Klaus Sollert
In der Hand der Bestien Version: v1.0
Versagt! Immer und immer wieder flammte das Wort in Rog...
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Klaus Sollert
In der Hand der Bestien Version: v1.0
Versagt! Immer und immer wieder flammte das Wort in Roger Mortons innerer Gedankenwelt auf und nahm ihm jede Hoffnung, zerstörte jede andere Regung in ihm. Er hatte versagt. Vollkommen versagt. Ein gequältes Stöhnen drang über seine Lippen. Er bemerkte es nicht einmal. Er war mit seinen Gedanken weit, weit weg. Er hatte schon Anne nicht retten können. Und Tanja würde das gleiche Schicksal ereilen. Sie würde sterben, weil er im entscheidenden Moment nicht das Richtige getan hatte …
Besorgt blickte Raku seinen Freund an. Er hätte ihm gerne einen Teil der Last abgenommen, aber er wusste, dass dies unmöglich war. Roger musste die Dämonen der Vergangenheit selbst besiegen. Einen anderen Weg gab es nicht. Irgendwann kehrte Roger in die Realität zurück. Er hatte keine andere Wahl. Noch war nicht alles verloren. »Warum meldet sich diese Höllenkreatur nicht?«, fragte er Raku. »Um dich zu verunsichern«, entgegnete der Asiate überzeugt. »Natürlich, was sonst!« Die Bitterkeit in Mortons Stimme war kaum zu überhören. Er vermutete das Gleiche. Ihr Todfeind wusste nur zu gut, wie er seinen Gegnern den Mut raubten konnte. Besonders ihm! »Hat sich Kofler noch mal gemeldet?«, wollte Roger wissen. »Bisher nicht.« Morton hatte auch nicht damit gerechnet. Auch der Hauptkommissar konnte keine Wunder vollbringen. Seit seine Männer den Hubschrauber entdeckt hatten, mit dem Loupes entkommen war, waren sie alle an einem toten Punkt angelangt. Loupes war einfach zu gerissen, um sich von den ganz normalen Fahndungsmethoden der Polizei beeindrucken zu lassen. Zudem verfügte er über genügend finanzielle Mittel, um unerkannt entkommen zu können. So sah leider die bittere Wahrheit aus. »Vielleicht sollten wir ihn noch ein …« Grell ertönte Mortons Handy und riss ihm die letzten Worte von den Lippen. Es war Loupes. Roger wusste es genau. Wie von selbst fuhr Rogers Hand zu dem kleinen Gerät und er nahm das Gespräch entgegen. Seine Mund war plötzlich staubtrocken. »Hallo, Roger!«, meldete sich sein Todfeind mit einem hörbaren Grinsen.
»Was ist mit ihr?«, brüllte Roger in den Hörer. Er konnte sich nicht zurückhalten. Die Angst um Tanja Marenkov brachte ihn beinahe um den Verstand. Er musste wissen, ob sie noch am Leben war. »Wie unhöflich, gleich zur Sache zu kommen«, entgegnete Loupes. »Aber du warst schon immer der Ungeduldigere von uns beiden. Erinnerst du dich noch?« Der beißende Spott in der Stimme seine Erzfeindes brachte Roger fast zur Weißglut. »Ich will wissen, ob sie noch am Leben ist!«, stieß Morton hervor. »Natürlich ist sie das«, antwortete Loupes endlich. »Tot ist sie für mich schließlich nicht mehr von Nutzen.« Die Kälte, mit der das höllische Geschöpf über Leben und Tod sprach, erschütterte Morton zutiefst. »Sie ist wirklich eine aparte Person. Eine sehr attraktive Frau, findest du nicht?« »Was willst du?«, stellte Roger die entscheidende Frage. Er wollte endlich wissen, woran er war. Alles andere interessierte ihn nicht. Nur das Leben von Tanja spielte für ihn eine Rolle. »Das weißt du genau.« »Dann sag es!«, forderte Morton die Bestie auf. »Ich will die Schädelkrone!«, stieß Loupes zischend aus. Roger hatte damit gerechnet. Ohne die Krone würde sein Todfeind niemals seine abstoßenden Ziele erreiche. Aus diesem Grund hatte er auch die junge FSB‐Agentin entführt. Sie war sein Druckmittel, um zu bekommen, was er wollte. »Und ich will Tanja!«, erwiderte Morton. Ein leises Lachen war die Antwort auf seine Forderung. Loupes wusste nur zu gut, dass er die besseren Karten hatte. Und er würde sie ohne Rücksicht zu seinem Vorteil nutzen. »Nun, dann würde ich
doch einen kleinen Austausch vorschlagen.« »Wann und wo?« »Nicht so eilig, Roger. Ich weiß, wie gefährlich du bist. Du und auch dein asiatischer Freund.« »Und?«, entgegnete Roger. »Ich will, dass du nach Edinburgh fliegst. Am Flughafen wird eine Nachricht von mir auf dich warten. Der Rest wird sich finden.« »Einverstanden.« »Ich habe auch nicht mit einer anderen Antwort gerechnet.« Roger schwieg. Er wollte seinem Erzfeind keinen weiteren Triumph gönnen. Doch er schwor sich in diesem Moment, dass diese Bestie nicht ungeschoren davonkommen sollte. »Fast hätte ich es vergessen, Roger«, sagte Loupes in einem fast beiläufigen Tonfall. »Was denn noch?« »Ich will, dass du alleine zu unserem Treffpunkt kommst, verstanden?« Roger hatte das erwartet. Sein Gegner wollte kein unnötiges Risiko eingehen. »In Ordnung«, stimmte Morton zu. »Wir sehen uns in unserer Heimat!«, sagte Loupes noch und beendete das Gespräch. Auch Roger schaltete sein Handy ab. Sein Blick war dabei in eine weite Ferne gerichtet. Das Gespräch hatte ihn sichtlich mitgenommen. »Und?«, fragte Raku nach einer Weile. Roger berichtete ihm alles. »Damit war zu rechnen«, meinte der Asiate nachdenklich, als sein Freund geendet hatte. »Die Frage ist nur, ob wir alle Bedingungen von Loupes auch erfüllen oder nicht.«
»Du sagst es!« »Und, was denkst du?« Ein wissendes Lächeln umspielte die schmalen Lippen des Asiaten. Er hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt. Roger kannte seinen Freund schließlich gut genug. »Wir werden Loupes eine kleine Überraschung bereiten«, antwortete Raku. »Du informierst Kofler, während ich mich um den Rest kümmere, okay?« Morton hatte nichts dagegen. Alles war besser, als zu warten und auf ein Wunder zu hoffen. Er war sogar mehr als dankbar dafür, endlich etwas unternehmen zu können. Loupes durfte nicht gewinnen! Zudem vertraute er Raku voll und ganz. Sie hatten zusammen schon eine Menge erlebt. Und oftmals waren sie dem Tod dabei nur knapp entgangen. Die Zeit des Wartens war endlich vorbei …
* Roger hatte gerade sein Gepäck vom Fließband genommen, als er durch die Lautsprecher des Flughafengebäudes ausgerufen wurde. Die blecherne Stimme der Ansagerin wirkte fast bedrohlich. Dennoch war er mehr als froh darüber, sie zu hören. Er würde nun bald wissen, wo sich Loupes mit ihm treffen wollte. Mit raschen Schritten eilte Morton durch die riesige Halle. Er kannte sich hier aus. Es war nicht das erste Mal, dass er in Edinburgh gelandet war. Schottland war seit Jahrhunderten die Heimat der Mortons gewesen. Und sie waren diesem Land stets verbunden geblieben. Es hatte sie geprägt.
