Herbert Beckmann
Jonas und die Sache mit der Freundschaft Erzählung Mit einem Anhang
Beltz & Gelberg
Gesetzt nach d...
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Herbert Beckmann
Jonas und die Sache mit der Freundschaft Erzählung Mit einem Anhang
Beltz & Gelberg
Gesetzt nach der neuen Rechtschreibung Gulliver Taschenbuch 261 Originalausgabe
© 1997 Beltz Verlag, Weinheim und Basel Programm Beltz & Gelberg, Weinheim Alle Rechte vorbehalten Lektorat Susanne Härtel Reihenlayout und Einband von Wolfgang Rudelius Gesamtherstellung Druckhaus Beltz, 69494 Hemsbach Printed in Germany ISBN 3 407 78261 6
Jonas und Werner sind dicke Freunde. Auf dem Bolzplatz und in der Schule halten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Deshalb erzählt Jonas seinem Freund auch von den juckenden Bläschen an der Lippe und seiner Angst, Aids zu haben wie seine Mutter, die früher einmal Drogen genommen hat. Da wollen Werner und auch die meisten anderen Kinder lieber nichts mehr mit Jonas zu tun haben. Was der Junge nun durchmacht, ist ein Alptraum… Herbert Beckmann, geboren 1960, lebt und arbeitet in Berlin und Brandenburg. Als Psychologe hat er mehrere Jahre HIV-infizierte und drogenabhängige Menschen beraten und betreut. Über diese Zeit hat er auch eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben. Als Autor hat er gelegentlich für den Hörfunk und das Fernsehen gearbeitet; vor allem aber hat er Bücher geschrieben und herausgegeben. Seit 1991 ist er Vater einer Tochter. – Der »Jonas« ist sein erstes Kinderbuch.
1
Wie ein schwarzer Mond schwebt der Ball am strahlend blauen Nachmittagshimmel. Jonas starrt in die Luft und verfolgt gebannt die Flugbahn seines verunglückten Torwartabschlags. Der Riesenarm des knallgelben Baukrans neben dem Bolzplatz scheint nach dem Ball zu greifen, doch da fällt er auch schon wie ein Stein vom Himmel herab – direkt vor Orhans Füße. Und der lässt sich ein solches Geschenk nicht entgehen. Mit lautem Klatschen prallt der Ball gegen die graue Steinmauer in Jonas’ Rücken. Scheiße, Tor!, denkt Jonas. »He, cool versenkt, das Leder, Orhan!«, schreit Martin. »Danke, Torwart!«, ruft Salim Jonas höhnisch zu, »solche Vorlagen vom Gegner gibt’s nicht alle Tage.« »5:3 für uns. Schluss für heute, tschüs. Ich muss weg«, sagt Orhan und stolziert vom Platz. »O.k. Verlierer, bis morgen!« Mit zufrieden grinsenden Gesichtern trotten Martin und Salim hinter Orhan her. Na klar, denkt Jonas, immer muss Orhan bestimmen, wann Schluss ist, bloß weil er schon zehn ist und in die Fünfte geht und sowieso der Größte ist! Jonas ist neun und geht in die vierte Klasse. »He!«, ruft Werner den Jungen nach, als sie schon fast an der Pohlstraße sind. »Ihr seid wohl zu schlapp für ‘ne Revanche!« Die drei winken verärgert ab und Werner grinst zufrieden zu Jonas hinüber. Typisch Werner, denkt Jonas, der lässt sich niemals die Laune verderben. Das mag er so an seinem Freund: Mit
Werner hat er immer seinen Spaß. Selbst in der Schule, wo sie nebeneinander sitzen. Bloß Furkan, ihr dritter Mitspieler, ist stinkesauer: »Mit euch Flaschen spiel ich nicht noch mal!«, schimpft er. Furkan fischt sich missmutig sein Hemd vom Boden des Schotterplatzes. »Der eine spielt Fußball, wie ‘n Fleischer zuhackt«, sagt er mürrisch und klopft den roten Staub vom Hemd ab, ohne Jonas oder Werner anzusehen. – Das ging gegen Werner. »Und der andere schießt Kerzen in die Luft, damit der Gegner besser an den Ball kommt. Voll cool.« – Das ging gegen Jonas. Aber das will Werner nicht auf sich sitzen lassen: »Jetzt hör doch mal auf. Kommt doch drauf an, wer am schönsten spielt, nicht wer gewinnt. Oder?« Jonas stimmt ihm lachend zu. Furkan schaut Werner grinsend von oben bis unten an. Er klemmt sich seinen Fußball unter den Arm und macht vorsorglich ein paar Schritte von Werner weg. Dann sagt er langsam: »Glaubst du ehrlich, Alter, dass das schön ist für andere, sich so ‘ne fette Robbe wie dich mit ‘nem Ball am Fuß anzugucken?« Eine Sekunde später rasen zwei rostrote Staubwolken über den Bolzplatz an der Pohlstraße: eine schnelle Wolke, die ständig Wendungen macht, und eine langsame, die vergeblich versucht, die erste einzuholen. Als auch Jonas die Straße erreicht, kommt ihm Werner keuchend und abgekämpft entgegen. Er ist über und über mit Staub bedeckt, der in seinem verschwitzten Gesicht einen sonderbaren Sandfilm bildet. »Und?«, fragt Jonas. »Hast du ihn erwischt?« Dabei weiß er, dass Werner viel zu langsam ist, um Furkan einzuholen. »Nö, hab ihn noch mal laufen lassen.«
Jonas lacht. Das ist eben typisch für seinen Freund Werner. Den schmeißt so schnell nix um. Gemeinsam gehen sie nach Hause, denn sie wohnen ja in derselben Straße. Vor der Steinstraße 37, in der Werner wohnt, verabreden sie sich für den nächsten Morgen, wenn sie zusammen zur Schule gehen. Da sagt Werner plötzlich: »Jo, du hast da so komische Pickel auf deinem Mund. Sehen voll eklig aus, die Dinger.« »Weiß ich.« Die Pickel hat Jonas auch schon bemerkt. »Jucken wie Teufel«, sagt er und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Ciao, bis morgen«, sagt Werner und verschwindet im Hausflur.
2
»Jonas!« »Ja-ha.« »Wo steckst du denn, Jonas?« »Im Bad.« »Beeil dich, bitte. Du willst doch nicht schon wieder zu spät zur Schule kommen.« Jonas will wirklich nicht zu spät zur Schule kommen, aber er muss jetzt erst diese gemeinen Dinger untersuchen. Diese kleinen Pickel, die so teuflisch jucken. Gestern, nach dem Fußball, waren sie nur außen, an den Lippen. Jetzt sind sie auch innen, jedenfalls brennt es im ganzen Mund. »Mama?« »Jonas, wo bleibst du denn!« »Mama, kommst du mal?« Hedda, Jonas’ Mutter, kommt ins Bad und sieht Jonas mit weit aufgesperrtem Mund und nach unten gezogener Unterlippe vor dem Spiegel stehen. »Was machst du denn da, Jonas?«, fragt sie erstaunt. Jonas deutet auf seinen Mund: »Mama, ich hab hier lauter Pickel.« »Im Mund? Gestern Abend waren es doch nur welche auf den Lippen. Zeig mal her.« Jonas sperrt seinen Mund auf und lässt Hedda schauen. »Oje«, entfährt es ihr. Hedda ist erschrocken. Jonas sieht es ihrem Gesicht an, über das ein Zucken huscht und das dann ganz weiß wird. Trotzdem fragt sie arglos, als wenn nichts wäre: »Jucken die Bläschen im Mund genauso wie die auf den Lippen?«
»Nee, die im Mund brennen, nur die an den Lippen jucken.« Hedda beugt sich hinunter, um sich die Pickel noch einmal anzusehen. Jonas betrachtet seine Mutter genau, ihr Gesicht ist dem seinen ganz nah. Auf ihrer Stirn beginnen Schweißperlen zu glänzen. »Wie lange hast du diese Bläschen schon, Jonas?« »Aber das hab ich doch gesagt.« Hat Hedda denn nicht zugehört? »Die an den Lippen seit gestern und die im Mund seit heute. Und sie jucken und brennen voll ätzend.« »Ja, ich weiß, wie das ist. Aber trotzdem darfst du nicht mit den Fingern drangehen, das macht alles nur noch schlimmer, hörst du?« Natürlich weiß Hedda, wie das ist, denkt Jonas, denn sie hat diese Pickel selbst schon oft gehabt. Zuerst an den Lippen, dann im Mund, und einmal auch am Bauch. Es war ihr selbst immer schwer gefallen, nicht an den Pickeln zu kratzen, auch daran erinnert sich Jonas. Einmal hatte sie geweint, als sie aus dem Bad gekommen war. »Mein Gott«, hatte sie schluchzend gesagt, »das sieht ja aus wie der Anfang vom Ende.« Jonas erschrickt. Ein furchtbarer Gedanke kommt ihm: »Ist es das, was du auch hast, Mama? So fängt doch Aids an?« »Nein, nein«, sagt Hedda rasch. »Aids kann es gar nicht sein.« Aber Jonas schaut beklommen in Heddas Gesicht. Es ist so fahl und ihre Stimme so hoch. Als hätte sie seine Gedanken erraten, hustet sie, ihre Stimme wird klarer und ihr Gesicht bekommt etwas Röte. »Nein, mein Schatz«, sagt sie wieder lauter und fasst Jonas liebevoll an den Armen. »Ich hab’s dir ja schon erklärt: Bei Aids ist der Körper so schwach, dass er sich gegen Krankheitserreger nur noch ganz schlecht wehren kann. Wenn man wirklich Aids hat, kriegt man oft gleich mehrere Sachen auf einmal, zum Beispiel Fieber oder Durchfall oder was weiß
ich.« Hedda atmet tief durch. »Dies hier sind einfach nur Herpesbläschen. Vielleicht hast du einfach zu viel Sonne abbekommen. Die Sonne regt Herpes an.« »Aber außer gestern hat es doch die ganze Zeit geregnet, Mama. Da war doch gar keine Sonne.« »Na, dann war die Sonne gestern eben schon zu viel für dich«, sagt Hedda. Sie klingt auf einmal fast ärgerlich. »Dann darf ich also nur noch raus, wenn es regnet, oder wie?« Jonas weiß jetzt wirklich nicht mehr, was er denken soll. Hedda atmet tief durch und schaut ihn mit großen Augen an. Jonas bekommt plötzlich ein ganz schweres Gefühl im Bauch. Endlich sagt Hedda: »Gottlob gibt es ja eine Salbe dagegen.« Im Schränkchen im Bad kramt sie nach der Salbe. Sie streicht mit einem kleinen Pinsel ein wenig davon über die Bläschen an den Lippen und im Mund. Jonas ist überrascht. »Schmeckt gar nicht mal schlecht, das Zeug, nach Himbeeren«, sagt er. Hedda streicht Jonas über den Kopf und will ihm einen Kuss geben. Aber dafür hat Jonas plötzlich keine Zeit mehr. Es reicht ihm zu wissen, dass sie ihn küssen wollte. Schon stürmt er aus dem Bad, reißt seine Jacke von der Garderobe, Schuhe an, Schultasche über die Schultern, die Wohnungstür fliegt auf und zu – weg ist er! »Dein Schulbrot!«, hört er Hedda im Treppenhaus noch rufen. Aber da ist er schon unten angekommen. Laut krachend lässt er die Haustür ins Schloss fallen.
