug sie auf und erkannte die Praline. Deshalb die bräunliche Pappfassade. Ich legte das Blatt wieder zurück. Eine Weile sah ich mir die Bilder an der Wand an, während mein Gegenüber in Richtung Fenster schaute. Dann übernahm ich das Fenster und er die Bilder. Beim nächsten fälligen Wechsel kreuzten sich unsere Blicke. »Bei mir ist es der Blutdruck«, sagte der Weißhaarige, was wohl in einer Situation wie dieser die angemessene Art war, sich vorzustellen. »Gerade im Sommer ist es besonders schlimm.« Ich deutete eine Verbeugung an. »Der Rücken«, erklärte ich. »Ich hatte um siebzehn Uhr dreißig einen Termin.« Der Blutdruck schüttelte den Kopf. »Von Terminen halte ich nichts«, sagte er. »Ich komme immer her und warte.« »So wie ich die Sprechstundenhilfe verstanden habe, macht der Doktor nach halb sechs Schluss.«
»Schluss?« Mein Gegenüber gab ein Geräusch von sich, das abfälliges Schnaufen und belustigtes Prusten zugleich war. »Da ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Der Doc hat ein weiches Herz. Wenn er mich hier sitzen sieht, nimmt er mich auch dran. Halb sechs, das träumt der. Vor halb neun ist er hier nie raus. Tja, ich sage immer, der Bär tanzt so lange, wie die Musik spielt.« Er grinste. »Heutzutage kann sich doch keiner von den Weißkitteln mehr erlauben, Patienten zu vergraulen.« Ich sah auf die Uhr. Neun Minuten vor sechs. Eine weitere Weile schwiegen wir uns an. Dann nickte der Mann mit dem roten Gesicht verschwörerisch in Richtung Sprechzimmer. »Darf ich mal fragen: Hat Ihnen den einer empfohlen?« »Das nicht, aber ein Freund von mir ist bei ihm in Behandlung. Wieso fragen Sie?« »Nur so.« Der Blutdruck stülpte skeptisch seine Lippen vor. »Man hört ja so manches. Gerade mit solchen Rückengeschichten…« »Was ist damit?«, hakte ich beunruhigt nach. »Ein Kumpel von einem Kollegen von mir hatte mal einen Hexenschuss. Hat sich gerade mal so hergeschleppt. Aber der Doc soll alles noch viel schlimmer gemacht haben.« Ich war irritiert. »Wie hat er das denn angestellt?« Schulterzucken. »Fragen Sie mich nicht. Der Kumpel von meinem Kollegen muss jedenfalls ziemlich sauer gewesen sein. Ist ja auch verständlich, was?« Blutdruck beugte sich näher zu mir. »Diesem Quacksalber schlag ich den Schädel ein, das soll er gesagt haben. Aber Sie wissen ja, wie das ist…« Fünf vor sechs. Allmählich, fand ich, sollte etwas geschehen.
»Ich sage Ihnen das nur«, fügte der Alte hinzu, »damit Sie sich da drin nicht alles gefallen lassen. Sie erwähnten doch, dass Sie wegen des Rückens…« »Ja, ja«, antwortete ich und erhob mich umständlich. »Also ich werde jetzt einmal nachsehen, ob ich heute noch drankomme.« Ich klopfte an der Tür. Keine Antwort. »Doktor Bockmühl?« Immer noch blieb es still. Ich öffnete die Tür und betrat das Behandlungszimmer. Die Abendsonne malte das in kleine Quadrate unterteilte Fenster auf dem Fußboden ab. Da das Fenster auf Kippstellung stand, zogen sich die beiden oberen Quadrate leicht in die Länge, sodass die Abbilder bis an den Schreibtisch reichten. Neben dem Schreibtisch stand ein Drehstuhl und davor lag ein Mann in einem weißen Kittel. Er musste in sich zusammengesackt und vom Stuhl gerutscht sein. Sein Kopf lag in einer Blutlache. Dr. Bockmühls Hand hielt einen Kugelschreiber, der wie ein Fieberthermometer aussah. Er trug die Aufschrift Medizep mit einem umkreisten R dahinter. Was immer der Arzt hatte aufschreiben wollen, er war nicht mehr dazu gekommen. Und er würde auch nie mehr Patienten empfangen. Auf dem Boden neben dem Toten blinkte ein silberner Gegenstand. Ich bückte mich, so gut ich konnte, hinunter, um ihn in Augenschein zu nehmen. Es war ein silbernes Hämmerchen mit einem langen Griff, der mit Blut beschmiert war. Kein Werkzeug, wohl eher ein ärztliches Instrument. Ob es sich um die Mordwaffe handelte, würde die Polizei herausfinden müssen. »Mein Gott, was haben Sie getan!« Ich fuhr herum.
Der Blutdruck stand in der Tür; das eben noch hochrote Gesicht hatte alle Farbe verloren und die Lippen bebten. »Ich hatte das nicht wörtlich gemeint«, stieß er hervor. »Jemand hat ihn umgebracht«, sagte ich und wollte mich aufrichten. Aber ich kam wieder nicht hoch. Mit einer langen Nadel bohrte sich der Schmerz im Bruchteil einer Sekunde meinen Rücken hinauf. Ich verharrte gebückt und wagte nicht, mich zu rühren. »Sie sind verrückt«, zischte der Weißhaarige. »Schlagen dem Mann einfach den Schädel ein und behaupten dann, ich hätte…« »Jetzt machen Sie schon. Rufen Sie die Polizei!« »Die Polizei? Das könnte Ihnen so passen!« Der Mann war völlig aus dem Häuschen. »Damit Sie denen dann sagen, ich hätte Ihnen – « »Hören Sie auf zu quatschen und gehen Sie zum Telefon!«
4
»Der Mann hat sich für einen Patienten ausgegeben«, berichtete der Blutdruck atemlos. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass…«, er zog ein Taschentuch hervor und schniefte hinein. »Erzählen Sie weiter«, bat eine Polizistin, die auf dem Tisch neben den Illustrierten Platz genommen hatte. »Ich nehme an, zu dem Zeitpunkt wusste er schon, dass er es tun wollte, aber noch nicht wie. Und da habe ich ihm von einem Bekannten erzählt, der geschworen hatte, Dr. Bockmühl eines Tages den Schädel einzuschlagen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass dieser Irre daraufhin aufsteht und genau das tut.« »Wie ist der Name Ihres Bekannten?«, erkundigte sich die Beamtin sachlich. »Der Name?« »Und die Adresse.« »Aber das war doch nur so dahergesagt, verstehen Sie? Dieser Mann da…«, Blutdruck deutete mit zitterndem Finger auf mich. »Nein, ich meine den, der geschworen hat, den Herrn Doktor zu ermorden.« »Das hat er nicht geschworen!« »Nein?« »Es war nur so, ohne Sinn und Verstand. Was man nicht alles so sagt, wenn man…« »Wenn man was?« »Sie wissen schon.« »Nein. Ich würde es gern von Ihnen hören.« Ich lehnte in einer Art Hockstellung mit dem Rücken gegen die Wand und beobachtete, wie die Röte allmählich wieder in
das Gesicht des Alten zurückkehrte, während sich gleichzeitig Schweißperlen auf seiner Stirn sammelten. Vor mir auf dem Boden lag ein Blatt Papier, das ich versehentlich von der Wand gefegt hatte. Es ermahnte die Patienten, zu Beginn des neuen Quartals ihre Versicherungskarte mitzubringen. Ein Mann betrat das Wartezimmer, trat zum Tisch und berührte die Polizistin an der Schulter. »Lassen Sie mal, Frau Kollegin, von jetzt an übernehme ich.« Die Beamtin erhob sich und der Mann schüttelte dem Blutdruck die Hand. »Mein Name ist Bondt«, sagte er. »Pit Bondt. Hauptkommissar. Sie sind Herr Ohnekötter?« Der Rotkopf nickte. »Wissen Sie, ich kann Ihren Freund verstehen.« »Welchen Freund?« »Letztes Wochenende erst habe ich meinem Hausarzt gesagt, dass ich ihn gern zum Mond schießen würde. Ich versuche mir jetzt vorzustellen, wie ich mich wohl fühlte, wenn man ihn dort oben orten würde.« Ohnekötter schluckte. »Ich bin kein Mörder, Herr Kommissar.« »Das war nur ein kleines Gleichnis, sagen wir, um das Eis zu brechen.« »Weshalb wollten Sie Ihrem Arzt das antun, Herr Kommissar?«, mischte ich mich ein. Bondt drehte sich um. Er war kräftig, wenn auch nicht so gut gepolstert wie ich. Über einem grau karierten Hemd trug er ein langweiliges hellblaues Jackett. Am Hals prangte eine zitronengelbe Fliege, die wie eine Paradiesblume aussah. Neben Bondts Mundwinkel leuchtete ein satter hellroter Fleck, der seine Lippen noch dünner aussehen ließ, als ich sie in Erinnerung hatte. »Wir kennen uns doch«, sagte er und bemühte sein Gedächtnis.
»Voss«, sagte ich. »Henk Voss. Privatdetektiv.« »Richtig. Kurz vor Weihnachten. Der Chormörder. Sie haben mit diesem Nervenbündel zusammengearbeitet, wie hieß er noch gleich…« »Kittel.« »Exakt.« »Wie geht’s Ihrem Schnupfen?« »Danke, bestens.« Der Hauptkommissar hob die Hand, winkelte den kleinen Finger ab, bog ihn hakenförmig zurecht und kratzte vorsichtig am roten Fleck neben dem Mundwinkel. »Aber jetzt juckt es unentwegt. Scheußlich, kann ich Ihnen sagen.« »Waren Sie deswegen beim Arzt?« Bondt schnaufte abfällig. »Ich soll mich anders ernähren, meint der. Wissen Sie, was ich ihm geantwortet habe? Wenn ich mich ernähren will, gehe ich ins Restaurant. Aber wenn ich zum Arzt gehe, dann will ich Pillen. Was soll ich mit einem Doktor anfangen, der mir keine Pillen verschreibt?« »Deswegen wollten Sie ihn zum Mond schießen, nehme ich an.« Der Kommissar musterte mich kritisch. »Nun, Sie sehen auch nicht gerade taufrisch aus, wenn ich das sagen darf.« Dem Blick, mit dem Ohnekötter unserer Unterhaltung folgte, entnahm ich, dass er zum Thema ›lästige Wehwehchen‹ eine Menge beitragen konnte. »Ich kann mich nicht rühren«, antwortete ich Bondt und grinste gequält. »Ihr Glück. So konnte ich nach der Tat nicht fliehen.« Bondt fuhr mit der rechten Hand in die Hosentasche, zog ein Briefchen Tabletten hervor und reichte es mir. »Nehmen Sie die, dann sind Sie Ihre Malesse im Handumdrehen los.« »Was ist das?«
»Die hat schon mein Großvater genommen.« Bondt kratzte sich erneut. »Glaub ich jedenfalls. Abgesehen von Ihren Beschwerden – kannten Sie Bockmühl näher?« »Leider konnte ich ihn überhaupt nicht kennen lernen. Ich brauche dringend eine Spritze und fand die Nummer des Arztes auf Kittels Schreibtisch.« »Und Bockmühl fanden Sie dann neben seinem Schreibtisch, verstehe. Mir kommt der Name wegen irgendwas bekannt vor. Bockmühl. Ich weiß nur nicht, wegen was… Wann sagten Sie, riefen Sie den Arzt an?« »Kurz nach fünf. Seine Sprechstundenhilfe war dran und meinte, bis halb sechs könnte ich noch kommen.« »Frau Ulbricht.« Der Kommissar nickte. »Sie ist unterwegs hierher.« »Der Mörder muss gewusst haben, dass der Arzt allein in der Praxis war«, überlegte ich. »Das war ein idealer Zeitpunkt für den Mord.« Ich hatte zwei von den Tabletten aus dem Briefchen gedrückt, öffnete den Mund und warf sie hinein. »Wann trafen Sie hier ein?« »Um Viertel vor sechs.« »So spät?« »Wegen der Filmfritzen unten auf der Straße musste ich die halbe Strecke zu Fuß gehen.« »Wen trafen Sie hier an?« Ich deutete auf Ohnekötter, der auf einem Sessel hockte und die Lippen so stark zusammenpresste, dass sie die einzige blasse Stelle in seinem geröteten Gesicht waren. »Dieser Herr saß im Wartezimmer.« »Um Viertel vor sechs? Sagten Sie nicht, die Praxis sei nur bis halb geöffnet?« »Herr Ohnekötter versicherte mir, dass der Bär so lange tanze, wie die Musik gespielt werde.« »Der Bär?«
»Das waren seine Worte.« »Aber das ist doch nur so eine Redensart«, protestierte der Blutdruck eindringlich. »Herr Kommissar…« Bondt kratzte sich erneut. »Mit dem Bär meinten Sie zweifellos unseren bedauernswerten Doktor, der zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon längst nicht mehr tanzen konnte, nicht wahr?« Er trat zu dem Alten. »Ich fasse zusammen: Sie sind Stammkunde, kannten sich demnach in der Praxis aus. Wussten, wann die Sprechstundenhilfe nach Hause geht. Außerdem hätten Sie Bockmühl ganz gern den Schädel einge-« »Ich doch nicht!«, wehrte sich der Rotkopf verzweifelt. »Ein Bekannter von mir. Genauer gesagt: Ein Bekannter von mir hat nur gehört, dass jemand, den er wahrscheinlich gar nicht selbst kannte, so etwas möglicherweise gesagt hat. Aber doch nicht ich!« »Das betonten Sie bereits«, beruhigte Bondt ihn, runzelte aber gleich darauf die Stirn. »Dumm ist nur, dass Dr. Bockmühl hier und heute der Schädel eingeschlagen wurde. Dafür benutzte der Mörder ein unscheinbares silbernes Ding…« »Ein Reflexhämmerchen«, half ihm Ohnekötter beflissen. Der Kommissar bedankte sich mit einem Nicken, schaute aber noch besorgter drein. »Auch das ist Ihnen also geläufig. Vielleicht können Sie mir außerdem erklären, wie man es anstellt, mit so einem winzigen Ding einen Menschen zu erschlagen.« »Nein!« Ohnekötter hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Sein Gesicht war schweißnass. »Herr Kommissar, das ist lächerlich! Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, dass ich –« »Ich habe gar nichts behauptet«, meinte Bondt achselzuckend. »Allerdings denke ich, dass wir beide wohl noch eine Menge zu besprechen haben.«
Die Polizistin kam zurück. »Frau Ulbricht, die Sprechstundenhilfe, ist gerade eingetroffen.« Während der Kommissar seiner Kollegin zum Empfangstresen folgte, machte ich einen vorsichtigen, aber erfolgreichen Versuch mich aufzurichten. Die Nadel steckte nicht mehr in meinem Rücken. Ich kam weiter hoch. Noch weiter. Wie konnte das sein? Was für Wunderpillen hatte mir der Kommissar verabreicht? Ohnekötter starrte mich an. »Es wird Ihnen nicht gelingen«, stieß er hervor. »Was denn?« »Mir den Mord in die Schuhe zu schieben.« »Es war doch nur ein Versuch«, gab ich ihm Recht und lächelte versöhnlich. »Sie sollten sich nicht aufregen, sonst klappen Sie noch zusammen und die Polizei hat einen Verdächtigen weniger. Dann sind Sie wegen Behinderung der Ermittlungen in einem Mordfall dran.« Ich machte einen Schritt und noch einen. Es war ganz leicht, sich zu bewegen. Geradezu beschwingt verließ ich das Wartezimmer und stattete dem Ort des Verbrechens einen Besuch ab. Der Leichnam war schon abtransportiert worden, die Spurensicherung lief auf Hochtouren. Um die Beamten nicht zu stören, trat ich ans Fenster und sah hinaus auf die malerische Kirche, mit deren Fotos die Wände des Wartezimmers so reichlich bestückt waren. In ihrem Schatten, eingerahmt von ebenso malerischen mittelalterlichen Fassaden, befand sich ein kleiner Platz mit einem Brunnen, um den herum ein Café seine Tische gruppiert hatte. Es war wie eine abendliche Idylle auf einer römischen Piazza. Schöne Menschen, Frauen in kurzen Röcken und Jünglinge mit coolen Sonnenbrillen. Nur einer störte das Bild, weil er ein dunkles, konservativ geschnittenes Jackett über einem dunklen Rollkragenpulli trug. Statt einer Sonnenbrille saß eine grün
eingefasste Brille auf seiner Nase, die nicht zu ihm passte. Es war der Mann, der keine Frage beantwortete, ohne sie vorher zu wiederholen, und keinen Detektiv engagierte, ohne einen Kostenvoranschlag einzuholen. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Broschüre. Selbst von hier oben konnte ich drei große Buchstaben lesen, die ihr Titelblatt zierten: LVM. Die Buchstaben leuchteten im gleichen Grün wie Terjungs Brille. Kein Wunder, dass die Frau, die er anhimmelte, sich verkrümelt hatte. Am Ballen meiner rechten Hand, die sich auf die Fensterbank gestützt hatte, klebte ein Zettel. Es war eine handschriftliche Notiz, auf die ich einen Blick warf, während ich das Papier von meiner Hand klaubte und zurücklegte. Lawinia S. Alles im grünen Bereich. Versicherungskarte!! stand darauf. Die Frau, die Terjung suchte, hieß Lawinia. Er hatte erwähnt, dass sie gesundheitliche Probleme hatte. Es schien so, als hätte sie jetzt ihren Arzt verloren. Was ging mich das an? Ein anderer Detektiv, der im Preisvergleich besser abschnitt, würde sich darüber den Kopf zerbrechen müssen. An der Tür gab es offenbar einen ungebetenen Besucher. »Sie dürfen nicht hier rein«, hörte ich die Polizeibeamtin. »Hier finden polizeiliche Ermittlungen statt.« »Aber die Sache geht mich etwas an. Dr. Bockmühl war ein Klient von mir.« Die Stimme des Eindringlings kam mir sehr bekannt vor. Ich ging zur Tür. »Sind Sie Psychologe?«, erkundigte sich die Polizistin. »Privatdetektiv. Das heißt, ich war es.« »Noch ein Detektiv?« »Herr Kollege«, begrüßte Bondt ihn. »Dann kommen Sie mal rein.« »Kollege. Das ist lange her«, gab der Mann zurück.
Endlich sah ich den Mann und er mich. Er trug einen fleckigen Parka, der mindestens so out war wie Terjungs Jackett. Trotzdem war es seinem Besitzer schon einmal gelungen, damit einen Trend zu kreieren. Vor mir stand Mattau, früher Hauptkommissar bei der Kripo Köln.
5
»Wie klein die Welt doch ist«, sagte ich. Mattau grinste. »Sagen Sie das nicht«, entgegnete er. »Nicht die Welt ist klein, nur diese Stadt.« »Dass Sie unter die Schnüffler gegangen sind«, staunte ich. »Hat der Job als Messias Sie nicht mehr ausgefüllt?« »Zeitverschwendung.« Er gab ein abfälliges Grunzen von sich. »Sinnsuche, Selbstverwirklichung, der ganze Kram. Aber die Leute sind nun mal nicht davon abzuhalten.« »Jetzt erzählen Sie mal, was Sie mit dem Ermordeten zu tun hatten«, unterbrach Kommissar Bondt unseren Plausch. »Tja, er war mein Klient. Mein erster und letzter übrigens.« Mattau warf mir einen Blick zu. »Reine Schnüfflerroutine. Bockmühl wollte, dass ich seine Frau auf Affären überprüfe. Der Befund war positiv. Sie traf einen Bubi mit weißem Jaguar, Schmalzlocke und schicken Klamotten.« »Und was dann?« »Bockmühl war außer sich vor Wut und bestand darauf, dass ich etwas gegen den Kerl unternehme.« »Was habe ich mir darunter vorzustellen?« »Nichts«, sagte Mattau, fischte ein Kaugummi aus seinem Mund, betrachtete es eingehend und schob den klebrigen Klumpen wieder hinein. »So wie ich meinen Job als Detektiv auffasste, gehörte ›etwas gegen jemanden unternehmen‹ nicht zu meinen Serviceleistungen.« »Das war schon alles?« Hauptkommissar Bondt schien enttäuscht zu sein. »Alles, was diesen Fall betrifft«, bestätigte Mattau. »Lore, Bockmühls Frau, beging dann angeblich Selbstmord.«
»Natürlich, das war’s!« Bondt hob den Arm und zielte mit dem Zeigefinger in mein Gesicht. »Jetzt erinnere ich mich, wieso mir der Name bekannt vorkam. Seine Frau machte in einem Quiz mit, wo man mit den Antworten auf ein paar dämliche Fragen eine Menge Kohle machen konnte…« »Wer wird Millionär?«, riet ich. »Genau, so hieß es. Sie hatte es beinahe geschafft, einer zu werden. Aber nur beinahe. Und kaum eine Woche später war sie tot. Selbstmord.« »So sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus«, fügte Mattau hinzu. »Das Fernsehen hat den Fall ausgeschlachtet und brachte einen Bericht unter dem Titel Wenn Geld nicht glücklich macht. Tja, leider bringt uns das nicht viel weiter.« Seine Kollegin hielt ein Handy hoch und signalisierte dem Kommissar, dass ihn jemand dringend sprechen wollte. Bondt griff zu und zog sich telefonierend an einen ruhigeren Ort zurück. »Wenn Sie nicht mehr aktiv sind«, wandte ich mich an Mattau, »verstehe ich nicht so ganz, was Sie herführt.« »Und Sie?«, fragte er zurück. »Haben Sie etwas mit dem Fall Bockmühl zu tun?« »Nicht das Geringste. Ich wollte nur zum Arzt. Jetzt sind die Schmerzen wie weggeblasen, dafür ist der Arzt tot.« »Na, sehen Sie. Ich kann auch nicht klagen.« Mattau hielt wieder das Kaugummi zwischen den Fingern. »Ich werde mal sehen, wo ich das loswerden kann…« »Wieso sind Sie der Ansicht, dass Frau Bockmühls Tod nur auf den ersten Blick ein Selbstmord war?« Der Exbulle winkte ab. »Das ist eine komplizierte Geschichte. Sie war mit einem Möchtegernregisseur zusammen, einem miesen Typ, krankhaft eifersüchtig und selbstverliebt, dem sie aber leider völlig hörig war. Nachdem
er sein eigenes Geld verjubelt hatte, schickte er die Frau in eine dämliche Quizsendung, damit sie ihm neues Geld besorgte. Am Ende war alles futsch und die Liaison beendet. Frau Bockmühl wusste nicht mehr ein noch aus.« Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Heizkörper. »Besuchen Sie mich mal, Voss. Ich habe eine nette kleine Band gegründet. Sie haben doch früher auch mal Musik gemacht.« Ich nickte. »Ist aber lange her.« »Vielleicht hätten Sie ja Lust, wieder anzufangen.« Bondt kam zu uns zurück. »Herr Kollege!«, rügte er und deutete zwischen die Rippen des Heizkörpers, wo Mattau sein Kaugummi entsorgt hatte. »Wir befinden uns am Tatort eines Verbrechens und wollen den Kollegen von der Spurensicherung unnötige Arbeit ersparen.« Ich hinterließ die Adresse von Kittels Büro samt seiner Telefonnummer. Dann lief ich die Treppe hinunter und trat auf die Straße. Es war kaum zu glauben, aber mein Hexenschuss war wie weggezaubert. Vielleicht war es angebracht, zum Dank für dieses kleine Wunder eine Runde über die Promenade zu joggen. Ich überquerte die Straße in Richtung der Piazza neben der Kirche, aber dann hielt ich es für besser, Terjung nicht über den Weg zu laufen. Also machte ich kehrt – und stieß mit ihm zusammen. »Hier treibst du dich also herum.« Es war doch nicht Terjung, sondern nur das gleiche Jackett. Darin steckte Kittel, mein Expartner aus besseren Zeiten. »Ich hab versucht, dich über Handy zu erreichen.« »Meine Karte ist mal wieder leer«, brummte ich. Er bemerkte meinen Blick. »Kannst du mir sagen, was es zu glotzen gibt?« »Wozu diese Maskerade?« Ich zupfte an seinem Jackett. »Ermittelst du etwa in einem Fall von illegaler Erstkommunion, oder was?«
Kittel war beleidigt. »Das gab es bei H&M im Angebot. Marietta meinte, dass mir so was steht.« »Marietta?«, fragte ich, neugierig geworden. »Ich dachte, sie heißt Angelina.« »Quatsch. Angelina ist für zwei Wochen bei ihrer Familie in Catania. Marietta ist nichts weiter als eine Bekannte.« »Verstehe.« Ich grinste. »Nur eine Bekannte.« »Hast du Zeit? Ich wollte mit dir über was reden.« Kittel drängte mich in Richtung Kirchplatz. »Wir könnten ein Bier trinken.« »Gern, aber nicht hier«, sagte ich und schielte zu den Tischen hinüber. »Wie wär’s, wenn wir ins El Sandino gehen? Da kann man auch draußen sitzen.« »Das gibt’s doch schon lange nicht mehr. Aber ein Stückchen weiter direkt an der Promenade ist jetzt ein Nobelitaliener. Akademisches Publikum, gesalzene Preise.« »Gesalzene Preise sind im Moment genau das Richtige für mich.« »Wie du meinst.« Leider war es zu spät. Der Mann mit der grünen Brille hatte mich inzwischen entdeckt und winkte mir von seinem Tisch aus zu. »Herr Voss?«, rief er und deutete mit übertriebener Gestik auf den freien Stuhl neben sich. »Fahr schon mal vor«, sagte ich zu Kittel. »Ich komm in etwa einer Viertelstunde nach.« Kittel sprang auf sein Fahrrad und verdrückte sich. Ich nahm mir vor, es kurz zu machen. »Hallo«, sagte ich. »Schöner Abend heute.« »Steht Ihr Angebot noch?« »Was für ein Angebot?« »Was für ein Angebot?«, wiederholte er. »Nun, dass Sie für mich die Dame finden, von der ich Ihnen erzählt habe.«
»Haben Sie meine gesalzenen Preise vergessen?«, erinnerte ich ihn. »Es gibt etwas, das ich Ihnen nicht gesagt habe.« »Ich bin nicht sicher, dass ich für Sie der richtige Mann bin.« Die Bedienung kam. Ich bestellte ein Bier, Terjung klappte sein Portmonee auf, um zu bezahlen. Innen steckte ein kleines Foto, das eine getigerte Katze zeigte, die zu grinsen schien. Bevor Terjung Trinkgeld herausrückte, schien er im Kopf noch einmal genau nachzurechnen und ließ sich eigens für die Auszahlung ein Fünf-Cent-Stück wechseln. »Die Zeit läuft mir davon«, sagte er, nachdem die Prozedur beendet war. »Wenn Sie meinen Rat wollen: Verzichten Sie darauf, beim Trinkgeld die monatliche Preissteigerungsrate und den Inflationsausgleich zu berücksichtigen, und schon haben Sie ein paar Minuten gewonnen.« Mein Gegenüber verzog keine Miene. »Ich habe hier einen Kaffee zu mir genommen, weil ich nachdenken wollte. So ist mir klar geworden, dass ich ihre Zeit nicht fahrlässig verschwenden darf.« »Wessen Zeit?« »Soweit ich Lawinia verstanden habe, leidet sie an einer unheilbaren Krankheit.« Terjung schluckte. »Sie hat nicht mehr lange zu leben.« »Also gut, erzählen Sie mir, was Sie darüber wissen.« »Deshalb will ich für die Suche nach dem günstigsten Angebot keine Zeit verschwenden.« »Frau Scholls Arzt war Doktor Bockmühl, nicht wahr?« »Bockmühl? Nie gehört. Woher wollen Sie das wissen?« »Ich weiß es nicht. Im Sprechzimmer dieses Arztes fand ich einen Zettel, auf dem ihr Name stand.«
»Dann sollten Sie diesen Arzt fragen. Vielleicht weiß er, wo Lawinia sich aufhält.« »Das ist leider unmöglich. Bockmühl wurde vor einer halben Stunde oder so ermordet.« Terjungs große Augen starrten mich durch seine grüne Brille schockiert an. »Ermordet? Glauben Sie, dass Lawinias Verschwinden und dieses Verbrechen etwas miteinander zu tun haben?« »Er wird es jedenfalls nicht mehr erzählen können. Also müsste ich mich mal bei den Leuten umsehen, die diesen Film drehen…« »Die Gruft«, half mir Terjung. »Ich habe aber schon versucht, dort etwas herauszufinden, weil ich die Detektivkosten sparen wollte.« »Sehr umsichtig von Ihnen«, lobte ich. »Aber niemand wollte mir eine klare Auskunft geben. Es ist alles sehr mysteriös.« »Was meinen Sie mit mysteriös?« »Was ich damit meine? Der Produzent ist ein eitler Schwachkopf. Er tut so von oben herab. Ich habe den Verdacht, dass er nicht einmal begriffen hat, was ich von ihm wollte.« Ich erinnerte mich an den Kerl. Der Typ in Weiß mit dem Ring in der Nase, der mich von der Straße gejagt hatte. »In dieser Branche ist das völlig normal«, stimmte ich zu. »Die Hauptdarstellerin ist sehr ehrgeizig. Sie nennt sich Tatjana de Vito. Eine Frau mit Starallüren. Äußerlich mag sie Lawinia ähneln, aber die beiden sind absolute Gegensätze. Lawinia ist viel sensibler. Geradezu labil, kann man sagen.« »Sie meinen, dieses Starlet hat ihr die Rolle abgejagt?« »Keine Ahnung, aber es wäre doch denkbar. Frau de Vito ist sich zu schade dazu, mit mir zu reden. Deshalb möchte ich ja, dass Sie – «
»Also gut. Ich werde mich morgen am Set umsehen. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.« Ich erhob mich. »Wo kann ich Sie erreichen?« Terjung schob mir eine Visitenkarte über den Tisch. »Morgen Vormittag drehen sie eine Szene am Aasee.« »Wie haben Sie das herausbekommen, wenn die Leute nicht mit Ihnen reden?« »Die Firma hat eine Website: www.AndroFilm.de. Da erfahren Sie alles über die laufende Produktion.« »Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen: Wie wär’s mit einem kleinen Vorschuss?« Der Mann mit der grünen Brille stutzte und sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an vorhin, als er das Trinkgeld errechnete. So lange wollte ich nicht warten. »Schon gut«, sagte ich. »Ich habe noch eine Verabredung.«
»Wer war der Kerl?«, erkundigte sich Kittel zehn Minuten später, als ich auf dem Stuhl, den er für mich freigehalten hatte, Platz nahm. Die Trattoria Berlusconi war ein neues italienisches Lokal, in dem man keine Pizza auf der Speisekarte fand, nur teure Salate und ausgesuchte Antipasti. An den weißen, rauputzgetünchten Wänden hingen Miniaturen mit düsteren Motiven wie Schiffskatastrophen, Unwetterszenen und einsame Herbstwanderungen. Der ideale Ort für den kulturell anspruchsvollen Feierabend. »Welcher Kerl?« »Mit dem du dich unterhalten hast.« »Mein neuer Klient. Das heißt, eigentlich ist er deiner, aber du bist ja nie da.« »Darüber wollte ich sowieso mit dir reden.«
»Du würdest dich mit ihm verstehen«, stichelte ich. »Was Klamotten angeht, habt ihr den gleichen Geschmack.« Kittel zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt. »Ich hab dir doch erzählt, dass sich mir vielleicht die Chance bietet, etwas Festes zu kriegen.« Den Nebentisch besetzten zwei Figuren, die mich äußerlich an Laurel und Hardy erinnerten. Allerdings entpuppten sie sich als Studenten, die sich in einen hochakademischen Disput verbissen hatten. »Hast du dich schon mal mit dem Müllproblem in dieser Stadt befasst?«, fragte mein Expartner. »Oder was darüber gelesen?« Ich sah Kittel begriffsstutzig an. »Mülltrennung. Gelbe Tonne, grüne Tonne, Restmülltonne. Eigentlich ist alles vorbildlich organisiert, aber es gibt immer schwarze Schafe.« Ich war mir nicht sicher, ob er mich verulken wollte. »Schwarze Schafe?« »Leute, die sich einen Dreck um die Mülltrennung scheren. Restmüll zum Beispiel einfach in die gelbe Tonne schmeißen. Oder Jogurtbecher in die Biotonne. Du weißt, was ich meine.« »Nee, Kittel. Zu Hause hab ich gar keine Tonne. Du kennst mich doch. Mein Zeug stecke ich meistens in fremde Mülleimer, egal welche Farbe – « »Genau das ist es!«, brachte mich seine anklagende Stimme zum Schweigen. »Leute wie du sind das Problem.« »Also schön«, lenkte ich kleinlaut ein. »Sag mir erst mal, was du damit zu tun hast.« »Die Sache ist die«, dozierte Kittel, »wenn nur wenige quer schießen, ist das ganze System gefährdet. Was bedeutet das für die Müllentsorgung? – Viel Geld, das die Stadt in die Abfallwirtschaftsbetriebe steckt, wird zum Fenster
hinausgeworfen. Dagegen will man endlich etwas unternehmen.« »Und da kommst du ins Spiel?«, sagte ich müde und pustete in mein Bier. »Nein, noch nicht. Erst kommt Frau…« »Lass mich raten: Marietta?« »Genau die. Sie ist Mitarbeiterin der städtischen Abfallwirtschaftsbetriebe und hatte die Idee, eine Art Soko ins Leben zu rufen, die der Müllignoranz auf den Leib rückt.« Ich lehnte mich zurück. Laurel und Hardy warfen mit monströsen Worten wie ›Eschatologisch-diskursiver Vorbehalt‹ und ›transzendental pragmatischer Paradigmenwechsel‹ um sich. Und Kittel hörte nicht auf, von seinem Müll zu reden. Mir brummte der Schädel. »Erfahrene Detektive wie ich«, fuhr er fort, »werden mithilfe von Stichproben in ausgesuchten Stadtvierteln Müllvergehen aufspüren und langfristig dafür sorgen, dass man sie nicht länger als harmlose Kavaliersdelikte betrachtet.« »Verstehe. Du meinst, für Jogurtbecher in die Biotonne gibt’s dann zwei Jahre Knast ohne Bewährung. Und wer Batterien in die falsche Tonne steckt, wird auf der Galeere angekettet.« Kittel lachte nicht. Sein Bier hatte er vor lauter Eifer nicht angerührt. »Batterien sind Sondermüll«, belehrte er mich ernst. »Die gehören in gar keine Tonne.« »Schon gut, Kittel.« Zum Zeichen der Kapitulation hob ich beide Hände. »So viel habe ich verstanden: Du willst Meisterdetektiv bei der Müllabfuhr werden. Deshalb auch der neue Fummel, stimmt’s?« Lass mich bitte ausreden, verlangte sein Blick. »Marietta könnte sich vorstellen, dass in der Gruppe für mich eine feste Stelle drin ist. Bisher ist noch nichts entschieden. Aber wenn es klappt, hätte ich ausgesorgt.«
Ich kramte eine Packung Zigaretten aus meiner Jackentasche. Zwar hatte ich mit dem Rauchen aufgehört, aber nicht mit dem Kaufen von Zigarettenpackungen für den Fall, dass ich wieder anfangen wollte. Dieser Moment war wie geschaffen dafür, eherne Prinzipien in den Wind zu schießen. »Kittel«, sagte ich und gab mir Mühe, mit meinem Tonfall an alte Zeiten anzuknüpfen. »Wie lange kennen wir uns mittlerweile?« »Warum willst du das ausgerechnet jetzt wissen, Henk?« »Früher warst du zufrieden. Privatschnüffler sein, die Füße auf den Schreibtisch legen und abends in Kneipen versacken, was gab es Schöneres für dich? All das naive Geschwafel von Freiheit und Abenteuer stammt doch von dir.« »Ich war jung. Leider bleibt man das nicht«, stellte er klar. »Vielleicht auch glücklicherweise.« Ich seufzte. »Was hat diese Stadt nur aus dir gemacht?« »Wenn du schreibst«, redete an dem Tisch neben Laurel und Hardy ein Bärtiger mit Baskenmütze auf eine bleichgesichtige Blondine ein, »ich meine, wirklich schreibst, nicht einfach belangloses Zeug hinschmierst, dann willst du auch etwas sagen. Davon hast du selbst vielleicht gar keine Ahnung. Scheiße, du weißt nicht mal, was du sagen willst und wie. Und du kannst ehrlich stolz sein, wenn das am Ende kein Schwein lesen will.« »Ich hätte sogar Anspruch auf Weihnachtsgeld«, fügte Kittel hinzu. »Gratuliere.« Ich zündete endlich meine Zigarette an. »Verkauf nur deine Seele für eine Stelle als Müllschnüffler. Von mir aus, was geht’s mich an? Wir sitzen schließlich nicht mehr in einem Boot.« »Wirklich nicht?« Jetzt klangen bei Kittel die alten Zeiten an. »Ein Team sind wir doch immer geblieben, Henk. Und es ist dir doch klar, dass ich die Detektei nicht aufgeben kann, bis die Sache in trockenen Tüchern ist.«
Ich langte hinüber und zupfte an seinem Sonderangebot. »Na, wenn das keine trockenen Tücher sind.« »Also, was ist? Kann ich auf dich zählen?« »Ich soll dir also deine alten Pantoffeln warm halten für den Fall, dass dir deine neuen nicht passen.« »Schade, dass du das so siehst.« »Ehrlich, Kittel, so ein Schreibtisch ist nichts für dich. Und wenn du mich fragst, es gibt tausend wichtigere Dinge im Leben als Mülltrennung.« Ich winkte einem der Kellner. Der liftete dezent die Augenbrauen zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Flink wie ein Wiesel huschte er an unseren Tisch. »Signore?« »Ich würde gerne zahlen.« »Subito, Signore.« Lautlos verschwand er wieder. »Scheißnobelschuppen!«, hörte ich den Existentialisten mit der Baskenmütze. »Nehmen die hier eigentlich Kreditkarten?« »Tausend wichtigere Dinge?«, erkundigte sich Kittel gereizt. »Was denn zum Beispiel?« »Zum Beispiel interessiert es dich vielleicht, dass sie deinen Hausarzt abgemurkst haben.« Kittel wirkte irritiert. »Welchen Hausarzt? Ich habe keinen Hausarzt.« »Was immer er für dich ist. Ich meine diesen Bockmühl. Seine Visitenkarte lag in deinem Schreibtisch.« »Bockmühl? Das ist nicht mein Arzt, sondern ein Klient.« »Sag das nochmal.« Ich beugte mich vor. »Der Mann hat dich engagiert?« »Er wollte.« Kittel schüttelte den Kopf. »Er tischte mir eine hanebüchene Geschichte auf. Dass er Opfer von Schutzgelderpressern geworden sei. Stell dir vor, eine Arztpraxis!« Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Ich sollte mich auf Mafiajagd begeben. In einer Stadt, in der es keinerlei Unterwelt gibt, nicht mal eine U-Bahn!«
»Schutzgelderpressung?« »Bedauere, hab ich ihm gesagt, aber verarschen kann ich mich selbst.« »Du hast dir die Sache nicht mal angesehen?« »Angesehen!« Kittel entrüstete sich. »Hast du mir überhaupt zugehört, Henk? Ich bin mit meinem neuen Projekt voll und ganz ausgelastet.« »Verstehe«, sagte ich. »Die Jogurtbecher gehen vor.« »Außerdem soll die Konkurrenz unter den Quacksalbern heutzutage so mörderisch sein, dass ihnen kein Vorwand zu billig ist, um an Patienten zu kommen.« »Du spinnst, Kittel.« »Nein, der hat gesponnen.« »Ach ja? Und wieso ist er dann jetzt tot?« Der Kellner war wieder zurück und stellte mir wortlos einen Teller ohne Besteck hin, auf dem ein Zettel lag. »Ich sollte wieder zurück nach Köln gehen«, sagte ich. »Da gibt’s Drogen, Prostitution und Schmiergeldaffären. Und die Schutzgelderpresser sitzen nicht in Wartezimmern rum.« »Niemand hält dich zurück«, stellte Kittel klar. »Ich habe dir Asyl gewährt, weil dir da unten der Arsch zu heiß wurde. Das hat man nun davon.« Ich zählte Geldmünzen auf den Teller. »Na schön, Kittel. Ich werde dein Büro hüten, aber unter einer Bedingung: Wenn du den Schreibtisch bekommst und einen Sessel zum reinfurzen, dann erwarte nicht, dass ich noch da bin, um dir zu gratulieren.«
6
Den Hauptkommissar erreichte ich erst am nächsten Morgen. »Das ist ja eine tolle Geschichte, die Sie da erzählen«, lobte er. »Nett, dass Sie anrufen.« »Nett? Immerhin scheint das eine heiße Spur zu sein.« »Na ja, Herr Voss.« Etwas an seinem Ton ärgerte mich. »Was soll das heißen: Na ja, Herr Voss?« »Sie kommen aus einer großen Stadt. Da sind Gewaltverbrechen an der Tagesordnung. In jeder Nebenstraße können Sie von Straßenkids niedergestochen werden, und wenn Sie eine Pizzeria betreten, haben Sie die Cosa Nostra am Hals.« Ich hatte den Eindruck, dass Bondt sein Wissen über Köln im Wesentlichen dem dort ansässigen Privatfernsehen verdankte. »Nicht jeden Tag«, berichtigte ich ihn. »Nur am Rosenmontag.« »Hier ist das jedenfalls anders. Wenn einer umgelegt wird, können wir uns vor Hinweisen aus der Bevölkerung kaum retten. Gerade eben erst behauptete ein Anrufer, er habe den Arzt erschlagen, weil er zum dritten Mal über eine Stunde im Wartezimmer verbracht hatte, bevor er drangekommen sei. Dann gibt’s noch die religiösen Spinner, die, die nur in die Zeitung wollen, und ganz normale Denunzianten. Und dann noch Sie.« »Dr. Bockmühl hat sich mit einem konkreten Problem an meinen Partner gewandt, aber Kittel reagierte genauso wie Sie. Soll der Mörder etwa deswegen ungeschoren davonkommen, weil alle über seine Masche lachen?«
»Frau Ulbricht, die Sprechstundenhilfe, sagt, dass ihr im Treppenhaus zwei Herren begegnet seien, die Dr. Bockmühl schon des Öfteren aufgesucht hätten. Jedes Mal in der Zeit nach der offiziellen Sprechstunde. Sie konnte sich an die beiden erinnern, weil sie jedes Mal höflich und zuvorkommend gewesen seien.« »Na, dann suchen Sie diese netten Herren.« »Das ist nicht so einfach. Mit Frau Ulbricht zusammen durchforsten wir die Patientendatei, die sie freundlicherweise mitbrachte, aber bisher hatten wir keinen Erfolg.« »Noch eine letzte Frage, Kommissar. Was waren das für Pillen, die Sie mir überließen? Sie haben im Nu geholfen.« »Das freut mich ehrlich. Aber als ich Ihnen sagte, dass schon mein Großvater auf diese Dinger schwor, war das nicht die ganze Wahrheit.« »Ich bin gespannt auf die ganze.« »Die Pillen von meinem Großvater habe ich inzwischen wiedergefunden. Sie waren nicht in meiner Manteltasche, sondern in der Schreibtischschublade.« »Und was waren das für Tabletten in Ihrem Mantel?« Ich hörte ein leises, schabendes Geräusch. Vermutlich kratzte Bondt sich an der bewussten Stelle, die sich momentan in der Nähe der Sprechmuschel befand. »Tja, da bin ich leider überfragt. Das Zeug muss ich an irgendeinem Tatort versehentlich eingesteckt und später vergessen haben.« Freundlicherweise verband er mich noch mit Frau Ulbricht, die ich nach einer Patientin namens Lawinia Scholl befragte. »Hat diese Frage etwas mit dem Mord an dem Herrn Doktor zu tun?«, erkundigte sie sich. »Nicht direkt«, wich ich aus. »Eher möglicherweise.« »In diesem Fall«, erklärte sie frostig, »geht der Schutz der Patienten natürlich vor.« Sie räusperte sich. »Es reicht schon, dass die Polizei Menschen des Mordes verdächtigt, nur weil sie
mich im Treppenhaus gegrüßt haben. Die Kripo sollte lieber den Täter schnappen.« »Kennen Sie den denn?« »Nicht direkt«, zitierte mich die Ulbricht giftig. »Eher möglicherweise. Dieser Kerl, der sich mit seiner Frau, Gott hab sie selig, eingelassen hat. Die beiden wollten den Herrn Doktor bis aufs Blut aussaugen.« »Haben Sie dafür Beweise?« »Bin ich die Polizei? Ich weiß, was ich weiß.« Sie legte auf. Es war ein sonniger Vormittag. Sogar Kittels Büro sah freundlich aus, wenn auch nur ein spärlicher Streifen Sonnenlicht durch die staubblinden Fenster hereinsickerte. Die Autodächer draußen auf der Straße glänzten und auf dem Kanal paddelte eine Entenfamilie. Durfte man einen Tag, der so idyllisch begann, für private Ermittlungen verschwenden? Im Briefkasten fand ich einen Umschlag mit vierhunderteinundfünfzig Euro und zwölf Cent. H. Terjung stand als Absender auf der Rückseite. Er hatte sich also doch noch zu einem Vorschuss durchgerungen, wenn mir auch schleierhaft war, wie er auf diesen Betrag gekommen war. Ich beschloss, mir das Geld zu verdienen, holte Kittels Zweitfahrrad aus dem Keller und fuhr zum Drehort des mysteriösen Films.