Als er den Auskunftsschalter erreichte, wandte sich ihm sofort eine aparte Angestellte zu. »Roger Morton!«, sagte er, noch bevor ihm die junge Frau nach seinen Wünschen fragen konnte. Er hatte es eilig. Solange Tanja Marenkov in der Hand seines Feindes war, würde er keine ruhige Minute finden. Die Angst um sie wich keinen Augenblick von ihm. Er hatte sich tatsächlich in die junge FSB‐Agentin verliebt. So einfach war das und gleichzeitig so kompliziert. Seine Gefühle raubten ihm beinahe den Verstand und das war gefährlich … »Natürlich, Mr. Morton«, erwiderte die Angestellte. »Würden Sie sich bitte ausweisen!« Roger reichte ihr seinen Pass. »Vielen Dank. Diese Nachricht wurde für Sie hinterlegt.« Mit einem freundlichen Lächeln überreichte sie ihm einen schneeweißen Umschlag. Nur sein Name war darauf vermerkt worden, sonst nichts. Doch für Roger bedeutete er alles. Mit klopfendem Herzen riss er den Umschlag auf und zog das einzelne Blatt Papier hervor. Beruhige dich!, fuhr er sich selbst in Gedanken an. Er war für Tanja keine Hilfe, wenn er die Kontrolle über sich verlor. Er musste seine Gefühle verdrängen. Sie waren ihm im Augenblick nur im Wege. Hastig faltete er das Blatt auseinander und begann zu lesen. Er erkannte die markante Handschrift sofort. Er hatte sie in seiner Jugend oft genug gesehen. Hallo Roger! Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Flug. Aber wie ich dich kenne, bist du vor Angst und Sorge um deine hübsche Begleiterin fast verrückt geworden. Ihr Menschen seid halt eine erbärmliche Rasse! Doch genug der Plauderei. Hast du dich an die Abmachung gehalten? Ich
würde es dir jedenfalls raten, sofern du die junge Dame lebend wieder sehen willst. Keine Tricks, verstanden! Nun zu unserem Treffpunkt. Ich habe dir den Weg auf der Rückseite dieser Nachricht aufgezeichnet. Es ist ein verlassener Ort in den Highlands. Genau richtig für einen kleinen Austausch. Bis bald. Roy Loupes Rasch drehte Roger das Blatt um und studierte die Zeichnung. Kurz schloss er die Augen. Die versteckte Drohung in der Nachricht hatte ihm zugesetzt. Loupes gelang es stets aufs Neue, ihn in Angst und Schrecken zu versetzen. Das war die eigentliche Gefahr, die von dieser Bestie ausging. Roger schüttelte die negativen Gefühle ab. Er musste sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren. Alles andere durfte für ihn keine Rolle spielen. Mit entschlossenen Schritten ging er auf den Ausgang des Gebäudes zu. Seine rechte Hand umklammerte dabei den Griff eines kleinen Koffers besonders fest. In ihm befand sich Tanjas Lebensversicherung. Die Schädelkrone! Solange sie in seinem Besitz war, würde Loupes sich zurückhalten. Er brauchte dieses Symbol der Macht, um seine Pläne zu verwirklichen. Wie diese im Einzelnen allerdings aussahen, konnte Roger nur ahnen. Er machte sich nicht die Mühe, besonders unauffällig zu wirken. Er wurde bestimmt beobachtet. Sein Erzfeind ging in dieser Hinsicht garantiert kein Risiko ein. Roger versuchte erst gar nicht, den oder die Beobachter auszumachen. In dem Gewimmel des Flughafengebäudes wäre es ohnehin ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Und außerdem wollte er seinen Todfeind in Sicherheit wiegen.
Loupes durfte unter keinen Umständen erfahren, dass Raku und er einen Plan entwickelt hatten, um Tanja zu befreien. Er musste sich schon als Sieger fühlen. Ob das gelang, stand allerdings in den Sternen. Er hatte das Gebäude gerade verlassen, als er auch schon den Wagen ausmachte, der auf ihn wartete. Es war ein dunkelgrauer Range Rover, das richtige Fahrzeug für die Highlands. Auch der Fahrer hatte ihn gesehen und stieg sofort aus. Morton kannte ihn nicht, doch er vertraute ihm. Er war ein Freund von Raku und somit ein Verbündeter. »Sie müssen Mr. Morton sein!«, begrüßte ihn der Fremde. Es war eine Feststellung, keine Frage. Roger nickte nur. Der Mann war ein Asiate. Und er war gefährlich, das spürte Morton intuitiv. Seine ganze Haltung wies darauf hin. Zudem war er bewaffnet. Die Ausbuchtung unter der linken Achsel sprach eine allzu deutliche Sprache. Aber das interessierte Roger nur am Rande. Raku wusste genau, wem er vertrauen konnte. »Mein Name ist Chen Nakata«, stellte sich der Fahrer des Rovers vor. »Raku hat mir viel von Ihnen erzählt. Es ist mir eine Ehre, Ihnen behilflich sein zu können.« »Wo ist Raku?« »An einem sicheren Ort.« Das war das verabredete Zeichen. Mehr musste Roger nicht wissen. Es war alles vorbereitet. »Ich danke Ihnen«, sagte er. Nakata verbeugte sich und half Morton anschließend, die Gepäckstücke in den Fond des Wagens zu verstauen. Anschließend reichte er ihm die Schlüssel. »Stärke und Glück bei Ihrem Kampf!«, wünschte Nakata mit fester
Stimme. Die Worte des Asiaten wirkten seltsam beruhigend auf Roger. Fast hatte er das Gefühl, gesegnet zu werden. Es war eine seltsame Erfahrung. »Ich danke Ihnen«, sagte er. Noch einmal verbeugte sich Nakata, dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand aus Mortons Blickfeld. Er hatte seine Aufgabe erfüllt. Der Rest lag bei Raku und ihm. Ohne zu zögern, nahm Roger auf dem Fahrersitz Platz und fuhr los. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich. Seine innere Unruhe hatte sich jedoch völlig in Luft aufgelöst. Er war bereit!
* Stille. Nichts als Stille. Tanja Marenkov hatte das Gefühl, sich in einer anderen Welt zu befinden, in der kein einziges Geräusch bis zu ihr vordringen konnte. Es war eine schreckliche Vorstellung. Wenigstens hatte man ihr eine Lichtquelle gelassen. Es waren einige brennende Kerzen, die ihr Gefängnis notdürftig erhellten. Ihre Häscher hatte sie in eine Art Verlies gesperrt. Einem kleinen, halbrunden Raum, der durch eine stabile Tür gesichert wurde. Ein Hindernis, das sie unmöglich überwinden konnte, obwohl sie es natürlich versucht hatte. Wo hatte man sie nur hingebracht? Eine Antwort auf diese Frage hatte sie nicht gefunden. Sie wusste es einfach nicht. Sie wusste nur, dass sie eine Gefangene war. Mit Schaudern dachte sie an den Moment zurück, an dem sie aus ihrer tiefen Bewusstlosigkeit erwacht war. Zuerst war sie noch zu
benommen gewesen, um ihre schreckliche Lage zu begreifen. Doch nachdem sie die beiden abstoßenden Kreaturen erblickt hatte, war jede Hoffnung in ihr wie eine Kerzenflamme erloschen. Sofort hatte sich ihr einer der Werwölfe zugewandt und sie voller Gier betrachtet. Es war ein Blick gewesen, den sie noch jetzt zu spüren glaubte – voller Hunger. »Ich bin Roy Loupes!«, hatte die monströse Bestie gesagt. Im nächsten Moment war wieder die alles verschlingende Schwärze über sie gekommen. Er hatte ihr mit einem gezielten Prankenhieb erneut die Besinnung geraubt. Schließlich war sie in diesem Kerker zu sich gekommen, hilflos und ohne jede Hoffnung. Noch lebst du! Der Gedanke hatte etwas Tröstendes. Und er weckte ihre Lebensgeister. Noch war sie nicht am Ende. Während ihrer Ausbildung beim FSB hatte man ihr verschiedene Entspannungstechniken beigebracht. Diese nutzte Tanja nun, um ihren Geist von allen negativen Einflüssen zu befreien. Sie musste bereit sein für den Augenblick, an dem sich eine Gelegenheit zur Flucht bot. Schon nach kurzer Zeit hatten sich ihre Ängste und inneren Zweifel auf ein Minimum reduziert. Es war ein gutes Gefühl. Sie war noch immer in der Lage zu kämpfen. Das harte Geräusch eines zurückgezogenen Riegels riss sie in die Wirklichkeit zurück. Sofort wandte sie sich der Zellentür zu. Ihre Haltung wirkte dabei vollkommen locker, doch innerlich war sie angespannt wie eine straff gespannte Feder. Sollte es notwendig sein, würde sie sich bis zum letzten Atemzug verteidigen. Wuchtig wurde die Tür aufgezogen und ein einzelner Mann betrat die Zelle. Auf den ersten Blick wirkte er völlig normal. Dennoch spürte Tanja die feindliche Aura, die von dem Fremden ausging.
