Maddrax Band 85
Getrennte Wege von Ronald M. Hahn
Im Norden braute sich etwas zusammen. Sturmvögel kreischten über de...
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Maddrax Band 85
Getrennte Wege von Ronald M. Hahn
Im Norden braute sich etwas zusammen. Sturmvögel kreischten über den dunklen Wassern der Bucht. Die bleiche Sichel des Mondes lugte nur selten durch die Wolken. Die von vier struppigen Yakks gezogene Kutsche des Mannes, den Romanow nur als »Nummer Zwei« kannte, bog knarrend von der Küstenstraße ab. Jimi Romanow musterte sein Gegenüber. Er konnte eine gewisse Faszination nicht verhehlen, auch wenn er das Gesicht des Mannes kaum sah. Nummer Zwei trug einen schwarzen Schlapphut und einen weiten Umhang gleicher Farbe. Sein Gesicht wurde von einer Maske verborgen, die gerade mal den Mund frei ließ. Sein Kinn war von einem schwarzen Bart bedeckt. Romanow kannte den Mann erst seit einigen Stunden. Sein Name war ihm unbekannt, aber er war ein Ketzer, daran gab es keinen Zweifel. Sein durchdringender Blick machte Romanow Angst. Ahnt er etwas? Ist es eine Falle? * WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den
Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Es war Matthew Drax seit langem klar: Die Antworten darauf, was mit der Erde und der Menschheit in den letzten 500 Jahren geschehen ist, liegen im Kratersee. Trotz aller Bemühungen kommt ihm aber die Expedition des Weltrats (der neuen US-Regierung) zuvor - und scheitert! Lynne Crow und der irre Professor Dr. Jacob Smythe tauchen zum Kometen hinab... seither gelten sie als verschollen. Trotzdem wagt auch Matts Gruppe den Vorstoß. Bei der Bergung eines der grünen Kristalle aus dem Kometen wird der Hydrit Mer'ol gefangen. Quart'ol, ein zweiter Hydrit, nimmt telepathischen Kontakt mit dem Kristall auf. Nun erfahren sie, dass das außerirdische Volk der Daa'muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutationen der Tier- und Pflanzenwelt einen Organismus zu erschaffen, in den ihre körperlosen Geister schlüpfen können. Auch die Degeneration der Menschheit über Jahrhunderte und ihre anschließende Reorganisation diente diesem Zweck. Jener Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung - just in dem Moment, als Matt in einer Bruthöhle unbeabsichtigt eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als Feind höchster Priorität und hetzen ihm die Mutanten auf den Hals, die rund um den Kratersee leben. Den Freunden -Matt, der Telepathin Aruula, dem Astrophysiker David McKenzie,
dem Cyborg Aiko, dem Neo-Barbaren Rulfan und seinem Lupa Wulf, den Rebellen Mr. Black und Honeybutt Hardy und dem Barbaren Pieroo - bleibt nur die Flucht in einem russischen Expeditionspanzer. Quart'ol bleibt zurück, um nach Mer'ol zu suchen. Zwei weitere Mitglieder der Gruppe, die WCA-Überläufer Jed Stuart und Majela Ncombe sind schon vorher allein losgezogen. Sie alle wollen versuchen, die Welt vor den Daa'muren zu warnen. Doch Pieroo ist strahlenkrank, und als sich sein Zustand verschlechtert, fahren er, Aiko und Honeybutt mit dem Beiwagen des ARET voraus, um ihn in einem Bunker behandelt zu lassen. Unterwegs stoßen sie auf Jed und Majela, die von Parasiten festgehalten werden, denen sie als Nahrung dienen. Pieroos verseuchtem Blut ist es zu verdanken, dass sie alle freikommen... * »Dauert es noch lange?« Es überraschte Romanow, wie heiser seine Stimme klang. Hoffentlich verriet sie nicht seine insgeheime Furcht. Er war nur ein kleiner Popen-Agent der Staatskirche. Er stammte aus der Provinz und war mit den politischen Intrigen in der Hauptstadt nicht sehr vertraut. Nummer Zwei zuckte zusammen. Seine Antwort kam so leise, dass Romanow sich bemühen musste, sie zu verstehen. »Wir sind gleich da.« Seine Augen glitzerten. Romanow dachte an die lauwarme Nacht vor zwei Wochen: Ein Fremder hatte ihn angesprochen und sich nach seinen Ansichten erkundigt. Zuvor hatte Romanow die Kühnheit besessen, sich in einer Runde verschlagen wirkender Subjekte gegen die Herrschaft Ihrer Eminenz auszusprechen. Er hatte lange arbeiten müssen, bis es ihm gelungen war, in die städtische Unterwelt einzusickern. Und natürlich hatte er seine ketzerischen Aussagen mit Zustimmung der Metropolitin gemacht. Irgendwann waren seine Worte, wie vorausberechnet, an die richtigen Ohren gedrungen.
»Der Tag der Revolte ist nahe«, fuhr Nummer Zwei fort. »Heute werde ich Sie unserer Organisation vorstellen.« Er lachte leise. »Sie werden einigen Menschen begegnen, von denen Sie in Ihren kühnsten Träumen nicht vermutet haben, dass sie auf unserer Seite sind.« Ja, um sie zu entlarven, bin ich hier. Trotzdem konnte Romanow nicht verhindern, dass seine Nackenhaare sich sträubten. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, die Zähne zusammenzubeißen. Sie durften nicht klappern. Er hatte eine Mission. Ihn schauderte bei dem Gedanken, unter den Ketzern Personen zu begegnen, die das Vertrauen Ihrer Eminenz genossen. Die Herrin von Nydda wusste seit geraumer Zeit, dass unbekannte Kräfte an ihrem Sturz arbeiteten. Gerüchte sprachen von einem Kult und blasphemischen nächtlichen Zusammenrottungen auf dem Lande. Doch Romanow konnte sich nicht vorstellen, dass Verschwörer irgendwelchen Gottheiten Opfer darbrachten. Umstürzler standen in der Regel mit beiden Beinen im Leben, und Politniks glaubten ohnehin nicht an die Existenz höherer Wesen. Wahrscheinlich betrafen die Gerüchte nur den üblichen Mummenschanz, der dazu diente, die wahren Absichten der Ketzer zu verschleiern. Nummer Zwei, Romanow zweifelte nicht daran, war eindeutig ein Politnik. Als er aus dem Kutschenfenster blickte, erblickte er in der Ferne die Türme einer Festung. Romanow hatte schon von dem alten Gemäuer gehört. Es lag nördlich von Nydda. Vor vierundachtzig Jahren, kurz nach der Ära der Eisigen Zeit, hatten die Myschkins es bewohnt. Sie stammten in direkter Linie von den Gaspromisten ab. In einer wüsten Schlacht um die Macht hatte der Metropolit Oleg Myschkin das Reich an die Urgroßmutter Ihrer Eminenz verloren. Die Kutsche hielt plötzlich an. Die Yakks blökten. Romanow hörte genagelte Stiefel auf steinigem Boden, dann tauchte das bärtige Gesicht des Kutschers an dem Fenster auf, wo Nummer Zwei saß. Er war ein finsterer Kerl und
ebenfalls schwarz gekleidet und maskiert. Ein narbiges Kinn war alles, was man von seiner Visage sah. »Ein Steinschlag versperrt den Weg, gnädiger Herr«, sagte er mit grollender Stimme. »Ich bitte untertänigst darum, dass Sie den Rest der Strecke zu Fuß gehen.« Nummer Zwei grunzte ungehalten. Dann nickte er, stand auf und öffnete den Wagenschlag. Jimi Romanow folgte ihm hinaus. Als er im Dunkeln stand und zu den Sternen hinauf schaute, musste er sich unweigerlich schütteln. Er war kein Held. Er war nur hier, weil Ihre Eminenz ihn berufen hatte. Sie hatte gemeint, einem Provinzler wie ihm müsse es leichter fallen, die Verschwörer zu Infiltrieren. Ihre Eminenz war eine kluge Frau. Romanow zweifelte nicht an ihren Fähigkeiten. Aber was war mit den in ihrem Sold stehenden Schergen? Lauerten sie, wie versprochen, wirklich überall hier in der Finsternis und überwachten seine Schritte, um ihn notfalls herauszuhauen? Wind kam auf. Nummer Zwei überquerte mit wehendem Umhang die Steine, die rechts von ihnen von einem Hang herabgerollt waren. Romanow folgte ihm mit einem stummen Seufzer. Seine Stiefelsohlen scharrten über Granit. Er erklomm den Hang und geriet ins Schwitzen. Nummer Zwei war nicht jünger als er, aber er ging mit federnden Schritten und ohne Mühe voran. Romanow folgte ihm mit pochenden Schläfen. Als der Hang zu Ende war, wurde die Landschaft eben. Sie gingen über eine Wiese und durchquerten einen kleinen Wald. Irgendwann ragten die dunklen Mauern der Festung vor ihnen auf. Quadersteine. Finstere Türme mit glotzenden Fensterhöhlen. Schwarze Vögel kreisten krächzend über dem Gelände. Romanow erspähte einen Torbogen. Zwei Gestalten in schwarzen Umhängen erwarteten sie. Sie waren maskiert und verneigten sich vor Nummer Zwei. Als sie ihm den Mittelfinger zeigten, war Romanow zuerst schockiert, aber irgendwie hatte er obszöne Gesten erwartet. Geheimbündler pflegten nun mal abscheuliche Zeremonien.
Wenn dieser Orden nach antiken Vorbildern funktionierte, kam er ohne solche Zeichen vermutlich nicht aus. »Nummer Drei und Nummer Vier«, stellte Nummer Zwei die Maskierten vor. Romanow betastete nervös die Maske, die sein eigenes Gesicht verdeckte, und murmelte die ihm zugewiesene Nummer: Hundertzehn. Die Augen der Männer am Tor blitzten auf. Sie freuten sich über den Neuzugang. Dann gaben sie den Weg frei. Romanow folgte Nummer Zwei durch das Tor und betrat den Hof der alten Festung. Eine etwa hundert Köpfe starke Menge hatte sich dort versammelt. Fackeln erhellten das Terrain. Sie steckten an den Mauern in dicken Eisenringen. Als die maskierten Männer und Frauen Romanow sahen, steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Alle trugen schwarze Umhänge, auch die Frauen. Jimi Romanow nahm sie unauffällig in Augenschein. Die Eleganz, mit der sie sich bewegten, verriet ihm, dass sie zur wohlhabenden Klasse gehörten. Es war erschreckend. Besonders erstaunte ihn, dass sie sich so lasziv bewegten, dass sie den Ryzzen Konkurrenz machen konnten, die nachts in den Gassen von Nydda ihren Lebensunterhalt verdienten. Womöglich wirkte die Maskierung wie ein Aphrodisiakum auf sie: In der Anonymität konnte niemand sie erkennen. Vielleicht lebten sie in ihrer Maskerade noch manch andere Gelüste aus. Die meisten Frauen achteten darauf, dem Neuling nicht nahe zu kommen. Dennoch war es Romanow möglich, drei der Damen trotz der Maskierung zu erkennen: die Apothekerin an der blasierten Stellung ihrer Lippen, die Gattin des Uhrmachers an ihrem provozierenden Hüftschwung und die Tochter des Zweiten Bürgermeisters an ihrem ausladenden Busen. Nummer Zwei bedeutete Romanow zu warten. Dann schritt er durch die Reihen der Verschwörer, die ihn ehrerbietig begrüßten, und verschwand in der Ruine des Haupthauses. Romanow nutzte die Zeit zu einer ausgiebigen Umschau und
beobachtete einige Gestalten, die in der Hofmitte eine Art Altar bewachten und ihn mit Argusaugen musterten. Sein Herz pochte aufgeregt. Angst wogte in seinem Herzen auf. Was würde passieren, wenn ihn jemand als Spitzel enttarnte? Sein Blick schweifte über die Maskierten. Sie standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich leise. Dann ein Trommelwirbel. Zwei maskierte Frauen mit Stulpenstiefeln und Säbeln öffneten das Portal des Herrenhauses. Ein dämonisch aussehender Mann mit einem kurzen Spitzbart, dessen herrische Körperhaltung verriet, dass er hier die Nummer Eins war, trat mit einer schwarz gewandeten Abordnung ins Freie. Romanow unterdrückte ein Stöhnen, denn er erkannte ihn trotz der Maske sofort: Fürst Jurii Myschkin war der Kanzler Ihrer Eminenz - nach ihr der mächtigste Mann im Reich! Romanow hätte am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen, aber er riss sich zusammen. Die Verschwörer gingen stöhnend in die Knie, als sei er schon jetzt der Metropolit. Dann stimmten sie einen unheimlichen Singsang an. Um sich nicht zu kompromittieren, heulte Romanow mit den Taratzen, kniete sich auf die Steinplatten, neigte demütig das Haupt und bat die Staatskirche um Vergebung. Natürlich wusste der Einzig Wahre Gott, dass sein braver Knecht an dieser Zeremonie nur teilnahm, um Myschkin und sein Gesindel ihres ketzerischen Tuns zu überführen. Der Fürst trat hinter den Altar. Eine Armbewegung warf seinen Umhang beiseite. »Unsere Zusammenkunft am Vorabend der Revolution«, sagte er mit geschmeidiger, hypnotisch klingender Stimme, »dient unter anderem der... Demaskierung eines Verräters!« Die Verschwörer ächzten vor Entsetzen und schauten sich an. Romanow hatte den Eindruck, sein Herz würde aufhören zu schlagen. Hatte man ihn so schnell durchschaut? Myschkin blickte triumphierend in die Runde, bleckte zwei gesunde Zahnreihen und musterte seine fassungslosen Anhänger. »Ihr wisst, wie wir mit solchen Kanaillen
verfahren.« Er schnalzte mit der Zunge und fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals. »Der schändliche Verrat, der uns erst vor kurzem zu Ohren kam, wiegt besonders schwer, weil er von jemandem begangen wurde, der bisher unser absolutes Vertrauen genoss.« Romanows Herzschlag war so laut wie eine Kesselpauke, doch ihm wurde klar, dass er unmöglich gemeint sein konnte. Er war zu neu in diesem Kreis. »So wollen wir den Verräter nun richten«, fuhr Myschkin fort. »Tritt vor, Nummer Zwei!« »Nein!« Der Angesprochene - Romanow erkannte erst jetzt, dass er gleich neben der Nummer Eins stand - fuhr mit einem fassungslosen Schrei zurück. Zwei Verschwörer, die neben ihm standen - es waren vermutlich Nummer Drei und Nummer Vier - griffen zu und packten seine Arme. Obwohl Romanow Mitleid für den Mann empfand, der ihn in diese Kreise eingeführt hatte, atmete er erleichtert auf. »Nein!«, schrie Nummer Zwei. »Es ist ein Irrtum!« Seine Augen flackerten, er wand sich im Griff seiner Häscher. »Ich bin kein Verräter! Ich bin kein Verräter!« Die Festungsmauern warfen seine schrille Stimme zurück. Nummer Zwei stampfte widerborstig mit dem Fuß auf, doch die Männer hielten ihn eisern fest. Jurii Myschkin drehte sich um. »Du bestreitest es, du charakterloser, feiger Hund?« Die Beine von Nummer Zwei knickten ein, als hätte ihm jemand in die Kniekehlen getreten. Die Männer, die ihn hielten, rissen ihn hoch. »Es ist ein Komplott!«, brüllte Nummer Zwei. Myschkin lachte höhnisch und winkte seinen Jüngern. Die Verschwörer standen auf und bildeten einen Kreis um ihn und den Altar. Jimi Romanow wurde mitgezogen. Im Gesicht von Nummer Zwei zuckte es hektisch. Myschkins Miene hingegen war ein Abbild boshaften Triumphs: Er freute sich, jemanden schassen zu können, der ihm möglicherweise gefährlich geworden war. »Dieser Mann«, rief er, »hat einen
Agenten Ihrer Eminenz in unsere Pläne eingeweiht!« Myschkins Jünger heulten empört auf. »Einer unserer Informanten bei Hofe hat es beschworen!« Romanow traute seinen Ohren nicht. Gleich würde man ihn ergreifen... »Noch wissen wir nicht, wer der Agent ist«, fuhr Fürst Myschkin fort, »aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn enttarnen!« Nummer Zwei stierte fassungslos um sich. Vermutlich war hier wirklich eine Verschwörung gegen ihn im Gange. Vielleicht war er Myschkin zu mächtig geworden. Auf alle Fälle wusste Romanow nun, wie skrupellos die Kräfte waren, mit denen er es hier zu tun hatte. Ihre Eminenz musste sich der Verschwörer schnellstens entledigen. Wenn nötig mit brachialer Gewalt. Jurii Myschkin hob die Arme. »Möchte einer der Anwesenden den Verräter verteidigen?« Die Verschwörer wichen zurück. Sie fauchten, spuckten aus und murmelten Verwünschungen. »Ich wiederhole!« Myschkin wurde lauter. »Ist jemand hier, der Nummer Zwei verteidigen will?« »Ja!«, rief eine heisere Stimme aus dem Hintergrund. »Ich bin dazu bereit!« Myschkin und seine Anhänger fuhren herum. Romanow sah Fassungslosigkeit in ihren Blicken. Auf den Laufgängen und in den dunklen Fensterhöhlen der Festungsruine waren nun behelmte Köpfe zu sehen. Schwerter, Lanzen und Armbrüste schillerten in der Finsternis. Auf dem Turm rechts vom Tor ragte eine Gestalt mit einem wehenden purpurnen Umhang auf und hob beide Arme zum Himmel. Ihre Eminenz, die Metropolitin! Ihre Worte waren das Zeichen für die Schergen. Eine Salve Armbrustbolzen zischte in den Hof hinab. Ein Lanzenregen prasselte auf die panisch in alle Richtungen auseinander spritzenden Verschwörer nieder. Bevor Romanow Luft holen konnte, war das Pflaster mit einem Dutzend Leichen übersät.