Einer Legende zufolge hatte der Teufel einst wütend ausgespuckt, nachdem er gegen einen hiesigen Bauern beim Murmelspielen verloren hatte. So war der Aasee entstanden. Bis heute konnte man die drei riesigen steinernen Murmeln besichtigen und daneben die Spucke. Der Aasee war ein nicht nur längliches, sondern auch stellenweise langweiliges Gewässer inmitten ausgedehnter Grünflächen, sündhaft teurer Grundstücke und diverser Sport
und Freizeitanlagen. Er gehörte zu den Seen, auf die man nicht hinaussehen kann, weil einem das gegenüberliegende Ufer die Sicht versperrt. Einzige Sehenswürdigkeit stellte der Wasserbus dar, ein kleines, flaches Schiffchen ohne Tiefgang, das von weitem an ein schwimmendes Brillenetui erinnerte. Jahr um Jahr schipperte es Touristen, die das spannend fanden, im Schneckentempo von einem zum anderen Ende der Pfütze und wieder zurück. Ausgerechnet auf diesem kleinen Boot, einer wahren Arche westfälischen Friedens, sollte eine Schießerei stattfinden. Andro Steck, Produzent und Regisseur des Films, habe der Kontrast von Beschaulichkeit und wilder Action besonders inspiriert, versicherte mir Vivien, eine hübsche Rothaarige und Pressesprecherin von AndroFilm. Deshalb habe er für den heutigen Dreh den schwimmenden Bus angemietet. Die Gruft verspreche überdies, sogar im internationalen Vergleich ein Thriller der Superlative zu werden, fügte sie hinzu, was für eine deutsche Produktion trotz des inzwischen hohen Niveaus, was Stunts und Special Effects betreffe, immer noch alles andere als selbstverständlich sei. Im Schatten der steinernen Murmeln hatte Vivien einen provisorischen Kiosk errichtet und überreichte mir einen Hochglanzprospekt, damit ich mir selbst ein Urteil über das Filmprojekt bilden konnte. Draußen auf dem See lag der Wasserbus, flankiert von zwei Ruderbooten. Irgendein Getümmel war an Bord im Gange, es knallte. Die gequälte Stimme des Regisseurs gellte über das Wasser. Dann ging die Knallerei erneut los. Ich ging hinunter zum Ufer und setzte mich auf eine der Treppenstufen, die ins Wasser führten, von hier aus wollte ich das Geschehen auf dem See verfolgen. Da aber nicht viel geschah, es gab nur ein paar lautstarke Auseinandersetzungen innerhalb der Crew, schmökerte ich in dem bunten Prospekt.
In den Kellergewölben von St. Lamberti, las ich, wird eine alte, noch völlig unberührte Grabkammer entdeckt. Obwohl Scarlett, eine gut aussehende couragierte Altertumsforscherin, davor warnt, öffnet Kurd Zweibrüggen, ein ehrgeiziger und mediengeiler Wissenschaftsjournalist, die Kammer und ignoriert den Fluch, der in einem bisher unbekannten griechischen Dialekt über der Tür eingemeißelt ist. Man findet die sterblichen Überreste von Bertinus, dem legendären dreizehnten Apostel, dessen Existenz in der Fachwelt mehr als umstritten war und bislang lediglich durch eine frühgnostische Überlieferung belegt wurde. Wegen seines zweifelhaften Rufs war die Existenz des Heiligen und alles, was auf sie hindeutete, aus den kanonischen Schriften vollständig getilgt worden. Zwar ist die Sensation perfekt, doch dann tritt der Fluch in Aktion und rafft nacheinander die Mitglieder des Forschungsteams und andere, die die Kammer betreten haben, dahin. Zweibrüggen, nicht zuletzt durch Scarletts Kompetenz und ihre unbestreitbaren weiblichen Reize vom Saulus zum Paulus gewandelt, versucht vergeblich, seinen Frevel ungeschehen zu machen, indem er von den Verantwortlichen verlangt, die Grabstätte unverzüglich wieder zu verschließen und dem Toten seine Ruhe zu lassen. Inzwischen sind aber nicht nur Wissenschaftler aus aller Welt hinter den Grabbeigaben her, sondern auch westliche Geheimdienste, nachdem ruchbar geworden ist, dass sich in der Kammer ein seltsames Kleinod befinden soll, mit dessen Hilfe man sämtliche Computer der Erde auf einen Schlag lahm legen und so im Handumdrehen die Weltherrschaft erlangen kann. In einer tollkühnen Aktion retten eines Nachts Scarlett und Zweibrüggen den kostbaren Stein, von nun an verfolgt vom CIA, dem Vatikan und skrupellosen arabischen Terroristen, die vor nichts Halt machen. Ein halsbrecherischer Wettlauf mit
der Zeit beginnt. Buchstäblich in allerletzter Sekunde können die beiden gerade noch verhindern, dass… »Tag, Kollege«, sprach mich jemand an. »Ist der Platz noch frei?« Ich sah auf. Neben mir stand ein älterer Typ mit Sonnenbrille. Er hatte bürstenartiges Haar, das eisgrau in der Sonne schimmerte. »Tun Sie sich keinen Zwang an«, forderte ich ihn auf. Er setzte sich und deutete auf den Prospekt. »Tolle Story, was?« »Ich bin mir noch nicht im Klaren«, sagte ich angewidert, »ob ich sie eher haarsträubend oder hirnrissig finden soll.« Der andere nahm die Brille ab. »Udo Knopf«, stellte er sich vor. »Henk Voss«, sagte ich. »Privatdetektiv.« »Eigentlich nennt man mich Spock.« »Spock wie Mr. Spock?« »Genau wie der.« Knopf beugte sich herüber und tippte mit dem Finger auf meinen Prospekt. »Der Plot, den Sie da lesen, ist nicht gerade taufrisch, aber dafür ziemlich bahnbrechend, was die historischen Bezüge angeht. Ein Meilenstein der Fernsehgeschichte.« »Haben Sie etwas damit zu tun?« »Nicht direkt. Ich bin bloß freier Mitarbeiter im Bereich Marketing. Vielleicht sind Sie ja mal in der Zeitung auf meine Promotionkampagne gestoßen.« Eines der Ruderboote hatte inzwischen vom Wasserbus abgelegt und nahm Kurs in unsere Richtung. Die einzigen Passagiere waren ein Mann und eine Frau, die sich so heftig stritten, dass das Boot hin und her schaukelte. »Kennen Sie die Darsteller?«, erkundigte ich mich.
Der Mann, der sich Spock nannte, zuckte mit den Schultern. »Das sind ganz normale nette Menschen, die man lediglich falsch informiert hat.« »Falsch informiert?« »Sie scheinen zu glauben, wenn sie sich auch nur zwei Minuten lang wie erwachsene Menschen benehmen, müssen sie ihre Karriere als Filmstar begraben.« »Das werden wir ja noch sehen!«, schallte eine Frauenstimme herüber, während sich der Kahn dem Ufer näherte. Der Mann war mit Rudern beschäftigt, die Frau damit, ihn zu beschimpfen. Es waren die gleichen beiden, die ich gestern Abend vor der Kirche gesehen hatte. »Wenn du mal eine Sekunde zuhören würdest«, bettelte der Mann. Er hatte ein gebräuntes Gesicht und trug ein bunt geblümtes Hemd. Eine Sonnenbrille hing an einer silbernen Kette um seinen Hals. »Ich habe ja schon mit einer Menge Versagern vor der Kamera gestanden«, beschwerte sich die Blondine angeekelt. »Und natürlich haben alle die Chance genutzt, mich anzugrapschen.« »Das habe ich nie getan.« »Weil ich dir keine Chance dazu gegeben habe! Aber mir nachzuspionieren und schamlos meine Intimsphäre an die Klatschpresse zu verhökern, das ist viel schlimmer!« »Tatjana, du weißt, dass das Unsinn ist! Ich würde nicht im Traum an so etwas denken!« »Darf ich vorstellen?«, sagte Spock und zeigte auf die beiden Ankömmlinge. »Die berühmte Tatjana de Vito und ihr Filmpartner Kurd Ingolf. Seine Filmrolle hat den gleichen Vornamen. Er pflegt ihn übrigens amerikanisch auszusprechen, so wie Kurd Russel.« »Haben Sie zufällig auch mit dem Casting zu tun?«, erkundigte ich mich.
»Warum? Wollen Sie mitspielen?« »Ich dachte, Sie können vielleicht noch Komparsen gebrauchen.« »Da erkundigen Sie sich am besten bei Vivien.« Das Boot schrammte ans Ufer. »Heh, warte mal einen Moment!« Kurd Ingolf zeigte auf uns, das heißt eigentlich auf meinen Gesprächspartner. »Er war’s, das ist doch klar! Der schmierige Typ da hat die Nacktfotos gemacht, jede Wette. An den musst du dich halten!« Er sprang an Land und stapfte auf uns zu. Spock grinste spitzbübisch. »Als Künstler genial, der Mann«, vertraute er mir an. »Aber menschlich ein Wrack.« Im nächsten Moment schon wurde er von Ingolf am Arm gepackt. »Du hast mir doch neulich deine Kamera gezeigt, Freundchen!«, brüllte der Möchtegernstar und vergewisserte sich, dass Tatjana seinen Auftritt auch mitverfolgte. »So ein Ding mit allen Schikanen.« »Na und?«, fragte Spock und zog leicht irritiert die linke Braue hoch. Diese Angewohnheit musste ihm den Spitznamen eingebracht haben. »Letzten Sonntag am Baggersee. Du hast dich in den Büschen versteckt und Tatjana fotografiert!«, brüllte Ingolf. »Gib’s zu, du Spanner!« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie reden.« Ingolf nahm eine drohende Pose ein und brachte seinen Body in Positur, als stünde er vor der Kamera. »Und ob du das hast, Freundchen.« »Du kannst mich mal«, kommentierte Tatjana. Ihr Desinteresse schien Ingolf weiter anzustacheln. »Los, steh auf!«, brüllte er. »Diese Dame hätte gern ihre Fotos zurück, wird’s bald!«
»Was wollen Sie eigentlich?«, fragte ich höflich dazwischen. »Sehen Sie nicht, dass ich mich mit dem Herrn in Ruhe unterhalten will?« »Du Fettsack hältst dich da gefälligst raus!«, schnauzte mich der Schauspieler an. In solchen Situationen als Fettsack tituliert zu werden, war ich gewohnt. Trotzdem missfiel es mir. Also stand ich auf und trat auf den Braungebrannten zu. »Ich finde nicht, dass Sie so mit mir reden sollten«, sagte ich. »Stellen Sie sich vor, Sie kassieren ein blaues Auge und müssen die nächsten Drehtage aussetzen. Ich kann mir so was locker leisten, aber wie steht’s mit Ihnen, Kurd?« Ingolf stutzte und einen Moment schien er darüber nachzudenken. Er starrte mich an, dann trat er einen Schritt zurück und schüttelte wütend den Kopf. »Das wirst du noch bereuen, glaub mir!« Er drehte sich um und folgte Tatjana, die sich inzwischen in die Richtung von Viviens Kiosk entfernte. »Armer Kerl«, meinte Spock und zog die Stirn in Falten. »So geht das mit den beiden schon seit dem ersten Tag. Er versucht unermüdlich, bei ihr zu landen, obwohl sie ihn nicht ausstehen kann.« »Tatjana hatte die weibliche Hauptrolle von Anfang an?« »Nein, sie hatte zuerst die männliche.« Spock grinste wieder. »Was denn sonst?« »Ich meine, war möglicherweise eine andere Besetzung im Gespräch? Eine Frau namens Lawinia Scholl?« »Keine Ahnung. Da müssten Sie den Chef fragen, allerdings ist der nach einem Drehtag wie diesem nie gut zu sprechen.« »Ich werde besser Tatjana fragen.« »Die ist schon gar nicht gut zu sprechen.« Ich fragte mich, ob es ihr gefallen hatte, wie ich den lästigen Kurd abgebügelt hatte. Und dann wollte ich von mir auch noch wissen, ob ich ihn abgebügelt hätte, wenn sie nicht zugeschaut
hätte. »Wir werden sehen«, sagte ich optimistisch und machte mich auf den Weg. »Herr Detektiv!«, rief Spock mir nach. »Wie kann ich mich für die kleine Hilfestellung erkenntlich zeigen?« »Vergessen Sie’s.« »Wie Sie wollen. Sagen Sie mir Bescheid, falls Sie mal einen Blick auf die Fotos werfen wollen.« Verwundert blieb ich stehen und drehte mich um. »Welche Fotos?« »Na, welche wohl?« »Sie wollen damit sagen, Kurd hatte Recht mit seinem Verdacht?« »Wundert Sie das?« Spock zog beide Brauen hoch. »Tatjana ist eine überaus schöne Frau.« »Das ist aber kein Grund, sie zu erpressen.« Er hielt einen Umschlag in der Hand. »Sie bekam lediglich einen Abzug zugeschickt, damit sie sich von der Qualität der Aufnahmen überzeugen konnte.« Mir kam eine Idee. »Überlassen Sie die Bilder mir«, bat ich. Spock wirkte nicht begeistert. »Was haben Sie mit ihnen vor?« »Sagen wir, ich interessiere mich für künstlerisch wertvolle Fotografien.« »Gehen Sie zum Kiosk, kaufen Sie sich ein einschlägiges Magazin. Da haben Sie seitenweise künstlerisch wertvolle Fotografien.« »Außerdem möchte ich, dass Tatjana de Vito gut auf mich zu sprechen ist.« »Das ist aber nicht billig.« Ich kramte den Umschlag mit Terjungs Geld hervor, nahm ein paar Scheine heraus und deutete auf seinen Umschlag.
»Tauschen wir«, schlug ich vor. »So viel zahlt Ihnen die Presse nie und nimmer. Außerdem wollten Sie sich revanchieren.« Ich traf die Schauspielerin bei Viviens Infostand vor den Riesenmurmeln. Tatjanas lästiger Verehrer hatte seine Bemühungen um sie aufgegeben und stand neben einem Firmenwagen von AndroFilm, wo er mit zwei Kollegen diskutierte. Frau de Vito saß unter einem Sonnenschirm auf einem Klappstuhl und hielt ein Glas Wasser in der rechten und eine Zigarette in der linken Hand. Dass ich mich ihr näherte, schien sie nicht zu bemerken. »Ist Ihr Freund immer so nett?«, sprach ich sie an. Sie hatte ihr blondes Haar hochgesteckt und trug ein unspektakuläres hellblaues Kostüm. Ihre Rolle als Altertumsforscherin auf der Flucht vor der CIA und den Häschern des Saddam Hussein erforderte offenbar ein unauffälliges Outfit. Als sie sich nach mir umdrehte, fiel mein Blick wie von selbst in ihren Ausschnitt und traf dort auf einen lila Spitzen-BH, den man durchaus als spektakulär bezeichnen konnte. Für Scarlett mit ihren unbestreitbaren weiblichen Reizen war diese Frau eine ideale Besetzung. »Was wollen Sie von mir hören?«, gab sie spöttisch zurück. »Vielen Dank auch, dass Sie mir den Kerl vom Hals geschafft haben?« »Ich bin sicher, Sie wären ihn auch allein losgeworden.« Sie musterte mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. »Bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten da weiterkommen, wo der schöne Kurd auf Grund gelaufen ist.« Tatjana de Vito glaubte offenbar, sich Arroganz leisten zu können. Bestimmt konnte sie Männer, die ihr den Hof machten, schäbig behandeln, ohne dass sie es ihr krumm nahmen. Ich rechnete mir bei ihr keinerlei Chancen aus.
Allerdings hatte ich irgendwo gelesen, dass Frauen ihres Typs sich meistens nur deswegen arrogant benahmen, weil sie auf der Suche nach Männern waren, die nicht auf das eine aus waren, sondern reden wollten. Nach Männern, die sich keinerlei Chancen ausrechneten. »Macht Ihnen der Dreh Spaß?«, fragte ich. Sie inhalierte. »Was wollen Sie von mir?« »Ich bin Privatdetektiv und könnte Ihnen dabei helfen, die kompromittierenden Fotos zurückzubekommen.« Tatjana zuckte mit den Schultern. »Geschenkt«, sagte sie. »Ist mir doch egal, woran sich dieser kranke Typ aufgeilt.« »Außerdem suche ich eine gewisse Lawinia Scholl. Man hat mir gesagt, dass sie in diesem Film die Hauptrolle spiele.« »Tja, wer immer Ihnen das sagte, muss wohl meine kleine Schwester mit mir verwechselt haben.« Ich war baff. »Frau Scholl ist Ihre Schwester?« »Was wollen Sie denn von ihr?« »Mein Klient macht sich Sorgen um sie.« »Ihr Klient?« Wieder dieser Blick, der in ein amüsiertes Lächeln mündete. »Die Kleine hat also wieder einmal einen Verehrer.« »Ist sie Schauspielerin wie Sie?« »Das wäre sie gern. Sie würde etwas darum geben, die Scarlett zu spielen. Aber Lawinia ist zu labil. Diese Rolle ist reiner Stress, den würde sie nie durchstehen.« Ich klaubte eine Zigarette aus der Packung und sie beobachtete mich dabei. »Privatdetektiv«, wiederholte sie. »Das heißt, im Auto sitzen und anderen Leuten dabei zusehen, wie sie ihr Leben leben?« »So ungefähr.« »Sie armer Kerl. Was reizt Sie nur an so einem Job?« »Gutes zu tun und dafür Geld zu kassieren.« Sie grinste spöttisch. »Wie nobel!«
»Als Kind wollte ich Pfarrer werden, aber dann bin ich bei der mündlichen Prüfung durchgerasselt.« Ich gab mir Feuer. »Und was reizt Sie an Ihrem?« Tatjana lehnte sich zurück und gab mir erneut Gelegenheit, ihr lila Dessous zu betrachten. »Gut auszusehen und dafür Geld zu kassieren«, gab sie zurück. »Weshalb macht sich dieser Mann Sorgen um Lawinia?« »Er sagt, dass sie krank ist und Hilfe braucht.« Tatjanas Blick verfinsterte sich plötzlich. »Der Kerl hat nicht die geringste Ahnung, wovon er redet«, antwortete sie barsch. »Lawinia hat sich immer schon eingebildet, sterbenskrank zu sein. Sie glaubt, dass sie dadurch interessanter wirkt.« »Können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann?« Sie schüttelte den Kopf. »Unser Verhältnis ist nicht das beste. Ich weiß nicht einmal, wo sie zurzeit wohnt. Ab und zu ruft sie an, dann streiten wir uns.« »Freunde oder Verwandte?« »Nicht dass ich wüsste. Unsere Eltern leben nicht mehr. Eine Schwester meiner Mutter wohnt, soviel ich weiß, in Bergkamen, aber wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesprochen.« Eine leichte Brise trug von den Betonkugeln einen Hauch von Urin herüber. Er mischte sich mit dem von Pommes, die ein Schüler auf einer nahe gelegenen Bank konsumierte. Es wurde Zeit, einen Happen zu Mittag zu essen. Ich machte mich auf den Weg. »Herr Detektiv?« Tatjana war aufgestanden, ließ die Zigarette auf den Rasen fallen und leerte ihr Glas Wasser über der Kippe aus, dass es zischte. »Bitte, glauben Sie mir, auch ich mache mir Sorgen um meine Schwester«, sagte sie und sah mir zum ersten Mal ins Gesicht. »Als sie noch ein Kind war, habe ich immer auf sie aufgepasst. Sie konnte sich auf mich verlassen.«
»Tja, die Zeiten ändern sich.« »Dass wir nicht mehr gut miteinander auskommen, ist wahrscheinlich nur die übliche Konkurrenz unter Geschwistern.« »Davon verstehe ich nicht sehr viel.« »Ich weiß nicht, ob Ihnen das weiterhilft, aber als ich sie das letzte Mal sprach, erwähnte sie eine Privatklinik, die sie regelmäßig aufsucht. Das ist aber schon eine Weile her.« Tatjana de Vitos Tonart hatte sich geändert. Ich bildete mir etwas darauf ein, dass sie nun auf ihr Filmstargetue verzichtete. Ich reichte ihr meine Visitenkarte, auf die ich Kittels Telefonnummer gekritzelt hatte. »Keine Angst, ich finde sie«, beruhigte ich sie. »Schließlich werde ich dafür bezahlt.«
7
Gegen Mittag betrat ich Kittels Büro und versuchte mithilfe einer großen Portion Pommes mit Mayo den unverwüstlichen Geruch von Haarfestiger und Mottenkugeln zu verdrängen. Auf dem Anrufbeantworter wartete eine Nachricht: »Hei, Kollege in spe«, plapperte eine unbekannte Frauenstimme. »Dein Auftritt gestern im Planungsteam war nicht schlecht. Besonders der Vorschlag mit der konzertierten Müllhexenverfolgung. Benno, du weißt schon, der aus der Sickergruben-AG, war ganz begeistert. Vergiss bloß heute Abend nicht den gelben Sack. Bis dann.« Armer Kittel, dachte ich. Bis du mit deiner Marietta über Dinge reden kannst, die wirklich zählen, hast du noch einen langen Weg vor dir. Während ich mich über die Pommes hermachte, fuhr ich seinen Computer hoch und fahndete im Internet nach dem Namen Scholl. In Bergkamen gab es ihn nur neunmal. Immerhin war es möglich, dass einer von diesen Scholls Lawinia kannte. Es konnte also nicht schaden, sie anzurufen. »Scholl?«, meldete sich eine schrille Frauenstimme. »Kennen Sie eine Lawinia Scholl?« »Wer spricht denn da?« »Mein Name ist Voss, Privatdetektiv. Ich suche – « »Bist du das etwa schon wieder, du Schwein?« »Wen meinen Sie?« »Was soll das Getue! Denkst du, ich erkenne dich nicht?« »Ich habe nur eine ganz kurze Frage.« »Natürlich bist du das! Wieso verstellst du deine Stimme?« »So ein Unsinn, ich – «
»Ruf bloß nicht wieder an, sonst kriegst du meine Trillerpfeife zu hören.« Ein knackendes Geräusch beendete die Verbindung. Tatjana de Vito hatte Recht: Was reizte mich eigentlich an diesem Job? Die Schauspielerin ging mir nicht aus dem Kopf. Konnte es tatsächlich sein, dass sie auf Männer stand, die reden wollten und nicht auf das eine aus waren? Schwer zu glauben. Im Übrigen wollten Frauen, die dieses Image verbreiteten, meist nur davon ablenken, dass sie ein Auge auf dich geworfen hatten. Das war allgemein bekannt. Um sie aus der Reserve zu locken, musste man sie überraschen, beispielsweise, indem man ihre Schwester fand… Mochte Terjung auch mein Auftraggeber sein, die Kraft, die mich dazu trieb, den Auftrag zu erfüllen, war Tatjana de Vito. Ich holte den Umschlag hervor und breitete die vorhin erworbenen Fotos auf Kittels Schreibtisch aus. Man konnte nicht behaupten, dass der Kerl, der sich Spock nannte, ein genialer Fotograf war. Allein Tatjana war es zu verdanken, dass die Bilder trotzdem sehenswert waren. Sie verstand es, sich in Szene zu setzen, und das offenbar selbst dann, wenn sie keine Ahnung davon hatte, dass eine Kamera sie beobachtete. Mit einer beachtlichen Sequenz von über zwanzig Bildern hatte Spock ihren Aufenthalt am Baggersee ausführlich dokumentiert. Es gab ein Bild, das die Schauspielerin zeigte, wie sie aus dem Wagen stieg. Auf dem nächsten breitete sie ihr Handtuch im Gestrüpp aus, dann legte sie Klamotten und Badezeug ab und hechtete ins Wasser. Sie hatte diesen Nachmittag nicht allein verbracht. Für den Mann an ihrer Seite hatte sich die Kamera allerdings gar nicht interessiert. Er war nur auf ein paar Bilder geraten, weil Tatjana von seinen Schultern aus in den See gesprungen war. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, weil es zwischen ihren
Schenkeln steckte. Auf dem letzten Foto, das Tatjana auf ihrem Strandhandtuch zeigte, schien er den Kopf auf ihren Bauch gelegt zu haben und mit der Zunge ihren Nabel zu liebkosen. Die Aufnahme war hoffnungslos unscharf. Egal. Was ging es mich an, wer der Kerl war. »Hoffentlich störe ich Sie nicht bei der Arbeit.« Ich blickte auf. Heiner Terjung stand auf der anderen Seite des Schreibtischs und verrenkte seinen Hals wegen der Fotos, die für ihn auf dem Kopf standen. »Die Tür war offen«, erklärte er vorwurfsvoll. »Und Sie schienen so beschäftigt zu sein.« Ich packte zusammen. »Offenbar haben Sie einen anderen Auftrag, der Sie mehr anspricht?«, erkundigte sich mein Klient mit einem argwöhnischen Blick auf die Aktfotos. Mit dem Ärmel kehrte ich die kalten Pommes in den Papierkorb. »Die Frau auf diesen Bildern ist Tatjana de Vito, Lawinia Scholls Schwester«, erklärte ich kühl. »Ich habe mich eben mit ihr getroffen.« Terjung nickte, während seine Fantasie mit ihm durchging. »Weiß sie, wo Lawinia sich aufhält?« »Leider nicht. Die beiden verstehen sich nicht besonders gut.« »Hauptsache, Sie haben sich gut mit ihr verstanden, nicht wahr?« »Diese Bilder habe doch nicht ich gemacht«, sagte ich sauer. »Gibt es eigentlich einen bestimmten Grund, weswegen Sie mich während meiner Mittagspause stören?« »Ob es einen Grund gibt? Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns verstehen, wie dringend die Angelegenheit ist.« Der Mann und seine Penetranz wurden allmählich zu einer ernsthaften Herausforderung für mein friedliches Naturell.
»Was soll ich für Sie herausfinden, Terjung: Ob wir uns verstehen oder wo Frau Scholl ist?« Mein Klient machte ein beleidigtes Gesicht. »Während Sie mit dieser Dame ein Stelldichein hatten, war ich in Havixbeck.« »Der eine hat ein Stelldichein, der andere eine Fortbildung«, versetzte ich giftig. »Wie ungerecht die Welt ist, nicht wahr?« Terjung bemühte sich, meine Häme zu ignorieren. »Ganz in der Nähe der Stelle, wo ich Lawinia zum ersten Mal traf, befindet sich eine Privatklinik. Eigentlich dachte ich, dass Sie sich dort umschauen könnten.« »Na, das haben Sie ja jetzt anscheinend schon getan.« »Man wollte mir in keiner Weise weiterhelfen.« Terjung rückte seine Brille zurecht. »Das ist aber noch nicht alles. Seit ich von dort zurück bin, habe ich das Gefühl, beschattet zu werden.« Ich grinste ungläubig. »Weshalb sollte man Sie beschatten?« »Vielleicht, weil irgendjemand nicht will, dass ich etwas herausfinde. Etwas, das Lawinia und diese Klinik betrifft.« Ich seufzte. »Das ist alles sehr vage.« Terjung presste die Lippen zusammen, bis sie nur noch dünne Striche waren. »Ich hatte Ihnen einen Vorschuss gezahlt«, erinnerte er mich vorwurfsvoll. »Tja, der ist für die Fotos draufgegangen.« Endlich brach die Entrüstung aus ihm heraus. »Wollen Sie damit sagen, dass ich diese Bilder bezahlt habe?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben mich bezahlt.« »Mitsamt Ihrer Mittagspause, die Sie damit verbringen, sich mit diesen Bildern in aller Ruhe zu… entspannen.« Es reichte, fand ich. »Also gut, Terjung«, sagte ich und erhob mich. »Wie viel schulde ich Ihnen, wenn wir die Sache beenden?«
Der Mann mit der grünen Brille öffnete den Mund. Meine Reaktion schien ihn zu überraschen. »Ich habe das doch nicht so gemeint«, versuchte er die Wogen zu glätten. »Wie viel?«, beharrte ich. »Überschlagen Sie es einfach im Kopf.« »Das wären dreiundvierzig zwanzig«, sagte er kleinlaut, »der Rest des gezahlten Vorschusses.« Ich kramte das Geld hervor und reichte es ihm. »Sie haben Recht«, sagte Terjung trotzig, während er nachzählte. »Ich denke, ich werde Lawinia schon allein finden.« »Und wenn nicht«, dachte ich seinen Gedanken laut zu Ende, »dann kommt es Sie wenigstens billiger.« Im Mittelalter hatten die Menschen ihre Häuser im Schatten von Klöstern oder Festungen gebaut, weil sie sich von ihnen Schutz versprachen. Diese Ansiedlungen waren die Keimzellen der heutigen Städte gewesen. Heutzutage fehlten Gotteshäuser oder Trutzburgen, dafür wucherten Wohngebiete oft um einen Aldimarkt oder ein Gartenzentrum. Eine dieser modernen Siedlungsformen war Havixbeck. Tatjana hatte die Privatklinik schließlich auch erwähnt. Mein Ziel, Lawinia Scholl zu finden, war das gleiche geblieben. Aber es ging jetzt nicht mehr darum, meinen Auftrag zu erfüllen, sondern Tatjana de Vito davon zu überzeugen, dass es noch andere schöne Dinge außer tiefschürfenden Gesprächen gab. Kittel sah es nicht gern, wenn ich sein Auto benutzte, ohne ihn vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Aber erstens wusste ich, wo er den Schlüssel aufbewahrte, und zweitens stand das Ding wochenlang herum, weil er immer mit dem Fahrrad fuhr. Es konnte also nicht schaden, den Wagen ab und an zu bewegen, damit er nicht vollends einrostete. Man musste nur darauf gefasst sein, dass er sich seine Pannen für
Gelegenheiten aufsparte, bei denen man ihn am dringendsten brauchte. Beispielsweise wenn man sich hinaus aufs platte Land wagte. Ich hatte Glück. Die Kiste sprang reibungslos an und verkniff sich auch weiterhin alle Zicken. Trotzdem brauchte ich fast eine Stunde, was daran lag, dass ich zunächst ahnungslos in den grünen münsterländischen Weiten umherirrte, bis ich in einem Landgasthof mit einem Hirschgeweih über der Tür nach dem Weg fragte. Dort schickte man mich noch weiter ins unbewohnte Land hinein, wo ich niemanden mehr traf, den ich fragen konnte. Als die Nachmittagssonne schon lange Schatten über die Felder warf, gab ich auf und wendete den Wagen auf einem Kiesweg. Wie zufällig fiel mein Blick dabei auf ein weißes Schild: Van-Basten-Klinik. Ich folgte dem Pfeil und fuhr durch eine adrette Parkanlage, bis der Weg vor einem vorbildlich gepflegten Herrenhaus endete. Neben dem Haupteingang parkten Limousinen der Mittel- und Oberklasse. Ich stieg aus. In den Büschen zirpten Grillen und von weitem drang das Geräusch eines Motorrasenmähers herüber. Die Glastür war nicht verschlossen. Ich trat in einen breiten Flur, der in eine Empfangshalle mündete. An den Wänden hingen in schweren vergoldeten Rahmen Bilder, die diverse Jagdszenen zeigten. Der Empfangstresen aus rustikalem Holz war nicht besetzt. Hatte ich mich am Ende wieder verfahren und befand mich nun in einem exklusiven Landhotel für gehobene Ansprüche? Auf dem Tresen priesen Prospekte leicht zu erreichende Wanderziele in der näheren Umgebung an, ein Thermalbad und ein Spielkasino in der weiteren. Neben einer Glasschale mit gelben und lila Lutschbonbons – Limonen- und Maracujageschmack – lag noch ein Prospekt: Van-BastenKlinik. Das neue Konzept für Psychotherapie.
»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte eine spindeldürre, stark geschminkte Frau in einem weißen Kittel. Ihre Schritte hallten auf dem Steinboden, während sie sich an mir vorbeischob, um sich hinter den Tresen zu begeben. »Mein Name ist Voss«, sagte ich. »Wir hatten, glaube ich, miteinander telefoniert.« Sie runzelte die Stirn. »Nicht dass ich wüsste.« »Es geht um meine Schwester, die gewisse psychische Probleme hat. Ihre Klinik und ihr neues Konzept wurden mir empfohlen.« »Wie war der Name?« »Voss. Der Name der Patientin allerdings ist Scholl. Lawinia Scholl.« Die Frau im weißen Kittel hielt einen Hörer an ihr Ohr und schwieg, während ihr Blick auf mich gerichtet blieb, ohne dass sie mir in die Augen sah. Dann murmelte sie etwas Unverständliches, nickte und legte den Hörer zurück. »Einen Moment bitte«, sagte sie. »Der Chef ist auf dem Weg hierher.« Trotzdem wartete ich noch über drei Minuten. Dass das Haus über so lange Wege verfügte, sah man ihm von außen nicht an. Dr. Tilo van Basten war um die fünfzig, schlank und sportlich. Er kam mir zunächst bekannt vor, aber es war nur der blonde Haarschopf, der mich an Steck, den Chef von AndroFilm, erinnerte. Van Basten hatte auffällig große Nasenlöcher, aus denen büschelweise Haar spross. Er federte auf mich zu, streckte mir den Arm entgegen und begrüßte mich mit den Worten: »Sie sind Herr…?« Der Arzt hatte eine hohe, näselnde Stimme, die mich, da ich nicht darauf gefasst war, zusammenzucken ließ. »Voss«, sagte ich. »Freut mich, dass Sie Zeit für mich haben.« Van Basten lotste mich in einen benachbarten Raum, in dem ebenfalls Jagdszenen an den Wänden hingen. Auf jedem der
weiß gedeckten Tische stand ein Set bestehend aus Salz und Pfeffer, Öl und Essig nebst einer Dose Zahnstocher. Wir befanden uns im Speisesaal der Klinik. »Ich nehme an, dass Sie mein therapeutisches Konzept gar nicht weiter interessiert«, eröffnete der Arzt das Gespräch. »Sind Sie von der Polizei?« »Privatdetektiv«, gab ich zu. »Wie kommen Sie darauf?« »Weil wir heute Morgen bereits Besuch von einem Herrn hatten, der sich nach Frau Scholl erkundigte. Als ich auf das Arztgeheimnis verwies, wurde er unangenehm und drohte, die Polizei einzuschalten.« Ich versuchte, mir Terjungs peinlichen Auftritt vorzustellen. »Gibt es denn hier Dinge, die die Polizei interessieren könnten?«, fragte ich unschuldig. »Das müssten Sie diesen Herrn fragen. Falls Sie übrigens hergekommen sind, um Informationen über Frau Scholl zu erhalten, muss ich Ihnen leider das Gleiche wie ihm sagen.« »Aber Sie können mir wenigstens bestätigen, dass sie bei Ihnen in Behandlung ist?« »War. Sie hat die Therapie abgebrochen.« »Dr. van Basten, mich interessieren keine medizinischen Details. Ich muss lediglich wissen, wo ich Lawinia Scholl erreichen kann.« Van Basten schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass sie noch vor wenigen Monaten in Münster wohnte. Aber dann ist sie umgezogen. Bitte, haben Sie Verständnis«, forderte er eindringlich. »Bereits jetzt habe ich die Grenze dessen überschritten, was mir die ärztliche Schweigepflicht auferlegt.« Der Psychiater sah betroffen aus. Mir kam die Idee, dass er mit seiner theatralisch sorgenvollen Mimik ein optisches Gegengewicht zu seinem schnarrenden Organ schaffen wollte, das ihm als Synchronsprecher für Zeichentrickfilme zweifellos eine steile Karriere eröffnet hätte.
»Mein Klient macht sich große Sorgen«, sagte ich, »dass Frau Scholl etwas zugestoßen sein könnte. Er erwähnte, dass sie ernsthaft erkrankt ist.« »Nun, dann wären Sie bei mir ohnehin an der falschen Adresse. Ich kümmere mich lediglich um die Psyche meiner Klienten. Wenn es um körperliche Beschwerden geht, überweise ich sie an Kollegen.« »Zum Beispiel an Dr. Peter Bockmühl?« Van Basten war verblüfft. »Wie haben Sie das herausgefunden?« »Kannten Sie Dr. Bockmühl?« »Wieso kannten?« »Bockmühl wurde gestern ermordet.« »Oh!«, machte er und sah nicht betroffener aus als vorher. »Während des Studiums waren wir befreundet. Bis heute schätzte ich ihn als kompetenten Kollegen, weshalb ich ja auch meine Klientin an ihn überwies.« Er schüttelte den Kopf. »Wer hätte das gedacht…« »Können Sie sich einen Grund dafür vorstellen, dass Lawinia Scholl sich unerreichbar macht?«, fragte ich. »Und wenn ich es könnte…« »Schon gut«, resignierte ich. »Bitte, versuchen Sie mich zu verstehen. Das Arztgeheimnis ist eine Institution zum Schutz des Patienten, die niemals angetastet werden darf.« Van Bastens besorgtes Gesicht bekräftigte auf eindringliche Weise, wie ernst es ihm war. Ich schloss die Augen und hörte eine Ente. »So gern ich Ihnen auch helfen würde…«, quäkte sie. Die Tür öffnete sich. Ein dicker Mann mit Kochmütze schob einen Wagen mit Geschirr herein. Van Basten sah auf die Uhr. Das Abendessen stand bevor. »Vielen Dank, Doktor«, sagte ich, »dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.« Ich zog meine Visitenkarte und reichte sie
ihm. »Falls Sie noch etwas loswerden wollen, über das Sie nicht schweigen müssen…« »Eines vielleicht doch«, hielt er mich zurück. Ich wartete. »Beim letzten Mal erwähnte sie einen Regisseur, einen unberechenbaren und jähzornigen Mann. Sie sagte, dass er ihr die Hauptrolle, die ihr sehr viel bedeutete, nur dann geben wolle, wenn sie sich mit ihm einließ. Ich hatte den Eindruck, dass Lawinia sich von diesem Mann regelrecht verfolgt fühlte.« »Die Rolle bekam Tatjana, ihre Schwester«, sagte ich. »Halten Sie es für möglich, dass Lawinia sie nicht freiwillig abgab? Dass ihr etwas zugestoßen ist?« »Ich weiß nur, dass ihr die Schauspielerei sehr wichtig war.« Van Basten schien nicht zu bemerken, dass er meine zweite Frage bejahte, indem er sich der Vergangenheitsform bediente. Mir fiel der Mann ein, dessen Kopf Udo Knopf alias Mr. Spock versehentlich abgelichtet hatte, als er mit der Kamera auf Tatjanas Intimbereich gezielt hatte. War das Steck, der Regisseur, gewesen? Wie auch immer, Tatjana gehörte wohl doch nicht zu den Frauen, die einen Mann nur zum Reden wollten. Warum nur hatte sie mir die besorgte Schwester vorgespielt, wenn sie Lawinia nicht nur die Hauptrolle, sondern auch den Lover ausgespannt hatte? Van Basten begleitete mich zum Ausgang. Seine Nase kam mir ziemlich nahe und ich fand, dass die behaarten Löcher etwas Gemütliches ausstrahlten. Im Winter, wenn es kalt wurde, konnte er seine Finger darin wärmen. Wenn sie sich nicht zu breit machten, konnten sogar zwei in jedem Loch unterkommen… »Hat die Polizei eine Spur, was den Mord am Kollegen Bockmühl betrifft?«, erkundigte er sich.
»Man fahndet nach einer Schutzgeldmafia, die sich auf Ärzte spezialisiert hat.« »Schutzgeld?«, fragte er ungläubig. »Bedaure«, sagte ich, während ich seine Hand schüttelte. »Ich habe Ihnen bereits mehr gesagt, als ich darf.«
8
Dieses Mal hielt Kittels Anrufbeantworter eine Nachricht für mich bereit: »Hei, Detektiv«, sagte Tatjanas sanfte Stimme und wieder war keinerlei Überheblichkeit oder Arroganz darin. »Es beruhigt mich ungemein zu wissen, dass Sie sich um die Sache kümmern. Bitte sagen Sie es mir, wenn Sie etwas über meine Schwester herausfinden sollten.« Ich wusste, wie es beim Film zugeht. Zwar hatte ich noch nie eine Produktion aus der Nähe verfolgt, aber ich hatte einmal einen Streifen gesehen, in dem es genau darum gegangen war. Ehrgeizige Starlets machten sich gegenseitig das Leben schwer und booteten einander skrupellos aus. Freunde verrieten ihre Freunde für eine einzige Szene, Schwestern verkauften ihre Schwestern für eine Nahaufnahme. Um eine Hauptrolle zu bekommen, waren sie bereit, alles zu tun. Sie gingen über Leichen, mehr noch, sie schliefen sogar mit dem Produzenten, dem Regisseur oder, wenn es sein musste, sogar mit dem Chef der freiwilligen Selbstkontrolle, je nachdem, von wem sie sich gerade die meisten Vorteile versprachen. Andro Steck hatte sich ungestraft zunächst mit Lawinia Scholl vergnügt und dann mit Tatjana de Vito, ihrer Schwester und gleichzeitig schärfsten Konkurrentin. Vielleicht konnte Stecks Version dieser Dreiecksgeschichte etwas Licht in die Sache bringen.
Am nächsten Morgen bestieg ich Kittels Klapperkiste und fuhr damit erneut zum Set. Vivian war gerade dabei, ihren Infopavillon abzubauen.