Es war der Hauch des Todes. Zudem kam er ihr irgendwie bekannt vor. Sie konnte jedoch nicht sagen, warum. »Wie ich sehe, sind Sie wach«, sagte der Mann und blickte Tanja direkt in die Augen. Die junge Russin erwiderte nichts. Der Blick des Fremden fuhr wie eine glühende Klinge durch ihren Körper. Er hatte unheimliche Augen, grausam und mitleidlos. »Mein Name ist übrigens Roy Loupes, aber das dürften Sie ja bereits wissen, nicht wahr, Tanja? Oder soll ich Sie lieber Major Marenkov nennen?« Der abstoßende Sarkasmus in Loupes Stimme ließ Tanja kalt. Sie fragte sich vielmehr, woher er so viel über sie wusste. Die Antwort lieferte er ihr selbst. Mit einer lässigen Bewegung zog er ihren Dienstausweis hervor. Gleich darauf warf er Tanja das Dokument verächtlich vor die Füße. Er brauchte es nicht mehr. Tanja schluckte trocken und brachte dann mit einem zuckersüßen Lächeln heraus: »Bleiben wir besser bei Major Marenkov, danke. Was haben Sie mit mir vor?« »Eine gute Frage!«, entgegnete Loupes. »Und wie lautete die Antwort?« »Nun, Sie sind meine Geisel«, antwortete Loupes. »Ihr Freund Roger hat etwas, das mir gehört. Also habe ich einen Austausch arrangiert. Sie gegen das, was ich begehre.« Mit dieser Antwort hatte Tanja nicht gerechnet. Sie ahnte jedoch, dass ihr Gegner nicht mit offenen Karten spielte. Er würde sich an keine Vereinbarung gebunden fühlen, selbst wenn er sie selbst vorgeschlagen hatte. »Und dann lassen Sie mich einfach gehen?«, wollte Tanja Marenkov es genau wissen.
»Natürlich nicht!« Die Kaltschnäuzigkeit, mit der Loupes die Antwort gab, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Er würde sie ohne Gnade töten, sobald sie für ihn nicht mehr von Nutzen war. »Aber das sind hypothetische Spielereien«, fuhr Loupes fort. »Wahrscheinlich wir ein solcher Austausch gar nicht notwendig sein. Ich habe einige meiner Diener losgeschickt, um Roger abzufangen und ihn zu töten.« Die Worte trafen Tanja wie Pfeilspitzen. »Ihre Kreaturen werden Roger niemals besiegen!«, stieß sie überzeugt aus, um sich selbst Mut zu machen. Loupes antwortete mit einem schallenden Lachen. »Vielleicht haben sie sogar Recht«, stimmte er ihr zu, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Aber letztendlich werde ich doch über ihn triumphieren.« »Niemals!« »Das hat auch seine große Liebe gesagt, bevor ich mich an ihrem Blut labte. Sie war übrigens eine genauso attraktive Frau wie Sie. Doch retten konnte sie das auch nicht.« Tanjas Gedanken purzelten durcheinander. Endlich verstand sie Mortons Besessenheit. Er wollte sich an der Kreatur rächen, die sein Leben zerstört hatte. »Sie sind ein Ungeheuer!«, schrie sie. Wieder stieß Loupes ein grelles Lachen aus. »Schon bald werde ich über diese Welt herrschen! Sie wird mir und meinen Artgenossen gehören! Und die Menschen werden nur noch unserem Vergnügen dienen!« »Dazu wird es nicht kommen! Roger wird ihre Pläne vereiteln.« Ohne erkennbare Regung nahm ihr Gegenüber die Worte zur Kenntnis. »Ihr Vertrauen in meinen Widersacher scheint unerschütterlich. Aber es wird Sie nicht retten. Am Ende werde ich
siegen.« »Sie sind wahnsinnig!«, spie Tanja ihrem unheimlichen Gegner entgegen. Urplötzlich brach die Bestie aus Loupes hervor. Haare sprossen aus jeder Pore seiner Haut und bedeckten sie mit dichtem Pelz. Gleichzeitig wurden seine Hände zu abstoßenden Pranken mit messerscharfen Krallen. Und auch sein Gesicht verformte sich und wurde zu einer widerlichen Fratze. Geschockt wich die FSB‐Agentin zurück. Der Anblick der Kreatur war zu grauenvoll. Er nahm ihr schier den Atem. Sie kam nur zwei Schritte weit. Blitzschnell schoss Loupes auf sie zu, umschloss mit der rechten Pranke ihren ungeschützten Hals und rammte sie brutal gegen die Zellenwand. Der Aufprall war so hart, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Nackte Panik flammte in Tanja hoch! Sie war zu weit gegangen. Sie hatte ihren Gegner zu sehr gereizt. Dafür würde sie nun den Preis zahlen müssen. Die riesige Pranke quetschte ihren Hals wie eine stählerne Zwinge zusammen. Verzweifelt versuchte Tanja, den erbarmungslosen Griff zu sprengen, doch das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Kräfte ihres Gegners waren einfach zu groß. Ruckartig schoss Loupes abstoßende Fratze auf ihr Gesicht zu und verharrte dicht davor. »Ich könnte dich jetzt töten!«, knurrte die Bestie. Die Augen des Untiers schienen blutrot zu glühen. Es war ein Bild des Grauens. Die junge Frau nahm die Worte nur noch am Rande wahr. Der Mangel an Sauerstoff machte sich bereits bemerkbar. Grelle Blitze tanzten vor ihren Augen.
Ich werde sterben!, schrie sie innerlich. Der Gedanke erschreckte sie nicht einmal mehr. Alles schien plötzlich ohne Bedeutung zu sein. Selbst ihr eigenes Leben. Da ließ Loupes sie los. Kraftlos sackte Tanja in sich zusammen, während sie gierig nach Luft schnappte. »Nein!«, vernahm sie noch einmal Loupes Stimme. »Ich werde dich nicht töten. Ich werde dich zu meiner Gefährtin machen, wenn die Zeit gekommen ist.« Noch bevor Tanja reagieren konnte, drehte sich ihr Todfeind herum und verließ die Zelle. Wuchtig schlug er die Tür hinter sich zu. Dann hörte sie auch schon, wie der Riegel zuschnappte. Tränen rannen über ihr Gesicht – Tränen der Verzweiflung und der Angst. Was Loupes ihr angedroht hatte, war schlimmer als der Tod. Viel schlimmer. Tanja zog die Beine an und umklammerte sie mit den Armen. Sie versuchte, auf diese Weise Trost zu finden. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Tiefe Hoffnungslosigkeit machte sich in ihr breit …
* Auch Raku war ein Gefangener. Er hatte diese Gefangenschaft allerdings freiwillig gewählt, um ihren grausamen Feind zu täuschen. In diesem Spiel auf Leben und Tod war er Rogers letzter Trumpf. Entweder stach er oder sie waren verloren. Rakus Gefängnis war ein versteckter Hohlraum unter den Fondsitzen des Range Rovers, den Morton gerade benutzte. Vor
kurzem war der Wagen noch zum Schmuggel von Waren verschiedenster Herkunft benutzt worden. Nun diente er einem anderen Zweck. Der Asiate musste unwillkürlich grinsen, als ihm die Ironie dieser Tatsache bewusst wurde. Der Hohlraum verfügte über verborgene Luftlöcher, so dass Raku atmen konnte. Zudem besaß er zusätzlich eine Lichtquelle, doch der Asiate benutzte sie nicht. Die undurchdringliche Schwärze seines Gefängnisses machte ihm nichts aus. Er nutzte sie sogar, um seine Willensstärke zu prüfen. Auf diese Weise würde er bereit sein, wenn seine Zeit gekommen war. Seine alten Kontakte hatten sich bewährt. Manchmal konnte ein Leben jenseits des Gesetzes doch von Nutzen sein. Besonders in einer prekären Situation wie dieser. Chen Nakata hatte keine Sekunde gezögert, seinem ehemaligen Partner beizustehen. Sie hatten zusammen viel erlebt. Gute Dinge, schlechte Dinge. Doch ihrer Verbundenheit war unerschütterlich geblieben. Die Erinnerung an sein früheres Leben war für Raku beglückend und schmerzhaft zugleich. Auch er war früher ein Schmuggler gewesen. In einem Land wie China hatte sich ein solches Leben geradezu angeboten und er hatte es im Grunde sogar genossen. Chen und er waren die Besten ihres Metiers gewesen. Sie hatten alles geschmuggelt, was Profit brachte. Nur vor Waffen und Drogen waren sie zurückgeschreckt. Diese Dinge waren ihnen zu gefährlich erschienen. Irgendwann hatte er Roger kennen gelernt und sein Leben war in andere Bahnen gelenkt worden. Er hatte seine wahre Bestimmung gefunden, die seinem Leben einen Sinn gab. Nichts war so bedeutend und wichtig, wie der Kampf gegen Loupes und seine höllischen Artgenossen!
