Im Reich der Tausend von Ronald M. Hahn Mai 2518, irgendwo am Polarkreis Die Nacht neigte sich dem Ende zu, als die drei schneeweißen Kettenfahrzeuge auf dem Gipfel des Hügels verharrten, den sie gerade erklommen hatten. Vor ihnen in der endlosen weißen Einöde lag ein Talkessel, dessen Ausdehnung aufgrund der Witterung nicht auszumachen war. Etwa hundert Meter vom Fuß des Hügels entfernt ragte etwas in die Höhe, von dem man mit etwas Fantasie und scharfen Augen eine Kastenform erkennen konnte. Fantasie deshalb, weil der besagte Gegenstand unter einer Schneedecke begraben lag. »Zielpeilung positiv«, sagte eine müde Stimme im Heck des ersten Fahrzeugs. »Identifikation eindeutig. Kennung angefragt, Bestätigung erhalten.«
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet -Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... WAS BISHER GESCHAH Der Wettlauf zum Kometenkrater, wo sich laut der ISS-Daten vielfältiges Leben entwickelt haben soll, hat begonnen! Doch Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko sind nicht die Einzigen, die sich auf den Weg machen! Der sogenannte Weltrat (WCA) ist der Nachfolger der US-Regierung. Doch Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow setzen ihre Ziele unerbittlich durch, indem sie barbarische Völker unterstützen, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCAExpedition, begleitet von Professor Dr. Jacob Smythe, der mit Matt Drax aus der Vergangenheit kam, wahnsinnig wurde und Allmachtsfantasien entwickelte. Auch Matts Freund, der Barbarenhäuptling Pieroo hat sich aus finanziellen Gründen dem Unternehmen angeschlossen. Die zweite Fraktion, die ebenfalls von Washington aus aufbricht, ist eine Rebellengruppe namens Running Men, die gegen den Weltrat kämpft. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Mit dabei sind u.a. Philipp Hollyday, der eine Gedächtnis-Kopie Professor Dave McKenzies in sich trägt, eines alten Kameraden von Matthew Drax, und Merlin Roots, der früher als WCA-Agent das Nordmann-Projekt in Skandinavien leitete. Matt, Aruula und Aiko machen sich von Los Angeles aus mit Magnetgleitern auf den Weg. Durch ein Experiment hat Aruula ihre telepathischen Kräfte eingebüßt - was bei den Gefahren, denen sich die Gruppe stellen muss, nicht hilfreich ist. Erst geraten sie in ein »Sanatorium der Cyborgs«, dann treffen sie im versunkenen San Francisco auf Menschen und Hydriten, die eine neue Spezies entstehen lassen: die Mendriten, die mit ihren mentalen Kräften eine Büchse der Pandora öffnen. In Portland versagen wegen der Nähe zum magnetischen Pol die Gleiter. Man will ein Schiff zur Eisgrenze chartern - und gerät in eine abenteuerliche Jagd nach mutierten Maulwürfen, die Portland heimsuchen und die Freunde beinahe das Leben kosten. Indem sie den Jägern beistehen, sichern sich Matt, Aiko und Aruula die Überfahrt...
Der Mann, der diese Worte sprach, saß vor einem Monitor, der in die Rückenlehne seines Vordermannes integriert war. Die Tastatur, die er mit flinken Fingern bediente, war aus der Lehne herausgeklappt und zeigte Zahlenkolonnen und Myriaden von Störungsblitzen an, so dass es ein Wunder war, dass er die Anzeigen überhaupt entziffern konnte. Er hatte den Satz kaum beendet, als der Monitor leise zu knistern anfing. Der Mann fluchte unwirsch und schaltete ihn hastig aus. »Ortung ausgefallen«, meldete er so lakonisch, als ginge es um die normalste Sache der Welt. »Ich glaub, diesmal ist die Scheißkiste endgültig abgeschmiert, Kevin.« Die sechs restlichen Insassen des Kettenfahrzeugs stießen ein kollektives Stöhnen aus. Der Mann namens Kevin - er saß neben der Fahrerin -, drehte sich um, zupfte an seinem ergrauten Kinnbart und aktivierte sein Headset-Mikro. Er war Anfang vierzig und wirkte ebenso hohlwangig und übernächtigt wie die anderen, doch in seinen grauen Augen flakkerte Leben. »Frank?« 2
»An der Strippe«, meldete sich eine Stimme aus dem zweiten Panzer. »Oktay?« Ein Gähnen. Dann: »Stets zu Diensten.« Kevin schmunzelte. »Alle mal herhören«, sagte er dann. »Wir haben jetzt die Bestätigung, dass es sich um die Kiste der...«, er hüstelte spöttisch, »... Deserteure handelt. Tom und ich steigen aus und schauen sie uns an. Ihr haltet die Augen offen und rührt euch nicht von der Stelle, verstanden?« »Verstanden«, erwiderten zwei Stimmen über sein Headset. Kevin seufzte. »Tja, dann wollen wir mal.« Er nahm die Pelzkappe, die auf seinen Knien lag, zog sie sich über die Ohren und nickte der Frau am Steuer des Panzerfahrzeugs zu. »Vanessa?« Die Frau, eine schlanke Blondine mit intelligenten Augen und einem ansehnlichen Busen, nickte zurück und betätigte einen Knopf. Gleich darauf klickte und zischte es im Inneren des Fahrzeugs. An der rechten Seite öffnete sich eine Luke. Eiseskälte strömte zu ihnen hinein. Die Besatzung schützte sich mit Pelzkappen und Handschuhen und wagte sich ins Freie. Die in ihre Thermoanzüge integrierten Sensoren maßen in Sekundenschnelle die Außentemperatur und stellten sich darauf ein. Die Gesichter konnten die Anzüge freilich nicht schützen, so dass die sieben Gestalten, die kurz darauf durch den knirschenden Schnee den Abhang hinab schritten und sich dem rechteckigen Hügel näherten, die Kälte trotzdem unangenehm spürten. Kevin umrundete den Schneehügel, dessen Form in etwa der ihres eigenen Fahrzeugs entsprach. Er nickte seinen Begleitern zu, woraufhin diese in den Schnee griffen und ihn von den Seitenwänden kratzten. Kurze Zeit später stieß die Panzerfahrerin auf Metall, und die Truppe legte sich noch mehr ins Zeug. Der Mann, der vor dem Monitor gesessen hatte, ein hagerer Bursche mit asiatischen Zügen, fand den äußeren Öffnungsmechanismus. »Völlig vereist«, sagte er zu Kevin. »Macht die Kiste auf«, erwiderte der. Er trat neben Tom. In seiner Hand blitzte eine Taschenlampe auf. Der Lichtkegel erfasste den Mechanismus. Dann trat die Fahrerin - Vanessa - mit einer Sprühdose vor. Mit kurzem Zischen verteilte sie das Spray. Das Eis schmolz rasend schnell dahin. Sie zog einen Handschuh aus, griff in die eine Tasche des Thermoanzugs, entnahm ihr einen elektronischen Schlüssel und schob ihn in den enteisten Schlitz. Es piepste mehrmals, dann öffnete sich knirschend die Tür des unter dem Schnee verborgenen Panzers. Aasgeruch schlug ihnen entgegen. Vanessa wich würgend zurück. Tom sprang zur Seite und kotzte in den Schnee. Kevin fluchte leise, bahnte sich einen Weg an die geöffnete Luke und leuchtete in den Panzer hinein. Er hätte die Lampe nicht mal gebraucht. Der ätzende Gestank sagte ihm alles. Seine restlichen Gefährten versammelten sich hinter ihm und riskierten einen Blick. Auch sie musste sich zusammenreißen, als der Lichtstrahl über die in der Kälte erstarrten Leichen hinweghuschte. Es war der schrecklichste Anblick ihres Lebens, und er erbitterte und erzürnte sie über alle Maßen. Außerdem bestärkte er Kevin in seinem Verdacht. Wir sind in dieser Gegend nicht allein ...An der alten Geschichte ist also doch was dran... »Wer kann das getan haben?«, fragte Vanessa aus der Dunkelheit heraus. »Woran sind 3
sie gestorben?« Der Lichtstrahl wanderte über die Leichen hinweg zur anderen' Seite des kalten, toten Fahrzeugs. Nun fiel Kevin auf, dass die gegenüberliegende Wand ein Loch aufwies. Es war groß genug, um aus dem Fahrzeug auszusteigen. Seine Ränder waren gezackt, so dass er einen Granatwerfer oder eine Panzerfaust vermutete. Aber solche Waffen gab es doch längst nicht mehr... Er kannte sie nur aus alten Büchern. »Legenden haben meist einen wahren Kern«, sagte Tom und wischte sich den Mund ab. »Warum nicht auch diese?« Kevin wiegte den Kopf. Er hielt eigentlich nichts von Legenden. Er hatte sämtliche in der Camp -Bibliothek vorhandenen Bücher gelesen und wusste, dass die meisten Dinge, von denen sie handelten, nur erfunden waren. Professionelle Lügner hatten sie sich ausgedacht, weil ihnen die Wirklichkeit zu schal war. Und andere, die ebenso dachten, hatten sich an ihren Spinnereien erfreut. »Das Reich der Tausend meinst du?« In seiner Stimme schwang große Skepsis mit. Die Panzerfahrerin nickte. »Nach allem, was wir aus den alten Unterlagen wissen, musste es irgendwo in diesem Gebiet liegen. Hier war früher mal eine große Stadt. Vancouver. Laut den Akten gab es kurz nach der Katastrophe noch Kontakte mit dieser Region...« Kevin zupfte nachdenklich an seinem grauen Backenbart. Na schön, dachte er. Wir alle brauchen etwas, woran wir glauben können. Welchen Sinn hätte es sonst gehabt, mich eurem Vorhaben anzuschließen und mich so weit vom Camp zu entfernen, in dem wir mindestens noch zwei oder drei Jahre hätten überleben können? »Wenn dieser Bunker wirklich noch existiert und bewohnt wird«, sagte er mit müder Stimme, »lässt unser Fund nur einen Schluss zu.« Er leuchtete noch einmal in den Panzer hinein, damit auch seine Kameraden sahen, dass irgendetwas ihn aufgesprengt hatte. »Wer immer hier lebt, hat schwere Waffen.« Auch seine Gefährten erblickten nun den Schaden. Sie schnappten erschreckt nach Luft. »Und außerdem«, fügte Tom hinzu und schaute in die Ferne, in der die Finsternis nun einem trüben Tag Platz machte, »kann er nicht weit entfernt sein.« Die anderen wandten sich um und folgten dem Blick seiner asiatischen Augen. Und tatsächlich: Im grauen Dunst auf der anderen Seite des verschneiten Talkessels ragten die verrotteten Türme einer Stadt in den Himmel. * »Dosornyj Nikolaai! Aufgewacht!« Die Mark und Bein durchdringende Stimme des Einsatzoffiziers riss Nikolaai aus einem Traum, in dem er mit einer hübschen Podrugaauf einer Plastmatratze gerade erregende Leibesübungen machte. Dies war auch der Grund, warum sein Kopf beim Erwachen so rot war, als hätte man ihn mit der Hand im Zuckertopf erwischt. Nikolaai fuhr hurtig von seinem harten Lager auf und stieß sich den Kopf an der Unterseite des oberen Bettes. »Zu Befehl, Tovarisch Lejtenant!«, schrie er. Die Tür zum Schlafsaal des Wachlokals knallte schon zu, und der Einsatzoffizier suchte das Weite. Rings um Nikolaai her ächzten, seufzten und fluchten die Soldaten seiner Schicht. Der Späher Aljooscha, der über Nikolaai zu schlafen versuchte, schaute aus verquollenen Augen zur Tür und rief: »Jobtjovomath!« Ja, so waren sie, die Soldaten im Reiche Fjodoors des Gütigen: hart, aber ungerecht. 4
Ohne Kultur. Mit Ausnahmen. Nikolaai war da anders. Er hatte Interessen. Er dachte nach. Er sprach gern mit den verdienten Gelehrten, wenn sie sich, was leider nur selten vorkam, dazu herabließen, das Wort an einen Limonka wie ihn zu richten. Dass er Interessen hatte und gern überlegte, musste einen Grund haben. Nikolaai hatte sich eine Theorie zurechtgelegt: Er war vermu tlich der illegitime Spross eines Gelehrten. Denn nur die Gelehrten hatten Interessen und dachten über Dinge nach. Zum Beispiel über Dinge, die es gar nicht gab: Kokakola, Twicks, Olwajs Ultra. Nikolaai stand auf, trat an die Waschschüssel und befolgte den Hygiene-Ukas. Das Wasser in der Kanne war arschkalt, aber es weckte einen Späher richtig auf. Nachdem Nikolaai sich angekleidet und gekämmt hatte, setzte er seine Pelzmütze auf und ging ins Kasino. Das lag, wie auch das Wachlokal, in U-l. Dort wurde er schon von einem harten Brotkanten, einem salzigen Süppchen und der ihm dienstgradmäßig zustehenden Großtasse Tee erwartet. Der Brotkanten schmeckte wie dröger Pappkarton, das Süppchen wie schon mal gegessen und der, Tee, wie sein Kampfgefährte Aljooscha sich auszudrücken beliebte, »wie Laternenpfahl ganz unten.« Auch die Arbeiter der Frühschicht waren schon auf den Beinen, ein rundes Hundert an der Zahl. Als Nikolaai in die grauen Gesichter der verhärmten Handwerker schaute, die in den Stadthaus-Etagen U-l bis U-10 in der Hydroponik, der Schnitzelklonerei, der Wiederverwertung, der Lufterzeugung und einem Dutzend wichtiger anderer Produktionsstätten ihrem Tagwerk nachgingen, überfiel ihn ein heftiges Gruselgefühl. Um keinen Preis der Welt wollte er mit den Menschen tauschen, die ihr ganzes Leben hinter den sicheren Wänden des Reiches verbrachten. Sie waren zwar immer geschützt, aber ihre Tage reihten sich in endlosem Einerlei aneinander. Er hingegen hatte als Späher im Dienste des Zaren das Privileg, in die Welt hinaus zu gehen und Abenteuer zu erleben. Draußen gab es unzählige Dinge, die es im Stadthaus nicht gab; Dinge, deren Bestimmung er nicht kannte; Dinge, bei deren Anblick er raten musste, wo bei ihnen oben und unten war. Nicht mal die verdienten Gelehrten wussten manchmal mit den Gegenständen etwas anzufangen, die Nikolaai und seine Tovarischi von ihren Streifzügen ins Reich mitbrachten. Zum Beispiel mit dem eigenartigen Metallbehälter voller vereister Gummitütchen, den er kürzlich im Keller eines Hauses abmontiert hatte. Ja, das Leben eines Spähers war abenteuerlich und aufregend, deswegen wollte Nikolaai es nicht missen. Aus diesem Grund nahm er es auch bereitwillig auf sich, um diese frühe Stunde schon aufzustehen, wenn die Herren Offiziere noch ruhten. Nur jene, die Schichtdienst machten, hatten allzeit bereit zu sein. Und natürlich die Späher, die, wie Nikolaai annahm, der ganze Stolz des Zaren waren. Als er mit dem Frühstück fertig war, begab er sich ins Wachlokal, wo der Einsatzoffizier sich Nikolaais Fingernägel anschaute und nachprüfte, ob er sich den Hals gewaschen hatte. Nikolaai wusste nicht genau, wieso saubere Fingernägel und ein gewaschener Hals für einen Späher wichtig waren, aber das Verfahren hatte Tradition: Viktoor, der allererste Zar, der über das Stadthaus geherrscht hatte, war laut Überlieferung ein sehr ordentlicher Mann gewesen, deswegen hatte man ihm auch den Beinamen »der Ordentliche« verliehen. Viele Vorschriften, die Zar Viktoor erlassen hatte, galten noch heute. Den Grund 5
dafür hatte Nikolaai in der Pöbelschule gelernt: »Lebt man in einem extremen Klima, ist die Befolgung von Regeln lebenswichtig!« Zwar konnte sich Nikolaai wenig unter einem extremen Klima vorstellen, da die zaristischen Späher nur zwischen kalt, sehr kalt und sehr, sehr kalt unterschieden, aber er vermutete, es hatte etwas mit den Schneestürmen zu tun, die die Welt regelmäßig heimsuchten. Um sie zu überleben, musste man sich schon an gewisse Regeln halten. Ebenso lebenswichtig war es, den Zaren zu lieben, der über das gewaltige, zehn Stockwerke und zehn Kelleretagen umfassende Reich herrschte, den Offizieren in jeder Hinsicht die Ehre zu erweisen und immer aufrichtig zu sein: Die siebente Schwester des Zaren war nämlich eine verdiente Foltermeisterin. Sie hatte eine Nadel. Stach sie die einem Menschen in den Arm, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Und wehe ihm, er hatte zuvor gelogen! Dann war er geliefert und diente der Zarenfamilie als Köder für die Weißen Brüller. »Jetzt die Ohren!«, befahl der Einsatzoffizier. Sein Name war Iwaan. Er war Lejtenant und einer der siebzehn illegitimen Enkel des Zaren. »Nu vot... nu vot... nu vot... eh, kak skasath...«, sagte Nikolaai und errötete vor Scham. Wie peinlich! Die Ohren hatte er heute vergessen. Aber sie schienen sauber zu sein, denn die Prüfung fiel positiv aus. Der Einsatzoffizier klopfte ihm kollegial auf die Schulter, wandte sich dem Eisenregal an der Wand zu und händigte Nikolaai die Dienstwaffe aus, eine zwanzigschüssige, ehemals silberne, nun leicht oxydierte Pistole der Marke Brünna. »Druschba, Tovarisch Nikolaai.« Nikolaai errötete vor Stolz und knallte die Hacken zusammen. »Druschba, Tovarisch Lejtenant!« Es kam nämlich nur sehr selten vor, dass ein Offizier, ein Mann von Adel, einen in seinen Augen gewöhnlichen Späher als »Genösse« bezeichnete. Gleich darauf führte Lejtenant Iwaan Nikolaai an die so genannte Schleuse - eine dicke eiserne Tür. Dahinter befand sich ein zehn Quadratmeter großer Raum, der wiederum an einer Eisentür endete. Iwaan blieb stehen, tippte lässig an seine räudige Pelzmütze und verabschiedete den jungen Mann mit den vorgeschriebenen zeremoniellen Worten. »Lass dich nicht von Taratzki ficken.« Wie gesagt, im Reich der Tausend hatten nicht alle Menschen Kultur. Und die Offiziere, die durch die Bank mit dem Herrscher verwandt waren, hatten die wenigste. »Der Zar steh mir bei«, murmelte Nikolaai. Auch dies waren zeremonielle Worte. Er zog sich die Pelzmütze über die Ohren, kuschelte sich in den warmen und flauschigen Dienstmantel aus dem weißen Fell eines Weißen Brüllers und trat mit der Laterne in der Hand in Finsternis und Mörderkälte hinaus. Das äußere Schleusentor war kaum hinter ihm zugefallen, als sich Nikolaai in Bewegung setzte. Der Ort, an dem er sich nun befand, lag unter der Oberfläche der Welt und hieß in der Altsprak »Harbour Ferry Dock«. Die Späher nannten ihn jedoch aus irgendeinem nicht überlieferten Grund »Baanhof«. Nikolaai wusste nicht, wozu ein Baanhof diente; für ihn sah er aus wie ein breiter Korridor, über dessen Boden vier rostige Eisenstangen verliefen. Linkerhand endeten sie nach hundert Metern vor einer glatten Wand an einem so genannten »Prellbok«, rechts verschwanden sie in einem dunklen Schacht. Als Nikolaai noch ein echter Limonka gewesen war - inzwischen lag das zweite Späherjahr hinter ihm, so dass er sich dieses Wort nicht mehr gefallen zu lassen brauchte -, wa6
ren er und einige andere Rekruten an der Seite des verdienten Gelehrten Stepaan zu einer Expedition in den Schacht aufgebrochen. In dem Schacht gab es aber außer kahlen Wänden überhaupt nichts zu sehen: Er verlief nur etwa viertausend Schritte unterirdisch, mü ndete in einen anderen Baanhof und endete kurz dahinter an einer Geröllhalde. Ging man hundert Schritte über den gefliesten Baanhofsboden, kam man an eine schneeverwehte Treppe. Wenn man in die Welt hinaus wollte, musste man die Treppe hinaufgehen. Oben angekommen, nahm man zuerst einen großen Haufen Menschenknochen wahr. Drehte man sich dann um, konnte man das Stadthaus und viele andere Häuser sehen, die aber kaputt waren, weshalb die verdienten Gelehrten des Reiches sie »Ruinen« nannten. Dort oben war alles voller Schnee, weil es in der Welt sehr oft schneite. Und es war kalt. Manchmal auch sehr kalt, besonders dann, wenn der frostige Wind durch die Häuserschluchten pfiff. An der untersten Treppenstufe löschte Nikolaai die Laterne und stellte sie auf den Boden. Aus der Welt fiel ein wenig Licht zu ihm herunter. Er ging hinauf. Als er die letzte Stufe hinter sich gebracht hatte, sah er leuchtende Pünktchen am Himmel. In der Pöbelschule hatte er gelernt, dass man sie »Sterne« nannte. Als er sich umdrehte, fegte ihm ein Wind ins Gesicht, der so kalt war, dass er seine - vermutlich - adelige Herkunft vergaß und das Wort ausspuckte, das die Späher des Zaren in unvorteilhaften Situationen am meisten verwendeten: »Bljath!« Rings um Nikolaai ragten, im Schneegestöber freilich nur schwach und verschwommen sichtbar, große und kleine Ruinen auf. Die kleinen Ruinen waren, wie er wusste, in der Ära vor der Herrschaft Viktoors ebenfalls groß gewesen. Nun waren sie klein, weil sie kaputt gegangen waren. Die hohen Ruinen waren zwar meist auch kaputt, aber nicht ganz. Eine große Ausnahme stellte das Stadthaus dar, in dem die Bürger des Reiches lebten. Seine Fenster waren aus unzerbrechlichem Glas und deswegen alle noch heil. Ging man um das Stadthaus herum, stieß man auf ein gigantisches zugemauertes Portal, über dem in Stein geschlagenen Buchstaben MERRIL BUILDING stand. Darunter in etwas kleinerer Schrift: ERBAUT 2010. Nikolaai hatte sich all dies oft angeschaut und sich gefragt, was die Ziffern bedeuteten. Lesen konnte er ganz gut; im Gegensatz zu dem faulen Aljooscha war er nämlich nicht nach der dritten Klasse von der Pöbels chule abgegangen, sondern hatte tapfer bis zur fünften ausgeharrt. Als Limonka hatte er einst Gelegenheit gehabt, den verdienten Gelehrten Stepaan nach der Bedeutung der rätselhaften Ziffern zu befragen und sich erkundigt, warum nur das Stadthaus mit so widerstandsfähigen Fenstern ausgerüstet war. Der Gelehrte hatte daraufhin von »Krug«, »Religjon« und Terristen« erzählt und von der Angst der Menschen vor Anschlägen. Damit sie sicherer vor diesen »Terristen« waren, hatten sie das Stadthaus gebaut; es sollte eine Festung sein. Dass Nikolaai die Worte des verdienten Gelehrten nicht verstanden hatte, war wohl darauf zurückzuführen, dass ihm das Wissen um die Zusammenhänge fehlte. Doch sein Interesse an diesen Dingen blieb ungebrochen. Ja, er interessierte sich, im Gegensatz zu seinen ehemaligen Klassenkameraden, wirklich für Dinge, die sonst keine Kakerlake interessierte - abgesehen natürlich von den Gelehrten und dem Zaren, der gütig über das Reich der Tausend herrschte. Brrrt... Brrrt... Brrrt... Nikolaai, der in Gedanken versunken dem vorgeschriebenen Kurs seiner täglichen Pa7
trouille folgte, zuckte zusammen. Was war das? Er duckte sich instinktiv, und sein scharfer Späherblick bemühte sich, das Schneegestöber zu durchdringen. Das merkwürdige Geräusch, das da urplötzlich an seine Ohren gedrungen war, verstummte. Nikolaai schaute sich um. Woher war es gekommen? Von da drüben? Er war sich ziemlich sicher, dass es aus der Straße gekommen war, die der zum Baanhof führenden Treppe schräg gegenüber lag. Unbekannte Geräusche, das hatte Lejtenant Iwaan ihm und den anderen Rekruten während der Ausbildung eingebläut, waren die Ursache vieler Übel. Andererseits erinnerte ihn das Geräusch an Motorengebrumm. Motoren gab es auch im Reich - zum Beispiel in den Hydroponikgärten, in denen das Gemüse heranwuchs, das reichlich bewässert werden musste, bevor es auf den Tisch kam. Die Motoren in den Hydroponikgärten, so wusste Nikolaai, erhitzten den Schnee, den man dort schmolz, und trieben die Pumpen an. Auch in der Energieversorgung - im Kristallraum - gab es brummende Motoren. Oder nannte man diese Dinger Generatoren? Motorengeräusche waren keine unbekannten Geräusche. Allerdings gab es Motoren nur im Reich. Oder? Hier, in der Welt, hatte Nikolaai noch nie Motoren brummen hören. In der Welt heulte und pfiff es eigentlich nur. Manchmal krachte es auch, zum Beispiel, wenn eine altersschwache Ruine zusammenfiel oder sich ein Putzbrocken von einer Wand löste. Er musste das Brummen demnach als verdächtig einstufen und der Sache nachgehen. Nikolaai pirschte geduckt an den Ruinenwänden entlang; sein Ziel war die Straße, die dem Baanhofseingang gegenüber lag. Es schneite heute ganz schön heftig, und das Pfeifen des Windes schien mit jedem Atemzug lauter zu werden. Da war bestimmt ein Schneesturm im Anmarsch, vielleicht sogar etwas Schlimmeres. Als Nikolaai die Straßenecke erreicht hatte, verharrte er und hielt den Atem an. Er lugte vorsichtig um die Ruine herum. Im gleichen Moment hörte er das Brrrt... Brrrt... Brrrt... schon wieder. »Bljath!«, entfuhr es ihm. Keine hundert Schritte von ihm entfernt, genau auf einer Straßenkreuzung schob sich ein merkwürdiger weißer Gegenstand durch den Schnee. Er war riesig und sah ungefähr so aus wie eine überdimensionale Badewanne. Natürlich war es unmöglich, die Maße des Dings aus der Ferne exakt zu bestimmen, aber Nikolaai vermutete, dass es mindestens drei Meter breit, zehn Meter lang und zweieinhalb Meter hoch war. Es bewegte sich auf rasselnden Ketten, wie das legendäre Snoo-Mobil im Reichsmuseum im Stockwerk O-l. Das Ding bewegte sich, wie Nikolaai nun ganz deutlich sah, aus eigener Kraft. Beeindruckend, wirklich. Und es hatte noch zwei Gefährten, wie Nikolaai feststellen musste. Die drei Snoo-Mobile - wenn es denn welche waren - überquerten gemächlich die Straßenkreuzung und fuhren weiter. Sie schlugen nun eine Route nach Süden ein, die parallel zu jener Straße verlief, in der das Stadthaus lag. Der Lärm ihrer Motoren - Nikolaai war sich nun ziemlich sicher, dass sie von Motoren angetrieben wurden -, verebbte allmählich. »Boshe moj«, murmelte Nikolaai vor sich hin, als die merkwürdigen Gefährte verschwunden waren. Ihr Brrrt... Brrrt... Brrrt... war kaum noch zu hören. Er fragte sich, was er nun tun sollte, und auf der Stelle fiel ihm der erste Leitsatz aus dem Späherunterricht ein: »Der Feind muss erkannt werden.« Also los! Trotz des immer schneidender werdenden Winds, der eindeutig einen Sturm 8