»Ist der Film schon aus?«, wunderte ich mich. Sie lächelte einnehmend und schob eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Hier am See ist der Dreh so gut wie beendet. Heute gibt es noch eine letzte Szene drüben beim Zoo und morgen geht’s dann weiter am Prinzipalmarkt.« »Ich wusste gar nicht, dass das ein Tierfilm werden soll.« »Nein, es ist eine Kampfszene. Arabische Terroristen greifen das Schiff an, auf dem ein Stasimann gerade die Hauptdarstellerin vergewaltigen will.« Vivian bückte sich nach einer Tasche, die bis zum Rand mit Papier gefüllt war. »Einen Moment, ich hab das hier noch irgendwo…« »Schon gut. Wo finde ich Ihren Herrn und Meister?« »Er legt gerade ab.« Vivian deutete schräg über den See auf die Anlegestelle. »Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihn noch.« Das Fahrrad, das ich mir von Kittel geborgt hatte, war nicht gerade eine Rakete. Schon vor Jahren hatte er das Ding ausgemustert. Seitdem hatte es lange Monate auf seinem Balkon vor sich hin gerostet und Blumenkästen gestützt, in denen Petersilie und Schnittlauch sprossen. Das Rad klapperte und scheuerte so laut, dass sich die Passanten nach mir umdrehten. Ich erntete mitleidige, verärgerte, aber auch respektvolle Blicke. Immerhin gelang es mir, innerhalb einer Minute an der Anlegestelle einzutreffen. Ich hatte sogar ein ziemliches Tempo drauf, und als ich auf die Bremse trat, versagte der Rücktritt seinen Dienst. Verzweifelt betätigte ich die Handbremse, aber die erwies sich als bloße Attrappe. Zum Glück hielt das Geländer des Anlegestegs und ich landete nicht im Wasser. »Ach nee.« Steck musterte mich durch seine Sonnenbrille. Sein Gesicht verzog sich. »Du schon wieder«, ärgerte er sich. »Willst du mir schon wieder den Dreh vermasseln?«
»Ich wüsste nicht, was es daran noch zu vermasseln gibt.« Ich stieg ab und klaubte das Rad vom Geländer. »Ich bin Privatdetektiv und würde Sie gern für ein paar Minuten sprechen.« Der Regisseur schüttelte den Kopf. Sein Piercing blitzte in der Sonne. »Das kannst du vergessen«, winkte er ab. »Keine Zeit.« »Nur eine Sekunde«, bettelte ich. »Absolut null. Hast du die leiseste Vorstellung, wie viel mich nur eine einzige Drehminute kostet?« »Ich will ja nicht drehen, sondern reden.« »Soll wohl komisch sein, oder was?« Steck grinste gequält. »Trotzdem.« »Es geht um Lawinia Scholl. Vielleicht können Sie mir sagen, wo sie sich aufh…« »Cut!«, bellte er unvermittelt und hob den Arm, als sei er Steven Spielberg persönlich. Ich verstummte beeindruckt, wenn auch nur für einen Moment. »Sie hatten doch etwas mit Frau Scholl?« Stecks Miene verdunkelte sich unheilschwanger. Trotzdem spazierte er lässig wie ein Filmstar zu mir herüber und stoppte so nahe vor mir, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. »Bitte«, sagte er leise, fast flüsternd, »frag mich nie«, und jetzt brüllte er plötzlich los, »nie wieder nach dieser Frau und auch nicht nach irgendeiner anderen! Kannst du dir das merken?« »Ich frage mich«, gab ich fast sanft zurück, »ob du irgendein Problem hast.« »Wenn, dann werde ich den Teufel tun, es einem kleinen, fetten Detektiv auf die Nase zu binden.« Damit war für Steck die Unterredung beendet. Er reckte sich wie ein siegreicher Gockel, setzte eine weiße Baseballmütze auf und schulterte die Flüstertüte. »Bist du so weit, Darling?«
In der Eingangstür des Bootes tauchte Tatjana de Vito auf. Sie knöpfte sich gerade ihre unspektakuläre Bluse zu. Ich starrte sie blöde an. »Dann kann’s ja losgehen.« Steck trat zu ihr, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie in die Kajüte zurück. Tatjana sah sich nach mir um und unsere Blicke trafen sich für einen winzigen Moment. Mehr denn je war ich davon überzeugt, dass es nicht das erste Mal gewesen war, dass sie und der Regisseur am Baggersee zusammen gebadet hatten. »Tag, Kollege.« Neben mir stand der Mann, der sich Spock nannte, und kratzte sich am Kopf. Zusammen sahen wir dem Schiffchen nach, das sich durch ein Gewimmel aus Ruder- und Tretbooten hindurch seinen Weg bahnte. »Falls es dich interessiert, sage ich dir, wie du die MS Prof. Landois entern kannst.« »Wen?« »Den Ozeandampfer da drüben. Kurz bevor der See zu Ende ist, geht’s rechts ab in eine Wasserrinne, die bis zum Zoo reicht. Darüber führt eine Fußgängerbrücke. Du steigst einfach von oben zu.« »Wozu sollte ich an Bord gehen?« »Ich meine ja nur. Du würdest dir nicht mal nasse Füße holen.« »Danke verbindlichst.« »Vielleicht hast du irgendwann Zeit und wir trinken einen zusammen?«, schlug er vor. »Klar, warum nicht? Komm abends einfach in die Trattoria Berlusconi. Ist zwar nicht gerade gemütlich, aber dafür teuer.« Tatjana und Steck. War das, was ich an Tatjana für echt und unverfälscht hielt, in Wirklichkeit nur eine billige Komödie? Hatte Tatjana de Vito mir die Frau vorgespielt, die darauf verzichtete, mir etwas vorzuspielen? Die wehmütige Erinnerung an früher, als sie und ihre kleine Schwester sich
noch verstanden hatten. Ihr angebliches Gefühl der Zuversicht, das ich ihr gab, weil ich mich der Sache annahm. Cut! Ich hatte mit der Angelegenheit nichts mehr zu tun. Trotzdem ließ sie mich nicht los und dagegen war ich machtlos. Nur um mir über alles klarer zu werden, bestieg ich die Klapperkiste und radelte in die Richtung, die mir Spock beschrieben hatte. Der Lärm, den ich verbreitete, hatte sein Gutes. Fußgänger und Ausgleichssportler machten mir freiwillig Platz. Ich folgte dem Uferweg, unterfuhr eine Brücke. Den schwimmenden Bus hatte ich längst überholt und die Tretbootdichte nahm mehr und mehr ab. Das Ufer des Sees verlor sich in weiten Rasenflächen. Fast ausschließlich begegnete ich Joggern, die paarweise, manchmal sogar rudelweise den See umkreisten. Endlich beschrieb der Weg eine Kurve. Der See spitzte sich nach rechts zu einem Trichter zu. Breiter Schilfbewuchs auf beiden Seiten ließ in der Mitte einer schmalen Wasserrinne Platz, die unter einer kleinen Brücke verschwand. Ich stoppte an ihrem Geländer und sah hinunter auf ein stehendes Gewässer aus Wasserpflanzen, Algen und Entenkot. Sich hier nasse Füße zu holen, war eine unappetitliche Vorstellung. Während ich die Ankunft des Bootes erwartete, betrachtete ich einen völlig verrosteten Schornstein, der ein paar Meter weiter aus der Wiese ragte. Eine Skulptur zur Völkerverständigung, wie eine kleine, vor dem Kunstwerk angebrachte Plastiktafel verriet. Der Wasserbus kam näher. Es würde noch eine Ewigkeit dauern, bis er unter der Brücke war. Auf dem Fahrrad sitzend lehnte ich mich gegen das Brückengeländer. In diesem Moment stieß mich jemand von hinten. Ich verlor das Gleichgewicht, sauste durch die Luft und plumpste in die
Ekel erregende trübe Brühe. Es gurgelte und schäumte. Ich bekam etwas Weiches in den Mund, das süßlich schmeckte. Als ich spuckend wieder hochkam, sah ich durch die algenverhangenen Augen jemanden auf der Brücke stehen. »Na, wie fühlst du dich jetzt, du blöder Angeber?« Es war Kurd Ingolf, der Schauspieler. Ich hatte mir gleich gedacht, dass er nachtragend war. »Spinnst du! Du hättest mich umbringen können!«, schimpfte ich. »Mach dir nicht in die Hosen, die sind eh nass.« »Glaubst du, du könntest Tatjana mit der Nummer vom wilden Affen beeindrucken?« Ingolf schien dieser Meinung zu sein. Geschickt schwang er sich von der Brücke hinunter auf den Uferrand zwischen Brennnesseln und wucherndem Gestrüpp. »Wart’s ab, du Großmaul!« Er bückte sich und hob einen der Backsteine auf, die die Wasserrinne befestigten. »Dir werde ich deine unverschämte Fresse stopfen!« Das schwere Geschoss machte ein dumpfes Plosch, als es direkt neben mir einschlug. »Mensch, bist du vollkommen bescheuert!«, brüllte ich ihn an. »Hau ab! Troll dich endlich!« Der nächste Stein schlug ein, noch näher als der erste. »Sonst bist du ein toter Mann, Fettsack!« So schnell ich konnte, watete ich los, um dem Bombardement zu entkommen. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass Kurd Ingolf nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Die Wasserrinne wurde breiter. Hinter mir platschten Backsteine ins Wasser. Unerbittlich trieb mich der Rachsüchtige in Richtung See, dem herankommenden Wasserbus entgegen. »Lass dich hier nicht mehr blicken!«
Ein Stein, noch einer. Endlich sah ich eine Gelegenheit, mich in Richtung Ufer zu verdrücken. Dafür musste ich aber mindestens drei Meter durch Morast und Schilf waten. Ich sank bis zu den Oberschenkeln ein und fluchte; genau das hatte der Verrückte gewollt. Mit dem Fuß blieb ich hängen. Ich strampelte, um freizukommen, und förderte ein altes Fahrradgerippe zu Tage. Allmählich begann ich die Dinger zu hassen. Jenseits des Schilfwaldes tuckerte der Wasserbus heran. Er stoppte. »Was ist los?«, hörte ich Andro Stecks ungeduldige Stimme. »Können wir endlich?« »Dieser fette Schnüffler«, antwortete Kurd. »Er wollte frech werden. Da hab ich ihn ins Wasser geschubst.« »Na und?« »Er ist irgendwo da drüben in dem Morast.« »Verdammt, Kurd, wenn der mir jetzt schon wieder meine Szene kaputtmacht!« »Heh!«, brüllte Ingolf zu mir herüber. »Komm raus da, Fettsack, aber plötzlich!« Ich rührte mich nicht. Meine Klamotten stanken nach den Fäkalien diverser Wasservögel. Ein morastiger Tropfen hing an meiner Nasenspitze. Den Triumph über meine im wahren Sinne des Wortes beschissene Erscheinung gönnte ich den beiden nicht. »Was habe ich dir bloß getan?«, wimmerte der Regisseur in gespielter Zerknirschung. »Wieso legst du es darauf an, mich zu ruinieren?« »Scheiße«, sorgte sich Kurd. »Ich hoffe, ich habe ihn nicht getroffen.« »Getroffen? Was soll das heißen?« »Mit dem Stein, meine ich.« »Du Idiot. Fahr nochmal zurück.«
Der Dieselmotor lief wieder an und das Schiff knickte einige Schilfhalme um. »Maschinen stopp!«, kommandierte der Regisseur. Direkt neben mir ergriff ein Teichhuhn die Flucht. »Da war was«, rief Ingolf und horchte atemlos. »Was? Wo?« »Da im Schilf hat sich was bewegt.« »Hier kommen wir aber nicht näher ran.« »Moment mal. Das…« »Was denn?« »Das darf doch wohl nicht…« »Jetzt rede schon!« »Hier ist was.« Der Ton von Ingolfs Stimme hatte gewechselt. Sie klang irgendwie unheilschwanger. »Mir reicht’s. Ich will endlich Action sehen. Diese ständigen Pannen kann ich mir nicht länger leisten.« »Scheiße!«, wimmerte Kurd. »O mein Gott!« »Jetzt krieg dich mal wieder ein, ja?« »Das habe ich nicht gewollt…« »Wovon redest du überhaupt?« Es dauerte eine Weile, bis der Regisseur das sah, was Kurd meinte. »Verdammter Idiot!«, rastete Andro Steck aus. Seine Stimme überschlug sich und gellte wie das schrille Klagen eines Wasservogels über den See. »Du gottverdammter, komplett hirnverbrannter Idiot von einem schwachsinnigen Blödmann! Der Mann ist tot, Kurd. Tot. Weißt du, was das bedeutet?« »Glaub mir, bitte, ich wollte ihn nicht töten. Nur ein wenig Angst machen«, weinte Kurd. »Ehrlich, du musst mir das glauben.« »Das bedeutet, dass wir im Arsch sind. Gratuliere, Kurd.« »Aber ich schwöre dir – « »Und nicht nur wir. Der ganze Film ist im Arsch.«
9
Der Schock traf sie völlig unvorbereitet, wahrscheinlich sahen sie deshalb nicht genau hin. Erst als ich effektvoll aus dem Schilf watete, begriffen sie, dass ich nicht der Tote im Wasser sein konnte. Der Mann mochte eine ähnliche Figur haben wie ich und schien nicht viel älter zu sein. Alle viere von sich gestreckt lag er rücklings im Schilf. Die Sonnenbrille in seinem Gesicht und die entspannte Körperhaltung erinnerten an einen Mittelmeertouristen, der friedlich und sonnenhungrig auf seiner Luftmatratze dösend im seichten Wasser trieb, während er von den Wellen leicht auf und ab geschaukelt wurde. Davon abgesehen gab es allerdings keinen Zweifel daran, dass der Leichnam schon etliche Tage im Wasser lag. Fünfzehn weitere Minuten vergingen, bis die Polizei eintraf und den Tatort sicherte. Sie hatte alle Hände voll damit zu tun, Jogger, Inlineskater, Picknicker, Radfahrer und Hundebesitzer, die sich in eine beeindruckende Masse Schaulustiger verwandelt hatten, vom Geschehen fern zu halten. Außerdem wurden zwei Schwäne und eine Entenfamilie angelockt, die sich nur schwer vertreiben ließen, weil Kinder sie vom Ufer aus mit Keksen versorgten. Als Hauptkommissar Pit Bondt von der Mordkommission endlich erschien, hatte man schon herausgefunden, dass sich der Tote ausweisen konnte. »Moritz Pilgrim«, sagte Bondt und wedelte mit einer Visacard, während er sich mir näherte. »Jedenfalls wenn wir davon ausgehen, dass wir es nicht mit einem Scheckkartenbetrüger zu tun haben. Interessant ist übrigens,
dass der Bedauernswerte ein Doktor ist. Genau wie Bockmühl.« Ich stand auf dem Rasen innerhalb der Absperrung und war damit beschäftigt, meine Taschen von faulendem Gras, Mückenlarven und Wasserpflanzen zu befreien und Schnecken von meinen Hosenbeinen zu pflücken. »Irgendwer hat was gegen Ärzte«, mutmaßte ich. »Sie sollten die Krankenkassen unter die Lupe nehmen.« Bondt schnüffelte in meine Richtung und schüttelte angewidert den Kopf. »Mein Gott, Sie sehen ja noch schlimmer aus als der Tote. Wie konnten Sie nur in dieser Brühe schwimmen?« »Jemand wollte mich töten, Herr Kommissar.« »Haben Sie etwa von dem Zeug getrunken?« »Ließ sich nicht vermeiden. Wieso?« Bondt verzog das Gesicht. »Blaualgen. Daraus besteht die Brühe hauptsächlich. Die sind ziemlich giftig.« Zerknirscht schüttelte er den Kopf. »Ich fürchte, Sie sind so gut wie hin.« »Und der Tote im Schilf? Ist der auch ein Algenopfer?« »Bisher wissen wir nichts Genaues.« Der Hauptkommissar trat einen Schritt zurück. »Ich gehe mal davon aus, dass der Mann ertrunken ist. Vielleicht hat er sich umgebracht.« »Deutet etwas darauf hin?« »Ich sagte ›vielleicht‹, Herr Voss. Wissen Sie, für einen weiteren Mord fehlen mir nämlich im Moment die Leute.« »Hat er Angehörige?« »Eine Ehefrau, aber die weiß nicht viel. Das liegt daran, dass sie schon seit Jahren nichts mehr von ihm wissen will. Immerhin vertraute sie mir eben am Telefon an, dass Pilgrim ein passionierter Segler war.« »Also möglicherweise ein Segelunfall?«
»Denkbar. Die Klamotten, die er anhat, Shorts und Windjacke – das könnte passen. Aber dann müsste es irgendwo ein herrenloses Boot geben.« Ein Mann kam auf uns zu. »Was gibt’s, Doc?«, fragte Bondt ihn und wandte sich an mich: »Dr. Kirschbaum von der Rechtsmedizin. Und Herr Voss, Privatdetektiv«, stellte er vor. »Lassen Sie sich von seinem Äußeren nicht täuschen. Er ist mit dem Toten weder verwandt noch verschwägert.« Kirschbaum hatte ein langes, kantiges Gesicht und stechende Augen, die mich skeptisch musterten. »Sie sollten sich das ansehen, Kommissar«, sagte er und nickte mit dem Kopf zu der Stelle, wo man die Leiche an Land gebracht hatte. Bondt schluckte, knickte den kleinen Finger seiner rechten Hand und kratzte mit dem Nagel behutsam an seinem Pickel. »Wie wär’s, wenn Sie mir eine kurze Zusammenfassung geben, und ich sehe es mir später an.« Kirschbaum nahm diese Weigerung mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis. »Der Tote weist eine Wunde am Hinterkopf auf, hervorgerufen durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand. Art und Schwere der Verletzung lassen mich vermuten, dass das die Todesursache ist.« Bondt schien enttäuscht zu sein. »Also ist er nicht ertrunken?« Der Doktor schüttelte den Kopf. »Falls meine Vermutung sich bestätigen sollte.« »Sie sagen das so einfach, Doktor. Eine Verletzung am Hinterkopf und schon tippen Sie auf Mord. Haben Sie mal überlegt, was das für unser Kommissariat bedeutet? Urlaubssperre, das ist Gift fürs Betriebsklima.« Kirschbaum war anzusehen, dass ihm Bondts Art von Humor nicht lag. »Nur dann, wenn meine Vermutung zutrifft«, wiederholte er ungerührt und reichte dem Kommissar ein
Plastiktütchen. »Diese Gegenstände fanden sich außerdem in der Jackentasche des Toten.« Bondt hielt den Beutel gegen das Licht. »Was ist das? Ein Stopfen? Halten Sie es für möglich, dass er in einem Schlauchboot unterwegs war?« »Für mich sieht das eher wie ein Sektkorken aus«, meinte der Rechtsmediziner. »Und hier haben wir einen Kugelschreiber in Form eines Fieberthermometers.« »Das hier ist unverkennbar eine Packung mit Pillen. Wir sollten herausfinden, um welche Sorte es sich handelt.« »Irrtum, Herr Kommissar«, widersprach Kirschbaum erneut. »Man kann es nicht genau erkennen, weil das Seewasser seinen Teil dazu beigetragen hat. Das sind Präservative.« »Das spricht nicht gerade für Selbstmord«, gab ich dem Arzt Recht. »Wieso nicht?« Bondt zuckte mit den Schultern. »Schließlich sind die Dinger nicht benutzt.« »Dürfte ich das Thermometer noch einmal sehen?«, hielt ich Kirschbaum auf, der den Beutel schon wegpacken wollte. »Das ist kein Thermometer.« Der Arzt schien uns beide für begriffsstutzig zu halten. »Wenn Sie die Spitze abnehmen, können Sie damit schreiben.« Auf dem Schreiber stand Medizep. Das kam mir bekannt vor. »Wissen Sie, wir hatten da einen Anruf«, sagte Bondt. »Der Mann behauptete, belegen zu können, dass wahrscheinlich alles mit dem Film zusammenhängt, den die hier fabrizieren. Da geht’s um einen Fluch, der die Leute reihenweise dahinrafft.« »Ich kenne den Mann, der Sie angerufen hat, Kommissar«, nickte ich. »Für ihn ist das Gemetzel so eine Art Werbekampagne.« »Schöne Werbung.« »Sie sollten sich lieber den Kugelschreiber genauer ansehen.«
»Wir werden uns alles genauer ansehen.« Bondt war nicht sehr angetan. »Aber das Werbegeschenk einer Pharmafirma bei einem toten Arzt zu finden bedeutet nicht gerade das, was man eine kriminalistische Sensation nennt.« »Bockmühl hatte den gleichen.« »Na und? Was bringt uns das?« »Eine Verbindung zwischen den beiden.« »Beide sind Ärzte. Das ist auch eine Verbindung. Beide wurden vom selben Pharmavertreter beschenkt.« »Und wenn er nur einen von beiden beschenkt hat?« »Was heißt das schon?« »Dass dieser Pilgrim Bockmühls Kumpel war.« »Na ja«, Bondt lächelte und bewegte dabei den Pickel neben seinem Mund. »Wenn’s nach dem geschätzten Kollegen Mattau geht, dann hat der Regisseur Bockmühl umgebracht.« »Andro Steck?« Eine seltsame Idee, doch übte sie eine unwiderstehliche Anziehung auf mich aus. »Wie kommt er denn darauf?« »Fragen Sie mich nicht, Herr Voss. Aber Scherz beiseite. Ihr Tipp mit der Schutzgelderpressung war heißer.« »Den fanden Sie doch besonders amüsant.« »Gestern haben wir einen Typen aufgegriffen, der zunächst ziemlich zugeknöpft war. Dann haben wir ihm einen Deal angeboten, worauf er uns was über die Napolisierung Westfalens erzählte.« »Über was?« »Napolisierung. Von Neapel. Wo in unserer Stadt alles so vorbildlich organisiert ist, sind gewisse Kreise offenbar der Auffassung, dass auch das Verbrechen nicht zurückstehen sollte.« »Verstehe kein Wort.« »In einer Stadt, in der vor allem Lehrer und Therapeuten leben, kommen Sie mit Drogengeschäften und Prostitution
nicht weit.« Bondt zückte ein Briefchen Pfefferminzbonbons und schlürfte eins mit dem Mund aus der Packung. »Ich nehme an, dass die Ärzte nur der Anfang sind. Später wird es Anwälte erwischen. Und wenn es nach mir geht, Herr Voss, dann kommen auch Immobilien- und Versicherungsmakler dran.« »Das hört sich nicht so an, als wollten Sie ein Verbrechen aufklären«, sagte ich. »Eher, als wollten Sie eins planen.« In meinem Nacken juckte es. Ich langte mit der Hand hin und erwischte ein schwarzes wurmförmiges Tier mit vielen kurzen Beinchen. Als ich es hochhielt, rollte es sich zu einer Kugel zusammen. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, Kommissar«, sagte ich, »dann würde ich mich gern etwas frisch machen.« Bondt ergriff die Hand, die ich ihm bot, ohne zu zögern. »Wundern Sie sich nicht, wenn Sie demnächst Kundschaft bekommen.« Ich winkte zum Abschied und der Kommissar starrte auf seine schlammverschmierte Hand. Voller Ekel hielt er sie weit von sich, als fürchte er, dass sie nach ihm schnappen könnte. Auf dem Weg zu meinem Fahrrad, das jemand gegen einen Baum gelehnt hatte, traf ich Tatjana de Vito. Sie wurde von einer Gruppe Teenagern umringt und verteilte Autogramme. So wie die Jugendlichen mich anstarrten, als ich mich näherte, schienen mich die Girls für das ›Ding aus dem Sumpf‹ zu halten. In Sorge um ihr makelloses Outfit verkrümelten sie sich fluchtartig. »Sie sehen ziemlich beschissen aus«, begrüßte mich Tatjana. »Das bringt der Job so mit sich. Man will seine Arbeit gut machen, aber am Ende fühlt man sich nur schmutzig. Bei Ihnen ist das doch nicht anders.« Leichte Irritation mischte sich in ihre Stimme. »Wovon sprechen Sie?«
»Davon, was man alles tun muss, um eine Hauptrolle in einem solchen Film zu ergattern.« Tatjana fixierte mich misstrauisch. »Was man tun muss?«, wiederholte sie und erinnerte mich an Terjung. »Man muss einfach nur gut sein.« »Sicher«, sagte ich. »Aber wenn dieser fromme Glaube an den Sieg der Besten nicht reicht? Zum Beispiel, weil es mehrere gibt, die einfach nur gut sind?« Tatjana verwandelte sich wieder in das arrogante Starlet. »Was wollen Sie damit andeuten?« »Man hört schließlich immer wieder, dass der Weg zum Ruhm über die Couch des Regisseurs führt.« Die Häme in mir war wie eine Welle, die mich unaufhaltsam mit sich fortspülte. Tatjanas Augen wurden zu Schlitzen. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mit dem…?« »Und was ist mit Ihrer Schwester?« »Ich wüsste nicht im Geringsten, was Sie das angeht«, erwiderte sie kalt. »Meinen Informationen zufolge hatte Lawinia zuerst etwas mit Ihrem Chef. Dann waren Sie dran und Lawinia verschwand irgendwie von der Bildfläche. So etwas macht einen doch nachdenklich.« Tatjana schüttelte den Kopf. Sie musterte mich mit offener Abneigung. »Sie denken vielleicht, es ist die Fantasie, die mit Ihnen durchgeht, aber Sie irren sich. Es ist Ihr Neid. Sie kommen nicht klar damit, dass attraktive Männer ohne weiteres bei einer Frau landen können, während Sie Ihr Leben in der Warteschleife zubringen, hab ich Recht?« »Ich versuche nur, Ihnen zu helfen«, erwiderte ich wenig überzeugend. »Helfen!«, spottete sie. »Bleiben Sie lieber bei dem, was Sie können: andere belauschen und durch fremde Schlüssellöcher sehen.«
Damit ließ sie mich stehen. Als sie über den Rasen stapfte, kam Kurd Ingolf ihr entgegen und sprach sie an. Aber der Arme hatte sich schon wieder den falschen Augenblick ausgesucht. Tatjana fertigte ihn mit ein paar knappen Bemerkungen ab, die wie Ohrfeigen herüberschallten. Kurd sah ihr verdattert nach. Dann bemerkte er mich und wich voller Respekt zurück, als sei ich Bancoes Geist, der ihn aus dem Reich der Toten heimsuchte. Ich deutete in Richtung Tatjana. »Faszinierend, diese Frau, nicht wahr?« »Die ist doch krank«, stieß er wütend hervor. »Völlig neben der Spur. Was die braucht, ist ein Arzt.« »Tatjana ist nicht krank«, widersprach ich, »sondern führt sich nur so auf.« Ich grinste versöhnlich. »Also braucht sie auch keinen Arzt, sondern höchstens einen, der sich wie einer aufführt.«
10
Nicht dass ich neidisch gewesen wäre. Tatjana war auf dem völlig falschen Dampfer. Auf wen denn auch? Seit ich den großen Regisseur kennen gelernt hatte, dankte ich Gott dafür, dass er mich nicht so gemacht hatte wie ihn. Ich war froh, kein eitler Hohlkopf zu sein, der den Sinn seiner Existenz offenbar ausschließlich darin sah, viel Geld in schlechten Filme zu verschwenden, nur um sämtliche Darstellerinnen flachzulegen. Sobald ich zurück in Kittels Büro war, griff ich zum Telefon. »Ja?«, hörte ich Mattaus Stimme. »Voss hier.« »Dann haben Sie sich also doch entschlossen«, freute sich der Exkölner, »unserer kleinen Truppe beizutreten.« »Leider muss ich Sie enttäuschen. Ich würde Sie nur gern etwas fragen.« »Wissen Sie, ich bin gerade auf dem Sprung. Treffen wir uns doch im Kreativhaus, da ist unser Proberaum. Fragen Sie einfach nach den Stadtmusikanten.« Da ich mich immer noch nicht so recht auskannte, fuhr ich geradewegs in die Innenstadt, was nicht nur ein Fehler hinsichtlich der Richtung war. Ich verhedderte mich in einem Labyrinth neuer Baustellen. An allen Ecken baggerte, hämmerte, schabte und dröhnte es. Hinter Absperrungen gähnten riesige Löcher in den Straßen und die gestern noch malerischen mittelalterlichen Gässchen hallten wider vom verzweifelten Hupen der Autos, die man unter dem Vorwand einer Umleitung in eine Sackgasse gelockt hatte. Während ich mich bemühte, mit dem Rad in Richtung Ostviertel zu entkommen, stellte ich mir vor, dass das antike Pompeji nicht
vom Vesuv zerstört worden war, sondern von einer Armee abreißwütiger Baustellenfahrzeuge, die sich über Nacht rund um die Stadt zusammengerottet hatten, um über die Bewohner herzufallen und keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Kittel hatte einmal erwähnt, dass das Kreativhaus für die hiesige Selbstverwirklichungsgemeinde so etwas wie eine heilige Stätte darstelle. Es gab so gut wie keine Tätigkeit, die man dort nicht als kreativen Kurs belegen konnte, ob es nun Voodoozaubern war, sozialkritisches Trommeln, biologischdynamisches Tanzen, rückwärts Einparken für Frauen oder Im-Sitzen-Pinkeln für Männer. Mattau mit seiner ausgewachsenen Antipathie gegen alles Sinnträchtige hätte ich dort nicht vermutet. Er empfing mich in einem kleinen Raum ganz oben im Dachgeschoss. Draußen war es sommerlich warm, hier drin war es stickiger als in Kittels Büro. Ein penetranter Zwiebelgeruch weigerte sich, durch das lukenartige Dachfenster abzuziehen. In der Mitte des Raums standen ein Tisch und zwei Stühle. Auf dem Tisch lag ein Rest von Mattaus berühmten Butterbroten – die Geruchsquelle – und daneben stand ein Pappbecher mit Kaffee. »Wir machen nicht nur Musik«, erklärte Mattau kauend, »ab und zu gibt es auch ein bisschen Theater. Deshalb das kleine Bühnenbild.« »Stadtmusikanten«, sagte ich naserümpfend und setzte mich an den Tisch. »Irgendwo habe ich den Namen schon mal gehört.« »Die Bremer Stadtmusikanten.« Mattau nahm gegenüber Platz, schnappte sich das Butterbrot und deutete damit auf mich. »Sie denken vielleicht, das ist nur ein Märchen.« Er biss hinein und redete mit vollem Mund. »Aber das ist es nicht, jedenfalls nicht nur, sondern auch eine… schoot-schiale Idee.
Ein Appell an… arme Schweine, die auf… Müllhaufen der Geschellschaft… ihr Schickschal… Hand tschu nehmen.« »Eigentlich bin ich nicht deswegen hier.« Mattau schluckte seinen Bissen hinunter und ich verstand wieder mehr von dem, was er sagte. »Sie, Voss, beschäftigen sich damit, Verbrechen aufzuklären. Es gibt aber Verbrechen, die sind mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen. Um die sollte sich auch jemand kümmern.« Er grinste. »Womit wir zu dem kämen, was Sie hergeführt hat.« »Sie reden in Rätseln.« »Sie kommen wegen Andro Steck, stimmt’s oder hab ich Recht?« Ich nickte beeindruckt. »Mich interessiert, wieso Sie ihn für den Ärztemörder halten.« »Nicht für den Ärztemörder. Dieser Bockmühlfall, verstehen Sie? Der lässt mich nicht los. Bockmühl und Steck haben sozusagen Lore Bockmühl auf dem Gewissen.« »Aber sagten Sie nicht, dass sie Selbstmord beging?« Mattau betrachtete mit ernstem Blick die Stulle in seiner Hand. Es sah so aus, als ob er mit ihr sprach und nicht mit mir. »Wissen Sie, der Doktor war mein Klient. Ich war derjenige, der alles aufdeckte, also bin ich an der Tragödie nicht ganz unschuldig.« »Ich bin sicher, Sie haben nur Ihren Job getan, Herr Kommissar«, beschwichtigte ich hilfsbereit. »Lore war überzeugt davon, dass ihr Mann ihr nach dem Leben trachtete. Dass er ihr Medikamente verabreichte.« »Aber das hat er nicht getan. Sonst wäre es ja Mord gewesen.« »Trotzdem. Sie hätten die arme Frau sehen sollen. Das wandelnde Elend.« »Hört sich so an, als ob Sie sie näher kannten.«
»Lore war ein besonderer Mensch«, schwärmte der Exkommissar. »Wenn auch ein wenig naiv. Der Doktor hielt seine Pillenoffensive für eine Therapie. Die Diagnose lautete: Andro Steck. Erst verabreichte Bockmühl Medikamente, und als das nichts half, griff er zu härteren Maßnahmen.« »Was meinen Sie damit?« »Steck ist nicht nur krankhaft nachtragend und in gemeingefährlichem Maße eifersüchtig, sondern außerdem über beide Ohren verschuldet. Also schickte er Lore in diese Millionärsshow, um sein Finanzloch zu stopfen. Falls Sie da nicht mehr weiterwissen, dürfen Sie einen Bekannten anrufen, der die richtige Antwort auf die Frage weiß. Steck hat aber nichts in der Birne, also rief sie ihren Mann an. Ein Fehler, denn Bockmühl konnte sich natürlich denken, dass sie das Geld für ihren Lover ergattern wollte. Deshalb ließ er sie bei der Millionenfrage ins offene Messer laufen. Die Frau verzockte das Geld und Andro, der sich verspekuliert hatte, schrammte mit seinem Laden haarscharf an der Pleite vorbei.« »Eine tragische Geschichte.« »Frau Bockmühl wollte zu ihrem Mann zurück, aber Steck ließ sie nicht gehen und drohte, sie umzubringen, falls sie auch nur daran denken sollte. Bockmühl gab ihr seinerseits zu verstehen, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.« »Auch wenn jemand diese Frau zum Selbstmord getrieben haben sollte, ist das kein Verbrechen.« »Sie sagen es, Voss. Hier kommen die Stadtmusikanten ins Spiel.« Mattau deutete auf die Packung Zigaretten in meiner Hand. »Hier dürfen Sie leider nicht rauchen.« Er wedelte mit seinem Zwiebelsandwich. »Wegen der schlechten Luft, verstehen Sie?« »Wieso die Stadtmusikanten?«, fragte ich. »Zufällig ist Frau Bockmühls Schwester ein Mitglied unserer Gruppe. Ich finde, sie hat ein Recht auf eine kleine
Entschädigung für ihren Verlust, wer immer ihn ihr zugefügt hat.« »Sie glauben also, dass Andro Steck den Arzt aus Rache für seine Geliebte ermordete?« Mein Gegenüber griff nach seinem Kaffee. »Wieso wollen Sie das eigentlich wissen?« »Alles deutet darauf hin, dass die tragische Geschichte zwischen Steck und Frau Bockmühl nicht die einzige tragische Geschichte ist, an der Steck beteiligt war.« Ich grinste. »Und ich dachte mir: Könnte nicht schaden, wenn der arrogante Sack auch was mit dem Bockmühlmord zu tun hätte.« »Tja, dann machen Sie mal.« Mattau klatschte aufmunternd in die Hände, wobei er die Butter, die an seinem Daumen klebte, wie Seife auf den Handflächen verteilte. »Ich drücke Ihnen die Daumen.« »Aber leider kommt Steck nach der neuen Sachlage als Täter nicht mehr in Frage.« »Nach welcher Sachlage?« »Es gibt einen zweiten Toten und höchstwahrscheinlich einen zweiten Mord. Der Bedauernswerte ist ebenfalls Mediziner.« »Dr. Pilgrim. Ich hörte davon.« Mattau nickte. »Der Ärztemangel wird also doch nicht bloß herbeigeredet.« »Wenn Sie mich fragen, gibt es zwischen Bockmühl und Pilgrim einen Zusammenhang. Das sagt mir meine Schnüfflernase.« Ich klopfte zum Abschied auf den Tisch und wandte mich zur Tür. »Viel Spaß bei der Musik, Kommissar.« Mattau kaute genüsslich zu Ende, erst dann rief er mir nach: »Wussten Sie übrigens, dass der schöne Andro diesen Dr. Pilgrim kannte?« Ich blieb stehen. »Weiter«, bat ich, erwartungsvoll lauschend. »Die beiden sind Mitglieder desselben Segelclubs. Erst neulich hat es Zoff zwischen ihnen gegeben, weil Pilgrim einer
Frau den Hof machte, die Steck als sein Eigentum betrachtete, obwohl sie nichts mehr von ihm wissen wollte. Hat wohl versucht, auch sie auszunehmen.« Mattau steckte den Kopf durch die Tür und seine Hand, die sich am Rahmen festhalten wollte, rutschte auf dem Butterfilm aus. »Nur für den Fall, dass Ihnen das weiterhelfen sollte.«
Unten im Foyer stieß ich mit Mr. Spock zusammen. Er sah älter und gesetzter als bei unserem letzten Treffen aus, was daran lag, dass er ein Jackett trug, allerdings nicht so ein billiges Teil wie Kittel. Er runzelte die Stirn. »Was hat einer wie du hier zu suchen?«, wunderte er sich, als hätte er mich mit dem Rosenkranz in der Hand auf dem Weg in eine Maiandacht erwischt. »Das wollte ich dich auch fragen«, duzte ich ihn zurück. »Lass uns einen trinken«, schlug er vor. Ein paar Meter weiter gab es ein Restaurant. Wir saßen an einem Tisch auf dem Bürgersteig und sahen auf einen kleinen baumbestandenen Platz mit einigen Spielgeräten in der Mitte. »Kreativ sind in diesem Haus nicht die Leute, die was lernen«, erklärte Spock, »sondern die, die sich ausdenken, was sie lernen sollen.« »Du arbeitest also hier?« »Ja, das heißt nein. Nicht wirklich. Eigentlich sind wir beide in ähnlichen Branchen tätig«, fügte er geheimnisvoll hinzu. Ich bekam mein Bier und mein Gegenüber eine Cola. Spock prostete mir zu. »Du hängst rum und hast keinen Schimmer, was du mit deinem Leben anfangen sollst, also gehst du ins Kreativhaus und besuchst einen Kurs. Bei mir war’s Existenzgründung. Den hab ich zweimal gemacht, dann hab ich selbst einen gegeben.« Er plusterte die Backen auf und
ließ die Cola darin gluckern, bevor er sie hinunterschluckte. »Wenn du überleben willst, machst du so manches.« »Zum Beispiel?« »Aufträge erledigen.« »Aufträge? Was für Aufträge?« »Gewisse Aufträge für Auftraggeber, die meist nicht genannt werden wollen.« »Hört sich ziemlich mysteriös an.« »Ist es auch.« Spock hielt mir seine Hand hin. »Siehst du das Zittern?« Die Hand machte keinen Mucks, also schüttelte ich den Kopf. »Ich sehe auch nichts«, bestätigte er. »Aber in meinem Alter kriegst du nicht mehr so leicht Aufträge. Wieso? Weil sie dir nicht glauben, dass du immer noch eine ruhige Hand hast. Verrückt, vor allem wenn man bedenkt, dass die traditionelle Art mit der Kanone heutzutage kaum noch nachgefragt wird. Stattdessen Unfälle. Jemanden mit dem Auto überfahren, von einer Klippe stürzen, so was in der Art. Ein Mord, der keiner ist. Damit kannst du richtig Knete machen.« »Jetzt hör bloß auf.« Ich glotzte ihn ungläubig an. »Du willst mir doch nicht etwa erzählen, dass du für Geld Leute umbringst.« »Wir sind uns ganz ähnlich, sagte ich ja. Ich erledige gewisse Aufträge und du bist hinter Leuten her, die gewisse Aufträge erledigen.« Das Bier in meinem Glas sah plötzlich schal aus. »Ha ha, angeschmiert!« Spock stieß mich an und grinste über beide Backen. »Du bist aber leicht zu verarschen. Was denkst du wohl, warum ich beim großen Steck angeheuert habe?« Ich war beleidigt. »Weil du keine Aufträge mehr kriegst, hast du doch gesagt.« »Weil ich die Idee zu einem Thriller der Spitzenklasse hatte. Und wie man ihn vermarktet.«
Noch einmal würde er mich nicht reinlegen. »Klar, du hast das Drehbuch geschrieben, wer sonst?« »Seit wann hat denn die Idee irgendetwas mit dem Drehbuch zu tun?«, belehrte er mich. »Quatsch. Das hat der schöne Andro selbst erledigt.« Ich nutzte die Gelegenheit: »Wie gut kennst du ihn eigentlich?« »Andro?« Spock klingelte mit den Eiswürfeln in seinem Glas. »Der ist nicht mehr gestört als die anderen in der Firma. Na ja, vielleicht ein bisschen mehr. Aber sonst ganz in Ordnung.« Das war so ziemlich das Letzte, was ich hören wollte. »Soviel ich weiß, ist er pleite und hat die Angewohnheit, Frauen aufzureißen, nur damit sie ihm Geld verschaffen.« »Du hast nicht zufällig etwas gegen den Mann?« »Nein, wieso. Es handelt sich um rein berufliches Interesse.« »Völlig klar.« Die leicht ironische Art, wie er ›völlig klar‹ sagte, störte mich ein wenig. »Du hast ihn doch neulich fotografiert, als er mit Tatjana draußen am Baggersee war.« »Wen, Andro?« Spock legte zweifelnd den Kopf schief. »Ich habe keine Ahnung, wer der Typ war. Der war viel zu weit weg.« »Jetzt komm schon. Wer soll es denn sonst gewesen sein?« »Was weiß ich? Wieso ist das überhaupt so wichtig für dich?« »Es könnte mir bei dem Fall weiterhelfen, an dem ich arbeite.« »So, so, bei deinem Fall.« Spock stülpte amüsiert die Lippen vor. »Jetzt kapiere ich allmählich.« »Kapierst was?« »Was du gegen den Mann hast. Du bist scharf auf die Braut, also kaufst du mir die Fotos ab, um bei ihr zu landen. Nur was
ist drauf? Ein Typ, den du für Andro Steck hältst, mit Tatjana bei intimen Planschereien.« »Blödsinn.« »Heh, als guter Detektiv würde ich an deiner Stelle nicht mit dem Schwanz denken.« Unser Gespräch befand sich an einem Punkt, an dem es besser war, wenn einer von uns beiden sein Glas ohne Gesellschaft austrank. »Ich muss jetzt los«, brummte ich, stand auf und kramte mein Geld hervor. Spock wirkte enttäuscht. »Warum hast du es plötzlich so eilig?« »Ich muss noch zum Fotografen«, sagte ich. »Der soll für mich eine Detailvergrößerung anfertigen.«
11
Es war eine Fotografin. Sie war jung und sah gut aus. »Ich kann Ihnen nichts versprechen«, sagte sie kühl. Ihre anfängliche Freundlichkeit hatte sich in nichts aufgelöst, seit sie einen Blick auf die Bilder geworfen hatte. Zwar hatte ich ihr versichert, dass ich ausschließlich berufliches Interesse an den Abzügen hatte, aber sie glaubte mir kein Wort. »Die Qualität der Aufnahmen ist nicht besonders gut«, erklärte sie. »Bei einer starken Vergrößerung wird wahrscheinlich alles unscharf.« »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es trotzdem versuchen würden.« »In diesem Fall müsste ich auf einer Anzahlung bestehen.« Ich kramte in meinem Portmonee, fand aber keinen Schein. Warum war ich nur so dämlich gewesen, Terjung seinen Vorschuss wieder zurückzugeben? Ich packte die Abzüge ein, suchte mir eine Telefonzelle und rief Kittel auf seinem Handy an. »Was gibt’s, Henk?« Mein Expartner klang sehr beschäftigt. »Nichts Wichtiges. Nur eine kleine Sache: Könntest du mir Geld leihen?« »Wozu?« »Kittel, wozu braucht man wohl Geld?« »Du hast doch einen Fall. Hol dir von deinem Klienten einen Vorschuss.« »Seit wann bist du so knickerig? Gib deinem Beamtenherzen einen Stoß.« »Geht leider nicht. Ich bin gerade in einer Besprechung.« »Sag das nochmal.«
»Komm doch heute Abend zu diesem Italiener. Da können wir reden.« »Und was ist mit den Scheinen?« Er hatte schon aufgelegt. Schräg gegenüber gab es einen zweiten Fotoladen, also versuchte ich mein Glück bei der Konkurrenz. Der Mann hinter dem Tresen, ein korpulenter Mittfünfziger, hatte es zunächst überhaupt nicht eilig, aber das änderte sich, sobald er einen prüfenden Blick auf Tatjana de Vito geworfen hatte. »Die Bildqualität ist leider nicht sehr gut«, sagte ich. »Das dürfte eigentlich kein Problem sein.« »Könnte sein, dass alles unscharf wird«, gab ich zu bedenken, »wenn man es zu stark vergrößert.« »Ach, was!« Der Fotograf strahlte Zuversicht aus. »Das wäre ja gelacht. Schärfer als das da kriegen wir es auf jeden Fall hin.« Er deutete auf ein schemenhaftes Porträt in einer Zeitung, die vor ihm auf dem Tresen lag. »Wenn Sie wollen, können Sie die Bilder morgen abholen.« Ich war überrascht, hier die Kölner Rundschau herumliegen zu sehen. Das Bild, auf das der Fotograf gezeigt hatte, schien mit einer Spezialkamera aus dem Weltall aufgenommen worden zu sein. Es zeigte nichts als den dunklen Umriss eines Kopfes vor weißem Hintergrund, der für mich dennoch etwas Vertrautes hatte. Ich faltete das Blatt auseinander und stieß zu dem dazugehörigen Artikel vor. RÄTSELRATEN UM AXEL V. Nach wie vor geht die Kripo davon aus, dass sich der Millionärssohn und Krimiautor in den Händen der Kölschen Bömbcher befindet, einer radikalkarnevalistischen Splittergruppe, die sich vor einigen Jahren von den Roten Funken abspaltete und erst letztes Jahr durch einen
spektakulären Anschlag auf den Rosenmontagszug von sich reden machte. Angeblich beschuldigt sie Vollmer, in seinem Roman die Karnevalsidee verunglimpft und zudem mit kölschfeindlichen Kräften in Leverkusen kollaboriert zu haben. Ein Gerücht, demzufolge Vollmer gar nicht entführt worden sei, sondern auf der Insel Tobago einen Luxusurlaub verbringe (Foto), konnte bislang nicht bestätigt werden. Walther G. Vollmer, der der Polizei Untätigkeit vorwirft, setzte inzwischen ein Kopfgeld für die Ergreifung der Täter aus. Der Presse erklärte er, er werde schon bald geeignete Mittel ergreifen, um die Entführer seines Sohnes zur Verantwortung zu ziehen, und deutete an, über Verbindungen zu verfügen, die ihn in die Lage versetzten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, was zwar ungesetzlich, dafür aber sehr effektiv sei. Der Ladeninhaber überließ mir die Rundschau und ich suchte mir auf der Promenade eine sonnige Bank. Dort las ich den Artikel bei einer Zigarette noch ein paarmal durch. Tobago. Ich erinnerte mich, dass Axel einmal von dieser Insel geschwärmt hatte. Es war einer von den wenigen Abenden gewesen, an denen wir gemeinsam einen trinken waren, und das einzige Mal, dass unsere Plauderei über Frauen nicht nach kurzer Zeit bei seiner Mutter geendet hatte. Alkoholisiert hatte er mir mehrmals versichert, dass er das Stadt- und brauchtumsverbundene Leben satt sei und sich eigentlich nur eins wünsche: Strand, Sonne, schöne Frauen und ein Land, in dessen Sprache die Worte Dom, Kamelle und Klüngel nicht vorkamen. Walther G. Vollmer, der besorgte Vater, war möglicherweise das Opfer eines dreisten Schwindels geworden. Spock hatte sicher nicht Recht damit, dass man mit dem Schwanz denken konnte. Aber ich musste zugeben, dass ich mich in eine persönliche Antipathie verrannt hatte und meine
Zeit damit verplemperte, ohne jeglichen Auftrag hinter einem Kotzbrocken namens Andro Steck herzuschnüffeln, der sich hauptsächlich durch den Umstand verdächtig machte, dass ich ihn nicht ausstehen konnte. Damit musste Schluss sein. Schon morgen würde ich Axels Daddy einen Besuch abstatten und ihn mit guten Argumenten dazu bringen, das Kriegsbeil gegen mich zu begraben.
Kurz vor sieben traf ich Kittel in der Trattoria Berlusconi. Es war ein schöner Abend. Das goldene Licht der tief stehenden Sonne und der Duft von Knoblauch und Basilikum hätten mich irgendwo ans Mittelmeer versetzen können, wäre nicht die Promenade gegenüber gewesen, die der Idylle keine Chance gab, da sie von sportlichen Aktivitäten aus allen Nähten platzte. Skater kurvten, Jogger schwitzten, Radfahrer klingelten und Walker rempelten. Weitaus die meisten führten gleichzeitig Telefongespräche, was den Lautstärkepegel noch höher schraubte. Mitten im feierabendlichen Trubel stand eine Inlineskaterin, die sich erbittert mit einem Hundebesitzer stritt, weil das Tier auf die Promenade geschissen hatte und sie mittendurch gesaust war. Das Mittelmeer war weiter als nur Welten entfernt. »Ich hab jetzt auch einen Fall«, teilte mir Kittel mit, bevor ich dazu kam, ihn um Geld für eine Fahrkarte anzupumpen. Er hatte sein H&M-Jackett über die Rückenlehne seines Stuhls gelegt und trug ein grünlich schimmerndes Hemd mit gebügeltem Kragen und Schwitzflecken unter beiden Armen, wie um zu belegen, dass er einen harten Arbeitstag hinter sich hatte. Er ähnelte einem Tanzbären, dem man eine Krawatte umgebunden hatte. Ich hasste diese Marietta dafür, dass sie aus meinem Expartner eine Witzfigur gemacht hatte.