Chen dagegen war dem Geschäft treu geblieben. Er hatte seinen Wirkungskreis nur einige Jahre später nach Europa verlagert und ließ sich in England nieder. Ein Umstand, der Raku in diesem speziellen Fall sehr entgegenkam. Ohne Nakata wären Roger und er vollkommen aufgeschmissen gewesen. Aber sein alter Partner hatte ihn nicht im Stich gelassen. Die Abenteuer vergangener Tage schweißten sie auf ewig zusammen. Blieb nur zu hoffen, dass auch Loupes auf ihren Trick hereinfiel. Er musste an seinen Sieg glauben, bis Raku sein Versteck im Wagen verlassen hatte und in das Geschehen eingreifen konnte. Ansonsten war alles verloren. Eine zweite Chance würde es nicht geben. »Wie geht es dir?«, vernahm Raku plötzlich die Stimme seines besten Freundes. Roger und er standen über Funk miteinander in Kontakt. Zu diesem Zweck trug Raku ein Headset. Sein Partner aus Schmugglertagen hatte wirklich an alles gedacht. »Ich lebe noch!«, antwortete der Asiate. Die Antwort entlockte Morton ein Lachen. Raku hatte darauf gehofft. Seine lapidare Antwort hatte ihren Zweck erfüllt. Er wusste schließlich nur zu gut, wie sehr sein bester Freund in den letzten beiden Tagen gelitten hatte. Roger hatte ihm schon vor Jahren alles über Anne und ihren grausamen Tod erzählt. Es war eine Geschichte gewesen, die selbst ihn zutiefst erschüttert hatte. Darum konnte Raku die starken Empfindungen seines Partners auch voll und ganz nachvollziehen. »Bald hast du es ja überstanden«, versprach Morton. »Wie lange noch?« »In gut zwei Stunden müssten wir da sein.« »Okay.«
»Bis später«, sagte Roger und unterbrach die Verbindung. Raku und er hatten beschlossen, die Funkverbindung so selten wie möglich zu nutzen. Sie durften ihren Gegner unter keinen Umständen unterschätzen. Dafür war er eindeutig zu gefährlich. Sein asiatischer Kampfgefährte entspannte sich wieder. Die letzten zwei Stunden in seinem selbst gewählten Gefängnis waren angebrochen. Was danach kam, stand in den Sternen. Nur einige Minuten später wurde der Range Rover abrupt abgebremst. Sofort waren Rakus Sinne hellwach. Er witterte die drohende Gefahr wie ein wildes Tier. Umgehend schaltete er das Licht ein. Kurz musste er blinzeln, dann hatte er sich an die Helligkeit gewöhnt. Er war bereit. »Ich glaube, es gibt Probleme!«, hörte er Rogers Stimme. »Was ist los?« »Am Straßenrand steht ein verlassener Wagen. Anscheinend eine Panne.« »Wohl eher eine Falle!«, entgegnete Raku. »Wahrscheinlich«, stimmte ihm Morton zu. »Trotzdem werde ich der Sache mal auf dem Grund gehen.« »Soll ich mitkommen?« »Nein, bleib im Wagen.« Nur widerwillig gab Raku dem Wunsch seines Freundes nach. Er wusste jedoch, dass Roger Entscheidung richtig war. Noch durften ihre Gegner von ihrem Trick nichts wissen. Das Leben von Tanja Marenkov hing davon ab. »Ich steige jetzt aus!«, gab Roger mit belegter Stimme von sich. Anschließend vernahm Raku nichts mehr. Sein Freund hatte die Verbindung erneut unterbrochen. Wie von selbst fuhr seine Hand zu dem Mechanismus, mit dem sich die Klappe im Wagenboden öffnen ließ. Das war sein Ausstieg.
Und er schwor sich, ihn zu benutzen, sollte sein bester Freund in eine Falle geraten sein. Atemlos verharrte Raku und lauschte. Sein dumpfer Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Die Zeit schien still zu stehen. Nur einen Augenblick später ertönte das peitschende Knallen mehrerer Schüsse. Der Asiate wusste, was das bedeutete. Ihre Feinde hatten sich nicht an die Spielregeln gehalten …
* Als die ersten, sanft geschwungenen Berge auftauchten, hatte Roger das Gefühl, nach Hause zu kommen. Fast genoss er die Fahrt, obwohl sie einem bitteren Zweck diente. Doch er konnte sich dem einzigartigen Zauber der Gegend nicht vollständig entziehen. Das nördliche Hochland hatte seinen ganz eigenen Charme – rau und abweisend auf der einen Seite, beschützend und friedvoll auf der anderen Seite. Irgendwann hatte die Dämmerung eingesetzt. Nicht langsam, sondern von einer Sekunde auf die andere. In den Highlands ist das normal. Dennoch überraschte Morton die einsetzende Dunkelheit. Er war schon zu lange nicht mehr in Schottland gewesen. Seine Verbundenheit mit der Heimat hatte Risse bekommen, so wie alles in seinem Leben. Sofort hatte er die Scheinwerfer eingeschaltet und das Tempo ein wenig gedrosselt. Er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Tanja verließ sich schließlich auf ihn und er würde sie nicht enttäuschen. Ihr Leben sollte Loupes nicht bekommen. Kurz unterhielt er sich mit Raku. Und für einen Moment konnte
ihn sein Partner tatsächlich aufheitern. Doch der Augenblick verflog so schnell, wie er aufgetaucht war. Die Funkverbindung war exzellent. Chen Nakatas Hilfe war wirklich unschätzbar, auch wenn Roger die Art seiner Geschäfte nicht gerade zusagte. Aber in der Not frisst selbst der Teufel Fliegen. Rogers Hände umkrallten das Lenkrad fester. Der Gedanke an Tanja raubte ihm fast den Verstand. Die Angst um sie wurde mit jeder Minute stärker und stärker. Es war ein Gefühl, dem er sich kaum gewachsen fühlte. Wie ein Gespenst tauchte der hellgraue Kastenwagen vor ihm am Straßenrand auf! Abrupt bremste Roger und brachte den Range Rover zum Stehen. Der Anblick des Fahrzeugs hatte ihn vollkommen überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. Nicht in einer solch verlassenen Gegend. Rogers Gedanken rasten. Das Ganze sah nach einer Falle aus. Einen idealeren Ort für einen Hinterhalt gab es nicht. Er war geradezu perfekt. Suchend glitt Rogers Blick über die nähere Umgebung. Viel konnte er nicht ausmachen. Die Dämmerung war schon zu weit fortgeschritten, so dass er das meiste nur verschwommen erkennen konnte. Es war ihre Zeit! Roger fröstelte. Er hatte schon unzählige Kämpfe gegen Werwölfe überstanden. Doch die Angst vor diesen mörderischen Kreaturen war nie ganz verschwunden. Auch er war nur ein Mensch … Rasch informierte er Raku. Es war ein gutes Gefühl, seinen Partner in der Nähe zu wissen. Dennoch bestand er darauf, die Sache alleine hinter sich zu bringen. Loupes durfte unter keinen Umständen erfahren, dass sie ihn hereinlegen wollten. Sonst würde er Tanja für
diesen Verrat bezahlen lassen. »Ich steige jetzt aus!«, sagte Roger noch und sprang aus dem großen Geländewagen. Sanft drückte er die Fahrertür zu, ohne sie jedoch richtig zu schließen. Im Notfall würde er so schneller wieder einsteigen können. Er konnte schließlich nicht sagen, auf wie viele Gegner er stoßen würde. Loupes hatte überall seine Diener – auch in Schottland – und er würde sie gnadenlos gegen ihn einsetzen, um zu erlangen, wonach er so lange gesucht hatte. Er brauchte die Schädelkrone! Der Gedanke an den riesigen Tierschädel ließ Roger erschaudern. Er hatte die unbändige Kraft gespürt, die durch diese abstoßende Reliquie floss. Es war ein Ekel erregendes Gefühl gewesen. Loupes durfte die Krone nicht in seine Klauen bekommen, unter keinen Umständen. Sie würde ihn noch mächtiger machen, als er ohnehin schon war. Roger warf durch die Seitenscheibe einen raschen Blick auf den Koffer auf dem Beifahrersitz, in dem sich die Schädelkrone befand, wandte sich aber sofort wieder dem anderen Fahrzeug zu. Es machte einen vollkommen harmlosen Eindruck. Doch das konnte täuschen. Mit einer gleitenden Bewegung zog Roger seine Waffe. Er würde kein unnötiges Risiko eingehen. Ihre Gegner waren dafür zu gefährlich. Vorsichtig schritt Roger auf den Kastenwagen zu. Wachsam schweifte sein Blick dabei in die Runde. Er wollte sofort reagieren können, sollte dies notwendig sein. Mittlerweile konnte Morton das Fahrzeug recht gut ausmachen. Es wies keinerlei Spuren eines Unfalls auf. Doch ein Beweis für eine Falle war das noch nicht. Es konnte sie trotz allem um eine ganz
gewöhnliche Panne handeln. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von dem Wagen. Eine akute Gefahr konnte er noch nicht ausmachen. Seine Befürchtungen waren anscheinend völlig unbegründet gewesen. Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in Roger breit. Loupes hatte ihm doch keine Falle gestellt. Tanja als Faustpfand reichte ihm offenbar. Sichtlich entspannter ging Morton die letzten Meter auf den Kastenwagen zu. Er rechnete nicht mehr mit einer Gefahr. Eine huschende Bewegung auf dem Dach des Fahrzeugs belehrte ihn eines Besseren! Unwillkürlich zuckte Rogers Blick in die Höhe. Trotz der Dunkelheit konnte er den riesigen Körper des Werwolfs ausmachen. Da sprang die Bestie auch schon auf ihn zu. Die mächtigen Hauer des Werwolfs blitzten. Mortons Reaktion erfolgte instinktiv. Er ließ sich einfach fallen. Wie ein lebendes Geschoss sauste die Bestie über ihn hinweg und prallte einige Schritte entfernt auf den Boden. Ohne innezuhalten warf sich Morton herum. Er wusste, wie schnell seine dämonischen Gegner waren. Auch der Werwolf wirbelte um die eigene Achse. Er wollte seine Blutgier stillen. Seine mörderischen Instinkte ließen ihm keine andere Wahl. Ein wütendes Fauchen verließ seine Kehle. Der fehlgeschlagene Angriff machte die Bestie wütend. Ungestüm preschte die Kreatur auf ihr Opfer zu! Roger feuerte. Mehrmals bäumte sich die Mauser in seiner rechten Hand auf. Er wollte kein Risiko eingehen, nicht bei einem solchen Gegner. Die harten Einschläge schleuderten die Bestie zurück. Tödlich getroffen ging sie zu Boden. Nur einen Augenblick später verwandelte sich die Kreatur wieder in ein menschliches Wesen.