3
»Komme gleich! Bin schon unten, Jo!«, dröhnt Werners Stimme aus der Sprechanlage. Es ist noch kühl an diesem Morgen, der Himmel ist bedeckt, und Jonas fröstelt ein wenig. Er betrachtet die weiß gesprühten Graffiti an der Haustür der Steinstraße 37. IHR WICHTE!, steht dort zweimal in großen Buchstaben, und daneben grinst eine Art Marsmensch mit drei Haaren auf dem Kopf, Mausaugen, Segelohren und einer Knollnase. Gestern war das noch nicht da, überlegt er und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Die Salbe schmeckt er kaum noch, aber diese ätzenden Pickel jucken, dass er mit den Zähnen darauf rumbeißen muss. Plötzlich geht die Tür auf und Werner steht keuchend vor ihm. »Da bist du ja endlich!«, sagt Jonas. »Haste Kleber unter deinen Schuhen?« Werner schnauft so heftig, dass er aussieht wie ein Blasebalg. Und wie immer hat er einen passenden Spruch auf Lager: »Du hast gut reden, Jo«, sagt er. »Du brauchst bloß aufn Knopp zu drücken. Aber ich muss runtersprinten.« Na ja, sprinten… denkt Jonas und betrachtet schief Werners dicken Bauch von der Seite. Ja, sein Freund ist ein wenig rund, aber irgendwie passt das zu Werner, findet Jonas. Werner ohne dicken Bauch wäre irgendjemand anders, aber nicht Werner. Wie der dann wohl heißen müsste?, denkt Jonas. »Is’ eigentlich Sport heute?«, ruft Werner empört, als sie um die Ecke hasten und in die Kurfürstenstraße einbiegen.
»Nee, wieso?«, fragt Jonas und erschrickt, denn er hat keine Turnsachen dabei. Schon wieder. »Warum hetzen wir dann so? Scheiß doch drauf, wenn wir zu spät kommen!«, sagt Werner und bleibt einfach stehen, um durchzuatmen. »Los, mach schon! Ist gerade grün geworden«, sagt Jonas, als sie zur Ampel an der Kreuzung zur Potsdamer Straße kommen. Aber plötzlich bleibt Jonas selber stehen. Und Werner, der gerade wieder losgelaufen ist, schaut ihn verwundert an. »Willst du mich verarschen?«, schimpft er. »Ich bin doch nicht dein Gaul oder was.« Doch da bemerkt Werner, dass etwas in Jonas vorgeht. Denn Jonas schaut ihn an und doch wieder nicht, und dabei fährt er sich wie verrückt mit der Zunge im Mund herum. »Was is’n mit dir, Jo? Frühstückst du noch oder warum kaust du so?« »Diese Scheißpickel im Mund, Mensch!« Jonas könnte heulen, denn die Salbe hilft nicht und es fühlt sich an, als hätte er sich den Mund verbrannt. »Pickel im Mund?«, tönt Werner und grinst über den Witz, den er gerade aus der Tasche zieht. »Der größte Pickel sitzt doch auf deinem Hals!« Jonas lacht kein bisschen und ärgert sich sogar über Werners Sprücheklopferei. Ohne etwas zu sagen, schaut er in die spiegelnden Schaufenster von Woolworth, vor denen sie gerade stehen geblieben sind. Doch dann muss auch Jonas lachen, obwohl ihm gar nicht danach zumute ist. Denn er sieht sich und Werner im Schaufenster, wie sie weitergehen, wie zwei Gespenster, ein dickes und ein dünnes, die bei Tag mitten durch die Kleider spazieren, die dort hinter dem Fenster an den Haken hängen. Wenn nur die Salbe helfen würde, denkt Jonas und beißt sich wieder auf die Lippe. Und plötzlich, ohne dass er es will,
rutscht es ihm einfach so heraus: »Meine Mutter hat Angst, dass ich Aids kriege!« Jetzt bleibt Werner stehen wie vom Blitz getroffen: »Spinnst du, Jo? Wieso Aids? Wieso du? Gibt’s doch gar nich’!« »Gibt’s aber doch«, sagt Jonas. Und hier, an der Ecke zur Pohlstraße, gegenüber dem Eingang zur Schule, direkt vor dem Tchibo-Shop – hier sagt Jonas, was er noch nie jemandem erzählt hat, nicht einmal seinem besten Freund Werner: »Meine Mutter hat früher mal Drogen genommen und dadurch hat sie den Virus, von dem man Aids kriegen kann. Und jetzt hat sie Angst, ich könnte den Scheißvirus auch haben.« Werner starrt Jonas fassungslos an. »Hast du nicht mehr alle auf der Reihe, Jo? Du und Aids! Hör doch mal auf!« »Ich sag ja nicht, dass ich’s hab«, sagt Jonas, und er freut sich sogar ein wenig, dass Werner versucht, ihm den schrecklichen Gedanken auszureden. »Ich sag bloß, dass meine Mutter Angst hat, dass ich auch den Virus habe. Das hier« – Jonas deutet auf die Bläschen an seinen Lippen –, »das ist Herpes. Und das hat sie auch oft. Das kommt von dem Virus, sagt sie dann. Bloß bei mir soll’s plötzlich von der Sonne kommen.« Langsam scheint Werner zu begreifen. Er möchte jetzt weitergehen, doch die Ampel ist noch rot. Er hat begriffen, dass Jonas nicht spinnt. Er betrachtet Jonas’ Lippen und Jonas sieht, dass sein Freund sich ekelt. Er weiß, was Werner jetzt denkt: Wenn Jonas nun Aids hat? Und wenn das nun ansteckend ist? Werner bekommt plötzlich Angst vor ihm, das sieht Jonas ihm an. Werner hält das Warten kaum noch aus, er scharrt fast mit den Füßen auf dem Boden. Werner will weg, bloß weg von Jonas.
Dann schaltet die Ampel auf Grün, die Autos brausen auf beim Anfahren, und Werner hat es jetzt plötzlich sehr eilig, in die Schule zu kommen. Alle sind wohl schon in der Klasse, denn draußen ist außer Herrn Sallmann, dem Hausmeister in seinem grauen Arbeitskittel, kein Mensch mehr zu sehen. Die beiden Freunde marschieren schweigsam die Treppe hoch, im zweiten Stock reißt Werner wie immer die schwere Glastür mit den blauen Plastikgriffen auf. Aber es ist heute nicht wie sonst. Das spürt Jonas und das spürt auch Werner. Etwas hat sich verändert. Wortlos hängen sie ihre Sachen an die Haken im Flur. Die Tür zum Klassenraum steht noch auf. Marwitz, der Erdkundelehrer, ist also noch nicht da. Dann tauchen sie ein in den Lärm und den Trubel der Klasse, wie jeden Morgen vor der ersten Stunde.
4
Dort drüben, auf der anderen Straßenseite, läuft Werner. Jonas steht noch immer an der Ampel neben dem Tchibo-Shop und schaut ihm nach. Soeben waren sie noch nebeneinander hergetrottet, als sie vom Schulhof kamen. Über irgendetwas hatten sie miteinander geredet, aber es war nicht wie sonst, wenn sie zusammen von der Schule nach Hause gingen. Werner ist nicht mehr Werner seit heute Morgen, seitdem Jonas ihm von Hedda erzählt hat und von seinen brennenden Bläschen im Mund – von all dem, was ihm die Brust zuschnürt, als hätte jemand ein dickes Seil darum gelegt und zöge es nun mit aller Kraft fest. Die Fußgängerampel war gerade von Rot auf Grün gesprungen, da hatte Werner plötzlich gerufen: »Mensch, ich muss ja noch zur Apotheke, was für Papa besorgen!« Jonas wollte rufen »Ich komme mit!« und gleich mitlaufen, aber Werner hatte gar nicht auf ihn gewartet. Er war über die Straße gestürmt, so schnell, wie Jonas ihn noch nicht mal beim Fünfzigmeterlauf im Sport gesehen hatte. Jonas war vor Überraschung stehen geblieben und schon war die Fußgängerampel wieder auf Rot gesprungen. Die großen Autos donnerten an ihm vorbei, dass er richtig erschrak, und der Lärm tat ihm weh in den Ohren. Ein langer, großer Lastwagen schob sich ächzend und höllisch zischend vorbei. Als Jonas wieder hinüber auf die andere Straßenseite sehen konnte, war Werner verschwunden. Bestimmt in der Apotheke, dachte Jonas. Immer noch donnerte die Herde der Autos und LKWs an ihm vorüber. Dann kam
Werner tatsächlich aus der Apotheke und Jonas sah von weitem, wie er sich aus einer Tüte Gummidinos in den Mund stopfte. Die hatten sie sich dort sonst immer zusammen gekauft und geteilt. Die Ampel sprang wieder von Rot auf Grün. Jetzt hätte er eigentlich gehen müssen, um Werner noch einzuholen. Doch etwas hielt ihn zurück, er konnte keinen Schritt tun. Er dachte: Dem laufe ich doch nicht hinterher! Endlich reißt er sich vom Straßenrand los und schlendert langsam weiter übers Trottoir. Er schaut auf den Boden. Ständig muss er ausweichen vor den vielen Passanten, die ihm entgegenkommen. Er blinzelt wieder auf die andere Straßenseite hinüber. Werner rennt gerade bei Rot über die Kurfürstenstraße. Is’ heute Sport?, schießt es Jonas da durch den Kopf, und er bekommt auf einmal ein ganz bitteres Gefühl im Mund. Er beißt sich auf die Lippe, es brennt in seinem Mund, und jetzt brennen auch seine Augen. Er schaut zu Boden, als hätte er etwas verloren, nach dem er nun verzweifelt sucht. Niemand soll sehen, dass er weint. In Höhe von Woolworth kann er wieder durchatmen, nur die Spuren der Tränen auf seinen Wangen spürt er noch länger im Wind brennen. Jonas sieht direkt ins Schaufenster, als er weitergeht. Was ist anders als heute Morgen, als ich hier vorbeigekommen bin?, fragt er sich. Jetzt wimmelt es von Gespenstern, die durch die Kleider hinter den Scheiben zu huschen scheinen, die Schatten der Passanten, die sich im Glas spiegeln. Nur ein Gespenst fehlt, denkt Jonas, das dicke von heute Morgen. Es heißt Werner und mampft gerade eine ganze Tüte voll Gummidinos in seinen Schwabbelbauch hinein! Die Tür hängt schief im Rahmen. Jonas sieht es gleich, als er die Treppe heraufgetrottet kommt. Jetzt steht er direkt davor. Die Tür hat einen schmalen Riss, vom unteren Rand bis zur
Mitte, und der Türrahmen hat eine Delle. Drinnen hört Jonas eine ärgerliche Stimme, eine bekannte Stimme. Papa! Seit Wochen hat er Bernd nicht mehr gesehen. Plötzlich ist Jonas ganz aufgeregt, sein Herz beginnt heftig zu pochen. Papa ist da! Vor Aufregung fällt ihm der Schlüssel aus der Hand. Da wird die Tür aufgerissen, schwer polternd setzt sie an einer Seite auf den Boden auf. Hedda steht vor ihm. »Das Schloss ist kaputt«, sagt sie, »komm rein!« Hedda hat geweint, das sieht Jonas gleich an ihren geröteten Augen und an ihrer veränderten, hohen Stimme. Und Jonas wünscht sich wie so oft, jemand ganz anderer zu sein. Ganz woanders zu wohnen, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Nur Hedda würde er mitnehmen. Und Bernd. Aber der ist ja nie da. Jonas weiß nicht einmal, wo sein Vater wohnt, seitdem der ausgezogen ist. Jetzt aber ist er da. Er sitzt am Küchentisch und macht ein finsteres Gesicht. Doch als er Jonas sieht, strahlt er und streckt ihm die Hände entgegen. »Hallo, mein Junge«, sagt er. Jonas möchte ihm am liebsten um den Hals fallen und sagen: Da bist du ja endlich! Wo warst du so lange? Warum besuchst du mich nie? Hast du uns denn ganz vergessen? All das, was er ihm jeden Abend vor dem Einschlafen sagen möchte. Aber jetzt, da sein Vater vor ihm sitzt, sagt Jonas bloß: »Was ‘n hier los?« Und Bernd streicht ihm mit seiner großen Hand über den Kopf und sagt: »Jemand hat versucht, hier einzubrechen.« »Jemand, jemand! Wenn ich das schon höre«, bricht es da wütend aus Hedda heraus. »Sag doch dem Jungen, dass es nur einer von deinen Drogen-Dealern gewesen sein kann. Einer, dem du vermutlich Geld schuldest und der wohl gedacht hat, du würdest noch bei uns wohnen!«
Jonas schaut erschrocken zu Bernd hinüber. Der hatte ihm doch gesagt, dass er wie Hedda inzwischen keine Drogen mehr nimmt. Dass er eine Medizin gegen Drogensucht bekommt. Wieso wollte dann der Dealer Geld für Drogen von Bernd? Aber Bernd schaut Jonas gar nicht an, sondern wirft Hedda einen wütenden Blick zu: »Ich habe mit diesen Leuten heute so wenig zu tun wie du, Hedda. Was sollen die Vorwürfe? Bin ich etwa nicht gleich gekommen, nachdem du mich angerufen hast?« Jonas möchte sich am liebsten die Ohren zuhalten. Da ist er wieder, der ewige Streit zwischen seinen Eltern, den er so gut kennt. Eigentlich freut er sich, dass sein Vater da ist. Aber immer dieser Streit! Und immer weiß Jonas nicht, zu wem er halten soll. So sieht er Bernd nur an und sagt schließlich: »Du bekommst eine Glatze, Papa.« Bernd lacht. Er nickt und drückt Jonas plötzlich ganz fest an sich. Papas braune Lederjacke riecht muffig, denkt Jonas, und er schämt sich, dass er das jetzt denkt. Er macht sich los von Bernd und setzt sich auf den Stuhl am Fenster, auf der anderen Seite des Tisches. Von hier sieht er nun die schräg in den Angeln hängende Tür. Hedda hatte sie anheben müssen, um sie schließen zu können. Nun steht Hedda in der Küchentür und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Bernd aber sitzt am Küchentisch und starrt wie leblos die Wand an. Doch dann steht er auf, ganz langsam, als wäre es eine große Qual für ihn, sich zu erheben. »Ich muss jetzt gehen«, sagt er und schaut zu Hedda. »Die Tür lasse ich in Ordnung bringen.« »Papa!«, ruft Jonas da und springt von seinem Stuhl auf. »Papa, wann darf ich dich besuchen?« Bernd stutzt. »Wenn ich eine eigene Wohnung habe, Jonas«, sagt er und beugt sich zu ihm hinunter. »Ich weiß nicht, wann.
