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Inhaltsverzeichnis Widmung Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapit...
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Inhaltsverzeichnis Widmung Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 3
Kapitel 24 Kapitel 25 Kapitel 26 Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30 Kapitel 31 Kapitel 32 Kapitel 33 Kapitel 34 Danksagung Copyright
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DAS BUCH In einer Welt, in der Vampire und Magier jahrhundertelang einen erbitterten Krieg gegeneinander führen, ist es ein Problem, wenn man wie Sabina Kane das Blut beider Völker in sich trägt. Nach dem Kampf gegen die Vampire der Dominae macht sich Sabina zusammen mit dem sexy Zauberer Adam und ihrem Hausdämon Giguhl auf den Weg nach New York, um ihre Zwillingsschwester Maisie kennenzulernen. Ihre Zaubererfamilie empfängt sie mit offenen Armen, und Sabina entwickelt ungeahnte magische Fähigkeiten. Doch ihr bleibt kaum Zeit, sich an ihr neues Dasein zu gewöhnen, denn sie entgeht nur knapp einem Mordanschlag. Sie findet heraus, dass eine uralte Prophezeiung, der zufolge sie dazu auserwählt ist, die dunklen Völker zu vereinen, der Grund für die Angriffe ist. Doch Sabina ist nicht bereit aufzugeben und holt zum Gegenschlag aus …
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DIE AUTORIN Jaye Wells wuchs in Texas auf und arbeitete mehrere Jahre als Zeitschriftenlektorin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihr Debüt »Rote Jägerin« hat auf Anhieb die amerikanischen Mystery-Fans begeistert. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Texas. Mehr über Jaye Wells erfahren Sie unter: www.jayewells.com
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Für Spawn – dieses Buch darfst du niemals lesen!
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Der Laden der Kum-N-Go-Tankstelle war in kränklich fluoreszierendes Licht getaucht und im Autobahn-Chic gehalten. Ein Aroma aus kaltem Rauch, Urinstein und Rachenputzer-Kaffee hing im Raum und ließ mich auf dem Weg zum Bankautomaten durch den Mund atmen. Ich war an der Reihe, das Benzin zu bezahlen, weshalb meine oberste Priorität nicht wie üblich darin bestand, das Regal mit den Schokoriegeln zu durchforsten, sondern erst einmal Geld zu holen. Während ich meine Geheimzahl eingab und wartete, plauderte Adam vorne im Laden mit dem Verkäufer. Zwischendurch warf er mir einen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um seinen Hintern zu bewundern, der seine Jeans so knackig ausfüllte. Selbst nach zwei Tagen ununterbrochener Autofahrt sah er mit seinem Dreitagebart und dem erschöpften Lächeln immer noch verdammt sexy aus. Zu dumm, dass ihn seine Magierabstammung tabu für mich machte. Ehe ich ins Starren verfallen konnte, blickte ich aus dem Fenster. Adams SUV und meine kirschrote Ducati boten auf dem leeren Parkplatz die einzige Abwechslung. Die hundertachtzig Pferde meines Motorrads ruhten zahm auf einem Anhänger hinter Adams Giganten. Ehe wir in Kalifornien losgefahren waren, hatte er versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich in New York keinen fahrbaren Untersatz brauchen würde. Aber ich ließ mich nicht umstimmen. Die Ducati war das einzig Gute, das mir aus meinem alten Leben noch geblieben war. Sie zurückzulassen, kam nicht infrage. Ein weißes Etwas zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich beobachtete, wie Stryx auf dem Dach über den Tanksäulen landete. Das rotäugige Eulenmännchen war uns den ganzen Weg von Ka8
lifornien bis hierher gefolgt, und ich nahm an, er würde uns auch in New York Gesellschaft leisten. Ich hatte mich inzwischen so sehr an seine Gegenwart gewöhnt, dass ich mir nicht mehr den Kopf darüber zerbrach, warum er mich eigentlich nicht mehr aus den Augen ließ. Er machte keinerlei Probleme, was man leider nicht von allen meinen Reisegefährten behaupten konnte. Die Scheinwerfer eines tiefschwarzen Mercedes fielen durch die Fensterscheibe. Der Wagen hielt auf der anderen Seite von Adams Escalade, so dass ich nicht sehen konnte, wie der Fahrer ausstieg. Ich wartete einen Moment, ob er ebenfalls hereinkommen würde, um zu zahlen, doch das laute Piepen des Geldautomaten lenkte mich ab. Ich nahm das Bündel Zwanziger, den die Maschine ausgespuckt hatte, und schob ihn in die Tasche. Zum Glück gab es mein Konto noch. Unter einem falschen Namen auf den Caymans lag dort der Großteil meiner Ersparnisse. Als ich es eröffnet hatte, war es eher eine halbherzige Lieber-Vorsicht-als-NachsichtAktion gewesen, aber inzwischen belief sich die Summe auf fast alles, was ich noch besaß. Ich wollte mich gerade zum vorderen Teil des Ladens umdrehen, als ich drei Rotschöpfe hinter Adams Wagen hervorkommen sah. Mein Herz setzte einen Moment lang aus und begann dann heftig zu pochen. Wie hatten sie mich so schnell gefunden? »Adam! Wir bekommen Besuch!« Meine Hand schnellte an den Hosenbund und wollte die Waffe herausziehen. Ich fluchte, als mir klar wurde, dass ich sie zusammen mit einer Packung Apfelcidre-Munition auf der Ablage im Auto hatte liegen lassen. Nach mehreren Tagen auf der Straße ohne jeglichen Zwischenfall war ich nachlässig geworden. Jetzt musste ich dafür zahlen und mich drei Auftragskillern mit nichts weiter als zwei Essstäbchen aus Apfelholz stellen, die mir im Haar steckten. Na, großartig. 9
Der Sterbliche hinter der Ladentheke trug einen roten Kittel mit einem Namensschild, auf dem »Darrell« zu lesen war. »Sperren Sie sich lieber in Ihrem Lagerraum ein, Darrell«, riet ich ihm. »Hä?« Ich fletschte die Zähne und zeigte ihm meine Beißerchen. Dann zog ich ihn unsanft über die Theke zu mir rüber. »Verschwinde von hier!« Vorne auf seiner zerknitterten Khakihose bildete sich ein feuchter Fleck. Einen Moment lang stammelte er hilflos vor sich hin, dann nahm er Reißaus. So schnell ihn seine Füße trugen, rannte er in den hinteren Teil des Ladens. Adam hatte die Neuankömmlinge bereits gesehen. »Freunde von dir?« Ich drehte mich zur Tür und beobachtete, wie die drei Vampire näher kamen. »Der Linke ist Nick Konstantine. Sticht gerne mal zu, pass also auf deinen Rücken auf.« Nick gehörte zu dem Typ Vampir, der uns andere in Verruf brachte. Er vergewaltigte seine Opfer gern, bevor er sie leertrank. Echter Abschaum, der Kerl. »Der Dicke ist Fatty Garza.« »Und was ist seine Spezialität? Seine Gegner am Stück verschlingen?« »So in etwa.« »Und die Frau?« Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und ich ballte die Fäuste. »Mischa Petrov.« Schon das Aussprechen ihres Namens verursachte mir Übelkeit. Adam machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch die Killer blieben etwa drei Meter vor dem Laden stehen. Mischa erwiderte meinen Blick durch die Glasscheibe der Tür. Sie lächelte haifischartig und nickte dann. Bereit zum Sterben, Schlampe? In Erwiderung zog ich eine Augenbraue hoch. Dann lass mal sehen, was du so draufhast.
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Adam stand ruhig neben mir und wartete ab. Er verschwendete keine Zeit mit unnötigen Fragen. Ich wusste aus Erfahrung, dass er sich problemlos selbst verteidigen konnte, was bedeutete, ich müsste uns beiden nicht ganz allein den Hintern retten. Etwas veränderte sich. Es war nichts Offensichtliches, kein eindeutiges Signal. Aber in der einen Sekunde schien die ganze Welt den Atem anzuhalten und in der nächsten explodierte die Luft. Ich stieß Adam nach rechts, und wir brachten uns in einem Wirrwarr aus Gliedmaßen hinter einem Regal in Sicherheit. Kugeln flogen durch das Geschäft und verwandelten es innerhalb weniger Sekunden in Schweizer Käse. Coladosen explodierten und übergossen uns mit ihrem klebrigen Inhalt. Zerschossene Schokolade, salzige Erdnüsse und Tampons regneten auf uns herab und bildeten schon bald eine interessante Collage auf dem Boden. »Hast du irgendwelche Waffen?«, rief ich Adam über den Lärm hinweg zu. »Magie.« Ich funkelte ihn an. Er lächelte. »Und eine Glock.« Er zog eine Glock 20 aus dem Hosenbund und reichte sie mir. Als ich das Magazin herausnahm, stellte ich zu meiner Erleichterung fest, dass es voll war. Das bedeutete, ich hatte fünfzehn Schüsse zur Verfügung. Fünfzehn nicht-tödliche Kugeln, da wir es mit Vampiren zu tun hatten. Aber zumindest war ich in der Lage, ihnen ein paar Schmerzen zuzufügen. Endlich hörte der Kugelhagel auf. »Hallihallo! Sabina?«, rief Mischa. »Was?«, erwiderte ich und warf Adam einen Blick zu. »Halt dich für ein Ablenkungsmanöver bereit.« »Ich könnte sie einfach wegzappen.« Ich schüttelte den Kopf. Nein, das war eine Angelegenheit zwischen Vampiren. Es kam überhaupt nicht infrage, dass mich ein Magier vor meinen eigenen Leuten rettete. Falls einer von
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denen nach L.A. zurückkehren würde, dann nur, um meiner Großmutter eine Nachricht von mir auszurichten. Aber Adams Zauberkraft konnte in anderer Hinsicht hilfreich sein. Ich zeigte auf das fluoreszierende Licht an der Decke. Er nickte lässig und richtete sich auf, bis er sich in der Hocke befand. Misch seufzte laut. »Ich nehme nicht an, dass du einfach aufgibst und uns somit allen viel Zeit sparst – oder, Mischling?« Ich biss vor Wut die Zähne zusammen. Mischa ließ keine Gelegenheit aus, um mich und alle, die sich in Hörweite befanden, an meine Herkunft zu erinnern. »Okay«, rief ich. »Mein Vorschlag ist der: Du setzt dir ganz einfach die Pistole an die Schläfe und drückst ab. Würde mir verdammt viel Zeit sparen.« »Um mir die Frisur zu ruinieren?«, erwiderte Mischa affektiert. »Du hast sie doch nicht mehr alle.« »Lass den Mist«, unterbrach uns Nick, den unser Geplänkel offenbar nicht im Geringsten beeindruckte. Schwere Stiefel zermalmten zerbrochenes Glas und verrieten mir, dass sich die Killer in Bewegung gesetzt hatten. Ich nickte Adam zu. Seine Lippen murmelten einen Zauberspruch, und ein Energieblitz schoss aus seinen Fingerspitzen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, während ich zwischen Cornflakesschachteln hindurchspähte. Über Mischa und Nick explodierten zwei Leuchtstoffröhren. Die Metallgehäuse, in denen sich die Lampen befanden, lösten sich und knallten ihnen auf die Köpfe. Mischa ließ ihre Waffe fallen, die über den Boden schlitterte, Nick stürzte zu Boden. Fatty, für seinen Körperumfang überraschend beweglich, sprang zur Seite und begab sich eilig in den hinteren Teil des Ladens. Aus der Deckung hinter den Regalen eröffnete ich das Feuer auf Mischa, die Zuflucht hinter einem Gestell mit Souvenirbechern suchte. Ich visierte die vollen Kaffeemaschinen an, die sich in ihrem Rücken befanden, und zerschoss die Kannen. Ihrem 12
Schreien nach hatte der Kaffee, der auf sie herabregnete, in etwa die Temperatur von flüssigem Magma. Adam ging neben mir in die Hocke und zog den Kopf ein. Auf einmal holte er laut Luft und fluchte dann. Ich riss mich von Mischas Anblick los und sah, wie sich der Magier einen Wurfstern aus dem Oberschenkel zog. Mit verärgerter Miene schleuderte er ihn von sich. »Okay«, erklärte er und knirschte mit den Zähnen. »Jetzt bin ich sauer. Wer zum Teufel benutzt hier diese Wurfsterne?« Ich spürte eine Bewegung hinter uns. Ehe Fatty mich jedoch mit seinen Schinkenwurstfingern packen konnte, verpasste ich ihm einen Rückwärtstritt in den Magen. Der Absatz meines Stiefels versank in den fleischigen Wülsten, so dass ich das Gefühl hatte, in einen Berg Götterspeise zu treten, ehe ich auf Widerstand traf. Fattys Bauch wabbelte vor Gelächter, das dann jedoch abrupt verstummte. Einen Moment lang hielten wir allesamt inne, dann schien plötzlich jemand in den Vorspulmodus zu schalten. Mischa, die aussah wie eine nasse wütende Katze, sprang Adam plötzlich aus dem Nichts heraus an. Während er ihre Klauen und Tritte abwehrte, packte Fatty von hinten zu und fing an, mich zu würgen wie eine fette Boa constrictor. Dabei schüttelte er mich so heftig, dass mir die Waffe aus der Hand fiel und ich Sternchen zu sehen begann. Panisch fasste ich nach hinten und bohrte ihm meinen Zeigefinger ins Auge – eine Taktik, die ich mehrmals wiederholen musste, bis er mich schließlich mit einem lauten Schrei losließ. Mir blieb kaum Zeit, Luft zu holen, ehe Mischa Adam zu Boden schleuderte und sich auf mich stürzen wollte. Ich wich ihr aus und zog dabei die Holzapfelstäbchen aus meinen Haaren. Adam flog währenddessen hinter Mischa auf Fatty zu. Er war so schnell, dass ich nur eine verschwommene Bewegung wahrnahm. Ich hatte sowieso keine Zeit, mich auf diesen Kampf zu konzentrieren, denn in diesem Moment zog Mischa ein Nunchaku aus ihrer hinteren Hosentasche. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen begann 13
sie, das Würgeholz wie einen Propeller über ihrem Kopf kreisen zu lassen. Dosen mit Corned Beef und Tüten mit gesalzenen Schweineschwarten flogen durch die Luft, als sie auf mich zukam. Ich wich so lange zurück, bis ich am Ende des Gangs gegen eine Reihe Kühlregale stieß. Ich war in einer Sackgasse gelandet. Der Kugelhagel hatte auch hier das Glas der Scheiben sowie die meisten Dosen und Flaschen zerschlagen, aber ich erspähte eine noch unversehrte Flasche Apfelsaft in dem Chaos. Ich riss den Deckel ab und schleuderte Mischa den Inhalt ins Gesicht. Vor Überraschung schnappte sie nach Luft, wodurch die verbotene Frucht noch schneller in ihren Körper gelangte. Ich duckte mich, um dem sich noch immer drehenden Würgeholz zu entkommen, und rammte ihr dann ein Essstäbchen von oben hinter das Schlüsselbein. Mischa zuckte zurück und stürzte in ein Regal voller Nachos. Gemeinsam mit den Maismehlchips ging ihr Körper in Flammen auf. Es entstand ein seltsamer Geruch aus einer Mischung aus Rauch, Apfelsaft und Nachos mit Käse. Außer dem eigenartig befriedigenden Aroma von Mischas Ableben genoss ich den süßen Geschmack der Rache auf meiner Zunge. Mischa mochte mich jahrelang mit bösen Witzen über meine schamvolle Herkunft gequält haben – doch jetzt war ich es, die als Letzte lachte. Ein Brüllen vorne im Laden ließ mich aufmerken. Fatty beugte sich vor und presste sich die Hände auf die Weichteile. Offenbar schreckte Adam auch nicht vor schmutzigen Kampfmethoden zurück. Ich lächelte und fügte diese Tatsache in Gedanken der Liste mit all den Dingen hinzu, die ich an ihm besonders gerne mochte. Dann setzte ich mich in Bewegung, um mich zu ihm zu gesellen. Doch in diesem Moment sprang Nick mit einem Salto über die Ladentheke und landete kaum einen halben Meter von Adam entfernt. Meine Kopfhaut prickelte, als Adam dem Vampir einen Blitz magischer Energie entgegenschleuderte. Nick flog nach hin14
ten und knallte mit dem Kopf gegen die Theke, ehe er auf dem Boden zusammenbrach. Ich eilte zu ihm und feuerte vorsichtshalber noch ein paar Kugeln ab. Die Schüsse würden ihn nicht töten. Dazu würde ich ihm erst eine Dosis der verbotenen Frucht in den Körper jagen müssen, um auf diese Weise seine Unsterblichkeit zu zerstören. Aber für Nick hatte ich andere Pläne. Ich kniete mich neben seinen leblos wirkenden Körper. Er stöhnte auf, und seine Augenlider begannen zu flattern. Was auch immer Adam auf ihn abgefeuert hatte – es war ziemlich wirkungsvoll gewesen. Mühsam holte er Luft, und das Pfeifen ließ mich fast vermuten, dass ich mit einer Kugel seine Lunge erwischt hatte. Hinter mir hörte ich, wie harte Fingerknöchel auf Fleisch trafen. Es klang ganz so, als ob Fatty wieder zu sich gekommen war und sich erneut auf Adam gestürzt hatte. Ich musste mich beeilen, damit ich dem Magier helfen konnte, den übergewichtigen Vampir endgültig aus dem Weg zu räumen. Ich beugte mich vor, um Nick etwas ins Ohr zu flüstern. »Du hast heute Abend Glück gehabt, Nick. Ich lasse dich am Leben. Aber dafür schuldest du mir einen kleinen Gefallen.« Sein Kopf zuckte, und sein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam heraus. »Sabina!«, brüllte Adam. »Ich könnte hier Hilfe brauchen.« Seiner Bitte folgte ein lautes Ächzen. Ich hob einen Finger, um ihm zu bedeuten, dass ich gleich bei ihm wäre. »Hör genau zu, denn in einer Minute muss ich deinen Partner kaltstellen. Hörst du mich, Nick?« Ich drückte meinen Daumen in eine Wunde in Nicks Bein, um sicherzustellen, dass ich seine volle Aufmerksamkeit hatte. Er stöhnte, was ich als ein Ja interpretierte. »Ich möchte, dass du meiner Großmutter etwas ausrichtest. Ich möchte, dass du ihr erzählst, was hier passiert ist. Und ich will, dass du ihr dabei in die Augen siehst.« Ich packte Nick am Kinn 15
und zwang ihn, mich anzuschauen. »Und dann sagst du Lavinia, ich würde mich bald persönlich um sie kümmern.« Ich stand auf, hob die Glock und zog Nick eine damit über. Sein Kopf sackte zur Seite, und sein Mund hing schlaff herab. Seine vielen Verletzungen würden ihn vermutlich lange genug bewusstlos bleiben lassen, dass Adam und ich uns verkrümeln konnten. Ich machte mir keine Sorgen darüber, dass er uns folgen würde. Er war nicht dumm – er wusste genau, was gut für ihn war. Ein erneutes Stöhnen hallte durch den Laden. Ich blickte auf und sah, dass Adam und Fatty in der Nähe des Zeitschriftenregals noch immer miteinander rangen. Zu meiner Erleichterung schien Adam relativ unverletzt zu sein, obwohl Fatty ihn ihm Schwitzkasten hatte. Trotz seiner Größe und seiner eindrucksvollen Erscheinung konnte Adam gegen die zweihundert Kilo Vampirmasse nichts ausrichten. Ich fragte mich, warum er seinen Gegner nicht einfach verhext und ihn so zum Aufgeben gezwungen hatte. Doch dann entdeckte ich den Messingschlagring an Fattys gewaltiger Hand. Auf Magier wirkt Messing wie Kryptonit auf Superman – was auch erklärte, weshalb Fatty so lange überlebt hatte. Ich nahm eine Flasche Aerosol-Haarspray aus dem Regal und rannte auf die beiden zu. »He!«, rief ich. Als sich Fatty mir zuwandte, sprühte ich ihm das Haarspray in die Augen. Er ließ Adam los und rieb sich panisch mit der Pranke das Gesicht. Blind stürzte er sich auf mich. Ich wich zurück, richtete die Waffe auf ihn – und rutschte auf meinem apfelsaftverklebten Stiefelabsatz aus. Im Fallen verfehlte ich mein Ziel und traf statt Fattys Kopf nur seine Schulter. Adam tauchte hinter dem Fetten auf und rammte ihm einen Pfahl in die Brust. Fatty brüllte vor Schmerz, ging aber nicht in Flammen auf. Ich rappelte mich hoch, wobei ich versuchte, seinen rudernden Armen auszuweichen. Dann duckte ich mich gerade noch rechtzeitig, bevor mich eine seiner Fäuste mitten im Gesicht traf. 16
Adams Augen weiteten sich. »Der Pflock ist zu kurz. Er reicht nicht bis ins Herz.« Noch immer brüllend rannte Fatty auf den Ausgang zu. Er stürmte durch die Glastür und taumelte in Richtung der Zapfsäulen. Adam und ich sahen einander einen kurzen Moment lang an, ehe wir ihm nacheilten. Wir konnten es nicht riskieren, dass ein Sterblicher zum Tanken kam und sah, wie ein riesiger blutenden Vampir über den Parkplatz taumelte. Als Fatty gegen Adams Escalade krachte, hielten wir jedoch abrupt inne. Er prallte gegen die Hintertür und stürzte zu Boden. Einen Augenblick lang schwankte das Auto durch die gewaltige Erschütterung hin und her. Ich hob erneut die Waffe, entschlossen, Fatty ein für alle Mal den Garaus zu machen. Adam packte mich am Arm. »Wenn du danebenschießt, könntest du eine der Zapfsäulen erwischen«, warnte er mich. Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. »Ich schieße nicht daneben.« »Nun, Fräulein Scharfschütze, haben Sie auch daran gedacht, was passiert, wenn Sie ihn treffen und er hier neben den Zapfsäulen in Flammen aufgeht?« »Oh.« Ich senkte die Waffe. »Und jetzt?« Adam öffnete den Mund, um zu antworten. Doch er hielt inne, als auf einmal die hintere Tür des SUV aufging. Ein Huf zeigte sich, gefolgt von einem schuppigen grünen Bein, das in einer zu kurzen schwarzen Trainingshose steckte. Fatty hörte das Knarzen der Autotür und hob wie ein Tier, das Gefahr wittert, den Kopf. Giguhl kam aus dem Wagen geklettert, wobei er die Arme weit über seinen mehr als zwei Meter langen Körper reckte, um sich theatralisch zu strecken. Sein giftgrünes Shirt mit der Aufschrift »Böser Junge« war eine nette Ergänzung zu den schwarzen Hörnern. Finster begutachtete er den riesigen stöhnenden Vampir zu seiner Rechten. Fatty schien seine Sehkraft zumindest teilweise 17
wiedererlangt zu haben, denn er blinzelte zuerst und riss dann die Augen auf. Überraschend schnell sprang er auf die Beine und taumelte weiter. Er schaffte es bis zum Reifendruckmessgerät und der Waschanlage, ehe er wieder ins Stolpern kam. Panisch fasste er nach einem Wasserschlauch und richtete ihn wie eine Waffe auf uns. Ein lächerlich schwaches Rinnsal tröpfelte auf den Boden. »Was hast du vor?«, wollte Giguhl spöttisch wissen. »Uns gießen?« Da wir jetzt weit genug von den Zapfsäulen entfernt waren, schien es mir an der Zeit, dieses Affentheater zu beenden. Ruhig hob ich die Pistole und pflanzte meine letzte Kugel zwischen Fattys Augen. Der Holzpfahl hatte bereits die verbotene Frucht in seinen Körper getragen und seine Unsterblichkeit hinfällig werden lassen. Mit der Kugel ging sein gewaltiger Leib sofort in Flammen auf. »Gut, das war’s dann ja«, meinte Adam trocken. »Ich tanke dann mal besser.« Er schlenderte zu den Zapfsäulen zurück, als mache er einen netten Spaziergang. Der einzige Hinweis darauf, dass er gerade einem Mordanschlag entgangen war, zeigte sich in einem leichten Hinken – mit freundlichen Grüßen von Nicks Wurfstern. Wie Adam so gelassen auf einen solchen Anschlag reagieren konnte, war mir schleierhaft. Mein eigener Körper sehnte sich nach Action. Ich brauchte etwas, um das restliche Adrenalin zu verbrennen. Mein Blick wanderte zu Adam. Etwas, um die Anspannung abzubauen … Bewundernd betrachtete ich seinen muskulösen Oberkörper, der sich unter dem schweißfeuchten Shirt abzeichnete. Etwas Anstrengendes und Schweißtreibendes. Ich machte einen Schritt in seine Richtung. »Äh, Sabina?« Giguhl zupfte mich am Arm.
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»Was?« Ich blieb stehen und ließ notgedrungen den Blick von Adam zu Giguhl wandern. Dieser hüpfte unruhig von einem Huf auf den anderen. »Was machst du da?« »Ich muss dringend mal für kleine Einhörner.« Bei dieser Bemerkung verflogen alle erotischen Gedanken an Adam auf einen Schlag. »Ach, Giguhl. Muss das echt jetzt sein?« »Ich kann nichts dafür. Du weißt, dass ich eine schwache Blase habe.« »Okay, Mädchen. Dann geh mal Pipi machen. Aber beeil dich.« Er rannte zu den Türen, die sich an der Seite der Tankstelle befanden. Mit einem letzten Blick auf den verkohlten Berg, der einmal Fatty gewesen war, drehte ich mich um und ging zum Wagen zurück. Ich hatte ihn fast erreicht, als mich ein fernes Geräusch abrupt anhalten ließ. »Verdammt«, murmelte ich. »Mach schnell, Magier!« Adam blickte von der Windschutzscheibe auf, die er gerade putzte. »Was ist los?« »Sirenen.« Er legte leicht den Kopf schief, um zu lauschen. »Ich kann nichts hören.« Mein feines Vampirgehör hatte den Laut wahrgenommen, lange bevor ein Magier oder ein Mensch dazu in der Lage gewesen wäre. »Wir haben noch etwa zehn Minuten Zeit, uns vom Acker zu machen.« Ich drehte mich in Giguhls Richtung, um ihm zuzurufen, dass er gefälligst sein Tanzbein schwingen solle, als ich eine Bewegung im Laden bemerkte. In dem ganzen Durcheinander hatten wir den Sterblichen hinter der Theke völlig vergessen. Das Gewehr, das er jetzt in der Hand hielt, zeigte mir allerdings, dass er uns seinerseits keineswegs vergessen hatte. Ich brachte mich hastig hinter dem Wagen in Sicherheit.
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Noch ehe mich Adam fragen konnte, was jetzt schon wieder los war, ertönte ein Schuss. Zum Glück hatte der Mann keine Ahnung, wie man mit einer so schlagkräftigen Waffe umgehen musste. Der Schuss ging daneben und riss ein Stück des Blechdachs über uns heraus. »Was zum Teufel war das?«, rief Adam. »Der Sterbliche! Ich kümmere mich um ihn.« »Nein, Sabina! Er ist unschuldig. Du darfst ihn nicht umbringen.« Ein weiterer Schuss schlug ganz in unserer Nähe ein. Ich kroch hinter dem SUV neben Adam. »Du machst du wohl Witze, oder?« Seine Miene zeigte mir jedoch, dass er es todernst meinte. »Er kann uns und unseren Wagen identifizieren. Falls du nicht den ganzen Weg bis nach New York Ein ausgekochtes Schlitzohr nachspielen willst, muss er dran glauben.« Ich richtete mich auf, ehe er mich davon abhalten konnte. Noch in der Bewegung zog ich die Glock aus dem Hosenbund. Hinter mir hörte ich, wie Adam fluchte und Anstalten machte, mich aufzuhalten. Hastig legte ich an, während Darrell seine Pumpgun nachlud. Doch noch ehe einer von uns schießen konnte, stürmte eine dunkle Gestalt aus dem Laden. Nick hatte genau zum falschen Zeitpunkt seine Ohnmacht überwunden. Er packte den Mann und brach ihm den Hals wie ein Streichholz. »Nein!«, brüllte Adam hinter mir. Nick packte die Pumpgun noch während der Mann zu Boden fiel. In Darrells Händen hatte sie ein unwesentliches Problem dargestellt. In Nicks jedoch bedeutete sie eine echte Bedrohung, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wie in Zeitlupe wirbelte ich herum und rannte zu den Toiletten – und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wollte ich Giguhl warnen und irgendwie lebend aus diesem Schlamassel herauskommen. Zum anderen lenkte ich dadurch Nicks Aufmerksamkeit 20
von Adam ab. Ich hatte nämlich eine deutlich bessere Chance, einen Schuss aus einer solchen Waffe zu überleben als der Magier. Wumm! Die Ziegelwand vor mir explodierte. Ich rannte im Zickzackkurs zu den Toiletten und schlug zwei Mal gegen die Tür. »Zeit zu gehen, G!« »Oh, Mann, noch eine Minute!« »Jetzt!« »Kann ein Dämon nicht mal in Ruhe pinkeln?«, grummelte er missmutig. Die Tür öffnete sich, während er noch seine Hose hochzog. »Was?« »Was passiert, wenn man auf dich schießt?« Seine Ziegenaugen weiteten sich. »Es tut weh.« »Aber ein Schuss kann dich nicht töten oder zurück nach Irkalla schicken – oder?« »Nein.« »Gut. Dann lauf!« Wir rannten gemeinsam über den Parkplatz, während Nick erneut die Pumpgun lud. Adam war in der Zwischenzeit ins Auto gekrochen und raste auf uns zu. Giguhl riss die Hintertür des SUV auf und hechtete hinein, während ein weiterer Schuss durch die Luft hallte. Ich hörte den Dämon aufjaulen, war aber zu sehr mit meiner eigenen Tür beschäftigt, um mich darum kümmern zu können. Als ich es geschafft hatte, sie zu öffnen, drückte Adam bereits erneut aufs Gas. Ich sprang in den Wagen und riss meine Waffe von der Ablage. Ein Knopfdruck ließ das Fenster herunterfahren, und ich lehnte mich hinaus, um mich um Nick zu kümmern. Ein Schuss schlug irgendwo hinter dem SUV ein. Der Wagen kam ins Schlingern, während Adam versuchte, nicht die Kontrolle zu verlieren. Funken sprühten und ein großes Stück rotes Metall fiel hinter uns auf die Straße.
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»Dieser Mistkerl hat meine Ducati gekillt!«, brüllte ich. Nun hielt mich nichts mehr auf. Mit kalter Entschlossenheit stützte ich meine Unterarme auf dem offenen Fensterrahmen des Wagens ab und legte an. Ich bin normalerweise eine gute Schützin, aber selbst ich habe Probleme, ein bewegliches Ziel aus einem fahrenden Wagen zu treffen. Ich brauchte drei Anläufe. Der erste Schuss schlug in das Kum-N-Go-Schild, das in einem Funkenregen explodierte. Der zweite schrammte einen Benzintank, der daraufhin wie aus einer Wunde zu bluten begann. Der dritte jedoch traf Nick in die Brust. Sein Körper ging sofort in Flammen auf und stürzte dabei in die Benzinlache. Ein riesiger Feuerball stieg in den nächtlichen Himmel, und die entstehende Hitze versengte mir das Gesicht. Eine Sekunde lang beobachtete ich das Schauspiel, dann zog ich mich in den Wagen zurück. Adam sah dem Feuerwerk durch den Rückspiegel zu. Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. »Du hättest Nick töten sollen, als du die Möglichkeit dazu hattest.« »He, Leute!« Giguhls Stimme kam vom Rücksitz. Ich achtete nicht auf den Dämon, sondern starrte Adam an. »Was?« Er warf mir einen anklagenden Blick zu. »Du wolltest den Vampir am Leben lassen, konntest es aber kaum abwarten, diesen unschuldigen Sterblichen umzubringen. Ich frage mich, warum, Sabina.« »Sabina?«, stöhnte Giguhl im Hintergrund. Ich betrachtete den Magier aus schmalen Augen. »Ich hatte meine Gründe. Und ich muss sagen, dein Ton gefällt mir überhaupt nicht, Magier.« »Du hattest deine Gründe. Nun, deine Gründe haben uns beinahe das Leben gekostet.« »Adam?«, keuchte Giguhl.
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Ich verschränkte die Arme. Adams empört rechtschaffener Tonfall machte mich wütend. Der Kerl sollte lieber schnell von seinem hohen Ross heruntersteigen, bevor ich ihm dabei half. »Klar, du hast Recht«, erwiderte ich höhnisch. »Einen Vampir kann ich ruhig umbringen, aber menschliches Leben ist natürlich viel wertvoller. Ich hätte dem Sterblichen sagen sollen, wie lieb ich ihn habe, und ihm dann erlauben, mir die Birne wegzupusten – oder? Gütiger Himmel, kannst du scheinheilig sein.« Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, als wünschte er sich, stattdessen mich an der Gurgel haben. »Ich will damit sagen, dass es hier um mehr geht. Nick war ein Auftragskiller. Der Sterbliche war nur zufällig da und hatte mit der ganzen Sache absolut nichts zu tun. Ich weiß, dass moralische Fragen für dich recht fließende Grenzen haben, Sabina, aber für mich gilt immer der Grundsatz, unschuldiges Leben zu schützen.« Ich lehnte mich zu ihm, bereit ihm zu sagen, wo er sich seine Moral hinschieben konnte. »He, Leute!«, brüllte Giguhl. Adam und ich drehten uns gleichzeitig zu ihm um. »Was?«, riefen wir beide wie aus einem Mund. »Ich wurde in den Hintern geschossen!«
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Zwei Abende später tauchte der Escalade aus dem LincolnTunnel auf. Als ich New Yorks Wolkenkratzer am nächtlichen Himmel sah, atmete ich erleichtert auf. Wir hatten es bis nach New York geschafft, ohne noch einmal auf ein Todeskommando der Dominae zu treffen. Da wir uns jetzt auf Magier-Territorium 23
befanden, war ein weiterer Angriff zwar nicht ausgeschlossen, aber doch sehr viel unwahrscheinlicher geworden. »Wie lange noch?«, fragte Giguhl von hinten. Adam warf einen Blick in den Rückspiegel. »Nur noch ein paar Minuten. Höchstens eine Viertelstunde.« Das war die längste Unterhaltung seit Iowa gewesen. Adam war noch immer wütend auf mich, weil ich Nick nicht getötet hatte, als sich die Möglichkeit dazu bot. Und weil ich zudem den Sterblichen auf dem Gewissen hatte. Ich war wütend, weil er diese Heiliger-als-der-Papst-Haltung angenommen hatte. Wir hatten drei Vampire ins Jenseits befördert, und er machte sich wegen eines lausigen Sterblichen Gedanken? Was Giguhl betraf, so war es ihm recht problemlos gelungen, die Kugel herauszuziehen. Seine Wunde war rasch wieder verheilt, aber er war trotzdem den Großteil der Fahrt damit beschäftigt gewesen, zu schmollen. Jetzt lehnte er sich zwischen unsere beiden Vordersitze und betrachtete die vorbeiziehende Stadt durch die Windschutzscheibe. Seine Klauen trommelten ungeduldig auf die Polster. Ich drehte mich um und starrte ihn finster an. »Könntest du das lassen?« Er hörte mit dem Trommeln auf. »Entschuldige vielmals. Nur weil du nervös bist, heißt das noch lange nicht, dass du hier’rumzicken musst.« Ich rieb meine verschwitzten Handflächen an meiner Jeans ab. »Wieso sollte ich nervös sein?« Adam warf mir von der Seite einen Blick zu, sagte aber nichts. »Ach, komm schon«, meinte Giguhl. »Nachdem sich deine Großmutter als lügendes, rachsüchtiges Ungeheuer entpuppt hat, ist es doch nur natürlich, dass du nervös bist, neue Familienmitglieder kennenzulernen. Was ist zum Beispiel, wenn dich deine Schwester hasst oder so?« »Herzlichen Dank. Solche Kommentare sind wirklich hilfreich.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich meine ja nur.«
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Wenn ich ehrlich war, hatte ich mir bisher noch keine großen Gedanken darüber gemacht, wie ich mich mit meiner Schwester vertragen würde. Natürlich war ich neugierig, wie sie so war. Man erfährt schließlich nicht alle Tage von einer Zwillingsschwester, von der man bisher nicht den blassesten Schimmer hatte. Vermutlich geschah es sogar noch seltener, dass Vampire die eine Schwester großzogen, während die andere bei Magiern aufwuchs – die beiden also in zwei Gruppen landeten, die sich seit Jahrhunderten spinnefeind waren. Aber ich war so sehr darauf konzentriert gewesen, so schnell und sicher wie möglich aus L.A. wegzukommen und gleichzeitig eine Möglichkeit zu finden, meiner Großmutter ihre Hinterhältigkeit heimzuzahlen, dass ich es erst einmal für das Beste gehalten hatte, mich mit dem Feind zu verbünden. Und nach dem Fiasko im Kum-N-Go war ich mehr entschlossen denn je, alles über Magier und ihre Zauber zu lernen. Schließlich wollte ich die Oberhand behalten, wenn es zwischen Omachen und mir zum großen Showdown kam. Adam manövrierte den Wagen eine Weile durch den dichten Verkehr, ehe er sprach. Als er schließlich den Mund aufmachte, wandte er sich an Giguhl. »Maisie wird sie nicht hassen.« Ich horchte auf, weigerte mich aber, diejenige zu sein, die sich als Erste wieder zugänglich zeigte. Zum Glück antwortete Giguhl für mich. »Woher willst du das wissen?«, fragte er. »Maisie hasst niemanden einfach so. Solange ich sie kenne, hat sie nie ein schlechtes Wort über jemanden verloren.« »Und wie lange kennst du sie schon?«, wollte Giguhl wissen. »Schon sehr lange.« Er lächelte voller Zuneigung. »Wir sind mehr oder weniger zusammen aufgewachsen.« Die Zuneigung, die in seiner Stimme lag, stimmte mich nachdenklich. Er hatte bereits früher von Maisie erzählt, aber bisher hatte ich mich kaum nach der Art ihrer Beziehung erkundigt. Es war das erste Mal, dass ich von einer gemeinsamen Kindheit hör25
te. Ich hätte ihn gern gefragt, ob seine Zuneigung geschwisterlich oder doch anders gelagert war, beschloss aber, mir lieber die Fingernägel einzeln auszureißen, als meine Neugier zu befriedigen. »Wie ist Maisie denn so?«, erkundigte sich Giguhl. Vermutlich wollte er vor allem die Stille durchbrechen und interessierte sich nicht wirklich für die Antwort. Adam schien sich zu entspannen. Das Thema lag ihm offensichtlich am Herzen. »Natürlich sieht sie fast genauso aus wie Sabina, aber es gibt doch ein paar Unterschiede zwischen den beiden.« »Wie zum Beispiel?« »Ihre Haare sind kürzer. Sabinas Haare sind rot mit schwarzen Strähnen, Maisies eher schwarz mit roten Strähnen – wenn das irgendeinen Sinn ergibt.« »Eigentlich nicht, aber erzähl weiter«, forderte ihn Giguhl auf. Ich warf dem Dämon einen dankbaren Blick zu. Er zwinkerte mir zu. »Na ja, sie zeichnet gerne und hat ein geschicktes Händchen für Heckenmagie.« »Heckenmagie? Ist das so was wie Landschaftsarchitektur?« Adam lachte über den schwachen Scherz. »Nicht ganz. Heckenmagier benutzen Kräuter und Pflanzen, um daraus Zaubertränke zu brauen. Maisie hat die Feen, die vom Fürstenhof der Seelie zu Besuch kamen, dazu gebracht, ihr alles über Pflanzen beizubringen.« Ein zärtliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als sähe er Maisie vor sich stehen. »Einmal ist sie sogar in ein Gewächshaus eingebrochen, um einen Zaubertrank herzustellen, mit dem sie sich die Haare färben wollte. Sie wollte schwarzhaarig sein, um ganz wie eine Magierin auszusehen. Allerdings färbte der Trank ihre Haare eine Zeit lang grün.« Er bog links in eine Straße voller Reklameflächen, aufblitzender Lichter und Menschen ein, die geschäftig wie Ameisen hin und her liefen. »Willkommen auf dem Times Square«, sagte er.
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Ich warf einen Blick nach draußen, war aber wesentlich mehr an dem interessiert, was er noch über Maisie zu erzählen hatte. »Warum wollte sie die roten Strähnen loswerden?«, fragte ich trotz meines Entschlusses, den Mund zu halten. Rotes Haar ist das Erkennungsmerkmal eines Vampirs. Es ist das Merkmal, das wir von Kain erbten, dem Urvater der Vampire. »Haben die anderen Magierkinder sie geärgert, weil sie ein Mischling ist?« Adam warf mir einen nachdenklichen Blick zu. »Nein, das war nicht der Grund«, erwiderte er langsam, als müsse er sich erst wieder daran gewöhnen, mit mir zu reden. »Sie war keine Außenseiterin oder so. Ich glaube, sie hat sich vielmehr für eine reine Magierin gehalten und wollte das Symbol loswerden, das sie als jemanden ausweist, der nur zur Hälfte dazugehört.« Dieses Gefühl konnte ich gut verstehen, obwohl es für mich anders gewesen war. Ich wuchs unter Vampiren heran, die keine Skrupel hatten, mich als Außenseiterin zu diskriminieren. Immer wieder betete ich zur Großen Mutter, mich eines Morgens mit rein roten Haaren aufwachen zu lassen. Das Wissen, dass Maisie mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert gewesen war, ließ mich ein wenig aufatmen. Vielleicht hatte ich endlich doch jemanden gefunden, der wusste, was es bedeutete, nie ganz dazuzugehören. »Wenn sie auch nur entfernt so ist wie Sabina, wird sie bestimmt hinreißend sein«, meinte Giguhl vor Ironie triefend. »Du kannst mich mal, Dämon.« Adam reihte sich im Kreisverkehr ein und folgte ihm bis zur Ausfahrt »Central Park West«. Einige Minuten später wurde er vor einem großen Apartmentblock langsamer und setzte den Blinker. Im Dunklen mutete das Gebäude mit seinen nordisch wirkenden Türmchen und Giebeln an wie aus einem Horrorfilm; man erwartete geradezu, die Fratzen und die grotesken Gestalten von Wasserspeiern zu entdecken. Ehe ich jedoch die seltsame Architektur so richtig würdigen
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konnte, bog Adam in eine Wagenauffahrt an der Seite des Hauses ein. In der überdachten Einfahrt kamen wir an ein schmiedeeisernes Tor, geschmückt mit dem Rad der Hekate. Dahinter lag ein großer Innenhof. Adam gab ein paar Zahlen in eine kleine Tastatur ein und winkte zu den Kameras hoch, die oben auf den Torflügeln angebracht waren. Wenige Momente später setzten sich die schmiedeeisernen Giganten in Bewegung und schwangen auf. »Ziemlich läppische Sicherheitsvorkehrungen für das Gebäude des Hekate-Rats«, bemerkte ich. »Da wäre ich ja schneller drinnen, als der Security-Mann ›Abrakadabra‹ sagen könnte.« Adam warf mir einen Blick zu. »Du hältst also thermische Scanner für läppisch? Einer davon wertet dich gerade aus und identifiziert dich als Vampirin. Wenn ich dich im Vorhinein nicht als vertrauenswürdig angemeldet hätte, würde uns jetzt bereits eine Gruppe von Wächtern umzingeln.« Ich lachte. »Das würde aber nicht viel nützen. Ich könnte schließlich eine Bombe im Auto versteckt haben. Wumm – und das ganze Gebäude fliegt in die Luft.« »Die Metallplatte, über die wir am Eingangstor gerollt sind, scannt den Unterboden der Fahrzeuge nach Bomben ab«, erwiderte Adam. »Mit einer Bombe wärst du hier nie reingekommen.« Ich lehnte mich zu ihm hinüber. »Ich könnte aber immer noch am Gebäude hochklettern und meine Zielperson durch ein Fenster erschießen.« Er beugte sich über die Mittelkonsole zwischen uns und sah mich herausfordernd an. Sein selbstsicheres Lächeln lenkte meine Aufmerksamkeit auf seinen sinnlichen Mund. »Kugelsichere Scheiben.« Ich kicherte und lehnte mich zurück, beeindruckt und nicht im Geringsten angetörnt durch das kleine Geplänkel – ehrlich! »Schachmatt.«
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Adams typisches Grinsen – sein Markenzeichen – zeigte sich zum ersten Mal seit Tagen wieder auf seinem Gesicht. Es freute mich, auch wenn ich dringend das Thema wechseln musste, wenn ich nicht auf der Stelle über ihn herfallen wollte. Ich fand Männer, die geschickt zu taktieren wussten, unglaublich sexy. Gleichzeitig irritierte mich in diesem Fall jedoch etwas. Für jemanden, der einen Gegner mit einem einzigen Zauber außer Gefecht setzen konnte, wusste Adam erstaunlich viel über Waffen und Sicherheitsvorkehrungen. »Was genau ist eigentlich deine Aufgabe hier im Hekate-Rat?« Er fuhr durch einen Säulengang in den großen Innenhof. Auf allen vier Seiten ragten die Mauern des Gebäudes zehn Stockwerke hoch in den nächtlich schwarzen Himmel. »Ich gehöre zu einer Gruppe, die sich die Wache der Pythia nennt. Wir wurden bereits im antiken Griechenland gegründet, um die Zauberer des Orakels von Delphi zu beschützen. Aber seitdem es für die Öffentlichkeit keine Orakel mehr gibt, hat sich unsere Rolle über die Jahre gewandelt. Heute dienen wir dem Rat eher als privates Wachpersonal. Außerdem übernehmen wir immer wieder Spezialaufträge – je nachdem, was so anfällt.« »Spezialaufträge? So etwas wie die lange verloren geglaubte Schwester der Ratsanführerin zu suchen?« Er lächelte. »Zum Beispiel.« Ich musste grinsen, als ich merkte, dass er mir nicht direkt antworten wollte. »Werden wir hier auch deine Familie kennenlernen?« Seine Miene verdüsterte sich. »Nur eine Tante. Meine Eltern starben, als ich noch sehr jung war.« »Das tut mir leid«, sagte ich. Er zuckte mit den Achseln. »Muss es nicht. Es ist schon lange her. Tante Rhea hat mich aufgezogen. Sie und Ameritat waren enge Freundinnen, deshalb haben auch Maisie und ich viel Zeit miteinander verbracht.« »Heißt das, wir sind gleich alt?« 29
Adam lächelte. »Nein. Maisie kam hierher, als ich sechs war.« Mir klappte die Kinnlade herunter. Er sah für einen Sechzigjährigen verdammt gut aus. Seine Zauberkraft musste noch stärker sein, als ich bisher angenommen hatte. Magier sind nicht unsterblich wie Vampire. Aber ihre Magie erlaubt es ihnen, extrem lang am Leben zu bleiben. Adam hatte mir bereits in Kalifornien erzählt, dass Ameritat, die Mutter meines Vaters, eintausend Jahre alt geworden war. Trotzdem hatte ich Adam auf etwa Mitte dreißig geschätzt. Offensichtlich musste ich mehr über Magier lernen, als ich dachte – vor allem über diesen hier neben mir. Ich öffnete den Mund, um ihm eine weitere Frage zu stellen, als sich Giguhl erneut zu Wort meldete. »Jetzt aber mal was anderes. Hat man hier nicht diesen romantischen Film gedreht?« Adam betrachtete den Dämon durch den Rückspiegel. »Nein. Der Hekate-Rat hätte nie Kameras hereingelassen.« Giguhl klopfte mir auf die Schulter. »Na, du weißt schon – den mit Mia Farrow. Ich habe ihn bei dir in Los Angeles gesehen.« Ich drehte mich zu ihm um. »Du meinst doch wohl nicht Rosemaries Baby?« Giguhl schnalzte mit den Fingern. »Genau, so hieß er! Das war ein toller Schinken!« Adam und ich schauten uns an. »G, ich glaube, der wurde die Straße runter im Dakota Building gedreht«, sagte Adam. »Das hier ist Prytania Place.« Giguhl runzelte die Stirn. »Ich hätte schwören können, dass es dasselbe Haus ist.« »Die beiden Gebäude werden oft miteinander verwechselt«, meinte Adam und zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls sind wir jetzt da. Bist du bereit, deine Schwester kennenzulernen, Sabina?« Ich sah mich im Innenhof um. Selbst im Wagen konnte ich die Magie wie Elektrizität in der Luft spüren. Außer diesem Surren gab es jedoch noch etwas anderes, Stärkeres, das ich sofort er-
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kannte. Wie die Anziehungskraft eines Magneten in meinem Zwerchfell zog mich Maisies Gegenwart magisch an. Ich holte tief Atem. Es war so weit. »Giguhl, verwandle dich in einen Kater«, sagte ich über die Schulter hinweg nach hinten. Ein Knall und eine Rauchwolke zeigten seine Verwandlung an. Wütendes Fauchen drang an mein Ohr. Ich drehte mich um und riss die Augen auf. In Kalifornien hatte mein erster Zauberversuch dazu geführt, dass ich Giguhl in eine Nacktkatze verwandelt hatte. Ich hatte angenommen, Adam hätte den Fehler inzwischen behoben, aber ich hatte Giguhl nicht mehr in Katzengestalt gesehen, seitdem ich ihn aus Irkalla zu Hilfe gerufen und gefragt hatte, ob er mich nach New York begleiten wolle. Jetzt schimmerte wieder seine bleiche nackte Haut im schwachen Licht der Laternen. Ohne Fell erinnerten seine Ohren an die von Fledermäusen, und die runzlige Haut und das miesepetrige Gesicht ließen mich an einen alten, schlecht gelaunten Opa denken. »Hübsch«, murmelte er, als er an sich herabblickte. »Erinnere mich bitte daran, dass ich später auf deine Klamotten pinkle.« Ich achtete nicht auf sein Gejammer, sondern wandte mich an Adam. »Bring mich zu deiner Anführerin, Magier.« Im Lift verschaffte uns Adam über einen Netzhautscanner und ein Stimmerkennungsprogramm Zugang zu Maisies Wohnung. Auf dem Weg nach oben erklärte er mir, dass Prytania Place als Hauptsitz der Magier von New York diente. Außer den Wohnungen der Ratsmitglieder und anderer hochrangiger Magier war hier auch der Regierungssitz samt Konferenzräumen und Büros untergebracht. »Nördlich von New York in der Nähe von Sleepy Hollow gibt es noch einen Landsitz, den wir für wichtige Zauberriten und Feste benutzen. Ich bin mir sicher, du wirst ihn bald kennenlernen.« Ich nickte, ohne so recht zuzuhören. Stattdessen folgten meine Augen dem raschen Wechsel der Stockwerke auf dem Display. 31
Zu schnell und doch nicht schnell genug hielt der Lift an, und wir traten in das Foyer vor Maisies Eingangstür. Adam holte einen Schlüssel heraus und sperrte auf, ohne zu klingeln oder zu klopfen. Angesichts des Flairs des Gebäudes im Stil von Alte-WeltAltes-Geld, hatte ich erwartet, mich in einer gediegen, großkotzigen Umgebung wiederzufinden. Doch die Wohnung, die wir betraten, bestand aus einer wilden Mischung aus Farben und Materialien. Von den abgetretenen Parkettböden über die auberginefarbenen Wände bis hin zu den Regenbogenvorhängen, die vor den Fenstern flatterten, wirkte das Ganze sehr nach Bohème. »Maisie?«, rief Adam. Mein Magen verkrampfte sich vor Spannung und Vorfreude. Schließlich lernt man nicht jeden Tag seine Zwillingsschwester kennen. Selbst Giguhl schien die Bedeutsamkeit des Moments zu spüren, denn er verhielt sich ungewöhnlich ruhig in meinen Armen. Wir gingen ein paar Schritte weiter in die Wohnung hinein, da niemand auf Adams Ruf antwortete. Das Aroma von Sandelholz lag in der Luft. So wie Menschen nach Schmutz und Vampire nach Kupfer riechen, ist der charakteristische Duft der Magier der von Sandelholz. Neben Sandelholz stieg mir in Maisies Wohnung der Geruch von Terpentin und frischer Farbe in die Nase. Wir liefen einen Flur entlang und kamen dabei an einer Art Altar mit mehreren Statuen von Fruchtbarkeitsgöttinnen vorbei, die um eine brennende weiße Kerze gruppiert waren. Dahinter befand sich eine apfelgrün gestrichene Tür mit Symbolen in Goldfarbe. Ich war mir nicht sicher, was das zu bedeuten hatte, nahm aber an, dass es sich um eine Art Schutzzauber handelte. Adam sammelte sich einen Moment, ehe er an die Tür klopfte und mich dabei anlächelte. Seine Knöchel hatten kaum das Holz berührt, als hinter der Tür die singende Stimme einer Frau erklang. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich instinktiv auf. 32
Das ist meine Schwester, dachte ich. Adam klopfte zwei Mal. Als er keine andere Antwort als den Gesang erhielt, öffnete er nach einem kurzen Zögern die Tür. Maisie stand mit dem Rücken zu uns. Sie hatte sich einer großen Leinwand auf einer Staffelei zugewandt. Auch als wir eintraten, hörte sie mit dem Singen nicht auf. Ich war zu erschüttert, sie plötzlich vor mir stehen zu sehen, als dass ich auf die Worte geachtet hätte. Doch langsam drangen sie in mein Bewusstsein: »Could you be looooved and be lo-oved?« Sie verfehlte Bob Marleys Tonlage zwar um einige Oktaven, aber zumindest konnte man ihr keinen fehlenden Enthusiasmus vorwerfen. Ich verschluckte mich fast an einem Lacher, den ich vor lauter Nervosität nicht zu unterdrücken vermochte. Gerade als sie mit »Don’t let them change ya, oh!« loslegte, berührte Adam sie an der Schulter. Sie stieß einen erschreckten Schrei aus und wirbelte herum. »Verdammt, Adam. Du hast sie wohl nicht mehr alle!« »Oh, ja«, meinte Giguhl. »Sie sind eindeutig miteinander verwandt.« Maisie zog die Ohrstöpsel ihres MP3-Players heraus, als sie mich wahrnahm. Langsam färbten sich ihr Hals und ihre Wangen rot. »Sabina?«, flüsterte sie. Ich begann zu nicken, doch in diesem Moment stürzte sie sich bereits auf mich. Ich hatte gerade noch genügend Zeit, um mich zu wappnen, ehe sie gegen mich prallte, ihre Arme um mich schlang und mich heftig an sich drückte. Giguhl fauchte und sprang zu Boden. Maisie schien den wütenden Kater gar nicht zu bemerken. Meine Haare dämpften ihre Stimme, so dass ich nur die Worte »Aufgeregt … Schwester … Endlich da« verstehen konnte. Hilfesuchend blickte ich zu Adam auf, doch dieser zuckte nur grinsend mit den Schultern. Mit einem strahlenden Lächeln löste Maisie sich von mir. Ihre Gesichtszüge glichen den meinen bis 33
aufs Haar. Nur ihre Frisur war, wie Adam bereits gesagt hatte, kürzer und stufig geschnitten, so dass ihr Gesicht weich umrahmt wurde. Es gab noch weitere Unterschiede, die ein unaufmerksamer Beobachter vermutlich gar nicht bemerkt hätte. Maisie anzusehen war für mich, als ob ich in einen Spiegel blicken und eine andere Ausgabe meines Selbst erblicken würde – eine glücklichere Ausgabe. Es war nicht nur ihr offenes Lächeln. Sie schien sich überhaupt in ihrer Haut sehr wohlzufühlen und in jeder ihrer Bewegungen lag eine warme, in sich ruhende Kraft. Das seltsames Gefühl eines Déjà vu machte sich in mir breit. Etwas sagte mir, dass ich diese warmherzige, glückliche Frau hätte sein können, wenn die Dinge anders verlaufen wären. Wenn ich unter Magiern aufgewachsen anstatt den Dominae übergeben worden wäre. Aus dem Nichts kam mir die Galle hoch, ein hässlicher Groll stieg in mir auf, und ich versuchte, mich von ihr zu lösen. Widerstrebend ließ sie mich los. In ihren Augen glitzerten Tränen. Meine eigenen fühlten sich unangenehm trocken an. Die Mauer, die ich über Jahre hinweg sorgfältig um mich herum aufgebaut hatte, erhob sich zwischen uns. Ich wusste, dieser Moment war für unser beider Leben ausgesprochen wichtig, und doch hatte ich das Gefühl, nicht so recht dazuzugehören. Als sei ich nur Beobachterin, keine Beteiligte. Ich wusste auch, dass ich etwas sagen musste. Also winkte ich schwach mit einer Hand und sagte: »Hi.« Zugebenermaßen ziemlich lahm. »Hi.« Sie lachte und umarmte mich von Neuem. »Der Göttin sei Dank, dass sie dich endlich nach Hause gebracht hat, Schwester.« Adam, der offenbar mein Unbehagen angesichts Maisies ungezwungener Demonstration der Zuneigung bemerkte, räusperte sich. »Lass sie erst mal zu Atem kommen, Maze.«
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Sie löste sich von mir und sah mich an. Ihre Wangen röteten sich. »Oh, tut mir leid. Ich bin nur so …« Sie holte tief Luft und atmete wieder aus. »… so aufgeregt.« »Ja, das merkt man«, meinte Adam in einer Mischung aus Zuneigung und Belustigung. »Ähem«, räusperte sich Giguhl. »Kann ich mich jetzt wieder zurückverwandeln?« Maisies Augen weiteten sich, als sie die nackte Katze zu Adams Füßen bemerkte. Ich warf Adam einen Blick zu, da ich nicht wusste, wie viel er Maisie von Giguhl erzählt hatte. Aber Maisie beantwortete die Frage selbst, indem sie auf den Dämonenkater zuging. »Das muss Giguhl sein. Adam hat mir alles über deinen ungewöhnlichen Begleiter erzählt. Darf ich ihn hochheben?« Sie sah mich an. »Warum fragst du ihn nicht selbst?«, meinte Giguhl schnippisch. Maisie wich einen Schritt zurück. Man merkte deutlich, dass sie befürchtete, ihn beleidigt zu haben. »Achte nicht auf ihn. In Katzengestalt ist er immer ziemlich schlecht gelaunt«, sagte ich. »Benimm dich, Mäusefreund.« »Versuch du mal, dich zu benehmen, wenn du der Welt ständig deine nackten Eier präsentieren musst, Blutsauger!« Maisie lachte – ein musikalischer Klang, der mich an eine Märchenprinzessin denken ließ. Sie ging in die Hocke, um dem Kater ins Gesicht zu blicken. Giguhl, der sich in ihr wohl eine mögliche Verbündete erhoffte, machte runde Augen, um wie ein süßes Kätzchen zu wirken. Sie kraulte ihn entzückt zwischen den Fledermausohren. »Er ist wundervoll.« Der Dämonenkater neigte den Kopf und begann zu schnurren. Streichelnd hob sie ihn hoch, drückte ihn an ihre Brust und sah mich dabei zufrieden lächelnd an. »Du hast wirklich großes Glück. Ich wünschte, ich hätte einen so entzückenden Familiar.«
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Giguhl warf mir einen selbstzufriedenen Blick zu. »Können wir die behalten?«, fragte er mich. Ich rollte mit den Augen. Ehrlich gesagt kam Eifersucht in mir auf. Er war mein Dämon, verdammt nochmal. »Was auch immer du tust – gib ihm auf keinen Fall deine Kreditkartennummer.« Maisie runzelte die Stirn. »Was?« »Hör nicht auf sie«, mischte sich Giguhl hastig ein. »Wenn ich dir in meiner Katzengestalt gefalle, dann warte erst mal, bis du mich in meiner vollen Dämonenschönheit siehst. Du wirst begeistert sein.« Maisies Augen weiteten sich. »Oh, ja, das würde mir gefallen!« Das Bild des nackten Giguhl tauchte vor meinem inneren Auge auf. »Glaub mir, Maisie, das würde dir nicht gefallen. Jedenfalls nicht, bevor wir nicht ein paar Klamotten für ihn aufgetrieben haben.« Adam räusperte sich. »Apropos Klamotten. Ich sollte besser unsere Sachen aus dem Auto holen, damit wir uns etwas frischmachen können, ehe Sabina die restlichen Ratsmitglieder kennenlernt.« »Oh, ja«, sagte Maisie und betrachtete mich. »Möchtest du dir vielleicht etwas von mir leihen?« Ich warf einen Blick auf ihren langen Batikrock in Regenbogenfarben und die rosafarbene Bauernbluse. Offensichtlich betraf unsere genetische Ähnlichkeit nicht unseren Sinn für Mode. »Nein, schon in Ordnung. Ich habe meine Sachen im Wagen.« »Es ist wirklich kein Problem«, erwiderte sie. »Ich muss sogar darauf bestehen.« Wieder begann ich den Kopf zu schütteln, aber sie ließ sich nicht beirren. Sie schob mich zur Tür. Als ich hilfesuchend einen Blick über die Schulter warf, nickte mir Adam ermutigend zu. »Ich sage währenddessen den Ratsmitgliedern Bescheid, sich für den Ritus zusammenzufinden.«
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»Den Ritus?«, fragte ich und hatte auf einmal das Gefühl, überfordert zu sein. Maisie zog mich den Flur entlang. »Keine Sorge«, sagte sie. »Es ist nur ein einfaches Reinigungsritual, um dich von dem schlechten Vampir-Karma zu befreien.« »Vampir-Karma?« Sie ignorierte meine Frage und hielt vor einer himmelblauen und mit Schäfchenwolken verzierten Zimmertür an. Maisie öffnete sie, und es verschlug mir einen Moment lang die Sprache. Bunte Wandbilder bedeckten jeden freien Zentimeter – selbst die Decke. Es schien kein verbindendes Thema zu geben, sondern ich hatte vielmehr den Eindruck, es mit dem Werk eines Schizophrenen zu tun zu haben. »Wow«, murmelte ich, da ich nicht recht wusste, was ich sonst sagen sollte. Es war gar nicht so, dass ich es nicht mochte. Ich vermochte nur nicht einzuschätzen, was es über den Geisteszustand meiner Schwester aussagte. »Recht unruhig, nicht wahr?« »Ich finde es wunderschön«, sagte Giguhl und bedachte Maisie mit einem bewundernden Katzenblick. Ich achtete nicht auf den kleinen Verräter, sondern drehte mich langsam einmal im Kreis, um den ganzen Raum in Augenschein zu nehmen. »Dafür hast du bestimmt lange gebraucht.« Sie lachte. »Na ja. Das Bild basiert auf einer Vision, die ich vor einigen Jahren hatte.« Ich drehte mich zu ihr. »Und was bedeutet es?« Sie zuckte mit den Achseln und kraulte Giguhl unter dem Kinn. »Das versuche ich auch noch herauszufinden.« Sie zeigte auf eine Stelle, an der ein Rotkardinal und ein Blauhäher nebeneinander herflogen. »Das Malen hilft mir, die Botschaften zu entziffern, die in meinen Visionen liegen. Manchmal sind es einfach Hinweise auf zukünftige Ereignisse. Manchmal aber auch Rätsel, die ich erst lösen muss. Doch diese Vision ist schwerer zu verstehen als die meisten.«
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Ich sah mir die Farbwirbel und die Bilder der Uhren, Vögel, goldenen Lotosblüten und der Dutzenden von anderen, scheinbar willkürlichen Symbolen an. Als sich mir keine Bedeutung erschloss, wechselte ich das Thema. »Das Bild, an dem du vorhin gearbeitet hast, als wir kamen – stellt das auch einen Traum von dir dar?« Sie lächelte. »Nein. Das war ein Porträt von dir.« Ich runzelte die Stirn, da ich mich nur an eine Ansammlung von roten Wirbeln und Flecken erinnern konnte, die mit Schwarz und Weiß durchsetzt waren. »Ich dachte, bei Porträts geht es meistens um das … Na ja, du weißt schon … Um das Gesicht.« Sie sah mich lächelnd an, als sei ich ein naives Kind. »Es soll das Porträt deines Wesenskerns werden.« »Hä?« »Eine meiner Stärken ist die Farbmagie. Jeder hat eine vorherrschende Farbe, die sein Leben bestimmt oder beeinflusst. Sie weist auf mehrere Aspekte des Charakters hin. Ich benutze die Farben, um das Wesen von Personen darzustellen.« »Und meine Wesensfarbe ist rot?« »Eindeutig. Rot steht für Mut, Aggressivität, Spontanität, viel Energie und eine extreme Einstellung zu den Dingen des Lebens.« Der Kater schnaubte. »Genau so ist sie. Allerdings hast du Sturheit vergessen.« Ich funkelte Giguhl an, um ihm zu bedeuten, dass sein Gerede noch ein Nachspiel haben würde. »Welche Farbe bist du?«, fragte ich Maisie. »Ich bin blau.« Ehe ich mich erkundigen konnte, was das bedeutete, wechselte sie jedoch das Thema. »Okay.« Sie musterte mich von Kopf bis Fuß und tippte nachdenklich mit dem Zeigefinger auf ihre Lippen. »Ich glaube, Rot wäre auch in diesem Fall das Richtige.« Behutsam setzte sie Giguhl auf dem Bett ab. Er streckte sich, ehe er sich auf ihrem Kissen zusammenrollte und sofort ein38
schlief. Maisie drehte sich zu mir um und murmelte einige Worte in einer fremden Sprache. Meine Haut begann zu kribbeln, als wäre ich von einer schwachen elektrischen Ladung erfasst worden. Ich sah an mir herab und riss verblüfft den Mund auf. Die Jeans und die Lederjacke waren verschwunden, und an ihre Stelle war ein langes rotes Kleid getreten. Ich drehte mich, so dass ich mich im Spiegel hinter Maisies Tür betrachten konnte. Die Träger des Kleides waren in sich gedreht und liefen in einem tiefen V-Ausschnitt zusammen. Unter der Brust floss der Stoff im Empirestil nach einer weiteren gedrehten Kordel elegant zu Boden. »Das kann ich nicht tragen«, sagte ich, da mich bei meinem Anblick leichte Panik erfasste. Ich sah so … so seltsam feminin aus. Ich zog grundsätzlich keine Kleider an. Die Röcke störten nicht nur bei einem Nahkampf oder einer schnellen Flucht, sondern Kleider machten es auch deutlich schwieriger, darunter eine Waffe zu verbergen. »Natürlich kannst du das. Alle tragen bei unseren Zusammenkünften einen Chiton. Diese Tradition stammt noch aus unserer Zeit in Athen.« »Trotzdem«, widersprach ich. »Kann ich nicht etwas weniger Mädchenhaftes anziehen?« »Leider ist der Rat ziemlich streng, wenn es um unsere Rituale geht«, erwiderte sie. »Wäre dir vielleicht eine andere Farbe lieber?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, die Farbe ist gut.« Das tiefe Rot erinnerte mich an frisches Blut, was mir nicht schlecht gefiel. Ich hörte ein Rascheln und drehte mich um. Maisie stand in einem beinahe identischen Kleid hinter mir. Ihres war allerdings Türkisgrün und hatte eine goldene Kordel um die Taille geschlungen. Ihre plötzliche Verwandlung überraschte mich, doch an solche Dinge musste ich mich wohl gewöhnen, wenn ich unter Magiern leben wollte. »Du musst mir unbedingt beibringen, wie man das macht.« 39
Maisie zupfte an ihrem Kleid, während sie sich im Spiegel betrachtete. »Keine Sorge. Du wirst bald mit deinem Training anfangen.« Sie lächelte. »Bist du so weit?« Es klopfte an der Tür, und Adam streckte den Kopf herein. »Der Rat ist versammelt«, sagte er zu Maisie. Dann wanderte sein Blick zu mir. Er hielt inne. Seine Augen musterten mich von Kopf bis Fuß. »Wow.« Meine Wangen begannen zu glühen, und ich kam mir auf einmal nackt vor. Nur mühsam widerstand ich dem Wunsch, mich zu verstecken, und reckte stattdessen trotzig das Kinn. »Was ist?« Er sah mir tief in die Augen und räusperte sich. »Nichts. Ich habe dich nur noch nie zuvor in einem Kleid gesehen. Das ist alles.« »Sieht sie nicht toll aus?«, meinte Maisie. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Unglaublich.« Ich nahm mir einen Moment Zeit, um auch ihn von oben bis unten zu begutachten. Er trug eine kürzere Version des Chiton. Seiner war schwarz und über dem Herzen war ein goldener Blitz eingestickt. Der Chiton unterstrich seine golden schimmernde Haut und die angenehm muskulösen Arme und Beine. Noch nie zuvor hatte ein Kleid so männlich gewirkt, und ich verspürte auf einmal das Bedürfnis, zu erfahren, was sich unter seinem Rock verbarg. Ein erotisches Kribbeln ließ mich nervös von einem Fuß auf den anderen treten. Gleichzeitig erinnerte mich die Frage, was Adam wohl drunter trug, daran, dass ich selbst unter meinem Chiton nichts anhatte. »He, wo sind eigentlich meine Waffen?« Maisie zuckte mit den Achseln. »Bei deinen anderen Klamotten.« »Solche Waffen sind bei den Ritualen nicht erlaubt«, meinte Adam. Ich warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Wahnsinnig witzig.« Mit den Armen in die Hüften gestemmt, wandte ich mich an Maisie. »Gib sie mir wieder.« 40
Maisie hob beide Hände, um mich zu beruhigen. »Du wirst von deiner Familie umgeben sein, Sabina. Niemand wird dich angreifen.« »Sie hat Recht, Rotschopf«, meinte Adam mit leiser Stimme. »Muss ich dich wirklich erst daran erinnern, dass mich meine eigene Großmutter vor weniger als einer Woche pfählen wollte? Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber es fällt mir momentan etwas schwer, mich in der Nähe meiner Familie sicher zu fühlen.« Adam seufzte. »Ehrlich, Sabina. Selbst mit einer Waffe hättest du keine Chance, dich auch damit zu verteidigen. Die meisten Magier, die du kennenlernen wirst, könnten dich sozusagen im Vorübergehen entwaffnen.« »Na großartig. Jetzt fühle ich mich doch gleich sicherer.« Maisie trat einen Schritt auf mich zu und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. »Sabina, ich weiß, das muss schwer für dich sein. Aber ich schwöre dir beim Grab unseres Vaters, dass dir hier niemand auch nur ein Haar krümmen wird.« Ich öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch Adam gelang es, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Seine Augen flehten mich an, das Thema fallen zu lassen. Daraufhin warf ich Maisie einen Blick zu; sie wirkte angespannt und nervös. Mit einem resignierten Seufzer nickte ich. Ich kannte Maisie zwar noch nicht gut genug, um ihr ganz über den Weg zu trauen, aber bei Adam war das etwas anderes. »Also gut. Aber ich will meine Waffen sofort zurück, wenn das Treffen vorüber ist.« Maisie wirkte erleichtert. Sie fasste nach meiner Hand. Unsere Hände kribbelten, als sie sich berührten. Ihre Miene wirkte ernst. »Ich weiß, dass du viel opfern musstest, als du dich entschieden hast, hierherzukommen. Aber du kannst dir sicher sein, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Du gehörst hierher.« Das würde sich noch zeigen. Aber selbst ich war nicht so unhöflich, dass ich Maisies offensichtliche Ernsthaftigkeit laut in-
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frage gestellt hätte. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, nickte ich schweigend. Ein strahlendes Lächeln erhellte ihre Miene. »Gut. Nachdem wir das klären konnten – bist du jetzt bereit, den Rat der Hekate zu treffen?« Ich atmete tief durch. In Wahrheit war ich alles andere als bereit, aber diese Tatsache hatte mich noch nie davon abgehalten, etwas zu tun. »Ich kann es kaum erwarten«, flunkerte ich und folgte ihr.
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Um zum Plenarsaal zu gelangen, mussten wir mit dem Lift fahren. Als sich die Türen im Keller des Gebäudes öffneten, verschlug es mir einen Moment lang fast den Atem. Statt eines imposanten, nüchternen Sitzungsraums, wie ich ihn erwartet hatte, fand ich mich in einem Saal wieder, der wirkte, als hätte sich eine Hippie-Kommune mitten im Senat niedergelassen. Der ganze Ort stank geradezu nach Sandelholz und Patschuli. Der Lift hatte sich am oberen Ende des Raumes geöffnet. Von dort aus führte eine Treppe an zahllosen, wie im Kolosseum angeordneten Sitzreihen bis nach unten. Auf den Plätzen lagen farbige Kissen, die wie buntes Konfetti wirkten. Zwischen den Reihen standen Hunderte von Magiern. Sie alle trugen Chitons in jedem nur erdenklichen Farbton. Am Fuß der Treppe befand sich eine Art Bühne, auf der ein langer, mit bunten Tüchern bedeckter Tisch thronte. Dahinter hatten sich fünf Magier in weißen Chitons versammelt und blickten aufmerksam zu uns hoch. Offenbar durften nur Mitglieder des 42
Rates den Chiton in Weiß tragen, denn ich konnte sonst keinen weiteren entdecken. Nur einer der Männer in Weiß war mir bereits bekannt. Nach unserer katastrophalen Mission auf dem Weingut der Dominae war Orpheus erschienen und hatte mitgeholfen, die Leichname der gefallenen Magier nach Hause zu bringen. Wir hatten damals nur wenige Worte miteinander gewechselt, aber er schien nett und umgänglich zu sein. Nach einem Augenblick der Stille – ähnlich einer abgespielten Schallplatte von der man nur noch ein leises Kratzen vernimmt – begann aufgeregtes Flüstern und Fingerzeigen. »Das ist sie!« »Sie ist da!« »Hekate sei gelobt! Sie ist wirklich nach Hause gekommen.« Adam nahm meine Hand und drückte sie aufmunternd. Dann traten Maisie und er aus dem Lift, so dass mir nichts anderes übrigblieb, als ihnen zu folgen. Die Magier zu beiden Seiten der Treppe sahen mir respektvoll und bewundernd nach, während ich die Stufen hinunterschritt. Einige streckten die Hände nach mir aus, um mich zu berühren, als ich an ihnen vorbeikam. Ich versuchte all das zu ignorieren, denn ehrlich gesagt brachte mich es ziemlich aus der Fassung. Die Magier benahmen sich, als wäre ich ein Mitglied des Königshauses oder so etwas. Orpheus trat um den langen Tisch herum und kam uns am Fuß der Treppe entgegen. Er umfasste meine Finger mit seinen Händen. »Willkommen, Sabina. Wie Ihr seht, sind wir alle mehr als angetan, dass Ihr Euch bereiterklärt habt, uns heute kennenzulernen.« Ich hielt es für besser, ihn nicht darauf hinzuweisen, dass mir in dieser Hinsicht keine große Wahl geblieben war. Stattdessen zwang ich mich zu einem Lächeln. »Danke.« Er wandte sich der Menge zu und trat hinter mich. »Darf ich euch Sabina Kane vorstellen, Tochter des großen Tristan Graecus
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und Schwester von Maisie Graecus, Hohepriesterin des Jungfräulichen Mondes und Orakel von New York!« Maisie trat ebenfalls einen Schritt nach vorn und erhob die Stimme. »Willkommen zu Hause, Schwester. Nach Jahrzehnten der Qualen ob der Boshaftigkeit der Dominae mögest du nun endlich deinen rechtmäßigen Platz im Kreis deiner Familie einnehmen.« Hinter uns applaudierte die Menge der Magier laut Beifall. »Der Rat der Hekate möchte dir zudem für deine Hilfe bei der Suche nach unseren Leuten danken, die von den Dominae entführt worden waren«, fuhr Maisie fort. »Ohne dich hätten wir niemals erfahren, was ihnen angetan wurde. Du hast dich gegen unsere Feinde gestellt, obwohl es für dich ein großes Opfer bedeutet hat. Dank deiner Unterstützung und deinen Kenntnissen wird es uns letztlich gelingen, unsere Feinde für immer zu besiegen.« Wieder folgte tosender Beifall. Ich hielt den Blick auf Maisie gerichtet. Ihre Lobeshymne beschämte mich. »Aus diesem Grund, und weiteren, die ich jetzt nicht anführen möchte, hat der alte und ehrwürdige Rat der Hekate den Heiligen Orden des Blutmondes gegründet, um dich gebührend zu ehren.« Mir blieb beinahe das Herz stehen. Nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hatte ich erwartet, dass man mich ehren würde. Ich warf Adam einen fragenden Blick zu. Er zwinkerte lächelnd. Fassungslos beobachtete ich, wie Orpheus vortrat und Maisie eine Kette überreichte. Meine Schwester drehte sich wieder zu mir um und hielt mir das goldene Geschmeide über den Kopf. »Wir, der altehrwürdige und wohltätige Rat der Hekate, ernennen dich hiermit zu Sabina Kane, Hohepriesterin des Blutmondes. Mögest du deine neue Stellung dazu nutzen, die große Familie der Magier zu beschützen und ihr für immer zu Diensten zu sein.«
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Sie legte die Kette um meinen Hals. Das Gold fühlte sich auf meiner nackten Haut angenehm kühl an. »Seht her, versammelte Gemeinde! Sabina Kane steht von nun an unter dem Schutz des Rates. Jeder ihrer Feinde ist unser aller Feind.« Ich blickte an mir herab. An der Kette hing ein Amulett von der Größe eines Silberdollars. In der Mitte der goldenen Fassung befand sich ein großer Mondstein. In das Metall waren Symbole eingeritzt, die wie Hieroglyphen aussahen, wobei ich vermutete, dass es sich um hekatische Zeichen handelte. Hekatisch war die Sprache der magischen Rituale. Mein Blick traf den meiner Schwester. Ihre Augen funkelten verdächtig feucht. »Was bedeuten die Zeichen?«, wollte ich wissen. »Da steht: ›Diese Tochter der Hekate ist die Fackelträgerin, die uns den Weg weisen wird.‹« Auch mir standen nun Tränen in den Augen, und ich schluckte. »Danke«, murmelte ich und wagte nichts mehr hinzuzufügen, falls meine Stimme ganz versagte. Maisie zog mich in die Arme und drückte mich fest an sich. »Danke dir, Schwester.« Als der Jubel und die Lobgesänge auf Hekate schließlich abebbten, nickte Orpheus einer Magierin mit langen silbergrauen Haaren zu, die in unserer Nähe stand. Kluge Augen blickten mich aus einem jugendlich frischen Gesicht mit einem schelmischen Lächeln an. Sie trug einen purpurfarbenen Chiton und ein ähnliches Amulett um den Hals, wie ich es gerade erhalten hatte. »Rhea Lazarus, Hohepriesterin des Holundermondes, wird jetzt mit dem traditionellen Reinigungsritual beginnen«, verkündete Orpheus. Ich wartete, was als Nächstes geschehen würde. War das die Tante, die Adam erwähnt hatte? Fragend sah ich ihn an. Er hatte seine Augen auf die Frau gerichtet. Das warme Lächeln auf seinen Lippen gab mir die Antwort.
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Rhea zwinkerte ihrem Neffen zu, ehe sie sich auf mich konzentrierte. In ihren Händen hielt sie einen Bund getrockneter Kräuter. Sie flüsterte etwas, und aus den Kräutern begannen Funken zu sprühen. Ein angenehm duftender Rauch stieg auf und kitzelte mich in der Nase. Die Frau begann etwas zu singen, was ich nicht verstand, während sie mit dem schwelenden Kräuterbund gegen den Uhrzeigersinn um mich herumschritt. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen. Die anderen Magier sahen uns aufmerksam zu. Vermutlich waren sie daran gewöhnt, dass ihnen eine merkwürdige alte Dame stinkenden Rauch ins Gesicht wedelte. Als sie mich zum letzten Mal umrundet hatte, schnalzte sie mit den Fingern, und eine junge Frau in einem grauen Chiton trat vor. Sie hielt mir einen goldenen Becher hin. »Trink.« Ich nahm das Gefäß und blickte hinein. Die farblose Flüssigkeit gab mir keinerlei Hinweis darauf, was es sein konnte. Soweit ich das zu beurteilen vermochte, konnte es sich sowohl um Wasser, Wodka oder auch Strychnin handeln. Misstrauisch blickte ich zu dem Mädchen auf, um es zu fragen, was ich da trinken sollte. Doch sie war verschwunden. Und wenn ich verschwunden sage, dann meine ich auch verschwunden. Sie hatte sich – puff! – in Luft aufgelöst. Keiner der anderen Anwesenden schien das eigenartig zu finden. Wieder wandte ich mich an Adam. Er nickte mir ermutigend zu. Und da Rhea seine Tante war, hoffte ich, dass ich auch ihr vertrauen konnte. Ich hob den Becher an die Nase und roch daran. Ein Duft von Zitronen und etwas Blumigem – vielleicht Rosen – verscheuchte meine letzten Zweifel. Ich führte das Gefäß an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Rosen und Zitronen können, gemischt mit Salz und Cayennepfeffer, verdammt ätzend sein. Noch schlimmer jedoch war die Tatsache, dass das Getränk meinen Mund anschwellen ließ wie nach einem Wespenstich. 46
Ich keuchte und streckte Adam panisch den Becher entgegen, damit er ihn mir abnahm. Doch Rheas Stimme hielt ihn zurück. »Nein. Sie muss alles trinken, um ganz und gar gereinigt zu sein.« Adams Lächeln wirkte entschuldigend, als er seine Hand wieder sinken ließ. Die erwartungsvollen Blicke der Ratsmitglieder und der Menge ruhten auf mir. Es war eindeutig: Mir blieb nichts anderes übrig, als dieses widerwärtige Gesöff ganz auszutrinken. Anstatt mich also wie ein Kleinkind zu benehmen, beschloss ich, es einfach hinter mich zu bringen. »Nun dann, wohl bekomm’s«, sagte ich und schüttete mir den Rest der Flüssigkeit in den Rachen. In meinem Hals begann es zu brennen, und mein Magen zog sich zusammen. Als ich alles hinuntergeschluckt hatte, schüttelte ich mich angewidert. »Igitt!« Missbilligendes Gemurmel erhob sich im Saal. Adam neben mir räusperte sich und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Ich achtete weder auf ihn noch auf die anderen, sondern rieb mir stattdessen meine Zunge mit den Fingern ab, um so das Höllenfeuer zumindest etwas zu mildern. Adam versetzte mir einen sanften Stoß in die Seite. »Lass das«, murmelte er. »Mein Zäpfchen steht in Flammen«, flüsterte ich panisch. Endlich ließ die Wirkung des Cayennepfeffers nach. Doch die Übelkeit blieb. Ich schluckte den heißen Speichel hinunter, der sich in meinem Mund gesammelt hatte. »Mir geht es nicht so toll.« »Du musst den Zaubertrank bei dir behalten«, erklärte Rhea. »Er muss Zeit haben, sich durch deinen Körper zu arbeiten.« Maisie sah mich an, als hätte ich sie enttäuscht. Als ob ich eine Art Prüfung nicht bestanden hätte. »Du schaffst das.« Ich bedachte Adam mit einem Blick, der ihm deutlich zu verstehen gab, dass ich verdammt sauer war.
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Er jedoch weigerte sich, mich noch einmal anzusehen. Verräter. Orpheus hingegen ließ den Blick von Maisie zu mir wandern. »Sollen wir fortfahren?« Maisie nickte entschlossen. »Ja.« Der Magier warf einen letzten Blick in meine Richtung und räusperte sich. »Gut, dann lasst uns weitermachen. Wie ihr bereits wisst, berät sich der Rat, ob er den Dominae den Krieg erklären soll oder nicht.« Diese Aussage erntete sowohl Hurra- als auch Buh-Rufe. Trotz meiner Übelkeit zwang ich mich dazu, dem Geschehen um mich herum Aufmerksamkeit zu schenken. Orpheus schlug mit einem kleinen Hammer auf den Tisch, um die Anwesenden wieder zur Ruhe zu rufen. »Im Lichte der gespaltenen Meinungen, was diese Frage betrifft, haben wir die Abstimmung noch hinausgeschoben, bis alle Beteiligten zu Wort gekommen sind.« Einige Magier murrten über diese Verzögerung, doch die Ratsmitglieder nickten zustimmend. »Hohepriesterin Maisie? Möchtet Ihr noch etwas hinzufügen?« Maisie erhob sich von ihrem Stuhl; sie hatte in der Zwischenzeit rechts von Orpheus Platz genommen. Adam hatte mir erklärt, sie sei die Vorsitzende des Rates, aber soweit ich das bisher beurteilen konnte, schien Orpheus die Zügel in der Hand zu haben. Ich nahm mir vor, Adam später zu befragen, wie Maisies Stellung genau aussah. »Danke, Ratsherr Orpheus. Ich möchte dem Rat tatsächlich von einer beunruhigenden Vision Mitteilung machen, die mich letzte Nacht heimgesucht hat. In dieser Vision stand meine Schwester Sabina im Heiligen Hain im Scheideweg. Von allen Seiten wurde sie von Schatten bedroht, während in der Ferne Trommeln schlugen.« Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, und ich musste mir die größte Mühe geben, den neugierigen Augen standzuhalten, die sich jetzt auf mich richteten. Murmeln erfüllte den Saal. 48
Die Ratsmitglieder bedachten mich mit nachdenklichen bis eindeutig ablehnenden Blicken. Orpheus hob die Hand, und es kehrte wieder Ruhe ein. »Wie versteht Ihr diese Vision?«, wollte er von Maisie wissen. Sie sah mich mit undurchsichtiger Miene an. »Natürlich stellen die Schatten unsere Feinde dar, die Trommeln sind die Trommeln des Krieges. Was jedoch Sabina betrifft, so ist ihre Position schwerer zu enträtseln. Ich glaube jedoch, sie wird bei dem, was kommen wird, eine ausschlaggebende Rolle spielen.« Ein Magier, der im Auditorium saß, sprang auf. »Diese Vision ist ein eindeutiges Zeichen, dass wir sofort den Krieg ausrufen müssen!«, rief er. »Die Vision ist eine Warnung vor einem Krieg!«, erwiderte eine aufgebrachte Frau. Plötzlich hallte der Saal von erhitzten Rufen wider, die sich abwechselnd für und gegen einen Krieg aussprachen. Ich blickte zu Adam, der mit zusammengebissenen Zähnen dasaß. Noch bevor wir aus Kalifornien abgereist waren, hatte er mir erklärt, der Rat stünde kurz davor, den Vampiren den Krieg zu erklären. Vielleicht hatte er übertrieben, um mich dazu zu bringen, mit ihm zu kommen. Oder die Dinge waren komplizierter geworden, nachdem er zu Vincas Begräbnis aufgebrochen war. Ich selbst war eigentlich gegen einen Krieg, aber ich hatte nicht vor, mich in die Politik der Magier hineinziehen zu lassen und hielt den Mund. Orpheus ließ mehrmals den Hammer auf den Tisch niederfahren, als versuche er, einen unwilligen Nagel einzuschlagen. »Ruhe! Es hilft uns nicht weiter, wenn wir uns gegenseitig angreifen. Ihr müsst dem Rat, den ihr gewählt habt, die Möglichkeit geben, das Thema eingehend zu erörtern und dann zu entscheiden, was das Beste für alle Magier ist.« Die Zuhörer schwiegen betreten wie eine Klasse zurechtgewiesener Schulkinder.