Myschkin ballte die Fäuste und schrie vor Zorn auf. Ein Teil seiner Anhänger bildete einen Wall um ihn und schützte ihn vor dem Beschuss. Nummer Zwei trat um sich, riss sich von seinen Bewachern los und wollte den menschlichen Schutzwall durchbrechen. Bevor es ihm gelang, fuhr ein Säbelhieb in seinen Rücken und warf ihn zu Boden. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht brüllte Jurii Myschkin Schmähungen in die Nacht hinaus. Eisenpfeile durchbohrten die Leiber seiner Garde. Blut spritzte. Die aufgescheuchten Verschwörer liefen wie Hasen umher und versuchten dem Tod zu entgehen. Frauenstimmen gellten in Romanows Ohren. Als er hinter dem Altar in Deckung gehen wollte, fiel sein Blick auf einen Mann, in dem er Nummer Drei erkannte. Der Maskierte hockte auf den Knien und zog mit beiden Händen an einem Eisenring, der an einer Bodenplatte befestigt war. Als die Platte hochklappte, erhellte das Sternenlicht einen Einstieg in die Unterwelt. Romanow erstarrte. Im gleichen Moment krachte eine Hand gegen seinen Nacken und warf ihn zu Boden. Romanows Schädel schlug aufs Pflaster. Als er benommen den Kopf hob, drängten Nummer Drei und Nummer Vier den Fürsten, der sich offenbar für unverletzlich hielt, zu dem Loch. Auf dem Pflaster hallten die Geräusche genagelter Stiefel wider. Dunkle Schatten drängten aus allen Richtungen in den Hof. Die Schergen Ihrer Eminenz wogten mit gezückten Säbeln heran, um den panisch fliehenden Verschwörern den Rest zu geben. In Romanows Umgebung herrschte Chaos. Er war sich nicht sicher, ob die aufgeregten Schergen ihn von den Verschwörern unterscheiden konnten. Um ihnen nicht zum Opfer zu fallen, stand er auf und schrie seinen Namen. Nummer Drei, der hinter dem Fürsten gerade in dem Loch verschwinden wollte, schaute auf, zischte einen Fluch und warf ein Messer nach Romanow. Die Klinge verfehlte ihn zum Glück. Nummer Drei ließ sich mit einem frustrierten
Aufschrei in die Tiefe fallen. Schon waren die ersten Schergen heran und droschen mit wüsten Flüche auf die Reste von Myschkins Garde ein. Romanow sah funkelnde Augen, verzerrte Gesichter und witterte einen Blutrausch. Als er erneut in Deckung gehen wollte, stolperte er über einen Toten. Er entriss ihm den blutigen Säbel, doch als er sich aufrichtete, stürzte eine knochige Gestalt mit wehendem Umhang auf ihn zu: Nummer Vier war offenbar von dem unterirdischen Fluchtweg abgeschnitten worden, den der Fürst und Nummer Drei genommen hatten. In seiner Hand funkelte ein Messer. Mit einem heiser hervorgestoßenen »Verräter!« hob er die Klinge. Romanow schwang den Säbel und hieb ihn Nummer Vier tief in die Brust. Der Angreifer stürzte wie ein Sack zu Boden. Um Jimi Romanow her klirrte Stahl auf Stahl. Von plötzlicher Furcht erfasst ließ er den Altar hinter sich und rannte zum Herrenhaus. Überall wimmelte es von Behelmten. Um ihn herum kreischten Weiber wie Furien und setzten sich mit Messern zur Wehr. Als Romanow die Treppe erreichte, stolperte er über die nächste Leiche, fiel hin und schrammte sich die Handballen auf. Überall sprühten Funken. Romanow hörte Hilferufe und das Stöhnen der Verwundeten. Nun sank auch der letzte Mann von Myschkins Garde zu Boden. Ihre Eminenz bahnte sich mit einem Säbel in der Hand einen Weg durch die Reihen der Toten und rief unentwegt: »Habt ihr ihn? Habt ihr ihn?« Der Altar fing plötzlich Feuer. Ein Schrei drang an Romanows Ohren. Ihm folgten Ausrufe aus zahlreichen Kehlen. Als er auf den Beinen stand, erblickte er einen Verschwörer, der lichterloh brannte. Sein Mantel stand in Flammen. Das Feuer griff schnell auf sein Haar über. Sekunden später warf sich der Brennende zu Boden und versuchte die Flammen zu ersticken, indem er sich auf dem Pflaster wälzte. Aber ihm war nicht mehr zu helfen. Ein Armbrustschütze wartete ab, bis er ihm die Brust zuwandte,
und erlöste ihn von seinen Qualen. Romanow fing stumm an zu beten. Als sei der Tod des brennenden Verschwörers ein Zeichen, verstummte der Kampflärm. Die Schergen umringten mit gesenkten Waffen den lodernden Altar und musterten die Leichen ringsum. Ihre Eminenz sprach kein Wort, aber alle wussten, welche Frage sie sich stellte. Wo war der Anführer der Frevler geblieben? »Wir haben alle niedergemacht, die wir erwischen konnten, Eminenz«, hörte Romanow einen Hauptmann sagen. »Aber ich glaube, einige der Schweinehunde sind entwischt.« Ihre Eminenz nickte stumm, ließ den Säbel sinken und seufzte müde. Dann schaute sie sich um. Ihr Blick fiel auf Romanow. Romanow stand auf. Seine Knie zitterten. Er verbeugte sich, schritt an dem brennenden Altar vorbei und deutete mit der Spitze seines Säbels auf das Loch im Boden, durch das der Fürst und Nummer Drei entkommen waren. Er konnte es kaum fassen, dass er das Massaker überstanden hatte. »Der Fluchtweg«, sagte Romanow. Dann berichtete er Ihrer Eminenz, was er gesehen hatte. »Ich glaube nicht, dass es klug wäre, dem Lumpen jetzt in die finstere Tiefe zu folgen«, erwiderte Ihre Eminenz nachdenklich. »Laut den alten Landkarten ist das Gelände hier von Gängen durchzogen. Die Myschkins haben ihre Festung auf einem Labyrinth errichtet, das sich über unzählige Kilometer in alle Richtungen erstreckt. Zweifellos kennt der Fürst sich in diesem Irrgarten aus. Und möglicherweise hat er Fallen aufgestellt, in die jeder tappt, der sich an seine Fersen heftet.« »Wir müssen Fackeln herbeischaffen, Eminenz«, sagte der Hauptmann. »Es kann Tage dauern, bis wir uns in dem Labyrinth zurecht finden.« Die Vorstellung schien ihm nicht zu behagen. »Wir haben sie zwar geschlagen«, sagte Ihre Eminenz, »aber wie ich Fürst Myschkin und seinen Jähzorn kenne,
müssen wir von nun an mehr als zuvor auf der Hut sein.« Romanow schüttelte sich. Ihre Eminenz hatte Recht. Myschkins Rache würde furchtbar sein. Seine Macht war nicht völlig gebrochen. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Romanow«, wandte sich Ihre Eminenz an ihn und entzündete eine Zigarre. »Der Rat wird Ihrer Aussage vorbehaltlos glauben. Wir erklären den Fürsten hiermit für vogelfrei - jeder, der seiner ansichtig wird, darf ihn töten. Sie hingegen, Romanow, werden hiermit zu meinem neuen Kanzler befördert. Ich bin der Ansicht, dass Sie es redlich verdient haben.« Jimi Romanow murmelte einen aufrichtigen Dank. »Aber was ist, wenn die Schergen ihn nicht finden?« Er deutete auf das Loch. »Müssen wir diese Festung dann Stein für Stein bis zur letzten Kelleretage auseinandernehmen, um seiner habhaft zu werden?« Der Blick Ihrer Eminenz richtete sich auf die endlose Weite, die sich hinter dem Gemäuer erstreckte. Dann seufzte sie leise. »Hat er in der Provinz nicht noch eine ganze Reihe von Verwandten?« * Der ARET rollte mit einer Geschwindigkeit von gut fünfzig Stundenkilometern durch den sibirischen Norden nach Westen. Das fünfzehn Meter lange und drei Meter breite Gefährt wurde von einem atomaren Fusionskern angetrieben. Zehn schussfeste Plastiflexräder ließen ihn auch abseits ausgebauter Wege gut vorankommen. Der auf drei Achsen ruhende Aufbau des Gefährts gliederte sich in Cockpit, Labormodul und Ruheraum. Im Ruheraum lag ein muskulöser blonder Mann auf einer Pritsche, blickte an die Decke und lauschte einer Stimme in seinem Kopf. Into the great wide open under them skies of blue
Out in the great wide open a rebel without a clue Der Name des Mannes war Black - Mr. Black -, und er war tatsächlich ein Rebell, dem es momentan an Perspektiven mangelte. Hin und wieder hörte und träumte er Dinge, deren unheimliche Deutlichkeit ihn verwirrten. Matthew Drax, der Commander ihrer Expedition, führte sie auf »genetische Erinnerungen« zurück. Black verdankte sie angeblich seinem biologischen Vater - dem letzten US-Präsidenten vor dem Kometeneinschlag. Er hatte vor fünf Jahrhunderten in Filmen mitgespielt, die zwar keinen kulturellen, aber hohen Unterhaltungswert besaßen. Außerdem hatte er wohl einen Narren an dem Sänger gefressen, dessen sonore Stimme Black dann und wann heimsuchte. Doch auch andere Dinge beschäftigten Mr. Blacks Geist: Der eilige Rückzug vom Ufer des von Mutanten und außerirdischen Entitäten bewohnten Kratersees; das gespannte - kürzlich sogar in Handgreiflichkeiten ausgeartete - Verhältnis zwischen Drax und dem Albino Rulfan, das er darauf zurückführte, dass beide Männer große Sympathien für die attraktive Barbarin Aruula empfanden. Liebesaffären, dies wusste Black schon lange, waren nicht gut für Männer, die dem Tod jeden Tag ins Auge schauten. Sie machten einen weich und nachsichtig und verbogen einem die Perspektive. Außerdem dachten Liebende ständig an Dinge, die vom wirklich Wichtigen ablenkten. Man wurde unkonzentriert - so wie Miss Hardy, seine letzte verbliebene Untergebene auf dieser Exkursion, die schon seit Monaten ihre Pflichten vernachlässigte, um mit dem Cyborg Aiko Tsuyoshi herum zu turteln. Black selbst hatte es seit seiner unfreiwilligen Emigration aus dem Bunker des Weltrats - dem Nachfolger der USRegierung - tunlichst vermieden, sich zu binden. Nicht weil er unfähig war, Zuneigung zu anderen zu empfinden, ganz im Gegenteil: In den zwölf Jahren, in denen er nun an der Oberwelt lebte, hatte er zwei Mal in Gegenwart von Frauen
Herzklopfen verspürt. Leider war es ihm aufgrund der Umstände nie vergönnt gewesen, nähere Beziehungen zu ihnen aufzunehmen. Das Leben im Untergrund war eine ständige Hatz, ein permanentes Ringen um die Existenz. Die meisten Frauen, die Black um sich geschart hatte, um jene Gruppierung zu stürzen, die sich »Weltrat« schimpfte, himmelten ihn aufgrund reiner Äußerlichkeiten an: Er war stark, nicht allzu hässlich und Anführer einer Organisation, vor der die Mächtigen in ihrem Bunker zitterten. Junge Frauen ließen sich von solchen Dingen leicht beeindrucken, doch es entsprach nicht Blacks Naturell, dergleichen für sich auszunutzen. Was ihn auf Miss Hardy zurück brachte: Zwar mochte Black die schwarze Rebellin sehr, doch es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, mehr als väterliche Gefühle für sie zu empfinden. Nun, da sie sich von den Running Men gelöst hatte, wogten zwar zwiespältige Gefühle in seiner Brust schließlich bedeutete jeder Abgang eine Schwächung seiner Truppe -, doch er wusste, dass sie in Mr. Tsuyoshi einen anständigen Gefährten gefunden hatte. Er würde sich niemals von ihren Feinden korrumpieren lassen. Ich hoffe, die beiden erreichen wohlbehalten ihr Ziel, dachte er. Denn ob wir es je erreichen, hängt von einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Faktoren ab. Abgesehen von der frostigen Atmosphäre, die zwischen Rulfan und Commander Drax herrschte, beschäftigte Black auch der unerfreuliche Fakt, dass sie momentan ein Land durchquerten, dessen Gefahren er nicht kannte. In der Schule hatte er gelernt, dass es seit Jahrhunderten als »Reich des Bösen« galt. Damals hatte ein gewisser »Roter Iwan« dieses Land beherrscht. Seine Kommissare hatten schon zum Frühstück kleine Kinder verspeist. Später dann, bis zum Einschlag des Kometen »Christopher-Floyd« hatte ein Unternehmerverband namens Russenmafia in diesem Land die Macht ausgeübt. Vom Vorstand dieses Verbandes, so die Datenbanken im Bunker von Washington, stammten fast alle
Herrscher ab, die sich nach dem Ende der Eiszeit hier etabliert hatten. Nach Blacks Einschätzung sah die Zukunft deswegen so finster aus wie noch nie. Er seufzte schwer. Als die Musik in seinem Kopf verstummte, stand Mr. Black auf und warf einen Blick auf den grauhaarigen Mann, der auf der Pritsche über ihm lag. »Sie kriegen wohl auch kein Auge zu, Mr. Rulfan.« Rulfan lächelte geheimnisvoll. Wie Black wusste, hatte Commander Drax ihn vor zwei Jahren in einer altgermanischen Stadt kennen gelernt. Rulfans schneeweiße Haut war zwar so straff wie die eines jungen Burschen, doch seine alten Augen verrieten, dass mehr als vierzig, vielleicht gar über fünfzig Winter hinter ihm lagen. Er stand in Diensten der Britanier, aber was er genau für sie tat, war Black unbekannt. In den weichen Lederschnürstiefeln, den hellbraunen Wildlederhosen und dem dunkelgrauen Grobleinenhemd wirkte Rulfan wie ein Mensch aus dem Mittelalter. Black konnte ihn ganz gut leiden, aber irgendwie wurde er den Eindruck nicht los, dass er sich über ihn lustig machte. Seine Worte klangen oft ironisch. »Das Rappeln geht mir auf die Nerven.« Rulfan schwang die Beine über den Rand seines Lagers. »Außerdem sagt mir meine Nase, dass unsere Glückssträhne schon viel zu lange dauert.« Glückssträhne? Black runzelte die Stirn. Erst vor drei Tagen hatten sie die abscheuliche Meute abgeschüttelt, die ihnen seit dem Fiasko am Kratersee auf den Fersen war: ein wildes Heer halbmenschlicher Mutationen, das offenbar den Auftrag hatte, sie zu vernichten. Bei dem Versuch, in eine Bruthöhle der Daa'muren vorzudringen, hatte Commander Drax einen schwerwiegenden Fauxpas begangen, als er ein Ei mit einem Fötus darin zertrat. Es war wenig hilfreich für das Unternehmen gewesen. Wenn Rulfan drei ruhige Tage als Glückssträhne bezeichnete, hätte Black gern gewusst, wie er Pech definierte.
Nach den langen Monaten in Eis und Schnee und den gefährlichen Begegnungen rund um den Kratersee erschien Mr. Black die Region, die sie nun durchquerten, fast wie das Paradies. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie ein paar Tage Rast eingelegt. Die Enge des ARET erdrückte ihn. Er brauchte frische Luft und den Blick auf die freie Natur. »Sie wirken nachdenklich, Mr. Black.« »Ich bin nachdenklich.« Er schaute Rulfan an. Die roten Pupillen des Albinos waren so undurchdringlich wie seine Miene. »Ich frage mich nämlich, ob...« Das Triebwerk machte plötzlich ein Geräusch. Dann hielt das Fahrzeug schlagartig an. Rulfan verlor das Gleichgewicht und flog mit einem Fluch auf den Lippen von der Pritsche Black entgegen, der instinktiv die Arme ausstreckte und ihn auffing. Sekunden später eilten die beiden Männer ins Cockpit des Forschungsfahrzeugs, wo Commander Drax und Professor McKenzie vor der gepanzerten Frontscheibe saßen. Aruula, Drax' Gefährtin, eine telepathisch begabte Barbarin mit schulterlanger schwarzer Mähne, sprang aus einem Sitz hoch, in dem sie offenbar geschlafen hatte. Rulfans Lupa, der sich auf dem Sitz neben ihr zusammengerollt hatte, hob den Kopf. »Was ist passiert?«, erkundigte sich Black. Es war nicht nötig, dass die Männer an den Kontrollen die Frage beantworteten. Die Aussicht war gut genug, um jedermann zu zeigen, warum Matt Drax plötzlich abgebremst hatte. Der ARET stand vor einem Hohlweg. Die blutigen Kadaver mehrerer breitschädeliger Tiere verhinderten eine Weiterfahrt. Es handelte sich um die zottigen Lebewesen, die in diesen Breitengraden als Reittiere Verwendung fanden. Die Yakks lagen auf dem Rücken und streckten auf groteske Weise die Läufe in die Luft. Sie waren gesattelt, also zahm. Doch wo waren die Reiter? Mr. Black reckte den Hals. Dann gewahrte er hinter den tierischen Kadavern einige Gestalten. Sie lagen am Boden
und wirkten ebenfalls nicht sehr gesund. Commander Drax sah sie wohl im gleichen Augenblick, denn er stieß einen Fluch aus und betätigte einen Knopf. Neben ihm und Dave McKenzie öffneten sich schmale Ausstiegsluken und ließen frische Luft herein. Drax zückte seinen Driller und nickte McKenzie zu. Die beiden stiegen aus und näherten sich vorsichtig den leblosen Bündeln. Es waren fünf. Als Black ins Freie kletterte, sprang auch Rulfans Lupa hinaus auf den dunklen Boden, verharrte argwöhnisch, sträubte das Fell und knurrte drohend. Aruula und Rulfan folgten Black auf dem Fuße. McKenzie würgte plötzlich, stürzte zum Wegesrand und erbrach sich. Commander Drax stand neben den verendeten Reittieren und musterte die Gestalten, die dahinter lagen. Sein Gesicht war so bleich wie der Tod. Seine Lippen murmelten lautlose Worte. »Bei Wudan!«, entfuhr es Aruula. Sie schob sich kaltblütig an ihrem Gefährten vorbei und betrachtete den Fund in seiner ganzen Abscheulichkeit. Ihre Rechte zuckte instinktiv zu dem beidseitig geschliffenen Schwert, das in einer eisernen Kralle auf ihrem Rücken hing. Sie zog es allerdings nicht. »Wer hat das getan?« Mr. Black umrundete die toten Yakks und den vor Entsetzen gelähmten Commander. Hinter den Tieren lagen halbnackte, in Fetzen gerissene Leichen. Vier Männer, eine Frau. Ihr Alter ließ sich nur schwer bestimmen, denn von ihren Gesichtern war nicht viel übrig geblieben. Wilde Tiere schienen sie zerrissen zu haben. Sie waren bleich wie Engerlinge, als sei kein Tropfen Blut mehr in ihnen. Blutige Fetzen ihrer Kleidung waren überall verstreut. Es war ein Anblick des Grauens. Räuber? Sind sie etwa noch in der Nähe? Black wandte sich von den Leichen ab. Sein Blick wanderte. Er schaute sich um, drehte langsam den Kopf. Seine Nasenflügel suchten nach Witterung, fanden aber nichts Verdächtiges. Ein
leiser Wind wehte durch den Hohlweg und trieb den süßlichen Geruch des Todes auf ihn zu. »Verflucht noch mal, Matt«, hörte er Professor McKenzie ächzen. »Ich bin zu alt und zu zivilisiert für diese elende Scheiße! Was ist das nur für eine Zeit, in der wir gelandet sind?« »Ja.« Commander Drax nickte nachdenklich. »Gene Roddenberry hat unsere Zukunft wahrlich prächtiger dargestellt.« Als Black sich umdrehte, schüttelte der bärtige Brillenträger den Kopf und kehrte in den ARET zurück. Er hatte wahrscheinlich das Bedürfnis, sich den Mund auszuspülen. Drax und Aruula knieten inzwischen vor den Toten und begutachteten deren Wunden. Wulf umkreiste die Yakks, während sein Herr - falls man ihn als solchen bezeichnen mochte - mit wachen Blicken die nähere Umgebung in Augenschein nahm. »Was glauben Sie?«, fragte Black den Albino. »Waren das Raubtiere?« »Ja, Raubtiere, aber zweibeinige.« Rulfan spuckte auf den Boden. Seine roten Augen funkelten. Er deutete auf die Leiche, die ihnen am nächsten lag. Black schaute genauer hin und entdeckte zahllose blutige Löcher, die um den Hals des Toten verliefen. Als hätte man ihn mit Stacheldraht erdrosselt. »Vermutlich haben Sie Recht.« Kannibalen? Black schüttelte sich. Blutsauger? »Wir können Sie nicht einfach hier liegen lassen«, sagte Commander Drax. Seine heisere Stimme verriet den hohen Grad seiner Erschütterung. »Es wäre menschenunwürdig.« Mr. Black musterte den Albino. Rulfan strich sich übers Kinn. Vermutlich scherten ihn die Leichen einen Dreck. Als Kind dieser Zeit war er mit Grausamkeiten aller Art seit frühester Jugend vertraut und maß ihnen wenig Bedeutung bei. Andererseits war er nicht nur durch die Schule der Barbaren gegangen. Er hatte einen britischen Techno als
Vater und möglicherweise mehr Kultur als die gesamte so genannte US-Regierung. »Oder hast du Einwände?«, fragte Drax ein wenig zu spitz. Er schaute Rulfan an. Der Albino schüttelte den Kopf. Black atmete auf. Einen erneuten Streit konnten sie jetzt nicht brauchen. »Schön.« Drax räusperte sich. Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch da kehrte McKenzie schon mit vier Klappspaten aus dem ARET zurück. Wie günstig, dass das Fahrzeug ursprünglich wissenschaftlichen Zwecken gedient hatte: Seine Besatzung war in technischer Hinsicht auf alles vorbereitet gewesen, auch auf archäologische Ausgrabungen. Minuten später hoben die vier Männer an einer weicherdigen Stelle neben dem Hohlweg im Schweiße ihres Angesichts Gruben aus. Der Lupa hielt derweil Wache am ARET. Aruula sondierte das Gelände und suchte nach Spuren der für das Massaker Verantwortlichen. Als die Männer fast fertig waren, meldete sie Fußabdrücke unbekannter Geschöpfe. Sie verloren sich in der Umgebung. Schließlich nahm sie auf der rechten Anhöhe des Hohlwegs Platz, zog die Beine an, legte die Arme auf ihre Knie und gab sich der Tätigkeit hin, die sie Lauschen nannte. In zivilisierteren Kreisen nannte man es schlicht »Telepathie«. Etliche Menschen und noch mehr Mutanten dieser neuen Welt waren mental begabt. Professor McKenzie führte das auf den Einfluss der Daa'muren zurück, die bei der Entfaltung eines Wirtskörpers wohl besonderen Wert auf diese Fähigkeit gelegt hatten. Als die Toten bestattet waren, verharrten McKenzie und Commander Drax eine Weile vor den Gräbern. McKenzie murmelte Worte, deren Sinn sich Black nicht erschloss, aber vermutlich befahl er die Seelen der Verstorbenen der Gottheit an, die er verehrte. Aruula gesellte sich wieder zu den Männern. Sie führte einige Gesten aus, die möglicherweise Dämonen bannen sollten. »Die Täter waren keine Menschen«, sagte sie dann. »Es waren aber auch keine
Tiere.« »Sondern?« Drax musterte sie neugierig. Aruula zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Aber die Schwingungen, die ich hier spüre...« Sie deutete nach Osten, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Sie erinnern mich an etwas.« Ein Musterbeispiel an Präzision, dachte Black sarkastisch. Dann schalt er sich ungerecht. Aruula war eine einfache Frau. Die Feinheiten der Sprache - speziell der seinen - konnten unmöglich ihre Sache sein. Zudem hatte sie keine wissenschaftliche Ausbildung genossen, und ihre Fähigkeit war keine erforschte Disziplin. »Ich habe sie schon mal gespürt«, fuhr Aruula fort. »Ich glaube, westlich vom Kratersee, als wir Jed, Dave und Black aus dieser Höhle gerettet haben.« Commander Drax und Professor McKenzie tauschten einen alarmierten Blick. Rulfan räusperte sich. Black erinnerte sich nur sehr ungern an das, was ihnen westlich des Kratersees widerfahren war. Jedenfalls waren die Wesen, auf die Aruula anspielte, unsichtbar für sie geblieben, eine Gefahr aus dem Nichts. Wenn sie für dieses Gemetzel verantwortlich waren, wurde es Zeit, die Messer zu wetzen und die Funktionstüchtigkeit ihrer Schusswaffen zu überprüfen. Drax schüttelte sich. »Glaubst du, es sind dieselben wie am Kratersee?« Aruula zuckte die Achseln. »Zumindest vom selben Volk.« McKenzie blickte sich schaudernd um. »Ich schlage vor«, murmelte er, »dass wir von hier verschwinden. Mein Bedarf an Schrecken ist für heute gedeckt.« Rulfan grunzte zustimmend. Commander Drax nickte - sehr nachdenklich, wie Black fand. Er selbst hatte nichts gegen den Vorschlag des nervösen Astrophysikers einzuwenden: Je eher sie auf die schützenden Mauern einer Stadt stießen, umso besser. »Also los.« Drax setzte sich in Bewegung. Seine Gefährten folgten ihm, Wulf inklusive.