Aber alles wird besser, seitdem ich das Methadon bekomme, glaub mir.« Methadon, ja, so heißt die Medizin, die Bernd jeden Tag vom Arzt bekommt und am Wochenende sogar im Krankenhaus, erinnert sich Jonas. Bernd legt beide Hände auf Jonas’ Schultern und drückt seine Stirn an Jonas’ Stirn. Das hat Jonas so gern. Das würde er sich jeden Tag wünschen. »Du wirst sehen, alles wird besser«, sagt Bernd und richtet sich auf. »Fragt sich bloß, wann«, zischelt Hedda leise vor sich hin. »Ich melde mich«, sagt Bernd noch. Und dann ist er auch schon durch die beschädigte Tür wieder verschwunden. Jonas hört nur noch das Knarren der Treppe unter seinen schnellen Schritten.
Am Abend sitzen Jonas und Hedda gemeinsam auf dem alten, braunen Ledersofa vor dem Fernseher und schauen wie immer »Rate mal«. Hedda liebt diese Sendung über alles, sie verpasst sie an keinem Abend und rät immer ganz stürmisch mit. Jonas ist zwar nicht so begeistert vom Mitraten wie Hedda, aber es ist so gemütlich, neben ihr zu sitzen, und es ist lustig zu sehen, wie Hedda sich freut, wenn sie richtig geraten hat. Im Fernsehen wird gerade über einen Witz gelacht. Aber im Augenblick ist Jonas gar nicht nach Lachen zumute. Er denkt an Bernd, den er so vermisst, und was der zu ihm gesagt hat, bevor er ging. »Wenn bald alles besser wird mit Papa«, sagt er plötzlich, ohne auf das Gelächter im Fernsehen zu achten, »könnten wir dann nicht wieder… wie früher?« Hedda versteht sofort und schaltet den Fernseher aus. Sie wirkt nicht einmal überrascht, dass Jonas sie das fragt.
Sie schaut ihn ruhig an. »Wir können nicht mehr zusammenleben, Jonas. Das geht einfach nicht mehr, nach allem, was vorgefallen ist in den letzten Jahren.« »Aber wieso?«, ruft Jonas. »Wenn Papa doch sagt, dass es besser wird?« Er begreift Hedda nicht. Hedda rutscht zu Jonas hinüber und legt ihren Arm um ihn, während er enttäuscht und wütend auf den ausgeschalteten Fernsehschirm schaut. »Sieh mal, Schatz, immer gab es Ärger mit Bernd«, sagt Hedda und schüttelt den Kopf. »Das Chaos nimmt so schnell kein Ende mit ihm, glaub mir. Denk nur an den Einbruch von heute. – Nein, nein«, sagt sie und drückt Jonas ein wenig fester an sich, »es ist besser, alles bleibt so, wie es jetzt ist. Das verstehst du doch, oder?« Hedda schaut ihn fragend an, aber Jonas sagt nichts, schaut nur weiter auf den ausgeschalteten Fernseher. Er hat gar keine Lust, das zu verstehen! Und dann steht er auf und geht aufs Klo. Denn ihm ist plötzlich so heiß geworden. Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn, als er sich über die Schüssel beugt und anfängt zu würgen. »Jonas!«, ruft Hedda und kommt erschrocken ins Bad gelaufen. »Bist du krank?« Sie fühlt ihm die Stirn, wäscht ihm rasch das Gesicht. Jonas lässt es mit sich geschehen und schon auf dem Weg ins Bett fallen ihm vor Erschöpfung die Augen fast zu, so dass er auf Heddas besorgtes Gesicht nicht mehr achtet.
5
JONAS HAT AIDS – in fetten, großen Buchstaben stehen die Worte an der Tafel. Sie treffen Jonas wie ein Schlag ins Gesicht. Er starrt auf die Worte und kann es nicht fassen: Irgendjemand hat seinen schlimmsten, heimlichsten Gedanken aufgeschrieben. »Was is ‘n, Kleiner? Hat dich ‘n Walfisch verschluckt oder warum biste so stumm?« Vor ihm steht Katrin Krumme, die aber alles andere als krumm ist, sondern bohnenstangengerade und zwei Köpfe größer als Jonas. Langsam kommt Jonas wieder zu sich. Er steht im blauen Türrahmen der 4c der 7. Grundschule. In seinem Rücken streicht ein kühler Wind den langen Flur entlang, an dessen Ende sein Klassenzimmer liegt. Vor ihm hat sich die lange Katrin aufgebaut. Die Hände in den Seiten steht sie da und grinst ihn herausfordernd an. Rechts die schwarze Tafel mit den großen, weißen Buchstaben, von denen ihm fünf so vertraut sind: JONAS. Links von Katrin sieht er die Klasse toben, manche grinsen, einige schauen gespannt zu ihm herüber. Sie wollen wissen, was ich jetzt tue, denkt Jonas. Aber er weiß nicht, was er tun soll, er bleibt einfach stehen. Hinten im Klassenraum springt Furkan plötzlich polternd über den Tisch in Richtung Fensterseite. »He, Fleischer, komm her, wenn du dich traust!«, ruft er. Hinter ihm her stürzt jetzt Werner ins Bild. Er verfolgt Furkan, der ihn schon wieder aufzieht. Wie gestern Nachmittag beim Fußball. Schon hat Werner ihn in der Ecke gestellt und die
beiden tauchen ineinander verknäuelt hinter den Schulbänken unter. Jonas erschrickt. Eine Hand legt sich auf seine Schulter und schiebt ihn in den Klassenraum. Es ist Frau Reck, die Deutschlehrerin. »Was ist denn in euch gefahren? Sind wir hier etwa auf dem Rummel?«, ruft die Reck ärgerlich. Dennoch dauert es eine Weile, bis das Lärmen verebbt. Nur träge schleichen die Jungen und Mädchen der 4c durch den Raum, um an ihre Plätze zu kommen. Manche reißen ihren Rachen weit auf und gähnen wie Nilpferde, andere nuscheln unverständliches Zeug vor sich hin, und wieder andere fallen scheinbar schläfrig in ihre Stühle, um die erste Schulstunde über sich ergehen zu lassen. Nur hinter der letzten Tischreihe hört man noch das Poltern und Gerangel von Werner und Furkan, die sich am Boden wälzen. Jonas setzt sich an seinen Platz in der zweiten Reihe, rechts neben der Tür. Der Platz zu seiner Linken ist frei. Dort sitzt Werner normalerweise. »Werner! Furkan! Seid ihr denn verrückt geworden?« Die Reck ist stocksauer. Zwei hochrote Gesichter fahren auf. Furkan sieht einigermaßen zerrupft aus, seine Haare stehen ihm zu Berge und sein Hemdkragen ist halb abgerissen. Werner sieht dagegen noch ganz passabel aus, denkt Jonas und vergisst für einen Moment, was vorne an der Tafel steht. Werner grinst die Lehrerin an, dann stopft er sich das Hemd in die Hose, aber in aller Ruhe! Denn alle Köpfe sind jetzt nach hinten gedreht, alle Augen sind auf ihn gerichtet. Er stapft nach vorne, zögert ein wenig, dann setzt er sich plötzlich hin – neben Katrin Krumme, deren Nachbarplatz heute frei ist.
Irritiert schaut die Reck zu dem freien Platz neben Jonas hinüber, auf dem Werner doch sonst immer sitzt. »Wo ist Jacqueline heute?«, fragt sie Katrin Krumme, die Jacquelines beste Freundin ist. »Kotzerei!«, sagt Katrin und steckt ihren langen Finger in den weit aufgesperrten Mund. Alle prusten und lachen, selbst die Reck verzieht ein wenig den Mund zu einem Lächeln, während sie Jacquelines Fehlen in ihr Heftchen einträgt. Nur Jonas lacht nicht. Da sitzt er in der zweiten Reihe neben einem leeren Stuhl. Er hat seine Jacke noch an und die Tasche vor der Brust und starrt auf den grauen Fußbodenbelag. Dort möchte er jetzt am liebsten versinken und nie, nie mehr auftauchen. Ihm steigt wieder das Würgen in den Hals und er spürt, dass sich in ihm etwas zusammenbraut, dass gleich etwas explodieren wird.
