Klaus Sollert
Die Krone der Bestien Version: v1.0 München … Wie ein dunkler Teppich legte sich die ...
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Klaus Sollert
Die Krone der Bestien Version: v1.0 München … Wie ein dunkler Teppich legte sich die Abenddämmerung über die Stadt an der Isar. Die Lichter unzähliger Straßenlaternen flammten auf und tauchten die Metropole in ein anheimelndes Licht. Alles schien seinen gewohnten Gang zu nehmen. Gelassen schlenderten die Passanten über die Flaniermeilen der City und bestaunten die ausgestellte Kostbarkeiten in den riesigen Schaufenstern. Sie genossen die letzte Stunde des Tages, bevor die Nacht den Himmel gänzlich erobert hatte. Alles wurde ein wenig entspannter und ruhiger in Angriff genommen. Selbst der Verkehr hielt sich in Grenzen. Die Stunden der Hektik und des Zeitdrucks waren aus der Metropole verschwunden. Fast gemächlich rollten auch die beiden schwarzen BMW‐Limousinen durch die Innenstadt. Niemand nahm wirklich Notiz von ihnen. Solche Fahrzeuge waren ein alltägliches Bild in München. Mit funkelnden Augen starrte Roy Loupes auf die Menschenmasse, die sich träge voranbewegte. Schon bald würden sich die Menschen nur noch in den Tagesstunden auf die Straße wagen. Er würde dafür sorgen, sobald er der Herrscher aller Werwölfe geworden war …
Die Welt würde ihm gehören. Ihm und seinen Artgenossen. Loupes ballte seine Hände zu Fäusten, so dass die Fingerknöchel weiß hervorstachen. Er hatte seine innere Unruhe kaum noch unter Kontrolle. Die Suche nach der Schädelkrone machte selbst ihm zu schaffen. Die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten, waren gewaltiger, als er vermutet hatte. Und der Kampf um die Macht war noch längst nicht entschieden. Aber er würde seine Ziele niemals aufgeben, solange noch ein Funken Leben in ihm steckte. Er würde der König der Werwölfe werden! Langsam bogen die beiden Fahrzeuge rechts ab. Nun befanden sie sich auf der Ottostraße. Sie hatten ihren Bestimmungsort so gut wie erreicht. »Such eine Parkmöglichkeit!«, wandte sich Loupes an Juri Draschkin. »Gut«, sagte der Fahrer, mehr nicht. Wie Loupes besaß auch er noch seine menschliche Gestalt. Auch die anderen Werwölfe hatten sich noch nicht verwandelt. Die Abendstunden war noch nicht weit genug vorangeschritten. Selbst der Mond hielt sich noch zurück. Für das, was sie vorhatten, war ihr menschliches Aussehen geeigneter. Sie wollten so wenig Aufsehen wie möglich erregen. Die Aktion sollte ohne jegliche Zwischenfälle über die Bühne gehen. Es dauerte nicht lange und Draschkin entdeckte zwei freie Parkbuchten. Sofort belegte er eine davon. Die andere wurde von dem zweiten BMW besetzt. Die Hölle schien mit ihren Kreaturen zu sein. Zusammen verließen Loupes und sein Diener den Wagen. Ein milder Windhauch fuhr ihnen entgegen. Es war hier bei weitem nicht so kalt wie im nördlichen St. Petersburg.
Das Wetter spielte für sie allerdings sowieso keine Rolle. Mit einem Handzeichen gab Loupes den anderen Bestien zu verstehen, in ihrem Wagen zu bleiben. Es handelte sich um vier ausgesuchte Mitglieder des Draschkin‐Clans. Die restlichen Werwölfe waren in St. Petersburg geblieben, um es mit Roger Morton und dessen asiatischem Freund aufzunehmen. Ihre Mission schien allerdings gescheitert zu sein. Jedenfalls hatte sie sich nicht mehr bei Loupes gemeldet. Aber im Grunde hatte er auch nicht mit einem Erfolg gerechnet. Roger Morton war ein Gegner, der an Gefährlichkeit kaum zu überbieten war. Und er hatte schon viele Werwölfe vernichtet. Mehr als jeder andere Mensch, von dem Loupes je gehört hatte. Heftig schüttelte der Werwolf die negativen Gedanken von sich. Er wollte sich voll und ganz auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihm lag. Alles andere war im Augenblick unwichtig. Mit großen Schritten ging er auf eines der Antiquitätengeschäfte zu, die in großer Zahl die Straße säumten. Die meisten von ihnen waren nur noch für wenige Minuten geöffnet. Aus diesem Grund hatte Loupes erst jetzt diese Gegend aufgesucht. Er wollte keine unnötigen Zeugen. Melodisch ertönten mehrere kleine Glöckchen, als er die schwere Eingangstür des Geschäftes aufstieß. Groß und deutlich prangte der Namen des Besitzers auf ihr. Die Lettern waren zudem in Gold gehalten, um die Stellung des Mannes noch zu betonen. Karl Färber Antiquitäten und Schmuck Ein wölfisches Grinsen legte sich über Loupes Mundwinkel, als er den Schriftzug las. Gedruckte Worte gaben nicht immer die Wahrheit wieder. Und er wusste alles über Färber und seine abscheulichen Taten in der Vergangenheit. Er hatte für die Informationen eine entsprechende Summe zahlen
müssen, aber Geld interessierte ihn schon lange nicht mehr. Es war nur noch Mittel zum Zweck. Zusammen mit Juri Draschkin trat er ein. Nur noch zwei Kunden befanden sich in den Räumen des exklusiven Geschäfts. Sie waren jedoch im Aufbruch, wie Loupes erleichtert zur Kenntnis nahm. Er wollte endlich den Lohn seiner Mühen einfahren. Betont gelassen blieb er stehen, so als hätte er alle Zeit der Welt. Er nickte sogar den beiden Kunden zu, als sie das Antiquitätsgeschäft verließen. Dann wandte er sich der jungen Frau zu, die die beiden bedient hatte. »Womit kann ich Ihnen dienen, meine Herren?«, fragte sie höflich. »Wir würden gerne mit Herrn Färber sprechen«, entgegnete Loupes. »Natürlich. Wen darf ich melden?« »Sagen Sie ihm bitte, dass ihn ein Freund aus alten Tagen sprechen möchte.« Die junge Frau nickte und schritt auf eine Tür zu, die sich im hinteren Bereich des Kaufraums befand. Loupes hatte mit diesem Entgegenkommen gerechnet. Färber war zwar schon ein sehr alter Mann, aber er nahm noch immer aktiv am Leben teil. Und sein Leben war nun mal der Verkauf von Antiquitäten. Nur wenige Augenblicke später tauchte die junge Verkäuferin in Begleitung eines Mannes auf. Es war Karl Färber. Oder besser gesagt, der Mann, der sich inzwischen Karl Färber nannte. »Meine Assistentin sagte mir, dass Sie mich sprechen möchten?«, wandte sich der Antiquitätenhändler an seinen vermeintlichen Kunden. »Ja«, erwiderte Loupes. »Wir möchten mit Ihnen über einen alten Freund sprechen, der vor langer Zeit in St. Petersburg war!«
Färbers gebeugte Gestalt straffte sich für einen kurzen Moment. Doch im nächsten Moment hatte sich der alte Mann wieder unter Kontrolle. Er verstand es noch immer, sich zusammenzureißen. »Natürlich«, sagte er langsam und wandte sich an seine Assistentin. »Sie können gehen, Manuela. Um den Rest kümmere ich mich selbst.« »Wie Sie wünschen, Herr Färber.« Rasch holte sie noch ihre dicke Winterjacke aus einem Nebenraum und streifte sie über. Dann verließ sie das Geschäft und ging in Richtung U‐Bahn. Sie wandte sich dabei kein einziges Mal um, wie Loupes zufrieden bemerkte. Wahrscheinlich war sie ähnliche Dinge schon gewohnt. Ihr Arbeitgeber war schließlich ein Mann, der eine Menge zu verbergen hatte. Aber das ahnte sie wahrscheinlich nicht einmal. »Verschließen Sie die Ladentür!«, befahl Loupes mit kalter Stimme. Zuerst sah es so aus, als wollte sich der alte Mann gegen den Befehl sträuben, schließlich gab er jedoch nach. Hastig schloss er die Tür ab und ließ zusätzlich ein stabiles Gitter herunterfahren, das sowohl die Eingangstür als auch das große Schaufenster sicherte. Erst danach wandte er sich wieder den beiden Besuchern zu. »Was wollen Sie von mir?«, fragte Färber und versuchte, einen entschlossenen Eindruck zu machen. Loupes spürte jedoch die Angst in den Knochen des Mannes. »Eine gute Frage, Obersturmbannführer Hofberg!«, antwortete Loupes und lächelte sein Gegenüber wissend an. Der alte Mann erbleichte …
*
