Elisabeth Zöller
Ich schieße ... doch!
Niko hat Angst. Jeden Tag aufs Neue, wenn er in die Schule geht. Denn dort wart...
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Elisabeth Zöller
Ich schieße ... doch!
Niko hat Angst. Jeden Tag aufs Neue, wenn er in die Schule geht. Denn dort warten schon Matthias, Kevin und Raphael auf ihn. Sie schlagen ihn. Sie treten ihn. Sie erpressen ihn. Immer häufiger werden ihre Übergriffe und immer brutaler. Bis Niko keinen anderen Ausweg mehr sieht und einen verzweifelten Plan fasst. Irgendwie muss es ihm gelingen, an eine Waffe zu kommen...
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der Umwelt zuliebe ist dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. ISBN 3-7855-5554-7 - 1. Auflage 2005 © 2005 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Umschlagfoto: Mauritius Umschlaggestaltung: Andreas Henze Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany www.loewe-verlag.de
Humorlos
Die Jungen werfen zum Spaß mit Steinen nach Fröschen Die Frösche sterben im Ernst Erich Fried
Liebe Mama, eigentlich möchte ich mich still aus dem Staub machen. Einfach ein Nichts sein, das keiner mehr sieht. Doch das wäre nicht fair gegenüber dir, Mama. Ich möchte dir nämlich ganz viel sagen zum Abschied. Ich weiß aber nicht, ob ich das schaffe. Wie viel passt in Worte hinein? Ich weiß nur, dass du immer versucht hast, mir dein Bestes zu geben. Das weiß ich, Mama. Deswegen wäre das nicht fair! Aber die waren auch alle so unfair zu mir. Alle, alle. Und wie, Mama! Und Papa war nicht da. Der war einfach nicht da. Und das hat es nur noch schlimmer gemacht. Ohne Papa hab ich nämlich oft Angst. Zeig ihm diesen Brief ruhig zeig diesen Brief allen! Allen! (Falls ich es tue.) Damit sie sehen: Du warst es nicht! Du hast alles gemacht, was in deinen Kräften stand. Die anderen waren es! Vor allem die, die gerade jetzt mit dem Finger auf dich und auf mich zeigen. Wir beide sind zu klein für solche Angeber und Großkotze. Und für eine solche Welt. Und wir haben Angst. Ich auf jeden Fall. Die Angst ist immer da. Sie würgt mich schon am Morgen. wer Angst hat, der wird ausgelacht. Jeder Tag tut mir weh und macht mir Angst. Große Angst. Was für einen Sinn hat Leben, das immer wehtut? Weil ich weiß, dass es immer so weitergehen wird, mache ich es. Ich kann so nicht weiterleben. Ich sage dir Tschüss Mama. Ganz, ganz leise sage ich es. So leise, wie ich in deren Folterkammer immer geweint habe ...
Solche wie ich werden immer leiser in dieser lauten, poltrigen Coolenwelt. Nur heute, zum Schluss, wird es vielleicht ein, zweimal kurz laut wegen mir in der Schule. Mama, halte dich an Tom und Louisa. Die machen dir Freude. Ich will nämlich, dass du Freude hast. Ich will, dass du glücklich bist. Mehr kann ich nicht sagen. Ich nehme dich in den Arm! Du bleibst meine Mama. Immer. Auch wenn ich nicht mehr da bin. Dein Niko
Im Gerichtssaal
Nikos Mutter hat mit diesem Brief als Erste den Zeugenstand betreten. Eine schlanke, mittelgroße Frau, die blonden Haare im Nacken straff zusammengebunden. In ihrem schmalen schwarzen Kleid steht sie da, umklammert mit zitternden Händen die Brüstung des Zeugenstands und den Brief, den sie gerade vorgelesen hat. Sie dreht ihn nervös in der Hand. Am Anfang ihrer Aussage klang ihre Stimme belegt, wollte ihr nicht gehorchen. Plötzlich schluchzte sie auf und flüsterte: „Ich kann nicht. Darf ich stattdessen etwas vorlesen?” Die Richter schauten sich an und nickten zustimmend. Nikos Mutter begann stockend, dann fasste sie sich und las mit immer klarerer Stimme. Schweigen liegt nach dem Brief über dem Gerichtsaal. Mitten in dieser Stille hören alle ein lautes Schluchzen aus der linken Ecke des Raumes. Immer wieder unterdrückt. Matthias Mahlmann beginnt, laut zu weinen. Kevin straft ihn mit einem verächtlichen Blick. Da springt Matthias auf, wendet sich Nikos Mutter zu: „Es ... es tut mir so Leid.” Und mit klarerer, deutlicher Stimme: „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, ich weiß, es klingt jetzt verrückt, aber ich habe Niko gemocht." Er steht zögernd auf und wirft dem Richter einen fragenden Blick zu. Der nickt. Matthias geht auf Nikos Mutter zu. Sie geben sich die Hand. Sie blicken sich an. „Es tut mir Leid. Ich hab das nicht gewollt.” Dann kehrt er langsam zu seinem Platz zurück. Statt einer Antwort sagt Nikos Mutter leise zum Richter: „Ich habe nichts gemerkt, ich war blind.”
„Am sechsten Juli haben Sie auch nicht bemerkt, dass Ihr Sohn unruhig war, sich seltsam verhalten hat, anders als sonst?” „Ich weiß nicht”, sagt sie, „Niko hatte sich verändert, das hatte ich schon gemerkt, aber Jungs in dem Alter sind häufig verschlossen und einsam. Deswegen war mir nichts Besonderes aufgefallen, auch nicht am Morgen des darauf folgenden Tages.” Nikos Mutter fällt auf ihren Stuhl und weint. Nach einer kurzen Pause wird die Befragung fortgesetzt, um die Familiengeschichte aufzurollen. Niko ist 14 Jahre alt und das zweite von drei Kindern. Tom, sein vier Jahre älterer Bruder, absolviert zurzeit seinen Zivildienst, Louisa, die neunjährige Schwester, geht in die vierte Klasse. „Niko ist bis zur fünften Klasse vor allem in Mathe und Deutsch ein herausragender Schüler gewesen”, erzählt seine Mutter. „Danach ist er völlig abgesackt. Ich konnte mir das nie erklären. Er hing sehr an seinem Vater. Als mein Mann weggezogen ist ... Aber da war Niko genau genommen schon mittendrin.” „Waren Sie bei keiner Beratungsstelle?” Frau Grasdorf schüttelt den Kopf. „Ich habe mich geschämt.” Niko sei ein ängstliches Kind gewesen, zart und sensibel von klein auf. Ja, er habe unter dem Wegzug des Vaters gelitten. Der habe vor drei Jahren wegen einer neuen Arbeitsstelle nach Berlin gehen müssen. „Sie leben getrennt?” „Ja." „Hat Niko Kontakt zu seinem Vater?” „Wenig. Ich hab es wohl mehr oder weniger verhindert.” Plötzlich bricht Nikos Mutter wieder in Tränen aus. Der
Richter versucht noch einmal, alle Fakten zum Tathergang durchzugehen. Aber sie bittet, den Saal verlassen zu dürfen und später noch einmal aufgerufen zu werden. Der Bitte wird stattgegeben. Danach steht Nikos Vater im Zeugenstand. Auch er kann nur mit Mühe gegen die Tränen ankämpfen. Er sitzt aufrecht, versucht, den Blick geradeaus, die Stimme klar zu führen. Aber immer wieder bricht er ab und stützt das Gesicht in die Hände. „Wie oft haben Sie Niko gesehen?" Er reißt den Kopf hoch. Tränensäcke und eingefallene Wangen, dunkle, kurze Haare, ein von weichen Zügen geprägtes Gesicht: „In letzter Zeit immer seltener”, antwortet er dem Richter leise. „Telefoniert hatten wir auch kaum noch. Und wenn doch, wussten wir oft nicht, was wir miteinander reden sollten. Niko ist immer schweigsamer geworden." Nikos Vater knetet nervös seine Hände. „Herr Richter, ich habe von alldem nichts mitbekommen. Ich habe mich zu wenig um den Jungen gekümmert. Vielleicht hätte ich das alles ja verhindern können ...” Nach einer kurzen weiteren Befragung verlässt Nikos Vater den Zeugenstand mit hängenden Schultern. Mutlos. Er nimmt in der ersten Reihe Platz und sieht zu den drei Angeklagten hinüber, eigentlich Jungen wie Niko, Mitschüler von ihm. Und doch schon angeklagt auf Nötigung, gefährliche Körperverletzung und Erpressung in mehreren Fällen über Jahre hinweg. Der erste Angeklagte, Kevin Reckschulte, sitzt aufrecht auf seinem Stuhl, die Hände hat er vor sich auf die Tischplatte gelegt. Sein Gesicht ist verschlossen, fast starr. Nur an einigen Punkten der Verhandlung gehen seine Augen hin und her, ist innere Bewegung erkennbar. Er wirkt unbeteiligt, als
ginge ihn das alles nichts an. Vielleicht ist es aber auch nur die Angst, eine Angst, die er nicht zugeben will. Zu einem Was soll's! formt sich sein schweigender Mund. Dann zieht er seine Schultern hoch. Egal. Er hat dunkles, kurz geschnittenes, nach oben gebürstetes, gegeltes Haar, seine dichten dunklen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel fast zusammengewachsen sind, hat er hochmütig hochgezogen. Doch bei genauer Beobachtung lässt sich von Zeit zu Zeit, wenn er seine Hände kurz von der Tischplatte hebt, ein Zittern erkennen, das diese zur Schau getragene Härte für Sekunden infrage stellt. Der zweite Angeklagte, Matthias Mahlmann trägt, anders als der erste Angeklagte, nicht das übliche schwarze T-Shirt, sondern ein weißes, fast bis oben geschlossenes Hemd. Im Gegensatz zu Kevin ist sein Gesicht von Emotionen überschwemmt. An einigen Punkten des Prozesses rinnen ihm Tränen aus den Augen. Sein Mund verzieht sich wie der eines Kindes. Die Kinnpartie formt sich zu einem zitternden Rechteck, das mannhaft dem Weinen standhalten will. So sitzt er, stützt, wenn es gar nicht mehr anders geht, die Ellbogen auf, legt das Gesicht in seine Hände und weint. Er schüttelt den Kopf, so als schüttle ihn die Unbegreiflichkeit seiner Tat oder als wolle er all das Geschehene von sich abschütteln. Der Platz des dritten Angeklagten ist leer, denn Raphael Schindel ist nicht zum Gerichtstermin erschienen und wird gerade auf richterliche Anweisung von zu Hause abgeholt. Jeder der Angeklagten hat neben sich seinen Verteidiger, sodass der Tisch auf der linken Seite viel Raum einnimmt. Die Richter sitzen in der Mitte am großen, mächtigen Richtertisch, die Staatsanwaltschaft auf der rechten Seite. Der Angeklagtentisch ist als Einziger abgesperrt und bewacht.
Ein Angeklagter, Kevin, ist bereits seit sieben Wochen in Untersuchungshaft. Raphael und Matthias sind bis zum Anfang des Prozesses in Freiheit geblieben. Die Zuschauerbänke sind fast gänzlich leer, dort sitzen nur Leute, die direkt mit dem Verfahren zu tun haben, denn Publikum und Medien sind wegen des gesetzlichen Opferschutzes bei Prozessen mit unter 16-jährigen Straftätern nicht zugelassen. Und diese Täter sind 14 und 15, das Opfer 14. Vor dem Gerichtssaal werden Schritte laut. „Nein”, sagt jemand, „ich will meine Zigarette noch zu Ende rauchen ... Hey, lassen Sie das gefälligst!” Dann öffnet sich die Tür, und Raphael Schindel wird - ohne Zigarette - in den Saal und zu seinem Stuhl auf der Anklagebank geführt. Er trägt eine beige Baseballkappe und weite weiße Bermudas. Sein Verteidiger weist ihn an, die Kappe abzunehmen. Auch bei seiner Vernehmung präsentiert sich Raphael Schindel überheblich, cool und uneinsichtig. „Das war doch nur Spaß”, sagt er. „Der war doch eh immer allein.” „Hast du gemerkt, dass Niko Angst hatte?”, fragt der Staatsanwalt. „Das gehört doch dazu. Oder?” „Hast du gemerkt, dass dein Klassenkamerad Angst hatte, ja oder nein?”, hakt der Vorsitzende Richter nach. „Klar, aber solche Typen, die fordern das heraus. Die wollen Prügel, kapiert das keiner?” „Weißt du nicht, dass du einen anderen nicht einfach anfassen kannst, wenn der nicht will?” „Schon, aber der war doch eh allein. Dann hatte er
wenigstens mal 'n bisschen Gesellschaft”, erwidert er mit einem Grinsen. „Na, ist ja auch egal.” Und dann, lässig: „Kann ich jetzt gehen?” „Hier treffen wir die Entscheidungen”, sagt der Richter. „Wir entscheiden sogar, ob so etwas egal ist. Und das ist nicht egal. Verstanden?” „Okay. Klar, ich hab mir vorgenommen, Ihnen immer Recht zu geben.” Raphael will hier offenbar als Einziger eine Shownummer abziehen. Er ist sich scheinbar keiner Schuld bewusst. Angeblich hat er nur ein bisschen mitgemacht. „Gruppenzwang”, begründet sein Verteidiger. „Aber es hat nicht jeder mitgemacht”, sagt der Staatsanwalt scharf. Er plädiert dafür, Raphael nun ebenfalls unter Arrest zu stellen. „Der Niko war doch ein totales Weichei, die volle Memme”, sagt Raphael ungefragt. „Der hat das praktisch herausgefordert.” „War euch klar, dass Niko gegen euch drei keine Chance hatte und seine Angst begründet war?” „So schlimm war das auch wieder nicht.” Raphael grinst. Zwischendurch schluchzt Matthias Mahlmann in seine Hände. Doch Memme sagt jetzt keiner mehr. Nach einer kurzen Unterbrechung fahren die Richter mit der Befragung von Matthias Mahlmann fort. „Hast du mitgemacht, wenn Kevin und Raphael Niko fast täglich im Hinterzimmer eures Klassenraums getreten und geschlagen haben?” Matthias nickt. „Aber auch wenn es keiner glaubt: Ich hatte große Schwierigkeiten damit.” „Feigling”, zischt Kevin. Matthias fasst Mut und sagt: „Wenn ich nicht mitgemacht
hätte, wären sie auch auf mich losgegangen.” Kevin beginnt, durch Zwischenrufe die Aussage zu stören. Raphael, der lässig zurückgelehnt in seinem Stuhl hängt, lacht nur. Die Richter verwarnen die beiden und drohen ihnen an, sie von der Verhandlung auszuschließen. „Also, was jetzt? Erst werde ich von zu Hause abgeholt, dann soll ich wieder gehen ...”, ruft Raphael. Sein Verteidiger ermahnt ihn zur Zurückhaltung. „Beginnen wir noch einmal”, wendet sich der Vorsitzende Richter wieder an Matthias: „Ihr habt geschlagen, und du hattest einen Widerwillen dagegen.” „Ja. Aber ich habe mitgeschlagen", erwidert Matthias kleinlaut. „Es war eben der Gruppenzwang”, sagt sein Verteidiger. Matthias überlegt: „Es war mehr. Es war die Angst, der Nächste zu sein. Meistens hätte ich mitheulen können.” „Warum hast du sie dann nicht angezeigt?” „Weil sie mir gedroht haben. Und als ich ihnen wirklich mal gesagt habe, dass ich nicht mehr mitmache, haben sie mich auch verprügelt. Sie haben gesagt, sie brauchen eben so einen wie mich, weil das total geil ist, wenn der mitmachen muss. Das war noch ein zusätzlicher Kick. Ich habe mich nicht mal mehr getraut, am Nachmittag irgendwohin zu gehen, weil ich gefürchtet habe, Kevin und Raphael zu begegnen und dass sie mich wieder zwingen ...” „Also warst du immer mehr für dich allein zu Hause?” „Ja. Ich hätte Niko am liebsten angerufen, aber das ging ja nicht.” „Warum nicht?” „Die haben mir gesagt, sie kontrollieren alles, selbst das Telefon.” „Und das hast du ihnen geglaubt?”, schaltet sich der
Staatsanwalt ein. Matthias zuckt hilflos die Schultern. „Ich frage noch einmal”, hakt der Richter nach. „Warum bist du nicht ausgestiegen, sondern hast, ganz im Gegenteil, immer mehr mitgemacht?” „Ich wusste, die sind zu allem fähig.” „Was habt ihr außer Schlagen noch getan?” Matthias berichtet stockend, dass Niko ihnen die Füße küssen musste, dass sie ihm einen Eimer über den Kopf gestülpt und ihn getreten haben, überallhin. Dass sie auf den Eimer geschlagen haben, bis Niko nichts mehr hörte. „Kam es auch zu sexuellen Übergriffen?” Matthias zuckt zusammen und sieht auf seine Hände, bis der Richter die Frage wiederholt. „Ja ... ich glaube, man kann es so ... nennen.” Er wird tot. „Sie haben ihn am ... am Penis gezogen und gesagt: "Du kriegst ja echt keinen hoch.“ Sie haben ihn mehrmals da unten hingetreten. Da ist er einmal zusammengebrochen. Das war vor einer Stunde bei Herrn Quante. Sie haben ihm gedroht: ,Wenn du nicht die Klappe hältst, machen wir dich fertig.'" Matthias kämpft mit den Tränen. „Warum bist du nicht zu Frau Timmermann gegangen, als Niko zusammengebrochen ist?”, will der Vorsitzende Richter wissen. „Als Frau Timmermann kam, ging es ihm schon wieder besser”, antwortet Matthias leise. „Da konnte er schon wieder auf seinem Stuhl sitzen ...” „Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen sollten?”, fragt der Vorsitzende. Matthias schüttelt den Kopf.
Kevin Reckschulte bestreitet alles. Obschon alle Zeugenaussagen gegen ihn sprechen. „Wir haben doch auf den aufgepasst”, sagt er, „außerdem hing er sowieso immer allein rum. Da muss er sich nicht wundern, wenn wir mal 'nen kleinen Spaß machen.” „Also gibst du zu, dass ihr es gemacht habt?” „Gemacht, gemacht, das Wort passt mir nicht. Wir haben unsere Pausen mit dem verbracht.” „Und du hattest dabei das Sagen.” „Klar”, erklärt Kevin. „Irgendjemand muss den anderen ja zeigen, wo's langgeht, oder?” Zuletzt wird Tom Grasdorf aufgerufen und befragt. Er hat dem Gericht zudem Nikos Tagebuchaufzeichnungen vorgelegt, die er nach der Tat in Nikos Computer gefunden hat. Aus diesen Aufzeichnungen erhofft man sich, besser verstehen zu können, wie sich alles derart zugespitzt hat. Lange Passagen daraus sollen verlesen werden. Es ist eine zermürbende, bedrückende Geschichte.
1. Februar Heute Nacht habe ich im Traum geschrien. „Hilfe, Hilfe”, hab ich geschrien, mitten in der Nacht. Denn es war alles wieder da, was gestern passiert ist. Ich stand wieder auf dem Schulhof unter der großen, alten Linde und hatte Philipp aus der Parallelklasse gerade das tolle Fotohandy gezeigt. Die Pin war schon eingegeben. „Kann ich es auch mal haben?”, fragte Philipp. „Ich telefoniere nicht richtig, weißt du ja.” Genau in dem Augenblick kamen sie. Ich wollte das Handy blitzschnell in meiner Jackentasche verschwinden lassen. Aber zu spät. Sie standen vor mir. „Was haste denn da?” Mit breitem Grinsen. „Zeig mal dein Handy, scheint ja ein geiles Teil zu sein.” Zu zweit hatten sie sich vor uns aufgebaut. Kevin und Raphael. Wir waren auch zu zweit. Sie griffen mir einfach in die Jackentasche und hielten mir dabei den Mund zu. „Klappe halten, kapiert?”, zischte Kevin. „Petzen gibt's bei uns nicht.” Philipp wollte dazwischengehen, bekam einen Schlag in die Magengrube und krümmte sich nach vorne. Da waren sie bereits weg. „Leihen wir uns mal”, riefen sie. „Cool, die Pin ist schon drin. Nur mal ein bisschen rummachen.” Ich wollte hinterher. Sah, wie sie Nummern eintippten. „Das dürfen die nicht!” Philipp hielt mich zurück. „Du riskierst doch höchstens blaue Flecke und noch mehr Mist.” Das rutschte ihm als Erklärung heraus, während er mich am Ärmel festhielt. Die waren hinter die Mauer gegangen. Da kamen keine Lehrer hin. Hinter der Mauer ist so etwas wie Niemandsland. Da ist keine Aufsicht, und man kann machen, was man will.
Das wissen alle. Dabei hatte ich mich so gefreut. Ich hatte nämlich noch nie so ein tolles Handy. Nur mal ein ganz dickes, altes. Mama hatte mir dafür eine Karte gekauft. 50 Euro sogar. Mensch, war ich stolz. Aber sie lachten nur. So altmodische Dinger zählen für sie nicht. Andere aus der Klasse hatten sich auch lustig gemacht. Das war genau an dem Tag, an dem Mama sich ein neues Handy gekauft hatte. Sie sah, wie enttäuscht und traurig ich war. Als ich ihr davon erzählte, wie sie mich ausgelacht hatten, meinte sie: „Du kannst mein Handy für einen Tag mitnehmen. Dann kannst du ihnen zeigen, dass wir auch so etwas haben.” Philipp stieß mich an und riss mich aus meinen Gedanken. Sie kamen zurück und blieben zu dritt vor mir stehen, Matthias war jetzt dabei. Sie taten, als würden sie mit dem Handy Fotos machen, schrien „Scheißfotos” und schmissen es mir vor die Füße. Es knallte auf den Boden. „Ist ein Scheißding”, sagte Raphael noch zur Verstärkung. Ich hob es auf. Und ob es vom Hinwerfen oder schon vorher war: Das Handy hatte einen Riss, der quer durch das ganze Display ging. „Kannst ja reklamieren, Mistdinger. Bei solchem Mist kann man das.” Damit zogen sie ab. Wie sollte ich das Mama sagen? Hilfe. Die hatte es mir doch nur für einen Tag geliehen. „Hilfe”, schrie ich im Traum, „Hilfe!” Ich hatte es ihr nämlich noch nicht gesagt. „Niko, wach auf.” Mama rüttelte mich. „Wach doch endlich auf.” „Hilfe.” Hatte ich im Traum etwas verraten? Louisa, Tom und Mama standen an meinem Bett. „Hast du einen
schlimmen Traum gehabt?”, fragte Louisa. Ich nickte. „Und wie.” „Magst du erzählen?”, fragte Mama. „Nein, nein.” Ich versuchte ein Grinsen. Die drei ahnten doch nicht, dass der Traum Wirklichkeit war, genau die Wirklichkeit, über die ich nicht sprechen durfte. Weil ich die nicht verpetzen durfte. Und weil es nicht geben konnte, was die machten. Mama würde nämlich sagen: „So etwas gibt es doch gar nicht.” Erwachsene konnten sich so etwas nicht vorstellen. Ich ja auch kaum. „Ach”, sagte ich, „nur ein böser Traum. Halb so wild.” Da schlüpfte Louisa unter meine Bettdecke, kuschelte sich an mich und sang mir ein Lied vor. Mama wollte mir einen Gutenachtkuss geben, zögerte aber, weil ich dafür ja eigentlich viel zu groß bin. Louisa holte mir sogar ihren Bären: „Den darfst du für diese Nacht behalten.” Danach schlief ich. Nur Tom fragte am Morgen: „Was war denn?” Einen Augenblick zögerte ich. Sollte ich? Schließlich schüttelte ich den Kopf und sagte: „Nichts, eigentlich nichts.” Er schaute mich misstrauisch an. Er glaubte mir nicht. Aber ich wollte Tom nichts erzählen. Niemand soll wissen, dass mich die anderen nicht mögen und solche Sachen mit mir machen. Also behielt ich alles für mich, obwohl es bald auffliegen wird. Das Handy ist ja kaputt, und die Telefonrechnung wird auch noch kommen. Wie hoch die wohl ist? Angst total.
2. Februar Sie musterten mich kalt. Sofort, als ich in die Klasse kam. Kevin hatte sich hinten auf meinen Platz gesetzt und teilte mir nur kurz mit, ich solle mir doch einen neuen Platz suchen. „Ich will aber meinen Platz." „Suchst du Ärger?" Da setzte ich mich in die erste Reihe. War der einzige freie Stuhl. „Brav gemacht", sagten sie, als es zur Pause klingelte und sie sich um meinen neuen Platz versammelten, „die Ratte scheint zu kapieren. Ratten sind schlau." Verzogen keine Miene. Kein Muskel bewegte sich in ihrem Gesicht. Cool. Cool zogen sie mich in das Hinterzimmer. Die kleinen Räume hinter den Klassen sind irgendwann für Unterrichtsmaterialien und vielleicht Klassenbüchereien angelegt worden. Heute sind sie nur noch muffig und dunkel, ein Anhängsel, in das niemand mehr hineinkommt. Aber ich komme oft hierher - wenn auch nicht freiwillig. Sie schleppten mich hin, traten mich, stellten mich an die Wand und schubsten. „Warum macht ihr das?”, fragte ich. Blöd. „Der fragt, warum. Hihihi.” Sie lachten. „Weil's Spaß macht.” „Weil's total geil ist.” Ich musste mich mit dem Gesicht zur Wand stellen und raten, wer getreten hatte. Sie sagten „nein, falsch geraten”, machten weiter und lachten: „Wir treten, bis du es weißt.” Da kam der Pfiff. Vorne im Klassenzimmer musste jemand aufpassen. Den hatten sie gezwungen wie alle anderen.