Vor einer Stunde hatte er noch zu Hedda gesagt, dass es ihm prima geht und er nicht mehr kotzen muss. Nur die Bläschen an den Lippen juckten heute Morgen wieder so teuflisch, aber die im Mund brannten mit der Salbe nicht mehr so wie gestern. Er wollte unbedingt zur Schule, auf keinen Fall wollte er zu Hause bleiben. Es wäre ja auch niemand sonst da gewesen. Hedda nicht, und Bernd… Warum konnte sein Vater nicht mehr bei ihnen wohnen? Warum war es nur in ihrer Familie so schlimm, dass keiner sich vertrug? Warum, warum, warum? – Nicht dran denken. Aber heute Morgen ging es ihm besser, er musste nicht kotzen, konnte frühstücken, fast wie immer. Ab zur Schule, ab zu Werner! Küsschen, tschüschen, und das Brot für die Pause vergaß er diesmal nicht. Doch schon auf der Straße, als er sich der Steinstraße 37 näherte, dachte er wieder an Werners Ekel vor seinem
Ausschlag an den Lippen, an Werners plötzliche Angst und an Werners seltsame Flucht in die Apotheke. Und als er dann wie jeden Morgen vor Werners Haus stand und auf die Klingel drücken wollte, zögerte er. Auf einmal hatte er wieder dieses enge Gefühl in der Brust und da war auch das Würgen wieder. Plötzlich hatte er eine Ahnung von nichts Gutem an diesem Tag. Doch er drückte schnell auf die Klingel, so als könne er das würgende Gefühl damit auslöschen. »Wer ist da?«, schepperte es aus dem Lautsprecher. Das war nicht Werners Stimme, es war Werners Mutter. »Jonas. Kommt Werner?« »Nein, Jonas. Werner ist schon los. Wird ja auch Zeit.« Es machte Klick, das Scheppern aus der Lautsprecheranlage verstummte. Werners Mutter hatte Recht, es war schon kurz vor acht. Es wurde Zeit, dass er in die Schule kam. Aber das war es nicht allein. Da braute sich etwas zusammen. Das fühlte Jonas. JONAS HAT AIDS – jetzt weiß er, was sich da gegen ihn zusammengebraut hat. Jonas sieht die Worte vor sich, ohne aufblicken zu müssen. Wer hat das geschrieben? Ist das Werners Handschrift? Egal, Werner muss erzählt haben, was Jonas ihm gestern anvertraut hatte. Ein schöner Freund, der einen so verrät! Alle wissen jetzt von seiner Mutter, von seinem Mund voller Pickel, alles, was er außer Werner sonst keinem Menschen gesagt hätte. »Wer hat das geschrieben?«, fragt die Lehrerin. Da beginnt die Welle in seinem Bauch. Gerade als er die Stimme von Frau Reck hört, so deutlich und durchdringend, dass er erschrocken aufschaut. Sie wirkt ganz anders als vorhin noch, als sie über Katrin lachen musste. Jetzt hat sie rote Flecken am Hals und im Gesicht. Man sieht sie unter ihrem weißen Puder im Gesicht schimmern.
Die Welle in Jonas’ Bauch hat sich inzwischen bis zu seiner Brust hinaufgearbeitet. Er spürt, wie alles aufbricht in seinem Körper, aber er kann nichts tun. Jetzt schaut die Reck ihn an, mit einem Blick voller Fragen. Doch sie sagt nichts, sie sieht ihn nur an. Alle starren ihn jetzt an und keiner muckst sich. Es ist so still, dass man das Rauschen der Bäume im Schulhof durch die geöffneten Oberlichter hören kann. Da hat die Welle ihr Ziel erreicht und schießt aus ihm heraus. Maja und Nadine in der Bank vor ihm springen kreischend auf. Irgendeiner schreit: »Aufpassen, Jonas hat Aids!« – oder hat Jonas sich das nur eingebildet? An Armen und Händen bekleckert, schleudert er den Schulranzen von sich und stürmt zur Tür. »Jonas!«, ruft da jemand, es ist die Reck. »Jonas, bitte bleib. Renn nicht weg! Das ist doch alles nicht so schlimm!« Doch Jonas hat schon die Tür aufgerissen und rast den spiegelglatten Flur entlang. Bloß weg hier, bloß raus! Hat die Reck eine Ahnung, denkt Jonas. Und ob das alles schlimm ist! Da ist die Treppe. Da kommt der nächste Flur nach links, Richtung Hinterausgang. Da ist die große, blaue Tür nach draußen. Endlich Luft! Jonas saugt sie tief in sich hinein. Dann rennt er los.
6
Der Hinterausgang der 7. Grundschule Tiergarten führt auf die Lützowstraße. Jonas kennt hier alles ganz genau. Oft genug hat er mit Werner diesen Weg genommen, zum Skaten auf dem großen Platz hinter der Kunsthalle nicht weit von hier. Er rennt einfach los, so als wüsste er genau, wohin. Doch er will nur fort, mehr weiß er nicht. Seine Beine laufen von ganz alleine, immer weiter. In seinem Kopf pocht es. Nur fort! Da vorn rauscht schon die große Potsdamer Straße. In seiner Brust zieht sich alles zusammen. Dort ist die Bushaltestelle. In seinem Bauch drückt alles nach oben. Da kommt der 148er Bus. Jonas steigt ohne zu zögern hinten in den großen, gelben Doppeldeckerbus ein. Er stürmt die Treppe hoch und tritt dabei einem ihm entgegenkommenden alten Mann auf die Füße. Der sieht ihn verwundert an und schüttelt verständnislos den Kopf. Oben angekommen arbeitet er sich zur vordersten Sitzbank durch. Erschöpft und ganz außer sich lässt er sich auf den grünen Plastikbezug fallen. Der Bus ist schon wieder losgefahren und alles wackelt und schwankt wie auf einem Schiff mitten auf stürmischer See. Jonas schaut nach vorne durch das große Fenster auf die Straße hinunter, die sich plötzlich in eine graue, schwankende See verwandelt. Er ist der kleine, schmutzige Schiffsjunge, Küchenabfälle kleben noch an seinen Händen. Und es stürmt. Die ganze Besatzung ist schon über Bord gegangen, nur er
kann sich noch an der Reling festkrallen. Ihm ist furchtbar schlecht. Wann hört der Sturm endlich auf? Da, ein scharfer Ruck, er wird nach vorn geschleudert, verliert sein Gleichgewicht, droht über Bord zu gehen! – Doch dann ist alles ruhig. Der Bus steht wieder, er hat nur scharf gebremst an der Haltestelle neben dem Fotohaus Wegener. Oft haben Werner und er sich die Nasen da unten am Schaufenster platt gedrückt und gewünscht, einer von den vielen Fotoapparaten oder eine der Videokameras gehöre ihnen! Werner – die Schule – die Reck – Katrin Krumme und der leere Platz neben seinem. Wenn es das doch alles nicht gäbe! Der Bus fährt wieder an und schaukelt die Potsdamer Straße entlang. Bülowstraße, Winterfeldstraße, Pallasstraße. Allmählich legt sich der Sturm in Jonas. Oben im Bus sitzen nur wenige Leute. Und es steigt auch kaum jemand ein. Kleistpark. Dort hinten sieht er bereits das riesige gelbe Gebäude der Berliner Verkehrsgesellschaft. Plötzlich, mit einem Ruck, springt Jonas auf und beim nächsten Halt steht er draußen auf dem breiten Trottoir. Auf einmal weiß Jonas, wohin er will, wohin er die ganze Zeit wollte, ohne darüber nachgedacht zu haben: zu Hedda. Und er weiß auch, wo er sie jetzt finden kann. Sie ist heute bei ihrer Therapeutin.
»Ist das deine Ärztin?«, hatte Jonas sie einmal gefragt. »So ungefähr«, hatte Hedda etwas zögernd geantwortet. Vielleicht wusste sie nicht genau, wie sie ihm erklären sollte, was eine Therapeutin ist. Doch Jonas wollte es genauer wissen: »Was tust du denn, wenn du bei der Therapeutin bist?«
»Ich rede mit ihr.« »Bloß reden? Sonst nix?« »Nein, eigentlich nicht. Für mich ist das auch das Wichtigste. Es tut mir gut, wenn ich über mich rede. Ich muss über viele Dinge nachdenken. Weißt du, seitdem ich die Drogen nicht mehr nehme, wird mir klar, was ich alles falsch gemacht habe. Du weißt ja selbst, wie es früher war.« Natürlich wusste Jonas noch von dieser Zeit. Aber er dachte nicht gerne daran zurück, denn damals war er fast ständig allein gewesen. Und wenn Hedda und Bernd zu Hause waren, hatten sie so schlechte Laune, dass es jeden Tag Streit gab. Jonas nahm sich vor, alles so gut es ging zu vergessen. Die Praxis der Therapeutin, hatte Hedda noch gesagt, liegt in der Beiziger Straße, direkt neben dem Spielzeugladen, in dem er mit ihr schon manchmal gewesen war. Als er noch kleiner war, hatte sie ihm dort seinen schönen Holzroller gekauft. – Der lag jetzt schon lange kaputt im Keller. Bernd hatte ihm versprochen, ihn bei Gelegenheit zu reparieren. Die Gelegenheit kam nie. Und jetzt war er schon viel zu groß für den Roller.
Bis zur Beiziger Straße hätte er noch eine Station weiterfahren können. Aber er kennt eine Abkürzung. Schnell passiert er die große Kreuzung Haupt-, Ecke Grunewaldstraße, läuft quer über den Spielplatz, vorbei an kleinen Kindern mit ihren Müttern, direkt zur Beiziger Straße. Da ist er auch schon am Spielzeugladen. Am nächsten Hauseingang bekommt er einen Schreck. Auf dem Klingelbord stehen viele Namen, doch den von Heddas Therapeutin weiß er nicht. Aber auf einem größeren Schild in der untersten Reihe steht: Psychotherapeutische Praxis Christiane Martens, Parterre rechts.
Jonas drückt auf die Klingel über dem Schild und nach einiger Zeit hört er eine Frauenstimme über die Sprechanlage: »Ja?« »Hier ist Jonas«, sagt er, ohne zu zögern. »Wer bitte?« »Jonas. Ich möchte zu Hedda.« Da tönt der Summer und Jonas drückt die Tür auf. Er steht in einem Flur, der viel vornehmer ist als der zu Hause, mit schwarz-weißen Fliesen auf dem Boden und glänzenden, grünen Kacheln an den Wänden, auf die nichts gesprüht ist. Eine Tür fliegt auf an der rechten Seite des Flurs und Hedda eilt mit erschrockenem Gesicht auf Jonas zu. »Jonas! Um Gottes willen, wie siehst du denn aus?« Hedda packt ihn an den Armen und schaut ihn fragend an. Sie sieht, dass es ihm schlecht geht, dass etwas Schlimmes passiert ist und dass Jonas ihr etwas Wichtiges sagen will. Aber nicht hier im Flur. Sie nimmt ihn bei der Hand und zieht ihn durch die weit offen stehende Tür in die Praxis.