Als Black sich ihnen anschließen wollte, trat er gegen einen Stein, der einen halben Meter weit flog. Dort wo er gelegen hatte, blitzte etwas auf. Nanu? Black bückte sich neugierig. Ein Schmuckstück? Er kratzte sorgfältig den Dreck ab, der den Gegenstand teilweise bedeckte. Er war für seine Größe ziemlich schwer, vermutlich aus Gold, oval geformt, etwa fünf Zentimeter lang und drei breit. In seiner Mitte funkelte ein roter Edelstein. Er war zu einem fünfzackigen Stern geschliffen und von merkwürdigen, nur halb fertig wirkenden Buchstaben umgeben. Black fühlte sich unweigerlich an den Orden erinnert, mit dem General Arthur Crow in Washington verdiente Menschenjäger auszeichnete. An der Rückseite des Schmuckstücks befand sich eine Anstecknadel. Wie hübsch. Black musste sich zwingen, nicht in Lachen auszubrechen. Früher, als Crows Vasall, wäre er stolz auf eine solche Auszeichnung gewesen. Die kannibalistischen Bestien, denen die fünf Menschen zum Opfer gefallen waren, hatten offenbar keinen Sinn für solch profane Dinge. Mr. Black schaute sich um. Die Gräber waren längst zugeschaufelt. Es war zu spät, das Ding seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Außerdem wusste er nicht, wem es gehört hatte. Nehmen wir es als Auszeichnung für meine Arbeit gegen General Crow, dachte er amüsiert und heftete sich das Schmuckstück an die Brust. * Als sich die Gipfel des Urals am Horizont zeigten, erfuhr das Wetter eine Veränderung. Warmer Wind fegte heran, zerrte an Bäumen und Gesträuch und blies Milliarden Blätter vor sich her. Aus schwarzen Wolken goss es ohne Unterlass, bis der Boden aufweichte. Riesige Tümpel breiteten sich aus. Der ARET quälte sich durch endlose Matschlandschaften.
Zumindest war der Boden noch fest genug, um den ARET zu tragen. So mussten sie keinen erneuten Umweg fahren. Mr. Black, der vertrauter mit dem ARET war, hatte Commander Drax an der Steuerung abgelöst und musste sich zusammennehmen, um nicht permanent zu fluchen. Mehr als einmal drohte der Panzer in einem Schlammloch stecken zu bleiben. Nachdem sie ein Waldgebiet durchquert hatten, breitete sich vor ihnen eine grüne Ebene aus, die im Norden an ein großes Gewässer stieß. Am Ufer des Gewässers - laut Karten handelte es sich um die Ob-Bucht - lag eine Stadt. Bis zu vier Stockwerke hohe Steinhäuser schraubten sich in den Himmel. Alles wirkte solide gebaut. Dunkelrote Pfannen bedeckten Spitzdächer. Aus der Ferne hatte man den Eindruck, als seien die Straßen mindestens so breit wie die im alten Stadtkern Washingtons. Im Gegensatz zu den meist nur von einigen hundert Seelen bewohnten Nestern dieser Welt hatte das Gemeinwesen gewaltige Ausmaße. Black schätzte die Einwohnerzahl auf mehr als zehntausend. Drei Seiten der Stadt waren von einer Mauer mit mehreren Toren umgeben. Durch eins der Tore bahnte sich gerade ein schwarzes Gefährt einen Weg, das aus dem Osten kam und eine Schlange grau gestrichener Anhänger hinter sich her zog. Das Ding stieß dicke weiße Rauchwolken und schrille Pfeiftöne aus. Black erinnerte sich, dass sie mitten in der Taiga einmal auf einen Schienenstrang gestoßen waren und ihn überquert hatten. War dies die zugehörige Lok? Commander Drax und sein Freund McKenzie äußerten ihr Erstaunen, in dieser Region eine funktionierende Eisenbahnverbindung anzutreffen. Black fühlte sich bei dem Anblick an die U-Bahn erinnert, die in Washington zwischen dem Bunker und dem Weißen Haus verkehrte. Dann konzentrierte er sich auf die vierte Seite der Stadt, die am Wasser endete: Dort dümpelten allerlei Segler und Dampfer auf dem schäumenden Nass. Weißgraue Vögel
umkreisten ihre Masten. Die Räder des ARET wühlten sich durch den Matsch. Es ging fortwährend auf und ab. Wenn sie in eine Senke hinabfuhren, verschwand die Stadt gänzlich aus ihrem Blickfeld. Gewaltige Findlinge und Bäume, vom einem früheren Unwetter umgeknickt, hemmten ihr Vorankommen. Einmal geriet der ARET in einen dermaßen widerborstigen Matschtümpel hinein, dass er sich eine Minute im Kreis drehte, bevor es Black gelang, ihn wieder auf Kurs zu bringen. Als sie die vierte Anhöhe hinauf schnurrten, schlug rechts von ihnen ein Blitz in einen Baum ein. Die Außenmikrofone übertrugen den ohrenbetäubenden Donnerschlag und das Ächzen des Baumes - und dann ein Knirschen, als er sich zur Seite neigte und vor dem ARET zu Boden krachte. Eine Schlammfontäne spritzte hoch und klatschte auf die Frontscheibe. Nun prasselte es noch stärker vom Himmel. »Verdammt!«, fluchte Black ganz untypisch und leitete sofort den Bremsvorgang ein. Die Bremsen kreischten. Der ARET kam einen Meter vor dem gigantischen Baumstamm zum Stehen. Der Sturmwind ließ seine Äste auf das Dach des Panzers trommeln. Natürlich konnten sie den Insassen nichts anhaben, die aber instinktiv die Köpfe einzogen. »Rückwärtsgang«, murmelte Commander Drax. Black brummte ein mürrisches »Ach was!« und betätigte die Schaltung. Der ARET drehte sich ein Stück... und krachte gegen etwas Hartes. Black schaute unwillig auf. Matt Drax begutachtete den Heckmonitor. Hinter ihnen hatte sich der Boden gesenkt. Von irgendwoher war ein Findling von der ungefähren Höhe des ARET zu ihnen hinab gerollt und am hinteren Ende des Panzers zum Halten gekommen. Sie steckten fest. »Shit!«, fluchte Commander Drax. »So kurz vor dem Ziel! Das darf doch nicht wahr sein!« »Das haben wir gleich...« Mr. Black ergriff sein Lasergewehr und erhob sich vom Fahrersitz. »Ich schau mir
das Steinchen mal an.« »Glauben Sie wirklich, sie könnten...« Black schob Dave McKenzie zur Seite. »Darf ich? Danke.« Er glaubte zwar selbst nicht daran, dass ein Laserstrahl genügte, den Findling zu zerlegen, aber er war seit jeher bemüht, Initiative zu zeigen. Das Gleiche hatte er auch stets von seinen jugendlichen Mitstreitern verlangt, denn er verabscheute tonangebende Häuptlinge: Wenn sie im Kampf fielen, entpuppte sich ihr Gefolge meist als kopflose Horde von Befehlsempfängern. Drax öffnete die hintere Luke und sprang als Erster ins Freie. Black folgte ihm. Seine Füße hatten den Boden kaum berührt, als der warme Wind an seinem Haar riss. Ehe er die Gelegenheit bekam, sich zu orientieren, schlug ein umherpeitschender Ast mit roher Gewalt auf seine linke Schulter ein und warf ihn zu Boden. Black spürte einen brennenden Schmerz, griff sich ächzend an die getroffene Stelle und ließ seine Waffe los. Im selben Moment, als das Lasergewehr in den Morast klatschte, stürzte sich eine schemenhafte Gestalt mit wehendem Umhang auf Commander Drax. Sie schien aus dem Nichts zu kommen. Mr. Black, vom Schmerz des Schlages zu benommen, um seine übliche Reaktionsschnelligkeit zu zeigen, stieß einen Warnruf aus. Im gleichen Moment legten sich von hinten zwei krallenartige Greifer um seinen Hals und drückten zu. Black erlebte alles wie in Zeitlupe. Rings um ihn her war ein eigentümliches Flattern, das den finsteren Himmel noch mehr verdunkelte. Er begriff schlagartig, dass sie es nicht nur mit zwei Angreifern zu tun hatten. Schon rissen ihn die Greifer nach hinten. Black sah, dass die sich bauschenden Umhänge der Angreifer organisch waren: Hauchdünne Häute, die knochige Arme und eckige Hüften miteinander verbanden. Flughäute? Black starrte in ein hundeähnliches Gesicht. In senkrecht geschlitzten gelben Augen glühten Triumph und
Gier. Intelligenz. Eine breite Schnauze, gebleckte sabbernde Fänge, spitze Ohren. Als Commander Drax in den Matsch stürzte und sich eine dunkelbraune Gestalt auf seinen Rücken schwang, spannte Black die Halsmuskeln an und setzte dem Würgegriff Widerstand entgegen. Sein Kinn zuckte nach vorn. Seine Zähne gruben sich in die knochigen Greifer, die seinen Hals umklammerten. Im gleichen Moment riss er mit aller Macht beide Arme hoch. Ein Fiepen erklang, so schrill, dass es körperlich schmerzte. Die Greifer lösten sich von seinem Hals. Black holte rasch Luft, stieß sich vom Boden ab und kam auf die Füße. Doch als er herumfuhr, um seinem fangzahnbewehrten Gegner jeden Knochen im Leibe zu zerbrechen, spürte er sich erneut rücklings umklammert. Er grunzte zornig, winkelte das rechte Bein an und trat mit brachialer Gewalt nach hinten aus. Sein Absatz traf ein Weichteil und löste erneutes Fiepen aus. Der hinterhältige Angreifer ließ von ihm ab. Dies bot Black die Gelegenheit, sich der Kreatur vor ihm anzunehmen. Seine Fäuste sausten vor und trafen eine Art Kinn. Der Gegner flog zurück und landete erneut im Dreck. Im ARET wurde nun das erschreckte Geschrei McKenzies und das Knurren von Rulfans Lupa laut. Ein schneller Blick zeigte Mr. Black, dass Aruula und der Albino im Begriff waren, den Panzer mit gezückten Schwertern zu verlassen. Eine Sekunde später tauchte Blacks Rechte in den Tümpel hinab und packte das Lasergewehr. Als er es hochriss, rannte sein erster Gegner wieder gegen ihn an. Doch es bekam ihm schlecht: Der Lauf des Lasers tauchte unversehens in den fauchenden Rachen der Kreatur ein. Bevor sie verstand, was passierte, durchbohrte ein heißer Strahl ihren Gaumen und verbrutzelte ihr das Hirn. Black versetzte der zuckenden Bestie einen Stoß vor die Brust. Dann spuckte sein Laser erneut Feuer und erledigte seinen zweiten Angreifer und das Geschöpf, das gerade im
Begriff war, Commander Drax zu erwürgen. Schließlich krachte der Kolben seiner Waffe ins Kreuz eines Wesens, das sich gerade von Drax abwandte - offenbar um nachzusehen, ob seine Genossen ihn inzwischen erledigt hatten. Als es das lange Rohr auf sich gerichtet sah, sprang es aus dem Stand drei Meter hoch in die Luft. Während Drax sich hustend an den Hals fasste, stierte Black sprachlos das Geschöpf an, das seine Flughäute ausbreitete und Anstalten machte, sich dem Tod fliegend zu entziehen. Vergeblich. Ein Feuerstrahl durchbohrte die letzte flatternde Bestie und ließ sie zu Boden klatschen. Black eilte zu Commander Drax. Er war kreidebleich und schüttelte sich. »Was war das, um Himmels willen?« Aruula, Rulfan und McKenzie stürzten aus dem ARET und schauten sich um. Wulf schnupperte an einem Kadaver und sträubte das Fell. Black zuckte die Achseln. »Wüsste ich auch gern.« Er bückte sich und begutachtete einen der Leichname. Das Wesen war etwa einen Meter groß, barfüßig, von dunkelbrauner Farbe und wirkte wie eine überdimensionale Fledermaus. Ein eng anliegendes Höschen, das wohl nur dazu diente, seine Genitalien zu schützen, bedeckte seinen Unterleib. Mehr an Kleidung war den Biestern beim Fliegen wahrscheinlich hinderlich. Aruula stieß einen überraschten Laut aus und deutete auf einem schmalen Ledergurt, den die Kreatur trug. Daran hing... »Eine Steinschleuder! Das sind die unsichtbaren Gegner vom Kratersee!«, rief sie. Black schüttelte sich. Noch zu genau erinnerte er sich an den unermüdlichen Steinhagel, der sie fast das Leben gekostet hatte. So also sahen die Kreaturen aus, die ihnen damals das Leben schwer gemacht hatten. Aber jetzt war nicht die Zeit für unschöne Erinnerungen. Er ging zu dem Findling und stellte das Lasergewehr auf höchste Intensität. Der Brocken bestand aus Sandstein, und
Black brauchte nur ein halbes Dutzend Schüsse, um ihn zu zerlegen. Als er zur Heckluke zurückkehrte, saß Commander Drax auf deren unterem Rand und massierte stöhnend seinen Hals. Aruula küsste ihn auf so herzerwärmende Weise, dass Black einen Anflug von Wehmut verspürte. Rulfan nagte missmutig an seiner Oberlippe. McKenzie stand am ganzen Leibe zitternd in der Schleuse. »Nun machen Sie schon, Black! Lassen Sie uns abhauen, aber dalli!« Sie stiegen ein; die Panzertür glitt zu. Black bahnte sich einen Weg ins Cockpit und ließ sich in den Fahrersitz sinken. Er glaubte nun zu wissen, wem die vier Männer und die Frau im Hohlweg zum Opfer gefallen waren. * Das Unwetter war vorbei. Das rechteckige Schild über dem Stadttor verkündete in ungelenk gemalten lateinischen Buchstaben den Namen der Hafenstadt: Nydda. Der Name setzte Professor McKenzies graue Zellen in Gang. Er erinnerte sich, dass der amerikanische BentonKonzern 1991 im Gebiet der Ob-Bucht investiert hatte, um in einem so genannten Joint Venture mit dem russischen Unternehmen Gasprom riesige Öl- und Gasvorkommen auszubeuten. Tausende von Ingenieuren und Arbeitern aus den USA und den Ländern der EU waren damals nach Nordsibirien geströmt und hatten aus dem Nest die einzige englischsprachige Stadt Russlands gemacht. Zwei Jahrzehnte hatte man hier das Geld nur so gescheffelt. Dann war »Christopher-Floyd« in den Baikalsee geklatscht und hatte die Bewohner der Ob-Bucht in Finsternis und Kälte gestürzt. Allem Anschein nach hatten die Gas- und Ölvorkommen ihnen jedoch das Überleben erleichtert. Hinter zwei von Yakks gezogenen Fuhrwerken bahnte sich der ARET brummend einen Weg zum Stadttor. Vier
Wachtposten in grünen Wolljacken, grün-weiß karierten Kilts, weißen Beinkleidern und hellen Wildlederstiefeln versammelten sich um das Gefährt und musterten es neugierig. Die Männer trugen silberne Brustpanzer, kinnriemenlose schwarze Pickelhauben mit bronzenen Adlerschwingen und schienen ihre Arbeit sehr ernst zu nehmen. Als McKenzie die Luke an der Fahrerseite öffnete, schob sich ihm ein glatt rasiertes Gesicht entgegen und blaffte: » Aydeniddy!« Drax und McKenzie schauten sich an. Matt murmelte: »Wo du auch hinkommst - die Yankees sind schon da.« Mr. Black brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was das hervorgeknurrte Wort bedeutete: Der Posten wollte wissen, mit wem er es zu tun hatte. Und das auf Englisch! Sehr verwaschenes Englisch, aber immerhin... Während McKenzie mit der Wache sprach, nutzte Black die Gelegenheit, um einen Blick durch das Tor zu werfen. Nydda wimmelte von Menschen und Überbleibseln alter Zeiten: Gleich hinter der Mauer war ein großer Marktplatz. Dutzende von Händlern und Bauern, die unter bunten Markisen standen, hielten ihre Waren feil. Hinter ihnen ragten rechteckige Kunststoffcontainer mit der Aufschrift EXXON auf. Die Torwache schien nicht überrascht zu sein, dass die Insassen der Eisenkutsche ihn verstanden; offenbar sprachen in dieser Gegend alle Englisch. Die Männer verwunderte wohl nur, dass das Fahrzeug nicht von Yakks gezogen wurde. Das war ihnen suspekt, und sie lugten neugierig ins Cockpit. Eine Veränderung der Situation trat ein, als der Wortführer der Posten Mr. Black entdeckte. Plötzlich knallte er die Hacken zusammen und salutierte. »Leutnant Ohara«, brüllte er, »Wachhabender Ihrer Eminenz am Haupttor! Wünsche bestes Quartier und befriedigenden Aufenthalt in unserer Stadt, Hoheiten!« Hoheiten? Drax und McKenzie schauten sich an. Rulfan stutzte. Black hatte zwar keine Ahnung, was das Getöse
sollte, aber ihm wurde natürlich sofort klar, dass es besser für sie war, wenn man sie für Prinzen statt für Gesindel hielt. »Danke«, erwiderte Commander Drax lässig. »Werde bei Hofe von Ihrem vorbildlichen Auftreten zu berichten wissen, Leutnant! Wegtreten und Weg freimachen!« »Jawoll!« Leutnant Ohara gab seinen Leuten einen Wink. Die drei Posten, die mit Argusaugen darüber wachten, dass kein Lumpenpack in die Stadt Ihrer Eminenz eindrang, machten respektvoll Platz und salutierten. Commander Drax stieß Dave McKenzie in die Rippen. Der Professor tippte mit zwei Fingern an seine Stirn und schloss die Luke. Mr. Black setzte den ARET in Bewegung. Als sie an den Posten vorbei waren, wandte Black sich kurz um. »Der wackere Leutnant hat uns wohl mit jemandem verwechselt.« »Scheint mir auch so.« McKenzie grinste. »Offenbar hält man uns für hochgestellte Persönlichkeiten.« »Möglicherweise macht uns das kreditwürdig«, überlegte Commander Drax. »Ich finde, wir sollten diesen Vorteil nutzen.« Sie musterten den Marktplatz und die Händlercontainer und drangen langsam ins Innere der Stadt vor. Dann kreuzten sie die Geleise der Eisenbahn, die sie aus der Ferne gesehen hatten. Farbenfroh gekleidete Reiter zügelten beim Anblick des ARET ihre Yakks und gafften. Straßenkrämer hielten ihre Verkaufskarren an. Das Volk, das ihren Weg säumte, machte angesichts ihres ungewöhnlichen Transportmittels große Augen. Schließlich kamen auf einen großen Platz, der von Lokalitäten und Gasthöfen umgeben war. Schrifttafeln bewarben in merkwürdigem Englisch die »schärfsten Speisen östlich des Urals«. »Ich schlage vor, wir gehen was futtern«, sagte McKenzie, »und testen mal, wie kreditwürdig Hoheiten in dieser Stadt sind.« Hinter ihm wurde Zustimmung laut. Auch Mr. Black
lechzte nach einer heißen Mahlzeit und einem kalten Getränk. Rulfan entdeckte einen Gasthof namens Taverne Aramis. Professor McKenzie wusste zu berichten, dass Aramis »einer der drei Musketiere« gewesen sei. Die wissbegierige Aruula erkundigte sich bei Maddrax, zu welche Gattung diese »Tiere« gehörten, was McKenzie einen bösen Blick einbrachte. Dann parkten sie den ARET an einem Holm, vor dem fünf Yakks angebunden waren. Die Tiere musterten den seltsam riechenden metallenen Fremdling aus Triefaugen. Als die rückwärtige Luke zischend aufging, blökten sie entsetzt und entleerten ihre Därme. Nach ätzendem Dung riechende Luft begrüßte die Besatzung, als sie ins Freie trat. Black schaute sich um. Nydda wirkte nicht unsympathisch: Die Straßen waren gefegt, die Bürger standen gut im Futter. In der Ferne stolzierte ein Soldat mit Pickelhaube herum und sonnte sich in seiner Wichtigkeit. »Nicht übel.« Professor McKenzie schnalzte mit der Zunge. »Wenn man die Dunghaufen ignoriert, sieht es hier fast so aus wie in Baltimore.« Er deutete zum Eingang der Taverne hin. Rulfan hielt gerade die Tür auf und ließ Aruula eintreten. »Ich hab einen Riesenhunger. Gehen wir rein und bestellen uns zwei Wildschweine.« »Gute Idee.« Black nickte. »Für mich auch zwei.« Die Taverne Aramis war holzgetäfelt und mit allerlei Messingtand, schartigen alten Säbeln und Fischernetzen verziert. Ein Kellner hieß sie willkommen. Als er Black erspähte, sprach er ihn als »Hoheit« an und buckelte tief ob der unerwarteten Ehre. »Schon gut, schon gut«, erwiderte McKenzie. Er packte Black am Ärmel und zog ihn rasch zu dem runden Tisch, an dem Drax, Rulfan und Aruula gerade Platz nahmen. Als der Rebellenchef seine verspannten Glieder ausstreckte, beugte McKenzie sich zu Matt hinüber und sagte so leise, dass nur er