Feiglinge. Ich rannte hinaus, sogar aus der Klasse, hinunter in den Pausenhof und verkroch mich in einer Ecke am Zaun. Dort stand ich und heulte. Und mit dem Rest Kraft, der mir geblieben war, überlegte ich gerade, was ich tun sollte, als sich von hinten ein Arm auf meinen legte. Ich drehte mich um. Es war die XXL. Hannah hieß sie. „Tut mir Leid”, sagte sie leise. Die hatte Mut. Sie war als Einzige hinter mir hergekommen. Heute Morgen hatte sie mir beim Hereinkommen schon gesagt: „Mensch, Niko. Du bist ja so weiß wie ein Bettlaken.” „Na und?”, hatte ich nur geantwortet. Am liebsten hätte ich ihr gesagt: „Was geht's dich an?” Ich will mit XXL nichts zu tun haben. Mit so Dicken hab ich nichts am Hut. „Hast du Probleme?”, fragte sie jetzt. Ja, ich hatte tausend Probleme. Hannah schaute mich an. Ich starrte wie von selbst nur auf ihren Busen. Ich hatte echt keinen Bock, mit ihr zu reden. Und doch tat es gut. „Soll ich dir mein Handy leihen?”, fragte sie weiter. „Angstmacher sind das, blöde Angstmacher." „Damit sie es wieder zerdeppern?”, antwortete ich bitter. Da zog ich das kaputte hervor. Es war noch immer in meiner Jackentasche, weil ich einfach zu feige gewesen war, es Mama zu zeigen. Und das zu erzählen. Sie sah den Riss. „Ist das gemein”, sagte sie. „Das ist ja total hinüber.” Ich wusste es. Leider. „Soll ich dir meins leihen?", fragte sie nochmal. „Ist lieb von dir, Hannah, aber nein." Dabei schaute ich sie zum ersten Mal an. Sie hat ein sehr schönes Gesicht. Das hatte ich noch nie
bemerkt, obwohl Hannah schon seit eineinhalb Jahren in meiner Klasse ist. Ihr Gesicht ist sehr fein geschnitten, dunkelbraune, große Augen und irre lange Wimpern. Wenn sie nicht XXL wäre, sie wäre eine Schönheit. Beim Doppelkinn fängt die Übergröße an, und nach unten wird's immer breiter. Birnenförmig. Doch ich lächelte. Da wurde sie unsicher und maulte: „Ich weiß, ich bin zu fett.” Dabei zog sie ein dickes Leberwurstbrot aus der Tasche und biss hinein, bestimmt aus Trotz. „Das hab ich nicht gemeint.” Ich wurde rot. „Ich habe dein Gesicht angeschaut. Ich mag deine Augen.” Dabei sah ich extra zur Seite, weil das peinlich war - aber ehrlich. Und ich war froh, endlich wieder ehrlich sein zu können. Und ich bewunderte ihren Mut, aber das habe ich nicht gesagt. „Du hast auch schöne Augen”, sagte Hannah leise. „Graugrün ist selten. Und so coole struppig kurze Haare.” Sie schwieg. Und als ich nichts antwortete, schlug sie vor: „Komm, wir gehen zurück in die Klasse.” Dabei schaute sie auf die Uhr und sah, dass die Stunde fast zu Ende war. „Ich entschuldige uns bei Frau Timmermann”, lenkte sie ein. „Ich finde schon einen Grund. Dich entschuldige ich natürlich mit.” „Danke”, murmelte ich. „Cool bleiben”, sagte sie, „trotz allem.” Wir gingen erst am Ende der Pause hinauf. Kevin begrüßte uns mit der originellen Feststellung: „Alter, die haben geknutscht.” Er lachte laut. Aber das glitt einfach an uns ab. Der ist so bescheuert.
4. Februar Heute haben sie schon beim Hineinkommen „Aldityp” gerufen. Sie hatten sich etwas Neues ausgedacht. Cool bleiben, hab ich gedacht, trotz allem. Sie wollten in Listen ankreuzen, wer welche Markenklamotten trägt. Ich trage nie Markenklamotten. Früher, ja, da hatte ich von Zeit zu Zeit mal ein Teil. Das kauften Papa oder Mama uns. Und wir waren stolz, egal, ob das nun Tom war oder Louisa oder ich. Aber jetzt geht es einfach nicht mehr. Mama erklärt uns immer wieder, dass wir uns das momentan nicht leisten können, wenn sie unsere sehnsüchtigen Blicke sieht. „Aldityp”, riefen sie. „Hose von Aldi”, murmelte Kevin, und Raphael trug es ein. »T-Shirt wahrscheinlich von C&A." Sie lachten sich schief. „Zeig uns mal deine Unterhose, komm.” „Nein”, sagte ich. „Ja”, sagten sie. Gerade wollten sie mich wieder ins Hinterzimmer schieben, da kam der Pfiff. Sie ließen sofort los. Diese alten Feiglinge. Noch einmal Glück gehabt. Ich überlegte dabei ernsthaft, von welcher Firma meine Unterhose war. Auf jeden Fall nicht von CK. Die haben nämlich fast alle Unterhosen von CK. Die sind in. Bin ich jetzt auch schon so bescheuert? Bin ich froh, dass endlich Wochenende ist und ich meine Ruhe vor denen habe! Und vielleicht haben sie den ganzen Marken-Quatsch ja bis Montag vergessen.
7. Februar Heute haben sie mich auf dem Nachhauseweg gepackt. Ist man jetzt nirgendwo mehr sicher? Im Park haben sie mir aufgelauert, hinter ein paar großen immergrünen Büschen. Sie schmissen mich zu Boden. Sie wollten nach meiner Unterhosenmarke sehen. Ich konnte nur denken: Was für ein Glück, dass der Boden gefroren ist und nicht nass und matschig! Dann stellt wenigstens Mama hinterher keine dummen Fragen. Das dachte ich, während Raphael und Matthias mich festhielten und Kevin meinen Gürtel aufmachte. Da rief von weitem ein Mann in Joggingklamotten: „Was macht ihr da? Könnt ihr das mal lassen?” Wie der Blitz waren sie verschwunden. Echte Feiglinge. Der Mann kam zu mir herübergerannt. „Kennst du die?”, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Nö, solche Typen kenn ich nicht. Woher auch? Ich hab auf solche Typen keine Lust.” Ich boxte in die Luft. Das stimmt sogar fast. So welche kenne ich nicht wirklich. Die will und die darf man nicht kennen, weil die sich immer in Luft auflösen und sagen: Wir? Waren wir nicht. Wir sollen das gewesen sein? Das war doch bloß ein Spaß. Humorlos oder was, ey? Die machen ja nichts, gar nichts, solche Typen. Auf jeden Fall nichts, was sie zugeben. Der Mann fing an, auf der Stelle zu rennen: „Wenn solche Typen kommen, musst du schreien, einfach schreien. Das hat nichts mit Feigheit zu tun.” Ich stand erstaunt vor ihm. War total nett, dass er sich so kümmerte. Und deshalb rutschte mir spontan raus: „Die sagen doch immer, dann sei man 'ne Petze oder ein Feigling."
„Klar”, sagte er, „das behaupten sie, um sich selbst zu schützen. Und zwingen die anderen noch, alles totzuschweigen und mitzulügen, damit sie nicht auffliegen. Das ist echte Feigheit.” Das sagte der echt, der Jogger. Ich nickte und versuchte ein zuversichtliches Lächeln. Doch vor meinem inneren Auge sah ich sie schon hinter der Ecke auf mich warten. Der Mann verabschiedete sich. Er sagte sogar seinen Namen. Aber ich hab aus lauter Angst gar nicht zugehört. Ich musste mir sofort einen Schleichweg ausdenken und rannte wie um mein Leben. Aber an dem Tag haben sie mich nicht gekriegt, die miesen Ratten.
8. Februar Ich rief Hannah an und erzählte ihr alles. Sie sagte, wir müssten uns etwas einfallen lassen. „Cool bleiben”, sagte sie, „trotz allem.” Mamas Handy hatte ich im Flur auf die Kommode neben das Telefon gelegt, weil ich nicht wusste, wie ich es ihr sonst beibringen sollte, dass es kaputt ist. Vor allem musste ich mir genau überlegen, was ich erzählen durfte und was nicht. Wenn Mama zur Polizei ginge oder zu Lehrern, dann würde es richtig gefährlich. Ich musste mich schützen. Daher durfte ich Mama nur die halbe Wahrheit sagen. Ist verteufelt schwierig, vor allem bei jemandem, den man mag. Und so jemand ist Mama. „Was hast du denn mit dem Handy gemacht?” Sie rief laut und entsetzt.
Ich ging schnell in den Flur. Dort stand sie im Halb-dunkel, hielt das Handy ins Licht des Fensters und betrachtete den Riss. „Ach, Mama, es ist mir runtergefallen. So, aus der Hosentasche.” Ich versuchte, es vorzumachen. „Das glaubst du doch selbst nicht, das ist mittendurch.” „Ja, also nein, also ich bin auf der Straße gestürzt, also ... es ist nicht nur einfach aus der Tasche gerutscht, sondern ... irgendwie ...”, stammelte ich weiter. „Also ist es doppelt gefallen?”, fragte sie bissig. „Sozusagen gehüpft.” Ich versuchte, auch das vorzumachen. Grinsen konnte ich nicht. „Du hast schon mal bessere Märchen erzählt.” Mama sagte es so traurig. Sie schimpfte nicht mit mir, sie schrie nicht. Sie klang einfach traurig. „Dann sieht das niemals so aus.” „Tut mir wirklich Leid, Mama.” Das war das Erste, was ganz stimmte und was sie mir glaubte. Sie lächelte mich an und sagte nur, während sie mich von oben bis unten betrachtete: „Hauptsache, dir ist nichts passiert.” Unser Telefon klingelte mitten in unser Gespräch hinein. Für mich war das im Augenblick gut. Gerettet. Wie ich mich trotzdem fühlte, kann ich kaum beschreiben. Schlimm, gemein, hinterhältig, verlogen. Alles stimmt nur zum Teil. Wie 'ne miese Ekelratte, echt. So fühlte ich mich. Denn ich habe Mama angelogen und ihr doch genau die Wahrheit gesagt, die ich sagen durfte, damit die nicht zu irgendeinem geht und alles verrät und alles nur noch schlimmer macht. Ich habe total Angst. Die Angst frisst sich jetzt schon als Lüge durch unsere Gespräche. Wie dicke, fette Würmer. Ekelhaft und fett, das Schweigen und die Angst. Eine dunkle
Wolke, die über allem liegt, und Nebel bis ins Hirn. Die Angst begleitet mich auf Schritt und Tritt.
14. Februar Ein paar Tage lang haben sie mich in Ruhe gelassen, aber am letzten Donnerstag ging alles wieder los. Auf einmal hat einer von denen einfach auf meinen Geldbeutel geklopft. Hinten in der Hose. „Lass die Pfoten weg!” Ich war sauer. „Nur mal schauen, wie viel Geld du so mit dir rumschleppst!” Kevin hatte das Ding schon in der Hand. Dabei blieben die mitten im Klassenraum stehen. Alle anderen sahen zu. Sie haben meine Geldbörse vor allen Augen ausgeschüttet. „Ist ja fast nichts drin”, stellte Kevin fest. Mein Schülerausweis fiel auf den Boden. Den nahm Kevin hoch und fing an zu lachen: „Schaut mal, wie putzig er in der Fünften aussah. Und Josef heißt er mit zweitem Namen. Hallo, Josef, hallo.” Den Rest des Tages haben sie noch oft Josef zu mir gesagt. Erst wollten sie meine Sparcard behalten. Ich habe nämlich ein eigenes Konto. Da hat Hannah mich gerettet: „Ihr seid so unfair! Merkt ihr eigentlich nicht, was ihr da macht?” Sie haben sich vor Hannah gestellt: „Blas dich nicht so auf, XXL!” „Die braucht sich doch gar nicht aufzublasen”, rief jemand. „Die ist so schon so fett wie 'n aufgeblasener Luftballon.”
Da hab ich geschrien, dass sie alle die Fresse halten sollen. Richtig laut. „Okay, wenn die Dicke das will, dann machen wir's halt nicht.” Lässig schmissen sie die Karte hin, nahmen sie aber sofort wieder. „Wie viel ist denn auf deinem Konto wohl drauf?” „Nichts”, schrie ich. „Aber 'n kleiner Hunderter wird doch noch drin sein.” Keine Miene verzog Kevin, als er das sagte. Eiskalt. Und dann hat er Hannah getreten. Ich sprang vor, rettete Hannah. „Hör auf”, hab ich gefaucht, „lass sie sofort in Ruhe, du Arsch.” „Sag das nochmal.” Raphael riss mich zu Boden und kniete sich auf meinen Bauch. Das tat weh. Wer das nicht kennt, der weiß gar nicht, wie weh das tut. Ich bekam kaum Luft. „Wiederhol das!” Und da boxte er mir ins Gesicht. „Der zahlt dafür”, schlug Kevin vor. Er drehte die Sparkarte in seinen Händen. Sie nahmen sich fünf Euro aus meinem Geldbeutel: „Fünf Euro jeden Tag, klar, für den Arsch. Und sag das nie wieder!” Dann haben sie sich umgeschaut zu den anderen und haben gesagt: „Klappe halten, sonst seid ihr auch dran. Klar!” Alle haben genickt. Hauptsache sie waren nicht dran. Die Angst stand in ihren Augen. Nur Hannah hat nicht genickt. „Und wenn du die fünf Euro nicht freiwillig in jeder ersten großen Pause bei Kevin ablieferst, kommt der Kopf ins Klo. Klar? Wir können auch noch andere Saiten aufziehen", haben sie gedroht. Kein Gesichtsmuskel bewegte sich. Am ersten und zweiten Tag hatte ich fünf Euro. Die hatte ich zu Hause in der Schublade. Doch danach immer das Herzklopfen. Irgendwann stecken sie mich doch sowieso mit dem Kopf ins Klo. Das weiß ich haar-genau. Was soll ich
jetzt machen? Abwarten? Cool bleiben? Ich heule - aber nur nach innen. Da kann ich nicht cool bleiben. Und jeden Tag fünf Euro? Wo soll ich das morgen hernehmen?
3. März Hab schon lang nicht mehr geschrieben. Aber mir geht's auch richtig schlecht. Das mit dem Geld macht mich fertig. Zuerst habe ich mir was geliehen von Louisa. Am nächsten Tag von Tom. Dann von Mama. Doch dann bekam ich Panik. „Wo bleibt unser Geld?”, fragten sie. Da wusste ich nicht mehr, woher ich es nehmen sollte. Ich räumte mein Sparbuch leer. 20 Euro. Die waren schnell weg. Da schleppten sie mich zum Klo. Unten in die alten, fiesen Toiletten im Keller. Hohe Spülkästen. Bepinkelt. Dann spülten sie und hielten mich kopfüber hinein, lachten sich tot. Ich bekam keine Luft. Ich heulte, prustete. Hannah steckte mir zehn Euro zu. Danach begann ich zu klauen. Kopf ins Klo will ich nicht mehr. Ich kaufe und klaue mich frei. Manchmal heule ich im Schlaf. Was soll ich nur tun? Doch mit Mama sprechen? Aber was kann sie schon machen? Sie würde zu den Lehrern gehen. Und dann würden die mich total fertig machen. Die würden sagen: ,Waren wir nicht'. Und Aussage stünde gegen Aussage. Inzwischen hatten sie auch mein Konto geräumt. Nicht einen Euro hatten sie mir gelassen. Diese Schweine. Ich heulte. Hannah half mir aus. Sie war die Einzige, die das wusste und wissen durfte. Sie war auch die Einzige, mit der ich nachmittags am Telefon darüber sprach.
4. März „Wohin hast du verdammt nochmal telefoniert?” Mama schrie erst, als sie die hohe Handy-Rechnung sah, die heute mit der Post gekommen ist. Vorher hat sie geweint, weil sie mir einfach nicht geglaubt hat. Weinen ist schlimmer als schreien. Ich glaube, wenn Mama ahnen würde, was mit mir los ist, hätte sie schon längst alle Welt in Bewegung gesetzt. Das ist es ja. Deswegen kann ich ihr nichts erzählen. „Wohin hast du verdammt nochmal telefoniert?” Sie hielt mir die Rechnung unter die Nase. 285 Euro. Da war eine Nummer angewählt, die müsste in Fern-Ost sein. Diese Schweine. Ich schwieg. Tom kam und legte seinen Arm um meine Schulter. Er drückte mich. Das tat gut, obwohl es Tom war. Denn gegen meinen Bruder Tom komme ich mir immer sehr klein vor. Der hatte bestimmt nie solche Probleme. Der ist beliebt. Da erzählte ich, dass ich versucht hätte, zu telefonieren. Irgendeine erfundene Nummer anzurufen. Halt nur mal versucht. „Lüg mich nicht an!”, schrie Mama. „Sag mir lieber, wie ich das bezahlen soll.” Tom legte seinen Arm auch um Mamas Schulter. Da beruhigte sie sich. Ich sagte nichts. Schweigen. Und Tom schlug vor: „Können wir nicht alle zusammenlegen? Ich habe gerade mein Zivildienst-Geld bekommen.” Mama drehte sich zu mir um: „Hast du wirklich versucht, nach Asien zu telefonieren?” Ich wich ihren Frageaugen aus. Es war alles so verdammt absurd. Doof. Bescheuert. Fast zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen gewesen wäre. Ich
zog die Schultern hoch. Das konnte Ja und Nein heißen. Mama schüttelte den Kopf: „Und das Handy ist auch hin, das kann ich vergessen.” Sie wandte sich an Tom: „Kannst du nicht ein Auge auf deinen Bruder haben? Der macht nur Mist.” Tom antwortete: „Kaum.” Mama wusste auch, dass es nicht geht. Tom ist ja gar nicht mehr an meiner Schule. Und mein Kindermädchen ist er auch nicht. Außerdem will ich das verdammt nicht. Obwohl - jemanden, der ab und zu auf mich aufpasst, hätte ich schon gerne. Aber bestimmt nicht Tom, den Tollen, den Großen, der immer alles kann und richtig macht. Meine Tomwut kam hoch. Und deswegen fiel es mir auch so schwer, mit ihm zu reden. Früher hat er immer gesagt, was ich wie und wo und wann machen sollte. Dafür hasse ich ihn ein Stück. Weil er immer der Große, Kluge ist. Ich bin aber auch wer. Will ich endlich sein! Scheiße! Plötzlich wollte ich mich an Mama schmiegen. Ihr vorschlagen, einfach wegzuziehen. Aber ich hörte sie schon alle: Louisa, die hier bei ihren Freundinnen bleiben wollte. Mama, die mir erklärte, ein Umzug wäre zu teuer und sie hätte ja hier ihre Arbeit. Und Tom, der dazu nickte. Also schwieg ich und umarmte auch Mama nicht. Ich hatte meinen Traum sofort selbst ausgepustet. Warum eigentlich? Und trotzdem will ich weg. Und wenn ich wenigstens auf eine andere Schule gehe? Ob die mich nehmen würden? Ich bin schon so abgesackt von den Noten her. Das macht es wahrscheinlich nicht leichter. Und außerdem würde Mama dann wieder Fragen stellen ... Vielleicht könnte ich ja auch in Berlin bei Papa zur Schule gehen. Bestimmt. Ich werde sofort bei Papa anrufen.
Papa war nicht da. Am Abend habe ich es noch einmal versucht. Aber es war nur eine Frauenstimme am Telefon. Hat er eine Freundin? Ich rief in der Nacht ein letztes Mal an. Papa war immer noch nicht zu Hause. Doch da sagte mir die Frau: „Der hat Nachtschicht.” Also hat Papa eine Schichtarbeit. Was das wohl bedeutet? Dabei war er immer so stolz auf seinen Ingenieurberuf. Und jetzt arbeitet er Schicht? Papa fehlt mir sehr. Und er hat oft gesagt, wir alle fehlen ihm auch. Stimmt das noch? Er kann sich doch in dieser kurzen Zeit nicht völlig geändert haben. Er war doch immer so lieb. Eben Papa, unser Papa.
7. März Heute habe ich etwas mitgehört. Ich musste nach der Schule noch mal zu meinem Klassenzimmer zurück, weil ich ein Buch vergessen hatte. Es war wichtig. Tom hatte mich gebeten, ihm meinen Atlas mitzubringen, den ich sonst in der Schule ließ. Also rannte ich zurück. Da hörte ich plötzlich in der Klasse Kevins Stimme. Genauer gesagt waren es die Stimmen von Kevin und Raphael. Die Stimme von Matthias dazwischen: „Das geht echt zu weit. Ich mach da nicht mit, nur damit ihr's wisst. Ich habe das von Anfang an gesagt.” Matthias' Stimme klang stark und selbstbewusst. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Matthias sprach schon weiter: „Ihr habt mich gezwungen mitzumachen. Ihr habt mir gesagt, sonst bist du der Nächste. ,Das ist übrigens cool', habt ihr gesagt. Aber ich mache nicht
mehr mit. Ich nicht. Ihr seid nur noch gemein. Ihr habt nichts anderes im Kopf. Das ist überhaupt nicht cool.” Ich lauschte noch einen Augenblick. Einen Moment lang wurde es ganz still im Zimmer, dann hörte ich einen Schlag und ein leises Aufstöhnen. „Pass auf, du Weichei, wenn du nicht willst, wollen wir. Einfach so aussteigen ist nicht. Ist das klar?” Wieder Stille. „Matsche, heißt das”, meinte Kevin: „Das heißt jeden Mittag Prügel.” „Jeden Mittag”, bestätigte Raphael. Wahrscheinlich verzogen sie wieder keine Miene. Cool! Ich zitterte. Sollte ich Matthias helfen? Dann wären wir zwei gegen zwei. Aber ich dachte gleichzeitig an Kevin. Kevin war groß wie ein Schrank und doppelt so stark wie wir alle zusammen. Raphael war ziemlich klein und schmächtig, aber dafür hatte er keine Skrupel. Die schlugen einfach zu. Mitleidlos und kalt. Ich bewunderte Matthias' Stärke. „Ich mache nicht mehr mit, klar?”, wiederholte er. Wie schaffte der das nur? Drinnen wieder ein Schlag, dann ein Aufschrei von Matthias. Ich ballte vor der Tür meine Hände zu Fäusten. Doch Matthias helfen? Eigentlich musste ich. Angst- und Wutzittern. Matthias wurde also gezwungen, mich zu quälen. Und ich vor der Tür wurde gezwungen, ihn nicht zu verteidigen. Ich hatte einfach Angst. Und plötzlich empfand ich eine Art Gemeinschaft mit Matthias. Doch er war mutig, und ich hatte Angst. Aber er hatte mich auch geschlagen. „Mir tut Niko einfach Leid.” „Das bockt ja gerade”, lachte Kevin, „wenn du Mitleid hast.
Oder ist es Angst. Das bockt, Alter.” „Ich will aber nicht mehr ...” Dann folgten dumpfe Schläge. Ich riss die Tür auf und sprang vor. Ich trommelte auf Kevins Rücken. Dann packte Raphael mich von hinten und schleuderte mich auf den Boden. Matthias konnte mir nicht helfen. Er lag auch am Boden, Kevin stand breitbeinig über ihm und sagte von oben herab: „Ey, Alter, was für 'n Weichei bist 'n du?” Völlig kalt. Da kamen draußen Schritte. Sofort ließen sie los und meinten nur zu mir: „Und dir wird das noch Leid tun! Und jetzt zisch ab, los, mach schon!” Ich hatte irre Wut und konnte nichts tun. Ich ließ das Buch für meinen Bruder unter meiner Bank liegen und rannte nach Hause. Wut auf die ganze Welt, Wut auf die. Ich heulte Rotz und Wasser.
8. März Heute in der Schule habe ich versucht, mit Matthias zu sprechen, aber er ist mir ausgewichen. Konnte mir nicht mal in die Augen sehen. Dafür habe ich etwas gesehen: lauter blaue Flecke und Abschürfungen an seinem Arm, als sein Sweatshirt ein Stück zurückgerutscht ist. Matthias hatte auch ein blaues Auge. Matthias ist schlimm dran. Der muss zuschlagen. Ich werde geschlagen. Was ist schlimmer? Als ich an diesem Morgen in die Pause ging und die Hände gegen die Kälte in meine Jackentasche steckte, fand ich einen Zettel mit drei Fünf-Euro-Scheinen. Auf dem Zettel stand: von M.
An dem Mittag wollte ich mit Mama sprechen. Heute tu ich's, dachte ich auf dem Nachhauseweg. Heute erzähle ich ihr alles. Das Geld von Matthias hatte mir Mut gemacht. Vielleicht würde er mir auch helfen, wenn Kevin und Raphael alles abstritten. Und - ich hatte seinen Zettel. Ob ich den als Beweisstück gebrauchen könnte? Nein, das wäre Verrat. Aber ich könnte doch wenigstens mit Mama sprechen. Aber als ich zu Hause ankam, merkte ich, dass Mama noch angespannter war als sonst. Ihr Chef hatte ihr erklärt, dass er im Moment zu wenig Aufträge hätte. Für ein paar Wochen würde es noch reichen. Er würde. sich natürlich um neue Aufträge bemühen ... Mama war traurig. Aber sie sprach wenigstens. Während ich schwieg. Nein, heute war kein guter Tag. Sie hatte genug Sorgen.
11. März Vorgestern haben sie Hannah gefragt: „Hast du Geld dabei, Hannah?” Hannah hatte noch drei Euro, die gab sie ihnen. „Bekomme ich die morgen zurück?” „Klar.” Kevin grinste übers ganze Gesicht. „Wir geben alles zurück, doppelt und dreifach.” Am nächsten Tag bekam sie das Geld nicht. Und heute hatten sie das Geld wieder nicht. Hannah sagte: „Ich will aber mein Geld.” Da griff Kevin ihr in die Haare und riss so fest daran, dass er hinterher eine Strähne in der Hand behielt. Hannah fragte nicht mehr.