7
»Hallo, Jonas! Ich bin Christiane.« Jonas nickt. Vor ihm steht eine Frau mit schwarzen Haaren und einer funkelnden Brille. Das soll Heddas Therapeutin sein? Sie ist kaum größer als er selbst. Irgendwie hatte er sie sich ganz anders vorgestellt. »Am besten ist wohl, du wäschst dich erst ein wenig und machst dich frisch, oder?«, sagt Christiane. »Komm, Jonas!«, sagt Hedda und führt ihn in ein kleines Bad am anderen Ende des Raumes, während Christiane ihm freundlich und aufmunternd zunickt. Ein so eigenartiges Zimmer wie dieses hat er noch nie gesehen. Außer ein paar schwarzen Schwingstühlen, großen Fotos an der Wand – vom Meer, von einem Baum und einer Landschaft – und einer großen Pflanze in der Ecke gibt es in diesem Raum nichts. Der Rest ist Luft, denkt Jonas, und wir. Im Bad wäscht er sich rasch die Hände und das Gesicht, während Hedda in der offenen Tür steht und ihm besorgt dabei zusieht. Sie hat ganz rote Wangen vor Aufregung. »Ist dir schlecht geworden in der Schule, Schatz?« Jonas nickt und weiß plötzlich gar nicht, wie er ihr sagen soll, was noch alles passiert ist. Als sie wieder im Zimmer sind und er auf einem der großen, schwarzen Lederstühle sitzt, vor dem Hedda hockt und ihn fragend anschaut, platzt es aus ihm heraus: »Habe ich Aids?« Und sein Herz beginnt plötzlich wild zu schlagen. »Wie kommst du denn darauf, Jonas?« Hedda ist ganz bleich im Gesicht geworden.
Auch Christiane, im Stuhl neben ihm, schaut Jonas erschrocken an. Hedda rüttelt ihn am Arm. »Du bist ja ganz durcheinander. Was ist denn passiert in der Schule? Dir ist schlecht geworden – und was sonst noch?« »An der Tafel stand, ich hätte Aids«, sagt Jonas. Da bleibt Hedda der Mund offen stehen. Jonas ist jetzt ganz ruhig. Er sieht wieder alles genau vor sich: Werner, Katrin Krumme, die andern aus seiner Klasse, die Reck, und an der Tafel: JONAS HAT AIDS. Aber jetzt ist Hedda ja da. »Wer macht denn so etwas mit dir, Jonas? Wie kommen die denn darauf, so was zu schreiben?« »Ich habe Werner alles erzählt.« »Was hast du ihm erzählt?« »Von den Pickeln an den Lippen und im Mund… und…« »Und was? Was noch, Jonas? Du musst es mir bitte sagen. – Hast du Werner auch von mir erzählt, dass ich den Virus habe?« Jonas nickt und schaut seine Mutter an. »Und dass ich früher mal Drogen genommen habe?« Jonas nickt wieder. Hedda stöhnt. Sie lässt den Kopf hängen. Dann schaut sie Jonas wieder an. »Und dein Freund Werner hat alles schön ausgeplaudert, was?« Jonas zuckt mit den Schultern. Er weiß es nicht, aber wer sonst sollte es gewesen sein? »Das ist mir ja ein schöner Freund«, sagt Hedda. Da beginnt Jonas zu weinen, und Hedda nimmt ihn in den Arm. »Ich will auch den Test machen, so wie du«, schluchzt er. »Den Aids-Test? Aber Jonas, das ist doch überhaupt nicht nötig«, sagt Hedda bestimmt. »Ich hab erst vor zwei Jahren, als
ich meine Therapie begonnen habe, entdeckt, dass ich den Virus habe. Das heißt also nicht, dass ich ihn bei deiner Geburt schon hatte. Wenn du nun oft oder lange krank gewesen wärst, würde ich sagen, ja, wir machen den Test bei dir. Aber du hast alle Kinderkrankheiten ganz normal gehabt und du bist kerngesund. Ein Herpes ist noch lange kein Zeichen für Aids, ich sehe also keinen Grund für einen Aids-Test.« »Ich will aber einen Zettel, auf dem steht, dass ich nicht Aids habe!«, schreit Jonas. »Und den werde ich dann Werner zeigen.« »Jonas«, sagt Hedda und schaut ihn eindringlich an, »durch einen Aids-Test änderst du gar nichts. Kein Kind kann sich bei einem anderen Kind mit Aids anstecken, das weißt du doch. Und außerdem: Was ist das für ein Freund, dem du erst beweisen musst, dass du gesund bist?« Hedda zittert richtig vor Wut und Aufregung. »Denen werden wir ganz was anderes zeigen in deiner Klasse! Heute noch werde ich deine Lehrerin anrufen, damit so was nicht noch mal vorkommt! Komm, lass uns nach Hause gehen.«
Hedda verabschiedet sich von Christiane, die auch Jonas zum Abschied die Hand gibt. Christiane sieht ernst aus und Jonas wird ein wenig mulmig dabei. Dann gehen Hedda und Jonas nach Hause. Hedda nimmt seine Hand und drückt sie ganz fest und Jonas ist froh, dass Hedda da ist. Auf sie kann er sich verlassen. Was ist das für ein Freund, dem du beweisen musst, dass du gesund bist?, hatte Hedda gesagt. Das gibt ihm zu denken. Schließlich war er nicht öfter krank als Werner und der machte sich auch keine Sorgen wegen Aids.
Nur eines versteht er nicht: Wenn Hedda sicher ist, dass er kein Aids hat, warum erschrickt sie dann so, wenn er sie danach fragt? Oder hatte er sich da getäuscht?
8
»Warum bist’n abgehaun aus der Schule, Alter?« Furkan lässt den Ball einmal auf titschen und hält ihn dann wieder fest in der Hand. Jonas schaut auf den Boden, als suche er etwas, und zuckt mit den Schultern. Das weißt du doch ganz genau, denkt er. »Wegen dem Spruch an der Tafel von wegen Aids und so?« Wieder lässt Furkan den Ball auf dem roten Schotter auftitschen. »Ist doch alles Quatsch. Würd ich doch nicht ernst nehmen, so was, wenn ich du wäre.« »Spiel den Ball, Alter! Quatsch nich so viel.« Es ist Orhan. »Is’ das der Typ mit Aids?«, ruft plötzlich ein Junge, den Jonas nicht kennt, so laut, dass alle es auf dem Bolzplatz hören. Der Junge lacht und die anderen grinsen, Martin und Salim und noch ein anderer Junge, den Jonas nicht kennt und der im Tor steht. »Hat sich schon rumgesprochen, dein Abgang«, sagt Furkan, der den Ball endlich zu Orhan geschossen hat. »Aber würd ich mir doch nix draus machen. Musst cool bleiben, Alter, drüber lachen, verstehste?« Da klappt Furkan plötzlich in der Mitte zusammen wie ein Taschenmesser. »Volltreffer!«, schreit Orhan und lacht mit den anderen jetzt über Furkan, der sich krümmt und windet. Der schnappt sich den Ball und rennt wütend hinter Orhan her, um sich zu rächen. Cool bleiben, Alter!, denkt Jonas und geht. Kaum hat er den Schotterplatz hinter der hohen Gittereinfassung verlassen, schreit Furkan ihm nach: »He,
Jonas, spielst du nicht mit? Werner kommt bestimmt auch gleich.« »Nein«, ruft Jonas, »keine Zeit heute!« Dabei ist er eigentlich gekommen, um Werner zu treffen. Schließlich hat er eine Mordswut im Bauch. Auf dem Weg zum Bolzplatz hat er sich zurechtgelegt, was er ihm sagen wollte. Dass er stinkesauer auf ihn sei, würde er ihm sagen. Dass es eine Riesengemeinheit von Werner gewesen sei, Jonas vor allen in der Klasse bloßzustellen. Dass er ihm nie wieder etwas von sich erzählen würde. Doch Werner ist noch nicht gekommen. Und sollte Jonas jetzt seinetwegen auch noch warten? Plötzlich ist er sogar ein bisschen froh, dass Werner nicht da war. Denn trotz seiner Wut hat er auch ganz schön Bammel, Werner die Meinung zu sagen. Nicht weil der ihn hauen könnte, davor hat er keine Angst, das ist nicht Werners Art. Nein, er hatte so was nur noch nie gemacht! Was würde Werner sagen? Vielleicht, dass er nun nicht mehr neben Jonas sitzen will? Dass er überhaupt nicht mehr Jonas’ Freund sein will? – Jonas weiß selbst nicht genau, ob er mit Werner noch befreundet sein will oder nicht. Ihm schwirrt der Kopf von all den Gedanken.
»He, Jonas!«, ruft da eine Stimme, eine Mädchenstimme. Jonas hat gar nicht darauf geachtet, wohin er gelaufen ist, nachdem er vom Schotterplatz weg ist. Ohne zu überlegen, ist er in die Lützowstraße eingebogen und auf den Spielplatz im Dennewitzpark zugeschlendert. Dort gibt es Rutschen und Schaukeln und Sandkästen, eine große Wiese drumherum. Jonas war schon lange nicht mehr auf dem Spielplatz im Dennewitz gewesen. Das war was für die Kleinen und die Mädchen. Er hatte immer mit den anderen Jungen Fußball auf dem Schotterplatz in der Pohlstraße gespielt.
»He, Jonas, komm doch mal rüber!« Es ist Silke, Werners ältere Schwester, die dort auf der Ballwiese mit einer Freundin steht. »Wenn du Werner suchst, der kommt heute nicht«, sagt Silke, als er sich ihnen genähert hat. »Spielst du mit? Du bist doch ‘n guter Torwart, hat Werner immer gesagt. Wir brauchen noch jemand als Torwart!« »Was spielt ihr denn?« »Na, Fußball, bist du blind?« Und schon kickt ihm Silke den Ball direkt vor die Füße. Direkt in den Lauf, denkt Jonas und stoppt den Ball. »Gehst du ins Tor?«, sagt Silke. »Dann spielen Vanessa und ich gegeneinander, ja?« »O.k.«, sagt Jonas und zieht sich die Jacke aus. »Wer von euch zuerst fünf Tore macht, hat gewonnen.«
»Hier ist es viel cooler als in der Pohlstraße«, sagt Jonas, als sie Pause machen. Es steht 3:2 für Vanessa. »Wenn du auf Schotter mal hinfällst, schlägst du dir gleich das Knie auf.« »Schön blöd!«, sagt Silke. »Wer spielt schon freiwillig auf ‘nem Schotterplatz?« Ich, denkt Jonas und kann es jetzt im weichen Gras selbst nicht fassen. Es ist warm und sie sind ganz durchgeschwitzt. »Du hast dich verkracht mit Werner, stimmt’s?«, sagt Silke plötzlich. »Nee«, sagt Jonas, »wir haben keinen Krach. Bloß…« »Bloß was?« »Ach, lass!«, sagt Jonas. »Komm, wir spielen weiter.« Jonas will jetzt seinen Spaß haben und das kann er nicht, wenn er an Werner denkt. Der soll sich doch auf dem Schotterplatz die Knie aufschlagen. Ich spiele hier auf Rasen!