»Einen Fall?«, wunderte ich mich. »Was versteht ein Schreibtischlöwe wie du wohl darunter?« Mit seinem Blick gab Kittel mir zu verstehen, dass er diese Art von Anspielungen satt war und zur Strafe nicht weitererzählen wollte. »Na schön«, lenkte ich ein. »Also, was für einen?«
»Ein Mann, der fremdgeht. Eine Frau, die will, dass ich
herausfinde, mit wem.« »Ganz schön spannender Job.« »Vielleicht nicht so spannend, dafür aber wichtig.« »Außerdem bringt er Knete.« Kittel nahm sein Bier in Empfang. »Das nicht gerade.« »Keine Knete? Wieso nicht?« »Weil ich kein Geld nehmen werde.« »Lass mich raten: Nachdem du erst dein Leben den Mülleimern gewidmet hast, stellst du nun deine Schnüfflerkünste ehrenamtlich einer Pfarrgemeinde zur Verfügung.« Mein Expartner verzog keine Miene. »Ich sehe die Angelegenheit auch eigentlich nicht als Fall an. Es ist eher ein Gefallen. Natürlich würde Marietta mich bezahlen, wenn sie wüsste, dass ich – « »Moment! Deine Klientin ist diese Marietta? Ihr Typ hat eine andere?« »Sie ist nicht meine Klientin.« »Völlig klar, Kittel. Weil du kein Geld von ihr nimmst.« »Aber ich werde trotzdem mein Bestes geben.« »Übrigens hat sie auf deinen Anrufbeantworter gequatscht.« Kittel nickte. »Ich weiß.« »Was meinte sie eigentlich damit: Vergiss nicht den gelben Sack?« »Eine Abendveranstaltung bei den Stadtwerken, die wir gemeinsam besucht haben: Kloake oder gelber Sack – das
Entsorgungsverhalten der abendländischen Gesellschaft vom Spätmittelalter bis zur Aufklärung. Du brauchst gar nicht zu grinsen, Henk.« »Mach ich nicht.« »Nein, machst du nicht. Du findest das alles überhaupt nicht zum Lachen.« »Sollte es das etwa sein?« »Ob du’s nun wahrhaben willst oder nicht, Henk: Die Entsorgungsfrage wird eine der entscheidenden des einundzwanzigsten Jahrhunderts sein. Und Abfallvermeidung wie auch -trennung die Antworten darauf.« Wehmütig erinnerte ich mich an zu Hause, wo niemand daran dachte, Müll zu trennen. Im Innenhof direkt vor meinem Küchenfenster stand ein rostiger Müllcontainer auf Rädern, der von einem Steakhaus, einem Kiosk und einem Nobelrestaurant gemeinsam genutzt wurde. Der Mann vom Kiosk warf bündelweise alte Zeitungen hinein und das Steakhaus steuerte Tiergerippe und abgenagte Knochen bei. Darüber goss ein Angestellter des Nobelrestaurants literweise Saucen, Creme fraiche und Bouillabaisse. Der Container galt unter Millionen von Fliegen als Geheimtipp. An langen Sommerabenden, wenn im Restaurant Hochbetrieb herrschte, krabbelten Lebewesen in dem Behälter herum, von deren Existenz selbst die abgebrühtesten Zoologen nichts wissen wollten. Und weit oben kreisten die Vögel wie Geier im peruanischen Hochland. »Soviel ich weiß, Kittel«, sagte ich, »bist du der einzige Philosoph, der die Grundfrage des Daseins mithilfe von Jogurtbechern beantwortet.« »Sehr witzig.« »Hab ich dir schon gesagt, dass ich zurückfahre?« »Nein. Wann?« »Morgen schon.« »Warum?«
»Weil ich keinen Fall mehr habe. Außerdem habe ich vergessen, den Müll rauszustellen.« »Und was ist mit Vollmers Daddy?« »Zufällig habe ich heute herausgefunden, dass sein Söhnchen ihn nach Strich und Faden verarscht. Und das werde ich ihm sagen.« »Und dann, meinst du, wird er dich nicht mehr umbringen wollen?« »Warum sollte er?« »Vielleicht weil er dir nicht glaubt.« »Du kannst dem Mann voll vertrauen. Er hat eine grüne, eine gelbe und eine rote Tonne vor dem Haus stehen und wirft nichts hinein, das er nicht vorher sorgfältig gespült hat.« Kittel zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Deshalb wolltest du mich sprechen?« Ich nickte. »Vor allem wegen der Fahrkarte. Die kostet ja Geld und außerdem wäre ein kleiner Starthilfekredit nicht schlecht.« Er bezahlte außerdem noch mein Bier. »Du hast also keine Lust, meinen Laden für eine Zeit lang am Laufen zu halten?« »Falls du deine gelben Säcke mal leid bist«, entgegnete ich, »dann ruf mich an. Vielleicht könnten wir mal wieder zusammen einen Fall übernehmen. Nur so zur Abwechslung.« Kittel erhob sich. Während er sein Jackett anzog, wehte der Duft seines Rasierwassers herüber sowie der Beweis, dass die Schwitzflecken auf seinem Hemd echt waren. »Warum rufst du diesen Vollmer nicht von hier aus an?«, schlug er vor. »So könntest du ganz leicht herausfinden, wie gut er auf dich zu sprechen ist.« Ich hielt es für keine gute Idee, so unerwartet mit der Tür ins Haus zu fallen. Aber vielleicht konnte es nicht schaden, meinem Anrufbeantworter per Fernabfrage einen Besuch abzustatten.
Während der Kellner unsere leeren Gläser abräumte, borgte ich mir Kittels Handy. Es waren neun Anrufe eingegangen. Die raue, männliche Stimme sprach mit einem Akzent, ich konnte nicht sagen, mit welchem. Anfangs erklärte sie, im Auftrag des Herrn Vollmer anzurufen, und bat höflich um Rückruf, dann wurde sie ungeduldiger und warnte mich, dass es keinen Sinn habe, nicht ans Telefon zu gehen. Das könne die Sache weder aufhalten noch aus der Welt schaffen, weshalb er sich und mich frage, was ich eigentlich damit bezwecke. Am Ende klang sie nur noch unverschämt. »Du musst das verstehen, Voss«, erklärte sie beim letzten Anruf. »Ich weiß, wo du bist. Und du weißt nicht, wer ich bin. Jedenfalls werde ich dich finden. Mach schon, warum sich tot stellen, wenn man genauso gut tot sein kann? Denk mal drüber nach. Ich warte hier auf dich. Und wenn du nicht kommst, finde ich dich, egal wo du bist.« »War was drauf?«, erkundigte sich Kittel. »Nur das Übliche. Nichts von Bedeutung.« Vollmer musste sich schon etwas mehr einfallen lassen, als preisgünstige Gorillas anzuheuern, die mir mit ihrer belegten Stimme Angst einjagen wollten. »Sehen wir uns morgen noch?«, fragte mein Expartner. »Klar, wenn du mich zum Bahnhof bringst.« »Geht leider nicht. Morgen habe ich einen harten Tag. Vormittags Teambesprechung und dann wollte ich Marietta treffen wegen dieser Sache…« »Verstehe. Also mach’s gut.«
In der Nacht ließ ich mir die Anrufe durch den Kopf gehen. Eigentlich habe ich einen guten Schlaf, aber nach etwa einer halben Stunde machte mir die Luft in Kittels Büro zu schaffen.
Der Donnerstagmorgen begann trübe und nicht sehr viel versprechend, aber mir war inzwischen klar geworden, dass der Mann am Telefon Unrecht gehabt hatte. Ich würde es wie Axel Vollmer halten: Spurlos verschwunden war immer noch besser als tot sein. Lieber ertrug ich noch ein paar Tage den Geruch von Haarwasser und Altkleidern, als mich auf den Präsentierteller zu begeben, sodass der größenwahnsinnige Vollmer Gleiches mit Gleichem vergelten konnte. Halb zehn. Zeit, um Brötchen fürs Frühstück zu holen. Als ich auf die Straße trat, stieß ich mit einem Mann zusammen, der offenbar gerade hereinwollte. Er streckte mir die Hand entgegen: »Herr Voss?« Ich nahm die Hand und schüttelte sie mechanisch. Der Mann war klein, schätzungsweise Mitte dreißig und hatte ein Mondgesicht, das von dunklen Locken eingerahmt wurde. »Dr. Wackernagel«, stellte er sich vor und deutete auf Kittels Büro. »Kann ich Sie sprechen?« »In welcher Angelegenheit?« »Herr Bondt von der Kriminalpolizei hat Sie mir wärmstens empfohlen.« »Bondt?«, wunderte ich mich. »Wie kommt der denn dazu?« »Es geht um die Ärztemorde. Der Kommissar meinte, dass Sie an diesem Fall ohnehin schon arbeiten und mir sicher einen guten Preis machen würden, wenn ich aufspringe.« »Was meinen Sie mit aufspringen?« »Das würde ich Ihnen lieber drinnen erklären.« Ich ließ ihn eintreten, verschob die Brötchen auf später und gönnte mir stattdessen eine Zigarette. »Bevor Sie weiterreden«, eröffnete ich meinem ungebetenen Gast, »muss ich Ihnen sagen, dass der Kommissar Sie nicht korrekt informiert hat. In beiden Mordfällen befand ich mich nur zufällig am Tatort, weil ich in einem ganz anderen Fall unterwegs war. Und aus dem bin ich jetzt auch raus.«
Wackernagel gehörte offenbar zu den Leuten, die kein Einwand aus dem Konzept bringen kann, weil sie ihn grundsätzlich ignorieren. »Ich denke dabei nicht nur an mich«, erklärte er, ohne zu erwähnen, wobei. »Auch an meine Kollegen und meine Patienten, die mir unbedingt vertrauen und die mich brauchen.« Nie und nimmer hätte ich diesen Mann für einen Arzt gehalten. Wäre seine Jeansjacke nicht so abgewetzt gewesen, hätte ich eher an einen geschniegelten TV-Frisör gedacht oder den Animateur eines Veranstalters für abgefahrenen Cluburlaub. »Ich verstehe mich nicht als Arzt im schulmedizinischen Sinn«, erklärte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. In Erwartung einer Stellungnahme sah er mich herausfordernd an. »Keine Ahnung«, wich ich aus. »Wir hatten in der Schule keine Medizin.« »Die Naturheilkunde geht davon aus, dass alles miteinander zusammenhängt, aufeinander bezogen ist, miteinander schwingt, verstehen Sie? Krankheit, Gesundheit – das ist oft Definitionssache und nicht nur das. Es hat auch mit den Meridianen zu tun.« »Ich habe meistens mit Leben oder Tod zu tun. Das ist keine Definitionssache.« Der Heilkundige runzelte die Stirn, für einen Moment unsicher, ob ich ihn veräppeln wollte. Dann lächelte er wieder. »Damit meine ich, dass Krankheit eine Infragestellung der eigenen Biografie ist. Das ganze Leben fragen wir uns doch: Wer bin ich, wo komme ich her?« »Und weshalb sind Sie hier?«, nutzte ich geistesgegenwärtig die Gelegenheit. Der Doktor schluckte, dann hob er beide Hände zum Zeichen, dass er verstanden hatte und zur Sache kommen wollte. »Zwei Kollegen von mir wurden ermordet. Dr. Bockmühl und Dr.
Pilgrim. Sie waren nicht nur Kollegen, sondern Weggefährten. Freunde von mir. Auch wenn sie den schmalen Pfad der Naturheilkunde verließen, um die breite Straße der Schulmedizin zu befahren. Beide wurden brutal ermordet. Ich bin hier, weil ich Hilfe brauche. Schutz. Einen Mann, der es versteht, zwischen den Zeilen dieser Mordfälle zu lesen und damit Aspekte wahrzunehmen, die die Polizei mit ihren schulmedizinischen – Verzeihung: konventionellen Methoden außer Acht lässt.« »Wovor soll ich Sie schützen?« »Letzte Nacht hatte ich einen Traum.« Ich verzog das Gesicht. Wackernagel hob die Hand. »Nein, lassen Sie mich ausreden, obwohl es für Sie verwunderlich klingen muss. Manchmal liegen die Dinge nahe zusammen.« »Das sagten Sie bereits.« »Sie wollen Fakten? Bitte schön: Ein Film wird gedreht, der davon handelt, dass Menschen Opfer eines Fluchs werden. Es ist die alte Geschichte vom Fluch des Pharaos. Aber dieses Mal spielt sich alles nicht im fernen Ägypten ab, sondern mitten in unserer guten Stube, der guten alten St.-LambertiKirche. Man dreht eine Szene vor dem Gotteshaus und ganz in der Nähe – und zwar in Wirklichkeit – wird ein Arzt ermordet. Dann dreht man drüben am Aasee und wieder geschieht ein Mord. Jetzt sind Sie dran.« Das war gelogen. Noch während ich Luft holte, riss er schon wieder das Wort an sich. »Es ist doch nur ein Film, werden Sie sagen, Herr Voss, und Sie haben Recht. Doch ich sage Ihnen darauf: Es war ja auch nur ein Traum, nichts weiter.« Was hatte ich Hauptkommissar Bondt angetan, dass er mir diesen Klienten auf den Hals hetzte? Ich seufzte resignierend, aber Wackernagel war immer noch nicht fertig.
»Nur dass da eben eine Sache ist, die Sie noch nicht wissen. Bockmühl und Pilgrim waren vor langer Zeit Mitglieder einer Pfadfindergruppe der Pfarrei St. Lamberti. Ich auch.« Er sah mich erwartungsvoll an. »Was wollen Sie damit andeuten?« »Dass alle Opfer eine Verbindung zu Lamberti haben. So viel zu Lambertis Fluch.« »Was sagt die Polizei zu Ihrer schwach-, ich meine, eigenwilligen Theorie?« Wackernagels Gesicht blieb ernst. »Leider gab man mir keine Gelegenheit, den Gedanken zu Ende zu führen. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich nicht wirklich ernst nahmen.« Ich grinste. »Nehmen Sie es der Kripo nicht übel. Was das Zusammenschwingen aller verwunderlichen Dinge angeht, so denken die da ziemlich konservativ.« Wackernagel war weder enttäuscht noch verärgert. Frohe Erwartung lag in seinem Blick. Meine Stichelei hatte er einfach heruntergeschluckt. »Sie denken anders«, verkündete er entschieden. »Ich spüre so etwas. Zwischen uns fließt eine besondere Energie.« Das Telefon klingelte. »Voss«, meldete ich mich und hoffte auf Kittel, der mich von diesem Menschen erlöste. »Hier ist Terjung«, hörte ich den Mann mit der grünen Brille. »Es tut mir Leid, aber die Angelegenheit ist mir zu ernst, dass man sie wegen kindischer Streitereien um Geld gefährdet.« »Ganz meine Meinung«, gab ich ihm Recht. »Gut. Würden Sie den Fall für mich also weiterverfolgen?« Ich sah meinem Gegenüber dabei zu, wie er aus einem Fläschchen winzige Kugeln in seine Handfläche schüttete und sie in seinen geöffneten Rachen warf. Sein seliger Gesichtsausdruck ließ mich vermuten, dass es sich um ein Rauschmittel handelte.
Im Geiste warf ich eine Münze. Kopf oder Zahl. Teufel oder Beelzebub. »Wenn Sie wollen«, entschied ich mich für Terjung, »sind wir im Geschäft.« »Ausgezeichnet. Dann begeben Sie sich bitte umgehend in die Van-Basten-Klinik. Ich bin inzwischen überzeugt, dass dort der Schlüssel zu dem Fall liegt.« Sofort nervte er mich wieder. »Wieso?« »Heute Morgen bin ich dort gewesen. Der Chefarzt, Dr. van Basten, hat die Polizei gerufen und mich hinauswerfen lassen. Der Mann hat etwas zu verbergen, das liegt doch auf der Hand.« »Nicht jeder, der eine seltsame Stimme hat, ist deswegen schon ein Krimineller«, wandte ich müde ein. Terjung war unzufrieden. »Werden Sie dorthin fahren oder nicht?« »Wenn ich für Sie arbeiten soll, dann müssen Sie solche Entscheidungen mir überlassen. Sie sagen einem Klempner ja auch nicht, wie er Ihren Siphon zu montieren hat.« »Aber ich entscheide, ob er einen aus Messing oder aus Plastik nimmt.« Ich gab auf. »Schade, dass Sie das so sehen.« Ich legte auf, um mich wieder meinem Gast zu widmen. »Einmal abgesehen von der besonderen Energie«, sagte ich, »verstehe ich immer noch nicht ganz, was ich für Sie tun kann.« Wackernagel faltete die Hände. »Schauen Sie, irgendjemand benutzt diese Filmproduktion, um sein eigenes Süppchen zu kochen. Mit dem Fluch will er eine alte Rechnung begleichen oder so etwas.« »Haben Sie denn eine nicht bezahlt?« »Ich sage Ihnen noch etwas. Jan Humberg, der damalige Leiter unserer Pfadfindergruppe, ist das erste Opfer gewesen.« »Lassen Sie mich raten: Dr. Humberg?«
»Ja, aber er war kein Mediziner, sondern Journalist. Vor zwei Wochen schrieb er mir, dass er einer mysteriösen Geschichte auf der Spur sei, einer, die mit Lamberti zu tun habe. Einen Tag später kam er mit dem Auto von der Straße ab.« »Tragisch. Aber so etwas passiert.« »Eine solche Karte hat er mir geschickt.« Der Heilkundige zog etwas aus seiner Jackentasche. Es war eine dieser Gratispostkarten, die stapelweise in jeder Kneipe herumlagen. Man hatte die Wahl zwischen schräger Amateurkunst, mäßig flotten Sprüchen und vor allem platter Werbung. Diese zeigte die schwarze Silhouette der Lambertikirche vor einem blutroten Hintergrund. Lambertis Fluch ereilt auch dich! stand darunter und am rechten äußeren Rand: www.AndroFilm.de. Höchstwahrscheinlich Spocks Machwerk. Ich drehte die Karte um. »Es steht aber nichts darauf.« »Es ist auch nicht die von Humberg«, klärte Wackernagel mich auf, »nur das gleiche Motiv. Diese Karte fand ich gestern in meinem Wartezimmer.« Er schwieg bedeutungsvoll. »Jetzt sind Sie dran.« Ich deutete auf die Internetadresse. »Das ist Filmwerbung, nichts weiter. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen sogar den Namen des Mannes sagen, der für diese fragwürdige Art der Promotion verantwortlich ist.« »Das ist doch schon ein Anfang«, freute sich mein Gegenüber. »Reden Sie mit ihm. Hören Sie sich um. Sollte ich nur Gespenster sehen, umso besser! Aber finden Sie es heraus.« »Na schön«, gab ich mich endlich geschlagen. Schließlich war es sein Geld. »Aber falls Bondt Ihnen gesagt hat, dass ich günstig bin, hat er Sie auf den Arm genommen. Ich habe gesalzene Preise.«
12
Man mochte vom Geisteszustand des Heilkundigen halten, was man wollte, aber so knickerig wie der LVM-Mann war er nicht. Als er ging, ließ er ein fettes Bündel Geldscheine auf Kittels Schreibtisch zurück, eingeschlagen in eine Broschüre über die zahlreichen Vorzüge der Alternativmedizin. Ich nahm mir vor, bei Klienten künftig weniger anspruchsvoll zu sein, was ihr Anliegen betraf. Nichts machte einen Auftrag interessanter als ein saftiger Vorschuss, und wenn er so saftig war wie dieser, konnte man von mir sogar verlangen, dass ich den Geist von Canterville beschattete. Um mich ein wenig mit Wackernagels esoterischer Kriminalistik vertraut zu machen, schaltete ich Kittels Computer ein und begab mich auf AndroFilms Internetseite. Ich fand protzig animierte Infos zum Film und zu den Darstellern, ein reißerisches Making of und einen Fanshop, wo ich Buttons, T-Shirts und Soundtrack-CDs per Mausklick bestellen konnte. Ganz unten am linken Rand klebte ein bluttriefendes Messer mit der Unterschrift Was Sie garantiert noch nicht wussten. Ich klickte das Messer an. Der Bildschirm wurde düster und ein Schriftzug erschien: von Udo L. Knopf. In dem Punkt hatte er mich also nicht auf den Arm genommen. Der Tod erwartet dich, der du diese Schwelle überschreitest, warnte der Bildschirm sensationsheischend. Das Telefon klingelte. »Privatdetektei Kittel?«, meldete ich mich.
»Herr Voss gab mir diese Nummer«, sagte jemand am anderen Ende, der sich anhörte wie eine Klarinette, die sprechen konnte. »Doktor van Basten«, begrüßte ich ihn. »Genau der ist auch am Apparat.« »Im Rundfunk hörte ich gerade, dass man schon wieder einen Arzt ermordet hat.« »Das trifft nicht ganz zu«, widersprach ich. »Der Tote wurde zwar erst jetzt gefunden, aber ermordet wurde er höchstwahrscheinlich schon vor Doktor Bockmühl.« »In welchen Zeiten leben wir?«, quäkte van Basten traurig und ich stellte mir seinen betroffenen Gesichtsausdruck vor. »Wer tut so etwas?« »Ich weiß es nicht.« »Aber Sie werden es doch herausfinden, nicht wahr?« »Das ist wohl eher Aufgabe der Polizei.« »Könnte ich Sie dennoch sprechen?« »Das tun Sie doch bereits.« »Ich meine, persönlich. Heute Nachmittag werde ich in Münster sein. Wie wär’s, wenn wir um vier am Schloss einen Kaffee zusammen trinken?« »Was versprechen Sie sich davon, Doktor?« »Moritz Pilgrim war ein Bekannter von mir. Die Sache liegt mir am Herzen, also bitte ich Sie um diesen Gefallen.« Nach van Bastens Anruf widmete ich mich wieder Spocks Computerseite über das, was Sie noch nicht wussten. Ich überschritt die Schwelle. Der Bildschirm zeigte mir ein Feld, in das ich einen Begriff eintragen sollte. Ich gab Lamberti ein. Der Computer antwortete umgehend: Bertinus, genannt der Lahme, weil er ein Holzbein hatte, war für manche einer der bedeutendsten Missionare Nordeuropas. Andere wiederum halten seine Existenz für frei erfunden. Einer
alten apokryphen Überlieferung zur Folge soll ›lahm Berti‹ von Rom über Krefeld nach Burgsteinfurt gelangt sein, von wo aus er die holländischen Nordseeinseln Texel, Vlieland, Terschelling und Ameland zum christlichen Glauben bekehrte. Bisher konnte niemand den Beweis dafür erbringen, dass er wirklich, wie die Legende zu erzählen weiß, in Münster zur letzten Ruhe gebettet wurde. B. war berüchtigt für seine rüden Missionsmethoden. Er soll beispielsweise unangekündigte Kontrollbesuche bei frisch Bekehrten gemacht haben und ziemlich unangenehm geworden sein, wenn sie die Beichte ausfallen ließen. Auf einem dieser Kontrollbesuche, der ihn nach Billerbeck führte, geriet er in die Hände heidnischer Wegelagerer, die wenig später auch noch über seine Schwester herfielen, während er arglos eine Messe las. B. nahm grausame Rache und wurde daraufhin von Rom auf eine weitere Missionsreise nach Spiekeroog geschickt, zu der er allerdings nicht mehr aufbrach. Mir kam der Gedanke, dass Wackernagels Vorschuss doch ein bisschen knapp bemessen war. Bei meinem Versuch, einen weiteren Begriff in das Suchfeld einzutippen, stürzte der Computer ab. Umso besser. Ich zog den Stecker aus der Dose und der Bildschirm wurde schwarz. Vor mir auf dem Tisch lag die Broschüre für Alternativmedizin. Ich nahm die Scheine heraus und zählte sie nochmal. Wenn man Kittels Mietanteil abzog, blieb immer noch reichlich für einen schönen Kurzurlaub irgendwo im Süden übrig. Der Haken bei der Sache war, dass ich mir das Geld verdienen musste, indem ich meinen Klienten von einer fixen Idee befreite. Ich rief bei der Kripo an und bekam Hauptkommissar Bondt an die Strippe. »Vielen Dank für den Klienten«, meinte ich bissig. »Keine Ursache. Jetzt hab ich was gut bei Ihnen.«
Hoffentlich glaubte er das nicht wirklich. »Manche Leute scheinen eine Ausbildung zu absolvieren, wie man anderen auf den Geist gehen kann.« »Sagen Sie das nicht. Zugegeben, der Mann wirkt auf den ersten Blick etwas verschwommen, aber was er sagt, ist gar nicht so dumm.« »Das ist nicht Ihr Ernst, Kommissar!« »Könnte doch sein, dass sich jemand diesen Filmrummel für die Morde zu Nutze macht. Vielleicht inspiriert ihn die Rolle des mordenden Rächers.« »Wie ist der Stand der Ermittlungen gegen die Ärztemafia?« Bondt grunzte entnervt. »Wir treten ziemlich auf der Stelle.« »Hatten Sie denn nicht einen Mafioso geschnappt?« »Unter uns, ich glaube, der Mann hat eine gute Nase für das, was wir gern hören.« »Nett von ihm. Gibt es über Dr. Pilgrim neue Erkenntnisse?« »Sie wissen, dass ich Ihnen darüber eigentlich nichts sagen darf. Wir haben inzwischen die Sprechstundenhilfe befragt. Die war nicht so zugeknöpft wie die von Bockmühl. Wir haben mit ihr praktisch alle Patienten bis auf einen durchgekaut. Leider fand sich weit und breit kein Motiv.« »Alle bis auf einen?« »Eine neue Patientin, die nach ihrem Behandlungstermin die Krankenkassenkarte noch nachreichen wollte. Hat sie aber nicht gemacht.« Ich wurde hellhörig. »Wissen Sie zufällig ihren Namen?« »Leider nicht. Pilgrim vereinbarte den Termin selbst und hat den Namen nicht notiert.« »Das ist allerdings seltsam«, sagte ich und dachte an einen Zettel, den ich in Bockmühls Praxis gefunden hatte. Lawinia S. alles im grünen Bereich. Versicherungskarte!! hatte darauf gestanden. Mir war nicht klar, was ich davon halten sollte. War da ein Zusammenhang? Plötzlich konnte ich mir vorstellen,
wie Wackernagel zu Mute sein musste, wenn er sich mit seinen wüsten Hirngespinsten herumplagte. »Was ist seltsam? Herr Voss, sind Sie noch dran?« Der Kommissar versuchte offenbar, zum zweiten oder dritten Mal zu mir durchzudringen. »Es ist nur eine Idee«, antwortete ich. »Auch bei Bockmühl gab es eine Patientin, die ihre Karte noch nachreichen sollte. Ihr Name ist Lawinia Scholl.« »Interessant. Wo finden wir diese Dame?« »Keine Ahnung. Sie scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.« »Gratuliere, Herr Voss. Das bringt uns einen Riesenschritt weiter.« »Vielleicht tut es das tatsächlich, Herr Kommissar«, sagte ich. »Allerdings habe ich noch keine Idee, wohin.«
Das Schloss war ein beeindruckendes Zeugnis spätbarocker Baukunst, zweifellos ein Juwel der Architektur, das für seine Lage nichts konnte. Ein riesiger Platz, unüberbrückbar wie der Ozean, trennte es von der Innenstadt, sodass das fürstliche Bauwerk auf mich, der sich von dort her näherte, zu klein geraten, deplaziert und wenig erhaben wirkte. Inzwischen war ich aber darüber im Bilde, dass die eigentliche Sehenswürdigkeit nicht das Schloss war, sondern der Platz, der laut meinem Reiseführer als der größte Parkplatz Europas galt. Das Café, in dem ich mit dem Arzt verabredet war, lag auf der anderen Seite der ehemaligen Bischofsresidenz, mitten in einer ausgedehnten Parkanlage. Ich nahm den letzten freien Tisch, bestellte einen Kakao und genoss die Gartenidylle. Van Basten ließ auf sich warten. Eigentlich wollte ich mir die Abzüge ansehen, die ich auf dem Weg hierher beim Fotografen abgeholt hatte, aber dann bemerkte ich am Nebentisch eine Klassefrau in einem raffiniert
geschlitzten Rock, die versuchte, ihr Söhnchen zu bändigen. Ich winkte dem Kleinen zu, doch er streckte mir die Zunge heraus. Also rührte ich in meinem Kakao und hörte zu, wie die Mutter ihm aus einem Bilderbuch vorlas. Es ging um einen alten Mann, der mit seinem Kater darüber diskutierte, ob man Fleischklößchen züchten konnte, indem man sie einfach in die Erde pflanzte. Der Alte meinte nein, aber der Kater entschloss sich dennoch zu einem Versuch. Kaum war der Leckerbissen im Acker, wurde er auch schon von einer Horde frecher Hühner geraubt. Als die Kellnerin vorbeikam, wollte der Junge noch einen Kakao, aber die Mutter lehnte ab. Ich hielt meine Tasse hoch. »Noch einmal das Gleiche«, bat ich schadenfroh. »Entschuldigen Sie meine Verspätung«, quäkte es in meinem Rücken. Van Basten steuerte meinen Tisch an. »Ich wurde aufgehalten.« Er bestellte hektisch einen Kaffee und setzte sich mir gegenüber. »Doktor Pilgrim war ein Studienfreund von mir«, wiederholte er. »Das ist der Grund, weshalb ich etwas mehr wissen will als das bisschen, was die Polizei preisgibt.« »Glauben Sie, dass auch Sie in Gefahr sind?« »Warum sollte ich? Aber Bockmühl und Pilgrim waren immerhin Ärzte wie ich und haben in dieser Stadt praktiziert wie ich früher auch.« Er schüttelte den Kopf. »Irgendeinen Reim muss die Polizei sich doch darauf machen.« »Soviel ich weiß, rätselt man zurzeit, ob das organisierte Verbrechen hinter den Taten steht, und ermittelt in Kreisen, die in Münster angeblich neapolitanische Verhältnisse schaffen wollen.« Van Basten kraulte zweifelnd sein Nasenhaar. »Das klingt nicht sehr viel versprechend.«
»Darf ich Sie auch etwas fragen?«, ergriff ich die Gelegenheit. »Weshalb haben Sie sich aufs Land zurückgezogen?« »Das hier ist eine konservative Stadt.« Der Arzt nahm seinen Kaffee in Empfang. Er schlürfte das heiße Gebräu und verzog das Gesicht. »Meine neue Methode war für die hiesige therapeutische Welt wohl etwas zu revolutionär.« »Worin besteht diese Methode?« »Oh, ich denke, das ist nicht der Ort, Sie mit fachlichen Details zu langweilen.« Der Arzt hob abwehrend die Hände, konnte aber der Versuchung nicht lange widerstehen. »Nur ganz kurz: Bei Vorträgen, die ich zu diesem Thema halte, bediene ich mich meist des Bildes vom Trojanischen Pferd. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Der Therapeut ist das Trojanische Pferd. Sie müssen sich klar machen, dass beispielsweise eine Psychose enorm hohe Mauern gegen die soziale Außenwelt errichtet, weil sie ja nur so überleben kann. Gut bewachte und waffenstarrende Mauern, die Sie nicht überwinden können, es sei denn, Sie versuchen es mit Gewalt und riskieren, das zu zerstören, was Sie eigentlich heilen wollen.« Van Bastens Entenstimme hatte die Frau nebenan von ihrer Lektüre abgelenkt. Neugierig und ein wenig peinlich berührt starrte sie den Arzt an. »Es gibt nur einen Weg«, fuhr van Basten fort. »Sie müssen sozusagen Bestandteil des Innenlebens Ihres Klienten werden. Sich wirklich und im wahren Sinn des Wortes in Ihre Klienten hineinversetzen. Diese Form der Heilung verlangt vom Therapeuten ein hohes Maß an Einfühlung für die ihm anvertrauten Menschen.« »So wie bei Lawinia Scholl?« »Für sie erwies sich die Methode als besonders erfolgversprechend.«
»Trotzdem hat sie einen anderen Arzt konsultiert.« »Auf meinen Rat hin.« Van Basten nickte bestätigend. »Ich hielt dies im Rahmen der Therapie für angezeigt.« »Könnte es sein, dass sie auch Dr. Pilgrims Patientin war?« »Weshalb sollte Frau Scholl zwei Ärzte gleichzeitig konsultiert haben?« »Ich weiß es nicht. Sie war ja auch bei Ihnen. Es ist nur so ein Gedanke.« Doktor van Basten machte ein zerknirschtes Gesicht. »Diese Frau ist ein schwieriger Mensch. Sie ist davon überzeugt, Anerkennung und Zuwendung nur durch eine Krankheit zu erreichen. Verständlicherweise wurde sie von ihrer Schwester seit ihrer Kindheit der Simulation bezichtigt.« »Die beiden haben auch heute noch nicht das beste Verhältnis zueinander.« »Ich kenne Fälle, in denen sich in einer Art Gegenreaktion ein regelrechter Zwang entwickelt. Die Patientin besteht darauf, an einer ernsten Krankheit zu leiden, und es braucht einen wirklich guten Arzt, sie von dieser Fixierung zu befreien.« »Einen wie Bockmühl?« »Ich wage mir nicht auszumalen, welche verheerenden Auswirkungen dieser Mord auf Lawinia Scholls psychische Stabilität hat.« »Glauben Sie, dass sie sich irgendwo versteckt hält?« Der weiche Nasenflaum streichelte van Bastens Handrücken. »Wissen Sie, mir kam schon der Gedanke, dass sie unauffindbar ist, weil so viele nach ihr suchen.« »So viele? Wer denn noch?« »Heute hatte ich erneut Besuch von jemandem, der mein Personal ausfragte.«
»Dieser Mann war mein Klient«, erklärte ich. »Er hat sich entschlossen, die Suche selbst aufzunehmen, weil sich das für ihn eher rechnet.« »Mir gegenüber gab er sich als Privatdetektiv aus. Ein seltsamer Mensch. Ich könnte mir vorstellen, ihn zu therapieren.« Van Basten warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Dann sah er sich nach der Kellnerin um. »Eine letzte Frage, Doktor: Haben Sie als Kind zufällig einer Pfadfindergruppe angehört?« Van Basten runzelte die Stirn. »Nur so eine Frage.« Ich stand auf, lächelte der Frau mit dem Bilderbuch zu und ließ einen letzten Blick über ihre makellosen Beine gleiten. Auf dem Rückweg wurde ich den Gedanken nicht los, dass ich etwas Wichtiges vergessen hatte. Eine Frage, die ich van Basten hatte stellen wollen, aber sie fiel mir nicht mehr ein. Ich machte einen Zwischenstopp in einer Kneipe und ließ das Gespräch ausführlich Revue passieren. Vergeblich. Alles, was mir in den Sinn kam, waren Fleischklößchen. Ich zahlte und fuhr weiter zur Trattoria Berlusconi, wo ich auf Kittel wartete, um ihm mitzuteilen, dass ich mich gegen die Heimreise entschieden hatte und für einen Fall, der es auf seine ganz eigene Weise in sich hatte. Kittel tauchte aber nicht auf. Wahrscheinlich hockte er mit seiner Marietta im Kino und sah sich einen spannenden Müllentsorgungsthriller an. Ich blieb auf ein oder zwei Bier. Inzwischen wurde es dunkel. Zeit zu gehen, wenn ich mit der Klapperkiste heil zu Hause ankommen wollte. Irgendetwas stimmte nicht, eine winzige Kleinigkeit, aber ich kam einfach nicht drauf. Sie war vielleicht gar nicht winzig. Fleischklößchen, grübelte ich, während ich entgegenkommenden Radfahrern in großen Bögen auswich. So ein Unsinn, Fleischklößchen zu pflanzen, wenn man genau
weiß, dass sie keine Wurzeln treiben. Wozu denn? Sie vermodern in der Erde und niemand mag sie mehr essen. Mit Ausnahme der Hühner natürlich… Es war noch viel los auf der Promenade. Radfahrer, die cliquenweise die Fahrbahn verstopften, enthemmt kreischende Studentinnen und coole Typen, die sich für Fahrkünstler hielten, aber ihr Gerät nicht unter Kontrolle hatten. Angeheitert oder besoffen, so wie ich. Ich näherte mich jener Stelle, mit der mich eine ungute Erinnerung verband. Die vierspurige Warendorfer Straße kreuzte die Promenade, indem sie sie zwang, sich unter ihr in den Boden zu ducken und durch eine schäbige, neonbeleuchtete Unterführung hindurchzuzwängen. Mit gemischten Gefühlen dachte ich an jene Nacht zurück, in der ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit der hässlichen Mulde gemacht hatte. Damals war sie Schauplatz eines brutalen Mordes gewesen. Während ich in scheußlichen Erinnerungen schwelgte, raste ein Mountainbiker so nahe an mir vorbei, dass mich seine Jacke streifte. Ich kam ins Trudeln, verlor das Gleichgewicht und schrammte bei dem Versuch, seitlich auszuweichen, an einem Baumstamm vorbei. Ich kam zum Stehen und blinzelte wütend dem Angeber hinterher, der gerade in der Unterführung verschwand. Zugegeben, niemand würde Fleischklößchen pflanzen, wenn er genau wüsste, dass sie nicht austrieben. Es sei denn, er verfolgte damit ein völlig anderes Ziel. Eines, mit dem niemand rechnete. Plötzlich fiel mir ein, was ich van Basten hatte fragen wollen. Doch ich kam nicht dazu, es mir zu merken. Denn im selben Augenblick krachte und schepperte es.
Der Lärm kam von drüben, jenseits der Unterführung, wo der Mountainbiker gerade aus dem Tunnel aufgetaucht sein musste. Auch der Aufschrei kam von dort.
13
»Da kommt wahrscheinlich jede Hilfe zu spät«, sagte ich. Vor mir auf dem Bürgersteig, im Schatten der Brücke, lag der Körper des Mannes, der mich überholt hatte. Sein Hinterkopf war zerschmettert und das Mountainbike ein Haufen Schrott. In respektvoller Entfernung verharrten zwei Studenten, die in den Crash verwickelt waren, und ein besoffener Alter, der den Abend mit seiner Pulle Schnaps auf einer nahe gelegenen Bank verbracht hatte. »Was sollte ich denn machen?«, verteidigte sich der Junge, ein Glatzkopf, Anfang zwanzig, zweites oder drittes Semester. Er wirkte zerknirscht, aber ich war mir unsicher, ob die Zerknirschung nicht daher rührte, dass sein Rad etwas abbekommen hatte. »Der ist mir voll in die Seite gefahren. Absolut null Chance zu reagieren.« Seine Freundin ließ das Handy sinken, mit dem sie den Notarzt alarmiert hatte, und schüttelte den Kopf. »Das hast du von deiner beknackten Raserei!« Sie hatte ein goldenes Lippenpiercing und feuerrotes Haar, das sogar im Dunkeln zu leuchten schien. »Irgendwann musste so was mal passieren.« »Sag ich doch«, mischte sich der Besoffene ein. »Immer rasen und sich dann wundern, wenn es Tote gibt.« »Das war kein Unfall«, widersprach ich und deutete auf einen beachtlichen Backstein, der blutverschmiert mitten auf der Piste lag. »Jemand hat diesen Stein geworfen.« Ich deutete zum Brückengeländer. »Höchstwahrscheinlich von da oben.« »Kein Unfall«, gab mir der Besoffene Recht. »Da war ein Geist auf der Brücke, sag ich doch. Und dann kam der Stein. Genau in dem Moment, als der Tote unten durchsauste.«
»Sie haben den Täter gesehen?« »Quatsch! Ich hab keinen gesehen.« »Jemand hat das hier verloren.« Das Mädchen war auf den Radweg getreten und hob eine Mappe vom Boden auf, die in der Nähe des Steins lag. Sie blätterte darin. »Sieht aus wie ein Drehbuch. Es heißt Die Gruft.« »Das ist doch der Film, den sie zurzeit produzieren«, erinnerte sich der Glatzkopf. »Megaschrottig. Ich hab zufällig eine Reportage darüber geschrieben.« »Nein, nicht schon wieder!«, flehte ich zum Himmel und hockte mich, nichts Gutes ahnend, neben dem Toten auf den Boden. Ich wollte sein Gesicht sehen, aber dazu musste ich ihn umdrehen und würde damit der Spurensicherung den Abend vermasseln. »Wäre nett von Ihnen«, wandte sich der Student an den Alten, »wenn Sie kurz beschreiben, was Sie gesehen haben.« »Nichts, sag ich doch. Hab absolut nichts gesehen.« »Aber Sie haben doch gerade eben – « »Warum wollense das überhaupt wissen? Sind Sie ‘n Bulle, oder was?« »Ich schreibe für die Unimox. Haben Sie sicher schon mal von gehört.« »Klar hab ich. Unimox, dat ist doch so ‘n Putzmittel, oder nich? Schmeckt allerdings ziemlich scheußlich.« Der Tote trug ein grünes Jackett und dazu eine grell gemusterte Fliege. Keine Alltagskleidung. Ein paar Meter weiter blitzte etwas im Gras auf. Eine Sonnenbrille an einem goldenen Halskettchen. Diese Brille hatte ich schon einmal gesehen… Eine sich nähernde Sirene zeigte an, dass der Krankenwagen jeden Augenblick hier sein würde. In einem spontanen Entschluss packte ich zu und drehte den Verunglückten auf die Seite. Ich erkannte ihn sofort.