Die Blinklichter des Volvo XC‐90 blitzten kurz auf, als Roger Morton mit einem Knopfdruck die Türen des Wagens entriegelte. Sofort zog Raku die Hecktür auf und warf ihr Gepäck auf die Ladefläche. Tanja half ihm dabei. Danach rammte der Asiate die Tür wieder zu. Roger hatte schon auf den Fahrersitz Platz genommen. Er kannte sich in München aus und übernahm darum die Rolle des Chauffeurs. Seinen beiden Gefährten war das nur recht gewesen. Als sie ebenfalls eingestiegen waren, startete er den Motor des großen Geländewagens. Der Volvo sprang sofort an. Zufrieden legte Morton den ersten Gang ein und fuhr los. Schon nach kurzer Zeit reihte sich der Wagen in den fließenden Verkehr ein und der Franz‐Josef‐Strauß‐Flughafen blieb hinter ihnen zurück. Erleichtert lehnte sich Tanja Marenkov auf dem Beifahrersitz zurück. Hinter ihnen lagen einige wirklich harte Stunden. Besonders für die junge Russin. Als Tanja die Nachricht erhalten hatte, dass die beiden FSB‐ Agenten, die den Petersburger Flughafen sichern sollten, ums Leben gekommen waren, wäre sie fast zusammengebrochen. Sie gab sich selbst die Schuld daran, schließlich hatte sie die Männer dorthin befohlen. Auch Roger und Raku waren von der Nachricht schockiert gewesen. Sie hatten die beiden zwar kaum gekannt, aber ein gewaltsamer Tod war immer schrecklich. Besonders, wenn man wusste, wie die beiden Agenten den Tod gefunden hatten. Doch der Mord an Tatamowitsch und Dagarin war nicht vollkommen sinnlos gewesen. Die Behörden in St. Petersburg hatten sehr schnell herausgefunden, dass ganz in der Nähe der Leichen ein Learjet verschwunden war. Sofort hatte man alle Starts überprüft und einen zusätzlichen Flug ausgemacht, der nicht genehmigt gewesen war. Dennoch hatte die Maschine eine Starterlaubnis erhalten und war
abgehoben. Die Korruption in Russland machte eben vieles möglich. Allerdings hatte man feststellen können, wohin der Flug gegangen war. Bei einem inländischen Flug hätte man die Flugroute mit ausreichend Geld verschleiern können. Doch der Learjet war ins Ausland geflogen – nach München. Mit Erleichterung hatten Roger Morton und seine Freunde die Nachricht der Behörden zur Kenntnis genommen. Sie wussten nun, wo ihr Feind steckte. Er war nach Deutschland geflogen, auch wenn sie keine Ahnung hatten, warum. Umgehend hatte Tanja Marenkov mit Moskau Kontakt aufgenommen und die Erlaubnis erhalten, Roger Morton und seinen Partner nach München zu begleiten. Loupes Flucht war letztendlich auch ein Problem des neuen, demokratischen Russlands. Und man wollte die Lösung dieses Problems nicht völlig aus der Hand geben. Der russische Staatspräsident hatte sich sogar mit der deutschen Regierung in Verbindung gesetzt und um eine enge Zusammenarbeit gebeten. Notgedrungen war man seiner geschickten Argumentation gefolgt. Vor allem, weil Roger Morton auch in der Bundesrepublik kein Unbekannter war. Der Morton‐Konzern war eine gewichtige Größe im wirtschaftlichen Umfeld. Außerdem hatte Roger schon mehr als einmal mit dem deutschen BKA zusammengearbeitet. Ein Umstand, der ihm und seinen Freunden gewisse Sonderprivilegien eingebracht hatte. Als sie München erreicht hatten, hatte man sie ohne Kontrolle durch den Zoll geschleust. Eine Geste, die sie alle zu schätzen wussten. Besonders im Hinblick auf den gewaltigen Vorsprung, den ihr gemeinsamer Todfeind hatte. Man hatte Roger Morton nur gebeten, sich umgehend mit den örtlichen Polizeibehörden in Verbindung zu setzen, sobald er München erreicht hatte. Diesem Wunsch kam er nur allzu gern
nach. Er benötigte sowieso die Mithilfe der deutschen Kriminalpolizei, um Loupes und seine tödlichen Geschöpfe überhaupt lokalisieren zu können. »Sollen wir zuerst ein Hotel aufsuchen oder sofort zu diesem Kofler fahren?«, wandte sich Roger an seine beiden Begleiter. Hauptkommissar Hans Kofler war der Mann bei der Münchner Polizei, mit dem sie sich treffen sollten. Roger kannte ihn zwar nicht, aber bisher hatte er mit allen deutschen Polizeibeamten nur gute Erfahrungen gesammelt. Er hoffte, dass es auch diesmal der Fall sein würde. »Mir wäre es lieb, wenn wir den Hauptkommissar sofort aufsuchen würden«, erwiderte Tanja. Raku stimmte ihr zu. Auch er wollte keine unnötige Zeit verschwenden. Ein passendes Hotel konnten sie immer noch finden. Roger hatte im Prinzip nichts anderes erwartet. Er hatte ebenfalls geplant, so schnell wie möglich mit Kofler zu sprechen. Ein weiteres Blutvergießen wie in St. Petersburg wollte er unbedingt verhindern. Loupes und seine mordgierigen Bestien mussten gestoppt werden! Roger beschleunigte den Volvo noch ein wenig mehr. Bereitwillig erhöhte der schwere Wagen die Geschwindigkeit. Dennoch hatte Morton das Gefühl, zu langsam voranzukommen. Mehr als einmal blickte er besorgt gen Himmel. Die Dämmerung war schon weit vorangeschritten. Es würde demnach nicht mehr lange dauern, bis die Werwölfe ihre wahre Gestalt annahmen. Er konnte nur hoffen, dass sie München nicht in eine blutige Hölle verwandelten. Zwanzig Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht. Ein uniformierter Polizeibeamter brachte sie zu Koflers Büro. Der Hauptkommissar wartete bereits auf sie. Erleichtert verließ er seinen Platz hinter dem wuchtigen Schreibtisch und trat auf Roger Morton und dessen Freunde zu.
»Ich bin froh, Sie zu sehen«, sagte Kofler in bestem Englisch. »Vielen Dank«, erwiderte Roger. »Leider mussten wir uns erst durch den Verkehr quälen, um Sie zu erreichen.« Kofler winkte ab. Er kannte die Verkehrsverhältnisse seiner Stadt nur zu gut. Besonders am Flughafen waren sie schrecklich. Höflich bot er seinen Besuchern einen Platz an. Koflers Büro verfügte über eine Besucherecke, die eine Reihe von bequemen Sitzmöglichkeiten bot. Anscheinend bekam er öfters Besuch. Der Hauptkommissar war ein distinguierter, älterer Herr. Sozusagen der Archetyp aller Polizeibeamten früherer Tage. Er war ein Kriminalist durch und durch. Seine intelligenten, wachsamen Augen deuteten jedoch darauf hin, dass er sich seinen hohen Rang verdient hatte. Er war demnach nicht ein nur ein Schreibtischtäter, sondern auch ein Mann der Tat. Das bewiesen auch seine folgenden Worte. »Man hat mir schon mitgeteilt, dass sie auf der Suche nach einigen Leuten sind, die mit einer Privatmaschine aus St. Petersburg nach München gekommen sind. Ich habe daraufhin sofort einige Maßnahmen ergriffen, doch zu einem Ergebnis haben sie leider nicht geführt. Ihre Gesuchten konnten den Flughafen unerkannt verlassen.« Ohne erkennbare Regung nahmen Roger und seine Freunde die Information des Hauptkommissars zur Kenntnis. Im Grunde hatten sie mit dieser Nachricht gerechnet. Ihre Gegner waren mit normalen Kriminellen nicht zu vergleichen. Zudem verfügte Loupes über enorme finanzielle Mittel. Roger Morton wusste sogar, woher sie stammten. Doch dieses Wissen nützte ihm im Moment gar nichts. »Dieses Ergebnis hatten wir schon erwartet«, sagte Roger zu dem Beamten. »Bleibt die Frage, wie ich Ihnen sonst behilflich sein kann?«, fragte Kofler.
»Wie weit hat man Sie über unsere Gegner informiert?«, stellte Morton eine Gegenfrage. Er musste wissen, ob der Hauptkommissar die Gefährlichkeit von Loupes und seine Kreaturen richtig einschätzte. Die Werwölfe konnten schließlich München in ein Ort des Grauens verwandeln. In dieser Hinsicht war wirklich alles möglich. »Nun, man hat mir mitgeteilt, dass es sich nicht um normale Kriminelle handelt«, sagte Kofler. »Ansonsten ist man aber ziemlich wage geblieben. Eine Vorgehensweise, die mich schon ein wenig irritiert hat, wie ich zugeben muss.« Die Antwort des Beamten bestätigte Rogers Befürchtungen. Man hatte Kofler nicht in alle Einzelheiten eingeweiht. Wie so oft war man nach der Devise vorgegangen, den untergeordneten Behörden nur einen Teil der Wahrheit mitzuteilen. Die Frage war nur, ob er Kofler die ganze Wahrheit sagen sollte? »Sie überlegen, ob Sie mir reinen Wein einschenken sollen, nicht?«, deutete der Hauptkommissar Rogers Zögern richtig. »In der Tat«, gab Morton unumwunden zu. »Versuchen Sie es einfach. Ich verspreche Ihnen auch, meine Zweifel zurückzuhalten.« Das Versprechen Koflers gab den Ausschlag. »Also gut«, gab Roger seinen inneren Widerstand auf und weihte den Kriminalbeamten ein. Schweigend hörte sich Kofler alles an. Er unterbrach Roger nicht ein einziges Mal. Doch sein Gesicht spiegelte seine Empfindungen wieder. Es wechselte von Unglauben über Abwehr bis zu Bestürzung. »So, nun wissen Sie alles!«, beendete Roger Morton seinen Bericht. Kofler schwieg zunächst. Er musste das eben Gehörte erst verdauen. Seinen Besuchern war das nur recht, bewies es doch, dass der Beamte ihre Geschichte nicht völlig ablehnte.