Um sechs schlendern die drei nach Hause. Vanessa hat es nicht weit, sie wohnt gleich in der Blumenthalstraße, direkt neben dem Dennewitz. »Sehen wir uns morgen?«, fragt Vanessa, als sie vor dem Eingang zu ihrem Haus stehen, und sie sieht dabei auch Jonas an. »Klar«, sagt Silke. Und auch Jonas nickt. Obwohl er zuerst ein wenig gezögert hat. Als er und Silke weiter die Kurfürstenstraße hinuntergehen, sagt Silke plötzlich: »Werner hat zu Hause erzählt, du hättest wahrscheinlich Aids. Stimmt das?« »Und wenn es stimmen würde?« »Wär nicht so gut, oder?« »Für wen?« »Na, für dich wär’s nicht so gut, oder?« Jonas nickt. »Unsere Eltern haben gesagt, Werner soll sich nicht so viel mit dir rumtreiben. Papa kennt jemanden vom Rettungsdienst. Der sagt, wenn die einen Aids-Kranken transportieren, wird hinterher der ganze Wagen desinfiziert. Angeblich, damit sich keiner ansteckt. So ‘n Quatsch, die haben ja keine Ahnung.« Jonas sagt nichts, er denkt an Werner. »Werner hat auch von nix ‘ne Ahnung«, sagt Silke da, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Coole Sprüche kann er machen. Aber in Wirklichkeit hat er immer gleich Schiss vor allem.« Ja, denkt Jonas, und jetzt hat er Schiss vor mir. Inzwischen stehen sie vor der Steinstraße 37. Dort wohnt Silke. Dort wohnt natürlich auch Werner. »Bis morgen Nachmittag wieder im Dennewitz?«, fragt Silke. »Hm«, brummt Jonas und nickt.
»Wir sehen uns!«, ruft Silke und ist auch schon im Hausflur verschwunden. Ja, denkt Jonas, wir sehen uns. Und er freut sich drauf.
9
Vielleicht sollte er einfach umkehren, überlegt Jonas. Einfach heute nicht zur Schule gehen. Aber Frau Reck hatte Hedda am Telefon versprochen, mit der Klasse heute über das zu reden, was gestern Morgen geschehen war. Und es wäre sicher gut, wenn Jonas dabei wäre, hatte die Reck gesagt. Hedda hatte sogar angeboten mitzukommen. Aber das wollte Jonas auf gar keinen Fall. Irgendwie wäre ihm das peinlich gewesen. Morgens ganz cool in die Schule und nachmittags in den Dennewitz mit Silke und Vanessa! So hatte er sich das vorgestellt, als er gestern Abend nach Hause gekommen war, und ihm war gar nicht mehr schwer ums Herz gewesen. Jetzt aber, auf dem Weg zur Schule, werden ihm die Beine plötzlich schwer und schwerer. Sein Hemd ist nass geschwitzt, obwohl heute ein feiner, kühler Wind weht. Auf einmal hat er wieder große Angst vor der Klasse. Was würde die Reck sagen? Wie würde sie die Klasse zur Rede stellen? Was würde sie ihn fragen? Und was sollte er selbst überhaupt sagen? Hausnummer 33… Hausnummer 35… Umkehren oder nicht? Hausnummer 37 – Jonas zögert kurz und überlegt, ob er bei Werner klingeln soll. Aber dann geht er lieber schnell weiter: Hausnummer 39… Er geht auf die Kreuzung Kurfürsten-/Ecke Potsdamer Straße zu. Wenn die Ampel rot ist, denkt Jonas, kehr ich um, wenn sie grün ist… Noch fünf Meter – die Ampel ist rot. Noch drei Meter, noch zwei. Jonas bleibt stehen. Grün!
Da stößt ihn jemand von hinten an. »He, wir gehen bei Grün junger Mann«, sagt eine kleine, alte Frau in einem blauen Mantel, die einen Rollwagen hinter sich herzieht. »Los, komm«, sagt sie und zieht Jonas mit sich. »Tut mir Leid, dass ich dich angeschubst hab, war keine Absicht. Aber du bist plötzlich stehen geblieben.« Die Frau lächelt und Jonas staunt über die vielen Falten in ihrem Gesicht. Dann aber läuft er rasch weiter, schon ist er an Woolworth vorbei… der TchiboLaden, die Kreuzung, Ecke Pohlstraße, der Schulhof. »He, Jonas!«, ruft eine Stimme. Aber Jonas sieht nicht nach rechts und nicht nach links, er will gleich in seine Klasse. »Jonas!«, ruft die Stimme wieder. Es ist Frau Reck. Sie kommt ihm aus der Pausenhalle entgegen. »Jonas«, sagt sie, als er endlich stehen bleibt und sie sich gegenüberstehen, »schön, dass du gekommen bist. Wirklich mutig. Ich werde heute die Klasse zur Rede stellen wegen dieser Geschichte. Ist dir das recht?« Jonas zuckt mit den Schultern. Er fühlt sich nicht wohl, ihm klebt der Schweiß am ganzen Körper. Und da ist auch wieder das Würgen im Hals. »Na, das schaffen wir schon«, sagt seine Lehrerin. Und dann legt sie ihm den Arm um seine Schulter und geht mit ihm den langen Flur entlang bis zur 4c. Ein paar Jungen und Mädchen aus seiner Klasse sind schon da. Vorsichtig lugt Jonas von seinem Platz aus zu Katrin Krumme hinüber. Von Werner ist nichts zu sehen. Jonas ist immer noch wütend auf ihn. Aber vielleicht, denkt er, tut es Werner längst Leid und sie können trotzdem Freunde bleiben. Da schrillt die Schulglocke und die anderen kommen mit Geschrei und Getöse in die Klasse gestürmt. Und plötzlich erspäht Jonas auch Werner mitten in dem hereinstürzenden Pulk der Jungen und Mädchen.
Werner ist ganz rot im Gesicht, vielleicht hat er wieder mit Furkan herumgebalgt. Aber Furkan sitzt ja längst friedlich an seinem Platz. Werner schaut Jonas nur einmal kurz an – und dann schnell wieder weg. Er geht rasch an ihm vorbei und setzt sich auf den Platz neben Katrin. Auf einmal ist Jonas wieder so elend zumute. Schnell reißt er seinen Schulranzen an sich und stößt beim Hinausrennen noch Sven um, der wie immer als Letzter in die Klasse kommt. »Jonas!«, ruft Frau Reck. »Jonas, so bleib doch, hab keine Angst!« In dem langen Flur hallt es noch lange hinter ihm her, aber Jonas lässt sich nicht aufhalten.
10
Ich muss lange geschlafen haben, denkt Jonas, denn es ist schon ganz dunkel draußen. Das fahle Licht der Straßenlaternen fällt in sein Zimmer und taucht alles in Grautöne: den Schrank, sein kleines Holzregal, das Poster vom Jux-Zirkus mit dem Jungen, der Kopfstand auf einem Seil macht…
Als er am Morgen von der Schule nach Hause gekommen war, musste er nicht einmal die Wohnungstür öffnen. Hedda hatte ihn schon erwartet und ihm aufgemacht, als sie seine schleppenden Schritte im Treppenhaus hörte. »Frau Reck hat angerufen«, sagte Hedda, »sofort, nachdem du aus der Klasse weggelaufen bist.« Aber Jonas interessierte das alles nicht. Er war als erstes zum Klo gerannt, weil es in seinem Bauch gluckerte und brodelte wie in einem Vulkan. Hedda hatte ihn ins Bett gepackt und danach kann er sich an nichts erinnern. Draußen im Flur hört er Heddas Stimme. Mit wem sie wohl telefoniert? Jonas horcht genau hin, doch er versteht nur abgerissene Satzfetzen: »… Wenn das morgen nicht besser wird… gehst du dann mit in die Klinik?… Abwarten… im Moment etwas Fieber…« Jonas strengt sich an, mehr zu verstehen, doch die Stimme seiner Mutter wird immer leiser. Und allmählich dringen andere Stimmen an sein Ohr. Jonas träumt:
Silke, Vanessa, er und Werner rufen wild durcheinander! Jonas badet mit ihnen in einem Teich. Der Teich muss sehr tief sein, denn sein Wasser ist in der Mitte ganz schwarz und eiskalt, und sie müssen heftig mit allen vieren rudern, um beim Baden warm zu bleiben. Plötzlich schießen aus der Tiefe Untiere hervor, glitschige, grüne Monster mit grässlichen Fratzen und aufgerissenen Mäulern, die nach den Kindern schnappen. Alle schreien durcheinander, aber sie können sich noch einmal an Land retten… Und Jonas träumt: »Eins, zwei, drei, vier…« Mit geschlossenen Augen zählt er bis zehn, damit sich Werner, Silke und Vanessa verstecken können. »… sieben, acht, neun, und…« Er hat sich am Ufer des Teiches auf den Boden gelegt. »… zehn. Ich komme!« Jonas lugt vorsichtig durch das Gras, bevor er sich aufrichtet. Er schaut sich suchend nach allen Seiten um. Dort drüben hinter dem Busch bewegt sich etwas. Im nächsten Augenblick rennt er auch schon quer über den grünen Grasteppich, um das Versteck auszuheben. Aber wie schwer fällt es ihm, überhaupt voranzukommen. Er ist triefnass, als wäre er soeben erst aus dem Teich gestiegen. Endlich ist er nur noch ein paar Schritte von dem Busch entfernt, da schießt Werner hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er den herannahenden Jonas an und schreit plötzlich aus Leibeskräften: »Ein Monster, das Teichmonster! Hilfe!« Jonas erstarrt vor Schreck. »He, Werner! Spinnst du, ich bin’s, Jonas!« Aber Werner rennt, was er kann: »Hilfe! Das Teichmonster! Es will uns alle ins Wasser ziehen!«
Da springen auch Silke und Vanessa hinten im hohen Gras auf und schreien »Hilfe! Hilfe!« und starren Jonas an und fuchteln wild mit den Armen. Verzweifelt ruft Jonas: »Aber ich bin’s doch nur: Jonas! Euer Jonas!« Doch Werner, Silke und Vanessa spritzen weg in alle Richtungen, während er klitschnass, schwer keuchend und voller Angst hinter ihnen her wankt.
11
»Jonas!« »Hmm.« »Jonas, du musst wach werden.« »Hm.« Jonas drückt sein Gesicht in das Kopfkissen hinein und hält sich daran fest. Er ist so müde. Aber dann dreht er sich doch um und setzt sich auf. »Papa! Was machst du denn hier?« »Hallo, mein Junge, ich wollte dich halt besuchen«, sagt Bernd und streicht ihm sanft über den Kopf. »Du fühlst dich aber sehr heiß an. Du hast Fieber.« Langsam begreift Jonas. Es ist heller Morgen und wenn Bernd ihn nicht geweckt hätte, hätte er wohl immer weiter geschlafen. So matt und müde fühlt er sich nämlich. »Jonas, wir müssen ins Krankenhaus.« Jonas erschrickt heftig. »Was, ins Krankenhaus!« »Ja, du bist krank und musst untersucht werden.« Ja, Jonas fühlt sich krank, sein Bauch tut noch immer weh, und die Schmerzen würde er gerne los werden. Aber deshalb gleich ins Krankenhaus? »Warum gehen wir nicht zu Doktor Grünberg?«, fragt Jonas. Den Doktor Grünberg kennt er schließlich, solange er denken kann, und der ist immer sehr nett zu ihm gewesen. Da kommt auch Hedda an sein Bett und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. »Heute ist Sonnabend, mein Schatz«, sagt sie. »Und am Sonnabend ist die Praxis von Doktor Grünberg geschlossen.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, Jonas«, sagt Bernd und setzt sich auf den Bettrand. »Wir sind ja dabei.« »Wir alle drei zusammen?« »Wir drei«, sagt Bernd und nickt. Jonas kann es nicht glauben. Gleich will er aus dem Bett springen, da merkt er, wie schwer ihm die Beine sind. Er legt seine Hand auf den Bauch. »Ich habe Bauchschmerzen«, sagt er und sieht seine Eltern an. »Deshalb fahren wir ja zum Krankenhaus, Jonas«, sagt Bernd. »Ich bestelle schon mal das Taxi.«
Kurz darauf steht das Taxi unten vor dem Haus und hupt. Bernd trägt Jonas, in eine dicke Decke gepackt, die Treppe hinunter, Hedda läuft vorneweg und öffnet ihnen die Tür. »Zum Viktor von Weizsäcker-Klinikum«, sagt Hedda zum Taxifahrer, der sich auskennt und losfährt. Jonas sitzt hinten im Wagen neben Bernd, der seinen Arm um ihn gelegt hat. Hin und wieder sehen sie sich an und dann lächelt Bernd ihm aufmunternd zu. Jonas kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit seinem Vater und seiner Mutter zusammen in einem Auto gefahren ist. Eigentlich fühlt er sich im Moment ganz wohl. Wenn nur die Schmerzen im Bauch nicht wären, und außerdem ist ihm heiß und er hat schrecklichen Durst. »Hast du eigentlich Geld dabei fürs Taxi?«, raunt Bernd Hedda zu. »Klar, schon weil ich wusste, dass du bestimmt nicht dran denken würdest«, sagt Hedda bissig und schaut wieder nach vorn.