ankündigte, holte Nikolaai tief Luft, richtete sich auf und rannte, von dicken weißen Flokken umweht, in die Straße zur Kreuzung hinein. Dabei musste er vielen so genannten Autoowracks, verbogenen Laternenpfählen und Gesteinstrümmern ausweichen. Zum Glück jedoch kannte er in seinem 'Revier jede Erhebung, so dass er, als er die Kreuzung erreichte und in die Parallels traße nach Süden blickte, nicht nur die Kettenspuren der Snoo-Mobile sah, sondern auch sie selbst. Die merkwürdigen Fahrzeuge fuhren im Schritttempo hintereinander her, fast so, als hielten sie ganz gemächlich nach einem Platz Ausschau, an dem sie verharren konnten, um sich vor dem heraufziehenden Sturm zu schützen. Nikolaai eilte geduckt hinter ihnen her, wobei er zahlreiche Hauseingänge als Deckung nutzte. Drei Blocks weiter hielten die Snoo-Mobile mit laufenden Motoren an. Sie standen jetzt einer langen, auf wunderbare Weise erhalten gebliebenen Mauer gegenüber, in der sich ein Torbogen befand. Nikolaai wusste, dass sich hinter dem Tor ein großer Hof erstreckte. Er gehörte zu einem Haus, in dem sich - laut den Schulungsunterlagen der Späherausbildung - in der Finsteren Epoche der Demokratie die Bibloteek befunden hatte. Dort hatte man angeblich mehr Papier gehortet, als man an einem Tag verbrennen konnte, und das musste eine Menge gewesen sein. Viktoor der Ordentliche hatte sich aber nicht dafür interessiert und angeordnet, dass man es zum Feuermachen verwendete. Die Snoo-Mobile setzten ihren Weg fort. Zwei bogen durch das Tor auf das Gelände der Bibloteek ab. Das dritte fuhr weiter, nahm dann die erste Abzweigung nach links und bewegte sich mit rasselnden Ketten auf die Straße zu, in der sich das Stadthaus befand. Nikolaai beobachtete alle drei Fahrzeuge mit heftig klopfendem Herzen. Als sie verschwunden waren, eilte er zum Torbogen hin und reckte den Hals. Der Schnee fiel nun immer dichter. Das war gut, denn so bemerkten ihn die Gestalten nicht, die aus den SnooMobilen stiegen und sich reckten. Nikolaais Blick saugte sich an ihnen fest. Die Fahrzeuge hatten am Ende des Hofes Halt gemacht und standen rechts neben dem türlosen, finster gähnenden Portal. Was hatten die Fremden vor? Das erste, was Nikolaai auffiel, war ihre grünbraune Kleidung. Außerdem trugen sie Pelzmützen und Handschuhe. Einige sahen aus wie die Menschen im Reich der Tausend, andere hatten seltsam schmale Augen. Obwohl sie gähnten und sehr müde und blass wirkten, waren sie nicht faul: Nachdem sie sich kurz umgeschaut hatten, holten sie allerlei Dinge aus den Fahrzeugen, und einige von ihnen verschwanden damit im Inneren der Ruine. Kurz darauf erblickte Nikolaai sie in den untersten Fensterhöhlen. Die einen schwangen durchsichtige Folien, die anderen merkwürdige Instrumente, die pausenlos Tack-tack-tack machten. Es dauerte nur wenige Minuten, dann hatten sie die Fensterhöhlen mit einer transparenten Folie abgedichtet. Zwei Fremdlinge nahmen sich das türlose Portal vor. Tack-tack-tack. Sie machten eine künstliche Tür, die man zur Seite schlagen konnte. »Bljath!«, sagte Nikolaai, als ihm einfiel, dass es noch immer galt, den Feind zu erkennen. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. Es waren Männer und Frauen, aber die Männer waren in der Überzahl. An ihren Gürteln hingen Schusswaffen. Dann bemühte Nikolaai sich, die Fremdlinge zu zählen, aber er musste bald aufgeben, weil sie ständig 9
unterwegs waren. Auf alle Fälle waren es mehr als zehn. Belauschen konnte er die Fremden auch nicht, denn sie unterhielten sich nur gedämpft. Schließlich trugen sie drei kleine Kästen an Handgriffen in die Bibloteek. Als alle verschwunden waren, nahm Nikolaai sich ein Herz und pirschte über den Hof zu den beiden Snoo-Mobilen. Als sein Blick auf das Heck des ersten fiel, durchfuhr ihn ein Schreck: Auf das Weiß war ein kleiner bunter Kasten gemalt, mit einem Vogel darin, der seine Schwingen ausbreitete. Nikolaai hatte schon von Vögeln gehört und auch schon einige Bilder gesehen. Sie lebten angeblich im Süden. Und von genau diesem Vogel hier hatte Lejtenant Iwaan im Späher-Unterricht gesprochen! Er hatte das Symbol an die Tafel gemalt als Warnung an alle Limonkas, ständig auf der Hut zu sein und nach diesem Vogel Ausschau zu halten. Weil es irgendeinen Zwischenfall gegeben hatte, vor einem Jahr, mit Leuten, die... Es fiel Nikolaai nicht mehr ein. Sein Herz hämmerte heftig, als er an dem Snoo-Mobil vorbei zum Portal der Bibloteek pirschte. Das Pfeifen des Windes und die klirrende Kälte waren schrecklich, aber irgendwann war er der künstlichen Tür nahe genug, um die Stimmen der Fremden zu hören. Sie sprachen Worte, die ihm völlig unbekannt waren, und zwei davon, die ihm sehr markant erschienen, merkte er sich. Redeten sie vielleicht in der Altsprak, in der Verständigungsmethode der Finsteren Epoche? Aber die hatte Viktoor der Ordentliche doch vor Urzeiten abgeschafft, weil sie zu schwierig gewesen war. Wenn es Menschen gab, die sich immer noch in dieser alten Sprache unterhielten ... Nikolaai empfand ein leichtes Schwindelgefühl. Dann stimmten die alten Legenden vielleicht doch! Dann waren die Geschichten aus der Überlieferung vielleicht gar keine Mythen! Existierte tatsächlich irgendwo da draußen in der Ödnis noch immer das schaurige Reich der Demokraten, dessen Bürger dem Zaren nicht Untertan waren? Nikolaai schüttelte sich bei dieser Vorstellung. Wie grauenhaft! Er musste Lejtenant Iwaan sofort Meldung erstatten! Was er in der Pöbelschule über die perfiden Demo kraten und ihre schurkigen Methoden gelernt hatte, jagte ihm Angst ein. Als er sich umschaute, fiel sein Blick erneut auf den Vogel, der auch den Bug des Snoo-Mobils zierte, und plötzlich war die Erinnerung an das, was vor einem Jahr geschehen war, wieder da. Lejtenant Iwaan war im Auftrag des Zaren mit einer erfahrenen Spähergruppe nach Norden gezogen, um zu beweisen, dass die Vermutung des verdienten Gelehrten Stepaan, dort existiere ein größeres Reich als das ihre, nur Humbug sein konnte. Einen Tagesmarsch vom Stadthaus entfernt war die Mannschaft auf ein Snoo-Mobil mit einem Vogel am Bug gestoßen. Die Besatzung hatte Iwaan und die seinen grundlos beschossen. Es war zu einem Feuergefecht gekommen, bei dem die Fremdlinge allesamt ums Leben gekommen waren. Das Fürstentum Yukonia, dachte Nikolaai erbleichend. Es ist also doch keine Legende. Sein Herz fing noch heftiger an zu schlagen, denn nun wurde ihm eins klar: Lejtenant Iwaan hatte eine Blutschuld auf sich geladen. Die Bürger des Reiches Yukonia waren gekommen, weil ihre Herzen nach Rache schrien. Wenn sie die Position des Reiches der Tausend entdeckten und von seinen ungeheuren Errungenschaften erfuhren, würden sie es unterwerfen. »Der Zar steh mir bei...«, murmelte Nikolaai. Dann zog er sich vorsichtig zurück, um seine Entdeckung zu melden. Und um Verstärkung zu holen. 10
Die von zahllosen Inseln durchzogene Meerenge, die Vancouver Island im Osten vom Festland trennte, war eine spiegelblanke Eisfläche. Als Commander Matthew Drax im Inneren des Eisseglers aus einem kurzen und unruhigen Schlaf erwachte, spürte er als erstes seine steifen Knochen. Er schaute sich um. Aruula hatte sich wie eine Katze auf dem hintersten der drei Sitze zusammengerollt. Sie atmete regelmäßig und schien, wie ihr Lächeln bezeugte, einen ähnlich schönen Traum zu haben wie er. Er hatte von einer romantischen nordischen Landschaft geträumt, den schneebedeckten Gipfeln der Berge, die den Alaska Highway säumten, den reißenden Flüssen, den endlosen Wäldern, den stets herbstlichen Farben des fantastischen Landes, das er 1999 als junger Spund mit einem Wohnmobil bereist hatte. All dies gab es nicht mehr. Alaska und Kanada lagen aufgrund der vor über fünfhundert Jahren erfolgten Polverschiebung unter einer dicken Schnee- und Eisdecke. In dieser Witterung waren die Bäume bis zum letzten Stamm verreckt. Die Flüsse waren nicht, wie früher im Winter, nur zugefroren, sondern völlig vereist. Die Tiere der Wildnis, sofern sie überhaupt überlebt hatten, waren in den Süden der Vereinigten Staaten emigriert. Eiskalte Stürme beherrschten nun das Land. Aiko Tsuyoshi, der den Segler mit dem stoischen Gleichmut eines Lebewesens steuerte, dessen bionische Gliedmaßen nie ermüdeten, deutete auf den Himmel. »Sieht nicht gut aus.« Matthew Drax nickte. Der Himmel war dunkelgrau. Schwere Schneewolken dräuten, wohin das Auge schaute. Große Flocken peitschten gegen das Cockpit des Fahrzeugs, dessen Rumpf Ähnlichkeit mit einem Segelflugzeug besaß. Das Heulen des Windes nahm zu. Von Westen her raste ein Sturm heran, der den Eissegler hin und wieder zur Seite schlittern ließ. »Wir brauchen einen Unterschlupf«, sagte Matt. »Vancouver ist nicht weit entfernt«, meinte Aiko nach einem Blick auf das Radargerät. »Dann nichts wie hin«, erwiderte Matt, »bevor uns der Sturm zerlegt.« Aikos bionische Hände bedienten die Steuerung mit der lässigen Eleganz eines Pianisten. Der Segler beschrieb eine ausgedehnte Kurve nach Osten und glitt, nun mit Rükkenwind, rasend schnell auf die an der ursprünglichen Küste liegende kanadische Stadt Vancouver zu. Aruula erwachte und reckte sich. Das Knirschen der Kufen wurde lauter. In der Ferne ragten, wie faule Zahnstummel, die Ruinen von Hochhäusern auf. Dass die ehemals schönste kanadische Stadt ein Trümmerfeld war, konnte man aus dieser Entfernung mit bloßem Auge nicht erkennen, deswegen hob Matt den Feldstecher an die Augen. Sein Blick wanderte über die Skyline, und in seiner Erinnerung regte sich so einiges, was er über die wichtigste am Pazifik gelegene Hafenstadt Kanadas wusste: Die nach dem britischen Captain George Vancouver benannten Stadt war nicht nur ein Handelszentrum gewesen. Hier hatte man auch Holz, Metall und Textilien verarbeitet und Nahrungsmittel produziert, und sie hatte auch eine Universität beherbergt. Vor fünfhundert Jahren war Va ncouver so bunt bevölkert gewesen wie New York: Italiener, Griechen, Portugiesen, Franzosen, Deutsche, eine halbe Million Asiaten, darunter zahlreiche Hongkong-Chinesen, Japaner, Inder, Pakistani, Vietnamesen... 11
Nun sah er nur die eingestürzten Dächer von Wolkenkratzern und finstere Fensterhöhlen. Die Küste raste ihnen entgegen. Aiko suchte eine bequeme Auffahrt. Seine verbesserten Augen sichteten eine sanft ansteigende Erhebung, und er lenkte den Eissegler der Kuppe entgegen. Auf der anderen Seite ragten überall Schneehügel auf, unter denen Matt Ruinen und Fahrzeugwracks vermutete. Er sah weder Mensch noch Tier. Die in Stein gehauenen und verrosteten Firmennamen auf den Hochhäusern waren kaum zu entziffern. Die seit Jahrhunderten durch die Stadt pfeifenden Stürme hatten Fenster und Türen aus den Gebäuden gerissen. Außerdem hatten die Generationen nach der KometenKatastrophe vermutlich jedes Stück Holz verheizt, das sie in die Finger bekamen. Als der Eissegler über eine endlos lange Bahn jagte, von der Matt annahm, dass es eine der früheren Hauptstraßen Vancouvers war, nahmen Wind und Schneefall dermaßen zu, dass sie hin und wieder vom Boden abhoben. Jetzt wurde es kritisch. Sie konnten sich eine Menge leisten, aber keine Havarie. Wenn der Segler ausfiel, sah die Lage übel aus - ungefähr wie die eines antiken Cowboys, dem mitten in der Wüste das Pferd verreckte. Das Außenthermometer zeigte fünfunddreißig Grad minus; Tendenz fallend. Aiko deutete mit dem Kinn nach rechts. »Da.« Rechts vor ihnen tat sich zwischen zwei relativ gut erhaltenen Häusern eine Einfahrt auf. Der Eissegler bog mit knirschenden Kufen ab. Dann betätigte Aiko die Bremse. Stählerne Greifer am Heck des Seglers krallten sich ins schneebedeckte Eis. Der Segler verlangsamte, bis man neben ihm hätte herlaufen können. Aiko steuerte ihn geschickt durch einen Torbogen in einen windgeschützten Innenhof und hielt an. »Gerettet.« Wirklich? dachte Matt. Er schaute hinaus. Der Innenhof war nicht sehr groß. Buckel im Schnee deuteten auf Bauschutt oder Autowracks hin. »Wir sollten die Umgebung erkunden«, hörte er sich sagen. Aiko entriegelte die Transparenzkuppel. Als der Eiswind zu ihnen hereinfuhr, schauderte Matt. Er hatte Kälte noch nie gemocht. Er hasste es, wenn steifgefrorene Finger bei jeder Berührung schmerzten. Und wenn die Gesichtsmuskeln so einfroren, dass man kaum verständlich reden konnte. Beste Voraussetzungen also für eine Tour quer über den neuen Nordpol... Aiko und Aruula schien die Kälte dagegen weitaus weniger auszumachen. Die Kälteresistenz seiner Gefährtin war wirklich erstaunlich. Ein typisches Kind dieser Zeit eben. Oder eine weitere Besonderheit des Volks der dreizehn Inseln, dem sie entstammte? Ihr außergewöhnlichstes Merkmal - die Gabe zu Lauschen - war seit Wochen erloschen, nach einem unglückseligen Experiment in Los Angeles.* Aruula litt sehr darunter. Matt hoffte, dass ihre telepathischen Kräfte bald zurückkehrten. »Kommt mit!«, rief sie jetzt. »Ich hab da vorhin was gesehen!« Sie stapften zur Einfahrt zurück und riskierten einen Blick auf das Häuser- und Ruinengewirr. »Seht ihr? Da vorn!«, brüllte Aruula gegen den Sturmwind an. Matt, der fröstelnd neben ihr stand, bemühte sich, den heftig fallenden Schnee mit Blikken zu durchdringen. Aruula streckte einen Arm aus und deutete auf ein Metallschild, das 12
vor einem verfallenen Gebäude aus dem Boden ragte. Matt glaubte die Stufen einer in die Erde führenden Treppe zu erkennen. SUBWAY stand auf dem Schild. »Das ist die Höhle, die ich meinte!«, rief Aruula. »Eine U-Bahn-Station!«, stellte Matt richtig. »Was ist das... eine U-Bahn-Station?« »Ein Tunnel, durch den ein Zug fährt. Wie die unterirdische Bahn, mit der wir in Waashton gefahren sind. Du liegst mit deiner Höhle gar nicht so falsch!« »Ah. Na also.« Aruula sah ihre beiden Begleiter an. »Gehen wir hinein? Da unten ist es bestimmt gemütlicher als hier oben!« Das Pfeifen des Windes nahm zu. Matt warf Aiko einen fragenden Blick zu. Der nickte. Aruula setzte sich schon in Bewegung. Nun schien der Schneesturm seine Kräfte erst richtig zu entfalten. Als sie aus dem Torbogen auf die Straße traten, erfasste er sie mit voller Wucht. Matt und Aruula mussten sich unter dem heftigen Ansturm ducken. Aikos Kräfte erwiesen sich wieder einmal als sehr nützlich: Er packte seine Gefährten an den Armen und stützte sie. Trotzdem brauchten sie eine ganze Weile, bis sie vor dem Eingang der U-Bahn-Station anlangten. Während Aruula und Aiko einen Blick in die finstere Tiefe riskierten, schaute Matt sich um. Auf der linken Straßenseite ragte, wie ein hohler Zahn, ein mitgenommenes Geschäftshaus in die Luft. Es war etwa zwanzig Stockwerke hoch. Die oberen Etagen waren ebenso stark beschädigt wie die aller anderen Häuser. Die Fenster der fünf unteren hatte man zugemauert - vermutlich in den ersten Wochen nach der Katastrophe als Schutz vor marodierenden Banden. Leicht irritiert betrachtete matt die zehn Stockwerke zwischen dem fünften und fünfzehnten: Deren Fenster wirkten unversehrt. Waren die dahinter liegenden Räume bewohnbar? Lebten in Vancouver etwa noch Menschen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Unter den hiesigen klimatischen Bedingungen wuchsen nicht mal Bäume. Wovon sollten Menschen sich in dieser Ödnis ernähren? Wie sollten sie ihre Behausungen heizen? »... hältst du davon?«, drang Aruulas Stimme an sein Ohr. »Wie bitte?« Er hatte nicht zugehört. Aruula deutete hinab auf den Boden vor ihren Füßen. »Na, was sagst du zu den Knochenresten? Sieht nicht so aus, als ob sie frisch wären, aber sicher lässt sich das nicht sagen.« Matt folgte ihrem Fingerzeig. Erst jetzt sah er vor sich die Schädel und Skelette. Zweifellos menschliche Knochen! So sauber abgenagt wie sie waren, hoben sie sich kaum vom Schnee ab. Unwillkürlich richtete Matt seinen Blick auf die Treppe, die zur U-Bahn-Station hinunterführte. Rechts, über dem verrotteten Treppengeländer entdeckte er ein Messingschild. Darin war eingraviert: Vancouver Transit Authority. Subway-Section 001. Das mulmige Gefühl, das sich in Matts Magen ausbreitete, währte jedoch nur eine Sekunde - denn danach überschlugen sich die Ereignisse! Ein Brüllen ertönte, das von Zorn und Blutgier kündete. Und ein Schatten flog aus der Tiefe zu ihnen empor: weißes Fell, blutrote Augen, geifernde, gebleckte Fänge, mordlustig gekrümmte Krallen, von hellrotem Blut gesprenkelte Hinterläufe. 13
Aiko sprang zurück. »Wudan!«, schrie Aruula. Herr im Himmel, durchfuhr es Matt. Das Monster der Woche! »Izeekepir!« Aruulas Rechte flog in die Höhe und griff nach dem langen Schwert auf ihrem Rücken. Mochten ihre paranormalen Fähigkeiten auch gestört sein - die Instinkte ihrer barbarischen Vergangenheit waren aktiv wie eh und je. Die an eine Mischung aus Eisbär und Großkatze erinnernde Bestie, die aus dem UBahn-Schacht schnellte, war mindestens drei Meter groß. Ihre Hinterläufe bluteten heftig; sie schien verletzt zu sein. Dies war einerseits gut, da es ihre Bewegungsfähigkeit einschränkte. Andererseits reagierten verletzte Raubtiere unberechenbar wie in die Ecke gedrängte Ratten. Bevor Matt einen klaren Gedanken fassen oder Aiko seine Waffe hervorziehen konnte, beschrieb Aruulas Klinge einen rasend schnellen Bogen und krachte mit der Schneide in den Wanst des Izeekepir. Das Schwert prallte ab, als bestünde der Leib des Ungeheuers aus Hartgummi. Vom Schwung ihrer Waffe getragen, verlor Aruula die Balance, taumelte zurück und stürzte. Im gleichen Moment hatte Aiko seine Tak 02 gezogen, eine Maschinenpistole aus Miki Takeos Werkstätten. Doch bevor er sie hochbrachte, ragte die weiße Bestie vor ihm auf. Ihre rechte Tatze schlug mit voller Wucht gegen den Lauf von Aikos Waffe. Die Tak 02 flog im hohen Bogen durch die Luft und landete irgendwo im Schnee. Während sich Aiko gedankenschnell seitlich abrollte und damit einem zweiten Schlag um Haaresbreite entging, riss Matt seinen Driller aus der Uniformtasche. Auf diese Entfernung konnte er die Bestie gar nicht verfehlen. Das Projektil, groß wie die Spitze eines Kugelschreibers, stanzte einen roten Fleck in die Brust des Ungeheuers. Matt warf sich zu Boden. Im nächsten Moment explodierte die Sprengladung der Patrone und zerriss den Izeekepir von innen heraus. Trotzdem blieb er aufrecht stehen, schaute fast erstaunt an sich hinab - und folgte dann erst seinen Innereien, die in den Schnee regneten. Der Boden bebte, als der Koloss vor Matt aufschlug. Matt wich mit heftig pochendem Herzen ein paar Schritte zurück, einen Fluch auf den Lippen. »Was ist das denn für ein Vieh?« Aiko Tsuyoshi stand kreidebleich neben Matt und musterte die noch zuckende Monstrosität. Aus dem Maul der Mutation quoll literweise helles Blut. Seine Hinterläufe bebten. Sein Todeskampf dauerte fünf Sekunden, dann rührte es sich nicht mehr. Matt steckte den Driller ein. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Seine Knie zitterten vom Schock. Das Herz schlug ihm bis zum Halse. Jetzt war ihm heiß, sehr heiß. Er fühlte sich irgendwie gut durchblutet. A good fight every day keeps the Doctor away. »Das ist ein Izeekepir «, erklärte Aruula, »eine Bestie, die im ewigen Eis lebt. Rulf an und ich hatten in meiner Heimat schon mal mit einem zu tun.«( siehe MADDRAX 24 »Beim Volk der 13 Inseln«) Rulf an! Der Name versetzte Matt einen Stich; immer noch. Er konnte dem Sohn eines Bunkermenschen und einer Barbarin nicht vergeben, dass er mit Aruula... Schluss damit! Rulfan war weit weg, und er selbst war Aruula auch nicht treu geblieben, 14
während sie für Monate getrennt gewesen waren. Was sollte also diese lächerliche Eifersucht?! »Sorgen um saftige Steaks brauchen wir uns jedenfalls nicht mehr zu machen«, sagte er fröhlicher als ihm zumute war. »Mit dem Vorrat kommen wir problemlos bis zur Beringstraße.« Aruula schob ihr Schwert in die Rückenhalterung zurück, kniete sich neben das tote Monstrum in den Schnee und betastete dessen Hinterläufe. »Irgend jemand hat den Izeekepir verletzt. Ich erkenne Schnittwunden.« Matt dachte an Bäreneisen und Trapper. Immerhin befanden sie sich im Land der Pelzjäger. Warum sollten diese Breitengrade eigentlich unbewohnt sein? Schließlich hatten auch früher schon jenseits des Polarkreises Menschen gelebt, und das nicht mal schlecht wenn man auf Iglu-Wohnkultur stand und Robbenfleisch und Waltran für das Nonplusultra der Haute Cuisine hielt. Konnte man pauschal ausschließen, dass überlebende Eskimos sich nach dem Einschlag des Kometen auf ihre Wurzeln besonnen und gelernt hatten, sich an die neue Situation anzupassen? Matts Blick fiel erneut auf die Fensterscheiben des Hochhauses auf der anderen Seite. Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte. »Ich kann nicht erkennen, woran sich der Izeekepir verletzt hat«, sagte Aruula und stand auf. »Gehen wir jetzt lieber in Deckung.« Sie warf einen letzten Blick auf den Kadaver. »Zerlegen können wir ihn später noch.« Ohne auf eine Antwort zu warten, zog sie ihr Schwert und schritt die verschneite Treppe hinunter. Matt und Aiko folgten ihr. Auf halber Strecke zückte Aiko eine Taschenlampe. Die Stufen waren voller Blutflecken. Als sie den Fuß der Treppe erreichten, schaute Matt sich um und entdeckte eine am Boden stehende Sturmlaterne. Er wollte sich gerade nach ihr bücken, als Aruula ein Stöhnen ausstieß. »Was ist?« Der Lichtstrahl von Aikos Lampe wanderte über den Rand des Bahnsteigs. Nicht fern von ihnen, dort wo die rostigen Gleise durch den hereingewehten Schnee verliefen, erspähte er drei - nein, vier weiße Hügel, die von dampfenden Blutlachen umgeben waren. Matt sah aufgerissene Mäuler mit spitzen Zähnen, grotesk verdrehte Gliedmaßen, ausgefahrene Krallen. Es waren tierische Kadaver mit weißem, blutbefleckten Fell - die Brut der monströsen Bestie, die ihnen an der Oberfläche begegnet war. Allem Anschein nach hatte der - demnach weibliche - Izeekepir im U-Bahn-Schacht gegen jemanden gekämpft und dabei den Kürzeren gezogen. Doch wo steckte das Tier, das ihre Jungen getötet und vor dem sie schlussendlich die Flucht ergriffen hatte? Mit welcher abscheulichen Monstrosität mussten sie hier unten rechnen? »Vorsicht!«, rief Aruula plötzlich. Matt wirbelte herum. Aikos Lampe glitt ihm aus der Hand, fiel zu Boden und erlosch. Nun hatten sie nur noch das Licht, das von draußen durch den Abgang zu ihnen drang. Ganz in Matts Nähe wurde ein hohles Knacken laut. Das Licht reichte gerade aus, um zu sehen, wie sich Aiko mit schmerzverzerrter Miene an den Schädel griff. Dann knickten seine Knie ein. Hinter Aruula lösten sich zwei dunkle Gestalten, die sich offenbar bei ihrem Eindringen 15