»Werwölfe!«, gab der Hauptkommissar skeptisch von sich und musterte Roger und dessen Freunde mit festem Blick. Die Sicherheit in den Augen seiner Besucher überzeugt ihn. Im Laufe seines Berufslebens hatte er eine Art sechsten Sinn entwickelt, der ihm auch diesmal gute Dienste erwies. »Ich glaube Ihnen, Mr. Morton«, sagte der Hauptkommissar schließlich, »auch wenn ein Teil von mir vor Protest aufbrüllt!« »Das können wir alle sehr gut verstehen«, mischte sich zum ersten Mal Tanja Marenkov in das Gespräch ein. Auch ihr war die Existenz von Werwölfen noch nicht sehr lange bekannt. »Ich danke Ihnen«, entgegnete Kofler. »Trotzdem bleibt die Frage, wie ich Ihnen behilflich sein kann?« »Darüber habe ich schon nachgedacht«, sagte Roger. »Unsere Gegner sind zwar keine normalen Gangster, aber auch sie werden Hinweise hinterlassen. Ich möchte Sie deshalb bitten, dass Sie uns über alle Straftaten informieren, die ein wenig aus dem Rahmen fallen. Besonders, wenn es Tote gegeben hat, die ihren ermittelnden Beamten seltsam erscheinen.« »In Ordnung«, gab Kofler ohne zu zögern sein Einverständnis. Erleichtert nahmen Roger und seine Freunde das Entgegenkommen des Hauptkommissars zur Kenntnis. Der Beamte hätte auch ganz anders reagieren können. Aber manchmal hatte man eben Glück. »Wo kann ich Sie erreichen?«, fragte Kofler. »Im Hotel Vier Jahreszeiten«, antwortete Roger umgehend. Es war eines der besten Hotels in der Stadt. Doch das war nicht der Hauptgrund, warum Morton dort absteigen wollte. Er hatte es vor allem gewählt, weil man ihn dort kannte. »Sehr gut!«, sagte Kofler und verabschiedete sich von seinen Besuchern. Nur wenige Minuten später machten sich die Freunde auf den
Weg zu ihrem Hotel. Keiner von ihnen ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sie schon bald von dem Hauptkommissar hören würden. Es sollte die schlimmste Nacht ihres Lebens werden …
* »Sie müssen mich mit jemanden verwechseln, mein Herr«, widersprach Färber. »Mein Name ist Karl Färber, so wie es auch an der Tür steht.« »Ihr Starrsinn langweilt mich, Anton Hofberg!«, erwiderte Loupes mit beißendem Zynismus. »Ich weiß alles über Sie und ich will etwas, das Sie vor langer Zeit gestohlen haben!« Der alte Mann wollte erneut aufbegehren, doch als er den eiskalten Blick seines Gegenübers sah, gab er seinen inneren Widerstand auf. Er kannte diesen erbarmungslosen Blick nur zu gut. Er selbst hatte ihn vor einer halben Ewigkeit ebenfalls beherrscht. »Was … was wollen Sie genau?«, stellte er die entscheidende Frage. »Die Schädelkrone!«, erwiderte Loupes ohne jedes Zögern. Wieder zuckte der Antiquitätenhändler zusammen. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Sie kam für ihn vollkommen überraschend. Angst stahl sich in seinen Blick. Todesangst. »Ich habe sie nicht mehr«, sagte er mit leiser Stimme. Noch bevor das letzte Wort über seine Lippen geflossen war, zuckte Loupes Hand vor und legte sich um den Hals des alten Mannes. Leicht drückte er zu. Das genügte vollkommen, um Färber in Panik zu versetzen. »Ich … ich schwöre … es!«, keuchte der alte Mann. »Aber du weißt, wer sie hat, oder?«, knurrte Loupes.
»Mantelli! Silvio Mantelli hat sie!« »Und wo finde ich diesen Mantelli?« Der Werwolf drückte noch ein wenig fester zu. »Er lebt hier!«, gab der alte Mann stöhnend von sich. »In München!« Gleich darauf nannte er die Adresse des Mannes, der im Besitz der Schädelkrone sein sollte. Sie lag in Solln, einer der vornehmeren Wohngegenden Münchens. Einer Gegend, die auch Loupes nicht ganz unbekannt war. Loupes ließ den ehemaligen SS‐Mann los. Der hatte ihnen alles gesagt, was er wusste. Und er hatte die Wahrheit gesagt, davon war der Werwolf in Menschengestalt vollkommen überzeugt. Nur mühsam hielt sich der alte Mann auf den Beinen, während er hastig Sauerstoff in seine Lungen pumpte. Seine besten Jahre lagen schon weit hinter ihm. Er war nur noch ein Schatten des Mannes, der er einmal gewesen war. »Sie werden die Schädelkrone trotzdem nicht erlangen!«, stieß er erschöpft aus. Überrascht blickte Loupes ihn an. Die Äußerung des alten SS‐ Manns gefiel ihm nicht. Sie wirkte so überzeugt. »Warum nicht?«, fragte er. »Weil Mantelli nicht mit mir zu vergleichen ist! Er ist kein uralter Mann, sondern ein Mensch mit großer Macht. Mehr Macht, als sie sich beide vorstellen können.« Die Worte waren Färbers letztes Aufbegehren. Er ahnte anscheinend, dass er nicht überleben würde. Als junger Mann hatte auch er keine unliebsamen Zeugen zurückgelassen. »Wir werden sehen«, erwiderte Loupes gelassen. »Allerdings gibt es noch ein Problem, um das wir uns kümmern müssen, nicht wahr?« Der ehemalige Obersturmbannführer schluckte.
»Sie … Sie müssen mich nicht töten!«, stammelte er hilf los. »Ich werde niemandem ein Wort verraten!« »Sie haben vollkommen Recht«, sagte Loupes betont lässig. Er wandte sich an seinen Begleiter und nickte knapp. Die Zeit war reif. Juri Draschkins Verwandlung in einen Werwolf stand unmittelbar bevor. Selbst Loupes spürte ein unbändiges Kribbeln, das er nur mit Mühe unterdrücken konnte. Auch Färber blickte zu dem zweiten Mann, der bisher mit stoischer Gelassenheit das Gespräch verfolgt hatte. Plötzlich mutierte Draschkin zu einer grauenvollen Bestie! Haare sprossen aus seiner Haut und bedeckten sie mit einem dichten Pelz. Hände wurden zu Pranken mit messerscharfen Klauen. Menschliche Züge verschoben sich und wurden zu einer abstoßenden Fratze. Färber konnte den Blick nicht abwenden. Er konnte es einfach nicht. Sein Körper schien nicht mehr ihm zu gehören. Er vernahm sogar das Reißen der Kleidung, als sich der mächtige Körper des Werwolfs ausdehnte. Es waren Geräusche, die ihn innerlich erschütterten. Doch noch immer war er zu keiner Regung fähig. Nur wenige Augenblicke später hatte Draschkin seine eigentliche Gestalt angenommen. Gierig richteten sich seine unmenschlichen Augen auf den alten Mann. Sein höllischer Trieb war erwacht. Und er konnte ihn nur auf eine Art und Weise stillen. »Töte ihn!«, befahl Loupes. Die Bestie zögerte keine Sekunde. Der alte Mann stieß noch einen hilflos wirkenden Laut aus, zu mehr kam er nicht. Zielsicher fuhr das Maul des Werwolfs auf Färbers Hals zu. Der gnadenlose Biss war absolut tödlich. Zufrieden blickte Loupes auf den schrecklich zugerichteten Toten.