Aufhören, denkt Jonas, bitte aufhören. Können die sich denn nie vertragen? Und plötzlich wird ihm wieder ganz traurig zumute. So wie er es in den letzten Tagen war. Nach einer Weile hält das Taxi an. »Neunzehnfuffzig, bitte.« Hedda gibt dem Fahrer einen Zwanzigmarkschein und sagt: »Stimmt so.« Bernd trägt Jonas durch die große, gläserne Drehtür ins Krankenhaus. Dann stehen sie in einer weiten, hohen Halle, die aussieht wie der Flughafen Tempelhof, den Jonas vor ein paar Monaten zusammen mit seiner Schulklasse angesehen hat. Das hatte Spaß gemacht, jetzt aber fühlt er sich elend. Noch nie hatte er ins Krankenhaus gemusst, und jetzt gleich in so ein riesiges. Ist er denn so krank? Was wird man hier mit ihm anstellen? Hoffentlich muss er nicht lange bleiben. Hedda fragt einen Mann hinter dem hohen Glasschalter nach der Notaufnahme. Notaufnahme – das hört sich schlimm an, denkt Jonas. Und wie zur Bekräftigung sticht es in seinem Bauch wie mit tausend Nadeln. »Sie setzen sich am besten einen Moment dort auf die Bank«, sagt der Mann hinterm Schalter. »Sie werden aufgerufen.« Jonas hat großen Durst. Aber er traut sich nicht mehr zu fragen. Denn er will nicht, dass Hedda und Bernd sich streiten, bloß weil ihnen auffällt, dass keiner von ihnen etwas zu trinken dabei hat. Wenn doch bloß alles schon vorüber wäre, wenn sie doch schon wieder zu Hause wären, wenn ihm doch nicht so heiß wäre… Plötzlich hebt Bernd ihn mit einem Ruck hoch und da merkt Jonas, dass er für eine Weile in Bernds Armen eingeschlafen war.
»Wir sind dran«, flüstert Bernd ihm ins Ohr, und sie gehen durch eine große Milchglastür, die sich von alleine öffnet. Dahinter ist schon wieder ein langer Flur und Hedda und Bernd sehen sich ratlos um. »Da!«, sagt Jonas. »Dahinten ist ein Schalter«, und er deutet mit dem Finger darauf. »Stimmt«, sagt Hedda. »Wenn wir dich nicht hätten, würden wir uns in diesem Labyrinth noch verlaufen.« Und sie und Bernd müssen beide lachen. Die Frau hinter dem Glasfenster tritt auf den Flur hinaus. Sie hat einen weißen Kittel an mit einem Schildchen, auf dem steht: Schwester Gabriele. »Die Frau Doktor kommt gleich«, sagt Schwester Gabriele. »Bitte setzen Sie sich doch mit dem Jungen solange ins Wartezimmer, gleich hier um die Ecke.« Das Wartezimmer ist blitzeblank wie der Flur, bloß dass hier auch ein paar Bilder an der Wand hängen. Es sind große, bunte Poster von Pferden und Ponys. Jonas kennt sie aus der Kinderzeitschrift der Apotheke. Eine Zeit lang hat er die Tierposter der Zeitschrift gesammelt, aber dann wusste er nicht mehr, was er mit ihnen anfangen sollte. »Guten Morgen!«, sagt eine dunkle Stimme. »Ich bin Frau Jansen, die Kinderärztin.« In der Tür steht eine Frau in einem weißen Kittel. Sie hat ein Abhörgerät um den Hals, wie Jonas es von Doktor Grünberg kennt. Sie gehen nach nebenan in das Zimmer von Frau Jansen. Sie lächelt und fragt, wo Jonas Schmerzen hat und wie lange schon. Sie misst Fieber und schaut in seinen Mund; dann horcht sie seine Brust ab, tastet seinen Bauch und seinen Rücken ab. Sie hat warme, weiche Hände und Jonas mag ihre dunkle Stimme. »Jonas«, sagt sie schließlich, »ich würde dich gerne noch für ein Weilchen hier behalten. Bist du damit einverstanden?«
Jonas erschrickt. Im Krankenhaus will er nicht bleiben. Bernd und Hedda sollen ihn wieder mit nach Hause nehmen. »Du brauchst keine Angst zu haben, wir müssen nur zur Sicherheit ein paar Untersuchungen machen. Und in unserm Krankenhaus dürfen auch deine Eltern hier bleiben«, sagt Frau Jansen stolz und nickt dabei Hedda und Bernd auffordernd zu. Jonas schaut seine Eltern fragend an. »Ich bleibe hier«, sagt Bernd sofort. Darauf ist Jonas nicht gefasst und er freut sich so, dass er für einen Moment seine Angst vor den Untersuchungen vergisst. »Ja, aber was hat er denn eigentlich?«, will Hedda wissen. Jonas spitzt die Ohren. »Nun ja, abgesehen vom Herpes am Mund vermute ich eine Magen- und Darminfektion. Nichts Beunruhigendes also, aber Jonas scheint mir doch arg geschwächt zu sein, und da möchte ich ihn zur Stabilisierung und Beobachtung ein wenig hier behalten.« Frau Jansen will Hedda noch einige Fragen stellen. Sie schlägt vor, dass Schwester Gabriele Jonas und Bernd inzwischen schon mal ihr Zimmer zeigt. Jonas wird auf ein fahrbares Bett gelegt und er fühlt sich elend wie noch nie. In seinem Bauch krampft es und seitdem die Ärztin den Herpes erwähnt hat, juckt und brennt es auch wieder in seinem Mund. Ihm ist bang zumute. Sie wandern durch riesige, lange Flure. Unzählbar viele Menschen gehen hier auf und ab wie Ameisen auf ihren Straßen. Manche haben Blumen dabei, andere laufen in Morgenmänteln und Pantoffeln herum, wieder andere haben blaue, rosa oder weiße Kittel an. Dann fahren sie mit dem Aufzug in den siebten Stock. »So, das hier ist unsere Kinderstation«, sagt Schwester Gabriele. Sie öffnet eine große, blaue Tür. »Und das hier«, sagt sie, »ist dein Zimmer, Jonas.«
In dem Zimmer stehen vier Betten, und auf einem davon sitzen ein Junge und ein Mädchen und spielen Karten. Zu Jonas’ Verwunderung sind sie vollständig angezogen. Beide sind sehr bleich im Gesicht, findet Jonas, ein wenig wie Dracula. In einem Sessel in der Ecke sitzt ein Mann und liest in einem Buch. Er nickt freundlich und grüßt, als Jonas und Bernd hereinkommen. Jonas ist mulmig zumute. Er schaut sich um: Das Zimmer hat ein großes, hohes Fenster, durch das man außer dem blauen Himmel nur noch einen hohen, roten Turm sieht, aus dem etwas Rauch aufsteigt. Im Zimmer hängen Tierposter wie im Warteraum und Jonas überlegt, ob er dem Krankenhaus auch seine eigenen Poster schenken soll. »Papa, wie lange bleiben wir hier im Krankenhaus?« »Bestimmt nicht lange, Jonas, allerhöchstens ein paar Tage, schätze ich.« Jonas erschrickt. Ein paar Tage findet er schon viel zu lange. Er hatte gehofft, dass er morgen wieder nach Hause kann. Kurze Zeit später kommt auch Hedda herein. Sie sieht traurig aus, findet Jonas. Er hat sich bereits einen abgetragenen, weißen Schlafanzug angezogen, den er vom Krankenhaus bekommen hat, und sitzt auf dem Bett. Lieber hätte er jetzt seinen eigenen Schlafanzug an und läge zu Hause in seinem eigenen Bett. »Ich hol nur rasch ein paar Sachen für dich von zu Hause, Jonas«, sagt sie. »Dann bin ich wieder zurück.« Fast hat Jonas das Gefühl, er müsste sie trösten, so unglücklich sieht sie aus. Inzwischen hat Bernd sich ein wenig mit dem Mann im Sessel unterhalten. Er ist der Vater der beiden anderen Kinder im Zimmer, die die ganze Zeit Karten spielen. Der Mann sagt,
dass sie aus Russland kommen. Seine Kinder seien sehr krank gewesen, aber jetzt seien sie wieder ganz gesund. »Wir warten jetzt schon seit einer Stunde auf unsere Entlassungspapiere«, sagt der Mann. »Aber der Arzt hatte noch keine Zeit für uns, weil es heute ganz viele Notfälle gibt, die alle behandelt werden müssen.« Da erschrickt Jonas, weil er ja auch ein Notfall ist, und wieder stechen die tausend Nadeln in seinem Bauch. Jonas hat Angst – soll er denn auch behandelt werden? Er stöhnt laut auf und hält sich den Bauch. »Tief durchatmen, Jonas«, sagt Bernd. Er kommt schnell ans Bett und legt ihm die Hand auf den Bauch. Das Mädchen schaut zu ihm herüber, aber sie sagt nichts. Auch der Junge schaut Jonas nur schweigend an. Langsam lässt der Schmerz nach. Jonas ist plötzlich sehr müde geworden und zieht sich die Decke hoch. Gerade als er ein wenig wegdämmert, kommt ein Mann in einem kurzen, weißen Kittel und einer weißen Hose herein. Er hat ein lustiges Zöpfchen im Haar und einen Ring im Ohr. »Hallo«, sagt er gut gelaunt, »ich bin Hans-Jürgen. Und du bist wahrscheinlich Jonas, stimmt’s?« Jonas nickt. »Ich soll dich zur Untersuchung fahren.« Jonas schaut Bernd fragend an. »Wir gehen zusammen«, sagt der. Man schiebt ihn – schon wieder – durch endlose Flure, misst – schon wieder – sein Fieber, schaut – schon wieder – in seinen Mund und in seine Ohren. Man legt ihn auf eine Bank und schickt Röntgenstrahlen durch ihn hindurch, von denen er aber gar nichts merkt. Und schließlich sticht man ihm mit einer Nadel in den Finger und holt Blut heraus. Jonas ist inzwischen todmüde und möchte am liebsten nur noch schlafen. Als sie endlich wieder in ihr Zimmer kommen,
ist alles wie vorher. Die beiden Geschwister spielen Karten und reden dabei nur leise. Im Sessel sitzt ihr Vater und liest in seinem Buch. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. »Sie warten ja immer noch«, sagt Bernd verblüfft. »Ja«, sagt der Mann, »wir warten. Wir warten und warten und warten.« Wir warten auch, wiederholt Jonas in Gedanken, als er sich wieder in sein Bett legt, wir warten und warten… Und da ist er auch schon eingeschlafen.