es hörte: »Ich glaube, Black ist derjenige, den die Leute hier alle zu kennen glauben. Ob er einen Doppelgänger hat?« Commander Drax grinste. »Dann schlage ich vor, dass wir uns mit dem Essen beeilen, bevor der Echte hier einkehrt.« Der Kellner brachte Gläser und einen Krug mit eiskaltem Wasser. Alle außer Aruula klappten die wunderschön kalligrafierten Speisenkarten auf, um zwischen Androne in Aspik (mit Bratkartoffeln), gedünsteten Lischetten auf faulen Eiern und Gerul-Hacksteak mit Karotten auszuwählen. Man hatte sich kaum entschieden, als auf der Straße ein blechernes Scheppern ertönte. Dann wurde die Tür der Taverne auf gestoßen. An der Spitze eines martialisch aussehenden Kommandos trat ein knochiger, schwarz gewandeter Herr ein und schaute sich suchend um. Blacks Muskeln spannten sich instinktiv. Es roch nach Ärger. Der Blick des Herrn fiel auf Mr. Black. McKenzie hatte also Recht gehabt. Der Mann nickte den Soldaten zu, trat an den Tisch, an dem Matthew Drax und seine Gefährten saßen, und räusperte sich. »Ja, bitte?« Drax schaute fragend auf. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle, Hoheiten.« Der Fremdling deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Jimi Romanow. Ich bin der neue Kanzler Ihrer Eminenz.« »Angenehm.« Commander Drax tauschte einen Blick mit Mr. Black. McKenzie zupfte verlegen an seiner Nase. Er wirkte wie ein ertappter Zechpreller. Aruulas Finger zuckten, doch sie ließ ihr Schwert in der Scheide. Rulfan tat so, als gehöre er gar nicht dazu. Er ignorierte die Bewaffneten ganz und gar. »Ich heiße Sie in Nydda willkommen«, fuhr Romanow höflich fort, »und entbiete Ihnen im Namen Ihrer Eminenz die besten Grüße und Wünsche.« Drax und McKenzie nickten, obwohl ihre Augen sagten, dass sie nur Bahnhof verstanden. Auch Rulfan schaute nun auf. Wulf legte seine Vordertatzen auf die Tischplatte und
gaffte Romanow an, als hätte zumindest er jedes Wort verstanden. »Ihre Eminenz besteht darauf, dass Sie während Ihres unfreiwilligen Aufenthalts in Nydda keinen Slupnik in den hiesigen Lokalitäten lassen. Ihr Unterhalt wird zu hundert Prozent vom Hause Benton beglichen.« Unfreiwilliger Aufenthalt?, dachte Black verdutzt. Was hat das nun wieder zu bedeuten? »Ach.« Matthew Drax' Miene besagte, dass er von der örtlichen Gastfreundschaft überwältigt, aber von höchstem Argwohn erfüllt war. Wer waren diese Leute? Und mit wem zum Teufel verwechselte man sie? »Mir scheint fast, Sie haben die Nachricht, die wir per Kuriervogel geschickt haben, gar nicht erhalten?« Romanows Blick heftete sich auf Black - das heißt, auf seine Brust. »Herr Oberst? Sie sind doch Oberst Stepan Myschkin, der Bruder des Fürsten Jurii? - Ah, nun sehe ich es: Ihr Name steht auf dem Familienwappen!« Oberst Stepan Myschkin? Black durchzuckte es siedend heiß. Seine Hand fuhr an das Schmuckstück an seiner Brust. Ihre Eminenz erwartete also hohen - fremden - Besuch, vermutlich aus einem fernen Land. Und das Schmuckstück identifizierte ihn als einen ihrer Gäste. Black hätte sich am liebsten in den Hintern getreten. Was würde geschehen, wenn er mit der Wahrheit herausrückte? Würde man ihnen glauben, dass sie die Leichen der Gäste Ihrer Eminenz nur gefunden hatten? Oder würde man sie für eine Bande von Mördern und Leichenfledderern halten? »Oh, gewiss«, sagte David McKenzie. Black schnappte nach Luft und sah im gleichen Augenblick, dass Drax, Aruula und Rulfan erleichtert aufatmeten. »Ihre Eminenz ist untröstlich«, fuhr Romanow fort, »weil sie Sie nicht persönlich zur Festung geleiten kann.« Er seufzte. »Aber aus Gründen, die Ihnen ja bekannt sind, weilt sie derzeit nicht in Nydda.« »Wir fühlen uns sehr geehrt«, sagte der Commander
gepresst. Jimi Romanow verbeugte sich erneut und deutete freundlich zur Tür. »Darf ich dann bitten? Die Quartiere für Sie und die Anverwandten des Fürsten sind vorbereitet, Hoheit.« Jetzt sitzen wir tief drin, dachte Mr. Black entsetzt. Wie kommen wir da nur wieder raus ? * Die Residenz Ihrer Eminenz war dem äußeren Anschein nach schon mehrere Jahrhunderte alt. Sie ähnelte den Burgen, die Black aus den Bildungsprogrammen kannte. Hohe Mauern aus grauen Steinquadern umgaben ein Anwesen, an dessen vier Ecken Türme mit spitzen Dächern aufragten. Die Zinnen waren so großzügig angelegt, dass auch der breitschultrigste Soldat bequem zwischen sie passte und eine Armbrust anlegen konnte. Hinter dem hölzernen Eingangstor befand sich ein mit großen Steinplatten ausgelegter Innenhof. Die Unterkünfte und Stallungen schmiegten sich an die Wände der Festungsmauern. Die Hofmitte wurde von einem dreistöckigen Palast eingenommen, den man über eine breite Freitreppe und ein zweiflügeliges Holzportal betrat. Hinter dem Portal wurden die Gefährten von scharlachrot gekleideten Lakaien und Zofen erwartet. Romanow wies ihnen den Weg in den Speisesaal. An die lange Tafel dort hätten gut und gern vierzig hungrige Menschen gepasst. Gedecke lagen auf. Sobald die Gäste Platz genommen hatten, eilte das Personal diensteifrig herbei und füllte ihre Teller mit teils undefinierbaren Speisen, nach deren Herkunft Black lieber nicht fragen wollte. Wie die anderen langte er tüchtig zu, bis sich in seinem Magen ein Gefühl der Sättigung breit machte. Als alle mit dem Essen fertig waren und etwas ermüdet in die Runde schauten, schnippte Romanow mit den Fingern, und die Lakaien fuhren sauren Wein und eine Brühe auf, die
wie Kafi schmeckte. Professor McKenzie sprach - wohl aus Verzweiflung, da die Blicke seiner Leidensgenossen ihn schon seit Stunden erdolchten - dem Wein zu. Den anderen war es wichtiger, einen klaren Kopf zu behalten. Denn mit jeder vergehenden Minute verdichtete sich das Gefühl in ihnen, dass diese zweifelhafte Glückssträhne nicht mehr lange anhalten konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie als Hochstapler entlarvt wurden. Und dann...? Das kann einfach nicht gut gehen, dachte Black. Er studierte aufmerksam den holzgetäfelten und mit allerlei Vorhängen, Wappen, Schilden und Säbeln verzierten Raum. Deshalb bemerkte er als Erster, dass sich rechts von ihm eine schmale Tür öffnete und ein elegant gekleideter, glatzköpfiger Jüngling mit wasserblauen Augen und femininen Gesichtszügen in den Saal trat. Romanow sprang dienstfertig auf und stellte ihn als »seine Hoheit, Baron Grigorij« vor. Der junge Mann war der Neffe Ihrer Eminenz. Baron Grigorij, etwa einundzwanzig Jahre alt, richtete den Blick spontan auf Aruulas unübersehbaren Busen, was Commander Drax und Rulfan gleichermaßen zu stören schien. Black wappnete sich, indem er seine Muskeln anspannte. Aber keiner der beiden ließ sich zu einer unfreundlichen Bemerkung hinreißen, und Aruula schenkte dem Baron sogar ein strahlendes Lächeln. »Sie sind also die geschätzten Verwandten des Fürsten Myschkin«, sagte Baron Grigorij und nahm Matthew Drax in Augenschein. »Ich darf doch gewiss annehmen, dass Sie meiner ehrenwerten Tante bei ihrem Feldzug gegen das Böse trotzdem alles erdenklich Gute wünschen?« »Aber natürlich«, sagte Dave McKenzie, der nun das zweite Glas Wein intus und offenbar schon einen in der Krone hatte. Erst dann schien der Astrophysiker zu begreifen, dass er im Begriff war, sich auf eine Konversation einzulassen, über deren Hintergrund er nichts wusste. Sein Blick wanderte von einem zum anderen, dann heftete er sich auf Romanow.
»Äh... ich weiß nicht, ob ich Baron Grigorij richtig verstanden habe...« Jimi Romanow räusperte sich. »Nun, der Baron weiß natürlich, wie schwer es Ihnen fällt, sich angesichts der Verbrechen des Fürsten freiwillig in Geiselhaft zu begeben. Wo doch niemand weiß, ob er sich davon überhaupt beeindrucken lässt...« »Geiselhaft?!« Drax' Kopf zuckte hoch. Rulfan wurde, falls dies überhaupt möglich war, um eine Nuance bleicher. Der unter dem Tisch sitzende Wulf begann zu knurren. Professor McKenzies bärtige Kinnlade sank herab. Aruulas Kopf flog von einer Seite zur anderen. Auch sie schien ihren Ohren nicht zu trauen. »Wir sind Geiseln?« »Da Sie Angehörige des Adels sind, werden wir Sie während Ihres Aufenthalts in der Festung natürlich mit aller Hochachtung behandeln«, sagte Baron Grigorij mit einem Blick auf Romanow. »So hat Ihre Eminenz es doch befohlen, nicht wahr?« »Aber gewiss.« Romanow nickte. »Es soll ihnen an nichts fehlen, hat sie gesagt.« Er schaute in die Runde. »Wir haben für unsere geschätzten Geiseln die besten Quartiere vorbereitet.« »Ich glaube«, sagte Commander Drax und beugte sich über den Tisch, »es ist an der Zeit, der Wahrheit die Ehre zu geben. Hier liegt ein Irrtum vor, meine Herren.« Der Blick seiner blaugrünen Augen bohrte sich in die Pupillen seines Gegenübers. »Wir sind mit dem Fürsten weder verwandt noch verschwägert. Wir kennen ihn nicht einmal. Offen gesagt - wir wurden Opfer einer Verwechslung.« »Ach, wirklich?« Baron Grigorij lachte herzlich. Romanow setzte eine indignierte Miene auf. »Natürlich verstehen wir Ihre Furcht, Hoheit«, verkündete er und zog mitfühlend die Schultern hoch. »Ich würde an Ihrer Stelle auch nicht unbedingt darauf vertrauen, dass Fürst Jurii Myschkin sich von Ihrem Geiselstatus daran hindern lässt, weitere Schandtaten zu begehen. Was schlimme Folgen für
Sie hätte.« McKenzies Mund blieb offen stehen. Rulfan blickte in die Runde und fragen sich wohl, in welchem Irrenhaus er da gelandet war. Aruula schien sich mit Gewalt daran zu hindern, das Schwert zu ziehen und schlagkräftige Argumente ins Feld zu führen. Sie wusste sehr wohl, dass sie damit nur ihrer aller Todesurteil unterzeichnet hätte. »Aber es ist die Wahrheit.« Mr. Black beschloss die Katze endgültig aus dem Sack zu lassen. Schlimmer konnte es eigentlich nicht kommen. Er beugte sich vor und deutete auf das Schmuckstück an seiner Jacke. »Ich bin nicht der Oberst, für den Sie mich halten. Ich habe dieses Ding...« Er holte tief Luft und berichtete von den Leichen, auf die er und seine Gefährten auf der Fahrt nach Nydda gestoßen waren. Es kam schlimmer... Baron Grigorijs Miene verfinsterte sich. »Sie wollen also behaupten, Sie hätten die Familie des Fürsten Myschkin ermordet, um sich hier in Nydda Kost und Logis zu erschleichen?« »Äh... nein, nicht ganz«, versuchte Black zu intervenieren. »Das ist die unglaublichste Ausrede, die ich je gehört habe!«, polterte Baron Grigorij weiter. »Und ich verstehe den Sinn dahinter nicht. Als Mörder und Hochstapler würden Sie auf der Stelle hingerichtet. Als Angehörige des Fürsten haben Sie zumindest noch eine Chance...« »Sie haben ganz Recht, es war unüberlegt«, fuhr Matthew Drax schnell dazwischen. »Wir ergeben uns natürlich rückhaltlos in Ihren Gewahrsam und hoffen auf eine friedliche Lösung des... hm, Problems.« Mr. Black kam nicht umhin, dem Commander in Gedanken Lob zu zollen. Sein Einlenken war in der Tat der einzige Weg gewesen, dem Henkersbeil zu entkommen - vorerst. »Gut dann...« Grigorij schien ihnen die »Notlüge« zu vergeben. Er wandte sich an Romanow. »Walten Sie nun Ihres Amtes, Kanzler.« Der schnippte mit den Fingern. Die Vorhänge an der linken
Wand des Saals teilten sich an zwanzig Stellen. Dann traten ebenso viele Soldaten in den Raum hinein und umstellten die Tafel. Bevor einer der Gefährten auch nur über Gegenwehr nachdenken konnte, zielten zwanzig Säbel auf ihre Kehlen * Als Black durch das Fenster seines neuen Quartiers im zweiten Stockwerk der Festung ins Freie schaute, herrschte draußen Dunkelheit. Die aus zwei Räumen und einem Bad bestehende Zimmerflucht, die man ihm als »Bruder des Fürsten« zugeteilt hatte, war so luxuriös ausgestattet, dass er zum ersten Mal seit langer Zeit einen Anflug von Wohlbehagen empfand. Dass man ihn von seinen Gefährten getrennt hatte, die in einer großen Gästesuite untergebracht waren, gefiel ihm freilich weniger. Allein fühlte er sich wie in einem goldenen Käfig. Außerdem behagte ihm die Vorstellung nicht, dass der Mann, für dessen Verwandte man sie hielt, vielleicht erst in Monaten geschnappt wurde. Vielleicht auch nie. So viel Zeit blieb ihnen nicht annähernd. Dass sie vor drei Tagen das Heer der Mutanten aus den Augen verloren hatten, bedeutete noch lange nicht, dass diese ihre Verfolgung abgebrochen hatten. Irgendwann - und das eher früher denn später - würden sie hier auftauchen, und dann wäre nicht nur die Gruppe um Commander Drax und ihn erledigt, sondern mit ihnen auch gleich ganz Nydda. Gegen den Ansturm eines viele tausend Köpfe starken Heeres war die Stadt nicht gewappnet. Außerdem musste die Londoner Techno-Community schnellstmöglich von ihren Erkenntnissen um die Daa'muren erfahren. Wenn Quart'ols Visionen und die Rückschlüsse daraus richtig waren, standen die Wesen aus dem Kratersee Black scheute sich noch immer, sie »Außerirdische« zu nennen - kurz davor, einen Wirtskörper zu erschaffen.
Bislang waren ihre Geistesinhalte in grün leuchtende Kristalle - in Myriaden von Kristallen! - eingesperrt gewesen. Aber die Rücksichtslosigkeit, mit der sie schon zu dieser Zeit Einfluss auf das irdische Leben nahmen, ließ für die Zeit ihrer »Körperlichkeit« das Schlimmste ahnen. Nein, dachte Black. Wir können nicht hier bleiben. Jeder Tag, den wir verlieren, kann für die Welt verhängnisvoll sein. Er dachte an den im Hof der Festung parkenden ARET. Schon bei der Einfahrt durch das Tor hatte er die Beachtung der Militärs gefunden. Hier wimmelte es von Kommissköpfen, und solche Leute waren - speziell in revolutionären Situationen - immer an neuen Waffen interessiert. Black hatte beim Aussteigen gesehen, wie die Offiziere den Panzer gemustert hatten. Es dauerte bestimmt nicht lange, dann kam irgendeinem halbklugen Kopf die Idee, dass man sich die eiserne Kutsche unter den Nagel reißen könnte. Und dann: Bye, bye, ARET. Für immer und alle Zeiten. Dann kommen wir nie mehr hier weg... Dies war einer der Gründe, warum Mr. Black wie ein gereizter Tiger in seiner neuen Unterkunft auf und ab ging und dem neben der Tür abgestellten Leutnant aus den Augenwinkeln betrachtete. Vorgeblich war der mit einem Kurzschwert bewaffnete Soldat anwesend, um die Wünsche der freiwilligen Geisel entgegen zu nehmen. Aber natürlich sollte er vor allem darauf achten, dass der Gefangene keinen Unsinn anstellte. Wie Ausbüxen, zum Beispiel. Auf den ersten Blick war der Mann zwar kein Geistesriese, aber er sah wach und kräftig aus, und sein eckiges Kinn konnte bestimmt einen kräftigen Bums aushalten. Sei's drum, dachte Black. Ich muss hier raus, und zwar sofort. Er hielt kurz inne, beugte sich zur Seite und blickte aus dem Fenster. Was er unter sich erspähte, ließ sein Herz einerseits frohlocken, doch andererseits auch vor Angst schneller schlagen. Eins nach dem anderen. Zuerst kommt die
psychologische Kriegführung dran. Und dazu gehört das Sammeln wichtiger Informationen... »Was halten Sie eigentlich von dieser ganzen Sache mit Fürst Myschkin, Soldat?«, fragte er unvermittelt. »Äh... wie?« Der Leutnant brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass die Frage an ihn gerichtet war. Dann besann er sich auf gute alte soldatische Grundsätze. »Ich habe keine eigene Meinung, Herr Oberst«, antwortete er zackig. »Guter Standpunkt.« Black schob sich um einen halben Meter an ihn heran. »Was wirft man Fürst Myschkin überhaupt vor?« Der Leutnant räusperte sich. »Also wirklich, Hoheit... Das müssten Sie als sein Bruder doch wissen: Hochverrat, Verschwörung, Geheimbündelei, Maßnahmen zum Sturz der von den Göttern eingesetzten rechtmäßigen Regierung...« Black trat einen weiteren Schritt näher. »... und Hühnerdiebstahl.« Black traute seinen Ohren nicht. »Es waren die Heiligen Hühner von Honza«, erklärte der Leutnant. »Ihre Eminenz pflegte jeweils ein Dutzend am Namenstag des Ur-Metropoliten zu opfern. Ihr Diebstahl war ein Sakrileg.« Mittlerweile war Black nur noch zwei Schritte von seinem Gegenüber entfernt war - nahe genug, um einen Angriff zu wagen. Aber vielleicht war es ganz gut, noch ein paar Informationen zu sammeln. Geschickt drang er weiter auf den jungen Offizier ein und erfuhr, dass man mit Racheakten rechnete: Eine unbekannte Anzahl von Myschkins Anhängern war vor einer Woche in einer nördlich gelegenen Festungsruine einem so genannten »Großreinemachen« entgangen. Ihre Eminenz spürte mit ihrer Garde den untergetauchten Verschwörer nach. »Wir rechnen mit Attentaten und Sabotageakten«, so der Leutnant. »Und ich fürchte, auch wenn Fürst Myschkins Anverwandte nun unsere Geiseln sind, wird ihn nichts davon abhalten.« Er seufzte. »Er weiß natürlich um die Güte Ihrer
Eminenz.« Dies immerhin ließ Black aufatmen. Zumindest konnten seine Gefährten also auf Gnade hoffen. »Nach der Demaskierung von Myschkins toten Anhängern hat sich erwiesen, dass fast alle zur Mittelschicht gehörten.« Der Leutnant hüstelte nervös. »Wir wissen nicht, wer die Entkommenen sind. Natürlich sind wir dem entsprechend nervös.« »Das bin ich momentan auch«, erwiderte Black und deutete mit der linken Hand zur Decke hinauf. »Sagen Sie mal, Leutnant, sind in Nydda alle Spinnen so groß?« Kein Soldat, der seinen Auftrag ernst genommen hätte, wäre auf diese billige Finte hereingefallen. Aber dank der Plauderei sah sich der Leutnant wohl nicht mehr als Bewacher, sondern eher als Gesellschafter einer hochgestellten Persönlichkeit. Deshalb fragte er sich auch noch in dem Moment, als sein Unterkiefer gefährlich knirschte, wo um alles in der Welt diese Spinne war, auf die Oberst Myschkin hinwies. Dann krachte sein Hinterkopf an die holzgetäfelte Wand, und bei ihm gingen die Lichter aus. Mr. Black fing den erschlaffenden Leib auf und ließ ihn langsam zu Boden gleiten. Sekunden später hatte das Kurzschwert des Leutnants den Besitzer gewechselt. Black huschte ans Fenster und öffnete es. Kühle Luft drang herein. Zu seiner großen Freude stand der von zwei Yakks gezogene Planwagen, den er vorhin gesichtet hatte, noch an seinem Platz unter dem Fenster. Der Kutscher, eine haarige Gestalt, an deren Gürtel ein bronzenes Hörrohr baumelte, kehrte gerade von den Geschäften zurück, die er in der Festung getätigt hatte. Black schwang sich aufs Fensterbrett und peilte die lederne Bespannung des Gefährts an. Ihn schauderte vor dem Sprung in die Tiefe. Aber er hatte keine Wahl. Sein Blick huschte über den Festungshof und saugte sich an dem Kutscher fest, der sich nun auf den Bock schwang.