Der alte Mann hatte für seinen Frevel an den Werwölfen bezahlt. Selbst die vergangenen Jahrzehnte hatte ihn vor seinem Schicksal nicht bewahren können. Abrupt wandte sich Loupes ab und schritt durch den Verkaufsraum. Er wollte die verschlossene Ladentür nicht wieder öffnen. Es gab bestimmt auch einen anderen Weg, um das Gebäude verlassen zu können. Draschkin folgte ihm dichtauf. Nur wenige Minuten später hatten sie den Wagen erreicht. Loupes hatte vorher die nähere Umgebung mit seinen Blicken abgesucht. Er wollte keine Zeugen, die einen seiner Diener im Urzustand sahen. Sie hatten Glück. Die Straße war vollkommen verwaist. Ein dichter, eiskalter Nieselregen hatte eingesetzt, der die meisten Passanten vertrieben hatte. Draschkin quetschte sich hinters Steuer und wartete auf die Anweisungen seines Herren. Roy Loupes kannte sich in München bestens aus. Er hatte hier schon viele schöne Stunden verlebt, auch wenn diese Zeit aus einem anderen Leben stammte. »Fahr los!«, befahl er. Brüllend erwachte der Motor des schweren BMW zum Leben. Dann gab Draschkin auch schon Gas und fuhr mit quietschenden Reifen an. Die anderen Werwölfe folgten ihm in ihrem Wagen. Sie alle hatten sich ausnahmslos verwandelt. Keiner von ihnen hatte die Kraft, sich dem Tribut an der Nacht zu widersetzen. Nur Loupes war dafür stark genug. Schon bald waren die beiden Wagen verschwunden. Ihr Ziel war eine Villa, die einem mächtigen Mann gehörte. Einem Mann, der etwas besaß, das ihm nicht gehörte. Und er würde dafür mit seinem Leben bezahlen …
* Genüsslich fuhr sich Silvio Mantelli mit der Zunge über seine wulstigen Lippen. Sein persönlicher Leibkoch hatte sich mal wieder selbst übertroffen. Die Pasta war einfach süperb gewesen. Aufatmend schob er den leeren Teller von sich und griff nach dem Weinglas. Mit zwei großen Schlucken trank er es leer. Auch der Wein war von erlesener Qualität, wie alles, was er zu sich nahm. Betont lässig stellte er das Glas auf den üppig gedeckten Tisch zurück. Eine Geste, die man dem fetten Mann gar nicht zugetraut hätte. Das gute Leben hatte wahrlich seine Spuren bei Mantelli hinterlassen. Ihn störte seine Korpulenz jedoch nicht. Er hatte alles, was er sich wünschte, auch wenn er nicht wie ein Filmstar aussah. Geld war weitaus wichtiger als Attraktivität oder Intelligenz. Darum hatte er sich auch einem der profitabelsten Geschäfte zugewandt, das es auf der Welt gab. Er verkaufte Waffen. Jede Art von Waffen, sofern sein Auftraggeber zahlungsfähig war. Doch auch er wusste Schönheit zu schätzen. Die junge, blonde Frau am anderen Ende des Tisches bewies dies. Sie war eine wahre Augenweide. Begierig ließ Mantelli den Blick über ihren Oberkörper gleiten. Was er sah, gefiel ihm ausgesprochen gut. Er hoffte nur, dass das Girl hielt, was die äußere Verpackung versprach. Das Mädchen war nicht mal Zwanzig. Aber das spielte für Mantelli keine Rolle. Er wollte jede Sekunde des Lebens genießen. »Geh doch schon mal ins Schlafzimmer, mein Täubchen!«, sagte er zu der jungen Frau. Trotz des sanften Tones war es keine Bitte, sondern ein Befehl.
Für einen kurzen Augenblick zeichnete sich Ekel auf ihrem Gesicht ab. Gleich darauf hatte sie sich wieder unter Kontrolle. In ihrem Job durfte man nicht wählerisch sein. »Natürlich, Silvio!«, erwiderte sie und stöckelte auf ihren ultra hohen Absätzen Richtung Schlafzimmer. Mantelli schaute ihr nach. Der Rest ihres aufregenden Körpers gefiel ihm noch mehr. Er versprach eine wirklich heiße Nacht. Als sie den Raum verlassen hatte, erhob sich auch der Hausbesitzer. Er hatte Mühe, in die Höhe zu kommen. Das Gewicht, das er mit sich herumtrug, machte jede Bewegung zur Qual. Schließlich stand Mantelli aber doch. Sofort fühlte er sich besser. Die Last seines Körpers schien sich nun besser verteilt zu haben. Mit raumgreifenden Schritten verließ er den Speisesaal und schritt auf eine wuchtige Tür zu. Einer seiner Leibwächter kam ihm entgegen. Es war Luigi, sein bester Mann. »Hast du die Wachen überprüft?«, fragte Mantelli. »Sicher, Patron.« Mantelli hatte nichts anderes erwartet. Auf Luigi konnte er sich jederzeit verlassen. Er hatte bisher noch nie versagt. »Gut«, sagte er und entließ den Leibwächter. Für das, was er vorhatte, konnte er den Mann nicht gebrauchen. Als er die wuchtige Tür erreicht hatte, blickte er sich noch einmal um. Sein Leibwächter war nirgends auszumachen. Der Mann befolgte jeden Befehl seines Herrn mit absoluter Gewissenhaftigkeit. Zufrieden öffnete Mantelli die schwere Eichentür und schritt in den Raum dahinter. Sofort schloss er sie wieder. Erst dann schaltete er das Licht ein. Dieser Raum gehörte nur ihm. Er beherbergte seine größten Schätze. Dinge, die ihm wirklich etwas bedeuteten.
Verzückt fuhr sein Blick über die prachtvollen Gegenstände, die das Zimmer schmückten. Es waren ausnahmslos Dinge, die seit Jahrhunderten existierten. Teure Schmuckstücke wechselten sich ab mit alten Waffen oder anderen Kunstgegenständen, deren Herkunft man nur erahnen konnte. Dinge, die den Weg der Menschheit nachzeichneten und begreifbar machten. Die meisten Gegenstände waren in gläserne Vitrinen untergebracht. Auf diese Weise waren sie vor dem Verfall am besten geschützt. Doch einige prangten auch an den Wänden oder standen in riesigen Regalen. Wie von selbst fuhr Mantellis Blick zu seinem größten Besitz! Er war auf einem Sockel drapiert worden, der mitten im Raum stand. Das war ein sichtbares Zeichen für die Einzigartigkeit des Gegenstandes. Der Tribut eines leidenschaftliches Sammlers für seinen wichtigsten Schatz. Es war ein skelettierter Schädel! Das Überbleibsel eines riesigen Tieres. Eines monströsen Wesens, das einst die Welt beherrscht hatte. Vor langer, langer Zeit. Nur mit Mühe und Not hatte er den Besitzer davon überzeugen können, ihm den Schädel zu überlassen. Es hatte ihm ein Vermögen gekostet. Aber Mantelli hatte die Summe ohne Zögern gezahlt. Er hatte den Schädel einfach besitzen müssen! Zwei schnelle Schritte brachten ihn in seine Nähe. Da zuckten seine Hände auch schon auf den makaberen Gegenstand zu. Er konnte den Drang einfach nicht unterdrücken, seinen größten Schatz zu berühren. Der Schädel vibrierte! Mantelli spürte es genau. Es war ein leichtes, permanentes Zucken. Pfeifend atmete er ein.
Der Schädel war etwas Besonderes. Er hatte ein Geheimnis. Eine tiefere Bedeutung, die er nicht kannte. Selbst der frühere Besitzer hatte ihm auf seine Fragen keine Antwort geben können – oder wollen –, aber letztendlich lief es auf das Gleiche hinaus. »Was bist du?«, stieß Mantelli zischend aus. Eine Antwort erhielt er nicht. Stumm glotzten ihn die leeren Augenhöhlen des Schädels an. Der Waffenschieber hatte dennoch das Gefühl, etwas Lebendiges in den Händen zu halten. Etwas, das nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um zurückzukehren. Mach dich nicht verrückt! Gewaltsam riss sich Mantelli von den Anblick los und nahm seine Hände von dem Schädel. Er würde noch genug Zeit haben, sich mit seinem größten Schatz zu befassen. Im Augenblick hatte er jedoch andere Dinge im Kopf. Er hatte die Blondine nicht vergessen, die schon sehnsüchtig in seinem Schlafzimmer auf ihn wartete. Rasch lief er zu Tür und zog sie auf. Seine rechte Hand glitt auch schon zum Lichtschalter, doch ein unbändiges Verlangen zwang ihn dazu, noch einen letzten Blick auf den Schädel zu werfen. Sein früherer Besitzer hatte Mantelli keinerlei Hinweis auf die Herkunft des Schädels gegeben. Er hatte ihm nur gesagt, was er eigentlich war. Ein Gegenstand, der eine ganz bestimmte Bedeutung hatte. Die Reliquie war die Schädelkrone – und sie gehörte nun ihm!
* Die Villa glich einer Festung. Erst
jetzt
verstand
Loupes
die
Worte
des
alten
Antiquitätenhändlers besser. Mantelli würde sich tatsächlich als eine harte Nuss erweisen. Langsam glitt Loupes Blick über das Areal des Anwesens und er nahm jede Kleinigkeit wahr, die von Bedeutung sein konnte. Einen Fehlschlag konnte er sich nicht leisten. Ein drei Meter hoher Zaun sicherte das Areal. Hinzu kamen Kameras, zusätzliche Alarmvorrichtungen und schwer bewaffnete Wachen, die um das Gebäude patrouillierten. Ein absolut narrensicheres System. Sogar einen bereit stehenden Hubschrauber hatte Loupes ausmachen können. Er sollte anscheinend zur Flucht dienen können, wenn es notwendig war. Mantelli schien ein Mann zu sein, der keinerlei Risiken einging. Warum das so war, interessierte Loupes nur am Rande. Er wollte nur einen ganz bestimmten Gegenstand, der sich in Mantellis Besitz befand. Er wollte die Schädelkrone! Loupes wandte sich ab und lief zu seinen Dienern. Sie hatten sich in der Dunkelheit verborgen. Noch sollte niemand von ihrer Existenz etwas wissen. »Wir schlagen los!«, sagte Loupes. Er vertraute voll und ganz auf seine monströsen Diener. Sie würden auch gegen Mantellis Privatarmee bestehen. Nichts würde sie aufhalten können. Sofort setzten sich die Werwölfe in Bewegung. Sie trennten sich dabei in zwei Gruppen, so wie ihr Gebieter es ihnen zuvor befohlen hatte. Ihre Gegner sollten von ihrer höllischen Macht förmlich überrollt werden. Es waren genau fünf Bestien. Mit Loupes waren es sogar sechs. Mehr als genug, um mit Mantelli und seinen Leibwächtern fertig zu werden.