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Ein Knurren, bedrohlich wie das Fauchen eines hungrigen Dämons, zerriss die Stille. Ich blickte an mir herab – das Geräusch stammte aus meinem Magen. »Alles in Ordnung?«, flüsterte Adam. Wieder knurrte es. Diesmal war mein Magen so laut, dass die Ratsmitglieder zu mir herüberblickten. Ein Blitz schoss durch meine Eingeweide. Ich beugte mich vor und presste beide Arme gegen den Unterleib. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ein brennender Schmerz durchzuckte meinen Bauch. Ächzend sank ich auf die Knie. Adam ging neben mir in die Hocke und sah mich an. Um uns herum bildeten die Umstehenden einen Kreis. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. In diesem Moment erbrach ich mich vor die Füße des altehrwürdigen Rates der Hekate.
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Eine Stunde später verließ ich endlich das Badezimmer. Draußen warteten Adam, Maisie, Orpheus und Rhea auf mich. Mir war schwindlig, und ich war schweißüberströmt. Als Adam mich in Maisies Zimmer begleitete, hatte ich hatte den Eindruck, mindestens fünf Kilo Gewicht verloren zu haben. Ich hatte keine Ahnung, wie der Zaubertrank hieß, den sie mir verabreicht hatten, aber mir waren bereits ein paar recht klangvolle Namen dafür eingefallen. Am liebsten hätte ich Rhea verprügelt – und zwar richtig. Aber zuerst musste ich mich mal hinlegen.
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»Geht es dir besser?«, fragte Adam und half mir, mich auf einen Sessel zu setzen. »Lass mich nachdenken«, erwiderte ich und sackte in mich zusammen. »Ich glaube, ich habe eine meiner Nieren rausgewürgt, aber ansonsten fühle ich mich prächtig.« Giguhl sprang auf meinen Schoß und starrte mir neugierig ins Gesicht. »Igitt.« Er wedelte mit einer Pfote vor der Nase hin und her. »Kotzatem.« Halbherzig begann ich den Dämon mit der Hand abzuwimmeln. Ich war jetzt wirklich nicht in der Laune, mich von ihm aufziehen zu lassen – vor allem weil ich mir den Mund mit Mundwasser ausgespült hatte, ehe ich aus Maisies Badezimmer gekommen war. Adam reichte mir mit einem aufmunternden Zwinkern ein Glas Wasser. Ich schenkte ihm ein schwaches, wenn auch dankbares Lächeln. »Rhea, was hat Sabinas … Was hat diese heftige Reaktion auf den Zaubertrank hervorgerufen?«, wollte Maisie von der silbergrauen Magierin wissen. Diese zuckte mit den Achseln. »Das lässt sich leider nicht genau sagen. Aber wenn du mich fragst, so würde ich vermuten, sie musste wohl eine ganze Menge schlechtes Karma loswerden.« Maisie nickte, als leuchte ihr diese Erklärung ein. »Na ja, jedenfalls scheint es ihr wieder besser zu gehen. Hoffentlich hat sie jetzt die Möglichkeit, ganz von vorn zu beginnen.« Ich hasse es grundsätzlich, wenn man in meiner Gegenwart über mich spricht, als sei ich nicht da. Allerdings konnte ich Rheas Annahme, ich sei voller üblem Karma gewesen, kaum widersprechen. Ich hielt zwar nichts von diesem ganzen New-AgeBockmist, aber es ließ sich nicht leugnen, dass ich im Laufe meines bisherigen Lebens ziemlich viel Blödsinn angestellt hatte. Außerdem gefiel mir die Idee, noch einmal von vorn zu beginnen
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– auch wenn es mir ohne die ganze Würgerei deutlich lieber gewesen wäre. »Sabina, ich habe mir erlaubt, hier bei mir zwei Zimmer für dich und Giguhl vorzubereiten. Ihr habt doch hoffentlich keine andere Unterkunft gebucht?« Ich schüttelte den Kopf. Bisher hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, wo ich schlafen würde. Irgendwie hatte ich wohl angenommen, ich könne bei Adam übernachten, aber es leuchtete ein, dass Maisie mich in ihrer Nähe haben wollte. Sie hatte jedenfalls mehr als genug Platz, wohingegen ich keine Ahnung hatte, wie Adam hauste. Oder ob er Giguhl und mich überhaupt als seine Gäste willkommen geheißen hätte. »Nein, ich würde mich freuen, hierbleiben zu dürfen.« »Wunderbar.« Maisie lächelte. »Dein Zimmer ist gleich neben meinem. Schließlich gibt es viel darüber zu erzählen, was in den letzten fünfzig Jahren so alles passiert ist.« Ich zwang mich zu einem Lachen. »Stimmt.« »Einen Augenblick«, sagte Giguhl. »Heißt das, ich bekomme endlich mein eigenes Zimmer?« »Wenn Sabina damit einverstanden ist«, meinte Maisie und warf mir einen fragenden Blick zu. Der Kater sah mich flehend an. Ich zuckte mit den Schultern und nickte. Ein Zimmer mit Giguhl zu teilen, stand nicht gerade weit oben auf meiner Prioritätenliste – vor allem dann nicht, wenn er sich wieder in einen Dämon zurückverwandelt hatte. »Gibt es da auch Kabelfernsehen?«, wollte er sogleich wissen. Maisie warf ihm einen Blick zu und lächelte. »Natürlich gibt es das.« Er stieß eine Pfote in die Luft. »Jawoll!« In Los Angeles hatte Giguhl den Shoppingkanal entdeckt. Damals hatte ich seinen Einkaufswahn wohl oder übel akzeptiert. Während er einkaufte, stellte er wenigstes nichts Schlimmeres an. Doch jetzt hatte ich keine Arbeit mehr und lebte von meinen Ers-
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parnissen. »Freu dich nicht zu früh, Dämon. Kein Teleshopping. Verstanden?« »Ach, komm schon.« Ich starrte ihn entschlossen an. »Ich habe Nein gesagt. Okay?« Giguhl verschränkte die Vorderpfoten. »Schon gut, ich hab dich gehört.« Maisie räusperte sich. Ich warf ihr einen Blick zu. »Tut mir leid, aber Giguhl leidet eindeutig unter Kaufsucht.« Sie nickte, auch wenn es sie anscheinend verwirrte. »Verstehe.« Offensichtlich tat sie das nicht, war aber viel zu höflich, um nachzuhaken. »Also – nachdem das Reinigungsritual jetzt abgeschlossen ist, sollten wir am besten so schnell wie möglich mit deinem Zaubertraining anfangen. Rhea, wann kann die Visionssuche beginnen?« Ich warf Adam einen Blick zu, der jedoch auf den Boden starrte. »Einen Moment mal«, meldete ich mich zu Wort. »Ich dachte eigentlich, Adam würde mich weiter unterrichten.« Maisie und Orpheus schauten einander an. »Ehrlich gesagt«, erklärte der Magier, »hat es da eine gewisse Planänderung gegeben. Ich habe Adam gebeten, sich für mich um ein bestimmtes Projekt zu kümmern. Er wird nicht in der Lage sein, deinen Unterricht zu übernehmen.« »Was denn für ein Projekt? Er hat doch sicher zwischendurch Zeit für ein paar Stunden …« Orpheus unterbrach mich. »Tut mir leid, aber es wird nicht möglich sein.« »Und warum nicht?« Ich wusste, dass ich streitsüchtig klang, aber hier ging es um Grundsätzliches. Ich hatte mich überhaupt nur unter der Voraussetzung dazu bereiterklärt, mit nach New York zu kommen, dass Adam mich weiter unterrichten würde. Es gefiel mir ganz und gar nicht, dass er bereits wenige Stunden, nachdem ich hier eingetroffen war, anfing, gegen unsere Abmachungen zu verstoßen.
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Orpheus’ Kiefermuskeln spannten sich sichtbar an. Es schien ihm nicht zu behagen, dass ich ihm so die Pistole auf die Brust setzte. »Das hat überhaupt nichts mit …« »Sir«, mischte sich Adam ein. »Dürfte ich vielleicht? Ich würde gern mit Sabina unter vier Augen sprechen.« Orpheus warf Adam einen finsteren Blick zu, gab aber nach. »Von mir aus.« Adam nickte mir zu. Stirnrunzelnd stand ich auf und folgte ihm in den Flur hinaus. Noch ehe die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war, konnte ich nicht mehr an mich halten. »Was ist hier eigentlich los?« Er seufzte. »Der Auftrag, den Orpheus mir erteilt hat, führt mich eine Zeit lang nach North Carolina. Deshalb kann ich dich nicht weiter unterrichten. Ich werde ganz einfach nicht hier sein.« Mein Magen verkrampfte sich. »Was? Warum?« Er lehnte sich vor, als wolle er sicherstellen, dass niemand außer mir ihn hören konnte. »Königin Maeve zögert noch, dem Rat beizustehen, wenn wir in den Krieg ziehen. Orpheus will, dass ich an den Feen-Hof reise und herausfinde, warum.« Ich verschränkte die Arme. »Und wann reist du ab?« »Noch heute Abend.« »Was?« Panik breitete sich in mir aus. Obwohl hier bisher alle ausgesprochen nett und zuvorkommend gewesen waren, sagte mir die Vorstellung, mehr oder weniger allein unter Fremden zurückbleiben zu müssen, ganz und gar nicht zu. »Dann willst du mich also einfach so sitzenlassen? Bei lauter Fremden?« Adam fuhr sich durch das sandfarbene Haar. »Sabina, du verstehst das völlig falsch. Glaub mir, ich würde auch viel lieber hierbleiben. Aber meine erste Pflicht gilt dem Rat der Hekate.« Düstere Zweifel stiegen in mir auf. »Verstehe. Na gut. Dann bis irgendwann.« Ich wandte mich zum Gehen, aber er ergriff meinen Arm. »Was glaubst du zu verstehen?«
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Ich zuckte mit den Achseln. »Du führst die ganze Zeit nur irgendwelche Befehle aus. Deine Aufgabe war es, alles zu tun, um mich hierherzubringen. Also hast du mir Sachen versprochen, von denen du wusstest, der Rat würde sie niemals genehmigen. Jetzt bin ich hier. Du hast deine Aufgabe erfüllt.« Er starrte mich einen Moment lang an. Dann warf er den Kopf zurück und lachte. Lachte! »Nett. Schön, dass du dich amüsierst – Arschloch!« Ich wandte mich erneut ab, um davonzustürmen. Aber wieder packte er mich am Arm und hielt mich fest. Ich prallte gegen seine Brust. Ehe ich ihm sagen konnte, er solle sich endlich verziehen, trafen seine Lippen voller Leidenschaft auf die meinen. Ich war so unvorbereitet auf diesen Kuss, dass ich gar nicht auf die Idee kam, gegen die unerwartete Intimität anzukämpfen. Seine Lippen waren warm und pressten sich nachdrücklich auf meinen Mund. Während ich die Hitze seiner Zunge registrierte, schaltete sich mein Gehirn aus, und meine Libido übernahm das Kommando. Ich hatte Adam schon einmal geküsst – nur ein einziges Mal. Doch das war anders gewesen. Damals hatte mich die Enthüllung, dass ich eine Schwester besaß, von der ich bis zu jenem Zeitpunkt nicht den leisesten Schimmer hatte, derart aus der Fassung gebracht, dass Adam eine willkommene Abwechslung darstellte. Zum Glück war die ganze Geschichte nicht völlig aus dem Ruder gelaufen, sondern war rechtzeitig unterbrochen worden. Damals hatte ich beschlossen, dass so etwas nie wieder passieren durfte. Er war ein Magier und ich eine Vampirin, und eine Beziehung zwischen den Rassen war offiziell verboten. Man musste sich nur ansehen, was sich zum Beispiel meine Eltern damit eingebrockt hatten. Doch jetzt, als Adams Zunge die meine liebkoste, war es recht offensichtlich, dass er dieses Memo offenbar nicht erhalten hatte. Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen. Im Gegensatz zum letzten Mal gab es diesmal kein wildes Begrapschen, kein 55
gieriges Verlangen. Nein, dieser Kuss war vor allem zärtlich. Aber nicht minder gefährlich für mein Gleichgewicht. Ich schlang meine Arme um ihn und gab mich ganz dem Moment und dem Kuss hin. Zwar war ich noch immer wütend auf ihn, weil er mich allein zurücklassen wollte, aber ich wusste auch, dies war meine letzte Chance, ihm so nahe zu sein. Die Göttin wusste, für wie lange. Endlich löste er sich von mir. Als ich meine Augen öffnete, sah er lächelnd zu mir herab. Ich räusperte mich. »Äh …« »Hörst du jetzt endlich auf, dich wie eine Idiotin zu benehmen und verabschiedest dich von mir?« Ich öffnete den Mund, um dagegen zu protestieren, als Idiotin bezeichnet zu werden, aber er schüttelte den Kopf. »Lass uns bitte nicht mehr streiten, Sabina. Nicht jetzt. Wir können über all die Gründe sprechen, warum das hier eigentlich keine gute Idee ist, wenn ich wieder zurück bin. Einverstanden?« Ich schluckte. Er war mir so nahe. Ich konnte ihn noch auf meinen Lippen schmecken, während mich sein Sandelholzduft und das männliche Aroma, das er verströmte, ein wenig schwindlig machten. »Keine gute Idee?«, wiederholte ich benommen. Aus irgendeinem Grund hatte ich auf einmal Probleme, mich daran zu erinnern, warum auch ich die Angelegenheit bis gerade eben für eine schlechte Idee gehalten hatte. »Wir haben beide unsere Aufgaben, und momentan kann sich keiner von uns leisten, abgelenkt zu werden.« Seine Stimme wurde tiefer, und er beugte sich zu mir herab, so dass sein Mund nur noch wenige Millimeter von meinem entfernt war. »Aber bitte versteh mich nicht falsch. Wenn ich bleiben könnte, würde ich mir nichts sehnlicher wünschen, als von dir abgelenkt zu werden. Und zwar so lange wie möglich.« Mein Herz schlug einen Salto rückwärts. Ich atmete tief durch, um das Kribbeln in meinem Inneren in den Griff zu bekommen.
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»Mann, Magier, du weißt wirklich, wie man einer Frau den Kopf verdreht – was?« Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Ich könnte dir auch ein paar Sonette vortragen, wenn du das lieber hast. Aber ich dachte, du wärst eher für den direkten Ansatz zu begeistern.« Wieder beugte er sich vor, doch noch ehe er das Versprechen in seinen Augen einlösen konnte, wurde die Tür zu Maisies Zimmer aufgerissen. Wir hielten abrupt inne – wie zwei Rehe im Scheinwerferlicht -, und ich drehte mich um. Hinter mir stand meine Schwester. Sie hatte Giguhl auf dem Arm. »Oh! Oh, tut mir leid!«, stammelte sie. Ihre Wangen liefen so rot an, wie sich die meinen anfühlten. »Kein Problem. Adam und ich haben uns nur … nur unterhalten.« Ich trat zur Seite. Adam sah mich stirnrunzelnd an. Ihm schien die Distanz, die ich auf einmal wieder zu ihm herstellte, nicht zu gefallen. Doch tatsächlich brauchte ich einen gewissen Abstand, um überhaupt wieder klar denken zu können. Adam wirkte eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus, daran ließ sich nicht rütteln. Aber er stand auch im Begriff, abzureisen. Und er war Magier. Und, und, und … Die Liste war endlos. »Lasst euch von uns nicht stören«, sagte Giguhl. »Es ist sowieso an der Zeit, dass ihr das endlich mal hinter euch bringt.« Maisie presste sich die Hand auf den Mund. Offenbar fand sie das Ganze ziemlich lustig. »Giguhl«, warnte ich. »Ach, komm schon, Rotschopf!« In diesem Moment traten Rhea und Orpheus in den Flur, um zu erfahren, was los war. Ohne auf die Neuankömmlinge zu achten, fuhr Giguhl fort: »Ich weiß genau, wovon ich rede. Ich durfte schließlich vier geschlagene Tage mit euch in diesem verdammten Auto verbringen. Schon vergessen? Die Luft war derart voller Pheromone, dass ich das Fenster öffnen musste.«
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Finster starrte ich den Dämonenkater an. Wenn Blicke töten könnten, wäre er auf der Stelle umgefallen. Aber leider schmiegte er sich nur enger an Maisie und fügte hinzu: »Ich meine ja nur.« Meine Wangen glühten, als ich Rheas und Maisies wissendes Grinsen bemerkte. Adam räusperte sich. »Okay, ich sollte dann wohl lieber mal los.« »Lazarus, geben Sie mir Bescheid, sobald Sie dort eingetroffen sind. Ich will stündlich über die neuesten Entwicklungen unterrichtet werden«, sagte Orpheus. »Ja, Sir.« Er wandte sich an mich. »Also dann, mach’s gut.« Da ich mir der Gegenwart der anderen mehr als bewusst war, ignorierte ich seinen leidenschaftlichen Blick und streckte ihm sittsam die Hand entgegen. »Okay, bis dann, Adam.« Er neigte den Kopf und grinste. Seine warme Hand umschloss die meine. Ich schwöre, ich konnte die Berührung bis in die Zehenspitzen spüren. »Versuch nicht allzu viel Blödsinn zu machen, okay?« Ich machte den Mund auf, um wie immer das letzte Wort zu haben, aber er war bereits verschwunden. Wie eine Vollidiotin stand ich mit ausgestreckter Hand da. Dann beförderte mich das Kichern eines gewissen Katers in die Gegenwart zurück, und ich wurde erneut des Publikums gewahr, das einen der peinlichsten Momente meines Lebens live miterlebt hatte. Ich ließ die Hand sinken und wischte sie am Stoff meines Kleides ab. »Nun«, sagte ich lahm. »Das war’s also.« »Scheint so«, entgegnete Rhea. Ich betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Verurteilte sie mich? Ich konnte nichts entdecken. Vielmehr wirkte sie ausgesprochen belustigt. Also fuhr ich fort. »Wenn ihr mich entschuldigen würdet? Ich glaube, ich mache jetzt einen Spaziergang, um etwas frische Luft zu schnappen. Giguhl, kommst du mit?« Der Kater schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich bleibe lieber hier. Aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?«
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Ich seufzte und wartete auf den nächsten Scherz auf meine Kosten. »Du solltest dich vorher vielleicht umziehen.« Ich blickte an mir herab. Adam hatte mich so sehr aus der Fassung gebracht, dass ich den roten Chiton ganz vergessen hatte, den ich noch immer trug. »Maisie?« »Bin schon dabei.« Eine elektrostatische Ladung durchfuhr meinen Körper und ersetzte das Kleid durch meine alten Klamotten. Ich tastete meine Taschen ab und stellte erleichtert fest, dass sich meine Waffen noch immer an Ort und Stelle befanden. »Danke«, sagte ich. Meine eigenen Klamotten – und meine Waffen – wiederzuhaben, verbesserte meine Laune ganz erheblich. »Wohin willst du?«, erkundigte sich Maisie. »Nur kurz um den Block, um den Kopf freizubekommen.« Giguhl schnaubte. »Vielleicht solltest du es stattdessen mit einer kalten Dusche versuchen.« Mit einem letzten Blick in Richtung des Katers drehte ich mich auf dem Absatz um und ging zur Tür. Über die Schulter hinweg befahl ich: »Giguhl, verwandle dich wieder in einen Dämon.« Puff. Der Flur füllte sich mit dem beißenden Gestank von Schwefel. Maisie stieß einen Schrei aus. »Gütige Götter«, murmelte Orpheus. Grinsend ging ich weiter. Wenn Giguhl seine Gestalt veränderte, war er danach immer nackt. Ich will nicht ins Detail gehen, aber ein nackter Dämon ist ein Anblick, den man sich nur einmal antun möchte. Ich wollte gerade um die Ecke biegen, als Rhea die Sprache wiederfand. »Grundgütige Göttin – warum ist er gespalten?«
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Bisher ließ das Essen in New York einiges zu wünschen übrig. Drüben in Kalifornien hatte mich jedenfalls keine meiner Mahlzeiten je zurückgebissen. »Aua!« Ich zuckte erschreckt zurück und prüfte hastig, ob sich mein Ohr noch an Ort und Stelle befand. Meine Mahlzeit starrte mich finster an. In der Dämmerung sah sie ziemlich schmutzig aus. Der Kerl wirkte, als hätte er sich seit Tagen nicht gewaschen. Unter seinen fettigen schwarzen Haaren funkelte ein glitzernder Ohrstecker. »Verpiss dich, du Schlampe!« Seine allgemeine Haltung – und sein Blut – hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in meinem Mund. Frustriert und zu müde, um mich lange mit ihm herumzuschlagen, stieß ich ihn fort. Anstatt jedoch wie jeder normale Mensch einfach abzuhauen, hatte dieser Typ den Nerv, eine Pistole zu ziehen. »Meinst du das ernst?«, fragte ich. Wenn ich nicht so gereizt gewesen wäre, hätte ich vermutlich gelacht. »Du solltest mir die Waffe lieber gleich geben – nicht, dass du dir wehtust. Aber das kann auch ich gerne für dich erledigen.« Er drückte ab. Die Kugel drang unterhalb meines rechten Schlüsselbeins in die Haut ein. Ich mochte vielleicht immun gegen normale Munition sein, aber das bedeutete leider nicht, dass es nicht verdammt wehtat. »Verdammter Mist!«, rief ich und presste mir die Hand auf die Wunde. »Gib mir das Ding!« Ich riss ihm die Pistole aus der Hand und schleuderte sie in ein Gebüsch neben dem Weg. Die Augen des Mannes weiteten sich, und er wich stolpernd vor mir zurück, während er anfing, die heilige Jungfrau Maria um Gnade anzuflehen. 60
»Die kann dir jetzt auch nicht mehr helfen«, drohte ich mit gefährlich klingender Stimme. Er stolperte über seine eigenen Füße und stürzte in die Nacht davon. Kurz überlegte ich, ob ich ihm folgen sollte, entschied mich aber dagegen. Der Aufwand lohnte sich nicht. Trotz der nachtleeren Wege brummte der Central Park noch immer vor Energie und Leben. Hier und da sah ich aus dem Augenwinkel, wie sich dunkle Schatten zwischen den Büschen bewegten. Über mir ertönte ein gellender Schrei. Ich blickte auf und entdeckte Stryx, der nicht weit über mir kreiste. »Verschwinde«, knurrte ich missmutig. Ohne auf die Eule zu achten, lief ich in der Hoffnung, eine neue Nahrungsquelle aufzutun, weiter den Pfad entlang. Vor weniger als zwei Stunden hatte ich beinahe meine Eingeweide herausgewürgt, und jetzt musste mein Körper auch noch mit einer Schusswunde zurechtkommen. Was bedeutete, dass ich das Blut jetzt nicht mehr nur wollte, sondern vielmehr dringend welches brauchte. Die kühle Oktobernacht roch nach Regen. Hier im Park war die typische New Yorker Geruchsmischung aus Müll, Abgasen und menschlichen Ausdünstungen schwächer und vermischte sich mit dem würzigen Aroma herabgefallenen Laubes. Ich begann langsamer zu schlendern und holte tief Luft. Dann zuckte ich zusammen und drückte die Hand auf die Wunde in meiner Brust. Das Loch schloss sich bereits wieder und verschluckte die Kugel, die noch in mir steckte – ein makaberes Souvenir an meinen ersten Ausflug im Big Apple. Um kurz zu verschnaufen, setzte ich mich an einer Wegkreuzung auf eine Bank. Das berühmte »Imagine«-Mosaik in Erinnerung an John Lennon befand sich nur wenige Meter von mir entfernt. In der Mitte des Kreises hatte jemand ein paar rote Rosen niedergelegt. Um mich herum ragten die Bäume in den schwarzen Nachthimmel hinauf. In der Ferne konnte ich die bedrohlichen Türme der New Yorker Kommerz-Kathedralen ausmachen.
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Was verdammt nochmal wollte ich eigentlich hier? Ich lehnte mich zurück und gestattete mir einen Augenblick des Selbstmitleids. Selbstmitleid war keine Emotion, der ich oft nachgab. Es war allerdings einfacher, nicht darin zu schwelgen, wenn man das Gefühl hatte, die Zügel in der Hand zu halten. Momentan allerdings hatte ich keinerlei Kontrolle über mein Leben. Als ich mich einverstanden erklärt hatte, Adam nach New York zu begleiten, war ich verdammt wütend gewesen. Und bereit, mein altes Dasein um jeden Preis hinter mir zu lassen. Das Bedürfnis, meine Großmutter für ihren Treuebruch bluten zu sehen, hatte schwerer gewogen als meine Sorge, was es bedeuten würde, mein bisheriges Leben so abrupt zu beenden. Ich wusste natürlich, dass Magier und Vampire unterschiedliche Kreaturen waren, aber ich hatte angenommen, ich würde schon klarkommen. Schließlich war ich selbst zur Hälfte Magierin. Was konnte konnte schon so schwer daran sein? Doch jetzt, nachdem ich angekommen war und das Magierleben langsam kennenlernte, war ich mir meiner Entscheidung nicht mehr so sicher. Sicher, Maisie war sehr nett, aber ich wurde nicht so recht warm mit ihr. Ich hatte angenommen, als Zwillingsschwestern würden wir uns wahnsinnig ähneln, aber in Wirklichkeit hätten wir kaum unterschiedlicher sein können. Im Namen der Hölle – sogar mein Dämonenkater schien sie lieber zu mögen als mich! Treuloses Tier. Und jetzt kam auch noch Adams Abreise hinzu, die mich ziemlich aus dem Gleichgewicht brachte. Ich hatte erwartet, er würde mir helfen, mich an das neue Leben im Reich der Magier zu gewöhnen. Stattdessen war er abgereist. Es war nicht nur die Tatsache, dass er mir jetzt keinen Zauberunterricht mehr geben konnte. Vielmehr hatte ich mich während der letzten Wochen an seine Gegenwart gewöhnt. Ich hatte sogar angefangen, uns als Team zu sehen. Nicht, dass ich das jemals offen zugegeben hätte! Und ich wollte auch nicht noch einmal über diesen Kuss reden. Bei allen Göttern, was sollte das denn überhaupt? In gewisser Hinsicht war 62
es sogar ganz gut, dass er jetzt erst mal weg war. Es gab mir etwas Zeit, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen und die Perspektive nicht zu verlieren. Schließlich musste ich wissen, wie ich mich in dieser Sache verhalten wollte, wenn er wieder zurückkam. Ich hatte das Gefühl, dass alles, was mit Adam zu tun hatte, sehr schnell sehr kompliziert werden konnte. Und weitere Komplikationen waren das Letzte, was ich brauchen konnte. Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß und nachdachte, aber plötzlich knackte hinter mir ein Zweig. Dann noch einer. Irgendjemand – oder irgendetwas – machte sich offenbar keine Sorgen, dass ich ihn hören könnte. Ich stand leise auf und ging weiter. Wer oder was auch immer das sein mochte – er würde sich schon zeigen, wenn es so weit war. Und dann wäre auch ich so weit. »Heute Nacht hast du dir den falschen Wald ausgesucht, Rotkäppchen«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich langsam um. Innerlich verfluchte ich mich dafür, dass ich nicht mehr Waffen mitgenommen hatte. Zwei Kerle standen vor mir auf dem Weg. Aus dem Augenwinkel konnte ich zwei weitere ausmachen, die gerade aus dem Gebüsch traten. Vier gegen einen. Könnte schlimmer sein, dachte ich. »Kann ich helfen?«, fragte ich, wobei ich mich bemühte, so sachlich wie möglich zu klingen. Adrenalin pulsierte durch meine Adern. Ein guter Kampf wäre jetzt die perfekte Ablenkung, ich hatte also nichts gegen diesen kleinen Zwischenfall. Die Männer, die ich sehen konnte, waren schlank und ungepflegt. Sie hatten fiese, verschlagene Gesichter. Irgendwie erinnerten sie mich an ein Rudel hungriger Wölfe. Keiner der vier hatte auch nur eine einzige rote Haarsträhne; sie waren also keine Vampire. Es roch auch nicht verräterisch nach Sandelholz – Magier waren sie also ebenfalls nicht. Allerdings waren sie auch ganz sicher nicht menschlich. Der Anführer lachte. Seine Spießgesellen grinsten, während sie ihm unsichere Blicke zuwarfen. Er kam auf mich zu. Die anderen 63
folgten mit einem gewissen Abstand. Sein Lachen brach genauso schnell ab, wie es angefangen hatte. »Du wilderst auf unserem Gebiet.« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest.« Ich verschränkte die Arme und tastete vorsichtig nach meinem Messer, das in der Innentasche meiner Jacke steckte. »Auf Anordnung des Schattens ist das hier unser offizielles Jagdgebiet.« »Und wer oder was ist dieser Schatten?«, wollte ich wissen. Überrascht zog er eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Der Schatten ist das Gesetz. Und dem Gesetz nach dürfen wir jedem, der auf unserem Land wildert, eine Lektion erteilen.« »Und wer verdammt nochmal seid ihr?« »Wir sind die Einsamen Wölfe, Schlampe.« Na großartig, dachte ich. Werwölfe. Genau was ich jetzt brauchen konnte. Das erklärte natürlich auch das unangenehm stinkende Eau de Nasser Hund, welches das Rudel verbreitete. In L.A. war ich nie einem Werwolf begegnet, aber ich kannte mich gut genug mit ihnen aus, um zu wissen, dass ich mich in die Scheiße geritten hatte. Mal wieder … Ich verlagerte mein Gewicht auf den anderen Fuß. »Die was?« »Die Einsamen Wölfe.« Er drehte sich um, damit ich die Rückseite seiner abgerissenen Lederjacke sehen konnte. Tatsächlich starrte mich von dort ein zähnefletschender Wolfskopf an. »Moment mal«, sagte ich. »Sollte es nicht ›Einsamer Wolf‹ heißen – also in der Einzahl? Wenn es mehr als nur einen von euch gibt, dann könnt ihr euch doch nicht mehr einsam nennen – oder verstehe ich da was falsch?« Der Kerl kniff die Augen zusammen, als müsse er sich anstrengen, meinem Gedankengang zu folgen. Es schien ihm nicht zu gelingen. »Halt die Klappe, Schlampe. Los, packt sie euch, Jungs.«
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Grobe Hände fassten mich von hinten. Ich setzte mich nicht zur Wehr. »Wisst ihr eigentlich, mit wem ihr es zu tun habt?«, fragte ich gelassen. »Na, da bin ich ja mal gespannt«, entgegnete der Anführer höhnisch. »Ich heiße Sabina Kane«, erklärte ich etwas großspuriger, als ich vorgehabt hatte. Der Kerl blinzelte begriffsstutzig. »Sollte mir der Name was sagen?« Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten. Doch dann stockte ich. Was konnte ich schon erwidern? Dass ich früher als erfolgreiche Auftragskillerin auf der Gehaltsliste der Dominae gestanden hatte? Dass ich in Wahrheit die Enkelin der Alpha-Domina war? Was würde mir das jetzt helfen? Selbst wenn sie mit diesen Informationen etwas anfangen konnten, würde mir diese Tatsache inzwischen nicht mehr viel nutzen. Verdammt – die Kerle kämen vielleicht sogar auf die Idee, mich den Dominae auszuliefern. Vermutlich hatten die drei Furien inzwischen einen großzügigen Preis auf meinen Kopf ausgesetzt. »Nein, vermutlich nicht«, erwiderte ich. Erneut wurde mir bewusst, dass mein altes Leben für immer vorbei war. Der Gedanke versetzte mir einen ziemlichen Schlag. Offenbar war ich jetzt der einsame Wolf. Aber falls diese Idioten glaubten, ich würde einfach meinen Kopf in ihre Schlinge legen, hatten sie sich getäuscht. »Genug geredet. Jetzt zeigen wir dir, was wir mit Wilderern anstellen.« Er nickte den Kerlen hinter mir zu, die noch fester zupackten. Der Anführer ließ die Zähne aufblitzen, die dringend mal wieder eine Zahnbürste aus der Nähe sehen mussten, und ballte die Faust. Energisch holte er zum Schlag aus. Solche Macker glaubten immer, Frauen würden sich automatisch unterordnen und ihre testerongesteuerten Mätzchen ehrfurchtsvoll über sich ergehen lassen. 65
Diese Puppe garantiert nicht! Ich mochte zwar kein Silber bei mir haben, um sie zu töten – falls Silber überhaupt eine Wirkung auf sie hatte -, aber ich hatte garantiert die Mittel, ihnen empfindlich wehzutun. Ich riss das Knie hoch und rammte es dem Anführer in die Weichteile. Er schrie auf und stürzte zu Boden, wo er sich zusammenkrümmte und die Hände zwischen die Beine presste. Seine Freunde brachte der jämmerliche Anblick, den er bot, ziemlich aus der Fassung. Ich nutzte die Gelegenheit und befreite mich von den beiden Kerlen, die mich festhielten – was nicht schwierig war, da sie so schnell wie möglich ihre Weichteile mit den Händen schützten. Als Nächstes riss ich das Messer aus der Jacke und stach damit dem Werwolf rechts von mir in den Arm. Er fletschte die Zähne und verpasste mir einen Fausthieb in die Magengrube. Ich wirbelte herum und versetzte ihm mit dem Ellbogen einen Schlag auf die Nase. Mit einem befriedigenden Knirschen gab das Knorpelgewebe nach. Zwei weniger. Blieben also nochmal zwei. Die hatten allerdings bereits die Beine in die Hand genommen und waren auf und davon. Ich hängte mich an ihre Fersen, denn ich konnte es mir nicht leisten, dass die Dominae von meinem neuen Wohnort in New York Wind bekamen. Aber ich kannte den Central Park bei weitem nicht so gut wie sie. Nach kürzester Zeit verschwanden sie wie aufgeschreckte Kaninchen im Gebüsch. Als ich dorthin zurückkehrte, wo ich die Verletzten zurückgelassen hatte, waren auch die verschwunden. Frustriert und immer noch hungrig machte ich mich auf den Weg zum Ausgang.
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Ich schaffte es beinahe bis in mein Zimmer. Doch gerade als ich die Tür öffnen wollte, riss Maisie die ihre auf, als hätte sie bereits ungeduldig auf meine Rückkehr gewartet. »Sabina! Du bist wieder da!« Sie sah aus, als würde sie sich tatsächlich freuen, mich zu sehen. Leider wollte ich nach der Nacht, die ich gehabt hatte, nichts weiter als eine Dusche und ein Bett. Vielleicht würde ich beim Aufwachen ja feststellen, dass alles nur ein Traum gewesen war. Ein echt mieser Traum. Aber dummerweise konnte ich Maisie nicht einfach die Tür vor der Nase zuknallen. Ich drehte mich also zu ihr um. »Hi, Maisie.« Sie riss die Augen auf. »Bei allen Göttern, was ist denn mit dir passiert?« In Anbetracht der blauen Flecken, mit denen die Werwölfe mich gezeichnet hatten, nahm ich an, ich sah wohl ziemlich schrecklich aus. Ich wollte ihr gerade erklären, was vorgefallen war, als ihre Augen an mir hinunterwanderten und noch größer wurden. »Ist das eine Schusswunde?« Wie von selbst fuhr meine Hand zu dem roten Fleck auf meinem Tanktop. »Sieht schlimmer aus, als es ist. Das Loch ist schon wieder zu.« Ich zog den Ausschnitt meines Oberteils etwas nach unten, um ihr die verheilte Haut zu zeigen. Der Anblick des Blutes auf meinem Dekolleté und meinen Klamotten ließ sie erbleichen. Dennoch legte sie mir eine Hand auf die Schulter und zog mich in ihr Zimmer. »Ich möchte, dass du dich setzt und mir alles erzählst, während ich dich verarzte.« Entschlossen drückte sie mich in einen Sessel und verschwand dann in ihrem Badezimmer. 67
Sitzen war schon mal eine Erleichterung, auch wenn ich mich nicht wohl dabei fühlte, dass sie meine Wunden versorgen wollte. Vor allem, weil sie sowieso in kurzer Zeit von selbst verheilen würden. »Ehrlich, Maisie, es geht mir gut. Du musst dir keine Sorgen machen.« Sie tauchte wieder aus dem Badezimmer auf und hielt einen Waschlappen und ein paar kleine braune Fläschchen in der Hand. »Red keinen Unsinn. Also, jetzt erzähl mir genau, was passiert ist.« Sie begann, mein Gesicht mit dem Waschlappen abzutupfen. Ich seufzte. Ich war zu müde, um mit ihr zu streiten, und wenn sie sich besser fühlte, weil sie mich bemuttern konnte, gab es eigentlich keinen Grund, mich zu beklagen. »Ich hatte einen Zusammenstoß mit einem unwilligen Blutspender. Das ist alles. Du weißt ja, wie das sein kann.« Der rötlich eingefärbte Waschlappen hielt mitten in der Bewegung inne. »Du hattest was?« »Ich habe versucht, von einem Typen zu trinken, und er hat mich angeschossen.« Sie ließ entgeistert den Waschlappen sinken. »Wo ist das passiert?« »Im Central Park.« Einen Moment lang schloss sie die Augen. »Hekate möge uns beistehen.« Ich runzelte die Stirn. »Wieso?« Sie seufzte tief. »Ich hoffe, dass dich niemand dabei gesehen hat.« Betreten sah ich zu Boden. »Na ja, das war das andere, was ich dir erzählen wollte. Ich hatte eine Art Auseinandersetzung mit ein paar Werwölfen.« Sie ließ den Waschlappen fallen und setzte sich auf den Rand des Bettes. »Das ist nicht gut.«
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»Keine Angst, sie haben mir kaum etwas getan. Es mir gelungen, ihnen eine Abreibung zu verpassen, ehe sie davongelaufen sind.« Maisie schlug die Hände vors Gesicht und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Dann hob sie den Kopf und stand auf. »Das ist alles meine Schuld.« »Was?« »Ich hätte dich warnen sollen. Du bist es wahrscheinlich gewöhnt, dir Blut zu besorgen, wann und wo du willst, aber hier laufen die Dinge anders. Wenn der Schatten herausfindet, dass du auf seinem Land gewildert hast, ohne Blutsteuer zu zahlen, wird er verdammt wütend werden. Die Werwölfe sind seine Verbündeten und haben das Recht, von allen, die ihr Territorium betreten, Entschädigung zu verlangen.« »Hoppla«, sagte ich. Maisie legte den Kopf schief. »Wenn du dich nicht von Menschen ernähren würdest, wäre das alles nicht passiert.« »Was soll das heißen?« »Ich verstehe nicht, wieso du es für nötig hältst, unschuldige Menschen anzugreifen.« »Gütiger Himmel, Maisie! Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass ich ein Vampir bin?« Sie starrte mich finster an. »Halb-Vampir.« »Was auch immer. Es sollte jedenfalls keine solche Überraschung für dich sein, dass ich Blut brauche.« »Ich brauche auch Blut, aber ich habe noch nie jemanden gebissen. Woher soll ich denn wissen, dass du das anders handhabst?« Ich hielt inne. »Einen Moment. Du hast noch nie jemanden gebissen? Wie ist das möglich?« Maisie verschränkte die Arme. »Du kannst mir glauben: Es gibt viele Wege, seinen Blutdurst zu stillen, ohne dabei jemandem wehzutun.«
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Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ja, klar. Und wo ist der Spaß dabei?« Der Blick, den sie mir zuwarf, ähnelte den Blicken, mit denen ich manchmal Giguhl bedachte. »Das ist kein Witz, Sabina. Du musst mir versprechen, dich nicht mehr von Sterblichen zu ernähren, solange du unter dem Schutz der Hekate stehst.« »Na ja, technisch gesehen habe ich mich auch heute Nacht nicht von einem ernährt. Er hat nämlich auf mich geschossen, bevor ich auch nur einen Schluck trinken konnte.« Sie starrte mich weiterhin finster an. Ich seufzte gereizt. »Wenn du wirklich glaubst, dass ich kein Blut mehr zu mir nehme, während ich hier bin, musst du verrückt sein.« Sie verschränkte die Arme. »Ich verlange nicht von dir, eine Nulldiät einzulegen – ich will nur nicht, dass du Menschen angreifst. Und wenn dich schon der moralische Aspekt der Sache nicht interessiert, dann halte dir zumindest Folgendes mal vor Augen: Das Letzte, das wir momentan brauchen können, ist eine Auseinandersetzung zwischen den Schattengeschlechtern New Yorks, weil du deinen Blutdurst nicht beherrschen kannst.« Ich seufzte noch einmal. Es gab nichts, was ich mehr hasste, als dieses Lavieren und Taktieren. Aber gleichzeitig wollte ich weder Maisie noch dem Rat unnötige Probleme bereiten. »Okay, ich halte mich mit meiner Bisslust zurück. Aber dafür musst du mir sagen, wie ich hier sonst an Blut komme.« Sie lächelte erleichtert. »Das ist kein Problem. Bereits in meiner Kindheit war Ameritat klar, dass ich irgendwann einmal Blut brauchen würde. Also ließ sie eine Blutbank in der Stadt eröffnen.« Meine Augen weiteten sich. »Du hast deine eigene Blutbank?« »Na ja, offiziell gehen die Spenden zurück an Bedürftige. Aber inoffiziell kann ich auf diese Weise jederzeit meinen Blutdurst stillen, ohne dass jemand dabei zu Schaden kommt.«
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»Ich will mich ja nicht streiten, aber ist das nicht irgendwie heuchlerisch? Schließlich spenden diese Menschen ihr Blut eigentlich an eine Blutbank, nicht an ein Schnellrestaurant.« »So ist das nicht. Man darf Blut nur eine bestimmte Zeit lang aufbewahren. Gekühltes Blut hält nur zweiundvierzig Tage, ehe man es wegschütten muss. Ich habe mit der Blutbank vereinbart, dass ich das Blut einige Tage vor dem Ablaufdatum bekomme. Außerdem gibt es manchmal Blut, das nicht den Sicherheitsauflagen entspricht. Und da ich für menschliche Krankheiten nicht anfällig bin, erhalte ich so immer wieder auch frisches Blut.« »Damit ich dich richtig verstehe«, sagte ich und schnitt eine angewiderte Grimasse. »Du trinkst also nur altes oder verseuchtes Blut? Das ist ekelhaft.« »So schlimm ist das auch wieder nicht. Natürlich verursachen die Verdünnungsmittel einen seltsamen Nachgeschmack, aber man gewöhnt sich daran.« Ich steckte einen Finger in den Mund und tat so, als müsste ich würgen. Maisie zuckte mit den Achseln. »Hast du eine bessere Alternative?« »Künstliches Blut?« Ich hasste das Zeug. Es war nicht nur schwächer als menschliches Blut, sondern der Geschmack erinnerte zudem eindeutig an Urin. Aber ich nahm an, dieses menschenfreundliche Produkt würde jemandem mit solch hohen Moralvorstellungen zusagen. Doch jetzt war es an Maisie, sich angewidert zu schütteln. »Machst du Witze? Das schmeckt doch grauenvoll! Da kann man ja gleich Wasser trinken, so schwach ist das.« Überrascht lachte ich auf. Maisie sah mich herausfordernd an. »Was?« »Du erstaunst mich nur. Ich dachte, du wärst viel zu moralisch für eine solche Meinung.« »Sabina, ich mag vielleicht keine Menschen töten, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich eine Heilige bin. Mein Körper 71
verlangt nach Blut genau wie deiner. Aber ich glaube an das, was die Magier glauben – dass die Menschen respektiert werden sollten. Deshalb tue ich alles, um ihnen keinen Schaden zuzufügen. Blutkonserven sind ein annehmbarer Kompromiss zwischen Gewalt und Selbstverleugnung.« Ich lächelte meine Schwester an. So sehr ich ihr behütetes Leben und die Bewunderung, die alle Magier ihr entgegenbrachten, auch verabscheute, so konnte ich doch nicht anders, als sie zu mögen. Sie war pragmatisch veranlagt und – wie ich feststellen musste – auch ganz cool. »Okay, einverstanden. Solange ich hier bin, trinke ich Blutkonserven.« Sie nickte, doch ihre Miene wirkte nachdenklich. »Was ist los?«, wollte ich wissen. Sie winkte ab und lachte kurz auf. »Es ist nur, wie du das gerade gesagt hast – als wärst du nur kurz zu Besuch. Ich hatte eigentlich gehofft, dass dir das Leben der Magier gefallen und du eine Weile hierbleiben würdest.« Die unerwartete Wendung unseres Gesprächs ließ mich unruhig werden. »Maisie, ich bin doch erst seit ein paar Stunden hier. Lass uns einfach erst mal sehen, wie es so läuft. Einverstanden?« Sie lachte. »Natürlich. Du hast völlig Recht. Ich bin nur so aufgeregt, dich nach all den Jahren jetzt endlich hier zu haben. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe das plötzlich Bedürfnis, ›We are Family‹ zu singen!« Das war der springende Punkt: Maisie hatte bereits seit Jahren von meiner Existenz gewusst. Ich dagegen hatte erst vor gut einer Woche erfahren, dass ich eine Schwester besaß. Während sie also viel Zeit gehabt hatte, sich an die Idee zu gewöhnen, zu einem Zwillingspaar zu gehören, war mir dieser Luxus nicht vergönnt gewesen. Und in Anbetracht meiner bisherigen Erfahrungen mit Familienmitgliedern war es vielleicht nicht verwunderlich, dass ich ein wenig zurückhaltender war, wenn es darum ging, ein Sister-Sledge-Duett hinzulegen.
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Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Wie wäre es, wenn wir das Singen lassen und stattdessen gemeinsam ein Glas Blut trinken?« »Klingt super.« Sie trat zu einem kleinen Kühlschrank, der in die Wand eingelassen war. »Was trinkst du?« Mit einem leisen Ächzen stand ich auf. »Ach, ich nehme eigentlich alles.« Sie steckte den Kopf in den Kühlschrank. »Hm. Ich habe hier noch ein paar AB Negativ, die ich für eine besondere Gelegenheit aufgehoben haben. Die wären jetzt doch genau das Richtige.« Meine Laune verbesserte sich schlagartig. AB Negativ galt unter Vampiren aufgrund seiner Seltenheit als der Cadillac unter den Blutgruppen. Wenn man die Übelkeit, die Schusswunde und den Kampf mit den Werwölfen bedachte, die ich heute bereits über mich hatte ergehen lassen müssen, erschien mir Maisies Idee wie ein Geschenk des Himmels. »Gerne!« Sie wärmte zwei Blutbeutel in einer Mikrowelle auf und schüttete den Inhalt in zwei hohe Gläser. Als mir der Duft in die Nase stieg, fingen meine Eckzähne an zu pochen, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Endlich reichte sie mir eines der Gläser und hob ihr eigenes. »Auf unsere Familie.« Ich stieß mit ihr an. Da ich selbst nicht die besten Erfahrungen mit unserer Familie gemacht hatte – schließlich hatte meine Großmutter eine Woche zuvor versucht, mich umzubringen – formulierte ich meine Erwiderung so, dass auch ich mich damit wohlfühlen konnte. »Auf einen Neubeginn.« Ich hatte gerade den ersten Schluck gekostet, als Maisie sagte: »Du und Adam also?« Ich spuckte das Blut in hohem Bogen wieder aus und hustete. Sie klopfte mir auf den Rücken. »Oh, tut mir leid!«
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Hastig wischte ich mir die rote Brühe mit dem Taschentuch vom Kinn, das sie mir reichte. »Danke«, sagte ich mit heiserer Stimme. »Hab mich verschluckt.« Sie warf mir einen verwirrten Blick zu. »Willst du nicht über Adam sprechen?« Ich leckte mir die Lippen. »Nein, das nicht. Es gibt nur einfach nichts zu sagen.« »Sabina, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber als ich die Tür aufgemacht habe, saht ihr beide so aus, als wolltet ihr euch gegenseitig verschlingen. Ich würde behaupten, darüber kann man durchaus reden.« Ihre Beschreibung unseres Kusses ließ mich innerlich zusammenzucken. »Hör zu, es ist keine große Sache. Ich glaube, da war eher Neugier im Spiel als was anderes.« »Neugier? Wolltest du etwa wissen, wie seine Mandeln schmecken?« Ich rollte mit den Augen. »Nein. Ich will damit nur sagen, dass wir viel Zeit miteinander verbracht haben und beide gesunde Erwachsene sind. Da ist es doch nur natürlich, dass man neugierig auf den anderen ist.« Das war selbstverständlich völliger Humbug. Diese Neugier hatte ich bereits in Kalifornien befriedigt, und ich konnte nicht behaupten, dass ich in der Zwischenzeit vergessen hatte, wie sich sein Mund anfühlte. Auch wenn ich das nie offen zugegeben hätte. »Hm«, meinte Maisie. »Dann hast du also nicht vor, das Ganze weiter zu verfolgen, wenn er wieder da ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Garantiert nicht. Versteh mich nicht falsch, ich finde Adam toll.« Sie nickte zustimmend. »Aber es würde nicht funktionieren.« Jetzt runzelte sie die Stirn. »Und warum nicht?« Ich wollte ihr gerade eine lange Liste von Gründen aufzählen, als ich innehielt. Maisie mochte vielleicht meine Schwester sein, aber ich hatte nicht vor, ihr mein Herz auszuschütten. Darüber zu 74
reden hätte dem Ganzen mehr Bedeutung verliehen, als ich wollte. Adam war schließlich nicht der erste Mann, der mir in meinen vierundfünfzig Jahren gefallen hatte. Ich bin kein kicherndes Schulmädchen mehr, das glaubt, ein einziger Kuss bedeutet gemeinsames Glück bis ans Lebensende. Bräute wie ich finden kein Glück bis ans Lebensende. Ich war gerade mal in der Lage, Glück für ein oder zwei Nächte zu finden. Aber selbst die Vorstellung, diese Nächte mit einem Magier zu teilen – so wie es mein Dad gewesen war -, warf alle möglichen Freud’schen Fragen auf, denen ich nicht weiter nachgehen wollte. »Einen Moment mal«, sagte ich und drehte den Spieß um. »Sollte dir der Kuss nicht eigentlich etwas ausmachen? Ich meine, was ist mit dem Verbot der Rassenvermischung und so?« Maisie zog die Augenbrauen hoch. »Erstens: Wer bin ich, so etwas zu verurteilen, wenn du und ich das Resultat einer solchen Verbindung sind? Und zweitens …« Sie zuckte mit den Achseln. »… du bist sowieso zur Hälfte Magierin, also trifft das Gesetz in diesem Fall nicht zu.« »Aha«, murmelte ich und seufzte. »Hör zu, es war eine lange Nacht. Das Letzte, was ich jetzt will, ist über einen Kuss sprechen, der sowieso keinerlei Bedeutung hatte.« Maisie lehnte sich zurück. »Okay, ich lass dich erst mal in Ruhe damit. Aber ich muss dich warnen: Adam gehört zu meinen besten Freunden. Ich möchte auf keinen Fall, dass er verletzt wird.« Ich lachte. »Keine Sorge. Ich kann dir versichern, dass es keinesfalls auf meiner Prioritätenliste steht, Adam wehzutun. Er ist auch mein Freund, vergiss das nicht, und ich habe den größten Respekt für ihn. Das ist auch der Grund, warum das, was da passiert ist, nicht nochmal passieren wird.« Sie kniff die Augen zusammen und sah einen Moment lang so aus, als wolle sie noch etwas hinzufügen. Doch dann überlegte sie es sich offenbar anders. »Gut, ich hab’s verstanden.«
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Frustriert trank ich den letzten Schluck Blut. Der chemische Nachgeschmack ließ mich das Gesicht verziehen. »Die Sonne geht bald auf. Ich sollte mich besser aufs Ohr hauen.« Sie nickte, während sie gedankenverloren mit ihrem Glas spielte. »Gute Idee. Du brauchst den Schlaf, um morgen Abend fit zu sein.« Ich stellte mein Glas ab, insgeheim froh, endlich das Thema wechseln zu können. »Was gibt es denn morgen Abend so Wichtiges?« »Wir fahren zum Landsitz des Rates in der Nähe von Sleepy Hollow, um dort mit deiner Visionssuche zu beginnen.« Ich runzelte die Stirn. Bilder von drogenberauschten Schamanen stiegen vor meinem inneren Auge auf. »Was bedeutet eigentlich Visionssuche?« Sie zuckte mit den Schultern. »Das Ganze ist eigentlich ziemlich schmerzlos. Du trinkst einen speziellen Tee, der Visionen auslöst. Danach deuten wir die Bilder, um zu bestimmen, wie dein weiterer magischer Weg aussieht.« Ich rieb mir die Stirn. Dieses ganze Gerede über Symbole und ähnliches Eso-Zeug verursachte mir Kopfschmerzen. »Kann ich dich was fragen?« Sie lächelte. »Natürlich.« »Habt ihr eigentlich mal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ich gar keine magischen Fähigkeiten besitze?« Maisie verschränkte die Arme und lächelte. »Natürlich nicht. Sabina, du hast mit Giguhl deinen spirituellen Begleiter gefunden, und ich würde behaupten, das ist ein recht eindeutiger Hinweis auf eine gewisse magische Veranlagung.« Ich schüttelte den Kopf. »Ja schon, aber ist das nicht ziemlicher Standard?« »Das Herbeirufen eines solchen Wesens ist Grundlagenwissen – ja. Aber die meisten Magier können einen Dämon nur beherrschen, solange er einen bestimmten Zauber ausführen soll. Sehr wenigen gelingt es, einen Dämon länger unter Kontrolle zu hal76
ten. Allein die Tatsache, dass dir das gelingt, obwohl du kaum einen Gedanken daran verschwendest, ist bemerkenswert.« Ich rollte mit den Augen. Wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, mich zu fragen – wozu aber offensichtlich niemand bereit war -, hätte ich ihm erklären können, dass ich Giguhl keineswegs unter Kontrolle hatte. Natürlich konnte ich ihm befehlen, die Gestalt zu ändern, aber ansonsten verbrachte ich die meiste Zeit damit, den Schaden in Grenzen zu halten, den er anzurichten versuchte. Oder mich mit ihm zu streiten. Ich mochte mich irren, aber wenn ich Giguhl tatsächlich im Griff hätte, sollte er dann nicht … na ja … irgendwie unterwürfiger sein? »Am besten«, meinte Maisie, »gehst du jetzt schlafen. Morgen wissen wir mehr und können uns überlegen, wie es weitergeht. Bis dahin solltest du dir keine Gedanken machen.« Ich nickte. »Dann also bis morgen Abend.« Damit stand ich auf und ging zur Tür. »Ach, Sabina? Du solltest bis zur Visionssuche besser nichts mehr essen.« Mit der Hand am Türknauf hielt ich inne. Wenn ich daran dachte, dass ich bereits einen Großteil dieser Nacht in kniender Verehrung der Göttin der Porzellanschüssel verbracht hatte, fand ich Maisies Versicherung, dass die Visionssuche relativ schmerzlos sein würde, nach diesem Hinweis nicht mehr sonderlich beruhigend. »Warum?«, fragte ich misstrauisch. Maisie dachte einen Moment lang nach. »Mit leerem Magen bist du in diesem Fall einfach besser dran. Glaub mir.« Es war offensichtlich, dass sie nicht nur Blut meinte, das ich nicht zu mir nehmen sollte. Es ist nämlich ein Mythos, dass wir Vampire zu den Untoten gehören. Diese alten Filme, in denen behauptet wird, wir würden nichts anderes zu uns nehmen als Blut, irren sich gewaltig. In Wahrheit kommen wir genauso auf die Welt wie Menschen. Wir haben Hunger und Durst und befriedigen diese Bedürfnisse mit gewöhnlicher Nahrung. Der ein77
zige Unterschied besteht darin, dass wir hie und da auch unseren Blutdurst stillen müssen. Essen allein hält uns nicht am Leben, aber wir lassen uns einen guten Cheeseburger genauso schmecken wie die meisten Sterblichen auch. Als ich endlich auf den Weg in mein Zimmer war, wurde mir klar, dass mich Maisie noch nicht wirklich kannte. Sonst hätte sie nicht angenommen, dass ich jemandem einfach so vertraute – auch nicht, wenn dieser Jemand meine Schwester war.
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»Das habe ich heute erhalten.« Orpheus warf einen Brief auf seinen Schreibtisch. Sein Büro befand sich im Erdgeschoss, zusammen mit sämtlichen anderen Verwaltungsräumen des Hekate-Rats. Er stand hinter seinem schweren Schreibtisch aus Eiche und wirkte in diesem Moment eher wie ein wütender Politiker als wie ein ehrwürdiger Magier. Er hatte Maisie und mich in sein Büro gerufen, als wir gerade auf dem Weg in den Innenhof waren, wo wir in ein Auto steigen und zum sogenannten Scheideweg bei Sleepy Hollow fahren wollten. Zuerst war ich dankbar für die Verzögerung. Nach Maisies Warnung, besser mit leerem Magen zur Visionssuche zu kommen, freute ich mich nicht gerade auf ein weiteres – möglicherweise ekelerregendes – Ritual. Doch als ich den Brief öffnete und mich einem Juristen-Blabla gegenübersah, das meine Augen schmerzen ließ, verschwand das Gefühl der Dankbarkeit schlagartig.
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Maisie las über meine Schulter hinweg mit. Ich reichte ihr das Blatt Papier, das sie noch eine Weile überflog, ehe sie mich mit großen Augen ansah. »Was ist das?«, wollte ich wissen. »Das«, sagte sie mit grimmiger Miene, »ist die Folge deiner gestrigen Auseinandersetzung im Central Park. Der Schatten verlangt ein Duell.« Ich sah sie fassungslos an. »Wie bitte?« Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. »Offenbar wurden Werwölfe verletzt, die unter dem Schutz des Schattens stehen«, erklärte Orpheus. »Er verlangt nun, dass Sie mit dem Anführer des Rudels kämpfen, um für Ihr Vergehen zu büßen.« »Könnte mir bitte endlich mal jemand erklären, wer oder was dieser Schatten eigentlich ist?«, fragte ich neugierig. Die Werwölfe hatten diesen Namen im Central Park so ehrfürchtig genannt, als sprächen sie von einer mysteriösen Naturgewalt. Ich wollte endlich wissen, warum ich mir überhaupt Gedanken über jemanden machen sollte, der sich »der Schatten« nannte. »Er ist ein Vampir«, erwiderte Maisie. »Er herrscht über den Schwarzlichtbezirk. Der Rat der Hekate vertraut ihm, den Frieden zwischen den nicht-magischen Schattengeschlechtern in der Stadt zu wahren. Du hast Glück, dass es nur ein Duell ist. Normalerweise ist er nicht gerade dafür bekannt, solche Verstöße gegen das Gesetz auf die leichte Schulter zu nehmen.« »Wie bitte? Du glaubst doch wohl nicht, dass ich an einem Duell teilnehme?« Zwei ernste Blicke richteten sich auf mich. Ich sah die beiden fassungslos an. »Sabina, Sie haben gegen das Gesetz verstoßen«, sagte Orpheus. »Das Wildern auf Werwolf-Territorium ist verboten. Und selbst wenn man diesbezüglich noch ein Auge zudrücken könnte, haben Sie immer noch zwei Werwölfe verletzt, die unter dem Schutz des Schattens stehen. Es ist das gute Recht des 79
Leittiers des Rudels, Sie in diesem Fall zu einem Duell herauszufordern.« »Aber ich habe gar nicht gewusst, dass ich verbotenes Territorium betrete«, protestierte ich. »Und außerdem haben sie mich verfolgt. Warum soll ich bestraft werden, wenn ich mich nur verteidigt habe?« »Unwissen schützt vor Strafe nicht«, entgegnete Orpheus ungnädig. »Die Beziehungen zwischen den Schattengeschlechtern sind mit dem drohenden Krieg ohnehin schwierig genug geworden. Wenn ich mich über den Wunsch des Schattens hinwegsetze, sende ich damit die falschen Signale an die Werwölfe und Vampire dieser Stadt. Sie werden also morgen Abend beim Schatten vorstellig, und Sie werden sich diesem Kampf stellen. Haben Sie verstanden?« »Und wenn ich mich weigere?« Orpheus starrte mich grimmig an. »Dann – Maisies Schwester hin oder her – liefere ich Sie persönlich beim Schatten ab.« Rhea wartete bereits mit Giguhl und der jungen Magierin, die ihr beim Reinigungsritual assistiert hatte, im Hof auf uns. Bei der Erinnerung an den widerwärtigen Zaubertrank, den ich hatte trinken müssen, stieg mir von Neuem die Galle hoch. »Das ist meine Assistentin – Damara«, stellte Rhea die junge Frau vor. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass sie uns bei der Visionssuche hilft.« Ich zwang mich dazu, das Mädchen anzulächeln. »Nein. Hallo, Damara.« Die Assistentin ignorierte meine ausgestreckte Hand und wandte sich stattdessen an Rhea. »Wollen wir?« Ich versuchte, ihre abfällige Geste nicht allzu ernst zu nehmen. Sie war noch jung und steckte in Anbetracht ihrer nachlässigen Haltung und der schwarzen Klamotten vermutlich mitten in einer Art Teenager-Rebellion. »Ich zuerst!«, brüllte Giguhl. 80
Er hatte darauf bestanden, mitzukommen. Einen Moment lang hatte ich mir überlegt, abzulehnen, doch dann hielt ich es für vernünftiger, ihn in meiner Nähe zu haben. Auf diese Weise konnte ich ihn im Auge behalten, und er würde hoffentlich weniger Schwierigkeiten machen. Ich packte ihn am Arm, ehe er sich ins Auto stürzen konnte. »Du sitzt hinten. Wir lassen Rhea oder Maisie vorne sitzen.« »Mir macht es nichts aus, hinten zu sitzen«, erklärte Maisie. »Giguhl kann es sich zwischen uns bequem machen.« Es blieb mir also nichts anderes übrig, als mich mit meinem Dämon und meiner Schwester auf den Rücksitz zu quetschen. Natürlich hätte es schlimmer kommen können. Zumindest hatte Giguhl die Arschkarte gezogen und hockte in der Mitte. Wir fuhren bereits eine Dreiviertelstunde. New Yorks Beton und Stahl wurden nach einer Weile von Bäumen und einem weiten Himmel abgelöst. Ich wandte den Kopf und blickte zum Mond hinauf. Ein Schatten huschte vorüber. Flügel. Es sah ganz so aus, als sei Stryx rechtzeitig zur Visionssuche eingetroffen. »Sabina?«, fragte Maisie und sah hinter Giguhls riesigem grünen Kopf zu mir hinüber. »Es tut mir leid, wenn Orpheus vorhin etwas ruppig gewesen ist.« Ich wandte mich ihr zu. »Ich verstehe sowieso nicht, welche Position er innehat. Bisher habe ich geglaubt, du bist hier die Ratsvorsitzende.« »Theoretisch bin ich das auch. Aber im Grunde diene ich nur als Galionsfigur. Früher herrschte eine spirituelle Gruppe über die Magier, aber inzwischen haben wir uns in eine Art Demokratie verwandelt. Der Rat wird gewählt, aber meine Stellung wird noch immer vererbt. Meine Rolle als Vorsitzende ist eher geistiger oder diplomatischer Natur. In Wahrheit hält Orpheus die Zügel in der Hand. In gewisser Weise funktioniert das bei uns wie in England mit der Königin und dem Premierminister.«
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»Verstehe«, sagte ich. »Das erklärt auch, warum er sich solche Sorgen um die Beziehungen zwischen den Schattengeschlechtern macht.« »Genau. Es tut mir leid, dass du zu diesem Duell musst, aber das lässt sich nicht vermeiden.« »Ein Duell?«, fragte Giguhl und richtete sich interessiert auf. »Erzähl ich dir später.« Orpheus’ unbarmherzige Art hatte mich geärgert, aber in Wirklichkeit freute ich mich fast auf das bevorstehende Duell. Diese ganze Magie-Geschichte gab mir das Gefühl, nicht ganz Herr der Lage zu sein. Aber ein Duell? Nun – damit kannte ich mich aus. »Warum liegt das Anwesen eigentlich so weit außerhalb von New York?«, erkundigte ich mich jetzt, um das Thema zu wechseln. Rhea drehte sich zu mir um und sah mich an. »Der Rat der Hekate zieht es vor, einen sicheren Ort für unsere heiligen Rituale zu benutzen. In New York ist es schwieriger, das Umfeld genau zu kontrollieren. Außerdem genießen wir es, dort draußen so viel Platz zu haben. Und natürlich ist da auch noch der Heiligen Hain. Unter dem Hain verläuft eine Ley-Linie.« »Eine Ley-Linie?«, wiederholte Giguhl. Ich war froh, dass zur Abwechslung mal er seine Unkenntnis zur Schau stellte und ich mir nicht schon wieder die Blöße geben musste. Der Begriff kam mir zwar bekannt vor, aber die Tatsache, dass ich mich nicht genau daran erinnern konnte, was es war, führte mir erneut vor Augen, wie unwissend ich war, wenn es um magische Dinge ging. »Eine Ley-Linie ist so etwas Ähnliches wie ein Bach aus konzentrierter magischer Energie, der sich durch die Erde zieht«, sagte Maisie. »Sie verleiht unseren Ritualen und Zaubersprüchen mehr Kraft.« »Außerdem«, fuhr Rhea fort, »sind wir gerne dort draußen, weil in Sleepy Hollow so viele Magier leben. Die chaotische Energie von New York sagt vielen von uns nicht zu. Die sterbli82
chen Dorfbewohner halten die Magier nur für Menschen, die einer seltsamen heidnischen Religion angehören und verstehen sich gut mit ihnen. Es ist wirklich nett.« Schon bald erleuchteten die Scheinwerfer des Autos zwei große Eisentore, die in der Mitte der Straße auftauchten. Gemeinsam bildeten die Tore das Rad der Hekate ab, so wie ich es bereits vor dem Prytania Place gesehen hatte. Unter dem Symbol prangten große Buchstaben, die den Namen des Anwesens verkündeten. »Scheideweg?«, las ich laut vor. »Hekate ist die Göttin der Wegkreuzungen«, erklärte Maisie. »Unter anderem.« Die ganze Umgebung vibrierte förmlich vor Magie. Mir fielen allerdings auch einige weltliche Sicherheitsvorkehrungen auf, wie sie mir Adam am Abend zuvor im Prytania Place gezeigt hatte. »Das erinnert mich an das Adamantine-Tor in Irkalla«, sagte Giguhl, der sich neugierig umsah. »Die Einzige, die noch fehlt, ist diese verdammte Hündin Zerberus.« Ich warf ihm einen überraschten Blick zu. »Wie bitte? Sag bloß, der dreiköpfige Höllenhund ist in Wirklichkeit eine Hündin?« »Ja. Eine Hündin, die auf alle Ewigkeit unter prämenstruellem Zickentum leidet.« »Schön, dass ich das jetzt auch weiß.« Ein lange ungeteerte Straße führte einen weiteren Kilometer durch dichten Wald, ehe das Haus wie eine Vision zwischen den Bäumen auftauchte. Das Gebäude bestand aus einer Ansammlung von Steintürmen, Balkonen und kompliziertem geometrischen Schmuckwerk in Terrakotta und Ocker. Neugierig wanderte mein Blick über die Fassade, während ich versuchte, das farbenfrohe Mosaik der verschiedenen Architekturrichtungen im Ganzen zu erfassen. Maurische, viktorianische und gotische Elemente sowie hier und da ein Schuss Prairie-Stil mischten sich hier völlig ungehemmt.
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Ich hatte noch nie zuvor etwas Ähnliches gesehen und nicht erwartet, dass der offizielle Sitz des Hekate-Rats so eigentümlich anmuten würde. In Kalifornien war das Anwesen der Dominae ein imposantes Gebäude im mediterranen Stil gewesen, wohingegen mich das hier an ein Haus aus Ali Baba und die vierzig Räuber oder einem Märchen der Gebrüder Grimm erinnerte. Damara hielt den Wagen vor den Stufen an, die zu einem breiten Bogengang hinaufführten. Ich stieg aus und betrachtete das Gebäude aus der Nähe. Von hier wirkte es so eindrucksvoll wie die Behausung eines exzentrischen Hexers. Rhea klatschte in die Hände und rieb sie dann zufrieden aneinander. »In Ordnung. Wer hat Lust auf Visionssuche?«
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Mir wurde augenblicklich sterbensübel. Ich rollte mich auf dem Laubhaufen in Embryonalstellung zusammen. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn und rann mir unangenehm den Nacken hinab. »Entspannen und nicht dagegen ankämpfen. Das geht bald vorüber«, sagte Rhea und tupfte mir das Gesicht mit einem feuchten, kühlen Tuch ab. Ich hievte mich hoch und würgte, bis ich meinen Mageninhalt über die Wurzeln einer alten Eiche entleert hatte. Zwischen den Würgeanfällen verfluchte ich Rhea immer wieder laut und heftig. Sie strich mir ungerührt über den Rücken und ertrug meine Beleidigungen schweigend. Als keine Galle mehr hochkam, die ich hätte ausspucken können, ließ ich mich auf den Rücken fallen und schloss die Augen. 84
In meinem Bauch gurgelte es. »Wenn ich mir jetzt noch in die Hose mache, werde ich Sie umbringen.« Ich wollte mich auf die Seite wenden. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich befürchtete eine weitere Attacke. Vorsichtshalber blieb ich regungslos liegen und atmete durch die Nase, bis auch dieser Anfall vorüber war. Verdammt war Maisie mit ihrem »Das Ganze ist ziemlich schmerzlos«! Wenn die Welt um mich herum aufgehört hatte, sich zu drehen, würde ich ihr zeigen, was »relativ schmerzlos« bedeutete. »Ich hasse euch alle.« Rhea lachte leise. »Ich weiß. Es ist gleich vorbei. Und dann kommen die Visionen.« Ich schluckte. Wenn ich meine bisherigen Erfahrungen bedachte, freute ich mich nicht gerade auf den Teil mit den Visionen. Rhea hatte mir ebenso wie meine Schwester erklärt, dass die Visionen einen Aufschluss über meinen weiteren magischen Weg geben würden. Für mich sah es momentan allerdings eher so aus, als ob dieser Weg voller Erbrochenem sein würde. Als ich kurz zuvor von Rhea zum Eichenhain geführt worden war, hatten mich die Fackeln überrascht, die die Lichtung säumten und Rheas Gesicht in orangefarbenes Licht tauchten. Als ich den Steinaltar in der Mitte erblickt hatte, war ich automatisch langsamer geworden. Meine Begleiterin jedoch hatte mir die Hand auf den Rücken gelegt und mich dazu veranlasst, weiterzugehen. Je näher ich kam, desto stärker wurde ich von einer seltsamen Energie erfasst. Mit jedem Schritt nahm das Gefühl zu. Ich sah mich zu Maisie um, die mir ermutigend zunickte. Giguhl streckte beide Daumen in die Höhe und trat dann zu Damara an den Rand des Hains. Ich holte tief Luft und versuchte, nicht die Nerven zu verlieren. Ein Teil von mir fragte sich, warum ich mich überhaupt diesen seltsamen – und übelkeiterregenden – magischen Ritualen aus85
setzte. Ein anderer Teil meines Selbst jedoch wusste, dass ich fast alles tun würde, wenn ich meine Großmutter damit auf die Palme bringen konnte. Sie hasste Magier mehr als alles andere auf der Welt. Nichts würde sie mehr ärgern, als herauszufinden, dass ich auf die Seite des Erzfeindes übergelaufen war. Vielleicht war das nicht gerade rational, aber mir gefiel die Vorstellung, ihr bei unserem nächsten Wiedersehen mit ein paar hinterhältigen Zaubertricks einheizen zu können. Und wenn es nötig war, dazu dieses verrückte Visionszeugs mitzumachen, wollte ich das gern auf mich nehmen. Es herrschte eine eigentümlich feierliche Stimmung, weshalb es mich überraschte, als Rhea plötzlich eine knallrote Thermosflasche aus ihrem Rucksack zog, den sie dann neben sich auf den Boden stellte. Ohne großes Gerede goss sie den Tee in eine kleine Plastiktasse. »Wohl bekomm’s!« Ich roch erst einmal vorsichtig daran. »Das stinkt ja widerlich.« Rhea nickte. »Ich weiß. Trink es einfach.« Sie legte eine Hand unter die Tasse, um sie an meine Lippen zu führen. Was konnte ich anderes tun? Ich brachte es lieber schnell hinter mich. Der erste Schluck ließ mich beinahe alles wieder ausspucken. Als sie den Tee zum ersten Mal erwähnt hatte, war ich davon ausgegangen, es wäre so etwas wie Earl Grey oder eine Zitronen-Ingwer-Mischung. Stattdessen war es eine ölig bittere Brühe, die irgendwie hinterhältig schmeckte. »Was zum Teufel ist das?« »Ayahuaca.« »Aja… Was?« Sie wiederholte den Namen langsam. »Übersetzt bedeutet das ›Seelenranke‹. Man findet diese Liane nur im Amazonasgebiet. Schamanen benutzen sie, um Visionen hervorzurufen und das zweite Gesicht zu wecken. Dieser Tee hat auch noch andere Zutaten, aber wenn ich dir die verrate, müsste ich dich töten«, scherzte sie ein wenig lahm. 86
Ich fragte mich, ob mich der Tee nicht vielleicht ohnehin umbringen würde, ehe ich die anderen Zutaten erfuhr. »Jetzt aber los«, sagte sie. »Runter damit.« »Sie machen wohl Witze. Ich werde alles wieder auskotzen.« Sie murmelte etwas, das so klang wie »Wenn du wüsstest …« Laut sagte sie: »Hör auf, so wehleidig zu sein. Je schneller man trinkt, desto weniger bemerkt man den Geschmack.« Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu. Dann zuckte ich mit den Achseln und trank den Rest des widerwärtigen Gebräus in einem Zug aus. Keuchend schleuderte ich den Becher von mir und starrte Rhea wütend an. »Siehst du? So schlimm war das doch gar …« Sie redete weiter, doch ich vermochte ihr nicht mehr zuzuhören, da ich mich bereits zusammenkrümmte. Die erste Welle einer heftigen Übelkeit hatte mich erfasst. Eine halbe Stunde der Qualen war seitdem vergangen, und jetzt schien sich die Lage allmählich etwas zu beruhigen. Bisher hatte mich selbst ein leichter Windhauch wieder grün um die Nase werden lassen, doch jetzt konnte ich sogar die Augen aufmachen, ohne mich nach der süßen Erlösung des Todes zu sehnen. »Geht es besser?«, fragte Rhea und beugte sich mitfühlend über mich. Da ich mir noch nicht zutraute, zu sprechen, nickte ich nur und blickte dabei zu den schattigen Ästen und Blättern hinauf. Ein kühler Wind wehte über die Lichtung. Das Laub tanzte wie Herbstkonfetti. »Seltsam«, sagte ich. Während die Blätter so durch die Luft wirbelten, hinterließen sie bunte Lichtstreifen am Himmel und zwischen den Bäumen. »Was ist seltsam?« »Diese Blätter.« Ich wollte die Hand heben, um ihr zu zeigen, was ich meinte, aber es gelang mir nicht. Meine Hand sank wieder schwer herab. »Was ist mit den Blättern?« 87
»Hübsch.« Mein Körper fühlte sich auf einmal unendlich schwer an, als hätte ich in der Erde Wurzeln geschlagen. Die Ley-Linie surrte in meinen Ohren und schien mich leise zu rufen. Rhea klopfte mir beruhigend auf die Schulter. »Entspann dich und lass die Bilder kommen.« Ich nahm ihre Worte kaum mehr wahr. Meine Gedanken schossen kreuz und quer durcheinander und rollten dann wie kleine Quecksilberkugeln durch meinen Kopf. Blätter wirbelten um mich herum und hinterließen neonfarbene Spuren. Sie verliefen in hypnotisierenden Wellenlinien, gewannen an Geschwindigkeit und änderten immer wieder die Richtung. Hier und da schossen sie wie Pfeile an bunten Bändern auf mich zu. Orange und Lila verwandelten sich in Blau und Rot. Die Bänder umschlangen einander und bildeten eine Doppelhelix: Meine DNS leuchtete am Nachthimmel auf. Das Bild steigt über mir auf. Immer höher und höher und höher. Flatternd trennen sie sich die Bänder. Blauhäher und Roter Kardinal segeln empor. Honigsüßer Gesang. Ohne Worte, dennoch verstehe ich. Gelächter. Sie singen auf einem Ast. Mein Lied. Das Lied meiner Schwester. Bewegung, Verwandlung. Eine Schlange zeigt sich, gleitet auf die beiden zu. Ich muss sie warnen. Fort mit euch. Fliegt! Die Schlange reißt ihr Maul auf und wartet. Blau und Rot fliegen in die dunkle Höhle. Rubinrote Augen funkeln hinter schwarzen Schuppen. Erstarrt. Ein Mund öffnet sich. Gibt den Blick frei auf blutiges Eisen. Zähne. Die Skelettuhr tickt. Tick. Tick. Wind peitscht um mich wie der Schwanz der Schlange. Schuppen kratzen über meine Haut. Eine gespaltene Zunge leckt die Tränen fort. Nein. NEIN. NEIN! Eiserne Eckzähne blitzen auf, bohren sich tief hinein, saugen. Zuerst Blut, dann Fleisch. Ewig abwärts. 88
Fester Grund weicht großer Leere. Leise tropft Wasser. Feuchtkalte Angst. Überall Dunkelheit. Schatten über Schatten. Seelen flüstern aus dem Jenseits: »Wir werden gehorchen.« Aus dem Scheideweg lösen sich die Mitternachtshunde. Lodernde Augen locken, bedeuten mir, ihnen zu folgen. Tiefer hinein in die Höhle. Immer tiefer. Blut tropft von Stalaktiten in ein Becken. Düsteres Flüstern. Unheimliches Lachen. Ein schwarzer Schwan gleitet über die funkelnde Oberfläche. Gesichter spiegeln sich darin. Gesichter, die ich kannte. Gesichter, die ich liebte. Gesichter, die ich tötete. Sie steigt aus dem Wasser auf. Trockene weiße Gewänder flattern in einer unmerklichen Brise. Sie leuchtet von innen heraus. Unberührbar. Unwirklich. Ich sinke auf die Knie. Vergib mir. Jetzt schluchze ich. Es tut mir so leid. Ich küsse den Saum ihres Kleides. Der Kuss des Schmetterlings auf meiner Haut. Und fort ist sie, fort. Schon wieder. Die Skelettuhr tickt noch immer. Tickt und tickt. Es ist Zeit zu gehen. Ein Mann taucht auf. Sein Gesicht liegt im Schatten. Unbekannt und doch vertraut. Tot und doch am Leben. Er nimmt meine Hand. Zusammen steigen wir in die Lüfte. Ich bin der Lufthauch auf meinem Gesicht. Ich bin der Schwanz der Schlange. Ich bin das Ende und der Anfang. Ich bin die Nacht. Ich bin die Nacht. Ich bin die Nacht.