Mit dem Handy des Mädchens alarmierte ich die Mordkommission. Schon wenige Minuten später war Hauptkommissar Bondt mit seiner Truppe zur Stelle. »Das war ja Rekordzeit«, lobte ich. »Sie hatten wohl in der Nähe zu tun.« Bondt schien heute nicht zum Scherzen aufgelegt zu sein. »Unter dieser Brücke«, gab er mürrisch zurück, »haben wir beide uns sozusagen kennen gelernt. Ich hatte kein Nasenspray dabei. Eine solche Nacht vergisst man nicht so leicht.« Ich deutete auf die Leiche. »Ich kenne diesen Mann.« »Lassen Sie mich raten, Herr Voss: Er ist Arzt.« »Ein Schauspieler. Sie sind ihm auch schon begegnet. Es ist der berühmte Kurd Ingolf. Gestern erst warf er Steine nach mir, jetzt hat es ihn selbst erwischt.« Bondt schien diesen Gedanken gern aufzugreifen. »Und rein zufällig sind auch Sie wieder zur Stelle.« »Herr Kommissar, was wollen Sie damit andeuten?« »Sie wollten’s ihm doch bestimmt heimzahlen. Könnte ich verstehen, Herr Voss. Wenn man mich so hinterrücks in eine Giftpfütze schubsen würde…« »Dieser Anschlag kann auch mir gegolten haben. Wäre Ingolf ein paar Sekunden später gekommen oder hätte er mich nicht geschnitten, dann hätte ich den Stein abbekommen.« »Vorausgesetzt derjenige, der ihn warf, hätte ihn dann auch geworfen.« Bereits das dritte Mal wollte sein kleiner Finger den Mundwinkel kratzen, fand aber ein Pflaster vor und musste unverrichteter Dinge beidrehen. Vielleicht war es das, was Bondt nervte. »Herr Kommissar?«, mischte sich der Junge mit der Glatze ein. »Herr Kommissar, es gibt jemanden, der den Täter gesehen hat.« »Hauptkommissar«, verbesserte Bondt barsch. »Wer sind Sie denn?«
»Sven Korsten von der Unimox.« »Unimox.« Bondt runzelte die Stirn. »Das ist ein WCReiniger, stimmt’s?« »Die Stadtzeitung.« Korsten war pikiert. »Der Mann da drüben hat einen dunklen Schatten mit Umhang auf der Brücke gesehen.« Bondts Miene verfinsterte sich. »Konnte er vielleicht auch fliegen?« »Fliegen? Wieso? Natürlich nicht.« »Aber er hat sich in Luft aufgelöst. Was Gespenster angeht, Herr, eh – « »Korsten. Sven Korsten von der Uni…« »Ja.« Der Kommissar deutete auf mich. »Dieser Herr ist so etwas wie ein Experte.« Damit ließ er Korsten stehen. »Moment mal«, rief ich ihm nach. »Der junge Mann hier ist an der Tat direkt beteiligt. Nicht er, sondern Sie sind es, der die Fragen stellen sollte, oder nicht?« Bondt drehte sich nicht mal um. »Das hat Zeit…« »Dann erzählen Sie doch mal«, rückte mir der Schreiberling auf die Pelle, »was für ein Gespenst?« »Hören Sie«, blaffte ich ihn an. »Sie haben gerade einen wehrlosen Fahrradfahrer über den Haufen gefahren. Finden Sie nicht, dass Sie etwas anderes im Kopf haben sollten als Spukgeschichten?« Korsten plusterte sich auf. »Ich denke, die Presse hat ein Recht darauf, zu erfahren…«, begann er aus hunderten von amerikanischen Spielfilmen zu zitieren. Mir wurde klar, dass er nicht so leicht abzuschütteln war, also sollte er seine Geschichte haben. »Na schön, passen Sie auf: Das Drehbuch, das wir gefunden haben, das ist in Wirklichkeit nicht nur ein Drehbuch. Und dieser Fluch – « »Welcher Fluch?«
»Lambertis Fluch. Sie wissen schon. So wie damals, als sie das Pharaonengrab geöffnet haben. Manche halten es für Humbug, andere glauben dran. Wieder andere müssen dran glauben. Wie auch immer, die Toten sind Fakt, egal wie man zu dem Fluch steht.« »Völlig klar. Sie meinen…« »Vor allem dürfen Sie das nicht schulmedizinisch sehen. Schreiben Sie das ruhig. Die Dinge liegen nicht so simpel, wie man denkt. Sie sind miteinander verquickt, das müssen Sie sich immer vor Augen halten. Ganz zu schweigen von den Meridianen.« »Mach ich.« Korsten fixierte mich. In seinem Blick lag jene diffuse Mischung aus Irritation und Faszination, die sich nur dann einstellt, wenn man nicht das Geringste von einer Sache versteht, über die man aber nichtsdestotrotz einen langen Artikel schreiben will. »Tja, danke für das Gespräch«, murmelte er und machte sich davon. Ich nahm einen tiefen Atemzug und stellte dabei fest, dass mein Rausch sich beinahe verflüchtigt hatte. »Herr Voss?«, winkte mich der Kommissar zu sich heran. Ich stapfte zurück. »Seien Sie so nett und halten sich zu unserer Verfügung.« »Zur Verfügung? Was soll das heißen?« »Wissen Sie doch. Keine spontanen Auslandsreisen ohne Wiederkehr oder dergleichen.« »Bedeutet das etwa, dass Sie mich verdächtigen?« »Tatsache ist, dass Sie immer zur Stelle sind, wenn es jemanden zu verdächtigen gibt.« »Aber ich dachte, wir ziehen am selben Strang. Immerhin war ich es, der Sie hergerufen hat.« »Jetzt sehen Sie doch selbst: Sie haben einen Klienten, der Ihnen einen Floh ins Ohr setzt von wegen geheimnisvoller Morde. Und dieser Ingolf war ein persönlicher Feind von
Ihnen. Bis jetzt kenne ich niemanden außer Ihnen, Herr Voss, der ein Motiv für diesen Mord hier hätte.« »Sie fangen ja auch erst an.« »O nein. Ich ermittele schon eine ganze Weile. Irgendwer rottet die hiesigen Ärzte aus, die Therapeuten dieser Stadt gehen auf die Straße und machen mir die Hölle heiß und jetzt können wir wieder ganz von vorn anfangen. Was habe ich vorzuweisen?« »Immerhin haben Sie doch einen Verdächtigen – « »Ach was! Wir haben einen Selbstdarsteller, der sich abendfüllend über die westfälische Mafia verbreitet und schließlich als verkanntes Journalistengenie entpuppt, der mit einer Undercover-Story den Grimme-Preis holen will.« Das war es also, was ihm die Laune verdarb. »So was würde mich aber auch wütend machen, Kommissar«, heuchelte ich Verständnis. »Sie machen sich keinen Begriff«, legte er los. »Wann immer in dieser angeblich so friedlichen und arbeitsamen Stadt einer umgenietet wird, muss ich ran. Egal wo, egal wann, es trifft immer mich, darauf können Sie, verdammt nochmal, wetten. Es stehen zwar Hundertschaften von Kollegen zur Verfügung, aber im Ernstfall sind die immer in Urlaub oder auf Fortbildung.« »Warum machen Sie das nicht auch, Herr Kommissar?« Bondt verzog keine Miene. »Herr Voss, Sie mögen vielleicht nicht der Hauptverdächtige sein. Aber ich kann es mir momentan nicht leisten, auch nur auf einen einzigen zu verzichten.« Er nieste. »Gesundheit!« »Sauwetter«, brummte er mürrisch. »Den ganzen Tag Sonne und nachts ist es viel zu warm. Da holt man sich ja wer weiß was.«
14
Am nächsten Morgen wälzte ich mich auf Kittels provisorischer Liege und wehrte mich dagegen aufzuwachen. In meinem Kopf pochte es und mein Gehirn schien aus hauchdünnem, empfindlichem Glas zu bestehen. Das Pochen setzte ihm zu und würde es bald in tausend Scherben zerbrechen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass es nicht in meinem Kopf, sondern an der Tür pochte. Ich rappelte mich hoch, tappte zur Tür und öffnete. Draußen stand Tatjana de Vito. Ihr Outfit war sehr sommerlich. Sie trug ein weit ausgeschnittenes Top und einen ziemlich kurzen Rock. »Darf ich hereinkommen?« Natürlich durfte sie nicht. Ich stand ihr in Unterhose und TShirt gegenüber, der Abfalleimer beherbergte immer noch die Pommes vom Dienstag und machte mit seinen Ausdünstungen dem vorherrschenden Haarwassermief Konkurrenz. Tatjana aber wartete mein Nein nicht ab. Sie schob sich an mir vorbei und trat in Kittels Büro. »Eine sehr nette Wohnung haben Sie.« »Sie war nicht billig«, gab ich bissig zurück. »Aber ich musste sie einfach haben wegen des Ausblicks.« Tatjana trat ans Fenster, das ein parkender grüner Lieferwagen mit der Aufschrift Tollkötter Immobilien vollkommen ausfüllte. »Sie haben neulich gesagt, Sie wollten mir helfen.« »Und Sie fanden das besonders komisch.« »Ich wüsste gern, ob das ernst gemeint war.«
Sie sollte sich nicht einbilden, dass sie bei mir offene Türen einrannte. »Das war natürlich nur so dahingesagt«, versicherte ich ihr. »Natürlich.« Tatjana wollte mir anscheinend die Rolle der lasziven Lauren Bacall vorspielen, die einem spröden Privatdetektiv mit ihrer sexuellen Ausstrahlung im Handumdrehen die Puste nahm. Aber damit war sie bei mir an der falschen Adresse. Ich schnappte meine Shorts, um möglichst lässig in sie hineinzusteigen. Leider verhakte sich im letzten Moment mein rechter kleiner Zeh am Hosenbund. Ich torkelte und hüpfte wie ein Schrat auf einem Bein im Kreis, bis ich auf einen von Kittels Beistiftspitzern trat, der auf dem Boden herumlag. Mit schmerzverzerrtem Gesicht plumpste ich in die Ecke wie ein Elefant, dem man ein Bein gestellt hatte. Tatjana weigerte sich, taktvollerweise woandershin zu blicken, auch grinste sie nicht belustigt, was die Situation ein wenig entspannt hätte. Sie sah einfach zu. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden«, brummte ich sauer, während ich die Shorts anzog und aufstand. »Ich habe noch jede Menge Leute zu belauschen. Ganz zu schweigen von den Schlüssellöchern, durch die ich gaffen muss.« »Tut mir Leid, wenn ich garstig zu Ihnen gewesen bin«, sagte sie versöhnlich und trat auf mich zu. Ihr sinnliches Parfüm wehte mich an und versetzte mich Tausende von Kilometern weit weg von dieser ehemaligen Änderungsschneiderei. »Geschenkt«, sagte ich. »Ich war auch kein Heiliger. Aber jetzt…« Tatjana ließ mich nicht vorbei. »Andro hat gedroht, mich umzubringen.« »Filmleute.« Ich zuckte die Achseln. »Die blubbern pausenlos und nichts ist dahinter.«
»Woher wissen Sie denn, was Filmleute blubbern!« Tatjana nahm auf dem Schreibtisch Platz und schlug die Beine übereinander. »Andro rief mich vorhin an. Die Kripo war gestern Nacht bei ihm. Offenbar hat sie herausgefunden, dass er so gut wie pleite ist.« »Das ist eine gute Nachricht«, freute ich mich. »Aber das allein macht ihn ja wohl nicht verdächtig, einen Mord begangen zu haben.« »Davon war auch keine Rede. Andro hat den Kommissar mit der Wim-Wenders-Masche eingewickelt. Er hat sein interessantes Gesicht gelobt und ihn gefragt, ob er schon mal darüber nachgedacht hat, vor der Kamera zu stehen.« »Wie originell!« »Und der Bulle ist drauf reingefallen. Er hat sich wortreich bei dem berühmten Regisseur für die späte Belästigung entschuldigt.« »Sie sollten Bondt nicht unterschätzen«, sagte ich, ohne selbst so recht daran zu glauben. »Der spielt Steck den tumben Bullen vor und am nächsten Tag kommt er wieder, um ihn hopszunehmen.« Tatjanas Beine wechselten sich mit dem Übereinanderschlagen ab. Jetzt war das linke dran und das rechte übernahm die untere Position. Ich fragte mich, ob es spezielle Läden gab für diese Röcke, die ständig von selbst hochrutschten, sodass man sie dezent wieder herunterziehen musste. Oder ob es eine spezielle Technik gab, den Rock zum Rutschen zu bringen. »Zufällig weiß ich«, sagte Tatjana, »dass auch Kurd über Andros katastrophale Finanzsituation im Bilde war. Ich bin mal reingeplatzt, als die beiden deshalb stritten. Kurd erwähnte außerdem eine üble Geschichte, mit der die Klatschpresse Andro in den Boden stampfen würde, wenn man sie ihr nur mundgerecht serviere.«
»Die Sache mit Lore Bockmühls mysteriösem Selbstmord?« »Woher soll ich das wissen? Jedenfalls bekam Kurd die Hauptrolle und das, obwohl Andro ihn als Schauspieler für eine glatte Niete hielt. Er verbrachte den Dreh damit, grottenschlecht zu spielen, sich ständig danebenzubenehmen und jede Szene zu nutzen, mich anzugrapschen.« »Sie meinen also, Kurd hat Andro Steck erpresst und deshalb hat Andro ihn gestern umgebracht?« »Das wäre doch möglich. Sie kennen Andro nicht. Manchmal ist er so smart und dann wieder völlig unberechenbar.« Tatjana sah zerknirscht aus. »Als ich ihn gestern auf Kurd und seine Sonderrechte ansprach, hat er mich gefragt, ob ich es darauf anlege, so zu enden wie er.« »Na schön, das spricht ein bisschen gegen ihn.« Ich stand auf und suchte auf der Fensterbank nach meinen Zigaretten. »Andererseits: Auch Sie hatten den armen Kurd nicht gerade ins Herz geschlossen.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Nur dass er sich die ganze Zeit ehrlich um Sie abgerackert hat und Sie ihn wie einen Fußabtreter behandelt haben.« Tatjana musterte mich mit ihrem misstrauischen Blick. »Ach ja, und was ist mit ihm?« Ihr Körper spannte sich plötzlich an und die Augen blitzten wütend. »Was hat er gemacht? Diese gottverdammte herablassende Art, sich in mein Leben einzumischen! So zu tun, als sei er der große Macker, der jedes Problem mit einer coolen Bemerkung lösen könnte!« »Was für ein Problem denn?« Sie schüttelte den Kopf, stand auf und machte ein paar Schritte. Schließlich zog sie einen Schmollmund, kehrte zum Schreibtisch zurück und zupfte am Saum ihres Rockes. »Helfen Sie mir jetzt oder nicht?« »Wobei?« Ich steckte mir eine an. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was ich für Sie tun soll.«
»Was ist, wenn Andro seinen Film für einen privaten Rachefeldzug benutzt?« »Eine reichlich durchgeknallte Idee.« »Mag sein, aber Andro ist reichlich durchgeknallt. Er hält sich für ein Genie. Dabei steht ihm das Wasser so weit bis zum Hals, dass er nicht mal mehr schlucken kann, ohne abzusaufen.« Andro Steck, der Filmemacher. Noch gestern hätte ich jeden ausgelacht, der mir erzählt hätte, dass ausgerechnet Tatjana von mir verlangen würde, ihn ihr auf dem Tablett zu servieren. »Also gut«, sagte ich. »Sobald ich etwas Neues weiß, erfahren Sie es von mir.« »Das wollte ich hören.« Tatjana de Vito schenkte mir ein erlöstes Lächeln. »Ich habe mich also nicht in Ihnen getäuscht.« Sie schob ihren perfekten Hintern von der Schreibtischplatte und kam langsam zu mir herüber. Ziemlich nahe trat sie an mich heran, zog an meinem Hosenbund und ließ den Gummizug flitschen. »Coole Shorts.« Sie grinste. »Aber die Art, wie Sie sie anziehen, schlägt alles.« Ich räusperte mich. »Noch eine Frage«, sagte ich. »Wissen Sie zufällig, ob Ihre Schwester auch bei Doktor Pilgrim in Behandlung war?« »Ich sagte doch schon, dass ich sie schon lange nicht mehr gesprochen habe.« Tatjana wandte sich zur Tür. »Wieso fragen Sie?« »Sie hat versäumt, ihre Versicherungskarte einlesen zu lassen. Genau wie bei Doktor Bockmühl. Das heißt, falls sie diejenige war.« »Hat das irgendetwas damit zu tun, dass die beiden Ärzte ermordet wurden?« »Ich weiß es nicht. Möglicherweise.« Ich winkte ab. »Vergessen Sie’s, es war nur so ein Gedanke.«
Nachdem sie gegangen war, fiel mir ein, dass sich die wahre Tatjana, die schutzbedürftige ohne Allüren, dieses Mal nicht gezeigt hatte. Ich hatte sie auch nicht vermisst. Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht und sie existierte gar nicht. So ziemlich alles, was man über weiche Kerne wusste, die sich angeblich unter harten Schalen verbargen, war schließlich nichts als Spekulation.
Tatjanas Parfüm behielt noch fast fünf Minuten die Oberhand, dann setzten sich die Pommes wieder durch. Ich beschloss, dem Haarwasser eine Chance zu geben, packte den Inhalt des Papierkorbes in eine Plastiktüte und stellte sie nach draußen an die nächste Straßenecke, wo schon andere standen. Diese Tat brachte mich auf die Idee, Kittel anzurufen. »Ich dachte, du bist längst zurück in Köln«, meldete er sich. »Wollte ich auch sein, aber gewisse Dinge halten mich hier noch fest.« »Hast du schon gefrühstückt?« »Hat sich leider bis jetzt nicht ergeben.« »Dann komm doch bei mir vorbei. Ich mache gerade Kaffee.« Erst als ich in seiner Wohnung eintraf, wurde mir klar, dass von einem gemeinsamen Frühstück nicht die Rede gewesen war. Den Umweg für die Brötchen hätte ich mir sparen können. Kittels Wohnungstür stand offen und von ihm selbst war keine Spur zu sehen. Der Tisch war nicht gedeckt und der Kaffee schon alle bis auf einen kleinen schwarzen Rest, der in der Maschine schmorte und eine betonharte Schicht auf dem Boden der Glaskanne bildete. »Henk, bist du das?«, schallte Kittels Stimme durchs Treppenhaus. Sie kam von unten aus dem Keller.
Ich tappte drei Stockwerke hinunter. Soviel ich wusste, war seine Parzelle die vorletzte auf der linken Seite. Irgendwann hatte ich ihm mal geholfen, einen alten Schrank von da unten in sein neues Büro zu schaffen. Inzwischen hatte sich der kleine Raum ziemlich verändert. Sämtlicher alte Krempel war verschwunden, stattdessen standen linker Hand zwei überquellende Papierkörbe. Am rechten Bretterverschlag lehnte ein halb voller Plastiksack, der gelblich schimmerte und nach kalter Asche roch, aller Wahrscheinlichkeit nach jener legendäre gelbe Sack, der zurzeit Kittels Denken und Tun beherrschte. Und mitten im Raum stand er selbst und sortierte Papierkram auf einem kleinen Tischchen. »Darf man fragen, was du hier treibst?«, erkundigte ich mich. Kittel drehte sich um, musterte mich kurz und wandte sich dann wieder seiner Tätigkeit zu. »Ich arbeite an einem Fall. Hab ich dir doch erzählt.« »Stimmt«, sagte ich. »Der Fall Marietta.« Ich deutete auf die Säcke. »Für mich sieht das wie Abfall aus.« »Das ist es auch«, schnauzte Kittel. »Aber Abfall und Abfall ist eben nicht immer das Gleiche.« »Völlig klar, Kittel.« Ich verspürte nicht die geringste Lust, mich auf einen weiteren Disput einzulassen. »Nur was hat das mit deinem Fall zu tun?« Endlich wandte er sich mir zu, entledigte sich seiner Handschuhe und griff nach einer Tasse Kaffee, die auf dem Tisch neben der Lampe stand. »Mariettas Mann geht fremd, so viel ist klar. Das Dumme ist nur, seine Freundin ist nirgendwo aufzutreiben.« »Wahrscheinlich bildet Marietta sich nur ein, dass er eine andere hat. So was kommt doch vor. Eine sehr geläufige Form der Eifersucht.« »Nicht in diesem Fall.«
»Warum nicht?« »Weil die Sache komplizierter ist. Es ergeben sich so viele Ungereimtheiten. Je tiefer man bohrt, desto mehr.« »Was hast du denn in der Hand?« »Bisher nichts. Das heißt aber nicht viel. Ich kenne den Namen der Frau nicht, weiß aber, wo sie arbeitet. Leider ist ihr Arbeitgeber nicht sehr kooperativ.« »Ist doch verständlich. Wer gibt denn schon gern Informationen über seine Mitarbeiterinnen an Wildfremde?« »Mariettas Mustergatte ist ein penibler Mann. Ein braver Angestellter, der über alles und jeden Akten anlegt. Marietta hat ein wenig bei ihm gestöbert und ist immer wieder auf diese Klinik gestoßen. Sie ist das Einzige, wo ich ansetzen kann, aber der Herr Chefarzt hat etwas dagegen, dass ich meine Ermittlungen durchführe. Er hat mich raus geworfen, ohne sich anzuhören, was ich überhaupt wollte.« »Was erwartest du, Kittel? Wahrscheinlich hast du den Krankenhausbetrieb gestört und – « »Du hast den Mann nicht erlebt. Ich sag dir, Henk, da ist was faul und ich werde herauskriegen, was.« Direkt vor mir auf dem Boden lag ein halb zerknülltes Blatt Papier, auf dem mir das Wort… ockmühl ins Auge fiel. Ich nahm den Brief auf und begann, ihn auseinander zu falten. »Wo hast du das denn her?« »Würdest du mir einen Gefallen tun, Henk?«, sagte mein Expartner statt einer Antwort. »Es hat Zeit gekostet, die Sachen zu ordnen. Leg das doch bitte wieder in den gelben Sack zurück.« »Es lag auf dem Boden, nicht im Sack.« »Schmeiß es einfach hinein.« »Könntest du es mir überlassen?«, fragte ich. »Der Name da drauf kommt mir bekannt vor.«
Kittel nahm mir das Papier aus der Hand und ließ es in den Plastiksack gleiten. »Später gern«, sagte er. »Aber ich muss all dieses Zeug erst prüfen.« »Wozu um alles in der Welt?« »Sagt dir der Name van Basten etwas?« »Allerdings. Ich habe ihn kennen gelernt im Zusammenhang mit den Ärztemorden.« »Hat er etwas damit zu tun?« In Kittels Stimme klang so etwas wie Hoffnung mit. »Nein. Er macht sich nur Sorgen, dass er in einer berufsspezifischen Mordserie bald selbst zu den Opfern zählen könnte.« »Weißt du mehr über den Mann?« »Warum interessierst du dich für ihn?« Kittel verdrehte die Augen. »Wovon rede ich denn die ganze Zeit? Er ist der so genannte Arbeitgeber der Frau, mit der Mariettas Typ schläft.« »Woher weißt du das?« »Ich war gestern dort.« Jetzt wurde mir einiges klar. »Er hat mir von deinem Besuch erzählt«, nickte ich. »Ich hab ihn nämlich später im Schlossgarten getroffen.« »Ich traue dem Mann nicht über den Weg.« »Für seine Stimme kann er nichts.« »Jetzt will ich dir mal was sagen: Vor fünf Jahren eröffnete van Basten die Klinik in Havixbeck. Vorher hatte er eine große Praxis im Kreuzviertel. Beste Lage. Dann gab es plötzlich Gerüchte. Sie betrafen seine neuartige Therapie.« »Hat er mir von erzählt. Er belagert seine Patienten und bietet ihnen ein hölzernes Pferd an, damit er sich auf besondere Weise in sie hineinversetzen kann.« »Hineinversetzen«, spottete Kittel. »Genau. Und weißt du auch, dass er das ziemlich wörtlich meint?«
»Verstehe kein Wort.« »Es stellte sich heraus, dass der liebe Doktor fast ausschließlich Frauen als Klienten hatte. Die Vermutung lag nahe, dass ihm die Therapie lediglich als Vorwand für sexuelle Übergriffe diente.« »Und? Stimmte die Vermutung?« »Ich gehe davon aus.« »Was soll das heißen, du gehst davon aus?« »Die Sache wurde schließlich unter den. Teppich gekehrt.« »Sie verlief im Sande, willst du sagen.« »Das ist doch wohl dasselbe.« »So wie es dasselbe ist, jemanden zu verdächtigen oder sauer auf ihn zu sein, nur weil er einen vor die Tür gesetzt hat.« »Na schön, Henk.« Kittel winkte mich hinaus. »Mach du deinen Kram und ich meinen.« »Diese Gerüchte über van Basten haben sie dir in der Klinik einfach so erzählt?« »Natürlich nicht. Da wollte keiner den Mund aufmachen. Aber in der Stadtbibliothek findest du alles zum Thema VanBasten-Klinik. So hat der Fall eine völlig neue Dimension für mich gewonnen.« Ich warf dem übel riechenden Plastiksack, der sich wie ein alter Freund an Kittels Bein schmiegte, einen hasserfüllten Blick zu. Gibt dir keine Mühe, schien mir das feiste gelbe Ding zuzuflüstern. Er hört nicht auf dich, nur auf mich. »Nimm’s nicht persönlich«, sagte ich, »aber all das hier erweckt den Eindruck, als hättest du dich in etwas verrannt.« »Auch wenn du es nicht kapierst, Henk: Ich habe meine eigenen Methoden, den Mann festzunageln.« »Was für Methoden?« »Der Müll eines Menschen«, verkündete Kittel feierlich, »sagt dir mehr über ihn als derjenige dir selbst erzählen könnte.«
Ich schnitt eine Grimasse und gab dem Sack einen leichten Tritt, worauf er sich träge zur Seite neigte. »Konfuzius, oder was?« »Quatsch, der Spruch hängt über Mariettas Schreibtisch.« »Ich verstehe immer noch nicht, was das alles mit ihr zu tun hat.« »Van Basten will vielleicht nicht reden, aber er schmeißt vieles weg: Briefe, Gutachten, Rezepte. Private Notizen. Manchmal kann das ganz schön aufschlussreich sein.« »Du willst damit sagen, du hast ihm das ganze Zeug hier geklaut?« »Nicht ich, sondern zwei Kollegen von der Müllabfuhr des Kreises Coesfeld, die Marietta noch was schuldig waren. Außerdem kann von geklaut ja wohl keine Rede sein.« »Von was sonst?« »Es lag sozusagen auf der Straße. Wenn du vor die Tür trittst und auf dem Bürgersteig eine Kippe aufhebst, interessiert es dich dann, wem sie gehört hat?« Der Plastiksack kippte wie in Zeitlupe vornüber und erbrach seinen Inhalt auf den Boden. Ich beschloss, den fälligen Wutanfall nicht abzuwarten. »Ich hoffe, Kittel«, sagte ich, »du weißt, was du tust.«
15
Am Nachmittag radelte ich zum Polizeipräsidium und stattete Pit Bondt einen Besuch ab, um herauszufinden, ob ich inzwischen zu seinem Hauptverdächtigen aufgestiegen war. Zehn Minuten wartete ich in seinem Büro und bewunderte eine beeindruckende Sammlung kleiner Fläschchen, die die Fensterbank füllte. Nasentropfen, Nasenspray, Husten- und Ohrentropfen, allesamt säuberlich nach Größe und Darreichungsform geordnet. Daneben ein großer Stapel auseinander gefalteter und glatt gestrichener Beipackzettel, die von einem Briefbeschwerer aus Messing in Form eines Sheriffsterns festgehalten wurden. »Was wollen Sie denn hier?« Bondt hatte unbemerkt das Zimmer betreten. »Ich bin gekommen, um mich zu stellen.« »Ach, hören Sie auf.« Seine Laune schien deutlich besser zu sein als gestern. »Ich habe zu tun.« »Die Verbrechen lasten zentnerschwer auf meinem Gewissen. Erlösen Sie mich, Herr Kommissar.« »Also schön.« Bondt seufzte schuldbewusst und schenkte mir ein müdes Grinsen. »Ich hatte schlecht geschlafen in der Nacht vor dem letzten Mord«, erklärte er. »Meine Tochter ist mit einem Milchbubi zusammen, der noch nicht trocken hinter den Ohren ist, aber schon weiß, dass alle Bullen Schweine sind.« »Fleischskandale ohne Ende«, nickte ich verständnisvoll. »Wer will sich da noch auskennen?« »Gestern Nachmittag eröffnete sie mir, dass sie mit dem Kerl drei Wochen Urlaub machen will, und zwar in einem
gemeinsamen Zelt. Ich hab’s ihr verboten.« Er zuckte mit den Schultern. »Heute Morgen sind sie abgereist.« »Sie meinen also, wenn ich wollte, könnte auch ich das jetzt wieder tun.« »Machen Sie, was Sie wollen. Ich gebe Ihnen nur einen Rat: Meiden Sie das Mittelmeer.« »Wieso?« »Das Wasser ist ein einziger Krankheitsherd. Das Essen ungesund. Da können Sie nur verlieren.« »Danke für den Tipp, Herr Kommissar. Was macht Ihre Filmkarriere?« »Ach, Unsinn!«, grinste er. »Wo haben Sie das denn her?« »Nur so gehört.« »Dieser Steck glaubt, er könne meine Spürnase außer Gefecht setzen, indem er sie mit Honig beschmiert. So blöd bin ich nicht.« Der Anflug eines koketten Lächelns huschte über sein Gesicht. »Aber so ganz unbeleckt auch nicht. Ich hab schon mal einen Kurs in künstlerischem Ausdruck belegt.« »Doch nicht etwa im Kreativhaus?« Bondt strahlte mich an wie einen alten, lange vermissten Bekannten. »Jetzt sagen Sie bloß, Sie haben den auch gemacht?« Ich winkte ab. »Nett von Ihnen, dass Sie mich als Verdächtigen entbehren können.« »Nichts für ungut.« Er klopfte mir zum Abschied auf die Schulter, bevor er wieder an seinem Schreibtisch Platz nahm. »Sie wissen doch, wie das ist.« »Schon kapiert«, nickte ich. »Wird in dieser Stadt auch nur einer umgenietet, müssen Sie ran.« »Tja, zum Glück ist das ja nicht immer so. Gerade heute haben sie drüben bei St. Lamberti einen Toten gefunden.« Bondt legte demonstrativ die Füße auf seinen Schreibtisch. »Und? Sehen Sie mich etwa in Eile?«
»Also handelt es sich dieses Mal nicht um einen Arzt?« »Keine Ahnung. Glücklicherweise ist der Tote uralt, Mittelalter oder Spätantike, vielleicht sogar Rokoko. Ein Fall für die Archäologen. Fragen Sie die.« »Haben die schon eine Vermutung, wer es ist?« »Bisher rätseln sie nur. Irgendein Apostel aus dem Altertum, ein bisher unbekannter Wiedertäufer oder das Missinglink zwischen Kiepenkerl und Homo sapiens. Steht bestimmt morgen alles in der Zeitung.« Ich war neugierig geworden. »Wo genau hat man ihn denn gefunden? Etwa in der Krypta?« »Nein, neben der Kirche unter der Straße. Die baggern doch zurzeit die ganze Innenstadt auf. Wundert mich gar nicht, dass sie was gefunden haben, das musste ja so kommen. Wer weiß, was sie noch alles zu Tage fördern.«
Als ich vierzig Minuten später Kittels Büro betreten wollte, wurde die Tür durch die Post blockiert, die sich drinnen so hoch unter dem Briefschlitz auftürmte, als wäre ich drei Wochen verreist gewesen. Eine Einladung zu einer Kaffeefahrt, das kostenlose Schnupperangebot eines neuen Fitnessstudios um die Ecke, die Speisekarte eines Pizzataxis, Sonderangebote für Kohlrouladen und Sauerbraten – ich wollte alles mit dem Fuß beiseite räumen, als mein Blick auf ein weißes Blatt Papier fiel: Sie sind nicht da, also komme ich später noch mal wieder stand darauf. Die Nachricht war ohne Unterschrift, aber der Duft, der an dem Zettel haftete, ließ keine Fragen offen. Tatjana de Vito musste sich dieser Eindeutigkeit bewusst gewesen sein und hatte deshalb darauf verzichtet, ihren Namen zu erwähnen. Leider bist du immer noch nicht zurück, also lasse ich dir das Buch hier, duzte mich
ein zweites Blatt mit ihrer Handschrift. Ich habe es mir von Andro ›geborgt‹. Mir wurde klar, dass ich etwas verpasst hatte. Welches Buch meinte sie? Ich arbeitete mich durch den Papierwust und fand ein kleines Päckchen, das eine dicke Kladde enthielt. Life is a movie, behauptete der handgeschriebene Titel, den auch die Flucht ins Englische nicht vor der Banalität retten konnte. Von A. Steck. Das Heft war zu drei Vierteln voll geschrieben. Andros Handschrift war krakelig und stellenweise nicht zu entziffern. Was als eine Art Tagebuch begann, verlor sich bald in allgemeinen Sentenzen, gewollten Aphorismen sowie ausufernden Betrachtungen über den modernen Unterhaltungsfilm. Wahrscheinlich plante Andro, dieses Sammelsurium als Autobiografie herauszugeben. Er konnte einem Leid tun, wie er Zeile für Zeile geackert hatte, sich als wildes, künstlerisches Genie darzustellen. Das Gegenteil war ihm gelungen. Mit keinem Wort ging er auf seine zahlreichen Affären ein. Als lesenswert erwiesen sich einzig die Stellen, die – von Tatjana mit kleinen Zetteln markiert – auf Kurd Ingolf Bezug nahmen. Der Hass, den Steck für den Schauspieler empfunden haben musste, verlieh seiner Sprache die Kraft, die ihm auf allen anderen Seiten fehlte. Drehpannen, die Ingolf verursacht hatte, seine dauernden Streits mit Tatjana und die Versuche, sie anzubaggern – über all das hatte Andro peinlich genau Buch geführt. Im Übrigen sei Kurd Ingolf ein so abgrundtief schlechter Schauspieler, stellte der Regisseur resümierend fest, dass er seine Zuschauer niemals dazu bringen werde, ihm zu applaudieren. Es bleibe ihm wohl nichts anderes übrig, als jeden Einzelnen zum Applaus zu zwingen, indem er ihn erpresste. Das war deutlich genug. Ich wollte das Machwerk in die Ecke zu den Postwurfsendungen legen, als ein gefaltetes Blatt Papier herausfiel, das ich zunächst für eine von Tatjanas
Markierungen hielt. Aber es war ein Brief, der ausschließlich aus Großbuchstaben bestand, die mit einem fetten schwarzen Filzstift geschrieben worden waren: GLAUBST DU IM ERNST, DASS DU DAVONKOMMST? SIEH SIE DIR AN, WIE SIE FOTOS MACHEN, ÜBER BANALES SCHWATZEN UND IHRE EITELKEIT BEFRIEDIGEN. WIR BEIDE WISSEN DOCH, WAS SIE DA UNTEN FINDEN WERDEN DAMALS HABT IHR SIE DORT VERSCHARRT, NACHDEM IHR EUCH IN DER SAKRISTEI AN IHR VERGANGEN HABT DIE ANDEREN HABEN AUCH GEGLAUBT, DASS SIE DAVONKOMMEN WÜRDEN. L. Hatte Andro Steck diesen Brief erhalten oder wollte er ihn noch abschicken? Wer war L.? Hatte Tatjana den Brief übersehen oder hielt sie ihn nicht für wichtig? Ich schlief eine Nacht darüber, und als ich am nächsten Morgen am Kiosk um die Ecke aufgebackene Brötchen holte, konnte ich mir immer noch keinen Reim darauf machen. Auf dem Rückweg kam ich an einem Hauseingang vorbei, auf dessen Treppenstufe neben Hundekot und einer offenen Bierdose ein Stapel der Stadtzeitung lag, die viele für ein Putzmittel hielten. Ich nahm ein Exemplar mit nach Hause und blätterte es beim Frühstück durch. Wie sich herausstellte, hatte Sven Korsten seine Hausaufgaben gemacht und die Geschichte gründlich recherchiert. Er berichtete vom legendären Fluch des Tutanchamun, der vor langer Zeit Lord Carnavon, Howard Carter und viele andere dahingerafft hatte, nachdem sie das Grab des Pharao im fernen Tal der Könige geöffnet und der Welt der Zwanzigerjahre ihre Sensation beschert hatten. Dann warf Korsten eine Menge Fragen auf und spekulierte wild drauflos. Könnte sich heutzutage ein ähnlicher Fall mitten in
Westfalen wiederholen? Anhaltspunkte dafür seien vorhanden: So gut wie niemand sei bereit, Stellung zu den seltsamen Mordfällen zu nehmen, was einen stutzig mache. Es gäbe zwar Tote, aber die Kripo verfüge bisher nicht einmal über den Anschein einer Spur, geschweige denn über einen ernst zu nehmenden Verdacht. Und während die braven Beamten mit leeren Notizblöcken in der Hand im Dunkeln umhertappten, nähme die mysteriöse Affäre ihren Fortgang mit dem Fund eines unbekannten Toten bei St. Lamberti. Bislang reagiere die Wissenschaft zurückhaltend, verständlicherweise, aber das gierige Leuchten in den Augen der Experten der Westfälischen Wilhelms-Universität sei Hinweis genug. Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende, so verstieg sich der ehrgeizige Reporter, seien Busse über das ehrwürdige Pflaster des Alten Steinweges gerüttelt und keiner der Insassen habe jemals auch nur geahnt, dass sie über ein archäologisches Geheimnis ersten Ranges rollten, nach dessen Aufklärung man große Teile der Kirchengeschichte neu schreiben müsse, vor allem die Kapitel über die Christianisierung der Euregio. Welch hanebüchener Unsinn, dachte ich. Aber noch während ich mich über das Geschreibsel amüsierte, beschlich mich ein anderes Gefühl. Die Häme kam nicht richtig in Fahrt, weil eine leise, aber dennoch unüberhörbare Stimme ihr den Spaß verdarb. An diesem Unsinn, gab sie zu bedenken, könnte möglicherweise tatsächlich etwas dran sein. Schließlich war in dem Drohbrief, der im Tagebuch von Andro Steck gelegen hatte, die Rede von etwas gewesen, was man dort unten finden würde. Etwas, das jemand verscharrt hatte. Fast zehn Minuten lag mein belegtes Brötchen nun schon vor mir auf dem Teller. Zu lange für ein Secondhand-Lebensmittel, das man in der Mikrowelle reanimiert hatte. Als ich abbeißen wollte, zerbröselte das Ding in meiner Hand und tausend Krümel regneten auf meinen Teller.
Wenn ich alle Spukgeschichten beiseite ließ, zerbröselte auch dieser Fall. Aber nur fast. Und eben nicht alles. Es war durchaus denkbar, dass jemand mit einer ziemlich kranken Fantasie all diese mysteriösen Komponenten zusammengemixt hatte, um damit eine alte Rechnung zu begleichen. Um Rache zu nehmen für einen schrecklichen Vorfall in der Vergangenheit. Ich musste nur herausfinden, welche gemeinsame Vergangenheit die Opfer miteinander verband. Dr. Wackernagel konnte mir vielleicht dabei helfen, ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen, indem er eine Kerze anzündete, und sei es auch nur eine Räucherkerze. Ich kramte den Zettel mit seiner Telefonnummer aus meiner Jackentasche und stieß dabei auf ein zerknülltes Blatt Papier. Es war der Brief aus van Bastens Müll, den Kittel nicht hatte herausrücken wollen. Also hatte ich ihn in einem unbeobachteten Moment eingesteckt. Sehr geehrter Herr Kollege, las ich, ich freue mich, auch Ihnen mitteilen zu können, dass die Befürchtungen hinsichtlich des Gesundheitszustandes unserer gemeinsamen Patientin der Grundlage entbehren. Mit freundlichem Gruß, Dr. L. Bockmühl. Na also, alles im grünen Bereich, dachte ich, während ich Wackernagels Nummer wählte. L. Bockmühl. Ich kannte also einen L. nur kam der nicht mehr als Täter in Frage. Der Anrufbeantworter des Naturdoktors begrüßte mich mit sphärischer Beschallung, die mich süßlich wie Hustensaft und dünner als Wasser über eine Minute lang belästigte. Dann meldete sich Wackernagel mit dem Hinweis, dass das soeben gehörte Geräusch Botschaften an das Unterbewusstsein enthalten habe, die den Hörer in die Lage versetzten, umgehend mit dem Rauchen aufzuhören, selbstbewusster
aufzutreten und den richtigen Sexualpartner zu finden. Im übrigen sei diese Behandlung ein Geschenk des Doktors und würde dem Patienten nicht in Rechnung gestellt. »Voss hier«, sagte ich. »Ich muss dringend mit Ihnen über Ihre Pfadfinderzeit reden. Am besten heute noch. Übrigens versetzt Ihre Musik einen auch in die Lage, Kopfschmerzen zu empfinden.« Als ich aufgelegt hatte, klopfte es dezent an der Tür. Ich öffnete und stand Terjung gegenüber. »Sie?« Der Mann mit der grünen Brille lächelte unsicher. »Ich würde Sie gern einladen. Zu einem Eis oder einem Kaffee, was Sie wollen.« »Jetzt gleich?« Er nickte. »Warum?« »Weil ich einen neuen Versuch machen will.« »Inzwischen bin ich aber zu beschäftigt, um Ihren Fall zu übernehmen.« »Bitte«, beharrte er. »Ich muss wissen, was mit Lawinia ist. Nur auf einen Kaffee.« »Also gut.« Ein paar Ecken weiter, direkt am Kai, gab es eine Schickikneipe. Sie war teuer und wimmelte in der Regel von jungen Leuten, die ihre Zeit damit verbrachten, ›in‹ zu sein, aber um diese Zeit herrschte kaum Betrieb und man konnte am Hafenbecken sitzen. Mein Blick schweifte über die beschauliche Speicherstadt, die einen Eindruck davon vermittelte, wie etwa eine Stadt wie Hamburg aussehen könnte, wenn sie durch eine nukleare Panne auf ein Zehntel ihrer Größe zusammenschrumpfen würde. »Werden Sie mir helfen?« Terjungs Stimme hatte etwas Beschwörendes.
»Sie sollten sich endlich entscheiden«, gab ich zurück. »Wollen Sie, dass ich für Sie arbeite, oder wollen Sie es nicht?« »Es geht nicht nur um Lawinias Leben«, verkündete er mit düsterer Feierlichkeit. »Sondern auch um meines.« Terjung nahm seinen Tee in Empfang. Umständlich angelte er mit dem silbernen Löffelchen nach dem Teebeutel, zog ihn heraus und ließ ihn abtropfen. Dann wickelte er ihn um den Löffel und presste ihn aus wie einen Schwamm. »Ich beschwere mich nicht«, sagte er. »Ich habe einen sicheren, gut dotierten Job. Bei der LVM, so heißt es bei uns, gilt bezahlter Urlaub nicht nur als Selbstverständlichkeit, sondern als Synonym für eine unbefristete Stelle.« »Gratuliere«, sagte ich und nahm mir vor, Kittel damit neidisch zu machen. »Mindestens einmal pro Jahr besuche ich eine Fortbildung. Zweimal fahre ich in Urlaub, im Winter in die Schweiz, im Sommer entweder nach Mallorca oder nach Gomera.« »Abgesehen davon, dass das nicht besonders sensationell klingt«, versuchte ich seinen Vortrag abzukürzen, »weiß ich nicht, warum Sie mir das erzählen.« »Ich arbeite in der Personalabteilung. Mithilfe von Computerprogrammen erstellen wir Mitarbeiterprofile. Wollen Sie wissen, wie der ideale Beschäftigte aussieht? Er ist vierzig Jahre alt und gehört seit vierzehn Jahren dem Betrieb an. Gerne besucht er Fortbildungen, hat ein Faible für Katzen und fährt im Urlaub nach Mallorca oder Gomera.« »Das sind doch Sie.« Terjung nickte frustriert. »Ein halbes Jahr habe ich an dem Programm für dieses Profil gearbeitet. Und dann hat der Computer mich ausgespuckt. Ich bin das Mittelmaß von zweitausendsechshundert Mitarbeitern.« »Das kann man doch als Ehre auffassen.«
»Es ist schon nicht schmeichelhaft, als Durchschnittsmensch zu gelten. Aber ich bin der Durchschnittsmensch.« Terjung schlürfte seinen Tee. »Das heißt, ich war es. Bis ich Lawinia kennen lernte.« »Verstehe. Alles wurde mit einem Schlag anders.« »Ich will endlich leben, verstehen Sie? Alles hinwerfen und neu anfangen. Nächstes Jahr werde ich nicht nach Gomera reisen, sondern nach Indien, ich habe mir von einem Reisebüro schon entsprechende Angebote schicken lassen.« »Was haben Sie in Indien vor?« »Neu anfangen. Mich selbst suchen. Mein Geld als Rikschafahrer verdienen. Aber dazu brauche ich Lawinia.« Terjung verzog keine Miene. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob er mich nicht verschaukeln wollte. »Zum Rikschafahren?« »Mein neues Leben kann ohne sie nicht stattfinden. Sie ist der Schlüssel. Jetzt verstehen Sie vielleicht, wieso ich sie unbedingt Wiedersehen muss.« »Und ich soll Ihnen dazu verhelfen?« »Wollen Sie etwa schuld daran sein, dass ich wieder in die Personalabteilung an meinen Computer zurückkehre?« Terjung zeigte nicht den Anflug eines Lächelns. Kaum zu glauben, es war ihm wirklich ernst damit. »Also gut«, sagte ich. »Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich sie finden werde. Mir scheint, dass diese Angelegenheit in irgendeiner Weise mit den Ärztemorden zusammenhängt.« »Ich möchte Ihnen nicht hineinreden. Arbeiten Sie auf Ihre Weise.« »Na also, das lässt sich hören.« Ich winkte dem Kellner. »Sie wollen also alles hinschmeißen. Gilt das auch für Ihre Brille?« »Ich habe sie doch ihr zuliebe gekauft«, erwiderte er irritiert. »Lawinia hat sie gefallen.«
Auch wenn es aussichtslos war, das Bemühen, über seinen spießigen Schatten zu springen, schien echt. Ich nahm mir vor, mich nicht mehr über Terjung lustig zu machen. »Stellen Sie sich das Leben als Rikschafahrer nicht zu leicht vor«, warnte ich. »Haben Sie das etwa schon mal gemacht?« »Das nicht. Aber wie irgendein Sprüchemacher mal gesagt hat: Lass niemals deine karierte Hose herunter, wenn du gepunktete Unterwäsche darunter trägst. Oder so ähnlich.« »Was soll das heißen?« »Dass einem der Versuch, das spießige Ego abzulegen, einen Haufen neuer Probleme bescheren kann.« Der Kellner stand neben unserem Tisch. »Zahlen, bitte.« Terjung klappte sein Portmonee auf und ich machte mich auf eine längere Wartezeit gefasst. Ich deutete auf ein Porträt, das in der Innenseite der Börse steckte. »Ihre Frau?«, flachste ich. »Nein, das ist eine Katze, die ich einmal hatte«, antwortete er und schob mir das Bild herüber. »Es ist eine Erinnerung. Wissen Sie nicht mehr?« Er deutete ein Grinsen an. »Die Statistik: Ich habe eine Schwäche für Katzen.«
16
Die Polizei verwies mich in der Angelegenheit des Toten vom Prinzipalmarkt an die Uni. Im archäologischen Institut war man allerdings nicht sehr auskunftsfreudig. Erst müsse der Fundort gesichtet werden, die rechtsmedizinische Untersuchung werde man später in Angriff nehmen, voraussichtlich also erst ab morgen. Im Übrigen sollte ich mich an eine Frau Prof. Dr. Bulljanow wenden, die das Projekt leite und mit Hochdruck ein Hauptseminar zu diesem Thema vorbereite. Man bräuchte allerdings viel Glück, um sie zu erreichen. Leider hatte ich keins. Als Wackernagel anrief, war es schon sehr spät. »Ich komme gerade von einem Hausbesuch«, sagte er. »Bis zum nächsten habe ich eine halbe Stunde.« Meine Uhr zeigte dreiundzwanzig Uhr zehn. »Sie sind ein viel beschäftigter Mann.« »Der Mensch muss arbeiten, um sein Auskommen zu haben«, antwortete er. »Natürlich könnte ich auch Taxi fahren, dann hätte ich schon seit zwei Stunden Feierabend. Aber ich muss Ihnen gestehen, ich bin ein miserabler Autofahrer.« Umständlich erklärte er mir den Weg.
Wackernagels Praxis war auch seine Privatwohnung. Sie lag im zweiten Stock eines heruntergekommenen Hauses nördlich des Stadtzentrums an einer stark befahrenen Straße. Im Erdgeschoss befand sich ein griechisches Restaurant, das das Treppenhaus mit dem Geruch von Oliven und Schafskäse und
den dazu passenden Bouzouki-Klängen versorgte. Auf der Wohnungstür klebte ein mit Buntstift gemaltes Schild: Dr. U. Wackernagel, Naturheilverfahren, Biografieberatung, Reinkarnationsmanagement. Das Sprechzimmer war ein so gut wie leerer Raum. Es gab nur einen Tisch und zwei Holzstühle, eine antike braune Ledercouch und eine große kugelförmige Papierlampe, die von der Decke baumelte. Die Wände schimmerten unregelmäßig in einem bläulichen Farbton. Wahrscheinlich hatte die Tünche nicht ganz ausgereicht. An einer von ihnen prangte in einem dunklen Rahmen das Profil Rudolf Steiners. Sein Ausdruck war so gedankenschwer, dass man gar nicht wissen wollte, worüber er nachdachte; aber vermutlich missfiel ihm nur der schlampige Anstrich. »Ich habe mir gerade einen Drink gemacht«, sagte der Doktor, als er mich hereinließ. »Möchten Sie auch einen?« Ich schnüffelte an der Tasse, die auf dem Tisch stand. Es roch nicht streng, aber seltsam. »Was ist denn da drin?« »Chitintee. Von mir selbst kreiert. Hilft praktisch gegen alles.« »Chitintee?« »Sie wissen, doch: Chitin. Daraus sind Insekten gemacht. Ein Aufguss mit der richtigen Verdünnung ist sehr gesund. Stärkt die Immunabwehrkräfte und bringt die Chakren richtig auf Touren.« »Woher bekommen Sie das Zeug denn?« Wackernagel wies mit einer Geste auf die kahlen Wände. »Hier finden Sie jede Menge Fliegen.« Sein Arm näherte sich der Kanne. »Nein, danke.« Ich bedeckte meine Tasse mit der Hand. »Vielleicht später.« Als wollte er die Tristheit seiner Wohnung betonen, hatte der Doktor selbst sich herausgeputzt. Er trug eine dunkelblaue
Hose und ein gebügeltes weißes Hemd. Sein Haar sah zahmer aus als neulich, wahrscheinlich hatte er es gewaschen. Er bemerkte meinen Blick. »Tja, der Patient ist heutzutage König, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ich will Sie nicht lange aufhalten, Doktor. Es geht um Ihre Beziehung zu Ihren Kollegen Bockmühl und Pilgrim. Und um St. Lamberti.« »Sie meinen unsere Pfadfindergruppe.« »Angenommen, dieser Lamberti ist jemand, der sich in der Rolle des blutigen Rächers gefällt. Er macht sich den Rummel um einen drittklassigen Film zu Nutze, um Morde zu begehen. Er könnte doch auch einer der Pfadfinder gewesen sein, oder nicht?« »Sehen Sie, Herr Voss, wir waren damals brave Jungs. Katholisch und fromm. Auch später, während des Studiums haben wir uns noch oft getroffen.« »Können Sie mir die Namen der Leute nennen, die damals der Gruppe angehörten?« »Na schön. Da war Lars Bockmühl, Moritz Pilgrim, ich natürlich und Tilo…« »Tilo?« »Tilo van Basten.« Sieh mal an! Daher kannte der Chefarzt also seine ermordeten Kollegen. »Wie steht’s mit Andro Steck?« »Steck? Nicht dass ich wüsste. Aber ich erinnere mich auch nicht mehr an alle Namen. Da waren noch zwei oder drei, die nur am Anfang dabei waren, später bei der politischen Arbeit haben sie nicht mehr mitgemacht. Moment, da war noch Klaus, nein, der hieß, glaube ich, Markus. Oder Werner. Eins von beiden. Fragen Sie mich nicht nach dem Nachnamen.« So kam ich nicht weiter. »Mich würde interessieren, ob Sie sich jemals an jemandem vergangen haben.«
Der Arzt stutzte und glaubte, sich verhört zu haben. »Vergangen?« »In einer Sakristei. Jemand, den Sie dann später unten im Keller verscharrt haben.« Wackernagel starrte mich begriffsstutzig an. Ich zog den Brief, den ich aus Stecks Tagebuch hatte, hervor und reichte ihn ihm. »Ich suche einen Vorfall«, erklärte ich. »Irgendeinen dunklen Punkt, der ein Motiv für einen Rachefeldzug sein könnte.« »Lassen Sie mich nachdenken.« Er überflog das Blatt. »Wir haben hin und wieder eine Fahrradtour zusammen gemacht. In die Baumberge und einmal sogar nach Holland. Später, während des Studiums und noch später, haben wir uns politisch betätigt. Flugblätter verfasst, ein paar Demos und Mahnwachen abgehalten. Gegen Sachen protestiert.« Der Heilkundige schüttelte den Kopf. »Nee, vergewaltigt haben wir nie jemanden, nicht einmal belästigt. Wie gesagt, wir waren fromme Jungs. – Doch, warten Sie…« Er deutete plötzlich auf mich. »Einmal waren wir im Auto unterwegs und haben eine Katze überfahren.« Dann schüttelte er den Kopf. »Aber die haben wir in den Mülleimer an der Raststätte Münsterland geworfen, nicht in der Krypta von St. Lamberti vergraben.« Wackernagel zuckte die Achseln. »Jetzt sind Sie dran.« »Irgendetwas muss es aber geben«, beharrte ich. »Denken Sie nochmal drüber nach.« »Wissen Sie, was ich letzte Nacht geträumt habe?« Ich seufzte genervt. »Ich befand mich in einer früheren Inkarnation. Weit, weit weg von hier. Im Mittelalter oder sogar davor. Ich glaube, ich war Sterndeuter oder ein Gelehrter der Medizin.« »Eigentlich wollte ich jetzt los…«, sagte ich.