Loupes schloss sich einer der beiden Gruppen an. Auch er hatte sich jetzt in einen Werwolf verwandelt. Rücksicht wollte er nun nicht mehr nehmen. Die erste Gruppe sollte das Anwesen von der Rückseite stürmen, während die andere das Areal frontal angehen würde. Diese Truppe führte Loupes an. An seiner Seite war noch Juri Draschkin und ein weiterer Werwolf. Abwartend ließ Loupes einige Zeit verstreichen, bis er davon überzeugt war, dass die andere Gruppe die Rückseite erreicht hatte. Endlich gab er das Signal zum Aufbruch. Eine Welle der Erregung lief durch seinen mächtigen Körper. Er würde seinen abstoßenden Instinkten freien Lauf lassen. Geschmeidig liefen die Bestien auf das geschlossene Haupttor zu und sprangen in die Höhe. Blitzschnell hatten sie das Hindernis überwunden. Zu Loupes Überraschung lösten sie keinen erkennbaren Alarm aus. Anscheinend wurden die Wachen auf eine subtilere Art und Weise über ihr Eindringen unterrichtet. Für Loupes spielte das keine Rolle. Er begrüßte dieses System sogar. Je weniger Aufsehen sie erregten, desto effektiver konnten er und seine Kreaturen vorgehen. Mit langen Sätzen jagten die Bestien auf das riesige Gebäude zu. Nur dort würden sie finden, wonach sie suchten. Hecken, Sträucher und einzelne Bäume dienten ihnen als Deckung. Nur noch wenig Schritte trennten sie von der prächtigen Villa. Plötzlich übergossen starke Flutlichter die Gartenanlage mit grellem Licht und machten die Nacht fast zum Tag. Sie verdrängten die Schwärze vollkommen. Loupes stieß ein wütendes Knurren aus. Das Licht gefiel ihm ganz und gar nicht. Dennoch stürmte er mit seinen beiden tödlichen Begleitern weiter vor. Er hatte keine andere
Wahl. Da tauchten die ersten Wachen auf und nahmen sie unter Feuer! Das widerliche Hämmern mehrerer Maschinenpistolen ertönte und zerriss die Stille … Rings um die Werwölfe schlugen unzählige Geschosse ein. Erde und Pflanzenfetzen spritzten in die Höhe. Doch auch die Kreaturen wurden erwischt. Besonders Loupes geduckter Körper wurde von etlichen Kugeln getroffen. Die harten Einschläge schüttelten ihn durch – aufhalten konnten sie ihn nicht. Mit wuchtigen Sprüngen erreichte er den ersten Schützen. Geschockt riss der Mann den Mund auf, um einen lauten Schrei auszustoßen. Er kam nicht mehr dazu. Loupes zerschmetterte den Brustkorb des Leibwächters und schleuderte ihn wie eine Puppe zur Seite. Verrenkt blieb der Mann einige Meter entfernt liegen. Auch die beiden anderen Werwölfe fanden ihre Opfer. Zwei weitere Wachen wurden von ihnen in Stücke gerissen. Der bestialische Anblick fuhr den verbliebenen Bodyguards durch Mark und Bein. Mit dieser brutalen Demonstration absoluter Macht hatte keiner von ihnen gerechnet. In Panik zogen sie sich zurück und suchten das Weite. Die beiden Bestien wollten ihnen nach. Loupes stoppte sie jedoch mit einem barschen Befehl. Die Leibwächter waren ohne Bedeutung für sein Vorhaben. Er wollte Mantelli! Gemeinsam liefen sie auf die große, zweigeteilte Eingangstür zu. Sie bestand aus eisenbeschlagener Eiche. Gegen die geballte Kraft der Werwölfe konnte sie dennoch nicht bestehen. Loupes Diener warfen sich einfach mit aller Gewalt dagegen und stolperten unter einem Holzsplitter‐Regen ins Haus. Nun hielt sie nichts mehr auf.
Wie ein schrecklicher Orkan drangen sie weiter in das Gebäude vor. Drei mordgierige Bestien, die nur ein Ziel kannten – Mantelli! Ein riesige Halle nahm sie auf. Eine gewundene Treppe führte in die oberen Stockwerke. Die Werwölfe wurden bereits erwartet. Zwei Männer standen an der Balustrade und leerten die Magazine ihrer MPis, um die Kreaturen aufzuhalten. Die 9‐mm‐Geschosse fuhren auf die Werwölfe nieder, schlugen faustgroße Löcher in die Wände und den gefliesten Boden. Auch die Bestien wurden getroffen … Doch wieder blieb eine Wirkung aus. Mit normalen Kugeln war den Kreaturen der Finsternis nicht beizukommen. Unbeirrt wandten sich die Werwölfe der Treppe zu und stürmten nach oben! Der Albtraum hatte gerade erst begonnen …
* »Weiter!«, gab Mantelli leicht stöhnend von sich, während er zusah, wie sich die junge Frau provokativ entkleidete. Er liebte es, die Rolle eines Voyeurs einzunehmen. Es erregte ihn beinahe mehr, als der Akt selbst und das Mädchen machte seine Sache wirklich gut. Das dumpfe Rattern zweier Maschinenpistolen riss Mantelli aus seinen Träumen. Sofort verschwand der entspannte Ausdruck auf seinem Gesicht. Nun zeichnete sich dort Überraschung und Angst ab. Das widerliche Stakkato brach ab. Die Villa war schallisoliert. Von draußen konnten nur sehr wenige Geräusche ins Innere vordringen. Die Schüsse mussten demnach im
Gebäude abgegeben worden sein. Aber das war unmöglich! Einfach unmöglich! Der Gedanke war noch nicht ganz verschwunden, als die Tür zu seinem Schlafzimmer aufgerissen wurde. Sofort darauf stürmte ein einzelner Mann in den Raum – Luigi! »Was ist los?«, herrschte Mantelli seinen besten Mann an. »Etwas ist in die Villa eingedrungen, Patron!«, antwortete Luigi mit sich überschlagender Stimme. »Was heißt das? Etwas?« »Monster! Richtige Monster!« Mantelli wollte lachen, doch es blieb ihm regelrecht im Halse stecken. Die Schüsse belegten, dass Luigi die Wahrheit sagte. Jemand – oder etwas! – war tatsächlich ins Haus gelangt. »Könnt ihr sie nicht aufhalten?« »Wir versuchen es, aber … Nein, Patron«, gestand der Leibwächter sein Versagen ein. Seine Stimme zitterte bei den Worten vor Angst. »Wir müssen verschwinden!«, stieß Luigi verzweifelt aus. »Bene«, erwiderte der Waffenschieber und wuchtete sich in die Höhe. Doch bevor er seinem Leibwächter folgte, tat er etwas, was er noch nie in seinem Leben getan hatte. Etwas, das für ihn immer unvorstellbar gewesen war. Er zückte sein Handy und rief die Polizei …
* Loupes hetzte die Stufen der breiten Treppe nach oben. Seine beiden monströsen Begleiter folgten ihm dichtauf. Sie wären ihrem Herrn
und Gebieter überall hin gefolgt. Selbst in den Tod. Die Wachen hatten aufgehört zu schießen. Sie hatten die Sinnlosigkeit ihrer Vorgehensweise erkannt. Doch es war bereits viel zu spät. Noch bevor sie die Flucht ergreifen konnten, hatten die Werwölfe ihre Opfer erreicht. Loupes sprang auf den ersten Mann zu. Der Leibwächter hatte nicht den Hauch einer Chance. Die spitzen Reißzähne des Werwolfs versenkten sich in den Körper seiner Beute und töteten ihn auf der Stelle. Der zweite Mann wurde von den beiden anderen Bestien frontal angegangen. Ihre tödlichen Klauen sausten zielsicher durch die Luft und erwischten ihn von zwei Seiten. Er wurde beinahe in zwei Hälften zerrissen. Mit einem Sprung setzte Loupes über die beiden blutüberströmten Leichen hinweg. Seine Diener taten es ihm gleich. Die toten Leibwächter spielten für sie keine Rolle mehr. Zusammen jagten die drei Bestien weiter voran. Irgendwo in dieser Villa musste der Mann stecken, um den es ihnen eigentlich ging. Nur er war von Bedeutung – er und die Schädelkrone. Nur Sekunden später entdeckte Loupes zwei Personen, die auf eine Tür zu rannten. Einer von ihnen war muskulös und bewaffnet. Der andere hingegen wirkte wie ein wandelnder Fleischberg. Mantelli! Loupes hatte den Mann gefunden, der im Besitz der Schädelkrone war. Der riesige Werwolf stürmte vor. Sein Ziel sollte ihm nicht entkommen. Und das wird es auch nicht, schwor sich Loupes.