14. März Und doch habe ich zu Hause noch Mama, Louisa und Tom. Und in der Schule habe ich Hannah. Das Schweigen, das sich um mich gelegt hat, steht zwar zwischen uns. Trotzdem sind sie noch da und geben mir ein Stück Halt. Als ich heute nach Hause kam, dachte ich sofort an Louisa. Heute hatten sie mich in der Schule auch in Ruhe gelassen. Louisa würde gleich kommen, die Treppe herauf mit ihrem hellen Lachen. Sie stürzte in mein Zimmer herein und plapperte sofort los: „Du, wir haben heute einen ganz langen Aufsatz geschrieben. Der ist toll geworden. Richtig toll. Ich weiß es genau. Ob Mama mir dann das Barbiekleid kauft?” Wie ich sie mochte! Ob ich früher genauso war? Während sie weiterredete, zog sie etwas aus der Tasche: „Schau mal.” Genau in dem Augenblick ging das Telefon. Ich rannte hinunter in den Flur. Es war Mama, die Bescheid gab, dass sie später nach Hause kam, weil sie noch so viel zu tun hatte. Sie fragte, ob ich Kartoffeln und Fisch machen könnte. „Klar”, sagte ich zu ihr, „Fischpfanne Helgoland, habe ich schon vorbereitet.” Ich glaube, wir können bald eine Versuchsküche werden für Tiefgefrorenes. Aber macht nichts. „Kannst du häkeln?”, fragte mich Louisa, die mir nach unten gefolgt war. „Wir häkeln nämlich Topflappen. Meinst du, Mama freut sich über einen roten? Oder aber ... Nein, lass mal.” Sie grinste übers ganze Gesicht. „Erklär mir lieber die Sache mit dem Dividieren in Mathe noch einmal, und das mit der Schnittmenge. Bitte, bitte.” Ich nickte in Gedanken.
Da rüttelte Louisa an mir: „Du hörst doch schon wieder gar nicht zu.” Sie holte ein Blatt Papier, setzte sich an den Küchentisch und fing an zu malen. „Warte, ich will dir nur zwei Schnittmengen aufmalen, die sich fast decken.” Sie malte. Louisa hatte ihren hellblauen Pullover an. Zu ihrem blonden, leicht gelockten Haar sah das richtig hübsch aus. „Das ist doch wie bei den Menschen”, sagte sie, während sie die Schnittmengen ausmalte, „da decken sich auch viele Dinge, und je mehr sich an einer Schnittmenge deckt, umso ähnlicher ist man sich. So wie wir. Wir sind Geschwister.” „Hm”, machte ich nur und schaute auf das Bild. Aber die schlimmen Probleme, die ich habe, waren der andere Teil der Schnittmenge. Das war die Menge, die sich nicht schnitt. Und diese Menge ist verdammt groß. „Aber eigentlich magst du doch den Tom lieber?”, hörte ich mich plötzlich fragen. Immer dieser Tomneid. Tom ist eben größer. Er ist immer in allem besser gewesen. „Wieso das denn?” Sie legte ihren Stift aus der Hand und guckte mich ganz entsetzt an: „Nein, eigentlich bist du viel mehr so wie ich, wir beide haben eine große Schnittmenge.” Und sie zeigte wieder auf das Blatt. „Klar, den Tom hab ich auch lieb.” Ich freute mich und schämte mich zugleich. Umständlich nahm ich den Fisch aus der Verpackung und träufelte etwas Öl in eine große Pfanne. „Hallo, Niko!” Louisa zog an meinem Ärmel. „Träumst du? Ich hab dich doch jetzt schon fünfmal was gefragt.” „Nein, ich träume nicht, ich spreche in meinem Kopf.” Das rutschte mir einfach so raus. „Machst du das auch?” Sie lachte. „Ich führe auch immer Gespräche mit mir selbst. Manchmal auch laut. Warum tun das eigentlich so viele Menschen? Oder tun das alle
Menschen?” Ich überlegte. „Ich glaube, alle Menschen führen Kopfgespräche - einfach, weil sie Menschen sind. Man denkt ja schließlich im Kopf, und deshalb sind das Kopfgespräche.” „Und was tun Menschen sonst noch, weil sie Menschen sind?”, fragte sie, als sei es die einfachste Sache der Welt. „Mensch, Louisa, du stellst vielleicht Fragen! Lachen, Traurigsein, Erzählen.” „Auch Knutschen?” Sie kicherte. „Ja”, sagte ich und legte meinen Arm um sie, „auch Knutschen.” Dazu machte ich Schmatzgeräusche, und sie kicherte noch mehr. Mensch, fühlte ich mich wohl bei Louisa. Aber die Schule! Wenn ich daran denke, geht ein Riss durch meinen Bauch. Dort regiert die eiskalte Coolness. Und das Komische ist, dass keiner bestraft wird, weil er zu kalt ist, keiner. Kälte ist in. Kälte regiert. Mit Matthias zu sprechen, habe ich aufgegeben. Er geht mir aus dem Weg. Und manchmal sehe ich neue blaue Flecken. Warum fällt das nur mir auf?
15. März Beim Mittagessen fragte Mama, wie es in der Schule war. Louisa plapperte los. Mama sprach mich direkt an: »Und wie war es bei dir, Niko?" „Ach, normal.” Das stimmte und stimmte nicht. Gerade heute Morgen waren die so gemein gewesen. Aber war das nicht schon normal? Sie hatten mich in der großen Pause nach hinten geschleift und vorne an der Tür einen als Bewachung
aufgestellt. Hannah hatte im letzten Augenblick geschrien: „Lasst das, oder ich gehe nach unten zum Lehrerzimmer!” „Tu's doch! Wir zittern schon vor Angst.” Kevin kaute lässig auf seinem Kaugummi herum, ging ganz nahe an Hannah heran und blies ihr eine große Plopblase mitten ins Gesicht. Der Kaugummi klebte an Wimpern und Nase. Alle lachten. Kevin hatte alle auf seiner Seite und meinte kalt: „Mit dir werden wir locker fertig, XXL, klar. Du gehst doch eh nicht hin.” Er hatte gegrinst, Hannah vorne aus der Tür rausgeschoben: „Babys müssen in der Pause auf den Schulhof. Nur Erwachsene bleiben hier.” Und dann haben sie mich hinten in den Raum geschubst. Ich musste die Hose runtermachen. Matthias gab den Befehl dazu. Was wollten die? Die Unterhose durfte ich anbehalten. Wie ein Gefangener musste ich mich an die Wand stellen, Kopf an die Wand, Hände über den Kopf. Sie traten mich und piksten mit Stöcken, Zeigestock und Gürtelschnallen. Sie hämmerten auf mich ein. Danach stülpten sie mir einen Blecheimer über den Kopf und schlugen drauf. Ich war wie betäubt. Die Ohren zu, fiel ich auf einmal wie von selbst auf den Boden. Da bekamen sie wohl Angst, rüttelten mich, bis ich aufwachte: „Hey, Schwächling, war doch nur ein Spaß!” Und damit zerrten sie mich mit dem Klingeln wieder auf meinen Platz. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde zerplatzen. „Ey, turnt das an!”, hallten Kevins Worte noch in meinen Ohren. Frau Timmermann stellte mir in der darauf folgenden Stunde eine Frage. Ich konnte sie nicht verstehen. Da war so ein Dröhnen in meinem Kopf. „Wie bitte?”, fragte ich. Zwei Stunden später hatte es nachgelassen. Meine Ohren waren wieder normal, aber mein Kopf war noch voll von
dem, was sie gesagt und getan hatten. „Sklave” hatten sie mich genannt. „Zieh die Hose aus, Sklave.” Matthias hatte mich nicht angesehen, als er es zu mir gesagt hatte ... Beim Abendessen hatte ich das Gefühl, dass Mama mich beobachtete. Zum Glück plapperte Louisa in einer Tour. Sie erzählte Mama, dass ich ihr das mit der Schnittmenge erklärt hätte. Sie strahlte Mama an. Mama hatte so ein schönes, junges Gesicht. Sie und Papa hatten sehr früh geheiratet, als Tom unterwegs war. Trotzdem hatte sie ihre Ausbildung zu Ende gemacht. Aber heute sah Mamas Gesicht fast eingefallen aus. Und da sollte ich ihr erzählen von all dem, was ich erlebte? Vielleicht sollte ich es ihr wirklich erzählen - irgendwann. Aber nur wenn ich sicher sein kann, dass sie nicht gleich zu den Lehrern rennt. Sie darf mich nicht verraten. Dauerangst.
17. März In der Schule haben wir eine Geschichte über einen Verbrecher gelesen. In Religion. „Ich glaube nicht, dass einer böse ist ohne Motiv. Das hat immer ein Motiv”, hörte ich wie von Ferne Frau Timmerman sagen, „es gibt keine Tat ohne Motiv, keinen Bösen ohne Grund. Das beweist auch die Arbeit der Polizei.” „Ja, aber", wollte ich mich gerade melden. „So eine Art ... Spaß am Bösen, die gibt es doch auch”, sagte ich - zu leise. „Ist ja auch in jedem Krimi so: Wo kein Motiv ist, gibt's keine Tat”, rief Kevin mit seiner fetten Stimme in den Raum.
Er grinste. Spaß am Bösen. Frau Timmermann nickte Kevin zu. Das passte in ihr Weltbild. Na, toll. Was mit mir geschieht, passt da nicht rein. Solche wie Kevin und Raphael gibt es für sie überhaupt nicht. Muss alles zusammengereimt sein, weil: Es gibt keine Tat ohne Motiv. Erst recht nicht diese geile Lust am Bösen. Und was nicht sein darf, gibt es nicht. Basta. Und doch machten sie mich in der Pause an. Die hatten nämlich kapiert. „Wollen wir mal ein bisschen das Böse ausprobieren.” Raphael grinste. Danach wieder die Sache mit dem Eimer. Ich taumelte nach Hause. Ich hörte kaum etwas. Nach dem Abendessen fragte Mama wieder: „Wie war's in der Schule?” Ahnte sie etwas? Ich murmelte: „Ganz okay.” Automatisch tat ich das. Schob mir extra ein halbes Paket Salzstangen in den Mund, damit ich nichts sagen musste.
18. März Heute Nachmittag in der Stadt sind mir die drei nach dem Einkaufen entgegengekommen, aber ich konnte gerade noch auf die andere Straßenseite ausweichen. In der Stadt habe ich jetzt auch schon Angst. Als Louisa im Bett war und Tom bei seinem Erste-HilfeKurs, setzte ich mich neben Mama. Sie lag auf dem Sofa und hatte sich die Tagesschau angestellt. Ich wollte es ihr so gerne erzählen, einfach alles. Ich legte mir Sätze im Kopf zurecht und verwarf sie wieder. Und dann schwieg ich einfach und schaute mit ihr die Nachrichten.
Als danach eine Volksmusiksendung kam, sie aber nicht umschaltete, merkte ich erst, dass sie vorm Fernseher eingeschlafen war. Mensch, Mama. Ich war traurig, deckte sie zu, machte den Fernseher aus und schloss die Wohnzimmertür leise hinter mir. Es ist besser, wenn ich Mama nicht noch mehr belaste. Ich ging in mein Zimmer, fuhr den Computer hoch. Wenigstens mein Tagebuch war da. Das hörte mir immer zu, ein Freund, dem man alles erzählen kann. Hier schreibe ich für mich alles hinein. Ich schreie es stumm in meinen Computer.
19. März Träume können viel verändern: Heute Morgen hatte ich plötzlich totalen Mut. Im Traum war ich Stadtmeister in Karate gewesen. Ob ich Karate machen könnte? Ich bin eigentlich schon sportlich. Tom war früher in einem Karateclub gewesen, nicht weit von hier, hinter der großen Brücke. Ich rannte guten Mutes schon vor der Schule über die Brücke. Ich wollte sehen, wann heute aufgemacht würde. Ab 14 Uhr. Dann könnte ich gleich nach der Schule nochmal kommen. Mein Morgen lief danach viel besser. Raphael fehlte heute, dadurch war alles weniger geballt. Einmal wollte Kevin mich von der Seite anmachen. Aber diese Kleinigkeiten steckte ich schon locker weg. Ich schubste einfach zurück. Demnächst konnte ich ihn vielleicht mit ein paar einfachen Griffen zu Boden werfen.
„Ratte”, sagte er, „Ratte versucht's.” Am Mittag rannte ich sofort los. Außer Atem kam ich vor dem großen Haus an und drückte auf die Klingel unter dem Karateclub-Schild. Der Türsummer ging, und zugleich öffnete ein älterer Herr eine weitere Tür im Erdgeschoss. Ich trat in einen freundlichen Raum mit Parkettfußboden und Bildern von Karatekämpfern an den Wänden. Der Mann ging zu einem kleinen Empfangstresen und lächelte mich an. Ich fragte, ob ich Karateunterricht bekommen könnte. „Bist du Schüler?”, fragte er. Ich nickte. „Dann ist es etwas günstiger. Im Monat 15 Euro. Allerdings musst du ein halbes Jahr warten. In die jetzige Gruppe kannst du nicht mehr einsteigen, die läuft schon seit den Sommerferien vergangenen Jahres. Also wenn du das machen willst, melde dich am besten bald an, denn es gibt Jahre, in denen wir völlig überlaufen sind.” Er gab mir zwei grüne Formulare. Ich nahm sie, bedankte mich und ging. Wenn ich erst im Herbst anfangen könnte? Das war zu spät. Viel zu spät.
21. März Sie hatten bei uns geklingelt am Samstag. Ich war mit Louisa einkaufen, aber Tom war da. Sie hatten schon den Fuß in der Tür. „Wir wollen zu Niko!” Tom fragte mich am Abend: „Wer sind diese beiden Typen?” „Welche Typen? Wie sahen die aus?”, fragte ich zurück,
obwohl ich es schon ahnte. Tom gab mir eine ziemlich genaue Beschreibung von Kevin und Raphael. Ich zog die Schultern hoch: „Weiß nicht, ist auch egal.” Und als Tom mich zweifelnd ansah, zuckte ich nochmal die Achseln und setzte ein gelangweiltes Gesicht auf. Ach, Tom, wenn du wüsstest, dachte ich. Überall bin ich in Angststellung. Jetzt haben sie noch nicht mal mehr Hemmungen, zu mir nach Hause zu kommen. „Na, ich habe denen jedenfalls gesagt, sie sollen sich verziehen, sie hätten hier nichts zu suchen.” Tom sagte das, als sei es das Klarste von der Welt, sich gegen Kevin und Raphael zu stellen. Und ich kam mir schon wieder wie ein Schwächling vor gegen ihn. Heute in der Schule hat Kevin gleich gefragt: „Hast du einen älteren Bruder?” „Ja, wieso?”, fragte ich zurück. „Nur so.” Nach einer Zeit hakte Kevin nach: „Ist der den Tag über weg?” Da wusste ich, wie der Hase läuft. Jetzt wollten die mich zu Hause auch schon bedrohen. Sie wollten wieder kommen. Wenn ich allein war. Mein Herz klopfte, rasend. Aber Gott sei Dank war ich so geistesgegenwärtig zu antworten: „Der ist fast immer zu Hause.” „Arbeitslos?” Kevin grinste. „Man kann es so nennen”, meinte ich. Danach ließ Kevin mich erst einmal in Ruhe. Doch am Nachmittag klingelte das Telefon: „Ja, Niko hier.” „Da bist du ja, miese Ratte. Wir machen dich fertig, Alter.” Ich legte auf. Zehn Minuten später wieder: „Für Dreck wie dich sind
Abfalleimer da ...” Ich legte auf. Es klingelte. Louisa nahm ab und sagte: „Hallo.” Sie legten auf. Es klingelte. Tom stand gerade im Flur. „Hallo?” Sie legten auf. Es klingelte wieder. Louisa meckerte: „Das nervt.” Es klingelte. Tom nahm ab. „Ja, bitte. Wer spricht denn da?” Keine Antwort. „Lass das gefälligst!”, schrie Tom noch in den Hörer. Auf dem Display war keine Nummer zu sehen. Tom sagte: „Wir nehmen nicht mehr ab.”
22. März Bei der Polizei. Ich weiß auch nicht, woher ich plötzlich den Mut nahm, aber ich wollte es versuchen. Ich stand Schlange. Durch den Raum ging eine Theke, hinter der ein junger Polizist und eine Polizistin standen. Der Tresen war aus dunklem Holz und oben an der Kante und Oberfläche schon recht abgegriffen. Hier hatte die Nervosität der Wartenden Spuren hinterlassen. Als ich dran war, erzählte ich, dass mein bester Freund gemobbt würde und dass ich nicht wüsste, wie ich ihm helfen sollte. Meine ganze Aufgeregtheit war auf einmal wie weggeblasen. Was man tun könnte, wenn man gemobbt würde, fragte ich. „In der Schule?”, wollte der junge Polizist wissen. „Auch, aber nicht nur.” Er führte mich in einen Raum und stellte mir ein Wasser hin.
Der Raum war im Gegensatz zu dem ersten hell und freundlich eingerichtet. Ich fühlte mich schon fast wohl. Wenn da nicht die Angst gewesen wäre, etwas Falsches zu sagen. Der Polizist fragte mich nach meinem Namen und meiner Schule. Ich ging nicht darauf ein und sagte, dass ich nur eine allgemeine Beratung wollte und es ja gar nicht um mich, sondern um meinen Freund ginge. Der Polizist war sehr freundlich und erklärte mir, dass ich ruhig reden könne, auch wenn ich meinen Namen und auch den meines Freundes nicht angäbe. Ich erzählte. „Gibt es noch mehr?”, fragte der Polizist anschließend. Noch mehr? Reichte das nicht? Ich wurde unsicher. Für die waren das vielleicht Bagatellen. Für mich war es die zermürbende Wirklichkeit. Bagatellen. Bestimmt. „Egal”, rutschte mir auf einmal heraus. „Egal.” Dabei schaute ich draußen auf einen kahlen Baum, dessen Äste im Wind zitterten. Ich erzählte nur noch wenig. Der Polizist meinte, was länger als drei Monate zurückläge, könnte nicht mehr zur Anzeige gebracht werden. Und natürlich könnten sie nur etwas unternehmen, wenn ich konkrete Angaben machte. Genau das würde ich auf keinen Fall tun: die anzeigen. Das würde doch alles nur noch schlimmer machen. „Egal”, sagte ich daher nochmal, sprang hoch und brach das Gespräch ab. Die Angst hatte wieder die Oberhand gewonnen. Und die Sinnlosigkeit. Ja, genau du! Sinnlosigkeit. „Warte", rief der Polizist, als ich schon an der Tür war. „Du kannst jederzeit auf dem Revier anrufen oder herkommen, wenn du doch etwas sagen willst."
Er drückte mir seine Karte in die Hand. „Hier ist immer jemand.” „Egal”, sagte ich und ging. Als ich nach Hause kam, klingelte wieder das Telefon. Ich legte den Hörer daneben. Egal. „Bagatellen, die kaputtmachen”, tippte ich in den Computer. Egal.
23. März Sie haben sich im Kreis um mich herumgestellt und mich wie einen Ball hin und her geschubst. Erst war es ein bisschen wie ein Spiel, aber nicht lange, da traten sie, hauten, boxten. Und Raphael trat richtig mit der Eisenspitze seiner Stiefel zu. „Aufhören”, habe ich schließlich geschrien. „Aufhören! Hilfe!” »Das macht total an." - „Geil, ey.” - „Ratte.” - „Wozu aufhören?” Das Geräusch der Stiefel. Die Tritte. Der Schmerz. Bis ich am Boden lag. Als der Unterricht begann, saß ich wieder an meinem Platz. Geschichte. Der Erste Weltkrieg. Herr Quante sagte: „Wir können froh sein, dass heute kein Krieg ist. - Bei uns”, ergänzte er, „ich meine, bei uns.” Aber es ist doch Krieg, hätte ich am liebsten geschrien. Quante verteilte Zettel. „So fühlt sich Krieg an”, erklärte er. „Es gab einen Schriftsteller, Erich Remarque, der hat ihn beschrieben.” Dann fing er an vorzulesen, aber ich konnte nicht folgen. Am ganzen Körper spürte ich noch ihre Stiefel. Ich versuchte, tief und ruhig zu atmen. Atmen. Atmen.
Irgendwann drang Quantes Stimme wieder zu mir durch. Er hatte aufgehört zu lesen. „,Man müsste aus sich selbst herauskriechen können', schreibt der Soldat noch in seinem Brief”, erklärte Quante gerade. „,Gar nicht mehr bei sich sein müssen. Die Gefühle einfrieren. Die eigenen Gefühle nicht mehr fühlen.'” Er sah in die Klasse und fragte: „Aber ist das ein Ausweg? Die Bilder im Gehirn einfach schwärzen? Sich und sein Innenleben vernichten, alles vergessen, um die Grauen des Krieges loszuwerden?” Sich selbst nicht mehr fühlen, hallte es in mir nach. Ja, das funktionierte. Wusste ich. Eine Maske aufsetzen, die so dicht anliegt, dass darunter die Gefühle langsam ersticken. So wird man cool. Das ist die einzige Möglichkeit, wie man es ertragen kann. Aber bleibt mir kein anderer Ausweg? Ich will das nicht! Nein! Ich will dieses Innere behalten. Auch wenn mein Selbstbewusstsein inzwischen zu einer grauen Angstmatsche im Kopf zusammengeschmolzen ist. Überall sind die jetzt: bei Hannah, auf dem Schulweg, zu Hause. Auch nach Hause zu mir werden sie wieder kommen. Im Augenblick haben sie nur Angst vor Tom. Da hörte ich plötzlich Quante laut sagen: „Wir können froh sein, dass heute kein Krieg ist!” Das wiederholte er noch einmal. Aber der Krieg ist doch im Kopf! Und die Angst bleibt! Sie hämmert und dröhnt. Ich legte den Kopf auf die Bank. Quante kam: „Ist was, Niko? Geht's dir gut?” „ja, ja. Alles in Ordnung." Ich wischte mir den Krieg aus dem Gesicht und versuchte, Quante anzugrinsen. „Hab mich nur gelangweilt."
Quante schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Sie hatten gesiegt. Der Krieg, die Angst drückten mich runter. Mit dem Klingeln sagte Herr Quante: „Damit haben wir das Thema Krieg fürs Erste abgeschlossen. Jetzt kommt der Frieden, eure Zeit.” Er lächelte.
24. März Und doch ging heute der Krieg weiter. Sie haben Hannah und mich nach hinten in das kleine Zimmer getrieben. „Wenn du die küsst, machen wir Fotos.” Ich wollte nicht. Sie traten mich und sagten: „Küssen, du Arsch.” Hannah zwinkerte mir zu, das sollte heißen: „Tu es, Wir stehen doch drüber.” Langsam näherte ich mich ihrem Mund. Gab ihr einen Kuss darauf. Es hätte schön sein können, wäre nicht die Situation so traurig gewesen. Sie blitzten, sie fotografierten. Ich fühlte nichts. „Nochmal”, kommandierten sie. „Nein.” „Nochmal.” Sie knallten unsere Köpfe aneinander. Da kam ein Pfiff von vorne.
26. März Manchmal frage ich mich, wann genau das alles eigentlich angefangen hat. Louisa ist immer so glücklich, wenn sie aus der Schule kommt, und hat so viel zu erzählen. So war ich
auch gewesen - früher. Doch als ich in die fünfte Klasse kam, hat sich alles geändert. Es war gleich am Anfang der Fünften. Ich ging ganz alleine in die neue Klasse. Obwohl ich auch ein Stückweit Angst hatte, fühlte ich mich ganz, ganz stark. Doch da war die Clique. Damals hat es angefangen. Mit Kevin und Raphael. Wir hatten an diesem Tag eine Deutschschulaufgabe herausbekommen. Ich hatte eine Eins und wollte schnell nach Hause, um es Mama zu erzählen. Aber die beiden fingen mich nach der Schule ab und fesselten mich mit Handschellen aus einem Detektivkoffer an einen Baum. Danach beschossen sie mich mit Plastikgewehren und lachten sich tot, als ich weinte. Ein Freund aus der Parallelklasse, der noch nicht mal zugeben konnte, dass er häufiger nachmittags mit mir spielte, hatte ganz schnell meine Mama geholt. Und Mama war gekommen. Was für Gefühle das waren, da an den Baum gefesselt! Und sie lachten, und ich rief leise in mich hinein: „Mama, Mama, komm doch.” Das rief ich immer wieder. Ich könnte heute noch losheulen. Und dann kam Mama, und sie lachten weiter. Sie lachten mich aus. Noch am nächsten Morgen ging es weiter. Ich war sofort das Mamasöhnchen. Da bettelte ich Mama an, mir wenigstens eine neue Hose zu kaufen, damit ich auch einmal etwas Cooles hatte, womit ich die beeindrucken konnte. Damit sie mich mochten. Das war übrigens die Zeit, als Papa gerade wegzog. Papa war damals schon ein Jahr arbeitslos gewesen. Deswegen besaß ich auch keine Markenklamotten, wir hatten einfach kein Geld für so was. Und natürlich auch nicht für eine neue Hose. Meine guten Zensuren reizten die wohl immer mehr. Da brauchte man tolle Turnschuhe oder eine coole Hose als Ausgleich. Mit guten Zensuren war ich damals die
Strebersau. Weil die schlecht waren. Damit hatte es angefangen. Dann kam die Eins in Mathe, und sie riefen „Strebersau” und schubsten mich auf der Treppe. Nach einiger Zeit sagten sie: „Professor.” Es war wie eine Verschwörung gegen mich. Professor, Streber, Schleimer. Ich konnte doch wirklich nichts dafür, dass ich in Mathe einfach eine Eins hatte und auch in Deutsch. Kurz darauf bekam ich zum Geburtstag eine Hose geschenkt, cool mit Streifen. Sie rümpften die Nase und sagten: „Hast du die aus dem Ausverkauf? Die ist vom vorigen Jahr.” Sie hatten noch modernere Hosen. Ich fühlte mich danach total klein, dabei war ich so stolz gewesen. Wut, Enttäuschung, Tränen, ich stopfte die Hose in den Müll. Ich versuchte immer mehr, mein Denken zu verstecken. Denn ich wollte keine Strebersau sein. Als ich dann aber in Mathe eine Drei schrieb, da sagten sie auf einmal: „Du musst Einser liefern, wir brauchen Strebersäue, die die Hausaufgaben für uns machen.” Und da hatten sie den tollen Einfall, dass sie mich jeden Morgen früher zur Schule einbestellten. Ich musste um Viertel vor acht da sein, Viertel nach acht begann die Schule offiziell. Sie schrieben die Hausaufgaben von mir ab. Schließlich kam es so weit, dass ich drei verschiedene Schriften beherrschte: meine eigene, die von Kevin und die von Raphael, und ihnen jeden Tag die Hausaufgaben schon fertig mitbringen musste. Das ging ja noch. Dabei ließen sie mich wenigstens in Ruhe. Schließlich war es so weit, dass ich jeden Morgen um halb acht in der Schule war. Wenn ich nicht da war, wenn ich nicht die Hausaufgaben hatte, setzte es Prügel. Mama fragte mich damals: „Woher hast du die blauen Flecken?”