an die Wand gepresst hatten, aus der Finsternis und stürzten sich auf die Barbarin. Aus Richtung des Gleiskörpers vernahm Matt das Scharren von Stiefeln, dann schwangen sich vier oder fünf Schemen auf den Bahnsteig, die sich vermutlich hinter die Kadaver geduckt hatten. Aruula wand sich tretend und fauchend im Griff zweier drahtiger Gestalten. Die eine war eine Frau mit asiatischen Zügen, die andere ein europäisch wirkender, glatt rasierter Mann. Matthew riss den Driller hoch, erkannte aber im gleichen Augenblick, dass er nicht schießen konnte, ohne Aruula zu gefährden. Er wollte sich auf den Mann stürzen, der eine Hand auf den Mund seiner Gefährtin drückte, doch bevor er ihn erreichte, trat ihm jemand mit großer Wucht die Beine unter dem Hintern weg. Mit dem Hinterkopf krachte er auf den Beton. In seinem Schädel blitzte es auf. Er musste wohl für eine kurze Weile die Besinnung verloren haben, denn als er die Augen öffnete, lag Aruula nicht weit von ihm neben Aiko auf dem Boden und war geknebelt. Zwei schweigsame Gestalten hielten sie fest, eine dritte hockte auf ihrem Rücken und fesselte sie. Die anderen Angreifer, es waren drei, sicherten mit langläufigen Schießeisen den Treppenaufgang, als rechneten sie mit weiteren Eindringlingen. Matt konzentrierte sich, sammelte seine Kräfte und sprang auf. Erst als er auf den Beinen stand, bemerkte er, dass sein Driller weg war. Er musste ihn beim Sturz verloren haben. Für eine Sekunde stand er starr da - eine Zeitspanne, die jemand hinter ihm nutzte, um seinen Arm um Matts Hals zu legen. Matt reagierte, wie er es in der Ausbildung gelernt hatte: Er packte den Arm, der ihn würgen wollte, beugte sich nach vorn und ließ den Angreifer über seine Schulter abrollen. Der Mann - dass es einer war, konnte man an dem deftigen Fluch hören, den er abließ schlug unsanft zu Boden. Er würde wohl die nächsten Minuten damit zubringen, seine Zähne einzusammeln. Doch leider gab es nun, da Aruula gefesselt war, genügend Ersatz für ihn. Gleich ein halbes Dutzend Leute stürmte auf Matt Drax zu. Man musste kein Mathematikgenie sein, um zu erkennen, dass er gegen diese Übermacht nicht gewinnen konnte. Da half ihm nicht einmal das Messer, das Matt in einer Rückenscheide trug. Die einzige Chance, etwas für sich und seine Gefährten zu tun, bestand darin, von hier zu verschwinden und später zurückzuschlagen. Matt wirbelte herum, rannte zum Bahnsteig und sprang auf den dunklen Gleiskörper hinab. Unter seinen Stiefeln knirschten Schnee und Gestein, als er den finsteren Bahnhof durchquerte. Hinter ihm gleißten mehrere Lichtfinger auf und tasteten sich an den Wänden entlang. Matt stolperte mehr über den unebenen Boden und durch die Dunkelheit, als dass er lief, aber er durfte sein Tempo nicht verringern. Falls die kanadischen Baumeister des 21. Jahrhunderts sich an internationale Gepflogenheiten gehalten hatten, mündete dieser UBahn-Schacht irgendwann in einen anderen Bahnhof. Bis dahin musste er seinen Vorsprung ausgebaut haben. Dann würde er an die Oberfläche zurückkehren, den Eissegler suchen, sich neu bewaffnen und die Spur der Banditen aufnehmen. Doch grau ist alle Theorie: Kurz vor dem Ende des Bahnhofs stieß Matts Fuß gegen einen dicken Stein, der ihn haltlos stolpern und stürzen ließ. Die Landung kam viel später als erwartet und raubte ihm fast erneut das Bewusstsein. 16
Was daran lag, dass Matt nicht auf ebenen Boden fiel, sondern tiefer - allem Anschein nach in eine ziemlich große Baugrube. Während er dort unten lag und stöhnend seine Knochen betastete, um festzustellen, ob es sich noch lohnte, eine Lebensversicherung abzuschließen, hörte er Schritte. Sie näherten sich seinem Stand- beziehungsweise Liegeort. Matt erstarrte. Er hielt den Atem an, als er das Raunen von Stimmen vernahm. Kein Zweifel: Die Typen gaben nicht auf. Los, MacGyver, dachte er. Ich brauch jetzt 'ne schräge Idee! Eine knappe Minute später wurde die Baugrube von drei dunklen Gestalten mit Pelzmützen umringt. Vier weitere, die Aiko und Aruula an Armen und Beinen zwischen sich schleppten, marschierten schweigend an ihnen vorbei in Richtung der U-Bahn-Station, die Matt erfolglos zu erreichen versucht hatte. Die drei Mützenträger knieten sich hin. Eine Taschenlampe blitzte auf. Der Strahl fiel in das etwa zwei mal zwei Meter große und ebenso tiefe Loch, aus dessen glatten Betonwänden die Enden verrosteter Kabel hervor lugten. Am Grund der Grube lag ein Mann. Seine Gliedmaßen waren verrenkt, und seine offenen Augen stierten tot und leer zur Decke empor. Zweifellos weilte er nicht mehr in dieser Welt. Der Lichtstrahl verharrte auf seinem Gesicht, und eine der Gestalten - eine Frau stieß einen bedauernden Seufzer aus. Sie sprachen kein Wort, aber Matt hörte den Seufzer einer Frau. Sie machten keine Anstalten, zu ihm herabzusteigen; offenbar hielten sie ihn tatsächlich für tot. Es fiel ihn unsagbar schwer, trotz des beharrlichen Lichtstrahls auf seinem Gesicht nicht doch noch zu blinzeln. Dabei atmete er so flach, dass man es vom Grubenrand aus unmöglich sehen konnte. Die Sekunden dehnten sich endlos. Die abgewinkelten Arme und Beine schmerzten. Als er schon glaubte, es wirklich nicht mehr aushalten zu können, ertönte von oben ein warnendes Zischen. Das Licht erlosch auf der Stelle. Die Unbekannten zogen sich rasch von der Baugrube zurück und tauchten in dem Schacht unter, wo die vier anderen mit ihren Gefangenen schon verschwunden waren. Es war eine gute Idee gewesen, ins Stadthaus zu eilen, um Lejtenant Iwaan, dem Oberkommandierenden aller Späher Meldung zu erstatten: Der Offizier hatte Nikolaai sogleich das Kommando über Aljooscha und zwei Limonkas übertragen, so dass er nun selbst eine Art Vorgesetzter war. Dies erfüllte Nikolaai nicht nur mit großem Stolz, sondern war irgendwie auch eine Bestätigung seiner Theorie, der illegitime Sohn eines verdienten Gelehrten zu sein. Denn er kannte einen alten Spruch, der besagte: »Wem der Zar ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand.« Nach einer Mütze voll Schlaf, einer Tasse Tee und einer kurzen Konferenz mit Lejtenant Iwaan hatte Nikolaai sich mit seinen Männern erneut zum Lagerplatz der Fremdlinge geschlichen. In der dritte Etagen einer von schleimigen Pilzen eroberten Ruine, die der alten Bibloteek unmittelbar gegenüberlag, hatten sie Quartier bezogen, die Feldstecher gezückt und die Fremdlinge gründlich ausspioniert. Lejtenant Iwaan konnte es nämlich erst dann wagen, den Zaren mit Neuigkeiten zu belästigen, wenn die Anzahl der faschistischen Okkupanten und ihre militärische Stärke exakt feststanden. 17
Auch wenn Nikolaai nicht genau wusste, was faschistische Okkupanten waren: Er hatte sich die Mühe gemacht, jeden einzelnen Fremdling auf einem Stück Papier genau zu beschreiben - auch die beiden, die man gerade, dem äußeren Anschein nach besinnungslos aus dem Panzer getragen hatte, der vor das Bibloteeksportal gefahren war. Nikolaai freute sich, dass auch der Panzer hier war, der sich zu Anfang von den anderen entfernt hatte, denn was man im Auge hatte, konnte anderswo keinen Schaden anrichten. Späher Aljooscha hatte, um der Anweisung Lejtenant Iwaans Genüge zu tun, exakte Zeichnungen der fremden Snoo-Mobile angefertigt. Nikolaai war sogar verwegen genug gewesen, sich noch einmal auf den Hof zu schleichen und sich jedes Wort einzuprägen, das die Fremden gesprochen hatten. Leider hatte er die meisten Wörter auf dem langen Rückweg zum Stadthaus vergessen, aber zwei konnte er auswendig. Vermutlich, dachte er, während sie durch den Schnee stapften, darf ich meine Beobachtung dem Zaren persönlich vortragen! Dies hatte Tradition, zumindest dann, wenn die Nachrichten schlecht waren. Nikolaai freute sich sehr darauf, den Zaren und seine Familie kennenzulernen, die traditionsgemäß - und aus Mangel an sonstigen Bes chäftigungen - an allen Empfängen teilnahmen. Bald würde Nikolaai die Pracht des Adels schauen. Vielleicht fand er in den Gesichtszügen der edlen Männer und Frauen sogar etwas, das auf seinen wahren Vater hinwies. Er wusste aus der Pöbelschule, dass alle Menschen so genannte Bausteine im Bauch hatten. Die waren dafür zuständig, dass der Sohn seinem wahren Vater ähnlich sah - und nicht dem, der ihn aufgezogen hatte. Nikolaai und seine Mannen hatten den Weg zum Stadthaus schon fast hinter sich, als sie vor der Treppe, die in den Baanhof hinab führte, auf den Kadaver eines Weißen Brüllers stießen. Jemand hatte ihm die Brust aufgerissen. Aljooscha meinte, er müsse den Jägern des Zaren zum Opfer gefallen sein, auch wenn er die Jagdmethode für ungewöhnlich hielt. »Aber wo sind sie, die Jäger?«, erwiderte Nikolaai und schaute sich suchend um. »Ich kann sie nirgendwo entdecken. Warum haben sie ihn nicht zerlegt und mitgenommen?« »Sie holen bestimmt Verstärkung«, sagte Aljooscha und deutete auf die blutbesudelte Bestie. »Das Vieh ist doch sehr groß.« Dieser Meinung war Nikolaai auch, und die beiden anderen Späher - echte Limonkas schlössen sich seiner Ansicht an, denn sie wollten ja erst noch Karriere machen. Nikolaai ließ den Weißen Brüller links liegen und stieg mit seinen Mannen in die Tiefe hinab. Auf dem Baanhof angekommen, zündete er die zurückgelassene Laterne an. Als ihr Lichtschein aufflackerte, bemerkte er mit Schaudern, dass auch zwischen den rostigen Eisenstangen die Kadaver Weißer Brüller in ihrem Blute lagen. Diese waren aber beträchtlich kleiner. »Pssst«, machte Aljooscha plötzlich. »Hört ihr das?« Nikolaai lüpfte seine Pelzmütze und spitzten die Ohren. Da! Er vernahm ein leises Poltern und Schaben! Woher kam es? Aljooscha deutete in die Richtung, in welcher der nächste Baanhof lag. Nikolaai nickte. Anschließend gab seinen Mannen den vorschriftsmäßigen Wink Nr. 13, der besagte, sie sollten das gleiche tun wie er. »Der Zar steh uns bei...« Er zückte seine Dienstwaffe und ging geduckt und auf alle Gefahren vorbereitet dorthin, woher die Geräusche kamen. 18
Am Ende des Bahnsteigs, wo der finstere Schacht begann, ragte der helle und zerzauste Schöpf eines Mannes aus dem Boden, der offenbar gerade im Begriff war, sich aus dem tiefen Loch zu hieven, in das schon so mancher sorglos vor sich hin marschierende Jungspäher gefallen war. Boshe moj, dachte Nikolaai, als er den Mann erblickte. Er hatte ihn noch nie gesehen, und dabei kannte er jeden Bürger im Reich der Tausend. Sein Gesicht war leicht verschrammt, und er zuckte zusammen, als er Nikolaai und seine Mannen wahrnahm. Doch als Nikolaai mit der Waffe winkte, kletterte er aus dem Loch. Auf die Frage, wer er sei, sagte er etwas, das Nikolaai nicht verstand. Also deutete er mit der Pistole auf den Rand der Grube, und der Fremde setzte sich dort auf den Boden. Aljooscha und die Limonkas glotzten zuerst Nikolaai und dann den Fremdling an. »Du, Nikolaai«, sagte Aljooscha und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Fremden. »Irgendwas an ihm kommt mir bekannt vor...« »Du hast Recht«, sagte Nikolaai mit gerunzelter Stirn. »Ich glaube aber nicht, dass er ein Bürger des Reiches ist. Am besten nehmen wir ihn fest. Lejtenant Iwaan soll entscheiden, was mit ihm geschieht.« Aljooscha und die beiden Limonkas nickten. »Packt ihn«, ordnete Nikolaai an. Sie stürzten sich auf den Eindringling, der aufsprang und sich wehrte, gegen die Elite des Zaren aber natürlich keine Chance hatte. Aljooscha und die beiden Limonkas fauchten, wie sie es im Unterricht gelernt hatten, fletschten die Zähne und hängten sich an den Fremden. Der versuchte ein Messer aus einer Rückenscheide zu ziehen. Als Nikolaai das sah, sprang er hinzu und zog dem Blonden den Knauf seiner Dienstwaffe über den Schädel. Als der Fremdling zu Boden gegangen war und Aljooscha ihn nach weiteren Waffen abtastete, fiel Nikolaai endlich ein, was ihm an dem Fremden so bekannt vorgekommen war: Seine Kleidung ähnelte der der faschistischen Okkupanten! * Commander Drax' Geist kehrte so schlagartig aus den finsteren Untiefen der Ohnmacht zurück, dass er das dringende Bedürfnis verspürte, auf den muffigen Teppich zu kotzen, an dem sich seine Nase rieb. Rings um ihn her tönte fremdländisches Geschwafel. Und in seinem armen Schädel gab sich ein Orchester die Ehre, das anstelle romantischer Geigen mit Presslufthämmern arbeitete. Matts erster Gedanke galt Aruula und Aiko. Dann fragte er sich, wem er in die Hände gefallen war. Die drei spindeldürren, hungrig aussehenden Jungs mit den abgetragenen Klamotten und struppigen Pelzmützen gehörten nicht zu den Izeekepir-Jägern. Und normalerweise wären sie auch keine Gegner für ihn gewesen. Der Sturz in die Grube hatte ihn offenbar mehr mitgenommen, als er gedacht hatte. Angesichts der Kopfschmerzen tippte Matt auf eine leichte Gehirnerschütterung. Ruhe und Pflege wären jetzt angebracht gewesen. Aber das war in seiner Situation ein allzu frommer Wunsch. Matt spürte, dass man ihm die Hände auf den Rücken gefesselt hatte. Er lag auf dem Bauch und sah etwa zwei Dut19
zend abgeschabte Stiefelpaare nebst dazugehörigen Hosenbeinen. Trotz eines erneuten bösen Anfalls von Übelkeit wagte er es, den Kopf zu heben. Was er sah, erstaunte ihn über alle Maßen. Vor ihm stand das dürre Kerlchen, das bei der Grube mit seiner Pistole herumgefuchtelt hatte. Es drehte aufgeregt eine Pelzmütze in den Händen und redete schnatternd auf einen elefantenhaft feisten Glatzkopf ein. Dieser saß, in ein wallendes Gewand gekleidet, auf einer Art Thron, der wiederum auf einem Podest stand. Über der Brust des Glatzkopfs kreuzten sich mit Patronen gespickte Gurte, an seinem Gürtel hingen zwei blitzende ColtRevolver. Auf seiner Platte thronte ein Krönchen jener Art, wie sie für gewöhnlich Prinzessinnen in deutschen Märchenfilmen trugen. Um seine Schultern schlang sich ein verblichener Mantel aus ehemals rotem Samt. Der Pelzkragen stammte vermutlich von einem vor fünfhundert Jahren erlegten Schneehasen. Das Schlimmste an dem Fettwanst waren jedoch seine stählernen Zähne und seine Stimme, die jeden Menschen, der sie über längere Zeit hinweg hörte, zu einem bewaffneten Amoklauf verleiten musste. Umgeben wurde die merkwürdige Hoheit von zwei Dutzend strubbeligen Uniformierten, deren graue Gesichter die unterschiedlichsten Stadien von Geistesabwesenheit und Desinteresse dokumentierten. Einer der Männer war zudem im Begriff, mit dem Zeigefinger der rechten Hand durch ein Nasenloch in seine Hirnregion vorzustoßen. Sämtliche Uniformierte waren bärtig, und wenn man genau hinschaute, konnte man erkennen, was sie zu Mittag gegessen hatten. Ihre geflickten scharlachroten Jacken über den schwarzen Hosen mussten aus den Beständen der Royal Canadian Mounted Police stammen. Sie waren derartig mit Orden behängt, dass Matt unwillkürlich an eine Operette dachte. Dazu lieferte der dürre Kerl mit der Pelzmütze in der Hand eine bühnenreife Pantomime ab: Er demonstrierte, wie er sich an jemanden herangeschlichen und ihn beobachtet hatte. Die Sprache, die Matt hörte, kam ihm slawisch vor. Zwar verstand er kein Wort, doch er erkannte anhand der Gesten, die der Bursche vollführte, dass es für irgendjemanden um Kopf und Kragen ging. »Tankistyj...«, stieß das Kerlchen auf dramatische Weise hervor. »Ptiza... Rasboinikow... Tjomny sil!« Der Glatzkopf riss die Augen auf. »Prosto ushas!« Der Hofstaat - Matt nahm an, dass die verlauste Bande etwas in dieser Art darstellte murmelte monoton vor sich hin und gaffte die Decke an. Was immer das Kerlchen dort zu berichteten hatte - es schien diese Leute wenig zu interessieren. Durch besonderes Desinteresse tat sich der Gentleman hervor, dessen Finger nun zur Hälfte in seinem Nasenloch verschwunden war. Dies entging jedoch nicht der merkwürdigen Hoheit, die nun wutentbrannt und mit dem Ausruf »Job tjovo math!« einen Colt aus dem Holster zog und dem ignoranten Element aus einer Entfernung von fünf Metern kaltblütig durch den Kopf schoss. Der Mann flog nach hinten. Die Anwesenden brüllten auf und stoben auseinander. Die Aufmerksamkeit aller galt nun zu hundert Prozent dem Gekrönten, und Commander Drax, der sich auch nach zwei Jahren in dieser rohen Welt noch nicht an alle Sitten und Gebräuche hatte gewöhnen können, schloss für ein paar Sekunden die" Augen. So lächerlich seine momentane Umgebung auch wirkte - er würde es schwer haben, lebend von hier zu 20
entkommen. Die Hoheit brüllte das nun totenbleiche Kerlchen mit der Pelzmütze an, und dieses breitete zitternd die Arme aus und stieß einen neuerlichen Wortschwall hervor. Schließlich schrie es: »Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!« Matts Kopf ruckte erneut hoch. Hatte er richtig gehört? Hatte das Bürschlein tatsächlich die deutsche Sprache bemüht? »He, Kleiner«, rief er aufgeregt in der gleichen Sprache, die er fließend beherrschte. »Du hast doch gerade >Herr Hauptmann< gesagt! Sprichst du Deutsch? Kannst du mich verstehen?« »Herr Hauptmann?«, schrie die Hoheit. Ihr lauernder Blick richtete sich auf Matt, und auch der Dürre stierte den gefesselt am Boden Liegenden wie ein Weltwunder an. Der Glatzkopf schnippte mit den Fingern und brüllte etwas. Zwei der anwesenden Militärs sprangen vor, packten Matt und rissen ihn ruppig auf die Beine. »Fuck you«, knurrte Matt wütend. Schon war das Schwindelgefühl wieder in seinem Kopf. Andererseits hatte er nun Gelegenheit, sich genauer im Saal umzusehen. Er maß etwa hundert Quadratmeter und war fast völlig kahl. An den fensterlosen Wänden standen Holzbänke, und die beiden Türen - die eine ähnelte einem Portal, die andere befand sich hinter dem Thron - wurden von je zwei bleichen Uniformierten mit klobigen Schusswaffen bewacht. Die Mauern waren mit Holz getäfelt. An der Wand hinter dem Thron, gleich neben der Tür hing ein Glasrahmen, in dem eine antike Zeitungsseite mit einigen Fotos zu sehen war. Leider zu weit entfernt, um sie zu lesen. »Fuck you?«, wiederholte ein anderer Bursche verdutzt - ein Greis mit Rauschebart und Pelzkappe, der aus dem Kreis der Zuschauer hervortrat. Damit schien er einen Affront gegen die Etikette begangen zu haben, denn die mörderische Hoheit brüllte ihn so herzerfrischend an, dass er sich zusammenduckte. Der Alte buckelte ein paar Mal und antwortete mit einem nervösen, slawisch klingenden Wortschwall. Die Hoheit deutete auf den Gefangenen und brüllte erneut, bis Rauschebart sich zu Matt umwandte und fragte: »Ich bin verdienter Gelehrter Stepaan. Redest du die Altsprak?« Matt, der nicht die leiseste Ahnung hatte, was er damit meinte, fiel ein Stein vom Herzen. »Na endlich jemand, der mich versteht!«, erwiderte er auf Englisch. »Wo bin ich hier? Und warum hält man mich fest? Ich habe nichts getan!« Der Greis bedeutete ihm mit Handzeichen, langsamer zu reden. Offensichtlich hatte er mit dem Englischen seine liebe Müh. »Der Zar wissen möchte, wer bist du und woher kommst du«, radebrechte er dann. Der Zar? Dann waren das Russen? Matt war verwirrt. Was machten Russen hier in Kanada? »Man nennt mich Maddrax. Ich bin ein Forschungsreisender. Ich kam mit zwei Gefährten in diese Stadt. Izeekepir-Jäger haben sie entführt. Weißt du, wo sie sind?« Stepaan übersetzte seine Worte für die Hoheit. Der Zar stellte ihm eine Frage. Der Gelehrte schüttelte den Kopf und sagte deutlich »Njet«. Die Hoheit sprach Matt jetzt direkt an; Stepaan übersetzte. »Du gehörst zu den faschistischen Okkupanten und bist ins Reich der Tausend gekommen, um unsere Schätze und Errungenschaften zu plündern!« »Was?«, entfuhr es Matt verblüfft. »Daran ist kein Wort wahr!« 21
»Maul halten, faschistischer Okkupant! Du hast nur zu reden, wenn Fjodoor der Gütige es dir erlaubt.« Stepaan war es sichtlich peinlich, die Worte seines Herrschers zu übersetzen. Fjodoor der Gütige? Matts Blick fiel auf die Leiche des Operettenoffiziers, der von den Türwachen gerade diskret entsorgt wurde. »Unsere ruhmreichen Truppen werden euch Natterngezücht vernichten, so wie mein Enkel, der ruhmreiche Lejtenant Iwaan eure Vorhut vor einem Jahr vernichtend geschlagen hat«, übersetzte Stepaan den Monolog des Zaren weiter. »Wir wissen alles über euer verfluchtes Reich Yukonia, denn unsere Gelehrten kennen die alten Legenden!« Die Hoheit deutete mit einem Schießeisen auf Matts Brustkorb. »So wahr ich Zar Fjodoor der Gütige bin: Wenn du nicht die Wahrheit sprichst, wirst du die schlimmsten Qualen in der Folterkammer erleiden!« Matt schluckte. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass dies alles andere als ein Bluff war. »Dieser verdiente junge Mann«, fuhr Fjodoor der Gütige fort und deutete auf Nikolaai, der seit Stepaans Einmischung still dastand und nun augenblicklich errötete, »ist einer unserer besten Späher. Er hat euch gesehen, als ihr gekommen seid. Er hat all eure SnooMobile gezählt und auch eure Truppen!« »Snow-Mobile?«, wiederholte Matt. »Wir haben keine Schneemobile.« Irgendwie wurde er den Verdacht nicht los, dass die feiste Hoheit ihn mit jemandem verwechselte. »Wir sind zu dritt in einem Eissegler gekommen... Von Truppen im klassischen Sinn kann man da eigentlich nicht sprechen.« »Lügen haben keinen Sinn!«, fuhr Fjodoor der Gütige fort. »Gestehe endlich! Ihr seid imperialistische Agenten - der spionierende Voraustrupp einer Invasionsarmee!« Matt zögerte noch, darauf zu antworten. Egal was er sagte, es konnte den Zorn des Zaren nur steigern. Die markigen Wortkaskaden Fjodoors des Gütigen erinnerten ihn frappierend an die Zeiten des Kalten Krieges, die er als Kind kaum noch mitbekommen hatte. »Imperialistische Agenten«, »faschistische Okkupanten« wäre nicht die Skrupellosigkeit dieses merkwürdigen »Zaren« gewesen, er hätte es als urkomisch empfunden, diese Wortungetüme in russischer Sprache um die Ohren gehauen zu bekommen. Und dies im Kanada des Jahres 2518! Matt fragte sich, auf welcher Grundlage diese merkwürdige Zivilisation entstanden war. »Was will der Mann von mir, Stepaan?«, fragte er den Gelehrten - den nach seiner Meinung noch vernünftigsten Menschen im Raum. »Er spricht in Rätseln. Ich bin weder Imperialist, noch Agent oder Okkupant. Hat dieser komische Vogel noch seine fünf Sinne beisammen?« Stepaan musste sich ein Grinsen verbeißen. Dann brüllte der Zar ihn an und er übersetzte Matts Worte - hoffentlich nicht alle. Fjodoor der Gütige brüllte erneut, und Matt verstand wieder: »Herr Hauptmann!« Der Gelehrte erbleichte und ergriff schnell das Wort. »Ich dir raten zu sagen die Wahrheit, Maddrax. Der Zar ist... nun, von jähzornigem Wesen... Du gesagt >Herr Hauptmann<. Das ist Sprache der faschistischen Okkupanten. Nikolaai hat dem Zaren demonstriert, wie die Fremden sprechen. Und du hast verstanden die Worte. Also...« Gütiger Himmel, dachte Matt verzweifelt. Was sollte er nun tun? Sollte er sein Motiv erklären? Dass er geglaubt hatte, Nikolaai spräche Deutsch? Dass er die Worte in dem 22
Glauben wiederholt hatte, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihn verstehen konnte? Genauso gut hätte er Fjodoor dem Gütigen weismachen können, er wäre ein Truveer und Fan der deutschen Volksmusik! Er sprach die Zunge der faschistischen Okkupanten demnach gehörte er zu ihnen. Er hatte unwissentlich einen schlimmen Fehler gemacht, als er... Matt hielt in seinen Gedanken inne, denn plötzlich wurde ihm etwas klar. Die Invasoren sprachen Deutsch?! Was um alles in der Welt ging hier vor? War Kanada von den Russen besetzt und wurde von Deutschen belagert? »Deine Antwort!«, drängte Stepaan mit einem furchtsamen Seitenblick auf Fjodoor, der langsam ungeduldig wurde. »Ich bin unschuldig«, sagte Matt. »Alles ist ein schreckliches Missverständnis. Zwar spreche ich die Sprache der... ahm... Faschisten, aber ich gehöre nicht zu ihnen.« Fjodoor der Gütige schnippte mit den Fingern. »Zur verdienten Foltermeisterin mit ihm!« Zwei Offiziere packten Matt Drax an den gefesselten Armen und rissen ihn zurück. »Gelehrter Stepaan!«, rief Matt, als sie ihn zum Portal schleiften. »Du bist der einzige Mensch, der mich hier versteht! Überzeuge den Zaren von meiner Unschuld!« Der Greis breitete hilflos die Arme aus. »Es mir Leid tut. Das Wort eines Gelehrten, es zählt nicht viel bei Hofe. Ich will versuchen, aber versprechen kann ich...« Die zufallende Tür durchtrennte den Satz. * Als Aruula aus der Ohnmacht erwachte, hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Sie wusste auch nicht, welche Tageszeit herrschte, denn hier gab es keine Fenster. Man hatte ihr die Hände auf den Rücken gebunden. Sie saß im gepolsterten Schalensitz eines Fahrzeugs. Irgendwie kam ihr der Geruch bekannt vor: Maddrax nannte ihn Plastikk. Es war angenehm warm in dem Gefährt, und die Luft schmeckte gut. Irgendwo in ihrer Umgebung summten geheimnisvolle Dinge. Neben ihr saß ein Mann mit kurzem schwarzen Haar, in das sich einige graue Strähnen mischten. Seine Augen ähnelten denen Aikos, aber er war um etwa ein Jahrzehnt älter. Er trug einen Thermoanzug. Auf seiner rechten und linken Schulter prangten drei Silbersterne. »Wo ist Aiko?«, fragte sie. Sie hatte Maddrax in dem finsteren Tunnel entkommen sehen und machte sich keine Sorgen um ihn. »Wo ist mein Freund?« Sie sprach Englisch, denn sie wusste, dass auf der großen Insel Meeraka fast alle Menschen diese Sprache verstanden. Im vorderen Teil des Fahrzeugs saß eine blonde junge Frau, deren Schultern nur mit einem Stern dekoriert waren. Neben ihr hockte ein graubärtiger Mann mit einer Pelzmütze. Auf seinen Schulterstücken konnte sie ebenfalls drei Sterne sehen. Sie waren jedoch von Eichenlaub umgeben. »Du sprichst Englisch?« Der Graubart beugte sich vor. Er wirkte überrascht. »Wie heißt du?« Aruula nannte ihren Namen und wiederholte ihre Frage nach Aiko. Sie bekam keine Antwort. Stattdessen sagte der Graubart: »Ich bin Oberst Hartwig. Verstehst du meine Worte?« »Aber ja.« Aruula nickte. »Wo ist... ?« 23