Nur Mantelli konnte ihm schließlich sagen, was er wissen wollte. Plötzlich wirbelte der Leibwächter herum und riss seine MPi hoch. Es handelte sich um eine Heckler & Koch MP‐5 – eine absolut tödliche Waffe. Ohne jedes Zögern gab der Bodyguard einen Feuerstoß ab. Loupes sah das grelle Mündungsfeuer. Im gleichen Augenblick trafen ihn die Kugeln, schlugen in seinem ganzen Körper ein. Sie konnten ihn nicht bremsen. Der Leibwächter wollte noch zurückweichen … Er war nicht schnell genug und Loupes kannte keine Gnade. Rasend vor Zorn stürzte er sich auf den Mann und schlug mit beiden Pranken zugleich zu. Der Kopf des Mannes wurde von der Wucht der Treffer zerschmettert. Im nächsten Moment schleuderte Loupes den leblosen Körper einfach über das Geländer. Ohne jegliche Regung hechtete er weiter vor. Er hatte Mantelli nicht vergessen. Doch dieser hatte die Gunst der Stunde genutzt und war durch die Tür verschwunden. Loupes brüllte vor Wut. Er durfte Mantelli nicht entkommen lassen. Alles, nur das nicht. Ansonsten waren all seine Pläne zum Scheitern verurteilt. Und die Hölle stand ihrer Kreatur bei. Die Jahre des guten Lebens wurden Mantelli zum Verhängnis. Er konnte sich nicht mehr so schnell bewegen, wie es nötig gewesen wäre. Er hatte den Raum hinter der Tür nicht einmal zur Hälfte durchquert, als Loupes mächtige Klaue erbarmungslos zugriff. Mantelli quiekte kurz auf, als er den harten Griff spürte. Nur einen Augenblick später erlahmte sein Widerstand völlig. Er wusste, wann er verloren hatte. Loupes wirbelte den schweren Mann herum, als wenn der leicht wie eine Feder wäre. Sein mächtiger Schädel fuhr auf das Gesicht des Waffenhändlers zu – und verharrte nur wenige Zentimeter
davor. Grenzenloses Grauen zeichnete sich in Mantellis Gesichtszügen ab. Was er sah, ging über seinen Verstand. Das war ein Albtraum, aus dem er einfach nicht erwachte. »Bist du Mantelli?«, fragte Loupes mit knurrender Stimme. Der Waffenschieber reagierte nicht. Die Angst hatte ihn stumm gemacht. »Sprich, oder ich reiße dich in Stücke!«, brüllte Loupes. Geifer spritzte seinem Opfer ins Gesicht. Endlich reagierte Mantelli. »Ja. Ich … ich bin … Mantelli.« Die Furcht in der Stimme des Mannes erregte Loupes. Dieser Schwächling würde ihm alles sagen, was er wissen wollte. »Wo ist sie?« »Was?«, wimmerte Mantelli. »Die Schädelkrone!« Mit Genugtuung registrierte der Werwolf das Aufleuchten in den Augen des Mannes. Er wusste demnach, wovon er sprach. Hofberg hatte nicht gelogen. »In meinem Privatraum«, antwortete Mantelli. Abrupt ließ Loupes den Mann los. Seine Drohgebärden waren nicht mehr nötig. Der Waffenschieber war mittlerweile nur noch ein Schatten seiner selbst. Nur mit Mühe konnte sich Mantelli auf den Beinen halten. Doch eine innere Stimme befahl ihm, sich zusammenzureißen. Solange diese mörderischen Wesen etwas von ihm wollten, war er in Sicherheit. »Bring mich zu der Krone!«, befahl Loupes. »Sicher«, erwiderte Mantelli. »Sicher.« Langsam setzte er sich in Bewegung. Die Werwölfe beobachteten jede seiner Bewegungen genau. Aber keine der Kreaturen hielt ihn
auf. Sie wollten die Schädelkrone – das war alles! Mantelli dagegen hoffte zum ersten Mal auf die Polizei. Wenn er ein wenig Zeit herausschinden konnte, würde er vielleicht sogar überleben. Alles, was er brauchte, war nur ein wenig Zeit. Und Glück!
* Roger Morton wollte sich gerade ein weiteres Glas Wasser einschenken, als das Telefon in seiner Suite ertönte. Sofort griff er nach dem Hörer und meldete sich. Sein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich als er die Stimme von Hauptkommissar Kofler vernahm. »Ich glaube, wir haben ihre Werwölfe gefunden!«, sagte der Polizist. »Wo?«, fragte Roger und stellte den Apparat auf Lautsprecher. Er warf dabei Tanja und Raku einen raschen Blick zu, die sich ebenfalls in der Suite aufhielten. Keiner von ihnen hatte allein sein wollen. Sie wussten schließlich alle, wie groß die Gefahr war, die München heimgesucht hatte. »Der Besitzer einer Villa in Solln hat sich bei einer Polizeidienststelle gemeldet und von grauenhaften Kreaturen gesprochen, die sein Anwesen gestürmt haben!« Das war sie. Das war die Nachricht, auf die Morton gehofft hatte. »Wo liegt die Villa genau?«, fragte Roger. Kofler sagte es ihm. »Und was werden Sie jetzt unternehmen?« »Ein Sondereinsatzkommando ist schon auf den Weg. Zusätzlich werden einige meiner Leute und ich dazu stoßen. Die übliche
Vorgehensweise.« »Das dachte ich mir«, entgegnete Morton. »Trotzdem möchte ich Sie bitten, mit der Aktion zu warten, bis meine Freunde und ich am Tatort sind.« »Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen?« »Natürlich, aber möchten Sie unzählige Ihrer Leute verlieren?«, stellte Roger eine Gegenfrage. Kofler schwieg. Die Worte des Briten hatten ihn nachdenklich gemacht. »Einverstanden«, sagte er schließlich. »Aber beeilen sie sich!« Roger fiel ein wahrer Felsbrocken von der Seele. Der Hauptkommissar war wirklich jemand, der über den eigenen Tellerrand blicken konnte. Eine Fähigkeit, die man nur selten in den oberen Etagen einer Behörde fand. »Wir sind schon unterwegs!«, versprach Morton und legte auf. Raku warf ihm die Jacke zu und kurz darauf jagten sie auch schon ihrem Ziel in Solln entgegen. Roger holte dabei das Letzte aus dem Geländewagen heraus. Der Verkehr hielt sich zu dieser späten Stunde zum Glück in Grenzen, so dass sie gut vorankamen. Dennoch hämmerte Roger jedes mal frustriert auf die Hupe, wenn er die Geschwindigkeit drosseln musste. Jede Sekunde konnte für sie und andere mehr als kostbar sein. Morton und seine Freunde hatten die Villa noch nicht ganz erreicht, als sie von mehreren uniformierten Polizeibeamten gestoppt wurden. Die Männer hielten ausnahmslos Maschinenpistolen in den Händen. Offenbar hatte Kofler Mortons Warnungen ernst genommen. »Hauptkommissar Kofler erwartet uns!«, wandte sich Roger an einen der Beamten. »Sind Sie Herr Morton?«
»Ja.« Sofort führte man ihn und seine Begleiter zu einem großen Kastenwagen. Hier befand sich die Einsatzzentrale, in der alle weiteren Schritte koordiniert wurden. Erleichtert empfing sie Kofler. »Sie müssen fast geflogen sein!«, sagte er anerkennend. »Man tut, was man kann«, erwiderte Roger. »Wie sieht’s aus?« »Bescheiden«, antwortete Kofler und führte sie zu einem Tisch, auf dem eine Karte bereit lag. »Das ist die Villa!«, klärte er Roger und die beiden anderen auf. »Ich habe das Einsatzkommando hier und hier postiert!« Mit dem Zeigefinger deutete er auf die entsprechenden Stellen. »Bisher habe ich jedoch noch nicht den Befehl zum Angriff erteilt.« »Gut«, erwiderte Roger. »Ich schlage vor, dass wir drei als Vorhut agieren und Ihre Männer uns zu Hilfe kommen, sollte dies notwendig sein.« Der Vorschlag behagte Kofler offensichtlich nicht. Doch ihm war klar, dass Morton den Gegner besser kannte. Er musste dessen Urteil vertrauen. »In Ordnung!«, gab er seinen inneren Widerstand auf. »Allerdings muss ich sie noch auf eine weitere Gefahr hinweisen!« Überrascht und abwartend blickten Roger und die anderen den Hauptkommissar an. »Der Mann, dem die Villa gehört, ist für uns kein unbeschriebenes Blatt.« »Inwiefern?«, fragte Roger mit einem unguten Gefühl. »Er ist ein bekannter Waffenschieber und dementsprechend gefährlich. Sie werden sich also auch noch mit einigen schießwütigen Gangstern herumschlagen müssen, wenn sie Pech haben«, antwortete Kofler. »Mist!«, zischte Morton.