Ich duschte immer schon versteckt. Ich sagte, ich sei hingefallen. Mama hat es anscheinend geglaubt. Damals war sie mit ihren Gedanken sowieso woanders, weil Papa da gerade überlegte, nach Berlin zu gehen. Auf jeden Fall war ich ab dem Zeitpunkt derjenige, an dem sie sich abreagierten, und die andern guckten zu. Das war auch etwa die Zeit, als Matthias dazukam. Warum er sofort mitmachte, habe ich eben erst später gemerkt. Auf jeden Fall war es schrecklich, gleich drei vor sich zu haben. Ich zitterte jeden Morgen. Irgendwann war ich nur noch zum Hauen da für sie, denn meine Hausaufgaben waren nicht mehr zu gebrauchen. Ich war der Schlechteste in der Klasse. Wie wird man eigentlich zum Opfer? Warum gerade ich? Habe ich irgendetwas an mir, das mich sofort als Opfer brandmarkt? Und Hannah? Bei ihr ist es das Dicksein. Ob es wohl noch schlimmer werden wird mit Kevin, Raphael und Matthias? Ich habe Angst.
27. März Ich habe bei Hannah angerufen. Zum ersten Mal nach dem Kuss. Sie war genauso traurig, wütend und empört. „Wir müssen etwas dagegen tun”, sagte sie, „ich weiß nur noch nicht, was.” Ich wusste es auch nicht. Wir wollten uns treffen. Sie wollte mir auch beim Lernen helfen.
28. März Heute Früh lag in der Schule ein Brief auf meinem Platz, in dem stand: „Hiermit verbieten wir Hannah und dir, euch zu treffen oder zu telefonieren. Wir kontrollieren euch, ihr Schweine.” Woher wussten sie das? Am Nachmittag rief ich Hannah an und sagte das Treffen ab. Es würde keines geben - nicht heute, nicht morgen. Nie.
29. März Hannah hat angerufen. Sie hatte eine Superidee: „Wenn wir zusammen die Klasse wechseln?” „Und welchen Grund geben wir an?” „Dass wir da rauswollen, ganz einfach.” Das hat Hannah ganz locker gesagt. „So akzeptieren die das nie.” „Herr Quante doch und Frau Timmermann”, hat Hannah gemeint. Nein, die würden tausend Fragen stellen. Hannahs Idee war doch nicht so gut. Genau genommen sogar ziemlich schlecht. Wir telefonierten sehr lange. Ich widersprach ihr immer wieder. Aber, aber, aber. Doch Hannah ließ sich nicht abbringen. Und irgendwann hatte sie mich so weit. „Hannah, das tust du nicht. Ich verbiete es dir!”, schrie ich in den Hörer. Da legte sie einfach auf.
30. März Ich konnte die ganze Nacht kaum schlafen. Ganz früh bin ich dann aufgestanden, um im Park joggen zu gehen. Wie eine Katze schlich ich die Treppe in unserem Mietshaus runter, immer in Angststellung. Ich zog die Haustür hinter mir zu und trat ins Freie. Es war so still; heller, früher Morgen. Ich hatte die neuen Turnschuhe an, die Tom mir geschenkt hatte. Die Sohlen federten, sodass der Gang leicht und lässig war. Die Frühlingssonne schien warm durch die ersten, kleinen Blätter der Bäume, als ich den Park erreichte. Früher war ich immer abends gelaufen. Aber abends hatte ich jetzt nur noch Angst. Da waren sie vielleicht da und lauerten schon auf mich. Morgens schliefen sie noch. Plötzlich kamen mir Tränen. Verflixt. Ich lief los. Durch den Tränenschleier zog der stille, leere Park an mir vorbei. Ich schluckte meine Tränen hinunter und dachte an Hannah. Würde sie wirklich versuchen, sich in eine andere Klasse versetzen zu lassen? Sollte ich nicht doch mit ihr zusammen zu Frau Timmermann gehen? Ich blieb stehen und rang nach Luft. Nein, nein, es hatte keinen Sinn. Es machte alles nur noch schlimmer. Und das durfte nicht sein. Das durfte mir Hannah nicht antun. Wie ein Wahnsinniger rannte ich nach Hause und duschte schnell. Ich musste Hannah davon abhalten. Es war zehn vor acht, als ich vor dem Lehrerzimmer ankam. Hannah war schon da und saß auf der Bank vor der Tür. Da die Tür offen stand, konnte ich sehen, dass bereits einige Lehrer da waren. Mist, so konnte ich nicht mit Hannah sprechen. Ich lehnte mich also schräg gegenüber an die Wand, Arme verschränkt, und fixierte Hannah. Ich hatte ihr gestern doch verboten, mit Quante oder der Timmermann zu
sprechen! Hannah sah kurz zu mir herüber, und ich starrte sie böse an. Daraufhin fing sie an, ihre Finger nervös zu kneten. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine viertel Stunde. Da hallte plötzlich Frau Timmermanns Lachen über den Gang. Mit einem Kollegen kam sie auf das Lehrerzimmer zu. Hannah blickte auf. Sah von Frau Timmermann zu mir herüber. Ich merkte, wie ich die Hände zu Fäusten ballte. Dann stand sie zögernd auf und ging weg. Ich atmete tief durch. Fühlte mich erleichtert und ganz ekelhaft zugleich. Als ich mittags die Wohnungstür aufsperrte, wusste ich sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Obwohl es draußen trüb war, brannte im Flur kein Licht. Louisa war bestimmt schon zu Hause, weil ich heute ziemlich spät dran war. Trotz der Angst war ich nach der Schule gleich nochmal joggen gegangen. Gegen das ekelhafte Gefühl wegen Hannah. Ich hatte alles aus mir herausgerannt. „Louisa!", rief ich. Keine Antwort. Louisa machte immer alle Lampen an. Wo war sie? Meine Kopfhaut prickelte so komisch. Überfielen Kevin, Matthias und Raphael jetzt auch schon meine kleine Schwester? Hier zu Hause? Über der ganzen Wohnung lastete eine bleierne Stille, genau wie damals, als Tante Otti gestorben war. Waren die hier gewesen? Es lag etwas in der Luft. Ich spürte, es war ein Unglück geschehen. Doch nicht etwa mit Papa? Oder? Mit klopfendem Herzen ging ich zu Louisas Zimmer. Dunkel und leer. Ich riss die Tür zu meinem Zimmer auf. Dort war es auch dunkel. Auf meinem Bett lag eine Kugel zusammengerollt. Die Kugel trug einen blauen Pullover mit weißen
Punkten, eine blaue Schleife im Haar. Louisa. Ich hörte sie noch nicht mal atmen. Zusammengeschlagen? Gekrümmt vor Schmerz? Ich setzte mich auf die Bettkante, berührte Louisas Schultern und dachte: Es ist passiert. Als ich dann mit den Fingerspitzen langsam über Louisas Rücken fuhr, schoss sie hoch. „Was ist?”, fragte ich. „Psst!”, wisperte Louisa. Sie sprach so leise, dass ich sie nicht verstehen konnte. Oder waren sie noch in der Küche? Und ich Blödmann hatte nichts bemerkt? Ich duckte mich wie von selbst. „Ist dir etwas passiert?”, flüsterte ich leise weiter. „Nein, Mama!” Sie heulte los, sie schluchzte, ich nahm sie auf den Schoß, sie weinte vor sich hin und stotterte weiter. Aber ich verstand nichts. „Mama, was ist mit Mama?” „Mmmama, sie ist entlassen worden.” Ich sah Louisa nur erschrocken an, begriff gar nichts. „Sie ist arbeitslos”, antwortete Louisa. „Sie ist heute Mittag von der Arbeit gekommen und hat schon im Flur geschrien: „Verfluchte Scheiße. Na ja, ist mir auch egal. Da mache ich eben einen auf arbeitslos. Kassiere Geld. Geschieht denen recht, wenn die mich entlassen.” „Das hat Mama gesagt?” „Ja.” Louisa nickte. „Genau das hat sie gesagt. „Scheiße” hat sie immer geschrien. Dann bin ich aus meinem Zimmer gekommen. Nein, stopp. Zuerst hat sie noch - aber aus Versehen - ein Glas runtergeworfen. Da, wo sie ihre Handtasche hingeschmissen hat, da stand noch das Wasserglas von gestern. Es fiel auf den Boden und sie sagte: „Scheiß Scherben, Scherben bringen Glück.” Und dann hat sie noch ihre Jacke auf den Boden hingeschmissen und ein
paarmal laut geschrien. Als sie mich am Treppengeländer entdeckt hat, hat sie aufgehört. Und ich habe geweint und bin in dein Zimmer gerannt.” „Weißt du, was?” Ich versuchte, Louisa abzulenken. „Als ich hier hereinkam und dich gesehen habe, so blau zusammengerollt auf meinem Bett, habe ich dich zuerst für einen Ball gehalten. Den blauen mit den weißen Punkten. Weißt du noch, als wir den hatten?” Es funktionierte, Louisa lachte. Dennoch war mir klar, dass jetzt absolut nicht der richtige Moment war zum Scherzen. Und dass es endgültig vorbei war, mit Mama über meine Probleme zu reden. Keine Chance mehr. Mama war zu. Louisa rollte sich wieder auf meinem Bett zusammen. Ganz im Gegenteil: Ich musste jetzt Mama helfen. Eine Weile streichelte ich noch Louisas Rücken, dann stand ich leise auf und klopfte an Mamas Zimmer. Keiner reagierte. Ich hörte ein Weinen aus dem Zimmer. Immerhin. Ich klopfte noch einmal und drückte die Klinke hinunter. Aber es war zugesperrt. „Mama”, rief ich vor der Tür, „Mama, was machst du?” Ich hatte richtige Angst um sie. Sie hatte sich doch wohl nichts angetan? Hilfe! Nein, nein. Quatsch. Hoffentlich war Mama nicht so traurig! Nein, sie weinte noch, das hörte ich jetzt. Ich klopfte noch einmal laut und rief: „Mensch, Mama, lass mich doch rein.” Da öffnete sie langsam. Sie ging sofort wieder zurück zu ihrem Bett, setzte sich auf die Kante und weinte, die Hände vorm Gesicht. Ich setzte mich neben sie, hielt sie fest, streichelte ihr langsam über den Rücken wie vorher bei Louisa. Ich spürte, wie sie bei jedem Schluchzen zitterte. Als ich sie in den Arm nahm, weinte sie richtig los. Ich merkte, dass mein T-Shirt an der Stelle, wo sie ihren Kopf hingelegt
hatte, nass wurde. Meine Mama weinte sich bei mir aus. „Ich bin arbeitslos”, sagte sie leise und weinte. „Louisa hat es mir erzählt”, sagte ich. „Mama, wir schaffen das. Wir schaffen das bestimmt.” Woher nahm ich die Hoffnung? Ich weiß es nicht. Ich wusste nur, dass dieses Zusammengehörigkeitsgefühl--dass ich Mama trösten konnte, dass ich Louisa trösten konnte -, dass uns das irgendwie vielleicht retten würde. Diese irre, kleine, wispernde Hoffnung. Aber eine neue Arbeitsstelle hatte Mama davon auch nicht.
31. März Heute habe ich mich schon beim Aufwachen total mies gefühlt. Ich musste sofort an Mama denken. Und an Hannah, zu der ich gestern so gemein war. Ich hab ihr Angst gemacht. Ein bisschen, wie es sonst Raphael, Matthias und Kevin mit mir machten. Aber auch wieder anders. Schließlich habe ich ihr ja nichts getan, sondern sie nur ein bisschen böse angeschaut ... Ich lag in meinem Bett, starrte an die Decke und fand nicht die Kraft aufzustehen. Als ich mich dann doch aufraffte, schlurfte ich in die Küche und fragte Mama, ob ich heute daheim bleiben dürfte, weil ich so schlimmes Kopfweh hatte. Sie nickte nur abwesend und strich mir über den Kopf. Am Abend klingelte das Telefon. Ich beeilte mich ranzugehen, weil ich ahnte, dass es für mich war. „Na, Sklave. Miese Ratte. Denkst wohl, du kannst dich vor uns drücken, indem du krankmachst?” Kevins Stimme.
Da grölte Raphael dazwischen: „Aber morgen stehst du wieder auf der Matte, verstanden.” „Sklaven müssen sich fügen. Wenn nicht, kannst du dich auf was gefasst machen.” Sie knallten auf. Ich wollte schnell in mein Zimmer. „Wer war das?”, fragte Mama. Sie hatte alles mitbekommen. „Oh, welche aus meiner Klasse.” „Waren die blau?” Mama hatte das Gegröle offensichtlich auch gehört, „Tom hat erzählt, dass es hier schon mal so komische Anrufe gab vor kurzem.” „Mhmm.” Ich nickte. Gott sei Dank ging da wieder das Telefon. Nur nicht wieder die! Ich verzog mich. Wenn Mama abhebt, würden die bestimmt einhängen. Aber es war eine Freundin von Mama, die nur kurz anrief, um sich nach ihr zu erkundigen. Die beiden machten aus, dass die Freundin noch auf ein Glas Wein zu uns käme. Wieder das Telefon. „Miese Ratte.” Ich knallte auf. Das Telefon. Immer. Immer. Es klingelte schon in meine Träume. Egal.
Im Gerichtssaal Der Vorsitzende Richter blickt von seinem Richterstuhl in den getäfelten Saal und in müde Gesichter. Es ist noch früh am Morgen, und der neue Verhandlungstag hat gerade erst begonnen. Der Richter räuspert sich und wendet sich an einen der Angeklagten: „Kevin Reckschulte. Kannst du uns erklären, warum du immer wieder Niko fertig gemacht hast?” „Ich glaube, dass das ganz beschissen so ist: Wer unten ist, der kriegt eben immer noch eins drauf. Haben früher meine älteren Geschwister mit mir ja auch so gemacht. Später habe ich dann zurückgeschlagen.” „Das machten also andere in deiner Umgebung auch so?”, fragt der Richter. „Was denken Sie denn? Klar. Das ist eine ganz einfache Regel.” „Und deswegen habt ihr euch den Niko ausgesucht?” „Sozusagen.” Kevin grinst. „Den Letzten beißen die Hunde. Hat meine Mutter immer gesagt.” „Tut dir das Leid?”, will der Richter noch wissen. „Wieso soll mir das Leid tun? Das ist doch überall so. Deswegen muss ich doch nicht mit miesen Gefühlen rumlaufen.” Der Richter lässt auch Nikos Mutter noch einmal in den Zeugenstand treten. Sie steht dort, kleiner und blasser als beim ersten Mal. Der Richter fragt, Nikos Mutter antwortet. „Ich erinnere mich, damals, als Nikos Noten immer schlechter wurden, dass er anfing, immer öfter zu joggen. Der Druck, der auf ihm lastete, muss ungeheuer gewesen sein. Und das Joggen
war für Niko ein Mittel, Druck und Belastung abzubauen. Früher hat er das immer mit seinem Vater gemacht. Die beiden sind zusammen gelaufen und haben hinterher von der Wolkenstimmung geschwärmt. Sie sind immer um den See gelaufen. Damals. Aber alleine lief Niko nicht mehr um den See. Er sagte mal, es sei zu gefährlich. Aber das habe ich natürlich nicht verstanden. Ich glaube, er lebte in Dauerangst.” „Warum haben Sie nicht nachgehakt?”, fragt der Richter. „Warum, warum.” Nikos Mutter ist den Tränen nahe. „Weil ich nicht ein noch aus wusste. Wenn man arbeitslos ist und nichts anderes mehr kennt als Sorgen und Geldnot, dann kreisen die Gedanken nur noch darum. Und auch mit meinem Mann war alles sehr schwierig. Sie wissen ja, dass wir getrennt leben, aber trotzdem ist das nach so vielen Jahren Ehe nicht einfach so vorbei ... Ich hab einfach nicht gemerkt, wie schlimm es um Niko stand.” Ihre Stimme zittert wieder, sie klammert sich an das Geländer des Zeugenstands. „Ich glaube, in mir war einfach kein Raum, um noch auf Nikos Schweigen einzugehen ... Er wollte in der Zeit auch zu seinem Vater. Er fragte nach dem Fahrgeld. Aber ich habe gesagt, für solche Extravaganzen hätten wir kein Geld.” Jetzt weint sie richtig. „Ich werde mir das nie verzeihen.” „Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit”, sagt der Richter. Es fehlt noch die Beantwortung der entscheidenden Frage: Warum hat sich alles dermaßen zugespitzt in und um Niko? Hannah sagt auch aus. Sie erzählt, dass Niko sich irgendwann völlig verändert habe. Er sei hart und unnahbar geworden. Hannah ist bei ihrer Aussage sehr erregt. „Ich glaube”, erklärt sie, „dass es damit zusammenhängt, dass ich ihm vorgeschlagen habe, die Klasse zu wechseln. Als ich mit Frau Timmermann reden wollte, hat er es mir verboten und mir
sogar gedroht. So eine Angst hatte er schon vor denen da.” Sie deutet mit einem Nicken zur Anklagebank hinüber. „Es hat lange gedauert, bis wir wieder miteinander gesprochen haben. Irgendwann rief er an und wollte sich mit mir treffen, aber ich hatte Angst. Auch vor ihm.” Allein beim Gedanken daran legt Hannah schützend die Hände vors Gesicht. Niko habe dauernd von Gräueltaten, von abgerissenen Gliedmaßen, Bombentrichtern, verbrannten Städten gesprochen, von andern, denen er die Kehle aufschlitze, und davon, alle zu erschießen. Davon fing er an, sobald man sich nur im Gang traf. So, als habe sich ein Riesenspeicher von Ekel in ihm angesammelt. „Er war auf einmal völlig anders”, wiederholt sie. Sie fügt noch hinzu: „Einmal bin ich noch mit Niko Fahrrad gefahren. Da ist er auf einer Brücke über der Autobahn abgestiegen, hat sich ans Geländer gestellt und so getan, als würde er Steine hinunter auf die Fahrbahn werfen. Drei, vier Autos machten eine Vollbremsung. Reifen quietschten Panikreaktion. Er nannte das eine geile Sache.” Aber es fehlt immer noch die entscheidende Antwort. Warum, wie, wann hat sich alles so zugespitzt? Die Erklärung konnte vielleicht Nikos Tagebuch liefern. Ab hier hatte er kein Datum mehr über die Aufzeichnungen geschrieben. Auch der Stil hatte sich verändert, fand der Gutachter. Doch aus den Geschehnissen ließ sich in etwa der Monat rekonstruieren.
Aus Nikos Tagebuch
Die nächtlichen Telefonate. Immer stumm. Oder kurzes Anpöbeln. „Wohl besoffen”, meint Mama dann immer nur. Terror. Sie machen mich jetzt überall fertig - in der Schule, zu Hause, im Park. Tränengas in die Augen beim Joggen am Abend. Ich hatte Schritte hinter mir gehört und mich umgeschaut: Da ... eine Wolke. Mitten in meine Augen. Nichts mehr konnte ich sehen. Dann wie durch Nebel. Kevins verzerrtes Gesicht. Sie krümmten sich vor Lachen: „Mensch, Alter. Geil.” Heute war das letzte Mal, dass ich am Abend gejoggt bin. Dabei laufe ich, um Ruhe zu bekommen. Ich hatte beschlossen, nicht mehr in die Schule zu gehen. Nur, wie soll ich das anstellen? Selbst Entschuldigungen schreiben? Trotzdem: Für mich steht fest, ich will da nicht mehr hin. Aber vielleicht gebe ich doch wieder nach. Ein Spiel immer wieder von vorne: Schon morgens, wenn ich aus dem Bett springe, ist alles groß da: Kevin, Raphael und Matthias. Mamas Geldsorgen - eben alles. Mit Hannah spreche ich immer seltener. Dafür machen sie sie jetzt auch immer öfter fertig. Letzte Woche musste sie ein paarmal laut wiederholen: „Ich bin die XXL und superfett, fressen ist für mich sehr nett.” Sie tat mir Leid. Mann, hatte ich eine Wut auf die drei. Aber ich war auch ein kleines bisschen froh, dass sie mich an diesem Tag dafür in Ruhe ließen ... Also: Wie soll ich alles organisieren? Ich will nicht zur Schule, und Mama wird zu Hause sein, weil sie arbeitslos ist. Die muss bestimmt häufiger zum Arbeitsamt. Trotzdem. Und
wenn das Jugendamt käme? Wenn mich die Polizei abholt und zur Schule bringt? Am liebsten würde ich Hannah anrufen. Die Nummer ist immer in meinem Kopf. Hallo Hannah, allein das tut schon gut. Stattdessen lief ich einmal durch unser Kaufhaus. Da sah ich plötzlich ein kleines, unauffälliges Schild „Internetcafe”. Es musste in der oberen Etage des neben dem Kaufhaus liegenden Einkaufszentrums sein. Ich schaute von außen hinein. Da saßen ein paar Jungen in meinem Alter. Mal sehen? - Ach ne. - Hab ich Geld? - Wenn die auch mal zuschlagen? - Nein, nicht alle sind so gemein. Alles schwirrte durch meinen Kopf. Ich war einfach unsicher. Ich hatte schon die Klinke in der Hand. Ein paar blickten hoch, als ich eintrat. Andere starrten weiter auf ihren Bildschirm. Erst stand ich ein bisschen hilflos herum. Vorne saß einer, der hatte wohl das Sagen. Der wies mir einen Platz zu. Ich fühlte noch einmal, ob meine Geldbörse da war, dann fuhr ich den PC hoch. „Hey, haste dieses geile Spiel schon gesehen?” Einer hinter mir zeigte auf seinen Bildschirm. - „Meinste das?”, fragte ein anderer Junge. - „Genau.” - „Ich hab aber noch ein anderes gefunden.” Sprachen die mit mir? Die kannte ich doch gar nicht. „Wie biste dahin gekommen?" Das war wirklich meine Stimme. Ich hatte den Mut, den Jungen hinter mir anzusprechen. Mensch, der zeigte mir alles. Tippte herum, lud noch etwas anderes herunter, erklärte sogar. Ich machte mir ein paar Notizen. Keiner lachte mich hier aus. Hier lachte keiner. Einige starrten natürlich nur auf ihren Bildschirm. Klar. Da sah ich mit einem Blick auf die Uhr, dass ich viel zu spät dran war. Mist, ich sollte ja eigentlich auf Louisa aufpassen.
So schnell es ging, packte ich meine Sachen zusammen. „Kommst du mal wieder?”, fragte der eine. Echt, der fragte. Mich! „Klar”, sagte ich. Ich musste zahlen. Ziemlich viel. Alles, was gut ist, hat seinen Preis. Und ich hatte kaum Geld. Ja, ich wollte wieder kommen. Vor allem der eine Junge war sehr nett gewesen. Ich glaube, er war ein bisschen älter als ich. Endlich mal ein guter Typ. Aber das Geld - woher sollte ich das nehmen? Danach rannte ich nach Hause - aber Mama war schon längst daheim. „Tut mir Leid”, sagte ich zu Mama. „Alles O. K.”, sagte Mama. Ich zog meinen Zettel mit den Spielen heraus. Bei dem einen kann man mit „Pinplops” Leute abknallen. Wenn Louisa schlief, würde ich es probieren. Ich freute mich schon. Neuer Telefonterror danach. Und da rief ich bei ihr an. Hannah war sofort am Telefon. Ich sagte nur: „Ich wollte bloß mal deine Stimme hören, Hannah.” Ob ich ihr von den Spielen erzählen sollte? Lieber nicht. „Hi Niko, ich freue mich ... Die in der Schule sind unerträglich”, sagte Hannah. „ Ich habe schon überlegt, ob ich doch zu Frau Timmermann gehen soll und ihr alles sage.” „Hannah, tu das nicht, bitte, bitte tu das nicht. Die schlagen uns zusammen, die machen uns zu Matsche, die machen uns fertig. Uns beide!” Ich wusste nämlich: Die Lehrer mussten dann erst die Anschuldigungen untersuchen. Beweise. Beweise. Reden hatte doch keinen Zweck. Und die anderen aus der Klasse würden auch nichts sagen.