»Das überrascht mich«, sagte Oberst Hartwig. »Du bist nämlich der erste Mensch, mit dem ich mich in dieser Sprache unterhalte.« Seine Miene hellte sich auf. Er schien sich irgendwie zu freuen. »Abgesehen von meinen Begleitern natürlich. Es war also doch nicht unnütz, sie zu lernen.« »Lernen ist immer gut«, erwiderte Aruula. Sie schaute nach vorn und sah einen der komischen Kästen, die Maddrax »Monitor« nannte. Aruula wusste, dass man mit Hilfe dieser Dinger - unter anderem - trotz fehlender Fenster ins Freie blicken konnte. Sie sah nun, wie es draußen aussah. Es war dunkel, und der Wind trieb den Schnee vor sich her. Ve rmutlich heulte er auch, aber das konnte sie nicht hören. Durch den Monitor sah sie auf der rechten Seite ein klobiges weißes Fahrzeug. Vermutlich saß sie in einem ebensolchen Ding. War Aiko also in dem anderen Fahrzeug? Hoffentlich war er nicht verletzt oder gar tot. Wer sind diese Leute?, dachte Aruula. Sie sehen sauber und ordentlich aus, und sie haben das, was Maddrax Tekknik nennt. Sie sind gewiss sehr mächtig... Sie hatte den Verlust ihrer telepathischen Kräfte noch nie so bedauert wie jetzt. Sie war allein, von ihren Freunden getrennt. Sie hatte keine Ahnung, wo Maddrax und Aiko steckten und wohin diese Leute hier unterwegs war. Könnte sie lauschen, hätte sie einige Antworten schnell erfahren. Sie schaute sich um. Ihre Entführer hatten nicht nur Tekknik, sondern auch Pistolen. Das war nicht gut, zumal man ihr das Schwert weggenommen hatte. Man brauchte kein Seher zu sein, um zu erkennen, dass diese Menschen böse waren, auch wenn sie sauber und ordentlich aussahen. Hätten sie sich sonst im Finsteren auf sie gestürzt und sie niedergeschlagen? Dieser Graubart - Oberst Hartwig - führte etwas im Schilde. Hoffentlich war wenigstens Maddrax ihnen entwischt. »Ja, Bildung ist alles«, sagte Hartwig. Sein Blick war intensiv und schien Aruula zu durchbohren. »Aber Wärme und Nahrung sind auch nicht zu verachten.« Er seufzte. »Wenn ich die Wahl hätte, ich glaube, ich wüsste, wofür ich mich entschiede.« »Ich auch.« Aruula nickte. Vielleicht konnte sie mehr über diese Menschen erfahren, wenn sie so tat, als wären sie ihr sympathisch. Wenn sie es genau besah, wirkten die Augen von Oberst Hartwig eigentlich nicht wie die eines Schurken. Vielleicht hatte er Hunger. »Hör zu, Aruula«, sagte er nun. »Hinter uns liegt eine weite Reise. Eine sehr weite Reise. Unser Reich liegt hoch oben im Norden, in der kalten Ödnis. Doch es ist ungeheuer mächtig, denn wir haben tödliche Waffen.« Das glaube ich euch sofort, dachte Aruula. »Auch wenn wir nur wenige sind«, fuhr Oberst Hartwig fort, »die Kanonen unserer Panzer können jedes Gebäude mit einem einzigen Schuss in einen Haufen Staub verwandeln.« Aruula zweifelte keinen Moment an seinen Worten. Seit sie mit Maddrax durch die Welt zog, hatte sie die schrecklichsten Dinge und Waffen gesehen. Waffen, die alles im weiten Umkreis vernichten konnten, waren ihr nicht mehr fremd. Sie fragte sich, warum Oberst Hartwig ihr all dies erzählte. »Wir sind nicht mit dem Auftrag gekommen, das Reich der Tausend zu erobern«, fuhr Oberst Hartwig mit ruhiger Stimme fort. Er räusperte sich. »Der Fürst von Yukonia hat uns vielmehr beauftragt, Kontakt mit dem Herrscher eures Reiches aufzunehmen, um 24
einen Pakt mit ihm zu schließen.« Das Reich der Tausend? »Einen Pakt?«, fragte Aruula. »Was für einen Pakt?* »Einen Beistandspakt«, sagte Oberst Hartwig. »Diktiert von gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Vertrauen.« »Gegen wen?« Der Graubart schaute Aruula leicht erstaunt an. Hätte sie in diesem Moment seine Gedanken hätte lesen können, hätte sie den Grund dafür erfahren. Die Kleine ist ziemlich scharfsinnig. Und sie sieht so verdammt gut aus, dass ich Vanessa auf keinen Fall zu ihrer Bewachung abstellen darf. Er hielt inne. Oder vielleicht gerade deswegen? In seinem Kopf nahm plötzlich ein Plan Gestalt an. »Seit einiger Zeit«, fuhr er fort, »häufen sich bei uns Meldungen über marodierende Banden, die möglicherweise von der Beringstraße kommen. Sie sind offenbar darauf aus, die südlichen Reiche zu vernichten. Wenn wir uns nicht gegen sie zusammentun...« Er zuckte die Achseln. »Es könnte uns allen übel ergehen.« In Aruula keimte allmählich der Verdacht auf, dass dieser Oberst Hartwig sie für jemanden hielt, der sie nicht war. Sie entnahm seinen Worten, dass er glaubte, sie sei Bürgerin eines »Reiches der Tausend«. Doch davon hatte sie nie gehört. Sie stellte sich die Frage, ob es gut oder schlecht war, wenn sie ihm die Wahrheit gestand. Als Bewohnerin dieses mysteriösen Reiches war sie vielleicht wichtig für ihn. Zeit, dachte sie. Ich muss Zeit gewinnen. »Wie kann ich dir helfen, Oberst Hartwig?« Der Oberst spitzte die Lippen. »Wir brauchen Informationen. Das Reich der Tausend war für uns bisher ein Mythos. Eine Legende. Seine genaue Lage kennen wir nicht. Wir wissen nicht, wie wir mit euren Herrscher Kontakt aufnehmen können.« »Die Lage unseres Reiches«, erwiderte Aruula vorsichtig, »ist geheim.« »Das wissen wir«, sagte Oberst Hartwig. »Und so soll es auch bleiben.« Er seufzte. »Aber wenn wir kein Gespräch mit eurem Herrscher führen können, können wir auch keinen Pakt mit ihm schließen, der euer Reich und das unsere vor den Banditen schützt.« Aruula nickte. Oberst Hartwig wirkte Wie ein netter Mann. Zumindest äußerlich. Die Frau neben ihm - sie war ungefähr in Aruulas Alter - war hübsch. Sie hatte allerdings einen hungrigen Blick, der Aruula beinahe auffraß. Ob sie ähnlich veranlagt war wie Brina, die Fassadenmalerin aus El'ay? Aruula schüttelte die Gedanken ab. Jetzt galt es eine Entscheidung zu fällen, die Oberst Hartwig bei Laune hielt und verhinderte, dass er zu anderen, unangenehmen Mitteln griff, um zu erfahren, was er wissen wollte. »Ich muss nachdenken«, sagte Aruula leise. »Es ist eine schwere Entscheidung.« »Ich verstehe.« Oberst Hartwig streckte eine Hand aus und klopfte Aruula auf die Schulter. »Ich verstehe vollkommen. Lass dir Zeit, Aruula, aber nicht zu lange.« Er drückte auf einen Knopf, woraufhin sich vorn, wo er und die hübsche Frau saßen, zischend die Fahrzeugwand öffnete. Hartwig nickte der Frau zu, und beide stiegen aus. Das Zischen ertönte erneut. Aruula blieb mit dem Mann mit den Aiko-Augen allein. Es dauerte aber nicht lange, dann kam die Frau zurück und winkte den Mann hinaus. Er ging ohne Widerspruch, und die Frau nahm neben Aruula Platz. Sie roch sehr gut, aber ihr Blick war nun noch hungriger. Hoffentlich ist Aiko noch ohne Bewusstsein, dachte Aruula. Hoffentlich kann ich mit 25
ihm sprechen, bevor Oberst Hartwig es tut. Und hoffentlich habe ich bis dahin eine Idee, wie wir hier rauskommen ... * Als Kevin Hartwig in dem kalten Innenhof der alten Bibliothek stand und zu den wirbelnden Flocken hinauf schaute, die das Sternenlicht verdeckten, räusperte sich Hauptmann Nanuuk und sagte: »Glaubst du, die Kleine hat die Geschichte von dem Beistandspakt geschluckt?« »Tja, Tom, das wissen nur die Götter.« Hartwig drehte sich um und deutete mit dem Kinn auf den Panzer, in dem Leutnant Vanessa Feddersen und Aruula nun allein waren. »Dumm ist sie jedenfalls nicht.« »Und auch nicht schwach.« Der Hauptmann mit den asiatischen Augen betastete seufzend sein Kinn. »Als wir sie geschnappt haben, hat die kleine Kratzbürste mir einen Schwinger verpasst, den ich jetzt noch spüre.« Er machte den Mund auf und prüfte nach, ob seine Zähne wackelten. Hartwig lachte leise. »Sie ist 'ne Soldatin, ohne Frage, auch wenn sie nur dieses komische lange Schwert bei sich hatte. Ich frage mich, welchen Dienstgrad sie hat. Der andere trägt auch kein Rangabzeichen.« »Vielleicht sind Rangabzeichen hier nicht üblich.« »Kann schon sein.« »Vielleicht«, sagte Hauptmann Nanuuk plötzlich, »macht die Kleine uns nur was vor.« »Inwiefern?« Hartwig schaute ihn fragend an. »Ich weiß nicht«, sagte Nanuuk. »Sie hat überhaupt keine Angst. Sie hat auch kein Mis strauen gezeigt. Eigentlich müsste sie doch von den Typen wissen, die ein Jahr vor uns aus Camp Bismarck abgezogen sind, um ihr legendäres Reich zu suchen, und von ihren Leuten umgelegt wurden. Ich an ihrer Stelle würde erst mal annehmen, dass wir hier aufgekreuzt sind, um Rache zu nehmen.« »Möglicherweise hat sie gar nichts von der Sache erfahren.« »Kann man so etwas geheim halten?« Tom Nanuuk zupfte nachdenklich an seinem rechten Ohrläppchen. »Sie könnte ein unterer Dienstgrad sein... egal, wir werden sehen.« Hartwig schüttelte den Schnee von seinem Anzug und deutete auf den von der Folie verschlossenen Eingang, über dem, in Stein gemeißelt, PUBLIC LIBRARY stand. »Gehen wir in die gute Stube. In diesen Tempel der Kultur, in dem es keine Bücher gibt.« Einer der beiden Türwächter ließ eine Taschenlampe aufflammen und beleuchtete ihren Weg. Kevin Hartwig und Tom Nanuuk wanderten im Lichtkegel durch einen langen Korridor. Türen gab es hier nicht mehr. Auch keine holzgetäfelten Wände oder gar Regale. In ihrer Verzweiflung hatten die Menschen nach der Katastrophe offenbar jedes Stück Holz verbrannt, das ihnen in die Hände gefallen war. Wie lange mochte es gedauert haben, bis ihnen bewusst geworden war, dass der nukleare Winter über dreihundert Jahre dauern würde? Wie hatten sie auf diese Erkenntnis reagiert? Es müsste der blanke Wahnsinn gewesen sein. Hartwig überlief ein Schauer, als er der Zeit seiner Ahnen gedachte. Sie waren nur wenige gewesen, kaum hundert, aber ihre gute Ausrüstung und das alte Wissen ihrer einhei26
mischen Mitarbeiter - Tom Nanuuks Vorfahren - hatten sie gerettet. Der Oberst bog in Gedanken versunken in eins der drei Büros ein, die ihre Heizöfen und Hängematten wenigstens halbwegs bewohnbar gemacht hatten. Eine einsame Laterne stand in der Mitte auf dem Boden. Er dachte an die unmittelbare Zeit nach der Katastrophe und an die marodierenden Kannibalenhorden, von denen alte Aufzeichnungen berichteten. Nanuuk deutete auf den gegenüberliegenden Raum. Das Schild mit der Aufschrift READER'S ROOM über der Tür war noch zu erkennen. »Die haben hier zweifellos alles verheizt. Wenn das Reich wirklich existiert, haben wir es wahrscheinlich mit tausend Analphabeten zu tun.« »Und du glaubst, die müssten sich leichter überlisten lassen?« Hartwig blieb stehen. »Glaubst du das nicht?« Hartwigs Mund verzog sich zu einem feinen Lächeln. »Menschen, die lesen können, merken sich vieles nicht, weil sie wissen, wo sie nachschlagen können. Analphabeten hingegen müssen alles Wichtige auswendig lernen. Das trainiert das Gedächtnis. Man darf sie keinesfalls unterschätzen.« »Glaubst du, dass die Burschen, die wir in dem Panzer gefunden haben, vor ihrem Ableben noch was gesagt haben?« Hartwig zupfte an seinem Bart. »Über uns und unsere beschissene Lage?« Er überlegte einen Augenblick. »Glaub ich nicht. Die Jungs wurden eindeutig von 'ner alten Panzerfaust erledigt.« Er zog die Schultern hoch. »Die haben die Leute hier einfach unterschätzt. Die haben geglaubt, sie brauchten einfach nur in die Stadt reinzufahren und schon würden sich ihnen alle unterwerfen, weil sie so tolle Waffen haben. Das, was wir über Vancouver wissen, ist vierhundertachtzig Jahre alt, Tom.« Hartwig räusperte sich. »Was ich damit sagen will: Unsere Aufzeichnungen sind mehr als lückenhaft und wir sollten mit allem rechnen. Die Jungs vom ersten Trupp waren zu arrogant. Sie habens vermasselt.« Er streckte die Hände nach dem wärmenden Heizofen aus. »Das wird uns nicht passieren. Dafür sind wir zu gerissen.« »Es ist ein Jahr her«, gab Nanuuk zu bedenken. »Vielleicht sind die Leute hier auf uns vorbereitet. Vielleicht haben sie nach dem Erstkontakt die richtigen Schlüsse gezogen und sind längst auf eine Racheexpedition vorbereitet.« »Deswegen müssen wir besonders vorsichtig sein«, erwiderte Oberst Hartwig, »und nötigenfalls den Rückzug antreten.« »Und wenn sie die Mittel haben, um ihrerseits zurückzuschlagen?« »Dann werden sie sich zumindest an die Falschen halten.« »Richtig«, stimmte Nanuuk zu. »Sie würden dann nach Camp Bismarck ziehen, weil sie uns für Vertreter des Fürsten halten. Das sollten wir auch dem Burschen verklickern, den wir mit Aruula zusammen geschnappt haben. Ob er schon wach ist?« »Ich weiß nicht, ob das noch nötig ist«, meinte Hartwig. »Es ist zwar immer gut, den Zorn der Überfallenen auf die falsche Spur zu lenken, aber wenn ich Vanessa richtig einschätze, brauchen wir Aruula nur ein wenig Leine zu geben, dann führt sie uns auf dem schnellsten Weg ins Reich der Tausend...« *
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Auf dem Weg zur Folterkammer kam Commander Matthew Drax nicht umhin, den desolaten Zustand des Gebäudes zu bemerken, durch dessen Gänge die beiden Offiziere ihn schleiften. Dass es hier fließendes Wasser gab, war unübersehbar. Nur lief es meist an den Wänden runter. Wohin sein Blick in der einstmals schicken Hochhaus-Wohnmaschine auch fiel, überall war die Wandtäfelung aufgeplatzt, die Deckenplatten hatten sich gelöst oder das Laminat warf aufgrund von Feuchtigkeit Blasen. Die Läufer waren zerschlissen, und wohin sie auch kamen, ergriffen Heere großer Kakerlaken die Flucht. Mit der Belüftungsanlage stimmte ebenfalls etwas nicht, denn die Luft, die Matt einatmete, stank penetrant nach gekochtem Schellfisch. Hin und wieder gelang es ihm, in den öden, kahlen Gängen aus einem Fenster zu schauen. Die Aussicht, die sich ihm durch die schmutzverkrusteten Scheiben bot, ließ darauf schließen, dass er sich tatsächlich in dem Gebäude aufhielt, das ihm schon an der Treppe zur U-Bahn aufgefallen war. Zwei Drittel der im Jahr 2007 angeblich für die Ewigkeit gebauten Osram-Leuchten flackerten nur noch wie Stroboskope vor sich hin. Dass man in diesem Haus Schäden nicht behob, sondern höflich ignorierte, merkte Matt spätestens in dem Moment, in dem seine Bewacher ihn in einen schrill quietschenden Aufzug stießen und nach unten fuhren. Matt fragte sich ernsthaft, ob seine Eskorte möglicherweise taub war, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Menschen ein derartiges Gequietsche täglich über sich ergehen ließen, ohne aggressiv zu werden. Immerhin konnte er wahrend der Fahrt einen Blick auf die Schalttafel des Lifts werfen. Sie wies die Zahlen O-l bis O-10 und U-l bis U-10 auf, sodass er davon ausging, dass sich das Reich Fjodoors des Gütigen über insgesamt zwanzig Etagen erstreckte, wobei letztere mit großer Wahrscheinlichkeit unter der Erdoberfläche lagen. In dem großen Raum, in dem sie ausstiegen - O-l, Parterre -, gab es keine Fenster. Matthew vermutete, dass sie zugemauert waren. Dafür stank es hier nach Schimmelpilz und ungewaschenen Füßen. Es schien eine Kombination aus Möbelantiquariat und Werkstatt zu sein, in der sich Mobiliar aus vergangenen Jahrhunderten bis an die Decke stapelte. Ein Heer graugesichtiger Schreiner und Schlosser war damit beschäftigt, den alten Kram aufzumöbeln, um ihn neuen Verwendungszwecken zuzuführen. Matt nahm an, dass Fjodoors Lumpensammler den Kram aus den Ruinen Vancouvers gerettet hatten. Zerstrubbelte dürre Jünglinge mit wachen Augen, die fadenscheinige Klamotten und abgewetzte Stiefel trugen, lupften beim Anblick der Offiziere ihre Pelzmützen und salutierten. ' Matt fand auch weiterhin keine Chance zu Flucht oder Gegenwehr. Solange seine Hände auf den Rücken gefesselt waren, hatte er schlechte Karten. Er wurde durch Türen und Gänge gestoßen, bis er schließlich vor einer altersschwachen Mahagonitür stand, auf der ein Metallschild verkündete, dass hier Rosies Boutique residierte, deren Spezialität feine Damenwäsche war. Darunter hatten Narrenhände mit spitzen Gegenständen irgendwelche Sprüche in kyrillischer Schrift und obszöne Zeichnungen eingekratzt. Schau an, dachte Matt, die Menschen sind doch überall gleich. Die Offiziere stießen ihn in einen riesigen fensterlosen Saal hinein, der vermutlich einst die Empfangshalle des Gebäudes gewesen war - die wuchtige Theke deutete es zumindest an. Wie die Korridore, die Matt bisher gesehen hatte, wurde er von Osram-Leuchten der letzten Generation erhellt. Matthew fragte sich, welche Energiequelle sich hier, am Arsch der Welt, über fünfhundert Jahre erhalten hatte. Dann fiel sein Blick auf eine an die Wand 28
geschraubte Bronzetafel: ein Verzeichnis der Firmen, die bis 2012 in diesem Hochhaus ihren Geschäften nachgegangen waren. Da die Offiziere ihn rasch und energisch weiterzerrten, konnte Matt nur wenige Firmennamen lesen, aber zumindest zwei blieben in seinem Gedächtnis haften: TRILITHIUM, INC. und VIKTOR URSINOW - WAFFEN ALLER ART. Den Energiekristallen der Firma Trilithium verdankten die Techno-Bunker noch heute Wärme und Strom. Viktor Ursinows Waren hatten seit 1990 zahlreiche afrikanische, asiatische und südamerikanische Tyrannen an die Macht gebracht. Matt hoffte deshalb, dass der Kometeneinschlag diesen Mann auf der Latrine erwischt hatte. Bald darauf fand er sich in einem Raum wieder, der entfernte Ähnlichkeit mit einer Arztpraxis hatte. Eine knochige Frau mit schwarzen Augen, hochgestecktem schwarzen Haar und herben Gesichtszügen, die einen fleckigen, blassgrünen Kittel trug, schnarrte die Offiziere an. Die Männer standen stramm und salutierten. Dann zwangen sie Matt auf eine merkwürdig geformte metallene Sitzgelegenheit. Während ihm der eine die Mündung einer Pistole an die Schläfe drückte, durchschnitt der andere Matts Handfessel - nur um seine Arm- und Fußgelenke mit dünnen Lederschlaufen auf dem Stuhl zu fixieren. Dann bauten sich die beiden mit stoischer Miene rechts und links der Tür auf. Matt schaute sich um. Es war nicht übertrieben zu sagen, dass ihm die Muffe ging. Dass er seine Sitzgelegenheit als gynäkologischen Stuhl erkannte, war auch nicht dazu angetan, seine Laune zu heben. Die Foltermeisterin kam näher und taxierte ihn wie eine Laborratte. Matt fühlte Übelkeit aufsteigen, als er in ihrer Hand eine riesige Spritze sah, in der pfefferminzgrüne Flüssigkeit schwappte. »Moment mal«, versuchte er Zeit zu schinden, »wir können doch über alles reden. Was wollt ihr wissen?« Die Tür ging auf und der Gelehrte Stepaan schob seinen Rauschebart in den Raum. Ihm dichtauf folgte der Späher Nikolaai. Die Foltermeisterin blaffte die beiden an, verdrossen über die Störung. Matt stand dem unerwarteten Besuch wesentlich positiver gegenüber. »Stepaan!«, rief er. »Hast du mit dem Zaren gesprochen?« Erst aber wechselte der Greis einige Worte mit der Foltermeisterin. Matt verstand »Zar« und »Fjodoor«. Leider konnten es keine guten Nachrichten sein, denn die Foltermeisterin knurrte nur zufrieden und deutete auf einige dreibeinige Hocker, die an einer Wand aufgereiht standen. Nikolaai setzte sich schweigend, während Stepaan einen der Hocker heranzog und neben Matt Platz nahm. »Leider der Zar ist uneinsichtig, Maddrax«, sagte er mit leidender Miene. »Ich bin hier, um mir zu merken, was du sagst unter der Folter. Und Nikolaai darf hier sein zur Belohnung, weil er dich gefangen hat.« »Toll! Dann bin ich also eine Art erster Preis, was?«, erwiderte Matt zynisch. »Sag der Dame im Kittel, dass ich mit dem Zaren reden will. Sie kann sich die Folter sparen.« Stepaan zuckte mit den Schultern. »Das ist gegen die Vorschriften«, sagte er bedauernd. »Erst die Folter, dann das Geständnis.« Die Foltermeisterin trat an Matts Seite, krempelte ihm den Ärmel hoch und setzte die Nadel an. Nikolaai stöhnte, als ginge es um sein eigenes Leben. Vermutlich war die »Belohnung« des Zaren für auch nicht das Gelbe vom Ei. Matt schloss die Augen und fragte sich, ob es ihm helfen würde, wenn er zu Wudan betete. 29
»Das ist alles ein Missverständnis«, hörte er sich sagen, als die pfefferminzgrüne Flüssigkeit in seinen Arm drang. »Ich bin nicht der Feind eures Zaren... Ich bin nur ein harmloser... ahm... Forschungsreisender ...« Ein merkwürdiges Jucken befiel Matts Zunge, und in ihm breitete sich das unwiderstehliche Verlangen aus, der Foltermeisterin ein Lied vorzusingen. »Der Zar irrt nie«, erwiderte Stepaan seufzend. Er klang ziemlich verbittert. »Er ist unfehlbar, wie seine Ahnen. Dies auch gilt für die Lejtenants, denn sie gehören zu seiner Familie.« Die angenehme Taubheit in Matts Hirn nahm zu. Er summte leise vor sich hin, und die Foltermeisterin betrachtete ihn zufrieden und sagte dann: »Die Befragung beginnt!« Matt war sich nicht sicher, was sie damit meinte. Das juckende Gefühl in seiner Zungenmuskulatur und das Bedürfnis zu singen wurden übermächtig, und so machte er den Mund auf und schmetterte die gute alte Nationalhymne von sternengesprenkelten Banner. Nikolaai und die Offiziere glotzten ihn an. Die Foltermeisterin kicherte hämisch. Nur der Gelehrte Stepaan senkte leidvoll den Blick. In Matts Kopf ging alles drunter und drüber, und eine lästige Stimme flüsterte ihm zu, dass die pfefferminzgrüne Flüssigkeit dabei war, sein Hirn in einen Haufen Matsch zu verwandeln. Er hörte nicht auf sie. »Wie heißt du, faschistischer Okkupant?«, fauchte die Foltermeisterin, deren Worte der Greis übersetzte. Matt sagte es ihr. »Welcher Streitmacht gehörst du an?« »U. S. Air Force, Astronomie Division«, hörte Matt sich nuscheln. »Ich bin Pilot.« »Was ist ein Pilot?« »Jemand, der fliegt.« Die Anwesenden stutzten. »Soll das heißen, dass du fliegen kannst?« »Genau.« Brüllendes Gelächter ertönte, diesmal von den beiden Offizieren. »Dann mal los!«, brüllte einer. »Zeig uns, wie du fliegst!« Ein harscher Wink der Foltermeisterin brachte ihn zum Schweigen. Dann wandte sie sich wieder Matt zu. »Du bist einwandfrei irrsinnig«, stellte sie fest. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Beantworte mir die folgenden Fragen: Bist du mit dem Ziel hierher gekommen, das Reich der Tausend zu überfallen und dich an seinen Errungenschaften zu bereichern?« Matt verneinte. »Woher kommst du?« »Aus den Vereinigten Staaten von Amerika«, sagte Matt wahrheitsgemäß. Die minzgrüne Flüssigkeit ließ ihm keine Wahl. »Vereinigte Staaten? Wo soll das sein?« »Im Süden. Wo der Schnee zu Ende ist.« Seine Worte verblüfften die Anwesenden, und Stepaan rief auf Russisch: »Dann stimmt es also doch! Ich hatte Recht! Es gibt im Süden Land ohne Schnee!« Die Foltermeisterin schaute ihn missbilligend an. Die Gesichter der Offiziere drückten Unglauben aus. ( Und weiter ging das Verhör. Matt wurde nach seinen Gefährten und seinem Ziel befragt. 30