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Im Zimmer herrschte Schweigen, als ich zu Ende gesprochen hatte. Zu meiner Erleichterung hatte Damara Giguhl auf eine Tour über das Anwesen mitgenommen, damit wir anderen ungestört miteinander reden konnten. Es war schwer genug für mich, Maisie und Rhea von meinen gruseligen Visionen zu erzählen. Schlimmer jedoch fand ich ihre ausdruckslosen Mienen, als ich ihnen alles berichtet hatte. Meine Erscheinungen schienen ihnen nicht zu behagen. Maisie räusperte sich. »Bist du dir sicher, dass das alles war?« Ich nickte. »Ich glaube schon. Warum?« Rhea und meine Schwester tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus. »Die Bilder, von denen du uns erzählt hast, bestätigen eine Vision, die Maisie vor ein paar Monaten hatte.« »Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«, wollte ich wissen. Persönlich tendierte ich eher zu schlecht, da die Düsterheit der Vision noch immer auf mir lag wie ein unheimlicher Schatten. Die Frauen schwiegen, als müssten sie sich erst überlegen, wie viel sie mir anvertrauen konnten. »Könnte eine von euch mir bitte endlich sagen, was diese Bilder bedeuten?« Rhea lächelte. »Sabina, was weißt du über das Praescarium Lilitu?« »Das Buch der Prophezeiungen?« Ich verschränkte die Arme. »Adam hat mir in Kalifornien erzählt, ihr glaubt, einige der Prophezeiungen, die Lilith in diesem Buch festgehalten hat, würden eines Tages wahr werden – was auch immer das bedeutet.« »Er hat Recht. Es wird so kommen, wie es geschrieben steht«, erwiderte Maisie. »Und deine Vision hat das gerade bestätigt.«
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»Augenblick mal.« Ich hob die Hand. »Woher willst du das wissen? Adam hat doch gesagt, die Nod-Kaste besäße die vermutlich einzige Kopie des Praescarium Lilitu.« Die Nod-Kaste war ein sagenumwobener Geheimbund der Schattengeschlechter. Soweit ich das beurteilen konnte, schien niemand so recht zu wissen, was genau sie trieb. Man wusste nur, dass sie das Buch beschützten. Ihr Name wurde allerdings bereits seit Jahrhunderten dazu benutzt, Kindern Angst und Schrecken einzujagen – sozusagen die Schattengeschlechter-Version des Schwarzen Mannes. »Stimmt, wir haben keinen Zugang zum heiligen Text, aber über die Jahrhunderte kamen uns immer wieder Teile der Prophezeiungen zu Ohren. Und Maisies Visionen während der letzten Monate bestärken, was wir bereits von den Vorhersagen wissen.« »Und was hat das mit mir zu tun?« Dieses Gerede über Geheimbünde und Prophezeiungen machten mich ausgesprochen nervös. »Was du uns gerade erzählt hast, zeigt uns, dass du eine chthonische Magierin bist.« Rhea sah mich erwartungsvoll an, als hätte sie soeben etwas Ungeheuerliches enthüllt. Ich hingegen hatte nicht die leiseste Ahnung, was ein chthonischer Magier sein sollte. »Und?« »Ein chthonischer Magier wirkt seine Zauber mit schwarzer Energie«, flüsterte Maisie mir zu. »Schwarze Energie? So wie schwarze Magie?« »Die Vorstellungen von schwarzer und weißer Magie stammen von unwissenden, abergläubischen Sterblichen«, erklärte Rhea. »In Wahrheit gibt es weder das absolut Gute noch das absolut Böse. Chthonische Magier sind in der Lage, die Urenergie der Erde anzuzapfen. Hier geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um Dinge wie Tod, Fruchtbarkeit, die Unterwelt oder die dunkle Seite der weiblichen Macht.« »Chthonische Kräfte sind sehr selten«, fügte Maisie hinzu, »und die Tatsache, dass du sie besitzt, ist unglaublich! Sowohl 91
Lilith als auch Hekate sind chthonische Gottheiten, und deine Kräfte sind eng an ihre göttliche Energie gebunden.« Die beiden sahen mich erwartungsvoll an. Ihre Augen funkelten vor Aufregung – eine Aufregung, die ich nicht im Geringsten teilen konnte. »Komisch. Dabei fühle ich mich gar nicht chthonisch.« Maisie runzelte die Stirn. Offensichtlich fand sie meine Bemerkung nicht sonderlich lustig. »Hier kommt Rhea ins Spiel. Sie wird dir beibringen, diese Energie nutzbar zu machen. Wenn du dazu in der Lage bist, wirst du eine eindrucksvolle Magierin sein.« Ich seufzte. »Hört zu. Ich kann sehen, dass ihr das Ganze für eine große Sache haltet, aber mir fällt es trotzdem schwer, das alles zu glauben. Wenn ich so mächtig bin, wieso war ich dann bisher nicht in der Lage, irgendetwas Magisches zu vollbringen?« Maisie blinzelte. »Wir haben schon darüber gesprochen. Du hast bereits Magie gewirkt. Allein die Tatsache, dass du nicht nur einen Dämon rufen, sondern ihn auch noch zu deinem Handlanger machen konntest, ist Beweis genug.« Gedankenverloren strich ich mir übers Dekolleté. »Okay, mag sein. Aber wie passt das alles zu der Lilith-Prophezeiung?« Sie wies auf die Tür hinter uns. »Ich muss dir etwas zeigen.« Mein Magen verkrampfte sich. Ein Teil von mir verstand die Bedeutung dessen, was hier geschah. Doch ein anderer Teil meines Selbst wollte nichts damit zu tun haben und schaltete stattdessen auf skeptisch. Maisie führte mich durch das Haus nach oben. Dort betraten wir ein rundes Zimmer in einem der Türme. Rhea folgte uns schweigend und blieb auf der Schwelle stehen. Sterne zierten die indigoblaue Decke und schufen einen künstlichen Nachthimmel. Ein Kreis aus Blut auf dem Boden wies den Raum als magischen Ort aus. In der Mitte befand sich ein großer altarähnlicher Tisch. Es war allerdings kein Altar, denn auf der Tischplatte lagen Tuben mit Ölfarben, verschmierte Lappen und Leinwände. Der Ge92
ruch von Terpentin hing in der Luft, was ich jedoch als nette Abwechslung zur ständigen Sandelholzattacke auf mein Geruchsorgan empfand, der ich seit meiner Ankunft in New York ausgesetzt war. »Was ist das für ein Zimmer?« »Ich nenne es die Sternenkammer. Ich benutze sie immer als Atelier, wenn ich hier bin. Die große Nähe zur Ley-Linie schenkt mir mehr Träume und Visionen als in der Stadt.« Sie trat an eine mit einem Tuch verhüllte Staffelei. »Dieses Bild habe ich gemalt, nachdem ich vor einigen Monaten eine Vision von dir hatte.« Langsam hob sie das Tuch und enthüllte so Zentimeter um Zentimeter eigentümlicher Farbwirbel. Schließlich konnte ich das ganze Gemälde sehen, und einen Moment lang stockte mir der Atem. Die Gestalt in der Mitte war eine Frau mit roten und schwarzen Haaren, die ihr über die Schultern flossen. Sie hatte das Gesicht einer Lichtquelle zugewandt – möglicherweise dem Mond, der jedoch nicht auf der Leinwand zu sehen war. In der rechten Hand hielt sie eine goldene Lotosblüte, in der linken etwas, das an ein Ei erinnerte. Ihr Körper schimmerte vor einem dunklen Hintergrund aus schwarzen, blauen und violetten Wirbeln. Weit unter ihr breitete sich, wie ein Feld versprengter Edelsteine, ein Blumengarten aus. Das ganze Bild verströmte eine verträumt düstere Atmosphäre. Gleichzeitig hatte ich das vage Gefühl, das Ganze schon einmal irgendwo gesehen zu haben. »Hübsch«, murmelte ich und trat näher heran. Jetzt konnte ich auch die Gesichter in den Farbwirbeln des nächtlichen Himmels erkennen. »Und was bedeutet es?« Maisie sah mich aufmerksam an. »Ich hatte die Vision, kurz nachdem die ersten Magier verschwanden. Es war eine schwere Zeit, und ich hatte zu Hekate gebetet, dass sie uns hilft. Ich hatte unserer Großmutter versprochen, nicht nach dir zu suchen, bis sie gestorben war. Sie war diejenige gewesen, die nach unserer Ge93
burt mit den Dominae zu der Übereinkunft gekommen war, uns von der Existenz der anderen nichts zu erzählen. Es ergab also Sinn, denn ein Jahr zuvor war sie verstorben, noch ehe die ersten Magier verschwanden. Der Rat trat in der Hoffnung an mich heran, ich wäre vielleicht in der Lage, die Verschwundenen ausfindig zu machen.« Sie zeigte auf das Bild. »Als ich diese Vision hatte, wusste ich, dass es an der Zeit war, dich zu finden. Und dass du irgendwie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten würdest, die Verschwundenen ausfindig zu machen. Also bat ich Adam, nach Kalifornien zu fahren.« Erneut betrachtete ich die Frau auf dem Gemälde. Obwohl das Gesicht nicht klar zu erkennen war, musste ich doch zugeben, dass ihr rot-schwarzes Haar einen eindeutigen Hinweis auf ihre Identität gab. Oder vielleicht doch nicht? »Aber woher wusstest du, dass ich das sein soll? Du hättest es doch genauso selbst sein können.« Maisie schüttelte den Kopf. »Schau es dir genau an. Sie hat den achtzackigen Stern auf der rechten Schulter.« Ich beugte mich vor und kniff die Augen zusammen. Tatsächlich – da war ein winziger Stern an derselben Stelle, an der ich ihn auch trug. »Moment mal. Ich habe die Fee getroffen, die bei unserer Geburt als Hebamme dabei war. Sie meinte, du hättest dasselbe Mal.« »Das habe ich auch.« Maisie wandte mir ihre linke Schulter zu und zog den Stoff ihres T-Shirts herunter. »Aber mein Stern ist auf der anderen Seite.« »Seltsam.« Mein Muttermal auf Maisies Schulter zu sehen, brachte mich für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Viele Jahre lang hatte ich dieses Mal versteckt, da meine Großmutter glaubte, es sei das Zeichen meiner beschämenden Herkunft. Und nun stand auf einmal jemand vor mir, der dasselbe Zeichen trug, aber keinerlei Scham darüber empfand. »Glaubst du, es bedeutet etwas, dass unsere Muttermale spiegelverkehrt sind?«, fragte ich. 94
Maisie lächelte. »Ich bin ein Orakel, Sabina. Ich glaube, dass alles, was irgendwie mit Symbolen zu tun hat, eine Bedeutung besitzt. Allerdings ich habe keine Ahnung, was es heißen könnte. Ich bin mir aber sicher, wir werden es irgendwann erfahren. Aber selbst wenn das Muttermal kein Hinweis gewesen wäre, so gab es noch andere. Die Tatsache, dass in meiner Vision eindeutig Nacht war, kann als Fingerzeig darauf gesehen werden, dass du als Vampirin lebst und nur nachts aktiv bist. Außerdem deute ich nicht nur die Zeichen. Ich muss auch meinen Instinkten folgen. Und die haben mir in diesem Fall eindeutig gesagt, dass du das bist. Ich habe es mit jeder Faser meines Wesens gespürt.« Im Grunde verstand ich dieses ganze Gerede über Symbole, Prophezeiung und Gefühle nicht, aber ich nickte trotzdem zustimmend. »Dann hat dir diese Vision also zu verstehen gegeben, dass du mich finden musst, um dir bei der Suche nach den Magiern zu helfen. Aber es ging doch noch um mehr – nicht wahr?« »Ja. Der Zeitpunkt der Vision hat mich darauf hingewiesen, dass du etwas mit der Auffindung der Magier zu tun haben könntest. Aber das eigentliche Bild, deine Erscheinung, hat mir gesagt, dass du eine wesentlich größere Rolle spielen wirst. Die goldene Lotosblüte ist eines von Liliths wichtigsten Symbolen. Und die Szene selbst stellt die Flucht Liliths aus dem Garten Eden dar, nachdem Adam sie verschmäht hatte.« Die Erwähnung Liliths machte mir klar, warum mir das Bild so bekannt vorgekommen war. Jeder Vampir kennt die Schattengeschlechter-Version der biblischen Schöpfungsgeschichte. Lilith war die erste Frau im Garten Eden, ebenso wie Adam aus Lehm geformt. Die beiden sollten gleichberechtigt sein, doch als sie von Adam verlangte, während des Geschlechtsakts unter ihr zu liegen, weigerte er sich. Bald hatte sie von seiner Sturheit genug und rief den verbotenen Namen Gottes aus, um so letztendlich aus dem Paradies zu entkommen. »Ich kann mich an die Geschichte erinnern«, sagte ich. »Aber ich verstehe trotzdem nicht, was das mit mir zu tun haben soll.« 95
Nun trat Rhea über die Schwelle ins Zimmer. »Weißt du noch, was wir über die Auserwählte gesagt haben, die uns Schattengeschlechter wieder vereinigen wird? Die uns bekannte Prophezeiung sagt Liliths Rückkehr voraus. Vielleicht denkst du, ich sei wahnsinnig, aber ich halte eine Vision, in der du Liliths Loslösung vom Garten Eden nachvollziehst, für einen deutlichen Hinweis darauf, dass du die neue Lilith bist.« Auf diese Bombe wusste ich keine Antwort. Ich war völlig sprachlos. Nicht etwa, weil ich mich geehrt oder überwältigt gefühlt hätte, sondern weil mir die Vorstellung, die neue Lilith zu sein, einfach vollkommen absurd erschien. Maisie beobachtete mich aufmerksam, während ich versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen. Rhea hingegen verstand mein Schweigen als Ehrfurcht. »Ich weiß, das ist jetzt alles sehr viel auf einmal, aber angesichts des drohenden Kriegs dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir müssen sofort mit deiner Ausbildung beginnen, damit du auf alles vorbereitet bist.« Ich hob beide Hände und schüttelte den Kopf, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. »Jetzt aber mal langsam. Worauf bitte soll ich vorbereitet sein?« »Hast du denn nicht zugehört?«, fragte Rhea. »Dein Schicksal ist es, die Schattengeschlechter wieder zu vereinen. Um das zu vollbringen, musst du lernen, wie du deine Magie am wirkungsvollsten einsetzt.« »Und was genau versteht ihr unter der Wiedervereinigung der Schattengeschlechter, wenn ich fragen darf?« »Du wirst Jahrhunderte der Feindschaft zwischen den Geschlechtern überwinden, uns friedvoll zusammenführen und in eine freie Zukunft geleiten.« Ich stieß ein heiseres Lachen aus. »Dann fange ich besser gleich mal damit an.« »Sarkasmus ist die Krücke der Schwachen«, tadelte Rhea. »So etwas brauchst du nicht.«
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Ich verschränkte die Arme. »Wie wäre es dann damit: Ihr habt beide einen an der Waffel. Ich bin nicht der Typ für eine Anführerin.« »Noch nicht. Aber du wirst es werden«, entgegnete Rhea bestimmt. »Hören Sie, Lady. Ich habe inzwischen ja verstanden, dass Sie diesen ganzen Eso-Mist glauben.« Mit einer ausladenden Geste zeigte ich auf das Bild und meinte damit auch die Prophezeiung, die Visionssuche und alles, was die beiden mir bisher erzählt hatten. Die zwei sahen mich an. »Aber ich bin Realistin. Ich glaube nicht an Schicksal. Ich glaube an keine Prophezeiung. Und ich glaube garantiert nicht an den Unfug, dass ich irgendeine Auserwählte sein soll.« »Warum nicht?«, wollte Maisie wissen. »Weil ich an einen freien Willen glaube. Daran, die Wahl zu haben. Und ich treffe die Entscheidung, nicht die Auserwählte zu sein.« »So funktioniert das aber nicht, Sabina«, erwiderte Rhea. »Das Universum hat einen Plan für dich. Du kannst dich von der Wahrheit abschotten, indem du an die Illusion eines freien Willen glaubst, aber irgendwann werden dich deine Entscheidungen genau dorthin bringen, wo dich das Universum haben will.« Da es offensichtlich war, dass wir in puncto Schicksal und Universum keinen gemeinsamen Nenner finden würden, entschied ich mich für eine andere Taktik. »Und was ist, wenn ihr euch täuscht?« Maisie und Rhea sahen mich erstaunt an. »Was meinst du damit?« Ich zeigte auf das Bild und blickte dann meine Schwester an. »Du hast selbst zugegeben, dass du die Symbole in deinen Visionen erst deuten musst. Das heißt, du könntest sie auch falsch deuten. Also noch einmal: Was ist, wenn ihr euch täuscht?« »Es gibt immer ein gewisses Restrisiko«, erwiderte Maisie. »Aber in diesem Fall sind die Hinweise sehr eindeutig. Ich glaube 97
nicht, dass ich mich täusche. Was ich bisher erwähnt habe, ist ja nicht alles. Du hast nicht nur einmal, sondern zweimal die Pfählung mit Apfelholz überlebt. Das ist ziemlich außergewöhnlich, wenn man bedenkt, dass kein anderer Vampir jemals einen solchen Angriff überstanden hat. Übrigens würde das auch kein Magier ohne sofortigen Heilzauber überleben. Was die Frage aufwirft, warum du immun bist. Man könnte doch annehmen, es liegt daran, dass du für ein Ziel bestimmt bist, für das übernatürliche Kräfte vonnöten sind.« Ich rollte mit den Augen. »Oder man könnte annehmen, dass mir die Mischung meines Blutes diese Immunität verleiht. Bist du jemals gepfählt worden?« Sie schüttelte den Kopf. »Okay. Woher weißt du dann, dass du nicht auch immun bist?« »Wenn es dir recht ist, würde ich das lieber nicht ausprobieren.« Ich lächelte schmal. »Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet. Was ist, wenn ihr euch täuscht?« Maisie verschränkte die Arme. »Wenn wir uns täuschen, wird uns das Universum ein anderes Zeichen geben, um den richtigen Weg zu finden.« »Oh, das ist ja praktisch! Hört zu – es tut mir leid, wenn ich euch damit beleidige, aber was ihr Beweise nennt, nenne ich Selbsttäuschung. Ihr wollt mir etwas beweisen? Dann solltet ihr mir keine Visionen und Halluzinationen liefern, die durch irgendein seltsames Gebräu entstehen. Zeigt mir konkrete Fakten. Trockene Tatsachen. Aber erwartet nicht von mir, dass ich dieses Gerede über die Auserwählte so mir nichts, dir nichts glaube.« Rhea lächelte. »Aha.« Ich runzelte die Stirn. Ihre wissende Miene irritierte mich. »Was?« »Ach, nichts. Es ergibt jetzt nur alles einen Sinn. Du hast dein ganzes Leben damit verbracht, Befehlen zu folgen. Die Dominae haben dich dazu ausgebildet, wie eine Maschine zu funktionieren. 98
Du solltest allein ihrer Autorität vertrauen, nicht deinem eigenen Instinkt. Doch dann hast du herausgefunden, dass sie dich die ganze Zeit über betrogen haben, und warst gezwungen, endlich aufzuwachen. Ich kann mir vorstellen, dass ein solches Erlebnis es schwermacht, noch irgendjemandem zu vertrauen – einschließlich dir selbst.« Meine Kiefermuskeln spannten sich an. »Hören Sie mit dem Psychoquatsch auf, Magierin.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist kein Psychoquatsch. Das sind Tatsachen. Die wolltest du doch hören, nicht wahr? Die Dominae haben dich betrogen, und du hast etwas dagegen unternommen. Aber jetzt schwimmen dir die Felle davon. Du bist daran gewöhnt, Befehle entgegenzunehmen und deine Fäuste einzusetzen, wenn es Probleme gibt. Auf einmal verlangen wir jedoch von dir, zu glauben, du seist mehr als eine bloße Tötungsmaschine. Wir wollen, dass du dich auf deinen Instinkt verlässt. Auf die Kraft, die du dein Leben lang unterdrücken musstest. Da ist es nur natürlich, dass du Angst hast.« Ich beugte mich zu Rhea und funkelte sie drohend an. Sie begegnete meinem finsteren Starren mit einem gelassenen Lächeln. Die Tatsache, dass sie sich nicht im Mindesten einschüchtern ließ, machte mich noch wütender. »Ich habe keine Angst.« Sie kniff die Augen zusammen. »Beweise es.« »Ich muss euch nichts beweisen.« »Dann beweise es dir selbst. Beweise, dass die Dominae dich nicht gebrochen haben. Beweise, dass mehr in dir steckt als Fäuste und dieser Komplex, den du mit dir herumträgst.« Mir wurde auf einmal bewusst, dass die Fäuste, auf die sie sich bezog, auch jetzt wieder geballt waren, bereit zuzuschlagen. Ich zwang mich dazu, mich zu entspannen, und lockerte meine verkrampften Schultern. Langsam kehrte das Blut in meine Fingerspitzen zurück. Meine Wut machte mich blind, so dass ich Rheas Taktik nicht bemerkt und ihr erlaubt hatte, den Finger auf jene frische Wunde zu legen, die ich hinter meiner coolen Haltung zu 99
verbergen versuchte. »Ich weiß genau, was Sie vorhaben, Magierin.« »Das habe ich auch nicht anders erwartet. Du bist ein kluges Mädchen.« Sie lächelte. »Weißt du was? Wenn du nicht an die Prophezeiung glauben willst, ist das nicht schlimm. Die Zeit wird zeigen, ob sie eintrifft oder nicht. Warum konzentrierst du dich nicht stattdessen auf die anderen Vorteile, die dir das Zaubern bringt?« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Und die wären?« »Körperlich bist du zweifelsohne jetzt schon in guter Verfassung. Aber denk doch mal an die Vorteile, die du hättest, wenn du während eines Kampfes auch noch Magie einsetzen könntest.« Ich überlegte. Ich war zu einer Killermaschine ausgebildet worden – für Vampire. Aber bei einem Kampf gegen Magier? Das Blatt wendete sich meist recht schnell, wenn ein Magier ins Spiel kam. Mit Hilfe ihrer Zauberkräfte war es diesem Geschlecht lange gelungen, trotz des Hasses zu überleben, den die Vampire gegen sie hegten. Im letzten Krieg, dem sogenannten Blutskrieg, hatten die Magier kurz vor dem Sieg gestanden, ehe sie ein Friedensabkommen unterzeichneten und der Schwarze Vertrag ausgehandelt wurde. Zum Glück für die Vampire zeigten sich die Magier nicht so blutrünstig wie sie selbst. Hätten die Vampire den Sieg in der Hand gehabt, wäre die Welt heute eine andere – eine Welt ohne Magier. Und da die Vampire inzwischen auch zu meinen Feinden geworden waren, würde die Fähigkeit, Magie einzusetzen, mir ohne Zweifel in die Hände spielen. »Soweit ich mich erinnere, ist deine Großmutter noch nicht tot«, fuhr Rhea nach einer Weile fort, als ich nicht antwortete. »Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass du ihr früher oder später wieder die Stirn bieten musst. Stell dir doch nur einmal vor, wie entsetzt sie sein wird, wenn sie erfährt, dass du ein paar neue Tricks auf Lager hast.«
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Ich fluchte in meinen nicht vorhandenen Bart. Diese alte Frau war wirklich geschickt. Ich wusste, dass sie mich manipulierte, aber dennoch gefiel mir das Bild, das sie vor meinem inneren Auge beschwor. Ich gestand es nicht gerne ein, aber ich hätte viel dafür gegeben, die Miene meiner Großmutter zu sehen, wenn ich einen Zauber gegen sie einsetzte. Sie würde garantiert ausrasten. Schließlich war sie diejenige gewesen, die alles in ihrer Macht Stehende versucht hatte, um mich davon abzuhalten, meine magische Herkunft zu erkunden. Eine Kampfmagierin zu werden, würde sie verdammt wütend machen. Ich merkte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. »Damit wir uns nicht missverstehen: Ich glaube immer noch nicht, dass ich vom Schicksal dazu auserwählt bin, die Schattengeschlechter zusammenzuführen.« »Das sei dir unbenommen«, sagte Rhea. Hinter ihr verwandelte sich Maisies besorgte Miene in ein erleichtertes Grinsen. Rhea war jedoch noch nicht fertig. »Sollte es aber doch passieren, so behalte mir das Recht vor, dich mit ›Ich hab es dir doch gesagt‹ zu konfrontieren.« Ich rollte mit den Augen. »Und ich behalte mir das Recht vor, Ihnen ins Gesicht zu lachen, wenn es das nicht tut.« Sie lächelte. »Abgemacht.«
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»Jetzt mal schön langsam. Sie halten dich für was?« Giguhl stützte sich auf den Klauen ab, während er auf dem Bauch lag. Er strampelte mit den Hufen und erinnerte dabei an einen Sechzehnjährigen auf seiner ersten Pyjama-Party. 101
Ich versetzte ihm einen leichten Stoß mit der Hüfte, um mich ebenfalls hinsetzen zu können. Schließlich war es mein Bett. »Für chthonisch«, wiederholte ich langsam. »Das ist wohl so eine Art schwarze Magie. Hat was mit Tod und Sex und so zu tun.« Überrascht zog er die buschigen Augenbrauen hoch. »Der Wahnsinn.« Ich warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Findest du echt?« »Natürlich. Denk doch mal nach, Sabina. Du wirst unglaublich sein, wenn du erst einmal weißt, wie du das alles machen musst.« »Ich dachte, ich wäre bereits unglaublich«, erwiderte ich, diesmal selbst mit hochgezogener Braue. »Ja, bist du auch. Aber dann hast du noch dazu diese wahnsinnigen Zauberfähigkeiten, nicht nur deine Vorteile als Vampir.« Ich zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich hast du Recht.« »Ich verstehe nicht, warum du dich nicht mehr freust. Das ist doch aufregend!« Ich zog einen Faden aus der Wolldecke, die auf meinem Bett lag. »Da gibt es noch etwas.« Er rollte mit seinen Ziegenaugen. »Ist das bei dir nicht immer so?« Der Dämon hatte gut reden. Ich achtete nicht auf seine Stichelei und erklärte ihm stattdessen die Geschichte mit der Prophezeiung. Giguhls Gesicht blieb ausdruckslos, während er mir aufmerksam zuhörte. Nur als ich ihm von der Nod-Kaste erzählte, richtete er sich etwas auf. »Ach, von denen habe ich schon gehört.« »Wirklich? Wo?« »Mann, wir leben in Irkalla auch nicht hinterm Mond. Von den Dämonen, die ihr ständig beschwört, wissen wir so einiges über euch Erdbewohner.« Aus irgendeinem Grund hatte ich bisher angenommen, dass sich die Dämonen nicht sonderlich für die Schattengeschlechter auf der Erde interessierten. Die meisten Leute schließen die Dämonen beim Begriff Schattengeschlechter mit ein. Genau be102
trachtet stellten diese jedoch eine eigene Spezies dar, denn es gab sie bereits lange bevor Lilith erschaffen wurde. Während also die Vampire, Magier und das Feenvolk wie streitlustige Geschwister darum zankten, wer Liliths Lieblingsvolk war, hielten sich die Dämonen raus. Allerdings ist das Ganze recht kompliziert, denn Lilith wurde auch Königin von Irkalla, als sie Asmodeus heiratete. Die beiden zeugten ihre eigenen Dämonennachkommen, was bedeutet, einige der Dämonen sind mit den Schattengeschlechtern auf der Erde verwandt, andere wiederum nicht. Ehrlich gesagt, komme ich bei der Abstammung der Schattengeschlechter immer ziemlich durcheinander. »Okay. Was hast du gehört?« Giguhl lehnte sich zu mir herüber und sah mich verschwörerisch an. »Angeblich soll sich die Kaste jedes Jahr irgendwo in der Nähe von San Francisco zu einer riesigen Orgie zusammenfinden.« Ich schnaubte verächtlich. »Echt, Giguhl, das war eigentlich nicht die Art von Information, nach der ich gesucht habe.« »Oh, verzeih mir, große Auserwählte.« Ich funkelte ihn wütend an. »Hör sofort auf, mich so zu nennen.« Er verzog den Mund zu einem hinterhältigen Grinsen. »Wäre dir ›Neue Lilith‹ lieber?« Ich versetzte ihm einen leichten Schlag auf den Arm. »Lieber wäre mir, du könntest mal einen Moment lang ernst bleiben. Ich weiß nämlich nicht, was ich machen soll.« Er runzelte die Stirn. »Warum musst du überhaupt etwas machen? Du hast doch selbst gesagt, dass du an dieses ganze Schicksalsgerede nicht glaubst. Also tu einfach das, was du für richtig hältst. Falls Maisie doch Recht hat und du ein vorbestimmtes Schicksal hast, dann werden dich deine Entscheidungen schon dort hinbringen, wo du landen sollst.« Mir klappte die Kinnlade herunter. Ich war nicht daran gewöhnt, von Giguhl so pragmatische Ratschläge zu bekommen. 103
Und dann hatte er auch noch Recht. Ich musste momentan tatsächlich keine Entscheidung treffen. Was mich betraf, so änderte Maisies Vision nichts an meinem ursprünglichen Plan. Ich würde einfach das Zaubertraining absolvieren und die neuen Fähigkeiten zu meinen eigenen Zwecken nutzen. »Wann bist du so weise geworden?« Er grinste mich an. »Lady – Weisheit ist mein zweiter Vorname.« So sehr ich mich dagegen gewehrt hatte, an diesem WerwolfDuell teilzunehmen, so sehr freute ich mich insgeheim doch darauf. Vor allem nach Rheas und Maisies Enthüllungen am Abend zuvor brauchte ich dringend etwas, um meine innere Anspannung abzubauen. Rhea ritt ständig auf der Tatsache herum, dass ich mich endlich weniger auf meine körperliche Stärke und mehr auf meine Intuition verlassen müsse, aber ich hielt einen guten Kampf noch immer für die beste Art, Stress abzubauen. Apropos Rhea – Maisie hatte die alte Zauberin gebeten, mich zu dem Duell zu begleiten. Meine Schwester hatte erklärt, für sie als Anführerin des Magiergeschlechts sei es weder sicher genug noch schicklich, den Schwarzlichtbezirk zu betreten. »Was genau ist eigentlich der Schwarzlichtbezirk?«, wollte ich wissen. »Das ist die Gegend, in der die zwielichtigeren Gestalten der New Yorker Schattengeschlechter ihren Lastern frönen. StripLokale, Bordelle, das Übliche«, erklärte Rhea. »Der Schatten sitzt dort in einem Club namens Aderlass und hält die Fäden in der Hand.« Ich hatte mich dagegen gewehrt, eine Begleiterin an die Seite gestellt zu bekommen, wurde aber überstimmt. Zum Glück hatte niemand etwas gegen Giguhl einzuwenden, den ich zur moralischen Unterstützung dabeihaben wollte. »Du kannst ihn gerne mitnehmen«, meinte Maisie. »Aber wie willst du ihn dort hinbringen?« 104
»Wie meinst du das?« »Sabina, du kannst doch nicht mit einem Dämon durch New York laufen. Und in Katzengestalt kriegst du Probleme mit dem öffentlichen Nahverkehr.« »Stimmt«, sagte ich. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Rhea meldete sich zu Wort. »Ich habe eine Idee.« Sie fuchtelte kurz mit den Händen in der Luft herum, und eine sackartige Tasche erschien in ihrer Hand. Giguhl betrachtete sie misstrauisch. »Ihr nehmt doch wohl nicht an, dass ich in dieses Ding steige!« Ich warf ihm einen strengen Blick zu. »Stell dich nicht an. Du musst nur so lange drinbleiben, bis wir im Club sind. Dann kannst du bestimmt wieder deine normale Gestalt annehmen.« Ich warf Rhea einen fragenden Blick zu. Sie nickte. »Ich weiß nicht, Rotschopf. Das ist peinlich«, erklärte er. »Hör zu, wir haben jetzt keine Zeit, lange zu streiten. Entweder kommst du in der Tasche mit oder du bleibst hier.« Der Dämon verschränkte die Arme und wirkte wie ein schmollendes Kind, während er mich wütend anfunkelte. »Also gut – weil du es bist.« Es war ziemlich kompliziert, den Aderlass zu erreichen. Nachdem wir in einem Taxi nach Hell’s Kitchen gefahren waren, führte uns Rhea zu einem kleinen chinesischen Lokal, das nur ein Loch in der Wand zu sein schien. Es war so klein, dass man fast glauben konnte, es mit einem begehbaren Eisschrank zu tun zu haben. Wir betraten den Kühlraum und eilten an Regalen vorbei, auf denen jede Menge Fleisch lag. Nachdem Rhea die Vordertür geschlossen hatte, eilte sie nach hinten und zog an einem Fleischhaken. Das Geräusch des Metalls, das über den Beton kratzte, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Eine Wand schob sich beiseite, dahinter wurde eine Treppe sichtbar. Am Fußende der Treppe brachte uns ein kurzer Gang zu einer weiteren Tür, an der ein Schild mit dem Hinweis »Privat« befestigt war.
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»Hier ist es. Jetzt kann sich Giguhl wieder in seine normale Gestalt verwandeln.« Vorsichtig stellte ich die Tasche neben der Tür ab und machte den Reißverschluss auf. »Okay, Giguhl. Zeit, dich wieder zurückzuverwandeln.« Nachdem er wieder zum Dämon geworden war, zog er die Kleidung an, die ich ebenfalls mitgebracht hatte. »Diese Tasche ist die reinste Dämonenmisshandlung«, klagte er. Ich nickte ungeduldig und bemühte mich, ihn nicht allzu genau anzusehen. In der grauen Jogginghose und dem roten »Dämonen sind geil«-T-Shirt sah er lächerlich aus. Aber ich hatte keine Lust, den Club mit einem nackten Dämon an meiner Seite zu betreten. Sobald er fertig war, öffnete Rhea die Tür. Ein Magier, der als Türsteher angestellt war, saß auf einem Hocker. Er nickte Rhea zu, als würde er sie kennen, und winkte uns durch. Obwohl Rhea mir bereits erklärt hatte, dass im Aderlass ausschließlich Schattengeschlechter verkehrten, überraschte es mich doch, festzustellen, dass sich die verschiedenen Rassen hier so problemlos mischten. In Los Angeles hätte man niemals einen Magier gesehen, der sozusagen Wange an Reißzahn neben einem Vamp saß, ohne dass gleich ein Streit ausgebrochen wäre. Ganz abgesehen davon, dass man in Kalifornien auch keine Werwölfe traf. Nymphen und andere Feen gab es viele in L.A., aber dort gingen sie meist in ihre eigenen Lokale und Clubs. In Kalifornien standen Vamps am oberen Ende der Nahrungskette, und die Dominae herrschten über alle mit eiserner Hand. Das bedeutete natürlich nicht, dass es keine Magier oder Angehörige des Feenvolkes gegeben hätte, aber sie vermieden es meist, mit unsereins in Kontakt zu kommen. Gelegentlich fand sich ein mutiger Magier, der es wagte, in eine Vamp-Bar zu gehen, aber das ging selten gut. Doch hier im Aderlass schienen sich die verschiedenen Geschlechter nicht nur zu tolerieren, sondern sogar gerne miteinander abzuhängen. Für eine Kalifornierin höchst merkwürdig. 106
»Toto, ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind«, flüsterte ich Giguhl zu. »Das kannst du laut sagen«, erwiderte der Dämon. »Dämonen müssen für die Kämpfe durch die Hintertür gebracht werden.« Der Barkeeper war ein Vampir mit stämmigem Nacken und schmierig kupferfarbenem Haar. Auf seinem schwarzen Hemd war der Name »Earl« eingestickt. Er beäugte Giguhl, als erwarte er, dass dieser jeden Moment das Mobiliar der Bar zerlegen würde. Währenddessen polierte er mit einem grauen Geschirrtuch in langsamen Kreisen die Oberfläche der Bartheke. »Das trifft auf uns nicht zu«, erklärte Rhea ruhig. »Wir sind hier, um …« »Hören Sie, Lady. Ich will mich nicht wiederholen müssen. Dämonen sind in der Hauptbar nicht erlaubt. Wenn Sie bleiben wollen, müssen Sie ihn zuerst in den Keller bringen. So einfach ist das.« Wütend schlug Rhea mit der Faust auf die klebrige Theke. Der Barkeeper hielt mitten in der kreisenden Bewegung inne. »Wir werden erwartet.« Bisher hatte ich sie nur in ihrer Mutter-ErdeRolle erlebt, aber diese toughe Seite gefiel mir besser. Stand ihr gut. Der Barkeeper starrte Rhea finster an. »Mir ist völlig egal, ob Sie die Queen persönlich treffen. Bringen Sie den Dämon nach draußen, ehe ich das für Sie erledige. Verstanden, Lady?« Hinter mir schnaubte Giguhl verächtlich. »Das will ich mal sehen, Reißzahn.« Er hatte die Stimme der größeren Wirkung wegen um zwei Oktaven gesenkt. Ich versuchte, nicht mit den Augen zu rollen. In Wahrheit hätte ich allerdings gerne gesehen, wie Earl es anstellen wollte, Giguhl von der Stelle zu bewegen – allerdings nur mit einem guten Sitzplatz und einer Tüte Popcorn. Rhea beugte sich über die Bar und packte den Kerl am Kragen. »Sie scheinen Probleme mit dem Gehör zu haben. Ich habe einen Termin – mit dem Schatten.« 107
Die Luft knisterte vor Spannung. Die ersten Gäste drehten sich um und wollten sehen, was los war. Ich glaubte sogar hinten bei den Billardtischen eine Stecknadel fallen zu hören, so still war es plötzlich. In diesem Moment klingelte hinter der Theke das Telefon. Der schrille Ton durchschnitt die angespannte Stille wie ein Messer. Im Gegensatz zu den meisten Telefonen besaß dieses keine Knöpfe; nur ein kleines rotes Lämpchen, das bei jedem Läuten aufleuchtete. »Das wird Ihr Boss sein«, sagte Rhea. Sie wies mit dem Kopf in Richtung Telefon und ließ den Barkeeper los. »Gehen Sie dran.« Earl knurrte finster, eilte aber zum Telefon und nahm ab. Nachdem er eine Weile in den Hörer geflüstert hatte, warf er einen Blick über die Bar hinweg zu einem großen Spiegel, der in einem prunkvollen Rahmen in der Nähe der Balustrade hing. Offensichtlich hatte uns jemand die ganze Zeit über beobachtet. Ich spürte eine Präsenz hinter dem Spiegel, jemand, der seine Augen auf mich gerichtet hatte. Anstatt allerdings darauf zu achten, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten, konzentrierte ich mich auf Rheas Rücken. Für den Fall, dass doch noch etwas schiefging. Der Barkeeper legte auf und kam zu uns zurück. Ein wenig betreten sah er uns an. »Tut mir leid. Das war wohl ein Missverständnis. Der Schatten meint, Sie sollen nach unten zu den Umkleidekabinen hinter der Kampfarena gehen und sich auf das Duell vorbereiten. In einer halben Stunde geht es los.« Giguhl beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Mit Rhea sollte man sich lieber nicht anlegen.« Ich nickte und musterte die Magierin neugierig. Die Aggressivität, die sie gerade noch an den Tag gelegt hatte, war verflogen. Sie lächelte den Barkeeper freundlich an. »Danke.« Er warf einen Blick in Richtung des Spiegels und zögerte. »Der Schatten lässt außerdem ausrichten, dass der Dämon nicht nach unten in die Kampfarena darf. Er soll so lange hierbleiben.« 108
»Moment mal …«, begann ich, aber Rhea fasste mich am Arm, um mich zum Schweigen zu bringen. »Kein Problem«, sagte sie. »Bitte sorgen Sie dafür, dass man sich um ihn kümmert, während wir weg sind.« »Rhea, was soll das?« Sie beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Wir sind nicht in der Position, Forderungen zu stellen, Sabina. Sie wollen nur vermeiden, dass du ihn auf jemanden hetzt, falls du verlierst.« Ich warf Giguhl einen fragenden Blick zu. Er zuckte mit den Achseln. »Mich stört’s nicht. Aber lass dich nicht umbringen. Verstanden?« »Danke für dein Vertrauen!« »Gern geschehen.« »Bitte benimm dich, während ich weg bin.« Giguhl setzte eine betont unschuldige Miene auf. »Wer? Ich?« Außer der Auseinandersetzung im Central Park hatte ich bisher noch keinerlei Erfahrungen im Umgang mit Werwölfen gesammelt. Rhea hingegen wusste ein oder zwei Dinge über dieses Geschlecht und nutzte die kurze Zeit, die uns vor dem Kampf blieb, um mir ein paar nützliche Hinweise zu geben. Sie führte mich in einen kleinen Raum, der wie eine Umkleidekabine aussah. Dort hielt sie ein quadratisches Päckchen und eine Flasche mit Klebstoff in die Höhe. »Blattsilber für deine Reißzähne.« Ich runzelte die Stirn. »Meine Reißzähne?« Sie nickte. »Einige Vamps benutzen Silberkappen beim Kampf gegen Werwölfe, aber Blattsilber ist besser. Wenn du ihre Haut verletzt, blättert es ab und dringt in die Blutbahn ein.« »Bringt es sie auch um?« »Nein. Um einen Werwolf zu töten, muss man ihm eine gehörige Menge Silber direkt ins Herz jagen. Aber es wird ihm verdammt wehtun und ihn deutlich langsamer machen.« »Ist das wirklich nötig?«
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Sie warf mir einen Blick zu. »Vollmond ist erst wieder in einer knappen Woche, also wird er noch keine Werwolfgestalt angenommen haben. Trotzdem wird er unglaublich stark sein. Außerdem ist er ziemlich wütend, weil du seinem Rudel Schaden zugefügt hast. Du wirst jeden Vorteil brauchen können, den du kriegen kannst.« Seufzend nahm ich ihr das Mitgebrachte ab. Mit einem Finger fuhr ich mir über die Zähne, um sie zu trocknen. Dann strich ich etwas Kleber auf meine beiden Reißzähne. Der chemische Geruch trieb mir die Tränen in die Augen. Rhea half mir beim Auftragen des dünnen Blattsilbers auf den Zahnschmelz. »Lass den Mund einen Moment lang offen, damit der Kleber trocknen kann.« Während ich mit offenen Mund dastand, bedeckte sie meinen Brustkorb, meine Arme und den Hals mit weiterem Blattsilber. Als sie schließlich fertig war, kam ich mir wie der Blechmann aus Der Zauberer von Oz vor. Nach einer Weile schloss ich meinen Mund wieder. Der Kleber schmeckte widerwärtig, und das Blattsilber blieb an meiner Zunge hängen. Ich hustete, als ein paar Splitter in meinen Rachen wanderten. »Am besten wäre es, du triffst eine Vene, aber es reicht auch, die Haut zu verletzen.« Ich betrachtete mich im Spiegel. Mit den blitzenden Eckzähnen und der metallischen Haut war ich kaum wiederzuerkennen. »Ich dachte, es ginge Ihnen um völlige Aggressionslosigkeit«, sagte ich. Sie zuckte mit den Achseln. »Normalerweise schon. Aber manchmal ist Aggressivität nötig, vor allem wenn es um Selbstverteidigung geht. Wenn du heute Nacht nicht gegen das Alphamännchen kämpfen würdest, würde dich sein Rudel zur Strecke bringen. Bei diesem Duell hast du wenigstens die Chance, zu gewinnen.« Mir sagte ihre pragmatische Sicht zu. Ich nickte. »Was muss ich sonst noch wissen?« 110
»Im Kampf geht es darum, wer zuerst aufgibt. Da er der Anführer des Rudels ist, kommt für ihn die Kapitulation einem Todesurteil gleich. Denn dann verliert er seine Ehre, und die anderen töten ihn. Er wird also von Anfang an mit harten Bandagen kämpfen.« »Das ist beruhigend zu wissen. Und was passiert, wenn ich ihn töte?« Sie runzelte die Stirn. »Dann wird sein ganzer Besitz auf dich übertragen. Aber ich würde dir raten, das auf jeden Fall zu vermeiden – koste es, was es wolle. Es geht darum, eine Schuld zu begleichen, nicht darum, einen Mord zu begehen.« Ich ignorierte ihre letzte Bemerkung. Ich würde tun, was nötig war, um den Kampf zu gewinnen – ganz gleich, was die Konsequenzen auch sein mochten. »Sind Waffen erlaubt?« Rhea schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre zu einfach. Hier geht es um einen echten Nahkampf.« Ich nickte zufrieden. Mit einem Nahkampf kam ich fast immer zurecht. »Ich muss dich wohl nicht erst daran erinnern, dass du auf dich aufpassen solltest.« Ich warf ihr einen gereizten Blick zu. »Es ist nicht so, als ob ich verletzt werden möchte, Rhea.« »Ich weiß. Aber deine Schwester wäre am Boden zerstört, wenn dir etwas zustoßen sollte. Und ich auch. Wenn die Angelegenheit nicht so kompliziert wäre, hätte Maisie nie erlaubt, dass du an diesem Duell teilnimmst.« Meine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Keine Sorge. Ich werde mich bemühen, hier heile wieder herauszukommen, damit eure Pläne für mich nicht durcheinandergeraten.« »Ich rede nicht über die Prophezeiung, Sabina.« Rhea bedachte mich mit einem traurigen Blick. »Fällt es dir wirklich so schwer, zu glauben, dass sich jemand um dich Sorgen macht, einfach weil du ihm am Herzen liegst?«
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Es fiel mir tatsächlich schwer. Aber ich hatte keine Lust, mich schon wieder zu streiten. Also holte ich tief Luft und sagte: »Gehen wir.«
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Rhea führte mich in einen düster wirkenden Raum. In der Mitte stand ein Kampfring, über dem zwei einsame Glühbirnen hingen – die einzige Beleuchtung. Ich hatte eigentlich eine aufgeregte Menge von Werwölfen erwartet, die mein Blut sehen wollten. Doch stattdessen standen nur zwei Männer im fahlen Licht der Lampen. Die fehlenden Zeugen und die Stille, die hier herrschte, schüchterten mich allerdings deutlich mehr ein als es eine tobende Menge getan hätte. Der rechte der beiden nickte kurz, als wir näher kamen. »Sabina Kane?« In meine Nase stieg ein Geruch von nassem Hundefell und Apfelsaft. Seine Haare waren feucht, und seine Hände klebten von dem Zeug. Es würde wohl eine ziemlich unangenehme Überraschung für ihn werden, wenn er feststellen musste, dass die verbotene Frucht bei mir keine Wirkung zeigte. Ich nickte in Erwiderung. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?« »Mein Name ist Michael Romulus.« Er streckte mir die Hand entgegen. Ich musterte ihn rasch und fragte mich, ob es sich wohl um einen Trick handelte. Doch seine Augen blieben gelassen, wenn auch herausfordernd. Ich ergriff seine raue Hand und drückte gerade entschlossen genug zu, um ihm zu bedeuten, dass mit mir nicht zu spaßen war. Ruhig sah er mich an und erwiderte 112
den Druck gerade fest genug, um mir wiederum zu zeigen, dass er sich nicht im Geringsten um die Tatsache scheren würde, dass ich eine Frau war. Auch er würde sich nicht ohne Weiteres besiegen lassen. Seltsamerweise deuteten weder sein ruhiges Selbstbewusstsein noch seine langgliedrige Gestalt darauf hin, dass er das Alphamännchen war. Gütige Lilith, er trug sogar eine Chinohose. Im Gegensatz zu ihm schien sein Begleiter mit den hervortretenden Oberarmmuskeln und den behaarten Händen wesentlich besser für die Rolle des Alphatiers geeignet zu sein. Aber ich wusste, dass ich nicht den Fehler machen durfte, Michael Romulus zu unterschätzen. Manchmal verbargen sich hinter einem unauffälligen Äußeren böse Überraschungen. Auch wenn ich nicht viel über Werwölfe wusste, war mir durchaus klar, dass niemand zum Alphamännchen aufstieg, der nicht genau wusste, wie man erfolgreich kämpfte. Ich zog meine Hand zurück und wischte sie an meiner Jeans ab. »Und wer ist der da?« Ich wies mit dem Kopf auf seinen Begleiter. »Das ist Rex. Meine rechte Hand. Er wird mein Sekundant sein.« Ich nickte dem Hünen zu und sagte: »Und das ist Rhea Lazarus.« Die drei begrüßten sich höflich. »Wir kennen uns bereits«, erklärte Romulus. Ich sah Rhea fragend an. Vermutlich hätte es mich nicht wundern sollen, dass sie die Werwölfe kannte. Aber ich fand es trotzdem seltsam, dass sie diese Tatsache bisher nicht erwähnt hatte. Andererseits erklärte das auch, warum sie genug über Werwölfe wusste, um mir bei der Vorbereitung auf den Kampf behilflich zu sein. Romulus gab Rex ein Zeichen, der daraufhin ein gefaltetes Stück Papier aus der Tasche zog. »Sabina Kane – im Folgenden ›Angeklagte‹ genannt«, begann er vorzulesen, »wird der Wilderei 113
bezichtigt, und zwar auf dem Gebiet der Einsamen Wölfe – angeführt von Michael Romulus, im Folgenden ›Kläger‹ genannt – das ausschließlich für das oben genannte Rudel und seine Partner reserviert ist. Der Angeklagten wird ebenfalls vorgeworfen, sich der Räumung von diesem Gebiet widersetzt zu haben, als sie von den Vertretern des Klägers darum gebeten wurde. Zudem …« Ich unterbrach ihn. »Mann, wer sind Sie? Ein Anwalt oder was?« Romulus runzelte die Stirn. »Ja, genau das ist er.« Ich rollte mit den Augen. »Hören Sie, ich habe verstanden. Dazu brauchen wir kein juristisches Gelaber, das sowieso keiner kapiert. Ich habe gewildert – unwissentlich, wie ich vielleicht hinzufügen darf – und dabei zwei eurer Jungs verletzt, als ich mich gegen ihren Angriff verteidigt habe. Und dafür muss ich mich jetzt duellieren.« Romulus nickte. »Unsere Sekundanten werden sich nicht einmischen, und es dürfen keine Waffen benutzt werden. Wer zuerst aufgibt, siegt. Sind Sie mit diesen Bedingungen einverstanden?« »Ich denke, wir wissen beide, dass Aufgeben keine Option ist.« Er senkte den Kopf, um mir zu bedeuten, dass er mir Recht gab. »Wollen wir anfangen?« Ich drehte mich um und ging zum anderen Ende des Rings. Rhea legte mir ihre Hände auf die Schultern. »Er wird vor nichts zurückschrecken.« Ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Romulus leise auf seinen Begleiter einredete. »Meinen Sie, ich etwa?« Rhea sah mir in die Augen. »Sei im Ring nicht allzu übermütig. Dieses Apfel-Aftershave, das er aufgelegt hat, mag dich vielleicht nicht verletzen, aber er ist stark genug, um dir den Kopf abzureißen, wenn du nicht aufpasst.« Ich nickte. »Verstanden.« Etwas bewegte sich hinter dem Einwegspiegel, der in die Wand eingelassen war. Es konnte sich um eine Lichtreflexion
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handeln, aber ich ging nicht davon aus. Jemand beobachtete uns. Der Schatten? »Fangen wir an.« Romulus’ entschlossene Stimme hallte im dunklen Raum unnatürlich laut wider. Rhea klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und trat an den Rand des Ringes. Auf der anderen Seite tat Romulus’ Sekundant es ihr gleich. Mein Gegner trat langsam in die Mitte der Arena. Er hob eine Hand und winkte mich mit einem Finger zu sich heran. Ich schenkte ihm ein verächtliches Lächeln. Mein Körper vibrierte vor Aufregung. Die wunderbare Anspannung vor einem Kampf war der kurz vor einem Orgasmus nicht unähnlich. Mein Körper sehnte sich nach einem Scharmützel. Die letzten Tage hatte ich mich nicht wohl in meiner Haut gefühlt – eine Fremde in einer unbekannten, magischen Welt. Aber dieser schmutzige Boxring mit den getrockneten Blutflecken auf dem Boden und dem Geruch nach Schweiß und Gewalt in der Luft fühlte sich für mich vertraut und heimisch an. Ich verdrängte alles außer Michael Romulus aus meinem Bewusstsein und konzentrierte mich auf seine Augen. Mein Atem ging ruhig. Ich holte tief Luft, um dann langsam wieder auszuatmen. In meinem Inneren suchte ich nach dem Zorn, nach der Empörung, die ich für solche Gelegenheiten in der hintersten Kammer meines Bewusstseins aufbewahrte. Der Zorn blühte in mir auf wie eine schwarze Rose und verströmte all die Bitterkeit, die sich in den letzten Wochen in mir aufgestaut hatte. Ich dachte an meine Großmutter und stellte mir ihr Gesicht vor, während ich Romulus betrachtete. Oh, ja, in mir hatte sich verdammt viel Wut angestaut, die dringend ein Ventil brauchte. Dieser Werwolfwelpe kam mir da gerade recht. In meinem Blick musste sich etwas verändert haben, denn Romulus’ Augen weiteten sich und er trat eine zögerlichen Schritt vor. Die Ränder meines Sehfelds verschwammen, als ich mich auf meine Beute stürzte. Wäre er sterblich gewesen, hätte er nicht 115
einmal bemerkt, dass ich näher kam. Doch Romulus war ein Raubtier – wie ich. Noch ehe ich meine Eckzähne in sein Fleisch graben konnte, sprang er zur Seite. Er packte mich am Arm und wirbelte mich an der Schulter herum. Dann holte er mit der Faust aus und traf mich seitlich am Gesicht. Sofort breitete sich ein hässlicher Schmerz auf meiner Wange aus. Meine Haut brannte, als sie aufplatzte und zu bluten begann. Ich trat nach ihm und traf ihn mit dem Fuß in den Rippen, während ich Blut und Speichel spuckte. Er ging in die Hocke, fauchte und fletschte die Zähne. Dann warf er sich mit voller Wucht gegen meinen Bauch. Ich knallte in die Seile. Ruckartig entwich die Luft aus meinen Lungen. Ich wirbelte herum und verpasste ihm einen Sidekick in die Magengrube. Er reagierte mit einem hinterhältigen Rückhandschlag. Daraufhin stürzte ich mich auf ihn und wirbelte ihn herum. Er versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während ich die Arme um ihn schlang und nach seinem Rücken schlug. Meine versilberten Fingernägel zerfetzten Hemd und Haut. Er schrie auf und befreite sich ruckartig aus meiner Umarmung. Aus den Wunden trat Rauch. Romulus sah mich mit Raubtieraugen an, und wir begannen einander zu umkreisen. Jetzt wurde es ernst. Es war an der Zeit, diesen Kampf zu beenden. Rhea und Rex gaben keinen Laut von sich. Sie feuerten uns weder an noch riefen sie uns Warnungen zu. Über dem Ring hing die Spannung wie eine Blase, die jeden Moment zu platzen drohte. Ich zeigte Romulus meine silbernen Reißzähne. »Bereit, aufzugeben?« Er lachte freudlos. »Ich spiele nur mit meiner Beute, ehe ich sie fresse.« »Dann friss das!« Meine Faust prallte gegen seinen Kiefer, seine Zähne kratzten über meine Fingerknöchel. Für einen Kerl, der Silber hasste, fühlten sich seine Knochen verdammt metallisch an. Ohne viel Zeit 116
zu verschwenden, versetzte ich ihm einen Tritt gegen das Knie. Zehn Kilo Druck reichen, um ein Kniegelenk zu brechen. Ich weiß nicht, ob Romulus diese Tatsache zuvor bekannt gewesen war, aber spätestens jetzt wusste er es. Er stürzte zu Boden und hielt sich winselnd das gebrochene Gelenk. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Rex Anstalten machte, in den Ring zu steigen. »Denken Sie nicht mal daran.« Die Drohung in Rheas Stimme war nicht zu verkennen. Ich beugte mich über Romulus. »Und?« Er starrte zu mir hoch. Seine Augen funkelten hasserfüllt. Ehe ich wusste, wie mir geschah, packte er mich an den Beinen und zog mir die Füße weg. Ich fiel flach auf den Rücken. Mein Rückgrat küsste den Beton, und ich bekam keine Luft mehr. Mit seinem vollen Gewicht warf Romulus sich auf mich und begann, mein Gesicht zu bearbeiten. Blut lief mir in die Augen, so dass ich kaum mehr etwas sehen konnte, doch der Schmerz war kristallklar und messerscharf. Ich drückte die Hüften durch und versuchte, ihn abzuwerfen. Aber er ließ sich nicht beirren und schlug ohne Unterlass auf mein Gesicht ein. Dann nahm er sich meinen Brustkorb vor. Ich spürte, wie eine meiner Rippen brach und sich in die Lunge bohrte. Das Blut, das inzwischen meinen Rachen hinabrann, ließ mich nur noch mühsam atmen. Jetzt wurde es wirklich ernst. Ich musste dringend etwas unternehmen, ehe mich der Schmerz überwältigte. Entschlossen griff ich nach seinen Armen und schnappte mit meinen Reißzähnen zu. Mir war egal, wo sie landeten, solange sie ihn irgendwo erwischten. Endlich gelang es mir, seinen Unterarm festzuhalten. Ich biss so heftig zu, wie ich konnte, und spürte, wie sein Fleisch nachgab. Er stieß einen Schrei aus und riss den Arm zurück. Ein Fetzen Haut blieb hängen. Ich spuckte ihn zusammen mit einem Mundvoll Blut aus und wischte mir dann mit zitternder Hand das Rot aus den Augen. Mir blieb keine Zeit, meine Wunden zu le-
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cken. Der Biss mochte ihn vielleicht verletzt haben, aber ich war in einer deutlich schlechteren Verfassung als er. Mühsam kämpfte ich mich auf die Knie. Ich fühlte mich ziemlich wackelig. Romulus kauerte in meiner Nähe und presste seinen Arm an den Oberkörper. Seine Hose und sein Hemd waren blutverschmiert. Einiges davon stammte von mir, aber in seinem Arm fehlte auch ein recht großes Stück. Wir keuchten beide wie verletzte Tiere, während wir einander misstrauisch beäugten. Aus seinem Arm trat Rauch auf, und das Fleisch zischte. Ich glaubte, Teile des Knochens sehen zu können, als er das nutzlos gewordene Glied losließ. Es hing schlaff an seiner Seite herab. Ein Hustenanfall schüttelte mich, und ich verspürte erneut die Schmerzen in meinem Körper. Aber noch war ich nicht fertig. Noch lange nicht. Aufgeben war nicht meine Sache. Im Gegensatz zu Romulus würde mich zwar niemand töten, wenn ich aufgab, aber ich würde auf immer und ewig das Wissen mit mir herumtragen, es nicht geschafft zu haben. Also erhob ich mich mühsam und stolperte mit müden Gliedern auf ihn zu. Er seufzte und ging in Verteidigungshaltung, indem er den unverletzten Arm hob und die Hand zur Faust ballte. Wie zwei Boxer am Ende einer besonders brutalen Runde stürzten wir aufeinander zu und hielten uns stur aneinander fest, während wir versuchten, dem anderen die Rippen zu brechen. Romulus brach zuerst zusammen und riss mich mit sich. Trotz unserer Erschöpfung hörten wir nicht auf, zuzuschlagen. Mein Kopf fiel auf seine Schulter, während meine Hände immer weiter auf ihn einhieben. Ich musste meine ganze Kraft zusammennehmen, um überhaupt den Mund aufzubekommen. Meine Eckzähne bohrten sich in seine Haut und gruben sich in seine Halsschlagader. Sein Körper wurde steif und gab dann nach. Ich versuchte sein Blut zu trinken, um wieder etwas Kraft zu tanken, doch auch diese Wunde begann zu rauchen und seltsam zu blubbern. Die wenigen Tropfen, die ich abbekam, schmeckten wie
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Säure. Mit letzter Anstrengung stieß mich Romulus von sich. Wir stürzten beide zu Boden und blieben liegen. Das Luftholen war schmerzhaft und unangenehm. Mein Gesicht fühlte sich an, als hätte es jemand mit einem Hammer bearbeitet. Allein der Gedanke, mich bewegen zu müssen, ließ meine Muskeln empört protestieren. Romulus’ mühsames Keuchen drang an mein Ohr. Ihm ging es offensichtlich auch nicht besser. Ich schluckte. »Gibst du auf?«, fragte ich mit schleppender Stimme. »Niemals.« Von beiden Seiten näherten sich uns Schritte. Schatten legten sich über uns. Die Welt drehte sich, als Hände nach mir fassten und mich hochzogen. Stöhnend protestierte ich, aber Rhea ließ nicht los. Durch meine zugeschwollenen Augen warf ich einen Blick zur Seite und stellte fest, dass Romulus von Rex ebenso hochgezerrt wurde. »Alles in Ordnung, Boss?«, fragte Rex besorgt. Offensichtlich war Romulus’ rechte Hand nicht gerade die hellste Birne im Karton. »Ich denke, es ist recht eindeutig, dass sie nicht weitermachen können«, stellte Rhea fest. »Aber keiner der beiden hat gewonnen«, widersprach Rex. »Dann steht es unentschieden.« »Kommt überhaupt nicht infrage, Magierin. Sie müssen sich nur eine Weile ausruhen, dann können wir weitermachen.« »Sie machen wohl Witze«, sagte Rhea. »Schauen Sie sich die beiden doch mal an. Da ist nichts mehr zu holen.« »Und was zum Henker soll ich dem Rudel sagen?«, wollte Rex wissen. Eine neue Stimme mischte sich in die Diskussion ein. »Du sagst ihnen, der Schatten hat den Kampf beendet. Wenn jemand damit ein Problem hat, kannst du ihn gerne zu mir schicken.«
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Ich drehte den Kopf in Richtung des Neuankömmlings. Noch war ich nicht in der Lage, mehr als einen verschwommenen Umriss auszumachen. Aber ich kannte diese Stimme. Ehe ich das Bewusstsein verlor, gelang es mir, einen Namen zu auszusprechen, den ich seit dreißig Jahren nicht mehr ausgesprochen hatte:»Slade?«
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Rheas Gesicht schwebte über dem meinen, als ich mühsam die Augen öffnete. Mein Brustkorb schmerzte so heftig, als hätte ihn jemand mit einer Brechstange bearbeitet. Alles tat mir derart weh, dass ich nur flach und langsam atmen konnte. Mein Gesicht fühlte sich an wie eine einzige große Wunde. Ich bewegte meinen Kiefer, um zu fragen, wo ich eigentlich war, zuckte aber zusammen, als ein scharfer Schmerz meinen Schädel durchschoss. Die Magierin half mir, mich aufzurichten. »Trink erst mal das hier.« Ich erwartete, eine Art Zaubertrank zu bekommen. Etwas, das den Heilungsprozess beschleunigen würde und mich wieder aufleben ließ. Stattdessen stieg mir der metallische Geruch von Blut in die Nase, und der üppige Geschmack hüllte meine Zunge ein. Gierig trank ich. Diesmal machten mir der chemische Nachgeschmack und die Kälte des Präparats nichts mehr aus. »Mehr«, flüsterte ich heiser. Mein Körper war nach dem Kampf völlig hinüber, ich brauchte deutlich mehr als nur einen Becher Blut, um die Verletzungen wieder in den Griff zu bekommen.
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Rhea stellte den Becher ab und sah mir in die Augen. »Das ist alles, was du für den Moment bekommst.« So gut es ging, kniff ich meine verschwollenen Augen zusammen. »Warum?« »Sabina, wir wissen beide, dass ich dir mehr Blut oder sogar einen Zaubertrank geben könnte, um den Schmerz in nichts weiter als eine unangenehme Erinnerung zu verwandeln.« Sie bewegte sich neben mir hin und her, was meine gebrochenen Rippen vor Schmerzen fast zum Singen brachte. Ich fauchte, als mir kalter Schweiß ausbrach. »Aber wenn ich das tue, würdest du nie begreifen, worum es geht.« »Was?«, keuchte ich mühsam. »Du hast diese Wunden verdient. Die Entscheidungen, die du getroffen hast, haben dich hierhergeführt. Wenn ich die Konsequenzen einfach auslösche, wirst du niemals lernen, dein Verhalten in Zukunft zu mäßigen.« Ich war mir nicht sicher, ob es eine Folge der Schmerzen oder eine der Qualen war, die es für mich bedeutete, mir Rheas Vortrag anhören zu müssen. Jedenfalls stieg mir die Galle hoch. »Sie sind sadistisch, wissen Sie das?« Rhea lächelte und tätschelte mir den Arm. »Ja, meine Liebe, das weiß ich.« »Kann ich wenigstens etwas Wasser bekommen?«, fauchte ich. »Oder gehört Durst auch zu meiner Buße?« »Natürlich kannst du Wasser bekommen«, erwiderte sie mit einem geduldigen Lächeln. »Giguhl? Könntest du Sabina bitte ein Glas Wasser bringen?« Erst jetzt bemerkte ich, dass Giguhl in einem Sessel mir gegenüber saß. Er hatte die Arme verschränkt. Seine Haltung signalisierte mir deutlich, dass er schmollte. Als Rhea ihn bat, mir Wasser zu holen, rollte er mit den Augen und seufzte laut. »Okay.« »Was ist los mit ihm?«, wollte ich wissen. Rhea schüttelte den Kopf. »Lass uns später darüber reden.«
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Während ich darauf wartete, dass mir mein mies gelaunter Dämon etwas zu trinken brachte, sah ich mich im Zimmer um. Ein vertrauter Geruch hing in der Luft, den ich jedoch nicht so recht einzuordnen vermochte. Wir befanden uns in einem Büro, doch ich wusste nicht, wem es gehörte. Ein Schreibtisch aus Glas und Stahl stand etwa fünf Meter von mir entfernt. Ich lag auf einem schwarzen Ledersofa neben einem zum Schreibtisch passenden Couchtisch. Einige Minuten später reichte mir Giguhl ein Glas mit Wasser und kehrte dann ohne ein Wort zu seinem Sessel zurück. Ich trank einen großen Schluck, spülte mir aber erst den Mund aus, um dass Blattsilber loszuwerden, das noch immer an meiner Zunge klebte. »Wo sind die Werwölfe?«, fragte ich Rhea, da Giguhl offensichtlich nicht in Redelaune war. »Rex hat Romulus zum Rudel zurückgebracht. Er wird sich bestimmt erholen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob er sich darüber freuen wird, wie der Kampf ausgegangen ist, wenn er erst wieder klar denken kann.« Die Erwähnung des Kampfes erinnerte mich an den Neuankömmling, der vorhin zu uns getreten war. Von ihm stammte auch der vertraute Geruch, den ich bisher nicht hatte einordnen können. »Slade.« Ich sprach den Namen aus wie ein Schimpfwort. Was mich betraf, so war es nur ein weiteres Synonym für »Arschloch«. »Wo ist er?« Ich versuchte mich aufzusetzen. Das Blut, das ich zu mir genommen hatte, linderte den Schmerz. Doch ich befand mich noch immer in einer Welt der Qualen. Rhea hatte offenbar andere Pläne. »Du musst dich erst einmal ausruhen.« Sanft schob sie mich zurück, so dass ich wieder flach auf dem Sofa lag. »Er wird bald zurück sein. Du kennst ihn?« Ich entspannte mich und machte es mir, soweit das möglich war, in den Kissen bequem. Meine Wunden mochten bereits ver-
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heilen, aber ich fühlte mich noch immer ziemlich zittrig. Ich nickte. »Er hat früher für die Dominae in L.A. gearbeitet.« »Ein alter Freund?« Ich kniff die Augen zusammen. »Eher ein alter Feind.« »In diesem Fall«, meinte Rhea, »ist es wohl sinnlos, dich zu bitten, höflich zu bleiben.« »Stimmt. Völlig sinnlos.« In diesem Moment öffnete sich die Tür. Slade betrat das Zimmer, als ob es ihm gehören würde. Was es vermutlich auch tat. Giguhl richtete sich interessiert auf. »Hi, Slade«, sagte er mit deutlich mehr Enthusiasmus, als er bisher an den Tag gelegt hatte. Slade nickte Rhea und Giguhl zu, als ob sich die drei bereits kennengelernt hätten, während ich bewusstlos gewesen war. Seine Augen waren auf mich gerichtet. Ich richtete mich mühsam auf und versuchte, das Stechen in meiner Seite zu ignorieren. Auf keinen Fall wollte ich ihm auf dem Rücken liegend begegnen. Rhea wollte mir helfen, doch ich winkte ab. Slade hielt inne, und ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Sabine Ka…« Er wurde unterbrochen – und zwar durch meine Faust. »Sabina, nein!«, brüllte Giguhl. Hinter mir vernahm ich lautes Fluchen. Der Geruch von Sandelholz stieg mir in die Nase. »Hör auf!« Rhea packte mich an den Armen und hielt mich fest. Für eine Magierin war sie überraschend stark. Slade lächelte trotz des Blutes, das ihm jetzt über Mund und Kinn lief. »Schön zu sehen, dass du genauso kratzbürstig bist wie damals.« Ich fauchte. »Kratzbürstig, meinst du? Wie wäre es mit stinksauer, Arschloch?«
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Ich mochte keine Überraschungen, auch wenn Slades plötzliches Auftauchen keine Überraschung war – eher eine Handgranate, deren Zünder man gerade gezogen hatte. »Jetzt sei nicht albern, Sabina. Ich bin doch nicht dein Feind.« »Komisch. Da erinnere ich mich aber an etwas anderes.« »Sabina.« Rheas warnender Tonfall machte mir deutlich, was sie von meinem Benehmen hielt. Dann sah ich, wie Slade leise lächelte. Eines der ersten Dinge, die ich in der Ausbildung zum Auftragskiller gelernt hatte, war es, sich niemals von Gefühlen leiten zu lassen. Verdammt – Slade selbst hatte mich immer wieder an diese Lektion erinnert, als wir noch zusammengearbeitet hatten. Einem Gegner gegenüber die Nerven zu verlieren und auszurasten, war genauso gefährlich, wie ihm eine Waffe in die Hand zu geben und die Jacke aufzuknöpfen. Ich holte tief Luft und zwang meine Muskeln dazu, sich zu entspannen, meinen Kiefer, sich zu lockern, und mein Herz, langsamer zu schlagen. Rhea spürte die Veränderung in meinem Körper und hielt mich nicht mehr ganz so fest, auch wenn sie mir weiterhin nicht von der Seite wich, falls sie erneut einschreiten müsste. Giguhl blickte währenddessen wie ein Kind, dessen Mommy und Daddy sich gerade zum ersten Mal vor ihm streiten. Das traf mich. Er war zwar mein Dämon, aber offenbar war er von Slade angetan. Was war geschehen, als ich das Bewusstsein verloren hatte? Slade schien nicht das geringste Interesse an Giguhl zu haben. Er setzte eine gönnerhafte Miene auf und lächelte mich an: »Braves Mädchen.« Er wollte mich ärgern. Es gelang mir, den herablassenden Tonfall zu ignorieren. »Du schuldest mir noch zehntausend Dollar. Samt Zinsen und Inflationszuschlag.« Er lachte. »Noch immer so witzig wie eh und je.« Ich biss die Zähne zusammen. Wieder wollte er mich dazu bringen, die Nerven zu verlieren.
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»Sabina, wir sind dem Schatten zu großem Dank verpflichtet«, mischte sich Rhea ein. »Er war damit einverstanden, den Kampf unentschieden enden zu lassen. Deine Schuld ist damit beglichen.« »Hören Sie auf, ihn mit diesem lächerlichen Namen anzusprechen. Er heißt Slade.« »Lass uns doch nicht über so etwas streiten, Sabina. Slade ist schon lange passé. Ich höre gar nicht mehr darauf. Hier …« Er machte ausladende Bewegung. »… bin ich der Schatten. Aber da du eine alte Freundin bist, kannst du mich natürlich Slade nennen.« »Du musst mir keinen Gefallen tun, Arschloch. Wir sind keine Freunde.« Slade lachte. »Du kannst doch nicht immer noch wütend auf mich sein.« »Wütend? Weshalb?«, hakte Giguhl nach. »Könnte jemand mal erklären, worum es hier geht?« »Nein«, fauchte ich. »Klar«, antwortete Slade zur gleichen Zeit. »Sabina und ich haben früher einmal miteinander gearbeitet.« Giguhl warf mir einen überraschten Blick zu. »Miteinander gearbeitet?« Die Betonung des Wortes machte deutlich, dass er das nicht so recht glauben wollte. Manchmal war sogar auf Giguhls Bauchgefühl Verlass. »Unter anderem«, erwiderte Slade mit einem Lächeln. Ich biss die Zähne zusammen, da ich keine Lust hatte, in Rheas Gegenwart darüber zu reden. Giguhl warf mir einen neugierigen Blick zu. »Wir haben früher mal zusammengearbeitet«, erklärte ich ihm. »Aber Slade hat erst die ganzen Lorbeeren eingeheimst und sich dann auch noch mit dem Geld aus dem Staub gemacht.« Ich spürte, wie der Vampir mich anstarrte. Was ich nicht erwähnt hatte, war nämlich die Tatsache, dass wir auch zusammen 125
im Bett gelandet waren, ehe er mich hinterhältig aufs Kreuz gelegt und sitzengelassen hatte. Das erhitzte Funkeln in seinen Augen zeigte mir, dass ich nicht die Einzige war, die sich noch gut an die fleischlichen Details unserer früheren Beziehung erinnerte. »Du weißt genau, warum ich gegangen bin, Sabina«, sagte er. Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe jetzt keine Lust, darüber zu reden. Die Geschichte ist lange vorbei.« »Wenn du meinst.« Sein ironisches Lächeln hätte mich am liebsten erneut zuschlagen lassen. Aber ich schämte mich für meinen Wutausbruch und die fehlende Selbstbeherrschung, die ich zuvor an den Tag gelegt hatte. Ich hatte keine Lust, ihm noch mehr Beweise zu liefern, dass ich nicht vergessen hatte, was bei unserem letzten Treffen vorgefallen war. Es folgte ein Moment angespannter Stille. Rhea hatte bereits eine ganze Weile nichts mehr gesagt. Sie bevorzugte es wohl, dem Feuerwerk zuzusehen, anstatt selbst mitzumischen. Giguhl hingegen juckte es noch immer in den Fingern. Er wollte dringend den Grund für die seltsamen Schwingungen erfahren, die unsere Unterhaltung beherrschten. Aber da hatte er Pech. Ich hatte nicht vor, ihm eine Erklärung zu liefern. Slade hingegen sah aus wie eine Katze, die gerade einen Wellensittich verputzt hatte. Am liebsten hätte ich ihm den verdammten Vogel sonstwo reingerammt. »Also«, sagte er. »Der Kampf lief gut. Macht euch keine Sorgen um Romulus. Es war ein faires Duell. Dem Rudel gegenüber kann er behaupten, ich hätte das Ganze unterbrochen. So wahrt er sein Gesicht.« Er setzte sich auf seinen ledernen Bürostuhl und gab uns ein Zeichen, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ich setzte mich und musterte Slade aufmerksam. Hatte er sich in den vergangenen dreißig Jahren verändert? Damals war er ein Auftragskiller mit einem gewissen Autoritätsproblem gewesen. Als ich ihn jetzt so betrachtete, wurde deutlich, dass die Jahre seine raue Schale ge126
glättet und ihr sogar einen gewissen Glanz verliehen hatten. Ich hätte darauf wetten können, dass der schiefergraue Nadelstreifenanzug ein teures Designerstück war. Seine Haare waren dunkler geworden, wenn auch nur um einen Ton dunkler als das helle Rostrot seiner Jugend. Er hatte die Haltung eines Mannes, der es gewöhnt war, Befehle zu erteilen. Doch unter dieser glänzenden Oberfläche steckte ein ein teuflischer Sinn für Humor. Ich gebe es zu: Er war immer noch scharf. Aber auch immer noch ein Arschloch, wie ich mir hastig ins Gedächtnis rief. Giguhl räusperte sich und stieß mich auffordernd in die Seite. Erst jetzt merkte ich, dass auch Slade mich angestarrt hatte. Im Zimmer herrschte Schweigen. »Was ist?«, fragte ich den Vampir. »Es tut verdammt gut, dich wiederzusehen«, sagte er. »Als mir die Einsamen Wölfe erzählt haben, wer ihnen im Park an die Gurgel gesprungen ist, dachte ich zuerst, sie hätten sich geirrt. Aber die Beschreibung, die sie mir lieferten, traf dich ziemlich genau.« Offenbar wusste er also, dass ich Los Angeles überstürzt verlassen hatte, aber nicht, weshalb ich nach New York gekommen war. Etwas sagte mir, es wäre besser, meine Schwester nicht zu erwähnen. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe behaupten – dass es gut ist, dich wiederzusehen und so.« Slade verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Du lebst noch immer in der Vergangenheit, Sabina. Heutzutage sind wir nicht mehr so verschieden wie damals, du und ich.« »Was soll das heißen?« »Ich bin damals auf und davon und habe die Dominae im Stich gelassen. Jetzt hast du sie hintergangen.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist etwas anderes.« »Ach, wirklich?«, fragte er und zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Kann ich dem Rat der Hekate mitteilen, dass Sabina ihre Schulden beglichen hat?«, mischte sich Rhea ein. 127
Slade seufzte und schnitt eine Grimasse. »Nicht ganz. Da ist immer noch die Frage der unbezahlten Blutsteuer.« »Der Blutsteuer? Was ist das?«, fragte ich und rutschte an den Rand meines Sessels, um vorbereitet zu sein. Nur, falls ich ihm noch eine verpassen musste. »Alle Vampire müssen Blutsteuer bezahlen, wenn sie sich in meiner Stadt ernähren wollen.« Rhea versetzte mir einen Stoß mit dem Ellbogen, damit ich den Mund hielt. »Ich will hier ja keine Haarspalterei betreiben, aber das hier ist die Stadt des Hekate-Rates«, sagte sie. »Und wenn man bedenkt, wer Sabinas Schwester ist, könnte ich mir vorstellen, dass man in ihrem Fall eine Ausnahme macht.« Slades Augen schossen in meine Richtung. »Sabinas Schwester?« Ich fluchte innerlich. Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln, wenn ich nicht wollte, dass er erfuhr, dass meine Schwester Hohepriesterin des Rates und das Orakel von New York war. Ein Kerl wie Slade würde bestimmt eine Möglichkeit finden, dieses Wissen zu seinem Vorteil einzusetzen. »Das ist eine lange Geschichte«, erklärte ich hastig. »Aber Rhea hat Recht. Ich sollte keine Blutsteuer zahlen müssen.« »Und warum nicht?« »Weil ich Opfer eines suckus interruptus wurde, als ich versucht habe, von jemand zu trinken.« »Und wie ist das passiert?« »Der Kerl hat mich angeschossen«, gab ich zähneknirschend zu. Slade warf den Kopf zurück und lachte. »Großartig.« Meine Wangen brannten vor Scham, aber ich zwang mich, weiterzusprechen. »Außerdem hat mich der Rat der Hekate gebeten, mich vorerst nicht mehr von Menschen zu ernähren. Es gibt also keinen Grund, warum ich deine Steuer bezahlen sollte.«
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»Du hast bereits einen Menschen auf meinem Gebiet gebissen. Deshalb schuldest du mir rückwirkend die Summe von zweitausend Dollar.« »Was?«, rief ich. »Das ist ja die reinste Ausbeuterei!« »Komm schon, Sabina. Zweitausend ist doch für jemanden mit dem Gehalt eines Auftragskillers nur ein Taschengeld.« Ich biss die Zähne zusammen. »Wie du bereits bemerkt hast, arbeite ich nicht mehr für die Dominae.« Slade nickte. Diese Tatsache schien ihn jedoch wenig zu beeindrucken. Soweit ich ihn kannte, wusste er sowieso schon, was mit mir passiert war. Und bestimmt amüsierte ihn die Ironie der Geschichte. Ich war wütend auf ihn gewesen, nicht nur weil er mir mein Geld abgenommen, sondern auch weil er die Dominae im Stich gelassen hatte. Und jetzt war ich es, die sich des schlimmsten Vergehens gegen sie strafbar gemacht hatte: Verrat. »Wie auch immer«, fuhr ich fort. »Da ich augenblicklich kein festes Einkommen habe, fällt es mir noch schwerer, Geld für Rechte zu bezahlen, die ich gar nicht nutze.« »Dann befinden wir uns wohl in einer Sackgasse«, sagte Slade. »Es sei denn …« Ich rollte die Augen, da ich wusste, dass er taktierte. Rhea räusperte sich, um mir zu bedeuten, dass ich Slades Vorschlag erst einmal anhören sollte. »Es sei denn, was?«, fragte ich seufzend und machte mir nicht die Mühe, meine Ungeduld zu verbergen. Slade strich sich mit dem Finger über die Unterlippe. »Wie wäre es mit einem Kompromiss? Du erlaubst deinem Dämon in meinem Demon Fight Club zu kämpfen, und ich erlasse dir die Steuern.« Giguhl neben mir richtete sich interessiert auf. Ich warf ihm einen Blick zu, um ihm zu bedeuten, den Mund zu halten. »Was ist der Demon Fight Club?« Slade beugte sich vor und sah mich selbstzufrieden an. »Es ist genau das, wonach es klingt. Zwei Dämonen steigen in den Ring 129
und kämpfen miteinander. Meine Gäste lieben das, und ich liebe das Geld, das sie mir dafür bezahlen.« Giguhl rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Ich sah ihn an. Er versuchte unbeeindruckt zu wirken, aber seine Haltung signalisierte mir deutlich, dass er interessiert war. Mir jedoch sagte die Vorstellung, mehr Zeit als nötig in Slades Gegenwart zu verbringen, ganz und gar nicht zu. »Ich weiß nicht …« »Ich finde, das klingt gut …« Ich warf Giguhl einen scharfen Blick zu, und er brach ab. »Ich muss darüber nachdenken«, erklärte ich Slade und Giguhl. Slade nickte. »Tu das, aber lass mich bald wissen, wie du dich entschieden hast. Wenn du absagst, wirst du für jeden Tag, den du mich warten lässt, Zinsen zahlen.« »Ich habe Nein gesagt, Giguhl!« »Ach, komm schon, Sabina.« Der Kater hatte, seitdem wir den Aderlass verlassen hatten, keine Ruhe gegeben. Er streckte den kleinen Glatzkopf aus dem offenen Reißverschluss der Tasche und redete auf mich ein. Die Trennwand zwischen uns und dem Taxifahrer gab uns ein Mindestmaß an Privatsphäre, so dass ich nichts gegen sein Auftauchen hatte. Aber falls er nicht bald aufhörte, mich zu nerven, würde ich ihn in die Tasche verbannen. »Ich habe gesagt, wir sprechen später darüber. Später.« Ich wandte mich ab und blickte auf die Straßen New Yorks, die draußen vorbeizogen. Rhea schwieg, seitdem wir den Club verlassen hatten. »Du stellst doch nur auf stur.« Giguhl verschränkte die Pfoten und machte mir recht eindeutig klar, dass er mich für eine Idiotin hielt, weil ich nicht viel für seinen neuen Kumpel übrighatte. Ich seufzte und sah ihn an. »Darum geht es nicht. Es geht ums Prinzip. Ich sollte Slade nicht einmal einen Cent zahlen müssen.« Rhea seufzte ebenfalls. »Sabina, es tut mir leid, das schon wieder sagen zu müssen, aber es ist Slades gutes Recht, diese Ent130
schädigung von dir zu verlangen. Ich denke, auch Orpheus wird das so einschätzen, wenn er erfährt, was passiert ist.« Ich fluchte innerlich. »Dann ist es ja gut, dass Orpheus nicht auch mein Anführer ist – nicht wahr?« Sie neigte den Kopf. »Hör auf, dir etwas vorzumachen, Sabina. Du kannst nicht erwarten, dass dich der Rat unter seinen Schutz stellt und dich ausbildet, ohne dass du seine Regeln befolgen musst.« »Dann wäre es vielleicht besser, wenn ich wieder verschwinde.« Giguhl lachte. »Ja, klar. Du bist doch nur stinkig, weil dich Slade vor einer Ewigkeit mal über den Tisch gezogen hat.« Damit traf er etwas zu sehr ins Schwarze. Ich ging nicht weiter darauf ein, sondern fragte: »Hast du schon einmal daran gedacht, dass ich dich nur deshalb nicht kämpfen lassen will, weil ich annehme, dass du nicht einmal fünf Minuten durchhalten würdest?« Er legte eine Pfote aufs Herz. »Das tut weh, Sabina«, erwiderte er spöttisch. »Wenn ich etwas zu bedenken geben dürfte«, mischte sich Rhea erneut ein. »Wenn Slade willens ist, Giguhls Teilnahme an einem Ringkampf als Zahlung zu akzeptieren, könnte er eine Weigerung, auf diesen Kompromiss einzugehen, als völlig falsches Signal deuten.« »Was meinen Sie damit?«, wollte ich wissen. Sie zuckte mit den Achseln. »Na ja, nachdem ihr euch offenbar von früher kennt und du so deine Probleme mit ihm hattest, könnte er deine Weigerung als Hinweis darauf verstehen, dass du noch immer nicht über ihn hinweg bist.« Ich seufzte. Gütige Lilith, ich hasste es, wenn man mich auf diese Weise in die Enge trieb. Aber sie hatte Recht. »Bitte«, sagte Giguhl und bedachte mich mit einem seiner großäugigen Katzenblicke.
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Ich schaute von Giguhls flehenden Augen zu Rhea, die mich herausfordernd ansah. Offenbar war ich überstimmt und überlistet worden. Mal wieder. »Gütige Lilith! Also gut. Aber wenn du verletzt wirst, bist du selbst schuld.« »Ach, Sabina. Heißt das, du wirst dann gar nicht meine Wehwehchen wegküssen?« Rhea lachte, und auch ich merkte, wie sich mein Mund langsam zu einem Lächeln verzog. »Du bist echt die größte Nervensäge, die ich kenne. Weißt du das eigentlich?«, fragte ich ohne Wut in der Stimme. »Deshalb hast du mich ja auch so gern.« Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann fragte er: »Du und Slade also, was?« Ich rutschte unruhig auf meinem Sitz hin und her. Über Slade zu reden, war für mich an sich schon schlimm genug, aber das auch noch in der Gegenwart von Adams Tante zu tun, machte mich ausgesprochen befangen. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir kennen uns einfach von früher.« »Euch kennen? Im biblischen Sinne von ›erkennen‹?«, hakte Giguhl mit schelmischem Zwinkern nach. »Offensichtlich«, meinte Rhea. »Die wenigsten Frauen verpassen einem platonischen Freund einen Kinnhaken, würde ich annehmen.« Ich reagierte nicht auf diese Bemerkung. »Das ist doch unwichtig. Schnee von gestern. Schon lange vorbei. Ich kann mich kaum mehr an ihn erinnern.« »Aha.« »Lass das, Mäusefreund.« »Ich meine ja nur. Schließlich habe ich gemerkt, wie er dich angesehen hat.« Ich warf Rhea einen raschen Blick zu. Sie schaute mich über Giguhls Kopf hinweg an und nickte. »Stimmt. Ist mir auch aufgefallen.«
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Ich sah wieder von der Magierin zum Dämon. »Ihr habt sie doch nicht mehr alle.« »Oh, doch. Wirst schon sehen.« Damit verschwand Giguhl wieder in seiner Tasche, um ein Nickerchen zu machen. Ich hingegen verbrachte die restliche Fahrt damit, Rheas wissendem Blick auszuweichen.