Ich sah Hannah förmlich durchs Telefon nicken. Sie meinte nur: „Ja, ja.” „Und wenn die jetzt mithören? Wir können uns nichts sagen. Wenn die mithören?” Wir legten also auf. Die Angst erstickte alles. Die Angst beherrschte inzwischen das ganze Leben. An Schlaf war in dieser Nacht sowieso nicht mehr zu denken. Aber manchmal ist es sowieso besser, nicht zu schlafen, denn meine Albträume werden immer schlimmer. Sie sind voller Angst und blinder Panik, Wegrennen, Blut und Schreien. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und überlegte. Ich durfte also mit keinem mehr sprechen. Mit Mama nicht, weil ich es ihr nicht zumuten wollte. Mit Tom sowieso nicht. Mit Hannah? Nicht mehr. Ich merkte, dass ich schwitzte, obwohl mir eigentlich kalt war. Ich brauchte dringend einen Plan. In das Internetcafe, da könnte ich morgens hingehen. Natürlich nicht direkt. Um acht Uhr begann schon die Schule. Um halb zehn machte das Internetcafe auf - oder vielmehr das Einkaufszentrum. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob dann auch das Internetcafe wirklich schon geöffnet hatte. Ich hatte nicht nach den Öffnungszeiten geguckt. Morgens war eh keiner da. Doch. Typen wie ich. Trotzdem wollte ich es versuchen, auch wenn es teuer war. In die Spielhallen konnte ich nicht gehen. Zum einen machten die nicht so früh auf, zum andern war das zu gefährlich, weil da oft welche aus der Parallelklasse rumhingen. Also blieb mir nur das Internetcafe. Ich fuhr meinen Computer hoch. Ich hatte letzte Nacht ein total geiles Spiel geladen, das mir die Jungs aus dem Café gezeigt hatten. Es war richtig witzig. Man kann in dem Spiel Leute abknallen, und zwar mit den Pinplops. Das sieht aus wie ein kleiner Stern, mit dem man auf die Leute zielt. Aber
eigentlich ist es eine Laserpistole. Danach zerspringen die Leute in 1000 Stücke, sobald der Stern sie an einer bestimmten Stelle an Herz oder Kopf trifft. Und wenn man anschließend die Taste zurückdreht, kommen alle wieder. Pling plong, sind sie wieder da. Ich fand das so witzig, dass ich es die ganze Nacht spielte. Es machte total Spaß. Schließlich gab ich den Typen, die ich abknallte, Namen Kevin, Raphael und Matthias. Es war ein Uhr. Das Telefon hatte wieder geklingelt. Da kam Mama zu mir herein. In einem uralten Pyjama mit ausgebeulten Knien. Total verschlafen sah sie mich aus kleinen roten Augen an. „Willst du denn gar nicht schlafen, Niko? Sitzt du die ganze Nacht am Computer?” „Macht total Spaß, Mama. Schau mal, hier.” Ich zeigte ihr alles. Mama fand das grausam. Ich fand das total cool. „Ach, Mama, sei doch nicht so.” Sie strich mir über den Kopf und legte sich wieder hin. Ich rief ihr leise Gute Nacht hinterher. Das Telefon klingelte. Aber nur dreimal. Ich spielte noch Stunden weiter. Als es dämmrig wurde, legte ich mich hin. Morgens war Ruhe. Ich schlief bis zum Mittag, und Mama rief in der Schule an und entschuldigte mich - ausnahmsweise, wie sie betonte. In der Samstagnacht ging es weiter. Telefon Computer - peng - Telefon. Mama sagte, sie ginge zur Polizei. Sie tat es nicht. Tom wollte eine Fangschaltung. Die war zu teuer. Wir wollten die Nummer wechseln. Das würde eine Woche dauern. Louisa schlief bei Kathrin. Sonntagnachmittag fand ich noch bessere Spiele. Man zersägte seine Opfer. Geil. Die Kreissäge machte krrr. Zuerst sägte man den Kopf ab, dann fühlten sie nichts mehr. Danach kamen die Arme und Beine dran, eins nach dem andern, und
sogar die Füße einzeln - krrr. Das machte total an, wenn man zum Beispiel Kevin vor sich hatte und genüsslich die Füße absägte. War aber noch geiler, wenn die nicht sofort tot umfielen. Da fing ich an, zuerst die Arme und Beine und später erst den Kopf abzusägen. War ja nur Kevin. Den wollte ich langsam alle machen, das Scheusal. Das war geil. Endlich war ich stärker als der! Um halb acht weckte mich Mama: „Musst du nicht zur Schule?” Scheiße, es war Montag. „Ach ja, klar.” Ich sprang aus dem Bett. Ich wusste erst nicht mal, wo ich war. Ich hatte wieder bis fünf Uhr gespielt. Mama war in der Nacht nicht mehr ins Zimmer gekommen. Ich ging Richtung Einkaufszentrum, ein Stück Brot im Mund, müde meine Schultasche unter dem Arm. Das Einkaufszentrum machte erst um halb zehn auf. Jetzt war es fünf vor acht. Eineinhalb Stunden. Wohin sollte ich? Ich überlegte mir, dass ich bei Tchibo eventuell einen Kakao trinken könnte. Die machten um neun Uhr auf. Eine Stunde. Der Park fiel mir ein. Ich ging ein bisschen spazieren. Es war schön hier - noch morgendlich still. Nur hier und da ein paar Jogger und Leute, die ihre Hunde ausführten. Als ich an einer Telefonzelle vorbeikam, ging ich kurz entschlossen hinein, um zu Hause anzurufen. Ob einer daheim wäre? Keiner hob ab. Da wagte ich den Weg nach Hause. Niemand da. Wo Mama war, wusste ich nicht. Vielleicht auf dem Arbeitsamt. Ich legte mich still aufs Bett, lauschte nach draußen. Schließlich fuhr ich den Computer hoch. Ich spielte das KrrrSpiel. Ich zersägte sie alle. Wieder und wieder. Irgendwann stand Mama neben mir und fragte besorgt: „Sitzt du nicht zu viel am Computer?” Ich zuckte zusammen - hatte sie gar nicht kommen hören.
Scheiße, ertappt, dachte ich. Aber als ich unauffällig auf die Uhr sah, stellte ich erleichtert fest, dass es schon kurz vor zwei war. Es gab also keinen Grund für Mama, misstrauisch zu werden. „Nö”, sagte ich. „Ich sitze nicht zu viel am Computer. Das ist doch cool.” Grinsend. Hatte ich jetzt schon deren Grinsen? Mama schüttelte den Kopf und ging. Es gab doch auch Spiele mit Pistolen und Maschinengewehren. Wo fände ich die? Was hatten die aus dem Internetcafé gesagt? Welche Adresse? Ich suchte den Zettel. Und wenn Mama die Rechnung bekäme fürs Runterladen? Die würde der Schlag treffen. Egal! Ich fand die Spiele. Drei. Eins stärker als das andere. Mit dem Maschinengewehr auf andere. Ich legte die Leute um, meine Feinde in der Klasse. Ich schaute Kevin in die Augen, den Lauf des Gewehres auf ihn gerichtet. Ganz ruhig knallte ich ihn ab. Peng. Es gab auch die Möglichkeit, echte Fotos einzublenden. Cool! In meiner Schreibtischschublade wühlte ich nach dem letzten Klassenfoto und schnitt alle Köpfe aus. Hannahs Gesicht klemmte ich ganz unten links in der Ecke meines Bildschirms fest. Und jedes Mal wenn es auch mir zu grässlich wurde, sah ich sie an: „Du, ich muss das, ich kann nicht mehr anders, verstehst du doch?” Im Spiel besiegte ich alle. Matthias lag flach, Kevin und Raphael erst recht. Niko, der Sieger. Einen nach dem anderen machte ich platt, genau nach Plan. Wenn man jetzt die Spiele kombinieren könnte. Die auch noch zersägen. Aber sie standen alle wieder auf. Und das Spiel begann von vorne. Tag und Nacht. Ich unterschied nicht mehr. Mitten in der Nacht kam Mama: „Willst du nicht ins Bett?” Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Bildschirm und meinte nur: „Nein.” Mama zuckte die Achseln. „Du musst aber ins Bett, Niko.” „Verzieh dich, ich knall die ab. Ich knall die alle ab. Außerdem: Was hast du hier zu suchen? Das ist mein Zimmer.” Da drehte Mama sich um, ganz still, und ging. Sie hatte die Tür leise geschlossen, dann öffnete sie sie noch einmal und schaute mich lange an. Ich schaute auf den Computer, da waren Kevins Augen. Schießen? Mamas Augen, Kevins Augen. Schießen? Ich wollte hinter Mama her. Aber verdammt noch mal, was hatte sie in meinem Zimmer zu suchen? Schaute Kevin in die Augen. Peng. Dir zeig ich's, Kevin. Ich zeig's dir richtig! Du wirst jetzt sehen, was ich kann. Na, Kevin, du Kleiner. Du schaust ja so komisch, reißt so die Augen auf. Hast wohl Angst? Das tut mir aber Leid. Hey Kevin, ich mach dich jetzt fertig, und zwar total!" Ich machte einmal peng, da fiel Kevin um. Die Augen waren gar nicht mehr da. Ich hatte auf den Kopf gezielt. In dem Augenblick öffnete sich wieder die Tür. Tom. Er kam zögernd, langsam auf mich zu, legte den Arm auf meine Schulter. Da sprang ich hoch. „Halt dich da raus”, schrie ich. „Ich weiß, was ich mache. Was hast du mich anzutatschen? Lass mich einfach in Ruhe! Da ist die Tür.” Er ging, der Klugscheißer war weg. Danach war ich so geladen, dass ich weitersuchte - bessere, geilere Spiele. Ich war der Größte, ich gewann, ich machte sie alle fertig. Alle. Als ich merkte, dass ich müde wurde, habe ich mir so ein langweiligeres Spiel gesucht, wo man langsam einpennen konnte. Mannschaftsspiel, bei dem man mit Farbkugeln
schoss. Ich war ein guter Schütze. Ich glaube wirklich, dass man am Computer ein guter Schütze werden kann. Bravo, Niko! Im Spiel jubelten mir alle zu, weil ich die meisten Treffer hatte. Da kam Tom wieder. Der nervte. Ich sollte in die Schule. „Verpiss dich! Haut ab, ich will euch nicht mehr.” Da zog Tom einfach den Computerstecker aus der Steckdose. Ich knallte ihm eine. Er stand nur dumm da, sah mich mit großen Augen an und sagte: „Spinnst du total?” Dann ging er. Ich lachte ihn nur aus und wurde ganz traurig. Und plötzlich schob sich der Kopf von Louisa herein: „Tschüss, Niko. Machst du heute Mittag vielleicht ein Spiel mit mir? Das verrückte Labyrinth. Monopoly. Bitte!” In meinem Spiel lag Kevin am Boden. Raphael war zerfetzt. Alles hatte ich kurz und klein geschossen. Ich drehte mich zu Louisa um: „Mal sehen.” War eigentlich zum Verrücktwerden. Die verprügelten mich, ich knallte sie im Spiel ab, und Louisa wollte Labyrinth spielen. Ich spielte weiter. Kevin verzog keine Miene, nur peng machte es, und er wurde zum dritten Mal zu Matsche. Das Gehirn hing in Fetzen auseinander. Raphael zerriss es lautlos. Mama streckte den Kopf noch durch den Türspalt, sie ginge zum Arbeitsamt und ich sollte mich jetzt endlich, endlich für die Schule fertig machen. Ich schoss. Mama schüttelte den Kopf. Entgeistert. Sie seufzte. „Na gut, ich schreib dir eine Entschuldigung für heute.” Dann drehte sie sich um in der Tür und sagte: „Aber heute Mittag reden wir.” Ich bekam schon wieder Panik. Ich starrte auf den Bildschirm: Raphael. Peng. Das Telefon: „Sau, Sklave. Wir machen dich platt!”
Wieder das Telefon: „Glaub nicht, dass du uns so leicht auskommst!” Peng. Ich knallte den Hörer auf. Ich knallte die Schweine ab. Mama kam. „Verzieh dich!” Als ich noch ein paar Leute zersägt und zerschossen hatte, legte ich mich ins Bett und schlief und schlief, bis ich von Louisa geweckt wurde. Aber ich hatte keinen Bock auf ihre Kinderspiele. Mama kam in mein Zimmer und weinte. Beim Arbeitsamt hatten sie ihr nicht viel Hoffnung auf eine neue Stelle gemacht. „Und wenn wir umziehen? Zu Papa nach Berlin?”, fragte ich. Sie weinte auch um Papa. Ja, die beiden hatten sich richtig lieb gehabt. Ob ich mal zu Papa fahren sollte? Der hat auch Computerspiele gespielt. Vielleicht würde bei Papa alles wie früher. Schulen gab es ja auch in Berlin. Ich erinnerte mich noch, wie wir im Zoo waren. Ich erinnerte mich noch, wie Papa mit uns Drachen steigen ließ und Dschungelabenteuer machte. Ich stand schon von meinem Schreibtisch auf, um hinunter zum Telefon zu gehen, ich fühlte mich schon besser beim Gedanken an Papa. „Neu starten?”, fragte da der Computer. Ich drückte auf Ja. Ich schaute in meinen Spiegel und sah, dass ich große Ähnlichkeiten hatte mit Papa: die dicken, sturen Haare, die großen dunklen Augen. Ich sah mich im Spiegel an. „Hallo Niko." War ich das? Ich hatte Ränder unter den Augen wie Mama. Ach, zu Papa gehen, das wäre was! Mit ihm durch die große Stadt brausen. Papa hatte immer von einem Porsche geträumt. Vielleicht könnte Papa mir sogar Desig-
nerunterhosen kaufen. Der Bildschirm flimmerte in meine Gedanken. Ich fand ein Spiel, in dem ich wie ein Rennfahrer durch die Gegend raste: Porsche fahren mit Papa. Ich stellte mir vor, dass Papa neben mir im Porsche saß. Autobahn, linke, äußerste Spur, Gaspedal durchgetreten, Motor heult auf. Hey, Platz da, ihr lahmen Enten, und ... durch, geschafft! Papa legte den Arm um mich, „Gut gemacht, Niko. Gib Gas!” Die Kilometer zurrten zu Millimeterstrichen zusammen. Vor uns lag eine gerade Strecke. Der Porsche lief wie auf Schienen. Nur Fliegen war noch schöner. Papa und ich. „Oder eine Kawasaki ZX 10”, sagte Papa. „Au ja. Und dann legen wir uns richtig in die Kurve, mit dem Knie bis zum Boden.” Papa starrte auf die Straße. „Achtung, da vorne die Kurve”, rief er. Mit quietschenden Reifen rasten wir um die Kurve. Und dann ... Der Wagen schlingert und gerät außer Kontrolle. Solche Kurven gibt es selten. Vor Papa und mir das ganze Land und der Himmel. Die Sonne - glutrot. Der Himmel überschlägt sich. Wir überschlagen uns. Game over. Scheiße! Ich lehnte mich auf meinem Schreibtischstuhl zurück. Und wenn ich Papa von dem ganzen Mist in der Schule erzählte? Papa würde sich die vorknöpfen, einen nach dem andern. Papa ist stärker als Kevin, klar. Oder? Und er ist bestimmt stärker als Raphael. Und Matthias, ach, der machte ja nur mit. Würden die mich dann in Ruhe lassen? Wenn Papa käme? Ach, Papa! Ich musste doch wieder zur Schule gehen. Vier Tage hatte ich gefehlt, einen davon entschuldigt. Mehr konnte ich nicht riskieren. Obwohl es im Internetcafé ziemlich cool gewesen war - aber auch teuer. Und zu Hause bleiben, das ging ja wegen Mama oft nicht.
Ich betrat also das Klassenzimmer, setzte mich auf meinen Platz. Da kam auf einmal ein Neuer in die Klasse und setzte sich neben mich. „Was war denn mit dir los?”, fragte er. „Warst du krank?” „Ne, in Berlin bei meinem Dad”, sagte ich lässig und warf mir dabei einen Kaugummi ein. „Wir sind mit seinem Porsche durch die Stadt gerast. Ich glaube, ich geh da für immer hin.” „Cool”, sagte der. „Echt wahr?” „Na klar.” Da standen schon alle um mich herum und hörten uns zu, war wirklich ein geiles Gefühl. Und Matthias fragte mich: „Lebt dein Vater wirklich in Berlin?” „Schon länger.” „Und was macht der da?” „Etwas mit Videospielen als Producer oder so”, sagte ich, „DVDs auch.” Ich lächelte. „Kann sein, dass ich da für immer hinziehe, du kannst auch mal kommen.” Sie packten mich trotz allem. „Wenn du bald weggehst, dürfen wir keine Zeit verschwenden.” Sie lachten - offenbar glaubten sie mir kein Wort. Und dann zerrten sie mich ins Hinterzimmer und zogen mich nackt aus. Raphael hatte seine Hand in der Hose. Sie schlugen, sie traten auf mir herum, sie machten blaue Flecke und geiferten: „Wo ist denn jetzt dein Papa? Hol ihn doch mal ganz schnell! Der kann dir jetzt auch nicht helfen!" Wortfetzen flogen um mich herum. Plötzlich richtete ich mich auf und schrie: „Ich knall euch ab, ehrlich, ich knall euch ab.” Raphael hatte noch immer seine Hand in der Hose. In dem Augenblick kam ein Pfiff. Sie verkrümelten sich. Ich
sammelte im Dunkeln meine Kleidung. Schlich nach vorne in den Klassenraum. Keiner sagte mehr was. Ein Lehrer war hereingekommen. Ich setzte mich auf meinen Platz. Nach der Stunde schlich ich nach draußen, hinaus, rannte nach Hause. Schnell vorbei an Mama, die vor dem Fernseher saß, und in mein Zimmer. Tür zu. Ich fuhr meinen Computer hoch, schoss und zersägte und schoss. „Ich knall euch alle ab! - Ich knall euch ab!” Hannah rief an: „Tut mir Leid, du." Mehr nicht. Danach legte sie auf. Heute Mittag gab es wieder Tiefkühlkost. Louisa wollte mir irgendwas aus der Schule erzählen, aber ich sagte ihr, sie sollte mich nicht nerven. Das alles war bei Papa bestimmt besser. Da hätte ich nicht so ein Blag am Hals und dann auch noch Tiefkühlfraß jeden Tag. Bei Papa könnte ich mir bestimmt mittags einen Big Mac holen, oder vielleicht gingen wir dann essen. Louisa hatte gerade etwas gesagt, da drehte ich mich zu ihr und fragte: „Was hast du gesagt?” »Du hörst mir ja gar nicht zu", maulte Louisa. Nein sie maulte nicht nur, sie weinte. In der Schule war es genauso. Ich kriegte kaum noch was mit. „Mathe haben wir gerade?” Das hatte ich Herrn Baumann mitten ins Gesicht gesagt. Alle lachten. Was ging mich Mathe an? Sie schleppten mich nach hinten, sie schlugen mich zusammen ... Ich knallte sie nachts ab. Sie hatten sich etwas Neues ausgedacht. Kevin fragte: »Kannst du klauen? Du warst das doch mit den
50 Euro, die vor zwei Wochen aus meiner Tasche verschwunden sind." Ich wurde rot. „Wenn du im Kaufhaus Zigaretten mitgehen lässt, halten wir die Klappe. Zwei Stangen.” Und ich klaute. Mit Herzklopfen betrat ich das Kaufhaus und fuhr mit der Rolltreppe ins Untergeschoss. Ich strich zwischen den Regalen umher, sah mich in der Raucherabteilung um und wurde gefragt: „Was willst du?" War irgendwo ein Detektiv? Wurde ich rot? Hörte vielleicht jemand mein Herzklopfen? Ich griff zu und zwang mich, möglichst ruhig und langsam aus dem Kaufhaus zu gehen. Und ich kam wieder. Nach dem zweiten Mal wechselte ich vorsichtshalber das Geschäft. Vor Angst konnte ich nachts nicht mehr schlafen. Eine neue Angst. Die Angst vor den Quälereien und Schlägen kannte ich ja schon, konnte mich gar nicht mehr erinnern, je ohne sie gelebt zu haben. Aber beides zusammen, das war zu viel. Das hielt ich kaum aus. Nur mit jeder Menge Bier. Immer wenn mich die Panik überkam, betäubte ich mich. Sogar das Bier klaute ich. Ich trank viel Bier. Mama schimpfte. Am Ende kannte ich alle Kaufhäuser der Stadt. Ich kannte die Verkäufer und Verkäuferinnen. Ich unterschied zwischen freundlich zutraulichen und misstrauischen Blicken, beherrschte den Schleichgang, Rennen, Untertauchen, unauffällig vorübergehendes Verschwinden. „Jetzt'nen CD-Brenner, nein zwei. - Sagen wir drei.” Sie wollten sich ausschütten vor Lachen. Sie warteten vor dem großen Elektromarkt. Einer ging zur Kontrolle mit hinein, damit ich nichts für mich schnorrte. Schließlich kamen sie einfach zu mir nach Hause. Als ich die Tür schnell zuwerfen wollte, hatten sie schon den Fuß
dazwischen. „Haut ab”, schrie ich. „Haut ab, das ist meine Wohnung!” Ich war allein in unserer Wohnung. Sie hatten genau den Augenblick abgepasst, in dem die drei anderen weg waren. Sie hoben die Schultern, gingen einfach in mein Zimmer, zogen die Stecker vom Scanner raus. „Den leihe ich mir”, erklärte Raphael. Zwei Tage später fragte Mama, wo mein Scanner geblieben wäre. „Ach, den habe ich nur verliehen”, antwortete ich lässig. Mist, das hieß, dass ich ihn mir zurückholen musste. Ich klingelte bei Raphael, total aufgeregt. Dummerweise hatte ich vorher bei ihm angerufen. Das war mein Fehler. Normales Reihenhaus. Geranien vorm Eingang. „Schuhe im Haus ausziehen”, stand auf einem Schild. Raphael und seine Mutter, eine breite, kräftige Frau, die völlig überschminkt war, machten sofort auf, standen in der Tür. Sie oben. Tom und ich unten zwei Treppenstufen tiefer. „Ich will den Scanner.” „Dann krieg ich aber meine 100 Euro zurück”, sagte Raphael mit verstecktem Grinsen hinter den Lippen. Sonst völlig kalt. Kein Muskel im Gesicht bewegte sich. „Außerdem ist es sowieso ein Mistding.” Der Scanner stand schon oben, am Boden. Er stieß mit dem Fuß davor. „Der scannt nicht ...” „Aber der war doch noch fast neu”, schrie ich los. „Erst ein halbes Jahr hatte ich den!” „100 Euro”, sagte Raphael kalt fordernd, „wenigstens die will ich zurück. Außerdem ist es ein Scheißteil.” „Mein Sohn ist immer ehrlich”, bellte die Frauenstimme hinterher.
„Aber i-ich hab doch keine ... 100 Euro ...”, stotterte ich. Ich verstand nichts mehr. „Hast wohl wieder zu viel getrunken?” Das sagte Raphael. „Das ist die neue Masche, wenn was schief geht bei dem.” Das sagte er erklärend für seine Mutter. „Ich brauch den zurück”, sagte ich leise, fast flehend und wollte den Scanner nehmen. Da fuhr Raphael hoch: „Was ist denn hier los? Erst verkaufen und dann zurückklauen”, brüllte er, holte mit dem Fuß aus und trat gegen das Ding, sodass der Scanner die Treppe runtersauste, an mir vorbei - krach - klirr. Kaputt. Ich bückte mich langsam und sammelte alles ein. „Mein Geld krieg ich aber noch”, schrie Raphael. Er knallte die Haustür zu. Als ich mein Rad mit dem Gepäckträger voller Scannerteile zurückschob, heulte ich Rotz und Wasser. Zu Hause schüttelte Mama nur den Kopf und sah mich traurig an. „Was war denn?” „Ich ... ich bin mit dem Rad gestürzt”, erklärte ich und musste wieder losheulen. „Kein Wunder bei der Bierfahne.” Ich sagte nichts mehr. Als ich heute Morgen ins Klassenzimmer kam, zischte Kevin mir zu: „Wenn du denkst, du kannst uns beklauen, hast du dich geschnitten.” Raphael drückte seine brennende Zigarette auf meinem Rücken aus. Das war wieder auf den alten Toiletten im Keller. Ich schrie. „Geil”, sagten sie und nahmen die nächste Zigarette. „Und wenn du noch mehr lügst, wirst du schon sehen, was
passiert.” Sie grinsten. „Kopf ins Klo, damit du klar wirst im Kopf, Sklave. Da wird der ganze Mist weggespült.” Kevin steckte wieder meinen Kopf ins Klo. Sie nannten mich jetzt immer Sklave. Das war ihr neuester Supergag. Und ich fühlte mich so. „Klau uns 'ne Videokamera. Wäre total geil, wenn wir das alles aufnehmen könnten.” Ich klaute. Sie filmten. Wie sie meinen Kopf ins Klo tauchten, wie sie mich schlugen. „Raphael braucht einen neuen Scanner. Aber einen, der funktioniert, nicht so ein Scheißding.” Ich klaute weiter im Auftrag. Hatte Dauerangst - und wurde erwischt. Zwei Polizisten brachten mich nach Hause. Sie durchsuchten mein Zimmer, doch sie fanden nichts. Ich wurde befragt. Ich schwieg. Ob ich Auftraggeber hätte, fragten sie. Das Jugendamt lud Mama vor und bot Erziehungsberatungsgespräche an. Der Jugendrichter wiederholte mehrfach: „Sie haben Recht auf Erziehungshilfe nach § 1 des Kinderund Jugendhilfegesetzes.” Mama schämte sich und sagte, sie würde darüber nachdenken. Ich bekam dazu noch eine Strafe, aber keine schlimme. Es war das erste Mal, dass ich erwischt worden war, und sie hatten mir sonst nichts nachweisen können. Ich musste im Park bei der Gartenpflege helfen. Ich schwieg. Aus Angst? Oder schon aus Gewohnheit? Kevin, Matthias und Raphael zwangen mich, nach der Schule
mit ihnen mitzugehen. In einer abgelegenen Fußgängerunterführung hielten sie an und holten zwei Flaschen Korn aus ihren Rucksäcken. Eine für sie und eine für mich. Sie lachten. Ich sah ängstlich von einem zum anderen. Kevin stieß Matthias mit dem Ellbogen an, und er sagte mir, dass sie einen neuen Auftrag für mich hätten. Kleine Mutprobe. Ich sollte bei einem alten Mann einbrechen, der allein in einer Villa wohnte. „Auf keinen Fall!” Ich starrte sie kopfschüttelnd an. Ein Einbruch? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Doch schon hatte ich Raphaels Faust im Magen, und dann drückten sie mir den Schnaps in die Hand, und ich musste trinken. Und wenn ich die Flasche absetzte, hielten sie mich fest und flößten ihn mir ein. Ich war Schnaps nicht gewohnt, war sofort betrunken und brach zusammen. „Mit dir haben wir nur Ärger, Sklave.” Sie traten mir ins Gesicht. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, die Hände schützend davorzuhalten. Ich lag einfach nur da, bis ich nichts mehr spürte. Da hauten sie ab, weil sie Angst kriegten. Der Krankenwagen, den Matthias heimlich gerufen hatte, fand mich mit blutigem Gesicht und einer Alkoholvergiftung, die zerbrochene Schnapsflasche unter mir. Mama weinte an meinem Bett. „Warum nur?”, fragte sie immer wieder. Aber sie erwartete keine Antwort. Sie war schon müde vom Fragen. „Ich knall die ab”, murmelte ich. „Ich knall die ab!”, schrie ich ganz laut. Da schämte sich Mama noch mehr.