Er nannte Aikos und Aruulas Namen und berichtete, dass sie ans andere Ende der Welt wollten, um einen Kratersee zu erforschen. Als er seine Ankunft in Vancouver schilderte und den Überfall im U-Bahn-Schacht, sagte der Gelehrte Stepaan: »Das müssen gewesen sein die faschistischen Okkupanten, denn wir haben deine Freunde nicht festgenommen.« Die Foltermeisterin setzte eine nachdenkliche Miene auf. Sie schien zu begreifen, dass der Delinquent vor ihr tatsächlich unschuldig war und sie auf den Einsatz weiterer Folterspielzeuge verzichten musste. Ihr wurde klar, dass sie einen Fehler begangen hatte: Sie hätte das Serum ganz zuletzt einsetzen müssen! Schließlich lösten die Offiziere auf ihre Weisung hin Matts Fesseln und hoben ihn aus dem gynäkologischen Stuhl. »Die Folter ist beendet«, sagte der verdiente Gelehrte Stepaan. Er wirkte sehr erleichtert. Das war schon alles?, wollte Matt im ersten Moment fragen, besann sich aber eines Besseren und hielt den Mund. Er rieb seine Handgelenke und schaute sich neugierig um. »Wie gehts jetzt weiter?« »Das wird entscheiden Fjodoor der Gütige.« Der Greis nickte der Foltermeisterin zu und setzte sich an die Spitze der Prozession. Matt folgte ihm, dann ein ebenfalls recht erleichterter Nikolaai. Die Offiziere bildeten die Nachhut. Diesmal blieb Matt ungefesselt. Die Benommenheit fiel allmählich wieder von ihm ab. Offenbar hielt die Wirkung des grünen Serums nicht allzu lange vor. Auf dem Rückweg zum Aufzug hatte er neuerlich Gelegenheit, den Verfall des Zarenreiches wahrzunehmen. Als sie in O-10 aus dem mörderisch quietschenden Aufzug traten, eskortierten Stepaan, Nikolaai und die Offiziere Matt in den Thronsaal. Fjodoör der Gütige war noch nicht zugegen; er musste erst aus seinem Schönheitsschlaf geweckt werden. Matt nutzte die Gelegenheit. Er trat an den Glasrahmen, der neben der Tür an der Wand hing, und warf einen Blick auf den leicht vergilbten Zeitungsausschnitt, eine herausgerissene Seite aus dem Vancouver Herald vom 15. 4. 2011. Sie beschäftigte sich mit dem aus St. Petersburg emigrierten Kaufmann Viktor Ursinow, der im gleichen Jahr nach Vancouver gekommen war, um in der ultramodernen Wohnmaschine Merril Building eine Etage zu mieten, aus der er sein »internationales Im- und Export-Unternehmen« leiten wollte. Der Berichterstatter wies auf süffisante Weise darauf hin, dass Mr. Ursinow, zwanzig Jahre zuvor noch ein hochrangiger Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB, sich nach der politischen Karriere vorrangig als »Pate« der Russenmafia betätigt hatte. Ein Foto, das den Artikel zierte, bildete Mr. Viktor Ursinow und seine Gattin sowie seine fünf erwachsenen Kinder und ein Dutzend seiner Angestellten ab. Matt musste zwei Mal hinschauen, um es zu glauben: Viktor Ursinow war Fjodoor dem Gütigen wie aus dem Gesicht geschnitten. Was um alles in der Welt war 2012 hier passiert? Dann ging die Tür auf und der Zar trat ein. »Ah!«, rief er aus, als er Matt vor dem Zeitungsausschnitt erspähte. »Du betrachtest das Bild meines Ahnen, des Gründers unserer Dynastie! Als in der Finsteren Epoche alles drunter und drüber ging, hat er die Macht an sich gerissen und die Menschen in ein goldenes Zeitalter geleitet, das noch heute andauert und andauern wird allzeit.« Der Gelehrte Stepaan kam kaum mit dem Übersetzen nach, so sehr redete sich der Zar in Rage. »In der Finsteren Epoche?«, fragte Matt neugierig. »Du kennst die Finstere Epoche nicht?« Fjodoor der Gütige musterte ihn erstaunt und 31
breitete in einer theatralischen Pose die Arme aus. In jeder Hand hielt er eine Pistole. »Als die Welt vom Terror der Demokraten heimgesucht wurde? Als es Menschen gab, die r tatsächlich glaubten, jeder sei gleich viel wert und niemand stunde über einem anderen?« »Ich habe nur am Rande davon gehört«, erwiderte Matt vorsichtig. »Dort wo ich herkomme, sind die Erinnerungen an diese furchtbare Zeit langst verblasst.« »Man darf sie nie vergessen«, sagte Fjodoor entrüstet. »Damit sie nie wiederkommt.« Er legte Matt einen Arm um die Schultern und führte ihn zu seinem Thron. Stepaan folgte ihnen. »Wie mir berichtet wurde, hast du die Wahrheit gesprochen, Maddrax. Du bist tatsächlich ein Forschungsreisender aus dem Süden.« Er hüstelte. »Später musst du mir von dem Reich berichten, aus dem du stammst... Ich plane nämlich, es irgendwann zu erobern, weil es nicht gut ist, wenn mehrere Reiche nebeneinander existieren. Aus den Überlieferungen meiner Ahnen weiß ich, dass so was nur zu Streitigkeiten fuhrt. Deswegen halte ich es für das Beste, wenn ein Zar über alle Reiche herrscht.« »Eine großartige Idee, Hoheit«, sagte Matt. Er hatte beschlossen mitzuspielen, um den unzweifelhaft Verrückten nicht zu verärgern. »Außerdem«, sagte Fjodoor der Gütige und bleckte sein stählernes Gebiss, »habe ich beschlossen, dir die Chance einzuräumen, die wir seit Anbeginn der Zeiten jedem Neuankömmling bieten, der sich unserem kaiserlichen Willen beugen will.« Der Zar nahm auf seinem hölzernen Thron Platz. »Als mein Urahn Viktoor das Reich der Tausend gründete, erließ er eine Direktive, die noch heute gültig ist, da sie unseren Fortbestand garantiert.« Sein Blick richtete sich auf Matt. »Laut dieser Direktive dürfen in unserem Stadthaus nie mehr als tausend Menschen leben.« Er bleckte erneut die Zähne. »Und weißt du warum?« »Wegen des begrenzten Lebensraums?«, entgegnete Matt das Offensichtliche. Fjodoors Augen blitzten angesichts seiner hohen Intelligenz auf. »So ist es!«, rief er. »Ein Reich kann bekanntlich nur so vielen Menschen Lebensraum bieten, wie es ernähren kann.« Er beugte sich vor. »Nun kommt es aber hin und wieder vor, dass die Weiber Zwillinge oder gar Drillinge werfen, und manchmal kommt sogar ein Wanderer des Weges, dessen Kräfte oder Fähigkeiten ihn als Bürger wertvoll machen.« Die Stirn des Zaren runzelte sich. »Doch was tun in so einem Fall?« Ich kann es mir vorstellen, dachte Matt schaudernd, aber noch bevor er antworten konnte, fuhr der Zar bereits fort. »Jeder Bürger des Reiches wird nach seinem Nutzen bewertet, und ein neuer Aspirant muss sich des Reiches würdig erweisen Nur wenn er bereit ist, eine Heldentat zu begehen, kann er einer der unseren werden.« »Und wenn er sich würdig erweist?«, fragte Matt, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte. »Für jeden Neuzugang muss ein unnützer Alter oder Kranker das Stadthaus verlassen«, sagte der Zar und strahlte übers ganze feiste Gesicht. »Ist das nicht schlau?« Matt dachte spontan an die Skelettberge, die er vor dem Einstieg zu U-Bahn gesehen hatte. Ob sie wohl mit diesem Gesetz in Zusammenhang standen? Dann war es kein Wunder, dass sich der Izeekepir die Station als Unterschlupf ausgesucht hatte. »Auch für dich«, unterbrach Fjodoor der Gütige Matthews Gedankengange, »ist nunmehr die Zeit der Prüfung gekommen.« Matt schluckte. In seinem Magen breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Wenn er die 32
Prüfung bestand, verlor ein Anderer an seiner Statt das Leben. Und wenn er patzte, war er wahrscheinlich selbst ein toter Mann. So also fühlt man sich, wenn man vom Regen in die Traufe kommt... »Als Offizier und weitgereister Entdecker warst du für mein Reich zweifellos ein Gewinn«, sagte der Zar und lehnte sich zurück. »Deshalb sollst du Möglichkeit haben, mir von Nutzen zu sein.« Er deutete mit dem Colt in seiner Rechten über seine Schulter auf die Stadt. »Du verstehst die Sprache der faschistischen Okkupanten, von denen wir annehmen, dass sie aus dem Reich Yukonia kommen. Sie sind eine Bedrohung, da mein ruhmreicher Enkel Iwaan und seine Späher vor geraumer Zeit eins ihrer Snoo-Mobile vernichtet haben. Außerdem wollen sie unsere Errungenschaften rauben und unsere Djevotschkas schänden.« »Ach, wirklich?«, sagte Matt. Der Zar wusste wahrscheinlich selbst nicht, welchen Blödsinn er von sich gab. Eines aber war unleugbar: Wer immer diese mysteriösen Yukonier waren - sie sprachen Deutsch und hatten seine Gefährten entführt. »Ich biete dir an, in meine Dienste zu treten«, fuhr Fjodoor fort. »Wir brauchen deine Talente im Kampf gegen die faschistischen Okkupanten.« Seine Augen glitzerten. »Sobald du in meinem Namen die erste Heldentat begangen hast, darfst du im Stadthaus wohnen. Was hältst du davon?« So viel wie von dir, du aufgeblasener Wicht, dachte Matt. Er hatte absolut kein Interesse, auf Kosten eines armen Hundes, der vielleicht das Pech hat, zu klein oder zu schwach zu sein, hier einzuziehen. Andererseits musste er schleunigst Aruula und Aiko aufspüren, sie wahrscheinlich sogar aus der Gewalt einer Übermacht befreien. Allein hatte er da wenig Chancen, doch wenn ihm Fjodoor ein Kommando mit auf den Weg gab... »Was hältst du von dieser Idee?«, wiederholte der Zar. »Ich werde mich der Ehre als würdig erweisen«, sagte Matt. »Das werden die Krieger bezeugen können, die du mir unterstellst.« Fjodoor schlug die beiden Colts so heftig aneinander, dass sie Funken sprühten. »Wunderbar! So machen wir es! Du kriegst auch ein Schießeisen, falls wir eins übrig haben.« Er deutete auf den Gelehrten Stepaan. »Informiere Maddrax über die Lage und begleite ihn als sein Übersetzer.« Dann stand er auf und schritt zu der Tür, durch die er eingetreten war, drehte sich vorher aber noch einmal um und wies auf Nikolaai, der verloren abseits stand. »Du gehst auch mit, verdienter Späher! Betrachte es als Auszeichnung! Und nun: Do swidanja!« Damit verschwand er. Und hinterließ zwei nicht eben glücklich dreinblikkende Gestalten: den Greis Stepaan, der sich ernsthaft fragen musste, ob er den Strapazen dort draußen in Sturm und Eiseskälte überhaupt noch gewachsen war, und den Späher Nikolaai, der sich in diesem Moment wünschte, niemals auf den blonden Fremdling getroffen zu sein... Nachdem Matt im Schlafsaal der Späher einige Stunden auf einer harten Pritsche geruht hatte, geleitete Nikolaai ihn ins Kasino - einen kahlen Raum, in dem einige Dutzend Holzbänke vor grob zusammengehauenen Tischen standen - und besorgte ihm eine aus Gemüsesuppe, Brot und Tee bestehende Mahlzeit. Anschließend befriedigte der verdiente Gelehrte Stepaan Lejtenant Maddrax' Neugier, indem er ihn durch die ehemalige Empfangshalle des Merril Building führte. Endlich hatte Matt genügend Zeit, einen ausführlicheren Blick auf die Bronzetafel zu werfen, die die Namen der einst hier tätigen Firmen auflistete. 33
Zum Zeitpunkt des Einschlags, so fand er heraus, waren in diesem Gebäude einige Firmen und Institutionen ansässig gewesen, die das Überleben begünstigt hatten. Ein obskures Unternehmen namens Meat Cloning Corporation war Anfang des 21. Jahrhunderts durch seine Versuche, Lebensmittel zu klonen, in die Schlagzeilen geraten. Offenbar hatte die MCC kurz vor dem unverhofften Ende der Welt einen Durchbruch erzielt. Das ebenfalls im Merril Building ansässige, für die Raumfahrt - und speziell die geplante Marskolonie - tätige Hydroponics Institute hatte neue Systeme zur Aufzucht und Haltung von Frischgemüse erprobt. Wie Matt von Stepaan erfuhr, wussten die Experten des Reiches noch heute, wie man mit den Geräten umging, die all diese Wunderdinge erzeugten. Energie und Wärme lieferten die »Zauberkristalle« aus den ehemaligen Versuchslabors der Trilithium Inc. Matt befragte den Greis natürlich auch nach der Geschichte des Reiches. Er erfuhr, wie der erste Zar, Viktoor der Ordentliche nach dem Einbruch der ewigen Nacht mit Hilfe schwerer Waffen den blutgierigen Mob daran gehindert hatte, ins Stadthaus einzudringen. Er ließ die Fenster der fünf untersten Etagen zumauern, zehn Kelleretagen ausbauen und ein festes Eisenportal in die Wand setzen, die zum Bahnhof hinaus führte. Sämtliche Demokraten wurden eliminiert, das Stadthaus militärisch umstrukturiert, und jedermann wurde ein Dienstgrad verliehen. Viktoor brachte die weltfremden Wissenschaftler im so genannten Elfenbeinturm dazu, sich ihm anzuschließen und für die dringendsten Bedürfnisse des Pöbels tätig zu werden, während seine ausgezeichnet bewaffneten Mannen in nächtlichen Strafexpeditionen die Stadt von allen schurkischen Elementen befreiten. Der Zar bestimmte, dass nur Angehörige der Ursanow-Familie im Stadthaus herrschen durften. Er schaffte die Altsprak ab und ersetzte sie durch seine eigene Sprache, da er keine Lust hatte, sie zu erlernen. Schließlich verpflichtete er die Gelehrten, seine Errungenschaften beim Pöbel publik zu machen und als sein Sprachrohr zu fungieren, so dass niemand mehr erfuhr als er wissen musste, damit er im Goldenen Zeitalter Viktoors des Ordentlichen optimal funktionierte und nicht aus der Reihe tanzte. »Zwar hatte verboten der Zar, dass der Pöbel die Altsprak spricht«, endete Stepaan seinen Bericht, »doch den verdienten Gelehrten steht es frei, sie zu erlernen - für den Fall, dass Fremdlinge vorstoßen in unser Reich, die wir ansonsten nicht könnten verstehen. Und weil ansonsten ginge das gesamte Wissen der Menschheit verloren, denn sämtliche achtundzwanzig Bücher, die in unserem Archiv stehen, sind geschrieben in Altsprak.« »Was, so viele Bücher habt ihr?«, sagte Matt mit einer Ironie, die der Gelehrte nicht verstand. »Früher es waren mehr«, erwiderte der Greis mit einem Anflug von Stolz. »Doch in den Jahren nach der Katastrophe die Barbaren haben die meisten benutzt als Brennmaterial.« Er runzelte die Stirn. »Dafür muss man haben Verständnis, denn sie waren ja nicht an die Kälte gewöhnt wie wir.« »Was weißt du über die Katastrophe?«, fragte Matt neugierig. »Sie kam über Nacht«, sagte Stepaan. »Es wurde dunkel. Sehr dunkel. Und kalt. Sehr kalt. Und so es blieb, bis die sechste Generation erwachsen war.« Er zuckte seufzend die Schultern. »Leider ist viel Wissen gegangen verloren in dieser Zeit. Zwar unsere verdienten Ge lehrten wissen, wie man die Maschinen bedient, die halten das Stadthaus in Gang, 34
aber wenn etwas geht kaputt, können sie es nicht mehr reparieren, so dass allmählich alles geht aus dem Leim und zerfällt.« »Zum Beispiel die Belüftung«, sagte Matt. Die Luft, die er atmete, stank noch immer entsetzlich nach gekochtem Schellfisch. »Die Belüftung?« Der Greis schnupperte verdutzt. »Was soll nicht in Ordnung sein damit?« »Ist vielleicht Geschmackssache«, erwiderte Matthew. »Aber mir ist da noch etwas aufgefallen. Der Zar...« Er räusperte sich. Jetzt hieß es vorsichtig zu formulieren. »... nun, er scheint mehr auf die Klugheit seiner Gelehrten zu bauen als auf die eigene.« Unwillkürlich hielt Matt die Luft an; hatte er schon zu viel gesagt und eine Majestätsbeleidigung begangen? Doch Stepaan seufzte nur und nickte. »Unser glorreicher Zar ist leider arm im Geiste«, sagte er überraschend offen - vermutlich weil sie in der Altsprak redeten. »So wie alle Angehörigen der Ursanow-Familie. Ich vermute, das kommt daher, weil sie nur Nachkommen zeugen untereinander seit Anbeginn ihrer Herrschaft.« Was nach all diesen Generationen dazu geführt hat, schlussfolgerte Matt, dass Fjodoor der Gütige einen gehörigen Dachschaden hat. Aber er hatte eh nicht vor, noch einmal unter Fjodoors Augen zu treten. Sobald er Aruula und Aiko gefunden und befreit hatte, würde er mit den beiden schleunigst das Weite suchen. Bevor der Zar ihretwegen ein paar arme Bürger vor die Tür setzte. »Machen wir uns auf den Weg«, sagte Matt zu Stepaan und Nikolaai. »Besorgt mir ein Schießeisen und ein paar andere wichtige Dinge, dann gehen wir los und nehmen die Spur dieser...«, er hüstelte, »... faschistischen Okkupanten auf.« * Die Tubennahrung, mit der Leutnant Vanessa Feddersen Aruula im Inneren des Fahrzeugs verköstigte, schmeckte zwar nach nichts, aber sie stillte wenigstens den Hunger. Der Tee, den sie ihr kredenzte, weckte Aruulas Lebensgeister, so dass sie sich, als die Finsternis zurückkehrte, so wach fühlte wie schon lange nicht mehr. Nachdem Aruula gegessen und getrunken hatte, nahm Leutnant Feddersen - sie sprach Matts Sprache mit einem drolligen Akzent - neben ihr Platz. Dass sie Aruula Komplimente wegen deren Schönheit machte, war verwirrend, aber nicht ungewöhnlich. Dass Aruulas Körperbemalung sie interessierte, von der ein kleines Stück an Gesicht und Hals sichtbar war, war verständlich. Dass sie Aruulas Thermoanzug mit bebenden Fingern aufknöpfte, um sich die Bemalung ganz genau und aus der Nähe anzusehen, empfand Aruula schon als leicht sonderbar. Spätestens in der Sekunde, in der Leutnant Feddersens zarte Hände ihren Busen berührten, wurde Aruula klar, was die Stunde geschlagen hatte. Die hübsche blonde Frau mit den blauen Augen machte ihr den Hof! »Was für zarte Haut du hast!«, raunte Vanessa Feddersen heiser und folgte der heiligen Bemalung mit dem Zeigefinger, bis die Linie unter Aruulas Oberteil verschwand. Sie hakte den Finger unter den dünnen Stoff und hob ihn leicht an. Aruula entstammte einer Kultur, deren Regeln es nicht für schändlich hielten, wenn 35
Frauen mit Frauen und Männer mit Männern zärtlich wurden. Aber seit Beginn ihrer Gefangenschaft waren ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt, und so wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich derlei Emotionen hinzugeben - ganz abgesehen davon, dass sie Maddrax liebte. Dass Leutnant Feddersen sich so eingehend mit ihrem Busen beschäftigte, empfand Aruula jedoch als angenehm und zwar deswegen, weil deren Aufmerksamkeit nun abgelenkt war. Während die Blondine bewundernd die vollen Brüste ihrer Gefangenen betrachtete, wanderte Aruulas Blick zu dem Knopf, den Oberst Hartwig betätigt hatte, um das Panzerfahrzeug zu öffnen. Und in dem Moment, als sich Leutnant Feddersen vorbeugte, um das Bikini-Oberteil zu lösen, holte Aruula blitzschnell mit der Faust aus und schmetterte sie der Blondine in den Nacken. Leutnant Vanessa Feddersen erschlaffte. Aruula schob sie von sich. Sie schloss schnell ihr Gewand, zog die merkwürdige Stahlwaffe mit dem ellenlangen Lauf aus dem ledernen Holster am Gürtel der Besinnungslosen, schob sich durch den Mittelgang nach vorn und drückte auf den Knopf. Es zischte leise; die Luke ging auf. Aruula schob den Kopf in die Kälte der Freiheit und blickte in das Gesicht eines einzelnen Mannes, der die Fahrzeuge bewachte. Der Rest seiner Kameraden hielt sich wohl in dem alten Haus auf. Als der Mann Aruula sah, stutzte er, denn zweifellos hatte er Leutnant Feddersen erwartet. Allerdings kam er über das Stutzen nicht hinaus, da der ellenlange Lauf der erbeuteten Stahlwaffe schon in seinen Schritt knallte. »Arghhh«, machte der Mann. Er wankte zurück. Aruula schoss aus der Luke hervor. Ihre freie Hand, zur Faust geballt, traf den Taumelnden am Kinn. Der Mann aus Yukonia verdrehte die Augen, verlor die Balance. Aruula setzte ihm nach, hob erneut die Stahlwaffe und ließ sie gegen seine Schläfe krachen. Der Posten sank lautlos in eine Schneewehe. Es hatte aufgehört zu schneien. Aruula fegte auf dem Absatz herum und rannte einem Torbogen entgegen. Dahinter lag eine Straße. Im Laufen betrachtete sie die erbeutete Waffe, doch sie kannte deren Mechanismus nicht und wusste nicht, wie man sie aktivierte. Als sie unter dem Torbogen durch war und nach rechts und links sicherte, vernahm sie hinter sich ein Stöhnen. Ihr Kopf flog herum. Leutnant Feddersen beugte sich aus dem Fahrzeug. Sie hielt sich den Kopf. Dann entdeckte sie den besinnungslosen Posten, der alle Viere von sich streckte, und griff automatisch an ihr Holster. Als sie feststellte, dass ihre Waffe fehlte, schrie sie auf. Gleichzeitig fiel ihr Blick auf Aruula. Die Barbarin grinste schief, zuckte entschuldigend die Achseln und stürmte in die Richtung davon, in die die Kettenspuren der im Hof abgestellten Fahrzeuge wiesen. Bedauerlich nur, dass sie nicht mehr dazu kam, Aiko zu befreien, der vermutlich in einem der beiden anderen Fahrzeuge gefangen war. Später! Jetzt musste sie erst einmal die Höhle finden, in der sie von Maddrax getrennt worden war. Gemeinsam würden sie es gewiss schaffen, Aiko aus den Händen der Yukonier zu befreien... Als sich Aruula durch die von Bauschutt, Wracks und Schneebergen beengte Straße entfernte, traten aus der Ruine, die der Bibliothek gegenüber lag, drei junge Yukonier. Sie winkten Leutnant Feddersen, zu der sich gerade Hauptmann Nanuuk und 36
Oberst Hartwig gesellten, kurz zu, bevor sie sich geduckt in Bewegung setzten und Aruulas Fährte aufnahmen. »Gute Arbeit, Vanessa«, sagte Hartwig und schenkte Leutnant Feddersen ein amüsiertes Lächeln. »Hat's wenigstens Spaß gemacht?« Vanessa Feddersen rieb sich den schmerzenden Nacken. »Die Kleine war ein bisschen ungestüm.« Sie seufzte. »Schade; ich hätte gern ein bisschen länger mit ihr geschmust. Sie hat so etwas Urwüchsiges, Natürliches.« Sie seufzte verlangend. »Vielleicht kann ich meine Bekanntschaft mit ihr irgendwann vertiefen.« »Sie wird uns schnurstracks zum Reich der Tausend führen«, sagte Hartwig. »Wenn wir erst wissen, wo der Eingang des Bunkers ist, können wir unsere schweren Geschütze auffahren.« Er schnalzte mit der Zunge. »Dann gehört Aruula ganz alleine dir...« Die Finsternis war nicht dazu angetan, Aruula den Weg zu erleichtern. Außerdem war sie die längste Zeit auf der Fahrt zum Quartier der Yukonier ohne Bewusstsein gewesen. Kurzum: Sie wusste nicht im Geringsten, wo sie war. Als sie durch den Schnee stapfte und an den Ruinen vorbei eilte, nutzte sie jede Gelegenheit, um in Seitenstraßen und Ga ssen hineinzuschauen, aber sie konnte das SUBWAY-Schild .nirgendwo finden. Irgendwann konnte sie nicht länger leugnen, sich hoffnungslos verlaufen zu haben. Rings um sie her waren nur Schwärze und heulender Wind. Um nachzudenken und sich vor dem Wind zu schützen, trat sie in das offene, finster gähnende Türloch eines Hauses. Während sie dort verharrte, hörte sie plötzlich das Knirschen von Schritten im Schnee, und als sie den Kopf ins Freie schob, erspähte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei geduckt an der Hauswand entlang schleichende Gestalten. Es waren Yukonier. Aruula wollte sich gerade in den Hausflur zurückziehen, als unmittelbar vor ihr eine dritter Mann den Eingang querte. Sein Auftauchen kam so unerwartet, dass Aruula ein erschrockenes Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Der Laut ließ die Gestalt herumfahren. Der Mann war ebenso überrascht wie sie. Aruulas Hand mit der erbeuteten Waffe zuckte hoch und schlug quer über die Nase des Verfolgers. Er ächzte, seine Knie knickten ein, sein Zeigefinger krümmte sich und ein Schuss, der hallende Echos warf, brach sich an den Wänden. Aruula nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass sich neben ihr ein Putzbrocken von der Hauswand löste. Der unverhoffte Knall versetzte sie in eine lähmende Starre, die zum Glück nur einen Atemzug währte. Als der Mann dann im Niedersinken seine Waffe auf sie anlegte, konnte die Kriegerin nur noch eines tun, um einem Treffer zu entgehen: Ihr Fuß zuckte vor und trat gegen sein Kinn. Aruula hörte das abscheuliche Knacken, als der Kopf in den Nacken flog und das Genick des Yukoniers brach. Sie wich zurück. Ihre Instinkte hatten das Kommando übernommen; ihr wurde kaum bewusst, dass sie gerade ein Leben ausgelöscht hatte. Ihr eigenes Leben war immer noch in Gefahr, denn nun blieben die beiden Männer auf der anderen Seite der Straße stehen und nahmen sie ins Visier. Ich muss hier weg!, durchzuckte es Aruula. Auf die Straße konnte sie nicht - blieb also nur der Fluchtweg in die Ruine hinein. Sie wirbelte herum und stürzte sich in die Dunkelheit eines schimmlig riechenden Hausflurs. Hinter ihr wurden Stimmen laut, und als sie einen kurzen Blick riskierte, sah sie, dass die beiden Verfolger sich nach dem Toten bückten. 37