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»Bist du bereit, die wunderbare Welt der Magie kennenzulernen?«, fragte Rhea mit übertrieben fröhlicher Stimme. Sie hatte mich gebeten, sie bei Sonnenuntergang im Eingangsbereich von Maisies Wohnung zu treffen. Es war jetzt sechs Uhr abends, und ich war noch nicht ganz wach. Schlimmer war jedoch die Tatsache, dass Rhea darauf bestanden hatte, Giguhl mit dabeizuhaben. Das hatte zur Folge, dass ich mir sein nicht enden wollendes Gejammer anhören musste, während sie uns in den Teil des Gebäudes führte, den sie als Schule nutzten. Ich war fast so weit, den Dämon wieder ins Bett zurückzuschicken, als Rhea eine Tür im obersten Stock des Hauses aufstieß. »Das hier ist die Turnhalle«, erklärte sie und bat uns, einzutreten. Der Raum roch nach altem Schweiß und dem Plastik der blauen Matten, die den halben Boden bedeckten. »Sie wird nicht sehr häufig benutzt, also können wir hier ungestört trainieren.« Damara erwartete uns bereits. Ihren üblichen schwarzen Look hatte sie durch einen finsteren Blick aufgepeppt. Offenbar war ich nicht die Einzige, die mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden war. 133
»Ist alles vorbereitet?«, wollte Rhea wissen. »Hm.« Damara nickte. Rhea schien die missmutige Haltung der jüngeren Magierin nicht aus der Fassung zu bringen. »Gut. Sabina, ich dachte, wir fangen heute Abend damit an, die Fähigkeiten zu testen, die Adam dir beigebracht hat, und bauen dann darauf auf. Hast du dein Zauberbuch mitgebracht?« Ich hielt das in Leder gebundene Buch hoch, das mir Adam in Kalifornien geschenkt hatte. Damals hatte er mich aufgefordert, das Buch mit Notizen über die Tipps und Tricks zu füllen, die ich im Laufe der Zeit über Magie erfahren sollte. Rhea streckte die Hand aus, und ich reichte ihr das Buch. »Schauen wir mal nach.« Sie begann, es durchzublättern. Als sie auf eine leere Seite nach der anderen stieß, sah sie fragend auf. »Wo stehen deine Zaubersprüche?«, wollte sie wissen. Ich beugte mich vor und blätterte bis zur letzten Seite des Buches. »Das ist der Einzige, den ich bisher kann.« Ich deutete auf die Anweisung, mit der ich Giguhl aus Irkalla rufen konnte. Adam hatte sie hinten ins Buch geschrieben, ehe er es mir überreicht hatte. Als ich seine stolze, männliche Handschrift sah, verspürte ich einen Stich. Seit seiner Abreise hatte ich mir die größte Mühe gegeben, mich auf weniger komplizierte Angelegenheiten zu konzentrieren. Zum Beispiel die Prophezeiung oder der Kampf mit den Werwölfen. Eine Beziehung zu Adam wäre bestimmt ein gewaltiger Fehler gewesen. Aber meine Libido wollte offenbar nichts von solchen Warnungen wissen. Falls Rhea meine Tagträumerei aufgefallen war, ließ sie sich nichts anmerken. Stattdessen las sie den Zauberspruch durch und nickte. »Hm, er ist etwas umständlich. Ich kann dir beibringen, wie du den Dämon mit Hilfe eines verkürzten Spruches und ohne das ganze Brimborium rufst.« Froh, nicht länger über Adam nachdenken zu müssen, blickte ich auf. »Wirklich?«
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Sie nickte. »Das Beschwören von Dämonen gehört nicht zu Adams Spezialitäten. Ihm liegt eher die Energiemanipulation. Dieser Zauber ist direkt aus dem Lehrbuch übernommen, aber mit deinen verborgenen Talenten und etwas Übung beherrschst du das bald im Schlaf. Aber zuerst wäre es vielleicht keine schlechte Idee, den Zauber noch einmal so durchzugehen, wie er ihn dir beigebracht hat.« Giguhl hob eine Klaue. »Eine Frage: Wie kann sie mich rufen, wenn ich schon hier bin?« Ich bedachte den Dämon mit einem dankbaren Blick. Zumindest er schien zuzuhören. Ich selbst stand irgendwie neben mir und bekam nicht ganz mit, was um mich herum geschah – fast so, als würde ich die Welt durch eine Milchglasscheibe betrachten. »Das ist einfach«, erwiderte Rhea. »Sie wird einen anderen Dämon rufen.« Das ließ mich aufhorchen. »Aber ich habe noch nie einen anderen Dämon beschworen.« Auf einmal fühlten sich meine Hände feucht an. Die Realität traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Rhea hatte nicht vor, mich langsam an dieses Magiezeugs heranzuführen, sondern schien entschlossen, mich ins kalte Wasser zu werfen. Wenn ich nicht untergehen wollte, musste ich mich jetzt echt konzentrieren. »Keine Angst. Der Vorgang ist derselbe. Du musst einfach nur das Dämonensiegel ändern, das du während der Beschwörung benutzt.« »Hä?« Rhea seufzte. »Jeder Dämon hat sein eigenes Siegel, auch Sigille genannt. Das ist hier Giguhls.« Sie schlug das Buch auf und zeigte auf das Symbol, das Adam hineingezeichnet hatte. Es war ein einfaches Zeichen – ein Kreis, in dessen Mitte eine Zickzacklinie verlief. »Jedenfalls ist jede Sigille einzigartig. Vergleichbar mit einer Telefonnummer. Wenn du das Siegel in die Luft zeichnest, wendest du dich direkt an den jeweiligen Dämon.«
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»Oh.« Ich sah Giguhl fragend an. Er nickte mit gelangweilter Miene. Rhea wandte sich an ihre Assistentin. »Bring uns bitte das Salz, damit Sabina einen Kreis streuen kann.« Die junge Magierin ging zu einem Tisch, der unter den Fenstern stand, wobei sie den ganzen Weg über vor sich hin murmelte. Während Damara die Schachtel mit Meersalz nahm, schnippte Rhea mit den Fingern. Ein Buch erschien in ihrer Hand. »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »geht es darum, die richtige Sigille zu kennen. Je stärker der Dämon, desto komplexer und geheimer sein Zeichen.« Sie durchblätterte die Seiten des Buches. »Jetzt müssen wir uns überlegen, wen du beschwören sollst.« Während sie nach einem passenden Kandidaten suchte, wischte ich mir die feuchten Handflächen an der Jeans ab. Die Sache war die: Während es mir inzwischen nicht mehr schwerfiel, mit Giguhl zurechtzukommen, war unser erstes Treffen doch ziemlich unangenehm gewesen. Adam war damals auf die glorreiche Idee gekommen, den Dämon zu rufen, um mich zu testen. Und mit Test meine ich, dass Giguhl mir einen Pfahl ins Herz rammte. Ich überlebte, aber einige Minuten lang hing mein Leben am seidenen Faden. »Was ist, wenn der Dämon, den ich beschwöre, versucht, mich umzubringen?« Ich wusste, eine Pfählung würde ich überleben, aber Dämonen hatten auch andere Möglichkeiten, jemanden zu töten, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Rhea blickte von dem Buch auf, das sie noch immer durchblätterte. »Dafür gibt es den Kreis. Der hält den Dämon fest.« Sie blickte Giguhl fragend an. »Was bist du eigentlich? Ein Unheilstifter siebten Ranges?« Giguhl schnaubte empört und blies sich zu seiner vollen Größe auf. »Fünften Ranges.« Die Magierin schürzte die Lippen. »Hm.« Endlich blieb ihr Blick an einem Namen hängen, und sie nickte. »Okay, dann
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schauen wir mal, wie stark du bist. Der Dämon, den wir jetzt beschwören, heißt Furfur.« Ich lachte und war auf einmal erleichtert. »Furfur?« Ein Dämon mit einem so dämlich klingenden Namen konnte nicht so schlimm sein, wie ich befürchtete. Das glaubte ich jedenfalls, bis ich Giguhls Miene sah. »Äh … Ist das wirklich eine gute Idee?«, fragte er Rhea und klang zur Abwechslung überraschend ernst. Rhea nickte und lächelte. »Es wird gutgehen. Glaube ich jedenfalls. Und falls nicht, sind wir schließlich auch noch da, um einzuspringen.« Das klang in meinen Ohren nicht sehr vielversprechend. »Moment mal. Warum macht sich Giguhl Sorgen?« Rhea öffnete den Mund, um mir zu antworten, aber der Dämon war schneller. »Furfur ist ein Fürst von Irkalla, der sechsundzwanzig Legionen unter sich hat.« Rhea winkte ab. Das schien sie nicht im Geringsten zu beunruhigen. »Wir müssen nur ein paar Zusatzvorkehrungen treffen, aber das stellt kein Problem dar. Du bist in der Lage, auch einen solchen Dämon zu kontrollieren. Vertrau mir.« Seltsamerweise fiel es mir in letzter Zeit nicht gerade leicht, jemandem zu vertrauen. Verrückt, ich weiß. »Ich habe da so meine Zweifel, Rhea.« »Hör zu – du musst nur ein Dreieck innerhalb des Kreises streuen. Dann bist du doppelt geschützt.« Es war ja nicht so, dass ich Angst hatte. Rhea würde mich bestimmt keinen Dämon rufen lassen, mit dem ich nicht fertigwurde, oder zumindest keinen, mit dem sie nicht fertigwurde, wenn es hart auf hart kam. Ich sah sie an, und die Herausforderung in ihrem Blick und das Grinsen auf ihren Lippen sagten mir, ich hatte keine andere Wahl, als ins kalte Wasser zu springen. Zum Teufel mit den Zweifeln. »Okay. Ich mach’s.«
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Ihr Grinsen wurde breiter. »So gefällst du mir schon viel besser.« Während der nächsten Minuten gab sie mir Anweisungen, wie ich einen Salzkreis auf den Boden streuen sollte, in dessen Mitte sich ein kleineres Dreieck befand. Dann zeigte sie mir Furfurs Sigille, die ich so lange zeichnen sollte, bis ich sie mir eingeprägt hatte. Im Gegensatz zu Giguhls war Furfurs Sigel ein unregelmäßiges Zeichen aus verschiedenen Formen und asymmetrischen Mustern. Als ich das Gefühl hatte, mehr oder weniger zu wissen, wie es aussah, klappte Rhea das Buch zu und trat einen Schritt zurück. »Jetzt stell dir die Sigille vor deinem inneren Auge vor, während du den Dämon rufst. Was immer du tust – überschreite nie diese Linie. Vergiss das nicht.« Sie zeigte auf den Kreis aus Salz. »Viel Glück.« Daraufhin trat sie zu Giguhl und Damara, die mehrere Meter von mir entfernt standen. Giguhl streckte halbherzig beide Daumen in die Höhe, während Damara gähnte und auf ihre Armbanduhr blickte. Ich schluckte und trat an den Kreis. Schweißperlen liefen mir über den Rücken, und wieder rieb ich die Handflächen an meiner Jeans trocken. »Wird schon schiefgehen«, murmelte ich. Ich holte tief Luft und atmete dann langsam wieder aus. Mit geschlossenen Augen begann ich, jeden unnötigen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Vor meinem inneren Auge stand Furfurs Sigille grell leuchtend vor schwarzem Hintergrund. Ich hob die rechte Hand und hielt sie einige Sekunden lang still, ehe ich erneut ausatmete und das komplizierte Zeichen in die Luft zeichnete. »Idimmu Alka!« Mir drehte sich der Magen um. Den Bruchteil einer Sekunde später hallte ein gewaltiger Donner durch den Raum. Ich zuckte zusammen und riss die Augen auf. In der Mitte des Dreiecks bildete sich eine bedrohlich wabernde schwarze Wolke. Statt des
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Schwefelgeruchs, der Giguhls Erscheinen begleitete, füllte sich der Raum diesmal mit dem scharfen Aroma von Ozon. Ich wagte nicht, die Wolke aus den Augen zu lassen. Vor Furcht stockte mir der Atem, während innerhalb des Kreises plötzlich Wind aufkam und die Wolke wegblies. Ich hatte mir nie vorgestellt, wie ein Wesen aussehen würde, das halb Mann, halb Hirsch war. Ich war einfach nicht auf die Idee gekommen. Doch als ich Furfur sah, wurde mir sogleich klar, dass er genau das war – halb Mann, halb Hirsch. Verschlagene Augen starrten mir aus einem menschlichen Gesicht entgegen, sein muskulöser Oberkörper wirkte ausgesprochen maskulin. Das Geweih auf seinem Kopf war so riesig, dass es mich überraschte, wie problemlos er das Gewicht mit seinem menschlichen Hals halten konnte. Sein Unterkörper bestand aus vier kraftvollen Beinen, die mit rehbraunem Fell überzogen waren. Einen Moment lang starrte ich ihn an. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. »Und?« Seine Stimme klang heiser, als rauche er bereits seit einem Jahrtausend täglich mehrere Schachteln Zigaretten. »Äh …« Ich hätte mich am liebsten umgedreht, um irgendeine Art von Anweisung zu bekommen. Aber selbst ich wusste, dass es keine gute Idee war, einem Dämon den Rücken zuzuwenden. »Hi.« Ein elektrischer Blitz zuckte innerhalb des Kreises auf und versuchte die unsichtbare Barriere zwischen uns zu durchbrechen. Ich schreckte zusammen und wich einen Schritt zurück. Der Dämon rührte sich nicht von der Stelle. »Ich habe keine Zeit für Spielchen. Was willst du von mir, Magierin?« »Rhea?«, rief ich über die Schulter. »Ja?« »Ein kleiner Tipp?« »Du machst das super«, erwiderte sie. »Stell ihm eine Frage über deine Zukunft«, schlug Giguhl vor. »Furfur muss die Wahrheit sagen, wenn er durch ein Dreieck 139
festgehalten wird.« Hinter mir ertönte ein Rascheln, gefolgt von einem »He! Aua!« »Dämon, wir wollen, dass Sabina etwas lernt«, tadelte Rhea. »Wenn du ihr alle Antworten vorgibst, schmeißen wir dich raus.« »’tschuldigung«, murmelte Giguhl. Dieser Wortwechsel ließ Furfur die Augen zusammenkneifen, während er seinen Blick auf einen Punkt hinter mir richtete. Offenbar hatte er inzwischen bemerkt, dass nicht nur ich ihn beobachtete. Da ich befürchtete, es würde Giguhl nicht gerade guttun, einen Fürsten aus Irkalla gegen sich aufzubringen, begann ich hastig in Furfurs Richtung zu winken. »He, Bambi, hier bin ich.« Erneut schoss ein Blitz durch den Kreis, als Furfur seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete. »So ist es besser«, sagte ich. Ich rieb die Hände aneinander. Wenn mir dieser Dämon die Wahrheit über meine Zukunft sagen musste, dann war das eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen wollte. Ich wusste auch bereits, was ich ihn fragen wollte. »Okay, ich will Folgendes wissen: Habe ich ein Schicksal, dem ich nicht entgehen kann?« Furfur legte den Kopf schief und schürzte die Lippen. Sobald ich die Frage gestellt hatte, bereute ich sie bereits. Was war, wenn er mir erklärte, dass Maisie mit ihrer Prophezeiung Recht hatte? War ich überhaupt bereit, einem solchen Druck standzuhalten? Nach einer halben Ewigkeit zeigte sich auf Furfurs Gesicht ein Grinsen. »Die Antwort auf deine Frage lautet …« Er hielt um des dramatischen Effekts willen inne. Ich wagte kaum zu atmen. In der Turnhalle herrschte völlige Stille. »Ja«, sagte er schließlich. Ich atmete langsam aus. Mist, wie konnte ich nur eine so dämliche Ja-oder-nein-Frage stellen? »Nein. Was ich meinte, war, wie mein Schicksal aussieht.« Furfur schüttelte den Kopf. »Du hast nur eine Frage. Mehr beantworte ich nicht.« 140
Ich runzelte frustriert die Stirn. »Rhea? Stimmt das?« »Ja. Du hast nur eine Frage.« Ich hörte, wie Giguhl murmelte: »Nochmal mit einem blauen Auge davongekommen.« »Verdammt«, sagte ich. »Also gut. Du kannst jetzt wieder verschwinden.« Nichts geschah. Hinter mir räusperte sich Rhea. »Gütige Lilith«, fluchte ich. Mein Fehler hatte mich derart aus der Bahn geworfen, dass ich mich einen Moment lang nicht mehr daran erinnern konnte, wie man einen Dämon nach Irkalla zurückschickte. Dann fiel es mir wieder ein. »Idummu bara nadzu.« Wieder ertönte ein lautes Donnern, wieder stieg eine schwarze Wolke in die Luft, dann war Furfur verschwunden. »Langweilig!«, rief Giguhl hinter mir. Ich drehte mich um und durchbohrte den Dämon mit einem finsteren Blick. »Du hättest ruhig sagen können, dass ich nur eine Frage stellen kann.« »Woher sollte ich denn wissen, dass du eine so dämliche Frage stellst?« »Kinder«, mischte sich Rhea ein und trat zwischen uns. »Wir wollen uns doch nicht auf das Negative konzentrieren. Viel wichtiger ist jetzt, dass Sabina erfolgreich einen Fürsten aus Irkalla beschworen hat – und zwar ohne jeglichen Zwischenfall. Ich würde sagen, die erste Stunde war ein voller Erfolg.« Ein voller Erfolg … Witzbold, dachte ich. Natürlich war es mir gelungen, einen Dämon zu rufen und ihn dann wieder fortzuschicken, aber mit Ruhm bekleckert hatte ich mich dabei nicht. Es frustrierte mich, nicht zu wissen, welche ungeschriebenen Gesetze es gab und wie ich mich verhalten sollte. Die Magie war eine neue Welt für mich – eine Welt, in der ich mich fremd fühlte. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Meine rationale Seite sagte mir, das hier würde ich nur durch Erfahrung lernen. Und Erfahrungen sammelte man, indem man Fehler machte und Zusammenhänge 141
verstand. Doch meine ungeduldige, überkritische Seite – die in letzter Zeit wesentlich stärker war – beschäftigte sich bereits damit, mich niederzumachen. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Ich hatte Jahre damit verbracht, zur Auftragskillerin ausgebildet zu werden. Ich hatte meine Lektionen gelernt und war stolz auf meine Fähigkeiten. Ich war doch nicht irgendeine dahergelaufene Amateur-Hexe. Verdammt, ich war ein knallharter Vampir, der bereits über fünf Jahrzehnte Lebenserfahrung hatte. Und dieser Vampir hätte klüger sein müssen. Ein solcher Fehler hätte mir nicht unterlaufen dürfen. Die Tatsache, dass ich in puncto Zauberei kaum Erfahrung hatte, zählte in diesem Moment nicht. An mich selbst stellte ich die höchsten Ansprüche. Und allein die Vorstellung, dass ich während der bevorstehenden Ausbildung noch viele solcher Fehler begehen würde, ließ meinen Kopf vor Wut anschwellen wie ein Ballon kurz vor dem Platzen. »Sabina?«, fragte Rhea. »Woran denkst du? Was ist los? Du siehst aus, als wolltest du jemandem an die Gurgel springen.« Ja, dachte ich. Mir selbst. Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, was eben passiert ist. Es wäre mir recht, wenn mich das nächste Mal jemand warnen könnte, damit ich weiß, was ich zu erwarten habe.« Die Magierin lächelte. »Und wie willst du etwas lernen, wenn ich dir alles mundgerecht vorsetze? Learning by doing ist das Beste, was es gibt.« »Aber ich habe es total vermasselt.« Sie legte den Kopf schief. »Nein, hast du nicht. Wenn du es vermasselt hättest, wären wir alle jetzt tot. Nein, du hast etwas gelernt. Und das ist nie falsch.« »Aber ihr hättet mich vorher warnen können, dass …« Sie hob die Hand. »Sabina, wir sollten eines von vornherein klarstellen. Ich bin nicht dazu da, deine Hand zu halten und dich deinem Leben als Magierin vorsichtig näherzubringen. Das hier ist ein magisches Trainingslager. Du wirst immer wieder Fehler 142
machen. Daran solltest du dich besser gewöhnen. Aber ich verspreche dir, dass du keinen Fehler zweimal begehst. Also hör auf, dir Vorwürfe zu machen, weil du nicht alles weißt. Das erwarte ich nicht von dir. Und du solltest es auch nicht.« Ich nickte, aber innerlich rief mir jede Faser meines Wesens zu, dass sie sich irrte. Dreiundfünfzig Jahre lang war mir eingetrichtert worden, ich müsste schneller, klüger und besser sein als der durchschnittliche Vampir. So etwas verschwand nicht einfach über Nacht. Meine Großmutter hatte mir von frühester Kindheit an eingebläut, ich müsse perfekt sein. Die Enkelin der AlphaDomina durfte nicht einfach durchschnittlich sein. Und ein Mischling zu sein, bedeutete noch weniger Freiraum. Wenn ich Respekt und Anerkennung wollte, musste ich beweisen, wie gut ich war. Aber in einer Hinsicht hatte Rhea Recht: Ich würde nicht denselben Fehler zweimal machen. »Ich glaube, das reicht für heute«, sagte die Magierin. »Morgen Abend fangen wir damit an, deine chthonischen Kräfte zu stärken. Aber für heute hast du dich sehr gut geschlagen.« Ich nickte und wandte mich dem Ausgang zu. Giguhl kam mir draußen im Gang hinterher. »Ich möchte«, sagte ich zu ihm, »dass du mir eine schnelle Einführung in die Welt der Dämonen gibst.« Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wirklich?«, fragte er. Ich nickte. »Wenn ich von jetzt an öfter einen beschwören soll, lerne ich besser schnell alles, was es so über Dämonen zu wissen gibt. Ich will wissen, wie ihr tickt – verstehst du?« Giguhl nickte. »Das geht aber nicht in einer Nacht. Das ist dir schon klar – oder? Ich weiß nämlich auch nicht alles, und ich bin seit fünfhundert Jahren einer.« Ich klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. »Dann sollten wir besser anfangen«, erklärte ich und grinste.
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Auf dem Weg zurück in unsere Zimmer begegneten wir Maisie. Giguhl war gerade dabei, mir den komplizierten Aufbau der Dämonenregierung zu erklären. Maisie kam aus der Ratskammer. Sie machte ein besorgtes Gesicht und bemerkte uns zuerst gar nicht. »Hallo, Maisie!«, rief ich ihr zu. Sie schreckte auf, doch als sie uns sah, verschwanden die Falten auf ihrer Stirn. »Wie lief das Training?« Sie lächelte, wirkte aber noch immer nicht ganz bei der Sache. Ich seufzte. »Rhea hat auf jeden Fall eine interessante Art, einem etwas beizubringen.« Maisie fiel mein sarkastischer Unterton auf, und sie sah mich fragend an. »Aber es hat dir doch etwas gebracht, oder nicht?« Ihr besorgter Tonfall zeigte mir, wie sehr sie das hoffte. Ich versuchte zu verstehen, was in ihr vorging. Offensichtlich glaubte sie, dass eine direkte Verbindung zwischen meiner Ausbildung zur Magierin und ihrer Prophezeiung bestand. Deshalb war es ihr natürlich wichtig, dass ich rasch lernte – vor allem wenn der Rat kurz davor stand, eine Entscheidung für oder gegen einen Krieg zu fällen. »Ja, ich denke schon«, erwiderte ich zurückhaltend. Ich wollte zwar optimistisch klingen, aber auch nicht übertreiben. Mir gefiel die Vorstellung nicht, dass Maisie oder sonst jemand Hoffnung in mich setzte. Meine Schwester schien sich ein wenig zu entspannen. »Du musst mir später alles genau erzählen, aber jetzt ist es ungünstig. Ich bin gerade auf dem Weg zu einem Diplomaten vom Hof der Königin Maeve.« 144
Ich horchte auf. Die Erwähnung des Namens der Feenkönigin ließ mich an Adam denken. Am liebsten hätte ich Maisie auf der Stelle gefragt, ob sie etwas von ihm gehört hatte. Selbstverständlich, so redete ich mir ein, bezog sich meine Neugier nur auf seinen Auftrag. Insgeheim wusste ich natürlich, dass das nicht stimmte. Er fehlte mir. Als Freund, versteht sich. Wir hatten in den vergangenen Wochen so viel Zeit miteinander verbracht, dass ich mich an seine ständige Gegenwart mehr als gewöhnt hatte. Das war alles. Doch nachdem mich Maisie erst vor kurzem so neugierig nach meinem Verhältnis zu Adam befragt hatte, wollte ich sie nicht weiter ermutigen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte ich also stattdessen. Maisie zuckte mit den Achseln. »Soweit man das bei einem Rat sagen kann, dessen Mitglieder sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Ich muss jetzt mit dem Abgesandten der Feen sprechen und erklären, warum wir uns noch immer nicht einigen konnten. Der Königin wird das ganz und gar nicht behagen.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss leider wirklich weiter. Lass uns später über dein Training reden. Einverstanden?« Ich nickte und sah ihr dann nachdenklich hinterher, als sie den Gang entlang davoneilte. So wenig ich mit Politik am Hut hatte, sosehr machte ich mir doch darüber Sorgen, wie sich der Rat entscheiden würde. Trotz Maisies Vorhersage glaubte ich noch immer, es müsse auch eine andere Lösung geben. Meine Schwester hingegen hatte nicht mehr die Freiheit, abzuwarten und zu sehen, wie sich die Dinge entwickelten. Ich mochte noch so sehr über die Tatsache jammern, dass ich diese dämliche Magie lernen und mich mit Maisies und Rheas Theorien über die Prophezeiung auseinandersetzen sollte – aber in Wahrheit verspürte ich nicht einmal den Bruchteil des Druckes, unter dem Maisie stehen musste. Der Rat verließ sich bei Entscheidungen auf ihre Visionen. Ebenso wie er auf ihr diplomatisches Geschick baute, wenn es darum ging, ihre Verbündeten bei
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Laune zu halten. Der Anspannung nach, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, lastete ein schweres Gewicht auf ihr. »He, Maisie!«, rief ich ihr hinterher. Sie blieb stehen und drehte sich mit gequälter Miene zu mir um. »Ja?« »Viel Glück!« Ihr Gesicht hellte sich überrascht auf. »Danke.« Sie winkte mir zu und lief dann weiter. Ich wandte mich zu Giguhl und merkte, dass er mich forschend anblickte. »Was?« »Nichts«, erwiderte er. Aber ganz offensichtlich überlegte er, was dieser Austausch mit meiner Schwester für eine Bedeutung hatte. Mir war es ganz recht, wenn er den Mund hielt und mir zur Abwechslung einmal nicht seine Gedanken darlegte. Dieser kurze Ausruf »Viel Glück« schien ein Tor geöffnet zu haben, und ich spürte, wie ich noch stärker in den Strudel des Lebens mit den Magiern hineingerissen wurde. Mit jeder Stunde glitt ich tiefer hinein, ob mir das gefiel oder nicht. Aber es war mir lieber, mir noch eine Weile etwas vorzumachen. Zumindest bis ich die Situation etwas besser verstand. Schon bald würde der Tag kommen, an dem mich die Magier dazu zwingen würden, meine Karten auf den Tisch zu legen und mich offen zu ihnen zu bekennen. »Also«, sagte ich, um das Thema zu wechseln. »Du hast gerade vom komplizierten Verwaltungsapparat in Irkalla gesprochen.« Giguhl lächelte wissend, tat mir aber den Gefallen, die Sache zumindest für den Moment auf sich beruhen zu lassen. »Oh, ja, Dämonen lieben Bürokratie. Wenn es ginge, würden sie dich dazu zwingen, fünfzig verschiedene Formulare auszufüllen und zwar in dreifacher Ausführung, nur um dir die Erlaubnis zu erteilen, mal austreten zu dürfen.«
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Er fuhr fort, die gesellschaftliche Struktur der Dämonen auseinanderzunehmen, während wir in Richtung von Maisies Wohnung weitergingen. Ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. In Gedanken beschäftigte ich mich mit der Frage, was wohl passieren würde, wenn sich der Rat für einen Krieg entschied. Aber so sehr ich mich auch darum bemühte – einer solchen Entscheidung konnte ich einfach nichts Positives abgewinnen. Am nächsten Abend drängte ich mich durch die Menge, die sich in der düsteren Kampfarena im Aderlass zusammengefunden hatte. Meine Ellbogen brachten mir sowohl ein bisschen Platz als auch so manchen wütenden Blick ein, aber ich ließ mich nicht beirren. Giguhl stand auf einer Seite desselben Kampfrings, in dem ich einige Abende zuvor gegen Michael Romulus gekämpft hatte. Seine schuppige grüne Brust glänzte im Licht der beiden Glühbirnen, die von der Betondecke hingen. In seinen funkelnden Ziegenaugen stand deutlich wilde Entschlossenheit. Ich warf einen Blick nach links, wo bereits sein Gegner wartete. Es handelte sich um einen kleineren Dämon mit Fledermausgesicht und dem Körper eines Neandertalers. Ich beobachtete, wie er seine Arme ausbreitete und einen schrillen Schrei ausstieß. Während ich zusammenzuckte und mir die Ohren zuhielt, begann die Menge um mich herum zu toben. Giguhl spuckte lässig aus. Er schien von den Drohgebärden seines Gegners nicht im Geringsten beeindruckt. Diese MachoSeite kannte ich sonst gar nicht von ihm. Soweit ich das beurteilen konnte, würde der Kampf jeden Augenblick losgehen. »Verdammt, nein!«, brüllte ich über den Lärm hinweg. Ich fing an, mich erneut an den Leuten vorbeizudrängen, um zu meinem Dämon durchzukommen. Zwar hatte ich diesem Kampf zugestimmt und Slade sogar selbst angerufen, um ihm das mitzuteilen, doch jetzt, als ich die wilde Menge und die tödliche Entschlos-
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senheit in den Augen des Fledermaus-Dämons sah, änderte ich meine Meinung. »Giguhl!« Ich musste laut brüllen, um gegen all die anzuschreien, die glaubten, meinem Dämon noch ein paar Ratschläge erteilen zu müssen, ehe der Kampf begann. »Giguhl!« Er drehte den Kopf, bis er mich entdeckte. Ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. »Sabina!« Ich packte ihn an seinem grünen Bizeps und zog ihn zu mir. »Ich habe meine Meinung geändert.« »Was?« »Ich finde nicht, dass du kämpfen solltest.« Giguhl schnaubte und versetzte mir dann einen freundschaftlichen Stoß in die Seite. »Sabina, jetzt beruhig dich mal. Dem zeig ich schon, wer hier der Boss ist.« »Nein, wirst du nicht.« Er kniff die Augen zusammen. »Warum nicht?« Ich dachte einen Moment lang nach und versuchte mir darüber klar zu werden, was ich eigentlich wollte. »Darum.« Giguhl lachte. »Ah – du hast Angst um mich.« »Quatsch«, murmelte ich. Slade bahnte sich einen Weg durch die Menge, bis er neben mir stand. Es war mir gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen, seit wir angekommen waren, aber jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, ihn zu ignorieren. »Was ist hier los?«, wollte er wissen. »Ich verbiete ihm, zu kämpfen.« Slade runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Sobald die Kampfansage erfolgt ist, muss der Kampf auch stattfinden. So lautet die dritte Regel des Demon Fight Club.« »Ich pfeife auf die Regeln. Er ist mein Dämon, und ich ziehe hiermit meine Erlaubnis zurück. Er darf nicht mehr kämpfen.« »Das ist so was von peinlich«, jammerte Giguhl. »Hör auf, dich wie meine Mutter aufzuführen.« »Und was ist, wenn du verletzt wirst?«
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»Sabina. Ich bin fünfhundert Jahre alt. Ich habe einiges an Erfahrung. Das Viertel in Irkalla, aus dem ich stamme, lässt ein Gefängnis wie eine Vorschule aussehen. Und du glaubst, ich kann keinen verdammten Schänder-Dämon besiegen?« Unter den Blicken der beiden Kerle, die mich finster anstarrten, lief ich rot an. Natürlich war Giguhl in der Lage, seinen Mann zu stehen. Seine Fähigkeiten infrage zu stellen, war eine regelrechte Beleidigung. Ich seufzte. »Gut. Aber lass dir nichts gefallen. Ich habe nämlich keine Lust, mich um dich zu kümmern, falls dir doch etwas passieren sollte.« Giguhl grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Lehn dich einfach zurück und genieß die Show. Okay?« Nachdem Slade sicher war, dass der Kampf tatsächlich stattfinden würde, trat er in die Mitte des Rings und hob die Hand. Sofort kehrte Ruhe ein. Die Menge lauschte seinen Worten. »Es ist an der Zeit, die Regeln des Demon Fight Club zu wiederholen. Regel Nummer eins?« Alle brüllten im Chor: »Sprich niemals über den Demon Fight Club!« Mir klappte die Kinnlade herunter. Meinte Slade das wirklich ernst? »Zwei?« Ich rollte mit den Augen. »Na, da bin ich ja mal gespannt«, murmelte ich. Wieder antwortete die Menge: »Sprich NIEMALS über den Demon Fight Club!« »Ausgezeichnet!« Slade nickte zustimmend ohne den Anflug von Ironie. »Und jetzt der Rest. Nummer drei: Wenn einmal eine Kampfansage gemacht wurde, muss der Kampf auch stattfinden.« Er hielt inne und warf mir einen Blick zu. Ich biss die Zähne zusammen und starrte ihn finster an. Dieser einfallslose Idiot war noch nicht fertig. »Viertens: Es kämpfen immer nur zwei Dämonen. Fünftens: Keine Waffen, weder magische noch sonstige.«
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Ich sah Giguhl an. Diese Regel erklärte auch den breiten Messingring um seinen Hals. Messing schwächt jede Form von Magie. Falls ein Dämon also versuchen sollte, einen Zauber gegen seinen Gegner einzusetzen, hätte er damit kein Glück. »Sechstens: Sobald ein Kampf begonnen hat«, fuhr Slade fort, »muss er weitergehen, bis einer der Kämpfer um Gnade fleht.« Wieder machte er eine Pause. Die Spannung im Raum stieg, und ich ahnte, dass mir Regel Nummer sieben nicht gefallen würde. »Und wie lautet Regel Nummer sieben?«, wollte er schließlich von der Menge wissen. »Keine Gnade!« Die Menge begann erneut zu toben. Überall um mich herum wechselte Geld den Besitzer, während Magier, Vampire und Feen Wetten darauf abschlossen, wer von den beiden gewinnen würde. Es sah so aus, als ob die Menge Fledermausgesicht mit drei zu eins den Vorzug gab. Auf einmal ertönte eine Klingel. Mein Herz setzte einen Moment lang aus, und ich packte Giguhl erneut am Oberarm. »Es ist noch nicht zu spät, das Ganze abzubrechen, Giguhl.« Er blickte zu mir herab. »Du hast die Regeln gehört, Sabina. Und jetzt schau zu und staune.« Damit sprang er federnden Schrittes in die Mitte der Arena. Er hüpfte dabei so locker und voller Energie hin und her, wie Rocky Balboa in Dämonengestalt. Ich konnte nur noch hoffen, dass die hinterhältige Erscheinung des Schänder-Dämons kein Hinweis darauf war, mit welch fiesen Bandagen er kämpfte. Der Schänder-Dämon kam wie ein wütender Bulle aus seiner Ecke und zielte mit dem Schädel auf Giguhls Bauch. Überraschend flink für seine Größe sprang dieser beiseite. Der Schänder aber konnte nicht mehr anhalten und hielt direkt auf den Rand des Rings zu. Heftig prallte er in die Seile und riss ein paar Magier um, die in der ersten Reihe gestanden hatten. Giguhl hob triumphierend die Arme hoch und tänzelte erneut in die Mitte. Die
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Menge jubelte ihm begeistert zu. Er genoss die Aufmerksamkeit, was ihn allerdings leider auch von seinem Gegner ablenkte. »Giguhl, pass auf!«, brüllte ich. Er drehte sich nicht rechtzeitig um, und es gelang dem Schänder, ihn fast aus dem Ring zu schleudern. Erst jetzt begriff das Publikum, wie gefährlich es war, den Kämpfenden so nahe zu kommen. Geschlossen wichen sie ein paar Schritte zurück. Giguhl ließ sich durch den Sturz nicht aus der Fassung bringen. Mit einem herausfordernden Grinsen sprang er wieder auf. Fledermausgesicht konterte mit einem blitzschnellen Fausthagel und schleuderte Giguhl erneut zu Boden. Diesmal erhob er sich langsamer. Blut tropfte ihm aus dem Mundwinkel. »Scheiße.« Ich trat einen Schritt vor und bedauerte es erneut, ihm erlaubt zu haben, mitzukämpfen. Doch dann wurde mir klar, dass er es mir niemals verzeihen würde, wenn ich mich jetzt einmischte. Dämonen und ihr zerbrechliches Ego … Also ballte ich die Fäuste und machte mich daran, ihm stattdessen Ratschläge zuzurufen. »Auf die Eier!« »Die Augen! Die Augen!« »Nein! Du musst deine Hände oben halten!« Ich spürte, dass mich jemand anstarrte. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass es Slade war, der auf der anderen Seite des Rings stand und mich beobachtete. Einen Moment lang blickte er mir in die Augen, doch der hässliche Laut einer Faust, die auf Fleisch traf, lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf vor mir. Giguhls Unterlippe schwoll gewaltig an. Blut tropfte ihm aufs Kinn. Der Schänder drang mit weiteren harten Schlägen auf ihn ein, wobei er diesmal Giguhls Brust bearbeitete. Das Toben der Menge war ohrenbetäubend, aber ich glaubte trotzdem ein paar Rippen brechen zu hören. Wieder trat ich vor, bereit, der Schlachterei ein Ende zu machen. Doch als ein greller Schrei durch die Arena hallte, blieb ich 151
abrupt stehen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich den markerschütternden Laut vernahm. Irgendwie war es Giguhl gelungen, den Schänder mit dem Gesicht auf den Boden zu drücken. Eine schwarze Klaue hielt den Kopf des Ungeheuers fest, während die andere den Arm des Gegners weit nach hinten riss und ihm hörbar die Schulter auskugelte. »Weiter so!«, brüllte ich begeistert. Giguhl ließ den Arm los, der wie ein lebloses Stück Fleisch zu Boden fiel. Offenbar wollte er seine Taktik ändern und zerrte den Schänder an seinen ölig schwarzen Haaren nach oben. Mit der freien Klaue schlug ihm Giguhl ins Gesicht, so dass Blut auf den Betonboden zu strömen begann. Trotz meiner Erleichterung, dass Giguhl jetzt die Oberhand hatte, war mir immer noch mulmig zumute. Gewalt war mir wahrhaftig nicht unbekannt, aber Giguhls Heftigkeit verblüffte selbst mich. Slade blickte mich erneut über die blutige Szene hinweg an. Ich wollte, dass Giguhl gewann, aber ich brachte diesen blutrünstigen Kämpfer nicht so recht mit dem Dämon in Einklang, der sich in Katzengestalt neben mir zusammenrollen und zufrieden schnurren konnte. »Gnade!« Dieses eine Wort ließ alle im Raum den Atem anhalten. Es war der Schänder, der inzwischen keine Nase mehr hatte. Eines seiner Augen rollte über den Boden und landete neben Slades Fuß. Dieser stieß es beiseite, als er in den Ring trat. Dort hob er Giguhls Arm in die Höhe. »Und der Sieger heißt … Giguhl!« Die Menge fing begeistert an zu toben und skandierte Giguhls Namen. »Gi-guhl! Gi-guhl!« Slade hob die Hand, damit wieder Ruhe einkehrte. In der Arena wurde es augenblicklich still. Nur noch Fledermausgesichts erbärmliches Wimmern war zu hören. »Regel Nummer sieben?« »Keine Gnade!« 152
»So soll es sein!« Slade schlug Giguhl auf den Rücken und winkte dann einen Magier heran, der außerhalb des Rings stand. Es war ein kleiner glatzköpfiger Kerl mit fettigem schwarzen Haar. Er runzelte finster die Stirn und kletterte dann in den Ring, wo er sich über den noch immer am Boden liegenden Dämon beugte. Der Schänder flehte um Gnade, doch der Magier weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen. Stattdessen zeichnete er eine Reihe kompliziert wirkender Zeichen in die Luft, ehe er die Worte aussprach, die den Dämon wieder nach Irkalla zurückschickten. Der Schänder verschwand. Nur eine Lache schwarzen Blutes blieb auf dem Betonboden zurück. Giguhl sah mich an und grinste über das ganze Gesicht. Auch ich versuchte zu lächeln, wenngleich mir dabei ausgesprochen unwohl zumute war. Es sah ganz so aus, als ob mein kleiner Dämon erwachsen geworden wäre.
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Während sich Giguhl nach dem Kampf etwas frischmachte, saß ich an der Bar und nippte an einem Glas Bloody Magdalene. Earl hatte sich mit dem Wodka zurückgehalten, was mir ganz recht war, da ich momentan vor allem Blut brauchte. Ich war mir nicht sicher, woher Slade das Blut hatte, aber es handelte sich auf keinen Fall um das Blutbankzeug, auf das Maisie bestand. Wie ich Slade kannte, hatte er irgendwo eine Quelle auf dem Schwarzmarkt aufgetan, die ihn mit frischerem Blut versorgte als dem, das Maisie bekam. Doch selbst dieses Gesöff be153
saß den chemischen Beigeschmack von Antigerinnungsmitteln. Ich gierte noch immer nach Blut direkt aus der Vene, doch nach dem Kampf mit Romulus hielt ich es für das Beste, mich an Maisies Gebot zu halten und keinen Menschen anzugreifen. Schließlich wollte ich nicht schon wieder in Schwierigkeiten geraten. In einer Ecke der Bar saß eine Nymphe auf dem Schoß eines männlichen Vampirs. Ihr Make-up war offenbar mit einer Maurerkelle aufgetragen worden, und die blonden Haare hatte sie zu einer Art Rattennest hochgesteckt. Ihre Beine steckten in zerrissenen Netzstrümpfen, und ich konnte das Strumpfband unter ihrem pinken Kunstlederrock hervorblitzen sehen. Sie kicherte über das, was der Vamp sagte, aber ihre Augen erreichte das Lachen nicht. Während ich den beiden wie eine Voyeurin zusah, legte der Kerl eine bleiche Hand auf ihren Oberschenkel und drückte zu. Er trug einen großen Goldring mit einem roten Stein in der Mitte. Die Fee schnitt eine Grimasse, als er sie derart begrapschte, aber setzte gerade noch rechtzeitig ein Lächeln auf, als er sie ansah. Die Erinnerung an eine andere Nymphe lastete schwer auf meiner Seele. Wir hatten Vinca vor weniger als zwei Wochen beerdigt. Ehe ich in ihr Leben getreten und sie auf dem Weingut ums Leben gekommen war, hatte Vinca eine Zeit lang für einen Feen-Pornoring gearbeitet. Als ich nun die Nymphe auf dem Schoß des Vampirs beobachtete, fragte ich mich, ob auch Vincas Gesicht so viel Hoffnungslosigkeit ausgestrahlt hatte. Allein die Vorstellung brachte mich dazu, die Fäuste zu ballen. Ich wäre am liebsten zu den beiden hingegangen und hätte die Fee vom Schoß des Kerls gerissen. Ich wollte sie schütteln und ihr erklären, dass es andere Wege gab, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich wollte sie warnen und anflehen, diese Stadt zu verlassen, ehe sie von ihr verschlungen wurde. Doch gerade als ich mich dazu durchgerungen hatte, aufzustehen, sah ich, wie der Vampir den oberen Teil seines auffälligen Rings aufklappte. Er holte eine kleine grüne Pille heraus. Die ro154
safarben schimmernden Lippen der Fee verwandelten sich in ein echtes Lächeln, und ich konnte den ersten Anflug von Zufriedenheit auf ihrem Gesicht erkennen. Der Typ hielt ihr die Pille vor den Mund. Ihre Zunge schoss heraus, und sie schluckte sie gierig hinunter. Als die beiden damit fortfuhren, sich gegenseitig die Zunge in den Hals zu stecken, wandte ich mich ab. Wem wollte ich etwas vormachen? Ich brauchte mir nicht einzubilden, als große Retterin auftreten zu können. Außerdem hatte ich ganz sicher nicht das Recht, anderen zu sagen, wie sie ihr Leben leben sollten. Ich trank mein Glas leer und gab Earl ein Zeichen, mir ein neues zu bringen. Dann sah ich, wie Giguhl die Bar betrat und auf mich zukam. Während er durch den Raum ging, kamen mehrere der Gäste auf ihn zu und schüttelten ihm die Hand. Zwei Nymphen, ähnlich gekleidet wie die Blonde, die ich gerade beobachtet hatte, hängten sich wie greller Christbaumschmuck an seine Oberarme. Ein helles Lachen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es stammte von der ersten Nymphe. Sie bemerkte nicht, dass ich sie beobachtete, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, den Vampir am Schwanz in ein Hinterzimmer zu ziehen. »Wie geht’s, Boss?«, fragte Giguhl und blieb vor mir stehen. Die beiden Feen würdigten mich keines Blickes. Giguhl schien ihre Bewunderung allerdings in vollen Zügen zu genießen. »Hi, G. Bereit zum Gehen?«, fragte ich. Er zog die schwarzen, buschigen Augenbrauen zusammen. »Eigentlich noch nicht. Tansy und Cinnamon haben mich gerade auf eine kleine Party eingeladen.« Ich scheuchte die Nymphen fort, ohne auf ihre Proteste zu achten, und zog Giguhl dann an einen kleinen Seitentisch. »G, du weißt, dass diese Nymphen Prostituierte sind, oder?« Er überlegte eine Sekunde. Ich befürchtete einen Moment lang, ich hätte seinen Traum von einem flotten Dreier mit den zwei Feen unnötig brutal zerstört. Meine Besorgnis war allerdings völlig unnötig, denn eine Augenblick später warf er seinen gehörnten 155
Kopf zurück und lachte dröhnend. »Natürlich weiß ich das! Weshalb glaubst du wohl, bin ich so begeistert?« »Dir macht es also nichts aus, für Sex zu zahlen?« Er sah mich überrascht an. »Sabina, ich bin ein Dämon. Und als ich mich das letzte Mal umgesehen hatte, gab es auf dieser verdammten Erde nirgendwo eine scharfe Dämonin für mich. Also muss ich mich mit den Gelegenheiten zufriedengeben, die sich mir bieten. Außerdem hat mich der Erotiksender in meinem Zimmer bei Maisie auf ein paar Ideen gebracht, die ich echt gerne ausprobieren würde.« Ich runzelte die Stirn. »Der Erotiksender?« Er nickte. »Ich kann überhaupt nicht glauben, dass ich so viel Zeit mit diesem Shoppingkanal vertan habe, wenn ich mir stattdessen vierundzwanzig Stunden lang hätte Pornos anschauen können.« Ich massierte mir langsam den Nasenrücken und versuchte cool zu bleiben. »Jedenfalls haben Tansy und Cinnamon nichts dagegen, ein paar neue Manöver auszuprobieren, die ich gerade bei ›Meister der Mösen‹ gesehen habe.« Ich öffnete und schloss mehrmals hintereinander den Mund wie ein verwirrter Karpfen. Mir fiel nicht ein, was ich darauf erwidern sollte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als zu nicken. »Gut, aber mach schnell.« »Okay!« Giguhl streckte eine Klaue in die Luft. Er wollte sich gerade zum Gehen wenden, als ich ihn noch einmal am Arm packte. »Moment. Wie willst du dafür bezahlen?« Er zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche. »Slade hat mir meinen Anteil nach dem Kampf ausgezahlt.« Ich biss die Zähne zusammen, als ich das Geld in seiner Klaue sah. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Slade normalerweise den Besitzer des Dämons ausbezahlte und nicht dem Dämon selbst seinen Anteil gab. Die Tatsache, dass er es in diesem Fall 156
anders gehalten hatte, zeigte mir deutlich, was seine Absicht war: Er wollte Giguhls Zuneigung erkaufen. »Okay. Verbrate es aber nicht alles auf einmal.« Während mein Dämon mit den zwei Prostituierten davoneilte, ließ ich mich wieder auf dem Barhocker nieder und bestellte noch einen Drink. Es sah ganz so aus, als wartete eine lange Nacht auf mich. Kurz darauf tauchte Slade auf, bereit mich erneut zu ärgern. Er trug einen neuen, teuren Anzug und hatte eine berechnende Miene aufgesetzt. Ohne mich zu fragen, ob er störe, setzte er sich auf den Hocker neben mir. Es missfiel mir, aber bei einem Typ wie Slade war es besser, sich gleichgültig zu geben. Sobald solche Kerle wussten, dass sie einen irritieren konnten, glaubten sie, die Oberhand zu haben. »Dein Dämon wird uns beiden ziemlich viel Geld einbringen. Da bin ich mir sicher.« Aber zu welchem Preis? Slades blaue Augen funkelten triumphierend. Freute er sich über die Tatsache, dass Giguhl sein Bankkonto wachsen lassen würde oder dass es ihm gelungen war, sich wieder in mein Leben zu drängen? »Freu dich nicht zu früh«, sagte ich und wandte mich ihm zu. »Meine Schuld ist bezahlt. Das war der erste und der letzte Kampf.« »Hm«, sagte er. »Giguhl schien da anderer Ansicht zu sein, als ich vorhin kurz mit ihm gesprochen habe.« Ich zuckte mit den Achseln. »Er kann denken, was er will«, schwindelte ich. »Letztlich tut er genau das, was ich sage.« Slade schürzte die Lippen und gab Earl ein Zeichen, ihm etwas zu trinken zu bringen. »Hör zu, Sabina. Ich weiß, dass ich dich in L.A. über den Tisch gezogen habe. Und das tut mir aufrichtig leid. Aber du musst verstehen, dass mir damals keine andere Wahl geblieben ist. Ich hatte bereits beschlossen, dass es mein letzter Auftrag sein würde, ehe mir die Dominae erklärten, dass 157
du mit mir zusammenarbeiten würdest. Ich war ausgebrannt. Fertig. Ich musste weg.« »Trotzdem hast du mich ausgenommen. Du hättest einfach nur die Hälfte der Bezahlung nehmen und dann verschwinden können. Das wäre irgendwie in Ordnung gewesen, und ich wäre nicht immer noch sauer auf dich. Doch das hast du nicht getan. Du bist mit dem ganzen Geld abgehauen.« »Ich habe auch das ganze Geld gebraucht. Ich hatte bereits vor, diese Bar hier zu kaufen und brauchte die Summe, für einen Neuanfang. Es tut mir wirklich leid, dass du da mit hineingezogen wurdest, aber mir blieb keine andere Wahl.« Ich starrte ihn finster an. »Man hat immer eine Wahl, Slade. Und jede Wahl, die man trifft, hat Konsequenzen. In diesem Fall war mein Hass die Konsequenz. Damit musst du jetzt zurechtkommen.« Er seufzte. »Das verstehe ich. Aber meiner Meinung nach hat dieser Hass in Wirklichkeit nichts mit dem Geld zu tun. Oder nur teilweise.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Sondern?« Er lehnte sich zu mir herüber, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen. »Ich habe die Hoffnung in deinen Augen gesehen, als ich an jenem Abend gegangen bin.« »Stimmt – die Hoffnung, zehntausend Dollar reicher zu sein.« Er schüttelte den Kopf. »Mach dir nichts vor, Sabina. Ich kenne den Blick einer Frau, die Erwartungen hat, die über eine Nacht hinausgehen – und genau solche Erwartungen hattest du auch, Kleine.« Ich verschluckte mich fast. »Bild dir nichts ein, Arschloch. Der Sex war in Ordnung, aber ich habe garantiert nicht nach einer Beziehung gesucht.« »Klar hast du das.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich muss zugeben, dass mir die Vorstellung gefiel, wir könnten in Zukunft manchmal zusammenarbeiten. Aber das war auch schon alles. Also vergiss es, Slade.« 158
Er warf mir einen zweifelnden Blick zu. »Okay, vielleicht nach einer Art Partnerschaft mit gewissen Vorteilen. Aber nach Liebe habe ich nicht gesucht, Slade. Da solltest du mich besser kennen.« Er wirkte noch immer nicht überzeugt, ließ das Thema aber fallen. »Wie auch immer – ich glaube jedenfalls, du solltest endlich loslassen, Sabina. Das war vor dreißig Jahren. Wir haben uns seitdem beide verändert. Du bist nicht mehr die naive kleine Soldatin deiner Großmutter. Gib es zu – du verstehst inzwischen sogar, warum ich damals aus L.A. wegmusste.« Ich seufzte. »Ja, vielleicht verstehe ich das inzwischen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich dir auch vertraue.« Er bedachte mich mit einem schiefen Lächeln. »Ich nehme an, du vertraust niemandem.« Ich senkte den Kopf. »Touché.« »Außerdem nehme ich an, dass du gerade jetzt einen guten Freund außerhalb der Magier-Community brauchen könntest.« Ich runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?« »Ich kann mir kaum vorstellen, dass deine Kindheit im Hause der Alpha-Dominae eine große Liebe für alles Magische geweckt hat. Vor allem, wenn man an deine Herkunft denkt. Deine Großmutter hat sich wahrscheinlich ziemlich ins Zeug gelegt, um dir eine gewaltige Abneigung gegen jegliche Art von Zauberei einzuimpfen.« Weder bestätigte ich diese Vermutungen noch leugnete ich sie. Aber er hatte natürlich genau ins Schwarze getroffen. »Und?« »Ich meine ja nur. Vielleicht würde es dir manchmal helfen, mit jemandem zu reden, der nichts mit den Magiern zu tun hat. Mit jemandem, den du kennst. Jemandem, der in einer ähnlichen Situation gewesen ist.« Ich hob die Hand. »Jetzt aber mal langsam. Du schlägst doch nicht ernsthaft vor, dass wir beide Freunde werden.« Er blickte mir tief in die Augen. »Doch. Genau das schlage ich vor.« 159
»Sehr witzig. Schon vergessen, dass ich dir gerade noch erklärt habe, wie wenig ich dir vertraue? Und sollte nicht Vertrauen die Grundlage jeder Freundschaft sein?« Er legte den Kopf schief. »Das glaubst du doch genauso wenig wie ich. Man kann niemandem ganz vertrauen, weil man niemanden je wirklich kennt. Schau dir nur an, was dir dein Vertrauen zu den Dominae gebracht hat. Denen hast du dein Leben lang vertraut, und gebracht hat es dir, außer Ärger, rein gar nichts. Bei mir weißt du wenigstens, worauf du dich einlässt. Ich bin ein Arschloch. Aber ich kenne diese Stadt, und ich verstehe, wie die Schattengeschlechter hier miteinander umgehen. Ich könnte ein ziemlich nützlicher Freund werden.« Ich sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Vermutlich kam jetzt der Haken an der Sache. »Und was springt für dich dabei raus?« Er nahm einen Schluck von dem Scotch, den Earl auf den Tresen gestellt hatte. »Du hast selbst gesagt, du hast mal geglaubt, wir könnten Partner werden. Vielleicht sollten wir diese Möglichkeit erneut in Betracht ziehen.« »Welche Art Partner?« Er zuckte mit den Schultern und stellte sein Whiskyglas ab. »Ich brauche jemanden, dem ich ein paar Jobs anvertrauen kann, bei denen echtes Fingerspitzengefühl gefragt ist. Nichts Großes. Und ganz sicher nichts, mit dem du nicht fertigwerden würdest.« »Aha«, sagte ich. »Und warum gerade ich? Typen wie du haben doch Dutzende von Handlangern, die sich darum schlagen, die Schmutzarbeit für dich zu erledigen.« »Keiner von denen hat deine Ausbildung. Außerdem bist du neu in der Stadt, hast also kein Loyalitätsproblem und keine gemeinsame Vergangenheit mit einem meiner Konkurrenten.« Ich seufzte. Ehe ich mit Slade für meinen ersten offiziellen Auftragsmord zusammengekommen war, hatten mich die Dominae als Gesetzesvollstreckerin eingesetzt. Ich musste Vamps aufspüren, die ihre Steuern nicht gezahlt hatten. Grob werden, wenn 160
jemand versucht hatte, aus der Reihe zu tanzen. Ich ahnte also, welche Art von Arbeit Slade für mich im Sinn hatte. Wahrscheinlich hätte er auch nichts dagegen, zwischendurch meine Fähigkeiten als Auftragskillerin einzusetzen, um ein oder zwei Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Ich traute Slade nicht über den Weg. Aber trotzdem musste ich zugeben, dass sein Angebot verführerisch klang. Schließlich würde mein Erspartes nicht ewig reichen, und derzeit hatte ich keine andere Einkommensquelle. Die Vorstellung, mir ein gewisses finanzielles Polster durch einen Nebenjob anzulegen, sagte mir zu. Für Slade zu arbeiten jedoch nicht. Außerdem missfiel mir die Idee, meine Brötchen wieder als Henker zu verdienen. An dem Plan, nach New York zu ziehen, hatte mir vor allem die Tatsache gefallen, dass ich hier neu anfangen könnte. Wenn ich auf Slades Angebot einging, wäre ich wieder genau da, wo ich dreißig Jahre zuvor begonnen hatte. »Hör zu, Slade. Ich verstehe, dass eine Partnerschaft für uns beide gewisse Vorteile hätte. Trotzdem muss ich Nein sagen.« Er kniff die Augen zusammen. »Nein zur Arbeit oder Nein zu einer Freundschaft mit mir?« Ich starrte auf den Tresen und überlegte. Es war keine gute Idee, Slade zum Feind zu haben. Ich musste also vorsichtig sein. »Was die Arbeit betrifft, geht es mir momentan eigentlich ganz gut. Das kann sich natürlich jederzeit ändern, aber im Augenblick brauche ich keine Extrajobs. Und in puncto Freundschaft – na ja, ich versuche mal, dich nicht jedes Mal zu verprügeln, wenn ich dich sehe.« Slade lachte. »Na gut. In der Not frisst der Teufel Fliegen.« Ich zuckte mit den Achseln und trank einen Schluck. Ein schmales Lächeln zeigte sich auf meinen Lippen. Auch wenn ich nicht bereit war, Slade zu meinem besten Kumpel zu machen, war es schon ganz nett, zur Abwechslung mal wieder mit einem Vampir abzuhängen. Vor allem mit einem, der es mit den Dominae genauso hielt wie ich. 161
»Dann geht es wohl zu weit, auf diese gewissen Vorteile zu hoffen, die du vorhin erwähnt hast?« Seine Miene war ernst, doch das teuflische Blitzen in seinen Augen zeigte mir, dass er versuchte mich zu provozieren. »Korrekt. Aber ich bin mir sicher, eine deiner Nymphen hätte nichts dagegen, dir in dieser Hinsicht auszuhelfen.« Slade stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tresen ab. Seine Haltung wirkte entspannt, als ob er unser Geplauder genauso genießen würde, wie ich es allmählich tat. »Ach, ich bevorzuge meine Bettgenossinnen etwas weniger zerbrechlich. Aber das weißt du ja bereits.« Einen Moment lang tauchte vor meinem inneren Auge das Bild von Slade auf, der mich leidenschaftlich gegen eine Wand drückte. Ich blinzelte, und das Bild verschwand. Keine gute Idee, solchen Gedanken nachzuhängen. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Meiner Erfahrung nach sind Nymphen wesentlich robuster, als sie aussehen.« Ich dachte an Vinca. Noch ein Gedanke, dem ich besser nicht nachhängen wollte. Aber immer noch besser als Sex mit Slade. In diesem Moment öffnete sich eine Tür hinter dem Tresen, und Giguhl stolperte mit benebeltem Blick in die Bar. Um seinen Hals hing ein blauer Satin-BH. Das dämliche Grinsen auf seinem Gesicht verriet mir, dass wohl auch die Nymphen, mit denen er verschwunden war, nicht allzu zerbrechlich gewesen sein konnten. »Apropos Nymphen«, sagte ich. »Ich bringe jetzt wohl besser mal meinen Dämon nach Hause. Er hat eine wilde Nacht hinter sich.« Slade nickte. »Sabina?« Ich hielt inne. »Ja?« »Ich bin froh, dass du mich nicht mehr verprügeln willst.« Diesmal zeigte ich mein Lächeln ganz offen. »Dann pass auf, dass das auch so bleibt.«
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Er hob sein Glas und prostete mir zu. »Das werde ich, Madam.«
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Unser erster Stopp nach dem Aderlass war ein Bankautomat, um Geld für die Taxifahrt nach Hause holen. Ich entdeckte einen auf der Zweiundvierzigsten Straße in der Nähe der Leuchtreklamen vom Times Square. Doch als ich meine PIN-Nummer eingab, begann die Maschine auf einmal zu piepen. »Was ist los?«, fragte Giguhl, dessen Stimme nur dumpf aus der Tasche heraustönte und die Kakophonie des Times Square kaum zu durchdringen vermochte. Nachdem er so viel Spaß mit Tansy und Cinnamon gehabt hatte, war er derart selbstzufrieden gewesen, dass er nicht einmal protestiert hatte, als er sich für den Heimweg wieder in einen Kater zurückverwandeln sollte. Ich schlug mit der Faust gegen den Automat. »Das Ding hat gerade meine Karte geschluckt!« »Oh!« Ich persönlich hätte ja eine ausdrucksstärkere Antwort gewählt. Tatsächlich schockierte ich einige Fußgänger, die gerade vorübergingen, mit einer Reihe von Flüchen, die alle an die Dominae gerichtet waren. Offensichtlich hatten sie meine Geheimkonten entdeckt. Fantastisch. Jetzt kam ich an keinen müden Dollar mehr heran. »Und was machen wir jetzt?« Ich drehte der Maschine den Rücken zu. »Keine Ahnung. « Ein Tourist, der gerade vorbeikam, warf mir einen misstrauischen Blick zu, was nicht weiter verwunderlich war, da ich mit meiner Tasche sprach. Ich senkte den Kopf und ging weiter. 163
Meine Stiefel donnerten wütend über den Asphalt. Kalter Wind schlug mir entgegen, und der saure Gestank aus den Kanälen stieg mir in die Nase. Auf der Fahrbahn ließen die Taxifahrer ihre Hupen aufkreischen wie eine aufgebrachte Gänseherde, während auf dem Bürgersteig die Leute vorbeieilten wie Pfeile, abgeschossen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Verdammtes New York, dachte ich. Auch in Los Angeles gab es Smog und Verkehr. Aber dort herrschte wenigstens ein mildes Klima, es gab Strände und genügend Parkmöglichkeiten. Giguhl rutschte in der Tasche hin und her. »Sabina?«, fragte er leise. »Ja?« »Wohin gehen wir?« »Keine Ahnung.« In meinem Kopf und meinen Lungen baute sich ein unangenehmer Druck auf und machte mir das Atmen schwer. Ich fühlte mich sprichwörtlich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der Geruch schlug mir ins Gesicht, als wir in eine Gasse abbogen. Rauchig, würzig und süß. Ich hielt an und atmete tief ein. Links von mir entdeckte ich ein Schild, auf dem The Happy Hookah Lounge stand. Das Aroma von Rauch und Blut lockte mich wie eine einladende Handbewegung in die Dunkelheit. Blut zu rauchen gehörte in bestimmten Kreisen der VampCommunity zu einem beliebten Zeitvertreib. Meine eigene Großmutter verfeinerte ihren Tabak manchmal mit Opium, um so ein wenig high zu werden. Der Duft hatte mich fast mein ganzes Leben über begleitet, sich in meinen Kleidern und Haaren festgesetzt, wenn ich morgens die Vampir-Clubs verließ. Nachdem ich mich durch den ewigen Malstrom New Yorks gekämpft hatte, besaß die Erinnerung an Zuhause etwas Bittersüßes. Es war verführerisch, sich eine Weile selbstmitleidig den alten Gewohnheiten hinzugeben, aber ich ging weiter. So zu tun, als sei ich noch immer Teil der Vampir-Welt, klappte einfach nicht mehr. Ich hatte nie ganz dazugehört, und es jetzt zu versu164
chen, könnte mich einem Auftragskillers der Dominae über den Weg laufen lassen. Außerdem hatte ich für heute Nacht genug davon, mich in alten Erinnerungen zu suhlen. Mit Slade gesprochen zu haben, war … Nun ja, es war interessant gewesen. Ich traute ihm immer noch nicht. Aber ich war gewillt, zuzugeben, dass mein alter Hass auf ihn vielleicht nicht mehr ganz so heiß schwelte. Slade mochte mich damals hintergangen und sich dem Zugriff der Dominae entzogen haben. Doch auch ich hatte sie betrogen. Es war ganz egal, ob sie zuerst mich getäuscht hatten. Erst jetzt begriff ich, wie meine blinde Hingabe an die Dominae alle meine Entscheidungen beeinflusst hatte. Jetzt, nach all den Jahren, standen Slade und ich wieder auf derselben Seite. Schon lustig, wie das Leben manchmal spielte. So lustig, dass ich geweint hätte, wäre ich näher am Wasser gebaut. Ein Taxi fuhr an uns vorüber und erinnerte mich daran, dass wir besser in Maisies Wohnung zurückkehren sollten. »He, G.« »Was?« Ich schnitt eine Grimasse. Lilith schütze mich vor schlecht gelaunten Katzendämonen, dachte ich. »Wie viel Geld hast du noch von dem Kampf übrig?« Schweigen. »Giguhl?« Ich hätte schwören können, aus der Tasche klang ein leises Seufzen. Ich hob die Tasche, um hineinzusehen. Zwei schuldbewusste Kateraugen starrten mich an. »Also?« Er drückte sich in die hinterste Ecke. »Fünf Mäuse.« »Was?«, brüllte ich fassungslos. »Du hast tausend Dollar gewonnen!« »Diese Nymphen haben mich verhext! Sie haben mich dazu gebracht, ungehörige Dinge zu tun, Sabina. Ungehörige, teure Dinge.«
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Ich fluchte. »Und wie zum Teufel sollen wir jetzt nach Hause kommen?« Seit ich in New York war, hatte ich mich ausschließlich auf Taxis verlassen und dementsprechend auch nicht auf solch nebensächliche Details wie Straßennamen geachtet. Eines jedoch war mir klar: Fünf Dollar würden uns nicht weit bringen. »Wie wäre es mit der U-Bahn?«, schlug Giguhl kleinlaut vor. Ich starrte wütend in die Tasche, und er zog den Kopf ein. »Ich dachte ja nur.« Mit einem angewiderten Seufzer ließ ich die Tasche wieder fallen. Sie schwankte hin und her, gefolgt von einem »He!«, aber ich achtete nicht darauf. Stattdessen sah ich mich nach einer Alternative um. Tatsächlich führte nur wenige Meter von uns entfernt eine Treppe in die Eingeweide von Manhattan. Und in der Nähe entdeckte ich Stryx, der auf einem Laternenpfahl hockte. Er kreischte meinen Namen und blinzelte mich mit seinen roten Augen herausfordernd an. »Na, großartig.« Ich machte mich auf den Weg zur Treppe wie ein zum Tode Verurteilter auf den Weg zum elektrischen Stuhl. Ich hatte keine Angst vor der U-Bahn. Als Vampirkillerin mit geheimen Zauberkräften war ich immun gegen solch banale Sorgen wie Überfälle oder sonstige Gewaltverbrechen. Aber aus irgendeinem Grund behagte mir die Vorstellung nicht, in einer engen Röhre zu sitzen und durch unterirdische Tunnel zu sausen. Ich erreichte das Fußende der Treppe und fand rasch heraus, wie ich eine Fahrkarte kaufen konnte, die mir Zugang zu den Tunneln verschaffte. Hinter dem Drehkreuz allerdings fand ich mich in einem Labyrinth wieder. Ich erwartete fast, jeden Augenblick von einem verdammten Minotaurus angegriffen zu werden. Stattdessen schubsten mich ungeduldige Sterbliche beiseite, die offenbar wussten, wie dieses geheimnisvolle Höhlensystem funktionierte.
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Eine Karte mit bunten Linien hing an einer Mauer. Es sah aus, als gäbe es eine U-Bahn-Station direkt neben Prytania Place; ich hatte Glück. Gleich zwei U-Bahnen fuhren in diese Richtung. Innerlich warf ich eine Münze und entschied mich für Linie C. Ich folgte den Schildern und landete auf einem menschenleeren Bahnsteig. Nach dem ständigen Gedränge der Passagiere und ihrem verlockenden Blutgeruch war ich um die Stille fast froh, die hier plötzlich herrschte. »Sieht so aus, als wären wir etwas früh dran«, sagte ich zu Giguhl. »Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind? Sollten hier nicht mehr Leute warten?« Ich ließ mich erschöpft auf einer Bank nieder. »Dem U-BahnPlan zufolge sollte uns die Linie C direkt vor Maisies Haustür absetzen.« »Du könntest mich ruhig mal eine Weile rauslassen, solange keiner da ist.« Ich blickte mich um und zuckte dann mit den Achseln. »Okay. Aber nur für eine Minute.« Ich machte den Reißverschluss der Tasche auf, und schon tauchte Giguhls kahler Katzenkopf auf. »Endlich wieder frei!« Er holte tief Luft. »Igitt! Hier unten stinkt’s nach Katzenklo.« Ich hob ihn aus der Tasche, damit er sich auf meinen Schoß setzen konnte. »Sitz.« Seine Ohren zuckten, und er sah mich schräg von unten an. »Ich bin kein Hund, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.« Ich lachte. »Sorry. In deiner Katzengestalt ist es schwer, dich als furchteinflößenden Dämon zu sehen.« Er rümpfte die kleine Nase. »Pass bloß auf, Schwester. Ich hab gerade erst diesem Schänder-Dämon gezeigt, wer hier der Boss ist.«
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»Stimmt. Wo hast du eigentlich gelernt, so zu kämpfen? Ich hätte nicht gedacht, dass ein Unheilstifter solche Tricks auf Lager hat.« Er machte es sich auf meinem Schoß bequem. »Eben weil ich ein Unheilstifter bin, musste ich lernen, mich zu verteidigen. In Irkalla gibt es dieses bescheuerte Kastensystem, und wir Unheilstifter stehen ziemlich weit unten auf der Leiter. Für mich hieß es entweder kämpfen oder Prügelknabe irgendeines Lust-Dämons werden. Verstehst du?« »Ich denke schon.« Zugegeben, ich war nie Gefahr gelaufen, Prügelknabe eines Lust-Dämons zu werden, aber auch ich hatte mich gegen brutale Mitschüler durchsetzen müssen. Als Mischling unter Vampiren aufzuwachsen war alles andere als ein Zuckerschlecken gewesen. Trotz meiner Position als Enkelin der Alpha-Domina hatten meine Klassenkameraden keine Gelegenheit ausgelassen, um mich daran zu erinnern, dass ich nicht dazugehörte. »Sabina?«, sagte Giguhl. »Bist du dir wirklich sicher, dass das hier die richtige Linie ist? Eigentlich sollte inzwischen doch mal eine Bahn gekommen sein, oder?« »Hmm, vielleicht hast du Recht.« Ich erhob mich und verfrachtete Giguhl wieder in die Tasche, um den Bahnsteig der Linie A zu suchen. In diesem Moment ertönte ein lautes Kreischen, das im ganzen Tunnel widerhallte. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Der Ton klang nicht, als stamme er von einer U-Bahn, sondern eher verdächtig nach einem Schrei von Stryx. Ich hielt inne und sah mich nach der Eule um, aber plötzlich herrschte wieder unheimliche Stille. Hatte ich mir alles nur eingebildet? Was hatte eine Eule überhaupt unter der Erde verloren? Ich schüttelte das seltsame Gefühl ab, das mich für einen Moment befallen hatte, und griff nach der Tasche. Giguhl protestierte nicht, sondern drückte sich in die hinterste Ecke. Ich ließ den
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Reißverschluss offen, da ich annahm, so würde er sich weniger eingesperrt fühlen. Ich hatte die Treppe, die ich heruntergekommen war, beinahe erreicht, als mich auf einmal von hinten mit voller Wucht ein Strahl magischer Energie traf. Ich wurde nach vorne geschleudert und stolperte über die erste Stufe. Instinktiv ließ ich die Tasche fallen und wirbelte herum, wobei ich nach der Waffe griff, die in meinem Hosenbund steckte. Ein Dämon lehnte an einer Betonsäule neben dem Gleis. Seine Haltung war lässig, aber seine Erscheinung jagte mir einen kalten Schauder über den Rücken. Er war etwa so groß wie Giguhl, aber weitere Ähnlichkeiten gab es nicht. Dieser Kerl hatte schwarze, ledrige Flügel, deren Spitzen mit roten Dornen gekrönt waren. Hörner traten aus seiner Stirn hervor und ragten in Spiralen über seinen gewaltigen Kopf. Um die schwarzen Hüften hatte er sich einen roten Lederkilt geschlungen. Schuppige schwarze Haut überzog den imposanten Oberkörper und die kraftvollen Arme. Ich zielte mit der Waffe zwischen seine glühend roten Augen. »Wer bist du?« Leise lachte er höhnisch. »Du wirst nicht lange genug leben, als dass mein Name von Bedeutung wäre.« Ich legte den Kopf schief und sah ihn herausfordernd an. »Tu mir den Gefallen.« »Ich bin Eurynome.« Er hob eine schwarze Klaue, und ein Energieblitz riss mir die Waffe aus der Hand und schleuderte sie in seine Richtung. Eurynome fing sie auf und zerdrückte das Metall, ohne mit der Wimper zu zucken. Mein Magen verkrampfte sich. Mit Vampiren oder Magiern konnte ich es aufnehmen. Aber es war mehr oder weniger unmöglich, einen Dämon auszulöschen. Zudem wusste ich mittlerweile genug über Dämonenbeschwörung, um mir darüber im Klaren zu sein, dass ich ihn ohne einen Kreis aus Salz nicht zurück nach Irkalla schicken konnte. 169
»He, Giguhl!« »Was?« fauchte Giguhl hinter einem Abfalleimer, den er sich als Deckung ausgesucht hatte. »Verwandle dich in einen Dämon! Jetzt!« Der Abfalleimer, hinter dem Giguhl sich versteckt hatte, flog über den Bahnsteig, während eine Rauchwolke anzeigte, dass er wieder Dämonengestalt angenommen hatte. Eurynomes rote Augen wanderten von mir zu Giguhl. Ich lächelte kalt. »Darf ich dir meinen kleinen Dämonenfreund vorstellen? Pack ihn, Giguhl!« Giguhl knurrte und stürzte sich auf den anderen Dämon. Er hatte kaum drei Schritte gemacht, als Eurynome erneut eine Ladung dämonischer Energie abfeuerte, die Giguhl gegen eine Säule schleuderte. Er prallte gegen den Beton und fiel dann leblos zu Boden. In der Säule hatten sich Risse gebildet. Ich rannte zu ihm und kniete mich neben ihn. Stöhnend öffnete er die Augen. Seine horizontalen Pupillen waren geweitet, und er schaffte es kaum, geradeaus zu sehen, während er versuchte, wieder zu sich zu kommen. Meine übliche Selbstgefälligkeit verschwand. Auf einmal verspürte ich Angst. Wenn Giguhl nicht in der Lage war, Eurynome zu verletzen – welche Chance hatte ich dann? Als ich versuchte, Giguhl aufzuhelfen, warf Eurynome den Kopf zurück und lachte. Das Geräusch ließ die Mauern um uns herum erzittern. »Dummes Mädchen«, höhnte er. »Hast du geglaubt, ein erbärmlicher Unheilstifter könnte den Fürsten des Todes besiegen?« Ich warf Giguhl einen Blick zu und formte die Worte »Fürst des Todes?« mit meinen Lippen. Zum ersten Mal, seitdem ich Giguhl kannte, sah ich echte Furcht in seinen Augen. Er nickte. »Er hat Recht, Sabina. Ich kann ihn nicht besiegen. Er ist zu stark.« Ich biss die Zähne zusammen und holte tief Luft. Es kam gar nicht infrage, dass ich auf diese Weise meinen Abgang machte –
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getötet von einem Dämon in einem Kilt auf einem U-Bahngleis. »Unsinn. Wir schaffen das.« Giguhl schüttelte den Kopf. »Nein, das werden wir nicht, Sabina.« »Hör auf deinen Lakai, Auserwählte, und nimm dein Schicksal an.« »Den Teufel werde ich!« Ich kniff die Augen zusammen und ging in die Hocke, bereit, unser Leben bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Das vertraute Gefühl von Adrenalin, das durch meine Adern rauschte, breitete sich in mir aus. Vielleicht würde ich heute Nacht sterben, aber zumindest würde ich den Tod finden, während ich etwas tat, das ich genoss. Noch ehe ich zwei Schritte nach vorne tun konnte, schleuderte mir Eurynome einen Energieball entgegen. Mein Gehirn erlitt einen Kurzschluss. Alle Nervenenden standen in Flammen. Ich brach zusammen und blieb auf dem Boden liegen. »Sabina, nein!« Giguhls Stimme drang aus weiter Ferne an mein Ohr, fast so, als würde er in eine Dose sprechen, die an einer Schnur befestigt war. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, hatte aber nicht genügend Kraft. Millionen von Feuerameisen krabbelten über meine Haut. Sie bohrten sich in mein Gehirn, meinen Magen, meinen Hals. Nur undeutlich nahm ich Kampfgeräusche wahr. Durch den Nebel, der sich um mich ausgebreitet hatte, drang ein wütendes Brüllen. Ich spürte trotz der Schmerzen, wie sich die Luft veränderte. Gewaltige Hitze und Energie schlugen über meiner empfindlichen Haut zusammen. Ich rollte mich zu einem Ball zusammen. Verzweifelt hob ich die Hände, um ein Geräusch abzuwehren, das so klang, als rasten zwei Lastzüge ineinander. Ich war derart mit meinen Qualen beschäftigt, dass mir nicht auffiel, dass im Tunnel plötzlich wieder Stille herrschte. Irgendwann nahm ich stöhnend wahr, dass die Welt an mir vorbeizog. Ich wurde hochgehoben und fortgetragen. Die Bewegung verur171
sachte mir höllische Schmerzen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Eine Stimme rief mir zu, durchzuhalten.
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So fühlt sich also der Tod an. »Sabina?« Die Stimme … Sie kam mir bekannt vor, klang aber so, als riefe ihr Besitzer in einen langen Tunnel hinein. »Wach auf.« Geht nicht. Bin tot. »Mach die Augen auf, verdammt nochmal!« Ein Stich in der Wange. Ich schlug nach dem stechenden Gefühl, das nicht aufhörte. Ich wollte nichts mehr spüren. Gar nichts mehr. Ich wollte mich nur noch dieser köstlichen Taubheit hingeben. »Bring ihr Blut.« Hm, ja. Blut. »Halt es ihr unter die Nase.« Schütte es mir in den Mund! Der Eisengeruch des Blutes kitzelte mir in der Nase. In meinem Mund begann es zu pochen. Meine Reißzähne bohrten sich in meine Zunge und kurz darauf nahm ich den kupfernen Geschmack meines eigenen Blutes wahr. »Sie kommt zu sich.« Ich versuchte, mich gegen das Licht zu wehren, das durch meine Lider zu fallen drohte. Einen Moment lang sah ich die rosafarbenen Adern, die das Lid wie ein Spinnennetz durchzogen. Je-
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mand öffnete eines meiner Augen. Ich riss den Kopf zurück und zischte, da ich das helle Licht kaum ertrug. »Komm schon, mach ihn für mich auf.« Finger bohrten sich in meinen Kiefer und zwangen meinen Mund dazu, sich zu öffnen. Dann füllte sich mein Rachen mit Blut. Hustend kämpfte ich gegen meinen Peiniger an. »Schluck es runter!« Eine Menge Flüssigkeit rann meinen wunden Rachen hinunter. Als ich wieder atmen konnte, riss ich den Kopf hoch und begann zu husten. Ich schlug die Augen auf. Zuerst sah ich nur eine Wand aus weißem Licht. Ich blinzelte gegen die Schmerzen an, bis ich allmählich die undeutlichen Umrisse einiger Gestalten wahrnahm, die sich über mich beugten. Mein Bewusstsein wiederzuerlangen, war Geschenk und Fluch in einem. Ein Geschenk, weil es mir zeigte, dass ich noch am Leben war. Ein Fluch, weil ich mir sogleich wünschte, doch tot zu sein. Meine Haut schien vor Schmerzen zu knistern, als hätte ich in Säure gebadet. Jemand schrie. War ich das? Vermutlich, denn mein Hals brannte auf einmal genauso heftig wie der Rest meines Körpers. »Können wir denn gar nichts tun?« Eine männliche Stimme. Vielleicht Orpheus? »Nein«, erwiderte die erste Stimme. »Der Zauber, den er benutzt hat, sollte sie lähmen. Er wird sie nicht töten, aber momentan wünscht sie sich wahrscheinlich nichts mehr, als dass er es getan hätte.« »Kann man ihre Schmerzen nicht wenigstens ein wenig lindern?« Trotz meiner Verwirrung und der Qualen erkannte ich Maisies Stimme. Beinahe fasste mein fiebriger Kopf einen klaren Gedanken, und ich versuchte zu sprechen, versuchte, Maisie um Hilfe anzuflehen. Aber kein Worte verließ meine Lippen. »Alles, was ich derzeit tun kann, ist sie wieder außer Gefecht zu setzen«, sagte die erste Stimme. Rhea. »Das Blut, das wir ihr 173
gerade gegeben haben, wird ihrem Körper helfen, den Zauber abzuschütteln, aber das funktioniert besser, wenn sie nicht gleichzeitig gegen die Schmerzen ankämpfen muss. Wenn sie wieder zu sich kommt, kann ich ihr etwas geben, das sie wieder auf die Füße bringt. Aber bis dahin müssen wir warten und Geduld haben.« Maisie seufzte. »Gut.« Ich versuchte, mich zu wehren. Nicht, weil ich keine Schmerzen mehr verspüren wollte, sondern weil es eine Stimme gab, die ich noch nicht gehört hatte. Wo war Giguhl? Aber es war sinnlos. Mein Körper war mir zum Gefängnis geworden. Eine neue Schmerzwelle rollte über mich hinweg. Dann umfing mich wieder wunderbare Bewusstlosigkeit. »Du hast unglaubliches Glück gehabt«, erklärte Rhea gut gelaunt. Ich starrte ihr finster ins Gesicht. Es fühlte sich nicht so an, als hätte ich Glück gehabt. In meinen Gliedern kribbelte es, als ob sie eingeschlafen wären. Meine Haut reagierte auf den leichtesten Zug empfindlich. Ich war so schwach, dass ich nicht einmal die Arme heben konnte, während mein Kopf derart schmerzte, dass selbst gedämpftes Licht meine Augen fast zum Explodieren brachte. Rhea saß am Rand meines Bettes. Ihre weichen kühlen Hände ergriffen mein Handgelenk und kontrollierten den Puls. Einen Moment lang hielt sie die Augen auf ihre Uhr gerichtet, dann legte sie meinen Armen mit einem Nicken wieder neben meinen Körper. »In null Komma nichts bist du wieder ganz die Alte.« Aufmunternd tätschelte sie mir die Hand. Ich biss die Zähne zusammen. Meine Reißzähne pochten. »Ich brauche Blut.« Rhea lächelte freundlich, als hätte sie es mit einem besonders miesepetrigen Patienten zu tun. »Wir bekommen bald wieder welches geliefert.« »Aber nicht diesen Mist aus der Tüte. Ich brauche frisches Blut.« 174
»Das geht leider nicht. Selbst wenn wir es erlauben würden, wärst du zu schwach, um jemanden lange genug unter Kontrolle zu halten, damit du ihn beißen kannst. Außerdem sind Blutkonserven genauso nährstoffreich wie frisches Blut.« Ich hätte am liebsten laut aufgeschrien, fühlte mich aber zu schwach für eine Auseinandersetzung, die ich sowieso verloren hätte. Sosehr ich den Geschmack von Maisies Blutkonserven hasste, ich verstand natürlich auch, dass es jetzt vor allem darum ging, wieder zu Kräften zu kommen. Und zwar schnell. Da mir im Moment nichts anderes übrigblieb, als zu warten, wollte ich wenigstens ein paar Antworten. »Wo ist Giguhl?« »Er ruht sich aus. Der Kampf mit Eurynome hat ihn ziemlich mitgenommen.« Langsam sickerte die Nachricht ein. Erleichterung breitete sich in mir aus, gefolgt von Bewunderung. Irgendwie war es Giguhl also gelungen, Eurynome zu besiegen und mich trotz seiner eigenen Verletzungen in Sicherheit zu bringen. Ich verdankte diesem Dämon mein Leben. »Ist er verletzt?« »Ja, aber nicht schwer. Er muss sich nur etwas ausruhen.« »Er hat Eurynome getötet.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich vermutete, nur so hatte Giguhl uns aus dieser Situation befreien können. Sonst hätten wir das Ganze nicht überlebt. Aber Rhea schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat ihn vor einen einfahrenden Zug gestoßen und ist geflohen, ehe sich Eurynome aus dem Wrack befreien konnte.« Mir lief es kalt den Rücken hinunter. »Er ist also noch immer hinter uns her?« »Das glaube ich kaum. Wer auch immer ihn gerufen hat, wird ihn nach seiner Niederlage wahrscheinlich wieder nach Irkalla zurückgeschickt haben.« Ich schluckte und stellte die Frage, die ich kaum auszusprechen wagte. »Hat ihn ein Magier geschickt?« 175
Rhea schwieg einen Moment. Ihre Miene wirkte ernst. »Ja. Nur ein mächtiger Magier ist in der Lage, einen Dämon dieses Kalibers zu rufen und ihn außerhalb des Kreises unter Kontrolle zu halten.« Ich bemühte mich, die Gefühle zu niederzuringen, die diese Enthüllung in mir weckte – Zorn, Angst und Frustration. »Irgendeine Idee, wer es sein könnte?« Ich versuchte, cool zu klingen, was mir aber nicht ganz gelang. Rhea sah mich mit einem Blick an, der mich beruhigen sollte. »Noch nicht. Maisie und Orpheus haben bereits den Wachen den Auftrag erteilt, Nachforschungen anzustellen. Wir werden denjenigen, der das getan hat, finden und zur Rechenschaft ziehen.« Wir wussten beide, dass ihre Worte hohl klangen. Jeder Zauberer, der mächtig genug war, einen solchen Anschlag auszuüben, wäre auch klug genug, seine Spuren zu verwischen. Aber zumindest war es nett gemeint. »Hast du irgendeine Idee, warum ein Magier hinter dir her sein könnte?«, fragte mich Rhea ruhig. Ich schnaubte. »Ich wollte Sie gerade dasselbe fragen. Ich habe zwar eine ganze Liste von Feinden, aber ich hatte nicht angenommen, schon lange genug hier zu sein, dass auch noch ein paar Magier dazugekommen sind.« Rhea wollte gerade etwas erwidern, als Maisie den Kopf zur Tür hineinsteckte. Damara folgte ihr auf dem Fuß. In einer Hand trug sie eine Kühlbox. »Du bist wach. Wie fühlst du dich?«, fragte Maisie und eilte zu mir. »Beschissen, aber ich werde es überleben.« Maisie lächelte, aber in ihren Augen spiegelte sich Sorge wider. »Der Göttin sei Dank für dieses Glück.« »Sabina und ich haben gerade über das Warum gesprochen«, erklärte Rhea.