„Ich zeig's euch!”, schrie ich eine Woche später, wieder zu Hause, allein in meinem Zimmer. „Ich schieße alles kaputt!” Ich fuchtelte mit einer unsichtbaren Pistole in der Luft. Peng, peng! Ich sprang hoch. Schlug um mich. „Ich zerschlage die Welt! Ich zertrümmere die ganze Welt.” Ich tanzte im Takt meiner Fausthiebe. Denen würde ich es zeigen. „Schaut alle her: Ich schieße, peng! Die ganze Welt, die Schule, alles soll zerspringen. Peng! Und keiner lacht mehr. Alle hergucken! Keiner lacht mich mehr aus. Jetzt bin ich der King.” Für einen Augenblick blieb ich stehen, ließ mich auf den Teppich sinken, legte die Hände vors Gesicht. Schließlich legte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Da oben, über dem Bett, hing immer noch das große Weltraumposter mit allen Planeten unseres Sonnensystems. Ich heulte. Überallhin war ich geflogen. Aber das war schon lange her! Da war die Welt noch heil gewesen. Ich heulte und wimmerte. Inzwischen war ich so schlecht in der Schule, dass ich jeden Abschluss vergessen konnte. Ausgeträumt. Und wie auf einen stummen Befehl sprang ich wieder auf, riss meine Schulbücher aus dem Regal, zerriss sie in der Luft, lachte dabei höhnisch und schleuderte alles in die Ecke. Auch meine Hefte. Ich zerfetzte und zerpflückte sie, dass die Schnipsel wie Schneeflocken in der Luft wirbelten und langsam zu Boden segelten: „Leute, es schneit, es schneit! Die Welt zerfällt, und es schneit. Ich habe die Welt zerstört!” Ich schrie und lachte. Meine Tür ging einen Spalt auf. „Was ist denn hier los?”, fragte Tom von draußen. Tom! War der schon vom Zivildienst zurück? Tom, der hatte mir gerade
noch gefehlt. „Hau ab, verpiss dich!” Ich stemmte mich gegen die Tür und knallte sie ihm vor der Nase zu. Der sollte draußen bleiben. Tom drückte dagegen: „ Niko, ich will dir doch helfen.” „Verpiss dich endlich! Du kotzt mich an!” Und ich trat mit dem Fuß gegen die Tür. Tom versuchte, ins Zimmer zu kommen. Als es nicht ging, harrte er aus. Tom vor der Tür. Ich hinter der Tür. Ich war stärker. Blödmann. Der sollte sich raushalten. Irgendwann gab er auf. „Zieh Leine!”, schrie ich. Doch plötzlich schlug meine gute Stimmung um. Ich schluchzte: „Ihr habt mich doch alle allein gelassen. Immer! Ich brauch eure Scheißhilfe nicht.” Bisher war Tom ja auch nie da gewesen! Ich war immer allein durch die Welt geschwommen. In der Nacht schlich Tom doch in mein Zimmer. „Mensch, Niko.” Ich schwieg wie ein Berg, eine Wand. Tom redete auf mich ein. Ich schwieg. Ich schwänzte, schoss und sägte. Krrrr. Im Spiel besiegte ich sie alle, Tag und Nacht. Mama kam nachts nicht mehr hereingestiefelt. Tom auch nicht. Der guckte nur. Der beobachtete mich ständig. Mama hatte seit kurzem eine Aushilfsarbeit. Mir war damit auch geholfen. Ich konnte morgens zur normalen Zeit das Haus verlassen und wenig später wieder zurückkehren. Da kam wieder ein Brief vom Ordnungsamt. Er sah genau so aus wie der erste, den ich einfach ins Altpapier geworfen hatte. Ich öffnete ihn vorsichtig über Wasserdampf. „Sehr geehrte Frau Grasdorf ...” Einen Moment lang
verschwamm alles vor meinen Augen. „... da Sie zu unserem ersten Gesprächstermin bezüglich des häufigen Fehlens Ihres Sohnes nicht erschienen sind, bieten wir Ihnen einen zweiten Termin an ...“ Jetzt kam alles heraus. Den Brief konnte ich unmöglich wieder verschwinden lassen, oder? Doch, ich konnte ihn verschwinden lassen, das musste ich sogar. Ich hatte keine andere Wahl. Allerdings würden die wieder und wieder schreiben. Und was dann? Aber es blieb nicht viel Zeit zum Überlegen. Ich hielt den geöffneten Brief in der Hand, als hinter mir die Küchentür aufging. Scheiße, ich hatte Mama überhaupt nicht kommen hören. Ich wollte den Brief schnell wegwerfen, aber ich stand wie erstarrt. So blass und verwirrt musste ich ausgesehen haben, dass Mama noch nicht mal den Mantel auszog. Sie stellte sich neben mich an den Küchentisch und schielte auf den Brief: „Und seit wann öffnet mein Sohn meine Briefe?” „Seit heute, Mama, ehrlich.” „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht.” „Nein, Mama ...” Aber sie ließ mich nicht ausreden. „Du musst aber doch zugeben, dass mich solche Situationen schon verwirren können.” Ihre Stimme zitterte, sie hielt sich mit einer Hand an der Kante des Küchentisches fest, in der andern hielt sie jetzt den Brief. Ich sprang um sie herum. „Mama, bitte! Bitte lies das nicht ...” Sie reagierte nicht. „Ich kann dir das ...” Erklären, hatte ich sagen wollen, aber genau das konnte ich nicht. Ich ließ mich auf einen Stuhl
sinken und schwieg, während Mamas Augen über das Blatt Papier glitten. Sie sah auf. „Wie stehst du im Augenblick?” Ich starrte nur auf die Tischplatte. „Niko, ich rede mit dir. Du schwänzt in einer Tour die Schule, und deine Versetzung ist gefährdet.” Na und, Scheißnoten interessierten mich nicht mehr. Selbst in Mathe begriff ich kaum noch etwas. Ich blieb sitzen. Alles ganz einfach. „Aber warum, warum, warum?” Mama rang die Hände in der Luft. Ihre Fassungslosigkeit brachte mich völlig durcheinander. Wirklich. Mama! Ich hatte es doch so schon verdammt schwer. Ich stützte das Gesicht in die Hände und schwieg. Plötzlich kam es wieder hoch - wie früher hätte ich so gerne gesagt: „Mama, hilf mir doch.” Und mich von ihr umarmen lassen. Sie schüttelte den Kopf, stand vor mir: „Ist das mein Sohn?” Sie hielt sich jetzt mit beiden Händen am Küchentisch fest. Ihre Knöchel traten weiß hervor. Mama, Mama, hilf mir doch. Aber ich schrie und heulte nur noch innen. Selbst mit meiner Mama konnte ich nicht mehr sprechen. Schon lange nicht mehr. Ich hatte die Sprache verloren. Ich stand stumm auf. Sie deutete das wohl als Verzweiflung über den Brief und meine schlechten Leistungen. Ich hatte einen Ring aus Schweigen um mich gelegt, und die ganze Wahrheit steckte nur noch in meinem Kopf fest. Da war sie eingesperrt und kam nicht mehr heraus. Und sie rannte verzweifelt hin und her und drehte sich im Kreis, wie ein kleines, eingesperrtes Tier. Mama schloss sich ein und weinte. Ich schloss mich ein und
spielte. Ich brachte sie alle um. Heute Morgen wurde meine Tür aufgerissen, und Mama stürmte ins Zimmer. „Du gehst ab sofort wieder zur Schule, Bürschchen!” Sie sagte das so, als würde sie keinen Widerspruch dulden. Ich nickte. Aber ich ging nicht. Ich wollte nicht mehr Sklave sein. Sie hatten mich beim letzten Mal nach dem Unterricht zwei Stunden hinten angekettet. Als ich da in Ketten gelegen hatte, hatte ich nicht mal mehr weinen können. In mir war keine Trauer, keine Scham, kein Fühlen. Ich war Sklave. Ich konnte nicht mehr. Außerdem: Wenn ich zur Schule ginge, würden sich sofort die Lehrer auf mich stürzen. Was sollte ich sagen? „Liebe Frau Timmermann, ich bin nicht mehr gekommen, weil ich Sklave bin. Und außerdem: Meine Spiele sind einfach geiler. Peng!” Und Hannah. Hannah hatte plötzlich weggeguckt. Zu ihr hatte ich noch einmal kurz gesagt: „Du, Hannah, könnten wir mal ...” Da hatte sie sich umgedreht und gefaucht: „Nicht nach diesem Brief, Niko.” Damit war sie weg gewesen. Und ich war allein. Welcher Brief? Ich hatte ihr doch keinen Brief geschrieben. Wirklich nicht, Hannah. Hannah, ich schwöre. Ich wollte schon hinter ihr her, da durchzuckte es mich: Kevin, Raphael und Matthias? Hatten die etwa ...? Ja klar, sie hatten bestimmt Hannah einen Brief von mir geschrieben. Fette Hannah, XXL will ich auch nicht. So? Oder? Ich wusste es nicht. Da war Hannah schon weg. Einfach futsch. Sie hatten eine Schneise um mich herum geschlagen, ein Niemandsland. Und mittendrin stand ich in totaler Leere - allein.
Keiner hatte mich so verstanden wie Hannah. Ich lachte rau und bitter in mich hinein. Der große Raum aus Schweigen, der zwischen mir und allen lag, war das Schlimmste. Sollte ich Hannah schreiben? Einmal, zweimal war ich kurz davor. Aber dann spielte ich lieber Computer. Hatte sowieso alles keinen Zweck mehr. Hannah jetzt auch - nicht mehr da? Das Beste wäre doch, jetzt auch diesen letzten Rest von Niko auszulöschen. Peng. Abgeknallt. Ich öffnete dabei wie zufällig meinen Kleiderschrank. Da, im Spiegel sah ich in ein dunkles, stoppeliges, übernächtigtes Gesicht mit tiefen Ringen unter den Augen. Sollte das ich sein? Ich? Niko? Ich schloss den Schrank und setzte mich wieder an den Computer, wo ich im Internet nach neuen, geilen Spielen suchte. Ich war so müde, müde. Und wie von selbst tippte ich auf einmal zwei Worte ein: müde - lebensmüde Selbstmord erschien auf dem Bildschirm. Ich klickte das Wort an. „Kennst du auch das Gefühl, völlig allein zu sein auf der Welt? Du schwimmst allein mitten durch die Welt. Keiner versteht dich. Die Eltern brüllen, die Lehrer geben dir Fünfer. Kein Job. - Du hast keine Chance, aber nutze sie!" Da war ich auf einmal wie von selbst mitten im Suizidforum. Nikolaus nannte ich mich. Später auch Lebensmüde. Ein bis zwei Stunden saß ich vor dem Bildschirm und schrieb mir meine Probleme von der Seele. Meine Ansprechpartner trugen Namen wie Totes Leben, Todesengel Dark Angel, Tote sprechen. Andere gaben sich auch ganz normale Namen. Alle fanden das Leben zum Kotzen. Schmerzhaft, sinnlos, lachhaft. So konnte ich ihnen anvertrauen, worüber ich mit
niemandem sonst sprach. Ich erzählte alles, alles. Und viele hatten ganz ähnliche Probleme. Ich war nicht mehr allein. „Früher war ich selten allein”, schrieb ich. „Meine Eltern haben zwar gestritten, aber meine Geschwister Tom und Louisa waren auch da. Und wenn Mama nach Hause kam, haben wir uns unterhalten.” Aber da erzählte einer schon weiter: „Dann kam auch noch die Sache mit Ina dazu.” Er hatte sich total in sie verliebt und dachte, sie sich auch in ihn. Als er es ihr endlich sagte, antwortete sie: „Ich? In dich?” Sie lachte. Er war am Ende, flog völlig aus der Bahn. Am Abend der Abfuhr hatte er sich erstmals in ein Suizidforum eingeloggt. Die Chatter sprachen über ihre Probleme. Probleme mit den Eltern, mit der Einsamkeit, Hilflosigkeit, Missachtung. Immer wieder kamen sie zu dem Schluss, dass der Tod das bessere Leben sei. Einfach ein friedliches Nichts. Frieden - was für eine verlockende Vorstellung! Ist das auch für mich ein Weg? - Vielleicht der einzige, der noch bleibt. „Einen Abschiedsbrief habe ich nicht verfasst”, schrieb einer, der sich Erich nannte. „Hat sich sowieso nie jemand groß für mich interessiert. Ich trinke jetzt noch eine Flasche Rum, und dann geht's los.” Nach einigen Tagen Chatten im Suizidforum las ich den Beitrag von Lea, 17 Jahre. Sie fragte, ob jemand das Gefühl kenne, auf einem Brückengeländer zu stehen und sich nicht zu trauen. Oh ja, ich kannte das Gefühl, mich nicht zu trauen. Und wie! Das schrieb ich Lea. „Ich glaub, ich hab auf der Welt nix verloren”, erschien ihre Antwort auf meinem Bildschirm. Und Lea erzählte von der
Scheidung ihrer Eltern, von ihrer Kraftlosigkeit und Einsamkeit inmitten lauter cooler Mädchen, die nur an Jungs und Klamotten dachten. Ich tröstete sie, sprach, verstand, fand plötzlich wieder Worte auch für mich. Lea wollte sich umbringen. Lea und ich schreiben uns jetzt regelmäßig. Nicht nur im Forum, sondern auch per Mail, direkt. Sie ist die Einzige, außer Hannah, der ich von den Quälereien und vom Sklavesein erzählen kann. Von den Gemeinheiten und dem Zwang und von der Unmöglichkeit, weiter zur Schule zu gehen. Auch von mir selbst. Dass es mich eigentlich nicht mehr gibt. Lea versteht. Sie schrieb mir einmal, Mädchen hätten es wohl leichter, über solche Dinge zu sprechen, aber ihr gehe es nicht viel anders. Zwar sei sie keine Sklavin, aber sie habe seit der fünften Klasse eine Clique von Mädchen in der Klasse, die sie isolierten. Außerdem hätten sich genau in der Zeit auch noch ihre Eltern getrennt, sodass sie dann völlig allein in der Welt war. Lea und eine dicke, bleierne Müdigkeit haben sich über mein Leben gelegt. Lea hat heute im Chat geschrieben: „Was ist der Tod? Wohin kommen wir? Nehmen wir vielleicht unsere Ängste und alles mit?” Ein Marco schrieb dazu, schlimmer als hier könne es wohl nicht sein. Lea entwickelte Fantasien von Blumentälern und ewigem Frieden. „Ist ewiger Friede nicht langweilig?”, fragte ein Todesengel. „Peace is so boring.”
„Ist es nicht eher ein schwebendes Nichts, in das wir übergehen? Ein Nichts, in dem du auch nichts mehr denken musst?”, fragte Marie hinein. „Ich stelle mir ein MichAuflösen in einem schwebenden Nichts wunderbar vor.” „Für mich kommt es darauf an, es denen allen zu zeigen”, schrieb Todesengel zurück, „meinen Eltern und denen in der Schule ... Und dann tut es ihnen vielleicht Leid, wie sie mich behandelt haben.” Eine neue Chatterin klickte sich ein: „Ich will nur noch sterben”, schrieb sie, „und ich springe heute von der Autobahnbrücke. Beschissener kann mein Leben auch in der unbekannten Welt nach dem Tod nicht werden. Kommt jemand mit? Heute Abend um 20.00 Uhr soll es los...” An dieser Stelle schloss der Chatmaster den Chat rabiat ab. Chatmaster sind die, die den Chat beobachten und beaufsichtigen. Wenn die Teilnehmer Grenzen überschreiten, stoppen sie alles oder löschen es sogar. Sofort. Einige protestierten. Lea schrieb daraufhin an meine E-Mail-Adresse: „Es ist hier wie überall, selbst über Leben und Tod dürfen wir nicht frei sprechen. Dann kommt der Chatmaster und Oberaufpasser, beschließt einfach, dass jetzt die Grenzen überschritten werden, und löscht alles.” Die Idee mit dem gemeinsamen Selbstmord hatte uns gefallen. Wir verabredeten uns, für in drei Tagen, am Sonntag, zum Sprung vom Fernsehturm. So, als ginge es um ein Treffen im Turnverein oder in einem Café. Als ich letzte Nacht mal nicht stundenlang im Internet war, kam wieder ein Anruf. „Hey, Sklave, wir vermissen dich. Wenn du uns nicht mal wieder in der Schule besuchen kommst, besuchen wir dich eben zu Hause.” Lachen.
Ich knallte das Telefon auf. Spürte eine dicke, fette Wut in mir aufsteigen. Eine große Wut auf alle, die mich quälten. Seit meinem Einstieg in die Suizidforen habe ich oft über Selbstmord nachgedacht. Übermorgen habe ich meine Verabredung mit Lea am Fernsehturm. Dann ist alles vorbei. Dann habe ich endlich meine Ruhe vor denen. Aber die Wut zeigt in eine andere Richtung. Die Wut hat wieder eine Richtung und Kraft! Wohin? Wohin? Warum soll ich mich umbringen - mich? Und die Schweine leben weiter, ungestraft? Nein. Das sehe ich nicht ein. Nein, ich will wenigstens einen mitnehmen, um denen zu zeigen: Ich kann mich rächen. Ich, Niko, bin nicht so schwach, wie ihr denkt. Wenigstens das. Heute ist Sonntag. Lea hat mir ein paarmal geschrieben, ob es denn mit unserem Treffen klappt heute Abend. Aber ich habe ihr nicht geantwortet. Soll sie doch machen, was sie will. Ich nehme jemand ganz anderen mit in den Tod. Damit mein Selbstmord einen Sinn hat. Denn das Einzige, was Sinn macht, ist Rache. Rache an denen. Und mich rächen tat ich nicht mit einem Todessprung vom Turm. Es würde nur ein kurzes, verständnisloses Entsetzen geben. Ein Raunen. Vielleicht auch nur ein Schulterzucken. Zur Rache gehört für mich die Wahrheit und dass auch die einmal leiden müssen. Und zwar so richtig! Warum sollte ich mich nur „an mir selbst” durch den Sprung rächen? Warum sollte ich nicht wenigstens einen meiner Übeltäter mit in den Tod nehmen? Auf einmal steht die Lösung klar vor mir: „Ihr da, ihr habt wohl nicht damit gerechnet, dass ich, Niko, nicht nur euer Opfer bin. Tja, selber schuld! Jetzt bin ich nämlich Niko, euer Racheengel.” Und der Racheengel will töten! Der will einen von euch -
oder auch alle drei. Zur ausgleichenden Gerechtigkeit. Damit alle danach wenigstens die Wahrheit erfahren. Diese Wut und Entschlossenheit in mir kenne ich gar nicht mehr. Jetzt muss ich erst mal Computer spielen. Ich will schießen! Die knall ich ab! Ich habe mir in den Foren den Namen Racheengel zugelegt. Ich habe viele Zuschriften bekommen: „Ich mache mit.” Doch ich fahre jetzt zweigleisig: Ich mache weiter bei den Suizidforen und Selbstmordkandidaten mit und lege mir gleichzeitig den Plan für meine eigene Tat zurecht. Dabei ist ein riesiges Problem aufgetaucht. Wie komme ich an eine Pistole? Zuerst dachte ich, vielleicht könnte ich mich ja bei der Polizei melden, ich sei besonders gefährdet und bräuchte zu meinem Schutz eine Waffe. Aber das war natürlich nur ein Witz. Dabei trifft es am genauesten die Wahrheit: Ich bin gefährdet und werde fast tödlich bedroht. Aber Waffenschein und Waffenbesitz zur Selbstverteidigung sind natürlich nur für Erwachsene vorgesehen. Für Kinder und Jugendliche unter 18 gibt es so etwas wie eine tödliche Bedrohung nicht, meinen die Erwachsenen. Und daher brauchen sie auch keine Waffe zur Selbstverteidigung. Dann habe ich mein Problem in den Foren vorgestellt: „Suche Waffe.” Doch kaum meldete sich einer, war der Beitrag schon gelöscht. Es stimmte also, dass die Suizidforen von den Chatmastern streng kontrolliert werden - aber eher nach deren Belieben und Geschmack. Beim nächsten Mal war ich klüger und notierte blitz-schnell die E-Mail-Adresse. Ich mailte zurück. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag
im Kölner Hauptbahnhof. Auf einmal ging alles so schnell. Fast zu schnell. Ich saß im Zug nach Köln, hatte ein mulmiges und gleichzeitig unwirkliches Gefühl. Die Fahrt über die Rheinbrücke. Der Zug ratterte. Der Blick auf die Kirchtürme und Häuser. Da tauchte der Dom auf. Mächtig, groß. Kurz darauf rollte der Zug in den Hauptbahnhof ein. Ich stieg aus, mit zitternden Knien, und tastete noch einmal nach dem Geld in meiner Hosentasche. Ich musste zum letzten Gleis, dem vereinbarten Treffpunkt. Dort würde jemand auf mich warten, der würde mich dann zum Ort der Übergabe bringen. Als Erkennungszeichen sollten wir beide einen deutlich sichtbaren Chatclub-Button tragen. Der andere, ein schmächtiger, dunkelhaariger Typ, der nicht älter war als Tom, hatte offenbar nicht mit einem so jungen „Kunden" gerechnet, wie ich es war. Er zögerte, sah sich misstrauisch um. „Mit Kindern machen wir keine Geschäfte.” Aber er entschloss sich dann doch, mich mitzunehmen. Er war schließlich nur der beauftragte Vermittler. Ich lief hinter ihm her die Treppe zu einer Unterführung hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf ins Freie, einen aufgelassenen Bahnsteig entlang, an dessen Ende ein altes Wartehäuschen stand, nicht mehr als eine halb verfallene Bretterbude. Der andere warf immer wieder einen prüfenden Blick zurück, um zu sehen, ob ich ihm auch folgte. Ich zerknüllte mit schweißnassen Händen mein Geld. Endlich waren wir am Ziel und schlüpften in die Bretterbude, wo wir schon von einem mittelalten Mann mit Sonnenbrille und Baseballkappe erwartet wurden. Ich hatte Angst. Am liebsten wäre ich weggerannt, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich zählte mit den Fingern zum x-ten Mal mein Geld in der Tasche: fünf große Scheine. Die hatte ich Mama aus ihrer
eisernen Reserve-Haushaltskasse geklaut. Wenn die mir nun nur das Geld abnahmen und dann abzogen? Herzklopfen. Aber der Austausch - hier das Geld, da die Pistole - verlief reibungslos. Und wenn die Pistole nicht funktionierte? Der Stoffbeutel mit der Waffe darin lag schwer in meiner Hand. „Anleitung ist im Beutel.” Schwerer Akzent, schwere Stiefel. Halb vermummt, dunkle, glänzende Haare, schwarze Hose. „Wie viel Schuss?” „20.” „Mehr nicht?” Es sollten 30 sein! Ich musste doch üben. „Schnauze, sonst mehr Geld.” Mehr Geld hatte ich nicht. Es hatte alles geklappt bis auf die vereinbarten 30 Schuss Munition. Egal. Als ich schwieg, fuhr mich der Jüngere an: „Und jetzt zisch ab!” Ich nickte und stolperte aus dem Wartehäuschen. Und wenn die beiden jetzt hinter mir herschlichen, mich niederschlugen und sich die Waffe wieder zurückholten? Ich drückte den Leinenbeutel an meine Brust. Dann würde ich die Pistole gleich an den beiden ausprobieren. Ich würde die letzte Sklaverei abschaffen! Racheengel. Niko zeigt's allen! Ich hörte Schritte. Ich rannte. Dann war ich wieder unter Menschen und sah schon meinen Zug auf Gleis acht. Und wenn die jetzt auch in den Zug stiegen und mir auf der Toilette auflauerten? Also durfte ich nicht aufs Klo. Ich hatte aber für die Rückfahrt keinen Fahrschein, weil ich kein Geld mehr hatte. Ich fühlte mich beobachtet, verfolgt, sprang wieder aus dem Zug. Ich durfte jetzt keinen Fehler machen. Ich sah mich ängstlich um, wartete, nahm den nächsten Zug
und sperrte mich in der Toilette ein. Obwohl die Fahrt nicht lange dauerte, kam es mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Angst. Plötzlich, aber nur sehr leise, schlich sich der Gedanke ein, ob das, was ich vorhatte, die richtige Art von Stärke war. Egal. Das war mein neues Wort. Damit lebte man cooler. Zu Hause schloss ich mich in meinem Zimmer ein, studierte die Bedienungsanleitung der Pistole und überlegte, wo ich am besten üben konnte. Den Wald hinter dem Park kenne ich sehr genau. Ich weiß sogar, dass der Förster zweimal in der Woche einen Kontrollgang macht. Ich musste also nach oder vor seiner Arbeitszeit üben. Abends sind zu viele Spaziergänger, Jogger und Fahrradfahrer unterwegs. Also morgen Früh. Ich stelle den Wecker auf sechs Uhr. Heute morgen habe ich mich leise angezogen und mich aus der Wohnung geschlichen. Dann rannte ich los, Richtung Wald. Ich wusste genau, wo ich hinwollte - auf eine kleine, abgelegene Lichtung. Mein Atem ging laut, ich hörte meinen Puls in meinen Ohren und drosselte erst kurz vor der Lichtung das Tempo. Da knackte es. „Hallo, ist da einer?” Ängstlich schaute ich mich um. Niemand zu sehen. Ich schlich weiter bis zur Lichtung. Die Pistole im Innern der Jacke. Und wenn hier Polizei wäre? Quatsch. Das sind doch keine Hellseher. Worauf musste ich achten? Was war das Wichtigste beim Üben? Der Rückschlag. Ob ich mich an einen Baumstamm anlehnen sollte? Nein, das ging nicht. Das konnte ich später auch nicht. Da knackte es wieder. Verflixt. Etwas oder irgendwer bewegte sich im Unterholz. Ich versteckte mich im Gebüsch
hinter einen Baum. Ein Reh. Fast hätte ich erleichtert aufgelacht. Und wenn ich es abknallte? Quatsch. Das arme Tier. Ich kroch aus meinem Versteck, und das Reh floh. Dann stellte ich mich am Rande der Lichtung auf, weil ich genau sehen wollte, wohin ich schoss. Nicht wegen der Zielgenauigkeit. Nein. Die übte man besser und wirklich richtig und total am Computer in den Spielen. Ich legte an, spannte, schoss. Was für ein Knall! Gleichzeitig riss es mich nach hinten. Teufel! Das musste ich üben. Ich musste dagegenhalten. Nochmal! Schon besser. Die Pistole war schon wieder in meiner Brusttasche, da machte es knack. Schritte. Zwei Spaziergänger, ein Mann und eine Frau, die mich wie von ferne fragten: „Haben Sie auch eben Schüsse gehört?” Was machten die denn um diese Zeit schon hier? „Ich? Schüsse?”, fragte ich. Ich hätte fast Nein, Nein gesagt. Aber stattdessen hörte ich mich antworten: „Ja, deswegen bin ich schnell hierher gerannt.” „Und? War da jemand?” „Nein, nur noch eine Bewegung im Unterholz. Da drüben.” Ich wies über die Lichtung. „Da müssen wir die Polizei benachrichtigen. Die sollten ja wenigstens mal nachschauen ...” „Oder auch kontrollieren morgens, die sollten hier ruhig ab sechs mal Streife laufen”, sagte die alte Frau, die sich bei ihrem Mann untergehakt hatte. „Soll ich das mit der Polizei machen? Das kann ich gerne übernehmen”, schlug ich geistesgegenwärtig vor. „Wenn Sie das täten.” Der Mann nickte. „Ich gebe Ihnen mal unsere Adresse, falls noch Zeugen gebraucht werden.” Sie siezten mich. Sie hatten Respekt vor mir.