Augen zu und durch. Als der Kutscher eine Peitsche ergriff und sie über den Hinterteilen seiner Zugtiere knallen ließ, ließ Black sich in die Tiefe fallen. Kaschiert vom rumpelnden Anfahren des Gefährts kam er unbemerkt auf. Die Bespannung hielt. Schon schlitzte die Klinge des Kurzschwertes das Leder auf. Black nahm sich nicht die Zeit, ins Innere des Wagens zu blicken, sondern ließ sich kopfüber in die Tiefe fallen. Er landete auf staubigen, nach Kartoffeln und Zwiebeln riechenden Säcken. Die Kutsche holperte in Richtung Tor. Blacks Herz pochte heftig. Hoffentlich konnte der Händler rasch passieren. Doch stattdessen hielt er an und redete mit einigen Männern. Es waren die Torwachen, die ihn wegen seiner Schwerhörigkeit aufzogen. Offenbar kannten sie den Mann gut und verzichteten auf eine Überprüfung seiner Fracht. Fahr endlich weiter, stöhnte Black innerlich. Nun mach schon... Noch hatte man seine Flucht nicht entdeckt... Doch was stand ihm bevor, wenn der Leutnant aus der Ohnmacht erwachte, das offene Fenster sah und die richtigen Schlüsse zog? Endlich ließen die Posten die Kutsche vorbei. Sie zuckelte gemächlich vorwärts. Black wartete zwei Minuten, dann robbte er bis ans Ende des Gefährts und streckte die Nase ins Freie. Die Festung lag mehrere hundert Meter hinter ihnen. Er atmete auf. Noch eine Minute, dann würde er sich auf Französisch verabschieden und in der Stadt untertauchen... * Mr. Black gönnte sich die erste Atempause, als er die engen Gassen der Innenstadt erreicht hatte. Bei all den dunklen Ecken und Schlupfwinkeln würden die Soldaten gar nicht erst versuchen, ihn hier aufspüren. Zu dumm aber auch, dass der ARET in der Festung stand! Mit dem Panzerfahrzeug wären die Chancen, seine Gefährten zu befreien, beträchtlich angestiegen. Nun, immerhin besteht
keine direkte Gefahr für ihr Leben. Und spätestens nach der Festnahme dieses Myschkin würde sich erweisen, dass sie tatsächlich nichts mit seinen Machenschaften zu tun hatten. Black stromerte nachdenklich durch die abendliche Stadt. Was konnte er nun tun? Herumsitzen und abwarten war nicht sein Ding. Vielleicht sollte er bis zur Rückkehr Ihrer Eminenz aus dem Norden warten und persönlich mit der Dame sprechen. Vielleicht kam sie ja auch mit dem gefangenen Myschkin in die Stadt zurück, sodass sich das Missverständnis von selbst aufklärte. Auf alle Fälle war es jetzt angeraten, dass er einen kühlen Kopf behielt und... Ein metallenes Geräusch schreckte ihn aus seinen Gedanken. Black schaute sich um und stellte fest, dass er sich in einer unbeleuchteten, menschenleeren Gasse befand. Vor ihm in der Finsternis lösten sich zwei Gestalten aus einer Toreinfahrt. Er sah das Aufblitzen ellenlanger Messer. »He, Alter«, hörte er eine schleimige Stimme sagen. »Haste dich verlaufen...?« Black verharrte in der Bewegung. Da sich im gleichen Augenblick über ihm eine Wolke teilte und das silberne Licht des Mondes auf ihn fiel, erkannten die zerlumpten Burschen erst jetzt, wie groß und breit er war. Der Kleinere, der wohl auch die besseren Augen hatte, sagte leise: »Hör mal, Stehen, ich glaub...« »Jaaa?« Black legte die Fingerspitzen aneinander und musterte die Kerle. Sie waren ungefähr zehn Jahre jünger als er. Ihre Visagen waren von Alkohol und Drogen verwüstet, ihre Fingerknöchel von zahllosen Schlägereien zernarbt. Die Klingen, mit denen sie herumfuchtelten - der Kleinere leicht unentschlossen, der Größere eindeutig auf Ärger aus - waren so scharf wie Rasiermesser. »Wir sind arm und mittellos«, sagte Stehen, »und haben seit Tagen nichts mehr gegessen.« »Ach, wirklich?« Blacks Muskeln spannten sich. Gelichter dieser Art kannte er aus Washington. Vermutlich warteten
die Burschen nur darauf, dass er seine Börse zückte, um sie ihm zu rauben und ihm bei Gegenwehr ein Messer zwischen die Rippen zu schieben. Er überlegte, ob er das Kurzschwert ziehen sollte, entschied sich aber dagegen. Mit diesen Gestalten wurde er auch ohne Waffengewalt fertig. »Ja, und da dachten wir, der freundliche Herr hat vielleicht ein bisschen Kleingeld für uns«, fuhr Stehen fort. Black begutachtete die Burschen. Sie waren ihm so nahe, dass der Geruch ihrer ungewaschenen Leiber in seine Nase drang. Er deutete er auf seine Jacke. »Leider habe ich kein Kleingeld dabei...« »Hör mal, Stehen«, sagte der kleine Ganove, der nicht nur bessere Augen, sondern offenbar auch mehr Grips im Kopf hatte. »Lass uns lieber...« »Schnauze, Oly«, sagte Stehen. Er ließ Black nicht aus den Augen. »Heißt das, Sie haben nur große Münzen?« Er leckte sich die Lippen. »Nur einen Tausender.« Mr. Black klopfte auf die Stelle, an der Normalbürger in der Regel die Brieftasche tragen. »Stehen«, sagte Oly warnend. »Lass uns abhauen... Ich glaub, der hatse nich alle.« Stehen ignorierte ihn. Er war wohl ein Anhänger der Philosophie, dass lange schartige Messer automatisch das Recht verliehen, sich zu nehmen, was einem gefiel. »Wir können rausgeben«, säuselte er und ließ seinen Dolch vor Blacks Nase aufblitzen. »Hier ist mein Wechselgeld siehste?« Im nächsten Moment fiel wohl der Mond auf Steens Kopf, und er fand sich mit wehem Steißbein und zuschwellenden Augen auf dem Pflaster wieder. Oly flog, den Gesetzen der Schwerkraft trotzend, mit ausgestreckten Gliedmaßen in den Torweg hinein, aus dem sie kurz zuvor in die Gasse getreten waren. Stehen war Profi genug, um den stechenden Schmerz in seinem Hintern zu ignorieren und auf die Beine zu springen. Als er hochkam, lief seine Nase gegen vier eisenharte
Knöchel, die sie so verbogen, dass sie eine Blutfontäne verspritzte. Trotzdem zuckte Steens Messer hoch und beschrieb einen Kreis. In der selben Sekunde traf ein spitzer Stiefel sein Gemächt. Er ließ das Messer fallen. Vor seinen Augen glühten Sterne auf. Nachdem sein Hinterkopf aufs Pflaster geknallt war, hörte er wie aus weiter Ferne Oly gellend um Hilfe rufen. Stehen schaute zu den Sternen hinauf - den echten diesmal - und spürte, dass sich jemand über ihn beugte. Kräftige Hände rissen an seiner Jacke. Die Deerhornknöpfe sprangen ab. Stehen fiel der Tag ein, an dem sein Vater gesagt hatte, es werde noch übel mit ihm enden. »Zu Hilfe«, hörte er sich zu seinem eigenen Erstaunen murmeln. »Ich werde ausgeraubt...!« Eine Faust krachte auf seine verletzte Nase. »Wahhh!« Während Stehen, von einem Nebelschleier eingehüllt, seine schmerzenden Knochen betastete, entfernten sich die Schritte des Hünen in Richtung Hafen. Stehen tastete mit bebender Hand nach seiner Geldkatze, aber die Tasche, in der sie sich normalerweise befand, fühlte sich eigenartig leer an. * Nachdem Black seine Beute begutachtet hatte, zog er den Schluss, dass er die nächsten Tage problemlos überstehen konnte. Er ließ die Metallmünzen durch seine Finger gleiten. Es war lange her, dass er Münzen benutzt hatte; in Washington wie fast überall in Meeraka galten Bax als übliches Zahlungsmittel. Kurz darauf gelangte er in ein Viertel, dessen rot beleuchtete Fenster verkündeten, dass man hier nicht mit den Hühnern zu Bett ging. Je tiefer er ins Hafenviertel vorstieß, desto lauter und munterer wurde die Umgebung. Aus den Gasthäusern drang das Geklimper und Geschrammel unbekannter
Musikinstrumente an seine Ohren. Die Menschen, denen er begegnete, sangen und grölten. Wenn er durch ein Fenster schaute, erblickte er bärtige Burschen mit goldenen Ringen in den Ohren. Sie schwenkten Humpen und kniffen bemalten Animiermädchen in den Po, die sie auf die Tanzfläche schleppten. An den Straßenecken drängelten sich hübsche und weniger hübsche Frauen in fadenscheiniger Kleidung und flüsterten den vorbeigehenden Herren Obszönitäten zu. Da Mr. Black in seiner Jugend in den Slums von Washington Patrouille gegangen war, waren ihm Trunkenbolde und ihre Damen nicht fremd. Da ihm jedoch wenig daran lag, die Nacht in einer Umgebung zu verbringen, in der man nur mit dem Messer in der Hand überlebte, schweifte sein Blick über die Tavernen, bis er eine entdeckte, die relativ solide wirkte. Als er sie betreten wollte, flog die Tür auf. Ein Mann mit einer schwarzen Pudelmütze flog an ihm vorbei und landete mit ausgestreckten Armen auf dem Pflaster. Zwei kahlköpfige Burschen mit freiem Oberkörper, von den Zehen bis zum Hals tätowiert, verfolgten den Flug des Unglücklichen mit rohem Gelächter, klopften sich die Hände ab, als hätten sie etwas Ekliges angefasst, und entboten Black einen freundlichen Gruß. Der nickte den Rausschmeißern zu, ging vorbei und schaute sich in der Gaststube um. Die Tische wurden vom üblichen Abschaum und den Wracks einer Hafenstadt frequentiert. Es wurde eifrig gewürfelt und mit Karten gezockt. Eine vierköpfige Damenband veranstaltete den dazu passenden Lärm und vollbrachte das Kunststück, jede Note so schräg zu singen, dass sich Blacks Nackenhaar sträubte. Unter der Decke hingen dekorative Fischernetze, die Wände waren mit ausgestopften Monsterfischen, Ankern, Tauen und weiterem Schiffszubehör verziert. Einige der am Tresen stehenden Damen zwinkerten ihm zu, als er sich auf einen hohen Hocker schwang und ein Biir bestellte.
Der Wirt, ein asiatisch wirkender Gentleman mit einem Zopf und Walross-Schnauzbart, knallte ihm einen schäumenden Humpen hin. Erst als Blacks Ohren schon in Schaum badeten, stieß er am Boden des Behältnisses auf Flüssigkeit. Nun ja, es war wohl besser, sich in diesem Umfeld nicht zu beschweren. Er war fremd in der Stadt, er kannte die Bräuche nicht und wollte sich nicht noch eine Auseinandersetzung auf den Hals laden. Ein Holzschild an der Wand verkündete, dass der Wirt auch Zimmer vermietete. Black nahm sich den Mann vor. Sie feilschte ein paar Minuten und wurden handelseinig. Da Black nach der vorzüglichen Mahlzeit in der Festung Ihrer Eminenz gesättigt war und nur noch das Bedürfnis verspürte, seine müden Knochen auszuruhen, leerte er den Humpen mit dem zweiten Schluck und begab sich, einen klobigen Schlüssel in der Hand, zur Treppe in den ersten Stock. Bevor er hinauf stieg, ließ er noch einen letzten Blick durch die Gaststube wandern - und dabei entdeckte er zwei Gestalten, die ihn mitten in der Bewegung stocken ließen. Was, um alles in der Welt, machten die beiden hier?! Von narbigen, kahlköpfigen, schnauzbärtigen Gestalten umgeben, hockten der Weltrat-Linguist Dr. Jed Stuart und Staff Sergeant Majela Ncombe in der hintersten Ecke der Kaschemme und stierten vor sich hin. Sie wirkten blass und erschöpft und schienen einige Kilo abgenommen zu haben. Geleerte Teller, die vor ihnen standen, zeigten, dass sie sich gerade gestärkt hatten. Eine Sekunde später hob Staff Sergeant Ncombe plötzlich ihren Kopf mit den Rasta-Locken, erspähte Black und schaute ihn ebenso verdutzt an wie er die beiden. Black seufzte. Obwohl es ihn gewiss nicht nach der Gesellschaft von Weltrat-Schergen gelüstete - auch wenn es ehemalige Weltrat-Schergen waren - hob er grüßend eine Hand und bahnte sich eine Gasse durch das singende Seemannsvolk. Zumindest war er neugierig darauf, was den beiden widerfahren war, nachdem sie sich bei Nacht und
Nebel am Kratersee abgesetzt hatten. »Mister, äh, Black?«, fragte Dr. Stuart überrascht, als er den Tisch erreichte und Platz nahm. »Sie hier? Wo... hm, sind die anderen?« Er schaute sich suchend um. »Erzähl ich Ihnen später«, erwiderte Black. »Was hat Sie denn hierher verschlagen?« Stuart seufzte. Dann atmete er tief ein und berichtete mit vielen »Äh's«, »Hm's« und verdrehten Sätzen von den Schicksalsschlägen, die Majela und ihn von ihrer geplanten Route nach Westen hatten abweichen lassen. Und von der Begegnung mit Mr. Tsuyoshi, Miss Honeybutt und dem Barbaren Pieroo mitten in der Taiga. »Als wir uns von den Dreien wieder trennen, nun ja, wir haben den, hm, Schienenstrang gesucht, von dem uns Vrago, äh, der Mutant berichtet hatte«, schloss Stuart seinen Bericht. »Nach zwei es waren doch zwei? -, ja, doch, also nach zwei Tagen kam ein, äh, Zug vorbei und nahm uns mit nach Nydda.« Majela Ncombe beugte sich vor. »Und Sie? Sind Sie schon länger hier? Und wo sind die anderen?« »In Schwierigkeiten. Was sonst?«, knurrte Black. Er fühlte sich in Stuarts Gesellschaft zunehmend unwohl. Die Spannungen zwischen ihnen, die zu dessen Abreise geführt hatten, begannen sich schon wieder aufzubauen. Die Pflicht, nun seinerseits vom Verlauf ihrer Fahrt zu berichten, war lästig und zeitraubend. Also beschränkte sich Mr. Black auf das Wesentliche. »Wir sind auf der Flucht. Commander Drax hat nach Ihrer Abreise ein... Ei zertreten. Die Glucke, die es gelegt hat, nimmt uns das offenbar übel.« »Sie meinen die... äh, Bruteinheit der Daa'muren?« Jed Stuart lächelte überlegen. »Aiko und Honeybutt haben uns bereits davon berichtet.« »Na, dann wissen Sie ja auch schon von dem Mutantenheer, das uns auf den Fersen ist«, konterte Mr. Black süffisant. »Ich schätze mal, es wird keine drei Tage dauern, bis es hier ist und Nydda dem Erdboden gleich macht.«
Dr. Stuarts Erschrecken hielt sich in Grenzen. »Wie ich Commander Drax kenne, hat er bereits einen Plan, wie der Gefahr zu begegnen ist, richtig?« »Falsch. Commander Drax ist selbst in Gefahr, und mit ihm Miss Aruula, Mr. Rulfan und Dr. McKenzie...« Er weihte Stuart und Ncombe in die Ereignisse des Tages ein. »Sie sind Gefangene der Metropolitin?« Ncombe machte große Augen. »Weil man sie für Verwandte eines Verschwörers hält?« Black nickte zerknirscht. Dass sein »Schmuckstück« letztlich dafür verantwortlich war, verschwieg er lieber. »Wir müssen sofort etwas zu ihrer Rettung unternehmen!« Stuart schlug verhalten auf den Tisch. »Wir haben nicht viel Zeit.« Mr. Blacks Wangenmuskeln spannten sich. »Nicht wir werden etwas unternehmen, sondern ich.« »Sie allein?« Ncombe schüttelte den Kopf. »Das kommt gar nicht in Frage!« »O doch.« Black war nicht daran gelegen, sich bei einem Unternehmen von mehr als zweifelhaftem Ausgang auf zwei ehemalige Handlanger des Weltrats zu verlassen, die er kaum kannte. Wären die beiden selbst Gefangene gewesen, hätte er selbstverständlich dazu beigetragen, sie zu befreien. Doch Ncombe und Stuart, die im Auftrag Washingtons nach Sibirien gekommen waren und erst nach einer Auseinandersetzung mit ihren Vorgesetzten auf die richtige Seite gefunden hatten, schienen ihm als Kampfgefährten ungeeignet. Um in eine schwer bewachte Festung einzusteigen, bedurfte es erfahrener Kämpfer. Den Akademiker und seine Freundin sah er vielmehr als Klotz am Bein. »Sie wären mir bei einem solchen Unternehmen nicht von Nutzen.« Stuart wirkte beleidigt, was man ihm nicht verdenken konnte. »Das war deutlich, Mr. Black.« »Es war sogar unverschämt.« Die Schwarze mit den Rastalocken umklammerte ihren Humpen, und es sah einen
Moment lang so aus, als wollte sie ihn Black ins Gesicht kippen. Dann blickte sie hinein und hob ihn an ihre Lippen. »Aber wer nicht will, der hat schon.« Black atmete auf. »Am besten buchen Sie eine Passage auf der Eisenbahn, mit der Sie nach Nydda gekommen sind«, schlug er in versöhnlicherem Ton vor. »Verschwinden Sie auf dem schnellsten Weg nach Westen, bevor die Mutanten hier eintreffen und Nydda zu Kleinholz verarbeiten. London muss von diesen Dingen erfahren. Und falls Sie es nicht nach London schaffen, dürften zumindest die hiesigen Technos zu schätzen wissen, was Sie ihnen zu erzählen haben.« Stuart nickte stumm. Black fügte hinzu: »Außerdem sind Sie doch beide auf das Serum angewiesen, wenn ich richtig informiert bin.« Die Technos aus Washington hatten das Privileg, sich als einzige bekannte Bunkerzivilisation ohne Schutzanzüge auf der Oberfläche tummeln zu können. Dies verdankten sie einem Serum, das ihr defektes Immunsystem regenerierte - und das man vor dreißig Jahren aus dem Blut Mr. Blacks gewonnen hatte. Jenes Serum war überhaupt erst der Grund gewesen, warum der Weltrat ihn einst aus den tiefgefrorenen Genproben des letzten US-Präsidenten, Arnold Schwarzenegger, geklont hatte. Der Haken war: Man musste das Serum in einem Infusions-Beutel stets am Körper tragen. War der Vorrat aufgebraucht, kam der Tod innerhalb weniger Stunden. Black musterte den Linguisten und seine Gefährtin mit ernster Miene. »Sie sollten nicht mehr Zeit verlieren als unbedingt nötig.« »Sie haben sicher Recht, Mr. Black.« Stuart deutete fahrig zur Straße hinaus. »Aber von hier zu verschwinden ist nicht so einfach, wie Sie glauben. Nydda hat eine Geldwirtschaft. Die Leute von der Bahn wollen bezahlt werden.« Er deutete auf seinen Teller. »Für diese Mahlzeit hat Majela in der Küche Töpfe und Pfannen geschrubbt. Und ich habe Holz gehackt.« Er hob seine von Blasen übersäten Handflächen.
Blacks Mundwinkel zuckten, als er den Verlust der eben erbeuteten Börse gegen den Abzug der beiden Welträtler abwog. »Ich glaube, da kann ich helfen«, sagte er dann und zog die Geldkatze aus der Jacke. »Zeigen Sie mir den Weg zum Bahnhof. Ich glaube, ich muss heute Nacht noch allerhand erledigen.« * Als der Zug sich zischend und ratternd nach Westen in Bewegung setzte, winkte Black Stuart und Ncombe noch einmal zu. Das Lächeln in seinem Gesicht war aber eher erleichtert denn freundlich. Das stählerne Monstrum, das nur zwei Mal in der Woche die Strecke Nydda-Kiew befuhr, verschwand in der dunklen Ferne, und er machte sich auf den Rückweg. Zum Glück war der Bahnhof nicht weit von dem Viertel entfernt, in dem sein Quartier lag. Die Gewissheit, die beiden sowohl aus der Schusslinie als auch von seiner Seite entfernt zu haben, erfüllte ihn mit Optimismus, und so schritt er kräftig aus. Minuten später betrat er die Taverne, in der er nachdenken und sich ausschlafen wollte, bevor er zur Tat schritt. Mitternacht war inzwischen vorüber. Das Publikum hatte gewechselt. Als Black durch die Tischreihen ging, wurde er von fischäugigen Blicken aus verwüsteten Visagen gemustert. Auch in Nydda lebten Männer, die nichts mehr hassten als Verstand und die in jedem Menschen mit ausgeprägter Muskulatur nur unerwünschte Konkurrenz sehen. Eine solche Gestalt, ein flachnasiger Schlägertyp, saß mit einem anderen, ziemlich lädierten, in dem Black erst auf den zweiten Blick Stehen aus der Gasse erkannte, an einem Tisch. Zwischen ihnen hockte ein bleicher Seemann mit einer schwarzen Augenklappe. Die vor den Männern liegenden Münzen und Würfel zeigten, dass sie gerade mit wichtigen Dingen beschäftigt
gewesen waren. Nun hielt Stehen dem Seemann, der sich wohl erdreistet hatte, ihn zu besiegen, ein Messer an die Kehle und raffte den Gewinn an sich. Mr. Black hatte nicht vor, alte Geschichten aufzuwärmen oder sich einzumischen. Zügig wollte er an dem Tisch vorbei gehen... als Stehens Blick ihn traf. Plötzlich waren Seemann, Messer und Gewinn vergessen. Stehen sprang auf und deutete mit hasserfüllter Miene auf Black. »Das ist er, Wladi«, fauchte er. »Das ist der Kerl, der Oly und mich überfallen und ausgeraubt hat!« Der tückische Blick Flachnases richtete sich auf Black. Schon öffnete er den Mund und bleckte zwei unansehnliche Zähne. »Du Saubeutel hast meinen kleinen Bruder verprügelt?«, knurrte Wladi und zückte sein Messer. »Ihr kleiner Bruder«, entgegnete Black und blieb stehen, »stellt die Dinge ein wenig einseitig dar.« »Soll das heißen, er lügt?«, fauchte Wladi. Helle Empörung verzerrte seine Gesichtszüge, die so unschön waren, dass nur eine Mutter sie lieben konnte. Black begriff, dass er aus dieser Nummer nicht ohne Gewaltanwendung heraus kam. Rings um sie her wurden zahlreiche Tische frei. Der bezopfte Wirt ging hinter der Theke in Deckung, und auch die anwesenden Damen zogen sich kollektiv zurück. Ehe fünfzehn Sekunden vergangen waren, hatte sich die Lokalität bis auf zwei Gestalten geleert, die schlafend unter den Tischen lagen. Nur Black, Wladi, Stehen und der einäugige Seemann blieben zurück. »Zumindest sagt er nicht die ganze Wahrheit«, erwiderte Black, ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen. »Bevor ich mich genötigt sah, handgreiflich zu werden, wollten er und sein Kumpel mich ausrauben.« »Was?!« Wladi schaute seinen Bruder von der Seite an. »Und mir erzählt er immer, er geht die Ställe Ihrer Eminenz ausmisten, um sich Brot und Biir zu verdienen.« »Hör mal, Wladi...«, warf Stehen beleidigt ein.