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Maisie schnitt eine Grimasse. »Mach dir darüber jetzt keine Gedanken, Sabina. Du musst dich erst mal darauf konzentrieren, wieder ganz gesund zu werden.« Ich wusste, dass sie sich nur Sorgen machte, aber ihr MutterGetue ärgerte mich trotzdem. »Es geht mir schon wieder viel besser.« Sie warf mir einen Blick zu, der mir deutlich zeigte, dass sie das nicht glaubte. Ich runzelte die Stirn. »Also gut, noch bin ich ein bisschen schwach. Aber sobald ich wieder Blut intus habe, ist mein Körper wieder so gut wie neu.« Ich schaute in Richtung der Kühlbox, die Damara noch immer in der Hand hielt. Das Mädchen verhielt sich so still, dass ich es beinahe vergessen hatte. Das Blut hingegen nicht. »Trotzdem, du musst uns glauben. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist.« Während sie redete, gab Maisie Damara ein Zeichen, zu ihr zu treten. Das Mädchen reichte meiner Schwester die Box, in der ein Liter Blut lag. Gierig verfolgte ich Maisies Bewegungen, wobei ich mich innerlich gegen die drohende Auseinandersetzung mit ihr wappnete. »Danke, Damara«, sagte ich. Sie nickte wortlos, während sie die Kühlbox abstellte. »Damara, wärst du so freundlich nach Giguhl zu sehen?«, fragte Rhea. Das Mädchen zögerte. »Sind Sie sicher, dass Sie meine Hilfe hier nicht mehr brauchen? Ich könnte dieses Chaos hier beseitigen.« Sie zeigte auf die Medikamente, die Fläschchen mit Zaubertrank und das Verbandszeug, das im ganzen Zimmer verstreut war. Rhea schüttelte den Kopf. »Ich habe hier alles im Griff. Bitte kümmere dich darum, dass Giguhl genügend Eis hat.«
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Ich war mir nicht sicher, ob Damara verstand, warum Rhea wollte, dass sie ging. Aber ich tat es. Zweifelsohne würde meine Diskussion mit Maisie gleich ziemlich hitzig werden, und je weniger Zeugen es gab, desto besser. Das Mädchen zögerte noch immer. Sie sah aus, als wolle sie noch einmal protestieren, doch Rheas entschlossener Blick ließ sie einlenken. Damara nickte. »Sag Giguhl, dass ich bald nach ihm schaue«, rief ich ihr nach, als sie das Zimmer verlassen wollte. Ohne mich anzusehen, nickte sie noch einmal und verschwand. Sobald sie gegangen war, wandte ich mich an Maisie. »Ich will ja nicht unfreundlich sein, Maisie. Aber jemand hat diesen Dämon geschickt, um mich zu töten. Falls du es vergessen haben solltest, war das Töten bisher mein Geschäft. Und ich habe nicht vor, jetzt einfach dazusitzen und abzuwarten, ob eure Wachen zufällig etwas herausfinden.« Maisie war gerade dabei, mir ein Glas Blut einzuschenken. Jetzt hielt sie inne. Einen Moment lang sah sie mich an. Ich schwieg, während sie nachdachte. Was sollte ich auch sagen? Ich hatte deutlich gemacht, was ich dachte. Wenn ich jetzt weitersprach, wäre die Wirkung zum Teufel. Maisie kannte mich vielleicht nicht so gut, wie sie gerne wollte, aber sie kannte meinen Hintergrund. Der Magier, der Eurynome auf mich gehetzt hatte, war erfolglos geblieben. Wenn er klug gewesen wäre, hätte er jemanden geschickt, der keine Sekunde lang gezögert hätte, mich zu töten. Jemanden, der nicht erst mit seinen Opfern spielte. Wenn man einen Auftragskiller umbringen wollte, brauchte man jemanden, der seinen Job sofort erledigte. Die Tatsache, dass ich noch einmal entkommen war, bedeutete für mich nur eines: Ich würde so lange nicht ruhen, bis der Magier, der versucht hatte, mich zu töten, selbst daran glauben musste. Und falls dieser Magier so gut war, wie Rhea behauptete, wüsste er das auch. Was wiederum bedeutete, Eurynomes Angriff würde kein Einzelfall bleiben. 178
Endlich seufzte Maisie und steckte einen Strohhalm in das Glas. Ich griff danach und sog gierig daran. Dann nahm ich das Glas in die Hand und kippte das Blut so hinunter. Ich war völlig ausgehungert. So sehr, dass ich den kalten, blechernen Nachgeschmack kaum wahrnahm. Noch während ich trank, ergriff Maisie das Wort. »Ich weiß, dass du wütend bist, Sabina. Ich weiß, dass du Rache willst. Aber die Situation ist kompliziert. Das musst du verstehen. Wir haben Gesetze und Vorschriften, denen wir folgen müssen. Außer des versuchten Mordes an der Schwester der Ratsvorsitzenden hat sich dieser Magier auch noch des Todes mehrerer Dutzend Sterblicher schuldig gemacht, die in der UBahn saßen, mit der Eurynome zusammengestoßen ist. Es ist uns gelungen, den Vorfall zu vertuschen, so dass die Regierung der Sterblichen keine Ahnung hat, dass übernatürliche Wesen ihre Finger im Spiel hatten. Aber der Rat will diesen Magier vor Gericht bringen. Du kannst also nicht losstürzen und einfach unsere Leute abknallen. Wir werden eine Untersuchung einleiten, den Verantwortlichen aufspüren und dann vor Gericht stellen. Und das werden wir tun, ohne dass noch mehr Unschuldige dabei in die Schusslinie geraten.« Ich ließ das Glas sinken und stieß einen langen Seufzer aus. Möge die Göttin mich vor dem Kodex der Magier retten, dachte ich genervt. Diese Leute mussten alles moralisch bewerten. Ich hingegen war in einer Welt aufgewachsen, in der es nur Schwarz und Weiß gab. Auge um Auge, Kugel um Kugel. In L.A. hätten ein paar tote Sterbliche keine große Diskussion ausgelöst. Für Vampire war der Tod eines Menschen nicht wesentlich tragischer als der einer Fliege, die an einer Fliegenfalle kleben bleibt. Aber das Problem war Folgendes: Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wer hinter mir her war. Ich kannte kaum mehr als eine Handvoll Magier und selbst diese nicht sonderlich gut. Ich war also auf die Hilfe des Rates angewiesen. Wenn ich diese aber in
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Anspruch nahm, bedeutete das auch, dass ich mich an die Regeln halten musste. Maisie streckte die Hand nach dem leeren Glas aus, um es wieder zu füllen. Frustriert schüttelte ich den Kopf und nahm ihr den Beutel mit Blut ab. Meine Reißzähne bohrten sich durch die Silikonverpackung, während ich mit einer Hand drückte, um das Blut in meinen Mund fließen zu lassen. Die kalte Flüssigkeit rann meinen Hals hinunter und verursachte mir kurz ein Gefühl der Übelkeit. Doch schon bald würden meine Zellen mit ihrer Arbeit beginnen. Sie würden genauso konzentriert arbeiten wie mein Gehirn, das versuchte, einen Weg zu finden, den Rat und seine Gesetze zu umgehen. »Dürfte ich einen Vorschlag machen?«, meldete sich Rhea zu Wort. Maisie und ich wandten uns ihr zu. Sie trat vor und sah uns nachdenklich an. »Lass die Wachen ihre Arbeit tun.« Ich öffnete den Mund, um erneut zu widersprechen, aber sie hob die Hand. »In der Zwischenzeit solltest du deine Gefühle sinnvoll nutzen. Nimm deine Wut und deine Unruhe und setze sie im Magietraining ein.« Ich warf den leeren Beutel auf den Tisch und schnaubte unwillig. »Wenn ich meine Wut in den Griff bekommen soll, wäre es wohl das Beste, Slades Fight Club beizutreten. Dort darf ich wenigstens auf jemanden einschlagen, ohne dass irgendwelche Regeln es verbieten.« Rhea zog eine Augenbraue hoch. »Kind, du hast keinen blassen Schimmer davon, was es bedeutet, echte Magie zu wirken. Einen Dämon beschwören? Das ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, wozu du fähig bist, wenn du erst einmal deine chthonischen Kräfte freigesetzt hast.« Ich musterte Rhea mit zusammengekniffenen Augen. Sie wirkte überzeugt von dem, was sie sagte. Wenn sie Recht hatte, wäre ich vielleicht das nächste Mal, wenn mich dieser geheimnisvolle Magier bedrohte, in der Lage, zu kontern. Es ging darum, Feuer 180
mit Feuer zu bekämpfen, und ich musste zugeben, dass mir diese Vorstellung gefiel. »Okay. Einverstanden.« Ich warf Maisie einen Blick zu. »Aber ich möchte auf dem Laufenden bleiben und immer wissen, wenn sich etwas tut. Sobald ihr irgendeine Spur findet, will ich davon erfahren.« Maisie nickte. Rhea jedoch war noch nicht ganz fertig. »Ich muss dich allerdings warnen, Sabina. Wenn wir dein Training beschleunigen, erwarte ich auch auf Dauer vollen Einsatz und höchste Konzentration. Wir dürfen keine Zeit verlieren, nur weil du nicht mit meinen Methoden klarkommst.« Das Blut zeigte bereits seine magische Wirkung. Meine Haut brannte nicht mehr so stark, die Kopfschmerzen ließen nach, und auch mein Magen hatte sich beruhigt. Ich konnte es kaum erwarten, das Bett zu verlassen und loszulegen. Und jetzt hatte Rhea mir ein Ziel für die ganze Energie gegeben, die sich in mir aufbaute. Insgeheim sehnte ich mich fast danach, dass sie mich in die Mangel nahm und mich so lange beschäftigte, bis der Rat endlich zu einer Entscheidung gekommen war. Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Klingt gut.« Ich wandte mich an meine Schwester. »Hast du noch mehr Blut für mich?« Eine Stunde später fühlte ich mich beinahe wie neugeboren. Zwei Liter Blut und ein Ziel vor Augen wirkten eben Wunder. Vorsichtig klopfte ich an Giguhls Tür. Ich wollte ihm dafür danken, dass er mir das Leben gerettet hatte. Doch ein Teil von mir hoffte, dass er schlief. Dankbarkeit war mir kein vertrautes Gefühl. Normalerweise vermied ich es so lange wie möglich, um Hilfe zu bitten oder sie anzunehmen. In L.A. war eine solche Einstellung ganz natürlich – die meisten Vampire waren ohnehin nicht bereit, einem Halbblut zu helfen. Doch seitdem die Ereignisse mein Leben auf den Kopf gestellt hatten, schien ich mich ständig in der Situa181
tion zu befinden, um Hilfe bitten zu müssen. Natürlich hätte ich das nie zugegeben. Im Gegenteil – bis zu dieser Nahtoderfahrung war es mir sogar gelungen, die Hilfe, die ich von Adam oder anderen erfahren hatte, als ungewollt oder störend abzutun. »Ja?« Giguhls Stimme drang durch die Tür. Sie klang schwächer, als ich je zuvor. Ich öffnete die Tür und blickte ins Zimmer. »Hast du Lust auf ein bisschen Gesellschaft?« Der kümmerliche Haufen auf dem Bett bewegte sich. Die Laken raschelten, und ein leises Stöhnen war zu hören. »So lange du nicht vorhast, mich anzubrüllen …« Ich runzelte die Stirn und trat ins Zimmer. »Wieso sollte ich das tun?« Als ich näher kam, gewöhnten sich meine Augen an den verdunkelten Raum. Giguhl lehnte an einem Berg aus Kissen, die Bettdecke bis ans Kinn hochgezogen. Das Bett war für seine zwei Meter zehn viel zu kurz und seine Hufe hingen unzugedeckt am Ende der Matratze herab. Er sah erbärmlich aus. Ohne mich anzusehen, zuckte er mit den Schultern. »Es war meine Schuld, dass du so schwer verletzt wurdest.« Ich starrte ihn fassungslos an. »Nein, war es nicht. Wie kommst du denn auf eine so bescheuerte Idee?« Er entspannte sich ein wenig, vermutlich weil ich ihn nicht angebrüllt hatte. Seine Augen wanderten in meine Richtung, aber noch immer wagte er es nicht, mich direkt anzusehen. »Du hast mir den Auftrag erteilt, Eurynome anzugreifen, und ich habe kläglich versagt.« Ich konnte es kaum fassen, dass er sich solche Selbstvorwürfe machte. »Giguhl, du hast uns beide gerettet. Es ist völlig gleich, wie und wann dir das gelungen ist. Und als deine Herrin oder was auch immer verbiete ich dir solche Gedanken. Vor allem, weil du derjenige bist, der noch immer verletzt ist.« Endlich sah er mich an. Die Dankbarkeit, die in seinen Augen stand, ließ mich beinahe zurückschrecken. Ich hatte nichts ande182
res getan, als die Sache beim Namen zu nennen. Hastig wechselte ich das Thema. »Was genau tut dir denn weh?« Giguhl wand sich. »Ach, das ist eigentlich ziemlich peinlich.« »Peinlicher als in den Hintern geschossen zu werden?« Er nickte mit ernster Miene. »Ich verspreche dir, mich nicht über dich lustig zu machen.« Der Dämon wirkte noch immer unsicher. »Schwöre es bei allem, was dir heilig ist.« Ich rollte mit den Augen und legte dann die Hand aufs Herz. »Okay. Es ist so. Eurynome ist doch ein ziemlich großer Kerl, nicht wahr? Wahrscheinlich genauso schwer wie der Zug, der ihn mitgerissen hat.« Ich nickte. Natürlich übertrieb er, aber ich verstand, was er damit sagen wollte. »Ja.« Ich hätte schwören können, dass ich einen Anflug von Röte auf seinen Wangen sah. »Nun, anscheinend hat mich Eurynome während unseres Kampfes mit einem Zauber belegt, der meine Heilungskräfte schwächen und mich verletzungsanfälliger machen sollte.« Ich forderte ihn mit einer Handbewegung auf, weiterzusprechen. Diese Art von Anspannung war wirklich kaum auszuhalten. Giguhl atmete tief ein und schloss die Augen. Beim Ausatmen beschloss er offensichtlich, endlich mit der Wahrheit herauszurücken. »Als ich ihn von mir schleuderte, da … Na ja, ich hab mir die Eier gezerrt.« Ich starrte ihn schweigend an, wobei es mir schwer fiel, das Lachen zu unterdrücken, das in mir aufstieg. Vorsichtshalber sagte ich nichts, da ich wusste, dann wäre es um mich geschehen. Ich schluckte und versuchte mich darauf zu konzentrieren, meinen Gesichtszügen einen mitfühlenden Ausdruck zu verleihen. Giguhl wartete einen Moment lang auf eine Antwort, dann fuhr er fort. »Rhea meint, der offizielle Name dafür lautet Hodenbruch.«
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Ein Lacher entkam meinen Lippen. Giguhl riss den Kopf hoch, und sah mich aus schmalen Augen an. Ich versuchte, nicht zu atmen, aber meine Lippen zitterten verräterisch. »Du hast mir versprochen, nicht zu lachen!« Giguhl verschränkte die Arme und starrte mich finster an. Ich schüttelte den Kopf und bemühte mich um eine unschuldige Miene. Sein Tonfall nahm einen ernsten, belehrenden Ausdruck an. »Mit Hodenverletzungen ist nicht zu spaßen, Sabina.« Das gab mir den Rest. Ich krümmte mich vor Lachen. »He!« Ich antwortete nicht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mir den Bauch zu halten. In gewisser Weise verstand ich ja, dass es nicht sehr nett von mir war, über seine Verletzungen zu lachen – vor allem, weil er sie bei dem Versuch, mich zu retten, erlitten hatte. Aber ich kam nicht dagegen an. »Du bist so eine Idiotin«, erklärte er schließlich und verschränkte empört die Arme. Dass er dabei kurz zusammenzuckte, minderte die Wirkung allerdings. Als mir klar wurde, dass er offensichtlich Schmerzen hatte, riss ich mich so gut es ging zusammen. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und holte tief Luft. »Tut mir echt leid.« Er nickte huldvoll, war aber offensichtlich noch immer beleidigt. Jetzt fühlte ich mich wirklich schlecht. Ich war so daran gewöhnt, dass Giguhl nie etwas ernst nahm, dass es mir schwerfiel, ihm echte Gefühle zuzuschreiben. »Was kann ich tun, damit es dir wieder bessergeht? Brauchst du vielleicht einen Eisbeutel oder so was?« »Nein, danke. Damara hat mir vorhin schon etwas Eis gebracht.« Er schürzte seine schwarzen Lippen und sah mich scharf an. Ganz offensichtlich witterte er eine Gelegenheit. »Es gibt allerdings etwas, das mir vielleicht helfen würde.« Ich sah ihn schräg an. »Und das wäre?« 184
»Du könntest mir erlauben, regelmäßig im Aderlass bei diesen Fights mitzumachen.« Mir klappte der Unterkiefer herunter. »Du machst wohl Witze, Giguhl? Wie willst du denn mit diesem … diesem Problem da weiterkämpfen?« Ich wies mit dem Kopf in Richtung seiner Lenden. Er zuckte mit den Achseln. »Rhea meinte, dass ich morgen oder spätestens übermorgen wiederhergestellt sein sollte.« Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme. »Ich weiß nicht, Giguhl.« Er ließ nicht locker. »Mir ist klar, dass du Slade nicht magst. Aber so schlimm, wie du denkst, ist er auch wieder nicht.« Ich hob eine Hand. »Es geht nicht um Slade.« Einen Moment lang sprach ich nicht weiter, sondern dachte darüber nach, ob das auch stimmte. Tat es, beschloss ich. Slade und ich waren zu einer Art von Übereinkunft gekommen, mit der ich vorerst leben konnte. »Sondern?« Ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. In Wahrheit weckte Giguhls Anblick, wie er so mitgenommen im Bett lag, meinen Beschützerinstinkt. Ich mochte vielleicht über seine spezielle Verletzung lachen, aber es gefiel mir ganz und gar nicht, dass er unter Schmerzen litt. Ich hatte den Eindruck, er hätte es fast nicht geschafft, Eurynome zu besiegen. Wäre diese U-Bahn nicht gekommen, hätte Giguhl genauso gut tot sein können. Klar war es ihm gelungen, den Schänder-Dämon zu besiegen. Aber was, wenn sein nächster Gegner stärker war als er? »Ich weiß nicht genau, wie ich das sagen soll, ohne deine Männlichkeit zu verletzen«, begann ich. Giguhl zuckte zusammen. »Ich will nicht, dass du kämpfst, weil ich nicht will, dass man dir wehtut.« Er wollte mir widersprechen, aber ich gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass ich noch nicht fertig war. »Lass mich ausre185
den. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn du verlierst? Als du den Schänder besiegt hast, hat ihn sein Magier nach Irkalla zurückgeschickt, oder?« »Ja, aber das ist etwas anderes. Diese Magier rufen ihre Dämonen nur, um sie an den Kämpfen teilnehmen zu lassen. Wenn sie verlieren, können die Magier sie nicht mehr gebrauchen und schicken sie zurück.« Ich sah ihn aus schmalen Augen an. »Wenn das wirklich alles ist, warum lautet dann die letzte Regel ›Keine Gnade‹, Giguhl?« »Weiß ich auch nicht. Ich würde mal vermuten, dass die besiegten Dämonen in den Trichter der Hoffnungslosigkeit gesteckt werden, um sich dort ihrer Strafe zu unterziehen.« Als er meine schmalen Augen bemerkte, redete er hastig weiter. »Aber ich bin ja dein Lakai, also wird mir so etwas nicht passieren.« Ich schnitt eine Grimasse. »Trotzdem, mir gefällt das Ganze nicht.« Giguhl kratzte sich einen Moment lang am Kinn. »Du hättest doch ganz gerne wieder etwas mehr Geld in der Kasse, oder?« Ich runzelte die Stirn. »Ja – und?« Er setzte sich aufrechter hin. »Überlege doch mal. Ich könnte kämpfen, und du könntest mich managen. Wir wären so wie Rocky und dieser alte Typ.« Ich rollte mit den Augen. »Dieser alte Typ war nicht sein Manager, Giguhl. Er war sein Trainer.« »Das ist doch das Gleiche in Grün. Gib es zu, Sabina. Das wär’s doch!« Ich begann den Kopf zu schütteln, doch er redete weiter. »Ich kann meinen Spaß haben, und du bekommst auch noch Geld dafür. Problem gelöst.« Ich musste zugeben, dass dieser Plan wesentlich attraktiver klang, als für Slade Schädel zu Brei zu schlagen. Natürlich spielte Slade auch in Giguhls Szenario eine Rolle, aber nur indirekt. Und der Dämon hatte Recht: über kurz oder lang brauchte ich dringend Geld. Schließlich konnte ich nicht für immer bei Maisie wohnen und nichts Produktiveres tun als zum Magietraining zu 186
gehen. Irgendwann müsste ich meine eigenen vier Wände in dieser Stadt beziehen. Und dafür brauchte ich Kohle. Was meine anderen Bedenken betraf, so war die Sache etwas komplizierter. Wenn Giguhl wirklich kämpfen wollte, wie konnte ich ihm diesen Wunsch abschlagen? Die Frage der Hierarchie, die zwischen uns herrschte, war eine, die ich lieber nicht genau unter die Lupe nahm. Giguhl schien zu glauben, er sei eben mein Lakai oder mein Familiar oder was auch immer, deshalb fragte er mich um Erlaubnis. Zugegeben, ich scheuchte ihn ziemlich durch die Gegend, wenn ich es für nötig hielt. Aber diese Sache mit dem Demon Fight Club hatte in Wahrheit nichts mit mir zu tun. Nicht direkt. Und wenn ich es genau bedachte, war Giguhl für mich eher ein Freund als ein Lakai. Und Freunde haben einen freien Willen. So wenig es mir auch gefallen mochte – letztlich war es seine Entscheidung. »Okay, meinen Segen hast du. Aber ich möchte auf keinen Fall die Hälfte deines Gewinns. Du bist schließlich derjenige, der in den Ring steigt, also solltest du auch den Großteil des Geldes behalten. Du zahlst mir einfach einen Anteil. Sagen wir zwanzig Prozent?« Ich sah, dass er mir widersprechen wollte. Aber gerade war ein Streit zu seinen Gunsten ausgegangen, und so hielt er es wohl für klüger, erst einmal den Mund zu halten. »Abgemacht.« Er streckte mir eine Klaue entgegen, damit ich einschlagen konnte, hielt dann aber mit schmerzverzerrtem Gesicht inne. Ich hatte Mitleid mit ihm und beugte mich zu ihm herunter, um ihm die Hand zu reichen. »Danke«, sagte er. Einen Moment lang sah ich ihm in die Augen, ohne seine Klaue loszulassen. »Ich sollte diejenige sein, die sich bedankt.« Sein Mund zuckte, und er schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Sagen wir, wir sind quitt.« Ich schnaubte. Er hatte mir das Leben gerettet und war dabei ziemlich unangenehm verletzt worden, wohingegen ich ihm gera187
de die Erlaubnis erteilt hatte, sich gleich wieder die Knochen brechen zu lassen. Das konnte man wohl kaum einen fairen Handel nennen. Aber in seinen Augen sah ich, dass er jetzt nichts über seinen Mut und sein persönliches Opfer hören wollte. Aber er wollte noch etwas anderes. »Was ist?«, fragte ich, bereit, fast alles für meinen Dämon zu tun. »Ich brauche den Nachttopf und etwas Hilfe.« Fast alles – außer ihm mit dem Nachttopf zu helfen. Ich rannte zur Tür und riss sie auf. »Rhea!«
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Um mich herum war es stockdunkel. Das lag nicht nur an den ausgeschalteten Lampen, sondern vor allem daran, dass mir Rhea eine schwarze Binde über die Augen gelegt hatte. Ich muss wohl nicht erst erwähnen, dass ich kein großer Fan von Augenbinden bin. Das letzte Mal, als ich eine tragen musste, hatte man mich dazu gezwungen, einem Psychopathen namens Clovis Trakiya zu erlauben, von meinem Blut zu trinken. In Rheas Gegenwart fühlte ich mich mit verbundenen Augen zwar wohler – zumindest würde sie mir nicht an die Hauptschlagader gehen -, aber als Magierin war sie in der Lage, mich auf andere Art und Weise anzugreifen, ohne dass ich mich hätte wehren können. Ich holte tief Luft und rief mir ins Gedächtnis, dass Rhea nur versuchte, mir zu helfen. Okay, sie konnte echt die Pest sein, aber das musste sie wohl auch, wenn sie mich unterrichten wollte.
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Also machte ich mit. Sie würde schon wissen, was sie tat. Außerdem waren meine Hände nicht gefesselt, so dass ich mich notfalls verteidigen konnte. Zumindest nahm ich das an. Etwas Hartes knallte gegen meinen Kopf. Schmerz durchzuckte meinen Schädel. »Au! Was zum Teufel soll das?«, rief ich und riss die Binde herunter. Eine Metallkugel von der Größe eines Golfballs rollte hinter mir über den Boden. Ich wirbelte herum und starrte Rhea wütend an. Sie stand neben einem Tisch, auf dem noch weitere Kugeln lagen. »Keine Fragen, Sabina. Schon vergessen? Ich kann dir nicht beibringen, wie man Dämonen umbringt, aber ich kann dir zeigen, wie du dich lange genug verteidigen kannst, um ihnen zu entkommen.« »Und mich als Zielscheibe zu verwenden soll dabei helfen?« Ich massierte mir die Stirn. Eine Beule von der Größe eines Hühnereis pochte schmerzhaft an der Stelle, an der ich getroffen worden war. »Kann ich wenigstens ohne die Augenbinde weitermachen?« »Die ist notwendig, weil du die schlechte Angewohnheit hast, dich einem Problem immer mit den Fäusten zu stellen. Bei einem Kampf mit einem Dämon werden dir Fäuste aber nichts nützen. Du musst dich auf deinen Instinkt und deine magischen Fähigkeiten verlassen. Wir üben das jetzt so lange, bis du gelernt hast, einen Angriff vorherzusehen und ihn mit Hilfe deiner Zauberkräfte abzuwehren.« »Sie müssen wahnsinnig sein, wenn Sie glauben, ich stehe hier die ganze Nacht und lasse mir von Ihnen den Schädel einschlagen!« Rhea achtete nicht auf meinen Protest, sondern redete einfach weiter. »Die erste Regel dieser Übung lautet, dass es dir nicht erlaubt ist, mit den Gliedmaßen zu kämpfen. Ich habe dir die Hände nicht gefesselt. Aber sobald du versuchen solltest, einen Ball abzuschmettern oder ihn zu fangen, werde ich es tun. Verstanden?« 189
»Sie erwarten tatsächlich von mir, dass ich mich nicht verteidige?«, knurrte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Jetzt stell dich nicht dümmer als du bist. Ich erwarte, dass du dich mit Hilfe deiner Magie verteidigst. Und fang nicht damit an, du wüsstest nicht, wie das geht. Deshalb machen wir diese Übung. Du wirst den Zugang zu deiner Macht niemals finden, wenn du nicht dazu gezwungen bist.« Das klang ja wirklich großartig. »Und wenn ich mich weigere?« Sie schwieg einen Moment. »Dann«, sagte sie schließlich, »kannst du das nächste Mal, wenn dich ein Dämon angreifen sollte, nur beten, dass Giguhl zur Stelle ist, um deinen Hintern zu retten.« Ich zuckte zusammen. Die Tatsache, dass es mir nicht gelungen war, Eurynome zu besiegen, quälte mich noch immer. Ich war es nicht gewöhnt, mich auf andere zu verlassen. Ergeben seufzte ich. »Und wie aktiviere ich jetzt diese Zauberkräfte?« Rhea lächelte. »Das wirst du schon herausfinden. Sich mit der Theorie zu beschäftigen, zögert das Ganze nur hinaus. Deine Kräfte sind instinktgebunden. Also hör auf, zu denken – so weit das möglich ist – und fang an, zu fühlen. Verstehst du mich?« Ich fluchte leise. »Ich darf also weder meine Fäuste benutzen noch meinen Verstand?« »Genau. So verhält sich kein Magier.« »Dann wundert es mich, dass euer Geschlecht nicht schon lange ausgestorben ist.« »Vielleicht ist das gar nicht so erstaunlich. Vampire sind unglaublich eindimensional. Jede Entscheidung wird von ihrem Raubtierinstinkt geleitet. Sie werden ausschließlich von ihrem Es beeinflusst.« Ich warf ihr einen abwertenden Blick zu. »Zitieren Sie jetzt Freud?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Hast du etwas gegen Freud? Wie wäre es dann mit Jung? Wenn Magier ihre Macht aktivieren, 190
treten sie mit dem kollektiven Unbewussten in Kontakt. Mit der Kraft, die alles Lebende verbindet.« »Wollen Sie damit sagen, ich komme erst an meine Zauberkräfte, wenn ich schwach und dämlich bin?« Zornig schleuderte Rhea ihren Zauberstab auf den Boden. »Es reicht!« Ihr Wutausbruch überraschte mich derart, dass mir der Mund aufklappte. »Du glaubst wirklich, dass deine ach so toughe Art irgendwen beeindruckt, was? Denkst du im Ernst, ich sehe nicht, wie sehr du deinen Sarkasmus und deinen Zorn als Schutzschild brauchst?« Sie beugte sich zu mir. »Du kannst mir nichts vormachen, Sabina. Wenn ich dich ansehe, sehe ich ein verletztes Kind. Du bist wütend? Das verstehe ich. Ich wäre es in deinem Fall auch. Sei wütend auf diejenigen, die dich so verletzt haben. Sei wütend auf dich selbst, weil du dir so lange etwas vorgemacht hast. Aber verdammt nochmal – hör endlich auf, dich wie eine Märtyrerin aufzuführen und deine Wut an mir auszulassen, nur weil ich versuche, dir zu helfen!« Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich biss so heftig die Zähne zusammen, dass ich befürchtete, sie könnten jeden Moment zersplittern. »Ich kann mich nicht daran erinnern, um Hilfe gebeten zu haben.« Rhea verschränkte die Arme. »Nein, nicht direkt. Aber ich will dir mal eine Frage stellen: Warum bist du hergekommen?« »Komisch. Genau diese Frage stelle ich mir auch schon eine ganze Weile.« »Vielleicht – nur vielleicht – verstehst du ja irgendwann, dass du nur dann ganz du selbst werden kannst, wenn du mit der Seite von dir Kontakt aufnimmst, die du seit über fünfzig Jahren unterdrückst.« Ich warf die Arme in die Luft. »Gütige Lilith, was ist bloß los mit euch? Ich kam hierher, weil ich meine Schwester kennenlernen wollte.« 191
Das war gelogen, und das wussten wir beide. Ich war hierhergekommen, um mich zu rächen. Rhea schürzte die Lippen und zog die Augenbrauen hoch. »Schwachsinn. Wir wissen beide, dass du gekommen bist, um Rache an Lavinia Kane zu üben. Jetzt hör mir mal genau zu: Ohne Magie wirst du sie niemals besiegen. Und du wirst nie eine gute Magierin werden, wenn du nicht zuerst deine eigenen Dämonen schlägst. Ich bin da, um dir zu helfen. Ich weiß, es macht dir Angst, aber du wirst dich nicht weiterentwickeln, solange du dieser Angst nicht ins Auge siehst.« Ich riss wutschnaubend den Kopf hoch. »Ich habe keine Angst.« Rhea stöhnte ungeduldig auf. »Jede Art von Wut entsteht aus Angst. Und du hast verdammt viel Angst. Entweder machst du so weiter und redest dir ein, du hättest keine, oder du kannst sie bei den Hörnern packen und sie zu deinem Vorteil nutzen.« Sie trat näher und legte mir eine Hand auf die Schulter. »In dir steckt so viel, Sabina. Lass mich dir helfen, es zu finden.« Diese Unterhaltung verursachte mir Magenkrämpfe. Aber Rhea wollte mich herausfordern. Jetzt einen Rückzieher zu machen, würde bedeuten, dass ich die Angst siegen ließ. Denn die Magierin hatte Recht. Ich hatte höllische Angst. Angst es zu versuchen. Angst zu versagen. Aber vor allem hatte ich Angst, dass meine Großmutter Recht gehabt hatte – dass ich nur ein erbärmliches Nebenprodukt eines schrecklichen Fehlers meiner Eltern war. Nichts Besonderes. Eine beschämende Platzverschwendung. Der Zorn kam aus dem Nichts. Tränen der Wut traten mir in die Augen. Ich holte tief Luft und versuchte, sie in die dunkle Ecke zurückzuverbannen, in der ich sie normalerweise versteckt hielt. Doch die Tränen ließen sich keinen Einhalt gebieten und drängten immer weiter. Ich musste an die furchtbaren Worte meiner Großmutter denken. An jene Worte, die sie mir gesagt hatte, als sie herausgefunden hatte, dass mir der Apfelholzpfahl nichts anhaben konnte, 192
den sie mir gerade in die Brust gerammt hatte. Die Worte, die alles beinhalteten, was sie all die Jahre von mir gedacht und für mich empfunden hatte. Das erste Mal hatte sie es laut ausgesprochen: Du bist eine Schande für meine Familie. Der Damm brach. Eine Welle des Zorns schlug über mir zusammen, und auf einmal glaubte ich, darin zu ertrinken. Ich wollte zuschlagen. Meine Venen füllten sich mit Lava. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, und meine Brust platzte fast vor dem Bedürfnis, diesen einen Schrei auszustoßen, den ich seit fünf Jahrzehnten unterdrückt hielt. Ich hatte das Gefühl, daran zu ersticken. Auf keinen Fall konnte ich zulassen, dass Rhea Zeuge eines solchen Ausbruchs wurde. Natürlich sah sie, dass etwas mit mir nicht stimmte. Aber sie wich nicht zurück und brachte sich nicht in Deckung – was mich überraschte. Ich war so wütend, dass meine Augen förmlich glühten. »Wie geht es dir?«, fragte sie stattdessen. Es fiel mir schwer zu sprechen. Mein Kiefer schmerzte vom heftigen Zusammenbeißen der Zähne. »Ich will jemanden umbringen.« Nicht irgendjemanden. Nein, ich wollte Lavinia Kane umbringen. Ich wollte ihr wehtun. Ich wollte sie angreifen. Ich wollte sehen, wie ihr Blut floss. Vor allem jedoch wollte ich, dass sie zumindest einen Teil des Leides selbst erfuhr, das sie mir mein ganzes Leben über zugefügt hatte. Rhea nickte. »Okay, gut. Jetzt möchte ich, dass du diese Wut annimmst.« Meine Beine zitterten. Meine Finger zuckten, als wollten sie jemanden erwürgen. »Ich muss auf etwas einschlagen. Und zwar hart.« »Schließ die Augen.« Ich riss den Kopf zurück. Wenn ich mich jetzt diesen Empfindungen überließ, würde ich wahnsinnig werden. Da war ich mir sicher. 193
»Sabina, hör mir zu. Schließ die Augen. Gut. Jetzt atme tief ein.« Luft rasselte in meinen Lungen und kratzte in meiner Luftröhre. »Jetzt möchte ich, dass du dir vorstellst, wie du all deine Wut zusammennimmst und in der Mitte deines Körpers zu einem glühenden Ball formst.« Ich suchte so verzweifelt nach etwas, was die Heftigkeit der Gefühle lindern würde, dass ich tat, was sie mir sagte. Ich stellte mir die Wut wie einen neonroten Nebel vor, der meinen Körper erfüllte, und konzentrierte mich darauf, ihn durch meine Arme und Beine und mein Rückgrat zu leiten. Ich sammelte ihn in einer wirbelnden Masse über meinem Zwerchfell, legte eine Hand auf den Bauch und spürte die starke Hitze unter meiner Haut. »Wenn du jetzt merkst, dass etwas auf dich zukommt, möchte ich, dass du dir vorstellst, wie du es mit der Energie abwehrst, die du gerade gesammelt hast. Aber was auch immer du tust – sieh nicht hin.« Eine Metallkugel traf mich am Arm, ehe ich ihr antworten konnte. Ich riss die Augen auf. »Verdammt!« »Ich habe dich gewarnt«, sagte Rhea. Auf einmal hatte ich wieder die Binde vor den Augen. Ich versuchte sie wegzureißen, aber sie ließ sich nicht lösen. Verfluchte Magier! Wumm. Diese Kugel traf mich am Brustkorb. »Hör auf!« »Konzentriere dich!«, rief Rhea. Knall! Meine Schulter. Ich trat nach vorn, entschlossen, Rhea zu finden und sie zu erwürgen. Doch plötzlich geschah etwas Seltsames. Meine Ohren nahmen ein zischendes Geräusch wahr. Ohne nachzudenken, machte ich einen Schritt nach rechts, und die Kugel flog an mir vorbei. Den Bruchteil einer Sekunde später ertönte hinter mir das Klirren von splitterndem Glas. 194
»Das Fenster und alles andere, was noch dran glauben muss, bezahlst du.« »Sie sind eine verdammte Hexe. Wissen Sie das eigentlich?« »Glaub mir – du bist nicht die Erste …« Peng! Schmerz breitete sich in meinen Rippen aus. »… die mir das sagt.« Ich holte tief Luft und zuckte zusammen. Sie musste mit diesem Wurf mindestens eine meiner Rippen angeknackst haben. Ich musste dringend etwas unternehmen, ehe sie noch mehr Schaden anrichten konnte. Der Ball aus Zorn pulsierte in meinem Inneren. Jetzt begann ich das Feuer zu schüren, denn ich erinnerte mich an Rheas Rat. Eine weitere Kugel sauste durch die Luft. Ich konzentrierte mich auf den Laut und stellte mir vor, wie das Metall auf mich zukam. Dann malte ich mir aus, wie ich ihm einen Blitz aus Zorn entgegenschleuderte. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, und elektrischer Strom schien plötzlich durch mein Rückgrat zu fließen. »Verdammt!«, rief Rhea. Es gab einen Knall, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Ich senkte den Kopf. »Was ist passiert?« Rhea stöhnte. »Du hast daneben getroffen.« »Alles in Ordnung?« Die Antwort war ein weiteres Stöhnen. Ich versuchte erneut, die Augenbinde herunterzureißen. Es kribbelte auf meinem Gesicht, und das Tuch verschwand. Ich blinzelte einige Male, ehe ich wieder klar sehen konnte. Als ich mich umblickte, entdeckte ich die Magierin auf dem Boden neben einem Haufen Metall in einem Meer aus Glasscherben. Ich eilte zu ihr. »Sie bluten ja.« Ich berührte den roten Flecken an ihrer Schläfe. Sie zuckte zusammen. »Ach, ehrlich, Sherlock? Du hast die Lampe von der Decke geschossen.« »Das tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte.« 195
Sie hörte auf, ihre Schläfe abzutupfen, und sah mir in die Augen. »Ich kann dir sagen, wie das passiert ist. Du hast Magie benutzt. Zugegeben, an deiner Zielführung müssen wir noch arbeiten, aber das ist ein riesiger Fortschritt. Du kannst stolz auf dich sein.« Ich schüttelte den Kopf. Mein Schuldgefühl überwog jeglichen Anflug von Triumph. »Ich glaube, wir müssen Sie zum Arzt bringen. Oder zumindest zur Krankenschwester.« Ich versuchte, ihr wieder auf die Beine zu helfen. Sie winkte ab. Ich blieb vorsichtshalber in der Nähe stehen, während sie sich mühsam erhob. »Unsinn. Wir müssen weiterarbeiten … Oh.« Sie schwankte und streckte den Arm aus. Ich griff nach ihr und hielt sie fest, damit sie nicht umfiel. »Okay, vielleicht wäre eine Aspirin oder etwas Ähnliches doch keine so schlechte Idee.« Ich legte ihr den Arm um die Schultern, ohne auf die Prellungen zu achten, die sie mir verpasst hatte. »Ich bringe Sie in Ihre Wohnung und dann hole ich Maisie, damit sie nachschauen kann, ob wirklich alles in Ordnung ist.« Rhea schluckte. »Okay. Aber glaub ja nicht, dass du damit aus dem Schneider bist. Wir werden so lange weitermachen, bis du dein Ziel auch triffst.« »Äh … Rhea?« Sie lehnte sich gegen mich, während wir die Turnhalle verließen. Als sie mich ansah, waren ihre Pupillen geweitet, und sie schien nicht klar sehen zu können. »Mein Schuss ging gar nicht daneben. Ich habe versucht, mich auf die Kugel zu konzentrieren, aber ich war so wütend auf Sie, dass ich mir stattdessen Ihr Gesicht vorgestellt habe.« Sie blieb stehen und sah mich einen Moment lang mit undurchdringlicher Miene an. Schließlich nickte sie, als hätte sie soeben eine Entscheidung getroffen. »In diesem Fall werde ich das nächste Mal einen Helm tragen.«
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Zwei Abende später waren wir wieder im Aderlass. Wie Rhea vorhergesagt hatte, verheilten Giguhls Verletzungen schnell, und er behauptete, sein gutes Stück sei wieder mehr oder weniger wie neu. Ich hatte zwar meine Zweifel, was seine Einsatzfähigkeit für einen weiteren Kampf betraf, hielt aber den Mund. Giguhl war schließlich ein erwachsener Dämon, und es stand mir nicht zu, wie eine überängstliche Bühnenmutter im Hintergrund zu zittern und zu wachen. Die Kampfarena war diesmal noch dichter besetzt als zuvor. Ich vermutete, es hatte sich herumgesprochen, wie Giguhl den Schänder besiegt hatte. Dutzende von Zuschauern aus den Reihen der Schattengeschlechter waren gekommen, um den neuen Champion im Aderlass kämpfen zu sehen. Als Slade uns beim Hereinkommen entdeckte, schenkte er mir ein Ich-habe-es-dir-jagesagt-Lächeln, hielt sich aber ansonsten ungewöhnlich zurück. Diesmal war der Gegner ein Völlerei-Dämon. Er war so gewaltig, dass er den Großteil des Rings für sich beanspruchte. Irgendwie sah er wie aus Jabba der Hutte, nur deutlich weniger attraktiv. »Und? Was meinst du?« Giguhl tänzelte auf der Stelle hin und her, ohne den Blick von dem fetten Kerl zu wenden. Vermutlich versuchte er, einschüchternd zu wirken, doch sein Gegner schien ihn nicht einmal zu bemerken. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, einen Eimer gebratene Hühnerbeine zu vertilgen. »Ich persönlich würde mich ja auf seine Zunge konzentrieren«, schlug Slade vor. Er hatte bereits seine übliche Show vor der Menge abgezogen, ehe er zu uns gestoßen war. Giguhl legte den Kopf schräg und dachte nach. »Ich denke nicht, dass ich dieses Ding berühren will.« 197
»Wie wäre es dann mit den Augen?«, schlug ich vor. »Das ist immer eine gute Option.« Die Glocke läutete, und Giguhl schoss in die Mitte des Rings, wobei er unsere Ratschläge nicht im Geringsten befolgte. Stattdessen rannte er wie ein Rammbock auf Mr. Gefräßig zu und rammte ihm den Kopf in den gelatineartigen Bauch. Er wurde zurückgeschleudert, als wäre er gegen ein Trampolin geprallt. Mit einem dumpfen Knall schlug sein Hintern auf dem Betonboden auf. »Die Augen!«, brüllte ich. »Stich ihm die Augen aus, Giguhl!« Als Nächstes entschied sich Giguhl für eine Art Sprungangriffsmanöver und landete mit einem Satz auf dem Kopf seines Gegners. Die Menge tobte. Giguhl klammerte sich verzweifelt fest, während der wabbelige Dämon versuchte, ihn abzuschütteln. »Halt durch, Giguhl!« Ich versuchte ermutigend zu klingen, auch wenn das Ganze nicht sehr vielversprechend aussah. Mr. Gefräßig brüllte und schüttelte den Kopf noch wilder – ein wütender Bulle, der versuchte, einen entschlossenen Cowboy abzuwerfen. In diesem Moment griff Giguhl nach oben und hielt sich an einem niedrig hängenden Balken fest. Er schwang sich durch die Luft und trat mit einem Huf aus, der direkt in Mr. Gefräßigs rechtem Auge landete. Ein markerschütternder Schrei durchschnitt die rauchgeschwängerte Luft. Mit seinen kurzen Stummelarmen kam Mr. Gefräßig nicht an sein Auge heran, und grünes Blut spritzte in die Menge. Ich sprang wie eine Wahnsinnige auf und ab. »Ha! Genau so!« Ohne nachzudenken, drehte ich mich um und bot Slade die Hand zum High-Five. Er schlug ein. Als mir klar wurde, was ich gerade getan hatte, räusperte ich mich und versuchte, wieder etwas würdevoller zu wirken. Slade lächelte mich über die Zigarre hinweg an, die zwischen seinen Reißzähnen steckte.
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In diesem Moment stieß Mr. Gefräßig erneut einen schrecklichen Laut aus und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf. Ich drehte mich um und konnte gerade noch beobachten, wie Giguhl dem übergewichtigen Dämons die fette Zunge aus dem Maul riss. Ein Schwall grünes Blut ergoss sich über Giguhl. Er hielt sich die Zunge triumphierend über den Kopf wie eine Trophäe. Die Menge brüllte ihm ihre Begeisterung entgegen. Dann sprang Slade in den Ring und sprach seine üblichen Abschiedsworte. Ich wandte mich zum Gehen, da ich nicht die Nerven dazu hatte, dem zungenlosen Dämon dabei zuzuhören, wie er um Gnade flehte. Außerdem brauchte ich dringend einen Drink, bevor ich mich mit Slade in seinem Büro traf. Slade knallte zufrieden ein Bündel frisch gedruckter Geldscheine vor mir auf den Tisch. »Dein Dämon ist eine echte Goldmine, Sabina.« Ich nahm das Bündel an mich und zählte nach. Zweitausend Dollar. Nicht schlecht. Allerdings fragte ich mich, wie viel Slade für sich selbst einbehielt. Ich wollte zwar nicht kleinlich sein, aber ich musste dringend mehr verdienen, wenn ich mir tatsächlich irgendwann eine Wohnung in New York leisten wollte. »Man sollte ihn wirklich nicht unterschätzen«, meinte ich trocken. »Warum so missmutig?«, wollte Slade wissen. »Das ist doch ein echt guter Deal für dich. Dein Dämon ist im Ring ein wahres Monster, und du brauchst dich nur noch zurücklehnen und den Gewinn einzufahren.« »Ehrlich gesagt, würde ich es bevorzugen, mein Geld auf die gute altmodische Art zu verdienen.« Slade zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Du solltest nicht immer gleich auf so schmutzige Ideen kommen, Slade. Prostitution habe ich nicht gemeint.« »Verstehe«, sagte er. »Leute umbringen ist also wesentlich weniger schmutzig.« 199
»Zumindest könnte ich dann alle meine Rechnungen bezahlen«, entgegnete ich. »Das war früher nämlich nie ein Problem.« Slade lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte mich einen Moment lang mit berechnendem Blick. »Ich vermute, es war ziemlich schlecht fürs Geschäft, die Dominae so wütend zu machen.« Ich seufzte und lehnte mich ebenfalls zurück. »Das kannst du laut sagen.« Der Vampir stand auf und trat an seine Bar. Dort hob er eine Karaffe mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit hoch. »Scotch?« Ich nickte. Etwas umständlich goss er jeweils zwei Fingerbreit in zwei Gläser. Er reichte mir eines davon und stieß dann mit mir an. Schließlich setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Als seine Budapester bequem neben der ledernen Schreibunterlage Platz gefunden hatten, zündete er sich noch eine Zigarre an. Jetzt sah er aus wie ein fetter Kater, der bereit war, sich auf den Kanarienvogel zu stürzen. »Ich nehme nicht an, dass du deine Meinung geändert hast, was mein Angebot betrifft.« Langsam nahm ich einen Schluck Scotch. Die goldene Flüssigkeit wärmte mein Inneres. Ich lächelte. »So leicht gibst du nicht auf, was?« »Nein, nie.« Ein verschmitztes Lächeln zeigte sich auf seinen vollen Lippen. Meine Augen genossen den Anblick. »Ich verstehe noch immer nicht, warum du dafür jemanden wie mich brauchst. Okay, du bist schon eine ganze Zeit aus dem Geschäft, aber du würdest bestimmt nicht lange brauchen, um wieder in Form zu kommen.« Ich blickte demonstrativ auf seinen – zugegebenermaßen durchtrainierten – Bauch. »Du könntest zum Beispiel versuchen, weniger Kohlenhydrate zu dir zu nehmen. Vielleicht würde ja auch etwas Jogging helfen.« Sein Lächeln wirkte angestrengt. »Leider wäre es in meiner Position recht … nun ja … unangemessen, mir selbst die Hände 200
schmutzig zu machen. Nein, ich brauche jemanden, dem ich diese delikaten Angelegenheiten vertrauensvoll überantworten kann.« »Meine Antwort lautet noch immer Nein«, erwiderte ich entschlossen. Er schürzte die Lippen, als überlege er, die Angelegenheit von einem anderen Blickwinkel aus anzugehen, gab dann aber doch nach. »Okay. Lassen wir das. Zumindest für den Moment. Aber eines Tages erwische ich dich in einer schwachen Minute. Und dann gewinne ich.« Ich lachte. »Da kennst du mich aber schlecht, wenn du meinst, ich hätte so etwas wie schwache Minuten.« »Spielst noch immer die Harte, was?«, flachste er und grinste. Ich wurde wieder etwas sachlicher. »Mach dir nichts vor, Slade. Ich spiele gar nichts. Du magst über die Jahre vielleicht weicher geworden sein, ich dagegen nur stärker, schneller und klüger.« Slade grinste überlegen. Ich verschränkte die Arme. Es war offenbar an der Zeit, diese Unterhaltung zu beenden. »Den Dämon kriegst du, weil er kämpfen will. Ich hingegen stehe nicht zum Verkauf.« Er sah mich mit einem wissenden Lächeln an. »Noch nicht, Sabina.« Während ich auf Giguhl wartete, der eine weitere Siegesrunde mit den Nymphen drehte, bestellte ich mir an der Bar ein Bier. Zum Glück war ich diesmal schlau genug gewesen, mir meinen Anteil zu sichern, bevor er wieder alles ausgeben konnte. Während ich mein Bier trank, dachte ich über Geld nach. Obwohl ich Slades Angebot mehr als einmal abgelehnt hatte, fragte ich mich insgeheim, ob eine Rückkehr auf die dunkle Seite des Gesetzes nicht vielleicht doch eine echte Option war. Okay, das Magietraining entwickelte sich ganz gut, aber die Tatsache, dass ich keinen langfristigen Plan hatte, störte mich. Giguhl machte ein gutes Geschäft mit seinen Kämpfen, aber ich konnte nicht für 201
immer von seinem Gewinn leben. Irgendwann würde ich einen Job brauchen. Soweit ich das bisher beurteilen konnte, führten viele der Magier in New York ein ganz gewöhnliches Leben, gingen einer unauffälligen Arbeit nach und passten sich die meiste Zeit der menschlichen Gesellschaft an. Meine Fähigkeiten hingegen riefen nicht unbedingt nach einem offiziellen Job – ganz im Gegenteil. Allein die Vorstellung, in einem Büro zu sitzen, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Mir blieb also nur die Möglichkeit, illegalen Geschäften nachzugehen. Ich konnte mich jederzeit als Auftragskillerin verdingen, aber hier in New York fehlten mir die Verbindungen. Na ja – einen Kontakt hatte ich, aber Slade war momentan meine allerletzte Option. Vielleicht hatte Rhea Recht, und ich musste tatsächlich etwas an meiner Geduld feilen. Bestimmt würde sich demnächst eine andere Möglichkeit auftun, Geld zu verdienen. Ich trank gerade mein Glas leer, als Earl, der Barkeeper, mit einem frischen Bier zu mir trat. Er stellte es vor mir auf den Tresen. »Sie können anscheinend Gedanken lesen«, sagte ich, da mich die Aufmerksamkeit des Barkeepers beeindruckte. Er lächelte. »Nein. Der Werwolf da drüben schickt das hier mit den besten Grüßen.« Ich sah mich neugierig um, und er wies mit dem Kopf auf eine Gruppe von Leuten, die sich im hinteren Teil des Raumes aufhielten. Michael Romulus saß am Kopfende eines Tisches, um den sich acht weitere Kerle versammelt hatten. So wie sie mich beobachteten, nahm ich an, sie gehörten alle zu Michaels Rudel. Da mich das Alpha-Tier auf ein Bier einlud, bedeutete das wohl, ich lief nicht unmittelbar Gefahr, erneut zu einem Duell herausgefordert zu werden. Aber das war noch lange kein Grund, sich zu entspannen.
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Mein Blick traf auf den Michaels. Wir waren beide nervös. Ich hatte ihn seit unserem Kampf nicht mehr gesehen und war mir nicht sicher, wie die Dinge standen. Äußerlich zeigte er keinerlei Anzeichen vorhandener Verletzungen, aber es war anzunehmen, dass sein Ego noch ziemlich unter der Niederlage litt. Denn obwohl Slade das Duell für unentschieden erklärt hatte, wussten wir beide, dass ich in der Lage gewesen wäre, ihn zu besiegen. Meiner Erfahrung nach behagte es den meisten Männern ganz und gar nicht, einer Frau unterlegen zu sein. Er stand vom Tisch auf und bedeutete seinen Begleitern, sitzen zu bleiben, als sie ihm folgen wollten. Ich nahm einen großen Schluck Bier, während er zu mir herüberkam. Hastig suchte ich nach Anzeichen von Aggression, doch er baute sich weder zu seiner vollen Größe auf noch starrte er mich an wie einen verhassten Feind. Seine Schultern wirkten entspannt, und er hielt den Blick leicht gesenkt. Er blieb einen respektvollen Meter vor mir stehen. »Sabina.« »Michael«, sagte ich und nickte ihm zu. »Danke für das Bier.« »Darf ich?« Er wies auf den leeren Barhocker neben mir. Die Tatsache, dass er den Mindestabstand wahrte, entspannte mich ein wenig. Aber ich blieb wachsam, da ich noch immer nicht wusste, worüber er mit mir reden wollte. »Klar«, erwiderte ich und zuckte dabei lässig mit den Achseln. Er gab Earl ein Zeichen, ihm ebenfalls etwas zu trinken zu bringen, bevor er mich erneut ansah. »Wie ich gerade gehört habe, ist dieser Dämon von dir im Ring ja geradezu sensationell.« Ah, dachte ich. Wir fangen erst mal mit harmlosem Geplauder an. In Gedanken entspannte ich mich ein wenig und beschloss, mitzuspielen. »Er ist ein ganz schön harter Kerl, stimmt. Siehst du dir die Kämpfe an? Ich habe dich gar nicht gesehen.« Er nickte Earl dankend zu, als dieser ein volles Glas Bier vor ihm abstellte, und nahm dann einen großen Schluck, ehe er sich wieder mir zuwandte. »Nein, ich gehe nicht hin. Zwei Dämonen 203
dabei zuzusehen, wie sie sich fast zu Tode prügeln, ist nicht unbedingt das, was ich gute Unterhaltung nenne. Die Welt ist schon brutal genug.« Ich zog die Augenbrauen hoch. Wenn man bedachte, dass Michael bei unserem letzten Zusammentreffen versucht hatte, mich in die Hölle zu schicken, fand ich diese Ansicht recht erstaunlich. Aber ich vermutete, unseren Kampf hatte er als notwendig betrachtet, während die Dämonen-Fights sportliche Unterhaltung waren. »Wenn du also nicht gekommen bist, um mit mir über die Geschicklichkeit meines Dämons zu plaudern, wird es wohl um etwas anderes gehen. Willst du mir nicht sagen, weshalb du hier bist?« Er hatte das beschlagene Glas zwischen den Handflächen hin und her gerollt und starrte jetzt hinein, als erwarte er sich vom Bier eine Antwort. Dann hob er den Kopf und sah mir direkt in die Augen. »Du hast Recht. Es geht um etwas anderes. Ich wollte dich warnen.« Ich sah ihn an. »Wirklich?«, fragte ich ein wenig überrascht. »Ja. Jemand hat es auf dich abgesehen.« Meine erste Reaktion war das Bedürfnis, laut aufzulachen. Schließlich war diese Tatsache nichts Neues für mich. Aber irgendetwas an Michael Romulus sagte mir, dass er nicht zu denen gehörte, die unnötig Gerüchte in die Welt setzten. »Warum erzählst du mir das?« »Hör zu, Sabina. Normalerweise achte ich auf solche Dinge überhaupt nicht. Es geht mich nichts an. Aber da es diesmal mit meinem Rudel zu tun hat, kann ich es nicht einfach ignorieren. In jener Nacht, als du auf unserem Territorium gewildert hast, sind meine Jungs nicht rein zufällig auf dich gestoßen.« Ich zuckte mit den Achseln. Das war mir bereits klar gewesen. »Ich habe angenommen, sie hätten den Schuss gehört, als dieser Sterbliche mit seiner Waffe herumgefuchtelt hat.«
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Michael runzelte die Stirn. »Ein Sterblicher hat auf dich geschossen?« Ich winkte ab, da ich keine Lust hatte, die Geschichte noch einmal aufzuwärmen. »Also? Was wolltest du mir eigentlich sagen?« Er verlagerte das Gewicht. »Jemand hat mich angerufen und mir gesagt, dass du wilderst.« Jetzt hatte er meine volle Aufmerksamkeit. »Wer?« Ich beugte mich zu ihm. »Ich weiß es nicht. Man hat mir nur gesagt, dass sich auf unserem Territorium ein Vampir herumtreibt. Ein paar junge Mitglieder meines Rudels waren in der Nähe, also habe ich sie angerufen und ihnen befohlen, mal nachzusehen.« Ich überlegte. Eine logische Erklärung schien es nicht zu geben. Ich hatte niemandem gesagt, wohin ich wollte, und war mehr oder weniger zufällig dort gelandet, als ich Maisies Wohnung verließ, um den Kopf freizubekommen. Außerdem war mir in jener Nacht niemand begegnet, bis ich auf den Mann mit der Waffe stieß. »Jemand muss mir gefolgt sein«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Michael. »Irgendeine Idee, wer das sein könnte?« Sein Tonfall verriet, dass es keine rhetorische Frage gewesen war. Die Person, die Michael gesteckt hatte, dass ich mich im Central Park aufhielt, hatte auch sein Rudel in Gefahr gebracht. Kein Wunder, dass er mich zu diesem Kampf herausgefordert hatte. Wahrscheinlich fühlte er sich dafür verantwortlich, dass seine Jungs verletzt worden waren. »Leider muss ich zugeben, dass es eine ganze Reihe von Leuten gibt, die mich lieber tot sähen als lebendig. Aber die meisten würden das Problem direkt angehen und nicht durch einen anonymen Anruf.« »Vielleicht wollte derjenige ja gar nicht, dass du dabei ums Leben kommst.« 205
»Wie meinst du das?« Er stützte sich mit dem Ellbogen auf der Bartheke ab. »Könnte es nicht sein, dass man versucht hat, ein Problem in die Welt zu setzen, das es vorher gar nicht gab? Wie zum Beispiel ein Streit zwischen den Schattengeschlechtern?« »Hm«, murmelte ich und überlegte. »Das wäre möglich. Was uns aber auf die Frage bringt, warum du mir das jetzt alles erzählst. Denn falls tatsächlich das die Absicht dahinter gewesen ist, hat es doch funktioniert.« »Ich gebe zu, als meine Jungs verletzt zu Hause ankamen, hab ich erst mir die Schuld gegeben. Dann hab ich sie dir zugeschoben und dich zum Duell herausgefordert. Aber du hattest die Möglichkeit, mich zu töten, hast es aber nicht getan. Das zeigt mir, dass es dir nicht darum geht, dir mein Territorium unter den Nagel zu reißen.« Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Als ich das erste Mal im Central Park war, hatte ich überhaupt keine Ahnung, dass es so etwas wie Wilderei-Gesetze gibt. Ich wollte nur einen schnellen Snack.« Seine Lippen zuckten, als versuchte er, ein Lächeln zu unterdrücken. »Sobald mir das klar geworden war, habe ich angefangen, über diesen seltsamen Anruf nachzudenken. Jemand hat ein Spielchen mit mir getrieben … mit uns. Und ich will wissen, wer das war.« »Da bist du nicht allein.« »Gab es in letzter Zeit vielleicht noch andere Anschläge auf dich?« »So könnte man das nennen.« Ich erzählte ihm von den Auftragskillern an der Tankstelle und dem Dämonenangriff in der UBahn. Michael stieß einen leisen Pfiff aus. »Schon einmal daran gedacht, dass diese Anschläge miteinander in Verbindung stehen könnten?«
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Ich schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch alles keinen Sinn. Die Auftragskiller wurden von den Dominae geschickt. Und hinter dem Dämon steckt offensichtlich ein Magier. Was den Anruf betrifft – wer weiß? Aber wie können all diese Anschläge miteinander in Verbindung stehen, wenn sowohl Magier als auch Vampire hinter mir her zu sein scheinen? Die beiden Geschlechter stehen kurz davor, sich den Krieg zu erklären. Wer sollte also die Macht haben, sie gegen mich zu vereinen? Und wieso sollte man sich überhaupt diese Mühe machen?« »Denk doch mal nach, Sabina. Der Telefonanruf sagt mir, dass jemand die Werwölfe gegen dich aufbringen wollte – und das zusätzlich zu den Vampiren und möglicherweise den Magiern. Könnte es nicht sein, dass jemand sicherstellen will, dass du gar keine Verbündete mehr hast?« »Aber was will er denn damit bezwecken? Ich bin ein arbeitsloser Mischling, sonst nichts.« Er legte den Kopf schief. »Du bist auch die Schwester der Anführerin der Magier und die Enkelin der Alpha-Domina. Es könnte durchaus einige Leute geben, die dich als ziemliche Bedrohung betrachten.« Wieder überlegte ich. »Okay. Nehmen wir einmal an, dass mich jemand tatsächlich als Bedrohung sieht und entweder tot oder vollkommen isoliert wissen will. Wer aber könnte die Macht und den Einfluss haben, die Schattengeschlechter so zu manipulieren?« Michael nahm einen großen Schluck Bier. Dann stellte er das Glas ab und sah mir erneut in die Augen. »Ich glaube, wenn du diese Frage beantworten kannst, weißt du, wer hinter dir her ist. In der Zwischenzeit solltest du dich besser vorsehen.«
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Am nächsten Abend entdeckte mich Maisie in der Bibliothek. Nach einer weiteren zermürbenden Trainingseinheit mit Rhea – die während des gesamten Unterrichts einen Helm getragen hatte – war ich dort gelandet, um nach Büchern über chthonische Magie zu suchen. Ich bin nicht gerade als Bücherwurm bekannt, aber ich war entschlossen, wirklich alles zu tun, um meine neuen Kräfte besser zu verstehen und zu meinem Vorteil nutzen zu können. »Störe ich?«, fragte Maisie. Sie war auf der Schwelle zur Bibliothek stehen geblieben und zögerte, einzutreten. Ich blickte von dem Buch auf, in dem ich gerade las. Als ich den Titel Blut, Sex und Tod: Chthonische Magie und der moderne Magier entdeckt hatte, war ich fasziniert gewesen. Doch der dichte Schreibstil und der belehrende, akademische Ton passten nicht im Geringsten zu dem spannenden Titel. Ich legte das Buch beiseite und lächelte Maisie an. »Überhaupt nicht.« Sie machte es sich in dem Sessel mir gegenüber bequem. Ihre Bewegungen waren langsam, als trüge sie eine schwere Last auf den Schultern. Ihre blauen Augen waren von dunklen Schatten unterzogen. »Es tut mir leid, dass ich in letzter Zeit so wenig da war. Aber diese ganzen Meetings haben mich völlig fertiggemacht.« Ich legte das Buch auf den Tisch zwischen uns und richtete meine volle Aufmerksamkeit auf sie. »Läuft es mit dem HekateRat nicht so gut?« Sie schnitt eine Grimasse. »Nicht nur mit dem Rat. Auch der Abgesandte von Königin Maeve besteht auf einen täglichen Bericht.« Ich runzelte die Stirn. »Wieso?« 208
Sie seufzte und rutschte etwas tiefer in den Sessel. »Der Königin sagt die Vorstellung eines Krieges nicht zu. Der Rat rückt einer Abstimmung täglich näher, und bis auf ein paar Widerstandszellen sieht es so aus, als seien die meisten für einen Krieg. Aber wenn wir den Krieg auch gewinnen wollen, brauchen wir die Unterstützung der Königin.« »Aber ich habe immer gedacht, Feen und Magier seien ohnehin Verbündete. Ich hatte angenommen, auf die Unterstützung der Königin könne man sich also verlassen.« »Wir sind auch Verbündete. Und bisher konnten wir immer darauf zählen, dass die Feen auf unserer Seite kämpfen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Vor Jahrhunderten war die menschliche Bevölkerung noch kleiner und die Städte weniger dicht besiedelt. Inzwischen sind die Sterblichen überall und haben die Möglichkeit, sehr schnell miteinander in Kontakt zu treten. Wenn ein Krieg ausbricht und Menschen dabei verletzt werden oder davon etwas mitbekommen, könnte die ganze Welt innerhalb weniger Minuten davon erfahren. Stell dir vor, was passieren würde, wenn die Regierungen der Sterblichen ihre Waffen gegen uns richten würden!« Dieser Aspekt war mir bisher noch gar nicht bewusst geworden. Nicht weiter überraschend, schließlich verschwendete ich meist keinen zweiten Gedanken an die Sterblichen. Aber als ich nun so darüber nachdachte, verstand ich die Gefahr. Es gab deutlich mehr Sterbliche als Mitglieder der Schattengeschlechter. Falls die Menschen unsere Existenz entdeckten, wäre ein Kampf untereinander wohl das kleinste unserer Probleme. In Friedenszeiten schafften es die Schattengeschlechter durch unterschiedliche Taktiken, nie auf dem Bildschirm der Menschen zu erscheinen. Als Nachtwesen hatten es die Vampire nicht sonderlich schwer, mit Hilfe von ein paar Täuschungsmanövern und einer guten Führung durch die Dominae unbemerkt zu bleiben. Jeder Vamp, der aus der Reihe tanzte, wurde eliminiert. Die Magier und Feen wiederum überlebten durch ihre Magie und ihre Men209
schenfreundlichkeit. Aber ein Krieg würde jegliche Zurückhaltung beenden – und das Risiko einer völligen Anarchie war enorm. »Und du gibst ihr Recht?«, wollte ich von Maisie wissen. Sie nickte. »Wie die meisten Ratsmitglieder glaube auch ich nicht, dass die Dominae ungeschoren davonkommen sollten. Aber ich mache mir gleichzeitig auch Sorgen darüber, was ein Krieg alles nach sich ziehen könnte. Dem Rat geht es da nicht anders. Deshalb soll ja auch abgestimmt werden. Wir wollen sicher sein, dass wir die Kollateralschäden auf ein Minimum reduzieren können, falls wir in den Krieg ziehen. Und es ist meine Aufgabe, die Königin davon zu überzeugen, dass wir dazu in der Lage sind.« »Und wie?« »Wir haben ein paar Ideen. Heutzutage ist es möglich, Krieg zu führen, ohne dass sich dazu zwei Armeen auf einem Schlachtfeld gegenüberstehen müssen. Es gibt Guerillataktiken und ein paar finanzielle Tricks, die einen Gegner genauso niederstrecken können.« Ich nickte. »Die Geschäftsinteressen der Dominae ausloten und ihre Einnahmequellen zerstören.« Sie lächelte. »Genau. Das Problem besteht allerdings darin, dass wir gleichzeitig auf alles vorbereitet sein müssen, was die Dominae als Gegenschlag planen könnten. Sie könnten dieselben Strategien ja auch gegen uns einsetzen. Oder sie machen es auf die altmodische Art und Weise und greifen mit allem an, was ihnen zur Verfügung steht. Und da liegt auch der Hund begraben. Wir können Königin Maeve nicht versprechen, dass die Dominae uns nicht alle verraten.« »Aber warum sollten sie das tun?« Maisie zuckte mit den Achseln. »Wer weiß, was sie im Schilde führen. Schließlich haben sie Dutzende von Magiern entführt, um ihnen das Blut abzusaugen. Offensichtlich verfolgten sie damit einen bestimmten Plan.« 210
Ich lehnte mich zurück und versuchte, das alles zu verdauen. Mir drehte sich der Kopf, wenn ich an die verschiedenen Gesichtspunkte und Möglichkeiten dachte, die hier ins Spiel kamen. Ich konnte mir kaum vorstellen, unter welchem Druck Maisie und die restlichen Ratsmitglieder momentan stehen mussten. »Mit Adam an ihrem Hof und deinen Versuchen, ihren Abgesandten für euch zu gewinnen, wird die Königin doch bestimmt bald nachgeben und sich auf die Seite der Magier stellen.« Maisies Augen starrten düster auf den Tisch vor ihr. »Ja, vermutlich. Ich mache mir nur Sorgen. Ich werde jede Entscheidung mittragen, die der Rat fällt, aber die Vorstellung eines Krieges gefällt mir überhaupt nicht.« Ich schwieg. Was hätte ich darauf auch erwidern können? Wenn die Magier den Dominae tatsächlich den Krieg erklärten, würde das meinen Rachegelüsten natürlich entgegenkommen. Aber es gab auch andere Möglichkeiten, um es den Dominae heimzuzahlen. Möglichkeiten, die nicht gleich beide Geschlechter die Existenzgrundlage kosten könnten. Maisie schüttelte sich und winkte ab. »Wie auch immer … Ich bin eigentlich nicht hierhergekommen, um dich mit diesem ganzen Kram zu belasten. Wie läuft es denn bei dir? Rhea hat erzählt, dein Training geht wirklich gut voran.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, stimmt wahrscheinlich. Ich bin einfach ungeduldig.« Sie lächelte. »Das hat sie auch gesagt.« »Ich weiß ja, dass du sehr beschäftigt bist. Aber hat die Wache der Pythia schon etwas über den U-Bahn-Angriff herausgefunden?« »Noch nichts. Dummerweise liegt die Priorität des Rats momentan darauf, dass die Wache der Pythia unser Sicherheitsnetz aufstockt. Wir haben im ganzen Land Verstärkung angefordert, so dass wir bald mehr Leute zur Verfügung haben sollten. Mach dir also keine Sorgen. Wir sind genauso daran interessiert wie du, herauszufinden, wer den Dämon auf dich gehetzt hat.« 211
Ich versuchte, meine Enttäuschung nicht zu zeigen. Aber insgeheim ärgerte mich diese Nachricht. Gleichzeitig wusste ich, es war nicht Maisies Schuld, wenn der Rat der Hekate anderen Problemen den Vorrang gab. »Hast du etwas von Adam gehört?« Maisie lächelte. »Das ist einer der Gründe, warum ich dich gesucht habe. Orpheus hat ihn von seinem Auftrag zurückbeordert. Er wird rechtzeitig zum Fest des Blutmondes wieder hier sein.« Mein Herz tat einen kleinen Sprung. Rhea hatte mir bereits erzählt, dass die Magier stets ein großes Fest anlässlich des vollen Blutmondes feierten, das diesmal in vier Tagen stattfinden sollte. Noch vier Nächte und Adam wäre wieder da, um mich abzulenken. »Schön«, sagte ich und versuchte, höflich interessiert zu klingen. Natürlich durchschaute Maisie meine Taktik. »Das Fest wird der perfekte Rahmen für euer Wiedersehen sein«, sagte sie lächelnd. Meine Wangen wurden rot. »Das bezweifle ich. Er wird doch sicher mit der Wache der Pythia beschäftigt sein. Außerdem meinte Rhea, ich müsse an irgendwelchen Riten teilnehmen. Schließlich bin ich Hohepriesterin des Blutmondes.« Was auch immer das bedeuten mochte. Bisher hatte mir der neue Titel nur eine Halskette eingebracht, die man mir geschenkt hatte, als ich in New York eingetroffen war. Ich spielte auch jetzt mit ihr und betrachtete den Mondsteinanhänger, um Maisies scharfsinnigem Blick auszuweichen. »Du suchst doch nicht etwa nach Ausreden, weil du nervös bist – oder?« Immer noch mied ich ihren Blick. »Natürlich nicht. Wieso sollte ich nervös sein?« Maisie nahm meine Hand und zwang mich dazu, ihr in die Augen zu sehen. »Ich finde, du solltest auf jeden Fall die Möglichkeit nutzen, etwas Zeit mit Adam zu verbringen. Allein.« Die Ernsthaftigkeit ihrer Worte überraschte mich. »Warum? Sollte ich etwas wissen, was mir bisher verheimlicht worden ist?« 212
Jetzt war es an ihr, den Blick abzuwenden. »Natürlich nicht. Ich finde nur, das Leben ist zu kurz, um uns von unseren Ängsten bestimmen zu lassen – vor allem, wenn das, was wir wollen, so nahe ist.« »Maisie, wir sind unsterblich. Ein kurzes Leben gibt es für uns nicht.« »Ich sage es ja nur ungern, Schwester. Aber Unsterblichkeit ist das Letzte, was du bei deinem Lebenswandel als selbstverständlich betrachten solltest.« Ich runzelte die Stirn. »Was zum Teufel soll das jetzt heißen?« »Wie viele Versuche, dich umzubringen, hat es in den letzten zwei Wochen gegeben?« Ich schnitt eine Grimasse. »Okay, das mag sein, aber das ist eigentlich nichts Neues für mich. In meinem früheren Arbeitsumfeld hat mich fast täglich jemand ins Visier genommen.« »Ich will damit nur sagen, dass du dich von nichts abhalten lassen solltest, wenn du an Adam interessiert bist. Wenn man das augenblickliche Klima bedenkt, das zwischen den Schattengeschlechtern herrscht, kann man nie wissen, wann sich der Wind dreht und du deine Chance verpasst hast.« »Ich verstehe das jetzt mal als gut gemeinten Ratschlag.« Ich stand auf. Plötzlich fühlte ich mich ruhelos. Mein Blick blieb an einem Porträt über dem Kamin hängen. »Wer ist das eigentlich?«, wollte ich wissen. Maisies Augen weiteten sich überrascht. »Das ist unser Vater. Tristan Graecus.« Während ich verblüfft auf das Gemälde starrte, trat Maisie neben mich. Aufmerksam betrachtete ich das Gesicht des Mannes auf dem Bild und suchte nach Ähnlichkeiten mit meinem eigenen. Jetzt wusste ich endlich, von wem der schwarze Teil meiner Haare stammte. Vielleicht gab es auch eine gewisse Ähnlichkeit in der Augenpartie. Und ein vertraut sturer Zug um das Kinn. »Ich habe noch nie ein Bild von ihm gesehen«, erklärte ich.
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Maisie sah zu dem Porträt hoch und lächelte. »Nicht schwer, sich vorzustellen, warum sich unsere Mutter in ihn verliebt hat, was?« Sie hatte Recht. Unser Vater war ein attraktiver Mann gewesen – jedenfalls für einen Magier. »Erzähl mir doch von ihm.« Sie riss sich von seinem Anblick los und sah mich an. »Er gilt bei uns Magiern als Held. Als eine Art Märtyrer. Wusstest du, dass er als Nächster dazu vorgesehen war, die Wache der Pythia zu leiten?« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn man Orpheus Glauben schenken darf, ist er einer der begabtesten chthonischen Magier gewesen, denen Orpheus jemals begegnet ist.« Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. »Unser Vater war auch chthonisch?« Maisie nickte mit ernster Miene. »Ich war mehr als überrascht, als ich herausgefunden habe, dass er dir diese Eigenschaft vererbt hat. Chthonische Magier gibt es nämlich nur sehr wenige.« Ich war mir nicht sicher, was ich von dieser Nachricht halten sollte. Ich war meinem Vater nie begegnet. Bisher hatte ich auch nicht viele Gedanken an ihn verschwendet – außer hinsichtlich der Tatsache, dass mir seine damaligen Entscheidungen schon so manche Schwierigkeit bereitet hatten. Meine Großmutter hatte für Tristan Graecus nichts als Gift übriggehabt, wenn sie ihn überhaupt einmal erwähnte. Über meine Mutter wurde noch seltener gesprochen – ihr Name war aus meinem Wortschatz verbannt worden, solche Qualen bereitete er meiner Großmutter. Über die Jahre hinweg hörte ich immer wieder ältere Vamps flüstern, ich hätte die stolze Art meiner Mutter geerbt. Und jetzt erfuhr ich, dass mein Talent für die Todesmagie von meinem Vater stammen sollte. Vielleicht hätte mich dieses Wissen nostalgisch oder auch traurig stimmen sollen, aber ich fühlte mich vor allem wie betäubt. Ist es falsch, einem Toten Vorwürfe zu machen? Denn
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wenn ich überhaupt etwas für ihn empfand, dann war es das: Vorwürfe. »Wie viel weißt du eigentlich über unsere Mutter?«, erkundigte sich Maisie. Ich hielt inne, da mir auf einmal wieder bewusst wurde, dass Maisie dasselbe Schicksal teilte. Sekunden nachdem unsere Vampir-Mutter bei der Geburt verstorben war, hatte man uns für immer getrennt. Und auch die Magier waren wohl nicht allzu scharf darauf gewesen, Maisie von ihrer Mutter zu erzählen – vor allem, da es die Magier offenbar bevorzugten, unseren Vater als das Opfer dieser ganzen Geschichte zu betrachten. »Lavinia hat es sich verbeten, dass der Name unserer Mutter jemals in ihrer Gegenwart genannt wurde. Natürlich habe ich immer wieder zufällig etwas über sie gehört, aber ich kann mich nicht mehr so genau daran erinnern. Von den Vampiren habe ich also nicht viel erfahren. Aber als Adam und ich noch in Kalifornien waren, hat er mich zu Briallen Pimpernell gebracht. Sie war die Feen-Hebamme, die bei unserer Geburt dabei war.« »Stimmt!«, rief Maisie freudig erregt. »Von ihr habe ich auch schon gehört. Was hat sie dir erzählt?« Ich erzählte meiner Schwester rasch, wie sich die Fee während ihrer jahrelangen Schwangerschaft um unsere Mutter Phoebe gekümmert hatte. Lavinia und Ameritat – unsere Großmütter – hatten beschlossen, Phoebe im Wald zu verstecken, um so den Skandal zumindest eine Weile zu vertuschen. »Angeblich war sie am Boden zerstört, als sie bei Briallen eintraf. Zuerst hat sie kein Wort mir ihr gesprochen. Doch nach einer Weile wurde sie zugänglicher und hat ihr von Tristan erzählt. Zu diesem Zeitpunkt war er, glaube ich, bereits tot – oder zumindest nahm man das an«, verbesserte ich mich, als ich mich an Briallens Hinweis erinnerte, dass man seine Leiche niemals gefunden hatte. »Phoebe hat schrecklich gelitten und sich sehr in sich zurückgezogen.«
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Maisie schwieg einen Moment lang. Sie musste die Neuigkeiten wohl erst einmal verdauen. »Hat Briallen sie auch beschrieben?« »Briallen sagt, sie hätte lockiges rotes Haar und braune Augen gehabt. Sei klug und ernsthaft gewesen. Wie gesagt, als sie zu ihr kam, hat sie kaum ein Wort gesprochen. Aber ich vermute, sie hat etwas Lebensmut gewonnen, als sie uns in ihrem Bauch spüren konnte, und dann hat sie sich Briallen gegenüber geöffnet.« Maisie seufzte. »Es ist alles so tragisch, findest du nicht? Dass sie sich so auf unsere Geburt gefreut hat und dann nie die Chance bekam, uns kennenzulernen? Und dass auch wir sie nie kennenlernen konnten?« Ich zuckte mit den Achseln. »Ja. Kann schon sein.« Ich zeigte mich ungerührt. Meine Schwester warf mir einen Blick zu. »Zumindest haben wir uns wiedergefunden. Immerhin etwas.« Ich lächelte. »Stimmt.« Maisie atmete tief durch, als wolle sie die Gefühle loswerden, die während des Gespräches über das traurige Schicksal unserer Eltern in ihr aufgestiegen waren. »Lass uns lieber von etwas anderem reden. Wie ist es Giguhl im Fight Club ergangen?« »Ziemlich gut. Er hat schon zwei Kämpfe gewonnen.« »Das ist ja großartig! Ich wünschte, ich könnte ihn mal in Aktion erleben.« »Slade hat da ganz schön was am Laufen. Bist du eigentlich jemals im Aderlass gewesen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nie im Schwarzlichtbezirk gewesen.« »Echt nicht?« Vermutlich hätte mich das nicht überraschen sollen. Schließlich war der Schwarzlichtbezirk voll zwielichtiger Gestalten und nicht gerade der richtige Ort für die geistige Anführerin der Magier.
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In Maisies Miene veränderte sich etwas – als hätte jemand eine Lampe eingeschaltet. »Wann ist sein nächster Kampf?« »Morgen Abend. Warum?« »Na ja«, meinte sie langsam. »Ich habe gerade gedacht, dass ich vielleicht mitkommen könnte. Hättest du etwas dagegen?« »Ich weiß nicht, Maisie. Ich meine, da geht es ziemlich rau zu. Außerdem wissen wir noch immer nicht, wer hinter mir her ist. Falls dieser Magier einen weiteren Anschlag plant, will ich nicht, dass du ins Kreuzfeuer gerätst.« Ich hatte bisher keinem der Magier etwas von Michaels Theorie erzählt und wollte das auch nicht, ehe ich nicht handfeste Beweise hatte. Ob er nun Recht hatte oder nicht – ich war mir jedenfalls ziemlich sicher, dass ein weiterer Angriff nur dann erfolgen würde, wenn ich mich außerhalb des magischen Schutzkreises befand. Maisie winkte ab. Sie schien meine Sorgen nicht ernst zu nehmen. »Wir werden uns doch in einem öffentlichen Raum aufhalten, nicht wahr? Ich kann mir kaum vorstellen, dass man dich vor Zeugen angreifen würde. Außerdem weiß auch ich, wie ich mich verteidigen muss. Falls der Magier, der dich angegriffen hat, es also noch einmal versuchen sollte, kann ich dir vielleicht sogar helfen.« »Und wenn dich jemand erkennt? Ich kann mir kaum vorstellen, dass es für jemanden in deiner Position ratsam ist, sich öffentlich in einem solchem Club zu zeigen.« Sie hob das sture Kinn, das wir beide von unserem Vater geerbt hatten. »Ich könnte mich doch verzaubern, so dass man mich nicht mehr erkennt.« Mit jedem Argument, das ich vorbrachte, wurde Maisie entschlossener. »Ach, ich weiß nicht, Maze.« »Komm schon. Das macht bestimmt Spaß. Wir Mädels zusammen auf der Piste. Eine solche Nacht hatte ich schon … Na ja – ehrlich gesagt, noch nie. Bitte, Sabina!«
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Ich seufzte. Obwohl ich mir Sorgen machte, wusste ich gleichzeitig, dass Maisie alt genug war, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Außerdem gefiel mir die Vorstellung, zur Abwechslung einmal Zeit mit meiner Schwester zu verbringen – fernab von magischer Kontrolle. »Ich sollte vermutlich vernünftig sein und ablehnen.« Ich seufzte. »Aber was soll’s?« Sie lächelte zufrieden, und ihre Miene zeigte auf einmal eine Lebhaftigkeit, wie ich sie seit Tagen nicht mehr an ihr bemerkt hatte. »Toll! Ich freue mich.« Trotz meiner Vorbehalte musste ich lachen. »Dann machen wir uns morgen Abend nach meinem Unterricht bei Rhea auf den Weg. Einverstanden?« »Danke, Sabina.« Sie nahm mich in die Arme, und zum ersten Mal, seit wir uns kannten, zuckte ich nicht zurück. »Okay. Dann gehe ich jetzt wohl besser schlafen. Sieht ja ganz so aus, als könnte es morgen recht spät werden. Träum süß, Schwesterherz.« Nachdem sie gegangen war, nahm ich wieder das Buch zur Hand, in dem ich gelesen hatte, ehe sie mich unterbrochen hatte. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Die Unterhaltung mit Maisie hatte mir eine Menge zu denken gegeben. Und immer wieder redete ich mir ein, nicht hungrig genug zu sein, um auf Jagd gehen zu wollen, aber leider schien mein Körper da anderer Meinung zu sein. Nachdem ich dieselbe Seite zehn Mal gelesen hatte, ohne auch nur ein Wort wahrzunehmen, klappte ich das Buch zu und stand auf. Während ich in der Bibliothek auf und ab ging, fiel mir wieder Tristans Porträt ins Auge. Man musste kein Psychologe sein, um Parallelen zwischen der Beziehung meiner Eltern und der Situation zwischen Adam und mir zu sehen. Ich war mir sicher, es gab sogar eine Bezeichnung für Töchter, die auf Männer stehen, die ihrem Vater ähnlich sind. Wahrscheinlich hatte Freud zu diesem Thema viel zu sagen. Aber das Warum interessierte mich eigentlich gar nicht. Mir ging es vielmehr um das Was. Was wollte ich? 218
Was wollte Adam und was zum Teufel würde ich tun, wenn er wieder da war? Ich holte tief Luft und sah mich um, weil ich sicherstellen wollte, dass ich tatsächlich allein war. Ich wollte keine Zuschauer, wenn ich mir selbst eingestand, dass ich Adam mochte. Sehr sogar. Mehr als mochte. Ihn begehrte? Mich nach ihm sehnte? Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf. Nur die eine nicht. Liebe? Ich bezweifelte, dass ich zu so etwas überhaupt fähig war. Trotzdem – wenn es um diesen Magier ging, waren meine Gefühle stärker als ich zugeben wollte. Und da ich gerade allein war, gestand ich mir auch gleich noch ein, dass mich die Vorstellung seiner Rückkehr ziemlich nervös machte. Natürlich hatte er so einiges versprochen, als er abgereist war. Aber meiner Erfahrung nach versprachen Kerle in der Hitze des Gefechts immer ziemlich viel. Vielleicht glaubten sie in diesem Moment sogar an das, was sie sagten. Aber die zeitliche und körperliche Entfernung löste solche Versprechungen oft in nichts auf. Wieder betrachtete ich das Gesicht meines Vaters. Selbst wenn Adam mich wirklich wollte, gab es doch keine Garantie dafür, dass sich die Dinge auch so entwickelten, wie wir uns das vorstellten. Für meine Eltern hatten sie das bestimmt nicht getan. Briallen zufolge waren die beiden sehr verliebt gewesen. Wahre Liebe. Sie hatten sich sogar so sehr geliebt, dass sie ein jahrhundertealtes Gesetz missachteten, das die Fortpflanzung zwischen den verschiedenen Schattengeschlechtern verbot. Trotz der Risiken hatten sie sich so sehr geliebt, dass sie zwei neue Leben erschufen. Ein hoffnungsvoller, optimistischer Akt, den sie beide mit dem Leben bezahlt hatten. Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und atmete langsam aus. Unnötig lange über Adam und mich nachzudenken, würde nichts bringen. Ich war kein kleines Mädchen mehr, das einen Mann brauchte, der die Führung übernahm. Also kam auch nicht infrage, erst einmal abzuwarten, wie Adam reagieren würde, 219
wenn er wieder da war. Soweit ich das beurteilen konnte, bestand mein Problem darin, dass mein Verstand nicht mit meinen Gefühlen übereinstimmte. Ich machte es Rhea zum Vorwurf, dass ich überhaupt Rücksicht auf meine Gefühle nahm. Weil sie darauf bestanden hatte, dass ich mich meinen Emotionen und meinem Instinkt öffnete, hatte sie es geschafft, mich in ein unentschlossenes Wrack zu verwandeln. Ich konnte natürlich genauso gut abwarten und mir anhören, was Adam sagen würde, wenn wir uns gegenüberstanden. Aber das war nicht meine Sache. Anstatt es ihm zu überlassen, wie es weiterging, beschloss ich, erst einmal selbst zu sehen, wie ich mich fühlte, wenn ich ihn sah. Schließlich wächst die Liebe ja angeblich mit der Entfernung. Vielleicht würde sich das Problem ja in Luft auflösen, sobald ich wieder in seiner Nähe war. Vielleicht wäre ich dann weniger verwirrt und unentschlossen. Ich konnte es nur hoffen.
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Der Schuss traf die Puppe in den Bauch. Eine große Flamme züngelte in die Luft, ehe der Strohmann hell zu lodern begann. »Ausgezeichnet!«, rief Rhea. »Und? Was hast du diesmal anders gemacht? Du hast das Ziel fast genau getroffen!« Ich hatte mir vorgestellt, ich selbst sei die Waffe. Ein wärmegeleitetes Geschoss. Ein lebendiges, atmendes Instrument der Zerstörung. Das konnte ich Rhea natürlich nicht sagen. Ich zuckte also mit den Achseln und erwiderte stattdessen: »Ich habe die Kraft des Universums angezapft.« Rhea lächelte. »So ein Quatsch.« 220
Ich lachte laut auf. Die Freude darüber, erfolgreich gewesen zu sein, wärmte mich von innen her. Ich arbeitete schon seit ein paar Tagen an diesem Manöver. Und die zwei Stunden, die ich heute schon dabei war, hatten den Schweiß in Strömen fließen lassen. Doch der Strohpuppe dabei zuzusehen, wie sie verglühte, erfüllte mich mit neuer Energie. »Ist es wirklich so wichtig, wie es mir gelungen ist?« Rhea legte den Kopf schief. »Vermutlich nicht – solange du es wiederholen kannst.« Ich schüttelte die Arme aus und bewegte die Finger, um sie ein wenig zu lockern. »Ich bin bereit, sobald Sie bereit sind.« »Damara?«, rief Rhea und blickte sich in der Turnhalle nach ihrer Assistentin um. Diese saß mit verschränkten Beinen in einer Ecke und hatte einen Kopfhörer auf den Ohren. Eine Zeitschrift lag aufgeschlagen in ihrem Schoß, und sie blickte nicht auf, als Rhea sie rief. »Damara!«, wiederholte die Magierin und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, um die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich zu lenken. Damara sah gelangweilt auf. Sie zog die Augenbrauen nach oben und runzelte fragend die Stirn. Als sie die Kopfhörer absetzte, konnte ich leisen Gitarrensound vernehmen. »Was ist?« »Bitte hol uns noch eine Puppe aus dem Lager.« Das Mädchen seufzte und setzte die Kopfhörer wieder auf. Ich überlegte, was Rhea wohl als Nächstes tun würde. Ganz offensichtlich hatte Damara nicht vor, ihrem Befehl zu folgen. Ich blickte zu Rhea, die jedoch völlig unbeeindruckt schien. Plötzlich strich ein Energiestrahl über meinen Rücken. Eine Sekunde später flog eine Strohpuppe aus dem Lager und schwebte wie ein Geist über dem Boden. Damara hielt die Puppe in der Luft, ohne den Blick von der Zeitschrift zu nehmen. Ich blinzelte. Es überraschte mich, wie selbstverständlich sie ihre Magie einzusetzen wusste. In diesem Moment sah sie mich an und grinste selbstzu-
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frieden. Ihre Miene spiegelte deutlich wider, was sie dachte: »Siehst du, wie leicht das alles für mich ist?« Ich zog die Augenbrauen hoch und schürzte die Lippen, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich nicht im Geringsten beeindruckt war – was natürlich nicht stimmte. Die Strohpuppe erreichte die gegenüberliegende Wand und die Seile, die dort von der Decke hingen, legten sich wie von selbst um ihren Hals. Jetzt stand Damara auf und rieb sich die Hände. Ich rollte mit den Augen. Was für eine Angeberei. Sie mochte vielleicht in der Lage sein, problemlos Dinge durch die Gegend zu bewegen, aber ich war dafür auf dem besten Weg, sie zu zerstören, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Rhea wandte sich wieder zu mir und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Kann ich jetzt gehen?«, fragte Damara, noch ehe Rhea etwas herausbekam. Die ältere Magierin seufzte. Mittlerweile wirkte sie doch ein wenig gereizt. »In Ordnung.« Demonstrativ laut verließ Damara die Turnhalle. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, schüttelte Rhea den Kopf. »Warum tue ich mir das eigentlich an?« Ich verschränkte die Arme. »Das wollte ich Sie auch gerade fragen.« Rhea seufzte. »Damara tut mir leid. Daran liegt es wohl. Sie hat sonst niemanden mehr. Ihre Mutter gehörte zu Magiern, die auf dem Weingut umgekommen sind.« Mir zog sich der Magen zusammen. Auf einmal verstand ich Damaras trotzige Haltung. »Das ist ja schrecklich.« Rhea nickte. »Außerdem ist sie unglaublich begabt. Obwohl sie noch jung ist, hat sie bereits mehrere fortgeschrittene Stadien der Magie gemeistert. Aber sie ist so ungeduldig.« Sie bedachte mich mit einem verschmitzten Lächeln. »Meiner anderen Schülerin gar nicht so unähnlich.« 222
»Was Sie Ungeduld nennen, nenne ich Eifer«, entgegnete ich mit einem Grinsen. »Besserwisserin. Bist du bereit, es noch einmal zu versuchen?« Ich nickte entschlossen. »Geben Sir mir noch eine Sekunde.« Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung. So wie Rhea es mir beigebracht hatte, stellte ich mir vor, mitten in einem Energiefeld zu stehen. Nicht besonders schwer, wenn man bedachte, dass ich mich in einer der größten Städte der Welt aufhielt. Die Luft pulsierte. Ich sog die Energie in mich auf, ließ sie durch meine Füße fließen, durch meine Finger, durch meinen Kopf. Ich sammelte sie und schob sie als glühenden Ball in mein Zwerchfell. Dort schlug sie wie ein zweites Herz, pochte voller Kraft. Als ich ein zweites Mal ausatmete, stellte ich mir einen dünnen Faden aus roter Energie vor, der gemeinsam mit meinem Atem durch die Luftröhre nach oben stieg. Er kletterte immer höher, bis ich den Sauerstoff in meinem Rachen schmeckte. Jetzt riss ich die Augen auf. Die Energie drang durch meine Pupillen und schoss wie ein Laserstrahl durch den Raum. »Volltreffer!«, rief Rhea. Ich schloss erneut die Augen. Die übrige Energie löste sich in meinen Venen auf und brachte meine Arme und Beine zum Kribbeln. Das Rauschen der Energie in meinem Körper ließ mich fast schwindelig werden. Rhea hatte mir erklärt, dass ich mich mit der Zeit an die Nachwirkungen solcher Energiekonzentrationen gewöhnen würde, aber im Moment fühlte ich mich völlig ausgelaugt. Meine Schultern sackten nach vorn, kalter Schweiß rann mir über die Schläfe. Sobald ich wieder etwas bei Kräften war, öffnete ich vorsichtig die Augen. Als Erstes richtete sich mein Blick auf die Strohpuppe. Einen Moment lang brannte sie noch lichterloh, ehe Rhea die Flammen mit Hilfe eines Zaubers löschte. Ich humpelte mühsam zu einem Tisch in der Nähe und lehnte mich dagegen – erschöpft, aber zufrieden.