Ich ging natürlich nicht zur Polizei. Dafür passte ich das nächste Mal besser auf. Nach einem weiteren Üben beherrschte ich den Rückschlag einigermaßen. Mehr Schüsse durfte ich nicht verbrauchen und konnte ich auch in meinem Waldstück nicht riskieren. Die Zielgenauigkeit habe ich vor dem Bildschirm geübt. Das klappt hervorragend. In vier Tagen wird es so weit sein. Der minutengenaue Plan liegt fertig in der Schublade. Und doch habe ich manchmal Zweifel. Richtige Unsicherheitsattacken. Die sind grauenhaft. Ich schieße ... - Nein, nein, ich schieße ... nicht. Ich habe immer noch Angst. Aber ich habe mich ja entschlossen. Ich werde es tun. Heute war der Testlauf. Ich bin die Strecke zur Schule abgelaufen. War ich da schon lange nicht mehr gewesen! Ein komisches Gefühl. Alles war noch wie ausgestorben, weil es noch ganz früh am Morgen war. Sechs Uhr. Ich rannte. Ich würde es tun. Denen endlich mal zeigen, dass sie das nicht einfach machen konnten. Nicht mit mir! Dass ich auch stark war, stärker als sie. Ich rannte. Und während ich rannte, wuchsen meine Kraft und Entschlossenheit. Ich tu es. Ja! Ich blieb stehen. - Angst? Unentschlossenheit? Sekundenlang blieb mein Blick an meinem Spiegelbild in einem Schaufenster hängen: kurze, robuste, fast harte Haare. Das Einzige, was an mir hart war. Graugrüne Augen, wobei das Grau stark und warm hervortrat. Ich hätte lieber grüne, kalte, stechende Augen gehabt. Und hart müsste man sein. Knallhart. Steinhart. Stattdessen: weiche Gesichtszüge, ein paar Stoppeln. 14 Jahre alt und übernächtigt, blass, mit unruhig zuckendem Mund. „Ich schieße.” Mein Blick ging schon weiter, fing gerade
noch das Bild eines langen, schlaksigen Körpers ein in weiten Hosen, schwarzem T-Shirt. Ich war zu dünn und zu weich, alles an mir war zu weich. Weich und uncool. Entschiedenen Schrittes ging ich weiter. Ich würde es tun. Heute wollte ich die Strecke testen und den Zugang zur Schule. Den Hintereingang. Nur noch ein Tag, bis es so weit war! Aber durfte ich das? Die Frage blieb. Und doch war sie schon beantwortet. Durften etwa nur Quäler quälen? Während ich rannte, sah ich sie wieder vor mir, wie sie sich zu dritt über mich beugten und zuschlugen. Gegen die Beine, die Brust und in den Magen. Ich lag am Boden. Sie traten weiter. Ich schrie. Aber nur noch nach innen. Und deswegen, genau deswegen musste ich es jetzt endlich tun. Denen zeigen, dass sie nicht immer siegten. Es gab doch für mich keinen anderen Weg, nur diesen Ausweg. „Du hast keine Chance, aber nutze sie!” Das war der Spruch, den mir das Leben hämisch grinsend entgegenhielt. Und genau das würde ich tun. Ich würde schießen. Ich schlich mich von hinten an die Schule an und drückte die Türklinke des Hintereingangs hinunter. Herzklopfen. Mist! Noch zugesperrt. Na ja, morgen Vormittag, würde die Tür offen sein. Dann musste ich den Rest im Kopf durchgehen. Ich würde die Hausmeistertreppe hinaufschleichen, die Hände in der Bauchtasche meines Pullis um die Pistole geklammert. Erst vor meinem Klassenzimmer würde ich die Strumpfmaske übers Gesicht ziehen. Dann die Pistole aus dem Pulli ziehen, tief durchatmen und ins Zimmer ... Als ich am Abend nicht einschlafen konnte, spielte ich Computer. Peng, machte es. Mitschüler zersägen.
Kkkkrrr. Angst? Egal. Racheengel? Ja. In den Suizidforen war ich schon seit ein paar Tagen nicht mehr gewesen. Seit dem Sonntag, an dem Lea sich mit mir verabredet hatte, war ihr Name dort nirgends mehr aufgetaucht. Das machte mir ein seltsames Gefühl. Egal. Egal. Ich ziehe meins durch. Endgültig. Und jetzt gehe ich schlafen. Den Wecker hab ich auf 4.45 Uhr gestellt. Ich will mich in sehr großer Ruhe vorbereiten. Endgültig. Eigentlich wollte ich heute Morgen als Erstes durch den Park joggen, um Kraft aufzubauen und jede Angst abzubauen. Aber wie von selbst rannte ich zum Hintereingang der Schule. Hier würde ich später das Schulgebäude betreten. Ein letztes Mal ... Die Straßen waren noch menschenleer. Die Sonne versteckte sich hinter einer Wolke. Als ich vor der Schule stand und hochblickte, sah ich in der Ferne den Fernsehturm. Was wohl aus Lea geworden war? Egal. Aber ihre Worte, Mails und Gedanken hatten mich stark gemacht und begleiteten mich. Als ich nach Hause zurückkam, stellte ich mich unter die Dusche. Das heiße Wasser löste die letzten Zweifel auf. Ich drehte Abschiedsrunden durch die Wohnung. Traurig und auch mit einer feierlichen Freude. Ich ging durchs Wohnzimmer, die Küche, den Flur und boxte in die Luft. Eine Stunde hatte ich noch Ruhe, bevor die anderen aufwachten. Die Pistole lag in der zweitobersten Schublade meines Schreibtischs. Acht Schuss Munition hatte ich noch, zwölf hatte ich im Wald verschossen, immer in der Angst, gehört und entdeckt zu werden - aber das wird heute anders sein. Ich beherrsche inzwischen den Rückschlag der Pistole
einigermaßen. Die Zielsicherheit ist so hoch, dass ich bei den Spielen den höchsten Grad erreicht habe. Noch einmal durchstreifte ich die Wohnung, als müsse ich allem Auf Wiedersehen sagen. Dabei wurde mir fast übel. Ich strich zärtlich mit der Hand über einzelne Möbelstücke und Einrichtungsgegenstände, schlich zurück in mein Zimmer, wo ich mich einsperrte, legte mich aufs Bett, starrte an die Decke und ging den Plan noch einmal durch. Der lag auch in der zweiten Schublade von oben unter dem Abschiedsbrief an Mama. Eine zärtliche Welle von Zuversicht, Stolz und Abschied überrollte mich. Ich war heute der Held, nicht mehr der Loser. Als Zweifel aufstiegen, fuhr ich noch einmal für Minuten den Computer hoch. Ich zögerte und stellte den Computer wieder ab. Dann fuhr ich ihn doch wieder hoch, setzte die Strumpfmaske auf, schaltete den Ton ab. Ich probierte noch einmal alles durch. Auch den Schuss. Das machte mich sicherer. Ich schoss so genau wie noch nie. Mit kalter Präzision. Im Computer. Die haben mich gequält, sagte ich mir. Der Lauf war auf Kevin gerichtet. Die wussten nicht, was sie tun, verteidigte jemand in meinem Kopf. Egal. Ich schieße. Mensch, Niko, hör auf. Du stürzt dich und alle ins Unglück. Das sagte wieder der in meinem Kopf. Ich bin doch schon mittendrin im Unglück. Und dann spielte und schoss und sägte ich und dachte an nichts mehr. Aus weiter Ferne hörte ich die Stimmen von Mama und Louisa und Tom, hörte Geschirr klappern. Dann schlug die Wohnungstür ein paarmal zu. Stille. Sie waren weg. Sie hatten sich nicht mal von mir verabschiedet. Egal.
Der Wecker klingelte wieder. Ich musste mich fertig machen. Auf meinen Schreibtisch legte ich den Brief, offen. Meine Familie soll ihn sehen, wenn sie von Arbeit oder Schule heimkommt. Ein letztes Mal ging ich meinen Auftritt durch. Ich sah meine Mitschüler vor mir sitzen, während ich in der Tür des Klassenzimmers stand, hinter ihnen - mit gezogener Pistole. Ein paar würden sich zu mir umschauen. Entsetzt aufschreien. Bis sie mich alle anstarrten. Dann mein Kommando: Alle auf den Boden! Hinlegen! Mit lauter Stimme. Sie würden aufspringen und mir gehorchen. Angst in den Augen. Alle nach hinten und auf den Boden legen. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Los, Kevin, oder brauchst du 'ne Extraeinladung? Die Sätze habe ich mir vorher immer wieder vorgesagt, damit sie sitzen. Sie klingen gut. Auch wenn ich dabei in meinem eigenen Zimmer stehe und meine Pistole nur auf einen Sessel richte statt auf Kevin. Aber nicht mehr lange ... Jetzt mache ich meine letzten Eintragungen in mein Computertagebuch. Ich bin von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Trauer und Feierlichkeit. Die schwarze, enge Hose, mit der sie mich immer ausgelacht haben. Ein weiter Pullover mit Tasche vorne. Meine beiden Hände in der Tasche. Sie umklammern die Pistole. Eine schwarze Strumpfmütze um den Hals, die ich hochziehen wollte, wenn ich das Schulgebäude betrat. Schwarz. Trauer und Triumph. Ich, Niko, der Racheengel! Kein Loser mehr. Alle werden es erfahren. Und es wird ihnen Leid tun, dass sie mich gequält haben. Oder dabei zugesehen. Sie kriegen ihre Lektion. So, jetzt muss ich gehen.
Im Gerichtssaal Tom tritt in den Zeugenstand. „Woher wussten Sie, dass sich in der Schule etwas abspielte?”, fragt ihn der Richter. „Ich hatte gleich so eine schlimme Ahnung, als ich den Abschiedsbrief sah. Natürlich war ich nicht sicher. Daher habe ich auch nicht die Polizei verständigt. Al-so bin ich durch den Park zur Schule gerannt. Ich kannte seinen Klassenraum nicht und habe fünf Klassenräume aufgerissen und zugeknallt, bis ich plötzlich im richtigen Zimmer war. Im ersten Moment war ich so perplex, dass ich die Situation gar nicht richtig erfasst hatte. Da stand mein kleiner Bruder mit seiner Pistole hinter und über seinen Klassenkameraden, die am Boden lagen. Er kontrollierte die Szene total. Dann fiel mein Blick auf die Waffe, die auf einen der Schüler gerichtet war. Auf einen dunkelhaarigen Schüler, den Niko gerade fertig machte: ,He, Kevin, geht's dir nicht gut? Deine Hände zittern ja ... Du hast doch sonst nie vor was Angst und bist immer der Coolste.' Die Pistole blieb auf Kevin gerichtet. ,Mal testen, wie cool du wirklich bist. Ob deine Coolness hält? Hey, Kevin: Alter, ich werde dir gleich von hinten mit meiner Pistole ...' Kevin schrie dumpf ,Nein` vom Boden aus. ,Neiiiin!` ,Aufhören, Niko', hörte ich mich plötzlich schreien. ,Was tust du denn da? Nimm doch Vernunft an!' Niko fuhr zu mir herum - offenbar hatte er gar nicht bemerkt, dass ich das Klassenzimmer betreten hatte. ,Halt dich da raus, Tom!', schrie er mich an, die Pistole nach vorne gerichtet, fest umklammert. Mein Mund fühlte sich ganz trocken an vor Angst. ,Mensch. Niko! Das geht nicht', sagte ich leise zu ihm.
Mein Bruder stand vor mir. In dem Augenblick erst sah ich Niko richtig an - vorher hatte ich auf die Waffe in seiner Hand gestarrt: verzerrtes, starres, cooles Gesicht. ,Niko, bitte.' Ich versuchte, sehr ruhig und sehr bestimmt mit ihm zu sprechen. Dabei wirbelte in meinem Kopf alles durcheinander. Angst. Ungläubiges Entsetzen. Und doch die Gewissheit, dass es kein böser Traum war, wenn ich in die Gesichter derer blickte, die am Boden lagen. Es waren mindestens 15 Leute. Niko war jetzt offen-sichtlich durcheinander. Er handelte unkonzentrierter. ,Hau ab', schrie er mich an und blickte hektisch von mir zu den anderen. ,Du hast hier nichts zu suchen. Das ist mein Revier.' ,Niko`, sagte ich, ,du bist wahnsinnig.' Dabei merkte ich, aber mehr nebenbei, dass eine Gestalt am Rand sich langsam aufrichtete, sich vorsichtig an der Wand entlangtastete und aus Nikos Blickfeld zu verschwinden versuchte. Die kannte ich doch - Hannah. Die sollte bloß abhauen. Ich hatte solche Angst. Wollte er etwa alle abknallen? Ein Blutbad anrichten? ,Heute bin ich Richter und Henker.' Niko lachte plötzlich laut auf. ,Richter über die Schwächlinge da unten, die Hosenschisser.' Kevin heulte jetzt wie ein kleines Kind. Raphael zitterte. Nur Hannah blieb ruhig. Weiter, weiter. Und Niko sah sie wohl nicht. ,Mensch, Niko, komm zur Vernunft.' Ich hörte mich sprechen und war gleichzeitig von Entsetzen gelähmt, ,Du hast keine Ahnung von diesen Schweinen.` Er zeigte mit der Pistole nach unten. jetzt schieße ich.' ,Niko, ich hab deinen Brief ...'
,Halt's Maul, Tom.' Das war Niko. Er hatte die coole Kontrolle zurück. Wie lange noch? Er hielt den Finger am Abzug. ,Fünf ... vier ...' Kevin spannte seinen ganzen Körper wie zum Sprung. ,Tja, Kevin ... Da staunst du! Das hättest du mir nicht zugetraut, was?' ,Niko, stopp. Du bist wahnsinnig.' Ich musste dazwischen. Aber ich durfte keinen gefährden. ,Drei ... zwei ...', er versuchte, ruhig weiterzuzählen. Stotterte aber. ,Wir müssten doch zusammenhalten! Wen haben wir denn außer uns?' Meine Stimme. ,Niko, mach es nicht, du stürzt uns alle ins Verderben.' ,Halt's Maul`, schrie Niko wieder. Ich sprang vor, versuchte, Nikos Pistole zu packen. Aber Niko hielt sie fest umklammert. ,Eins`, zählte Niko. ,Eins`, zählte ich und schlug Niko mit einem gezielten Fußtritt von unten die Waffe aus der Hand. Die Pistole flog hoch, polterte über den Boden. Niko sprang hinterher, wollte schon danach greifen. Doch sie rutschte ihm aus der Hand und flog Kevin vor den Kopf. Die Pistole knallte Kevin gegen den Kopf, noch bevor ich sie zu fassen bekam, aber ich schnappte sie. Ich war stärker und schneller als Kevin. Niko lag am Boden neben Raphael. Schnell rappelte ich mich hoch. Ich hatte die Pistole fest in der Hand und wollte sie in meiner Hose verschwinden lassen. Da sprang Kevin vor, haute mir mit der Faust ins Gesicht und versuchte, sie mir wieder aus der Hand zu schlagen. Ich hielt die Waffe fest, wehrte Kevin ab. Boxte zurück. Kevin stürzte sich - aus seiner Erstarrung erwacht - auf Niko. In dem Augenblick war auch Raphael aufgesprungen. Zusammen machten sie sich über Niko her. Die beiden
droschen erbarmungslos mit den Fäusten auf Nikos Kopf ein, Kevin und Raphael. Hilfe! Ich war zu Boden gestürzt, hatte aber die Pistole. Trotz des Tumults konnte jeder erkennen, wer am brutalsten zuschlug. Ich spürte es: Kevin und Raphael ballerten ohne jede Hemmung auf Niko ein. Ich musste dazwischen. Sie ließen nicht von ihm ab. Sie waren erbarmungslos. Hilfe, Niko! Niko war bestimmt schon ohne Bewusstsein. Er hielt nicht einmal mehr die Hände schützend vors Gesicht. ,Aufhören!`, muss ich geschrien haben und warf mich nochmal dazwischen. Das wurde mir später erzählt. Ich habe es selber kaum mitbekommen. In dem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Polizisten stürmten die Klasse. Wer hatte die geholt? Sofort erkannten sie die Lage. Sie zerrten Raphael und Kevin hoch. Die wollten sich aus dem Staub machen, wurden aber mit eisernem Griff festgehalten. Klick, klick. Die Handschellen. Erst mal und sicherheitshalber in Gewahrsam. „ja, die da“, schrie Hannah von der Tür aus. Sie hatte die Polizei benachrichtigt. Offensichtlich war ihr die Flucht geglückt. ,Der war es. Wir waren es nicht', brüllten Kevin und Raphael und zeigten auf Niko. ,Das kennen wir', sagte einer der Polizisten sehr sachlich. ,Keiner war es.' Und Hannah sprang dazwischen und schrie: ,Die waren es, die beiden, die waren es immer, immer ...` Plötzlich schrien alle durcheinander. Als würde sich etwas lang Angestautes entladen. Tumultartige Szenen. ,Wo ist die Schusswaffe?', fragte ein Polizist. Ich lieferte die Pistole ab und kniete mich neben Niko, strich
ihm über die Stirn. Mein kleiner Bruder lag noch immer reglos am Boden. Aber der Notarzt war schon verständigt - in der Ferne war schon das Martinshorn zu hören. ,War Notwehr', sagte Kevin, während er gemeinsam mit Raphael abgeführt wurde. ,Klappe`, sagte ein anderer, ,Klappe, Alter!' Der Rest der Klasse musste bleiben, bis alle einzeln befragt und die Personalien aufgenommen waren. Auch die Lehrer, die geholt worden waren und fassungslos dastanden, mussten sich zur Verfügung halten. Sirenen, Krankenwagen. Ich fuhr wohl mit Niko ins Krankenhaus. Niko war bewusstlos. Er hatte einen schweren Schädelbruch erlitten, Rippenbrüche. Auch die Nase war hin. Ich blieb bei ihm, bis Mama kam. Louisa saß draußen auf dem Flur der Notaufnahme und weinte. Würde Niko je wieder die Augen aufschlagen? „Wir hatten riesige Angst." Das alles sagte Tom im Gericht. Man merkte dabei, wie er um seine Fassung rang. Und wäre ein paarmal an Tränen fast erstickt. Er wiederholte aber mit rauer Stimme: „Wir haben riesige Angst.” Der Vorsitzende Richter betritt den Gerichtssaal und begrüßt die Anwesenden, die sich erheben. Der Prozess gegen Reckschulte, Mahlmann, Schindel ist nach neun Verhandlungstagen abgeschlossen und endet mit der heutigen Urteilsverkündung. Der Richter streicht seine schwarze Robe glatt und blickt zu den Angeklagten hinüber. Dann zählt er ihre Namen auf und wiederholt die wesentlichen Anklagepunkte. Alle drei werden für schuldig befunden, den Schüler Niko Grasdorf über Jahre hinweg vorsätzlich gequält zu haben. Zwei von ihnen, Kevin
Reckschulte und Raphael Schindel, haben ihn darüber hinaus am Tag der Tat brutal zusammengeschlagen und schwer verletzt. „Wir haben uns in einer Reihe von Sitzungen angehört, was die Angeklagten selbst, deren Mitschüler, weitere Zeugen und Außenstehende dazu zu sagen hatten”, erklärt der Richter. „ Jede Überlegung, jedes Wort war wichtig für die Urteilsfindung. Vergessen wir nicht, es geht hier um die Schicksale junger Menschen.” . Kevin und Raphael werden zu zweijährigen Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt. Matthias wird ersatzweise eine Arbeitsauflage erteilt und eine Therapie verordnet. Es wird sich ein zweiter Prozess gegen Niko anschließen. Dabei geht es um unerlaubten Waffenbesitz und um die tätliche Bedrohung eines oder mehrerer Klassenkameraden als Reaktion auf jahrelange, zermürbende Quälereien. Niko ist inzwischen aus seinem Koma erwacht.
Ich lebe Als ich aus dem Koma erwachte, wurde ich zur besseren Heilung in einen neuerlichen, künstlichen Tiefschlaf versetzt. Wohl eine lange, bange Zeit für alle. Schließlich schien mein Kopf verheilt. Danach begann der holprige und langwierige Weg meiner Genesung. Ich weiß aus der Zeit fast nichts mehr, war eingeschlossen in Bewusstlosigkeit und in einem kleinen, kahlen Zimmer auf der Intensivstation, angeschlossen an Geräte, die Tag und Nacht meine Körperfunktionen unterstützten und überwachten. Als ich dann zum ersten Mal ein Auge öffnete daran erinnere ich mich verschwommen -, war Mama da. Mama hat geweint und mir über die Haare gestreichelt und immer wieder meinen Namen gesagt. Dann öffnete ich beide Augen, wurde wacher. Alle saßen um mich herum und begrüßten mich voll Freude im neuen Leben. Ich wusste überhaupt nicht, was los war, aber da war dieses kleine Gefühl, diese jubelnde Ahnung, dass da all diese Menschen da waren - für mich! Mein Leben hatte Saltos geschlagen. Erst zurück. Beinahe wäre ich gestorben. Dann gab sich das Leben einen Ruck und machte einen Salto vorwärts. Das war schon am Ende des Sommers. Mama flüsterte mir wohl immer wieder meinen Namen ins Ohr, rief mich. Papa strich mit der Hand über meine wehe Stirn. Fast wie früher. Die ersten Schritte im Zimmer mit Papa und der erste Ausflug zu den Enten im Park. Erste kurze Sätze. Da erinnere ich mich noch selber dran: „Bin ich im Krankenhaus?”, „Was ist passiert?” Die Erinnerung suchte sich langsam ihren Weg aus der Tiefe des Vergessens.
Hannah brachte mir Blumen. Halb weiß ich es noch, halb hat Hannah mir ihren Schmerz später, viel später erzählt. Blumen. Hannah. Ich reagierte nicht. Ich erkannte sie nicht oder wollte sie nicht erkennen. Hannah weinte. Tom versuchte, Hannah zu trösten. Sagte ihr, sie müsste Geduld haben. Tom verbrachte besonders viel Zeit bei mir. Er hatte sich Urlaub genommen. Extra für mich. Oft erzählte er mir Geschichten von früher, als ich noch ganz klein war und Louisa noch gar nicht auf der Welt. Ich lauschte. Allmählich, Schritt für Schritt, fügten sich die Puzzleteile wieder zusammen. Doch als Tom, im Hinblick auf den Prozess, vorsichtig versuchte, die Schulgeschichte zu rekonstruieren, ging ein Riss mitten durchs Bild. Da purzelten die Teile durcheinander, wirbelten in den Abgrund und hinterließen eine große Leere und Angst in mir. Tom sagte: „Niko, irgendwann müssen wir darüber reden. Aber es muss nicht jetzt gleich sein.” Er lächelte mich an. Und trotzdem hatte es wehgetan, dieses Thema zu berühren. Verdammt weh. In dem Augenblick öffnete Hannah die Tür. „XXL zwängt sich durch die Tür”, prustete ich los. So hab ich's in Erinnerung. Oh Mann. Ich ließ meine neu aufgebrochenen Verletzungen einfach an Hannah aus, schleuderte ihr meine Angst und Demütigung mitten ins Gesicht. Hannah machte die Tür von außen wieder zu und weinte. Das konnte ich hören. Es tat mir Leid. Aber ich konnte es noch nicht ausdrücken. „Das war gemein!”, sagte Tom. Ich schwieg ...