Sie stolperte über Steine, Plastiktonnen und Schneewehen, glitt aus und landete am Grund eines Treppenhauses auf der Nase. Nach oben führende Treppen, diese Erfahrung hatte sie schon gemacht, führten fast nie in die Freiheit, es sei denn, man hatte Flügel. Außerdem waren die untersten Treppenstufen bis auf eine Höhe von drei Metern zusammengestürzt. Also weiter! Sie rappelte sich auf. Solche größeren Häuser verfügten oft über Hintertüren. Ein kalter Luftzug sagte Aruula, dass sie sich nicht getäuscht hatte, und nur Sekunden später drang der Widerschein des Schnees in den Flur. Sie fand den Hinterausgang ohne Mühe - und saß erneut in der Falle! Vor ihr ragten die meterhohen Reste einer Begrenzungsmauer auf, die den gesamten Hof umschloss. Zwischen Tür und Mauer lagen Schuttberge und metallene Gestänge. Dort konnte sie sich verstecken - aber was nutzte ihr das auf Dauer? Aruula umrundete die Stangen und ging hinter einem Steinbrocken in Deckung. Noch einmal besah sie sich die erbeutete Waffe, tastete sie nach versteckten Hebeln ab. Aiko besaß eine ähnliche Waffe, und wenn Aruula auch noch nie damit geschossen hatte, wusste sie doch, dass man sie erst entsichern musste, bevor sie funktionierte. Die .beiden Verfolger tauchen am Hintereingang auf. Sie verständigten sich mit knappen Worten, die Aruula nicht verstand, und wichen nach links und rechts, um sie in die Zange zu nehmen. Aruulas Daumen fand einen metallenen Pickel an der Seite der unbekannten Waffe und schob ihn nach vorn. Als sie dann ihren auf dem Abzug liegender Zeigefinger krümmte, zuckte ein Feuerstrahl aus dem Lauf in den schneebedeckten Boden. Dort, wo der Strahl getroffen hatte, verwandelte sich der Schnee in einem Umkreis von einem Meter zischend in Wasser. Aruula strahlte übers ganze Gesicht. Nun war sie nicht mehr wehrlos! Die Yukonier entdeckten ihr für eine Zehntelsekunde hell erleuchtetes Versteck im selben Moment und stürmten aus zwei Richtungen heran. Aruula konnte die polternden Schritte ihrer schweren Stiefel hören. Sie kam hinter dem Bruchstück hoch und schwenkte den Lauf nach links. Der erste Ve rfolger war schon verflucht nahe; nur noch zwei Schritte trennen ihn von ihr. Aruula zog den Stecher durch. Der Mann schien im Sprung zu erstarren. Sein Oberkörper wurde nach hinten gestoßen. Seine Pelzmütze machte sich selbstständig; die Waffe entglitt seiner Hand. Der Feuerstrahl ging durch seine Brust wie durch Holzwolle. Er stürzte schwer zu Boden und rührte sich nicht mehr. Der zweite Mann fluchte und warf sich zu Boden. Als Aruula mit der Waffe herumfuhr, fand sie kein Ziel mehr. Dafür zwangen sie grelle Laserstrahlen selbst in ihre Deckung zurück. Es war ein klassisches Patt, Keiner der beiden Kontahenten konnte einen Vorteil aus seiner Stellung ziehen. Sobald Aruula ihren Kopf über den Steinblock hob, fegten ihr Blitze um die Ohren. Und auch der Yukonier konnte nicht näher an sie heran, ohne seine Deckung aufzugeben. Aruula wünschte ihm Orguudoo an den Hals. Nun saß sie hier fest, während Aiko bei den Feinden ausharren musste und Maddrax verzweifelt versuchte, sie beide zu finden! * 38
Von wegen, »wir gehen los und nehmen die Spur der faschistischen Okkupanten auf<... Als Commander Matthew Drax an der Seite seiner vier Begleiter in die U-Bahn-Station hinaustrat, fiel ihm als erstes auf, dass die dienstbaren Geister Fjodoors des Gütigen die Kadaver der Izeekepirbrut entfernt hatten. Im Schein einer blakenden Sturmlaterne führte Späher Nikolaai das Grüppchen über den Bahnsteig zur Treppe, wo der frischgebackene Lejtenant Matt dem Trupp die Anweisung erteilte, sich nach seinem verlorenen Driller umzusehen. Aljooscha, ein ebenso dürres Kerlchen wie Nikolaai, war derjenige, der ihn schließlich fand. Sie pirschten den Aufgang zur Oberfläche empor. Draußen war es dunkel, stürmisch und kalt, aber Matt sah weit genug, um zu erkennen, dass Fjodoors dienstbare Geister auch hier ihres Amtes gewaltet hatten: Der bärenähnliche Fleischberg, dem er und seine Gefährten beinahe zum Opfer gefallen waren, war längst zerlegt und fortgebracht worden. Vermutlich brutzelte er schon in den Pfannen verdienstvoller zaristischer Meisterköche. Stepaan klang etwas wehmütig, als er Matt dies mitteilte. Die drei Späher seufzten begehrlich, als sie ihn reden hörten. Auf seine Nachfrage hin erfuhr Matt, dass das Fleisch Weißer Brüller so selten war, dass untere Dienstränge und Zivilisten niemals davon kosten durften. Nach allem, was Matt inzwischen über das Reich der Tausend wusste, wunderte es ihn zwar nicht, dass der Zar und seine debile Sippe sich die Rosinen aus allem herauspickte, was seine Untertanen erlegten und produzierten, doch dass selbige sich nie beschwerten und zu begreifen schienen, dass sie unterdrückt wurden, kam ihn eigenartig vor. Hatten die Leutchen noch nie von Revolution gehört? Andererseits - was ging es ihn an, welcher Lebenslüge die Bürger des Reiches frönten? Was scherte es ihn, wenn sie sich einem selbsternannten Zaren unterwarfen, der nicht mal ahnte, dass der Begründer seiner Dynastie ein gewöhnlicher Waffenschieber gewesen war? Nein, er hatte momentan nur ein Ziel: Er musste seine Gefährten finden. Wer ihm dabei half, ihre Spur aufzunehmen, war ihm schnuppe. Selbst wenn es die Untertanen eines mörderischen Schwachmaten waren, der Leute über den Haufen schoss, nur weil sie ihm nicht genügend Beachtung schenkten. Nikolaai führte das Grüppchen durch den wirbelnden Schnee finsterer Gassen und Straßen. Im Vergleich mit den meisten Großstädten, die Matt in den letzten Jahren gesehen hatte, sah Vancouver gut erhalten aus. Die Stadt wirkte irgendwie ... konserviert, als hätte das Eis dafür gesorgt, dass sie nicht auseinanderbrach. Natürlich hatten die eisigen Nordlandstürme die Gebäude schwer beschädigt und teils zum Einsturz gebracht. Doch viele Häuser, die er aus der Ferne sah, wirkten so, als seien sie noch bewohnbar. Am meisten verwunderte ihn, wie wenig Fahrzeugwracks er sah. Wahrscheinlich hatten die meisten Bewohner Vancouvers nach der Katastrophe versucht, südlichere Gefilde zu erreichen. So waren nur wenige Autos zurück geblieben. Matt versuchte sich die gewaltige Blechlawine vorzustellen, die sich nach dem Einbruch der ewigen Nacht gen Süden wälzte. Er fragte sich, wie viele Menschen emigriert waren um irgendwann zu erkennen, dass es keinen klassischen »Süden« mehr gab. Vermutlich lagen unter der dicken Schneedecke, die Kanada und die nördliche Hälfte der USA bedeckte, Millionen Autos, deren Insassen elend verreckt waren. Der Frost hatte sie vermu t39
lich als Eismumien konserviert. Zwanzig Minuten nach dem Auszug aus dem Stadthaus - sie schritten gerade durch eine Nebenstraße -, drang ein eigentümlich dumpfes Zischen an ihre Ohren. Nikolaai blieb stehen. Seine Kameraden griffen zu den Waffen und blickten sich konzentriert um. »Schüsse?«, fragte Matt. Stepaan übersetzte, Nikolaai nickte, dann wechselte er ein paar Worte mit Aljooscha, der geduckt auf eine Mauer zu lief, die zwischen zwei fünfstöckigen Häusern aufragte. In der Mauer klaffte ein flaches Loch, etwa einen Meter hoch und drei Meter breit. Aljooscha lugte hindurch, dann drehte er sich um und winkte. Nikolaai nickte Matthew und den anderen zu. Sie setzten sich in Bewegung. Matt zwängte sich durch das Loch. Zuerst erblickte er nur Steinbrocken, die sich vor dem Durchbruch auftürmten. Als er darüber hinweg lugte, sah er rostige Metallgestänge, die an einen Kinderspielplatz erinnerten. Es war ein Hinterhof, von Schnee bedeckt. Etwa zehn Meter entfernt ragten weitere Bruchstücke auf. Davor, ihm den Rücken zugewandt, entdeckte er eine schlanke Gestalt mit schwarzem Haar. Eine langläufige Waffe in ihrer Hand spuckte Feuer, das irgend jemand von einer Deckung aus erwiderte. »Aruula!« Der Ruf löste sich von Matts Lippen, ehe sich sein Gehirn zuschalten konnte. Nikolaai und die beiden anderen Späher, die ihm durch das Loch gefolgt waren, gingen fluchend in Deckung. Eine Sekunde später schlugen auch schon die ersten Lasersalven in die Wand über Matt ein, so dass auch er schnell den Kopf einzog. Aruula reagierte gedankenschnell. Nun, da ihr Gegner ein anderes Ziel anvisierte, sprang sie hinter ihrer Deckung hervor, nahm ihn ins Visier und feuerte. Ein Schrei erscholl. Die Gestalt schlug der Länge nach hin. »Maddrax?«, rief Aruula ungläubig. »Ich bin hier!« Matt sah, dass sie sich aufrichtete und reckte, um ihn zu erspähen. »Bleib in Deckung!«, schrie er. Aber Aruula schüttelte nur ihre Mähne und legte sich die langläufige Waffe über die Schulter. »Es ist keiner mehr übrig!«, gab sie Entwarnung. Nun richtete sich auch Matthew auf und winkte ihr. Nikolaai krallte sich in seinen Gurt, wollte ihn herunter ziehen und zischte etwas auf Russisch. Matt schüttelte ihn ab. »Sie ist meine Gefährtin«, sagte er und deutete auf Aruula, die ihn gesehen hatte und auf den Mauerdurchbruch zu kam. »Äh... Tovarisch«, fügte er hinzu, obwohl er nicht wusste, ob das Wort auch für Frauen galt. »Aruula.« Nikolaai nickte verstehend und gab seinen Gefährten einen Wink. Die drei Späher schwärmten aus und sicherten das Gelände. Die letzten Schritte legte Aruula laufend zurück. Sie umarmten einander. Worte waren überflüssig, um die Freude auszudrücken, die sie empfanden. Aljooscha und die beiden anderen Späher näherten sich derweil vorsichtig der reglosen Gestalt und entwaffneten sie. »Da drüben und im Haus liegen noch zwei weitere Kerle«, sagte Aruula. Matt bedeutete Nikolaai mit Gesten, wo er suchen musste. Dann .musterte er die langläufige Waffe, die seine Gefährtin in der Hand hielt. »Nette Knarre«, sagte er. »Kaum lässt man dich mal ein paar Stunden allein, schon gehst du einkaufen. Ihr Frauen seid doch alle gleich.« Aruulas Gesichtsausdruck ließ darauf 40
schließen, dass sie den Witz nicht kapiert hatte, also fuhr er fort: »Wo hast du die her?« »Von dem Toten im Haus. Ich glaube, die haben mich reingelegt. Die wollten aus irgendeinem Grund, dass ich fliehe...« »Wer hat dich reingelegt?« »Oberst Hartwig.« Matt horchte auf. »Wer ist Oberst Hartwig?« »Der Anführer der Yukonier. Ist eine lange Geschichte. Erzähle ich dir unterwegs. Aber was hast du in der Zwischenzeit gemacht? Wer sind diese Typen?« Matt deutete nacheinander auf die Späher. »Das sind Nikolaai, Aljooscha und Diimitri. Und draußen vor der Mauer wartet noch ein Gelehrter namens Stepaan.« Matt grinste. »Während du fort warst, hab ich 'ne erstaunliche Karriere gemacht.« Er grinste. »Ob du's glaubst oder nicht, aber vor dir steht Lejtenant Maddrax aus der Garde Fjodoors des Gütigen.« Aruula löste sich von Matt. »Fjodoor der Gütige?«, echote sie. »Ist eine lange Geschichte. Erzähle ich dir unterwegs. Jetzt sag mir lieber, was mit Aiko passiert ist. Und dann zeig uns den Weg zum Lager der fasch... ich meine, der Yukonier...« * In Aiko Tsuyoshis Leben gab es Augenblicke, in denen er sich wünschte, über die technischen Errungenschaften seines Vaters und anderen Angehöriger der Androiden-Fraktion zu verfügen. Zum Beispiel hätte er jetzt einen Gedächtnisspeicher mit der vollständigen Enzyklopädie der alten Welt gut gebrauchen können. Damit wäre es ihm leicht gefallen, das Hoheitszeichen zu identifizieren, das auf den Schultern seiner Bewacherin prangte - ein rechteckiger Aufnäher in den Farben Schwarz, Rot und Gelb. Gewiss wäre es ihm auch leicht gefallen, ihre Sprache zu bestimmen. Vielleicht hätte er sie sogar verstanden. So jedoch blieb ihm nichts anderes übrig, als mit auf den Rücken gefesselten Händen in dem Raum, der an den Lesesaal einer Bibliothek erinnerte, im Kreis zu gehen. Zum Glück wussten seine Häscher nichts von der Beschaffenheit seiner mit Kunsthaut überzogenen Plysterox-Arme. Und da er mit einer Körpergröße von nur einem Meter sechsundsiebzig durch die Bank einen Kopf kleiner war als sie, unterschätzten sie mit Sicherheit auch seine Kräfte. Der Stricke, die ihn banden, hätte er sich im Nu entledigen können. Aber er musste sich noch bedeckt halten, die Fremden in Sicherheit wiegen. Die Stricke zu zerreißen war eine Sache - waffenlos aus dem bewachten Gebäude zu entkommen eine andere. Außerdem hatten sie Aruula als Druckmittel. Auch von seinem implantierten Netzhautverstärker, mit dem er auch bei Dunkelheit sah und die Umrisse ihrer Wärmebilder wahrnahm, wussten sie nichts. Sie hatten versucht, ihn in einer merkwürdig altertümlichen Form des Englischen auszufragen. Doch er hatte eisern geschwiegen, nicht zuletzt, weil er ihre Fragen auch beim besten Willen nicht hätte beantworten können. Das Reich der Tausend... Das Fürstentum Yukonia... Beistandspakt... Räuberische Horden von der Beringstraße... Er hatte keinen Schimmer, was sie damit meinten, und hielt es 41
für besser, erst einmal nichts über sich zu verraten. Andererseits hätte auch er gern mehr gewusst; zum Beispiel, wo Matthew Drax gerade war und was er zu Aruulas und seiner Rettung plante. Der genaue Herkunftsort und die Ziele seiner Häscher interessierten ihn auch, aber wenn sie sich untereinander verständigten, benutzten sie eine Sprache, die ihm völlig unbekannt war. Es war eine gemischte Gruppe aus zwei Völkern. Ihr Anführer, Hartwig, war ein Weißer. Sein Stellvertreter Nanuuk schien Asiate zu sein. Seine Bewacherin hatte langes schwarzes Haar und mandelförmigen Augen. Sie gehörte ebenfalls zum asiatischen Typus und war etwa Mitte zwanzig - in Aikos optischem Alter also, obwohl er in Wahrheit schon über vierzig war. Sie betrachtete ihn so interessiert, dass er beschloss, sein Schweigen zu brechen. »Was ist das für eine Sprache, die ihr sprecht?«, fragte er auf Englisch. Ein amüsiertes Lächeln spielte um die vollen Lippen seiner mandeläugigen Bewacherin. »Deutsch. Die Sprache unseres Vo lkes«, erwiderte sie. Aiko stutzte. »Ihr seid ein Volk? Aber... ihr seht nicht gleich aus.« Seine Bewacherin nickte. »Früher waren wir zwei Völker, aber wir haben uns vereint, um zu überleben.« Sie stand auf, ließ Aiko jedoch nicht aus den Augen. »Deine Sprache wurde früher bei uns auch gesprochen, aber nur im Dienst.« »Das ist interessant.« Aiko setzte ein freundliches Lächeln auf. »Ich würde gern mehr über dich und dein Volk erfahren.« »Wenn du mir im Gegenzug von deiner Heimat erzählst, vom Reich der Tausend ...« Endlich begriff Aiko. Diese Typen hielten ihn offenbar für einen Bewohner dieses ominösen Reiches, das sie suchten und das hier irgendwo in der Nähe liegen musste! Zwar half ihm das auch nicht weiter, aber wenn er zum Schein darauf einging, bot sich vielleicht die Möglichkeit, sich draußen ein bisschen umzusehen. »Einverstanden«, sagte er. »Aber nicht hier drin; hier ist es zu stickig. Gehen wir doch an die frische Luft!« Seine Bewacherin überlegte kurz, dann nickte sie. Offenbar ging sie davon aus, dass Aiko kooperieren würde, wenn man ihm den kleinen Gefallen tat. Doch genau in dem Moment, als sie an die Tür trat und nach der Wache rufen wollte, brüllte eine Stimme draußen auf dem Gang Befehle. Sekunden später wurde ein Schlüssel ins Schloss geschoben und gedreht. Ein asiatisch aussehender Offizier erschien im Türrahmen. Aikos Bewacherin blickte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Ärger an. »Tom! Du kommst sehr ungelegen. Ich wollte gerade mit unserem Gast hinaus in den Hof, um ein wenig zu plaudern.« Wie sie das letzte Wort betonte, gab es keinen Zweifel, dass der Offizier seine Bedeutung verstand. Trotzdem blieb er in der Tür stehen. »Tut mir Leid, aber unsere Pläne haben sich geändert.« Er blickte Aiko an. »Du kommst mit. Wir haben eine Überraschung für dich.« Aiko war sich nicht ganz sicher, ob er diese Art von Überraschungen wirklich schätzte... * Seit Commander Drax auf den nordamerikanischen Kontinent zurückgekehrt war, hatte 42
er sich mehr als einmal gewünscht, das Schicksal hätte den mutigen Seefahrer und Entdecker Colomb, auf dessen Schiff er hier angekommen war, an die warmen Gestade Brasiliens gespült. Das Klima auf der nördlichen Halbkugel war aufgrund der Polverschiebung schon reichlich kühl - aber immer noch mollig warm im Vergleich mit Kanada. Die knallroten Zinken, die Nikolaai und seine wackeren Tovarischi zur Schau stellten, waren nur ein Indiz dafür. Ein zweites bis viertes waren Matts eingefrorenen Gesichtszüge, seine klammen Finger und vor Kälte schmerzenden Füße. Aruula, die mit den eisigen Temperaturen viel besser fertig wurde, geleitete den Trupp durch das inzwischen wieder herrschende Schneegestöber auf verschlungenen Pfaden in die Nähe eines relativ gut erhaltenen Gebäudes. Riesige, ins Gestein der Hausfront geschlagene Buchstaben ließen Matt schon aus der Ferne erkennen, dass es sich um die Stadtbibliothek von Vancouver handelte. Sie pirschten durch die Hintertür der Ruine, die der Bibliothek schräg gegenüber stand, kämpften sich durch einen mit Schutt angefüllten Hausflur und traten kurz darauf hinter dem schneebedeckten Wrack eines Lieferwagens ins Freie. Während Aruula und die Späher in die Hocke gingen, lugte Matt um das Wrack herum und warf einen Blick durch den Torbogen, hinter dem drei futuristische, kastenförmige Kettenfahrzeuge aufragten; vermutlich eine Art Panzer..Sie trugen die Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland: Adler und Eisernes Kreuz! Es war also tatsächlich wahr. Aber wie waren diese Typen nach Kanada gekommen? Waren sie Abgesandte einer Techno-Kultur? Wenn ja, wie hatten sie den Atlantik überquert? Und was machten sie hier? »Der Vogel dort«, wisperte Stepaan, der ihm gefolgt war, und deutete auf den Bundesadler am Bug des Panzers. »Kennst du ihn?« Matt nickte. »Es sind Deutsche. Germanskis«, sagte er. »Germanskis?« Der Gelehrte machte große Augen. »Davon berichten die alten Legenden! Sie fielen einst über ganze Welt her, bevor der Zar sie zwang in die Knie und baute eine Mauer, um sie einzusperren.« »Gepriesen seien die alten Überlieferungen«, seufzte Matt. Er verzichtete darauf, Stepaan die wahren Ereignisse zu schildern. Vermutlich besagten dieselben Legenden, dass einst Ronald McDonald und Mickey Mouse die Vereinigten Staaten begründet hatten. Dieses verquere Weltbild zurechtzurücken hätte Wochen gedauert. »Leben sie wirklich auf anderer Seite der Welt?« Stepaans Augen über dem vereisten Bart glänzten begeistert. »Wo die Luft ist warm und der Schnee grün?« »Genau«, erwiderte Matt. »Nur dass der Schnee dort 'Gras' heißt und aus dem Boden wächst.« Er dachte an Aiko. Befand sich der Cyborg innerhalb dieser Mauern? Was war in der Zwischenzeit mit ihm geschehen? »Ich wusste es!«, begeisterte sich der Greis neben ihm »Ich habe es immer gesagt, aber niemand hat geglaubt! Es gibt andere Seite der Welt, wo alles ist grün und warm!« Er beugte sich zu den Spähern hinüber und flüsterte mit ihnen. Deren Mienen erhellten sich und ihre Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. Matt hoffte, dass sie nicht darüber nachdachten, zu den Germanskis überzulaufen, um all diese Herrlichkeiten zu schauen. Natürlich war es ihm im Grunde schnurz, zu wem sie überliefen, aber nach Möglichkeit sollten sie es erst tun, wenn es ihnen gelungen war, Aiko aus der Gewalt der 43
Deutschen zu befreien. Nach allem, was Aruula auf dem Weg hierher berichtet hätte, waren die Deutschen darauf aus, das Reich der Tausend zu finden, angeblich um dem Zaren einen Beistandspakt anzubieten. Doch dabei stellten sie sich weder besonders friedlich an, noch gingen sie ins Detail, gegen wen dieser Pakt eigentlich gerichtet war. Vorsicht war also angebracht. Zuerst würde es helfen, mehr über diesen seltsamen Trupp zu erfahren. Matt Drax war lange Jahre auf der Air Force Base in Berlin-Köpenick stationiert gewesen und sprach fließend Deutsch. Wenn er nahe genug an die Fremden heran kam, konnte er vielleicht die beiden frierenden Wachposten belauschen, die vor einem Kunststoffplanen-Türersatz auf und ab gingen. Als er Stepaan mitteilte, was er vorhatte, schrak dieser zusammen. Es überraschte Matt, dass der Alte sich echte Sorgen um ihn machte. »Nur ich verstehe die Sprache der faschistischen Okkupanten«, beharrte Matt. »Der Zar muss erfahren, welche Pläne sie haben!« Obwohl er geneigt war, dem greisen Gelehrten anzuvertrauen, dass es ihm in Wahrheit nur um Aiko Tsuyoshis Rettung ging, wahrte Matt den Schein. Schließlich war er als Lejtenant Fjodoors des Gütigen hier, um den Feind auszuspionieren. »Ich komme mit dir, Maddrax!« Natürlich hatte er mit Aruulas Einwand gerechnet. Doch in diesem Fall musste er auf ihre Unterstützung verzichten. Aus zweierlei Gründen. »Ich gehe allein. Du verstehst deren Sprache ohnehin nicht.« Matts Blick zuckte kurz zu Stepaan, Nikolaai, Aljooscha und Diimitri, als er flüsternd hinzufügte: »Und pass auf die vier hier auf; nicht dass sie irgendwelchen Unsinn anstellen.« Aruula nickte knapp. »Okee.« Matt löste er sich von dem Lieferwagen und pirschte über die Straße. Die Mauer zum Hof der Bibliothek war schnell erreicht. Im Schutz von Dunkelheit und Schneegestöbers eilte er von einer Schneewächte zur anderen, bis er zwischen den Panzerwagen untertauchte. Dort angekommen, ging er in die Hocke und zog die Pelzmütze von seinen Ohren, die Iwaan ihm großzügigerweise vor dem Aufbruch überreicht hatte. Als Matt so nahe an die Torwachen herangekommen war, dass er ihre Gesichter unterscheiden konnte, zuckte er verblüfft zusammen. Sie sahen wie Asiaten aus. Was zum Henker ging hier vor? Wer waren diese Leute? Eskimos? Deutsch sprechende Eskimos? Damit wurde ihm eins schlagartig klar: Sie waren nicht über den Großen Teich gekommen. Wegen des pfeifenden Windes musste er die Ohren ordentlich spitzen, bevor er sie verstand. »Dieses unstete Leben hängt mir allmählich zum Hals raus, Frank«, hörte er die Frau sagen. »Ich habs satt. Wenn's nach mir ginge, würde ich die erst beste Gelegenheit nutzen und irgendwo sesshaft werden.« »Ich ja auch – aber wo?«, entgegnete der Mann. Er war blass und hatte ein eckiges Kinn: Matt hörte ihn laut seufzen. »Es war schon ein Fehler, uns aus Camp Bismarck abzusetzen und diese komische Biosphäre zu suchen«, fuhr die Frau fort. »Die ist wahrscheinlich ebenso eine Legende wie der Bunker von Whitehorse oder das Reich der Tausend.« »Aber wir sind hier auf Menschen gestoßen«, erwiderte Frank. »Wo sollen die herkom44
men wenn nicht aus einem großen Bunker?« Die Frau zuckte die Achseln. »Aus dem Süden? Vielleicht gehören sie ja zu einer Forschungsexpedition.« »Glaubst du wirklich, dass es im Süden besser aussieht als hier?«, fragte Frank. »Ve rgiss es! Diese Eiszeit ist global, das haben alle Berechnungen bestätigt.« Matt durchlief ein Schaudern, das nicht allein von der Kälte herrührte. Diese armen Schweine waren tatsächlich der Meinung, die Welt befände sich immer noch im Griff der nuklearen Eiszeit, die mit dem Einschlag »Christopher-Floyds« begonnen und vor knapp zweihundert Jahren geendet hatte. Sie wussten ganz offensichtlich nicht, dass nur wegen des verschobenen Nordpols Eis und Schnee nicht von diesem Breitengrad wichen. Und wenn sie sich in ihrer Enklave - diesem Camp Bismarck - eingegraben hatten, würden sie die Wahrheit auch nicht herausfinden. »Ich weiß nicht, was Oberst Hartwig sich vom Herumkrauchen in diesen Ruinen verspricht«, fuhr die Frau fort. »Hier ist doch alles tot.« »Genauso tot wie wir es sein werden, wenn wir nicht bald eine Bleibe finden...«, ergänzte ihr Begleiter. Die beiden schwiegen nun. Matt wollte sich schon zurückziehen, da fiel sein Blick auf einen in die Wandung des Panzers eingelassenen Knopf. Er hob die Hand, zögerte, dann drückte er ihn kurz entschlossen. Das leise Zischen der sich öffnenden Einstiegsluke wurde vom Wind übertönt. Matt sicherte nach allen Seiten. Die beiden Torwachen konnten ihn von ihrer Position aus nicht sehen, und auch sonst wies nichts auf eine nahende Gefahr hin. Noch einmal zögerte Matt, in die Höhle des Löwen vorzudringen. Sein Blick fiel auf vier mal zwei Sitzreihen, dazwischen ein schmaler Gang. Neben den Armaturenbrett befand sich ein grau flimmernder Monitor mit einem weißen Feld, über dem die Schriftzeile »Suche nach...« auf eine Eingabe wartete. Eine Datenbank? Die Verlockung war zu groß. Matt schlüpfte in den Panzer hinein, schloss die Luke und duckte sich auf den Beifahrersitz. Er klappte die Tastatur hoch, die flach an der Innenwand lag. Der Cursor blinkte im Rhythmus seines Herzschlages. Okay, dachte Matt, wollen doch mal sehen... Seine Finger huschten flink über die Tastatur, und er gab ein: CAMP BISMARCK Die Antwort kam in Sekundenschnelle. KSK-AUSBILDUNGSLAGER ZUR TERRORBEKAEMPFUNG IM RAHMEN DER NATO, ERRICHTET 2005, YUKON-TERRITORIUM, KANADA. Eine Anti-Terror-Einheit! Schau an, dachte Matt. Wenn das keine Überraschung ist. Er hatte während seiner Dienstzeit nie etwas von diesem Camp gehört. Was ihn nicht verwunderte, denn nach den Ereignissen des 11. September 2001 in New York und Washington und den Jahre darauf eskalierenden »Religionskriegen« hatten die Alliierten jede Menge streng geheimer Dinger gedreht. Fjodoors »faschistische Okkupanten« waren also Nachfahren einer bundesdeutschen Einheit. Vermutlich hatten sie sich nach dem Kometeneinschlag mit Zivilangestellten inuitischer Herkunft zusammengetan. 45