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Rhea kam zu mir und klopfte mir auf die Schulter. »Ausgezeichnet, Sabina. Mit etwas mehr Übung wirst du in der Lage sein, die Energie abzurufen, ohne dich so stark konzentrieren zu müssen. Sobald dir das gelungen ist, werden wir uns daranmachen, den Zauber umzudrehen.« Ich runzelte die Stirn. »Den Zauber umdrehen?« »Genau. Das hier ist nur der erste Schritt auf dem Weg zum wahren Verständnis deiner Macht. Die meisten Magier können Energieblitze abfeuern, aber nur die chthonischen können einem lebendigen Wesen auch die Lebenskraft entziehen. Es ist ziemlich knifflig und kann ein paar hässliche Nebenwirkungen haben, aber es ist verdammt effektiv.« Ich sah sie misstrauisch an. »Welche Art von Nebenwirkungen?« »Nichts, womit du nicht fertigwerden könntest. Aber lass uns jetzt nicht daran denken.« Wieder klopfte sie mir auf die Schulter. »Heute Nacht hast du dich wirklich gut geschlagen. Ich bin sehr zufrieden mit deinen Fortschritten.« »Danke«, sagte ich. »Dieser Trick ist bestimmt ziemlich hilfreich, wenn mich mal wieder jemand umbringen will.« Rhea runzelte die Stirn. »Warum werde ich nur den Eindruck nicht los, du hoffst fasst, dass dich jemand angreift?« Ich überlegte mir einen Moment lang, ob ich sie anschwindeln sollte. Doch eine solche Lüge hätte sie bestimmt sofort durchschaut. »Wenigstens würde ich dann nicht bloß herumsitzen und mich fragen, wann der nächste Angriff kommt und wer dahintersteckt.« »Ich kann dich verstehen, Sabina. Aber ich möchte dich bitten, nicht zu übermütig zu werden. Jeder Magier, der in der Lage ist, einem Rächer-Dämon Befehle zu erteilen, wird auch problemlos in der Lage sein, einen einfachen Energieblitz abzuwehren. An deiner Stelle würde ich lieber darauf achten, nicht ohne Giguhl oder einen weiteren Magier unterwegs zu sein.«
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So weise ihr Rat auch sein mochte, er ärgerte mich doch. Allein die Vorstellung, einen Bodyguard zu brauchen, missfiel mir. »Ich kann schon auf mich selbst aufpassen, vielen Dank.« Sie kniff ihre klugen Augen zusammen. »Wir brauchen alle manchmal Hilfe, Sabina. Lass dich von deinem Stolz nicht zu etwas verleiten, das dich vielleicht das Leben kosten könnte.« »Ich bin kein Kind mehr«, sagte ich gereizt. »Das weiß ich. Aber ich weiß auch, dass du dich danach sehnst, jemanden auszuschalten. Ich meine nur, dass du kühlen Kopf bewahren und Situationen meiden solltest, mit denen du nicht zurechtkommst.« »Verstanden.« Ich richtete mich auf und ließ meine plötzlich wieder verspannten Schultern kreisen. »Vor dem Aderlass brauche ich jedenfalls erst mal eine Dusche.« »Ich habe gehört, dass Maisie auch mitkommt«, meinte Rhea. Ich sah sie finster an. Gab es irgendetwas, das diese Lady nicht wusste? »Ja, es war ihre Idee.« Sie nickte. »Das hat sie mir gesagt. Ich glaube, es wird ihr ganz guttun. Sie ist in letzter Zeit so wahnsinnig angespannt. Vielleicht hilft es ihr, ein paar Stunden von hier wegzukommen, um wieder Visionen zu haben.« Ich hielt inne. Meine Verärgerung löste sich schlagartig in Luft auf. »Ich wusste gar nicht, dass sie damit Probleme hat.« Rhea seufzte und verschränkte die Arme, dann nickte sie bestätigend. »Sie hat keine Visionen mehr, seit du bei uns bist. Es liegt am Stress. Sie sitzt zwischen allen Stühlen – auf der einen Seite die Verhandlungen mit dem Abgesandten von Königin Maeve und auf der anderen Seite der Rat, der ihr im Nacken sitzt. Kein Wunder, dass sie unter einer Blockade leidet.« »Wieso sitzt ihr denn der Rat im Nacken?« Ich wusste, dass es schwierig war, solange noch keine Entscheidung hinsichtlich des Krieges gefällt war. Aber Maisie hatte nichts davon erwähnt, dass ihr der Hekate-Rat wegen irgendetwas Schwierigkeiten machte. 225
»Überleg doch mal, Sabina. Maisie ist unser Orakel. Der Rat verlässt sich ganz und gar darauf, dass sie voraussieht, welche Folgen seine Entscheidungen haben könnten. Vor allem jetzt ist das wichtig, wo so viel von dieser Frage abhängt, ob wir in den Krieg ziehen oder nicht. Aber sie war bisher einfach nicht in der Lage, auch nur die Andeutung einer Vorhersage zu machen.« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Das wusste ich nicht. Kein Wunder, dass sie jedes Mal so besorgt scheint, wenn wir uns begegnen.« Rhea nickte. »Wie gesagt: Vielleicht wird ihr die Abwechslung helfen, sich zu entspannen und mal an etwas anderes zu denken. Aber bitte versprich mir, dass du sie im Auge behältst. Falls irgendetwas passiert, macht Orpheus uns die Hölle heiß.« »Weiß er denn nichts davon?« Rhea schüttelte den Kopf. »Maisie hat mir nur davon erzählt, weil sie Hilfe bei ihrem Verwandlungszauber brauchte. Der einzige Grund, aus dem ich nichts dagegen habe, ist der, dass sie niemand erkennen wird und du und Giguhl da seid, um auf sie aufzupassen. Aber Orpheus wird toben, wenn er davon erfährt.« Ich biss die Zähne zusammen. Wenn ich gewusst hätte, dass die ganze Sache so kompliziert war, hätte ich Maisies Wunsch am Abend zuvor abgelehnt. »Gut zu wissen.« Im Aderlass eingetroffen, eilte Giguhl schnurstracks auf eine Schar von Nymphen zu. Die Mädchen begannen zu kreischen, als er zu ihnen trat. Ich sah Maisie schulterzuckend an und wies mit dem Kopf in Richtung Bar. Sie folgte mir auf dem Fuß und hielt dabei so wenig Abstand, dass sie mir beinahe auf die Fersen stieg. Keine Überraschung nach dem Vortrag darüber, wie wichtig es war, zusammenzubleiben, den ich unterwegs gehalten hatte. Ich hatte nur nicht erwartet, dass sie es so wörtlich nehmen würde. Sie und Rhea hatten einen perfekten Verwandlungszauber hinbekommen, kein Mensch würde sie erkennen. Ich hatte befürch226
tet, das Verwandeln würde ihr allzu großen Spaß machen. Aber sie hatten sich nur für ein paar vernünftige, aber umso wirkungsvollere Veränderungen entschieden. In ihrem Haar war nun kein Rotton mehr zu sehen, sondern es war pechschwarz, zurückgekämmt und zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihren Rücken hinunterfiel. Ihre Augen waren nicht mehr blau, sondern grün, und ihre Nase wirkte etwas länger. Sie trug schwarze Jeans, Stiefel, ein schwarzes Top und eine Lederjacke. Eigentlich sah sie aus wie Johnny Cashs jüngere Schwester, aber ich wollte mich nicht beschweren. So würde sie viel besser zu den Zuschauern passen, als mit ihrem üblichen HippieRock und der Bauernbluse. Slade trat zu uns, als ich bei Earl gerade zwei Bloody Magdalenes bestellte. Maisie stand neben mir und blickte sich nervös um. Für jemanden wie mich war ein Ort wie dieser sozusagen ein zweites Wohnzimmer. Aber auf Maisie wirkte das Ganze wahrscheinlich ausgesprochen beunruhigend – genau das gefiel mir ja so an solchen Orten. »Sabina«, begrüßte mich Slade mit seiner samtig tiefen Stimme. Wenn er lächelte, blitzte einer seiner Reißzähne auf – die Vampirversion eines Augenzwinkerns. Ich nickte. »Was geht ab, Slade?« Er grinste. »Frag lieber nicht. Es sei denn, du willst die Antwort wirklich hören.« Ich spürte, wie Maisie hinter mir unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, und nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln. Ohne zu zögern fasste ich hinter mich und zog sie nach vorn. »Slade, darf ich dir meine Freundin Fiona vorstellen?« Wir hatten beschlossen, Maisies zweiten Vornamen zu benutzen, da es so vielleicht einfacher für sie sein würde, zu reagieren, wenn man sie mit diesem Namen ansprach. »Freut mich«, sagte sie leise.
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Slade achtete kaum auf Maisie/Fiona. Er nickte ihr nur kurz zu, ehe seine Augen wieder zu mir zurückkehrten. »Bleibst du nach dem Kampf noch da?« Ich wurde ein wenig unruhig. »Mal sehen.« Wahrscheinlich würde Giguhl nach dem Fight wieder mit seinen Nymphen feiern wollen, aber ich hatte keine Lust, länger hier herumzuhängen als nötig. Ich wollte nur sehen, wie er sich schlug. Slade streckte die Hand aus und strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Überleg’s dir, okay?« Er wollte mir die Hand auf die Schulter legen, aber ich schüttelte sie ab. Offenbar war es schon wieder an der Zeit, das Thema zu wechseln. »Gegen wen tritt Giguhl eigentlich heute Nacht an?« Er ließ sich nicht anmerken, dass ich nicht auf seine offensichtlichen Flirtversuche eingehen wollte. Aber das Glitzern in seinen Augen zeigte mir, dass er wusste, wie er mich aus der Fassung bringen konnte. »Heute Nacht haben wir was ganz Besonderes für deinen Dämon.« Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ach, wirklich?« Slade nickte und blickte zu Giguhl hinüber. Auf dessen Schoß saßen zwei Feen, während eine dritte ihm etwas ins Ohr flüsterte, das seine Gesichtsfarbe deutlich veränderte. »Er wird als neue Sensation gehandelt. Die Dämonen stehen Schlange, um ihn herauszufordern.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist gleich so weit. Ich brauche Giguhl noch für ein paar Minuten, um etwas vorzubereiten, wenn das in Ordnung ist.« Ich nickte. »Von mir aus schon. Aber versuch mal, ihn von seinen Groupies loszureißen.« Slade lachte. »Schau dir ruhig an, wie man so etwas macht.« Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Bar und sah ihm nach, wie er durch den Raum ging. Wie von Zauberhand teilte sich die Menge und machte ihm Platz.
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»Das war ja interessant«, sagte Maisie neben mir. Sie war die ganze Zeit über so still gewesen, dass ich ihre Anwesenheit beinahe vergessen hätte. »Was war interessant?«, fragte ich, ohne die Augen von Slade zu wenden. Er hatte Giguhl inzwischen erreicht und wandte sich an die Nymphen. Daraufhin sprangen diese so hastig auf und stoben in alle Richtungen davon, dass man hätte annehmen können, ein Feuer sei ausgebrochen. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass Adam einen Rivalen hat.« Ich riss den Kopf herum und sah sie verblüfft an. »Wen? Slade?« Ich zwang mich zu einem Lachen. »Das ist schon lange abgehakt. Ich habe nicht vor, denselben Fehler zweimal zu begehen.« »Ach, bitte, mach mir doch nichts vor«, erwiderte Maisie. »Du hast total mit ihm geflirtet.« Mir klappte der Mund auf. »Was? Sei nicht lächerlich. Ich flirte mit überhaupt niemandem.« Sie zog eine ihrer schwarzen Augenbrauen hoch und sagte nichts. Ich rollte mit den Augen. »Hör zu, ich bin nicht total bescheuert. Natürlich ist mir klar, was Slade im Schilde führt. Aber ich bin problemlos in der Lage, seiner Charme-Offensive jederzeit zu widerstehen. Okay?« Maisie schürzte die Lippen und sah Slade hinterher, wie dieser Giguhl durch einen Vorhang in Richtung Kampfarena führte. »Bist du dir sicher, dass du das auch willst? Er hat einen ziemlich knackigen Hintern.« Ich verschluckte mich fast an der Mischung aus Wodka und Blut, die ich gerade hinunterschlucken wollte. Als ich wieder zu Atem kam, starrte ich meine Schwester an. »Solltest du mich nicht eher davon abhalten? Ich dachte, du gehörst zu Adams Team.«
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Sie hielt einen Moment lang inne, und ihre schelmische Miene verschwand. Jetzt wirkte sie wieder ernst. »Ich gehöre zum Werimmer-Sabina-glücklich-macht-Team.« Ich schüttelte den Kopf. »Deine Loyalität freut mich, aber Slade steht nicht auf der Speisekarte.« »Wenn du das sagst …« Earl rettete mich davor, noch weiter über das Thema reden zu müssen, als er hinter der Bar eine Glocke läutete. »Der Kampf beginnt in zehn Minuten!« Sogleich entbrannte freudige Erregung. Die Leute schoben sich wie ein Mann in den hinteren Teil des Raums zur Treppe, die zum Kampfring hinunterführte. Ich zahlte Earl die Drinks und reichte Maisie dann ihr Glas. »Vielleicht solltest du das lieber schnell austrinken, ehe wir da runtergehen«, riet ich ihr über den Lärm hinweg. »Warum?« »Glaub mir. Trink es einfach.« Ich kippte meinen eigenen Cocktail hinunter und knallte das Glas auf die Bar. Maisie zögerte noch einen Moment. Sie trank langsamer, schaffte es aber ebenfalls, ihr Glas in einem Zug zu leeren. Dann stellte auch sie es mit einem lauten Knall auf der Theke ab und straffte entschlossen die Schultern. »Also gut. Gehen wir und schauen uns deinen Dämon in Aktion an.«
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Wir mussten uns mühsam einen Weg durch die Menge bahnen, die noch größer war als bei den letzten Kämpfen.
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Ich blieb abrupt stehen, als ich schließlich Giguhl erreichte und sah, wie er diesmal hergerichtet war. Seine schwarzen Boxershorts zierten orangefarbene Flammen und quer über den ganzen Hintern hatte jemand das Wort »Killer« gestickt. »Bezaubernde Shorts«, sagte ich. »Cool, was? Slade hat sie extra für mich anfertigen lassen.« »Ja, dieser Slade ist ein echter Schatz … Und wer ist dein Gegner?« Ich sah in die andere Ecke des Rings. Der Kerl hatte den Kopf eines Schakals, und trug einen dicken schwarzen Pelz um die Schultern. Giguhl schnaubte. »Ein Chaos-Dämon. Ziemlich fiese Kämpfer.« Als ich den Chaos so musterte, war ich froh, dass Slade auf die Messinghalsringe bestand. Giguhl würde bereits mehr als genug mit ihm beschäftigt sein, da musste er sich nicht auch noch mit Magie herumschlagen. »Hast du schon einen Plan?« Er zuckte lässig mit den Schultern und streckte sich ausgiebig, während er mir antwortete. »Die Sache mit Chaos-Dämonen ist die: Sie kämpfen wie die Berserker. Schau ihn dir an.« Giguhl zeigte mit seiner Klaue auf seinen Gegner am anderen Ende des Rings. Der Chaos-Dämon tänzelte bereits wie ein Verrückter im Kreis, während er in die Luft boxte. Bei jedem Schlag sah man seine Muskeln. Ein dunkles Knurren entrang sich seiner Brust und wurde immer lauter, bis es sich in ein ausgewachsenes Fauchen verwandelte. Nach einer Weile hörte er mit dem Tänzeln auf und spannte seine Muskeln an, breitete die Arme aus und warf den Kopf zurück. Ein markerschütternder Schrei drang aus seinem Hals, und in seinem Mund blitzten messerscharfe Zähne auf. »Da ist aber jemand ziemlich schlecht gelaunt«, meinte Giguhl in bester Stimmung. »Noch einmal, Giguhl: Wie lautet dein Plan?«
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Ich sah Maisie an. Ihr Gesicht war so bleich wie der Hintern eines Albinos. Ich wollte mich gleich um sie kümmern, aber jetzt musste ich erst einmal Giguhl dazu bringen, sich zu konzentrieren. »Er wird den harten Kerl raushängen lassen, um mich einzuschüchtern. Ich muss nur so lange durchhalten, bis er erschöpft ist und nicht mehr kann.« Auf der anderen Seite der Kampfarena knurrte der ChaosDämon und fletschte die Zähne. Seine glühend gelben Augen hatte er auf Giguhl gerichtet. »Dann viel Glück«, meinte ich und gab Giguhl einen letzten aufmunternden Schlag auf den Rücken, um mich dann zurückzuziehen. Slade sprang in die Mitte des Kampfrings und hob die Hände. Sofort kehrte völlige Ruhe ein. »Guten Abend, verehrte Freunde. Heute Abend haben wir etwas ganz Besonderes für euch. Unser neuer Champion, Giguhl der Killer aus Gizal, wird gleich von zwei Gegnern herausgefordert.« Die Menge tobte. Ich jedoch packte Giguhl entsetzt am Arm. »Hast du das gewusst?« Er nickte, ohne den Blick von dem Chaos-Dämon zu wenden. »Ja, die letzte Herausforderung ist erst kurz vor Beginn hereingekommen.« »Das ist doch Mist«, schimpfte ich. »Wie kann er von dir erwarten, dass du in einer Nacht zweimal hintereinander kämpfst?« »Mir macht das nichts aus.« Giguhl zuckte mit den Achseln. »Außerdem habe ich ihm bereits erklärt, dass ich es nur mache, wenn er uns stärker am Gewinn beteiligt. Er war einverstanden.« Klar ist Slade einverstanden, dachte ich. So wie ich ihn kannte, hatte er vermutlich sowieso alle Buchmacher des Schwarzlichtbezirks in der Tasche. Giguhl einen etwas größeren Anteil zu geben, würde Slades Gesamtgewinn vermutlich nicht stark in Mitleidenschaft ziehen. Währenddessen setzte Slade seine Show im Ring fort. Ich wandte mich erneut an Giguhl und zwang ihn dazu, mich anzuse232
hen. »Wenn du diesen Fight verlierst, mach ich dir so was von die Hölle heiß. Hast du mich verstanden?« Mein Dämon runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt, bei diesem Motivationsscheiß bist du offenbar kein Profi. Das ist dir schon klar, oder?« In diesem Moment läutete die Glocke. Ich schlug ihm mit der Faust auf die Schulter und überlegte verzweifelt, was ich noch Aufbauendes sagen konnte. »Hol ihn dir, Killer!« Giguhl rollte mit den Augen und joggte dann wie ein Boxer in die Mitte des Rings. Chaos wollte sich nicht lumpen lassen und führte einen verrückten Pirouettentanz auf, indem er wie ein Derwisch um die eigene Achse wirbelte. Oder wie ein Tasmanischer Teufel. Giguhl sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, als der Chaos-Dämon ihn aus der Drehung heraus ansprang. Chaos drehte sich um und knurrte. Speichel tropfte ihm von den scharfen Zähnen. Er nahm Anlauf und warf sich mit gespreizten Klauen auf Giguhl. Wie im Wahn hieb er auf Giguhl ein und schnappte mit den Zähnen nach ihm. Als dieser sich schließlich von seinem Gegner befreien konnte, waren Brust und Gesicht mit bösen Kratzern und Wunden übersät. Er wich zurück, blutend und verletzt. Ich hielt den Atem an, als sich der Chaos-Dämon auf den nächsten Angriff vorbereitete. Diesmal jedoch war Giguhl gewappnet. Er schlug Schakalgesicht mitten auf die Schnauze und trat ihn zwischen die Beine. Chaos jaulte auf und stürzte zu Boden. Aber Giguhl war noch nicht fertig. Er packte den Dämon an den Ohren und riss ihn vom Boden hoch. Giguhls Oberarme zitterten vor Anstrengung, als er den Chaos-Dämon durch den Ring schleuderte. Dieser prallte in die Seile und warf eine Gruppe von Zuschauern um, die zu nahe an den Ring herangetreten waren. Giguhl wandte sich dem Publikum zu und genoss die jubelnde Begeisterung. Er badete geradezu in ihrer Aufmerksamkeit und schien mit jeder Sekunde zu wachsen. Ein lautes Brüllen ertönte. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Giguhl drehte 233
sich um – und empfing einen heftigen Tritt mitten ins Gesicht. Blut spritzte ihm aus dem Mund, als er zurücktaumelte und wie in Zeitlupe zu Boden ging. Chaos folgte ihm und warf sich auf seinen Gegner. Mit gefletschten Zähnen wollte er sich auf dessen Hals stürzen. »Giguhl!«, brüllte ich panisch und trat einen Schritt vor. Eine Hand hielt mich am Arm fest. Ich drehte mich um und stellte überrascht fest, dass es Maisie war, die mich tadelnd ansah. Ich hatte mich so sehr auf den Kampf konzentriert, dass ich sie völlig vergessen hatte. »Lass ihn das machen.« Ich öffnete den Mund, um ihr zu sagen, sie solle sich da raushalten. Aber in diesem Moment versetzte sie mir einen Stoß, und die Menge begann begeistert zu johlen. »Schau mal!« Sie nickte in Richtung des Rings. Ich drehte mich um und sah, wie der Chaos-Dämon durch die Luft flog. Diesmal sprangen diejenigen, die Gefahr liefen, mitgerissen zu werden, rechtzeitig zur Seite. Mit einem hässlichen Geräusch schlug sein Körper gegen einen Betonpfeiler. Giguhl stand auf, über und über voll Schmutz, Blut und Schweiß. Er wischte sich mit einer Klaue den Mund ab und ging dann steifen Schrittes zum Chaos-Dämon hinüber, Mordlust in den Augen. Diesmal wehrte sich Chaos nicht, als Giguhl ihn vom Boden hochhob. Mein Dämon drosch so lange auf den anderen ein, bis seine Klauen blutig und wund waren und die Zähne seines Gegners wie Hagelkörner auf den Boden prasselten. Daraufhin nahm sich Giguhl den Unterleib seines Gegners vor und ließ seiner Wut freien Lauf. Der Chaos-Dämon konnte seinen gebrochenen Kiefer kaum mehr bewegen, so eingedrückt war er. Blut und Speichel flossen seitlich heraus, als ein schwacher Ruf ertönte: »Gnade!« Eine Stunde später steckte Slade seinen Kopf in die Umkleidekabine. »He, Killer? Bereit, noch ein paar Knochen zu brechen?«
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Giguhl saß auf einer Bank, die Kapuze seiner rotschwarzen Robe tief in die Stirn gezogen. Wenn Slade fünf Minuten früher gekommen wäre, hätte er Maisie dabei erwischt, wie sie Giguhl mit einem schnellen Heilzauber wieder auf die Beine gebracht hatte. Ich hatte mir zwar Sorgen gemacht, meine Schwester zu diesem Kampf mitzubringen, aber inzwischen dankte ich der Göttin dafür, dass sie hier war, um uns zu helfen. Auch mit Giguhls Selbstheilungskräften wären zwei Dämonenkämpfe innerhalb einer Nacht ohne magische Hilfe nicht leicht durchzustehen gewesen. Sofort sprang ich zur Tür und schob Slade in den Gang hinaus. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er. Meine rüde Art schien ihn nicht im Geringsten aus der Fassung zu bringen. Ich verschränkte die Arme. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, zwei Herausforderungen in einer Nacht anzunehmen? Ich bin Giguhls Managerin. Du hättest zuerst mich fragen müssen.« »Beruhige dich, Sabina. Der zweite Fight ist ein abgekartetes Spiel.« Ich sah ihn überrascht an. »Was?« Er lächelte und wirkte ausgesprochen zufrieden mit sich selbst. »Der Magier, dem der Dämon gehört, schuldet mir noch Geld. Ich habe ihm gesagt, er kann seine Schuld als beglichen betrachten, wenn er sicherstellt, dass Giguhl auf jeden Fall gewinnt.« »Und warum tust du das?« Slade lachte. »So naiv kannst du doch gar nicht sein, Sabina.« »Du hast auf Giguhl gewettet.« Er grinste. »Ich wusste doch, dass du ein kluges Mädchen bist.« Er kam näher. »Du kannst dich entspannen. Giguhl wird den nächsten Fight mit links gewinnen. Und wenn er fertig ist, werden wir alle ein wenig reicher sein.« Ich seufzte. »Das nächste Mal, wenn du derartige Entscheidungen triffst, sprichst du das gefälligst mit mir ab. Als Giguhls Managerin habe ich das Recht, auch ein Wörtchen mitzureden.« 235
»Ja, Ma’am.« Ich wandte mich wieder der Tür der Umkleidekabine zu. »Ich schicke Giguhl gleich raus.« »Sabina?« Ich blieb vor der Tür stehen und drehte mich noch einmal zu Slade um. »Was?« »Besteht irgendeine Chance, dass du deine Magierfreundin nach dem Kampf loswirst?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Er warf mir einen heißen Blick zu, den ich bis in die unteren Regionen spürte. »Schade.«
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Ich hatte erwartet, dass Giguhl sofort wie üblich lässig daherreden würde, wenn wir den Ring erreichten und er seinen Gegner sah. Doch stattdessen blieb er auf einmal abrupt stehen und richtete den Blick auf die andere Seite der Kampfarena. »He!«, beschwerte ich mich, als ich gegen seinen Rücken prallte. Er antwortete nicht. Ich folgte seinem Blick und mir wurde klar, worum es ging. Eine hinreißend schöne Frau stand auf der anderen Seite des Raums. Sie war etwa ein Meter achtzig groß, und ihr langes pfauenblaues Haar schimmerte im Licht der Glühbirnen. Ich merkte, dass sich Maisie zu mir beugte und einen leisen Pfiff ausstieß. »Ist die echt?« Normalerweise hatte ich etwas gegen Catsuits. Nur wenige Frauen konnten so ein hautenges einteiliges Kleidungsstück tragen. Aber ich musste zugeben, die hier konnte es. Der goldene 236
Anzug umschmeichelte ihre üppigen Kurven von den Schlüsselbeinen bis zu den Fesseln. Sie zog etwas Blaues wie eine Schleppe hinter sich her, was mir dann doch etwas übertrieben vorkam. Aber diese Tussi war offensichtlich nicht daran interessiert, dezent zu wirken. »Mann, Slade legt sich echt ins Zeug«, sagte ich. »Bei deinem letzten Fight lief kein Nummerngirl herum, um die Runden anzuzeigen.« Giguhl schluckte und nickte, ohne so recht zuzuhören. Dann horchte er doch auf. »Hä?« Ich nickte in Richtung der Frau. »Dieses Nummerngirl, das du da gerade so anstarrst. Ich bin überrascht, dass Slade bereit ist, so viel Geld hinzulegen.« Giguhl riss sich von der Vision in Gold los. »Sabina. Das ist kein Nummerngirl.« Ich runzelte die Stirn. Mein Dämon sah mich ungeduldig an und wartete darauf, dass mir ein Licht aufging. »Einen Moment mal«, sagte ich schließlich. »Das ist deine Gegnerin?« Noch ehe Giguhl antworten konnte, ging ein Raunen durch die Menge. Die Frau hatte ihre Schleppe geöffnet und wie einen gewaltigen Pfauenschwanz aufgeschlagen. Das erklärte zumindest, warum sie dieses blaue Zeug hinter sich herzog. Als ich noch einmal genauer hinsah, bemerkte ich auch die zwei kleinen Hörner auf Höhe der Schläfen. »Das ist ja der reine Höllenwahn«, flüsterte ich beeindruckt. Giguhl stöhnte und rückte seinen Hodenschutz zurecht. Mir lag eine spöttische Bemerkung auf den Lippen, als seine Gegnerin begann, die goldene Kette um ihren Hals abzunehmen. Sie ließ sie mehrmals über ihren Kopf kreisen, ehe sie sie wie eine Peitsche in Giguhls Richtung schnalzen ließ. Sobald sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher war, warf sie ihm eine Kusshand zu. Der zwei Meter zehn große Dämon an meiner Seite wimmerte kläglich auf. »Ich glaube, ich bin verliebt«, seufzte er hingebungsvoll. 237
Ich packte ihn an den Schultern und zwang ihn dazu, mich anzusehen. »Giguhl, reiß dich zusammen!« Er schielte aus den Augenwinkeln in ihre Richtung, woraufhin ich ihn am Kinn fasste. »Hör mir zu. Du darfst dich nicht von ihr einlullen lassen.« »Sie lullt mich doch nicht ein, Sabina. Sie macht mich geil!« Ich schloss die Augen und unterdrückte einen Würgereflex. »Du musst dich konzentrieren, wenn du diesen Kampf gewinnen willst.« »Ich kann nichts dafür. Ich habe noch nie zuvor eine so fantastisch aussehende Dämonin getroffen.« Er wirkte wie ein liebeskranker Teenager. Ausgerechnet jetzt musste er seine romantische Seite offenbaren! »Du wirst gegen sie kämpfen. Du kennst die Regeln. Du musst gegen sie kämpfen. Sobald die Herausforderung ausgesprochen ist und angenommen wurde, musst du kämpfen. Das weißt du.« Giguhl sah so aus, als wolle er sich auf eine Diskussion einlassen. In diesem Moment betrat Slade den Ring. Wieder zog er seine übliche Show ab und erklärte dem Publikum die Regeln des Demon Fight Club. Doch diesmal gab es eine Änderung. »Heute Nacht wird der Kampf ein bisschen anders ablaufen, meine Freunde«, verkündete Slade. »Zum ersten Mal in der Geschichte des Demon Fight Club werden wir den Einsatz von Waffen erlauben!« Ein lautes Grölen ging durchs Publikum, und ich warf einen Blick auf die Peitsche der Dämonin. »Du musst auf die Peitsche aufpassen«, flüsterte ich Giguhl zu. »Hast du irgendwelche Waffen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung, dass er die Regeln ändert.« Ja, dachte ich, nett von Slade, mir diese kleine Information vorzuenthalten, obwohl wir noch vor wenigen Minuten miteinander gesprochen hatten. Ich zog ein Messer aus dem Stiefelschaft. 238
Die fünfzehn Zentimeter lange Klinge würde zwar gegen einen Dämon nicht viel ausrichten, aber vielleicht würde sie Giguhls Gegnerin zumindest kurz aufhalten. Etwas anderes hatten wir sowieso nicht zur Hand. »Wenn du nahe genug an sie herankommst, rammst du es ihr in die Brust.« Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber ich war noch nicht fertig. »Ich weiß, ich weiß. Sie ist atemberaubend schön. Slade meinte, sie wird den Kampf absichtlich verlieren. Aber wir müssen es trotzdem so aussehen lassen, als ob er echt wäre.« Er sah mich erstaunt an, nickte dann aber. Seine Klaue legte sich um den Messergriff. Slade hatte inzwischen seine Regelaufzählung beendet und stellte jetzt die beiden Kämpfer vor. »In der linken Ecke haben wir die atemberaubendste Killermaschine diesseits von Irkalla! Lasst euch nicht von ihrem Aussehen täuschen. Dieser Eitelkeitsdämon ist durch und durch böse. Ladys und Gentlemen – begrüßt mit mir die schöne Valva!« Ich verschluckte mich fast. »Hat er gerade ›Vulva‹ gesagt?« Giguhl rollte mit den Augen. »Vahl-va«, korrigierte er mich. Ich schüttelte den Kopf. »Was haben sich ihre Eltern bloß dabei gedacht?« Giguhl versetzte mir einen ungeduldigen Stoß in die Rippen. »Ruhe!« Slade wandte sich zu unserer Seite der Arena. »Und in der anderen Ecke haben wir einen Dämon, der seit seinem Sieg über Rargnok, den ehemaligen Champion dieses Rings, eigentlich gar nicht mehr vorgestellt werden muss: Es ist der große, böse Unheilstifter aus Irkallas Gizal-Region – Giguhl!« Die Menge drehte bei Giguhls Namen beinahe durch. Dieser richtete sich auf und streckte die Klauen in die Luft. Ich atmete erleichtert auf. Sah ganz so aus, als sei mein Dämon endlich wieder bei Sinnen.
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Die Glocke läutete, und Giguhl marschierte in die Mitte des Rings. Valva stolzierte auf Giguhl zu, der erneut von ihren schimmernden goldenen Kurven geblendet schien. Die Dämonin blieb vor ihm stehen und stemmte eine gepflegte Hand mit perfekten Fingernägeln in die schlanke, goldschuppige Hüfte. Ihre andere Hand ließ die Halskettenpeitsche vor und zurück sausen, um Giguhl zu provozieren. Giguhl versuchte sichtlich, sich zusammenzureißen. Halbherzig holte er mit dem Messer aus und erwischte sie beinahe an ihrer hübschen Nase. Sie zuckte nicht einmal mit einer Wimper. Deutlich verunsichert, wich Giguhl ein paar Schritte zurück, um sich zu besinnen. Valva lockte ihn mit einem Finger näher. Diese Bewegung lenkte ihn derart ab, dass er nicht bemerkte, wie sie mit der anderen Hand begann, die Peitsche wie ein Lasso kreisen zu lassen. Die Kette schlang sich um seinen Hals, und Valva riss daran. Giguhl blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Er versuchte verzweifelt, die Peitsche mit den Klauen zu lösen, kam jedoch nicht weit, denn Valva umschlang ihn mit einem schlanken Bein. Mit einem dumpfen Knall fiel er auf den Betonboden. Die Dämonin beugte sich über ihn und bohrte einen ihrer hochhackigen Absätze in seine Brust. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich glaubte schon, um Giguhl sei es geschehen. Doch da breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinen schwarzen Lippen aus. Er fasste nach der Kette und riss Valva zu sich herunter. Sie keuchte und schlug um sich, während sie versuchte, sich von ihm zu lösen. Notgedrungen ließ sie die Kette los, und Giguhl konnte sich befreien. Er wollte Valva packen, doch sie war zu schnell für ihn. Als er auf die Füße sprang, verwandelte sich ihre Miene von Schreck in Entschlossenheit. Die flirtende Amazone von zuvor war verschwunden. Giguhl wickelte das Ende der Peitsche um sein Handgelenk und begann langsam, sie an seiner Seite kreisen zu lassen. Valva befand sich jetzt am anderen Ende des Rings und starrte ihm fins240
ter entgegen. Einen Moment lang hielten beide inne. Jeder wollte den anderen dazu herausfordern, den ersten Schritt zu tun. Giguhl täuschte einen Sprung nach rechts an. Valva reagierte sofort und bewegte sich nach links. Trotz ihrer hohen Absätze war sie überraschend wendig und vollführte eine komplizierte Reihe von Sprüngen und Drehungen. Die Zuschauer folgten ihr atemlos. Auch Giguhl stand mit weit aufgerissenen Augen da. Mann, selbst ich hätte ihr am liebsten applaudiert, als sie drei Backflips nacheinander zeigte. Sie hielt etwa einen Meter vor ihm an und sah ihm herausfordernd in die Augen. Giguhl hob den linken Arm und ließ seine beeindruckenden Oberarmmuskeln spielen. Auf Valvas vollen Lippen zeigte sich ein bewunderndes Lächeln. Dann machte auch Giguhl auf einmal einen Salto rückwärts. Ich riss den Mund auf. Wer hätte gedacht, dass Giguhl so gelenkig war? Er sprang nach hinten und landete kopfüber auf den Klauen, um dann den Ring einmal auf den Händen gehend zu umrunden. Als er wieder vor Valva zu stehen kam, sprang er auf die Füße und hob sie hoch. Sie kicherte, während er sie über seinem Kopf kreisen ließ. Dann warf er sie in die Luft und fing sie in seinen Armen auf. Ich rollte mit den Augen. Maisie neben mir lachte. Offensichtlich genoss sie die Show. Doch der Rest der Menge begann ungeduldig zu pfeifen. Die Leute waren gekommen, um einen Kampf zu sehen, nicht irgendeinen bizarren Dämonenpaarungstanz. »Keine Gnade! Keine Gnade!« Giguhl achtete nicht auf die Zuschauer, sondern stellte Valva sanft auf die Füße zurück. Slade sprang daraufhin in den Ring und trat auf das Paar zu. Ich rannte ebenfalls zu den beiden, um als Schiedsrichter einzuspringen, falls es nötig sein sollte. Slade bedeckte mit seiner Hand das Mikrofon, das er mitgebracht hatte. »Was zum Teufel ist hier los? Ihr kennt die Regeln.
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Zwei Dämonen betreten den Ring, aber nur einer verlässt ihn auch wieder.« »Zum Teufel mit den Regeln.« »Genau«, sagte Valva mit überraschend schriller Stimme. Sie belohnte Giguhls Rebellion mit einem Kuss auf die Wange. Seine grünen Schuppen wurden einen Moment lang glühend rot. Einige der Zuschauer begannen erneut zu buhen. Andere skandierten: »Zwei Dämonen rein, ein Dämon raus!« Giguhl nahm Slade das Mikrofon aus der Hand. Einen Moment lang sah Slade so aus, als wolle er sich widersetzen, dann besann er sich eines Besseren. Giguhl hob die Hand, damit man ihm zuhörte. »Heute Nacht landet niemand im Trichter der Hoffnungslosigkeit.« Pfiffe und empörte Rufe schlugen ihm entgegen. Giguhl ignorierte sie und griff nach Valva. Er zog sie in seinen Arm und gab ihr einen Kuss, auf den Hollywood stolz gewesen wäre. Slade wandte sich verzweifelt an mich. »Befiehl ihm, zu kämpfen!« »Sorry, Slade. Das ist allein seine Entscheidung«, erwiderte ich. Er starrte mich einen Moment lang wütend an. »Wenn er nicht gewinnt, dann verliere ich ein Vermögen, Sabina! Verstehst du das?« »Du kannst mich ja verklagen.« In diesem Moment eilte ein Mann an mir vorbei und stürzte in den Ring. »Lass sie sofort los!« Er warf sich auf Giguhl. Ich packte den Kerl am Nacken und riss ihn zurück. Die Zuschauer wurden still. Alle hielten den Atem an und beobachteten neugierig, was wohl als Nächstes geschehen würde. Maisie löste sich von der Menge und trat ebenfalls zu uns. »Wer zum Teufel sind Sie?«, wollte ich von dem Mann wissen. Der Kerl ignorierte mich und stürzte sich stattdessen auf Valva. Er packte sie am Arm, was Giguhl dazu veranlasste, leise zu knurren. 242
Slade mischte sich ein. »Das ist Lenny. Er ist Valvas Magier.« Dass Lenny ein Magier war, verriet der starke Sandelholzgeruch, den er verströmte. Sein schlaksiger Körper steckte in einem schlecht geschnittenen Anzug, und seine schwarzen Haare sahen so aus, als hätte er sie mit einem fettigen Schweinekotelett zurückgekämmt. »Du reißt dich jetzt auf der Stelle zusammen und beendest diesen Kampf!«, brüllte er Valva an. »He!«, mischte ich mich ein. »Ich würde vorschlagen, dass Sie Ihre Hände von der Dämonin nehmen, ehe Giguhl sie Ihnen abreißt.« »Verpiss dich! Sie bringt das jetzt zu Ende und damit basta.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte wütend in Valvas Ohr. Giguhl warf mir einen Blick zu. Ganz offensichtlich wollte er sich auf den Magier stürzen und brauchte dazu meine Erlaubnis. Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal, Kumpel«, sagte ich. »Wir können das doch bestimmt gütlich regeln. Eines ist doch offensichtlich: Valva will auch nicht mehr gegen Giguhl kämpfen.« Wieder achtete er nicht auf mich, sondern sagte zu Valva: »Du kennst den Deal. Wenn du bei Lenny bleiben willst, dann musst du auch etwas dafür tun.« Er holte tief Luft und änderte die Taktik. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr wütend, sondern samtig und doch irgendwie bedrohlich. »Du willst doch nicht, dass ich dich in den Trichter der Hoffnungslosigkeit schicke – oder, Schätzchen?« In Valvas goldenen Pupillen zeigte sich Angst. »Nein, Lenny. Das kannst du nicht tun.« »Was zum Teufel ist hier los?«, flüsterte ich Slade wütend zu. »Ich dachte, Valva sollte den Kampf sowieso verlieren.« Slade zuckte mit den Achseln. »Lenny will seine Schulden nicht bezahlen, die sich übrigens gerade verdoppelt haben, da er sich offenbar nicht an unsere Vereinbarung hält.«
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»Ob Valva den Kampf nun gewinnen oder oder verlieren sollte – so oder so klingt es nicht danach, als wolle sie nach Hause«, gab Maisie zu bedenken. Lenny schwitzte. In seinen Augen stand ein verzweifeltes Glitzern. Zu verzweifelt. »Ich habe dir gesagt, du sollst diesen verdammten Dämon töten!« »Jetzt aber mal langsam!«, rief ich. »Was zum Teufel meinen Sie damit? Valva sollte doch den Kampf absichtlich verlieren!« Ein Raunen ging durch die Menge. Slade fluchte laut. »Verdammt nochmal, Sabina!« Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, herauszufinden, was zur Hölle hier los war, um mich um Slades schmutziges Geheimnis zu kümmern. »Was soll das heißen – Valva sollte Giguhl töten?« Lenny riss den Kopf hoch. Erst jetzt bemerkte er, dass alle ihn anstarrten. »Mann, jetzt wird sie ganz schön wütend sein.« Ich legte die Stirn in Falten. »Wer wird ganz schön wütend sein?« Lenny schüttelte den Kopf. »Das geht dich nichts an. Es ist sowieso alles deine Schuld, Schlampe.« Ich starrte ihn entgeistert an. »Was soll meine Schuld sein, Arschloch?« Ich kam hier nicht mehr mit. Seine Augen weiteten sich und blickten ins Leere. »Es ist zu spät. Es sei denn …« Er drehte sich zu Giguhl. In meinem Nacken begann es zu kribbeln, und mir wurde klar, dass Lenny versuchte, einen Zauber zu wirken. Mir gefror das Blut in den Adern. Die Zeit schien einen Moment lang stillzustehen. Ich tat einen Satz nach vorn, während meine Hand nach meiner Pistole griff. Valva fiel zu Boden, als Lenny sie beiseitestieß. Giguhls Augen funkelten rot vor Zorn, während ich Slade hinter mir brüllen hörte. Magische Energie brachte die Luft zum Knistern. Ein Blitz schoss an mir vorbei und traf Lenny. Sein Körper zuckte, und
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sein eigener Zauber ging daneben. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Im Raum herrschte entsetzte Stille. Ich hielt inne, die Waffe auf Lennys reglosen Körper gerichtet. Als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich, wie Maisie die Arme sinken ließ. Sie bemerkte, dass ich sie ansah, und zuckte mit den Achseln. »Wir können das bestimmt klären, ohne dass jemand dabei draufgeht.« In ihrer Stimme lag eine eisige Entschlossenheit, wie ich sie bisher noch nicht bei ihr gehört hatte. Jetzt kam auch Slade wieder zu sich. Er rief seinen Türstehern Befehle zu, die daraufhin begannen, die Arena zu räumen. Während die verwirrte Menge nach draußen befördert wurde, schob ich meine Waffe wieder in den Hosenbund. Noch immer schoss Adrenalin durch meine Adern und ließ meine Hände zittern. Giguhl half währenddessen Valva, wieder aufzustehen. Er legte seine grünen Arme um sie, während sie leise an seiner Brust schluchzte. Maisie trat leise neben mich. »Tut mir leid, dass ich mich eingemischt habe.« »Nein, ich muss dir danken«, erwiderte ich, während mir klar wurde, dass ich es diesmal tatsächlich so meinte. »Jetzt können wir wenigstens hoffen, dass er uns noch ein paar Antworten geben kann.« Slades Männer brauchten nur ein paar Minuten, um den Saal zu räumen. Als der letzte Zuschauer den Raum verlassen hatte, trat der Vampir wieder zu uns. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und atmete erst einmal tief durch. »Kannst du mir einen Grund nennen, warum ich dich nicht auf der Stelle mit einem Arschtritt hier rausbefördern soll, Sabina?«, fragte er. »Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie viel Geld du mich gerade gekostet hast?« Ich verschränkte die Arme. »Du bist selbst schuld. Und das weißt du.«
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»Kinder, meint ihr nicht, ihr könntet erst einmal aufhören, euch gegenseitig zu beschuldigen, bis ihr wisst, warum Lenny Giguhl umbringen wollte?« Slade warf mir einen finsteren Blick zu, nickte dann aber zustimmend in Maisies Richtung. »Du hast Recht, Fiona. Was schlägst du vor?« Ich blinzelte. Ich hatte in der ganzen Aufregung völlig vergessen, dass ich Maisie als meine Freundin Fiona ausgegeben hatte. »Also«, sagte sie und hielt kurz inne. Eine Welle von Energie lief mir den Rücken hinunter. Magische Funken umkreisten Maisies Körper und verwandelten sie Stück für Stück wieder in ihr normales Selbst zurück. »Erst einmal heiße ich nicht Fiona. Ich bin Maisie.« Slades Augen weiteten sich, und ihm klappte das Kinn herunter. Ich lächelte. Slade sah man selten sprachlos. »Was zur Hölle soll das?«, wollte er wissen und starrte mich an. »Slade, darf ich vorstellen? Das ist meine Schwester, die ehrenwerte Maisie Graecus.« Er starrte Maisie fassungslos an. »Die Maisie Graecus? Die Anführerin des Hekate-Rats? Sie sind Sabinas Schwester?« »Ihre Zwillingsschwester«, korrigierte sie ihn lächelnd. »Entschuldigt bitte. Aber sobald ihr mal mit den ganzen Formalitäten fertig seid, wäre es nett, wenn wir uns auf das Wesentliche konzentrieren könnten«, warf Giguhl auf einmal ungeduldig ein. Slade bemühte sich, seine Überraschung zu verstecken. »Ich möchte mich entschuldigen, falls ich heute Abend irgendetwas gesagt haben sollte, was Sie beleidigt hat«, sagte er zu Maisie. »Ich hatte ja keine Ahnung, wer Sie sind.« Sie winkte ab, während ich über seine plötzliche Unterwürfigkeit die Augen rollte. »Genau das wollte ich auch erreichen. Ich hatte eigentlich gehofft, meine wahre Identität den ganzen Abend über verborgen halten zu können. Aber da diese Situation derart 246
eskalierte und es sowohl um meine Schwester als auch um einen meiner Bürger geht …« Sie brach ab und blickte in Lennys Richtung. »Natürlich«, meinte Slade eilfertig. »Wenn es irgendetwas gibt, das ich für Sie tun kann, lassen Sie es mich jederzeit wissen.« Sie nickte geistesabwesend. Offensichtlich war sie bereits damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie wir weiter vorgehen sollten. Ich verschränkte die Arme und versuchte, meine Ungeduld nicht allzu deutlich zu zeigen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte Lenny bereits sein letztes Wort gesprochen. Aber Maisie hatte Recht. Wir mussten erst herausfinden, was genau hier vor sich ging. »Haben Sie Messing da, das ich benutzen könnte?«, fragte Maisie nach einer Weile. »Natürlich«, erwiderte Slade. Er trat zu Giguhl und holte einen Schlüsselbund aus seiner Tasche. Der Dämon starrte ihn finster an, während Slade seinen Halsreif aufschloss. »Nimm ihren auch ab«, verlangte Giguhl. Slade warf Maisie einen fragenden Blick zu. Sie nickte. »Natürlich.« Er schloss auch Valvas Halsreif auf und brachte Maisie beide Metallringe. Sie jedoch schüttelte den Kopf. »Bitte legen Sie einen davon Lenny an.« Slade lächelte entschuldigend über die Tatsache, dass er nicht mitgedacht hatte. Messing schwächte bekanntlich alles Magische ab. Deshalb mussten auch die Dämonen im Fight Club Messingbänder tragen. Das hielt sie davon ab, ihre Gegner mit ihrer Dämonenmagie außer Gefecht zu setzen und so gegen die Regeln zu verstoßen. Aber Messing wirkte auch bei Magiern, weshalb Maisie sich weigerte, die Reifen auch nur zu berühren.
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Slade schloss einen der Ringe um Lennys Hals, während er den anderen in seine Jackentasche steckte. »Fertig«, sagte er schließlich. Maisie ging entschlossenen Schrittes auf Lenny zu. Man konnte deutlich sehen, dass sie jetzt in ihrer offiziellen Funktion als Anführerin des Hekate-Rats handelte. »Ich werde gleich den Zauber von ihm nehmen. Zuvor möchte ich aber noch etwas klarstellen. Ich werde diejenige sein, die ihn befragt. Falls irgendeiner von euch nicht in der Lage ist, währenddessen den Mund zu halten, werde ich euch bitten müssen, den Raum zu verlassen. Haben wir uns verstanden?« Alle vier nickten. Maisie trat daraufhin einen Schritt näher an Lenny heran und flüsterte ein paar unverständliche Worte. Die Luft knisterte, als der Zauber von dem Magier abfiel. Lenny stolperte ein paar Schritte nach vorn, während er versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden. »Was zum Teufel?«, brüllte er. Seine Hände umfassten den Reif. Als ihm bewusst wurde, was um seinen Hals lag, hielt er inne. Er schloss die Augen. »Zur Hölle … Ich bin ein toter Mann.« »Jetzt mal langsam. Niemand wird Sie töten«, erklärte Maisie. »Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen.« Lenny schüttelte den Kopf. »Sie irren sich. Wenn sie herausfindet, dass der Dämon noch immer am Leben ist, wird sie mich umbringen.« »Wer ist sie?«, erkundigte sich Maisie in beruhigendem Tonfall. Der Magier war derart verzweifelt, dass ihm nicht einmal Maisies verändertes Aussehen auffiel. »Ich weiß es doch nicht!« Ich ballte die Fäuste, um das Bedürfnis zu unterdrücken, dazwischenzugehen und den Magier zu erdrosseln. Maisie trat näher an ihn heran. Sie wirkte ruhig und gelassen. »Was soll das heißen – Sie wissen es nicht? Woher wussten Sie, dass jemand Giguhl tot sehen wollte?«
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Lenny fuhr sich mit der Hand durch das ölige Haar. »Jemand hat mich angerufen. Irgendeine Frau hat mir erklärt, ich solle Valva als nächsten Herausforderer des neuen Dämons im Aderlass anmelden. Sie würde dann sicherstellen, dass all meine Schulden beglichen werden.« »Sie hat direkt nach Valva gefragt?« Als er nickte, fügte Maisie hinzu: »Und warum?« »Sie meinte, die anderen Dämonen hätte er viel zu problemlos geschlagen. Vielleicht würde ein scharfes Biest wie Valva ihn lange genug ablenken, um ihn töten zu können.« Ich warf einen Blick zu Valva, die Giguhl gequält ansah. Offensichtlich wollte sie sich bei ihm entschuldigen. Er tätschelte ihr den Arm, um sie wissen zu lassen, dass er ihr wegen Lennys Abmachung keine Vorwürfe machte. Maisie runzelte die Stirn. »Aber ich dachte, Sie und der Schatten wären zu der Übereinkunft gekommen, dass Valva den Kampf absichtlich verlieren würde, um Ihre Schulden bei ihm zu begleichen. Warum haben Sie diesem neuen Plan überhaupt zugestimmt?« »Der Schatten hat mir diesen Deal angeboten, nachdem ich bereits auf den Vorschlag der Unbekannten eingegangen war. Sie hat mir eine ziemlich große Summe als Anzahlung geschickt. In dem Brief, den sie dem Geld beigelegt hatte, stand allerdings auch, dass ein Versagen meiner Gesundheit nicht zuträglich wäre.« »Wenn sie Ihnen Geld geschickt hat, um Ihre Schulden zu begleichen, warum haben Sie dann Slades Angebot überhaupt angenommen?«, fragte ich, da ich mich nicht zurückhalten konnte. »Es war die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass Valva gegen den Unheilstifter antritt. Verdammte Scheiße! Jetzt ist alles zum Teufel.« »Kann man wohl sagen«, meinte Slade. »Deine Schuld hat sich gerade verdreifacht, so viel Geld hab ich heute Nacht verloren.«
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»Gütige Götter!«, rief Lenny entsetzt und sackte in sich zusammen. »Lenny, ich möchte, dass Sie sich beruhigen und konzentrieren. Wann hat Sie diese Frau kontaktiert?«, meldete sich Maisie wieder zu Wort. Er unterdrückte ein Schluchzen. »Vor zwei Tagen«, erwiderte er. »Hat Sie Ihnen einen Namen genannt? Eine Telefonnummer? Irgendetwas?« Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Die Nummer auf dem Display wurde nicht angezeigt. Einen Namen hat sie auch nicht genannt. Aber ich glaube, es war eine Magierin.« Maisie sah mich an. Ich nickte, um ihr zu bedeuten, dass ich verstand, was das hieß. Jetzt wussten wir wenigstens, dass sich hinter der Attacke durch Eurynome eine Frau verbarg. Damit verringerte sich unsere Liste der Verdächtigen auf etwa fünfzig Prozent der Magier-Bevölkerung. »Warum glauben Sie, dass es sich um eine Magierin gehandelt hat?«, wollte Maisie wissen. »Sie sagte etwas über die da …« Er wies mit dem Finger auf mich. »Sie sei eine Bedrohung für das ganze Geschlecht der Magier.« Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Maisie jedoch blieb cool. »Wenn Sabina die eigentliche Bedrohung darstellt, warum wollte die Frau dann, dass Giguhl stirbt und nicht Sabina?«, hakte sie nach. »Sie meinte, erst mal müsse der Dämon aus dem Weg geräumt werden. Dann würde sie sich den Mischling persönlich vornehmen.« Ein lautes Knurren hallte durch den Raum. Lenny zuckte zusammen. Ohne Magie, hinter der er sich verstecken konnte, war sein Mut verschwunden. Ich konnte Giguhls Zorn förmlich rie250
chen. Es wunderte mich nicht, ihn so wütend zu sehen. Mir erging es kaum anders. Maisie jedoch warf dem Dämon einen warnenden Blick zu. Valva tätschelte ihm den Arm, bis er sich wieder beruhigte. »Ich habe genug gehört«, erklärt Maisie. »Lenny, Sie stehen unter Arrest für versuchten Mord am Dämon einer Magierin.« Sie warf Slade einen Blick zu, während Lenny den Kopf senkte. »Ich müsste mal telefonieren.« Slade zog sein Handy aus der Tasche seines Anzugs. Während Maisie Verstärkung rief, ging ich zu Giguhl und Valva hinüber. »Ich stecke doch nicht in Schwierigkeiten, oder?«, wollte Valva wissen. Ich kämpfte gegen den Wunsch an, sie für ihre Beteiligung an diesem ganzen Chaos verantwortlich zu machen. Sie hatte sich nicht ausgesucht, von einem Arschloch beschworen zu werden. »Nein. Es ist nicht deine Schuld«, erwiderte ich und lächelte. »G, kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?« Giguhl nickte und küsste Valva auf die Stirn. Als er sich wieder von ihr löste, glitzerte sein ganzer Körper golden. Ich zog ihn weit genug fort, dass Valva unsere Unterhaltung nicht mit anhören konnte. »Das ist echt widerlich, oder?«, meinte er. »Kannst du es fassen? Dieser Vollidiot!« Ich schluckte, weil ich nicht wusste, wie ich meine Botschaft in Worte fassen sollte. »Sie kann nicht bleiben, G«, platzte ich heraus und hasste mich sogleich dafür. Er erstarrte. »Und warum nicht?«, wollte er nach einer Weile wissen. »Sie gehört zu ihm.« »Das ist doch absoluter Bockmist«, sagte er. »Dafür kann sie nichts.« Ich legte eine Hand auf seinen grünen Arm. »Das weiß ich.« Er sah zu Valva hinüber. Sie hatte sich die goldenen Arme um die Taille geschlungen, während sie beobachtete, wie Lenny Mai251
sie anflehte, ihn nicht verhaften zu lassen. Irgendwie wirkte sie verletzlich und verloren, wie sie so dastand. »Kannst du nicht mit Maisie reden? Vielleicht gibt es ja noch eine andere Möglichkeit«, flehte mich Giguhl an. »Ich weiß nicht …« Er sah mich an. »Bitte, Sabina. Ich liebe sie.« Zweifelnd runzelte ich die Stirn. »Wie kannst du sie denn lieben? Du hast sie doch gerade erst kennengelernt.« »Ich kann es dir nicht erklären.« Er seufzte wie ein liebeskranker Teenager. »Valva erfüllt mich.« Ich rollte mit den Augen. »Ich meine es ernst.« Das tat er auch. Ich konnte es in seinen Augen sehen. Mein Dämon war verliebt. Ich seufzte, als ich mich geschlagen gab. »Also gut. Ich rede mit Maisie.« Giguhl stieß begeistert eine Faust in die Luft. »Super!« Warnend hob ich die Hand. »Aber ich kann dir nichts versprechen. Mach dir keine großen Hoffnungen. Sie kann Valva auch noch heute Nacht zurückschicken.« Er nickte eifrig, als hätte er mich verstanden. Aber in Wahrheit war deutlich zu sehen, dass er in Gedanken bereits seine Dämonenhochzeit plante. Mit einem gequälten Stöhnen kehrte ich zu den anderen zurück. Maisie sprach inzwischen leise mit Valva. Ich beobachtete, wie sie den Arm um die Dämonin legte, und blieb stehen, um die beiden nicht zu stören. Vielleicht würde diese Nähe Maisie eher dazu veranlassen, meinem oder vielmehr Giguhls Wunsch nachzukommen. Und es verschaffte mir etwas Zeit, darüber nachzudenken, was Valvas Aufenthalt bei uns bedeuten würde. Ich wollte nicht für zwei Dämonen verantwortlich sein. Verdammt, ich wurde ja kaum mit Giguhl fertig. Schließlich drückte Maisie Valva nochmal an sich und kam zu mir herüber. Sie zog mich beiseite, damit wir ungestört reden konnten. »Wir müssen uns über Valva unterhalten.« 252
»Genau darüber wollte ich auch mit dir sprechen. Giguhl …« Maisie unterbrach mich. »Ich muss sie wieder zurück nach Irkalla schicken, Sabina. Ich weiß, Giguhl mag sie, aber Lenny wird vor Gericht kommen. Wir können hier keinen Dämon brauchen, für den keiner die Verantwortung übernimmt. Das wäre viel zu gefährlich.« »Und wenn ich sie unter meine Fittiche nehme?« Ich wollte zwar keinen zweiten Dämon, aber ich wollte auch Giguhl nicht im Stich lassen. Maisie schüttelte den Kopf. »Meinst du nicht, dass du schon genug Probleme hast? Auch ohne einen zweiten Dämon?« Ich seufzte. »Wahrscheinlich schon. Aber ich bin mir sicher, ich kriege das hin.« Giguhl und Valva waren während unseres Gesprächs unauffällig näher gekommen und standen jetzt nur noch wenige Meter von uns entfernt. Auch Maisie fiel das auf, und sie senkte die Stimme. »Bist du dir sicher?« Ich betrachtete die beiden Dämonen. Giguhl sah mich flehend an. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, zwei Dämonen auf meiner Seite zu haben. »Es ist das Mindeste, was ich tun kann.« Maisie seufzte. »Wenn es das ist, was du willst. Dann muss ich veranlassen, dass Lenny dir die Kontrolle über Valva überlässt.« »Das geht?« Meine Schwester nickte. »Ja. Das ist ein ganz einfacher Übertragungszauber. Ich werde ihm erklären, dass wir seine Kooperationsbereitschaft beim Prozess berücksichtigen werden.« »Einverstanden«, sagte ich. »So machen wir es.« Hinter mir hörte ich, wie Giguhl begeistert flüsterte. Maisie warf mir einen Blick zu, der mir deutlich zeigte, dass sie mich für verrückt hielt, ehe sie zu Lenny trat. Während sich die beiden über die Formalitäten unterhielten, ging ich zu den beiden Dämonen.
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»Nun, Valva, sieht ganz so aus, als könntest du bleiben.« Auf einmal fiel mir etwas auf. Bisher hatte sie noch niemand nach ihrer Meinung gefragt. »Natürlich nur, wenn du das auch willst.« Sie sah zu Giguhl auf und lächelte glücklich. »Ich will.« Ich schaffte es gerade noch, nicht mit den Augen zu rollen. Wer hätte geahnt, dass Dämonen derart sentimental sein konnten? Über ihren Kopf hinweg formte Giguhl mit den Lippen die Worte »Vielen Dank«. Ich nickte. Auf einmal fühlte ich mich deutlich besser. »Okay«, rief Maisie. »Wir sind so weit.« Wir gingen zu Maisie und Lenny hinüber. »Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, Lenny, dass jeder Fluchtversuch nach Abnahme des Messingbandes der Anklage hinzugefügt wird.« Der Magier nickte. Er wirkte gebrochen. »Ja, ich weiß.« Maisie nickte Slade zu, der den Reif aufschloss und ihn dem Magier abnahm. Lenny rieb sich einen Moment lang den Hals. »Ich brauche das Salz, das in meinem Rucksack ist.« Slade ging zu dem Rucksack, den Lenny außerhalb des Kampfrings abgestellt hatte. Er holte eine Schachtel mit Salz heraus und reichte sie Lenny. »Okay. Wenn Sie dann alle zurücktreten würden …« Ich warf ihm einen drohenden Blick zu, um sicherzugehen, dass er nichts anstellte. Aber er achtete gar nicht auf mich, sondern schüttete nur konzentriert seinen Kreis aus Salz auf den Boden. Als er fertig war, rieb er die Hände aneinander und blickte auf. »Ich bin so weit.« Maisie nickte zustimmend. Valva trat in den Kreis. Schweigend beobachteten wir, wie Lenny die Augen schloss. Schon bald bildete sich ein schimmernder Schleier aus Magie um Valva. »Enu Iddimu. Nadanu a Sabina Kane. Ana Harrani sa Alaktasa la Tara.« Ein laserartiger Magiestrahl schoss aus dem Kreis auf Maisie und ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Nach einem kurzen Mo254
ment verschwand das Licht, und der Schleier um Valva löste sich auf. Ich fuhr herum, besorgt, Lenny hätte doch noch einen Weg gefunden, Maisie Schaden zuzufügen. Da der Zauber auf hekatisch gewirkt worden war, hatte ich kein Wort verstanden. Allerdings schien es Maisie gutzugehen – abgesehen von ihrem finsteren Blick und den zerzausten Haaren. Atemlos rief sie: »Was sollte das? Ich habe Ihnen doch gesagt, die Kontrolle über den Dämon auf Sabina zu übertragen!« »Oh Mist«, flüsterte ich, als mir klar wurde, was passiert war. Lenny runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was da passiert ist. Sie haben gehört, dass ich Sabinas Namen genannt habe. Es hätte funktionieren sollen.« »Was ist hier los?«, mischte sich ein besorgt klingender Giguhl ein. Maisie drehte sich zu ihm um. »Lenny hat den Zauber verpatzt und die Kontrolle über Valva auf mich statt auf Sabina übertragen!« »Ich habe überhaupt nichts verpatzt«, murmelte Lenny. »Kann er den Zauber nicht wieder rückgängig machen?«, fragte ich meine Schwester. Sie seufzte verärgert und sah mich an. »Nein. Die einzige Möglichkeit ist, dass ich Valva persönlich auf dich übertrage.« Sie schüttelte die Hände aus und strich sich dann die Haare zurück. »Stell dich neben den Kreis, wir versuchen es noch einmal.« Ich trat neben den Salzzirkel. Valva stellte sich erneut in die Mitte und wartete geduldig ab, was als Nächstes geschehen würde. »Gut«, sagte ich. »Wir sind bereit.« Maisie räusperte sich und hob die Hände. Sie zeichnete Valvas Sigille in die Luft und wiederholte dann den Zauberspruch, den Lenny zuvor benutzt hatte. Zumindest glaubte ich das. Hekatisch klang für mich immer gleich.
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Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass mich der Übertragungszauber treffen würde. Doch nichts geschah. Nach einigen Sekunden wurde ich unruhig. »Maisie?« Meine Schwester sah uns fassungslos an. »Es hat nicht funktioniert.« Lenny schnaubte und bedachte uns mit einem Habich-dochgesagt-Blick. »Und wer hat es jetzt verpatzt?« Maisie wirbelte herum und funkelte den Mann wütend an. »Ich habe den Zauber völlig korrekt gesprochen. Es gibt keinen Grund, warum die Übertragung nicht klappen sollte.« Giguhl mischte sich ein. »Doch, es könnte einen Grund geben.« »Welchen?«, fragte ich. Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht soll Valva bei Maisie bleiben.« Ich sah meine Schwester an, um zu sehen, wie sie auf Giguhls Theorie reagierte. Sie wirkte geradezu schockiert, als sie seine Worte hörte. Giguhl fuhr unbeirrt fort. »Überlegt doch mal. Als ich Sabina kennengelernt habe, wollte sie auch keinen Dämon bei sich haben. Es ist einfach so passiert, ohne dass sie sich darum bemüht hätte. Als wäre es vorherbestimmt gewesen.« Maisie wirkte noch immer nicht überzeugt. »Ich weiß nicht. Normalerweise wählen Magier ihren Familiar selbst aus. Bei dir ist das etwas anderes, Sabina. Du bist chthonisch. Da ergibt es Sinn, dass du einen Dämon hast.« »Vielleicht hat ja auch unsere gemischte Abstammung etwas damit zu tun«, sagte ich und übernahm die Rolle des Advocatus Diaboli. »Außerdem hast du selbst gesagt, du hättest gerne einen Familiar.« Maisie öffnete den Mund, um zu protestieren. In diesem Moment tauchten drei Wachen der Pythia aus dem Nichts in der Kampfarena auf, um Lenny festzunehmen. Meine Schwester verbrachte die nächsten Minuten damit, die Männer darüber aufzu256
klären, was geschehen war, und ihnen weitere Anweisungen zu erteilen. Nachdem sie mit Lenny verschwunden waren, wandte sie sich wieder uns zu. »Okay. Ich bin zwar nicht überzeugt, dass Valva mein Familiar sein soll, aber bis ich nicht mit Rhea gesprochen und ihre Meinung dazu gehört habe, kann ich nicht viel tun.« Sie warf Valva einen entschuldigenden Blick zu. »Tut mir leid.« Die Dämonin zuckte mit den Achseln. »Mir macht das nichts aus. Ich will ja nicht undankbar sein, aber ehrlich gesagt ist mir jeder lieber als Lenny.« Maisie lächelte die Eitelkeitsdämonin an. »Danke. Wir werden das bestimmt bald klären.« Daraufhin trat sie zu Slade, um noch ein paar Dinge mit ihm zu besprechen. Giguhl und Valva unterhielten sich währenddessen flüsternd miteinander, und ich atmete erst einmal tief durch. Was als lustige Nacht mit meiner Schwester begonnen hatte, war mit einem Mordanschlag auf Giguhl und einer Dämonenbegleiterin für meine Schwester ausgegangen, die sie eigentlich nicht haben wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie sich die Sache mit Maisie entwickeln würde, aber eines wusste ich: Niemand legt sich mit meinem Dämon an. Ich würde nicht mehr länger darauf warten, dass der Hekate-Rat herausfand, wer hinter den Anschlägen auf mein Leben steckte. Nein, jetzt würde ich die Dinge selbst in die Hand nehmen. Diese Schlampe hätte bald nichts mehr zu lachen.
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Am nächsten Abend bereitete ich mich gerade darauf vor, zum Ratstreffen zu gehen, als meine Schlafzimmertür plötzlich aufge257
rissen wurde. Orpheus stand auf der Schwelle und sah aus wie ein zorniger Gott. »Sie!«, sagte er mit leiser, drohender Stimme. Ich sah ihn überrascht an. »Haben Sie jemand anders erwartet? Das ist mein Zimmer.« Er richtete einen anklagenden Finger auf mich. »Wie konnten Sie Maisie nur in diesen Sündenpfuhl mitnehmen? Wie konnten Sie nur?« Aha, darum ging es also. »Hören Sie mir gut zu, mein Lieber: Sie wollte selbst mit. Ich habe versucht, es ihr auszureden, aber letztlich war es ihre Entscheidung.« Orpheus trat über die Schwelle und schlug donnernd die Tür hinter sich ins Schloss. »Es ist mir völlig egal, wessen Idee es war. Sie hätten es jedenfalls besser wissen müssen, als unser Orakel in diese zwielichtige Bar mitzunehmen. Ich wusste von Anfang an, dass Sie uns hier nichts als Ärger machen würden.« Ich verschränkte die Arme. »Jetzt beruhigen Sie sich mal wieder, Orpheus. Es ist doch gar nichts passiert. Maisie geht es gut.« Einen Moment lang war er so aufgeregt, dass er über die eigenen Worte stolperte und kurz nicht weitersprechen konnte. »Sie … Sie nennen einen Mordversuch nichts?« Ich zuckte mit den Achseln. »Maisie hatte alles im Griff. Und sie hat das Problem doch gelöst.« »Sie bezeichnen die Rückkehr mit dem Dämon eines potenziellen Mörders als Lösung des Problems?« Ich hob das Kinn. »Ja, das tue ich.« »Ich habe genug von Ihnen. Haben Sie mich verstanden? Maisie muss sich darauf konzentrieren, ihre Visionen zurückzuerhalten. Sie kann es sich nicht leisten, ihre wertvolle Zeit mit dem Abschaum der Gesellschaft zu verschwenden.« Seinem Tonfall nach rechnete er mich eindeutig ebenfalls zu dieser Gruppe. »Hören Sie mir mal gut zu, Kumpel. Ich weiß, dass Sie daran gewöhnt sind, hier das Sagen zu haben. Aber Maisie ist eine erwachsene Frau. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen. Sie sollten 258
mit ihr umgehen wie mit der starken, intelligenten Frau, die sie ist, nicht wie mit einer zerbrechlichen Puppe. Und wenn Sie aufhören würden, sie wie Ihre persönliche Orakel-Fabrik zu behandeln, könnte sie sich vielleicht endlich auch mal ein bisschen entspannen und wäre wieder in der Lage, die Zukunft zu sehen.« Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, seine Haltung steif und abweisend. »Sie halten sich offenbar für eine ganz Schlaue, was? Sie sind erst seit ein paar Tagen bei uns, Sabina. Ich hingegen kenne Maisie bereits ihr ganzes Leben lang. Ich habe Ameritat geholfen, sie wie meine eigene Tochter aufzuziehen – und zwar aus Respekt und in Erinnerung an ihren Vater. Sparen Sie sich also Ihre Belehrungen darüber, wie ich mit Maisie umgehen soll. Sie scheren sich ja offensichtlich nicht im Geringsten um die Position und die Sicherheit Ihrer Schwester. Ihr Vater würde sich für Sie schämen.« Mit eiskaltem Blick beugte ich mich vor und erwiderte durch zusammengebissene Zähne: »Es ist mir scheißegal, was Tristan Graecus von mir halten würde.« »Das überrascht mich nicht. Ihr Vater war ein Held. Ein Magier, wie es keinen besseren geben kann. Wie aus seinen Genen eine so selbstsüchtige und unverantwortliche Brut wie Sie hervorgehen konnte, ist mir schleierhaft.« Der Hass in diesen Worten – und in seinem Blick – verschlug mir die Sprache. Noch ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er sich auf dem Absatz umgedreht und war wieder aus meinem Zimmer gerauscht. Ich trat in den Türrahmen und sah ihm hinterher, als er wütend den Flur entlangstürmte. Neben mir wurde eine weitere Tür geöffnet, und ein gehörnter Kopf blickte heraus. Auch Giguhl sah Orpheus einen Moment lang nach. Dann schaute er mich fragend an. »Was war das denn?« Ich atmete langsam aus. »Da scheint jemand nicht sonderlich glücklich darüber zu sein, dass Maisie gestern Abend ein bisschen Spaß haben wollte.« 259
Auf Giguhls Gesicht zeigte sich Besorgnis. »Du glaubst doch nicht, dass er von ihr verlangt, Valva zurück nach Irkalla zu schicken, oder?« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht, Giguhl. Er freut sich jedenfalls nicht darüber, dass Valva hier ist. Aber ich habe keine Ahnung, ob er auch die Macht hat, Maisie zu befehlen, sie wieder wegzuschicken. Ich spreche heute Abend mit ihr und frage mal nach, ob sie schon mehr über diese merkwürdige Verwirrung beim Übertragungszauber weiß. Einverstanden?« Giguhl wollte mir gerade antworten, als hinter ihm ein goldener Arm auftauchte. Valvas Finger umschlangen seinen Arm. »Komm zurück ins Bett, mein kleiner Unheilstifter.« Ihre hohe Stimme war gedämpft, aber unverwechselbar. »Eine Minute. Ich komme gleich, mein hübscher Pfau«, sagte er. Dann wandte er sich wieder an mich. »Sprich mit Maisie.« Ich nickte. »Ich gehe jetzt zur Versammlung des Hekate-Rats. Vielleicht kann ich ja danach in Ruhe mit ihr sprechen.« »Danke, Sabina.« Die goldenen Hände zogen ihn wieder in den Raum, dann schlug die Tür zu. Einige Sekunden später war bereits ein Kichern und Stöhnen zu hören, das im ganzen Flur widerhallte. Ich sandte ein Dankgebet zu Lilith, dass ich mein eigenes Zimmer hatte. Giguhls und Valvas Sex-Marathon hatte mich bereits den ganzen Tag über immer wieder geweckt, und ich hätte mich inzwischen lieber selbst gepfählt, als einer weiteren Runde zuhören zu müssen. Ich packte meine Waffe und schob sie in das Halfter, das ich mir um den Schenkel gebunden hatte. Unter dem Chiton fiel sie nicht weiter auf. Der Rat erlaubte zwar keine Waffen in der Ratskammer, aber was er nicht wusste, konnte er auch nicht verbieten. Nach Lennys Enthüllungen in der Nacht zuvor hatte ich keine Lust, in einem Raum voller Magier zu sitzen, ohne eine Waffe in Reichweite zu haben. Ich brauchte erst noch mehr Übung in meinen neu gewonnenen Zauberkräften, bis ich ohne Waffe auskam. 260
Aber mit der Pistole hatte ich mehr als genug Erfahrung. Und ich würde nicht zögern, diese Erfahrung auch einzusetzen, wenn mir jemand nach dem Leben trachtete. Von meinem Platz in der ersten Reihe konnte man die Anspannung der Versammelten gut spüren. Die Geschehnisse letzte Nacht im Aderlass hatten die Aufregung über die bevorstehende Zusammenkunft noch erhöht. Maisie warf Orpheus immer wieder vorwurfsvolle Blicke zu. Er weigerte sich, sie anzusehen und zog es stattdessen vor, mich finster anzustarren. Ich dagegen richtete mein Augenmerk lieber auf den kleinen Mann, der links von Orpheus saß. Mit seinen hohen Wangenknochen und der schimmernden Haut musste er ein Angehöriger des Feenvolkes sein. In seinem grünen Samtmantel und dem weißen Rüschenhemd steckte ein muskulöser Oberkörper. Die langen braunen Haare bedeckten seine Ohren, aber ich hätte all mein Geld darauf verwettet, dass sie oben spitz zuliefen. Kurz gesagt: Er sah hinreißend aus. Aber das war nicht der Grund, warum ich ihn beobachtete. Verachtung sprach aus dem elegant geschwungenen Mund und verengte die mandelförmigen Augen, während er mich musterte. Sah ganz so aus, als sei der Abgesandte der Königin nicht gerade ein Fan von mir. Da wir uns zuvor noch nie begegnet waren, überraschte mich seine Haltung. Doch noch ehe ich mir Gedanken darüber machen konnte, schlug Orpheus mit seinem kleinen Hammer auf den Tisch. »Hiermit erkläre ich diese Zusammenkunft des altehrwürdigen Rates der Hekate für eröffnet und bitte um Ruhe.« Im Raum wurde es still. Nur hier und da konnte man noch hören, wie jemand hin und her rutschte, um eine bequeme Sitzposition auf diesen unverschämt kleinen Kissen zu finden. Ich sah Maisie an und schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. Sie versuchte es zu erwidern, doch ihre Lippen brachten es nur zu einer gequälten Grimasse. 261
Arme Maisie, dachte ich. Jetzt, da ich um ihre Schwierigkeiten mit den Visionen wusste, konnte ich mir vorstellen, unter welchem enormen Druck sie stand. »Wie Ihr wisst, hat sich der Rat mit der Frage auseinandergesetzt, ob wir den Dominae den Krieg erklären sollen. Wir wissen, Ihr alle wartet auf unsere Entscheidung. Dennoch bitten wir weiterhin um Geduld, während wir die möglichen Konsequenzen abwägen und genau ausloten.« Er hielt inne und nahm einen Schluck Wasser. Ich hatte den Eindruck, als er wolle noch einen Moment abwarten, ehe er weitersprach. »Abgesehen von unseren eigenen Überlegungen stehen wir seit einiger Zeit auch in Verhandlungen mit dem Abgesandten Königin Maeves – Hawthorne Banathsheh.« Er wies mit der Hand auf den Feen-Mann. »Sollte sich der Rat für einen Krieg aussprechen, wird die Unterstützung der Königin ausschlaggebend dafür sein, ob wir diesen auch gewinnen können. Jetzt möchten wir Hawthorne Banathsheh jedoch zuerst einmal ganz herzlich bei uns willkommen heißen und ihm versichern, dass der Rat der Hekate in jedem Falle weiterhin an der Allianz mit dem Feenvolk festhalten will.« Hawthorne nickte herrschaftlich und zeigte ein dünnlippiges Lächeln. »Ratsherr Orpheus, Königin Maeve – möge die Göttin ihr wohlgesonnen sein – schickt ihrerseits die besten Wünsche an alle Mitglieder des hochverehrten Rates sowie an die ehrenwerten Bürger des Magiervolkes. Die Königin ist erfreut, dass es uns gelungen ist, die Verhandlungen zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. Wenn es der Rat der Hekate in seiner Weisheit für angebracht hält, eine Entscheidung zugunsten eines kriegerischen Vorgehens zu treffen, so ist die Königin ihrerseits bereit, dem Rat ihre volle Unterstützung zukommen zu lassen.« Ein aufgeregtes Raunen lief durch den Saal und die Reihen der Magier. Auch ich setzte mich bei dieser Nachricht etwas aufrechter hin. Ich verstand nur nicht, warum Maisie nicht zufriedener wirkte. Schließlich war es sicher auf ihre erfolgreiche Zusam262
menarbeit mit dem Feen-Abgesandten zurückzuführen, dass die Königin ihre Unterstützung zugesagt hatte. Hawthorne lächelte die Zuhörerschaft hochmütig an. »Zusammen wird unsere alte und ehrwürdige Gemeinschaft den Abschaum der Schattengeschlechter endlich auf immer vom Antlitz dieser Erde tilgen – wider die Dominae!« Als lauter Jubel ausbrach, richteten sich die Augen des FeenMannes auf mich. Ich rutschte unruhig auf meinem Kissen hin und her. Was hatte dieser Kerl mit den Magiern ausgehandelt? »Ich danke Euch, Abgesandter Banathsheh«, sagte Orpheus. »Bitte übermittelt der Königin unsere herzlichsten Grüße, wenn Ihr morgen wieder an den Hof zurückkehrt.« Dann wandte er sich Maisie zu. »Wir werden nun der Ehrenwerten Maisie Graecus das Wort übergeben. Maisie?« Seine Stimme klang angespannt, als hätte er lieber nicht mit ihr gesprochen. Es kam mir vor, als brächte er es kaum über sich, sie anzusehen. Maisie erhob sich. Sie stand aufrecht und hielt den Blick nach vorn gerichtet, als sie sprach. »Ich habe nichts zu berichten.« Mit diesen Worten nickte sie Orpheus respektvoll zu und setzte sich wieder. Verwirrtes Gemurmel erhob sich. Offensichtlich waren die Magier enttäuscht, dass ihnen ihr Orakel keine neuen Visionen zu bieten hatte. Orpheus runzelte die Stirn und lehnte sich zu Maisie. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, doch sie schüttelte nur den Kopf, die Lippen fest aufeinandergepresst. Der Magier starrte sie einen Moment lang an. Sie erwiderte seinen Blick so kalt, dass er es nicht wagte, sie wegen ihrer fehlenden Visionen an den Pranger zu stellen. Schließlich seufzte er und wandte sich wieder der Menge zu. »Die Versammlung ist aufgehoben.« Wütende Rufe waren zu hören. Die Magier verlangten nach Antworten, aber Orpheus stürmte wortlos aus dem Raum. Der Feen-Abgesandte erhob sich ebenfalls und begann mit den anderen Ratsmitgliedern zu sprechen. Zweifelsohne spielte er seine 263
diplomatische Rolle mit großer Würde. Ich erhob mich und trat zu Maisie. Sie sammelte gerade ihre Papiere ein und wich den wütenden Blicken der Magier aus, die an ihr vorbei dem Ausgang zueilten. »Maisie?« Sie blickte auf. »Hi, Sabina.« Sie seufzte. Ich wies mit dem Kinn in Richtung Tür. »Da ist aber jemand ziemlich schlecht gelaunt. Geht es dir gut?« Sie sah mich gequält an. »Das Einzige, was mich in Orpheus’ Augen jetzt noch retten kann, ist eine richtige Vorhersage über die Abstimmung.« Sie beugte sich vor und fügte flüsternd hinzu: »Das ist auch der wahre Grund, warum man noch nicht abgestimmt hat, obwohl wir die Königin jetzt hinter uns wissen.« Die Nachricht schien sie nicht glücklich zu machen. »Man hätte eigentlich annehmen können, dass die Unterstützung der Königin bei dir mehr Freude hervorruft.« Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein wehmütiges Lächeln. »Der Rat ist von diesem Ergebnis begeistert. Königin Maeve stellt ihre Armee und ihre sämtlichen Ressourcen zur Verfügung, wenn der Rat den Krieg erklärt.« Ich runzelte die Stirn, da ich ihren bitteren Tonfall nicht verstand. »Ist das denn nicht gut?« Sie zuckte mit den Achseln. »In gewisser Weise schon. Aber ich fürchte mich vor dem Preis, den wir alle zahlen müssen, wenn wirklich ein Krieg ausbricht.« Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte, um sie zu beruhigen. Seit dem Moment, in dem ich herausgefunden hatte, dass die Dominae auf einen Krieg aus waren, wusste ich, dass diese Geschichte nicht für alle gut ausgehen würde. Doch mit jedem Tag, der vorüberging, schien ein Krieg unvermeidlicher zu werden. »Hör zu«, sagte ich und versuchte etwas ungeschickt das Thema zu wechseln. »Ich hoffe, du hast wegen letzter Nacht nicht allzu große Probleme bekommen.«
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»Mach dir keine Sorgen. Orpheus war zwar nicht gerade begeistert, aber er wird sich schon wieder beruhigen. Momentan macht ihm vor allem die Abstimmung Sorgen.« Eine Sekunde lang verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. »Außerdem ist es mir eigentlich egal, ob er wütend auf mich ist.« »Hattest du schon die Möglichkeit, mit Rhea über diese Dämonen-Sache zu sprechen?« Maisie nickte. »Ja, sie stimmt mit Giguhls Theorie überein. Ich habe den Zauber nicht falsch gewirkt. Es gibt also keine andere Erklärung, warum Valva jetzt an mich gebunden ist.« »Tut mir leid.« »Das muss es nicht.« Sie winkte ab. »Ehrlich gesagt, finde ich es recht aufregend, jetzt meinen eigenen Dämon zu haben.« »Wirklich? Du schickst sie also nicht nach Irkalla zurück?« »Nein, ich werde sie bei mir behalten. Aus irgendeinem Grund scheint das Universum zu meinen, ich brauche jetzt einen Dämon. Wer bin ich, das infrage zu stellen? Außerdem ist sie ziemlich cool.« Ich ignorierte die Bemerkung über das Universum und konzentrierte mich auf den zweiten Teil ihrer Aussage. Außer der Tatsache, dass Valva beim Sex laut schrie, wusste ich bisher nichts über sie. »In welcher Hinsicht cool?« »Hast du gewusst, dass sie sich in einen Pfau verwandeln kann?«, fragte Maisie. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber das ergibt doch Sinn. Wenn sich ein Unheilstifter-Dämon in einen Kater verwandeln kann, liegt es nahe, dass eine Eitelkeitsdämonin zu einem Pfau wird.« Maisie lachte. »Das ist noch nicht alles. Sie ist auch ein echtes Organisationstalent. Während Giguhl heute tagsüber ein Schläfchen gehalten hat, hat sie mein ganzes Studio aufgeräumt. Ich hatte keine Ahnung, dass ich noch zwölf Tuben Alizarin-Rot habe. Sie hat sogar meine Leinwände der Größe nach geordnet.
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Vermutlich wird sie mir eine Menge Geld sparen, weil sie Dinge entdeckt, die ich schon lange verloren geglaubt habe.« Keine von uns erwähnte die Tatsache, dass Maisie vermutlich ohnehin keine neuen Farben mehr brauchen würde, wenn sie keine Visionen hatte. Trotzdem war ich froh zu sehen, dass sie sich offenbar über ihre neue Begleiterin freute. »Das ist toll, Maisie.« Sie nickte gedankenverloren. »Allerdings sollten wir uns vielleicht eine Art Besuchsplan für die beiden überlegen. Sobald Giguhl wieder wach war, ist sie nämlich sofort in seinem Zimmer verschwunden.« Ich lachte. »Da könntest du Recht haben. Sie haben mich den ganzen Tag über immer wieder geweckt.« »Maisie?«, unterbrach uns Damara, die zu uns trat. Sie gönnte mir nicht einmal ein Kopfnicken, sondern drehte mir den Rücken zu. »Rhea möchte mit dir über das Blutmondfest reden.« »Oh!«, erwiderte Maisie. »Sabina, tut mir leid. Ich habe Rhea vorhin versprochen, dass wir heute gleich noch das Fest planen.« Ich hob eine Hand. »Kein Problem. Ich wollte sowieso in die Turnhalle und etwas trainieren.« Maisie nickte. »Gut. Ich hole dich ab, wenn ich mit Rhea fertig bin. Es gibt nämlich noch eine Überraschung für dich.« Ich zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Was denn?« Sie lächelte. »Warte es ab. Bis nachher!« Damit eilte sie mit der missmutigen Damara davon. Während ich mich auf den Weg von der Ratskammer in die Turnhalle machte, war ich guter Dinge. Natürlich zogen noch immer dunkle Sturmwolken über den Himmel, aber seit langer Zeit hatte ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, das Glas sei halbvoll und nicht halbleer. Maisie und ich kamen uns näher, mein Magietraining ging gut voran, und der Rat hatte endlich die Unterstützung der Feenkönigin erhalten – was bedeutete, Adam käme bald zurück. Ja, im Moment sah das Leben echt cool aus.