Ein Sozialarbeiter vom Allgemeinen Sozialen Dienst kam mich in der Klinik besuchen. Tom hatte Mama dazu gedrängt, endlich professionelle Hilfe anzunehmen. Es war nicht leicht gewesen, Mama zu diesem Schritt zu bewegen. Tom versprach sich vom Sozialdienst sowohl wirtschaftliche Unterstützung als auch Bewährungshilfe für mich, Erziehungsberatung für Mama sowie Hilfe bei der Arbeitssuche. Ganz schön hohe Erwartungen. Es kam also dieser Betreuer vom Sozialdienst, stellte sich mir vor, redete auf mich ein, stellte mir Fragen. Ich schwieg den Betreuer nur an, die Ohren auf Durchzug gestellt. Irgendwie war es ein gutes Gefühl, dass sich so viele Leute um mich kümmerten, aber gleichzeitig war es mir zu viel. In mir stieg eine ungeheure Wut hoch. Was wollten die alle in meinem Leben? Bisher war ich auch allein durchgeschwommen. Ich warf ihn - und alle anderen - aus meinem Zimmer und starrte an die Decke. Doch sie schlichen sich von hinten wieder an. „Ich will hier raus!”, schrie ich. „Ich will meine Ruhe haben vor euch allen. Ich will Computer spielen.” „Trotzdem”, sagte Hannah und saß doch wieder an meinem Bett. Sie hielt aus und versuchte, mich von der Wichtigkeit einer fachkundigen Betreuung zu überzeugen. Meine weise Hannah. Meine liebe Hannah. Und sie nahm meinen wehen Kopf zwischen ihre Hände, schaute mir in die Augen und küsste mich. Irgendwann hab ich mich dann wieder gefangen. So weit. Doch eine wabbelige Dauerangst pochte zwischen dem Tuckern und Blinken der Geräte in meinen Schläfen. Unser Sozialarbeiter hieß Hermann und war Ende 30, wenige Jahre jünger als Papa. Hermann erklärte mir ruhig, dass wir
ganz langsam und behutsam vorgehen wollten. Schritt für Schritt. Und er erzählte mir die Geschichte vom Straßenfeger in Momo, der sagt, dass man immer nur bis zur nächsten Kurve fegen könne und dann weitersehen müsse. Man habe manchmal eine sehr lange Straße vor sich - so unendlich lang, dass man schon denkt, das könne man niemals schaffen. Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken. Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Dann kommt man voran. Und dann macht es Freude. Und irgendwann schaut man hoch und hat es geschafft. Ich sah demonstrativ aus dem Fenster. So, so, ich soll mir also nicht zu viel auf einmal vornehmen. „Ich nehme mir gar nichts vor”, rief ich, „überhaupt gar nichts! Vor allem nicht mit dir!” Dabei starrte ich auf den klinisch reinen Fußboden. Puh, strengte dieser Hermann mich an, machte mir der einen Stress. Kam mir nah. Was pfuschte der in meinem Leben rum? „Wir müssen dieses Garnichts in einen Lebensplan verwandeln”, fuhr Hermann ungerührt fort. Den Plan würde er mit mir zusammen machen. Aber das Fegen bis zur Kurve müsse ich allein erledigen, stellte er sachlich fest. Recht hatte er, Klugscheißer. Da wäre ich ja im Leben nicht drauf gekommen!
Da wischte die Reinigungsfrau durch den Raum und hinterließ diese unnachahmliche Wolke steriler Sauberkeit. „Deine albernen Straßenfeger-Vergleiche kannst du dir sparen!”, schrie ich. Hermann ging. Aber er kam wieder und gewann langsam, langsam mein Vertrauen. Mama setzte sich an mein Bett und erzählte, dass Hermann Brinkmann auch mit ihr, Louisa und Tom Gespräche führte. Dass er beim Sozialamt finanzielle Unterstützung für sie beantragt habe und dass er dabei sei, mit ihr einen Haushaltsplan zu erstellen. „Aha”, murmelte ich böse. „Ein Lebensplan für mich, ein Haushaltsplan für dich. Originell.” Aber Mama ließ sich nicht von meiner schlechten Laune abschrecken. „Ich bin jedenfalls sehr froh, dass Hermann da ist und uns hilft. Das war wirklich eine tolle Idee von Tom, mich dazu zu überreden.” Klar, Tom, der Tolle, der immer alles besser wusste. Blödmann. In mir kam wieder die alte Tomwut hoch. „Ja, der tolle Tom ist dir schon eine große Hilfe”, sagte ich bissig zu Mama, „macht dir nie Sorgen - nicht so wie ich, das Problemkind.” Ich gefiel mir in der Rolle. Mama überging das ziemlich cool. Da stieg eine kleine, krabbelnde Bewunderung in mir hoch. Mama konnte endlich Hilfe von außen akzeptieren. Und was war mit mir? Ich sah aus dem Fenster, wenn Hermann mit mir sprach. Dabei freute ich mich fast schon, wenn er mich besuchte. Ich konnte es mir nur noch nicht eingestehen. Stattdessen ignorierte ich ihn. Der wollte einfach zu viel. Der kam zu oft. Der mischte sich überall ein!
Aber mein Widerstand bröckelte schon in meinem Kopf. Da kam ein Brief vom Gericht. Plötzlich stand eine neue Angst im Zimmer: die Angst vor dem Gerichtsprozess. Sie schnürte mich zu. Doch ich fegte sie vom Tisch. Und als sich danach ganz langsam die Tür öffnete und meine liebe kleine Schwester hereinkam, lächelte ich schon wieder. Louisa brachte mir ein selbst gemachtes Bilderbuch. Sterntaler stand vorne drauf. Sie hatte zu dem alten Märchen wunderschöne Bilder gemalt: in Dunkelblau mit dem silbernen Mond darauf. „Das ist mein allerliebstes Märchen”, erklärte sie. „Liest du's mir mal vor?” Dabei kannte sie es in- und auswendig, denn sie hatte das ganze Sterntalerbuch zu den Bildern mit der Hand abgeschrieben. Aber für Louisa tat ich fast alles. Ich las. Hermann sprach nicht mehr vom Straßenfeger und brachte auch keinen Besen mit. Stattdessen entrollte er den neuen Lebensplan für mich. Ich konnte nicht anders, als gebannt auf das Blatt zu starren, auf dem er alles zusammengeschrieben hatte - inklusive Schulwechsel und bevorstehendem Gerichtsprozess. Zusammen mit meiner Familie hatte er den Plan entwickelt. Auch mit Papa, der jetzt immer öfter kam. Als Hermann den Prozess erwähnte, schrie ich dennoch auf: „Ohne mich. Die anderen sind schuld daran, dass das passiert ist.” Die Angst hatte mich wieder überfallen. Da packte Hermann mich an den Schultern, sah mir in die Augen und sagte: „Du bist kein Kind mehr, Niko, und sehr wohl verantwortlich. Aber ich bin auch da. Und deine Familie ist für dich da.” Er meinte, ich würde, wenn
überhaupt, nur eine milde Strafe bekommen. Schließlich sei ich mit meinen lebensgefährlichen Verletzungen, mit Schädelbruch und Koma, schon genug bestraft. Und meine eigene Tat sei ja, Gott sei Dank, nicht zur Ausführung gekommen. „Ich glaube, wir schaffen's”, sagte Mama zuversichtlich, als sie mich am selben Abend besuchen kam. „Du schaffst das, Niko.” Das war wichtig, dass Mama so an mich glaubte. Von da an konnte ich mich endgültig auf meine eigenen Beine stellen. Und ich bestimmte, wohin ich ging, wenn auch der Rahmen gemeinsam abgesteckt wurde. Da war es schon Herbst. Blutrote Blätter. Und Hannah stand mit mir am Fenster, und wir schauten zusammen ins Abendrot. Ich wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Im Triumphzug nach Hause, wo es Stachelbeertorte mit Baiser gab, meine Lieblingstorte. Doch in meinem alten Zimmer kam prompt die alte Angst wieder hoch. Die saß hier noch in allen Ritzen und schlug aus dem Hinterhalt zu. Peng! Tom tauschte das Zimmer mit mir. So blieb die Erinnerung gebannt und konnte mir nicht mehr so leicht gefährlich werden. Das hoffte ich und hofften alle. Außerdem war nun Hermann da. Ich lernte - langsam, langsam -, über meine Ängste und Verletzungen zu sprechen. Es zuzugeben, wenn mich etwas bedrückte. Und damit waren viele Probleme fast schon gelöst. Das musste ich wirklich erstaunt feststellen. Ich begann umzudenken. Allmählich begriff ich, dass es nicht darauf ankam, cool zu sein, wie ich das von Raphael, Kevin und den anderen kannte. Dass man kein Weichei war, wenn
man Schwäche zeigte und sich zu Fehlern bekannte. Ich merkte: Oft tat es sogar gut. Weil es innen nicht stach und nicht so drängelig eng wurde im Bauch. Louisa merkte, dass ich Angst hatte, und umarmte mich kurz. Denn im Wohnzimmer saßen schon der Anwalt und der Jugendgerichtshelfer, um sich zu informieren und für den Prozess vorzubereiten. Der Sozialarbeiter ließ sich von Hermann beraten, der mich ja schon kannte und mit unseren familiären Verhältnissen vertraut war. Ich saß im Sessel und versuchte, mich zu erinnern und die Fragen des Anwalts so wahrheitsgemäß wie möglich zu beantworten. Dann kam der Tag, an dem das Gerichtsverfahren gegen mich eröffnet wurde. Die Anklage lautete auf unerlaubten Waffenbesitz und tätliche Bedrohung eines oder mehrerer Mitschüler. Dass ich als Angeklagter dabei selbst schwer verletzt worden war, wurde als Strafausgleich gewertet. Zu den mildernden Umständen zählten auch die jahrelangen Quälereien. Ich wurde dazu verurteilt, mich einem Sozialtraining zum Wiederaufbau meines Selbstbewusstseins zu unterziehen. Klang ja hochgestochen - aber war wohl keine schlimme Strafe. Etwas skeptisch war ich, ehrlich gesagt, vorher schon gewesen. Außerdem sollte Hermann, der bei der Verhandlung dabei war, mich dabei unterstützen, in der neuen Schule und mit meiner Familie zurechtzukommen. Hermann übernahm damit die Rolle des vom Gericht eingesetzten Jugendgerichtshelfers. Irgendwie ganz gut und irgendwie bescheuert. Oder? Alle meinten, mir in mein Leben reinreden zu müssen. Dabei sollte ich Selbstbewusstsein aufbauen. Tolle Idee. Ich bäumte mich auf, war wütend.
Aber da war ich schon mittendrin in meinem neuen Leben. Neue Schule, ein Nachhilfelehrer, Hermann, Papa und Mama. Der Strudel riss mich einfach mit. Mama und Papa hatten nach dem Prozess lange Gespräche geführt und beschlossen, dass er wieder hierher zurückziehen würde. Zunächst einmal zurück in unsere Stadt. Papa würde sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen müssen, genau wie Mama. Aber so konnte er sich wieder um uns kümmern. Ich lernte meinen Vater jetzt endlich richtig kennen. Und ich wusste: Papa war nicht der große, starke Held und auch kein Porschefahrer. Papa war Papa, und er war für mich da, und nur das war wichtig. Oft liefen wir durch die Stadt, und er erzählte mir von seinem Beruf, von seinen Erfolgen und Enttäuschungen - oder von früher, das mochte ich am liebsten. Wenn wir müde waren, setzten wir uns auf eine Bank und ließen die Zeit verrinnen. Das war gut, einfach miteinander zu sein. „Komm”, sagte Papa eines Tages, „ich zeige dir meine neue Wohnung.” Die Wohnung war klein, aber gemütlich. Mir wurde es ganz warm, als ich sah, wie stolz er auf seine Wohnung war. Aber manchmal hatte ich auch noch Wut auf Papa. Warum war er weggegangen? Warum hatte er sich verdrückt? Mama war geblieben. Immer. Immer. Alles war so anders. Auch die Schule, die neue Klasse. Dabei waren Hannah und Matthias auch dort. Beide hatten mit mir die Schule gewechselt, obwohl Kevin und Raphael ja im Gefängnis saßen, von ihnen also keine Gefahr mehr drohte. Die neuen Mitschüler starrten mich mit einem Gemisch aus Neugierde und Unsicherheit an. Ihre Augen fragten: Bist du
der Amokläufer? Bist du der, der in allen Zeitungen gestanden hat? Und wann zielst du auf uns? Oft fühlte ich mich unwohl, konnte es kaum aushalten. Dann stiegen Wut und Angst in mir auf. Ich kämpfte auch mit dem Unterrichtsstoff. Ich hatte schließlich fast ein halbes Jahr gefehlt und vorher ständig geschwänzt. „Bei deiner Begabung wirst du es schaffen”, hatte der neue Direktor gesagt. Und wenn nicht, müsste ich das Jahr eben wiederholen. Ja, danke! Ein pensionierter Lehrer, der sich freiwillig gemeldet hatte, gab mir Nachhilfe. Herr Münter war nett - und sehr geduldig. Ich ging gerne zu ihm. Die engen Treppen hinauf bis in die Dachwohnung, knarrende Dielen, meterweise und überall Bücher. In Mathe holte ich schnell auf, aber in Englisch, Herrn Münters Lieblingsfach, wollte und wollte es nicht vorangehen. Hannah half mir auch bei den Hausaufgaben. Sie kam immer öfter. Und wurde immer sehnlicher von mir erwartet. Ihr XXL-Busen war nur noch L. Ihr zartes Gesicht war noch schöner. Wir lernten, wir alberten und lachten, und wir küssten uns. Da sagte ich ihr: „Du hast ein XL-Außen und ein XXL-Herz. Deswegen mag ich dich.” Aber da waren schon Monate vergangen, und ich war 15. Doch plötzlich war ich wieder zerstreut und fahrig. Die Versetzung stand an. Ich wusste, dass ich mit einer Zwei in Mathe und Deutsch die ewige Fünf in Englisch aus-gleichen könnte. Aber ich hatte eine Eins in Mathe und nur ein Drei in Deutsch. Das galt nicht, auch wenn es mathematisch auf dasselbe hinauslief.
Ich rannte sogar gegen Glastüren, ließ meine Jacke in der Schule hängen, hatte Glück, wenn ich nach dem Sport zwei gleiche Schuhe an den Füßen hatte. „Niko, was ist denn mit dir los?”, sagte Mama und wollte mir über die Haare streichen. Doch ich schlug ihre Hand weg und schrie nur „Scheiße” und rannte nach oben in mein Zimmer. Kurz darauf sprach mich Herr Tobler, mein neuer Deutschlehrer, auf dem Flur an. „Kann ich nach der Stunde mal mit dir sprechen?” „Klar”, sagte ich locker, obwohl mir sofort das Herz in die Hose rutschte. Wenn Tobler mir jetzt sagen würde, dass alles doch keinen Zweck mehr hatte? Wenn der mich schmeißen wollte? Geglänzt hatte ich nun wahrlich nicht bei ihm. Ach verdammt, hätte ich mich nur etwas mehr angestrengt! Ich stürzte ab in eine tiefe Schlucht. Die ganze Stunde lang saß ich nur an meinem Platz, bekam kein einziges Wort mit und spürte, wie sich mein Magen zu einem harten Klumpen zusammenballte. Da stand Tobler auch schon vor mir. „Wir wollten doch sprechen”, sagte er. Ich blickte hoch, wich seinem Blick aus und traf genau Hannahs Augen. Sie lächelte mir aufmunternd zu. Aber da waren Tobler und ich schon mitten im Gespräch, und ich hatte schon Ja gesagt. Ich hatte Ja gesagt zu etwas, was ich schreiben sollte. Über mich, über mein früheres Leben, über meine alte Klasse, vielleicht. „Egal, was, aber von dir soll es sein. Dann kann ich dir eine Zwei geben in Deutsch, und du bist versetzt. In Anbetracht der besonderen Umstände.” Etwas schreiben ... Puh!
Ich erzählte es Hannah. Etwas schreiben ... Aber was? Es war absolute Öde in meinem Kopf, Black-out. Und ein seltsames Untergangsgefühl. Nämlich das Gefühl, niemals etwas schreiben zu können. Da hatte ich nachts plötzlich die Idee, an Lea zu schreiben. Ob sie noch lebte? Ich wusste es nicht. Ich schrieb. Ich bekam keine Antwort. Ich schrieb wieder. Die Antwort blieb aus. Wo waren die alle? Zusammen mit Hannah setzte ich einen Aufruf in die Suizidforen: Ich lebe noch. Melde dich bei mir, Lea! Niko. Der Aufruf verhallte. Wo? Vielleicht da, wo Lea jetzt war. Doch Tom war auch noch da. Tom bot mir an, beim Schreiben zu helfen. Da brüllte ich zurück: „Du heiliger Schleimscheißer ...” Die Tür knallte. Gerade als ich die Musik in meinem Zimmer voll aufdrehen wollte, hörte ich lautes Schluchzen. Ich ging hinüber. Tom lag auf seinem Bett und heulte. Ich war fassungslos. Dass Tom weinen konnte. Kopfschüttelnd, ratlos verließ ich das Zimmer wieder. Da kam gerade Hermann. „Tom weint. Was hat der?”, fragte ich verwirrt. „Seine Moni hat sich doch vor zwei Wochen von ihm getrennt. Sie ist jetzt mit seinem Freund Christoph zusammen. Hat er dir das nicht erzählt?” Ich erschrak und dachte nach. „Er hat's wahrscheinlich versucht”, murmelte ich. Wie oft hatte Tom mir wohl etwas erzählen wollen, und ich war immer nur mit mir selbst beschäftigt gewesen? Wie viel wusste ich eigentlich von Tom? Oder wie wenig? Ich gab mir einen Ruck. Zusammen mit Hermann ging ich wieder hinein zu meinem Bruder.
„Tut mir Leid, Tom.” Da brach es aus Tom heraus. „Ich kann dein ewiges Gejammer nicht mehr ertragen”, sagte er. „Okay, du hattest es schwer. Aber ich verflixt nochmal auch. Moni ist weg. Ich versuche, damit fertig zu werden. Hermann macht uns die Kasse. Mama braucht mich. Louisa spaziert trotz allem lachend durchs Leben. Papa reißt sich ein Bein aus für dich”, sagte er bitter. „Und dann das. Moni war meine ganze Kraft, alles, was mir blieb, nachdem ich mein Studium erst mal für dich gekippt hatte.” Tom wischte sich die Tränen ab. „Wir hätten dich ja auch einfach in ein Heim stecken können dann hätte ich in Ruhe studieren können.” Tom schaute mich fast feindselig an: „Übernimm endlich Verantwortung! Verdammt nochmal. Du bist doch nicht schwächer als wir!” Tom schnüffelte, leckte sich den Rotz von der Lippe. Ich fühlte mich wie ein Seiltänzer auf einem schwankenden Seil. Sie alle hatten bis jetzt Sicherheitsnetze ausgespannt gehabt für mich. Auch er, Tom. Jetzt eben war Toms Netz gerissen. Ich taumelte, aber fing mich. Ich musste mein Leben ab jetzt selbst in die Hände nehmen. „Wir haben doch nur uns”, sagte Tom fast flehend, „und wenn wir uns dann noch nicht mal mehr merken.” Da weinte ich. „Ja.” Hermann legte den Arm um mich. „Dein Bruder ist ja auch erst 19 und genauso verletzlich wie du. Aber du erwartest von allen immer nur Verständnis für dich. Deinetwegen hat Tom sein Medizinstudium auf unbestimmte Zeit aufgeschoben. Und jetzt hat er eine große, schmerzliche Enttäuschung erlebt. Liebeskummer, weißt du überhaupt, was das heißt? Und du klagst über die Ungerechtigkeit des Schicksals und badest in deinem Selbstmitleid." Das saß. Peng.
Ich streckte die Hand aus. Und dann umarmten wir uns. Und Tom schüttete mir, dem Jüngeren, sein Herz aus, und ich tröstete meinen älteren Bruder. Es war für uns beide wie eine Befreiung. Hermann verabschiedete sich langsam aus unserem Leben. Er kam jetzt nur noch 14-tägig. Dafür kam Hannah immer öfter. Ich machte Tee, wir lernten zusammen in meinem Zimmer. Wir küssten uns, schmusten ein bisschen, dann mussten wir plötzlich lachen, und Hannah hauchte: „Ja.” In einem dieser zärtlichen Momente riss Tom plötzlich die Tür auf und rief: „Raphael hat sich erhängt.” Raphael hatte sich als Einziger der Angeklagten nicht bei mir entschuldigen wollen. Doch Raphael hatte einen Brief hinterlassen. Einen Brief an mich! Es tut mir Leid, Niko. Andere verprügeln, ihnen Angst machen, das war das Einzige, was ich konnte. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin vom Regen in die Traufe gekommen. Sie machen mich hier im Gefängnis fertig, wie ich das noch nie erlebt habe. Ich muss dabei oft an dich denken. War das auch so schlimm? Die Angst. Immer die Angst. Und außerdem: Was haben Menschen wie ich denn für eine Zukunft? Gar keine. Bleib, wie du bist, Niko. Raphael
Es war der einzige Abschiedsbrief, den Raphael hinterlassen hatte. Wie viel wusste man von einem anderen Menschen? Raphaels Eltern hatten ihn geschlagen, und wenn sie tranken, schlugen sie ihn noch mehr. Das hatten alle in der Klasse gewusst. Aber Raphael hatte es angeblich weggesteckt und seine Aggressionen an anderen ausgelassen. Wie es wirklich in ihm aussah, danach hatte keiner gefragt. Er auch nicht. Jeder hatte sein Innendrin und sein Außen. Und selten deckten sich das Innen und das Außen, sodass es ein ständiges Versteckspiel war, auch jedes Einzelnen vor sich selbst. Raphael, der coole Raphael, der immer neue Ideen gehabt hatte, wie sie mich quälen konnten, war im Gefängnis schließlich selbst gequält worden. Die Grenze des Erträglichen war für ihn überschritten gewesen. Und jetzt, ganz plötzlich, merkte ich, war das nicht mehr nur eine Angelegenheit von uns unmittelbar Betroffenen. Ich wusste auf einmal, dass es ganz viele Jungen gab, die vielleicht auch einen Hermann brauchten, der mit ihnen einen Lebensplan machte. Oder einen Papa, der sich kümmerte. Jungen, die sich nach Liebe und Verständnis sehnten. Jungen, die die Welt hassten, weil sie nie, niemals Liebe bekommen hatten. Diesen Jungen konnte man irgendwann nicht mehr sagen, dass es auch viel Gutes in der Welt gab, denn die würden sich totlachen. Es musste doch Hilfe geben auch für die. Jemand musste es denen doch sagen, bevor es zu spät war. „Schreib alles auf”, meinte Hermann. „Aufschreiben? Ich? Ich weiß nicht ...” Ich hatte mich bis jetzt erfolgreich gesperrt. „Wenn nicht du - du bist einer von den Jungs -, wer soll es
dann tun?” Das saß. Ja, ich musste es tun für die alle. Ich allein konnte es. Ich war einer von diesen Jungen. Und plötzlich wusste ich, was Tobler, mein Deutschlehrer, gemeint hatte, als er sagte: „Schreib es auf.” Und er hatte Recht damit gehabt. Auch Hannah wollte noch etwas dazu sagen, sie zog mich am Ärmel: „Sag ihnen auch: ,Es gibt eine Menge Gutes auf der Welt.` " Ich nickte und erzählte: „Ich sag ihnen auch, dass einer, der Opfer und Sklave war, stark werden kann. Ich sag ihnen, dass sie verdammt nochmal Hilfe annehmen müssen, auch wenn sie noch so harte und starke Jungs sind.” Auf einmal war mir alles völlig klar. Vielleicht würden die Menschen dann besser verstehen, warum einer zum Amokläufer wurde. Dass er an nichts mehr glaubte - am wenigsten an sich selbst. Und ich fuhr meinen Computer hoch und schrieb:
„Ich schieße ... nicht!"
Danksagung Danken möchte ich all denen, ohne deren Unterstützung und aktive Hilfe ich dieses Buch nicht hätte schreiben können. Besonders danken möchte ich meinem Mann, Peter Sandmann, für sein liebevolles Dasein, Zuhören und Stellungnehmen beim langsamen Entstehen des Buches. Meiner Tochter, Dr. Anne Bischoff, und Herrn Dr. Klaus Hoffmann, Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover, für umfassende Informationen, Anregungen, Ergänzungen, Diskussionen und immer neues Korrekturlesen. Ich danke Ingrid Weixelbaumer, die mit ihrer großen Kompetenz die Textentstehung mit vorantrieb, den Text präzisierte und bearbeitete. Inge Pustlauk und Ingo Frödrich danke ich für das Schreiben, Ergänzen, für unermüdliche Textkorrekturen und Formulierungsanregungen. Christine Hagemann und Renate Brewing erstellen dankenswerterweise zu diesem Buch ein Unterrichtskonzept. Viele bleiben unerwähnt. Viele, die ich fragen konnte, die gelesen und gegengelesen haben ... Ich danke allen.
Elisabeth Zöller Elisabeth Zöller wurde 1945 in Brilon geboren und studierte Deutsch, Pädagogik, Kunstgeschichte und Französisch in München, Lausanne und Münster. Danach war sie viele Jahre als Gymnasiallehrerin tätig, bevor sie 1989 freie Schriftstellerin wurde und sich vor allem mit Büchern gegen Gewalt einen Namen machte. Ein gewaltfreies Miteinanderlernen und -leben ist ihr ein großes Anliegen dafür engagiert sie sich auf Lehrerfortbildungen, Elternabenden und bei Lesungen für Kinder und Jugendliche. Elisabeth Zöller lebt heute mit ihrem Mann in Münster.
ENDE