Das Böse hatte den Körper verlassen. Roger konnte die Gestalt eines nackten Mannes erkennen. Doch im nächsten Moment zerfloss der Körper zu einer dunklen Masse, löste sich regelrecht in seine Bestandteile auf. Morton wusste, was das bedeutete. Der Werwolf musste eine uralte Kreatur gewesen sein. Beseelt von einer höllischen Kraft, die ihn beschützt hatte. Doch mit seinem Ende verging auch seine Gestalt und zerfiel zu Staub. Abscheu und Ekel stiegen in Roger auf. Er hasste diese Wesen, hasste sie mit ganzem Herzen. Ein verräterisches Geräusch hinter ihm riss Roger in die Wirklichkeit zurück. Morton reagierte reflexartig. Abrupt wandte er sich von den Resten seines mörderischen Gegners ab und kreiselte herum. Wieder hatten die Instinkte die Kontrolle übernommen. Aus verschiedenen Richtungen stürmten drei weitere Werwölfe auf ihn zu! Rogers Herz setzte einen Schlag aus. Das koordinierte Vorgehen der Bestien war ungewöhnlich. Wieder bellte seine Waffe auf. Eine der Kreaturen wurde mitten im Sprung zur Seite geschleudert. Da hatten ihn die anderen Bestien erreicht …
* Geschmeidig zwängte sich Raku durch die Öffnung im Wagenboden. Nur einen Moment später befand er sich im Freien, direkt unter dem wuchtigen Range Rover. Die verborgene Klapptür hatte ihren Zweck erfüllt. Sofort robbte der Asiate unter dem Geländewagen hervor und
sprang auf die Füße. Die Enge seines Gefängnisses hatte seine Beweglichkeit kaum beeinträchtigt. Sein gestählter Körper funktionierte einwandfrei. Er benötigte allerdings einen Moment, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Doch schließlich war er bereit, sich den Kreaturen der Hölle zu stellen. Blitzschnell zog Raku eine der beiden Mauser‐Pistolen hervor, die er von seinem Freund erhalten hatte. Normalerweise hielt er nicht viel von Schusswaffen, aber in diesem Fall ging es nicht anders. Nur mit seinem Schwert würden sie kaum gegen Loupes und seine Bestien bestehen können. Rasch ließ Raku den Blick in die Runde schweifen. Fast sofort konnte er den hellgrauen Kastenwagen ausmachen. Trotz der Dunkelheit war er gut zu erkennen. In der gleichen Sekunde entdeckte er Roger! Die Gestalt seines Freundes war nur schemenhaft auszumachen, doch das genügte Raku vollkommen. Mit langen Sätzen jagte er auf Roger zu – und stoppte nach wenigen Schritten abrupt. Aus den Augenwinkeln erhaschte Raku die vorschnellenden Körper mehrerer Werwölfe. Gleich darauf sah er auch schon, wie Roger herumkreiselte, um sich seinen höllischen Gegnern zu stellen. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Allein würde Roger gegen diese Übermacht niemals bestehen können. Der heisere Knall eines Schusses erreichte Rakus Ohren. Er war wie ein Startsignal für ihn. Hastig riss er seine Waffe in die Höhe und feuerte! Schuss um Schuss jagte Raku auf die finsteren Geschöpfe. Seine Silberkugeln fegten die beiden letzten Werwölfe regelrecht von den Beinen, gerade als sie Roger erreichten. Sie hatten es geschafft. Loupes Plan war nicht aufgegangen. Seine
finsteren Kreaturen hatten versagt. Erleichtert wollte sich Raku wieder in Bewegung setzen, als er links von sich eine Bewegung in den Schatten registrierte. Unwillkürlich zuckte er herum. Gleich einem D‐Zug preschte ein weiterer Werwolf direkt auf ihn zu! Verzweifelt warf sich Raku zur Seite, doch er war zu langsam. Die Bestie erwischte ihn voll, rammte ihn erbarmungslos mit ihrem ganzen Gewicht. Der Aufprall war mörderisch. Brutal wurde der Asiate zur Seite geschleudert. Sein Körper war zu einem Spielball von Kräften geworden, denen selbst er nichts entgegenzusetzen hatte. Dann krachte er auf den Boden. Bunte Schlieren tanzten vor Rakus Augen. Für einen Moment hatte er die Orientierung verloren. Ohne dass ihm seine Gliedmaßen richtig gehorchen wollten, versuchte er, sich in die Höhe zu stemmen. Nur am Rande war ihm bewusst, dass er die Mauser verloren hatte. Todesangst peitschte in Raku hoch. Schemenhaft konnte er seinen tödlichen Gegner wie hinter einer Nebelwand ausmachen. Die Kreatur war nur wenige Schritte von ihm entfernt, griff jedoch nicht an. Nur einen Augenblick später huschte der Werwolf zur Seite und verschwand aus Rakus Blickfeld. Warum hat mich die Bestie nicht getötet?, überlegte er. Die Frage verdrängte selbst die heftigen Schmerzen, die durch seinen Körper rasten. Sie schien von entscheidender Bedeutung zu sein. Im nächsten Moment wusste Raku die Antwort. Die Schädelkrone!