»Nun ja, schließlich stellte sich alles als Missverständnis heraus. Man hatte mich mit jemandem verwechselt. Trotzdem hat der Traum etwas zu bedeuten, da bin ich mir sicher.« Auf der mit blauen Schatten verschandelten Wand krabbelte eine Fliege. Ein Blick auf Wackernagel sagte mir, dass auch er sie entdeckt hatte. Jagdfieber leuchtete in seinen Augen auf. »Jetzt werde ich Ihnen mal etwas zeigen.« Das Schauspiel würde ich mir nicht mehr antun. »Ich habe Sie lange genug beansprucht«, sagte ich und erhob mich abrupt. »Jetzt ist Ihr Hausbesuch dran.«
Die mittelalterlichen Fassaden des Prinzipalmarktes, über dessen Kopfsteinpflaster mein Rad knappe fünf Minuten später rumpelte, wurden von einem seltsamen bläulichen Lichtschein illuminiert. Er stand nicht still, sondern strich an den Häusern entlang und kehrte wieder zurück. Ursache des Phänomens waren drei Streifenwagen, die vor einem der alten Häuser parkten, einem noblen kleinen Hotel mit privater Atmosphäre. Im Licht der Scheinwerfer bemerkte ich die Silhouette eines Mannes, der den Kopf zurückgelegt hatte und ein Sprühfläschchen an sein Nasenloch hielt. Als er mich näher kommen sah, schüttelte er den Kopf. »Jetzt sagen Sie bloß nicht, Sie fahren rein zufällig hier vorbei.« »Genau das, Herr Kommissar. Aber was führt Sie her? Hatten Sie nicht vor, die Füße hochzulegen?« Bondt verschloss sein Nasenspray mit einem Plastikhütchen und steckte es in die Tasche. »Haben Sie schon mal von Lambertis Fluch gehört? Ein schlechter Scherz, denken Sie wahrscheinlich. Aber inzwischen schlägt sich die Mordkommission mit ihm herum. Kommen Sie mit.«
Ich folgte ihm in den ersten Stock eines Hotels. Schon auf der Treppe hörte ich die unangenehme Stimme Andro Stecks, der sich mit zwei Streifenbeamten stritt. »Das ist der Herr«, Bondt deutete auf Steck, »der harte Wirklichkeit und schlechten Film nicht mehr auseinander halten kann.« »Herr Kommissar!« Der Regisseur humpelte auf uns zu. Er sah ramponiert aus. Unter seinen Augen waren Ringe, das Nasenpiercing wirkte stumpf wie ein alter Hosenknopf und seine Ohren schienen mehr abzustehen als sonst. Um den rechten Fuß trug er einen Verband. »Diese Typen waren wirklich hier«, erklärte er wütend. Dann entdeckte er mich und verzog das Gesicht. »Nein, nicht schon wieder! Was will der Kerl hier? Er bringt Unglück!« »Am besten«, schlug der Hauptkommissar freundlich vor, »erzählen Sie uns die Geschichte noch einmal von vorn.« »Wozu sollte ich das?« »Seinetwegen.« Bondt deutete auf mich. Ich bemerkte sein genüssliches Grinsen. »Herr Voss interessiert sich brennend für solche Dinge. Deshalb habe ich mich entschlossen, ihn sozusagen als Fachmann hinzuzuziehen.« Steck lachte spöttisch auf. »Der kann mich mal.« »Na, mal sehen«, meinte der Kommissar, »ob ich das noch zusammenbekomme: Es ist gerade mal eine gute Stunde her, da bekam unser Möchtegern-Fellini Besuch von zwei finsteren Subjekten, die sich mir nichts, dir nichts auf sein Sofa fläzten und versprachen, ihn vor Gefahren zu beschützen, auf die sie nicht näher eingehen wollten. Er müsse diesen Service allerdings entsprechend honorieren.« »Die Kerle haben mich erpresst, schlicht und einfach!«, zischte Andro Steck wütend. »Die Herren argumentierten, dass Herr Steck sich ziemlich ärgerlichen Ärger ersparen könne, was allemal besser sei, als
sich welchen einzuhandeln. Eine simple Logik, der zu entziehen einem gleichwohl schwer fällt.« »Bullshit!«, schnaufte der Filmemacher und betonte jede einzelne Silbe. »Bullshit!« Bondt nickte. »Korrigieren Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage«, bat er Steck. »Sie ließen sich das nicht bieten und warfen die beiden achtkantig raus. Dann genehmigten Sie sich einen – wobei Sie sich bis jetzt nicht festlegen wollten, ob Sie damit ein Glas oder eine Flasche meinen. Kurze Zeit später stand ein Gespenst auf dem Balkon. Eine lange, hagere Gestalt in einem schwarzen Umhang, die scheußlich anzusehen war und in ihrer Linken eine beachtliche Sense hielt.« Er wandte sich an mich. »Na, was sagen Sie dazu?« »Hat das Gespenst Sie bedroht?«, fragte ich Steck, aber er hatte offenbar beschlossen, mich zu ignorieren. »Wenn Sie mich fragen«, antwortete der Kommissar stellvertretend, »wollte es Herrn Steck vermutlich nur dazu bringen, noch eine Flasche zu leeren und sich so eine saftige Alkoholvergiftung zuzuziehen.« »Was ist mit Ihrem Fuß geschehen?«, erkundigte ich mich, aber Steck würdigte mich immer noch keines Blickes. Pit Bondt übernahm wieder die Antwort: »Als das Gespenst auf dem Balkon erschien, warf er sein Glas nach ihm. Die Fensterscheibe ging zu Bruch und der Herr Regisseur, besoffen wie er war, tappte anschließend barfuß in den Scherben umher.« Steck gegenüber deutete er eine Verbeugung an. »Habe ich etwas ausgelassen?« »Herr Kommissar.« Der Gepiercte hob beschwörend die Hände. »Ich weiß nicht, was die Typen wollten, aber eine knappe Viertelstunde, nachdem sie weg waren, stand die Figur auf dem Balkon. Ich habe, verdammt nochmal, nicht geträumt, nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!«
»Unser Tatverdächtiger«, erklärte Bondt an mich gewandt, als übersetze er eine fremde Sprache, »ist demnach in Schwarz gekleidet und hält eine große Sense in der Hand.« Er grinste. »Ganz klar, der Tod persönlich.« »Er war so real wie Sie und ich!«, beharrte Steck. »Nur nicht so groß.« Pit Bondt stieg vorsichtig über die Glasscherben hinweg, öffnete die Balkontür und deutete auf ein Windspiel, das im Holzrahmen hing, eine kleine Figur aus schwarzem Krepppapier. Ihr Arm, der aus einem Pfeifenreiniger gemacht war, hielt eine Sense in der Größe einer Zahnbürste. »Vielleicht hätten Sie einfach ein Glas weniger trinken sollen«, sagte er und stupste den Sensemann aus Papier an, dass er hin- und herbaumelte. Steck baute sich vor dem Kommissar auf. »Sie halten mich für verrückt, was?« »Vielleicht sind Sie auch clever und ziehen diese Nummer ab, um von Ihnen selbst abzulenken. Schließlich wollen Sie nicht hängen wie unser schwarzer Freund hier, nicht wahr?« »Die beiden haben hier gesessen. Sie ließen sich nicht abwimmeln.« Der Regisseur humpelte zum Tisch und hielt einen Stapel Papier hoch. »Einer hat auf meinem Skript herumgemalt.« Bondt zuckte die Achseln. »Wir werden das überprüfen.« Ein junger Mann drängelte sich in den Raum. »Nur ein oder zwei Fragen, Herr Kommissar.« »Wer sind Sie denn?« »Sven Korsten von der Unimox. Hat dieser Vorfall etwas mit der Mordserie zu tun?« »Mordserie, so ein Quatsch«, schnauzte Bondt. »Raus, aber schnell! Kinder haben hier nichts verloren.« »Aber die Presse muss doch – « »Hab ich irgendwas von Pressefreiheit gesagt?«
Ich warf einen Blick auf die Kritzeleien. Man konnte ein paar Strichmännchen erkennen und einen Turm aus diversen Tieren. Ein Elefant, auf dem ein Hund saß, darauf eine Katze und ganz oben ein Huhn. Nicht gerade ein zeichnerisches Meisterstück, die Viecher. Das Huhn konnte ein Hahn sein, genauso wie der Elefant ein Esel. Das ergab schon eher einen Sinn, nur welchen? Mir kam plötzlich eine Idee. »Vielleicht hat er sich doch nicht alles eingebildet«, sagte ich. Steck starrte mich an. Sollte ausgerechnet ich seine Hoffnung sein? »Sehr unwahrscheinlich.« Bondt machte ein skeptisches Gesicht. »Das Gekrakel ist doch so schlecht, dass es wahrscheinlich von ihm selbst stammt.« »Bisher hast du mir fast alles vermasselt, jetzt kannst du was gutmachen«, zischte Andro Steck in meine Richtung, großkotzig, als sei er immer noch der Chef. »Sag dem Typen schon, was Sache ist.« Wie eingebildet musste ein Mensch sein, dass er seine Lage so völlig falsch einschätzte? »Da der Hauptkommissar seine Arbeit tadellos erledigt, würde ich es für anmaßend halten, mich einzumischen. Sie sollten es ihm nicht verübeln, dass er Filmbubis besonders gern in die Mangel nimmt. Wie sagt man so treffend?« Ich grinste unverschämt. »Life is a movie, nicht wahr?« Andro Steck starrte mich entgeistert an. Seine Augen wurden zu Schlitzen und der Kiefer in seinem angeschlagenen Gesicht sackte hinab. »Du warst das!«, brüllte er außer sich. »Das gibt’s doch nicht! Du Sau hast meine Aufzeichnungen geklaut!« Ich ließ ihn stehen und er humpelte wild gestikulierend hinter mir her, konnte mich aber nicht einholen.
»Mein Tagebuch! Rück die Aufzeichnungen raus, du verdammter Dieb!«, schallte seine schrille Stimme durch das Treppenhaus. »Her damit, du Schwein, oder ich mach dich fertig!«
17
Es war nicht einfach, eine Telefonzelle zu finden. Genau genommen gab es gar keine mehr, nur noch hässliche Alusäulen mit einem rötlich glimmenden Ende, die an überdimensionale Zigaretten erinnerten. An ihnen konnte man Gespräche führen, die Wind und Wetter ausgesetzt waren. Mattaus Anrufbeantworter war eine stark rauschende Angelegenheit. Ich hörte seine Stimme zerstückelt und aus endlos weiter Ferne wie einen Notruf, den ein havariertes Raumschiff aus den Tiefen des Weltraums schickte. Als ich dem Gerät mein Anliegen anvertraute, war ich nicht sicher, ob es bei Mattau ankommen würde. Das wusste ich erst am nächsten Morgen, als der Exbulle an Kittels Bürotür klopfte. »Haben Sie schon gefrühstückt?«, erkundigte er sich, ließ sich in einen Sessel fallen und wartete geduldig, bis ich Kaffee, Marmelade und Brötchen auf dem kleinen Tisch in der Ecke zusammengetragen hatte. »Das sieht aber gut aus«, lobte er, während er sich gierig über das erste Brötchen hermachte. »Sie wollten mich sprechen?« »Herr Kommissar«, sagte ich, »ich habe den Verdacht, dass Ihre Stadtmusikanten keine Musik machen, sondern etwas anderes.« Mattau grinste spitzbübisch. »An was hatten Sie denn gedacht?« »Nehmen wir an, sie setzen Leute unter Druck. Und zwar keine unbescholtenen, sondern bescholtene. Solche, die was auf dem Kerbholz haben. Spielen ihnen eine Schutzgeldkomödie vor. Ich frage mich nur, wozu.«
»Das glauben Sie doch nicht wirklich.« »Vielleicht nicht. Ich nehme es nur einmal an.« »In diesem Fall wäre die Antwort auf Ihre Frage einfach: Meistens hilft diese Masche, Sie würden staunen.« »Sie hilft? Wobei?« »Sehen Sie, Voss, wie ich schon erwähnte, gibt es einige Mitglieder in der Band, denen, sagen wir, Unrecht zugefügt wurde. Man ist oft zusammen, redet und musiziert. Da ist es unvermeidlich, dass man irgendwann auf die Idee kommt, für eine entsprechende Entschädigung sorgen zu wollen und das mit unseren bescheidenen künstlerischen Mitteln. Die Stadtmusikanten könnten die Verursacher ermitteln und sie um eine Spende bitten, die letztlich nur ihrem Gewissen zugute kommt.« »Sie meinen, sie erpressen sie.« »Nun, ich würde sagen, sie statten ihnen einen Besuch ab und reden ein wenig mit ihnen. Nur einmal angenommen.« »Konfrontieren Sie sie mit dem Grund der Erpressung?« »Das kommt ganz auf den hypothetischen Fall an.« Mattau streckte seine Hand nach dem Marmeladenglas aus und ich reichte es ihm. »Der Witz ist, ihnen einen Schreck einzujagen, den sie zunächst nicht mit ihrem schlechten Gewissen in Verbindung bringen sollen. Das hört sich leichter an, als es ist. Künstlerisches Können ist gefragt.« »Steck aber hat die Polizei gerufen.« »Doch sie hat ihm nicht geglaubt, stimmt’s? Bockmühl hätte auch gezahlt. Er war kurz davor.« Mattau schlürfte Kaffee. »Leider lebte er ja dann ab.« »Nur einmal angenommen.« »Versteht sich.« »Sind Sie sicher, Herr Kommissar«, sagte ich, »dass Sie wirklich das Richtige tun?«
»Nennen Sie mich nicht immer Kommissar«, verlangte er mit vollem Mund. »Ich bin jetzt Kulturschaffender.« »Reine Gewohnheit. Gibt es noch mehr solcher Fälle?« »Wir haben gerade erst angefangen, unsere Fühler auszustrecken. Diese Stadt ist klein, da kennt jeder jeden. Und wenn nicht, dann wenigstens seinen Nachbarn.« Mein Gegenüber legte seinen Finger an die krümelgespickten Lippen. »Deshalb sollte diese kleine Unterredung auch unter uns bleiben.« »Nur unter der Bedingung, dass Sie mir ein wenig auf die Sprünge helfen.« »Gern. Schießen Sie los.« »Wo Sie offenbar so umfassend informiert sind, frage ich mich, ob Sie nicht zufällig etwas über einen Doktor Wackernagel wissen?« »Wackernagel.« Mattau nickte bedächtig und pulte eine Scheibe Wurst aus der Packung. »Einer von Bockmühls Bekannten aus der Zeit, als Wackernagel noch Küster drüben in der Kirche war.« »Nach meinen Informationen kannten sie sich doch schon als Jugendliche.« Die Wurstscheiben klebten aneinander, also nahm Mattau alle vier. »Sehen Sie, da wissen Sie mehr als ich.« »Wackernagel war Küster?« »Nicht wirklich. Das war sein Studentenjob.« Er biss in sein Brötchen und kaute. »Darf man erfahren, was Sie von ihm wollen?« »Er ist mein Klient und fühlt sich bedroht. Er glaubt, dass die Morde auf irgendeine Weise mit dem mysteriösen Quatsch aus diesem Film zusammenhängen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er mir nicht vielleicht etwas verschweigt.«
»Wissen Sie was? Sie sollten sich mal mit Pfarrer Brockmöller unterhalten. – Noch Kaffee?« Er deutete auf die Kaffeemaschine in der Ecke. »Bedienen Sie sich.« »Pfarrer Brockmöller? Wer ist das?« »Er ist schon lange im Ruhestand. Ein komischer Kauz. Aber wenn einer irgendwas Mysteriöses um St. Lamberti weiß, dann der alte Brockmöller.« Wackernagel hatte nichts von seinem Studentenjob erzählt. Dabei hatte der Beruf des Küsters nichts Anrüchiges. Man spülte goldene Kelche, zündete Kerzen an und blies sie wieder aus, bügelte Messgewänder. Ein ruhiger Job. Wem konnte man damit wohl in die Quere kommen? Das Telefon klingelte. Ich nahm ab. »Voss?« »Bondt hier. Herr Voss, vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, dass sie mir das Mittelalter jetzt doch noch aufgebrummt haben.« »Das Mittelalter? Verstehe kein Wort.« »Dieser Tote, von dem ich Ihnen erzählte. Die gelehrten Damen und Herren von der Uni waren sich ja so sicher, dass er aus dem frühen Mittelalter oder so stammt. Hätten sie mal nicht weiter geforscht.« »Seit wann arbeiten die denn sonntags?« »Sie wollen möglichst schnell alle Fundstücke bergen. Jedenfalls hat sich herausgestellt, dass der Verblichene eine Telefonkarte bei sich hatte, außerdem ein Glasfläschchen mit merkwürdigen kugelförmigen Pillen. Nun muss ich wieder ran.« »Das kann nicht sein«, sagte ich. »Doch. Es ist so, wie ich Ihnen sage.« »Sie müssen weitergraben, Herr Kommissar. Unbedingt.«
Ich legte auf und wählte Wackernagels Nummer, aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter, der mir das Rauchen abgewöhnen wollte. Mattau musterte mich neugierig. »Mein Klient«, erläuterte ich. »Dieser Wackernagel?« »Ja. Kann sein, dass er in Schwierigkeiten steckt. Wenn nicht noch mehr. Ich muss los.« »Noch mehr? Was meinen Sie damit?« Mattau legte sein Brötchen ab, wischte sich die Hand am Hemd ab und holte seine Brieftasche hervor. »Lassen Sie stecken«, sagte ich. »Das Frühstück geht aufs Haus.« »Ich habe Ihnen was mitgebracht.« Er nahm ein Foto aus der Brieftasche und reichte es mir. »Damit Sie unsere Combo wenigstens mal sehen.« Sechs Personen mit Musikinstrumenten lächelten in die Kamera. Eine sympathische Truppe. Mattau stand in der Mitte und neben ihm entdeckte ich noch ein bekanntes Gesicht: Spock. Auf der Rückseite waren säuberlich die Namen notiert. Neben Max Mattau stand Udo L. Knopf. Ich steckte das Foto ein. »Haben Sie eine Ahnung, für was Knopfs L. steht?« »Früher haben sie ihn Berti genannt und das konnte er nicht leiden.« Mattau grinste. »Aber er konnte sich auch nicht dazu aufraffen, den Namen ganz zu tilgen.« »L. soll für Berti stehen?«, zweifelte ich. Mattau winkte mir zum Abschied mit seinem Brötchen zu. »Nicht für Berti. Es bedeutet Lambert.«
18
Pit Bondt hatte meinen Rat beherzigt und weitergegraben. Und er war fündig geworden. Dr. Ulf Wackernagels Leiche lag nur einen knappen Meter von der Fundstelle des Unbekannten aus dem Mittelalter entfernt und war teilweise von einem Haufen Schutt bedeckt. Niemand hatte nach ihm gesucht und alle Aufmerksamkeit hatte sich auf seinen wesentlich älteren Leidensgenossen konzentriert, was die archäologische Fundstätte zum idealen Versteck machte. Wären da nicht eine Telefonkarte und seine Tabletten gewesen, die ihm während des Sturzes aus der Tasche gepurzelt sein mussten. Ich musste an den Traum denken, den er mir zum Abschied hatte erzählen wollen und der in gewisser Weise prophetisch gewesen war. Tragisch, dass man so etwas leider immer erst im Nachhinein beurteilen konnte. Durch die gaffende Menge arbeitete ich mich zu Hauptkommissar Bondt durch in der Hoffnung, dass er sich für meinen Tipp bedankte. Aber er schien wieder einmal nicht in Bestform zu sein. »Wir sind gerade noch zur rechten Zeit gekommen«, brummte er. »Einer der Unifritzen hatte die Telefonkarte schon eingesackt, weil sie neue sensationelle Erkenntnisse über mittelalterliche Kommunikationsformen erbringen könnte.« Er schnaufte. »Wollen Sie wissen, was mir durch den Kopf geht, Herr Kommissar?«, fragte ich. Er wollte nicht. Stattdessen zog er mit einer Bewegung, die ein hohes Maß an Übung verriet, ein Taschentuch mit dem Wappen der nordrhein-westfälischen Polizei hervor und
schnäuzte geräuschvoll hinein. »Hab mir wohl einen Schnupfen geholt. Kein Wunder bei dem, was hier los ist.« Eine Korrespondentin des lokalen Fernsehens hatte sich vor dem Fundort postiert und widerstand allen Versuchen des Ermittlungspersonals, sie aus dem Weg zu schaffen. Wortreich spekulierte und fantasierte sie, stellte Vergleiche zu Ötzi, Charles Manson und Ramses dem Zweiten an, fragte, wie lange die Polizei noch zuschauen wollte, und bedankte sich schließlich dafür, dass die Leute an den Geräten ihr zugeschaut hatten. »Hier ist Frauke Kulimann«, beendete sie ihren Beitrag, »für den Münster Channel, wo immer Sie uns empfangen haben.« »Also dann, Herr Kommissar«, sagte ich und machte mich auf den Rückweg durch die Menschentraube. »Gute Besserung.« Bondt ließ das Polizeitaschentuch sinken. »Sie machen sich einfach vom Acker? Was ist mit Ihrem Fall?« »Der Mann, den Sie da bergen, war mein Auftraggeber«, sagte ich. »So viel zu meinem Fall.« »Aber sagten Sie nicht eben, dass Ihnen irgendetwas durch den Kopf geht?« »Wissen Sie, Herr Kommissar, was diese Stadt mit der, aus der ich komme, gemeinsam hat? Wenn sich eine Sache so festgefahren hat wie diese, dann hört man auf, Verdächtige zu befragen, dann wendet man sich an einen Pfarrer.«
Dafür, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich den Geistlichen im Ruhestand namens Brockmöller finden konnte, ging es überraschend schnell, bis ich ihm gegenübersaß. Der derzeitige Küster von St. Lamberti, ein alter Mann mit einem beeindruckenden Doppelkinn, hatte mich an die Gaststätte Stuhlmacher verwiesen, wo Hochwürden am Sonntagvormittag
wie in den letzten zehn Jahren und ganz sicher auch den nächsten zehn seinen Frühschoppen feierte. Die Gaststätte befand sich nur einen Katzensprung vom Fundort entfernt. Schweres, rustikales Mobiliar, die alten bleiverglasten Fenster, die nur widerwillig Licht hereinließen, und ein sorgfältig abgeschmecktes Gemisch aus Atemluft, Zigarren und Bierdunst schienen einen in die Vergangenheit zurückzuversetzen, in jene aufregenden Zeiten, als die aufmüpfigen Münsteraner Bürger sich hier trafen, um Raubzüge gegen die Höfe in Albersloh oder Mecklenbeck zu planen oder über Anschläge zu debattierten, mit denen man den Westfälischen Friedensprozess zum Stillstand bringen konnte. Brockmöller war eindeutig das, was man ein Urgestein nannte. Sein Gesicht als kantig zu bezeichnen wäre eine Untertreibung gewesen. Es war schlicht viereckig. Mitten darin, wie der Knauf einer Schublade aus dem Biedermeier, prangte eine Knollennase. Seine Augen musterten mich gleichgültig hinter fingerdicken Brillengläsern. Das heißt, ich hielt es für Gleichgültigkeit, bis mir klar wurde, dass er schon so manchen Korn intus hatte. »Ja, dann sagen Sie mal«, forderte er mich auf. »Herr Pfarrer, ich weiß eigentlich nicht genau, wonach ich suche. Was immer es war, es muss sich vor langer Zeit abgespielt haben.« »Trinken Sie auch einen?«, erkundigte er sich und hielt sein Glas hoch. »Die Männer, um die es geht, waren damals noch Kinder. Ulf Wackernagel, Moritz Pilgrim und Lars Bockmühl. Sie waren in einer Pfadfindergruppe in Ihrer Gemeinde.« Brockmöller nickte bedächtig. »Das ist lange her.« »Man sagte mir, dass Sie ein recht gutes Gedächtnis haben, Hochwürden.«
»Ja, ja. Das stimmt wohl.« Der Pfarrer stützte den Kopf in die Hände. Offenbar bemühte er seine Erinnerung. »Und Ihr Name war Herr…« »Voss«, sagte ich. »Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie mir sagen könnten, was Ihnen zu damals einfällt.« »Tja, also…« Brockmöller hob sein Schnapsglas an die Lippen und leerte es mit einer ruckartigen Bewegung. »Diese Pfadfinder wussten sich damals noch zu beschäftigen. Zeltlager, gemeinsame Lieder.« Er unterdrückte einen Rülpser. »Pilze sammeln.« »Pilze sammeln?« Er nickte. »Heute ist das anders, die Buben haben nur noch Flausen im Kopf. Kofferradios, mit Mädels herumpussieren.« Er sah mich zustimmungsheischend an. »Natürlich, Herr Pfarrer«, gab ich ihm Recht. »Können Sie mir noch etwas sagen?« Es dauerte eine Weile, bis er antwortete: »Kaugummis.« »Bitte?« »Ständig haben sie Kaugummis im Mund. Und tragen diese engen Sachen.« Ich fand mich damit ab, dass ich meine Zeit verschwendete. Mattaus Tipps hatten sich meistens als Treffer erwiesen, aber dieser war ein Flop. »Darf ich Ihnen noch einen bestellen, Hochwürden?« Das Gesicht des Alten hellte sich auf. »Da sage ich nicht Nein, Herr…« »Voss.« Ich erhob mich und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Hochwürden, aber ich muss weiter.« Ich winkte der Kellnerin. »Noch einmal das Gleiche für den Herrn Pfarrer!« »Diese Jungen, die Sie erwähnten«, hielt mich Brockmöllers Stimme zurück, »die waren ein Herz und eine Seele.« Ich
wandte mich ihm wieder zu und sah in sein zerknirschtes Gesicht. »Tja, und dann war es eines Tages aus damit.« Ich setzte mich wieder. »Was war der Grund dafür?« »Dieses Mädel war der Grund. Wie gesagt, wenn man nur das im Kopf hat… Das fing damals schon an.« »Wissen Sie noch, wie das Mädchen hieß?« Der Geistliche durchforstete sein Gedächtnis. »Lassen Sie mich überlegen. Schuh? Nein, so hieß die nicht, aber so ähnlich. Zwirn. Das wohl auch nicht. Nein, der Name fällt mir nicht mehr ein.« »Schade.«
»Schuh.«
»Hatten wir schon.«
»Sie haben Recht.« Brockmöller nahm seinen Drink in
Empfang. »Wissen Sie, eigentlich kamen die drei ganz gut mit ihr zurecht, aber dann…« »Wann?« »Als sie dann verschwand, waren die Buben nicht mehr die alten.« »Sie verschwand?« »Knopf.« Sein Finger spießte die Knollennase förmlich auf. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie hieß Knopf. Anke Knopf.« »Was meinen Sie damit, Hochwürden, dass sie verschwand?« »Na, dass sie weg war. Sie löste sich praktisch in Luft auf.« »Aber Menschen lösen sich nicht einfach in Luft auf.« »Dieses Mädchen schon.« »Hat denn niemand nach ihr gesucht?« »Doch.« Allmählich bekam ich eine Ahnung von dem, was man unter dem weltberühmten westfälischen Kommunikationstalent verstand. »Und?«, hakte ich nach. »Nehme ich jedenfalls an.« »Was? Sie nehmen was an?«
»Dass man nach ihr gesucht hat.« »Sie wissen es also gar nicht?« »Ich nehme es an. Schließlich war sie ja weg.«
Mehr ließ sich der Expfarrer beim besten Willen nicht entlocken, aber als ich die verräucherte Höhlenwelt der Gaststätte hinter mir ließ und das helle Tageslicht in meine Augen stach, war ich ihm nicht böse. Schließlich hatte er mich einen Schritt weitergebracht, vielleicht sogar den entscheidenden. In vielen Fällen, die ich bearbeitet hatte, hatte es diesen Punkt gegeben, an dem man das Gefühl hatte, eine Nebelbank zu durchstoßen. Die Sicht wurde wieder klar und gestochen scharf und ich spürte, dass die Sache endlich ins Rollen kam. Dank Brockmöller wusste ich nun, was es mit dem geheimnisvollen Apostel, den manche für frei erfunden hielten, auf sich hatte. Ich kannte den tieferen Sinn jener Episode, die von den feigen Wegelagerern erzählte, die über die unschuldige Schwester des lahmen Bertinus hergefallen waren. Über Spocks Schwester. Seine Adresse stand im Telefonbuch. Allerdings war er nicht zu Hause oder ging nicht ans Telefon. Ich entschloss mich trotzdem, ihm einen Besuch abzustatten. Wie sich herausstellte, bewohnte er ein winziges Studentenzimmer in einem besseren Mehrfamilienhaus hinter dem Schlosspark. Genauer gesagt war es einer dieser halbherzig umgerüsteten Kellerräume, die in Zeiten der studentischen Zimmerknappheit von gewinnsüchtigen Vermietern zu Studentenbehausungen umdeklariert worden waren. Das schmale Fenster, das sich wie das in einer Gefängniszelle direkt unter der Decke befand, lag von außen gesehen auf Grashalmniveau.
Ich klingelte, erhielt aber keine Antwort. Die Kellertür war angelehnt. Im Garten hörte ich den Rasenmäher, was für die hiesigen Verhältnisse an einem Sonntag ein geradezu verdächtiges Geräusch war. Ich trat ein. Es roch feucht und schimmelig. Unterhalb der Decke verliefen dicke Wasserrohre, die mit fröhlichen bunten Farben angestrichen worden waren. Man konnte zwar aufrecht stehen, musste aber den Kopf einziehen. Auf dem Schreibtisch unter dem Fenster stand ein PC, auf dem ein Bildschirmschoner lief. Mr. Spock, wie man ihn kannte, der mit einer Faserkanone Löcher in den Bildschirm schoss. Ich drückte eine Taste. Einschüchterungstechniken – ein Leitfaden zur Schutzgelderpressung kam zum Vorschein. Von Udo L. Knopf (1. Entwurf). »Welch unerwarteter Besuch«, sagte Spocks Stimme hinter mir. Jetzt erst fiel mir auf, dass der Rasenmäher schwieg. »Ich habe vorher angerufen, aber du bist nicht rangegangen.« »Hatte draußen zu tun.« »Rasenmähen am Sonntag«, staunte ich. »Dazu gehört hierzulande eine gehörige Portion Mut.« »Noch dazu in der Mittagszeit. Aber du bist doch nicht gekommen, weil du dich um mein Leben sorgst.« »Die Sache ist leider ernster.« »Na schön«, sagte Spock. »Setz dich. Fühl dich wie zu Hause.« Er ließ den Schreibtischstuhl in meine Richtung rollen und setzte sich selbst neben den PC, den der Bildschirmschoner wieder mit Beschlag belegte. »Also, worum geht’s?« »Ich habe lange im Dunkeln getappt, weil mir ein Teil des Puzzles fehlte. Jetzt habe ich es. Du bist das Teil.« »Ich?«
»Gehen wir einmal davon aus, dass Kurd Ingolf auf das Konto des Regisseurs geht. Dann bleiben Pilgrim, Bockmühl und Wackernagel. Was verbindet diese Leute? Ich suchte nach einem Ereignis in der Vergangenheit, über das sie nicht reden wollten. Jetzt weiß ich, dass sie den Tod eines Mädchens verschuldeten, dessen Name Anke Knopf war. Lass mich raten: Sie war deine Schwester, nicht wahr?« Spock glotzte mich mit offenem Mund an. »Wie, zum Teufel, hast du das rausgekriegt?« »Vielleicht haben sie sie vergewaltigt, vielleicht war es ein Unfall. Tatsache ist, dass ihr Bruder über ein Jahrzehnt später eine hanebüchene Filmproduktion für seinen Rachefeldzug nutzte. Nur weil sein Name zufällig Lambert ist.« Spock versuchte, cool und amüsiert auszusehen, und ich musste zugeben, es gelang ihm ganz gut. »Noch was?« »Diese Andeutungen, dass du Menschen umbringst. Vielleicht war das deine Art, mir einen Wink zu geben.« Ich betätigte die Eingabetaste seines PCs. »Wetten, dass Mattau sich keine Vorstellung davon macht, wer da in seiner Band mitspielt?« »Das sieht viel schlimmer aus, als es ist.« Spock grinste versöhnlich und schüttelte den Kopf. »Ich habe dir doch erzählt, dass ich Kurse im Kreativhaus leite.« »Einschüchterungstechniken«, las ich vor. »Na und? Ich habe da so manches am Laufen, manches besser, manches schlechter. In dieser kurzlebigen Szene musst du dir ständig was Neues einfallen lassen. Mit Schreiben und Rechnen oder chinesischer Partnermassage allein lockst du heute keinen mehr hinter dem Ofen hervor.« »Und was ist mit Drohbriefen? Hast du die auch am Laufen?« »Klar.« Er kramte auf dem Schreibtisch. »Was übrigens Anke angeht, so arbeitet sie in einer Werbefirma in der Nähe
von Osnabrück. Sie hat zwei süße Kinder und ein Arschloch zum Mann.« Spock reichte mir einen Zettel. »Wenn du sie anrufen willst, bitte. Dort steht das Telefon.« Das kam jetzt ziemlich unerwartet. Aber ich war fest entschlossen, nicht so schnell aufzugeben. Hektisch probierte ich im Kopf weitere Kombinationen aus: Er konnte jemanden engagiert haben, der sich in einem solchen Fall als seine Schwester ausgab. Brockmöller konnte sich im Namen geirrt haben und es war in Wirklichkeit Spocks andere Schwester, die ermordet worden war. Inzwischen bildeten sich Schweißperlen auf meiner Stirn und das befreiende Gefühl, eine Nebelbank durchstoßen zu haben, war einem anderen, Schwindel erregenden gewichen, dem Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Mechanisch stand ich auf, nahm den Hörer und tippte die Vorwahl ein. »Nur zu«, grinste Spock. »Am Sonntag ist sie meistens zu Hause.« Ich gab mich geschlagen und legte auf. »Du musst aber zugeben…«, versuchte ich einen Rückzug, mit dem ich halbwegs das Gesicht wahren konnte. »Klar. Als Detektiv hat man jede Spur zu verfolgen, weiß ich doch. Bis zum bitteren Ende. Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen.« Es gab nur noch eines: nach Köln zurückgehen und mich Vollmer, dem Psychopathen, freiwillig stellen. Wenn ich ihm das hier erzählte, würde er mir mildernde Umstände zubilligen. Er würde mich nicht umbringen, sondern zum lebenslänglichen Küchendienst auf einer seiner Yachten verdonnern. »Mach doch nicht so ein Gesicht«, sagte Spock, dem meine Zerknirschung nicht entgangen war. »Wir greifen doch alle mal ins Klo, was? Wie wär’s mit einem Tee?« »Von mir aus. Wenn’s nur kein Chitintee ist.«
Spock holte einen rostigen Topf aus einem Schrank und hielt ihn unter den Wasserhahn. »Die Idee ist im Prinzip ja auch gar nicht so falsch.« »Du meinst, sie haben deine Schwester vielleicht doch umgebracht?« »Ich meine diese Pfadfindergruppe.« »Als Studenten waren sie auch noch eine Clique.« »Studenten.« Udo Knopf hatte den Wassertopf auf die Kochplatte gestellt und gesellte sich wieder zu mir. »Tja, was sollen die schon an schrecklichen Dingen auf dem Kerbholz haben? Vielleicht haben sie mal einen über den Durst getrunken und in einen Vorgarten gekotzt. Oder sie haben eine Katze überfahren, und das war’s dann.« »Woher weißt du das?« – »Was?« »Das mit der Katze.« »Das weiß ich nicht.« »Wieso hast du es dann gesagt?« »Na, wie einem so was schon mal einfällt. Ich kann mich an einen schrägen Typen erinnern, der neulich am Set auftauchte und penetrante Fragen stellte. Währenddessen hat einer der Komparsen einem Kater einen Tritt verpasst. Du hättest den Mann sehen sollen. Ich habe echt gedacht, der macht den anderen fertig.« »Du kannst mir nicht zufällig sagen, wie der schräge Typ hieß?« »Er hat sich mir nicht vorgestellt.« »Zu schade.« Ich deutete auf die Kochplatte. »Das Wasser kocht.« »Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass er eine hässliche grüne Brille trug.« Mit einem Ruck stand ich auf. »Tut mir Leid, aber ich muss sofort gehen.« »Und was wird aus dem Tee?«
Ich erreichte Heiner Terjung auf seinem Handy. »Ich muss Sie dringend sprechen.« »Momentan bin ich im Auto unterwegs«, sagte er. »Im Landesmuseum wird heute gedreht.« »Und was haben Sie dort verloren?« »Ich wollte ein paar Sachen klären. Wenn Sie wollen, können wir uns im Museumscafé treffen.« Jemand, der sich auskannte, hätte von Spock aus nicht mehr als fünf Minuten gebraucht. Ich überquerte erst nach einer knappen Viertelstunde den Domplatz. Das Museum bestand aus einem ehrwürdigen Altbau und einem Gebäude neueren Datums, das stilistisch gesehen um einiges schneller gealtert war. Von dem Dreh war außer dem unvermeidlichen AndroFilm-Auto, das vor dem Eingang parkte, nichts zu bemerken. Das Café befand sich in einem separaten Raum rechts vom Empfangstresen. Es war gut besucht, trotzdem brauchte ich nur einmal meinen Blick schweifen zu lassen, um zwei bekannte Personen zu entdecken: Terjung und Tatjana de Vito. Sie saßen an einem Tisch ganz am Ende des schlauchförmigen Raums und schienen in ein intensives Gespräch vertieft. Unschlüssig, ob ich mich zu ihnen gesellen sollte, nutzte ich die Deckung, die der Garderobenständer direkt hinter dem Eingang des Cafés bot. Meine Nase stieß an eine Jutetasche mit einem Emblem, das mir inzwischen vertraut war: ein grünes Pferd, das sich aufbäumte. Die Firma, für die Terjung arbeitete. Die beiden schienen sich inzwischen zu streiten. Vorsichtig nahm ich die Tasche vom Haken und setzte mich an den freien Tisch gleich neben der Garderobe. Zog einen Brief hervor und entfaltete ihn. Du glaubst doch nicht wirklich, dass du davonkommst! Das kam mir irgendwie bekannt vor.
Während sie da unten in der Erde vermodert, machst du dir ein schönes Leben. Beneidenswert! Aber du kommst nicht davon. Du hast wohl gedacht, sie ist ja nur ein Tier, wen kümmert’s! Mich! Dein Pech. In deiner Haut möchte ich nicht stecken. L. Möglich, dass das Schicksal gar nicht so ungerecht und böse war wie sein Ruf. Vielleicht hatte es eingesehen, dass es mir gerade erst gründlich den Tag vermasselt hatte, und sah nun die Chance, mich zu entschädigen. Zweimal hintereinander würde ich nicht als kompletter Idiot dastehen. »Ach ja?«, zischte Tatjanas Stimme herüber. »Sie haben doch nicht die geringste Ahnung. Nicht die geringste!« Ich spitzte die Ohren, aber die beiden waren zu weit weg. Vorsichtig rückte ich zwei Tische vor. »Sie haben sie nach allen Regeln der Kunst ausgebootet«, ereiferte sich Terjung. »Und wie sollte ich das angestellt haben?« »Wie Sie das angestellt haben sollten?«, wiederholte ihr Gegenüber. »Zum Beispiel, indem Sie mit dem Regisseur ein Techtelmechtel angefangen haben.« »Ein Techtelmechtel. Das ist doch lächerlich! Sie armseliger Spießer.« »Zufällig weiß ich, dass es so war.« »Sie wissen gar nichts. Hören Sie auf, mich zu belästigen.« »Ich werde Sie so lange belästigen, bis Sie mir sagen, was mit Ihrer Schwester geschehen ist. Sie haben Ihre Krankheit ausgenutzt.« »Sie können mich mal.« Dieser Tonfall war mir nur zu vertraut. Tatjana stand auf und rauschte aus dem Café. Dabei kam sie direkt an meinem Tisch vorbei, ohne mich zu bemerken.
Die Glastür hatte sich noch nicht hinter ihr geschlossen, als ich mich zu dem Mann mit der grünen Brille hinabbeugte. »Ich habe mit Ihnen zu reden, Terjung.« Jetzt erst entdeckte er mich. »Sie ist es. Diese Frau!« Aufgeregt deutete er in die Richtung, in die Tatjana verschwunden war. »Sie war’s. Sie hat Lawinia das angetan! Ich habe Ihnen gleich gesagt, sie ist – « »Das ist jetzt nicht mehr wichtig.« »Nicht mehr wichtig? Was meinen Sie damit?« »Ich möchte mit Ihnen über Katzen reden.«
19
»Über Katzen?« »Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, dass ich Katzen auf den Tod nicht ausstehen kann, es sei denn, ich bekäme sie in einem Katzenrestaurant als zartes Filet auf einem Teller serviert, was würden Sie dann tun?« Terjung war perplex. Er vergaß sogar, die Frage zu wiederholen. »Würden Sie mich umbringen?« Allmählich fing er sich wieder. »Ob ich Sie umbringen würde?« »Sie sollten mir keine Komödie vorspielen, Terjung. Ich weiß von Ihrer Katzenmanie.« »Was für eine Katzenmanie?« »Aus den meisten Portmonees, die ich bisher gesehen habe, schaut einen die Liebste an oder die lieben Kleinen. Aus dem Ihren grinst eine getigerte Katze. Das sollen Sie mir erklären.« »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«, fragte die Kellnerin, die neben unserem Tisch stand. Ich bestellte einen Kaffee, Terjung winkte ab. »Also gut«, sagte er. »Ich hatte einmal eine Katze, die mir sehr viel bedeutete. Von Ihnen erwarte ich nicht, dass Sie das verstehen. Das Tier war warm und weich und wartete abends auf mich, wenn ich nach Hause kam. Sie schnurrte stundenlang, wenn ich sie kraulte. Aber warum erzähle ich Ihnen das? So etwas können Sie nur nachempfinden, wenn Sie selbst schon einmal ein solches Tier hatten. Lawinia war einzigartig.« »Lawinia. Verstehe.«
»Sie hatte zufällig den gleichen Namen.« »Zufällig.« »Eines Tages wurde sie überfahren. Ich fand ihren Leichnam im Mülleimer einer Autobahnraststätte.« »Und dann beschlossen Sie, Rache zu nehmen.« »Rache?« »Sie machten die Insassen des Wagens ausfindig und brachten sie um, einen nach dem anderen.« Terjung musterte mich mit einem seltsamen Blick. Er sah eher beleidigt aus als entlarvt. »Das nehmen Sie doch nicht wirklich an?«, erkundigte er sich vorsichtig. Ich legte seine Jutetasche auf den Tisch. »Darin befindet sich ein Brief, den Sie noch abschicken wollten.« Seine Hand fuhr in die Tasche. Als sie wieder zum Vorschein kam, hielt sie nicht den Brief, sondern eine Broschüre. Terjung schlug eine bestimmte Seite auf, strich mit dem Ärmel darüber, damit das Heft nicht zuschlug, und legte es neben meine dampfende Kaffeetasse. Es handelte sich um das Programmheft des Kreativhauses und auf der von Terjung aufgeschlagenen Seite wurde ein Kurs von U. L. Knopf vorgestellt: Vom Erpresserbrief zum Drohbrief- schwarze Post als kreativer Akt. Wenn von Erpresserbriefen die Rede ist, bezieht man sich in aller Regel ausschließlich auf seine negativen, unschönen Aspekte. Wir wollen uns in diesem Kurs mit der künstlerischen Seite der so genannten ›schwarzen Post‹ befassen, welche bisher als Literaturform noch kaum Anerkennung findet. Im Laufe der Zeit werden wir uns einige Techniken erarbeiten, mit deren Hilfe wir selbst einen Erpresserbrief formulieren und uns schließlich dem Höhepunkt der hohen Schule des ›Blackmailing‹ zuwenden: dem Drohbrief Bitte bequeme Kleidung, Papier und Schreibzeug mitbringen. »Na und?«, fragte ich.