»Maul halten«, sagte Wladi. Er fing an, sich mit seinem Messer die Fingernägel zu reinigen, die im Übrigen dringend einer Reinigung bedurften. »Aber sei's drum: Du hast meinen Bruder verprügelt und ausgeraubt, da beißt die Ratze keinen Faden ab«, sagte er. »Dafür verlangen wir ein ordentliches Schmerzensgeld... sagen wir, den doppelten Inhalt seiner Geldkatze!« »Sonst?«, erkundigte sich Black. »Sonst stech ich dich ab, du Sack«, knurrte Wladi und bleckte noch einmal seine beiden Zähne. Der einäugige Seemann fühlte sich an dem Tisch zunehmend unwohl, aber solange er in Reichweite von Stehens Messer war, wagte er keinen Abgang zu machen. Aus weit geöffnetem Auge verfolgte er die Szene. »Dann tut es mir Leid - für Sie«, entgegnete der blonde Hüne soeben. »So viel Geld habe ich nicht.« Wladis Augen wurden zu tückischen Schlitzen. Er wechselte das Messer blitzschnell von der einen Hand in die andere. »Dann musst du leiden!« Der Fremde, so beobachtete der Seemann, griff nun hinter seinen Rücken. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie ein Kurzschwert, etwa drei Mal so lang und breit wie Wladis Klinge. »Auch über diesen Punkt müssen wir noch diskutieren«, sagte er trocken. Stehen gurgelte. Wladi erbleichte und wich zurück. »Hör zu, Mann«, sagte er so heiser wie hastig und schob sein Messer hinter den Gurt seiner Pumphose. »Das war doch nur 'n Scherz!« »Ach?«, fragte der Hüne. »Und ich hatte mich schon auf einen ordentlichen Kampf auf Leben und Tod gefreut...!« »Aber nein, nicht doch.« Wladi zog sich in Richtung Tür zurück. »Für so was hab ich gar keine Zeit. Ich muss weg...« Stehen eilte hurtig hinter ihm her - ohne das Geld des Seemanns mitzunehmen. Sekunden später hatten sie die Taverne verlassen. Black steckte sein Messer weg, und der Seemann erhob sich
von seinem Stuhl, um sich bei ihm zu bedanken. »Ich dachte schon, mit mir ist es aus«, rasselte er aufgeregt und schüttelte Mr. Black die Hand. »Bevor Sie reinkamen, haben die Kerle behauptet, ich hätte beim Würfeln betrogen... Ich dachte, die nageln mich an die Wand!« Er war Kapitän eines Schiffes im Hafen und hieß Boronin. Nachdem Black sich vorgestellt hatte, zerrte er ihn zur Theke, hinter der nun auch der Wirt wieder auftauchte. »Auf den Schreck müssen Sie einen mit mir heben«, sagte der Kapitän. »Ich stehe in Ihrer Schuld. Sollten Sie je Lust auf eine Seereise haben, fragen Sie im Hafen nach dem Raddampfer Genosse Troozki. Wir befahren das ganze Nordmeer bis hinüber zu den Nebelinseln, auf denen die Britanjer hausen...« Britanjer klang nicht schlecht, fand Black. Er dachte spontan an das sie verfolgende Heer. Vielleicht war es von Vorteil, wenn sie den Rest des Weges per Schiff hinter sich brachten. Auf See konnten die Mutanten sie bestimmt nicht verfolgen. »Danke für das Angebot, Kapitän«, sagte er. »Es ist gut möglich, dass ich in ein oder zwei Tagen mit einigen Freunden genau dorthin muss!« »Ihre Freunde sind auch meine Freunde!« Kapitän Boronin stieß mit ihm an. »Und zwei Tage liegen wir sicherlich noch hier vor Anker.« Das Zeug, das sie tranken, war Alkohol von derart ätzender Schärfe, dass Black um den Bestand seines Zellgewebes fürchtete. Trotzdem leerte er tapfer sein Glas und gestattete sich noch ein paar Minuten Konversation mit dem Kapitän. Dann täuschte er heftige Müdigkeit vor und begab sich auf sein Zimmer. Kurz darauf wälzte er sich schlaflos auf seinem harten Lager und grübelte über einem Plan, die Soldaten Ihrer Eminenz auszutricksen, seine Gefährten zu befreien und den ARET zu stehlen. Eine Lösung des Problems kündigte sich erst an, als er die
Prioritäten vertauschte. Erst in die Festung eindringen. Dann den ARET entern. Und mit dem Panzer die Gefährten befreien. Wenn er die Wandung des ARET richtig einschätzte, war sie stark genug, die Festungsmauern in ihre Bestandteile zu zerlegen - zumindest die inneren. Fragte sich nur, ob er selbst in die Festung eindringen konnte, ohne dass man ihn in seine Bestandteile zerlegt... * Weiße Nebelfetzen waberten über der Bucht und hüllten die dicken Quader in fast undurchdringlichen Dunst, als Mr. Black, das Gesicht mit dem Ruß eines angesengten Flaschenkorkens geschwärzt, lautlos vom Boden aufstand und die aufragende Mauer einer genauen Untersuchung unterzog. Fast fühlte er sich wie bei den Straßenkämpfen mit seinen Running Men in Washington. Nur dass er diesmal allein gegen eine ganze Truppe stand. Die Fugen zwischen den Steinen der Festungsmauer waren zwei Zentimeter breit, aber als Kletterhilfe leider ungeeignet. Für einen Freeclimber, die im 20. und den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts mit nichts außer ihren Fingern und Füßen Mauern und Felsen bestiegen hatten, war Black definitiv zu schwer und ungeübt. Aussichtsreicher erschien Black da schon die eiserne Fahnenstange, die zehn Meter über ihm unterhalb der Zinnen waagerecht aus der Wand ragte. Zum Glück war heute kein Banner an ihr befestigt... Black nahm die Seilrolle von der Schulter. An ihrem Ende hatte er einen kleinen vierzackiger Anker befestigt. Beide Gegenstände hatten noch vor einer halben Stunde die Gaststube seiner Unterkunft geziert. Er stellte sich parallel zur Mauer, kniff das linke Auge zusammen, peilte die Stange an und schwang das Seil seitlich wie ein Lasso. Als er es los ließ, flog der Anker der Fahnenstange entgegen. Zu kurz! Bevor der Anker gegen die Festungsmauer
schlagen könnte und das Geräusch eine Wache alarmierte, entfernte sich Mr. Black ein paar Schritte von der Mauer und riss ihn zurück. Er landete neben ihm im hohen, schalldämpfenden Gras. Auf ein Neues! Nach dem vierten Versuch sagte ihm ein leises metallisches Ping, dass er getroffen hatte. Black legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. Der Anker war gelandet. Zur Kontrolle zog er kurz an dem Seil. Dann grunzte er zufrieden und hangelte sich hoch. Als er auf der verankerten Fahnenstange hockte, riskierte er einen vorsichtigen Blick durch eine Zinne. Es war niemand zu sehen. Auf der Mauer gegenüber - mindestens fünfzig Meter entfernt - standen zwei einsame Gestalten mit Pickelhauben und redeten leise miteinander. Black wartete geduldig, bis sie ihre Runde fortsetzten und hinter dem Haupthaus verschwanden, das den Mittelteil der Festungsanlage einnahm. Schließlich schwang er sich über die Zinne, sank auf einen steinernen Laufgang und legte sich flach auf den Boden. Tief unter ihm, doch nicht weit entfernt, ragte der Umriss des ARET auf. Der sibirische Silbermond beschien ihn so hell, dass er ihn in allen Einzelheiten erkennen konnte. Die Luken waren geschlossen, die Scheiben unbeschädigt. Es sah so aus, als hätten die hiesigen Machthaber noch keine Möglichkeit gefunden, in das Fahrzeug einzudringen. Dann gewahrte Black die Gestalt eines hoch aufgeschossenen Soldaten, der, eine Kifette zwischen den Zähnen, das Fahrzeug umkreiste. Er unterdrückte einen Fluch. Zumindest eine Wache hatte Baron Grigorij also beim ARET postiert. Das verkomplizierte die Sache allerdings. Mr. Black schaute zum Himmel hinauf und suchte nach Wolken, die ihm vielleicht dienlich sein konnten. Ah, da war ja eine... Sie bewegte sich langsam auf den Mond zu. Blacks Plan war einfach, und meist waren es die einfachen Pläne, die funktionierten. Er hatte auch keine Zeit für eine ausgeklügelte Strategie gehabt. Je näher die Mutantenarmee
Nydda kam, desto wahrscheinlicher wurde ein Angriff auf die Stadt, auch wenn die Gesuchten schon weiter gezogen waren. Endlich schob sich die Wolke vor den Mond. Es wurde dunkel im Hof. Black glitt wie eine Python über den offenen Wehrgang und stieß auf eine nach unten führende Treppe. Er überwand sie mit absoluter Lautlosigkeit, huschte auf Samtpfoten über den Hof und war stets darauf bedacht, dass sich zwischen ihm und dem Posten eine Deckung befand. Meter um Meter arbeitete er sich an ihn heran. Erst als er hinter dem Mann stand und dazu ansetzte, ihn mit einem Schlag auf den Kopf unschädlich zu machen, fiel ihm auf, dass er einen Helm trug. Was nun? Black hielt den Atem an, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und näherte seine linke Hand dem Pickel, der den Helm krönte, während die rechte zum Schlag ausholte. Die Finger der Linken öffneten sich, die der Rechten ballten sich zur Faust. Nur wenige Zentimeter noch... In dem Moment, als Black den Pickel packte und den Helm nach oben riss, fuhr der Mann herum. »Was...?« Weiter kam er nicht. Blacks Rechte schnellte los wie vom Katapult abgeschossen. Im nächsten Moment krachte sie in das Gesicht des Postens, erstickte jedes weitere Wort im Ansatz und holte ihn von den Beinen. Schnell packte Black den Kragen des Mannes und hielt ihn aufrecht, um zu verhindern, dass sein Brustpanzer beim Aufschlag schepperte. Er ließ ihn vorsichtig zu Boden gleiten, platzierte den Helm auf den Bauch des Besinnungslosen und eilte zur Beifahrer-Notluke des ARET. Sie ließ sich - wie Mr. Stuart beim Fund des Panzers herausgefunden hatte - von außen mit einem Kodewort öffnen. Black musste es mehrmals und mit zunehmender Lautstärke aufsprechen, bevor der Computer des ARET endlich reagierte. Die Luke glitt zischend auf. Black zuckte ob des lauten
Geräuschs zusammen - bis er sich sagte, dass das Starten des Motors die friedliche Stille in der Festung ohnehin empfindlich stören würde. Er schwang sich hinein, rutschte auf den Fahrersitz und drückte die Taste, die die Luke verschloss. Erst als sie ins Schloss gefallen war, fiel ihm auf, dass das Licht im Inneren des Panters nicht erst bei seinem Einstieg aufgeflammt war. Es war schon eingeschaltet gewesen! Im nächsten Augenblick spürte Black die Mündung eines Drillers in seinem Nacken, und eine freundliche Stimme, die er irgendwo schon mal gehört hatte, sagte: »Willkommen an Bord dieses technischen Wunderwerks, Hoheit. Natürlich habe ich Sie erwartet!« * Nachdem Mr. Black den Schrecken überwunden hatte, fiel ihm ein, woher er die Stimme kannte. Trotzdem wagte er nicht den Kopf zu drehen, denn er wusste nichts über die Empfindlichkeit von Baron Grigorijs Zeigefinger - oder ob der junge Adelige mit der Weltrat-Waffe weit genug vertraut war, um ihm nicht versehentlich in den Hinterkopf zu schießen. Jetzt wurde ihm auch klar, warum er so einfach in die Festung ein- und zum ARET hatte vordringen können, und aus Wut über sich selbst hätte er am liebsten laut geschrien. Natürlich hatte man nach seiner Flucht vermutet, dass er zurück kam, um seine »fürstliche Familie« zu befreien. So viel zum Thema »einfacher Plan«... »Wenn Sie sich die Mühe machen mir zuzuhören, Baron«, begann Black, »werden Sie verstehen, warum ich...« »Aber ich bitte Sie, mein Lieber!« Baron Grigorij lachte fröhlich. »Ich weiß doch längst, warum Sie hier sind.« »Das denken Sie. Aber in Wahrheit sind meine Begleiter und ich -« »- gar nicht die Anverwandten des Fürsten«, vollendete
Grigorij den Satz. »Auch das ist mir längst klar.« »Oh. Tatsächlich?« Black atmete auf. »Aber natürlich. Ihre schreckliche Aussprache, dieses eiserne Gefährt hier, ihre Ahnungslosigkeit in einfachsten Belangen der Etikette... nur ein Trottel wie Romanow konnte all diese Hinweise übersehen.« »Dann steht unserer Freilassung und Abreise also nichts mehr im Wege?«, hoffte Black. »Das würde ich nun nicht unbedingt sagen.« Erneut spürte Black die Mündung des Drillers in seinem Nacken. »Warum wohl habe ich diese Farce mitgespielt? Ihre fremdartigen Waffen und diese wunderbare Eisenkutsche erscheinen mir sehr gut brauchbar... als Instrumente zur längst fälligen Ablösung meiner ehrenwerten Tante.« Black stöhnte auf. Der Baron kochte irgendein eigenes Intrigantensüppchen. Er war nicht daran interessiert, Ihrer Eminenz die Wahrheit über die falschen Geiseln zu erzählen. »Sie ahnen ja gar nicht, was Sie da anrichten«, begehrte er auf. »Wissen Sie eigentlich schon, dass nur zwei, drei Tagesmärsche von hier eine gewaltige Armee...« »Maul halten!« Der Driller knallte so heftig gegen Blacks Hinterkopf, dass seine Ohren klingelten. »Dass Sie sich als Angehörige der Familie Myschkin ausgegeben haben, war schon peinlich genug. Jetzt mit einer ominösen Armee zu drohen - pah!« Fast hätte Grigorij ausgespuckt. Black platzte fast vor Wut. Dieser aufgeblasene Wicht setzte mit seiner Sturheit und seinen Machtgelüsten eine ganze Stadt aufs Spiel! »Und jetzt«, wisperte ihm der Baron ins Ohr und deutete mit dem Driller auf das Festungstor, »setzen Sie die Eisenkutsche in Bewegung und brechen durch.« Black zuckte zusammen. »Durch das Tor, meinen Sie?« Erneut krachte der Driller gegen seinen Schädel. Black stöhnte leise auf. »Haben Sie ein Ohrenleiden?« Es war wohl müßig zu fragen, was der Baron mit einem
solchen Manöver erreichen wollte: Er wollte den ARET in seinen persönlichen Besitz bringen. Und dabei den Verdacht auf den entflohenen Baron Myschkin lenken. Wenn Grigorij sich bis jetzt schlau verhalten hatte - und Mr. Black zweifelte nicht daran -, dann fiel auf ihn selbst nicht die Spur eines Verdachts. Black beugte sich zähneknirschend über die Armaturen und aktivierte das Triebwerk. Der Motor war kaum zum Leben erwacht, als der Posten draußen aus seiner Ohnmacht erwachte, hochschreckte und Alarm schlug. Als der ARET wendete und auf das Tor zufuhr, strömten von überall her Bewaffnete zusammen. Baron Grigorij lachte laut, als der fünfzehn Meter lange ARET mit voller Wucht gegen das Tor krachte und es aus den Angeln hob. Die ihm folgenden Bolzensalven der Wachen prallten wirkungslos ab. Der Panzer ließ die Festungsmauern hinter sich und fuhr durch die nächtliche Küstenstadt, scheuchte Frühaufsteher in die Gassen zurück und nahm Kurs auf das Stadttor. Als die dort postierten Wachen sein unheimliches Röhren vernahmen, zogen sie ihre Säbel und gingen mutig in Stellung. Doch je näher das Ungetüm ihnen kam, desto größer wurde ihre Furcht, und so machten sie ihm schließlich fluchend Platz. Die Stadtmauer verschwand in der Dunkelheit. Mr. Black brauste durch die Nacht. Baron Grigorij wies ihm mit drohenden Gebärden den Kurs. Die Hand mit dem Driller blieb stets hinter Blacks Rücken und ließ ihm keine Chance zur Gegenwehr. Wälder und Auen zogen an ihnen vorbei. Bald fingen draußen die Vögel an zu zwitschern und der Horizont wurde heller. Auf Grigorijs Geheiß ging es mit Höchstgeschwindigkeit an der Bucht entlang nach Norden. Black warf einen letzten Blick auf die Hafenanlage. Die Aufbauten der Segler und Dampfer wurden im Zwielicht allmählich sichtbar - darunter auch das Schiff von Kapitän Boronin, das ihm vorhin noch als Möglichkeit erschienen
war, dem Mutantenheer zu entkommen. Es handelte sich um einen kastenförmigen Raddampfer mit einer rückwärtigen Schaufel und zwei seitlichen. Wo lag Grigorijs Ziel? Was würde er tun, wenn sie es erreicht hatten? Sich des unbequemen Zeugen mit dem Driller entledigen? Nein, dachte Black. Er braucht mich. Wenn er den ARET benutzen will, muss er lernen, wie man ihn bedient. Der Gedanke gab ihm neuen Auftrieb. Schon überlegte er sich, wie er den Baron davon überzeugen konnte, dass er selbst als Panzerfahrer ungeeignet war. Der Mann war ziemlich von sich eingenommen. Vielleicht kam er mit dem richtigen Denkanstoß von selbst auf die Idee, dass es besser war, dieses Gerät von einem Fachmann bedienen zu lassen. Die Landschaft wurde unwirtlicher. Von der Küstenstraße ging es nach rechts, einen Hang hinauf. An ihn schloss sich ein hügeliges, bewaldetes Gelände an. Black entdeckte zwischen den Bäumen finstere Türme und lädiert wirkende Mauern. Grauweiße, geierähnliche Vögel umkreist das Gemäuer. Black schüttelte sich unwillkürlich. Kein gutes Omen. Ihm fiel ein, was der überrumpelte Leutnant über das Gemetzel in der alten Festungsruine erzählt hatte, und ihm wurde mit Erschrecken klar, dass er auf dem besten Weg war, sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Hielten sich die Verschwörer etwa noch immer hier auf? Offensichtlich nicht, denn der Baron knurrte: »Jetzt nach rechts abbiegen!« Black folgte dem Befehl. Weiter ging die Fahrt durch ein Gehölz. Die Bäume standen so dicht, dass das Vorankommen mit jedem Meter schwieriger wurde. Der ARET ratschte an tief hängendem Geäst vorbei. Schließlich musste er einen reißenden Bach durchqueren. Am anderen Ufer scheuchte Black eine Herde Wisaaun mit gefährlich blitzenden Hauern auf, die sich dem metallenen Eindringling mit aggressivem Schnauben entgegen stellten,
um ihn aus ihrem Revier zu vertreiben. Die ARET-Panzerung war jedoch härter als die Schweineköpfe, und so hallte der Forst kurz darauf von schrillem Quieken wider. Sie verließen den Wald. Vor Mr. Black öffnete sich ein enges Tal, das er auf Anweisung des Barons durchqueren musste. Es endete an einer von Gestrüpp und pflanzlichen Parasiten überwucherten Felswand. Über dem Boden wehte grauweißer Dunst. Die knorrigen Bäume, die in der Umgebung wuchsen, wirkten mit ihren verkrüppelten Ästen wie Schauergestalten aus einem Märchenwald. »Anhalten«, schnarrte Baron Grigorij. Dann erhielt Black den Befehl, die Eisenkutsche durch die Luke an der Fahrerseite verlassen und sich flach auf den Boden zu legen. Was blieb ihm anderes übrig? Als er im Dreck lag und Nebelschwaden seine Nase umwehten, befahl ihm Grigorij, er solle die Arme auf den Rücken drehen. Gleich darauf klickte es. Als Black versuchsweise die Hände bewegte, spürte er, dass sich metallene Armbänder um seine Gelenke spannten. Sie waren mit einer kurzen Kette verbunden. Er will mich also noch nicht umbringen, sonst würde er sich diese Mühe wohl kaum machen. Baron Grigorij baute sich mit dem Driller in der Hand vor der überwucherten Felswand auf. »Mein Fürst!«, rief er leise. »Ich bin wieder da!« Black hob vorsichtig den Kopf. Obwohl der Dunst seine Sicht behinderte, sah er, dass das Gestrüpp sich teilte. Hinter den Blättern und Ranken war ein dunkler Fleck zu sehen, vermutlich der Einstieg zu einer Grotte. Dann sah er einen hageren, spitzbärtigen Mann mit wirr abstehendem schwarzen Haar. Er schaute sich argwöhnisch um, als hätte er Grund, das Licht des neuen Tages zu scheuen. Schließlich trat er ins Freie. Seine herrisch wirkenden Bewegungen sagten Black, dass er sich für etwas Besseres hielt. Der Mann war schwarz gekleidet und wirkte ein wenig derangiert, als hätte er sich seit bereits seit Tagen in der Höhle verborgen.