12
»Ptsch!«, macht der Fernseher, als Jonas ihn anstellt, und dann stinkt es nach verbranntem Kabel. Kein Bild, kein Ton, der Fernseher macht keinen Pieps. Auch das noch! Seit fast einer Woche muss Jonas nun schon in der Wohnung bleiben und jetzt geht auch noch der Fernseher kaputt. So ein Mist! Wie soll er sich jetzt bloß die Zeit vertreiben? Immer nur lesen und puzzeln, das hält ja keiner aus. Nicht mal Hedda ist heute Nachmittag da. Dabei war er zuerst so froh gewesen, dass man ihn gleich am Sonntag, nachdem das Fieber wieder verschwunden war, aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Er müsse aber noch eine ganze Woche zu Hause bleiben, hatte die Kinderärztin gesagt, bis er wieder ganz gesund sei. Dabei ging es ihm schon wieder prächtig. Selbst die juckenden Bläschen am Mund und auf den Lippen waren eingetrocknet und verschwunden. Wenigstens war Bernd jeden Tag für eine Stunde vorbeigekommen, um ihm die Zeit zu vertreiben. Da hört Jonas, wie die Wohnungstür geöffnet wird. »Jonas? Ich bin wieder da!« »Ja.« »Wie riecht das denn hier?«, sagt Hedda, als sie ins Zimmer kommt, und schnüffelt in alle Richtungen. »Der Fernseher ist kaputt.« »Oje! Na, vielleicht ganz gut, dann hörst du endlich auf, so viel fernzusehen!« »Mama, aber darf ich dann endlich wieder nach draußen zum Spielen? Es ist voll langweilig immer in der Wohnung!«
Zu Jonas’ allergrößter Überraschung sagt Hedda ohne zu überlegen: »Darfst du.« Und dann fasst sie ihn plötzlich an beiden Armen und sagt: »Jonas, ich möchte dir was sagen. Ich komme gerade vom Krankenhaus. Dort hat man festgestellt, dass du kein Aids hast. Verstehst du, die haben dein Blut untersucht und keinen Virus gefunden!« Jonas schaut Hedda verständnislos an. »Du hast doch gesagt, dass es nicht nötig ist, den Aids-Test zu machen. Auch nicht, wenn man mal krank wird, Pickel hat oder so.« »Hast ja recht. Aber als die Ärztin sagte, du seist so schwach, da habe ich ihr anschließend gesagt, dass ich HIV habe und mir jetzt doch Sorgen mache, du könntest dich bei der Geburt vielleicht angesteckt haben. Da hat sie den Test vorgeschlagen, um Klarheit zu haben und dich besser behandeln zu können. Wir wollten dich damit nicht beunruhigen, Jonas, und deshalb haben wir nichts davon erzählt.« Jonas schweigt eine Weile. Eigentlich könnte er sich doch jetzt freuen, denkt er, schließlich hat er kein Aids und niemand kann ihn mehr damit aufziehen. Aber dass Hedda und Bernd ihm nichts von dem Test gesagt haben, gefällt ihm nicht. Und eine Frage quält ihn: »Wenn ich nun doch wie du den Virus gehabt hätte«, fragt Jonas, »hättest du es mir dann auch gesagt?« Hedda wird plötzlich sehr ernst. Sie schaut ihn an und nach einer langen Weile sagt sie: »Ich weiß es nicht, Jonas, denn du wärst ja nach wie vor für niemand ansteckend gewesen. Aber für dich und mich und Bernd wäre es sehr schlimm gewesen, es zu wissen, wenn du den Virus gehabt hättest. Wer weiß denn schon, wann endlich ein Heilmittel gegen Aids gefunden wird?« Jonas drückt Hedda plötzlich fest an sich, denn er begreift auf einmal, wie viel Sorgen sie sich um ihn gemacht hat, als er krank geworden war.
»Aber ich hab ja kein Aids«, sagt er und spürt Heddas Tränen an seiner Wange. Hedda ist froh und auch Jonas ist froh, das spürt er im ganzen Körper. Und jetzt will er endlich raus aus der Wohnung. »Hallo, Jonas!«, ruft Silke ihm schon von weitem zu. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?« Die Mädchen sitzen im Gras auf der Wiese im Dennewitz und schlecken ein Eis. Jonas kommt langsam näher. »Ich war krank«, sagt Jonas, als er die Wiese erreicht. »Was hast’n gehabt?«, fragt Vanessa. »Na, Fieber und so.« »Hättest vielleicht mehr Eis essen sollen«, sagt Silke und lacht. »Is’ gut gegen Fieber.« Dann schaut sie auf ihr Eis am Stiel und sagt: »Wülste mal probieren? – Oder haste Aids?« Da müssen sie alle drei lachen. Und Jonas, der am lautesten lacht, nimmt das Eis und beißt ein kräftiges Stück davon ab.
Wie es zu der Geschichte von Jonas kam
Bis vor drei Jahren arbeitete ich in einer Beratungsstelle für HIV-infizierte Menschen, die Drogen nahmen. Dort lernte ich ein Kind und seine HIV-infizierte Mutter kennen – die Vorbilder meiner Geschichte von Jonas. Neben der bedrückenden und erschütternden Erfahrung, dass ein Teil der Menschen, denen ich bei meiner Arbeit begegnete, erkrankte und starb, war vor allem eines, das mich zunehmend verstörte: Immer noch verhalten sich Menschen ablehnend und verletzend gegenüber HIV-infizierten Kindern und Erwachsenen. Oft wohl deshalb, weil sie über Aids schlecht informiert sind und daher Angst haben, auch sie könnten sich infizieren. Dabei brauchen HIV-positive Menschen die Unterstützung der anderen in dieser schwierigen Zeit besonders dringend. Aids hat mich zudem noch eines gelehrt: Genauso schlimm, diese (oder eine andere schwere) Krankheit zu haben, kann es sein, ihretwegen ausgestoßen, verlacht oder gefürchtet zu werden. Sogar von den »besten« Freunden. Daran möchte ich mit der Geschichte von Jonas erinnern.
Erläuterungen
Bei Menschen mit Aids ist der natürliche Schutzschild des Körpers (das Immunsystem) gegen Krankheitserreger geschädigt. Der Körper ist dann selbst Krankheitserregern schutzlos ausgeliefert, die einem gesunden Menschen nichts anhaben können. Die Aids-Erkrankung wird ausgelöst durch einen Virus, den man HIV nennt. HIV ist die englische Abkürzung für »menschlicher Immunschwäche-Virus«. Wer den HIV in sich trägt, ist aber nicht gleich krank, denn der Verlauf der HIV-Infektion ist sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen mit HIV, die jahrelang keine Anzeichen einer Krankheit entwickeln. Und möglicherweise erkranken einige Menschen trotz HIV niemals an Aids. Andere Menschen aber werden sehr schnell krank und sterben unter Umständen bald. Kinder können im Mutterleib durch das Blut ihrer HIVinfizierten Mutter angesteckt werden. Auch beim Stillen ist das möglich. Früher wurden Menschen auch bei Blutübertragungen (Transfusionen) angesteckt. Heute, so sagen die Gesundheitsbehörden, wird das Blut streng kontrolliert, so dass kein Risiko mehr besteht.
Fast alle Menschen tragen Herpeserreger in sich. Die erste Ansteckung findet meist schon im Babyalter statt. Normalerweise schlummern die Herpeserreger im Körper, aber durch starke Sonnenbestrahlung, Allergien, seelische Belastung oder andere Reize können sie »geweckt« werden.
Dann kommt es bei der einfachen Form von Herpes zu schmerzenden Bläschen an Lippen und Mundschleimhaut. Bei Menschen mit schwerer körperlicher Abwehrschwäche (z. B. bei Aids) kann sich die Erkrankung auf andere Körperstellen ausbreiten und sogar lebensgefährlich werden.
Ist Aids ansteckend? Es gibt keinen Virus, der so schwer auf andere Menschen übertragbar ist wie HIV. Der häufigste Ansteckungsweg mit HIV ist der Geschlechtsverkehr ohne Kondom. Drogenabhängige können sich beim gemeinsamen Benutzen ihrer Spritzen anstecken. Daher kann kein HIVinfiziertes Kind ein anderes Kind im alltäglichen Umgang anstecken. Egal ob in der Schule, im Kindergarten, auf dem Spielplatz oder wo Kinder sonst zusammenkommen: Beim Schmusen, beim Toben, beim Spielen, beim Umarmen und Küssen, beim Lachen und Weinen kann nichts passieren. Man kann gemeinsam aus dem selben Glas trinken, den selben Löffel benutzen, gemeinsam ein Butterbrot essen, ein Eis schlecken, zusammen baden, dasselbe Klo benutzen – es passiert nichts! Nur wenn infiziertes Blut in die Blutbahn eines NichtInfizierten gelangt, besteht die Gefahr, sich anzustecken. Also solltet ihr auf Blutsbrüderschaft verzichten. Schließlich gibt es auch noch andere Krankheitserreger, die dabei übertragen werden könnten (z. B. Gelbsucht).
Methadon ist eine Droge, die Drogenabhängige vom Arzt bekommen und die als Saft eingenommen wird. Methadon gibt den Drogenabhängigen die Möglichkeit, auf Heroin zu verzichten, das sie sonst beim Dealer für viel Geld kaufen
müssten. Durch Methadon können viele Süchtige mit der Zeit wieder in ein geregeltes Leben zurückfinden.
Therapie/Therapeutin sind hier Kurzbezeichnungen für Psychotherapie und Psychotherapeutin. Eine Psychotherapie ist eine seelische Behandlung. Therapeuten/innen gehen davon aus, dass es erleichtert, wenn man sich die Probleme »von der Seele redet«.
Der »Aids-Test« ist in Wirklichkeit der sogenannte HIVAntikörper-Test. Beim Eindringen eines Virus in den menschlichen Körper werden Antikörper zur Abwehr gebildet. Der HIV-Antikörper-Test sucht deshalb im Blut nach Antikörpern gegen HIV. Werden HIV-Antikörper gefunden, nennen die Ärzte das »HIV-positiv«, wobei positiv leider »infiziert« bedeutet, also mit HIV angesteckt. Ein HIV-positives Testergebnis ist für die Betroffenen immer ein schwerer Schock und kaum zu verkraften. Manche Menschen wurden krank nach der Mitteilung, sie seien HIVpositiv, andere wollten sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. Deshalb sollte man sich vor einem Test auf jeden Fall ausführlich beraten lassen.
Seit Jahren wird überall auf der Welt fieberhaft nach einem Heilmittel und einem Impfstoff gegen Aids gesucht. Seit kurzer Zeit erst setzen Aids-Forscher große Hoffnungen in neue Behandlungsmethoden, die ein Leben mit HIV ermöglichen sollen. Doch kann offenbar längst nicht allen Betroffenen damit geholfen werden. Und die Medikamente haben zum Teil
schlimme körperliche Nebenwirkungen, müssen aber ein Leben lang genommen werden. Erst in Zukunft wird sich also zeigen, wie berechtigt die Hoffnungen waren.