Matt gab ein: POSITION CAMP BISMARCK Die Antwort: ZUGRIFF VERWEIGERT »Shit happens«, murmelte Matt vor steh hin. »Find ich auch«, sagte jemand auf Englisch hinter ihm. Irgendetwas Kaltes und Stählernes presste sich an seinen Hinterkopf. Wieso, dachte Lejtenant Drax von den zaristischen Spähern, muss so was immer mir passieren ? * In den zwanzig Jahren, die der Späher Nikolaai nun auf dieser eisigen Welt wandelte, waren nur wenige Fremde nach Wenkuuwa gekommen. Wieso dies so war, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen. Der verdiente Gelehrte Stepaan vertrat diesbezüglich eine Theorie: Seiner Ansicht nach war nicht das gesamte Erdenrund von Schnee und Eis bedeckt. Und welchen Sinn sollten andere Völker darin sehen, ausgerechnet dorthin zu reisen, wo ihnen der Arsch abfror? Nikolaai hatte' schon immer mit der Stepaan-Theorie geliebäugelt, aber seit der Ankunft der faschistischen Okkupanten und Lejtenant Maddrax' war der Wille, daran zu glauben, noch größer geworden. Dazu kamen die Zweifel an der Unfehlbarkeit des Zaren, seit er Fjodoor den Gütigen persönlich begegnet war. Das schreckliche Ableben des nasenbohrenden Lejtenant und die wirren Worte des Zaren warfen kein gutes Licht auf dessen geistige Gesundheit. Nikolaai hatte eine geraume Weile mit sich gerungen. Nun, nach langem Nachdenken, war er bereit sich einzugestehen, dass etwas faul war im Reich der Tausend. Was auch die Erklärung dafür sein' mochte, dass es dort fortwährend nach Fisch stank. Ich glaube, dachte Nikolaai, während er sich neben Aljooscha und der hübschen langhaarigen Frau hinter den Schneehaufen duckte, in unserem Reich läuft einiges schief. Angefangen hatte es vermutlich mit dem Aussterben der verdienten alten Gelehrtengeneration, die es versäumt hatte, ordentliche Nachfolger auszubilden. Der greise Stepaan war einer der letzten ihrer Kaste, und Ersatz war nicht in Sicht. Auch die verdienten Maschinenmeister hatten aufgehört, ihre Kenntnisse weiterzugeben. Fiel heutzutage eine Maschine aus, legten sich ihre Nachfolger reihenweise auf die Pritsche und behaupteten, »mit ihrem Latein am Ende zu sein«. Kein Mensch wusste, was sie mit »Latein« meinten. Der typische Lejtenant aus der Zarenfamilie interessierte sich nur für den Feierabend. Einfache Reparaturen wurden auf die lange Bank geschoben, weil die zu reparierenden Dinge ja doch bald wieder kaputt gingen. Oder sie scheiterten an fehlenden Ersatzteilen. Bei solchen Missständen war eine Invasion technisch hochstehender, bestens ausgestatteter faschistischer Okkupanten natürlich besonders schlimm. Wie sollte man sich gegen sie erwehren? Was hatte das Reich der Tausend diesen Leuten entgegenzusetzen? Einen debilen Zaren, ein aus Duraki bestehendes Offizierskorps und eine Truppe von zwanzig Spähern. Nicht gerade eine tolle Armee. All diese Dinge gingen Nikolaai in seltener Klarheit durch den Kopf, während er auf die Rückkehr von Lejtenant Maddrax wartete, und er schüttelte sich vor Entsetzen. Da muss was geschehen, dachte er. Da muss was Einschneidendes geschehen. 46
Er hatte den Gedanken gerade zu Ende gedacht, als krachende Schüsse an seine Ohren drangen. Nikolaai reckte den Hals, und als sein Blick durch den Torbogen fiel, hinter dem die Bibloteek aufragte, sah er zwei Gestalten, die im hohen Bogen durch die Kunststofffolie eines Fensters flogen. * Der Mann, dem Matthew Drax wenige Minuten nach seiner Festnahme in einem angenehm beheizten, doch relativ dunklen Raum auf einem Klappstuhl gegenüber saß, war etwa vierzig Jahre alt, graubärtig und von stattlichem Äußeren. Seine Augen waren blaugrau, seine Wangen leicht gerötet. Er trug eine Pelzmütze mit hochgeschlagenem Ohrenschutz und wirkte nicht einmal unsympathisch. Die drei Sterne und das Eichenlaub auf seinen Schulterstücken identifizierten ihn im Verein mit der schwarz-rot-goldenen Flagge auf der rechten Brusttasche als Bundeswehr-Oberst. Sein Name war Kevin Hartwig. Der Eskimo -Hauptmann, der, von Matt unbemerkt, im hinteren Teil des Panzers geschlafen und ihn so beim Spionieren erwischt hatte, hieß Tom Nanuuk. Hauptmann Tom berichtete Oberst Kevin, dass er Matt beim Abfragen der panzerinternen Datenbank erwischt hatte. Daraufhin biss sich der Oberst auf die Unterlippe und sagte: »Wir haben es also mit einer hochtechnisierten Zivilisation zu tun. Das könnte uns mehr Schwierigkeiten bereiten, als wir erwartet haben.« »Das glaube ich auch«, erwiderte Hauptmann Tom. Er nahm Matt in Augenschein. »Der Bursche hat einen intelligenten Blick.« Danke, dachte Matt. Oberst Kevin nickte. »Erst eine Barbarin und ein Asiate, jetzt der hier - dieses Reich der Tausend ist offenbar bedeutend vielschichtiger als vermutet. Was hat er im Computer gesucht?« »Informationen zu Camp Bismarck«, erwiderte Hauptmann Tom. »Aber als er die Position des Stützpunkts herausfinden wollte, hat die Kiste natürlich den Zugriff verweigert.« Matt schaute die Offiziere weiterhin so verständnislos an, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, er würde jedes Wort verstehen, das sie miteinander sprachen. Redet nur weiter, dachte er, vielleicht plaudert ihr noch ein paar Sachen aus, die ich wissen muss. Oberst Kevin räusperte sich, stand von seinem Klappstuhl auf, schaute Matt an und sagte auf Englisch: »Wir wissen von eurem Reich. Wir haben zwei eurer Leute geschnappt.« Stimmt, dachte Matt. Aber ihr habt nur noch einen. Und den werde ich euch ganz schnell abluchsen. Er hatte genügend Zeit gehabt, sich einen Plan zurechtzulegen, der mit ein bisschen Glück und Menschenkenntnis funktionieren würde. »Ich weiß«, antwortete er. »Deswegen bin ich hier. Gebt mir meine Gefährtin heraus!« Die beiden Offiziere sahen sich an. »Diese Barbarin ist deine Frau?«, hakte Oberst Kevin nach. »So ist es. Wir wollten gerade weg von hier, als sie euch in die Hände fiel«, sagte Matt. »Ihr wolltet weg? Warum?« »Weil das Reich der Tausend über kurz oder lang dem Untergang geweiht ist.« Er schaute zuerst Kevin Hartwig, dann Tom an. »Alles verrottet und verrostet. Die Maschi47
nen... Niemand kann sie mehr reparieren. Unser Herrscher ist das Produkt Jahrhunderte langer Inzucht. Das Reich benötigt dringend frisches Blut. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr die Richtigen seid, um es auf Vordermann zu bringen.« Seine Worte, das sah er sofort, machten Eindruck auf die Offiziere. Hauptmann Tom atmete auf, als fiele ihm ein Stein vom Herzen. Oberst Kevin blieb jedoch argwöhnisch. Was kein Wunder war: Stabsoffiziere waren aus einem anderen Holz geschnitzt. Matts schnelle Kooperationsbereitschaft kam ihm nicht ganz koscher vor. »Du bietest uns euer Reich auf dem Silbertablett an?« Oberst Kevin Hartwig zupfte an seinem grauen Bart. »Es ist nicht mehr unser Reich«, konterte Matt und setzte eine zornige Miene auf. »Meine Gefährtin und ich wollten schon vor Jahren mit einem Eissegler in den Süden fliehen, wo es schneefreies Land geben soll. Aber...« »Das ist ein Mythos«, unterbrach ihn Hauptmann Nanuuk. »Die ganze Welt ist von Eis und Schnee bedeckt.« »Aber man hat uns verraten«, fuhr Matt fort. »Wir wurden erwischt und gezwungen, hier zu bleiben. Erst Aiko - der andere Mann, den ihr gefangen habt - war bereit, uns bei der Flucht zu helfen. Wir schulden unserem Herrscher keinen Dank. Im Gegenteil: Wir sind froh, wenn er abdanken muss.« Oberst Kevin schaute Hauptmann Tom an. »Und was verlangst du für dein... Entgegenkommen?« »Lasst Aruula und Aiko frei, und ich zeige euch den Einstieg ins Reich der Tausend.« Er schaute Kevin Hartwig an und sah, dass sich dessen Stirn in nachdenkliche Falten legte. Ich weiß, was du denkst, dachte er. Du fragst dich, was du machen sollst, weil Aruula euch längst entwischt ist. Wenn du sagst, dass sie weg ist, musst du damit rechnen, dass ich auf stur schalte. Also musst du jetzt Folgendes tun... »Da fällt mir ein«, sagte Hauptmann Tom Nanuuk plötzlich, und in seinen dunklen Augen glitzerte offenes Misstrauen, »woher hast du eigentlich gewusst, dass du in unserer Datenbank nach dem Begriff >Camp Bismarck< suchen musstest?« Oberst Kevin zuckte zusammen. Seine Kinnlade sackte herunter. O Scheiße. Damit hatte Matt nicht gerechnet. Sein ganzer schöner Plan kam ins Wanken. Jetzt brauchte er schnell eine gute Erklärung! »Ich hab die Posten an der Tür belauscht«, sagte er. »Ich habe zwar kaum was verstanden, aber was ein Camp ist, weiß doch jedes Kind.« Tom und Kevin schauten sich an. Ihre Anspannung löste sich; der Bluff schien zu funktionieren. »Im Prinzip sind wir mit deinem Vorschlag einverstanden«, sagte Kevin Hartwig schließlich. Er schaute Tom an, dessen Stirn sich fragend runzelte, da er offenbar keine Ahnung hatte, was sein Kollege plante. »Allerdings müssen wir uns deiner Kooperation versichern - du weißt, was >Kooperation< bedeutet?« Matt zuckte die Schultern. »Äh... nein.« »Ist ganz einfach: Wir tun was für dich, du tust was für uns. Wenn wir dir aber Aruula und Aiko geben, können wir nicht sicher sein, dass du nicht einfach mit den beiden das Weite suchst.« »Das würde ich niemals tun!«, empörte sich Matt im Brustton der Überzeugung. »Natürlich nicht. Aber sicher ist sicher«, erklärte Oberst Hartwig. Matt musste an sich 48
halten, bei seinem Sesamstraßen-Tonfall nicht in Gelächter auszubrechen. »Schau mal: Wir geben dir Aiko, um dir unseren guten Willen zu beweisen. Dann zeigt ihr uns den Zugang zum Reich der Tausend. Und danach lassen wir auch Aruula frei. Na, was hältst du davon?« Das war genau mein Plan, Pappnase, dachte Matt. Ich hätte ihn nicht besser formulieren können. Laut sagte er: »O... okay. Einverstanden.« Oberst Kevin und Hauptmann Tom atmeten auf. Dann drehte Tom sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Matt lauschte seinen dumpfen Schritten, während er sich mö glichst beiläufig im Raum umsah. Die transparente Folie, mit der das Fenster versiegelt war, schien nicht besonders dick zu sein. Mit genügend Schwung würde sie reißen. Denn eines war klar: Wenn eine Flucht gelingen sollte, dann sofort. War erst eine Mannschaft aufgestellt, die Aiko und ihn begleiten sollte, war es zu spät. Hauptmann Tom Nanuuk kehrte zurück, Aiko im Schlepptau. Man hatte dem Cyborg die Hände auf den Rücken gefesselt. Hoffentlich nicht mit einem Material, das zu stark war für seine bionischen Muskeln. Dass Aiko bei Matts Anblick keine Miene verzog, sprach für sein taktisches Denkvermögen: Da er nicht wusste, was hier gespielt wurde, und nicht ahnen konnte, was Matt den Fremden erzählt hatte, wollte er niemandem zeigen, wie er zu ihm stand. Er nickte ihm nur kurz zu. Matt stand auf und strahlte übers ganze Gesicht. »Aiko!«, rief er aus. »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist. Bald wird auch Aruula frei sein und wir können endlich nach Süden fahren!« Aiko strahlte zurück, ersparte sich aber vorsichtshalber eine Antwort. Matt eilte auf ihn zu und umarmte ihn überschwänglich. »Schnapp dir den mit der Pelzmütze«, raunte er dabei, »und dann ab durchs Fenster!« Er konnte sicher sein, dass Aiko ihn verstanden hatte; dem verbesserten Hörsinn des Cyborgs entging fast nichts. Als sich Matt von Aiko löste, ging alles ganz schnell. Oberst Kevin sah nur noch einen Schemen auf sich zurasen, dann erwischte ihn Aikos gestrecktes Bein in der Magengrube und schleuderte ihn gegen die Wand. Noch während des Sprungs zerriss der Cyborg seine Fesseln und fing den Bewusstlosen auf. Lautlos ließ er ihn niedersinken. Auch Hauptmann Tom kam nicht mehr dazu, eine Lautäußerung zu tätigen, als ihn Matts Faust unter dem Kinn erwischte, genau auf den Punkt. Nur ein schwaches Seufzen kam noch über seine Lippen. Die Handfeuerwaffe, die er bereits gezogen hatte, entglitt seinen kraftlosen Fingern. Matt fing sie auf, bevor sie zu Boden poltern konnte. Doch alle Vorsicht war vergebens, als die Tür aufschwang und ein weiterer Soldat den Raum betrat. Für einen Moment blieb er wie erstarrt stehen und starrte auf die Szene, die sich ihm bot. Dann fuhr seine Hand zur Waffe, während sein Mund sich öffnete und dissonante Töne von sich gab, die nach »Aaalaaarm!« und »Waaaacheee!« klangen. Matt konterte mit einem beherzten »Raus hier!« Gleichzeitig liefen sie los, stießen sich ab und hechteten durch das provisorische Fenster. Die Folie verwandelte sich in Fetzen. Sie tauchten in die eisige Außenluft, rollten sich auf dem schneebedeckten Boden ab und kamen fast synchron wieder auf die Beine. Hinter ihnen war das charakteristische Zischen einer Laserwaffe zu hören, doch der Soldat fand nicht die Zeit zum Zielen. 49
»Weiter!«, keuchte Matt. »Moment!« Aiko stoppte abrupt. »Wo ist Aruula?« »In Sicherheit. Bei meinen Tovarischi.« Matt spurtete durch den Schnee; Aiko hielt mit. Schüsse krachten. Im Hintergrund wurden jetzt auch konventionelle Waffen abgefeuert. Der Soldat brüllte sich noch immer die Seele aus dem Leib. Im Laufen musterte Matt kurz die erbeutete Waffe. Sein Daumen ertastete den Sicherungshebel. »Tovarischi?«, fragte Aiko, als sie über den Hof stürmten. Matt grinste. »Ist eine lange Geschichte. Erzähle ich dir unterwegs.« Matt und Aiko jagten wie zwei Schatten über den weißen Boden, nutzten die klobigen Kettenfahrzeuge als Deckung und näherten sich dem Torbogen. Dort wartete die nächste unangenehme Überraschung auf sie: Offenbar waren nach Matts Eindringen zwei zusätzliche Wachen am Tor postiert worden, die nun das Feuer auf sie eröffneten. Rings um Matt und Aiko spritzte der Schnee auf. Sie mussten in Deckung gehen, wollten sie keine perfekten Ziele abgeben. Und saßen damit in der Falle zwischen Tor und Bibliothek! Matt hob seinen Schussarm über die Tonne, hinter der er untergetaucht war, und erwiderte blind das Feuer. Erst hielt das Gefecht an. Dann ertönte ein Schrei und die Schüsse blieben aus. Trotzdem jagte Matt noch ein paar Salven zum Tor. Ein russischer Fluch klang herüber, dann Stepaans Stimme: »Hör auf! Du triff st uns noch!« Matt erhob sich aus seiner Deckung und stellte fest, dass sich die zaristischen Mannen und Aruula der Wachen angenommen hatten. Der Weg war frei. »Das sind meine Tovarischi«, rief er Aiko zu, als sie die letzten fünfzehn Meter überwanden. Weitere Soldaten kamen schießend aus dem Gebäude, doch Nikolaai, Aljooscha und Diimitri gaben ihnen Feuerschutz. Das Blatt wendete sich erneut, als sie Aruula und die vier anderen gerade erreichten. Einer der Yukonier musste es zu den Panzern geschafft haben, denn plötzlich dröhnte ein schwerer Motor auf, und das Rasseln von Ketten drang an ihre Ohren. Aljooscha erbleichte, deutete durch den Torbogen und schrie: »Faschistskie Okkupanyj v'ataku!« »Bljath!«, zischte Nikolaai. Matts Kopf flog herum. Ataku konnte eigentlich nur so was wie Attacke bedeuten. Und in der Tat: Der zuvorderst stehende Panzer rollte auf den Torbogen zu. In seiner Deckung bewegten sich ein Dutzend Soldaten, die ihre Schießeisen schwangen. Sie feuerten aus allen Rohren auf den Panzer - ohne Erfolg. Ihre Kugeln zerkratzten höchstens die stählerne Außenhaut des Ungetüms, prallten ab und pfiffen als Querschläger davon. Matt sah über die Schulter zurück. Es war zu riskant, die offene Straße als Fluchtweg zu benutzen. »Ins nächstbeste Haus!« Er packte Aruulas Ellbogen und zerrte sie in den Hauseingang direkt hinter ihnen. »Und zur Hintertür wieder raus!« So würden sie zumindest den Panzer für eine Weile aufhalten. Aruula sprang in den Flur. Aiko und Aljooscha folgten ihr fluchend in das finstere Gemäuer. Nikolaai half dem greisen Gelehrten Stepaan, dessen Kräfte rapide nachließen. Diimitri gab ihnen Feuer50
schutz. Sie waren kaum in den Hausflur eingetaucht, als die Panzerkanone röhrte. Eine Druckwelle schleuderte sie als Menschenknäuel gegen die Wand. Der Boden unter ihren Füßen bebte, und ein heißer Hauch strich über sie hinweg. Als sie sich aufrappelten und ihre Benommenheit abgeschüttelt hatten, schrie Nikolaai auf. »Diimitri!« Der junge Späher fehlte. Er hatte es nicht geschafft. Matt konnte Nikolaai gerade noch an der Jacke packen und zurückhalten, sonst wäre er hinaus in sein Verderben gestürmt, um den Kameraden zu rächen. Auch Aljooscha schrie auf, wenn auch aus anderem Grund. Ein verdächtiges Knirschen drang an Matts Ohren. In der nächsten Sekunde löste sich die Hausfront rings um die Tür krachend in ihre Bestandteile auf. Wogen von Schnee, aufgewirbeltem Dreck und Bauschutt fegten durch den Hausflur und raubten den Flüchtlingen den Atem. Matt schützte sein Gesicht mit den Händen und schirmte dabei Aruula ab. Kurz darauf spürte er sich von kräftigen Händen gepackt. Aiko zog sie beide aus der Gefahrenzone. Mit seinen bionischen Augen durchdrang er sogar die Staubschwaden. Nikolaai und Aljooscha nahmen den gelehrten Greis in ihre Mitte und folgten dichtauf. Während hinter ihnen der Hausflur zusammenbrach und den Verfolgern jede Sicht auf sie verwehrte, taumelten die Gruppe ins Freie - auf den Innenhof eines Häuserblocks, dessen Rückseiten sie aus leeren Fensterhöhlen anglotzten. Matt hustete sich den letzten Staub von der Lunge. »Ist jemand verletzt?« Sie waren alle mit blauen Flecken oder kleineren Schürfwunden davon gekommen. Sogar Stepaan war noch kräftig genug, um Matts Worte und die Antworten darauf zu übersetzen. Mit den Hitzesensoren seiner Augen suchte Aiko die nähere Umgebung ab. »Keine Wärmebilder auszumachen«, sagte er dann. »Die Trümmer des Hauses halten sie auf. Ich glaub, wir sind erst mal aus dem Schneider.« Er ließ seine Waffe sinken. »Lasst uns verschwinden. Hoffentlich ist der Eissegler noch an Ort und Stelle...« »Der Eissegler?«, echote Aljooscha überrascht. Er schaute Matt an. »Was meint er damit?« »Das ist ein Gefährt, mit dem man über das Eis...«, setzte Stepaan zu einer Erklärung an, wurde aber von Aljooscha unterbrochen. »Ich weiß, was ein Eissegler ist. Aber ich weiß nicht, wie man damit faschistische Okkupanten bekämpfen kann.« Sein fragender Blick richtete sich erneut auf Matt, dem vor Verlegenheit nichts anderes einfiel, als sich den Schnee von den Kleidern zu klopfen. »Nun«, warf der verdiente Gelehrte ein, »Lejtenant Maddrax ist ein kluger Mann! Er wissen wird, was er tut.« Er schaute Matt treuherzig an. »Nicht wahr?« Himmelherrgott, verdammter Mist. Matt biss sich auf die Unterlippe. Wie soll ich ihnen nur beibringen, dass uns der Krieg ihres debilen Zaren gegen die Yukonier nicht interessiert? Und dass ich ihre Hilfe nur in Anspruch genommen habe, weil ich meine Gefährten retten wollte? »Nicht wahr, Lejtenant Maddrax?«, wiederholte Stepaan. Der Alte war gerissener, als Matt gedacht hatte. Er verstand es vortrefflich, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Aber wenn er wirklich darauf spekulierte, dass er, Aiko und Aruula... nein, da hatte er sich 51
geschnitten! »Hört mal, Leute...« Matt schluckte. »Wir sind eigentlich nur auf der Durchreise und...« Sein Blick irrte von Aruula zu Aiko, und er fragte sich, wieso er Stepaan, Nikolaai und Aljooscha nicht sagen konnte, welche Mission sie antrieb: Dass sie das Eisland bis zur Beringstraße durchqueren mussten, um an den Kratersee zu gelangen, bevor General Crow und seine WCA-Agenten dort waren. Und dass es ihm allmählich zum Halse heraushing, sich ständig in die Querelen einer vom Wahnsinn regierten postapokalyptischen Welt einzumischen. Er wollte die Reise endlich fortsetzen. Wer sich um die Macht raufen wollte, sollte gefälligst selbst zusehen, wie er... »Auf der Durchreise?« Nikolaai musterte Matt, als sei diesem ein Geweih gewachsen. »Was bedeutet dieses Wort? Bedeutet es das, was ich vermute?« Matt seufzte gequält. »Ihr wollt fort?«, schrie* Aljooscha ungläubig auf, und Stepaan beeilte sich, seine Worte zu übersetzen. »Ihr wollt das Reich der Tausend tatsächlich den faschistischen Okkupanten überlassen?« »Was ist das eigentlich - das Reich der Tausend?«, mischte sich Aiko ein. »Erzähl ich dir später«, sagte Matt, der geistig mit völlig anderen Dingen beschäftigt war. »Hör mal, Aljooscha...« »Ohne eure Hilfe unser Reich ist dem Untergang geweiht«, sagte Stepaan düster. »Wir brauchen jede Hilfe, die wir können kriegen.« Er seufzte. »Du hast selbst gesehen, Lejtenant. Unser gütiger Zar«, er tippte sich an die Stirn, »ist nicht in der Lage, zu führen Krieg. Es sieht sehr finster aus für uns alle.« Der Ausdruck in Aikos Augen wurde immer fragender. »Du wirst mir eine Menge erklären müssen, Matt«, brummte er. »Eine ganze Menge!« »Ihr müsst euch uns anschließen!«, sagte Aljooscha in einem beschwörenden Tonfall. »Wir haben auf Verbündete wie euch gewartet! Nur ihr seid den Yukoniern ebenbürtig.« »Ganz genau«, bestätigte Nikolaai mit einen Nicken. »Fjodoor der Gütige is t ein Durak.« »... ein Depp.« Stepaan nickte. »Und auch unsere so genannten Experten können nicht mal mehr zählen bis drei. Wir brauchen jemanden, der uns anführt in diesem Krieg. Jemanden wie dich, Maddrax!« Matt schaute in die Runde. »Wisst ihr, was ich glaube?« Plötzlich stand ihm die Lösung des ganzen Dilemmas greifbar vor Augen. »Oberst Kevin Hartwig und seine Leute sind genau das, was ihr braucht, um euer Reich auf Vordermann zu bringen. Eigentlich solltet ihr euch mit ihnen verbünden, statt euch zu bekriegen.« Der Barmherzige - ob er nun Gott oder Wudan hieß - schien anderer Meinung zu sein. Matt sah die entsetzten Blicke Aruulas und Aikos. Sie schauten aus irgendeinem Grund himmelwärts. Matt fuhr herum, hob den Blick - und erstarrte: In der Hauswand, die hinter ihnen aufragte, wanderten armdicke Risse zum Giebel hinauf. Die alte Hausruine, vom schweren Beschuss durch die Panzerkanone tödlich getroffen, wankte in ihren Grundfesten und stürzte wie in Zeitlupe in sich zusammen. Große Steinbrocken lösten sich aus der Wand. Eine gigantische Staubwolke breitete sich in alle Richtungen aus. »Weg hier!«, schrie Aruula. Aiko, Aljooscha und Nikolaai spurteten schon los und zogen Stepaan mit sich. Matt und Aruula schlössen sich ihnen an. Sie sprangen über schneebedeckte Tische und Bänke, Plastiktonnen und Müll jeder erdenklichen Art, stolperten, rappelten sich auf und hetzten 52