Er sprach damit allen Anwesenden aus der Seele …
* Die Schädelkrone! Voller Ehrfurcht starrte Loupes auf das unheilige Symbol der Macht. Er hatte schon oft von diesem Moment geträumt, doch die Realität war noch berauschender, als er jemals vermutet hätte. Er glaubte, förmlich die Energie zu spüren, die durch den uralten Schädelknochen floss. Fast zärtlich griff er nach der Krone und hob sie von ihrem Sockel. Die beiden anderen Werwölfe beobachteten ihn dabei mit funkelnden Augen. Auch sie spürten die Kraft der Schädelkrone. Gewaltsam musste sich Loupes von dem Anblick losreißen. Noch durfte er sich seinen Träumereien nicht hingeben. Erst musste er den Schatz in Sicherheit bringen. Rasch verstaute er die Schädelkrone in einen speziell angefertigten, kleinen Koffer. Mantelli hatte ihn benutzt, um seinen wertvollsten Besitz jederzeit bei sich zu haben. Nun diente der Koffer dem neuen Besitzer der machtvollen Reliquie. Loupes reichte den Koffer einem seiner Diener. Dieser würde ihn mit seinem Leben verteidigen. Schweigend hatte Mantelli der Szene beigewohnt. Als sich Loupes Blick jedoch wieder auf ihn richtete, zuckte der Waffenhändler wie ein ertappter Sünder zusammen. Der eiskalte Blick der Kreatur ging ihm durch und durch. »Was habt ihr mit mir vor?«, fragte er mit leiser Stimme. »Auch du wirst für deinen Frevel bezahlen!«, erwiderte Loupes und gab Draschkin ein Zeichen. Wie bei dem Antiquitätenhändler zögerte der riesige Werwolf
auch diesmal keinen Augenblick. Er hatte einen mörderischen Befehl erhalten und führte ihn aus – schnell und gründlich. Gierig sauste das aufgerissene Maul der Bestie auf sein Opfer zu. Mantelli zuckte noch zur Seite, doch auch diese Reaktion konnte ihn nicht retten. Als es vorbei war, richtete sich die Bestie wieder auf. Das Fell des Werwolfs war blutrot gefärbt. Loupes nickte zufrieden. Auch Mantelli hatte seine Strafe erhalten. Er hatte die Macht der Werwölfe unterschätzt und dafür einen hohen Preis bezahlt. Und schon bald würden unzählige Menschen sein Schicksal teilen. Loupes wandte sich ab und ging aus dem Raum. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Alles Weitere würde an einem anderen Ort stattfinden – dem Ort ihres Ursprungs! Wie der König, der er bald sein würde, schritt Loupes die gewundene Treppe hinab. Niemand hielt ihn dabei auf. Er und seine Diener hatten jeden aus dem Weg geräumt, der ihnen gefährlich werden könnte. Seine anderen Kreaturen hielten sich noch immer draußen auf. Er hatte es so gewollt. Jedes Risiko sollte im Keim erstickt werden. Loupes hatte das Ende der langen Treppe gerade erreicht, als er eine huschende Bewegung ausmachte. Er wirbelte herum. Das rettete ihm das Leben – doch er zahlte dafür einen hohen Preis …
* Geduckt lief Roger auf das prächtige Gebäude zu. Er bemühte sich, die gesamte Umgebung zu erfassen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wie er zugeben musste. Seine rechte Hand umklammerte die Mauser mit den silbernen
Kugeln. Nur mit der Waffe konnte er sich effektiv verteidigen. Ansonsten war den höllischen Geschöpfen, die er bekämpfte, kaum beizukommen. Tanja hatte den Vorschlag gemacht, das Anwesen von zwei Seiten gleichzeitig zu stürmen. Getrennt vorgehen, gemeinsam zuschlagen – so lautete die Devise! Ob sie zum Erfolg führen würde, stand dagegen auf einem ganz anderen Blatt. Raku hatte sich der FSB‐Agentin angeschlossen. Roger war das mehr als recht gewesen. Er konnte auf sich alleine aufpassen. Zudem wäre er vor Angst beinahe umgekommen, wenn Tanja Marenkov alleine losgezogen wäre. Seine Gefühle für die junge Russin nahmen mit jeder Minute an Intensität zu. Er hatte sich tatsächlich in die attraktive Frau verliebt. Denk nicht weiter darüber nach!, befahl er sich. Konzentriere dich auf deine Aufgabe! Als er die ersten Toten sah, wallte Übelkeit in ihm auf. Hastig wandte sich Morton ab und huschte auf die zerstörte Eingangstür zu. Nur noch Splitter hingen an den Angeln. Vorsichtig glitt Roger in das Innere des Gebäudes – und entdeckte die drei Werwölfe. Doch er hatte nur Augen für eine der drei Kreaturen. »Loupes!«, schrie er. Noch bevor einer der Werwölfe reagieren konnte, gab Roger einen gezielten Schuss ab. Nur haarscharf sauste die geweihte Silberkugel an Loupes mächtigen Schädel vorbei. Dafür traf sie einen seiner Diener und vernichtete ihn auf der Stelle. Bei ihm handelte es sich um den Werwolf, dem Loupes die Schädelkrone anvertraut hatte. Die Wucht des Treffers schleuderte die Bestie gegen das Geländer und riss ihr den Koffer aus den kraftlosen Klauen. Mit einem
dumpfen Laut schlug er auf den Boden auf, während die Kreatur zusammensackte. Sofort darauf setzte die Verwandlung in eine menschliches Wesen ein. Loupes stieß einen gepeinigten Schrei aus. Sein Überlebensinstinkt hinderte ihn allerdings daran, sich dem Koffer auch nur zu nähern. Erst musste er seinen Feind ausschalten. Morton zerbiss einen Fluch und feuerte erneut. Die Werwölfe reagierten jedoch blitzschnell, hechteten zur Seite und jagten mit langen Sätzen davon. »Nein!« Roger folgte den beiden Bestien so schnell er konnte. Ein langer Flur nahm ihn auf, der zur Rückseite der Villa führte. Ohne auf seine eigene Sicherheit bedacht zu sein, stürmte Morton weiter vor. Er wollte seinen Todfeind kein weiteres Mal entkommen lassen. Loupes sollte sein Ende finden – jetzt und hier!
* Nach allen Seiten sichernd arbeiteten sich Tanja und Raku langsam vor. Die FSB‐Agentin vertraute dabei auf ihre Pistole, während ihr asiatischer Partner seinen Säbel schlagbereit in den Händen hielt. Auf diese Weise fühlten sie sich allen Gefahren gewappnet. Tanja wollte sich gerade ihrem Partner zuwenden, als eine dunkle Gestalt hinter einem der zahlreichen Bäume hervorsprang. Es war einer der Leibwächter, der ohne jede Warnung mit seiner MPi das Feuer eröffnete. Tanja und Raku sprangen auseinander, während dicht über ihnen eine tödliche Garbe hinwegfegte. Das abstoßende Geräusch der Einschläge erschütterte sie zutiefst. Die Geschosse hätten sie zerfetzt, wenn sie nicht schnell genug reagiert hätten.
Bevor der Mann einen zweiten Feuerstoß abgeben konnte, handelte Tanja. Dumpf bellte die Mauser in ihrer Hand auf. Die Kugel schlug in die rechte Schulter des Mannes und warf ihn zu Boden. Stöhnend blieb er liegen. Eine Gefahr stellte er dennoch dar, solange er seine Waffe hatte. Mit schnellen Schritten, aber dennoch vorsichtig, näherten sich Tanja und Raku ihrem unbekannten Gegner. Ihre Vorsicht war jedoch unbegründet. Der Treffer hatte den Leibwächter außer Gefecht gesetzt. Der Mann hatte durch den Schock die Besinnung verloren. Raku nahm die Maschinenpistole an sich und warf sie in die Büsche. Der Wächter würde auf dies Weise keine Gefahr mehr darstellen. Und gegen die Werwölfe hätte ihm die Waffe sowieso nichts genützt. Entschlossen strebten sie weiter dem riesigen Gebäude entgegen. Ihre Wachsamkeit hatte noch zugenommen. Der Zwischenfall mit dem Leibwächter hatte ihnen als Überraschung gereicht. Dennoch wurden sie von dem Angriff ihrer eigentlichen Feinde überrumpelt. Wie aus dem Nichts schossen drei Werwölfe auf sie zu! Die FSB‐Agentin sah einen der dunklen Schatten vor sich aufragen – nur das Aufblitzen der bernsteinfarbenen Augen zeigte ihr, dass sie eine der Bestien vor sich hatte – und feuerte! Ohne einen weiteren Gedanken an die Kreatur zu verschwenden, wirbelte Tanja herum, um ihrem Partner beizustehen. Da erwischte sie ein Prankenhieb. Leblos fiel sie zu Boden …
*