»Für diesen Kurs habe ich den Brief verfasst.« In Terjungs Stimme schwang Stolz mit. »Der Kursleiter empfahl uns, ein wenig Biografiearbeit zu betreiben. Für unsere Ideen Ereignisse zu verwenden, mit denen wir uns immer noch herumschlagen. Mir fiel die Sache mit Lawinia ein.« »Also so war das.« Terjung nickte. »So war das.« »Schöner Zug. Gerissen und überzeugend«, heuchelte ich Bewunderung. »Aber damit legen Sie mich nicht herein.« »Ich Sie hereinlegen? Wieso?« »Dieser Mr. Spock kann im Kreativhaus treiben, was er will. Aber das ändert nicht das Geringste daran, dass dieses Schreiben hier« – ich zog den Brief aus der Tasche, der Stecks Machwerk beigelegen hatte – »mit den Morden zu tun hat. Die Ähnlichkeit zu Ihrem Brief werden Sie ja wohl nicht abstreiten.« »Eine Ähnlichkeit?« Terjung las kopfschüttelnd, während seine Lippen die Wörter formten, und gab mir das Blatt zurück. »Zwischen ihnen besteht ein Unterschied wie Tag und Nacht. Allein der Stil. Für so etwas habe ich seit dem Kurs einen Blick.« »Der Stil interessiert mich am allerwenigsten.« Terjung grinste. Es war das erste Mal, dass ich ihn grinsen sah, und dann gleich so breit: Es irritierte mich. »Finden Sie irgendetwas komisch?«, erkundigte ich mich. Er antwortete nicht, sondern kicherte. Es war ein völlig geräuschloses Kichern, das lediglich seinen Körper zucken ließ. Er wandte sein Gesicht ab. »Was gibt’s denn, zum Teufel?« »Sie halten den Brief für echt, dabei gehört er nur zu einem Film.« »Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich sagte Ihnen doch, dass ich am Drehort nach Lawinia fragte. Damals stritt sich diese de Vito mit ihrem Regisseur. Es ging um den Brief. Er wollte die Geschichte um eine blutige Rachestory erweitern und sie hielt das für eine katastrophale Idee. Aber er bestand darauf, weil das Werbeplätze bringen würde.« »Das sieht ihm allerdings ähnlich.« »Mein Brief ist ganz anderes. Der Stil ist nicht mit meinem zu vergleichen. Da liegen Welten zwischen. Hätten Sie den Kurs auch besucht, dann hätten Sie das sofort gesehen.« Dieser Fall war von Anfang an nicht meiner gewesen. Und jetzt saß ich in der Patsche und war an dem Punkt angelangt, wo mir nichts anderes blieb als zu sagen: Schluss mit dem Theater, irgendwann kommt für uns alle die Zeit, einen Kurs zu besuchen. Terjung hatte seine Brille abgenommen und begann, sie zu putzen. »Sie haben mir einmal gesagt, wenn ich gute Arbeit wollte, müsste ich sie gut bezahlen.« »Erinnern Sie mich nicht daran.« »Ich bezahle Sie dafür, dass Sie mich für einen Mörder halten.« »Sie haben Recht«, gab ich zu. »Empfehlen Sie mich besser nicht weiter.« »Andererseits ist es natürlich auch irgendwie schmeichelhaft.« »Schmeichelhaft?« »Wissen Sie noch, was ich Ihnen von dem idealen Mitarbeiter erzählte?« »Sie meinen den, der Fortbildungen in der Schweiz macht und Urlaub auf Gomera?« »Zweitausendsechshundert Mitarbeiter hat unser Unternehmen. Aber keinem einzigen von ihnen traut man einen Mord zu. Außer mir.«
»Gratuliere.« Terjung winkte der Kellnerin. »Lassen Sie mal, das übernehme ich«, sagte ich. »Vielleicht sollten Sie die gewonnene Zeit dazu nutzen, sich einen anderen Detektiv zu nehmen.« Terjung schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht mehr sicher, ob es einen Sinn macht, weiter nach Lawinia zu suchen.« »Warum nicht?« »Vielleicht will sie nicht, dass man sie findet. Ihre Krankheit, verstehen Sie. Nie wollte sie damit rausrücken, was ihr genau fehlt. Sie reagierte sehr seltsam, wenn ich sie darauf ansprach. So viele Ärzte hat sie konsultiert und immer bekam sie das Gleiche zu hören.« Nachdem Terjung gegangen war, sah ich mich nach Tatjana um, konnte sie aber nicht mehr entdecken. Zum zweiten Mal hatte sich heute eine goldene Spur als Sackgasse entpuppt. Wieder einmal stand ich am Anfang und hatte nicht wenig Lust, den Kram endgültig hinzuschmeißen. Was ging es mich an, wer welche Ärzte kaltmachte und warum? War das überhaupt so schlecht? Jedermann, selbst ich, wusste inzwischen, dass diese Stadt eine stark überhöhte Therapeutendichte aufwies. »Entschuldigen Sie, Sie haben da was verloren.« Ein Mann stand neben mir, der mir bekannt vorkam, obwohl mir der Name nicht einfiel. Sein Gesicht leuchtete rötlich wie eine Hand, die man über eine Glühbirne hält. Der Blutdruck. »Vielen Dank«, sagte ich und nahm ihm die Fotos ab. Sie mussten mir aus der Tasche gefallen sein, als ich Terjung den Brief präsentiert hatte. »Wir kennen uns doch«, sagte der Blutdruck, während er mich eingehend musterte. »Schon möglich.«
»Sie sind der Mann, der den Arzt ermordet hat.« »Ins Schwarze getroffen«, gratulierte ich ihm. Jetzt fiel mir sein Name wieder ein. »Sehen Sie, Herr Ohnekötter, ich habe hier noch einen weiteren Mord vorzubereiten, also wenn Sie so nett wären, mich zu entschuldigen…« Ohnekötter wich nicht von meiner Seite, also beschloss ich, ihn zu ignorieren, und sah mir stattdessen die Abzüge an. Der Fotograf hatte seine Sache nicht schlecht gemacht. Schade, dass ich die Vergrößerungen nicht mehr brauchte. Inzwischen konnte man wesentlich mehr erkennen. Stecks Blondschopf, Tatjanas Bauchnabel. Seine Zunge, die mit ihrem Schamhaar spielte. Aber irgendwie passte es nicht… Ich sah auf und bemerkte Ohnekötters vorwurfsvollen Blick nach wie vor auf mich gerichtet. »Es ist berufliches Interesse«, erklärte ich. »Ich bin Privatdetektiv.« Sein Mundwinkel zuckte kaum merklich, das war seine einzige Reaktion. Die Zunge war keine Zunge. Endlich fiel der Groschen. Die Ausschnittvergrößerung war sehr detailliert, aber grobkörnig und deshalb missverständlich. Keine Zunge, sondern eine Nase. Genau, so passte es, man musste nur darauf kommen. Und das bedeutete, dass der Blondschopf auf dem Bild nicht Andro Steck gehören konnte. »Das gibt’s doch nicht!« »Was?« Ohnekötter konnte seiner Neugier nicht länger standhalten. »Was gibt es nicht?« »Dieses Haar«, murmelte ich. »Das ist nicht das, wofür ich es hielt.« Enttäuschung zeichnete sich in Blutdrucks Gesicht ab. »Nicht?« »Es ist eindeutig Nasenhaar.« Ich stand auf. »Das Spiel ist also noch nicht ganz zu Ende. Wünschen Sie mir Glück.«
20
Der Dreh im Landesmuseum war im Kasten. Beim Team von AndroFilm wollte zunächst niemand mit der Adresse der Hauptdarstellerin herausrücken, aber schließlich bekam ich sie von Vivien. Sie gab mir sogar eine detaillierte Wegbeschreibung dorthin. Mein Stadtführer behauptete, Gievenbeck sei einst ein kleines, beschauliches Dorf gewesen, in dem sich nicht gerade viel ereignet habe. Man habe sich das ungefähr so vorzustellen wie eines dieser verlassenen Käffer, wo einsam hin- und herschlagende Saloontüren das einzige Geräusch weit und breit waren und der Wind Tag für Tag verdorrtes Strauchwerk auf der staubigen Hauptstraße vor sich hertrieb. Nur dass es in Gievenbeck auch gepflegte Vorgärten gegeben habe, eine Bushaltestelle mit Regendach und Abfalleimer, der regelmäßig geleert wurde, und Blumenkästen vor den Fenstern der Wohnhäuser. Eines Tages aber waren die Kliniken gebaut worden und hunderte von gut verdienenden Akademikern hatten von heute auf morgen ein repräsentatives Anwesen mit Doppelgarage gesucht. Während die Neuetablierten noch dabei gewesen waren, ihre Gartenpavillons aufzustellen, waren Studenten wie eine Nacktschneckenplage über das sittsame Vorstädtchen hergefallen, sodass man nicht anders gekonnt hatte, als Studentenwohnheime zu bauen, deren wenig attraktives Äußeres sich trotz des Verzichts auf Stacheldraht stark an dem von Strafvollzugsanstalten orientierte. Mittlerweile, die Studenten von damals waren die Chefärzte von heute, hatte sich der Vorort zu einem beachtlichen kleinen Stadtteil mit Einkaufsmeile, Waldorfschule und Bürgerzentrum
entwickelt, in dem sich aber immer noch nicht gerade viel ereignete. Tatjana de Vito lebte am Ortsrand in einer Etagenwohnung, deren Fenster zur Linken auf die Äcker des Umlandes schauten und zur Rechten auf eine Wiese, auf der Kinder spielten. Als sie mir öffnete, trug sie einen tiefschwarzen Morgenmantel, den sie mit der rechten Hand zusammenhielt. »Ich muss dringend mit Ihnen reden«, sagte ich. »Mit Ihnen?« Ihre Stimme klang enttäuscht. »Mit dir«, korrigierte ich mich, sobald ich kapiert hatte, was sie meinte. »Ich hatte mich gerade etwas hingelegt. Der Dreh heute war anstrengend.« Trotzdem trat sie zur Seite, um mich hereinzulassen. Die Wohnung strahlte eine gewisse Unruhe aus. Vielleicht lag das daran, dass in ihr kühle Distanz mit verspielter Sentimentalität um die Vorherrschaft rang. Kalter Steinfußboden, weiß gekalkte Wände, lange, schmale, in Aluminium eingefasste Spiegel auf der einen Seite und auf der anderen fast kitschiges Mobiliar, das an die Siebziger erinnerte. Rattanstühle und Papierlampen. Ein Kerzenleuchter mit grüner Patina, der zwei ineinander verschlungene Delfine darstellte und wohl aus der Zeit stammte, in der man die Tiere noch für intelligenter als den Menschen gehalten hatte. Tatjanas Auswahl an Klamotten war offenbar so groß, dass sich viele von ihnen damit abfinden mussten, in diversen Häufchen auf dem Boden auf einen Schrankplatz zu warten. »Setz dich doch«, forderte Tatjana mich auf und räumte einen Stapel Pullover vom Sessel auf den Tisch. Sie schlug die Beine übereinander und zupfte am Saum ihres Morgenmantels. Dieses Mal war ich entschlossen, ihr keine Gelegenheit zu ihrem Spiel zu geben. »Ich würde gern wissen, wie du das
Verhältnis zwischen deiner Schwester Lawinia und Dr. van Basten beschreiben würdest.« »Wie kommst du darauf, dass ich dir etwas darüber sagen kann?«, fragte sie verwundert. »Er ist ihr Therapeut.« »Du kennst ihn also auch?« »Flüchtig. Er hat mich einmal zu meinem Verhältnis zu Lawinia befragt.« »Und dann habt ihr euch an einem Baggersee getroffen und so dies und das miteinander angestellt.« »Wieso fragst du, wenn du die Antwort schon weißt?« Tatjana lächelte amüsiert. »Du musst dich nicht dafür schämen, wenn du eifersüchtig bist.« »Also gut, dann frage ich dich: Wie steht es denn mit deinem Verhältnis zu dem Doktor?« Immer noch hielt Tatjana ihren Morgenmantel mit der Hand zusammen. Vielleicht täuschte ich mich, aber mir schien, dass sie den Griff etwas gelockert hatte. »Warum interessiert dich das?« »Weil du mich batest, etwas für dich herauszufinden, und ich mich bemühe, alle Fakten zu recherchieren, die ich brauche, um das zu tun.« Sie deutete ein Kopfschütteln an. »Warum bist du wirklich hier?« »Ich frage mich, ob es nicht sein könnte, dass dein Verhältnis mit Dr. van Basten der Anlass dafür war, dass Lawinia den Arzt wechselte.« »Aber das ist doch lächerlich!« »Das denke ich nicht. Du selbst erwähntest doch, dass dein Verhältnis zu ihr ziemlich kompliziert ist. Also ist es doch möglich, dass Lawinia, als sie davon erfuhr, dass du mit van Basten schliefst, das Vertrauen in ihn verlor.« »Wie kommst du darauf, dass sie davon erfuhr?«
Ihre rechte Hand lockerte sich weiter, der schwarze Seidenmantel schwang auf. Für mehr als nur einen winzigen Augenblick öffnete sich der Blick auf ihren makellosen weißen Körper und raffinierte lila Spitzenunterwäsche. Ich schluckte. Schon wieder kam sie ungehindert zum Zug, und wenn es auch anders lief als beim letzten Mal, so schien es doch auf das Gleiche hinauszulaufen. Draußen lachten die Kinder und ein Hund kläffte. »Soll ich dir vielleicht ein Glas Wasser bringen?«, erkundigte sich Tatjana besorgt. Gerade eben noch hatte ich mich in der überlegenen Position gewähnt, jetzt kam ich mir plötzlich vor wie jemand, den man in einen Hinterhalt gelockt hatte, aus dem es keinen Ausweg gab. »Wenn es dir nichts ausmacht«, nahm ich mit heiserer Stimme ihr Angebot an, um Zeit zu gewinnen. Während sie in Richtung Küche verschwand und ich ihre Beine bewunderte, wurde mir klar, dass ich tatsächlich nicht nur wegen meiner Fragen hier war. Ich musste mir eingestehen, dass es auch ihr Spiel war, das mich reizte. Ja, wenn man wirklich ehrlich war, konnte man fast sagen, es war vor allem ihr Spiel. Ein angenehmes Kribbeln durchlief meinen Körper bei der Vorstellung, dass ich überhaupt nicht zum Reden hier war. Auf einer kitschigen Kommode mit aufgeklebten indischen Intarsien stand ein gerahmtes Foto von Lawinia, das ich schon einmal gesehen hatte. Das gleiche hatte mir Terjung gezeigt, als er mich zum ersten Mal in Kittels Büro aufgesucht hatte. Auf den ersten Blick hätte ich Lawinia und Tatjana nicht für Schwestern gehalten. Es war die Art, in die Kamera zu schauen, die die Verwandtschaft verriet. Tatjana kehrte mit dem Wasserglas zurück und brauchte eine Ewigkeit, sich hinunterzubeugen und es vor mir auf den Tisch zu stellen. Eine Ewigkeit, während der sie mir Gelegenheit
gab, mich in den Abgründen ihres sensationellen Dekolletees zu verlieren. Schließlich richtete sie sich wieder auf. »Ich weiß nicht, ob wir später dazu kommen werden«, sagte sie in einem Ton, der keinerlei Unklarheit darüber aufkommen ließ, wovon sie sprach. Und ihr Blick machte deutlich, dass sie den Abstand zwischen uns nur noch mit Mühe aufrechterhalten konnte. Eigentlich bin ich nicht der Typ, der auf diese Art Fast-foodRomantik steht. Ich halte nicht viel davon, sexuelle Hochspannung zu erzeugen, indem man einen Augenblick zum einzigen auf der Welt erklärte und die restliche Zeit auf Erden mit der Erinnerung an ihn abspeist. Aber dieses Mal biss ich an. Es mochte damit zu tun haben, dass Tatjana in diesem Moment ihren schwarzen Morgenmantel zu Boden sinken ließ und sich an mich schmiegte, noch während ich mich aus dem Sessel erhob. Um meine Klamotten loszuwerden, brauchte ich kaum länger als sie für ihren Mantel, denn sie half mir dabei. Ihre Seidenbettwäsche fühlte sich auf der Haut angenehm kühl an. Später, als wir anfingen zu schwitzen, klebte sie am Körper. Der Sex mit Tatjana war genauso, wie ich ihn mir vorgestellt hatte seit dem Tag, als wir uns das erste Mal gesehen hatten. Einige Zeit später, als wir beide atemlos nebeneinander auf dem Bett lagen, bemerkte ich, dass es nun mucksmäuschenstill war. Das Fenster stand offen, aber die Kinder unten auf der Wiese waren verstummt. Selbst vom Hund war kein Ton mehr zu hören. Wir dagegen waren alles andere als leise gewesen. Mir ging durch den Kopf, dass hierzulande die Einhaltung der Mittagsruhe, wie Kittel es einmal ausgedrückt hatte, einen ähnlich hohen Stellenwert hatte wie die Einhaltung des Ramadan in Saudi-Arabien.
»Die kleine Schlampe muss ja nicht alles wissen«, zischte Tatjana mitten in die Stille hinein. »Wovon redest du?« »Lawinia. Du hattest gefragt, ob sie von mir und van Basten weiß.« »Wie hast du sie genannt?«, fragte ich etwas irritiert. »Kleine Schlampe?« Tatjana setzte sich auf und suchte auf dem Nachttischchen nach Zigaretten. »Man durfte nicht über sie reden, verstehst du? Das macht die Sache ziemlich vertrackt. Sie ist ja auch zu bedauernswert mit ihren Leiden. Dauernd hat sie irgendwas oder es besteht der Verdacht, dass sie etwas hat. Dann geht sie zu einem neuen Arzt in der Hoffnung, von ihm etwas anderes zu hören als von dem letzten.« »Genau«, sagte ich. Im selben Moment war mir nämlich Terjung eingefallen. Sie konsultierte so viele Ärzte und bekam immer das Gleiche zu hören, hatte er gesagt. »Was genau meinst du mit genau?«, erkundigte sich Tatjana, während sie uns beiden eine anzündete. »Ich habe endlich eine Idee, wie sich alles abgespielt haben könnte.« Sie reichte mir meine Zigarette. »Dann raus damit.« »Das Dilemma ist, dass deine Schwester nicht wie die meisten Leute zum Arzt geht, um von ihm zu hören, dass ihr nichts Ernstes fehlt.« »Sondern?« »Sondern in der Hoffnung, dass er eine bedrohliche Krankheit findet. Aber diese Hoffnung wurde immer enttäuscht. Jeder Arzt erklärte sie für gesund. Damit hatte sie ein Problem.« »Verstehe kein Wort.« »Dr. van Basten sagt, dass manche Patienten, die sich über lange Zeit hinweg dem Vorwurf der Simulation ausgesetzt
fühlen, so reagieren, dass sie quasi auf einem Leiden bestehen. Meine Idee ist folgende: Lawinia besteht mit sehr großem Nachdruck darauf. Und als sie von Dr. Bockmühl hörte, dass alles im grünen Bereich sei, fühlte sie sich von ihm regelrecht verraten. Nicht ernst genommen. Ihr Arzt, dem sie sich anvertraut hatte, war auf einmal wie alle anderen, die sie eine Simulantin schimpften.« »Also ging sie zum nächsten?« »Ja.« Ich machte eine kleine bedeutsame Pause. »Aber erst, nachdem sie Bockmühl getötet hatte.« Tatjana sah mich misstrauisch an. »Pilgrim glaubte offenbar, mit der guten Nachricht bei Lawinia landen zu können. Er machte einen Bootstrip mit ihr, hatte Sekt dabei und dachte sogar an Kondome, für den Fall, dass alles so lief, wie er sich das dachte. Der Letzte, den es erwischte, war Wackernagel. Ich nehme mal an, er hatte die Idee, mit ihr einen romantischen Spaziergang über den nächtlichen Prinzipalmarkt zu unternehmen.« Die Finsternis in Tatjanas Gesichtsausdruck hatte zugenommen. »Mir ist klar«, sagte ich, »dass dies zu hören nicht leicht für dich ist.« »Nicht leicht? Du hast doch keine Ahnung. Sie ist meine Schwester und du behauptest…« »Ich bin mir ja nicht hundertprozentig sicher. Wie zum Beispiel der Mord an Kurd Ingolf in diese Theorie passt, ist mir nicht ganz klar. Ich meine nur, dass – « »Schon kapiert.« Tatjana stand auf, schnappte sich ihren Morgenmantel und hüllte sich in ihn ein. Eine eisige Brise schien durch das Zimmer zu wehen. »Du meinst, alles ist Schwindel. Sie bildet sich alles nur ein.«
»Nein, das heißt, in gewisser Weise, ja. Genau so kann man es sagen. Sie hat nicht geschwindelt, aber sie war eben nicht wirklich krank. Und deswegen…« »Raus!« »Heh, Tatjana, jetzt warte doch mal…« Wut verzerrte Tatjanas Gesicht. »Geh, lass mich allein!« Ich erstickte die Glut meiner erst halb gerauchten Zigarette im Aschenbecher. »Aber ich muss mich noch anziehen.« Es dauerte eine Weile, bis ich alles beisammen hatte. Wie immer in solchen Situationen suchte ich eine Ewigkeit nach meinem Slip, der sich rätselhafterweise im Wust der Bettwäsche unauffindbar gemacht hatte. Tatjana fixierte mich die ganze Zeit über mit einem kalten Blick, der einer Rachegöttin Ehre gemacht hätte, schien aber nichts von dem, was ich tat, wirklich wahrzunehmen. Schließlich stand ich an der Tür und öffnete sie. »Dein letztes Wort?« Es war ihr letztes gewesen, denn sie verzichtete sogar darauf, meine Frage mit Ja zu beantworten. Ich zuckte mit den Achseln, schenkte ihr ein verzeihungheischendes Lächeln und zog die Wohnungstür hinter mir zu. Auf der fünften Treppenstufe stoppte ich und sah mich, ohne einen besonderen Grund zu haben, noch einmal um. Tatjana de Vito stand oben am Treppenabsatz. »Also gut«, sagte sie. »Komm zurück. Dann reden wir.«
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Sie mixte mir sogar einen Fruchtsaftshake und bot mir eine neue Zigarette an. Die Kinder auf der Wiese hatten ihr Gejohle wieder aufgenommen. »Du musst das verstehen«, sagte sie. »Aber das ist kein leichtes Thema für mich. Lawinia war immer die Sensible, Kränkliche. Die ganz viel Aufmerksamkeit brauchte. Wenn sie schlief, mussten alle anderen im Haus flüstern und auf Zehenspitzen herumlaufen. Sie war einfach die Bessere von uns beiden.« Tatjana schniefte, steckte sich ebenfalls eine Zigarette in den Mund und kaute auf dem Filter herum. »Ich konnte machen, was ich wollte, Schulzeugnisse, Sportabzeichen, irgendwelche außerordentlichen Belobigungen. Mit ihren Krankheiten war sie einfach nicht zu schlagen.« »Du hattest das Gefühl, dass sie vorgezogen wurde?« »Nicht vorgezogen. Sie war ja immer schon da, wo ich hinwollte, man brauchte sie nicht vorzuziehen. Wie beim Hasen und dem Igel. Verrückt, aber so war’s.« Ich gab ihr Feuer. »Zum Film wollte ich eigentlich immer schon, aber das war nicht leicht. Jahrelang habe ich in einer Castingagentur geschuftet und mich immer wieder mit öden Nebenrollen herumgeschlagen. Meine kleine Schwester wollte natürlich auch ein Star werden, aber zum Taschentragen oder Klinkenputzen war sie zu sensibel. Das hätte sie niemals durchgestanden. Als die beim AndroFilm jemanden für die Hauptrolle in der Gruft suchten, ging sie einfach hin und bekam sofort die Hauptrolle angeboten.«
»Und du fandest das ungerecht.« »Es war ungerecht.« »Deshalb hast du ihr die Rolle abgejagt.« »Abgejagt?« Tatjana lachte schrill und spöttisch. »Wie soll so etwas denn gehen? Ich hatte einfach Glück. Noch lange bevor die Dreharbeiten los gingen, war Lawinia wieder einmal unpässlich und ich kam als Ersatz ins Spiel.« Ich nickte und pustete den Qualm meiner Zigarette in die Luft. »Was denkst du?«, erkundigte sich Tatjana unsicher. »Wieso machst du so ein Gesicht, als würdest du mir nicht glauben?« »Was heißt, dass sie unpässlich war?«, fragte ich. »Ich glaube mittlerweile sogar, dass die Ärzte feststellten, dass ihr nicht das Geringste fehlte. Und jetzt sagst du, dass sie ihren Beruf nicht ausüben konnte.« Tatjanas Gesicht war mir recht nahe und deshalb entging mir nicht, dass allmählich das Misstrauen von vorhin wieder von ihm Besitz ergriff. »Du verstehst nicht das Geringste! So einfach ist das nicht. Die Ärzte machen sich die Sache immer gern leicht.« Sie stand auf und zerrte nervös am Gürtel ihres Morgenmantels. »Aber nicht nur die Ärzte. Du kannst nehmen, wen du willst. Zum Beispiel Ingolf mit seinem abstoßenden Gehabe! Von wegen: ›Alle deine schlechten Gefühle sind reine Fantasie‹«, ahmte sie seinen Tonfall nach. »›Du kannst mir ruhig glauben, ich kenne mich mit Fantasie aus.‹« »Kurd Ingolf?«, wunderte ich mich. »Kannte Lawinia ihn auch?« »Und jetzt kommst du und denkst, du könntest wie alle anderen…« »Wie kommst du denn darauf?« Ich stand auf und wollte sie in den Arm nehmen, aber Tatjana entzog sich mir. Also trat ich stattdessen ans Fenster, um meine Kippe hinauszuwerfen. »Ich
bin weder die Polizei noch van Basten. Mir geht es nur darum, dir dabei zu helfen, deiner Schwester – « In diesem Moment traf mich etwas am Kopf. Es war ein harter Gegenstand und er erwischte mich Gott sei Dank nicht mit voller Kraft, da ich mich gerade nach Tatjana umdrehte. Dennoch ging ich zu Boden und riss im Fallen ein Rattanregal mit, das mein Gewicht nicht aushielt. Mein Glück, denn Tatjana, die gerade zum zweiten Schlag ausholte, stolperte und das Ding – was immer es war – fiel ihr aus der Hand. Ich nutzte die Chance, um mich an der Wand aufzurichten. »Was zum Teufel soll das…?«, stöhnte ich. Meine Schläfe pochte und Blut lief an meinem Gesicht herunter. Mir wurde schwindelig. »Was -?« Auch Tatjana stand wieder und schlug zu. Dieses Mal duckte ich mich rechtzeitig und der Nostalgiekerzenhalter mit den verliebten Delfinen hinterließ eine Kerbe im Türrahmen neben mir. Die Tür! Meine restlichen Kräfte zusammennehmend, machte ich einen Satz ins Nebenzimmer, schloss ab und lehnte mich von innen mit dem Rücken gegen die Tür. Ich befand mich im Badezimmer. Der Schock hielt mich davon ab, Schmerz zu empfinden. Warum, zum Teufel, wollte Tatjana mich umbringen? Wir hatten doch gerade erst miteinander geschlafen… »Verdammt, sag, was los ist!«, rief ich. »Egal was, wir können drüber reden!« Ein wuchtiger Schlag erschütterte die Badezimmertür, dann noch einer. Tatjana schien nicht meiner Ansicht zu sein. Wenn sie so weitermachte, würde sie die Tür einschlagen. Bis dahin musste ich mich mit irgendetwas bewaffnen… Elektrische Zahnbürste, Schminkstift, Föhn und ein paar Haarwickler. Die Auswahl fiel schwer. Mein Blick fiel auf den
Boden. Auch hier lag ein Haufen Wäsche. Diese weiten indischen Sachen, die sie auf dem Foto angehabt hatte. Moment mal! Nein, nicht sie. Auf dem Foto drüben im Bilderrahmen war ja nicht Tatjana zu sehen, sondern Lawinia! Wie kamen ihre Klamotten hierher? »Was hast du mit deiner Schwester gemacht?«, brüllte ich. Keine Antwort. Stattdessen hörte ich ein Geräusch, als ob die Wohnungstür geschlossen würde. »Tatjana?« Ich wartete. Warum sollte sie gegangen sein? Wahrscheinlicher war, dass sie mir eine Falle stellte. Sie wollte mich herauslocken, um mir den Kerzenleuchter ein letztes Mal über den Schädel zu hauen. Offenbar hielt sie mich für ziemlich dämlich. Fünf Minuten später. Nichts hatte sich gerührt. Eigentlich hatte ich auch keine Lust, den Rest des Tages in diesem Badezimmer zu verbringen. Drei Minuten benötigte ich, den Klodeckel abzumontieren, im Spiegelschrank über dem Waschbecken Verbandsmaterial aufzutreiben und meine Wunde fürs Erste zu verarzten. Dann entriegelte ich vorsichtig die Tür und verließ, den Klodeckel wie einen Schild über meinen Kopf haltend, das Bad. Tatjana war tatsächlich fort. Die blutverschmierten Delfine hatte sie einfach auf den Boden fallen lassen. Ich ging zum Telefon und wählte Kittels Nummer. Dieses Mal erwischte ich meinen Expartner auf dem richtigen Fuß: Mit wenigen Worten erklärte ich ihm meine Lage und er ließ sofort alles stehen und liegen. Für den Weg brauchte er nur wenige Minuten. »Du hast vielleicht Klientinnen«, wunderte er sich, als ich ihm öffnete, und musterte mich ziemlich skeptisch. »Bist du sicher, dass du nicht in die Uniklinik willst?«
»Danke, Kittel, dass du für mich alles hast stehen und liegen lassen.« »Tja, ich war sowieso in diese Richtung unterwegs, also war es kein Umweg für mich.« »Wolltest du hier in der Gegend den Müll einsammeln, oder was?« Kittel verzog keine Miene. »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?« »Klar, kannst du.« Kittel trat ins Treppenhaus. »Du meinst, diese Tatjana de Vito hat tatsächlich ihre eigene Schwester auf dem Gewissen?« »Wo sie sie hat, weiß ich erst, wenn ich sie gefunden habe.« Ich folgte ihm, zog die Wohnungstür hinter mir zu und grüßte mit einem breiten Grinsen die Nachbarin, die uns durch den Türspalt beobachtete. Wir waren bei Kittels Auto angekommen und stiegen ein. Kittel steckte den Zündschlüssel ins Schloss. »Also wohin?« »Wenn ich das wüsste.« »Dann nach Havixbeck.« »Gute Idee. In die Van-Basten-Klinik. Da könnte sie sein.«
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Kittels Auto war nicht mehr das neueste, aber außerhalb der Ortschaften verwies es die meisten Traktoren souverän auf die Plätze. Dummerweise konnte man die Belüftung nicht ausschalten, was den Fahrkomfort deutlich einschränkte, weil der Ventilator klemmte und nervtötenden Lärm erzeugte. Es blieb uns nichts anderes übrig als schreiend zu kommunizieren. »Wie bist du auf die Idee gekommen?«, fragte ich. »Welche Idee?« »Dass sie in Havixbeck ist?« »Wer? Dass wer in Havixbeck ist?« »Tatjana natürlich. Wovon reden wir denn?« »Du meinst Tatjana de Vito? Die verrückte Schauspielerin?« »Ob sie verrückt ist, wird sich noch rausstellen.« »Willst du deswegen hin? Um das herauszufinden?« »Die Frage ist, weshalb du hin willst.« »Habe ich dir doch eben gesagt.« »Hast du nicht.« »Wegen van Basten. Ich will dem Mann auf den Zahn fühlen.« »Bloß weil er dich rausgeschmissen hat?« »Quatsch. Er führt medizinische Experimente an Patientinnen durch.« »Kannst du das beweisen?« »Noch nicht, deswegen will ich ja hin.« Als wir vor der Klinik vorfuhren, hatte sich ein Gewitter zusammengebraut. Eine tief hängende schwarze Wolkendecke lastete tonnenschwer auf der warmen Luft, sodass es Mühe kostete, sie einzuatmen. Einsilbiges Donnergrollen und nur
gelegentliche Regentropfen hier und da verrieten, dass die Darsteller des bevorstehenden Konzerts noch damit beschäftigt waren, ihre Instrumente zu stimmen. Über dem Klinikeingang hatte man das Licht eingeschaltet. Wir traten durch die Glastür. Kittel ging zielstrebig zum Tresen und betätigte mit der Handfläche eine Klingel, während ich mir eins von den gelben Bonbons genehmigte. »Doktor van Basten ist nicht für Sie zu sprechen«, erklärte die dünne Krankenschwester, die mich auch bei meinem letzten Besuch nicht hatte vorlassen wollen. »Ich muss Sie bitten zu gehen.« »Was hat er denn zu tun, der Doktor?«, erkundigte sich Kittel giftig. »Ist er mit seinen Experimenten beschäftigt?« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Bitte ersparen Sie uns, erneut die Polizei zu bemühen.« »Wir sind gleich wieder weg«, schaltete ich mich ein. »Vielleicht können Sie uns ja auch helfen.« Aus einer plötzlichen Eingebung heraus kramte ich den Umschlag mit den Fotos hervor und begann, die Bilder eins neben dem anderen auf dem Tresen auszubreiten. »Es geht nur darum, dem Herrn Doktor Peinlichkeiten und eventuellen Schaden an seinem Ruf zu ersparen…« Die Frau warf einen kurzen Blick auf die Fotos und zog die linke Braue hoch. Dann ging sie zum Telefon. »Ich werde sehen, ob ich ihn erreichen kann«, sagte sie. Zwei Minuten später betrat van Basten in einem weißen Kittel die Eingangshalle. »Sie, Herr Voss?«, wunderte er sich, als er mich bemerkte. »Verzeihung, wenn wir Sie bei etwas Wichtigem, wenn auch Illegalem gestört haben sollten«, erklärte Kittel böse. Van Basten schüttelte ratlos den Kopf. »Herr Kittel, wissen Sie nicht, was Hausverbot bedeutet?«
»Meine Klientin«, belehrte ihn mein Expartner, »Frau Marietta Terjung, hat mich beauftragt herauszufinden, mit welcher Frau ihr – « »Moment«, unterbrach ich ihn. »Würdest du das bitte nochmal wiederholen?« Kittel war nicht sehr erfreut. »Sie hat mich gebeten herauszufinden – « »Nein, der Name deiner Klientin. Sag bloß, deine Marietta heißt Terjung mit Nachnamen.« »Ja, und?« »Terjung ist mein Klient. Wir suchen also dieselbe Frau.« »Du arbeitest für Mariettas Mann?« Kittel schüttelte fassungslos den Kopf. »Diesen Beamtenarsch?« »Soll ich Sie vielleicht ein paar Minuten alleine lassen?«, fragte der Arzt höflich und machte Anstalten zu gehen. »Damit Sie unter sich abklären können, wer wen sucht?« »Ich hoffte«, sagte ich, »dass Sie, Herr Doktor, uns sagen können, wo wir Tatjana de Vito finden.« »Was bringt Sie auf diese Idee?« Ich sammelte die Fotos vom Tresen ein und reichte sie ihm. »Weil Sie – wie soll ich sagen – immerhin näher mit ihr bekannt sind. Sie kennen beide Schwestern gut. Die eine therapieren Sie und mit der anderen schlafen Sie.« »Über dieses Thema werde ich mich nicht weiter mit Ihnen unterhalten, Herr Voss.« Der Psychologe nickte zum Abschied und ließ uns stehen. »Ich bin gekommen um Ihnen zu sagen, wer die Ärzte ermordet hat«, rief ich ihm nach. Van Basten erstarrte mitten in der Bewegung. Er schien außerdem den Atem anzuhalten, denn auch die Nasenhaare verharrten in Windstille. »Wer ist es?«, erkundigte er sich mit einem Quäken, das seinem sich auf schockierende Nachrichten einstellenden Gesichtsausdruck Hohn sprach.
»Alles deutet auf Lawinia Scholl hin. Erinnern Sie sich noch, Doktor, dass Sie von ihrem Zwang sprachen, an einer Krankheit zu leiden?« Van Basten nickte vage. »Lawinia wollte zweifellos gesund sein, aber sie war so überzeugt davon, an etwas Ernstem zu leiden, dass sie sich belogen fühlte, wenn ein Arzt ihr die Sorgen nehmen wollte. Belogen in einer existenziellen Frage. Erst hatte sie das Gefühl, dass Pilgrim sie verriet, dann Bockmühl und schließlich auch Dr. Wackernagel. Die Ärzte erklärten ihr, dass ihr nichts fehlte, und unterschrieben damit ihr Todesurteil.« Van Basten nickte skeptisch. »So könnte es gewesen sein«, fuhr ich fort. »Aber mittlerweile bin ich mir sicher, dass Tatjana hinter allem steckt. Sie hasst ihre jüngere Schwester, weil sie das Gefühl hat, dass Lawinia ihr immer vorgezogen wurde.« »Und deshalb hat sie die Ärzte umgebracht?«, zweifelte Kittel. »Immerhin würde das erklären, wieso auch ihr Kollege, Kurd Ingolf, dran glauben musste«, antwortete ich. »Alles habe ich allerdings noch nicht beisammen. Ich komme gerade aus ihrer Wohnung, wo sie versucht hat, auch mich zu töten. Bei der Gelegenheit stieß ich auf Lawinias Klamotten. Ich möchte lieber nicht rätseln, was aus ihr geworden ist.« »Also gut.« Dr. van Basten nickte mit der ganzen Schwere seiner ärztlichen Autorität. Er schien sich einen Ruck zu geben. »Kommen Sie mit. Ich werde Ihnen jetzt etwas zeigen.« Wir folgten ihm eine Treppe hoch, durch eine schwere Eichenholztür in einen Flur. Dann ging es eine Treppe hinunter und über zwei weitere Flure. Es waren keine Flure wie in einem Krankenhaus, denn nirgends sah ich weiße oder grüne Tünche. Wir liefen fast lautlos über schwere Teppiche und an den Wänden hingen Bilder mit Jagdszenen oder
Hirschgeweihe. Die wenigen Patienten, die uns entgegenkamen, trugen grüne Bademäntel ohne Jagdszenen. In einer Raucherecke stand die Empfangsschwester, die nicht gut auf uns zu sprechen war, und diskutierte mit einem älteren Herren über den Speiseplan. Auf dem Plexiglasschild neben einer Tür fiel mir im Vorbeigehen das Symbol auf, das ich für ein Spielzeugpferd auf Rädern hielt. Aber die Unterschrift – Gesprächstherapie, bitte nicht stören – machte mir klar, dass das Trojanische Pferd gemeint war. Als wir bei der – wie mir schien – letzten Tür in dem letzten Gang ankamen, zückte Dr. van Basten einen Schlüsselbund und schloss auf. Wir betraten einen Raum, den eine Holzwand mit einem großen Glasfenster in zwei Hälften teilte. Der Arzt trat an das Fenster und winkte uns heran. »Bitte, nur einen Moment«, mahnte er flüsternd. In dem abgeteilten Raum saß in einem hellen Ledersessel eine Frau, die ich sofort für Tatjana hielt. Sie hatte den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen, offenbar war sie eingenickt. Tatjana sah ungewohnt aus. Sie trug ein seltsam weites Kleid, das an den Beinen ausfranste und die Brust über und über mit winzigen, rotgoldenen Knöpfen bedeckte. Manche Frauen trugen so etwas in den frühen Siebzigern. Außerdem hatte sie langes dunkelbraunes Haar, das sich bei näherem Hinsehen allerdings als Perücke entpuppte, denn die Frisur war etwas verrutscht. »Ist sie die Frau?«, flüsterte Kittel. »Lawinia Scholl«, antwortete ich. »Endlich haben wir sie gefunden.« Dann wandte ich mich an van Basten. »Aber wo ist Tatjana, Doktor?« Van Basten nickte. Sein Kopf zeigte in Richtung Lawinia. »Sie ist es.« »Wer? Tatjana?« »Beide. Lawinia und Tatjana sind eine Person.«
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»Schön, dass Sie mich schon jetzt darüber unterrichten.« Van Basten breitete entschuldigend die Arme aus. »Es tut mir Leid, aber kriminalistische und therapeutische Belange sind nun einmal nicht immer deckungsgleich. Mitunter schließen sie einander sogar aus. Wie in diesem Fall.« Wir befanden uns in einem der Behandlungszimmer, dessen Tür von außen mit dem Symbol des Trojanischen Pferdes gekennzeichnet war. Aus dem Fenster bot sich ein weiter Blick über das Münsterland, das hier fast schon an ein Mittelgebirge erinnerte. Van Basten saß uns gegenüber. Hinter ihm an der Wand hing ein Ölgemälde, das ihn in der Pose des dem Patienten gegenübersitzenden Therapeuten zeigte. So schien er doppelt vorhanden zu sein. »Wie können Sie so etwas sagen?«, wandte ich ein. »Vielleicht hätten die Morde verhindert werden können.« Der Doktor machte eines seiner zerknirschtesten Gesichter. »Dass ich davon nichts ahnte, muss ich mir als Arzt zum Vorwurf machen.« »Aber das ändert doch alles nichts daran«, mischte sich Kittel ein, »dass wir die Mörderin haben.« »Im landläufigen Sinne kann man wohl nicht von Mord reden«, sagte van Basten. »Von was denn sonst?« Der Psychologe erhob sich und trat ans Fenster. »Klinisch gesehen haben wir es tatsächlich mit zwei Personen zu tun«, sagte er. »Tatjana, die starke, selbstbewusste, und ihre jüngere
Schwester. Lawinia war als Kind schon schwach und sensibel. Außerdem litt sie an einer unheilbaren Krankheit.« »Das wissen wir längst«, versuchte ich den Vortrag abzukürzen. »Das, wovon ich rede, ereignete sich vor langer Zeit. Lawinia war damals sechs und Tatjana acht Jahre alt. Ihr kam die Rolle der verständnisvollen Beschützerin zu. Ständig musste sie Rücksicht nehmen. Ihre Funktion schien sich darin zu erschöpfen, Stütze für ihre kränkliche kleine Schwester zu sein. So weit, so gut. Aber dann starb Lawinia. Tatjanas bohrende Neidgefühle verwandelten sich schon sehr bald in einen Schuldkomplex, der sich mit den Jahren mehr und mehr verstärkte. Als sie erwachsen wurde, fing sie an, hin und wieder die Rolle ihrer toten Schwester zu übernehmen. Das schützte sie eine Zeit lang vor dem Gefühl, den Tod der Schwester verschuldet zu haben. Dann aber brachen die Vorwürfe wieder durch. Etwas Neues musste her. Tatjana musste sich beweisen, dass Lawinia nicht tot war, das würde sie von der Schuld freisprechen. Aber dazu reichte es nicht aus, die Kleider der Schwester anzuziehen. Erst wenn ihr ein Arzt eine unheilbare Krankheit bescheinigte, meinte sie den Beweis in Händen halten zu können, dass Lawinia tatsächlich nicht tot war.« »Die Ärzte aber bescheinigten ihr Gesundheit im vollen Sinne und glaubten, ihr damit einen Stein vom Herzen zu nehmen.« »Leider wird mir der Ablauf in dieser tödlichen Konsequenz erst heute klar.« »Aber wenn sie nur als Lawinia mordete, wieso musste Kurd Ingolf sterben?«, fragte ich skeptisch. »Er war schließlich Tatjanas Schauspielerkollege und kannte Lawinia nicht einmal.«
Van Basten führte einen Finger an die Nase und streichelte ihn sanft mit dem herausschauenden Haarbüschel. »Sehen Sie, die verblüffende Fähigkeit, sich in zwei verschiedene, ja sogar äußerlich unterschiedliche Personen zu verwandeln, ist eine typische und oft bezeugte Begleiterscheinung dieser Persönlichkeitsstörung. Das heißt aber nicht, dass die Grenze zwischen beiden Polen nicht durchaus fließend und durchlässig sein kann. Lawinia ist in der Lage, Züge von Tatjana anzunehmen, so wie Tatjana teilweise zu Lawinia werden kann. Beispielsweise wenn sie in Situationen gerät, in denen sich ihr Trauma zu wiederholen scheint. Jemand nimmt sie offenkundig nicht ernst, indem er Beschwerden, die sie vorbringt, für gegenstandslos erklärt. Oder Sorgen für grundlos. Dies setzt das bekannte Reaktionsschema in Gang.« »Und ich habe Ingolf auch noch gesagt, dass sie sich nur krank aufführt und jemanden braucht, der sich als Arzt aufführt«, erinnerte ich mich. »Damit habe ich ihn möglicherweise in den Tod geschickt.« »Der Mord an Ingolf«, meinte van Basten, »war eine tragische Panne.« »Eine Panne?« »In der Logik der Patientin gesprochen, meine ich.« Der Doktor erhob sich und faltete die Hände. »Was werden Sie jetzt tun?« »Ich werde die Polizei verständigen.« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass man sehr schnell begreifen wird, dass wir es bei Frau de Vito nicht mit einer berechnenden, eiskalten Killerin zu tun haben.« »Wie geht es ihr jetzt?« »Ich habe ihr ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht. Sie wird erst einmal schlafen.« »Auch Ihre Rolle als Therapeut wird man näher beleuchten«, vermutete ich.