weiter. Eine weiße Schneewolke rollte wie eine Meereswoge hinter ihnen her und hüllte sie ein. Matt rang nach Luft, atmete aber nur Schnee ein. Stepaan rutschte aus und stürzte. Nikolaai und Aiko rissen ihn auf die Beine. Der Boden bebte. Ein urgewaltiges Krachen ertönte. Die Ruine löste sich auf. Gestein fiel herab, Dreck stob auf. Sie hörten das Knirschen von Holz, das Klirren irgendwelcher Glasreste. Von jahrhundertelanger Feuchtigkeit vollgesaugte Möbel, auf denen Pilze wuchsen, wirbelten durch die Luft. Wie er dieses Chaos durchquert hatte, daran fehlte Matt später jede Erinnerung. Er fand sich zusammen mit den anderen im Flur eines anderen Hauses wieder, nach Luft schnappend und von Eiskristallen eingehüllt wie Frosty der Schneemann. Während die Wolke aus Schnee, Dreck und Gestein sich auf dem gesamten Hinterhof des Blocks ausbreitete und dann einen Ausweg nach oben suchte, durchquerten die Fliehenden einen langen Gang, an dessen Ende inzwischen schon der Morgen graute. Als sie wieder ins Freie traten, erblickten sie etwa dreißig Meter die Straße hinauf das Kettenfahrzeug, das für die Katastrophe verantwortlich war. Man hatte wohl versucht, damit einfach durch das Gebäude zu brechen; nun war es unter den Trümmern begraben. Die Yukonier, die in der Deckung des Panzers gegen die Verfolgten vorgerückt waren, hatten sich auf den Hof der Bibliothek zurückgezogen. Matt hörte sie husten, stöhnen und schreien. Die Panzerbesatzung kroch, von einer sich langsam senkenden Dreckwolke umgeben, aus einer verbeulten Luke und warf ungläubige Blicke um sich. Ihnen wurde erst jetzt klar, was sie angerichtet hatten. Matt atmete auf. Wie es aussah, würde jede Fraktion jetzt erst einmal ihre Wunden lekken und sich sammeln - Zeit genug, um sich klammheimlich in Richtung des Stadthauses abzusetzen. Und darüber nachzudenken, wie er ohne allzu große Gewissensbisse aus dieser Sache herauskam. So dachte Matt Drax. Doch dann bemerkte er Aljooschas beglückten Gesichtsausdruck, sah, wie der verdiente Späher die Straße hinab deutete und etwas auf Russisch rief, das auch ein Lächeln auf die Gesichter seiner Kameraden zauberte. Matt folgte ihrem Blick, und es traf ihn fast der Schlag: Unterhalb ihres Standorts, etwa zweihundert Meter entfernt, wälzte sich ein Trupp in scharlachroten Uniformjacken heran - angeführt von Fjodoor dem Gütigen, der, einen alten Stahlhelm auf dem Glatzkopf und die stählernen Zähne gefletscht, ein waffentechnisches Relikt aus dem späten 20. Jahrhundert schwang. Er wirkte zu allem entschlossen. »O nein!«, murmelte Matt. »Nicht seine Majestät höchstpersönlich! Das gibt ein Gemetzel...« Entweder dürstete es die mörderische Hoheit wieder mal nach Blut, oder sie hatte die Trägheit ihres Offizierskorps satt und glaubte, ein ordentliches Massaker unter Kriegsbedingungen sei genau das Richtige für ihre erschlaffte Familie. Dass sich Fjodoor der Gütige für sein Manöver ausgerechnet die Nachfahren einer deutschen Anti-Terror-Einheit als Gegner ausgesucht hatte, konnte sich nur als fatal erweisen. Diese Typen waren gründlich. Er ging jede Wette ein, dass sie fünfhundert Jahre lang eisern ihrer Zentralen Dienstvorschrift gefolgt waren. 53
»Der Zar!«, keuchte der verdiente Gelehrte Stepaan und setzte sich erst einmal in den Schnee. »Kann mir mal jemand sagen...«, - Aiko deutete um sich -, »in was ich hier reingeraten bin?« »Dafür ist jetzt keine Zeit«, stieß Matt hervor. In seinem Schädel rasten die Gedanken. Mit welcher Fraktion, fragte er sich, konnte man besser reden? Fjodoor der Gütige hatte einen Sprung in der Schüssel. Er überschätzte die Schlagkraft seiner Truppen vermutlich maßlos und war so arrogant, wie man es von einem debilen Despoten erwarten konnte... Oberst Hartwig hatte relativ vernünftig auf Matt gewirkt - aber dem hatte Aiko in die Magengrube getreten. Würde er ihm noch vertrauen? »Davaj! Davaj! Wir müssen dringend etwas unternehmen, Lejtenant«, ließ sich Stepaan vernehmen. Seiner verzweifelten Miene nach zu urteilen hatte er erkannt, was ein Zusammenstoß der beiden Truppen bedeuten würde. Matt gab seinen Begleitern einen Wink. »Los, zurück ins Haus!« Zu spät; Lejtenant Iwaan, der neben Fjodoor dem Gütigen marschierte, hatte sie schon erspäht, denn er winkte ihnen heftig zu und machte auch seinen Großvater auf seine Entdeckung aufmerksam. Durch den Torbogen der Stadtbibliothek lugten nun zahlreiche Köpfe und die Läufe von Schusswaffen. Jemand schrie »Alarm!«. Sekunden später dröhnten die Motoren der beiden restlichen Panzer auf. Kurz darauf rollte das erste Fahrzeug dröhnend durch den Torbogen und schob das von Trümmern bedeckte Wrack zur Seite, um freies Schussfeld zu schaffen. Als Fjodoor der Gütige das Eisenmonstrum auf Ketten erblickte, brachte er seine Elitetruppe mit erhobenem Arm zum Stehen. Seine mit Pelzmützen und scharlachroten Jacken bekleideten Mannen huschten, alte israelische MPs in den Händen, in Hauseingänge und Einfahrten und nutzten jedes Stück Schrott als Deckung, das auf der verschneiten Straße lag. »Ergebt euch, faschistische Okkupanten!«, brüllte der Zar in russischer Sprache. Er riss seine Colts aus den Holstern und feuerte zwei Schüsse in die Luft ab. »Sonst werde ich unverzüglich die Kampfhandlungen einleiten!« »Wer ist dieser Kerl und was hat er vor?«, fragte Aiko. Stepaan erwachte aus seiner schockierten Erstarrung und übersetzte die Worte seines Herrschers. Danach blickte Aiko noch immer nicht klüger drein. Matthew Drax überlegte noch immer, aber er kam nur zu der Erkenntnis, dass er in seinem ganzen Leben noch nie in einer so ausweglosen Situation und derart zwischen den Fronten gesteckt hatte. Als der Panzer seine Kanone auf die Offiziersstreitmacht des Reiches der Tausend ausgerichtet hatte, traten Oberst Kevin und Hauptmann Tom auf die Straße hinaus. Ersterer hielt sich den Bauch, zweiterer das Kinn. Matt sah ihnen an, dass sie über das Auftauchen der scharlachroten Infanterie so überrascht waren wie er. Jetzt war es an ihm, zu handeln. Jetzt oder nie... Er trat aus dem Hauseingang und winkte dem Chef der Yukonier zu.« He, Oberst!«, rief er auf Deutsch. »Ich möchte mit dir sprechen!« Bevor der Offizier antworten konnte, richtete Fjodoor der Gütige seine Knarren auf ihn und feuerte. Oberst Kevin Hartwig ließ sich geistesgegenwärtig zu Boden fallen. Ein gutes 54
Dutzend seiner Leute sprang mit gezückten Schießeisen vor, um ihm Feuerschutz zu geben, doch bevor sie einen Schuss abgeben konnten, verlor der Panzerkanonier die Nerven: Mit einem teuflischen Pfeifen schoss eine armlange Granate aus dem Rohr und schlug inmitten von Fjodoors Armee in die Straße ein. Matt und seine Gefährten sprangen zurück. Sie hörten das Krachen und das rollende Echo der Explosion, spürten die Druckwelle, die an ihnen zerrte. Als sie die Augen wieder öffneten, regneten ungefähr zwei Dutzend zaristische EliteLejtenants ringsum auf den harten Schnee der Straße nieder. Genau konnte man ihre Zahl anhand der Einzelteile nicht mehr benennen. Die überlebenden der zaristischen Armee, ein halbes Dutzend Uniformierte, stimmten ein schreckliches Gebrüll an, schwenkten ihre Waffen und wünschten den faschistischen Okkupanten die Pest an den Hals. Fjodoor der Gütige stand totenbleich und von unaussprechlichem Schrecken gepackt auf der Straße, bis Lejtenant Iwaan ihn am Kragen packte und in einen Hauseingang zerrte. Als Matt zur Bibliothek hinüberschaute, war die Straße bis auf den drohend aufragenden Panzer leer. Doch nun rasselte langsam das zweite Kettenfahrzeug durch den Torbogen. Matt musste handeln, bevor die Gewalt erneut eskalierte. Er schaute sich rasch um, fand einen ehemals weißen Fetzen Stoff und hob ihn auf. Er hob ihn hoch, damit man ihn als Unterhändler erkannte und lief - von den erschreckten Schreien Aruulas und der anderen verfolgt - den Panzern entgegen. In ihrer Umgebung hoffte auf mehr Vernunft zu stoßen als in der Gegenrichtung. Zu seiner großen Erleichterung schienen die Deutschen die Genfer Konvention noch in Ehren zu halten, denn keine Kugel durchschlug seine Brust. Am Torbogen angekommen, erblickte er Oberst Kevin, Hauptmann Tom und fünf oder sechs Uniformierte. Der Rest der Yukonier-Truppe schien in den Panzern zu sitzen. »Ich muss mit euch reden«, ächzte Matt, außer Atem durch den schnellen Lauf. »Du sprichst Deutsch?«, staunte Hauptmann Tom Nanuuk. »Wie meine Muttersprache.« »Aber vorhin hast du doch behauptet ...« »Es war ein Trick«, unterbrach ihn Matt. »So wie ihr mir verschwiegen habt, dass euch Aruula längst entwischt war. Das spielt auch keine Rolle mehr. Ich denke, die Lage hat sich grundlegend verändert, oder?« »Das kann man wohl sagen«, gab Kevin Hartwig zu. »Trotzdem möchte ich wissen, wer, zum Teufel, du überhaupt bist!« »Commander Matthew Drax, ehemals US Air Force«, erwiderte Matt schnell. »Ich gehöre nicht zu diesem Verein von Rotjacken - Aruula und Aiko übrigens auch nicht. Ich wollte die beiden bloß befreien, damit wir uns aus dem Staub machen können.« »Wir haben von der US Air Force gehört«, sagte Kevin Hartwig. »Ich hätte nicht geglaubt, dass es die noch gibt.« »Es gibt sie nicht mehr.« Matt deutete die Straße hinunter. »Aber auch das ist jetzt unwichtig.« Er kratzte sich an der Nase. »Ich weiß nicht, was mich dazu treibt, Oberst... vielleicht die alte Waffenbrüderschaft unserer Länder in früheren Zeiten... Ich möchte Blutvergießen vermeiden. Ich hab unter diesen Irren ein paar wirklich patente Leute kennengelernt.« »Wer sind diese Clowns?«, fragte Kevin Hartwig und lugte um die Ecke des Torbogens. 55
»Sie sehen aus wie 'ne Kompanie der RCMP.« »Es sind Russen«, sagte Matt. »Das heißt, sie halten sich für Russen. Die meisten sind Kanadier, aber sie habens vergessen.« Er lachte kurz. »Ihre herrschende Klasse stammt von einem russischen Mafia-Gangster ab. Er hat sie nach seinem Geschmack geformt. Ihr System ist eine wüste Mischung aus Zarenreich und KGB. Der Herrscher ist aufgrund generationenlanger Inzucht debil und seine Elitetruppen vermutlich auch. Das Reich der Tausend bricht langsam auseinander und das gemeine Volk hat die Nase voll von seinem Herrscher. So schaut's aus...« Kevin Hartwig schaute Hauptmann Nanuuk an, und dieser sagte: »Du bist verdammt offen, Matthew Drax.« Er wandte sich an Hartwig. »Ich schlage vor, dass wir ebenso offen sind. Was denkst du, Kevin?« Kevin Hartwig seufzte. »Ist wohl besser so.« Sein Blick richtete sich auf Matt. »Auch wir sind ziemlich am Ende. Wir haben kaum noch Treibstoff. Camp Bismarck, unser Stützpunkt, ist dem Untergang geweiht. Die Pipeline, die wir vor fünfhundert Jahren angezapft haben und die uns mit Energie versorgte, ist vor anderthalb Jahren versiegt. Die Ölvorräte reichen vielleicht noch zwei, drei Jahre. Dann können wir auch keinen synthetischen Fraß mehr produzieren.« »Aber was soll das Gerede, ihr wärt Yukonier?«, hakte Matt nach. Tom Nanuuk grinste schief. »Das ist eine List«, gab er zu. »Mit einem Königreich wie Yukonia in der Hinterhand kann man natürlich ganz anders verhandeln als mit einem kleinen Stützpunkt. Außerdem bringen wir unsere Gegner damit auf die falsche Spur, falls wir sie... äh... irgendwie verärgern.« Matt war längst klar geworden, dass Hartwig und seine Bande nicht mehr waren als technisch versierte Hasardeure, und er konnte sich vorstellen, worauf die Umschreibung »irgendwie verärgern« hinauslief. Auch Oberst Kevin bemerkte den Fauxpas seines Kampfgefährten und beeilte sich fortzufahren: »Im Camp herrscht das große Fracksausen. Wer kann, haut ab, um sein Glück anderswo zu suchen. Wir hatten die Legende vom 'Reich der Tausend' gehört und dachten uns, es wäre vielleicht ein wahrer Kern daran.« »Wenn man uns hier nicht aufnimmt, sind wir erledigt«, fügte Hauptmann Tom hinzu. »Für eine Rückfahrt reichen unsere Reserven nicht mehr aus.« »Ich kenne den Zaren«, sagte Matt. »Er glaubt, ich arbeite für ihn. Er ist ein unberechenbarer Bastard, aber ich denke, mit den richtigen Worten kann man ihn überzeugen. Ich versuche mein Bestes.« »Dein Wort in Ghus Ohr«, sagte Hauptmann Nanuuk. Matt nickte den beiden Offizieren zu, dann machte er sich, den weißen Fetzen schwenkend, auf den Rückweg. * »Was soll ich tun?!«, kreischte Fjodoor der Gütige, nachdem Matthew Drax sein Ansinnen vorgebracht und der verdiente Gelehrte Stepaan es übersetzt hatte. »Ich soll faschistische Okkupanten in mein prachtvolles Reich aufnehmen?!« »Nun ja, Majestät...«, gab Matt zu bedenken, »mit der Pracht ist es nicht mehr weit her, wie Ihr zugeben müsst. Euer Reich zerfällt, weil es niemanden mehr gibt, der es repa56
riert.« Er erntete eifriges Nicken ringsum. Nur der Zar blieb uneinsichtig. »Sie haben mit einem Schuss neunzehn meiner Lejtenants getötet!« »Ihr habt zuerst geschossen«, konterte Matt. »Die Yukonier«, - er hatte beschlossen, sie weiterhin so zu nennen -, »haben sich nur verteidigt. Und wenn sie noch einmal schießen, seid ihr erledigt.« Er drehte sich um und deutete auf die drohenden Rohre der leise vor sich hin wummernden Kampfmaschinen. »Und was haben diese Okkupanten anzubieten?«, schnappte der gütige Herrscher und gab sich die Antwort gleich selbst: »Faschistisches Gedankengut wie... äh... Kokakola, Mäckdonalds und Meikrosoft!« Matt war sich ziemlich sicher, dass Majestät nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, von was er da redete. »Aber nicht doch!«, rief er, damit alle es hören konnten. »Sie bieten euch an, das Reich der Tausend zu reparieren, so dass es in altem Glanz erstrahlt!« Die pathetischen Worte taten ihre Wirkung. Lejtenant Iwaan, der bleich und käsig neben seinem Großvater stand, schaute auf einmal viel weniger skeptisch drein. Die überlebenden Zaristen diskutierten lebhaft. Die Stimmung kippte spürbar um. »Das wäre in der Tat ein Gewinn für unser Reich«, murmelte Lejtenant Iwaan. »Das ist Verrat!«, schrie Fjodoor der Gütige. »Nein, noch schlimmer! Es ist die Tyrannei der Demokraten!« »Die Alternative wäre der Verfall des Reiches«, warf Iwaan ein. Fjodoor stierte seinen Enkel an, als wolle er sein stählernes Gebiss in dessen Kehle schlagen. Rings um sie her wurden nun einige andere Stimmen laut und gaben Iwaan Recht. »Ich stimme Lejtenant Iwaan zu«, sagte Matt. »Die Yukonier sind, wie ich ausspioniert habe, verdiente Gelehrte und Ingenieure!« »Dann wollen wir uns mit ihnen verbrüdern«, ließ sich ein Lejtenant mit rotem Schnauzbart vernehmen. »Vielleicht können sie sogar das schreckliche Quietschen unserer Aufzüge abstellen!« »Ich bin davon überzeugt, dass sie das können - und noch vieles mehr!«, rief Matt, um den von Fjodoor abrückenden Offizieren den Rücken zu stärken. »Aber in unserem Reich leben doch schon tausend Menschen!«, jammerte Fjodoor der Gütige und warf halsstarrig die Arme in die Luft. »Mehr dürfen es nach den uralten Gesetzen niemals sein!« Matt deutete auf die verstreuten Überreste seiner Elitesoldaten. »Neunzehn Tote, sagst du, Fjodoor? Die Yukonier sind, glaube ich, auch neunzehn Mann. Wenn ihr sie aufnehmt, gleicht sich alles wieder aus.« »Ha!«, schrillte der Zar. »Und was ist mit dir und deinen Freunden?« Matt hob beschwichtigend die Hände. »Wir opfern uns der glorreichen Zukunft des Reiches und ziehen weiter«, sagte er, um einen bedrückten Ton bemüht. Bei so viel Opferbereitschaft gab Fjodoor auf. Seine Schultern sanken herab, die Unterlippe schob sich nach vorn, und er begann heftigst zu schmollen. Und Matt Drax drehte sich zu den falschen Yukoniern und seinen Freunden um und winkte ihnen zu. Aruula, Aiko, Nikolaai und Aljooscha traten ins Freie. Dann zeigten sich auch Oberst Kevin Hartwig und seine Truppe auf der Straße.
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* »Ich schlage vor, Lejtenant«, sagte Matt zu Iwaan, »du stellst schon mal eine Delegation zusammen. Wegen der Verbrüderungsverhandlungen.« »Willst du ihr nicht denn nicht auch angehören?«, fragte Iwaan. »Wie ich schon sagte«, entschuldigte sich Matt, der nach überstandener Krise von einer großen Müdigkeit umfangen wurde. »Ich hab eine Verabredung mit zwei alten Freunden. Zum Segeln.« Epilog Die Ingenieure der Yukonier, die man nun natürlich nicht mehr »faschistskie Okkupantyj«, sondern »Neubürger« nannte, reparierten nicht nur das Belüftungssystem des Stadthauses, sondern nach und nach alles, was nicht zur Zufriedenheit der Bürger funktionierte. Schon wenige Wochen nach der Abreise der drei Forscher aus dem Süden begegnete man ihnen im ganzen Merril Building mit Sympathie. Die Bewohner des Reiches schöpften mit den zunehmend besseren Lebensumständen neuen Mut. Man sah jetzt immer öfter Oberst Hartwig, Hauptmann Nanuuk und den frischgebackenen Minister Iwaan zusammen sitzen und neue Pläne schmieden. Und weil der verdiente Gelehrte Stepaan wieder die Altsprak unterrichten durfte, verstanden sie sich zunehmend besser. Alles wendete sich zum Guten. Nur Zar Fjodoor der Gütige kam gar nicht mehr aus seiner Schmollecke heraus und begann verbitterte Reden zu führen, »wie schön es damals doch gewesen sei«. Damit erinnerte er Kevin Hartwig an die alte deutsche Legende vom »schmollenden Erich« - und dessen tragisches Ende. Auf Hartwigs Antrag hin wurde eine Volkszählung durchgeführt. Sie ergab überraschend, dass im Reich der Tausend nicht tausend, sondern tausendundeins Menschen lebten. Beschäftigt mit seiner Mecker-Kampagne, merkte Fjodoor der Gütige zu spät, dass sich in seinem schönen Reich neue Regeln durchsetzten. Als er eines Tages Besuch von Oberst Hartwig erhielt, schwante ihm noch nichts Böses. Auch als Oberst Hartwig den Monarchen mit dem nun quietschfreien Aufzug zum Bahnhof hinunterfuhr, blickte Fjodoor noch nicht durch. Erst als Hartwig ihm erklärte, was die Volkszählung ergeben hatte, und ihm den Beschluss des Stadthaus-Rates mitteilte, wurde ihm einiges klar. Als kurz darauf das unterirdische Portal des Stadthauses vor seiner Nase zuschlug, soll man sein Gezeter noch nächtelang gehört haben, bevor es schließlich für immer verstummte. ENDE
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Auf dem Gipfel der Welt von Jo Zybell Alles läuft bestens, sowohl für die WCA-Expedition als auch für Professor Dr. Jacob Smythe. Beide kommen gut voran; der Trupp auf seinem Weg zum, Kratersee - und Smythe in seinem Bemühen, die Führung und Lynne Crow für sich zu gewinnen. Doch dann nähert man sich dem neuen Nordpol. Und einem Phänomen, das sich niemand erklären kann: Eine Lichtlanze erhebt sich aus der Stadt Edmonton unter dem Eis bis in den Himmel empor! Im gleichen Maße, wie die Expedition der Erscheinung näher kommt, häufen sich merkwürdige Vorfälle, die Smythe eiskalt für seine Ränkespiele ausnutzt. Die Erkenntnis, dass er mit dem Feuer spielt, kommt zu spät . . .
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Leserstory
Airport 2012 von Kadir Özdemir (
[email protected]) Laetitia schaute aus dem runden Fenster der Boeing 747-200. Nicht das Geringste zu sehen von »Christopher-Floyd«. Sie unterdrückte ein Gähnen und schaute dann erneut in die Runde. Da waren sie alle: Alain Lambert, der Konservenmillionär, und seine derzeitige Geliebte Estha Marwell, die schlimmste Klatschbase aller Zeiten und eine gefürchtete Kolumnistin. Neben ihr stand Leopold Storm, der Autor von die Vitalienbrüder. Mit seinem anspruchsvollen Historienroman hatte der Deutsche nicht nur die hochkritischen Literatenkreise beeindruckt, sondern auch einen kommerziellen Hit gelandet. Stella Steel schlürfte neben ihm ihren Champagner. Obwohl die kapriziöse Schauspielerin ihn nicht leiden konnte, hatte sie sich heute am 8. Februar 2012 bei ihm eingehakt. Alle Gäste hatten einen Halbkreis um Andrew White, dem Prediger, und Elisabeth, Laetitias Mutter gebildet. Elisabeth war eine der Ersten, die sich dem Prediger angeschlossen hatten. Andrew glaubte nicht an die übertriebenen Computersimulationen, die die Fernsehanstalten aller Welt andauernd zeigten. Milliarden von Toten, Flutwellen und Eiszeit... Eiszeit! Herrgott, was für ein Unsinn! Nach Andrews Meinung diente »Christopher-Floyd« nur dazu, eine geheime internationale Verschwörung zu verschleiern. Elisabeth lächelte. Wenn dieser Komet wirklich so gefährlich für die Erde war, warum brachten sie ihn dann nicht einfach vom Kurs ab? Schließlich hatte man in etlichen Filmen gesehen, wie das zu bewerkstelligen war. Laetitia schaute auf die Uhr: 16:29. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum in aller Welt sie sich von ihrer Mutter zu diesem mehr als unvernünftigen Ausflug hatte überreden lassen. Ihre Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, ihren Guru nach Canberra zu begleiten, wo er zu seiner Anhängerschaft sprechen wollte. Plötzlich wurde die Boeing heftig durchgerüttelt. Laetitia verlor ihr Martiniglas aus den Händen und plumpste auf die Knie. Im gleichen Moment fiel Estha Marwell und schlug mit dem Kopf hart auf den Boden. Elisabeth krallte sich an Andrew fest, der wiederum seinen Sitz umklammerte. Laetitia erholte sich als Erste von dem Schreck, schaute aus dem Fenster -und erstarrte. Sie konnte nun den Kometen mit bloßem Auge erkennen, eine infernalische Feuersbrunst, die mit wahnsinniger Geschwindigkeit heranraste. Eine glühende Feuerkugel, innen blendend hell und an der Spitze von getrübtem Orange. Je näher der Komet kam, desto mehr verwandelte sich dieser Orangeton in ein glühendes Blutrot. Und gleichzeitig drang ein ohrenbetäubendes Rauschen an Laetitias Ohr, das jede Sekunde lauter wurde und ihren Kopf zu sprengen drohte. Die Boeing wurde nun wie eine Nussschale in einem sturmgepeitschten Ozean geschüttelt. Laetitia schlug mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe und sank zu Boden. Da, wo ihr Kopf gegen die Scheibe geprallt war, hinterließ sie eine blutige Spur... Stille. Laetitia riss' die Augen auf und sah nur Dunkelheit um sich. Sie schnappte verzweifelt 60
nach Luft. Wie bei einem Fisch auf dem Trockenen öffnete sich ihr Mund und bekam dennoch keine Luft. Eine schwere Last lag auf ihrem Gesicht und erstickte sie langsam. Laetitia versuchte sich aufzurappeln, die Last wegzustoßen, und stellte fest, dass jede Bewegung ihr Schmerzen zufügte. Mit ihren letzten Kraftreserven schaffte sie es dann doch, das Ding von ihrem Gesicht wegzuzerren. Gierig saugte sie die kalte Luft ein - und wurde prompt von einem Hustenanfall durchgeschüttelt. Als sie sich ein bisschen erholt hatte, drehte sie unter Schmerzen ihren Hals und schaute sich nach dem Ding um, das auf ihr gelegen hatte. Es war der leblose Körper des Konservenmillionärs. Sein Kopf war zu ihr hin gewandt, sodass sie direkt in seine toten Augen blickte. Sie versuchte zu schreien, doch kein Laut entrang sich ihrer Lippen. Alains Gesicht war von seinem eigenen Blut rot gefärbt. Da wo sich seine Nase befunden hatte, klafften nun zwei fleischige Löcher. Sein weit aufgerissener Mund war zu einem Brunnen seines eigenen Blutes geworden. Was zum Teufel ist geschehen?, fragte sich Laetitia. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war das Feuer, das der Himmel ausgespuckt hatte. Das Flugzeug musste über Australien abgestürzt sein. Aber warum war es so dunkel? Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Was war mit den anderen? Waren auch sie... O Gott, Mutter! Laetitia rappelte sich trotz der Schmerzen, die sie am ganzen Leibe verspürte, auf die Beine, um nach den anderen zu sehen. Die Boeing war nur noch ein toter Vogel, dem man den Bauch aufgeschlitzt hatte. Jetzt, da sie auf den Beinen stand, konnte sie auf ihrer rechten Seite in einen sternenlosen Nachthimmel hinaufschauen. Etwas bewegte sich zwei Schritte vor ihr. Laetitias Herz machte einen Sprung, als sie sich der Bewegung näherte. Es war ein Bein, das unter einem Zweisitzer hervorschaute. Der restliche Körper war unter dem Möbelstück vergraben. Noch bevor Laetitia irgendetwas unternehmen konnte, hörte sie ein bedrohliches Knurren. Und in der nächsten Sekunde tauchte in der klaffenden Wunde der Boeing ein zotteliges Biest auf. Es fletschte die Zähne, und Speichel tropfte ihm aus dem Maul, während seine gelben Augen sie fixierten. Ein Dingo!, schoss es Laetitia durch den Kopf. Doch seit wann waren Dingos so groß und hatten solche Reißzähne? Sie kam nicht mehr dazu, sich weitere Gedanken zu machen, denn im nächsten Augenblick zogen sich die Lefzen der Taratze zurück, und sie sprang auf sie zu... ENDE
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