»Grigorij! Endlich!« Black zweifelte nicht daran, dass es sich um Fürst Jurii Myschkin handelte, dem seine Gefährten ihre Gefangenschaft verdankten. Er war also noch immer auf freiem Fuß, und es sah nicht so aus, als würde Ihre Eminenz ihn in Kürze festnehmen. Dies wiederum bedeutete, dass Drax und die anderen weiterhin in ihrem Kerker in Nydda würden schmachten müssen. Je näher der Spitzbart kam, desto mehr war Mr. Black überzeugt, in Schwierigkeiten zu stecken. Der Blick seiner tief liegenden Augen war stechend, und er erweckte bei jeder Bewegung den Eindruck eines an Geist und Seele erniedrigten Menschen - das schlimmste Verbrechen, das man jemandem antun konnte. Mit dem Kerl ist nicht gut Kirschen essen. Der ist es gewohnt, mit jedem kurzen Prozess zu machen, der seine Ansichten nicht teilt. Myschkin begrüßte den Baron mit einem Schulterklopfen. Die beiden Männer begutachteten den ARET und tuschelten miteinander. Dann näherten sie sich wieder dem gefesselt am Boden Liegenden. Der Baron packte Black an den Schultern und zog ihn auf die Beine, bis er dem Fürsten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. »Wie heißt du?«, fauchte der Verschwörer. Sein tückischer Blick maß Black von den Zehen bis zum Schöpf. Dem Running Man war klar, dass er mit Widerstand wenig erreichen würde; im Gegenteil. Er räusperte sich. »Mein Name ist Black.« In Myschkins Augen funkelte Interesse. »Woher kommst du?« »Aus Britanja.« Black hielt es für klug, alles zu verschleiern, was den Mann weiterbringen konnte. »Ah, aus dem Nebelland! Meine Kundschafter haben mir davon schon berichtet. Stimmt es wirklich, dass die Männer dort weibischer sind als die Weiber?« Eine klare Beleidigung. Black spielte den Entrüsteten,
obwohl er noch nie in Britana gewesen war. Schon krachte der Driller gegen seinen Hinterkopf. »Sprich gefälligst, wenn Fürst Myschkin das Wort an dich richtet, du Hund!«, zischte Baron Grigorij. »Nun, weibische Männer soll es überall geben, sogar hier...« Black verbiss seinen Schmerz. »Was suchen du und deine Banditen hier?«, fragte der Fürst weiter. »Warum habt ihr euch als meine Verwandten ausgegeben?« Black dachte kurz nach. Was war noch gleich die letzte »Wahrheit«, die er zum Besten gegeben hatte? Verdammt, dieses ganze Gespinst aus Ausflüchten, Halbwahrheiten und Missverständnissen war kaum noch zu entwirren. Hatte Grigorij dem Fürsten vom Tod seiner Verwandtschaft erzählt? Glaubte er, dass Black und die anderen an deren Ableben beteiligt waren? Black beschloss so wenig wie möglich zu sagen. »Na schön«, seufzte er. »Wir sind Glücksritter aus dem Westen, die ihr Schwert an Edelmänner verdingen.« Baron Grigorij lachte meckernd. »Ich würde seinem Geschwätz nicht trauen, mein Fürst«, warf er geringschätzig ein. »Er ist vermutlich der Anführer einer gewöhnlichen Räuberbande, die mehr auf Gold und Geschmeide aus ist statt auf Ruhm und Ehre.« »Räuberbande?!«, entrüstete sich Black. »Wem wir dienen, dem gegenüber sind wir loyal. Wir sind Männer von Ehre, keine gemeinen Mörder!« Fürst Myschkins nickte. »Das habe ich mir schon gedacht.« Er winkte seinem Adlatus zu, dann tuschelten die beiden erneut. Black spitzte die Ohren, verstand aber kein Wort. Die Gesten, mit denen der Fürst den ARET bedachte, sagten ihm aber genug. Ein fürstlicher Zeigefinger deutete plötzlich auf Black. »Du wirst uns beibringen, wie man die Eisenkutsche lenkt«, sagte er. »Danach schenke ich dir die Freiheit.« Obwohl es Black wehtat, dass man ihn für einen Trottel
hielt, ließ er sich nichts anmerken. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte er. Und: Solange er mich braucht, habe ich eine Chance, ihm zu entwischen. »Schwöre bei deiner Ehre, dass du mir ergeben bist!«, verlangte der Fürst. »Versprecht mir im Gegenzug, dass meine Kameraden frei kommen, wenn Ihre Eminenz entmachtet ist«, entgegnete Black und machte damit zwei Dinge klar: Dass er die Pläne des Fürsten kannte und billigte. »Du bist ein gerissener Hund.« Myschkin grinste. »Aber gut, das ist mir die Sache wert. Zeig uns die Geheimnisse der Eisenkutsche, und dein Wunsch wird erfüllt.« Black nickte knapp. »Dann gilt der Handel.« Er drehte sich halb herum und hob die gefesselten Hände. »Ich kann aber nur in euren Dienst treten, wenn ich... ähm... nicht anderweitig gebunden bin.« Fürst Myschkin verstand die ironische Bemerkung. Er nahm dem Baron den Driller aus der Hand und wies ihn an, das Metallband um Blacks Hände aufzuschließen. Nachdem das geschehen war, deutete er auf den ARET. »Nimm in der Eisenkutsche Platz.« Kurz darauf saß Black - die Drillermündung am Hinterkopf - neben dem Baron und unterwies ihn und den aufmerksam hinter ihm hockenden Fürsten in der Handhabung der Steuerelemente. Er staunte über sich selbst, wie leicht es ihm fiel, die einfachsten Vorgänge derart zu verkomplizieren, dass er selbst sie kaum noch verstand. Dann ließ er das Triebwerk an und drehte einige Runden durch das Tal. Fürst Myschkin war begeistert. Nun durfte der Baron hinter dem Steuer Platz nehmen und eine Runde drehen. Nachdem er einen Teil der Vegetation plattgewalzt und zehn Meter der linken Talwand abgeschabt hatte, lenkte er den ARET frontal gegen einen Findling und würgte ihn ab. Während Black daran arbeitete, ihn wieder in Gang zu bringen, tauschten Fürst Myschkin und Baron Grigorij die Plätze.
Black wurde mit jeder vergehenden Minute bewusster, dass ihm die Zeit unter den Händen zerrann. Jede Sekunde, die er in Gesellschaft der Verschwörer verbrachte, ging von der Zeit ab, die er brauchte, um sich mit seinen Gefährten aus dem Staub zu machen. Der Motor des ARET sprang an und wummerte im Leerlauf. »Ihr seid ein bemerkenswerter Mann«, ließ sich der Fürst zu einem Lob hinreißen. »Welches Delikt wirft man euch eigentlich vor?« Black gefror das Blut in den Adern. »Wir sind Opfer einer Verwechslung«, versuchte er zu retten, was noch zu retten war. Der Baron kicherte. Dann verstummte er und erbleichte. Offenbar fiel ihm gerade ein, dass er es bisher versäumt hatte, dem Fürsten die wichtige Nachricht vom Ableben seiner Verwandtschaft zu überbringen. Sag es ihm nicht!, dachte Black so intensiv, dass Grigorij es hören musste. Vergebens... »Leider sprechen die Indizien eine andere Sprache«, wandte sich der Baron an den Fürsten. »Black und seine Bande wurden dabei ertappt, wie sie sich als Angehörige der Familie Myschkin ausgaben. Er selbst trug das Wappen Eures Bruders am Revers, mein Fürst.« Jurii Myschkin wirkte verwirrt. »Das Wappen meines Bruders? Aber woher hat er...?« »Vermutlich wurden Eure Familienangehörigen ermordet, als sie auf Geheiß Ihrer Eminenz nach Nydda unterwegs waren, um ihr als Geiseln zu dienen«, gab der Baron auf reichlich undiplomatische Weise kund. »Sie sind tot?!« Myschkin starrte den Baron an, außer sich vor Entsetzen. Dann zuckte er zu Black herum. »Ihr habt sie ermordet?!« Ein animalisches Knurren kam aus seiner Kehle, und er stürzte sich auf den Hünen. Dessen Hände fuhren hoch und packten die muskulösen
Unterarme des Fürsten, um sie von seinem Hals zu lösen. Unflätige Verwünschungen erfüllten das Innere des ARET und verdeutlichten Black, dass dieser Mann für eine Führungsposition zu unbeherrscht war. Doch gerade darin lag seine Chance. Blacks Handkantenschlag traf Myschkins Kehle, was diesen so aus dem Konzept brachte, dass sein Griff sich lockerte. Black setzte nach, indem er seine geballten Fäuste gegen den Brustkorb seines Gegenübers schmetterte. Myschkin stieß einen Seufzer aus und sank nach hinten. Black griff zurück und betätigte den Knopf, der die Luke an der Fahrerseite öffnete. Im gleichen Moment beugte sich Baron Grigorij vor und griff nach dem Driller, der zwischen die Kontrahenten in den Gang gefallen war. Black sah es im selben Moment und warf sich ebenfalls nach vorn. Zu spät. Schon hatte der Baron die Waffe am Lauf erwischt und riss sie mit einem Triumphschrei an sich. Ein taktischer Rückzug war angebracht. Black ließ sich rücklings durch die Notluke fallen. Sterne tanzten vor seinen Augen, als er hart aufkam und mit dem Schädel auf den Boden knallte. So viele Dinge passierten nun zeitgleich, dass Black sie erst im Nachhinein sortieren konnte. Wie durch einen Schleier erspähte er nur einige Schritte entfernt das exotische, von einer schwarzen Mähne umrahmte Gesicht einer Monokel tragenden Frau, zwischen deren Zähnen eine Zigarre klemmte. Gleichzeitig schob sich Grigorijs Kopf aus der Luke. Der Baron hob den Driller und zielte auf Black, erblickte im selben Moment die Frau, stieß einen Schrei aus und verschwand wieder. Raue Stimmen johlten. Hinter der Zigarren-Lady tauchten hartgesichtige Schergen auf, in Rüstungen gewandet und Schwerter und Armbrüste in ihren Pranken. Der Motor des ARET heulte auf, der Panzer setzte sich
ruckhaft in Bewegung, holperte über Felsbrocken, walzte einen jungen Baum nieder und entfernte sich in einer Staubwolke. »Packt ihn!«, schrie die Frau und richtete ihren Säbel auf Mr. Black. * Rennen... Die letzten zwölf Jahre seines Lebens hatte Black vorwiegend mit der Tätigkeit zugebracht, der seine Organisation ihren Namen verdankte. In Washington - oder Waashton, wie die Barbaren die Stadt nannten - waren die Running Men fast immer auf der Flucht. Obwohl es auch in ihren Reihen einige Talente gab, hatten sie dem Gegner außer Witz und Unverfrorenheit nicht viel entgegenzusetzen. So hatte die Erfahrung Mr. Black und die seinen klug gemacht: Tauchte ein Gegner auf, dessen Überlegenheit auf den ersten Blick zu erkennen war, zog man sich in der Regel lieber zurück. Black schlug Haken wie ein Hase. Die Armbrustbolzen, die hinter ihm her zischten, verfehlten ihn. Die meisten bohrten sich mit einem lauten Twäng in rotborkige Bäume, und einer durchschlug den Leib eines spitznasigen Nagetiers, das sich, vom Lärm an der Oberfläche neugierig gemacht, aus seinem Bau wagte. Black rannte in die Richtung, in die auch der ARET verschwunden war. Die Staubwolke, die der Panzer aufgewirbelt hatte, erschwerte den Verfolgern die Sicht. Seine Flucht ging über Stock und Stein. Bald rann ihm der Schweiß von der Stirn. Die Schergen waren weniger gut zu Fuß, denn Helme, Brustpanzer und Waffen behinderten sie. Hin und wieder stolperte einer der Verfolger und schlug der Länge nach hin. Doch die meisten - Black schätzte den Trupp auf zwanzig Mann - gaben nicht auf. Dass sie ihn für einen Spießgesellen Myschkins hielten, konnte er ihnen nicht verübeln: Der äußere Anschein sprach gegen ihn. Unter normalen Umständen hätte Black sich
festnehmen lassen und die Verwechslung aufgeklärt. Aber Rufe wie »Macht ihn nieder!« waren nicht geeignet, sein Vertrauen zu erwecken. Als der Waldrand vor ihm aufragte, erlaubte er sich ein vorsichtiges Aufatmen. Im Unterholz konnte er abtauchen und sich unsichtbar machen. Irgendwann - hoffentlich bald würden seine Verfolgern die Suche dann abbrechen. Leider wurde nichts aus seinem Plan. Eine Luftwurzel, die aus dem Waldboden ragte, ließ Black stolpern. Er verlor sein Gleichgewicht, versuchte es vergeblich mit rudernden Armen wiederzufinden - und krachte mit der Stirn gegen den Stamm eines Baumes. Als Mr. Black die Augen öffnete, kreiste der Kosmos um ihn, und er begriff, dass er kurz das Bewusstsein verloren hatte. Wie viel Zeit verstrichen war, wusste er nicht, aber da es um ihn her überall knackte und die ersten Verfolger schon auftauchten, hatte es entschieden zu lange gedauert. Dummerweise wurde er im gleichen Moment von einem der Schergen entdeckt, der seine Kameraden mit lauten Schreien auf sich aufmerksam machte. Black sprang auf. Nun galt es, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Er blickte sich auf der Suche nach einer behelfsmäßigen Waffe hektisch um. Sein Blick fiel auf einen armlangen Ast, der vor ihm auf dem Boden lag. Er riss ihn an sich und wog ihn in der Hand. Perfekt. Der Stiernacken des Schergen, der seinen Standort verraten hatte, schloss Bekanntschaft mit dem Knüppel, doch als der Mann besinnungslos auf den Rücken fiel, war der nächste schon heran. Black duckte sich unter seine Säbelhieben hindurch. Dann traf die scharfe Klinge den Ast so fest, dass sie stecken blieb. Black riss den Knüppel mit einem Ruck zurück. Der Griff des Säbels entglitt der Hand des verdutzten Schergen. Ein Tritt traf seine Brust und warf ihn nach hinten. Während der Mann auf dem Hosenboden landete, umklammerte Black den Säbelgriff. Seine Muskeln traten hervor, als er sich mühte,
Stahl und Holz voneinander zu trennen. Als es ihm gerade gelungen war, stürzten sich zwei weitere Gegner auf ihn. Black fand sich in der wenig beneidenswerten Lage wieder, die beiden gleichzeitig abwehren zu müssen. Ihre langen Klingen droschen so heftig auf seinen Säbel ein, dass die Funken nur so sprühten. Durch einen Ausfallschritt gelang es Black, dem ersten Angreifer den Knüppel gegen die Stirn zu dreschen. Daraufhin sprang der zweite Scherge zurück und rief nach Verstärkung. Nun strömte ein Dutzend Bewaffneter mit Armbrüsten auf ihn ein - selbst für einen Hünen wie Mr. Black eine unüberwindliche Übermacht. Der Anführer, ein von Wind und Wetter gegerbter Leutnant, wollte gerade das Zeichen zur Attacke geben, als eine hochgewachsene Gestalt mit wehender Mähne ihre Reihen durchbrach. Es war die Frau, die Black nach seinem Sturz aus dem ARET gesehen hatte. Ihre blaue Augen blitzten. »Haltet ein!« Die Schergen ließen murrend die Waffen sinken. Black wusste, dass es ihnen lieber gewesen wäre, ihn mit Pfeilen zu spicken. »Wie Sie befehlen, Eure Eminenz.« Der Leutnant wirkte ziemlich säuerlich. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.« Die Frau trat vor. Black rang nach Luft. Dies also war »Ihre Eminenz«. Er hatte nicht mit einer Frau von solcher Schönheit gerechnet. Sie war mindestens so groß wie er. Ihre Muskeln waren mindestens so durchtrainiert wie die seinen. Auch sie schien leicht außer Atem zu sein, doch dass ihr perfekt geformter Leib Kraft und Geist vereinte, sagte ihm ein einziger Blick in ihre stahlblauen Augen. Über einem davon klemmte ein Monokel. Es verstärkte noch den Eindruck einer starken Frau, die genau wusste, was sie wollte, genau wie die Zigarre zwischen ihren Zähnen. »Na schön«, knurrte Black. »Der Rest von euch hat Glück gehabt.«
Der Mund Ihrer Eminenz verzog sich zu einem Grinsen nicht herablassend, sondern abschätzend. Sie musterte Black eingehend. In ihren Augen war ein eigenartiges Glitzern. »Wie heißen Sie?«, fragte sie dann und deutete auf seine breite Brust. »Und was haben Sie mit dem Verschwörer Myschkin zu schaffen?« Black nannte seinen Namen. Dann tischte er ihr schlicht die Wahrheit auf: dass sie aus dem Osten kamen und nach Westen wollten und in Nydda für Verwandte des Verschwörers gehalten wurden. »Ihr Statthalter hat meine Kameraden eingekerkert«, beendete Black seinen Bericht. »Ich selbst konnte fliehen, fiel aber Baron Grigorij in die Hände, der meine... Eisenkutsche in seinen Besitz brachte.« Der Leutnant lachte böse. »Sie wollen uns weismachen, dass Sie nicht zu Myschkins Lumpen gehören?«, erwiderte er. »Sein Akzent verrät, dass er fremd hier ist«, sagte Ihre Eminenz kühl, »und ein simpler Blick auf seine Handgelenke zeigt, dass er tatsächlich ein Gefangener des Fürsten war.« Sie ist nicht nur schön, sondern auch noch intelligent, dachte Black. Er hob die Arme und zeigte sie dem Leutnant. Die Handschellen hatten deutliche Spuren in die Haut der Gelenke gegraben. »Ich bin geneigt, Ihnen zu glauben. Wir nehmen Sie mit nach Nydda. Dort wird die Wahrheit ans Licht kommen.« Ihre Eminenz nickte jemandem zu, der hinter Mr. Black stand. »Vielen Dank, Eminenz.« Black verbeugte sich erleichtert. Als er sich wieder aufrichtete, knallte zum wiederholten Mal an diesem Tag etwas auf sein geschundenes Haupt und raubte ihm die Besinnung... * Ein heftiger Stoß brachte Black wieder zu sich, doch als er
die Augen aufschlug, war über ihm kein Himmel. Er lag auf hartem, sich bewegenden Untergrund und brauchte eine Weile, bis er erkannte, dass er sich in einer Kutsche befand. Als er sich aufrichten wollte, zuckte ein Schmerz durch seinen Kopf. Er sank mit leisem Stöhnen zurück und griff sich an den Schädel. Jemand beugte sich über ihn. Ein süßer Duft hüllte ihn ein. Sein Blick gewann an Schärfe und fiel auf das Gesicht Ihrer Eminenz. Erst jetzt bemerkte er die Röte ihrer vollen Lippen und die Abmessungen ihres Busens. Und er fragte sich, ob seine revolutionäre Tätigkeit ihn möglicherweise von wichtigeren Dingen abhielt. »Ah, sie sind bei sich, Black.« Die Herrin von Nydda wedelte mit einer brennenden Zigarre vor seiner Nase herum. »Ich muss schon sagen, dass mir in meiner Laufbahn als Metropolitin noch kein Schädel begegnet ist, der härter war als der Ihre.« Sie kniff in seine Armmuskulatur und fügte mit dem Blick einer satten Katze hinzu: »Und auch sonst sind sie beileibe kein Schwächling.« Black errötete. Er war es nicht gewohnt, Komplimente zu hören. Nach dem Schlag auf den Hinterkopf hatte er eigentlich erwartet, gefesselt und geknebelt zu sich zu kommen - falls überhaupt. Doch seine Hände waren nicht gebunden. Er war in höchstem Maße verwirrt. »Wo sind wir?«, fragte Black. »Wohin fahren wir?« »Wir befinden uns auf dem ehemaligen Grund und Boden der Myschkin-Fürsten«, erwiderte Ihre Eminenz. »Sie haben unser Reich regiert - schlecht regiert! -, bis meine Ahnen ihre Herrschaft beendeten. Den Myschkins hat das nicht geschmeckt, aber es hat ihnen nichts genutzt.« »Und jetzt rächt sich Fürst Jurii für diese Schmach?« Black musterte fasziniert die feinen Züge Ihrer Eminenz und fragte sich, was aus ihm geworden wäre, hätte er damals in Washington eine solche Frau getroffen. Ihre Eminenz seufzte traurig. »All das geschah vor so langer Zeit, dass das Volk sich kaum noch daran erinnert. Die
Bentoniten und Gaspromisten haben längst Frieden geschlossen. Der derzeitige Fürst Myschkin war sogar mein Kanzler.« »Bentoniten? Gaspromisten?« »Die Altnamen unserer Familien«, erwiderte Ihre Eminenz. »Der Legende zufolge haben sie vor dem Langen Winter gemeinsam über dieses Land geherrscht. Irgendwann haben sie sich zerstritten.« Sie musterte Black eingehend. »Wir sind auf dem Weg nach Nydda. Ich halte es für angebracht, in der Stadt zu sein, solange sich der Fürst im Besitz der Eisenkutsche befindet, die Sie ihm leichtsinnigerweise in die Hände gespielt haben.« »Es war weniger Leichtsinn als Unachtsamkeit.« Black richtete sich auf und schaute sich um. Er sah mit Leder bezogene Sitzbänke - eine vor, eine hinter ihm. Offenbar war er aufgrund der holperigen Wegstrecke herunter gefallen. Durch die Fenster der Kutsche lachte die Sonne, aber sie schickte sich schon an, hinter dem Horizont zu versinken. »Diese Straße ist nicht sehr gut ausgebaut«, führte Ihre Eminenz aus, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Mr. Black erhob sich. Seine Knie zitterten. Er fragte sich, ob es an seinem allgemeinen Zustand oder an der körperlichen Nähe Ihrer Eminenz lag. Er konnte nicht bestreiten, dass sie ihn verwirrte. »Ich entschuldige mich für den Unteroffizier, der Sie niederschlug. Er hatte meine Geste wohl missverstanden«, fuhr die Herrin von Nydda fort. Black nahm ihr gegenüber Platz. »Aber einige Fragen habe ich noch. Deswegen schlage ich vor...« Sie beendete den Satz nicht. Schuld waren laute Verwünschungen, die draußen laut wurden - und das Prasseln von Steinen, die gegen die Kutsche brandeten. Der Kutscher schrie »Autsch!« und »Brrr...!«, die Yakks blökten, und dann hielten sie so plötzlich an, dass Ihre Eminenz aus dem Sitz flog und in Blacks Armen landete. Schreie klangen auf. Kampfgeräusche! Black fuhr hoch.