Die Bestie wollte die Krone für ihren Herrn und Meister, nur sie war von Bedeutung. Nein!, wollte Raku schreien, doch es entstand nur ein schwaches Krächzen. Sein Gegner hatte ihn geschlagen …
* Roger sah die beiden letzten Werwölfe auf sich zuhetzen – tödliche Wesen, die ihn in Stücke reißen würden – und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Er hatte sie zu spät bemerkt. Der scharfe Knall einer Waffe zerriss die Nacht, als gerade die erste Kreatur zum entscheidenden Sprung ansetzte. Tödlich getroffen sank sie zu Boden. Auch der zweite Werwolf entging seinem Schicksal nicht. Mehrere Silberkugeln durchschlugen seinen Körper. Ein letzter, klagender Schrei verließ noch die Kehle der Bestie, dann war es vorbei. Wie von selbst ruckte Rogers Blick in Richtung des Range Rovers. Ihm war klar, wem er sein Leben verdankte. Wieder einmal hatte ihn sein bester Freund vor einem grausamen Schicksal bewahrt. Tatsächlich konnte er Raku sofort ausmachen, der noch immer seine Waffe im Anschlag hielt. Ein erleichtertes Lächeln umspielte Rogers Lippen. Nur einen Moment später zerfaserte es jedoch zu einem Nichts, als er den geduckten Schatten bemerkte, der direkt auf seinen Partner zuschoss. Morton wollte seinem Freund noch eine Warnung zubrüllen, doch es war schon zu spät. Der Werwolf erwischte Raku voll. Hilflos musste Roger mit ansehen, wie sein bester Freund zu
Boden ging. Raku!, durchfuhr es Morton. Ohne auf seine eigene Sicherheit zu achten, stürmte er los. Sein Partner sollte kein Opfer dieser grausamen Bestien werden. Nicht, solange er es verhindern konnte. Überrascht sah Roger, wie sich der Werwolf zurückzog und mit langen Sätzen auf ihren Wagen zuhetzte. Gleich darauf wusste er, was das bedeutete. Die Kreatur war nur an einer einzigen Sache interessiert. Selbst ihren unstillbaren Mordtrieb hielt sie dafür in Zaum. Der Auftrag ihres Herrn und Meisters war wichtiger. Die Bestie wollte die Schädelkrone! Roger verdoppelte seine Anstrengungen, holte förmlich das Letzte aus sich heraus – und hielt mit seinem dämonischen Gegner Schritt. Da hatte der Werwolf sein Ziel erreicht. Er riss die Fahrertür des Geländewagens aus den Angeln, sein mächtiger Oberkörper verschwand im Inneren des Fahrzeugs. Nur eine Sekunde später zuckte er zurück. Wie einen kostbaren Schatz umklammerten seine riesigen Pranken den Koffer mit der Schädelkrone. Und das war er wirklich: ein Schatz, den beide Seiten für sich beanspruchten. Morton zögerte nicht länger. Abrupt blieb er stehen und riss die Mauser in Anschlag, jagte die erste Silberkugel auf die Bestie zu. Nur haarscharf verfehlte sie den riesigen Körper des Werwolfs. Wütend zerquetschte Roger einen Fluch zwischen den Lippen. Er hatte zu hastig abgedrückt. Auf diese Weise würde er seinen Gegner niemals treffen. Bevor er einen weiteren Schuss abgeben konnte, zuckte der Werwolf zur Seite und jagte davon. Mit riesigen Sätzen hetzte er auf
einen der Hügel zu, um dahinter zu verschwinden. Er hatte, was er wollte. Auch Roger sprintete erneut los. Er durfte die Kreatur unter keinen Umständen entkommen lassen. Nur mit Hilfe der Schädelkrone konnte er Tanjas Leben retten. Mittlerweile konnte er die Bestie nur noch schemenhaft ausmachen. Sie verschmolz mehr und mehr mit der Dunkelheit, löste sich regelrecht in der Finsternis auf. Nein!, schrie alles in Roger auf. Hastig nahm er eine Combat‐Haltung ein. Am Rande nahm er dabei wahr, dass sich Raku auf die Füße gequält hatte. Doch um ihn konnte er sich in diesem Moment nicht kümmern. Gewaltsam verdrängte Roger alle Zweifel in sich und drückte ab! Peitschend erwachte die 9mm‐Pistole mehrmals zum Leben. Kugel und Kugel schickte Morton auf die Reise. Und eines der Geschosse erwischte tatsächlich den Werwolf … Roger sah, wie die Bestie herumgeschleudert wurde und zu Boden ging. Dennoch feuerte er ein weiteres Mal, bevor er erschöpft die Waffe sinken ließ. Ein heftiges Zittern durchlief seinen Körper. Die letzten Minuten hatten ihm alles abverlangt. Nicht nur körperlich, sondern auch emotional. Doch am Ende hatten Raku und er den Sieg davongetragen. »Einer von uns sollte die Krone holen«, vernahm er die Stimme seines besten Freundes. Erleichtert nahm Roger zur Kenntnis, dass sein asiatischer Freund die heftige Attacke des Werwolfs mit nicht mehr als ein paar Prellungen überstanden hatte. »Bist du okay?«, fragte Morton dennoch. »Alles im grünen Bereich.« Raku grinste schief. »Hier und da könnten die Stellen aber auch blau werden.«
Mehr brauchte Roger nicht zu hören. Entschlossen schritt er los, um die Schädelkrone zu holen. Sein Partner kam alleine klar. Der Koffer lag direkt neben den Resten der Bestie. Auch von diesem Werwolf war nicht viel übrig geblieben. Nur eine Schleimpfütze, die schon bald versickern würde. Der völlige Zerfall der Werwolf‐Leichen bereitete Roger Sorgen. Die Kreaturen mussten uralt sein, um sich nach ihrer Vernichtung sofort derart aufzulösen. Das war ein Umstand, der ihm überhaupt nicht behagte. Loupes schien tatsächlich auf den besten Weg zu sein, um das Erbe des Urwolfs anzutreten. Gewaltsam riss sich Roger von dem Anblick los, griff nach dem Koffer und kehrte zum Wagen zurück. Es half gar nichts, wenn er sich mit Fragen beschäftigte, auf die er sowieso keine Antworten hatte. Er musste sich auf den bevorstehenden Kampf mit seinem Erzfeind konzentrieren. Ablenkung konnte tödlich sein – nicht nur für ihn, sondern auch für Tanja. »Das war verdammt knapp!«, sagte Raku und deutete auf den eckigen Koffer in Morton rechter Hand. »Ohne dich wäre ich verloren gewesen.« »Wozu hat man Freunde.« Zufrieden lächelten sich die beiden äußerlich so unterschiedlichen Männer an. Sie hatten es erneut geschafft. Ihre Freundschaft hatte sich wieder einmal bewährt. »Ich werd dann mal wieder mein Versteck aufsuchen«, sagte Raku und verschwand unter dem wuchtigen Geländewagen. Roger betrachtete die rausgerissene Fahrertür und zuckte die Schultern. Er würde sich eben anschnallen müssen. Er wartete noch einige Sekunden, bevor auch er einstieg und den Motor startete. Grollend erwachte die Maschine des Range Rovers zum Leben. Gleichzeitig flammten die starken Scheinwerfer auf und
zerschnitten die Dunkelheit wie zwei Schwerter. »Ich fahr jetzt los«, informierte Roger seinen Partner. »Okay«, erwiderte Raku. Mit einem Knopfdruck unterbrach Roger die Verbindung. Es war alles gesagt. Der Rest würde sich finden. Hart rammte Morton den ersten Gang ein. Kurz darauf passierte er auch schon den grauen Kastenwagen. Er nahm ihn kaum noch zur Kenntnis. Loupes Hinterhalt hatte seinen Zweck nicht erfüllt. Die Schädelkrone war noch immer in ihrem Besitz. Das war alles, was zählte. Der Kampf um Tanjas Leben war noch nicht verloren …
* »Wir sind gleich da«, flüsterte Roger in das versteckte Mikro. »Kannst du schon etwas erkennen?« Nein, wollte Morton erwidern, doch da konnte er ihr endgültiges Ziel ausmachen. Es war eine alte Mühle! Bedrohlich stand sie auf einem flachen Hügel. Jedenfalls wirkte sie auf Roger bedrohlich. Er wusste selbst nicht, warum. Rasch teilte er Raku seine Entdeckung mit. »Ich mach jetzt Schluss«, beendete er den Kontakt mit seinem Partner. »Der Rest liegt nun bei dir.« Noch bevor Raku etwas erwidern konnte, unterbrach er die Verbindung. Roger wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Loupes würde bestimmt mehr als misstrauisch sein. Sie durften sich nicht den
kleinsten Fehler erlauben, wenn Überlebenschance haben wollten.