Rakus Herzschlag setzte für einen Moment aus, als er sah, wie die Agentin von dem wuchtigen Schlag getroffen wurde. Er hatte seinen Gegner mit einem harten Fußtritt erwischt und sich auf diese Weise ein wenig Luft verschafft. Erledigt war das monströse Geschöpf allerdings nicht. Dazu musste man ihm schon den widerlichen Schädel abschlagen. Raku stürmte auf den Werwolf zu, der seine Partnerin niedergeschlagen hatte. Er stieß einen lauten Kampfschrei aus und ließ das Schwert hinabzischen! Blitzschnell tauchte die Bestie unter dem Schlag weg und ging zum Gegenangriff über. Eine der mörderischen Klauen des Werwolfs schnellte auf den Asiaten zu. Raku warf sich zur Seite, rollte ab und wandte sich erneut der Höllenkreatur zu. Heftig atmend fixierte er seinen unheimlichen Gegner. Auch die Bestie hielt sich zurück. Sie wusste, dass ihr das Schwert durchaus gefährlich werden konnte. Aus den Augenwinkeln sah Raku plötzlich einen Schatten auf sich zuschnellen. Er hatte den anderen Werwolf vergessen! Der Asiate wirbelte herum und schlug ansatzlos zu. Die Bestie wurde noch im Sprung von dem Krummschwert erwischt und geköpft. Der dritte Werwolf nutzte die Chance, sprang seinem Gegner entgegen und schlug zu. Er wollte Raku mit einem einzigen Hieb aus dem Weg räumen. Dieser ahnte die Gefahr mehr, als das er sie sah. Wie von selbst ruckte sein Körper zur Seite. Trotzdem wurde er von dem harten Prankenhieb erwischt. Die Wucht des Treffers fegte ihn von den Beinen. Hart schlug er auf den Rasen und blieb hilflos liegen. Der Schlag hatte ihn regelrecht paralysiert. Das Schwert entglitt seinen kraftlosen Händen. Er
konnte nichts dagegen tun. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Panik schoss wie eine lodernde Flamme in ihm hoch! Bedrohlich starrte der Werwolf auf Raku hinab. Im nächsten Augenblick wandte er sich ab und schritt auf Tanja Marenkov zu. Die junge Frau sollte sein erstes Opfer werden …
* Loupes jagte mit langen Sätzen aus dem Gebäude. Heiße Wut loderte in ihm. Er hatte die Schädelkrone schon in seinen Klauen gehalten und gleich darauf wieder verloren. Der Verlust machte ihn fast wahnsinnig! Draschkin, sein treuester Diener, folgte ihm dichtauf. Er wäre für seinen Herrn und Gebieter durch die Hölle gegangen. In diesem Augenblick war er jedoch genauso hilflos wie sein Befreier. Loupes Gedanken rasten, bewegten sich jedoch im Kreis. Was sollte er jetzt tun? Flucht war die einzige Möglichkeit, die ihm und seine Kreaturen jetzt noch blieb. Er hatte viel gewagt und verloren. Er würde sich zurückziehen und seine Wunden lecken. Anschließend würde er seine weitere Vorgehensweise bedenken. Doch hier und jetzt stand er auf verlorenem Posten. Nur mit Glück war er Mortons Kugel entkommen. Sein Todfeind hatte erneut seine Gefährlichkeit bewiesen. Er hatte es sogar geschafft, den größten Teil des Draschkin‐Clans auszulöschen. Da entdeckte Loupes einen seiner Diener, der sich auf ein Opfer stürzen wollte. Es handelte sich um eine junge Frau mit blonden Haaren, die ihm bekannt vorkam. »Warte!«, befahl er der Kreatur mit lauter Stimme. Sofort zuckte der Werwolf zurück. Die Stimme seines Herrn war
für ihn Gesetz. Von Nahem erkannte Loupes Tanja Marenkov sofort. Sie war die Frau, die in Sibirien den Geländewagen gefahren hatte – eine Verbündete von Roger Morton. »Wir nehmen Sie mit!«, entschied er spontan und rannte wieder los. Die beiden verbliebenen Werwölfe folgten ihm. Eine der Kreaturen hatte sich die bewusstlose FSB‐Agentin über die Schulter geworfen. Loupes Ziel war der Hubschrauber. Als sie die Maschine erreichten, nahm Loupes menschliche Gestalt an. Auf diese Weise würde er besser mit dem Helikopter zurecht kommen. Schnell bestiegen die Kreaturen das Fluggerät. Der Hubschrauber war vollkommen einsatzbereit. Wahrscheinlich hatte man ihn automatisch für einen Flug vorbereitet, als der Alarm ausgelöst worden war. Brüllend erwachte die Maschine zum Leben, die Rotoren setzten sich in Bewegung. Das Vibrieren des Helikopters war Loupes mehr als vertraut. In einem früheren Leben war er oft mit dem Hubschrauber geflogen. »Schließ die Tür!«, wandte sich Loupes an einen seiner Diener. Bereitwillig kam der Werwolf der Aufforderung nach und griff mit seinen Pranken nach der Schiebetür, als ein huschender Schatten auf die Maschine zujagte. Roger Morton!
* Roger preschte durch den parkähnlichen Garten. Er spürte, dass er
Loupes noch immer auf der Spur war. Spürte es mit der Gewissheit eines erfahrenen Jägers. Tief hängende Zweige peitschten ihm durchs Gesicht. Er ignorierte den Schmerz einfach. Alles, was ihn interessierte, waren die Werwölfe. Besonders einer von ihnen! Als er die beiden nackten Leichen sah, hielt er inne. Eine von ihnen war geköpft worden. Er wusste sofort, was das bedeutete. Einen Augenblick später entdeckte er Raku. Mit zwei schnellen Schritten war Roger bei seinem Kampfgefährten. Er rechnete mit dem Schlimmsten – doch Raku lebte! »Bist du okay?«, fragte Roger besorgt, während er neben seinem Freund in die Knie ging. »Ja«, antwortete Raku mühsam und versuchte, sich auf die Beine zu quälen. Blut bedeckte sein Gesicht. »Sie haben Tanja!« Rogers Herzschlag setzte einen Schlag aus. Nein! Alles in ihm begehrte gegen diese Nachricht auf. Es konnte – durfte – nicht sein. Nicht auch noch Tanja. »Wo sind sie hin?«, schrie er Raku an. »In diese Richtung«, erwiderte sein Freund und deutete den Werwölfen hinterher. Roger Morton zögerte keine weitere Sekunde. Mit langen Sätzen nahm er die Verfolgung auf. Loupes sollte seine Liebe kein weiteres Mal vernichten. Nicht, wenn er es verhindern konnte. Als er das unverkennbare Geräusch eines startenden Hubschraubers hörte, wusste er Bescheid. Loupes wollte mit seinen verbliebenen Kreaturen das Weite suchen. Anscheinend rechnete er
sich keine guten Chancen bei einem Kampf aus. Roger verdoppelte seine Anstrengungen. Und er schaffte es. Er erreichte die Maschine, bevor sie sich in die Lüfte erheben konnte. Als er den Werwolf erblickte, der die Tür schließen wollte, handelte er automatisch. Blitzschnell riss er die Mauser hoch, zielte einen Moment und drückte ab. Der Werwolf wurde voll erwischt. Wie ein Sack Lumpen stürzte er aus der Maschine und blieb reglos liegen. Zu einem weiteren Schuss kam Roger nicht. Hilflos musste er mit ansehen, wie der Hubschrauber in die Höhe schoss und davonflog. Kurz spielte er mit dem Gedanken, auf die Maschine zu schießen, doch dann nahm er Abstand davon. Bei einem Absturz würde auch Tanja ums Leben kommen. Nur wenige Augenblicke später war die Maschine verschwunden. Fast schien es so, als hätte die Nacht sie verschluckt. Hilflos blickte Roger zu Boden. Sein ganz persönlicher Albtraum wiederholte sich. Und der Schmerz war diesmal noch größer. Er hatte verloren …
* »Die Fahndung nach dem Hubschrauber läuft bereits!«, sagte Kofler, um Roger ein wenig Hoffnung zu machen. Müde nickte Morton. Er glaubte nicht an einen Erfolg. Er kannte Loupes dafür zu gut. Sein Todfeind hatte schon längst das Weite gesucht. Die Polizei hatte das gesamte Anwesen des toten Waffenschiebers abgeriegelt. SEK‐Einheiten durchsuchten jeden Winkel der Villa und des Gartens. Ob sie etwas Brauchbares fanden, war jedoch mehr als fraglich.
Erschöpft schritt Kofler auf seinen Freund zu. Eine junge Ärztin hatte den Asiaten versorgt. Ein schneeweißer Verband zierte seinen Kopf wie ein Turban. Raku deutete auf den Koffer, den Morton an sich genommen hatte, nachdem er die Flucht seines Todfeindes nicht hatte verhindern können. Der Hauptkommissar war damit einverstanden gewesen. Er hatte dafür sowieso keine Verwendung. »Was glaubst du, ist in dem Koffer?«, fragte Raku. »Keine Ahnung!«, gestand Roger ein. »Aber wir werden es gleich wissen.« Er ahnte, das es etwas sehr Wertvolles war – jedenfalls für Loupes – und das war der einzige Trumpf, den sie jetzt noch hatten. Ohne weiteres Zögern öffnete Morton den Koffer. Überrascht starrte er auf den Inhalt. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber er wusste nun, was sein Todfeind vorhatte. »Sie ist es, nicht?«, fragte Raku. »Ja«, bestätigte Roger. »Die Schädelkrone!« In den alten Chroniken seiner Familie hatte er eine Abbildung der Krone gesehen. Sie war das Symbol der Werwölfe. Ihre mächtigste Waffe. Und nun war sie in seinem Besitz! »Der Schädel des Urwolfs!«, flüsterte Raku ehrfurchtsvoll. Auch Roger spürte die starke Aura, die von der unheiligen Reliquie ausging. Es war ein Fluidum, das man mit Worten nicht beschreiben konnte. Machtvoll und abstoßend zugleich. Doch das alles interessierte Roger nur am Rande. Die Schädelkrone war das Symbol einer schrecklichen Dynastie, die nach der Herrschaft gierte. Ein Zeichen des Bösen. Am liebsten hätte er sie zerstört, aber er konnte es nicht. Er ahnte,
was Loupes mit Tanjas Entführung bezweckte. Er würde einen Tausch vorschlagen. Tanja gegen die Schädelkrone! Der Kampf war noch nicht entschieden … Fortsetzung folgt