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Die Turnhalle war – der Göttin sei Dank – leer. Ich hatte es so eilig gehabt, mit dem Training anzufangen, dass ich sogar vergessen hatte, meinen zeremoniellen Chiton auszuziehen. Aber jetzt wollte ich keine wertvolle Zeit damit vertrödeln, den ganzen Weg zurückzulaufen und mich umzuziehen. Der Rock war weit genug, um sich darin bewegen zu können, und das ärmellose Oberteil würde mich auch beim Boxen nicht stören. Ich zog die Waffe aus dem Schenkelhalfter und legte sie auf eine Bank, damit sie mich nicht störte. Vermutlich hätte ich meine Zauberkünste verbessern sollen, aber da Rhea mit Maisie beschäftigt war, beschloss ich zur Abwechslung einmal ein kleines Krafttraining einzuschieben. Ich hatte meinem Körper schon so lange kein richtiges Workout mehr gegönnt und wollte mal wieder richtig ins Schwitzen kommen. Ich stülpte also Boxhandschuhe über und ging schnurstracks zum Boxsack, der in einer Ecke hing. Schon bald fanden meine Schläge und Kicks den richtigen Rhythmus, und mein Gehirn konnte sich auf andere Dinge konzentrieren. Mir wurde bewusst, dass ich seit Tagen nicht mehr an meine Großmutter gedacht hatte. Als ich in New York eingetroffen war, hatte mich vor allem der Wunsch nach Rache angetrieben. Und auch wenn ich noch immer wollte, dass sie für den Verrat an mir blutete, stellte ich doch fest, dass dieses Bedürfnis nicht mehr ganz so stark war. Irgendwann würden wir uns sicher wieder gegenüberstehen. Doch in der Zwischenzeit gab es wichtigere Dinge, die mir am Herzen lagen. Maisies Prophezeiung zum Beispiel. Oder der drohende Krieg und der Wunsch, herauszufinden, wer mich umbringen wollte und warum. 267
Ich hatte Maisie nichts gesagt, aber insgeheim ärgerte mich die Tatsache, dass der Rat so wenig zu unternehmen schien, um die Magierin ausfindig zu machen, die Eurynome auf mich angesetzt hatte. Ich hatte es nicht erwähnt, weil der Rat momentan wichtigere Dinge zu erledigen hatte. Aber ich hoffte doch, dass Lennys Mordversuch an Giguhl sie ein wenig unter Druck setzen würde. Meine Schwester hatte mir erzählt, Lenny säße in einer Zelle im Keller dieses Gebäudes und warte darauf, dass sein Fall vor Gericht käme. Doch wer auch immer ihn auf Giguhl gehetzt hatte, war nicht dumm. Auch eine Gerichtsverhandlung würde den wahren Schuldigen wahrscheinlich nicht enthüllen. Ich stellte mir das Gesicht einer Magierin auf dem Boxsack vor. Wer auch immer diese Schlampe sein mochte – sie würde dafür büßen müssen, dass sie es gewagt hatte, Giguhl anzugreifen. Mir nach dem Leben zu trachten, war eine Sache, aber meine Freunde bedrohte niemand. Meine Knöchel begannen zu bluten, doch ich boxte weiter. Die Schmerzen ließen mich meinen Ärger vergessen. Mein Atem ging in kurzen Stößen. In Gedanken kehrte ich zu meiner Unterhaltung mit Michael Romulus zurück. Er schien anzunehmen, dass der Magier, der versucht hatte, mich umzubringen, für jemand anders gearbeitet hatte. Aber für wen? Wumm, wumm, wumm … Ich schlug noch schneller zu. Falls Michael Recht hatte, stellte sich als Nächstes die Frage, warum jemand dafür sorgen wollte, dass ich keine Verbündeten hatte. Rumms! Ich verpasste dem Sack zwei seitliche Kicks. Dann joggte ich einmal um ihn herum, während ich ihn mit Tritten bearbeitete und dafür bestrafte, dass er mir keine Antworten lieferte. Endlich gab der Boxsack nach und platzte auf. Sand ergoss sich auf den Boden wie Blut aus einer Wunde. Ich keuchte atemlos und hob die Hände. Meine Finger pochten und schmerzten,
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als ich die Boxhandschuhe auszog. Meine Knöchel sahen aus, als hätte ich sie mit einem Hammer bearbeitet. Ich seufzte. Gewalt war so einfach: Töten oder getötet werden. Verwunden oder verwundet werden. In diesem Schwarz und Weiß steckte eine befriedigende Symmetrie. Magier dagegen schienen Grauschattierungen zu bevorzugen. Je länger ich unter ihnen weilte, desto mehr Grau kroch auch in mein Gehirn – und desto mehr hatte ich das Gefühl, durch einen dichten Nebel zu waten. »Ich glaube, der ist tot.« Ich wirbelte herum und nahm Verteidigungshaltung ein, so überrascht war ich über den Eindringling. Hawthorne Banathsheh stand in der Tür und hielt beide Hände hoch. »Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Ich richtete mich auf und zwang meine Muskeln dazu, sich zu entspannen. Mit pochendem Herzen zuckte ich gespielt lässig mit den Achseln. »Ich habe Sie nur nicht hereinkommen hören. Das ist alles.« Er trat in die Turnhalle. »Das wundert mich nicht.« Er wies mit dem Kinn in Richtung des kaputten Boxsacks. Ich verschränkte die Arme. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ehrlich gesagt bin ich gerade nicht in Plauderlaune.« Hawthorne ignorierte diese Bemerkung und kam näher. »Ich hatte leider noch keine Chance, mich Ihnen persönlich vorzustellen.« Da ich mich gut an seine verächtlichen Blicke während der Ratsversammlung erinnerte, hob ich das Kinn. »Ich weiß, wer Sie sind, und Sie brauchen nicht so tun, als wüssten Sie nicht, wer ich bin. Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen, und gehen Sie dann wieder.« »Wie Sie wünschen.« Damit zog er einen Degen aus der Scheide, die ihm um die Hüfte hing.
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Ich hätte überrascht sein sollen. Oder wütend. Stattdessen verspürte ich nur Zynismus und Missmut. »Stecken Sie das wieder ein, Peter Pan. Sie könnten sich wehtun.« Man hätte annehmen können, dass ein Angehöriger des Feenvolkes im Angesicht einer erfahrenen Auftragskillerin ein wenig nervös wirkten sollte. Hawthorne Banathsheh besaß die Gelassenheit eines professionellen Mörders. »Der ist aus Feenstahl«, erklärte er, als spräche er über das Wetter. »Wussten Sie, dass diese Waffen extra dafür entwickelt wurden, um Vampiren den Kopf abzuschlagen? Das ist einer der Gründe, aus denen der Rat der Hekate so sehr auf die Unterstützung unserer Königin gehofft hat.« Zum ersten Mal, seit er den Degen gezogen hatte, begann mein Herz schneller zu schlagen. Er bewegte die Klinge, so dass sich das Licht darin widerspiegelte. Das Metall schimmerte bunt – tatsächlich eine magische Waffe. Ich verlagerte mein Gewicht auf die Fersen. »Nicht uninteressant.« Unauffällig warf ich einen Blick zu der Bank, auf der meine Waffe lag. »Was mich allerdings mehr interessieren würde, ist die Frage, warum Sie diesen Degen in meiner Gegenwart ziehen.« Er trat nach rechts, um mir den Weg abzuschneiden. »Das ist eigentlich ganz einfach. Sie stellen eine Bedrohung für unsere Pläne dar.« »Wessen Pläne?« Er lachte und trat einen weiteren Schritt nach rechts, so dass er zwischen mir und meiner Waffe stand. »Leider ist diese Information geheim.« »Wie auch immer«, erwiderte ich. »Wie wollen Sie dem Rat erklären, dass Sie mich umgebracht haben?« Er neigte den Kopf zur Seite und lächelte mich eisig an. »Seien Sie nicht so naiv, Sabina. Ihr Temperament ist genauso bekannt wie Ihre Vergangenheit als Mörderin. Glauben Sie wirklich, dass irgendjemand Fragen stellen wird, wenn ich erzähle, Sie hätten 270
mich angegriffen? Das kann ich mir kaum vorstellen. Vor allem, da doch alle auf die Unterstützung meiner Königin hoffen.« Ich musste es zugeben: Dumm war der Kerl nicht. Einen Moment lang überlegte ich, mich einfach auf ihn zu stürzen und die Sache zu beenden. Aber Klingen sind gefährlich. Wann immer etwas Scharfes mit ins Spiel kommt, gibt es Schnitte. Da er derjenige mit dem Degen war, brauchte man keinen Doktortitel, um zu wissen, wer diesmal bluten würde. Ich war mir zwar nicht sicher, wie die Feen ihr Stahl bearbeiteten, aber man konnte annehmen, dass sie es mit einem ziemlich unangenehmen Zauber belegt hatten. Lust, herauszufinden, wie dieser genau aussah, hatte ich keine. Stattdessen tat ich also so, als wolle ich nach links ausweichen, rollte dann aber nach rechts ab. Hawthorne fiel auf die Finte herein, war aber schnell genug, um seinen Fehler zu korrigieren. Die Klinge zischte knapp über meinem Kopf durch die Luft. Ich landete mit dem Rücken auf der Bank. Wenn es mir gelang, Hawthornes Attacken noch paar Minuten zu entgehen, könnte ich meine Waffe erreichen und dem Ganzen ein Ende bereiten. Doch als er das nächste Mal mit dem Degen ausholte, fiel etwas Glänzendes aus seinem Rüschenhemd. Normalerweise wäre ich beim Anblick einer Kette um den Hals eines Mannes nicht überrascht gewesen. Doch als ich den goldenen achtzackigen Sternanhänger erblickte, zögerte ich. Hawthorne war schnell wie der Blitz. Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte er mir den linken Arm aufgeschlitzt. Die Wunde ging nicht tief, brannte aber wie Höllenfeuer. Ich hatte also Recht gehabt: Der Degen war mit einem Zauber belegt worden. Meine Haut brannte noch einen Moment lang, ehe sie völlig taub wurde. Ich hechtete auf meine Waffe zu und versuchte sie zu packen. Doch Hawthorne schlug erneut auf mich ein. Die Waffe wurde beiseitegeschleudert, und ein weiterer Schnitt zierte meinen Arm.
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Die Pistole fiel zu Boden, und ich konnte meinen Arm nicht mehr fühlen. Mein Herz pochte wie wild, und kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich fiel zu Boden. Hawthornes Klinge zischte knapp über meinem Nacken durch die Luft. Ich warf mich zur Seite. Fluchend versuchte ich auszuweichen, als dieser Feen-Arsch erneut auf mich losging. Es lag auf der Hand, dass ich nicht die ganze Nacht auf dem Boden herumrollen und auf Hilfe warten konnte. Es war also an der Zeit, mich der einzigen Waffe zu bedienen, die ich noch hatte. Hawthornes Stiefel landete auf meinem Brustkorb. »Bleib liegen und nimm dein Schicksal an.« Die Zeit schien stillzustehen. Hawthornes Degen raste in großem Bogen durch die Luft auf mich zu. In meinem Inneren explodierte die Energie. Der Schock war so heftig, dass ich einen Schrei ausstieß. Die Augen des Feen-Mannes weiteten sich einen Moment lang, bevor der Zauber aus meinen Pupillen ihn direkt in den Bauch traf. Sein grünes Jackett fing sofort Feuer. Er riss den Mund auf und ließ ein verblüfftes Keuchen hören. Klirrend fiel der Degen fiel zu Boden. Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf, als ich seine Schreie hörte. Flammen züngelten um Hawthornes Körper wie hungrige Mäuler, bereit ihn zu verzehren. Er rannte im Kreis, als sei es noch möglich, den Qualen zu entkommen. Doch seine Bewegungen ließen das Feuer nur noch heißer und heller lodern. Es ist eine Sache, eine Strohpuppe brennen zu sehen. Aber zuschauen zu müssen, wie ein Feen-Mann bei lebendigem Leibe verbrannte, war etwas anderes. Etwas grauenvoll anderes. Der Gestank verkohlter Haut stieg mir in die Nase. Ich schaffte es, mich auf die Knie zu hieven. Hilflos sah ich zu. Mein schlechtes Gewissen meldete sich so laut zu Wort wie selten, als mir klar wurde, was ich da gerade getan hatte. Ja – er hatte versucht, mich umzubringen. Aber niemand verdiente es, auf diese Weise zu sterben. 272
Schließlich brach er wimmernd neben den Fenstern zusammen. Das Feuer brannte noch immer. Seine Haare waren fast völlig verschwunden, seine helle Haut schimmerte durch die Flammen. Seine Lippen waren verkohlt, nur die Zähne waren noch zu erkennen – ein groteskes Lächeln, das mich würgen ließ. Langsam kehrte das Gefühl in meine Arme zurück. Ich versuchte einen Moment lang zu vergessen, was ich gerade getan hatte, und hob die Waffe auf. Langsam humpelte ich zu den Fenstern. Dort stand ich über dem schwelenden Körper und lauschte. Ein leises Zischen kam aus seinem Mund. Die lidlosen Augen blickten mich starr an. Ich ging in die Hocke und legte mein Ohr an seine verbrannten Lippen. Das Knochengesicht stöhnte und ließ mich zurückschrecken. Dieses erschütternde Geräusch gab den Ausschlag. Ich drückte ab.
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Sie fanden mich neben dem Leichnam – die Pistole noch in der Hand und die Augen auf den goldenen Anhänger um den Hals des Mannes gerichtet. Ich hörte zuerst, wie Maisie einen leisen Schrei ausstieß. Dann folgte der Fluch eines Mannes. Schritte kamen über den Holzboden auf mich zugeeilt. Ich blickte langsam auf und blinzelte. »Adam?« Sein schönes Gesicht war vor Sorge zerfurcht, als er sich vor mir auf die Knie niederließ. »Sabina? Sprich mit mir.« Seine Hände strichen über mein Gesicht und tasteten es nach Verletzungen ab. Als er meine Arme erreichte, wurden seine Au273
gen schmaler. Die Haut hatte sich bereits wieder geschlossen, war aber noch immer heiß und wund. »Gütige Götter!«, stöhnte Maisie und presste beim Anblick des verkohlten Leichnams die Hand auf den Mund. »Sabina – was ist passiert?« »Ich … Ich weiß es nicht. Ich war gerade beim Trainieren, als er auf einmal hereinkam und seinen Degen zog.« »Was? Warum sollte er das tun?«, fragte Maisie. »Ich weiß nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, mir den Kopf abzuschlagen, um eine Erklärung abzugeben. Aber ich glaube, ich weiß, für wen er gearbeitet hat.« Ich zeigte auf das Amulett um seinen Hals. »Es war offenbar nicht nur Königin Maeve.« Meine Schwester versuchte, einen Blick auf das Schmuckstück zu werfen, schaffte es jedoch nicht, den grauenvollen Anblick länger als einen Moment zu ertragen. Adam, der härter im Nehmen war, stand auf und beugte sich stirnrunzelnd über den FeenMann. »Ist es das, was ich glaube?«, fragte er. »Was denn?«, wollte Maisie wissen. »Es sieht mir ganz nach einem Amulett der Nod-Kaste aus«, sagte ich. »Ich habe so etwas schon einmal in einem Magierladen in L.A. gesehen. Als ich nachfragte, wurde der Ladenbesitzer sichtlich nervös. Er hat behauptet, er hätte es von einer Fee erhalten, deren Mutter eine Kastenangehörige gewesen sei. Außerdem flehte er mich an, niemandem davon zu erzählen. Er wollte kein Aufmerksamkeit auf sich oder das Amulett lenken.« Maisie sah Adam an, der mit ernster Miene nickte. »Ich selbst habe noch nie eines mit eigenen Augen gesehen, aber ich habe schon davon gehört.« »Aber selbst wenn er ein Mitglied der Kaste ist, erklärt das noch lange nicht, warum er dich umbringen wollte«, meinte Maisie. Sie wirkte um Jahre gealtert. »Das sieht wirklich böse aus, Sabina. Wirklich böse.«
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»Kann man wohl laut sagen«, stimmte ich ihr zu. »Ich habe ihn nicht dazu aufgefordert, mich umzubringen, Maisie.« Sie zögerte. »Bist du dir absolut sicher, dass er zuerst auf dich losging?« Ich blickte zu Adam und entdeckte auch in seinen Augen dieselbe Frage. Als ich das Misstrauen der beiden bemerkte, schien etwas in mir zu zerbrechen. Irgendwie hatte ich wohl von Anfang an angenommen, sie würden mir nicht glauben. Wahrscheinlich hätte ich mir selbst nicht geglaubt. Die beiden hatten mich mit einer rauchenden Pistole in der Hand entdeckt – neben einem rauchenden Leichnam. Trotzdem traf mich der Zweifel in ihren Augen tief. Noch ehe ich mich verteidigen konnte, stürmte Orpheus in die Turnhalle. »Was zum Teufel geht hier vor sich?« Er blieb ruckartig stehen, als er den Toten sah. Sein Gesicht verzerrte sich vor Hass. »Wie konnten Sie das tun?« »Orpheus …«, begann Maisie, wurde aber unterbrochen. »Lazarus, nehmen Sie Sabina fest.« Adam zögerte. In diesem Augenblick stürmte ein weiteres Dutzend Magier in den Raum. Rhea und Damara waren unter ihnen. Giguhl und einige Wachmänner eilten ihnen hinterher. Ich hatte keine Ahnung, wie sich das alles so schnell herumgesprochen hatte. »Lazarus! Ich befehle Ihnen, diese Mörderin sofort zu verhaften!«, brüllte Orpheus über die schockierten Rufe der Neuankömmlinge hinweg. Adam trat einen Schritt vor. »Sir, ich denke, wir sollten erst einmal hören, was sie zu sagen hat.« Orpheus funkelte ihn zornig an. »Stellen Sie etwa den Anführer des Hekate-Rats infrage, Junge? Ich habe Ihnen einen Befehl erteilt.«
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Adam hob den Kopf und sah ihn direkt an. »Sie behauptet, es wäre in Notwehr geschehen, Sir. Sollte sie nicht die Chance bekommen, zu erklären, was vorgefallen ist?« »Mir ist völlig egal, wer den ersten Schritt getan hat. Jemand mit Sabinas Hintergrund sollte doch in der Lage sein, einen Angehörigen des Feenvolkes zu besiegen, ohne ihn gleich zu töten. Dem Zustand seines Körpers nach zu urteilen, hat sie ihn nicht nur mit Magie gefoltert, sondern ihm auch noch eine Kugel in den Kopf gejagt. Das war keine Notwehr.« »Sabina hätte so etwas nie ohne Grund getan«, mischte sich nun auch Giguhl ein. »Giguhl«, sagte ich leise warnend. Ich war ihm zwar dankbar, dass er versuchte, mich zu verteidigen, aber ich wollte nicht, dass er auch noch mit hineingezogen wurde. Falls sich Orpheus durchsetzen und man mich verhaften würde, konnte Giguhl vielleicht mit verurteilt werden, nur weil er mein Dämon war. Zwei Wachleute hatten mich inzwischen an den Armen gepackt. Ich wehrte mich nicht dagegen, da ich wusste, es hätte meine Situation nur noch verschlechtert. In der Menge der Zuschauer stand Rhea an der Tür. Sie sah mich an, doch statt Enttäuschung oder eine Verurteilung in ihren Augen zu finden, entdeckte ich eher etwas wie Nachdenklichkeit. Und vielleicht auch ein wenig Trauer. »Der Dämon hat Recht«, sagte sie jetzt mit lauter Stimme über die Köpfe der anderen hinweg. »Sabina mag zwar temperamentvoll sein, aber ich glaube keine Sekunde lang, dass sie den Abgesandten ohne Grund kaltblütig ermordet hat.« Orpheus wandte sich Rhea zu. Die Tatsache, dass sie mich verteidigte, nahm ihm ein wenig den Wind aus den Segeln, auch wenn er nicht einlenken wollte. Jetzt nachzugeben, würde ihn unentschlossen und schwach wirken lassen. »Ganz gleich, welche Gründe sie gehabt haben mag – sie hat jedenfalls einen hochrangigen Angehörigen des Hofes von Königin Maeve umgebracht«, erklärte er. »Mir bleibt keine andere Wahl, als sie einzusperren, 276
bis wir mehr wissen.« Er nickte den Männern zu, die mich noch immer festhielten. »Bringt sie in die Haftzelle.« »Orpheus – nein!«, flehte Maisie. Tränen strömten ihr über die Wangen. Er blickte sie voll Bedauern an. »Wenn die Königin erfährt, dass ich eine Ausnahme gemacht habe, weil sie deine Schwester ist, würde das alles noch schlimmer machen. Versteh das bitte.« In Adams Kiefer zuckte ein Muskel. »Ich bringe sie in die Zelle.« »Sie können froh sein, wenn ich Sie nicht wegen Gehorsamsverweigerung gleich mit einsperren lasse«, fuhr ihn Orpheus an. »Ihr beide«, sagte er zu den beiden Wachen. »Los.« Grobe Hände rissen mich nach vorn und brachten mich aus der Turnhalle. Ich ließ mich bereitwillig abführen, denn ich wünschte mir augenblicklich vor allem Stille. Einen Moment der Einsamkeit, in dem ich zusammenbrechen konnte, ohne dass mir jemand dabei zusah. Als ich an Adam vorbeiging, warf er mir einen sehnsüchtigen Blick zu. Unmerklich schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nicht, dass er meinetwegen noch mehr Probleme bekam. Ich war es nicht wert. Schließlich war ich es, die mit dem Mord an dem Abgesandten alles zerstört hatte, was Maisie und er mühsam aufgebaut hatten. Er nickte, trat neben Maisie und legte ihr einen Arm um die Schultern. Ihr ganzer Körper bebte, so heftig schluchzte sie. Als ich an Giguhl vorbeikam, sagte ich zu ihm: »Bleib in Maisies Nähe. Und was immer du tust – mach nichts Unüberlegtes, okay?« Der Dämon ballte seine Klauen, als hätte er die Wachen am liebsten verprügelt. Stattdessen nickte er nur kurz. Er würde mir gehorchen. Ich zwang mich zu einem Lächeln und ließ mich dann von den Wachen weiter durch die Halle führen. Bevor wir die Tür erreichten, hob Rhea die Hand, um die Männer noch einmal zum Stehen zu bringen. 277
»Bleib ruhig und hab Vertrauen«, sagte sie zu mir. Ich nickte, um sie wissen zu lassen, dass ich ihre Unterstützung zu schätzen wusste. Aber Vertrauen und ich waren nicht gerade die besten Freunde, und ich bezweifelte stark, dass der Aufenthalt in einer Gefängniszelle das ändern würde. Zehn Minuten später schlugen mir Gitterstangen, durchsetzt mit Messing, ins Gesicht. Ich kauerte mich an die Zellenwand. Dort schlang ich die Arme um mich, da ich befürchtete, sonst in tausend Stücke zu zerspringen. Da war ein Riss in der Wand, einen Meter vor mir. Ein winziger Spalt. Ich starrte eine ganze Zeit lang darauf. Es war nicht so, als hätte ich aufgegeben. Ich hatte nur angefangen, der Wahrheit ins Auge zu blicken und sie zu akzeptieren. Diesmal hatte ich so richtig Mist gebaut. Ich wusste, wie viel von der Unterstützung der Königin abhing, und jetzt hatte ich alles, wofür Maisie so hart gearbeitet hatte, in Gefahr gebracht. Aber Orpheus hatte trotzdem Unrecht. Wenn ich Hawthorne nicht umgebracht hätte, wäre dieser als mein Mörder durchgekommen. Daran bestand kein Zweifel. Ich hatte es in seinen Augen gesehen, dass er mich umbringen wollte. Doch die Tatsache, dass mir keine andere Wahl geblieben war, machte die ganze Situation nicht weniger schwierig. Selbst wenn ich den Rat davon überzeugen konnte, dass mich der Feen-Mann mehr oder weniger dazu gezwungen hatte, ihn zu töten, würde man mir trotzdem vorwerfen, dass ich die Chance, die Königin auf die Seite der Magier zu bringen, für immer ruiniert hatte. In diesem Moment kroch eine Kakerlake aus dem Spalt. Während ich zusah, wie sie über den Boden hastete, dachte ich an Hawthornes Amulett. Mein Gefühl sagte mir, dass ich Recht hatte mit der Nod-Kaste. Ich dachte nach. Versuchte, die ganze Sache aus allen nur erdenklichen Blickwinkeln zu betrachten. Doch sosehr ich mich auch bemühte, war ich doch nicht in der Lage, eine Erklärung dafür zu finden, warum mich die Kaste tot sehen woll278
te. Ich war noch nie einem Mitglied dieser Organisation begegnet – zumindest nicht wissentlich. Und selbst wenn ich einem begegnet wäre, welche Bedrohung konnte ich für die Kaste darstellen? Vor der Zelle war ein Knistern von Energie zu hören. Ich spürte es nicht, da ich hinter dem Messinggitter eingesperrt war, aber das Knistern erreichte mein Ohr. Ich blinzelte und hob den Blick gerade in dem Moment, als sich Maisie auf der anderen Seite der Gitterstäbe materialisierte. »Wir müssen uns beeilen«, sagte sie und fasste in eine Tasche ihres Rocks, aus der sie einen Schlüssel zog. Ich sah zu, wie sie die Zellentür aufschloss, bewegte mich aber nicht, als diese aufging. »Sabina! Wir müssen uns beeilen!« Wieder blinzelte ich. Sie schnipste mit den Fingern vor meinem Gesicht. »Du musst dich zusammenreißen, Sabina. Du musst hier auf der Stelle raus!« Langsam hob ich den Kopf und sah sie ausdruckslos an. »Wieso?« »Wenn man dich der Königin übergibt, wird sie dich hinrichten lassen.« »Nein«, erwiderte ich langsam. »Ich meine: Warum hilfst du mir?« Sie seufzte. »Weil du meine Schwester bist. Und weil ich weiß, dass du diesen Kerl nicht umgebracht hättest, wenn du nicht dazu gezwungen worden wärst.« »Mach dir doch nichts vor, Maisie. Ich bin eine Killerin. Schon vergessen? Ich brauche keinen Grund, um zu töten.« Sie packte mich an den Armen und schüttelte mich. »Hör auf! Ich weiß, dass du dich nur gewehrt hast. Und ich werde Orpheus nicht erlauben, dich als Opferlamm an die Königin auszuliefern.« »Ich habe ihn verbrannt, Maisie.« Mir versagte beinahe die Stimme. Ihr Gesicht wirkte ernst. »Und dann hast du ihn von seinen Qualen erlöst. Du hast das Richtige getan, Sabina. Hör auf, dir 279
Vorwürfe zu machen. Er wollte dich umbringen.« Sie nahm meine Hand. »Adam und ich werden Orpheus bearbeiten, bis er seine Meinung ändert. Aber bis dahin musst du von hier verschwinden, bis sich die Wogen etwas geglättet haben.« Ich schloss die Augen. Wie hatte alles in so kurzer Zeit nur so katastrophal schieflaufen können? »Wieso ist Adam schon zurück? Ich dachte, er käme erst zum Fest.« »Als ich mit Hawthorne zu einer Übereinkunft gekommen war …« Ihre Stimme zitterte bei seinem Namen. »… konnte ich Orpheus überreden, Adam schon früher zurückzurufen. Das war auch meine Überraschung für dich.« Ich blickte in die tränennassen blauen Augen meiner Schwester. Sie hatte geplant, die Rolle des Amor zu übernehmen und ein Treffen zwischen mir und Adam zu arrangieren. Ich hatte alles ruiniert. »Tut mir leid.« »Nein, mir tut es leid. Du verdienst mehr als das hier.« Eine Träne lief ihr über die Wange. Ich lachte freudlos auf. »Nein, tue ich nicht. Aber deine Hilfe bedeutet mir viel, ganz gleich, wie falsch sie auch sein mag.« »Ich habe mir gedacht, es wäre das Beste, dich bei Slade zu verstecken. Glaubst du, er würde dich einige Tage bei sich untertauchen lassen? Ich würde dir Bescheid geben, sobald es wieder sicher für dich ist, zu uns zurückzukehren.« Der Vorschlag war schlau. Slade wollte sowieso, dass ich für ihn arbeitete. Also hatte er auch bestimmt nichts dagegen, mich für ein paar Tage bei sich aufzunehmen, wenn ich währenddessen ein paar Jobs für ihn erledigte. »Und was ist mit Giguhl?«, fragte ich. »Ich werde mich um ihn kümmern.« Ich nickte. Das war das Beste. Schließlich wollte ich ihn nicht von Valva trennen, nur weil ich mal wieder Mist gebaut hatte. »Richte Adam von mir aus …« Was konnte ich ihm sagen? Vermutlich bedauerte er schon lange, dass er mich überhaupt 280
nach New York gebracht hatte. »Richte ihm einfach schöne Grüße von mir aus. Okay?« Maisie schluckte hörbar. »Das wird nicht nötig sein. Sobald du wieder zurück bist, könnt ihr beide euch alles sagen, was ihr wollt.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »In Ordnung.« In diesem Moment hatte ich nicht den Mut, ihr zu erklären, dass ich nie mehr zurückkommen würde.
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Mein Körper juckte und kribbelte wie verrückt. Ein eiskalter Wind schlug mir ins Gesicht, riss an meinen Haaren und brachte meine Zähne zum Klappern. Ein schrilles Jaulen hämmerte auf mein Trommelfell ein. So laut, dass ich glaubte, gleich den Verstand zu verlieren. Mein Hirn tat sein Bestes, diese Sinneswahrnehmungen miteinander in Einklang zu bringen. Aber meine Gedanken waren so ungreifbar wie Quecksilber. Auf einmal wurde der Wind schwächer. Der Druck auf meinen Ohren ließ nach, und jeder einzelne Nerv meines Körpers schien in der plötzliche Stille zu vibrieren. Ich blinzelte und blickte mich um. Ich befand mich in der inzwischen vertrauten Umgebung des Aderlasses. Hinter der Bar war Earl gerade damit beschäftigt gewesen, ein Glas zu trocknen. Jetzt war er erstarrt und blickte mich fassungslos an. »Hi, Earl.« Langsam stellte er das Glas ab. »Hi.« »Ist Slade da?« Er schüttelte sich einen Moment lang und nickte dann. »In seinem Büro.« 281
Ich ließ den verblüfften Barkeeper stehen und wandte mich der Treppe zu. Während ich darauf zuging, bemerkte ich, dass mich Maisie in meinen eigenen Klamotten hierhergeschickt hatte. Möge die Göttin meine Schwester beschützen! Wenn ich in Slades Bar in einem blutbefleckten Chiton aufgetaucht wäre, hätte das nur weitere Fragen heraufbeschworen. Und die wollte ich nicht beantworten. Ich drückte die Schultern durch und versuchte nicht daran zu denken, was ich getan hatte. Als ich nach kurzem Klopfen Slades Bürotür öffnete, blickte Slade von seinem Schreibtisch auf. Er hatte sich gerade über einen offenen Aktenordner gebeugt und blickte recht finster drein. Doch als er mich sah, erhellte sich seine Miene sichtbar, und er lächelte. »Sabina!« Er stand auf und kam auf mich zu. »Das ist aber eine Überraschung.« »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich dein Angebot doch annehmen möchte.« Slade blieb stehen und runzelte die Stirn. »Wirklich?« Er musterte mich neugierig. Ich war mir nicht sicher, was er sah, aber irgendetwas in seiner Miene veränderte sich. Auf einmal wirkte er nicht mehr überrascht, sondern besorgt. Ich schluckte. Ich hasste ihn dafür, dass ich es tatsächlich aussprechen musste. »Ja, ich möchte für dich arbeiten, Slade.« »Du siehst beschissen aus.« Er legte mir einen Arm um die Schultern. »Setz dich doch erst mal. Dann reden wir in Ruhe darüber.« Ich schüttelte den Kopf, als ich sein Mitgefühl bemerkte, und befreite mich von seinem Arm. »Es gibt nichts zu reden. Entweder willst du, dass ich für dich arbeite, oder du willst es nicht.« Slade betrachtete mich eine Weile schweigend. Ich fragte mich, ob ich so gebrochen aussah, wie ich mich fühlte. Schließlich sagte er: »Mit den Magiern hat es nicht so gut geklappt, was?«
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Ich schloss die Augen. »Ich habe doch gesagt, ich will nicht darüber reden.« »Ich verstehe das jetzt mal als ein Ja.« Er hielt inne. Mitgefühl lag in seinen Augen, als er mich erneut musterte. »Ich könnte möglicherweise tatsächlich ein paar Aufgaben für dich finden.« Als ich Slade diesmal ansah, begannen meine Augen zu brennen. Keine Ahnung, ob aus Erleichterung oder aus Reue. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. »Es wäre nur für ein paar Tage, und ich bin bereit, auf der Stelle anzufangen.« »Sabina, ich finde nicht …« Ich hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Wenn es bei dir nicht klappt, suche ich mir etwas anderes. Keine Sorge.« Er blies Luft durch die Zähne. »Brauchst du Geld? Ist es das?« »Ich muss so schnell wie möglich die Stadt verlassen, wenn du es genau wissen willst.« Er sah mich erstaunt an. »So schlimm?« Ich nickte. Er ließ sich auf der Couch nieder und atmete erst einmal tief durch. »Hör zu. Ich weiß, dass es mich nichts angeht und so, aber vielleicht solltest du momentan keine überstürzten Entscheidungen treffen.« »Du hast Recht«, erwiderte ich kühl. »Es geht dich nichts an.« »Sabina …« Ich biss die Zähne zusammen. »Es geht mir gut, verdammt nochmal!« Doch die Tatsache, dass sich meine Stimme beinahe überschlug, verriet mich. »Klar tut es das«, meinte er mit einem wissenden Blick. »Hör mal, ich werde dich nicht bedrängen, mir dein Herz auszuschütten. Du sollst nur wissen, dass ich da bin, wenn du mit jemandem reden willst. Okay?« Ich wollte nicht reden. In Wahrheit hatte ich in puncto Reden ein für alle Mal genug. Erschöpfung umklammerte mich wie eine Schlingpflanze. Ich unterdrückte ein Gähnen. 283
»Du bist todmüde. Wieso übernachtest du nicht erst mal hier? Hinter meinem Büro gibt es ein kleines Zimmer mit einem Futon. Es ist zwar nicht viel, aber zumindest bist du dort ungestört. Und in Sicherheit.« Slade hatte natürlich verstanden, dass mir Sicherheit in diesem Fall wesentlich wichtiger war als Bequemlichkeit. »Danke, Slade.« Er zog einen Mundwinkel hoch. »Wozu sind Freunde denn da?« Dann sah er mich auffordernd an. »Komm, die Sonne geht bald auf. Ich zeige dir das Zimmer, und dann mache ich mich auf den Heimweg.« Ich folgte ihm durch sein Büro zu einem Bücherschrank, der an der gegenüberliegenden Wand stand. Dort tastete er nach einem versteckten Schalter. Das Regal glitt beinahe lautlos beiseite. Dahinter befand sich eine Stahltür, die in die Wand eingelassen war. »Nicht schlecht«, sagte ich. Er zuckte mit den Achseln und benutzte einen Schlüssel, um das Sicherheitsschloss zu öffnen. »Ich habe dieses Zimmer vor Jahren als Panikraum einrichten lassen. Ich schlafe hier, wenn ich erfahre, dass ein Neuling versuchen will, mir das Revier streitig zu machen.« »Passiert das oft?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.« Dann bedeutete er mir, zuerst in die dunkle Kammer zu treten. Er betätigte einen Schalter, und Licht erhellte den kleinen Raum. Slade hatte Recht. Es war nichts Besonderes. Ein Futon stand an einer Wand. Ein kleiner Kühlschrank surrte in der Ecke und ein altmodischer Fernseher war an einen noch älteren Videorekorder angeschlossen. Auf dem Boden daneben stapelten sich ein paar Kassetten. Eine weitere Tür führte vermutlich in ein kleines Badezimmer. »Was hat sich geändert?«, wollte ich wissen. Da es zu dem Zimmer an sich nichts zu sagen gab, konzentrierte ich mich auf das, was er gerade gesagt hatte. 284
»Vor zwanzig Jahren lagen die Dinge noch anders. Da gab es ständig Kämpfe ums Revier. Der Rat der Hekate machte sich Sorgen, die Spannungen zwischen uns könnten dazu führen, dass die Menschen uns entdeckten. Deshalb trat er an mich heran, und wir kamen zu einer Übereinkunft. Ich bekam die alleinigen Rechte, ihre Produkte mit hohem Gewinn zu verkaufen. Im Gegenzug erklärte ich mich bereit, hier aufzuräumen und die Vamps und Werwölfe im Griff zu halten.« Er zuckte mit den Achseln. »Es kommt immer wieder mal jemand Neues in die Stadt und versucht mir das Ruder zu entreißen. Aber normalerweise kommen sie nicht weit. Ich habe sichergestellt, dass es in aller Interesse ist, wenn ich die Zügel in der Hand behalte.« Plötzlich betrachtete ich Slade mit anderen Augen. Klar war er kein Heiliger, aber das, was er erreicht hatte, war beeindruckend. Und zudem war es ihm gelungen, dem Joch der Dominae zu entkommen und sich ein neues Leben aufzubauen. Wenn in New York zu bleiben nicht bedeutet hätte, dass ich ständig irgendwelchen Magiern über den Weg laufen würde, hätte ich beinahe in Betracht gezogen, längerfristig für ihn zu arbeiten. »Wie auch immer … Ich sollte besser gehen, bevor die Sonne aufgeht. Meine Wohnung ist nur ein paar Blocks von hier entfernt.« Er holte ein Handy aus der Tasche seines Jacketts. »Meine Nummer ist einprogrammiert. Drück einfach auf ›Eins‹. Falls du etwas brauchst, lass es mich wissen.« Ich nahm das Handy und steckte es in die Tasche. »Danke.« Er sah sich noch einmal um. »Ach ja, im Kühlschrank sind ein paar Blutkonserven. Earl tauscht sie regelmäßig aus, damit sie frisch sind. Bedien dich.« Ich schnitt eine Grimasse. Blut in Tüten. Igitt. »Okay, ich bin dann mal weg. Versuch dich etwas auszuruhen, ja?« Er legte mir die Hand auf die Wange und strich mit dem Daumen über meine Haut. Ich überlegte, ob ich mich über diesen voreiligen Annäherungsversuch ärgern sollte, aber wenn ich ehr285
lich war, hatte die Berührung etwas Beruhigendes. Nach meiner Zeit unter den Magiern und ihren seltsamen Gesetzen und Regeln fühlte ich mich in Slades Gegenwart fast heimisch. Entspannt. Wie wenn man in eine alte Lieblingsjeans schlüpft. Doch leider kam Slade näher. Der Blick in seinen Augen zeigte mir, dass seine Gedanken weniger platonisch waren als die meinen. Ich war so erschöpft, dass meine Reflexe mich im Stich ließen. Er beugte sich vor, während ich noch über die Tatsache nachdachte, dass er mich gleich küssen würde. Gerade in dem Moment, in dem mir klar wurde, dass ich ihn aufhalten musste, änderte er die Taktik und küsste mich auf die Wange. »Gute Nacht, Sabina.« Ich sah ihm nach, als er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Dann hörte ich das Bücherregal wieder an seinen alten Platz rücken. Einige Minuten später lauschte ich den Geräuschen in der Bar. Slade und Earl schlossen ab. Erst als ich mir sicher war, dass ich das Gebäude für mich hatte, legte ich mich auf den Futon. Wenige Sekunden später war ich eingeschlafen. An jenem Tag träumte ich, dass ich auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte. Während ich vor Angst und Qual schrie, blickte ich über die Menge hinweg. Dort stand Maisie und schluchzte an Orpheus’ Schulter. Adam und Slade boxten miteinander, während Giguhl ihnen zujubelte. Stryx hingegen saß auf Lavinias Arm, während sie um meinen Scheiterhaufen tanzte.
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Man musste Slade zugutehalten, dass er eine Stunde lang durchhielt, bis er mich nicht mehr ertrug.
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»Also gut, verdammt nochmal!« Er knallte den Stift auf den Schreibtisch. »Hör endlich auf, hier rumzutigern. Du läufst ja noch ein Loch in meinen Teppich.« Nachdem ich den ganzen Tag über von schrecklichen Träumen geplagt worden war, nur um beim Aufwachen eine Tüte mit kaltem Blut neben mir vorzufinden, war ich dementsprechend schlecht gelaunt. Ich verbrachte eine Stunde in der Bar, wo ich versuchte, einen Streit vom Zaun zu brechen, bis Slade mich in sein Büro rief. Ich blieb stehen und lächelte. »Hast du endlich was für mich?« Als ich ihn zuvor gefragt hatte, war er nicht sonderlich entgegenkommend gewesen. Er hatte erklärt, es sei noch zu früh. Wahrscheinlich hatte er sogar Recht, aber das kümmerte mich wenig. Ich brauchte dringend etwas, womit ich mich ablenken konnte, sonst würde ich durchdrehen. Das spürte ich deutlich. »Ja, hab ich. Aber freu dich nicht zu früh. Es ist nur ein kleiner Job. Und zwar gibt es da einen Vamp, der mir noch Blutsteuer schuldet. Ich möchte, dass du ihn besuchst und ihn davon überzeugst, dass es auch in seinem Interesse ist, seine Schulden zu begleichen.« Ich hatte einige Jahre als Geldeintreiberin für die Dominae in L.A. gearbeitet. Zu meinem damaligen Job hatte es gehört, Nasen zu brechen und den Abschaum dieser Erde zu jagen, damit sie ihre Steuern bezahlten. Ehe ich zur ordentlichen Auftragskillerin befördert worden war, hatte ich jeden Vampirclubbesitzer, Pornoverkäufer und Zuhälter der Stadt der Engel kennengelernt. Ich wusste also, wie man einen unwilligen Schuldner dazu brachte, seine Einstellung zu ändern. »Wie überzeugend soll ich sein?« »Sehr überzeugend. Dieser Kerl ist ein echtes Arschloch. Hat mich jahrelang betrogen, bis ich endlich rausbekommen habe, dass er seine Bücher frisiert. Und jetzt schuldet er mir schon wieder seit über zwei Wochen die Blutsteuer.«
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Ich ballte die Faust und konnte es kaum abwarten, sie endlich wieder einzusetzen. »Ich kümmere mich darum.« Tiny, der Kleine, Malone arbeitete nicht nur hauptberuflich als Zuhälter, sondern besaß auch einen Stripclub namens FangBang. Dieser lag in Alphabet City und bediente ausschließlich Vampire. Im ersten Stock vermietete Tiny Zimmer an die Nymphen, die er für diejenigen Kunden bereithielt, die ihren Blowjob ohne Reißzähne bevorzugten. Der Club bestand aus einem großen höhlenartigen Raum, der in rotes Licht getaucht war. Auf einer Bühne im hinteren Teil ließ eine Vampirin gerade zu »Blood Sugar Sex Magic« die Hüften kreisen. Ihre Brüste waren echt – Vampire vertrugen keine Implantate – und mit silbernem Glitzerpuder bedeckt, der zu ihrem Tanga passte. Eine zweite Frau lag auf der Bar und ließ Blut aus einer Flasche auf ihre Titten tropfen. Ein paar gierige Vampire sahen fasziniert zu, wie sie sich das Blut von den Brustwarzen leckte. Ich ging schnurstracks zur Bar am anderen Ende des Raums. Ein junger Vampir beäugte mich neugierig. Er saß auf einem Barhocker und hatte sein rotes Haar mit Gel zurückgekämmt. Seine rechte Hand machte sich in seinem Schoß zu schaffen. Ich vermied es, ihn anzusehen, und versuchte die Aufmerksamkeit des Barkeepers auf mich zu ziehen. Der drei Zentner schwere Klotz stand neben der Frau auf der Bar und stellte sicher, dass keiner der Anwesenden auf die Idee kam, sie umsonst zu begrabschen. Als er mich schließlich bemerkte, hob er einen Finger. Ich nutzte die Gelegenheit, mir den Club genauer anzusehen. Mehrere Kerle hockten vor der Bühne und beobachteten, wie sich die Stripperin im silbernen Tanga an der Stange rieb. Im ganzen Raum verteilt führten Mädchen vor Männern, deren Gesichter im Schatten lagen, private Tanzeinlagen vor. Außer der Eingangstür konnte ich nur noch einen anderen Ausgang entdecken, der in 288
einen Gang zu führen schien – wahrscheinlich zu den »Bluträumen«. Diese ähnelten den VIP-Lounges in den Stripclubs der Sterblichen. Allerdings wurde hier während der Privataufführungen Blut statt Champagner serviert. Das war für eine solche Art von Etablissement typisch. Endlich kam der Barkeeper zu mir und sah mich finster an. »Was?« Tiny musste offensichtlich dringend mal mit seinen Angestellten über ihre Service-Orientierung sprechen. Ich lächelte den Kotzbrocken süßlich an. »Ich suche Tiny Malone.« Er wies mit dem Kopf in eine dunkle Ecke des Clubs. »Da drüben.« Ich kniff die Augen zusammen, um durch den Nebel aus Zigarettenrauch und Pheromonen etwas zu erkennen. Tatsächlich saß dort ein übergewichtiger Vampir, umgeben von Stripperinnen, und paffte an einer Zigarre. »Das ist Tiny?« Der Barkeeper warf mir einen verächtlichen Blick zu. »Das nennt sich Ironie. Kannst ja mal im Wörterbuch nachschlagen.« Damit drehte er sich weg, um einen Mann anzubrüllen, der nach dem Mädchen grapschte, das noch immer auf der Theke lag. Ich holte tief Luft und bahnte mir einen Weg zu Tiny. Er war von so vielen Mädchen umgeben, dass ich mir eine Möglichkeit einfallen lassen musste, ihn allein zu erwischen. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich die einzige Frau im Stripclub war, die keine bunten Nippelcover und keinen Tanga trug. Ich zog mein Tanktop etwas nach unten und rückte den BH zurecht, um mehr Dekolleté zu zeigen. Als ich den Tisch erreichte, baute ich mich vor Tiny auf. Er sah mich gelangweilt an. Ich redete mir ein, seine Reaktion war eine Nebenwirkung der ständigen nackten Titten um ihn herum, kein Hinweis auf meine eigenen körperlichen Vorzüge. »Sind Sie Tiny?« Ich legte etwas Sex in meine Stimme. »Wer will das wissen?«
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»Ich heiße Candy. Ich habe gehört, Sie suchen nach neuen Mädchen.« Natürlich hatte ich nichts dergleichen gehört, aber meiner Erfahrung nach ließen Typen wie Tiny – selbst wenn sie niemanden suchten – keine Gelegenheit aus, sich ein neues Talent in einer kleinen Privatvorführung anzusehen. Tiny hievte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Hast du so was schon mal gemacht?« Seine Augen musterten meine Brüste, während er redete. »Ja, ich habe in der Tit Crypt in L.A. gearbeitet«, erklärte ich und nannte damit den Namen eines Clubs, den ich tatsächlich von früher kannte. Seine Augen wurden schmal. »Deine Titten sind ganz schön klein.« Gütige Götter. Dieser Kerl war wirklich widerwärtig. Ich nahm mir vor, von Slade für diese Qualen ein paar hundert Dollar extra zu verlangen. Ich zwang mich zu einem lässigen Achselzucken. »Bisher hat sich noch niemand beschwert.« »Okay«, sagte er. »Dann zeig sie uns mal.« Ich hob das Kinn. »Wie bitte?« »Deine Titten, Kleine. Ich muss immer erst die Ware sehen.« Kalter Schweiß brach mir aus. Im Grunde hätte ich so etwas erwarten müssen. Aber allein die Idee, mich vor diesem Ekel auszuziehen, verursachte mir Übelkeit. Wenn ich mich allerdings weigerte, würde ich keine Chance bekommen, das Schwein alleine zu sprechen. »Wie wäre es mit einer kleinen Privatvorstellung?« Mir kam bei meinen Worten fast die Galle hoch. Ich schluckte und fuhr fort: »Ich würde Ihnen gerne meine Show zeigen.« »Können wir machen.« Tinys Augen begannen zu funkeln. »Warum gehen wir nicht nach hinten in mein Büro?« Er wollte aufstehen und stieß dabei eine der Stripperinnen beiseite. Sie beschwerte sich, doch der finstere Blick ihres Bosses ließ sie wieder verstummen. Er versuchte, seinen gewaltigen 290
Körper aus der Ecke zu wuchten. Eine der Frauen fasste ihn an den Händen und zog so lange, bis Tinys Bauch über den Tisch flutschte. Sein Körper fiel nach vorn und riss beinahe die Stripperin mit sich. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht laut loszulachen. Das Lachen verging mir jedoch, als er mir den Arm um die Schultern legte. Jetzt musste ich mich darauf konzentrieren, ihm nicht mitten im Club in die Eier zu treten. Tinys Hand strich über meine Brust, als er mich durch einen schwarzen Vorhang neben der Bühne führte. Ich schüttelte mich innerlich, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Gleich wäre diese Scharade vorbei, und ich könnte Tiny zeigen, was ich wirklich draufhatte. Der dunkle Gang, in den wir traten, roch nach abgestandenem Bier und illegalem Sex. Ein Vorhang zu meiner Rechten war einen Spaltbreit zur Seite geschoben, so dass ich einen kirschroten Kopf sehen konnte, der über dem Schoß eines Kerls auf und ab hüpfte. Der Kunde hatte eine Hand auf den Kopf der Frau gelegt, während er mit der anderen Blut aus einem Champagnerglas trank. Echte Klasse, der Laden. Tiny gab sich nicht die geringste Mühe, ein wenig mit mir zu plaudern. Schweigend führte er mich zu einem Raum am Ende des Ganges. Daneben befand sich eine schwere Metalltür, über der ein Neonschild mit der Aufschrift AUSGANG hing. Ich hatte noch nie zuvor ein Büro mit einem Bett gesehen. Das Zimmer war fast zu klein, um sowohl das Bett als auch Tiny zu beherbergen. Er ließ sich auf dem Rand der Matratze nieder. Dann zündete er sich eine Zigarette an und warf das Feuerzeug achtlos beiseite. »Also«, sagte er und klopfte auf seinen Schoß. »Komm schon. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.« Ich lächelte und versperrte erst einmal die Tür. Er lehnte sich zurück. Als ich mich ihm wieder zuwandte, konnte ich es nicht vermeiden, einen Blick auf sein Glied zu werfen. Es sah ganz so
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aus, als hätte ich den wahren Grund für seinen Spitznamen entdeckt. Tiny, der Kleine. Na klar, Ironie … Tiny fasste nach seinem Penis und ließ ihn wie einen Köder vor meinen Augen hin und her wackeln. »Zeig mir, was du draufhast.« Ich stolzierte durchs Zimmer, ein aufreizendes Lächeln auf den Lippen. »Mit dem größten Vergnügen.« Damit packte ich ihn am Hemdkragen und riss seinen Hintern vom Bett. Meine Faust durfte endlich tun, wonach sie sich sehnte, und traf ihn ins Gesicht. »Oh, da mag es jemand etwas rauer.« Blut färbte seinen Mundwinkel rot. »Halt die Klappe, Arschloch.« Ich verpasste ihm einen weiteren Schlag – diesmal in den Magen. »Der Schatten lässt herzlich grüßen.« Allmählich schien Tiny zu begreifen. Er stieß mich beiseite, so dass ich gegen den Tisch knallte. Mehrere Dildos flogen auf den Boden und verteilten sich im ganzen Raum. Ich sprang auf Tiny zu und packte ihn am Hemd, ehe er die Tür erreichte. Mit Mühe schaffte ich es, meinen Arm um seinen Hals zu legen und ihn zurückzureißen. »Du bist mit deiner Zahlung im Hintertreffen, Tiny«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Der Schatten ist darüber nicht glücklich.« »Der Scheck ist in der Post!« Seine Stimme klang eine Oktave höher als zuvor. »Ich schwöre es.« Ich verpasste seiner Niere einen scharfen Hieb. Er grunzte und versuchte, sich von mir zu befreien. Ich riss seinen linken Arm mit der freien Hand nach hinten und drückte zu. »Das reicht nicht, Tiny.« Er keuchte. Schweiß bedeckte seinen Nacken. »Was willst du?« Ich hatte keine Ahnung, wie viel Geld Tiny Slade schuldete. Die Tatsache, dass Slade nicht ausdrücklich ein paar Knochenbrüche verlangt hatte, ließ mich allerdings vermuten, dass es 292
nicht um viel gehen konnte. Slade hatte mich auch nicht gebeten, mit einer Anzahlung der Schulden zurückzukommen. Ich beschloss, den Kerl noch etwas einzuschüchtern. »Du hast vierundzwanzig Stunden Zeit. Wenn der Schatten bis morgen sein Geld nicht hat, komme ich wieder.« Ich riss den Arm noch etwas höher. Tiny stöhnte auf, als ihm der Schmerz durch den Körper schoss. Ich beugte mich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Das willst du bestimmt nicht. Wenn ich nämlich noch einmal einen Fuß in dieses Drecksloch setzen muss, wird man dich nicht mehr Tiny Malone, sondern Kein-SchwanzMalone nennen.« Er wimmerte. »Haben wir uns verstanden, Tiny?« Er schluckte hörbar. »J… Ja.« »Braver Junge.« Ich ließ seinen Arm los und versetzte ihm einen leichten Schlag auf die Schulter. Eigentlich hatte ich geplant, ihn auf dem Bett sitzen zu lassen und so schnell wie möglich zu verschwinden. Doch nachdem ich ihn losgelassen hatte, flippte Tiny aus. Er wirbelte herum und verpasste mir einen Schlag gegen das Kinn. Meine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander, und ich fiel rücklings auf das Bett. Tinys Wampe klatschte auf mich und drückte mich auf die Matratze. Er legte seine Wurstfinger um meinen Hals und begann zuzudrücken. »Keiner wagt es, mich in meinem Club zu bedrohen!«, knurrte er. Kleine Funken begannen vor meinen Augen zu tanzen, als er mir immer mehr die Luft abschnürte. Ich bekam seinen kleinen Finger zu fassen und bog ihn nach hinten. Doch Tiny war viel zu wütend und voller Adrenalin, um das wahrzunehmen. Falls sein Finger brach, reagierte er jedenfalls nicht. Wenn überhaupt, wurde sein Würgegriff nur noch fester. »Ich werde dir deinen Kopf abhacken und ihn dem Schatten per Nachnahme schicken.« 293
Ich tastete die Matratze nach irgendetwas ab, das mir helfen könnte. Ein brennendes Gefühl an meiner Handfläche durchbrach den Schleier, den die fehlende Luft vor mein Bewusstsein schob. Die Zigarette, die Tiny fallen gelassen hatte … Ich griff danach und bohrte sie in Tinys linkes Auge. Der Druck auf meinen Hals ließ nach, und Luft rauschte wieder in meine Lungen. Tiny war nach hinten gefallen. Er presste beide Hände auf das verletzte Auge. Ich sprang auf, bereit, dieses Höllenloch so schnell wie möglich zu verlassen. In diesem Moment stieg mir der Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase. Zusammen mit Tinys Schreien beförderte mich der Geruch wieder zurück zu jenem Moment, als ich Hawthorne verbrennen sah. Ein saurer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, und ich musste würgen. Auf einmal wurde der Wunsch, dieses Zimmer zu verlassen, zu einem verzweifelten Bedürfnis. Ich kletterte über Tiny hinweg und stolperte zu Tür. Meine Finger zerrten an dem Riegel, den ich zuvor vorgeschoben hatte. Endlich konnte ich ihn öffnen. Ich riss die Tür auf und stürzte in den Flur hinaus. Zwei Schritte später rannte ich durch den Hinterausgang in die Gasse hinaus, die sich hinter dem Gebäude befand. In meinem Mund sammelte sich warmer Speichel. Ich schaffte es drei Meter weiter, ehe ich mich neben einer Mülltonne übergab. Die Blutkonserven, die ich am frühen Abend zu mir genommen hatte, kamen wieder hoch und ergossen sich auf das schmutzige Pflaster. Als alles draußen war, folgten bittere Galle und ein trockenes Würgen. Ich fiel auf die Knie und wischte mir mit zitternder Hand den Mund ab. Das Bedürfnis, mich hinzulegen, war überwältigend. Doch ich konnte meinem Körper den Luxus einer Pause nicht gönnen. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor Tinys Männer ihn entdeckten und sich auf die Suche nach mir machen würden.
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Ich zog mich an der Mülltonne hoch und tastete nach dem Handy, das Slade mir am Morgen zuvor gegeben hatte. Auf schwachen Beinen wankte ich aus der Gasse. Er hob nach dem ersten Klingeln ab. »Slade? Ich brauche deine Hilfe.«
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Er holte mich einige Blocks vom Club entfernt ab. Als ich in den Wagen stieg, musterte er mich mit besorgter Miene. »Bist du verletzt?« Ich schüttelte den Kopf und schlug die Tür zu. Er sah mich noch einige Sekunden lang aufmerksam an, dann entschied er sich, mir zu glauben. Er fädelte seinen schwarzen BMW in den Verkehr ein. Die Fahrt zurück zum Aderlass dauerte nicht lange, aber die Spannung, die in der Luft lag, war deutlich zu spüren. Ich merkte, wie Slades unausgesprochene Fragen gegen die Mauer drängten, die ich um mich herum errichtet hatte. Doch er hielt den Mund, was ich ihm hoch anrechnete. Ich war froh, dass er mich nicht bedrängte. Als wir sein Büro erreichten, fühlte sich mein Kopf an wie ein Dampfkochtopf. Ich trat sogleich zu dem Bücherregal und eilte durch die Tür dahinter in mein Zimmer. Slade kam mir nicht nach. Als ich mich in dem winzigen Badezimmer einschloss, hörte ich, wie in seinem Büro Eiswürfel in ein Glas geworfen wurden. Im Spiegel starrte mich mein Gesicht mit den Augen einer Fremden an. Statt des üblichen Blaus war meine Iris fast schwarz, 295
als läge ein Schatten der Angst über ihr. Ich blinzelte und rieb mir mit zitternden Fingern über die Lider. Ohne ein weiteres Mal in den Spiegel zu blicken, spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und spülte mir den Mund aus, um den sauren Geschmack loszuwerden. Was war nur los mit mir? Zu viele beunruhigende Gedankenund Erinnerungsfetzen schossen mir durch den Kopf, bis ich das Gefühl hatte, wahnsinnig zu werden, wenn ich noch länger versuchte, das alles mit mir allein auszumachen. Auf einmal wurde die Ruhe, die ich im Badezimmer gesucht hatte, geradezu bedrückend. Ich kehrte in Slades Büro zurück. Slade lehnte an seinem Schreibtisch und wirkte sehr nachdenklich, als ich hereinkam. Ich setzte mich vor ihn in einen Sessel, und er reichte mir ein Glas Whisky. Ich nahm es und hielt es mir einen Moment lang unter die Nase. Der rauchige Duft drehte mir fast den Magen um. Gleichzeitig fühlte ich mich innerlich eiskalt. So kalt, als ob ich nie mehr warm werden würde. Ich achtete also nicht auf den Geruch, sondern leerte das Glas mit einem Zug. Der Whisky setzte meinen Rachen in Brand, bevor er sich wie eine warme Hand um meinen Magen legte. Slade nippte an seinem eigenen Whisky und sah zu, wie ich mein Glas wieder füllte. »Willst du reden?« Ich schüttelte den Kopf, denn ich hatte das Gefühl, ich würde untergehen, sobald ich einmal die Schleusen geöffnet hätte. Slade nickte. Ihn schien meine Weigerung nicht zu verwundern. »Muss ich annehmen, mit Tiny ist etwas schiefgelaufen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.« Das war nicht einmal eine Lüge. Ich hatte erreicht, wofür Slade mich engagiert hatte. Seine Nachricht war überbracht worden. Er dachte einen Moment lang nach. »Gut. Möchtest du, dass ich gehe, damit du allein sein kannst?« Ich riss den Kopf hoch. Die Vorstellung, jetzt allein zu sein, jagte mir auf einmal eine Riesenangst ein. Allein hätte ich nichts anderes als meine düsteren Gedanken. Slade wartete geduldig auf 296
meine Antwort. Er hatte sein Jackett ausgezogen und lehnte in Anzughose und einem weißen Hemd mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln an seinem Schreibtisch. Er strahlte lässiges Selbstbewusstsein aus. Ein Selbstbewusstsein, das im krassen Gegensatz zu meiner eigenen Unsicherheit und Angst stand. Als ich ihn so musterte, verschob sich etwas in meiner Wahrnehmung. Plötzlich war mein Wunsch, dass er blieb, so heftig, dass er zu einem Bedürfnis wurde. Ich brauchte Slade. Er schien die Veränderung in mir zu spüren und streckte mir seine Hand entgegen. Ich beobachtete ihn noch eine Weile. Die goldenen Flecken in seinen haselnussbraunen Augen schimmerten warm. Zitternd legte ich meine kalten Finger in seine heiße Hand. Als er sanft zog, ließ ich mich darauf ein, und fand mich auf einmal in seinen Armen wieder. Einen Moment lang versuchte ich noch, mir einzureden, es sei nur eine freundschaftliche, tröstende Umarmung. Aber in Wahrheit wusste ich es besser. Das taten wir beide. Mein Gesicht lag an seinem Hals, und ich atmete den Kupfergeruch seiner Haut ein. Nachdem ich so lange vom Sandelholzduft der Magier umgeben gewesen war, wirkte Slades Geruch auf mich, als käme ich nach Hause. Ich hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Ich konnte so tun, als ob sich alles wie durch Zauberei in Wohlgefallen auflösen und ich in mein Leben unter den Magiern zurückkehren würde. In diesem Szenario hätten Adam und ich vielleicht eine Chance. Doch ein Teil von mir war sich nicht einmal sicher, ob ich das wirklich wollte. Jedenfalls nicht mehr. In Wahrheit wollte Adam, dass ich jemand wurde, der ich nicht war. Seitdem wir uns kannten, hatte er mich immer wieder dazu aufgefordert, mich zu ändern und die magische Seite meines Wesens anzuerkennen. Aber ganz offensichtlich war das Magierleben nichts für mich, und es hatte mir auch nicht weitergeholfen, so zu tun. Damit blieb mir noch Szenario zwei. Der Vampir, der mich gerade in den Armen hielt, verlangte nicht, dass ich mich änderte. 297
Und er fühlte sich so warm an, so lebendig. Ich versuchte, etwas von dieser Lebendigkeit in mich aufzunehmen, schaffte es aber nicht. Jedenfalls nicht auf diese Weise. Slade flüsterte meinen Namen. Ich hob den Kopf, um in seine leidenschaftlichen Augen zu blicken. Einen Moment lang zögerte er, als ob er erwartete, dass ich auflachen oder davonlaufen würde. Doch ich begegnete seinem Blick, ohne zu zögern. Es war an der Zeit, die Vergangenheit hinter mir zu lassen und nach vorn zu blicken. Einen Augenblick später wärmten seine Lippen die meinen. Ich schloss die Augen und ließ mich fallen. Sein Mund schmeckte angenehm nach Whisky. Warum tust du das? Die Stimme in meinem Kopf war wohl mein Gewissen oder auch mein Selbsterhaltungstrieb. Vielleicht auch einfach nur gesunder Vampirverstand. Jedenfalls hörte ich nicht hin. Als mein verräterisches Hirn versuchte, Adams Gesicht vor meinem inneren Auge entstehen zu lassen, warf ich eine Tür in mir zu und verriegelte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Etwas tief in meinem Inneren – der pochende, wunde, verletzliche Teil – sehnte sich nach all dem. Nach dem Duft, dem Gefühl, dem Geschmack von Slade. Gemeinsam linderten sie die Ruhelosigkeit, die mich seit Wochen im Griff hatte. Es fühlte sich gut an, dass er die Führung übernahm. Ich hatte so viel Zeit mit Kämpfen verbracht, dass ich mich ihm jetzt fast erleichtert hingab. Er stöhnte und küsste mich noch leidenschaftlicher. Seine Hände fuhren durch meine Haare und rissen schmerzhaft meinen Kopf nach hinten. Ja. Bestrafe mich. Ich knabberte mit meinen Reißzähnen an seinen Lippen. Der metallische Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus. Die Intensität seines Vampirbluts ließ mir das Adrenalin
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noch schneller durch die Adern rauschen. Es entzündete einen kleinen Funken in meinem Bauch – und darunter. Die Tatsache, dass Blut ins Spiel kam, erhöhte das Tempo. Slade drückte mich gegen seinen Schreibtisch, zog mir das Tanktop über den Kopf und enthüllte meinen schwarzen Spitzen-BH. Schon bald landete auch dieser neben dem Top auf dem Boden. Dann wanderte Slades heißer, feuchter Mund über meinen Körper. Meine Brustwarzen schwollen an und zogen sich zusammen. Reißzähne fuhren über meine empfindliche Haut und hinterließen scharfen Schmerz. Ich biss die Zähne zusammen und packte sein rotbraunes Haar. Die Mischung aus Lust und Schmerz brachte mich fast zum Höhepunkt. Die Begierde überwältigte mich. Das hier würde keine süße Wiedervereinigung werden und auch keine ernsthafte Suche nach gegenseitiger Erfüllung. Ich war nicht länger in der Lage, mir Gedanken darüber zu machen, was richtig und was falsch war. Meine Nerven lagen blank, und das Einzige, was sie jetzt noch beruhigen konnte, war Erlösung. Slade spürte mein Verlangen und fasste nach meinen Hüften, um mich auf die Tischplatte zu heben. Dann schob er sich zwischen meine Schenkel und drückte sich gegen mich. Der Stoff zwischen unseren Körpern, seine Härte und meine Feuchtigkeit entfachten eine köstliche Spannung. Er knabberte an meinem Hals und atmete heiß auf meine Halsschlagader. »Ich würde dich am liebsten bei lebendigem Leib verspeisen.« Bei einem Vampir keine leere Drohung. Ich schob ihn von mir. »Keine Venen. Nimm mich einfach so.« Ein Lächeln lag auf seinen vollen Lippen. »Mit dem größten Vergnügen.« Er legte seine warmen Hände auf mein Schlüsselbein und schob mich nach hinten. Ich stieß die Papiere hinunter, die auf dem Tisch lagen, und ließ mich zurückfallen. Das Licht über uns
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krönte Slade mit dem Heiligenschein eines gefallenen Engels, aber sein Gesicht lag im Schatten. Gut. Seine Hände an meinem Reißverschluss. Die enge Jeans über meinen Hüften. Ich hob den Po, um sie leichter loszuwerden. Ohne Scham spreizte ich die Beine. Kühle Luft umspielte mein erhitztes Fleisch und erhöhte die Spannung. Slade hatte mir die Hose ausgezogen, den Slip aber noch an Ort und Stelle gelassen. Nicht aus Sorge um meine Keuschheit, sondern um ihn mir vom Körper zu reißen. Der Stoff gab nach. Nachdem er auf dem Boden gelandet war, beobachtete ich, wie mich sein erhitzter Blick liebkoste. Ich hätte mich ausgeliefert fühlen müssen, verletzlich. Doch stattdessen fühlte ich mich stark. Erfüllt vom heiligen Wissen um die weibliche Macht, mit der ich diesen Mann beherrschen konnte. Slade zog mich näher an den Rand des Tisches, damit er leichter in mich eindringen könnte. Endlich drängte die Spitze seines Glieds gegen meine Öffnung. Er fuhr ein oder zwei Mal darüber, um sich an meiner Lust zu befeuchten. Der Druck nahm zu, dann war er in mir. Ich drückte den Rücken durch und schlang meine Beine um seine Taille, um ihn tiefer in mich aufzunehmen. Er kam meinem Wunsch nach, seine Hüften stießen mich schneller, härter, tiefer. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, seine Halsmuskeln waren vor Anstrengung angespannt. Ich konnte seine Schlagader pulsieren sehen. Sie schien meine Reißzähne geradezu einzuladen. Der Duft von warmem Blut und wildem Sex stieg wie feiner Nebel um uns auf. Meine Eckzähne pochten. Mein Raubtierinstinkt drängte mich dazu, von Slade zu trinken, während er immer wieder in mich eindrang. Wollte den Kreis schließen. Aber mit Slade wollte ich eine solche Verbindung nicht eingehen. Für einen Vampir gibt es keine größere Intimität. Um mich von meinem Blutdurst abzulenken, löste ich meine Beine von seinen Hüften und stützte stattdessen meine Füße am 300
Rand des Tisches ab. Ich stützte mich auf meine Ellenbogen und benutzte diese neue Position, um ebenso heftig loszulegen wie Slade. Wir stießen aufeinander wie tektonische Platten. Schon bald begann das Magma in mir zu brodeln, und ein Erdbeben entwickelte sich tief in meinem Becken. Es breitete sich über meinen ganzen Körper aus und wurde dabei immer intensiver. Ich schloss die Augen und überließ mich dem bittersüßen Vergessen.
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Schweißüberströmt und mit pochendem Herzen wachte ich auf. Es dauerte eine Sekunde, bis ich mich daran erinnerte, wo ich war. Ich wusste zwar nicht mehr, was ich geträumt hatte, aber die Panik, mit der ich erwachte, bedeutete mir, die verschwommenen Bilder am Rande meiner Wahrnehmung besser nicht näher zu betrachten. Während ich langsam zu mir kam, spürte ich den warmen Körper, der unter mir lag. Ich hob den Kopf und blickte in Slades schlafendes Gesicht. Wir mussten beide vor Erschöpfung eingeschlafen sein, nachdem wir auf dem Sofa weitergemacht hatten. Ich schluckte und legte meinen Kopf auf seine Brust. Mein Blick fiel auf die Uhr, die auf dem Tisch stand. Mein Herzschlag passte sich dem Ticken des Sekundenzeigers an. Ich schloss erneut die Augen, da ich nicht wollte, dass die Realität zu schnell von mir Besitz ergriff. Slade rührte sich unter mir. Er schlang die Arme um mich, zog mich an sich und seufzte zufrieden. Schon bald spürte ich den Druck seiner Lippen auf meinem Haaransatz. 301
Ich blickte auf. Seine Augen waren geöffnet, und ein vertrautes Lächeln zeigte sich auf seinem Mund. »Hi«, flüsterte er. »Hi.« Ich gestattete ihm noch kurz, mich an sich zu drücken, ehe ich aufstand und mich auf die Suche nach meinen Klamotten machte. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah zu, wie ich mich anzog. »Ich schulde dir ein Höschen.« Ich zog den Reißverschluss meiner Hose zu, ehe ich antwortete. »Ich würde sagen, wir sind quitt, wenn du mir die Blutsteuer erlässt, damit ich nicht mehr dieses kalte Konservengesöff zum Frühstück trinken muss.« Sobald ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, fühlte ich mich schuldig. Ich erinnerte mich an das Versprechen, das ich Maisie gegeben hatte. Ich verdrängte das Gefühl. Schließlich hatte ich ihr nur versprochen, mich nicht von Menschen zu ernähren, so lange ich unter dem Schutz des Hekate-Rats stand. Und das war ja nun vom Tisch. Außerdem musste ich niemanden töten, um von ihm zu trinken. Es gab verschiedene Möglichkeiten, sein Opfer so zu verwirren, dass es sich später nicht mehr daran erinnern konnte, was geschehen war. Slade stützte sich auf einen Ellbogen. »Ah, so ist das also. Du verführst mich, weil du hoffst, dann wieder mal etwas Warmes in den Magen zu bekommen.« Ich lachte laut. Seine lockere Art löste die Spannung, die sich wieder in mir aufbaute. »Genau. Ich habe schon oft festgestellt, dass Männer einer hungrigen Frau in einer Existenzkrise kaum widerstehen können.« Er lachte ebenfalls und stand auf. Seine Haare waren zerzaust. »Natürlich erlasse ich dir die Steuer. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem ich dich mit meinen wilden Liebeskünsten so geschwächt habe.« Ich schnaubte und setzte mich, um meine Stiefel anzuziehen. Natürlich hatte er nicht ganz Unrecht. Eine Nacht voll Sex ließ mich immer hungrig aufwachen. Doch der wahre Grund, warum 302
ich dringend Blut brauchte, war der Stress, unter dem ich noch immer stand. Er ließ sich Zeit, seine Hose anzuziehen. Dann hielt er inne. »Ich muss schon sagen: Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns nach all den Jahren nochmal postkoitalen Albernheiten hingeben würden.« Ich lächelte und dachte an die leidenschaftlichen Blicke und die Flirtversuche, mit denen er mich vom ersten Augenblick unseres Wiedersehens an verfolgt hatte. »Lügner.« Er schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Ich gebe es zu. Gehofft hatte ich es schon. Aber dein Kinnhaken hat mir die Hoffnung schnell ausgetrieben.« »Den hattest du verdient.« »Vermutlich.« Er neigte den Kopf, um mir zu bedeuten, dass er nachgab. Seine frotzelnde Miene verschwand, und er zögerte einen Moment, ehe er fragte: »Darf ich annehmen, dass du jetzt lieber allein essen gehen würdest?« Was er mit dieser Frage meinte, war klar. Und die Antwort war es ebenso: Ja, ich wollte allein sein. Ich hatte die seltsame Stimmung, die oft nach ungeplantem Sex herrschte, noch nie sonderlich gemocht. Wenn er mitkam, würden wir die ganze Nacht über immer wieder auf das zurückkommen, was zwischen uns geschehen war. Außerdem ging ich grundsätzlich nicht mit einem Partner auf Jagd. So etwas lenkte zu sehr ab. »Ja.« Er lächelte, doch das Lächeln wirkte gequält. »Versuch’s mal am Times Square. Die Touristen sind leichte Beute. Pass nur auf, dass du keine unnötigen Spuren hinterlässt.« Meine Reißzähne begannen vor Vorfreude zu pochen. Ich hatte seit einer halben Ewigkeit kein frisches Blut mehr bekommen, und allein die Vorstellung des Geschmacks ließ mein Herz schneller schlagen. Ich nickte. »Klar, mach ich.« Ich schloss den Reißverschluss meines linken Stiefels und stand auf. »Und – Sabina?« 303
Ich drehte mich nochmal zu ihm um und sah ihn fragend an. »Sei vorsichtig. Okay?« Mein Magen zog sich zusammen. So schnell änderten sich die Dinge. Als er mich zu Tiny geschickt hatte, waren seine Abschiedsworte noch »Versau es nicht« gewesen. Jetzt wollte ich nur nochmal kurz raus, um ein bisschen Frischblut zu besorgen, und er machte sich auf einmal Gedanken, mir könnte etwas zustoßen. In gewisser Weise freute mich seine Sorge. Wem gefiel es nicht, jemanden zu haben, dem es wichtig war, ob man zurückkam oder nicht? Doch gleichzeitig weckte es meine Vorsicht. Wenn sich jemand um einen sorgte, bedeutete das Erwartungen. Erwartungen, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen wollte. Also lächelte ich nur unbekümmert und sagte: »Warte nicht auf mich.« Der Times Square bei Nacht kann einen Blinden blenden. Ich kniff die empfindlichen Augen zusammen, als ich die funkelnden Neonschilder und die blinkenden Lichter sah, welche die Anhänger des Konsums zum Gebet aufriefen. Aber nicht nur für die Augen ist diese Gegend gnadenlos, es ist die wahre Hölle für alle Sinne. Der Geruch von Abgasen mischte sich mit dem fauligen Dampf aus den Abwasserkanälen. Taxihupen und lautes Rufen verschmolz mit dem Plärren der Autoradios. Touristen, die stehen blieben, um sich die Lichter des Broadways anzusehen, wurden im unberechenbar dahinströmenden Menschenfluss beiseitegestoßen und mit Ellenbogen traktiert. Ich genoss es aus vollen Zügen. Echte New Yorker vermieden diese Touristenfalle am Times Square sicherlich, aber in meinen Augen vibrierte der Platz nur so vor Energie. Dieses High war beinahe genauso gut wie ein Blutrausch. Aber eben nur beinahe. Der Sex mit Slade hatte mich meine bisherigen Hemmungen vergessen und den Hunger übermächtig werden lassen. Doch in 304
Wahrheit wollte ich nicht nur Blut, ich brauchte auch Raum zum Atmen. Auf dem Papier schienen Slade und ich gut zusammenzupassen. Wir teilten den gleichen Hintergrund und eine ähnliche Weltanschaung. Wir wussten, wie der andere tickt. Aber wie gut wir auch zueinanderpassen mochten, die freudige Erregung, die sonst immer aufkam, wenn es einen neuen Lover in meinem Leben gab, wollte sich nicht einstellen. Wenn ich ganz ehrlich war, musste ich mir eingestehen, dass der Sex mit Slade eher dem Wunsch entsprungen war, meinen Problemen davonzulaufen, als dem, eine Beziehung mit ihm aufzubauen. Verhaltene Gewissensbisse begleiteten diese Erkenntnis. Slade war für mich da gewesen, als es sonst niemanden gegeben hatte. Aber ich glaubte nicht, dass er nach mehr suchte als nach ein paar Nächten des gemeinsamen Vergnügens – im Grunde genau wie ich. Ich war noch immer entschlossen, zu gehen. Ob Slade mit dieser Entscheidung einverstanden war oder nicht, bedeutete im Grunde nicht viel. Jetzt ging es erst einmal um mich. Und momentan brauchte ich dringender Blut als Luft. Ich lief durch die Menschenmenge, vorbei an den riesigen Kaufhäusern und Restaurantketten. Unter dem städtischen Gestank roch ich das Parfüm, das durch die Adern der Sterblichen floss. Meine Reißzähne pochten beim Gedanken an frisches Blut. Ich schlängelte mich durch die Menge und suchte nach einem geeigneten Opfer. Das Problem war, dass es zu viele gab, die infrage kamen. Ich fühlte mich wie ein Kind in einem Süßwarenladen, das auf einmal die perfekte Süßigkeit auswählen soll. Ich hatte wirklich die Qual der Wahl. Wollte ich lieber einen der Teenager, die vor dem MTV-Studio tanzten? Zu jung, dachte ich. Ihr Blut brauchte noch etwas Zeit zum Reifen. Oder der Kerl mit dem »Bereue«-Schild um den Hals, der auf einer Bierkiste stand? Ich schüttelte den Kopf. Sein Blut schmeckte sicher bitter – nach Schuldbewusstsein. Ah, da. Genau da.
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Der Mann hatte den Blick auf die Tasche einer Touristin gerichtet. Ich hingegen hatte ihn im Visier. Er war jung, gut gebaut und sah ziemlich abgerissen aus. In spätestens zwei Jahren würde er vermutlich in irgendeinem Gefängnis dahinvegetieren. Ich beobachtete, wie er der Frau mittleren Alters den Geldbeutel aus der Tasche zog. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich mit ihrem Mann zu streiten, als dass sie etwas bemerkt hätte. Wie eine Gazelle rannte der Dieb durch die träge Menge davon. Ich eilte ihm hinterher. An der achtundvierzigsten Straße bog er rechts ab und verschwand hinter einem Gebäude. Dort entdeckte ich ihn in einer dunklen Ecke, wie er gierig den gestohlenen Geldbeutel durchsuchte. Amateur. »Was haben wir denn da?« Ich hätte ihn auch ohne großes Geplänkel außer Gefecht setzen können. Aber ich genoss es, die Vorfreude noch ein bisschen zu verlängern. Erschrocken ließ er die Geldbörse fallen und riss ein Messer mit einem Holz-Messing-Griff aus der Tasche. »Hau ab, Schlampe!« Ich schnaubte verächtlich. »Den Zahnstocher kannst du wieder einstecken.« Er fuchtelte wild mit dem Messer herum. »Ich stech dich ab!« »Nicht, wenn ich dich zuerst erwische.« Ehe er auch nur blinzeln konnte, bohrten sich meine Eckzähne in seinen Hals. Natürlich wehrte er sich. Doch das Geräusch von klirrendem Metall auf Beton verriet mir, dass er das Messer fallen gelassen hatte. Er roch nach Verzweiflung. Dieser Geruch vermischte sich mit dem Rauch in seinen Haaren und dem billigen Aftershave, das er offenbar kübelweise verwendet hatte. Sein Blut jedoch war eine starke Mischung – heiß und üppig. Junge Männer boten immer den besten Saft. Natürlich half auch der Joint, den er geraucht haben musste, ehe er sich in die Nacht gestürzt hatte. Vermutlich würde ich innerhalb der nächsten 306
Stunden Heißhunger auf Kuchen und Pizza entwickeln, aber das war mir egal. Gierig nahmen meine Zellen seinen Lebenssaft in sich auf. Das High brachte meine Nervenenden zum Prickeln. Nach einer Weile wurde sein Körper schlaff, und ich ließ ihn zu Boden gleiten. Ich hatte ihn nicht umgebracht, aber er würde mehr brauchen als Kekse und Saft, wenn er wieder zu sich kam. Mit Hilfe einiger Bananenkisten verbarg ich ihn vor neugierigen Blicken. Bis er das Bewusstsein wiedererlangte oder ihn jemand fand, wäre ich schon lange verschwunden. Ich hob das Buttermesser auf und steckte es in den Stiefelschaft, ehe ich davoneilte. Derart gestärkt entfernte ich mich immer weiter vom Aderlass. Ich redete mir ein, nur noch etwas die Nacht genießen zu wollen, aber in Wirklichkeit war ich nicht bereit, mich Slade und der Realität zu stellen. Noch nicht. Ich wollte noch ein Weilchen das Blut genießen, das durch meine Adern floss. Endlich mal wieder wie ein echter Vampir durch die Nacht ziehen. Erst in ein paar Stunden würde die Sonne aufgehen und einen neuen Tag voller schwieriger Entscheidungen mit sich bringen. Ich hatte bereits einige Blocks hinter mir gelassen und war zufrieden damit, einfach nur das Leben von New York um mich herum zu spüren. Das Blut hatte meine Sinne geschärft, so dass sich mir mit jedem Schritt ein neuer Geruch, ein neuer Anblick oder ein neues Geräusch bot, das ich in mich aufnehmen konnte. Nach einer Weile zeichneten sich die dunklen Schatten des Central Parks vor mir ab. Ich wurde langsamer und blickte mich um, da ich herausfinden wollte, wo ich mich eigentlich genau befand. Nachdem ich dem dichten Wald aus Wolkenkratzern entkommen war, konnte ich den Himmel wieder sehen. Im Westen hing tief der Mond wie ein praller roter Ball. Der Blutmond. Mir zog sich der Magen zusammen. Das Durcheinander der letzten Tage hatte mich das bevorstehende Fest völlig vergessen lassen.