sie
überhaupt
eine
Gemächlich fuhr Morton auf die Mühle zu. Mühelos bewältigte der Range Rover die Steigung. Der Wagen hätte durchaus noch schlimmeres Gelände bewältigen können. Suchend glitt Rogers Blick in die Runde. Er konnte jedoch keinen einzigen seiner höllischen Gegner ausmachen. Sie hielten sich noch zurück. Selbst Loupes konnte er nicht entdecken. Doch sein Todfeind würde kommen, davon war Roger überzeugt. Er hatte schließlich etwas, auf das sein Gegner niemals verzichten würde. Mit einem letzten Blubbern erstarb der Motor des Geländewagens. Stille machte sich breit. Roger hatte den Wagen fast fünfzig Yards von der Mühle gestoppt. Auf diese Weise würde es Raku möglich sein, sein Versteck unbemerkt verlassen zu können – hoffte er … Mehrmals atmete Roger ein und aus und versuchte, sich auf diese Weise zu entspannen. Die Furcht blieb. Er wollte nicht auch noch Tanja verlieren. Entschlossen griff Roger nach dem Koffer und rammte die Fahrertür auf. Geschmeidig sprang er aus dem Wagen und schlug die Tür wuchtig zu. Raku sollte keinen Zweifel daran haben, dass er das Fahrzeug verlassen hatte. Ein kühler Windhauch streifte Rogers Gesicht. Es fühlte sich an, als wenn ihn eiskalte Totenhände streicheln würden. Abrupt verdrängte er den unangenehmen Gedanken. Langsam ging er auf die Mühle zu. Seine Schritte waren auf dem grasbedeckten Boden kaum zu hören. Die Mühle wirkte immer abstoßender auf ihn. Sie war den dunklen Mächten geweiht, das war sicher. Die Flügel der Mühle bewegten sich nicht. Vollkommen
regungslos bildeten sie ein großes X. Ob dieses Zeichen von Bedeutung war, konnte Roger nicht sagen. Fest umklammerte er den Griff des Koffers. Freiwillig würde er ihn niemals hergeben. Man würde ihn schon töten müssen, um an die Schädelkrone heranzukommen. Nur noch wenige Yards trennten Roger von dem unheimlichen Gebäude, als eine riesige Gestalt aus der Mühle trat. Loupes! Abrupt blieb Roger stehen. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass er seinem Todfeind direkt gegenüberstand. Der Hass in ihm wurde fast übermächtig. Gemächlich schritt Loupes auf seinen Gegner zu. Er war eine widerliche Kreatur, die sich den Mächten der Finsternis verschrieben hatte. Eine Bestie, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. »Willkommen, Roger!«, begrüßte der Werwolf seinen Erzfeind. Mortons Gesicht verzog sich vor Hass. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, einfach seine Waffe zu ziehen und seinen Todfeind ein für allemal zu vernichten. Aber er tat es nicht. Er hatte nicht das Recht, Tanjas Leben zu opfern, nur um seine Rache zu bekommen. »Wo ist sie?«, fragte Roger. »Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Loupes. Noch bevor Morton widersprechen konnte, tauchten aus dem Nichts mehrere Werwölfe auf. Rasch bildeten sie einen Halbkreis um ihn. Es waren acht mörderische Bestien. »Du siehst, ich bin nicht alleine gekommen«, sagte Loupes. »Das habe ich auch nicht erwartet.« »Natürlich nicht. Wir beide kennen uns schließlich gut genug.« »In der Tat«, stimmte Roger zu. »Darum hat dein Hinterhalt auch
nicht funktioniert.« Mortons Worte gefielen dem riesigen Werwolf nicht, das war dem Monster deutlich anzusehen. Er hatte mit ihnen eine wunde Stelle berührt. Selbst diese mächtige Bestie war vor Fehlschlägen nicht gefeit. »Touché, mein Freund.« Loupes Worte waren höflich, doch Roger hörte die Wut, die in ihnen mitschwang. »Doch hier wird dein Weg endgültig enden.« Gelassen nahm Morton die Worte zur Kenntnis. Noch lebte er. Und außerdem vertraute er auf seinem Freund und Partner. »Wo ist Tanja?«, wiederholte er seine Frage. Statt einer Antwort wandte sich Loupes der Mühle zu und stieß einen heulenden Laut aus. Ein weiterer Werwolf verließ das Bauwerk, doch er war nicht allein. Brutal umklammerte er eine vergleichsweise kleine Gestalt. Es war Tanja Marenkov. »Roger!«, stieß sie verzweifelt aus. Sie versuchte, sich auf der Umklammerung der Bestie zu befreien, als sie ihn sah. Doch ihre Kräfte reichten nicht aus. Am liebsten hätte Morton den Werwolf mit einem gezielten Schuss vernichtet, doch ihm waren die Hände gebunden. Er konnte unmöglich alle neun Bestien ausschalten, bevor diese reagieren konnten. Leider … »Das ist Juri Draschkin«, stellte Loupes Tanjas Häscher vor. »Der Name sagt dir bestimmt etwas.« Natürlich kannte Morton den Namen. Draschkin war eine der Bestien gewesen, die man in dem Lager in Sibirien festgehalten hatte. Aber am Ende hatten sich die Werwölfe doch als die Stärkeren erwiesen. »Lass sie gehen!«, forderte Roger.
»Zuerst will ich die Schädelkrone!« Mit dieser Forderung hatte Roger gerechnet. Nur der Schädel des Urwolfs interessierte Loupes wirklich. Alles andere war für ihn bedeutungslos. Morton zögerte. Die Krone war der einzige Trumpf, den er hatte. Da fuhr Draschkins rechte Pranke blitzartig auf Tanjas ungeschützte Kehle zu. Im nächsten Moment berührten die rasiermesserscharfen Krallen auch schon die nackte Haut. Eine unmissverständlichere Warnung konnte es nicht geben. »Gib sie mir!«, herrschte Loupes seinen Feind an. »In Ordnung«, rief Roger hastig. »Ist ja gut.« Er warf seinem Feind den Koffer zu. Gierig riss Loupes den Behälter auf und holte den Gegenstand hervor, nach dem er so lange gesucht hatte. Achtlos warf er den Koffer weg und reckte seine Pranken mit dem Schädel in die Höhe. »Endlich!«, brüllte Loupes mit donnernder Stimme und ein wildes Heulen verließ seine Kehle. Die anderen Bestien stimmten mit ein. Es waren Laute, die Roger durch und durch gingen. Nach einer Weile hatte sich Loupes wieder unter Kontrolle und wandte sich erneut seinem Todfeind zu. »Nun wird mich nichts mehr aufhalten!«, versprach er. »Dann lass Tanja frei!« »Zuerst will ich, dass du deine Waffen abgibst!« Ohnmächtig vor Wut ballte Roger die Hände zu Fäusten. Seine eigene Hilflosigkeit machte ihm zu schaffen. Dennoch kam er der Forderung nach. Langsam zog er die Mauser und warf sie Loupes zu Füßen. »Ist das alles?« Morton nickte nur.
»Durchsucht ihn!«, befahl Loupes. Sofort kamen zwei der Werwölfe dem Befehl nach. Notgedrungen ließ Roger die Prozedur über sich ergehen. Außer seinem Handy entdeckten die Bestien nichts von Bedeutung. »Das brauchst du nicht mehr!«, sagte Loupes und zerquetschte das Mobiltelefon in seiner Pranke. Zufrieden wandte er sich Draschkin zu und nickte. Sofort ließ der Werwolf Tanja los, die erleichtert aufatmete. Sie liefe auf Roger zu, der sie fest in seine Arme schloss. »Bist du okay?«, hauchte er in ihr Ohr. »Jetzt ja.« Für Sekunden genossen sie einfach die Nähe des anderen. Verbannten das Grauen, das sie umgab. Die Realität holte sie jedoch schnell wieder ein. »Wie rührend«, vernahmen sie Loupes ironische Stimme. Nur widerwillig trennten sich Roger und Tanja und wandten sich der Bestie zu. »Du hast, was du wolltest, oder nicht?«, sagte Roger. »Nicht ganz!«, erwiderte Loupes gefährlich leise. Sowohl Tanja, als auch Roger ahnten, was das bedeutete. »Solange du lebst, wird meine Macht in Gefahr sein.« »Es wird immer Menschen geben, die gegen Bestien wie Sie kämpfen werden!«, widersprach Tanja heftig. »Richtig, aber sie werden niemals solchen Einsatz zeigen wie unser gemeinsamer Freund.« »Warum?«, wollte die FSB‐Agentin wissen. »Weil ich seine große Liebe getötet habe und – weil wir Brüder sind!« Fast triumphierend stieß Loupes die letzten Worte aus und ließ ein grollendes Lachen folgen, das wie ein böses Omen durch die Nacht
fuhr …