Van Basten erhob sich, sah mir ins Gesicht und presste die Lippen aufeinander. »Sie werden nicht erleben, dass ich mich meiner Verantwortung entziehe.« Er reichte mir die Hand. Ich ergriff sie. »Herr Doktor…« Meinen Expartner hielt es nicht auf seinem Stuhl. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir Ihnen das alles abkaufen.« »Kittel, jetzt hör mal…«, versuchte ich ihn zu stoppen. »Ich verstehe nicht, Henk, wie du dir das in aller Ruhe anhören kannst. Das ist doch – « »Für seine Stimme kann er nun einmal nichts.« »Seine Stimme ist mir scheißegal.« »Was willst du denn noch? Unser Auftrag ist erfüllt. Deine Marietta ist zufrieden, Terjung ist zufrieden.« »Ich will aber nicht, dass Terjung zufrieden ist.« »So, und warum nicht?« »Immerhin hat er Marietta betrogen.« »Quatsch! Die Frau, mit der er sie verlassen wollte, existiert gar nicht. Terjung ist der Betrogene.« »Ach, so siehst du das.« »Wie denn sonst? Spiel dich bitte nicht so auf, Kittel. Ein Seitensprung kommt in den besten Beziehungen vor. Sieh dir Terjung doch an! Wenn der seine Ehe gefährdet, dann deswegen, weil er zu langweilig und zu berechenbar ist.« »Klar, und Marietta soll sich einfach so damit abfinden. Schön, dass du wieder da bist, das Abendessen steht auf dem Tisch. So in der Art. Die Sache mit Lawinia ist vorbei, jetzt legt er sich wieder in Mariettas Bett, als ob nichts gewesen wäre.« Mit einem ratlosen Kopfschütteln gab ich auf. »Wie du meinst, Kittel.«
Ich folgte dem Doktor auf den Flur und hatte ein merkwürdiges Gefühl im Rücken, so als ob sich Kittels Ärger von hinten auf mich stürzen wollte. »Jetzt wird mir auch klar, dass das mit uns nichts mehr geben kann«, sagte er wütend. »Einer sagt tschüss, das war’s dann, tut sich anderswo um, und wenn er die Sache in den Sand setzt, kommt er einfach zurück und macht da weiter, wo er aufgehört hat.«
Den ganzen langen Rückweg zur Eingangshalle redete Kittel kein Wort mehr mit mir. Wir mussten zum Auto rennen, weil das Gewitter inzwischen in vollem Gang war und es wie aus Eimern schüttete. Kittels Karre kam zunächst überhaupt nicht vom Fleck, weil sie nicht ansprang und mitten in einer Pfütze parkte. Unterwegs würdigte mich mein Expartner keines Blickes. Er griff mit der Hand nach hinten in seine Tasche, die auf dem Rücksitz lag, und stillte seinen Hunger mit einer Frikadelle von beachtlichem Ausmaß. Fleisch- und Zwiebelgeruch erfüllte sehr bald den gesamten Fond des Wagens. Ich atmete durch und zeigte keinerlei Reaktion. Zirka fünf Kilometer weiter beendete Kittel sein Schweigen. »Da ist irgendwas faul, Henk, du kannst sagen, was du willst.« »Okay«, freute ich mich über seine frühe Einsicht. »Ganz meine Meinung. Schmeiß sie aus dem Fenster.« »Sehr witzig!« Kittel grinste nicht einmal. »Ich meinte van Basten.« »Das liegt daran, dass du nicht wegen der Morde da warst, sondern weil du eigentlich nur den Doktor ans Kreuz nageln wolltest.« »Und wenn das eine mit dem anderen zu tun hat?« »Wie denn?«
»Zum Beispiel: Wieso sagt er, der Mord an dem Schauspieler sei eine Panne gewesen?« »Weil er eigentlich nicht dem Reaktionsraster von Tatjana entspricht.« »Wenn du mich fragst«, sagte Kittel mit vollem Mund, »hörte er sich so an, als sei es eine Panne, die ihm selbst passiert ist.« Ich hatte den Eindruck, der Hackbraten in Kittels Hand wurde überhaupt nicht weniger, dafür machte sich der Gestank immer breiter. Sehnsüchtig sah ich nach draußen, wo der Regen für frische und saubere Luft sorgte. Im Auto dagegen herrschte immer noch zwiebelgetränkte sommerliche Schwüle. Und wegen des Regens konnte ich das Fenster nicht herunterkurbeln. »Du gibst wohl nie auf, was?«, sagte ich. »Ich habe eine Klientin, Henk.« »Ach was. Du willst mit deiner Klientin ins Bett, deswegen legst du dich so ins Zeug. Und jetzt hast du Angst, dass dir Terjung den Platz neben ihr wieder wegnehmen könnte.« »Siehst du die Tasche auf dem Rücksitz? Da sind ein paar Unterlagen drin.« »Was denn für Unterlagen?« »Wusstest du, dass die drei ermordeten Ärzte allesamt der gleichen Gruppe angehörten?« »Klar. Sie waren Pfadfinder. Das habe ich alles längst durchgekaut.« »Nein, nicht nur Pfadfinder. Später haben sie politisch gearbeitet.« »Weiß ich. Sie waren auf Demos und haben ein paar Tomaten geschmissen.« »Immer noch kalt, Henk. Sie haben eine Kampagne gegen einen Kollegen gestartet, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte und damit den Ruf des ärztlichen Berufsstandes beschädigt hat. Im Zuge dessen haben sie Flugblätter verteilt und Unterschriften gesammelt. Eine
Kampagne, die übrigens erfolgreich verlief. Dreimal darfst du raten, wie der Kollege hieß. Es war niemand anderer als unser Dr. med. Donald Duck.« Kittel trat ganz schön aufs Gas und kurbelte am Steuer wie ein Rallyefahrer. Die Frikadelle in seiner rechten Hand fuhr gleichsam Karussell und verströmte ihren Fleisch- und Zwiebelgeruch bis in den letzten Winkel des Innenraums. »Darf ich hier rauchen?«, fragte ich verzweifelt, um eine Gegenmaßnahme einzuleiten. »Nachher, wenn’s sein muss.« Kittel hielt mir den Fleischklops unter die Nase. »Ich esse doch noch.« Ziemlich plötzlich wurde mir schlecht. »Kannst du denn das Ding nicht irgendwann anders konsumieren?« »Es muss dringend weg, das Haltbarkeitsdatum endet heute«, sagte er. »Was soll ich denn machen, den Klops verbuddeln?« Den Klops verbuddeln. Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich hatte den Doktor noch etwas fragen wollen, und zwar vor einiger Zeit schon. »Kannst du versuchen«, sagte ich. »Aber beschwere dich später nicht, dass die Hühner ihn aufgefressen haben.« »Welche Hühner?« Die Frage lautete: Wieso hatte der berühmte Professor van Basten mit seiner revolutionären Therapieform seine Lieblingsklientin an Ärzte überwiesen, die ihr seiner Meinung nach gar nicht helfen konnten? »Henk, bist du noch da?«, versuchte Kittel zu mir durchzudringen. »Welche verdammten Hühner meinst du?« »Kehr um«, sagte ich. »Umkehren? Wohin?« »Zur Klinik, wohin sonst? Los, drück auf die Tube!«
24
Kittel tat sein Bestes. Aber vor ihm zuckelte einer dieser besonnenen älteren Herren, die ihren Hut aufzusetzen pflegten, wenn sie das Amt des Autofahrers ausübten. Man konnte über sie sagen, was man wollte, vielleicht war Autofahren nicht ihre Stärke, aber Verkehrsregeln beherrschten sie aus dem Effeff. Ich fragte Kittel, ob die Fähigkeit, jederzeit die erlaubte Geschwindigkeit auf den Stundenmillimeter genau einzuhalten, möglicherweise mit einem speziellen westfälischen Sinnesorgan zu tun habe, einer Art absolutem Geschwindigkeitssinn, vergleichbar mit dem absoluten Gehör. Kittel zuckte mit den Schultern. »Irgendein Witzbold hat mal irgendwo hier in der Gegend auf einer Straße ein Schild aufgestellt, das die Höchstgeschwindigkeit auf null Stundenkilometer herabsetzte. Rat mal, was passiert ist.« »Sag’s mir lieber nicht.« »Angeblich reichte der Stau bis zur holländischen Grenze.« Die Empfangsschwester sah uns schon von weitem kommen und versuchte vergeblich, uns aufzuhalten. »Bemühen Sie sich nicht«, rief ich ihr zu. »Wir kennen den Weg.« Im Laufschritt traten wir die Reise über die Flure an, aber wir hatten es nicht sehr weit. Offenbar von der Schwester telefonisch gewarnt, kam uns van Basten entgegen. »Ich dachte«, begrüßte er uns kühl, »dass die Dinge allmählich besprochen seien.« »Die Dinge sind jetzt klar«, verbesserte ich ihn. »Und wir können endlich damit aufhören, belanglosen Quatsch auszutauschen.«
Mit dem ausgestreckten Arm lotste er uns in eine Art Aufenthaltsraum. Es gab eine kleine Sitzgruppe mit einem Glastisch und Zeitschriften, einen Fernseher und eine grüne Pflanze neben dem Fenster. »Was meinen Sie mit belanglosem Quatsch?«, erkundigte sich der Psychologe vorsichtig. »Dr. Bockmühl, Pilgrim und Wackernagel«, sagte ich. »Waren das Ihrer Meinung nach gute Ärzte?« Van Basten wog sein blondes Haupt hin und her. »Durchaus«, sagte er, ein Nicken andeutend. »Sie hatten durchaus ihre Fähigkeiten.« »Würden Sie sie als Experten ansehen, was Ihr eigenes Fach angeht?« Nachsichtiges Lächeln. »Also, das wohl eher nicht. Wissen Sie, jeder hat seine Schwerpunkte.« »Selbstverständlich. Dann stellt sich mir aber die Frage, warum Sie Ihre Patientin der Obhut dieser Mediziner anvertrauten, obwohl Sie wussten, dass die Kollegen auf dem Gebiet der geteilten Persönlichkeit ziemlich ins Schwimmen kommen würden.« »Nun, darum ging es nicht. Es handelte sich mehr um eine therapeutische Maßnahme als eine medizinische. Die Klientin und ich waren an einem Punkt angelangt, an dem es meiner Auffassung nach eine von mir unabhängige Instanz benötigte, um meine Glaubwürdigkeit zu zementieren, die für das Gelingen der Therapie unverzichtbar war.« »Sie meinen, was ihre angeblich ernste Krankheit anging?«, fragte Kittel. Der Arzt nickte. »Ich bitte Sie, meine Herren, Einzelheiten einer Therapie unterliegen, wie Ihnen bekannt sein dürfte, der Schweigepflicht.« »Okay, dann werde ich es anders versuchen«, sagte ich. »Sie hatten neulich die Freundlichkeit, mir Ihre Therapiemethode zu erläutern. Da war viel von Einfühlen die Rede. Sich in den
Klienten hineinversetzen. Eindringen durch die Mauern, die er errichtet.« Trotzig hielt van Basten die Arme vor der Brust verschränkt. Offenbar machte er sich auf etwas gefasst. »Wir wissen inzwischen«, fuhr Kittel fort, »dass dieses Eindringen gar nicht metaphorisch gemeint war. Und dass Sie damals, als Sie noch in Münster praktizierten, einen fast ausschließlich weiblichen Klientenstamm hatten.« In van Bastens Augen blitzte es wütend auf. »Was wollen Sie damit andeuten?« »Wir wollen nichts andeuten«, korrigierte Kittel. »Sondern wir behaupten, dass Ihre Trojanische-Pferd-Therapie nichts weiter war als eine Methode, Frauen, die von Ihnen abhängig waren, an die Wäsche gehen zu können.« »Sie verlassen sofort dieses Haus!«, entrüstete sich van Basten. Seine erhöhte Stimmlage erzeugte ein unerträgliches Gefühl in den Ohren. Ich konnte nur beten, dass er uns nicht anschreien würde. »Das ist eine ganz üble Verleumdung!« »Warten Sie einen Moment«, hielt ich ihn auf. »Sie haben ja erst die Hälfte von dem gehört, was wir behaupten. Diese üble Verleumdung kam nämlich Ihren damaligen Studienfreunden Bockmühl, Pilgrim und Wackernagel zu Ohren. Wahrscheinlich baten sie Sie, Ihre Sauereien einzustellen, aber Sie sahen nicht ein, wieso. Unterbrechen Sie mich nur, wenn ich etwas Falsches sage.« Van Bastens bitterböser Blick bedeutete mir, dass er es nicht nötig hatte, sich auch nur ein Wort mehr anzuhören. Trotzdem blieb er. »Schließlich sahen Ihre Kollegen und Weggefährten sich gezwungen, eine Unterschriftenaktion gegen Sie einzuleiten.« »Das war der pure Neid!« Der Psychologe lachte auf. »Mittelmäßige, völlig talentlose Quacksalber, die es nicht
ertragen konnten, dass ich der einzige herausragende Kopf bin!« »Das Ende vom Lied war, dass Sie Ihre Praxis schließen mussten.« »Aber nicht, weil an den Verdächtigungen etwas dran war!«, wehrte sich van Basten. »Das waren aus der Luft gegriffene Beschuldigungen. Versuchen Sie mal, etwas gegen eine Hexenjagd zu unternehmen.« »Also gut«, lenkte Kittel ein. Seine Hitzköpfigkeit von eben war wie weggeblasen. »Vielleicht haben Sie sogar Recht. Vielleicht auch die toten Kollegen. Das ist aber leider nicht der Punkt.« »Dann kommen Sie endlich zu Ihrem!« »Unser Punkt ist«, übernahm ich wieder, »dass für Sie eines Tages die Stunde der Rache schlug. Jahre nach Ihrem unehrenhaften Rausschmiss aus Münsters Therapeutenviertel betrat Tatjana de Vito alias Lawinia diese Klinik und Sie beschlossen sehr bald, dass die Frau Ihr Trojanisches Pferd sein sollte.« Van Basten lächelte gnädig. Offenbar fühlte er sich wieder im sicheren Wasser, seit wir das Thema sexuelle Übergriffe verlassen hatten. »Jetzt bin ich aber wirklich gespannt«, quäkte er. »Vielleicht waren Sie ja gar nicht sicher, ob sie den Arzt töten würde, der sie für gesund erklärte. Aber Sie fanden, dass die Sache den Versuch wert sei.« »Sie sind komplett verrückt«, meinte van Basten amüsiert. »Und als es Dr. Pilgrim erwischt hatte, wandten Sie Ihr Trojanisches Pferd auch bei den anderen an. Sie wussten genau, Ihnen als zuständigem Therapeuten würde man vielleicht einen Vorwurf machen, aber niemand würde Sie jemals des Mordes anklagen. Jeder würde diese therapeutischen Unfälle bedauern und nicht einer auf die Idee
kommen, dass es sich in Wirklichkeit um Hinrichtungen handelte.« »So.« Van Basten begab sich zur Tür und öffnete sie. »Schluss jetzt. Wenn Sie bitte gehen wollen…« »Wir sind aber noch nicht ganz fertig.« »Dann warten Sie hier auf mich. Ich gehe davon aus, dass Sie noch nicht die Polizei angerufen haben?« »Wir waren ja noch auf dem Weg dorthin«, sagte Kittel. »Dann werde ich das jetzt erledigen.« Die Tür schloss sich. Kittel setzte sich auf den Glastisch. »Was sollte denn das jetzt? Ich dachte, du wärst dir hundertprozentig sicher.« »Bin ich auch.« »Ein überführter Mörder, der so nett ist, die Polizei zu rufen? – Ich finde, er könnte ruhig etwas nervöser wirken. Panischer.« Ich sah eine Weile aus dem Fenster. Hinter der Straße, auf der wir hergefahren waren, begann ein kleines idyllisches Wäldchen und viel weiter weg lag ein Bauernhof. Die Sonne hatte sich ihren Platz zurückerobert und ließ die nasse Erde dampfen. »Also gut«, sagte ich. »Dann werde ich jetzt mal nachsehen, wo er bleibt.« Ich ging zur Tür und betätigte die Klinke. Vergeblich. »Es ist abgeschlossen.« »Scheiße! Was jetzt?« »Nur die Ruhe. Damit kommt er nicht durch. Das zeigt nur, dass er mit seinem Latein ziemlich am Ende ist. Was ist mit deinem Handy?« »Hab ich im Auto vergessen.« »Klasse!« Ich ließ mich in van Bastens Sessel nieder. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten.« Kittel sah nicht besonders beunruhigt aus. »Wir sollten uns inzwischen die Zeit vertreiben. Was hältst du davon, wenn wir ein bisschen singen?«
»Was?« »Das eine oder andere Liedchen. Na, was ist?« »Kittel, geht’s dir gut?« »Zier dich nicht so. Blootwoosch, Kölsch un’ en lecker Mädche. Das war doch was.« Er fing an, die Melodie zu summen. Irgendwas ging hier vor, aber ich kam nicht drauf, was. Dafür fühlte ich mich zu wohl und war außerdem zu müde. »Lass mich schlafen, Kittel«, bat ich. »Du willst schlafen? Jetzt kommen wir einmal im Jahr her und du willst schlafen? Wir sollten lieber etwas zu trinken bestellen.« »Nichts zu trinken, bestell mir lieber ein Bett. Und ruf bei Tatjana an, vielleicht will sie ja mit mir schlafen.« »Du spinnst, Henk.« Kittel fing an zu schnarchen. »Wusstest du übrigens, dass van Basten eine Ente ist? Deshalb werden sie ihn nicht verhaften. Sie wollen nicht, dass man ihnen nachsagt, sie hätten Vorurteile gegen Enten…«
25
Noch bevor ich die Augen aufschlug, wusste ich, dass ich herrlich geschlafen hatte. Ich hatte das Gefühl, den Schlaf sämtlicher sinnlos durchzechter Nächte des letzten halben Jahres nachgeholt zu haben. Jetzt hatte ich ausgeschlafen und war voller Tatendrang. Auf mein Federbett schien die tiefe, dunkelgelbe Abendsonne. Ich blinzelte. Es war nicht mein Federbett. Ich befand mich auch nicht zu Hause, sondern in einem Krankenhauszimmer. Gegenüber an der Wand hing ein Kruzifix und neben mir stand ein hässliches Rollschränkchen, darauf eine Flasche Mineralwasser ohne Kohlensäure. Hinter mir zischte es. »Kittel?«, murmelte ich. Er hatte eine seltsame Art zu schnarchen. Ich drehte mich auf die andere Seite. Jemand benutzte Nasenspray, deshalb zischte es. Auf dem Rand meines Bettes saß Hauptkommissar Pit Bondt. Er schob das Hütchen auf sein Spray, steckte es weg und drehte sich zu mir um. »Na, da sind Sie ja wieder«, sagte er. »Wo bin ich?« »Nicht im Himmel, mein Lieber, keine Angst. Der Doktor hat sie so gerade eben nochmal zusammengeflickt. Sie sollten ihm dankbar sein.« »Wer? Dr. van Basten?« Ich versuchte mich zu erinnern. Da war nicht viel. Van Basten mit seiner Quäkstimme, der irgendetwas weit von sich wies. Lange Flure, an deren Wänden
Hirschgeweihe hingen. Kittel, der ein Karnevalslied anstimmte. Bondt stand auf. »Das Mineralwasser habe ich spendiert. Trinken Sie reichlich, das tut Ihnen gut.« Er winkte kurz und wandte sich zur Tür. »Ansonsten danke ich Ihnen für die Hinweise, die es uns ermöglichten, die Mordfälle aufzuklären.« »Moment mal! Halt, bleiben Sie, Herr Kommissar. Nur ein paar Fragen.« Ich setzte mich abrupt auf. Hämmernde Schmerzen machten sich in meinem Kopf breit. Mein Tatendrang löste sich in einer Sekunde in Luft auf. »Was ist denn überhaupt passiert?« »Das wird Ihnen der Doktor erklären. Nach Ihrem Unfall rief er uns an. Als wir kamen, hatte er Sie beide schon so weit verarztet und – « »Was für ein Unfall?« »Sie können sich also tatsächlich an nichts erinnern?« Bondt machte ein besorgtes Gesicht. »Es ist genauso, wie der Doktor vorhersagte.« »Verdammt, jetzt reden Sie schon!« »Also ganz kurz: Sie kamen hierher und teilten van Basten Ihren Verdacht bezüglich seiner Patientin mit. Dann gerieten Sie und Ihr Partner in Streit.« »Das stimmt. Kittel spielte sich auf einmal als eine betrogene Ehefrau auf.« »Na sehen Sie. Da kommt es ja schon wieder. Mitten im hitzigsten Streit fuhren Sie los und es kam, wie es kommen musste: Sie setzten den Wagen gegen einen Baum. Ihr Glück, dass van Basten den Unfall vom Fenster aus verfolgte und sofort Hilfe leistete.« Ich schüttelte den Kopf, was die Schmerzen übel nahmen. »Nein, Herr Kommissar. So war das nicht.« »Wie denn?«
»Irgendwie anders. Leider kann ich mich nicht recht erinnern…« Vorsichtig berührte ich meine Schläfen. »Hier drin ist alles wie ein gottverdammter Schwamm.« Die Tür öffnete sich. Van Basten schwebte herein mit einem engelgleichen Gesicht. Dahinter folgte Kittel, weiß wie die Wand mit rot unterlaufenen Augen, ein Gespenst im Nachthemd. »Verhaften Sie diesen Mann, Herr Kommissar!«, verlangte er und zeigte auf den Arzt. »Los, legen Sie ihm Handschellen an.« »Sie sollten ihm dankbar sein«, wiederholte Bondt. »Wofür, dass er mein Auto zu Schrott gefahren hat? Schauen Sie aus dem Fenster und sehen Sie sich den Blechhaufen da draußen an.« Van Basten berührte Kittel sanft an der Schulter. »Bettruhe ist vorerst das Beste für Sie, Herr Kittel.« »Ich scheiße auf die Bettruhe!«, entrüstete sich mein Expartner. »Sie haben mein Auto kaputtgemacht.« »Warum sollte Dr. van Basten so etwas tun?«, appellierte der Kommissar an Kittels Vernunft. »Warum?« Kittel kam genauso wie ich ins Grübeln. »Was weiß ich? Wahrscheinlich weil er Patienten braucht. Deshalb hat er uns in diesem Zimmer eingeschlossen und – « »Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte ich. »Dieser Mann hat seine eigene Patientin nicht nur gevögelt, sondern sie außerdem zum willenlosen Zombie abgerichtet. Als solcher hat Tatjana de Vito die drei Ärzte umgebracht wie auch ihren Schauspielerkollegen.« So wie Bondt mich ansah, schien er mir nicht zu glauben. Und er schien Mitleid mit mir zu empfinden. »Mit Dr. van Bastens Hilfe gelang es uns erst, diese Verbrechen aufzuklären«, sagte er. »Moment mal«, widersprach Kittel. »Als wir zum ersten Mal hier waren, da hat er das ganze psychologische Zeug
abgelassen und von einem Therapieunfall geschwafelt. Aber dann kamen wir wieder und – « »Nein«, sagte Bondt. »Sie kamen nicht wieder. Sie hatten diesen Autounfall.« »Quatsch, Autounfall!« Kittel raffte seinen grünen Bademantel zusammen und ging auf den Arzt los. »Den Wagen werden Sie ersetzen!« Bondt hielt ihn zurück. »Seien Sie froh«, forderte der Psychologe aus sicherer Entfernung. »Wenn man bedenkt, was alles hätte passieren können.« Der Hauptkommissar nickte beifällig. Mir schwante allmählich, dass die Sache für uns nicht gut ausgehen würde. »Er hat uns irgendwas in den Tee getan!«, fiel Kittel plötzlich ein. »Ja, so war’s. Wir waren weg und können uns an nichts erinnern. Äußerst clever, Herr Doktor.« »Wieso sind wir da nicht sofort drauf gekommen?«, wunderte ich mich. »Deswegen hat er uns ja was reingetan. Damit wir nicht drauf kommen.« »Was für einen Tee meinen Sie?«, erkundigte sich van Basten freundlich. »Na gut, dann war’s eben die Atemluft. In diesem Zimmer, aus dem wir nicht hinauskonnten.« »Fragen Sie diese Schwester am Empfang«, forderte ich Bondt auf. »Sie kann Ihnen bestätigen, dass wir zweimal da waren.« Van Basten ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. »Frau Engelbrecht?«, rief er nach draußen. »Würden Sie kurz mal kommen?«
Die stark geschminkte dünne Schwester betrat das Zimmer und musterte Kittel und mich mit ihrem gewohnt skeptischen Blick. »Können Sie uns sagen, wann diese beiden Herren die Klinik betraten?«, fragte ihr Chef. »Das war gegen sechzehn Uhr.« »Und was geschah dann?« »Nachdem die Herren die Klinik verlassen hatten, fuhren sie kurz darauf mit dem Auto gegen einen Baum.« »Blödsinn!«, regte Kittel sich erneut auf. »Merken Sie das denn nicht, Herr Kommissar? Sie plappert nur nach, was er ihr eingetrichtert hat!« Er wandte sich an Frau Engelbrecht. »Wie viel hat Ihnen van Basten dafür bezahlt?« »Bei allem Respekt«, van Basten lächelte dünn. »Aber dies ist eine seriöse Klinik und ich bin kein x-beliebiger Stadtrat.« Kittel lachte schrill auf. »Heh«, versuchte ich, meinen Freund zu stoppen. »Lass gut sein. Genau das will er doch.« »Was will er?« »Uns vorführen. Wir sollen uns unmöglich machen. Wie Idioten aussehen, die reif für die Klapse sind.« »Der kann mich mal.« Kittel war auf hundert. »Weißt du was? Was der Kerl von uns denkt, das ist mir so was von scheißegal!« »Genau«, sagte ich. »Und ob wir uns seiner Meinung nach wie Idioten aufführen…« »Wir führen uns so auf.« »Wenn Sie wollen«, schlug der Doktor vor, »gebe ich Ihnen ein Mittel zur Beruhigung.« »Eine Pille!« Kittel reckte wutentbrannt seinen Daumen in die Luft. »Versuchen Sie es nur! Eine einzige Pille noch, und Sie können was erleben!«
Mein Blick kreuzte den von Bondt. Der Kommissar wirkte ratlos und hoffte offenbar auf das Eingreifen des Psychologen. Kittel atmete schwer und setzte sich auf mein Bett. »Also gut, Henk. Wie geht’s jetzt weiter?« »Wir werden dem Herrn Doktor seine Bademäntel zurückgeben. Er wird sie waschen lassen und die Betten neu beziehen. Wir werden uns wieder ankleiden und nach Hause fahren.« »Fahren ist gut.« »Na schön. Notfalls trampen wir.« »Sie könnten bei mir mitfahren«, bot Hauptkommissar Bondt an. »Nett von Ihnen, Herr Kommissar.« Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, dass van Basten aufatmete. Auch Kittel schien das nicht entgangen zu sein. Er rappelte sich vom Bettrand auf und baute sich vor dem Psychologen auf. »Bilde dir bloß nicht ein, du Quacksalber, die Sache sei erledigt.« Kittel kam van Basten sehr nahe. Der Arzt machte keinen Schritt zurück, bog aber seinen Oberkörper nach hinten. Mir fiel zum ersten Mal auf, wie biegsam er war. »Dieses Mal hast du vielleicht gewonnen«, flüsterte Kittel. »Aber eines Tages wirst du einsehen, dass das mit dem Auto ein Fehler war. Und dann hilft dir auch dein Schrank voller Zwangsjacken nichts.« Van Basten schluckte und lächelte. Ich legte den Arm um Kittels Schulter und bugsierte ihn an Frau Engelbrecht vorbei aus dem Zimmer. Der Krieg war vorbei und wir beiden waren diejenigen, die geschlagen vom Schlachtfeld humpelten. »Wir warten draußen auf Sie«, sagte ich, an Bondt gewandt.
Kittel, immer noch außerstande, sich mit der Lage abzufinden, schüttelte den Kopf. »Und er denkt, er käme damit durch.« »Das tut er auch, Kittel. Er kommt damit durch.«
26
Was Kittel anging, hatte er auch in den folgenden Tagen Grund sauer zu sein. Der Fall van Basten machte ihm nicht lange zu schaffen. Und auch, dass der arrogante Klinikchef die Affäre um seine Klientin, die zur mehrfachen Mörderin geworden war, ziemlich unbeschadet überstand, steckte mein Expartner bald weg. Schließlich lebten wir nicht in Hollywood, wo die Bösewichter am Ende immer das bekamen, was sie verdienten. Wir lebten in Deutschland, wo Bösewichter wie Professor van Basten sehr viel verdienten und sich deshalb gute Rechtsanwälte leisten konnten. Dann kam das Wochenende, das auf unsere kriminalistische Schlappe folgte. Angelina kehrte früher als angekündigt aus Catania zurück. Sie hatte sich mit ihrer Mutter zerstritten, und noch bevor sie die Koffer ausgepackt hatte, lag sie auch mit Kittel im Clinch, der daraufhin seine Zahnbürste nahm und sich in seinem Büro einquartierte. Ich musste meinen Schlafplatz in die muffige Garderobenecke verlegen und die Kleidermotten aus ihrer angestammten Umgebung verdrängen. Angeblich hatte sich der Streit zwischen Kittel und Angelina an seiner Müllsammlung im Keller entzündet, die den ganzen Raum mit Beschlag belegte und Angelina in der Ausübung ihres Hobbys, der Produktion von Kräuterdecken und Kirschkernkissen, massiv behinderte. Erst am zweiten Abend, den wir am Hafenkai damit verbrachten, leere Bierdosen im Kanal schwimmen zu lassen, ahnte ich den eigentlichen Grund für seine miese Stimmung. »Was macht eigentlich Marietta?«, erkundigte ich mich beiläufig.
Kittel zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er und schleuderte mit einer Armbewegung, die cool wirken sollte, eine Blechbüchse ins Hafenbecken, wo sie mit einem unerwartet satten Ploff! auf dem Wasser aufschlug. »Ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht.« »Bravo.« So cool seine Wurf auch gewesen sein mochte, das Ploff hatte verraten, dass Kittels Bierdose noch halb voll gewesen sein musste. »Ehrlich, Kittel, ich ziehe davor den Hut.« »Wovor?« »Das mit euch, da wäre doch sowieso nichts draus geworden. Was hättest du Angelina erzählt?« Ich drehte mir eine Zigarette. »Gut zu wissen, dass du zu den Männern gehörst, die Schluss machen, wenn es Zeit ist.« Kittel schien darüber nachzudenken. Er ließ eine weitere Bierdose zischen. »Dass du solche Dinger überhaupt noch anpackst«, fügte ich hinzu. »Und dann einfach so ins Wasser schmeißt.« »Was für Dinger?« »Weißblechdosen«, sagte ich. »Ökologisch gesehen ein kostspieliger Luxus.« Kittel rülpste. »Scheiß drauf.« Weit weg am Horizont spiegelten sich die bunten Lichter des Cineplex im Wasser des Kanals. Gleich dahinter schob sich der rastlose Autoverkehr über den Albersloher Weg. Studenten saßen an den Tischen, fühlten sich wie am East River und bestellten Getränke zu astronomischen Preisen. »Dein Klient, dieser Terjung«, sagte Kittel. »Interessiert dich noch, was er so treibt?« »Er ist ja nicht mehr mein Klient. Immerhin hat er das Honorar pünktlich überwiesen.« Kittel prustete spöttisch. »Das sieht ihm allerdings ähnlich.«
»Heiner Terjung ist ein korrekter Mann. Er hat sein Leben lang am Schreibtisch verbracht und Daten gesammelt. Damit hat er den Computer gefüttert und so das Profil des idealen Mitarbeiters seiner Firma ermittelt. Wäre so was nichts für dich?« »Das ist doch alles Schnee von gestern. Inzwischen hat er alles geschmissen und ist ausgestiegen.« »Er hat es also tatsächlich gewagt«, staunte ich. »Soviel ich weiß, wollte er nach Indien gehen.« »Wollte er, ja. Aber weißt du, was er wirklich macht? Terjung fährt eine Fahrradrikscha hier in der Stadt. Jämmerlich, was? Und wieso? Weil er seine Marietta nicht allein lassen will! Marietta findet die Rikscha nämlich ganz toll. Sie fährt wieder richtig ab auf diesen Typen!« »Ach, jetzt verstehe ich. Die beiden sind wieder zusammen und du bist abgemeldet.« »Quatsch! Du verstehst überhaupt nichts.« In den nächsten Tagen saßen wir seltener zusammen am Kanal. Kittel war anstrengend und nicht auf Müll oder ähnliche Dinge anzusprechen. Gleichzeitig kannte er kein anderes Gesprächsthema. Mir wurde klar, dass er damit weit mehr nervte als vorher, als er noch als Apostel der Abfalltrennung aufgetreten war. Wenn die Müllabfuhr draußen vorfuhr, unterbrach er sein Frühstück, um die städtischen Angestellten auf dem Wagen anzupöbeln, und wenn er angetrunken war, unternahm er nächtliche Streifzüge durch Wohnviertel, kippte grüne Tonnen um und pinkelte in Abfalleimer. Es kam der unvermeidliche Zeitpunkt, an dem mir klar wurde, dass in dieser Stadt nur Platz für einen von uns war. Es war der richtige Moment, meine Rückkehr nach Köln in Angriff zu nehmen. Am Abend, bevor mein Zug ging, war Kittel unterwegs, um in irgendeiner besseren Gegend auf die übliche Weise zu
randalieren. Ich betrat das Büro, aber das Licht funktionierte nicht. Zunächst dachte ich mir nichts dabei, doch dann bemerkte ich im fahlen, von draußen hereinfallenden Licht der Straßenlaterne das Profil einer Gestalt, die in einem der Sessel saß. Es ist aus, schoss mir durch den Kopf. Vollmer, der Verrückte, hat mich sogar in der hintersten Mottenecke von Kittels Frisörsalon aufgespürt. »Die Tür war offen«, sagte Spock. Meine schlagartige Erleichterung entlud sich in aufbrausender Wut. »Was soll das?«, brüllte ich ihn an. »Die Sicherung ausschalten und mit der gezogenen Knarre auf mich warten? Hältst du dich für Alain Delon, oder was?« »Siehst du irgendwo eine Knarre? Ich wollte dir nur was bringen.« Spock öffnete eine schwarze Ledermappe und entnahm ihr ein dickes Bündel loser Blätter, die mit einem Gummi zusammengehalten wurden. Es war ein ansehnlicher Stapel und unter dem Gummi klemmte ein Briefumschlag, auf dem mein Name stand. »Was ist das?« »Ein schöner Gruß von Axel.« »Axel Vollmer? Woher kennst du den?« »Ich habe für seinen Vater gearbeitet.« »Für diesen Psychopathen? Das wird ja immer schöner.« Ich zog das oberste der Blätter heraus. »Was hast du denn für den gemacht? Leute abgeknallt?« Die Nacht war düster, las ich. Nebel kletterte vom Rhein herauf, kroch über die Domplatte und umhüllte die mächtige gotische Kathedrale wie ein weißes Leichentuch. Die innere Kanalstraße lag leer und verlassen da, am Eigelstein bellte ein einsamer Hund und auf dem Chlodwigsplatz johlte ein Besoffener: »Verdampf lang her.«
Wenn mich nicht alles täuschte, handelte es sich um Axels Kölnkrimi. »Was soll ich denn damit?« Spock reichte mir den Briefumschlag. Ich öffnete ihn. Hi, Partner!
Beste Grüße aus dem fernen Tobago. Die Sonne brennt und
die Frauen sehen jeden Tag schärfer aus. Aber sag Daddy
bloß nichts, sonst lässt der mich umbringen, du kennst ihn ja.
Vielleicht kannst du mit dem Buch berühmt werden, aber mir
steht der kölsche Rummel bis hier.
Axel.
»Du willst nicht wirklich wissen, ob ich Leute für ihn abgeknallt habe«, sagte Spock. »Tatsache ist, dass der alte Vollmer verdammt gut zahlt. Ich erzähle dir lieber nicht, was er allein dafür lockergemacht hat, dass ich deinen Anrufbeantworter voll gequasselt habe.« »Das heißt, das war alles nur Theater?«, freute ich mich. »Ich kann also wieder zurück?« Spock schüttelte den Kopf. »Geh nicht zurück, jedenfalls vorerst nicht«, riet er mir. Er erhob sich. »Dass ich dich nicht abgeknallt habe, heißt nicht, dass er nicht wollte, dass ich das tue.« »Du hast abgelehnt? Wieso?« »Der Alte ist nicht der Typ, der so schnell aufgibt. – Also dann, man sieht sich.« Spock winkte mir zum Abschied zu. »Übrigens habe ich die Sicherung nicht rausgedreht. Als ich das Licht anknipsen wollte, hat es geknallt und dann war es finster.« Eine Woche später wollte ich mit Kittel im Berlusconi essen, um ihn dazu zu bewegen, wegen der unübersichtlichen Lage meine Mietzeit noch etwas zu verlängern. Am Nebentisch saß
der bärtige Typ mit Baskenmütze vom letzten Mal und erklärte einer bürstenhaarigen Studentin, die ihre Lippen schwarz geschminkt hatte, wieso Die Gruft auf der nächsten Berlinale einen goldenen Bären einheimsen würde. Ich hob eine Zeitung vom Boden auf, blätterte darin herum und stieß auf eine Meldung: Privatklinik im Zwielicht? In einer Havixbecker Privatklinik ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen angeblicher sexueller Übergriffe eines Therapeuten. Die Van-Basten-Klinik war erst kürzlich im Zusammenhang mit der Mordserie in die Schlagzeilen geraten, der drei Münsteraner Ärzte zum Opfer gefallen waren. Der Chef der Klinik, Professor van Basten, erklärte die Vorwürfe für aus der Luft gegriffen und deutete an, dass es sich dabei um eine gezielte Kampagne handele, um sein vorbildliches Institut in Verruf zu bringen. Im Übrigen sei die bevorstehende zeitweilige Schließung kein Versuch, sich aus der Schusslinie zu begeben. Der Grund dafür seien vielmehr umfassende Umbaumaßnahmen, die schon seit Jahren geplant gewesen seien. »Also, was gibt’s?«, begrüßte mich Kittel, während er sich zu mir setzte. »Was macht das Schnüfflerdasein?« »Aus und vorbei. Ich hab einen Job in Aussicht.« »Lass hören.« »Ich weiß noch nicht, was für einen. Bisher ist es nur ein Seminar für Existenzgründung.« Ich nickte. »Im Kreativhaus, nehme ich an.« »Du musst dir erst drüber klar werden, was du willst. Dann über das, was du kannst, was deine Stärken sind.« »Und dann?«
»Tja, dann belegst du vielleicht was anderes. Linkshändiges Trommeln oder körpersprachliches Flirten.« Unsere Biere kamen. »Aber was spricht denn dagegen, wenn wir beide so wie früher als Detektive – « »Was dagegenspricht? Darf ich dich nur kurz daran erinnern, dass mein Wagen Schrott ist und so ein Scheißirrenarzt, der eigentlich hinter Gitter gehört, ungestört weiter Patientinnen flachlegt?« Er hatte also doch noch nicht damit abgeschlossen. »Das ist nur ein Beispiel«, brummte Kittel und ließ sein Bier im Glas kreisen, bis der Schaum verschwunden war. »Unsere Fälle sind immer irgendwie so aus gegangen.« »Genau das versuche ich doch dir begreiflich zu machen«, rief der Existenzialist der Frau nach, die gerade in unsere Richtung aufbrach. »Der Film spielt mit der Banalität, das ist ja das Geniale! All die kleinbürgerlichen Klischees, der Fluch des Pharao, die arabischen Terroristen – Klischees! Die Gruft ist ein einziger Abgesang auf die spießige Gesellschaft und ihren Kitsch. Aber für eine reiche Tucke wie dich ist das natürlich zu hoch.« »Heh, wie viel zahlen sie dir eigentlich dafür, dass du jeden Abend hier sitzt und den intellektuellen Müll absonderst«, erkundigte sich Kittel genervt. »Können die sich keinen ordentlichen Pianisten leisten?« Der Bärtige kratzte sich an der Mütze und steckte sich eine gelbe Zigarette in den Mund. »Du kannst mich mal.« »Wann fährst du nach Hause?«, erkundigte sich Kittel. »Vorerst gar nicht. Die Luft ist noch zu dick.« »Du kannst natürlich weiter bei mir wohnen«, kam Kittel meiner Frage zuvor. »Zwischen Angelina und mir ist alles wieder in Butter. Ich habe den Keller leer geräumt und werde morgen das erste Kirschkernkissen anfertigen.«
»Wenn du mal nach Köln kommst«, sagte ich dankbar, »darfst du bei mir im Keller wohnen, so lange du willst.« »Was hast du jetzt vor?« »Vor ein paar Tagen habe ich einen Köln-Krimi geschrieben. Ich denke, wenn man den Schauplatz nach Tokio verlegt, kann man damit richtig Knete machen. Du weißt, wie sehr die Japaner den Dom schätzen.« »Du willst jetzt Bücher schreiben?« Kittel verzog das Gesicht. »Das ist nicht dein Ernst!« »Nur wenn du mir keine andere Wahl lässt. Überleg dir die Sache nochmal, Kittel.« »Vergiss es«, sagte er. »Nicht, solange mir irgendwelche Psychologen ungestraft mein Auto kaputtmachen dürfen.«
27
»Möchten die Herren noch etwas Tee?« »Gern.« Der eine der beiden Gäste, ein schlanker Mann mit eisgrauem Haar, hielt dem Doktor seine Tasse hin. »Warum denken Sie nicht noch einmal darüber nach«, schlug er vor, während er das Porträt des Arztes hinter dem Schreibtisch betrachtete. »Eine kleine Spende, sagen wir, nicht mehr als fünfzigtausend. Das dürfte für einen Mann wie Sie doch eine Kleinigkeit sein.« »Gerade vor dem Hintergrund dieser Todesfälle«, ergänzte der andere, ein rundlicher Kleiner, der ständig Kaugummi kaute, »die für Sie doch ausgesprochen glückliche Zufälle waren, nicht wahr?« Van Basten blieb freundlich. Freundlich bleiben, wenn sein Gesprächspartner unverschämt wurde, gehörte zu seinen Stärken. Sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, darin war er unschlagbar. »Sehen Sie, wir wissen doch, dass es Ihnen überhaupt nicht ums Geld geht.« »Worum denn?« »Sie glauben, dass ich mich schuldig fühle, und wollen sozusagen an meine Schuldgefühle appellieren.« »Wir glauben nicht, dass Sie sich schuldig fühlen«, korrigierte ihn der Dicke. »Sondern dass Sie es sind.« »Und das«, setzte sein Kumpel noch hinzu, »glauben wir nicht. Wir wissen es.« »Stellen Sie sich doch einmal vor«, sagte der andere. »Diese Männer waren Ärzte wie Sie. Irgendjemand sollte sich doch darum kümmern, dass den armen Kollegen Gerechtigkeit widerfährt, finden Sie nicht?«
Van Basten lächelte sein Lächeln, auf das er heimlich stolz war. Es drückte Ratlosigkeit aus, obwohl er besten Willens war. »Ich habe keine Idee, wie wir jetzt verbleiben sollen. Sehen Sie, Sie kommen einfach unangemeldet her und ich habe noch so viel zu tun.« »Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben«, sagte der ältere der beiden Besucher. »Sie scheinen nicht gerade einen vollen Terminkalender zu haben.« »Die Klinik wird über den Winter geschlossen. Im nächsten Frühjahr werden wir alles renovieren und dann starten wir wieder mit frischen Kräften.« »Darf man fragen, was Sie inzwischen so treiben, Herr Doktor?« »Ich werde ein Studienjahr einlegen. In die Einsamkeit der Berge flüchten, vielleicht ein Buch schreiben. In zwei Stunden geht mein Flug nach Davos.« »Das heißt, Sie sind allein hier?« »Eigentlich bin ich gar nicht mehr hier. Ich bin nur gekommen, um noch ein paar Unterlagen zu holen.« »Ganz schön einsam hier«, nickte der Jüngere. Er stand auf, trat ans Fenster und genoss den Ausblick auf die herbstliche Landschaft. Es war diesig und die meisten Bäume waren schon kahl. »Im Winter erst recht.« »Ja. Aber dann ist die Klinik geschlossen. Das gesamte Gebäude begibt sich gleichsam in den Winterschlaf.« »Ich hab da mal einen Film gesehen«, sagte der Dicke mit dem Kaugummi. »Da ist einer, normal wie Sie und ich, der spielt den Hausmeister für so einen Kasten wie diesen hier. Nur für einen Winter. Hält die Heizung am Laufen und solche Sachen. Und was passiert? Er verwandelt sich in eine Bestie und schlachtet seine eigene Familie ab.« Der Hagere gähnte. »Vielleicht sollten wir uns allmählich verabschieden.«
Van Basten, dem das Gähnen nicht entgangen war, lächelte. »Bleiben Sie ruhig. Nehmen Sie noch eine Tasse.« Der Dicke wollte trinken, aber er zögerte und deutete auf den Tisch. »Ist das eigentlich deine Tasse oder meine?« »Ich glaube, das ist meine«, vermutete sein Kollege. »Nein«, widersprach van Basten. »Das ist meine Tasse.« »Ich hätte geschworen, es wäre meine«, sagte der Dicke. »Nein.« »Sind Sie sicher?« »Aber natürlich.« »Das tut mir aber Leid«, entschuldigte sich der Hagere. »Ich habe aus Versehen die Tassen vertauscht.« Er gähnte wieder. »Komm, lass uns aufbrechen.« »Ja.« Van Basten rieb sich die Augen. »Aufbrechen, dass sollte ich jetzt auch.« Aber er konnte sich nicht so recht aufraffen. Sein Körper war schwer wie Blei. »Mein Flieger geht in einer Stunde. Nein, in einer halben oder so…« Er wollte sich aus dem Sessel hochstemmen. Die Luft war plötzlich so zäh wie Sirup und sein Körper fühlte sich noch schwerer an. »Bleiben Sie doch noch…« Die ungebetenen Gäste sahen anders aus als vorher, fand van Basten. Sie hatten Entenköpfe. »Machen Sie’s gut, Doktor«, quäkte die kleinere, dicke Ente. Die dürre Ente klopfte ihm auf die Schulter. »Guten Flug in die Schweiz. Grüßen Sie mir die Berge.« »Bitte, lassen Sie die Tür angelehnt«, bat der Doktor. Es waren höfliche Enten, die mit den Flügeln winkten, als sie gingen. Die Tassen vertauscht! Van Basten blinzelte mit den Augen und massierte sein Gesicht mit den Fingerspitzen. Es ging ihm schon wieder besser, ein wenig frische Luft und er würde wieder topfit sein. Der Arzt stand auf, schwankte zum Fenster
und öffnete es. Eine frische Brise wehte in das Zimmer und die Tür fiel ins Schloss. Er tastete seine Hosentaschen ab. Natürlich, der Schlüssel lag drüben im Arztzimmer. Van Basten ging zur Tür und trommelte mit der Faust dagegen. »Hallo! Bitte, machen Sie auf!« Plötzlich fiel ihm der Film ein, von dem der Dicke gesprochen hatte. Er erinnerte sich, dass er ihn auch gesehen hatte. Draußen, auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang, hörte er ein Auto wegfahren.