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Im Grunde war es auch nicht wichtig. Nicht mehr. Von Bedeutung war jetzt nur noch, dass ich mir keine Sorgen machen musste, in diesem Teil der Stadt aus Versehen auf einen Magier zu treffen. Sie wären alle in Sleepy Hollow, um dort das Blutmondfest zu feiern. Ich bog nach rechts in die Neunundfünfzigste West ein, anstatt in den Park zu gehen. Das Rauschen der Bäume zu meiner Linken und die Kakophonie der Stadt zu meiner Rechten zogen mich in entgegengesetzte Richtungen. Ich blickte starr nach vorn, um weder dem einen noch dem anderen Lockruf zu erliegen. Ich ließ einen weiteren Block hinter mir. Plötzlich vernahm ich das Schlagen von Flügeln, gefolgt von einem grellen Kreischen. Ich blieb stehen und blickte in die schattigen Bäume hinauf. Ein rotes Paar Augen blinzelte mir von einem Ast herab entgegen. Ich hatte Stryx seit Tagen nicht mehr gesehen. Es war so viel geschehen, dass ich seine Abwesenheit nicht einmal bemerkt hatte. Als ich ihn jetzt erblickte, stellten sich meine Nackenhaare auf. Doch dann fiel mir ein, dass mir Maisie eine Nachricht zukommen lassen wollte. Hatte sie Stryx vielleicht geschickt, um mich zu holen? Als ich mich dem Baum näherte, segelte die Eule davon und führte mich tiefer in den Park hinein. Ich folgte ihr, zog allerdings vorsichtshalber meine Waffe. Seit meiner Ankunft in New York hatte es so viele Überraschungen gegeben, dass ich nicht mehr unvorbereitet sein wollte. Schließlich ließ sich Stryx auf dem Geländer einer Brücke nieder, die über einen Fußweg führte. Im Park war es still. Die meisten Leute wagten sich um diese Zeit nicht mehr hierher. Auf einmal vernahm ich Schritte hinter mir. Ich wirbelte herum und ging gleichzeitig in die Hocke, die Waffe bereit zum Schuss. Damara war unter der Brücke hervorgetreten, blieb jetzt aber ruckartig stehen und hob beide Hände. »Wow, langsam. Bin doch nur ich.« Ich runzelte erstaunt die Stirn. »Damara?« 308
Ich verspürte sowohl Erleichterung darüber, ein vertrautes Gesicht zu sehen, als auch eine gewisse Beunruhigung. Es kam mir seltsam vor, dass Maisie Damara ausgewählt hatte, um mir eine Nachricht zu schicken. »Wie hast du mich gefunden?« Maisie wähnte mich im Aderlass. Also hätte sie auch Damara zuerst dorthin geschickt. Sie wies mit dem Kopf auf Stryx, der hinter ihr saß. »Ich hab die Eule benutzt, um dich ausfindig zu machen.« Das klang einleuchtend. Ich nickte, auch wenn ich noch immer auf der Hut war. Wenn meine Schwester Damara zu mir geschickt hatte, musste das bedeuten, dass sich etwas getan hatte. »Was ist los?« Damara wedelte ungeduldig mit einer Hand in der Luft herum. »Maisie möchte, dass du sie noch heute Nacht im Scheideweg in Sleepy Hollow triffst.« Ich runzelte die Stirn. »Warum?« »Orpheus konnte die Sache mit Königin Maeve regeln. Er hat sie davon überzeugt, dass du dich nur verteidigt hast. Der Rat hat alle Vorwürfe gegen dich fallenlassen.« Das Ganze kam mir seltsam vor. »Wenn alles wieder in Ordnung ist, warum ist Maisie dann nicht selbst gekommen, um mir die gute Nachricht zu überbringen?« »Wegen des Festes. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, alles vorzubereiten«, erklärte Damara. Während ich noch überlegte, fiel mir auf, wie ungeduldig Damara herumzappelte. Sie wirkte angespannt. Durch ihr überraschendes Auftauchen hatte ich zunächst nicht darauf geachtet. Doch jetzt sagte mir mein Instinkt, dass hier eindeutig etwas nicht stimmte. »Warum hat sie dann nicht Adam geschickt? Oder Giguhl?« Damara blickte nach links. »Ich weiß nicht. Hör zu, wir müssen uns beeilen.« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Wozu denn die Eile?«
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»Es soll eine Überraschung werden.« Damara verschränkte die Arme. Die Bewegung entblößte etwas golden Glitzerndes auf ihrer Brust. »Ich mag keine Überraschungen.« Auch ich verschränkte die Arme. »Hübsche Kette übrigens.« Sie blickte an sich herab und ließ dann die Arme wieder sinken. Als sie mich erneut ansah, hatte sich ihr Blick verändert. Er war noch härter geworden. »Danke. Sie hat meiner Mutter gehört.« Ich schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ach, wirklich?« Sie holte die Kette aus ihrer Bluse und sah sie an. »Sie hat sie mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt. Eine Woche, bevor sie verschwunden ist.« Ich erstarrte. Rhea hatte mir erzählt, dass Damaras Mutter im Weingut ums Leben gekommen war. Obwohl mir mein Instinkt inzwischen eindeutig zu verstehen gab, dass hier etwas im Argen lag, meldete sich ein leiser Zweifel zu Wort. Vielleicht wusste das Mädchen gar nicht, welche Bedeutung die Kette und vor allem das Amulett hatte? »Weißt du eigentlich, was dieses Symbol darstellt?«, fragte ich, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Damara lachte bitter. Sie änderte die Haltung und plötzlich wurde aus dem missmutigen Teenager eine harte und entschlossene Frau. »Machen wir uns doch nichts vor«, sagte sie. Ihre Stimme triefte vor Verachtung. »Wir wissen beide, was dieses Symbol bedeutet.« »Und was hat die Kaste mit der ganzen Sache zu tun?« »Sie wollen dich tot sehen. Das ist alles, was du wissen musst. Und ich bin dazu da, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen.« »Pass auf, Mädchen.« Ich hob die Waffe. »Du spielst ein gefährliches Spiel.« Damara verschränkte die Arme. Die Pistole, die auf ihre Brust gerichtet war, schien sie nicht im Geringsten aus der Ruhe zu bringen. »Die Einzige, die hier aufpassen sollte, bist du, Sabina. 310
Wer glaubst du wohl, hat die Werwölfe dazu gebracht, dich anzugreifen? Wer hat Eurynome gerufen? Und wer war hat wohl Lenny dazu gebracht, deinen dämlichen Dämon anzufallen? Du hältst dich für so verdammt klug, aber in Wahrheit bist du eine arme Idiotin, die nicht merkt, dass sie hier nicht erwünscht ist.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Wenn du so gefährlich bist, warum bin ich dann immer noch am Leben?« Sie biss sich verärgert auf die Unterlippe. »Ich muss zugeben, es war ein Fehler, andere die Schmutzarbeit für mich machen lassen zu wollen. Aber jetzt werde ich beenden, was ich an dem Abend begonnen habe, als du bei uns eingetroffen bist.« »Na ja – du kannst es ja mal versuchen«, entgegnete ich und zielte auf ihre Brust. Sie lächelte eisig und starrte das Metall an. Auf einmal stellten sich meine Nackenhaare auf. Die Luft vibrierte vor Magie. Ehe ich abdrücken konnte, traf mich ein Lähmungszauber, und meine Glieder wurden kalt und schwer. Damara lachte und nahm mir die Waffe aus der erstarrten Hand. »Zu dumm, dass diesmal dein Dämon nicht hier ist, um dir das Leben zu retten, was? Es ist wirklich unglaublich schwer, ihn umzulegen, und ich war mir nicht sicher, wie ich dich jemals allein erwischen sollte, nachdem er den Angriff im Aderlass überlebt hat. Aber du hast es ja selbst versaut und den Rat gegen dich aufgebracht. Das hat es mir viel leichter gemacht, dich heute Nacht allein zu erwischen.« Sie verpasste mir einen Kinnhaken. »Der ist dafür, dass du Hawthorne umgebracht hast, du Hure!« Ich vermochte mich zwar nicht zu bewegen, aber fühlen konnte ich alles. Mein Blut schien wie Lava in meinen Venen zu brodeln. Die Muskeln in meinem Kiefer schmerzten sowohl von dem Schlag als auch von dem Bedürfnis, Damara anzuschreien. Ich wollte endlich Antworten. »Oh, du bist wütend, was?«, meinte sie und zog eine Schnute. »Du weißt noch immer nicht, was los ist, nicht wahr? Du willst endlich kapieren, warum und wieso.« Sie stieß einen leisen Pfiff 311
aus. Eine Sekunde später landete Stryx auf ihrer Schulter. Sie hob eine Hand, um die Eule zu streicheln. »Hast du gewusst, dass die Eule bei vielen Menschen als Todesvogel gilt?« Ich versuchte verzweifelt, mich daran zu erinnern, ob Damara jemals dabei gewesen war, als Maisie und ich über meine Immunität gegen die verbotene Frucht gesprochen hatten. Jetzt konnte ich nur noch beten, dass sie nichts davon wusste. Denn wenn sie mich erschoss, würde ich überleben – und dann hätte ich die Chance, dieser kleinen Schlampe noch ein oder zwei Dinge über den Tod beizubringen. Sie trat näher, bedrängte mich. Ich konnte die Waffe zwar nicht sehen, spürte aber, wie sich der kalte Stahl über meinem Herzen in die Haut bohrte. »Wer wird wohl um dich trauern, Mörderin?« Zu wissen, dass man jeden Moment erschossen wird, ist ein seltsames Gefühl. Alles passiert gleichzeitig. Normalerweise wappnet man sich gegen den Einschlag, aber da ich wie eingefroren dastand, konnte ich nur zusehen und abwarten. Man hört die Explosion. Man spürt das Eindringen der Kugel. Der Gestank des Schießpulvers brennt dir in der Nase. Aber es dauert ein paar Sekunden, bis man auch den Schmerz spürt. Damara schoss aus solcher Nähe, dass die Kugel ein Loch durch meine Brust brannte, ehe sie auf der anderen Seite wieder austrat. Obwohl ich wusste, dass mich die Kugel nicht töten konnte, flippte mein Körper aus. Die Schmerzen ließen mich jede Vernunft vergessen, als ich zu Boden stürzte. Mein Herz pumpte wie ein Motorkolben. Kalter, klebriger Schweiß überzog meine Haut. Ich keuchte auf und umschlang mit den Armen meine Brust. Eine Paniksekunde verstrich, ehe mir bewusst wurde, dass ich mich wieder bewegen konnte. Die Legierung, aus der meine speziellen Apfelkugeln bestanden, enthielt Messing, was den Zauber schwächte. Es reichte allerdings nicht aus, um ihn ganz aufzuheben und jede Bewegung fühlte sich an, als watete ich durch Treibsand. Zum Glück hatte ich gerade erst gegessen. Wenn das
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hier geschehen wäre, bevor ich den Jungen getroffen hätte, wäre ich vermutlich für zwei bis drei Stunden ohnmächtig gewesen. Trotz des roten Nebels vor meinen Augen wusste ich, dass mir keine Zeit blieb, um lange zu zögern. Damara würde sich bald wundern, warum ich nicht in Flammen aufging. Ich spürte, wie sie sich über mich beugte. Vermutlich genoss sie den Anblick meines schmerzverzerrten Gesichts. Irgendwo in der Nähe stieß Stryx einen Schrei aus und schlug aufgeregt mit den Flügeln. Es kostete mich einiges an Anstrengung, in meinen Stiefel zu fassen, ohne dass Damara etwas davon merkte – umso mehr unter dem Einfluss des Zaubers, der meine Bewegungen ungeschickt und träge machte. Aber kurz darauf schloss sich meine Faust um den Messergriff. Ihr die Achillessehne durchzuschneiden, war als hätte ich ein Gummiband durchtrennt. Noch ehe ihr bewusst war, was geschah, gab ihr Bein nach, und sie stürzte zu Boden. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung, aber ich schaffte es, ihren blutenden Knöchel zu packen und fest zuzudrücken. Damara stieß einen Schrei aus und krümmte sich vor Schmerz. Das Bedürfnis, sie umzubringen, war übermächtig. Ich wollte diese kleine Hure für all die Probleme bestrafen, die sie mir bereitet hatte. Ich wollte ihr zeigen, dass niemand, der sich mit mir anlegte, lange genug am Leben blieb, um damit zu prahlen. Aber es gelang mir, diesen Wunsch unter Kontrolle zu bringen und stattdessen Vernunft walten zu lassen. Sie jetzt umzubringen wäre ein Fehler. Sie besaß die Informationen, die ich brauchte. Außerdem hatte ich bereits auf die harte Tour gelernt, was es bedeuten konnte, jemanden zuerst umzubringen und dann Fragen zu stellen – diesen Fehler würde ich nicht noch einmal machen. Ich ließ sie wimmernd auf dem Boden liegen und tastete im Dunkel nach der leeren Patronenhülse. Die Legierung der Kugel enthielt nur nur ein Messinggemisch, die Hülse selbst jedoch bestand aus reinem Messing. Sie war meine einzige Chance, sicher-
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zustellen, dass Damara keine Magie einsetzen konnte, während ich mir meine Antworten holte. Endlich ertasteten meine Finger die Hülse. Ich formte den Metallzylinder mit der Faust zu einer kleine Kugel. Der Hautkontakt mit dem Messing half, den restlichen Zauber abzuschütteln. Ich merkte, wie meine Bewegungen wieder schneller wurden. Ich warf mich auf die schreiende Magierin und drückte ihre Hände mit den Knien auf den Boden. Dann schob ich ihr die Messingkugel in den aufgerissenen Mund. Sie spuckte und hustete, aber ich hielt ihr Nase und Mund zu. Ihre Augen weiteten sich vor Angst. Ihr Gesicht lief erst blau an, dann grün. Schließlich schluckte sie die Hülse. Ich ließ sie los und setzte mich neben sie. Mein Atem rasselte, und jedes Mal, wenn ich mühsam Luft holte, spürte ich den quälenden Schmerz in der Brust. Über Damaras Wangen strömten nun Tränen. Aber in ihren Augen stand purer Hass, keine Angst. Ich verspürte nicht das geringste schlechte Gewissen. Sie konnte sich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein. Noch. Ich holte mein Handy aus der Tasche und rief Slade an. Ich lieferte ihm eine Kurzversion der Ereignisse und erklärte ihm, wo er mich treffen sollte. »Ich bin in zehn Minuten da«, sagte er ohne zu zögern, und legte auf. Ich klappte das Handy zu und schob es in die Hosentasche. Erneut ertönte Flügelschlagen hinter mir und zeigte an, dass Stryx sich endlich verzog. Widerliches Federvieh. »Also«, sagte ich und riss Damara vom Boden hoch. Sie wimmerte und konnte nicht auftreten. Ich stieß sie vor mir her, während ich ihre Hände auf dem Rücken festhielt. »Du wirst mir jetzt alles erzählen, was du über die Nod-Kaste weißt.«
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Eine halbe Stunde später parkte Slade seinen BMW vor einem Lagerhaus in einer besonders heruntergekommenen Gegend von New York. Auf einem Schild, das an dem Gebäude befestigt war, stand »Romulus Importe«. Als Slade im Park angekommen war, hatten wir überlegt, wo man die Befragung am besten durchführen konnte. Ich war für den Aderlass gewesen, aber Slade hatte sich dagegen ausgesprochen, da er der Meinung war, sein Club sei nicht privat genug. Also rief er Michael Romulus an, der ihm noch einen Gefallen schuldete. Und der Werwolf hatte uns sofort eines seiner Lagerhäuser angeboten. Die große Schiebetür wurde geöffnet, und Michael gab Slade mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er den Wagen in die Abladezone fahren solle. Ich saß zusammen mit Damara auf dem Rücksitz und drückte ihr die Pistole in die Rippen. Sie hatte die ganze Fahrt über nichts gesagt. Doch als sie die vier kräftigen Werwölfe erblickte, die draußen im Lagerhaus auf uns warteten, spannte sie die Muskeln an – bereit zu fliehen, sobald die Tür aufging. »Denk nicht mal daran«, warnte ich sie. Slade schaltete den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Dann öffnete er die Hintertür und zerrte Damara ins Freie. Ich folgte den beiden. Draußen schüttelte ich Michael die Hand. »Vielen Dank, das ist wirklich eine große Hilfe«, erklärte ich ihm. Er nickte, die Augen auf Damara gerichtet. »Mit dem größten Vergnügen.« »Wo sollen wir hin?«, fragte ich. »Kommt mit«, erwiderte Michael und bedeutete Slade, ihm mit Damara zu folgen. Er führte uns in einen Lagerraum, der neben der Haupthalle lag. Rex trat mit einem Paar Handschellen aus 315
Messing zu uns und fesselte die Magierin damit an einen Stuhl. Die ganze Zeit über hielt Damara das Kinn stolz gereckt. Ich hätte ihr ihren Mut sogar angerechnet, erwartete aber, dass er nicht lange anhalten würde. »Ihr könnt mich so lange foltern, wie ihr wollt«, sagte sie. »Ich sage kein Wort.« Langsam trat ich näher, damit sie Zeit hatte, sich zu fragen, was ich vorhatte. Trotz ihrer mutigen Haltung zitterte sie so stark, dass die Stuhlbeine auf dem Betonboden knirschten. »Ich weiß bereits, dass du für die Kaste arbeitest. Ich weiß auch, dass du es warst, die Eurynome beschworen und versucht hat, Giguhl in Slades Club umbringen zu lassen.« Neben mir fauchte Slade und zeigte der Magierin seine scharfen Reißzähne. Ihre Augen weiteten sich. »Ich weiß auch«, fuhr ich fort, »dass du die Einsamen Wölfe auf mich gehetzt hast, als ich damals im Central Park unterwegs war.« Hinter mir war ein leises Knurren zu vernehmen. Damara versuchte, sich auf ihrem Stuhl kleiner zu machen. »Heute Nacht ist Vollmond – nicht wahr, Michael?«, fragte ich, ohne den Blick von dem Mädchen zu wenden. »Ja«, antwortete Michael knapp. »Und was macht ihr normalerweise so, um den Vollmond zu feiern?«, fragte ich lässig. Michael Romulus trat neben mich und beugte sich mit verschränkten Armen drohend über Damara. »Wir verwandeln uns um Mitternacht in unsere Wolfsgestalten und dann veranstalten wir eine große Treibjagd.« Ich sah ihn an. »Schon mal eine Magierin gejagt?« Er zuckte mit den Achseln. Offensichtlich genoss er das Spiel genauso, wie ich das tat. »Nein, bisher noch nicht. Aber in diesem Fall sind wir gerne bereit, eine Ausnahme zu machen.« Er blickte sich zu seinem Rudel um. »Stimmt doch, Jungs?«
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Alle vier begannen zu knurren. Obwohl ich wusste, dass sie nur so taten, als würden sie jeden Augenblick zubeißen, jagte das Geräusch auch mir einen kalten Schauder über den Rücken. Damaras Augen wurden groß, als sie sich in dem kleinen Raum umsah. Ein Schweißtropfen rann über ihre Schläfe. »Das meint ihr nicht ernst.« Ich lächelte. »Bist du bereit, eine Stunde zu warten, bis sich die Jungs verwandelt haben, und dir zeigen können, wie ernst sie es meinen?« Sie schluckte hörbar. »Aber ich habe euch gar nichts getan«, flehte sie Michael an. Er beugte sich noch weiter zu ihr herab, so dass er fast ihre Nase berührte. »Du hast mein Rudel in Gefahr gebracht.« Er schnüffelte an ihren Haaren. Sie drehte den Kopf zur Seite, um ihm auszuweichen. »W… Was tun Sie da?« »Ich präge mir deinen Geruch ein – für die Jagd später.« Damara wimmerte. »Ich wollte nicht, dass jemand von euch verletzt wird. Ich wollte nur Sabinas Tod.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Und warum?« Ihr wurde bewusst, dass sie schon fast zu viel verraten hatte. Hastig presste sie die Lippen aufeinander und schüttelte störrisch den Kopf. »Gut. Warum fangen wir dann nicht mit dem Wie an? Du bist mir nicht in den Park gefolgt. Ich hätte dich gerochen. Woher hast du gewusst, wo ich stecke, um Michael zu sagen, dass sein Rudel nach mir Ausschau halten soll?« Jetzt lächelte sie. Kühnheit sprach wieder aus ihrer Miene. »Von der Eule. Du warst so bescheuert! Du hattest nicht die leiseste Ahnung, dass sie schon ewig im Auftrag der Kaste hinter dir her war. Stryx hat dich die ganze Zeit beobachtet.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Adam hat gesagt, Stryx sei ein Spion Liliths.«
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»Das ist doch nur ein Ammenmärchen. Stryx arbeitet seit Jahrhunderten für die Kaste.« »Diese widerwärtige Eule! Ich fand sie von Anfang an unheimlich.« »Ich hätte Stryx’ Dienste überhaupt nicht in Anspruch nehmen müssen, wenn du gleich in der ersten Nacht gestorben wärst, so wie es geplant war.« Ich runzelte die Stirn. »Wovon redest du?« »Ich meine den Reinigungstrank beim Ritual.« Mir klappte die Kinnlade herunter. Ich erinnerte mich noch deutlich an das Reinigungsritual, das ich nach meiner Ankunft in New York hatte über mich ergehen lassen müssen. Jetzt erst fiel mir auf, dass es Damara gewesen war, die Rhea den Zaubertrank gereicht hatte. »Was hast du hineingetan?« »Apfelsaft und Strychnin.« Ich lächelte sie böse an. »Netter Versuch, Kotzbrocken. Allerdings bin ich gegen die verbotene Frucht immun.« Da der Apfel meine Unsterblichkeit nicht angreifen konnte, war auch das Gift nicht in der Lage gewesen, mich zu töten. Aber wenigstens erklärte es meine heftige Reaktion auf das widerwärtige Gebräu. Damaras Augen weiteten sich, während Slade aufkeuchte. »Wirklich? Du bist dagegen immun?«, fragte er. Ich sah ihn an. »Später.« Er nickte. Ich spürte deutlich, dass er unbedingt mehr darüber wissen wollte. »Okay, Damara«, fuhr ich fort. »Allmählich wird es langweilig. Ich würde vorschlagen, du fängst an, mir ein paar nützliche Antworten zu liefern, ehe ich dem Vampir hier befehle, sich etwas eingehender mit dir zu beschäftigen. Was hältst du davon, Slade? Schon mal Magierblut gekostet?« Er schürzte die Lippen und schien zu überlegen. »Ich muss zugeben, dass ich schon länger neugierig bin. Außerdem ist Damara noch sehr jung. Ich wette, ihr Blut schmeckt wie Zuckerwatte.«
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Damaras Augen wurden hart. »Du hast meine Mutter umgebracht.« Ich runzelte die Stirn. Rhea hatte mir erklärt, Damaras Mutter sei auf dem Weingut der Dominae ums Leben gekommen. Aber ich hatte dort ganz sicher keine Magier getötet. »Nein, hab ich nicht. Clovis Trakiya hat diese Magier auf dem Gewissen.« »Aber nur, weil du ihn dorthin geführt hast. Ohne dich könnte meine Mutter noch am Leben sein.« Ich musste an die entführten Magier denken. Über Schläuche hatte man ihre Körper versorgt, während man ihnen langsam das Blut aus dem Körper gesogen hatte. Zweifellos hatten die Dominae nie vorgehabt, diese Magier noch einmal freizulassen. Sobald ihre Körper kein Blut mehr produziert hätten, wären sie entsorgt worden wie Zeitungen vom Vortag. Ich lachte freudlos. »Mach dir doch nichts vor, Mädchen. Wenn Clovis sie nicht getötet hätte, wären sie den Dominae zum Opfer gefallen. Ich bin auf das Weingut, um deine Mutter und die anderen zu retten – nicht um sie zu töten.« Sie sah mich misstrauisch an. »Aber du hast für Clovis gearbeitet.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich wurde beauftragt, Clovis umzubringen. Ich habe nur so getan, als würde ich für ihn arbeiten. Als ich von den Machenschaften der Dominae erfuhr, versuchte ich, die Magier zu retten. Clovis hat uns alle an der Nase herumgeführt. Und zwar gewaltig. Er hat selbst behauptet, die Magier retten zu wollen und sie dann umgebracht, um die Morde den Dominae in die Schuhe zu schieben.« Jetzt spiegelte sich in Damaras Miene Fassungslosigkeit wider. »Aber man hat mir gesagt …« »Man hat dich angelogen.« Sie begann zu weinen und ließ die Schultern nach vorne sacken. Sie wirkte wie ein bemitleidenswertes Kind. Mein Gewissen meldete sich zu Wort. Offensichtlich hatte die Kaste Damara
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für ihre Zwecke missbraucht, aber das entschuldigte noch lange nicht, dass sie versucht hatte, mich und meinen Dämon zu töten. Ich kniete mich neben sie. »Hör zu – ich weiß, dass du wütend bist. Du wolltest Rache dafür, dass du deine Mutter verloren hast. Du kannst mir glauben: Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn man jemanden für die Qualen, die man empfindet, bestrafen will. Aber ich habe deine Mutter nicht getötet, Damara. Sag mir, warum die Kaste hinter mir her ist, und dann werde ich sicherstellen, dass sie es bitter bereuen.« Damara schniefte und schüttelte den Kopf. »Du kannst sie nicht aufhalten.« »Lass es mich wenigstens versuchen.« »Wozu denn?« »Ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Voller Trauer schüttelte sie ihren Kopf. »Dafür ist es zu spät. Sie haben mir erklärt, dass sie die Magier um Mitternacht angreifen werden, wenn ich dich ihnen nicht bis dreiundzwanzig Uhr dreißig ausliefere. Tot oder lebendig.« »Was?«, rief ich verblüfft. »Warum wollen sie die Magier angreifen?« »Es ist zu spät!« Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Wir haben noch eine Dreiviertelstunde Zeit, um Maisie und den Rat zu warnen. Es ist noch nicht zu spät. Erzähl es mir, Damara! Hilf mir, sie zu retten!« Sie wurde hysterisch und begann zu schluchzen und zu zittern. Ich gab ihr eine schallende Ohrfeige. »Los! Sag es mir endlich!« »Sie werden alles unternehmen, damit es zu einem Krieg kommt.« »Warum?« »Weil sie so die Rückkehr Liliths erhoffen.« Im Raum wurde es derart still, als wäre gerade eine Bombe detoniert. Mich überlief eine Gänsehaut, und ich hatte das Gefühl, als hätte ich Zement im Magen. »Was?« 320
»Im Praescarium Lilitu wurde prophezeit, dass Lilith zurückkehren wird, wenn eines der Schattengeschlechter jemals ein anderes auslöscht. Die Kaste kennt Maisies Vorhersage, dass du alle Schattengeschlechter miteinander vereinst. Deshalb wollte man dich aus dem Weg haben. Als du den Feen-Mann getötet hast, glaubten wir, jetzt wäre alles in Ordnung. Wir dachten, niemand würde dir mehr glauben. Aber als die Königin ihre Unterstützung zurückgezogen hat, hat sich der Rat gegen einen Krieg entschieden.« Eine Million Fragen schossen mir durch den Kopf. Doch in diesem Moment war nur die eine von Bedeutung. Was würde in fünfundvierzig Minuten im Scheideweg passieren? »Jetzt wollen sie also die Magier angreifen? Und wie soll dieser Angriff zu einem Krieg führen?« Damaras Gesicht wurde wieder hart. »Verstehst du denn noch immer nicht? Die Kaste hat nicht vor, die Magier selbst anzugreifen. Das überlässt sie den Dominae.« Mir gefror das Blut in den Adern. »Was?«, flüsterte ich angsterfüllt. Damaras Stimme klang gequält und schuldbewusst. »Wenn ich gewusst hätte, dass die Dominae ihre Finger im Spiel haben, hätte ich niemals zugestimmt, ihnen zu helfen. Aber als ich es schließlich herausfand, war es bereits zu spät. Ich flehte sie an, den Rat der Hekate nicht anzugreifen.« Einen Moment lang versagte ihr beinahe die Stimme. »Sie haben mir erklärt, ich hätte noch eine letzte Chance. Aber ich habe es nicht geschafft, dich rechtzeitig auszuliefern. Und jetzt bringen sie alle Magier im Scheideweg um.« Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, doch ich war schon nicht mehr in der Lage, Mitleid mit ihr zu empfinden. »Wie haben sie die Dominae dazu gebracht, anzugreifen?« »Das war nicht schwer. Eine dieser Schlampen gehört selbst der Kaste an.«
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»Welche?«, fragte ich, wobei meine Stimme genauso eisig klang, wie sich mein Blut anfühlte. »Lavinia Kane.« Diese Antwort ließ das Adrenalin noch schneller durch meine Adern rauschen. Ich wandte mich an Slade. »Ich brauche dein Auto.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du glaubst, ich lasse dich da allein hin, musst du verrückt sein.« »Slade, ich habe keine Zeit, mich zu streiten. Das Ganze ist höchstwahrscheinlich eine Selbstmordmission.« »Mag sein. Wenn Damara Recht hat, betrifft es uns alle.« Auch Michael meldete sich zu Wort. »Richtig. Wir kommen auch mit.« Ich sah die sechs entschlossenen Männer, die um mich herumstanden, aufmerksam an. »Gut. Dann bringt Damara auch mit.« Michael runzelte die Stirn. »Warum töten wir sie nicht einfach?« Damara zuckte zusammen und versuchte, sich von den Handschellen zu befreien. »Aus zwei Gründen: Zum einen habe ich vor dem Rat der Hekate meine Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil uns meine Tat die Unterstützung der Königin gekostet hat. Wenn ich jetzt auch noch auf ihrem heiligen Fest mit einem Rudel Werwölfe und einem Vampir auftauche, dürfte das ihre Meinung über mich vermutlich nicht ändern. Damara ist unsere Lebensversicherung. Der Rat hört vielleicht nicht auf uns, aber ihr wird man glauben.« Slade nickte. »Und der zweite Grund?« »Ich bin aus dem Mordgeschäft ausgestiegen. Soll der Rat entscheiden, was mit ihr geschieht.« Einen Moment lang hielt ich inne. »Falls er das nach dieser Nacht noch kann.«
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Eine halbe Stunde später saß ich gemeinsam mit fünf wütenden Werwölfen, einem ehemaligen Vampirauftragskiller und einer leise vor sich hinschluchzenden Magierin in einem Van. Die Stimmung im Wagen war angespannt. Wir alle saßen schweigend und reglos da, als wollten wir uns wappnen gegen das, was uns bevorstand. Schließlich brach Slades Fluchen das Schweigen. Er hatte zum x-ten Mal versucht, mit dem Handy den Hekate-Rat anzurufen, hatte aber wieder nur die Mailbox erreicht. Jetzt meldete sich auch Michael zu Wort. »Sabina? Wir müssen noch etwas besprechen.« »Was denn?«, fragte ich und streckte den Kopf zwischen den Sitzen nach vorn. Mit jedem Kilometer, den wir hinter uns ließen, verkrampfte sich mein Magen mehr. Selbst wenn wir rechtzeitig dort eintreffen würden, war ich mir keineswegs sicher, ob mir die Ratsmitglieder auch zuhören würden. Verdammt, ich war mir noch nicht einmal sicher, dass Maisie mir zuhören würde. »In zwanzig Minuten nehmen wir alle Wolfsgestalt an. Das könnte von Vorteil sein, aber ich wollte euch trotzdem schon mal vorwarnen.« Ich nickte und warf dann einen Blick hinaus in die Nacht. Klar und deutlich hing der Vollmond wie ein blutiges Wundmal am Himmel. Oder war es ein himmlisches Stoppschild? Ein düsteres Omen? Die erzwungene Handlungspause und die gleichzeitig steigende Spannung, was als Nächstes kommen würde, stimmten mich nachdenklich. Noch nicht einmal eine Stunde zuvor hatte ich noch gedacht, ich müsse mich nur noch um mich selbst kümmern. Seltsam, wie sich das Leben manchmal in einem Wimpernschlag 323
um hundertachtzig Grad drehen konnte! Damaras Geständnis hatte alles verändert. Ich konnte nicht einfach all jenen den Rücken kehren, die mir so viel bedeuteten – vor allem jetzt nicht, da ich sie in großer Gefahr wusste. Ich war wirklich ein toller einsamer Wolf … Doch so groß meine Sorgen auch waren, so gut war es gleichzeitig, endlich wieder ein Ziel vor Augen zu haben. Etwas anderes als mein eigenes Wohlergehen, auf das ich mich konzentrieren konnte. Natürlich waren meine Gründe, zum Scheideweg zu fahren, nicht ganz selbstlos. Nachdem ich von der Rolle meiner Großmutter in diesem Drama erfahren hatte, war mir wieder klar geworden, weshalb ich überhaupt nach New York gekommen war. Mehr denn je hatte ich Grund, mich ihr zu stellen und sie bluten zu lassen. Natürlich wusste ich, dass meine Großmutter sich nicht an diesem Kampf beteiligen würde. Sie und die anderen beiden Dominae würden sich nicht dazu herablassen, sich die Hände schmutzig zu machen, indem sie an diesem Hinterhalt teilnahmen. Doch allein das Wissen, dass sie hinter der Geschichte steckte, machte mich noch entschlossener, so viele von ihren Vampiren wie möglich nach Irkalla zu schicken, bevor ich ihnen folgen würde. Falls ich allerdings doch überleben sollte, würde mich nichts mehr davon abhalten, endlich das Versprechen einzulösen, das ich mir selbst gegeben hatte. Ich würde sie auslöschen. Die Scheinwerfer erhellten das Ortsschild von Sleepy Hollow. Zeit, mich auf das zu konzentrieren, was vor uns lag. »Wenn wir ankommen, möchte ich, dass ihr alle draußen wartet, während Slade und ich mit dem Hekate-Rat sprechen. Falls ihr merkt, dass schon etwas im Busch ist, heult so laut ihr könnt, und wir kommen zu euch raus.« Michael nickte. »Gut. Wir werden bereit sein.« Ich lehnte mich zurück und atmete tief durch. Slade fasste nach meiner Hand und hielt sie einen Moment lang fest. »Wir werden es schaffen.« 324
Ich sah ihn an und wünschte, ebenso optimistisch sein zu können. »Es würde mir besser gehen, wenn ich wüsste, was die Dominae vorhaben.« Er nickte mit ernster Miene und drückte erneut meine Finger. »Das werden wir bald herausfinden.« Mit dem Kopf wies er in Richtung der Windschutzscheibe. Ich blickte auf und sah das schwarze Tor des Anwesens vor uns, das von den Scheinwerfern angestrahlt wurde. »Sabina, du bist dran«, sagte Michael. Er lehnte sich aus dem Fenster und drückte auf das Sicherheitsdisplay. Ich beugte mich über ihn hinweg, damit die Kamera mein Gesicht erfassen konnte. »Nennen Sie Ihren Namen und den Grund Ihres Besuchs«, sagte eine Stimme aus der Gegensprechanlage. »Ich bin Sabina Kane. Ich muss sofort mit Orpheus sprechen.« Einen Moment lang herrschte Schweigen. Ungeduldig lehnte ich mich erneut vor und drückte nochmal auf das Display, als die Stimme endlich antwortete. »Miss Kane, Ihnen ist es nicht gestattet, dieses Grundstück zu betreten. Das ist ein Erlass des Rats der Hekate. Bitte fahren Sie Ihren Wagen vom Tor weg.« Ich hatte keine Zeit, mich zu streiten, weshalb ich ohne Zögern zu Plan B überging. Damara saß auf dem Beifahrersitz. Ich stieß sie nach vorn, damit sie für die Kamera zu sehen war. Dann rief ich: »Ich habe Damara Crag als Geisel genommen. Öffnen Sie sofort das Tor oder ich jage ihr eine Kugel in den Kopf.« Mein Herz pochte dröhnend laut in meinen Ohren, als meiner Drohung eine unnatürlich lange Pause folgte. Alle im Van hielten den Atem an, während wir auf die Antwort der Magier warteten. Plötzlich ertönte ein Surren, und das Tor öffnete sich langsam. Ich senkte die Waffe und ließ Damara los. Sie rollte sich wieder auf dem Beifahrersitz zusammen, während Michael weiterfuhr. »Okay, Leute, gebt euer Bestes«, sagte ich. »Showtime.« 325
Eine kleine Gruppe Magier erwartete uns vor dem Herrenhaus. Sechs Wachen der Pythia richteten Maschinenpistolen und magische Waffen auf unser Auto. Orpheus stand vor der Gruppe, sein Gesicht düsterer als eine Gewitterwolke kurz vor der Entladung. Michael hielt an, die Scheinwerfer auf die Magier gerichtet. »Steigen Sie aus dem Wagen, die Hände über dem Kopf!« Ich sah Michael an. »Los, raus mit uns. Immer schön langsam. Sie werden mich wahrscheinlich sofort festnehmen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich trotzdem die Chance bekomme, kurz mit Maisie zu reden. Währenddessen versucht ihr Jungs so ungefährlich wie möglich auszusehen.« »Wir werden es versuchen«, meinte Michael trocken. »Aber sobald die Glocke Mitternacht schlägt, wird es ziemlich haarig werden.« Ich warf ihm ein gequältes Lächeln zu und öffnete die Tür. »Gebt euer Bestes.« Dann hielt ich die Hände hoch und sprang heraus. Slade ergriff Damaras Arm, als er neben mich trat. Die Werwölfe bauten sich hinter uns auf. Ohne zu zögern kamen die Wachen auf uns zu, die Waffen im Anschlag. Adam, der ebenfalls anwesend war, trat neben Orpheus. Sein Gesicht wirkte undurchdringlich, ohne eine Spur des Erkennens. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Schließlich musste er annehmen, dass ich nun völlig durchgedreht war und den Schützling seiner Tante als Geisel genommen hatte. Ich hielt die Hände hoch, während mich ein Wachmann nach Waffen absuchte. Auch die Werwölfe und Slade wurden abgetastet. Als die Männer Orpheus mit einem Zeichen zu verstehen gaben, dass wir unbewaffnet waren, trat er vor. Er wies mit dem Kopf auf Damara, woraufhin sich das nun völlig geschlagene Mädchen willig ergreifen ließ. Immer wieder warf sie mir besorgte Blicke zu, während die Wachmänner sie aus der Schusslinie führten. 326
»Sie haben viel Mut, hier aufzutauchen«, sagte Orpheus schließlich. »Ich weiß sehr wohl, dass ich nicht willkommen bin«, erwiderte ich. »Aber dieses Anwesen wird in zehn Minuten angegriffen.« Orpheus’ Augen musterten meine blutigen Klamotten, die ich seit dem Kampf mit Damara nicht gewechselt hatte. »Welche Armee steht hinter Ihnen?« Als mir klar wurde, dass er meine Warnung missverstanden hatte, erklärte ich hastig: »Ich habe keine Armee. Ich bin gekommen, um Sie davor zu warnen, dass die Nod-Kaste nicht länger warten will, dass die Magier den Krieg ausrufen. Sie haben die Dominae davon überzeugt, das selbst in die Hand zu nehmen.« Orpheus warf den Kopf zurück und lachte. »Beinahe hätte ich Ihnen geglaubt, Sabina. Aber die Nod-Kaste? Das ist lächerlich.« Ich sah ihm direkt in die Augen. »Fragen Sie Damara, wie lächerlich das ist.« Orpheus überlegte einen Moment lang und blickte dann zu dem Mädchen hinüber. »Damara? Wovon redet sie?« Damara öffnete zitternd den Mund, um zu antworten. Doch in diesem Moment wurde die Haustür aufgerissen. Maisie rannte heraus, dicht gefolgt von Rhea. Meine Schwester blieb abrupt stehen, als sie die Waffen sah, die auf mich gerichtet waren. »Sabina? Was ist hier los?«, wollte sie wissen. Orpheus trat zu ihr und hielt sie fest, ehe sie weiter auf mich zueilen konnte. »Ich kann dir sagen, was hier los ist, Maisie. Deine Schwester hat Damara entführt.« Maisie sah mich fassungslos an. »Was? Warum?« Rhea musterte mich finster. »Du kleine Ratte!« »Ich habe doch nur behauptet, sie sei meine Geisel, um überhaupt hier hereinzukommen. In Wahrheit war sie diejenige, die versucht hat, mich umzubringen. Sag es ihnen endlich, Damara.«
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Alle Augen richteten sich auf das Mädchen. Tränen strömten ihr über die Wangen, während sie zu sprechen versuchte. »Ich … Ich … Ich habe nicht gewollt, dass es so weit kommt.« Rheas Zorn verflog, stattdessen spiegelte sich unendliche Enttäuschung in ihrer Miene. »Damara?«, flüsterte sie kaum hörbar. »Wie konntest du nur?« Damara senkte den Kopf. »Sie haben gesagt, Sabina hätte meine Mutter getötet.« Orpheus’ Augen weiteten sich. Er hatte sich noch nicht wieder in der Gewalt, als Maisie das entsetzte Schweigen brach. »Ich glaube, wir sollten besser hineingehen und das alles in Ruhe klären.« Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. »Dazu bleibt uns keine Zeit.« »Erklärt mir endlich jemand, was hier eigentlich los ist!«, brüllte Orpheus. »Damara, rede endlich«, forderte ich das Mädchen erneut auf. »Es stimmt. Die Nod-Kaste hat versucht, einen Krieg heraufzubeschwören. Sie wollte, dass ich Sabina töte, damit sich Maisies Prophezeiung nicht erfüllt. Und als ich versagt habe, beschlossen die Mitglieder, die Dominae sollten einen Hinterhalt planen. Die Alpha-Domina gehört auch zur Kaste.« Maisie rieb sich verzweifelt die Schläfen. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Warum sollte die Kaste einen Krieg heraufbeschwören? Und was hat das alles mit Sabina zu tun?« »Sabina«, sagte Slade leise zu mir. »Noch zwei Minuten bis Mitternacht.« Mir stockte beinahe das Herz. »Hört zu. Wir haben jetzt keine Zeit für Erklärungen, sondern wir müssen sofort alle von hier wegbringen!« Orpheus verschränkte die Arme. »Selbst wenn die Kaste versuchen sollte, uns anzugreifen, schaffen sie es gar nicht erst durchs Tor. Wir haben unsere Wachen und unsere Sicherheits-
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vorkehrungen verdoppelt. Die einzigen Wesen, die hier hereinkommen, sind Magier.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Und wieso stehe ich dann hier mit einem Rudel Werwölfe und einem Vampir?« Orpheus hielt inne. Zum ersten Mal zeigte sich Zweifel in seinen Augen. Maisie öffnete den Mund. Doch sie kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen, denn eine gewaltige Explosion hinter dem Gebäude zerriss mir fast das Trommelfell. Wir wirbelten herum, um zu sehen, woher der Lärm kam. Hinter dem Haus stieg eine Rauchwolke auf, und Schreie drangen zu uns herüber. »Gütige Lilith!«, rief Orpheus entsetzt. »Was zum Teufel war das?« Ein leises Knurren jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Ich drehte mich um und riss die Augen auf. Michael, Rex und die anderen drei Werwölfe befanden sich mitten in der Verwandlung. Ihre Gesichter waren verzerrt, ihre Nasen streckten sich, und ihre Münder füllten sich mit messerscharfen Zähnen. Die Kleidung fiel von ihnen ab, als sich ihre Muskeln vergrößerten und auf ihrer Haut wuchs ein raues Fell. Michaels Pelz als Alpha-Tier war silbergrau, die anderen zeigten verschiedene Schattierungen von braun bis schwarz. Während ich ihnen mit weit aufgerissenen Augen zusah, warf Michael seinen gewaltigen Kopf zurück und heulte. Der Rest seines Rudels tat es ihm gleich. Dann rannte die Gruppe ohne Vorwarnung los, der riesige silberne Werwolf an der Spitze. Die Wachen, die bei den Werwölfen gestanden hatten, waren einen Moment lang zu benommen, um zu verstehen, was geschehen war. Jetzt hoben sie die Waffen. »Nein!«, rief ich. »Sie gehören zu uns!« »Lasst sie!«, rief auch Adam. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. Dann wandte ich mich an Slade. »Hol die Waffen.«
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Ehe wir zum Scheideweg gefahren waren, hatte Michael seine Werwölfe angewiesen, den Van in ein mobiles Waffenarsenal zu verwandeln. Für eine Rasse, die sich gewöhnlich nicht in die Politik einmischte, besaßen Michael und sein Rudel eine eindrucksvolle Anzahl von Vampir-Tötungsmaschinen. Jetzt rannte Slade zum Wagen und begann die Waffen zu verteilen. Orpheus rief der Wache der Pythia einen Befehl zu, und die Männer stürmten den Werwölfen hinterher. Ich rannte zu Maisie. Adam brüllte sie an, sofort im Haus zu verschwinden, aber sie weigerte sich. »Maisie, er hat Recht. Du musst dich verstecken.« »Nein! Ich muss helfen!« Ich schüttelte entschlossen den Kopf. Maisie war keine Kriegerin. Sie würde das, was dort hinter dem Haus auf uns wartete, niemals überleben. Und ich konnte mir nicht leisten, abgelenkt zu werden, weil ich mich darauf konzentrierte, sie zu schützen. Ich wandte mich an Adam. »Gibt es im Haus einen sicheren Raum? Irgendwas, wo sich Maisie verstecken kann?« »Ja. Da ist ein geheimes Zimmer im ersten Stock.« Maisie riss sich von mir los. »Ich verstecke mich nicht!« Jetzt mischte sich auch Rhea ein, die mich entschuldigend ansah. Mit einem einzigen Blick war alles vergeben. »Sabina hat Recht, Maisie. Du bist zu wichtig. Vor allem jetzt, da deine Visionen zurückgekehrt sind.« Ich blickte sie überrascht an. »Wirklich?« Maisie nickte mit ernster Miene. »Ja. Aber leider nicht rechtzeitig genug, um das hier vorherzusehen.« Jetzt war ich erst recht entschlossen, sie in ein sicheres Versteck zu bringen. Ich fasste sie an der Hand und begann auf das Haus zuzulaufen. »Ich habe Nein gesagt!« »Komm!«, rief ich. »Ich will dir etwas zeigen.« Wir rannten ins Haus und dort die Treppe hinauf. Adam, Slade und Rhea folgten uns. 330
Während wir liefen, stellte ich sie einander hastig vor. »Adam, das ist Slade.« Ich machte eine Pause. »Er ist ein alter Freund«, fügte ich hinzu. Ich sah, wie Adam Slade einen neugierigen Blick zuwarf. »Slade, das hier ist Adam. Er ist …« »Ich bin ihr neuer Freund«, unterbrach mich Adam. »Außerdem haben wir uns bereits kennengelernt. Allerdings habe ich gedacht, man nennt Sie den Schatten.« Slade lachte. »Das tut man auch. Nur Sabina nicht.« Ich kam beinahe ins Stolpern. In Anbetracht der Situation kam ich zu dem Schluss, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken, dass der Magier, den ich irgendwie liebte, neben dem Vampir stand, mit dem ich vor kurzem noch Sex gehabt hatte. Ganz zu schweigen davon, dass sich die beiden offensichtlich kannten. Eine Sekunde später erreichten wir das obere Ende der Treppe, wo ich Maisie zu den Fenstern drängte und sie dazu zwang, hinauszusehen. »Siehst du das?«, fragte ich. Sie keuchte auf, als sie sah, was draußen auf uns wartete. »Das ist kein Spiel, Maisie.« Draußen herrschte bereits völliges Chaos. Schwarz gekleidete Gestalten kamen über die Magier wie blutrünstige Krähen. Magieblitze schossen über die Lichtung. Von Ferne untermalte das unheimliche Heulen der Werwölfe die Gewalt, die sich vor unseren Augen abspielte. Ein grünes Leuchten zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und mir stockte der Atem. Dort unten kämpfte Giguhl gegen drei Vampire gleichzeitig, während Valva gerade einen vierten angriff. Maisies konnte den Blick nicht von der schrecklichen Szene abwenden. »Ich verstecke mich nicht. Ich kann nicht von meinen Leuten erwarten, dass sie sterben, während ich mich wie ein Feigling hier oben verkrieche. Gib mir eine Waffe, und dann gehen wir hinunter!« Ich seufzte. Maisie mochte keine Kriegerin sein, aber sie war auch nicht feige. Ich sah Adam an. Er zuckte widerstrebend mit
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den Schultern. »Sie weiß, wie man eine Waffe benutzt. Ich habe es ihr schon vor Jahren vorsichtshalber beigebracht.« Wieder seufzte ich. Nachdem ich gesehen hatte, wie unser Feind aussah, wusste ich, dass wir alle Kampfkraft brauchen würden, wenn wir überleben wollten. Ich reichte Maisie eine Glock. »Die ist mit Apfelcidrekugeln geladen.« Maisie überraschte mich, indem sie die Waffe wie ein Profi entsicherte. Ich zog eine Augenbraue hoch. »Sabina«, sagte Slade. »Wir müssen los.« Ich entsicherte ebenfalls. »Gehen wir.«
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Bereits aus der Vogelperspektive hatte die Schlacht furchtbar ausgesehen. Aber jetzt, als ich mich mitten darin befand, wusste ich, was das Wort Hölle bedeutete. Ich rannte auf die rauchende, blutgetränkte Lichtung zu. Überall lagen Tote. Rhea trennte sich schon früh von uns, um bei der Heilung der Magier mitzuhelfen, die verletzt worden waren. Slade und Maisie folgten mir dagegen auf dem Fuß. Als ich jedoch das magische Feuerwerk vor uns sah, rief ich dem Vampir zu, sich von uns zu trennen und sich um eine Gruppe von Magiern zu kümmern, die von einigen Vampiren umzingelt war. Ich nahm Maisie an der Hand und begann, sie hinter mir herzuziehen. »Sabina!«, rief Adam. Er rannte auf mich zu, das Gesicht ausdruckslos. Ohne innezuhalten fasste er mich um die Taille und zog mich an sich. Ich ließ Maisies Hand los. Einen kurzen Moment lang drückte er voll Leidenschaft seine Lippen auf die meinen. Als er sich wieder von mir löste, erhellte ein Lächeln seine
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Miene. »Ich bin froh, dass du wieder da bist. Jetzt bleib am Leben, hörst du?« Ein wenig benommen nickte ich. »Du auch«, erwiderte ich wie eine kleine Idiotin. Mit einem letzten leidenschaftlichen Blick stürzte er sich in die Schlacht. »Sabina, pass auf!«, brüllte Maisie. Ich wirbelte herum, und ein Vamp mit gefletschten Zähnen stürzte sich auf mich. Ich kannte ihn nicht. Im Grunde war es auch egal, denn ich jagte ihm ohne zu zögern eine Kugel zwischen die Augen. Dann hielt ich inne, erwartete, wieder von Übelkeit überwältigt zu werden. Doch mein wankelmütiges Gewissen meldete sich diesmal nicht zu Wort. Stattdessen überkam mich wilde Entschlossenheit. Ich konnte diesen Schweinehunden nicht erlauben, alle zu töten, die mir auf dieser Welt etwas bedeuteten. Ich griff erneut nach Maisies Hand und rannte auf eine Gruppe von drei Vampiren zu, die gerade eine Magierin einkreisten. Sie schaffte es gerade noch, sie mit magischen Blitzen auf Abstand zu halten, aber lange würde sie wohl nicht mehr durchhalten. Einer der Vampire hob die Hand und jagte der Frau eine Ladung Energie in die Brust. Ich blieb abrupt stehen und sah, wie sie bewusstlos zu Boden ging. Das also hatten die Dominae mit dem Blut vorgehabt, das sie den entführten Magiern entzogen hatten. Wenn Vampire Blut trinken, nehmen sie immer auch ein Stück der Wesensessenz ihres Opfers mit auf. Deshalb war es laut dem Schwarzen Vertrag verboten, dass sich Vampire von Magiern oder Feen nährten. Zugang zu magischem Blut machte sie nämlich noch gefährlicher, als sie ohnehin schon waren. Wie ein Rudel Schakale stürzten die drei Vampire sich auf die Magierin. Brüllend vor Zorn rannte ich auf sie zu. Ich packte einen von ihnen und schleuderte ihn einige Meter weit von mir. Dem nächsten drückte ich die Pistole gegen den Schädel. Sein Gesicht explodierte auf den roséfarbenen Chiton der Magierin. 333
Der dritte der Gruppe kam auf mich zu – derjenige, der in der Lage gewesen war, Magie zu benutzen. Er hob erneut die Hand, um einen Blitz auf mich abzufeuern, aber ich duckte mich rechtzeitig und rollte zur Seite. Als ich wieder aufsprang, riss ich ihm mit einem Bein die Füße weg. Er stürzte zu Boden, und Maisie schoss ihn in die Brust. Während er in Flammen aufging, half Maisie der Magierin bereits beim Aufstehen, und ich rannte weiter. In einiger Entfernung entdeckte ich Giguhl. Ich begann ihm zu folgen, falls er Rückendeckung brauchte, aber ein lautes Kreischen ließ mich innehalten. Stryx kreiste über uns. Ich richtete meine Waffe auf ihn und zielte. Diese verdammte Eule hatte mich die ganze Zeit über im Auftrag der Kaste ausspioniert. Ich schloss ein Auge und drückte ab. Der Vogel schrie, als die Kugel einen seiner Flügel durchschlug. Ich fluchte, als sein Körper zu Boden segelte. Ich hatte keine Zeit, um ihn zu suchen und den Job zu Ende zu bringen. Ein vertrauter Schrei hallte auf der Lichtung wider. Durch den Nebel und den Rauch, den die Zauber hinterließen, sah ich, dass Maisie in Schwierigkeiten steckte. Ein Vampir hatte sie in den Schwitzkasten genommen, während zwei andere ihre Füße packten. Ich schaltete auf Autopilot. Jetzt war ich nur noch daran interessiert, meine Schwester zu erreichen. Ich drängte mich durch die Menge der kämpfenden Magier und Vamps und versuchte, zu ihr zu kommen. Nur vage nahm ich Slades schwere Schritte hinter mir wahr. Offenbar folgte er mir. »Sabina!« Er hatte einen Sekundenbruchteil früher gesehen, dass mir jemand ein Bein stellte. Ich fiel nach vorn, mit dem Gesicht auf den Boden. Der Aufschlag raubte mir einen Moment lang die Luft, und ich ließ die Waffe fallen. Als ich nach vorn hechtete, um sie aufzuheben, packte mein Angreifer mich an den Beinen und riss mich zurück. Unbeholfen drehte ich mich um.
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Der Dämon mir gegenüber hätte Giguhls Bruder sein können – ein Unheilstifter. Er hatte dieselben schwarzen Hörner, dieselben schwarzen Lippen und dieselben Ziegenaugen. Nur hatte dieser Dämon schwarz-grün gestreifte Schuppen. Mein Herz schlug schneller. Wie zum Teufel war es den Dominae gelungen, Dämonen für sich kämpfen zu lassen? Mit Vampiren kam ich zurecht, aber ich hatte noch immer keine Ahnung, wie ich einen Dämon außer Gefecht setzen sollte – selbst einen einer so niedrigen Machtstufe. Ich trat nach ihm und wich dann seinen scharfen Krallen aus. Hinter ihm sah ich, wie Slade gegen zwei Vampire kämpfte, während er versuchte, mich zu erreichen. Der Dämon griff nach mir und riss mich hoch. Kurz stand die Welt auf dem Kopf, dann stürzte ich wieder auf die aufgeweichte Erde. Ich richtete mich gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Giguhl den Kerl packte und beiseiteschleuderte. Erleichterung breitete sich in mir aus. Ich war noch nie so glücklich gewesen, meinen Dämon zu sehen. Doch der feindliche Unheilstifter war sofort wieder auf den Beinen und stürmte auf Giguhl zu. Ehe ich ihm zu Hilfe eilen konnte, stürzte sich Valva auf den Dämon. Wie eine Walküre sprang sie auf den Rücken des gegnerischen Dämons, während Giguhl ihm magische Blitze entgegenschleuderte. Ohne zu zögern schlang Valva ihre goldene Kette um seinen Hals und begann ihn zu würgen. Giguhl nahm sich seinen Unterleib vor. »Hilf lieber Maisie!«, rief er mir zu. Ein Vampir kreuzte meinen Weg. Ich zog ein Messer aus dem Stiefel und schleuderte es ihm in den Rücken. Er ging in Flammen auf, als der Apfelholzgriff seine Haut berührte, aber ich war bereits an ihm vorbei. Ich spürte die Hitze der Explosion im Rücken, während ich einen weiteren Vampir ausschaltete. In der Nähe ertönte ein markerschütternder Schrei. Ich blickte in die Richtung, aus der er kam, und sah, dass Damara in die Fänge eines Vamps geraten war. 335
Mein Herz zog sich zusammen. Sie hatte es verdient, aber meine Wut verschwand angesichts der Angst des naiven Mädchens. Ihr Bedürfnis nach Rache hatte sie so geblendet, dass sie erst bemerkte, in welch gefährliches Spiel man sie gezogen hatte, als es bereits zu spät war. »Sabina! Hilfe!« Maisies Schrei verdrängte Damara aus meinem Bewusstsein. Ich fluchte, als ich bemerkte, dass meine Schwester inzwischen acht Gegnern gegenüberstand. Ich rannte so schnell ich konnte auf sie zu. Meine Waffen bahnten mir einen blutigen Weg. Sie hielt nicht inne, um mich anzuschauen, sondern drehte sich wortlos um. Rücken an Rücken bildeten wir eine zweiköpfige Verteidigungsmaschine. Hinter den Vampiren, die uns angriffen, sah ich die leblosen Körper von Dutzenden von Magiern. Vereinzelte Gruppen schafften es, sich gegen zähnefletschende und gehörnte Gegner zu wehren. Einige Magier hatten ihre eigenen Dämonen beschworen, die sich nun ebenfalls in die Schlacht einmischten. Wohin mein Auge auch blickte: Es herrschte blutiges Durcheinander. Ich stach eine Vampirin in den Hals. Noch während sie stürzte und in Flammen aufging, bemerkte ich, dass sich Adam kämpfend einen Weg zu uns bahnte. Es blieb keine Zeit, mir um ihn Sorgen zu machen, denn auf einmal tauchten zehn weitere Vampire auf der Lichtung auf und rannten auf uns zu. »Sabina?«, rief mir Maisie über die Schulter zu, während ich einem Mann in den Bauch trat. »Ja?« Ich hörte das Zischen von Energie, die über uns hinwegsauste. »Wenn wir es nicht lebend hier rausschaffen …«, fing sie an. »Zuerst töten, dann reden!«, unterbrach ich sie. Sie war viel zu sehr mit Kämpfen beschäftigt, als dass sie etwas hätte erwidern können. Ich nahm es ihr nicht übel. Für jeden Vampir, den ich tötete, stießen fünf weitere zu uns. Woher kamen die alle? 336
»Giguhl!«, rief ich über den Schlachtlärm hinweg meinem Dämon zu. Wie aus dem Nichts tauchte er hinter der Vampirin auf, die mir gerade zu schaffen machte. Eine schnelle Bewegung und sie erlag seiner Dämonenmagie. »Was gibt’s?« Seine Brust und seine Klauen waren über und über mit Blut besudelt. Sein grünes Gesicht war voller Asche. »Wie viele von diesen Arschlöchern hast du umgelegt?« »Vielleicht zwanzig. Aber sie scheinen sich irgendwie zu vermehren.« »Such Slade!« »Ich habe ihn vor ein paar Minuten bei den Werwölfen gesehen.« Ich hatte die Werwölfe noch nicht gesehen, da ich selbst alle Hände voll zu tun hatte. Ich schoss auf einen Vampir, der ebendiesen Moment wählte, um sich auf uns zu stürzen. Vor unseren Füßen ging er in helle Flammen auf. »Giguhl!«, rief Maisie hinter mir. »Du und Valva – sucht Rhea!« »Zu Befehl, Captain!«, antwortete er, ehe er wieder in der Menge verschwand. Ein paar Meter von uns entfernt tauchten fünf weitere Vampire auf der Lichtung auf. Mein Herz pochte noch schneller als bisher. Meine Muskeln brannten vor Anstrengung. Meine blutigen Hände schmerzten. Mein Magen zog sich zusammen. Warum wurden es immer mehr Vampire? Maisie und ich kämpften verzweifelt weiter. Sie kam ins Stolpern, ich half ihr wieder auf. Ich ließ nach, sie unterstützte mich. Wir waren zwar in der Minderzahl, bildeten aber ein echtes Team. Ich warf einen Blick zur Seite und stellte fest, dass auch Slade und die fünf Werwölfe sich gegen die Vampire behaupten konnten. Es sah sogar so aus, als würden wir endlich etwas Boden gutmachen. 337
Als mehr Magier in den Kampf eingriffen, spürte ich, wie sich Maisie von meinem Rücken löste. Wir schienen uns einem Durchbruch zu nähern. Ich schoss einem der letzten Vampire in die Brust. Als er explodierte, holte ich tief Luft. Doch meine Erleichterung verflog schlagartig, als eine weitere Horde von Vamps auf der Lichtung erschien. Plötzlich wimmelte die Lichtung wieder von Vampiren und ihren Dämonen. Rhea kam mit Giguhl und Adam auf uns zugerannt. »Alle in einen Kreis!« Alle Umstehenden – etwa zwanzig Magier und ihre Dämonen – bildeten daraufhin einen Kreis, den Rücken nach innen gerichtet. Rhea fasste entschlossen nach meiner linken Hand, während Adam meine rechte ergriff. Ich sah Rhea fragend an. »Was tun wir hier?« »Wir müssen unsere magischen Kräfte bündeln, wenn wir sie besiegen wollen.« »Rhea, ich kann nicht …«, begann ich, als mich Panik ergriff. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch einmal in der Lage sein würde, mit Magie zu töten. Allein die Erinnerung an den brennenden Hawthorne wühlte mich von Neuem auf. Rheas eindringlicher Blick bohrte sich in meine Augen. »Du kannst das.« »Aber …« Sie drückte meine Hand und wandte sich dann an den Kreis. »Zapft die Ley-Linie an!« Das leise Surren von Energie ließ den Boden unter unseren Füßen vibrieren. Ich war mir nicht sicher, was wir da eigentlich taten, aber ich konzentrierte mich trotzdem darauf, die Kraft durch meinen Körper nach oben zu ziehen. Ich schloss die Augen und sammelte mich. Meine Hände brannten in denen von Adam und Rhea, als sich der Kreis mit Magie zu füllen begann. Ich verspürte Druck auf der Brust, in den Lungen und im Hals. Dann sammelte sich die Kraft in meinem Zwerchfell. »Jetzt!«, brüllte Rhea. 338
Die Macht der Energie sprengte mir die Augen auf und entriss mir einen lauten Schrei. Licht explodierte in unserem Kreis. Um uns herum bildete sich ein Ring der Macht, gespeist aus unseren Körpern. Die Energiewelle erfasste die Vampire und Dämonen um uns herum. Wer direkt vor uns gestanden hatte, ging sofort in Flammen auf. Wer weiter weg stand, wurde zwar nicht getötet, aber zu Boden geschleudert und blieb zuckend vor Schmerzen liegen. Mein ganzer Körper, jeder Nerv und jede Muskelfaser, fühlte sich wund an. Das magische Nachbeben ließ meine Glieder zittern. Jemand prallte gegen mich. Ich sah mich um, benommen und wie betrunken. »Sabina?« Ich erkannte die Bewegungen von Adams Lippen, war aber kaum in der Lage, ihn auch zu verstehen. Um zumindest wieder etwas besser sehen zu können, blinzelte ich mehrmals hintereinander. Er fasste mich an der Schulter. »Sabina?« Ich schluckte, als eine Welle der Übelkeit in mir aufstieg. Orpheus rannte zu uns, über und über voll Blut. »Lazarus, suchen Sie sofort mit ein paar der Wachen die Gegend nach Überlebenden ab.« Adam nickte. »Ja, Sir.« Er drückte mir kurz die Schulter, ehe er davonrannte. Orpheus wandte sich nun an mich. »Wo ist Maisie?«, wollte er wissen. »Sie war gerade noch hier.« Ich runzelte die Stirn und blickte mich suchend nach ihrer vertrauten Gestalt um, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. »Rhea? Haben Sie Maisie gesehen?« Rhea kniete neben einem Magier mit einer gefährlich aussehenden Halsverletzung. »Nein. Ich dachte, sie wäre bei dir.« Mein Herz begann aufgeregt zu pochen. »Giguhl!«, rief ich panisch.
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»Ja?« Giguhl und Valva waren dabei, Orpheus’ Aufforderung nachzukommen und auf dem Schlachtfeld nach überlebenden Magiern zu suchen. »Hast du Maisie gesehen?« Er runzelte die Stirn. »Nicht mehr, seitdem wir uns in den Kreis gestellt haben.« Ich fluchte. »Hilf mir, nach ihr zu suchen.« Wir teilten uns auf, um die Gegend nach Maisie abzusuchen. Immer wieder riefen wir ihren Namen. Als ich schließlich in der Nähe des Heiligen Hains auf Adam traf, hatte sich die Angst bereits wie Gift in meinen Adern ausgebreitet. »Was ist los, Sabina?« »Ich kann Maisie nirgendwo finden.« Mit besorgtem Blick sah er mich an. »Sie muss hier irgendwo sein. Ich helfe dir.« Seine Hände und sein Gesicht waren mit dem Blut der Vampire verschmiert, die er nach der magischen Detonation noch lebend gefunden und gepfählt hatte. »Nein. Du musst sicherstellen, dass keines dieser Arschlöcher am Leben bleibt. Ich finde sie schon.« Ich zwang mich zu einem verkrampften Lächeln. »Vielleicht ist sie ja ins Haus gegangen.« Er wirkte nicht überzeugt. »Okay. Ich werde die Werwölfe bitten, herumzuschnüffeln. Vielleicht können sie ja Maisies Fährte aufnehmen.« Ich hielt inne. Der Kampf hatte mich Michael und sein Rudel völlig vergessen lassen. Sobald ich Maisie gefunden hatte, würde ich nachsehen, ob sie in Ordnung waren. »Gute Idee«, sagte ich. »Ich lasse es dich wissen, wenn ich sie finde.« Die Lichter, die aus den Fenstern des alten Gebäudes fielen, erleuchteten das Schlachtfeld wie makabre Scheinwerfer. Ich rannte auf das Licht zu und hoffte, Maisie dort zu finden. Laut rufend lief ich durch die Zimmer, bis meine Stimme heiser wurde. Endlich erreichte ich die Sternenkammer, von der ich wusste, dass es ihr liebster Raum im Haus war. Ich riss die Tür 340
auf und trat mit gezogener Waffe ein. Doch auch dieses Zimmer war leer. Nur Maisies Duft und ihre Malutensilien zeugten von ihrer früheren Gegenwart. Ich schlug mit der Faust gegen die Wand. »Verdammt, Maisie! Wo bist du?« Ich ging weiter ins Zimmer, während sich mir vor Sorge der Magen zusammenzog. Da entdeckte ich die Leinwand, die auf einer Staffelei neben dem Fenster stand. Mir blieb fast das Herz stehen. Es war unverkennbar, womit die rostfarbenen Buchstaben auf die blendend weiße Leinwand geschrieben worden waren. Dort stand in blutigen Lettern: SCHACHMATT.
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Adam fand mich einige Minuten später. Atemlos saß ich auf dem Boden. Um mich herum lagen im ganzen Zimmer verteilt zersplitterte Staffeleien, zerbrochene Pinsel und aufgeplatzte Farbtuben – als hätte eine Bombe in die Sternenkammer eingeschlagen. Meine Hände waren farbverschmiert. Die unzähligen Holzsplitter, die ich mir während meines kurzen Tobsuchtsanfalls zugezogen hatte, brannten. Jetzt war der Zorn verraucht, und die Angst gewann Überhand. Ich starrte regungslos auf die Leinwand und sah Adam nicht an, als er eintrat. »Sabina?«, fragte er und kniete sich neben mich. »Sie hat sie.« Trotz dieser vagen Äußerung schien er sofort zu verstehen, dass es um Maisie ging. »Wer hat sie?« Ich zeigte auf die Leinwand. »Lavinia.« 341
Erst jetzt bemerkte er das weiße Bild. Als er die Botschaft sah, stieß er einen leisen Fluch aus. Ich roch, wie die Wut in ihm aufstieg, denn sein Sandelholzduft verstärkte sich. »Woher weißt du, dass sie es war?« Ich erklärte ihm nicht, dass mir dieses eine Wort alles verriet, was ich wissen musste. Ich erzählte ihm auch nicht, dass ich, schon bevor ich an der Leinwand gerochen hatte, gewusst hatte, dass es Maisies Blut war. Und ich erzählte ihm genauso wenig, dass ich, noch bevor ich das Blut auf der Leinwand entdeckt hatte, tief in mir bereits geahnt hatte, dass es Lavinia irgendwie gelungen war, Maisie zu entführen. Schachmatt. Das Wort schoss wie eine verirrte Kugel immer wieder durch meinen Kopf. »Ich weiß es einfach«, sagte ich schließlich. Er nickte. Offenbar reichte ihm mein Wort als Beweis. »Aber warum hat sie Maisie mitgenommen? Wenn es ihr gelungen ist, sie direkt vor unseren Augen zu entführen, weshalb hat sie dann nicht stattdessen dich genommen?« Ich wandte mich ihm zu und sah ihn an. Seine Stimme klang ruhig, aber seine Augen brannten und strahlten dieselbe Mischung aus Angst und Wut aus, die auch in mir brodelte. »Das wäre zu einfach gewesen. Das hier ist meine Strafe. Sie will mir zeigen, dass sie das Spiel kontrolliert.« In Adams Kiefer zuckte ein Muskel. Er ballte die Fäuste, bis seine Fingerknöchel weiß wurden. »Da irrt sie sich. Wir werden eine Möglichkeit finden, Maisie zurückzuholen.« Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt gibt es nur noch einen Weg, Maisie zu befreien.« »Sabina«, warnte mich Adam. »Sprich es gar nicht erst aus.« Ich hob den Kopf. »Wir haben keine andere Wahl.« »Blödsinn! Du glaubst doch nicht wirklich, dass Lavinia bereit wäre, dich gegen Maisie auszutauschen? Sie werden euch niemals beide mit dem Leben davonkommen lassen. Es ist schon
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schlimm genug, dass Maisies Leben in Gefahr ist. Ich lasse nicht zu, dass du das deine auch noch aufs Spiel setzt.« Ich hob beide Hände. »Welche Möglichkeit haben wir sonst?« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Uns wird schon etwas einfallen. Aber zuerst müssen wir Orpheus benachrichtigen.« Er streckte mir eine Hand entgegen und half mir hoch. Als ich vor ihm stand, schlang er die Arme um mich. Es war keine romantische Geste, sondern eine tröstende. Einen Moment lang genoss ich die Stärke, die er mir gab und sog sie zusammen mit seinem Sandelholzduft auf. »Störe ich?« Ich löste mich von Adam, drehte mich um und sah Slade im Türrahmen stehen. Auch Adam wandte sich dem Vampir zu, ohne jedoch den Arm von meiner Schulter zu nehmen. »Lavinia hat Maisie«, sagte ich. Slades Gesicht wurde kreidebleich, und er fluchte laut. »Gütige Götter, das ist eine Katastrophe.« »Wir wollten es gerade Orpheus sagen. Dann müssen wir uns überlegen, was wir als Nächstes tun.« »Das ist ehrlich gesagt auch der Grund, warum ich mit dir sprechen wollte.« Er warf Adam einen Blick zu. Dieser verstand sofort, was Slade wollte. Mir fehlte das Gewicht seines Arms, als er sich von mir löste. »Ich suche Orpheus.« Er warf Slade einen Blick zu. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er mich leise. Ich nickte beklommen. »Ja. Danke, Adam. Ich komme gleich nach.« Slade beobachtete, wie Adam das Zimmer durchquerte. Zuvor, als wir gemeinsam in den Kampf gezogen waren, hatte ich nicht genügend Zeit gehabt, die beiden Männer miteinander zu vergleichen. Doch jetzt, als ich sie so nebeneinander sah, fiel mir auf, wie verschieden sie waren.
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Slade sah aus wie jemand, der eher in ein Konferenzzimmer als auf ein Schlachtfeld gehörte – selbst jetzt, voller Schmutz und Blut nach dem Kampf. Die Jahre hatten seine rauen Kanten geglättet und ihn schlank und elegant werden lassen. Adam hingegen sah mit seinen Muskeln und dem kurzen Ziegenbart wesentlich härter aus – eher wie ein Kerl von der Straße. Tatsächlich waren beide auf ihre ganz eigene Art und Weise gefährlich. Slade mit seinen Reißzähnen und seiner Vergangenheit als Auftragskiller und Adam mit seiner Magie und seiner Erfahrung als Kampfmagier. Als ich sie beide so vor mir sah, wurde mir bewusst, dass sie auch mir auf unterschiedliche Weise gefährlich werden konnten. Slade, weil er mich genau kannte. Adam wusste, welches Potenzial in mir steckte. Doch all das war im Grunde unwichtig geworden. Meine Schwester war entführt worden, und meine Großmutter wartete auf den großen Showdown. Adam warf mir noch einen letzten Blick zu, ehe er verschwand. Slade schloss hinter ihm die Tür und drehte sich dann zu mir um. »Habe ich da etwa einen Rivalen?« Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nicht im Geringsten Lust, mich jetzt über diese Dinge zu unterhalten. »Worüber wolltest du mit mir reden?« Er seufzte und kam näher. »Sieht ganz so aus, als würden die Magier diesen Ort verlassen.« Ich nickte. »Ja, ich hatte nicht angenommen, dass sie hierbleiben würden, nachdem der Boden so entweiht wurde.« »Gehst du mit ihnen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muss mich um andere Dinge kümmern.« »Du hast doch nicht ernsthaft vor, dich allein Lavinia zu stellen – oder?« Ich verschränkte die Arme. »Das weiß ich noch nicht«, log ich. Slade zog eine Augenbraue hoch. Er kannte mich zu gut, um mir das abzunehmen. »Mach ja keinen Fehler, okay? Nimm je344
manden mit. Ich bin mir sicher, der Magier …« Er wies mit dem Kopf in Richtung der Tür. »… hilft dir liebend gern.« Mir fiel natürlich auf, dass mir Slade seine Hilfe nicht anbot. Vielleicht hätte mich das verletzen sollen. Oder zumindest überraschen. Aber das tat es nicht. »Du bleibst also in New York.« Es war keine Frage. Wieso sollte ich vorgeben, nicht zu wissen, dass er seine Entscheidung bereits getroffen hatte? Slades Miene veränderte sich nicht. Seine Augen zeigten nicht einmal den Anflug eines schlechten Gewissens. »Du weißt genauso gut wie ich, dass das hier nicht mein Kampf ist.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Wenn das wahr ist, warum hast du dann heute Nacht mitgekämpft?« »Weil es auf meinem Territorium geschehen ist.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe allerdings nicht vor, den Schwanz einzuziehen und mich aus dem Staub zu machen, wie der Rat. Dazu habe ich zu viele Jahre harter Arbeit hier hineingesteckt, um jetzt einfach aufzugeben.« Ich verstand, was er meinte, aber insgeheim war ich enttäuscht. Das war nicht Slade Corbin, wie ich ihn kannte. Jetzt war er wieder der Schatten. Und der Schatten kümmerte sich um niemand anderen als um sich selbst. Ich verschränkte die Arme. »In Ordnung. Dann mach’s gut.« »Sabina. Sei doch nicht so.« »Ich?« Ich lachte freudlos. »Ob du es nun willst oder nicht – dieser Krieg wird alle Schattengeschlechter betreffen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er auch zu dir kommt. Ich dachte, du wärst ein Kämpfer, Slade.« Er kniff die Augen zusammen. »Ein kluger Kämpfer entscheidet, wann er kämpft und wann er es besser sein lässt. Und ich glaube nicht, dass dieser Kampf einer ist, den ich gewinnen kann. Es ist besser, das jetzt schon einzusehen und stattdessen am Leben zu bleiben.« »Wunderbar. Dann kümmere dich ruhig um dich selbst. Während du das tust, ziehen wir anderen für dich in den Krieg.« 345
»Jetzt verschone mich mit deiner selbstgerechten Empörungsnummer, Sabina! Ich bin für die Schattengeschlechter in New York verantwortlich. Die Magier mögen abziehen, aber es bleiben immer noch Tausende von Vamps und Werwölfen, die jemanden brauchen, der sie führt. Ich habe mich bereits mit Orpheus unterhalten und ihm versprochen, dass ich helfen werde, wo ich kann.« Das nahm mir etwas Wind aus den Segeln. »Oh.« Er lächelte. »Dasselbe gilt übrigens für dich. Falls du Hilfe brauchst, musst du nur anrufen.« Ich lächelte verlegen. Es war mir peinlich, dass ich ihn so vorschnell verurteilt hatte. »Danke.« Er kam näher und nahm meine Hand. »Ich kann dich vermutlich nicht dazu überreden, wieder hierher zurückzukommen, wenn du deine Schwester gefunden hast. Oder?« Die eigentliche Frage, die er mir stellen wollte, leuchtete wie in Neonschrift zwischen den Zeilen auf. Er wollte nicht wissen, ob ich wiederkommen und für ihn arbeiten würde. Er wollte wissen, ob ich vorhatte, das fortzusetzen, was wir in der Nacht zuvor begonnen hatten. Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich es überlebe, Maisie zu retten, wird mich der Rat der Hekate brauchen.« Slade zog einen Mundwinkel nach oben und lächelte schief. »Vermutlich sollte ich mich glücklich schätzen, dass du nicht die übliche ›Es liegt nicht an dir, es liegt an mir‹-Nummer abziehst. Nett, dass du mein Ego verschonst!« Ich lachte. »Ich bezweifle stark, dass dein Ego jemals in Gefahr war, soweit es mich betrifft. Wir wissen beide, dass das niemals funktionieren würde, Slade.« »Du hast wahrscheinlich Recht.« Er seufzte theatralisch. »Aber falls du jemals Sehnsucht nach meinem Körper haben solltest, stehe ich dir gerne zur Verfügung.« Ich grinste und zog ihn an mich, um ihn zu umarmen. Er wurde wieder ernst und drückte mich an sich. Während wir uns hielten, flüsterte er in mein Haar: »Lass dich nicht umbringen, ja?« 346
Ich lächelte an seiner Brust. »Du auch nicht«, erwiderte ich leise. Damit löste ich mich von ihm. Er lächelte mir ein letztes Mal zu, ehe er die Sternenkammer verließ. Ein Teil von mir wollte ihn zurückrufen, doch ich blieb stumm. Slade und ich mussten beide unserer Wege gehen. Vielleicht würden sie sich eines Tages wieder kreuzen, aber für den Moment war ich vor allem froh, dass wir uns diesmal mit einem viel besseren Gefühl voneinander verabschiedet hatten als damals vor dreißig Jahren. Schon seltsam, wie das Leben manchmal spielte. Manchmal entpuppt sich jemand, den man für einen Feind gehalten hat, unerwartet als Verbündeter. Ich warf einen letzten Blick auf die Leinwand. Das Abschiedsgeschenk meiner Großmutter. Schon seltsam, wie das Leben manchmal spielte. Manchmal entpuppt sich jemand, den man für einen Verbündeten gehalten hatte, unerwartet als der größte Feind. Auf meinem Weg zurück zum Hain vernahm ich ein lautes Heulen. Der klagende Laut jagte mir einen eisigen Schauder über den Rücken. Als ich nach Westen blickte, sah ich fünf riesige Schattengestalten, die sich vor dem Blutmond abzeichneten. Einen Moment lang beobachtete ich Michael und sein Rudel bei ihrem nächtlichen Konzert. Der Klang ließ mir das Herz schwer werden. Im Gegensatz zu Slade hatte sich Michael nicht aus Eigennutz entschlossen, fortzugehen. Das wusste ich. Für Michael ging es immer zuerst um sein Rudel. Ich lächelte und zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich, dass ich eine solche Motivation verstehen konnte. Dann wandte ich den Werwölfen den Rücken zu und lief weiter zum Heiligen Hain. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich Michael Romulus nicht zum letzten Mal gesehen hatte. Doch bis dahin hatte ich ein paar wichtige Entscheidungen zu fällen. 347
Ich entdeckte Adam in der Nähe des Altars im Hain, umgeben von den überlebenden Magiern. Als ich bemerkte, wie wenige es noch waren, zog sich mein Herz zusammen. Zu Beginn des Kampfes hatten sich ungefähr dreihundert Magier auf dem Anwesen aufgehalten, um das Blutmondfest zu feiern. Jetzt waren es weniger als hundert. »Wir müssen zur Königin«, erklärte Orpheus gerade, als ich zu ihnen stieß. Er stand in der Mitte eines kleinen Kreises, zu dem auch Adam, Rhea und die überlebenden Ratsmitglieder gehörten. »Sie wird sich zwar nicht freuen, uns zu sehen, aber uns bleibt nichts anderes übrig. Wir müssen sie vor den Plänen der Kaste warnen.« »Adam, Sie waren dort. Glauben Sie, Königin Maeve wird ihre Meinung hinsichtlich der Allianz ändern?«, erkundigte sich eine Ratsfrau. Adam blickte finster drein. »Ich habe keine Ahnung. Wer weiß – vielleicht hat sie die Kaste bereits auf ihre Seite gezogen. Schließlich hat auch Hawthorne Banathsheh für die Kaste gearbeitet.« Ich blickte zu Boden, als ich den Namen des Feen-Mannes vernahm, den ich so brutal getötet hatte. »Sabina«, sprach mich nun Orpheus an. »Es tut mir so leid, dass wir Ihnen nicht schon früher geglaubt haben. Wenn ich nicht so …« Seine Stimme versagte. Ich empfand Mitleid für den Anführer der Magier. Es war nicht seine Schuld, dass so viele seiner Leute hatten sterben müssen. Das war allein Lavinia zuzuschreiben. »Es ist sinnlos, sich jetzt Vorwürfe zu machen. Es ist geschehen. Nun müssen wir nach vorne blicken.« Er nickte. »Sie haben Recht. Wir werden nicht nur die Königin warnen, sondern auch alle anderen Magier. Wenn wir uns neu formieren wollen, brauchen wir jeden fähigen Mann, den wir finden können. Rhea?«
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Rhea trat vor. »Ich werde mich darum kümmern. Wenn ihr zum königlichen Hof in North Carolina fahrt, mache ich mich auf den Weg zur Kolonie in Massachusetts. Dort wird man mir bestimmt helfen können, mit den anderen in Kontakt zu treten.« Orpheus wandte sich an mich. »Adam sagte, Sie seien bereit, Maisie zu suchen?« Ich nickte mit grimmiger Miene und wartete darauf, dass er protestieren würde. Doch er überraschte mich. »Ehrlich gesagt halte ich das für eine gute Idee. Wenn Sie mit uns kommen, wird sich Königin Maeve weigern, uns anzuhören. Und wenn jemand Maisie zurückholen kann, dann sind Sie das.« Er verschränkte die Arme. Als er wieder sprach, klang seine Stimme belegt. »Aber wenn Sie glauben, dass wir bereit sind, Sie zu opfern, indem wir Sie allein losziehen lassen, irren Sie sich. Lazarus wird Sie begleiten. Und ihr kommt alle drei wieder gesund nach Hause. Haben Sie mich verstanden?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist allein mein Kampf.« »Du irrst dich«, sagte Rhea. »Ob es dir gefällt oder nicht – du bist eine von uns. So wie Maisie eine von uns ist. Wir werden dich nicht auf eine Selbstmordmission schicken, nur weil du zu stur bist, um Hilfe anzunehmen. Maisie verdient mehr als das – und du auch.« Ich sah Orpheus an, und dieser nickte. »Außerdem«, meldete sich nun auch Adam zu Wort, »mit wem willst du denn den Sieg über deine Großmutter begießen, wenn ich nicht mitkomme?« »Mit mir!«, rief Giguhl. »Und mit mir«, sagte auch Valva, die sich neben Giguhl stellte. Die Augen der Eitelkeitsdämonin glühten vor Entschlossenheit. »Als Maisies Dämonin habe ich das Recht, sie zu retten.« Als ich den entschieden dreinblickenden Magier und die beiden treuen Dämonen sah, die mich nicht im Stich lassen wollten, begannen meine Augen verdächtig zu brennen. »Danke, Leute. Das vergesse ich euch nie.« 349
»Dann ist das geklärt«, sagte Orpheus. »Ich verlange täglich Bericht über euren Fortschritt. Wenn ihr irgendetwas braucht, kann ich zwar nicht hundertprozentig versprechen, euch zu helfen, aber versuchen werde ich es auf jeden Fall.« Der Ernst der Lage lastete schwer auf allen, die sich im Heiligen Hain versammelt hatten. Es war jetzt kaum mehr vorstellbar, dass der Rat noch wenige Tage zuvor darüber diskutiert hatte, ob man in den Krieg ziehen sollte oder nicht. Jetzt hatte der Krieg die Magier eingeholt, und bereits im ersten Kampf hatten viele ihr Leben lassen müssen. Ich beneidete Orpheus nicht um seine schwere Aufgabe, aber ich musste zugeben, dass ich die Vorstellung meiner eigenen Aufgabe ebenfalls ziemlich abschreckend fand. Irgendwie musste ich einen Weg finden, Maisie aus den Klauen der Vampire zu retten und gleichzeitig sicherzustellen, dass Adam und die Dämonen am Leben blieben. »Dieser Ausdruck in deinen Augen gefällt mir nicht«, erklärte Adam. »Du überlegst dir, wie du uns loswerden und die Sache doch allein durchziehen kannst, habe ich Recht?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich frage mich nur, wie wir das alles schaffen wollen. Wir haben keine Ahnung, wo sie Maisie gefangen halten. Und selbst wenn wir es herausfinden, wird man uns dort bereits erwarten. Seid ihr sicher, dass ihr nicht doch lieber hierbleiben wollt?« Giguhl grinste und legte einen Arm um Valvas Schultern. »Du machst Witze, oder? Ob dir das gefällt oder nicht – mich wirst du nicht mehr so schnell los.« Valva lächelte verschmitzt und nickte. Als Maisies Dämonin hatte sie natürlich das Recht, uns zu begleiten. Auch wenn ich insgeheim wusste, dass ihre sofortige Bereitschaft, mitzukommen, wohl eher Giguhl zuzuschreiben war. Ich sah Adam an. Seine Miene war ernst. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er würde Vernunft annehmen und es sich doch anders überlegen. Doch dann zeigte sich sein typisches
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Grinsen. »Wir sind ein Team, Rotschopf«, verkündete er entschlossen. In mir regte sich das schlechte Gewissen. Ich verdiente Adams Loyalität nicht. Genauso wenig wie ich Giguhls oder Valvas Loyalität verdiente. Aber ich brauchte sie – und zwar verdammt dringend. Und da ich nun endlich zu begreifen begann, worum es im Leben ging, würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, mir ihre Freundschaft von nun an zu verdienen. »Also gut«, sagte ich und spürte, wie mich neue Kraft von innen wärmte. »Holen wir uns meine Schwester zurück.«
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Danksagung Manchen mag es überraschen, aber ich bin nicht gerade für meine Geduld bekannt. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher, als wenn ich mich mit mir selbst konfrontiert sehe. Dankenswerterweise bin ich jedoch in der glücklichen Lage, von zahlreichen geduldigen und hilfsbereiten Menschen umgeben zu sein, die meine Tobsuchtsanfälle mit der Ruhe von Heiligen ertragen (zumindest in meiner Gegenwart). Jonathan Lyons, mein unerschrockener Agent, ertrug mehrere Entwürfe dieses Buches. Dafür allein verdient er eine Medaille. Noch mehr stehe ich allerdings in seiner Schuld, weil er mir den ausgezeichneten Rat gab, meine Neurosen zu meinem Vorteil zu nutzen. Und ich muss sagen – ich genieße es aus vollen Zügen. Devi Pillai ertrug auch mehrere Romanentwürfe. Sie schaffte es, nicht zu lachen, zu brüllen oder mich zu verfluchen. Stattdessen machte sie mich betrunken und legte mir dann ganz sanft Daumenschrauben an, die sie enger drehte, bis ich es hinbekam. Gut taktiert, Madam. Das unglaubliche Team von Orbit US lässt es noch immer krachen. Tim Holman, Alex Lencicki, Jennifer Flax, Lauren Panepinto, die Vertriebs- und Marketinggurus – alle sind cool geblieben und haben mich großartig unterstützt. Danke, Leute! Ein großes Dankeschön gilt auch meinen Betalesern, allesamt selbst tolle Schriftsteller: Sean Numb Ferrell, Suzanne Cold Kiss of Death McLeod und Mark Battle of the Network Zombies Henry. Kauft ihre Bücher, Leute! Ein besonders lautes Hurra geht an Lee Smiley. Als ich einen Hilferuf aussandte, da mir kein passender Titel einfiel, schlug Lee Schwarzlichtdistrikt vor. Letztlich eignete sich der Vorschlag dann doch nicht als Titel, aber mir gefiel die Idee so gut, dass der Schwarzlichtdistrikt Teil der Geschichte werden musste. Danke, Lee!
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Mark und Leah möchte ich dafür danken, mein Leben immer wieder mit ein bisschen Schmutz und Sarkasmus aufzuhellen. Danke, Zivy, für den Zuspruch und die aufmunternden Worte in New York, für die Jahre der Freundschaft und dafür, dass du mich zum Lachen bringst. Danke, Emily, dass du mein größter Fan wurdest, obwohl du noch nie zuvor einen Vampirroman gelesen hast. Und danke auch den Mitgliedern der »League of Reluctant Adults«, weil sie mich immer wieder zum Lachen bringen und so tolle Ratschläge für mich haben. Ein besonders großes Dankeschön geht an Mr. Jaye, der mein Ratgeber, mein bester Freund und die Liebe meines Lebens ist. Du und Spawn, ihr seid der Grundstein alles Schönen in meinem Leben. Ich bin eine glückliche Frau – und das allein euretwegen.
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Titel der amerikanischen Originalausgabe THE MAGE IN BLACK Deutsche Übersetzung von Franziska Heel
Deutsche Erstausgabe 10/2010 Redaktion: Kristina Euler Copyright © 2010 by Jaye Wells Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH eISBN: 978-3-641-05141-9 www.heyne-magische-bestseller.de www.randomhouse.de
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