* Schweigend hatte Raku einige Minuten verstreichen lassen, nachdem sein Freund den Wagen verlassen hatte. Dann schlüpfte er durch den Ausstieg ins Freie und robbte unter dem Geländewagen hervor. In seiner rechten Hand hielt er sein Krummschwert. Er wollte sich verteidigen können, sollte dies notwendig sein – und er wollte dies möglichst lautlos tun. Dicht neben dem Fahrzeug verharrte Raku in der Hocke und sondierte die nähere Umgebung. Eine akute Gefahr konnte er nicht ausmachen. Ihr verwegener Plan schien tatsächlich aufzugehen. Roger verließ sie auf ihn und Raku würde ihn nicht enttäuschen. Loupes würde nicht gewinnen. Er musste vernichtet werden. Vorsichtig schlich der Asiate um das Fahrzeug herum und spähte in Richtung Mühle. Erst jetzt sah er das finstere Bauwerk zum ersten Mal. Auch auf ihn wirkte es abstoßend. Als er Roger und die Werwölfe ausmachte, beschleunigte sich Rakus Puls. Nur einen Moment später entdeckte er Tanja Marenkov. Doch ihre Lage war noch hoffnungsloser als die seines besten Freund. Eine Furcht einflößende Bestie hielt sie umklammert. Rasch zählte Raku ihre Gegner. Es waren zehn. Eine mörderische Streitmacht, gegen die sie kaum eine Chance hatten. Seine Gedanken rasten. Wie sollte er nun vorgehen? Weder Roger noch er hatten alles bis ins kleinste Detail planen können. Dazu hatten ihnen die notwendigen Informationen gefehlt. Prüfend fuhr Rakus Blick über die Mühle. Sie war fast vollständig aus Holz errichtet worden und das bedeutete …
Ein hartes Grinsen kerbte sich in sein Gesicht. Er hatte einen Plan. Alles, was er jetzt noch benötigte, war ein wenig Glück. Erleichtert beobachtete Raku, wie der monströse Bewacher von Tanja abließ und die junge Russin auf Roger zulief. Gut, nun konnte er die Rettungsmission in Angriff nehmen. Geschmeidig setzte er sich in Bewegung und huschte in einem großen Bogen auf die Mühle zu, wo er sein Ablenkungsmanöver starten wollte. Schnell hatte ihn die Dunkelheit verschluckt …
* Fassungslos starrte Tanja die Bestie an. Alles in ihr sträubte sich gegen diese schreckliche Wahrheit. Automatisch wandte sie sich Roger Morton zu – doch er wich ihrem Blick aus. Also hat Loupes nicht gelogen, war ihr klar. Alles ergab plötzlich einen Sinn. Rogers tiefer Hass auf die finsteren Kreaturen. Seine Angst vor allzu viel Nähe. Und vor allem sein unbändiger Wille, seinen Todfeind zur Strecke zu bringen. Tausend Fragen wirbelten in Tanjas Gedanken hoch. Aber sie wusste, dass sie keine Antworten bekommen würde. Nicht jetzt, vielleicht nie … »Du willst mich?«, wandte sich Roger an die Bestie, die einmal sein Bruder gewesen war. »Gut. Aber lass sie gehen.« »Du bist nicht in der Lage, Bedingungen zu stellen. Und außerdem habe ich mit deiner aparten Begleiterin andere Pläne. Weißt du, Bruderherz!«, fuhr Loupes fort. »Ich werde sie zu meiner treuen
Gefährtin machen.« Roger zuckte zusammen, als hätte er einen Peitschenhieb erhalten. »Noch hast du nicht gewonnen!«, stieß er trotzig aus. »Doch, das habe ich, Bruderherz. Oder gibt es einen Grund für deinen Optimismus?« Roger schwieg. »Dein Freund ist bei dir, nicht wahr? Allein hättest du gegen meine fünf Diener niemals bestehen können.« »Ich habe schon unzählige deiner Art vernichtet!«, widersprach Morton. »Sicher, doch sie waren etwas Besonderes. Sie waren die Gefährten des Urwolfs.« Loupes Stimme wurde lauter. »Und sie werden es wieder sein, wenn ich sein Erbe angetreten habe. Ich werde dir die Macht der Schädelkrone zeigen! Eine Macht, die diese Welt für immer verändern wird!« Wie eine Waffe richtete Loupes den Schädel des Urwolfs auf den Range Rover und die urwüchsige Kraft einer uralten Magie entfaltete sich. Ein rötliches Leuchten glomm in den leeren Augenhöhlen des Schädels auf. Wurde stärker und heller. Ein höllisches Leuchten, das eine tödliche Macht in sich barg. Plötzlich schossen zwei grelle Blitze aus dem Schädel und trafen den Geländewagen mit vernichtender Wucht. Der Range Rover explodierte. Geschockt zuckten Roger und Tanja zurück. Der Anblick des brennenden Wracks ging ihnen durch und durch. Die Demonstration ihres Feindes hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Raku!, durchfuhr es Morton und ein Schauer durchfuhr ihn. Hatte sich sein Freund noch im Wagen befunden? War es endgültig vorbei? »So wird es allen ergehen, die meiner Macht trotzen wollen!«,
brüllte Loupes seinen Triumph hinaus. In diesem Augenblick zuckte eine grelle Stichflamme auf und setzte die Mühle in Brand. Loupes fuhr herum, war einen Moment wie gelähmt. Damit hatte er nicht gerechnet. Noch bevor sich die Bestien auf die neue Situation eingestellt hatten, tauchte Raku wie ein Racheengel aus der Dunkelheit auf. »Roger!«, brüllte er und warf ihm eine Waffe zu. Geschickt fing Morton sie auf. Sein Finger legte sich um den Abzug. Da sprang bereits die erste Bestie auf Tanja und ihn zu. Ihr Kampf auf Leben und Tod hatte gerade erst begonnen …
* Zwei Werwölfe stürmten auf Raku zu – und sie waren verdammt schnell. Eine riesige Pranke zuckte auf ihn zu. Der Asiate wirbelte zur Seite, entging dem Hieb. Noch in der Bewegung schlug er selbst mit dem Schwert zu. Pfeifend sauste die scharfe Klinge durch die Luft. Der Werwolf wurde förmlich in zwei Teile zerlegt. Sofort wandte sich Raku der zweiten Bestie zu. Er musste in Bewegung bleiben, wollte er überleben. Nur auf diese Weise konnte er gegen seine finsteren Gegner bestehen. Raku tauchte unter dem nächsten Hieb weg, schlitzte seinem Gegner den Bauch auf und als dieser sich um die furchtbare Wunde herumkrümmte, sauste die Klinge auf den Nacken der Bestie hinab …
* Roger feuerte! Kugel um Kugel jagte er seinen Feinden entgegen. Tödlich getroffen sackte eine der Bestien zu Boden und lösten sich in ihre Bestandteile auf. Eine zweite folgte. Jetzt, da die unmittelbare Bedrohung abgewendet war, fuhr er herum, um seinen Todfeind mit einer gezielten Silberkugel zu vernichten. Doch Loupes war nicht mehr zu sehen. Er hatte die Gunst der Stunde genutzt und sich aus dem Staub gemacht. Dafür sprangen zwei weitere Kreaturen auf ihn zu! Roger zuckte zur Seite, feuerte gleichzeitig – und verfehlte sein Ziel. Nur ein weiterer verzweifelter Sprung rettete ihm das Leben. Haarscharf verfehlten ihn die mörderischen Krallen der Bestien. Noch bevor sich Morton auf die neue Situation eingestellt hatte, traf ihn ein harter Rückhandschlag. Gegen die Kraft des Werwolfs hatte er keine Chance. Er wurde einfach von den Beinen gefegt …
* Als Roger den ersten Schuss abgab, mobilisierte Tanja ihre letzten Kraftreserven und stürmte vor. Ihr Ziel war die Waffe, die ihr Freund Loupes hatte vor die Füße werfen müssen. Nur mit ihr hatte sie überhaupt eine Chance. Selbst Loupes wurde von ihrer Aktion überrascht. Eine andere Bestie reagierte dafür umso schneller. Sie stürmte direkt auf die junge Russin zu.
Mit dem Mut der Verzweiflung hechtete Tanja auf die Waffe zu. Hart prallte sie auf den Boden auf, doch ihre rechte Hand umfasste den Griff der Mauser wie einen Rettungsanker. Sie rollte herum, riss sie die Pistole in die Höhe und drückte ab. Der Treffer schleuderte die Bestie herum und vernichtete sie auf der Stelle. Automatisch fuhr die FSB‐Agentin herum, um Loupes ins Visier zu nehmen, aber ihre Reaktion kam zu spät. Ihr Todfeind hatte das Weite gesucht. Ohne innezuhalten, sprang Tanja auf die Füße und wirbelte herum. Sie hatte Roger nicht vergessen. Fast sofort konnte sie ihn ausmachen – ihn und die beiden Werwölfe, die direkt auf ihn zujagten. Tanja zielte kurz und drückte ab. Die Silberkugeln erwischten eine der Bestie mitten im Sprung und fegten sie zur Seite. Leblos schlug die Kreatur auf den Boden auf und blieb liegen. Gleich darauf setzte auch schon der Prozess des Verfalls ein. Der zweite Werwolf fuhr herum und suchte blitzschnell das Weite. Tanja schoss ihm hinterher, verfehlte. Feuerte erneut – und traf wieder nicht. Im nächsten Moment hatte die Dunkelheit der Nacht die Bestie verschluckt. Sich hektisch umblickend und mit schussbereiter Waffe sondierte Tanja die Umgebung. Ihre Vorsicht erwies sich jedoch als unbegründet. Die Gefahr war endgültig gebannt. Erleichtert ließ sie die Waffe sinken und lief zu Roger …
*
Fast ehrfürchtig blickten sie auf die brennende Mühle. Die lodernden Flammen verzehrten das Gebäude mit unbändiger Kraft. Das Böse hatte diesen Ort für immer verlassen. Wie Sieger fühlten sie sich nicht. Vielmehr wie Überlebende, die eine zweite Chance bekommen hatten. Aber der Kampf würde weitergehen, das spürten sie alle. »Wer soll ihn jetzt noch aufhalten?«, fragte Roger mit bedrückter Stimme. »Wir!«, erwiderten Tanja und Raku gleichzeitig. Der Mut seiner Freunde verdrängte Rogers Bedenken. Sie hatten Recht. Nur sie konnten Loupes jetzt noch Einhalt gebieten. »Ja«, stimmte er ihnen zu. »Wir!« Die Entscheidung stand dicht bevor … Fortsetzung folgt