Ihre Eminenz war vor ihm am Fenster und spähte hinaus. »Was, bei allen Höllenhunden, ist das für ein Gesindel?!« Black schob an seiner Seite die Nase aus dem Kutschenfenster - und zuckte wieder zurück. Eine gebogene Kralle verfehlte seine Wange nur um Zentimeter. Eine Visage, hunde- oder rattenähnlich, sprang vor ihm in die Luft und schnappte mit gebleckten Fängen nach ihm. Black ließ sich fallen und entging auch dieser Attacke. Da wurde die Tür an seiner Seite der Kutsche aufgerissen. Eine lederhäutige Kreatur mit dornenartigen Klauen und einer Schnauze voller Zähne versuchte das Gefährt zu entern. Ihre Flughäute flatterten. Blacks rechter Stiefel schoss vor und traf die Kreatur vor die Brust. Mit einem Quieken flog sie zurück. Black folgte ihr. Ein Scherge wankte mit aufgerissener Kehle und brechenden Augen an ihm vorbei. Blacks Hand erwischte den ungezielt fuchtelnden Säbel des Sterbenden. Während der Mann zu Boden sank, flog Black herum. Die Hälfte der Männer Ihrer Eminenz lagen schon tot am Boden, der von pflaumengroßen Steinen übersät war. Ihre Reittiere irrten blökend umher. Dunkelbraune Gestalten mit flatternden Flughäuten klammerten sich an ihnen fest und schlugen Krallen und Zähne in ihr Fleisch. Im Nahkampf hatten sie die Steinschleudern, mit denen die erste Attacke geführt worden war, in ihre Gürtel geschoben. Rund um die Kutsche wimmelte es von spitzohrigen Bestien. Animalische Visagen kündeten von purer Fressgier. Es waren die gleichen Kratersee-Viecher, mit denen Black schon am Tag zuvor Bekanntschaft geschlossen hatte. Die Mörder der Myschkin-Sippe. Ihnen verdankten seine Kameraden ihre Gefangenschaft. Vielleicht bildeten sie eine Vorhut der Mutantenarmee und sollten die Feinde der Daa'muren aufspüren. Vielleicht kamen sie aufgrund ihrer Flugeigenschaften auch einfach nur schneller voran als das Heer - das in diesem Fall schon ziemlich nah sein musste.
All dies ging in weniger als einer Sekunde durch Blacks Kopf. Mehr Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht: Ihre Eminenz hatte sich wacker in die Schlacht gestürzt und verteidigte sich gegen gleich drei der Fledermauswesen. Die Frau hatte Schneid, das musste man ihr lassen. Während die Schergen um ihn herum zu Boden sanken, hieb Black sich eine Gasse durch den Wall knurrender Monströsitäten, um Ihrer Eminenz beizustehen. »Hinter Ihnen!«, schrie die Herrin von Nydda und schickte eine weitere Bestie in die Ewigen Jagdgründe. Black wirbelte herum. Ein Angreifer flog auf ihn zu. Black riss die Waffe hoch. Das Biest spießte sich so fest auf seinen Säbel, dass der hinten wieder austrat. Inzwischen lagen so viele Männer Ihrer Eminenz tot um ihn herum, dass es kein Problem war, eine Ersatzwaffe zu finden. Im Nu schwang Black eine neue Klinge und erledigte drei weitere Kreaturen, die sich in die Yakks verkrallt hatten und in ihrem Blutrausch jede Vorsicht vergaßen. Ihre Eminenz machte ihren letzten Gegner einen Kopf kürzer und wandte sich Black zu. Sie schauten sich um. Die letzten vier Schergen standen mit dem Rücken an der Kutsche und wehrten sich heldenhaft gegen ebenso viele Fledermäuse, die mit Reißzähnen und hornigen Krallen gegen sie anstürmten. Bevor Mr. Black und Ihre Eminenz eingreifen konnten, waren zwei weitere Männer tot. Dann hatten sie die Angreifer erreicht und attackierten sie von hinten. Zwei konnten sie erledigten, bevor der dritte Scherge starb. Vom Blut der Bestien besudelt und bei jedem Schritt in glitschigen Tümpeln aus Körperflüssigkeit ausrutschend, droschen Black und Ihre Eminenz auf die fauchenden Angreifer ein. Als der letzte Scherge blutüberströmt zu Boden sank, durchbohrte Ihre Eminenz das Herz des vorletzten Angreifers. Black stand der allerletzten Kreatur gegenüber. In ihren tückischen Augen glänzte der Blutrausch. Ihr Maul sonderte
Schleim ab. Sie hob fauchend die Krallen, um sie Blacks Brustkorb zu schlagen, doch dann bewirkte irgendetwas vielleicht war es die plötzliche Stille? -, dass sie zu sich kam. Sie schaute sich um und entdeckte, dass sie die Letzte ihres Rudels war. »Ungl«, krächzte sie mit aufgerissenen Augen. »Ja, ungl.« Mr. Black nickte. »Und wenn wir schon bei berühmten letzten Worte sind...« Sein Säbel zuckte vor, und die Bestie hauchte röchelnd ihr Leben aus. »Hasta la vista... Baby!« * Finstere Gedanken beherrschten Kanzler Jimi Romanow, als er durch die stillen Gänge der Festung in Nydda wanderte. Heute Morgen hatten unbekannte Kräfte - zweifellos in Jurii Myschkins Auftrag - ein externes Waffendepot Ihrer Eminenz überfallen und ausgeraubt. Dabei waren drei Soldaten ums Leben gekommen. Es konnte keinen Zweifel daran geben, was die Banditen mit den Waffen vorhatten: Es roch nach Revolution. Deswegen hatte er die Festungswachen verstärkt, und aus dem gleichen Grund befand er sich zu dieser späten Stunde auf einem außerplanmäßigen Kontrollgang. Außerdem beschäftigte ihn der Diebstahl der Eisenkutsche, mit der die Verwandten des Fürsten angekommen waren. Es war ein Fehler, dachte er, Stepan Myschkin nur von einem jungen Leutnant bewachen zu lassen. Man brauchte den Mann nur anzusehen, dann wusste man schon, dass er aus hartem Holz geschnitzt war. Wer wusste schon, wo seine wahren Sympathien lagen? Vielleicht war er Fürst Jurii treuer ergeben als seine Verwandten, die im übrigen noch immer behaupteten, ihn nicht zu kennen. Vielleicht hatten sie sich auch nur deshalb in Geiselhaft begeben, um die Revolte aus dem Inneren der
Festung heraus zu unterstützen...! Romanow hielt erschreckt inne. Hatte er nicht ein Knarren gehört? Da! Da war es wieder! Dem Knarren folgte ein Ächzen. Romanow orientierte sich rasch an den Kerzenhaltern an der Wand. Ihre Form sagte ihm, wo er sich gerade befand. Wenn er sich nicht irrte, musste hinter der nächsten Gangbiegung die Tür liegen, die in die Gemächer Ihrer Eminenz führte. War das Stöhnen von dort gekommen? Aber wie konnte das sein? Ihre Eminenz befand sich doch im Norden... Nun vernahm Romanow ein Schnaufen und Seufzen eindeutig hinter der Tür Ihrer Eminenz! Er fragte sich, ob er es riskieren sollte, einen Blick durchs Schlüsselloch zu werfen. Vielleicht war dort ein Dieb am Werk? Doch wie sollte er in die Festung gelangt sein? Vor dem Tor und dem Eingang des Haupthauses standen Wachen. Sollte er Alarm schlagen oder eine Indiskretion begehen? Man konnte in diesen Tagen nicht vorsichtig genug sein. Die Ermittlungen der Milizija hatten fast alle in der Festung massakrierten Verschwörer dem wirtschaftlichen Mittelstand Nyddas zugeordnet. Wenn schon die Stützen der Gesellschaft unzufrieden mit Ihrer Eminenz waren, wie sah es da erst in den Reihen des Pöbels aus? Wenn wir doch nur wüssten, wie viele Anhänger Myschkins dem Gemetzel entgangen sind... und welche Positionen sie in der Stadt - und möglicherweise auch in dieser Festung einnehmen... Romanow hatte nicht vergessen, dass Myschkin die »Entlarvung« der Nummer Zwei auf einen Informanten zurückführte, der unter diesem Dach lebte. Wer war der Spion? Servierte er Ihrer Eminenz in der Tarnung eines braven Lakaien das Essen? Machte er in der Uniform einer Zofe ihr Bett und wartete auf das Signal zum Aufstand? Der Überfall auf das Depot bedeutete, dass die Verschwörer, auch wenn sie nur noch wenige waren, die Herrschaft Ihrer Eminenz mit Sabotageakten und Attentaten ins Wanken
bringen wollten. Es galt also, die Augen offen halten. Und auf verdächtige Geräusche zu achten. Romanow fasste sich ein Herz. Er pirschte zu der bewussten Tür und schaute durchs Schlüsselloch. Das Herz blieb ihm fast stehen. Baron Grigorij stand an der gegenüber liegenden Wand und hievte ein mannshohes Ölgemälde von einem Haken. Es zeigte das pausbäckige Gesicht des Ur-Metropoliten. Zwischen seinen goldenen Zähnen klemmte eine Zigarre. Auf dem Kopf trug er einen gelben Helm mit der Aufschrift BENTON/GASPROM - GENERAL MANAGER. Seine Ohren standen ab, doch sein Grinsen machte ihn sympathisch. Grigorij wuchtete das Gemälde zur Seite und lehnte es neben dem Kamin an die Wand. Dort, wo es gehangen hatte, gähnte ein fast türhohes, finsteres Loch. Aus dem Loch schob sich eine Hand mit einem fremdartigen Schießgerät hervor. Ihr folgten ein schwarzer Ärmel und ein Kopf mit zerzaustem schwarzen Haar und einem Spitzbart. Fanatisch glühende Augen schauten sich argwöhnisch um. Fürst Myschkin! Jimi Romanow fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Jurii Myschkin betrat lautlos den Salon und klopfte sich Staub und Spinnweben von der Kleidung. Romanow lauschte dem Hämmern seines Herzens. Er musste Alarm schlagen! Das Böse war in die Festung eingedrungen, und Baron Grigorij unterstützte es! Dann fiel sein Blick auf die Waffe in Myschkins Hand. Sie gehörte dem Mann, der behauptete, Drax zu heißen. Ein tödliches Instrument! Der weitgereiste Grigorij hatte das gefährliche Potential des Schießgeräts sofort erkannt und es Romanow und den Offizieren im Keller vorgeführt. Dann hatte er die Waffe, damit sie nicht in falsche Hände geriet, an sich genommen! Falsche Hände! Pah! Romanow schüttelte sich. Er hatte
den Bock zum Gärtner gemacht! Baron Grigorij und Fürst Myschkin bemühten sich nun gemeinsam mit viel Geächze, das Gemälde wieder vor den geheimen Gang zu hängen. Als sie fertig waren, lachten sie schmutzig, und der Fürst baute sich mit dem Driller triumphierend vor dem Kamin auf. Grigorij rieb sich die Hände. »Sobald sie aus dem Feld zurückkehrt«, sagte er aufgekratzt, »werden Sie leichtes Spiel mit ihr haben, mein Fürst.« Was hatten diese Teufel vor? Myschkin setzte eine ebenso zufriedene wie bösartige Miene auf. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, Nummer Drei. - Ich befördere Sie zur neuen Nummer Zwei.« Grigorij sank vor ihm auf ein Knie herab. »Mein Fürst... welche Ehre...« Nummer Drei? Romanow runzelte die Stirn. Diese Zahl hatte er doch schon mal gehört? War er diesem Mann nicht in der Nacht begegnet, in der Ihre Eminenz Myschkins Bande aufgerieben hatte? Plötzliche Furcht peitschte sein Herz, denn ihm wurde mit Schrecken klar, dass der Baron wusste, dass er, Jimi Romanow, zur Zerschlagung ihrer Bewegung beigetragen hatte. Sein Leben war keinen Slupnik mehr wert! »Sobald ich Ihre Eminenz mit dieser Waffe zu den Ahnen geschickt habe«, knurrte Myschkin, »werde ich Sie zum neuen Herrscher ausrufen.« Sein tückischer Blick hingegen sagte: Wenn du das glaubst, bist du noch blöder als ich glaube. »Ich selbst«, fügte er hinzu, »werde mich zum geistlichen Oberhaupt Nyddas ausrufen lassen.« Der Baron warf sich in die Brust. »Wenn wir erst die Geschicke Nyddas bestimmen, wird jeder Tag ein Festtag sein!«, verkündete er, breitete die Arme aus und stolzierte wie ein Pfau umher. »Ich sehe die rauschenden Bälle schon vor mir - und die Hinrichtungen unserer Feinde. Gemeinsam werden wir Nydda zu neuer Blüte und neuem Glanz bringen!«
»Wohl gesprochen«, erwiderte Fürst Myschkin, obwohl seine Miene ausdrückte, dass er für das Gehabe des Barons nur Verachtung übrig hatte. »Doch wie stehen unsere Chancen, nachdem neun Zehntel unserer Leute der Metropolitin zum Opfer gefallen sind?« »Pah!« Grigorij wedelte abfällig mit der Hand. »Unsere Leute in der Stadt stehen Armbrust bei Fuß und warten nur darauf, dass es losgeht. Sie sind leider nur ein knappes Dutzend...« Romanow atmete auf. »... aber hier, innerhalb dieser Mauern«, fuhr Grigorij fort, »tun zwei Dutzend unserer besten Leute Dienst als Offiziere! Ich habe sie eigenhändig ausgewählt!« Romanow riss sich zusammen, um nicht aufzustöhnen. Zwei Dutzend verräterische Offiziere in der Festung... das waren fast sämtliche Männer im Offiziersrang! Der Kanzler erbleichte. Unter diesen Umständen konnte er keinem Offizier trauen. An wen sollte er sich also wenden, damit Myschkin und der Baron ergriffen und in Eisen gelegt wurden? Er hörte Grigorij amüsiert lachen. »Meine Rache wird fürchterlich sein! Als Ersten nehme ich mir den verblödeten Popen vor, den meine Tante zum neuen Kanzler gemacht hat. Man fasst es nicht, aber er glaubt tatsächlich, Blacks Genossen seien Ihre Anverwandten, mein Fürst!« Was?! Romanow richtete sich auf. Es wurde immer schlimmer. »Diese Fremden sind dann als Nächstes an die Reihe. Black weiß schon zu viel über mich. Ich muss verhindern, dass er mich, wenn ich die Macht an mich reiße, bei den Bürgern als Thronräuber brandmarkt.« »Wenn seine Bande meine Familie wirklich ermordet hat, werde ich mir ein paar Tage Zeit nehmen, um sie persönlich zu Tode zu foltern«, knirschte Jurii Myschkin. Jimi Romanow wich verzweifelt von der Tür zurück. Ich bin verloren... Überall Verräter... Wohin kann ich fliehen?
Wird man mich jetzt überhaupt noch aus der Festung lassen? * Nach der blutigen Schlacht sahen Black und Ihre Eminenz schauerlich aus - doch im Vergleich mit den sie umgebenden Leichen wirkten sie noch recht manierlich. Als sie wieder zu Atem kamen und sich umschauten, mussten sie feststellen, dass sie das Gemetzel tatsächlich als Einzige überlebt hatten. Die Zugtiere reckten alle Viere zum Himmel und lagen schlaff neben der Deichsel in ihrem Blute. Die Reittiere waren entweder ausgesaugt worden oder hatten sich davongemacht. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Ort des Kampfes zu verlassen und nach ihnen Ausschau zu halten. Tatsächlich gelang es ihnen eine halbe Stunde später, zwei umherirrende Yakks einzufangen und sich erschöpft in die Sättel zu ziehen. Trotz des hart erkämpften Sieges verspürte Mr. Black keinen Triumph. Das Blut ihrer Opfer klebte nicht nur wie Leim an ihnen, es stank auch entsetzlich nach Ammoniak. Der Running Man fand bald heraus, dass Ihre Eminenz mehr als nur Säbel schwingen und Zigarren rauchen konnte: Sie hatte eine Nase für Wasser. Nach zehn Minuten Galopp lenkte sie ihr Yakk nach links und sprengte eine Böschung hinunter. Black folgte ihr, um sie in der zunehmenden Finsternis nicht zu verlieren. Als sein Reittier durch dorniges Gesträuch brach, hörte er das Plätschern eines Baches. Ihre Eminenz war abgestiegen, stand bis zum Bauch nackt in den Fluten und spülte sich Blut und Schmutz vom Leib. Nach dem ersten verdutzten Blick wahrte Mr. Black die Etikette und blieb, ihr den Rücken zugewandt, am Ufer stehen - bis Ihre Eminenz laut lachte und ihn nass spritzte. Black wollte schon herumfahren, besann sich aber im letzten Moment. »Wollen Sie sich nicht säubern?«, fragte die Herrin von Nydda. »Ich warne Sie: So verdreckt reiten Sie nicht neben
mir!« »Der Anstand...«, begann Black. Ihre Eminenz lachte noch lauter. »Anstand! Meinen Sie, ich hätte noch keinen nackten Mann gesehen? Allerdings...«, fuhr sie fort, »... war tatsächlich noch kein solches Prachtexemplar darunter, wie Sie eines sind.« Nun drehte sich Mr. Black doch um und betrachtete sie verblüfft. Das Monokel auf ihrem Auge blitzte im Sternenschein und verlieh ihr ein militärisches Aussehen. Außerdem hatte Black Gelegenheit zu sehen, wie ausgezeichnet ihre Muskulatur entwickelt war - speziell die der Lungenauswüchse ihres Thorax. Ich habe keine Badehose dabei, wollte er noch sagen, doch Ihre Eminenz winkte ungeduldig. »Nun kommen Sie schon. Sie riechen wie eine Tonne mit Speiseresten auf dem Hinterhof einer Taverne!« Na schön, dachte Black und ergab sich in sein Schicksal. Er legte seine Kleider ab und warf sich ins eiskalte Wasser. Es erfrischte ungemein, und es tat gut, sich den Dreck der letzten Tage vom Leib zu waschen. »Sie sind ein hübscher Kerl, Black«, sagte Ihre Eminenz. Sie stand hoch aufgerichtet im Wasser und betrachtete ihn. »Wäre nicht übel, wenn Sie in der Gegend blieben.« »Ich werde darüber nachdenken«, antwortete Black. Dass er und seine Gefährten nach ihrer Freilassung schnellstens weiterziehen mussten, um die Mutanten von Nydda abzulenken, sagte er nicht. Ihre Eminenz hätte es wahrscheinlich als Ausflucht angesehen und wäre nicht begeistert gewesen. Und gute Beziehungen waren jetzt wichtiger als die Wahrheit... Sie kehrten beide ans Ufer zurück und holten ihre Kleidung, um auch sie vom Blut zu säubern. »Und was machen wir, bis die Sachen trocken sind?«, fragte die Metropolitin und bedachte Black mit einem erstaunlich sanften Augenaufschlag. Fast war der eiserne Rebell versucht, auf ihr
unausgesprochenes Angebot einzugehen - aber eine vieltausendköpfige Mutantenarmee war nicht dazu angetan, romantische Gefühle aufkommen zu lassen. Wenn sie nicht bald zurück in Nydda waren, konnte er seine Gefährten abschreiben, und die ganze Stadt gleich mit ihnen. »Wir sollten sie am Körper trocknen lassen«, sagte er darum mit heiserer Stimme. »Ihr solltet den Verschwörern nicht mehr Zeit einräumen als nötig, Eminenz.« »Die Verschwörer, richtig...« Auch die Metropolitin besann sich auf wieder auf die vordringlichen Dinge. »Sie setzen Prioritäten, Black. Das gefällt mir.« Der Rebellenchef grinste und zwängte sich in seine klatschnassen Klamotten. Sie waren enger als zuvor, besonders im Schritt. Ihre Eminenz hatte offenbar weniger Probleme mit ihrer Garderobe. Schnell war sie angekleidet, saß auf und ergriff die Zügel ihres Reittiers. »Erzählen Sie mir von sich«, forderte sie Black auf, als sie über die Küstenstraße trabten. »Aber schneiden Sie nicht auf!« Black erkannte die Gelegenheit, die sich ihm bot. Statt sein bewegtes Leben als Running Man zu schildern, berichtete er von der Forschungsexpedition, die ihn und seine Gefährten an den Kratersee geführt hatte. Dass sie dort eine unbekannte Macht provoziert hatten. Und dass diese ihnen ein Heer bösartiger Mutanten auf den Hals gehetzt hatte. »Ich will Orguudoo nicht an die Wand malen, Eminenz«, schloss er seinen Bericht, »aber ich gehe davon aus, dass diese Kreaturen noch immer auf unserer Fährte sind.« »Soll das heißen, es besteht Gefahr für mein Reich?« Ihre Eminenz wirkte erschreckt. Black schüttelte den Kopf. »Nicht wenn meine Gefährten und ich auf freien Fuß gesetzt werden. Die Mutanten folgen uns; ihr Heer ist nur an uns interessiert. Es wird Nydda umgehen, wenn wir nicht mehr dort sind.« »Sie haben das nicht erfunden, um sich die Freiheit zu erschleichen?«
»Ich bin ein Mann der Ehre, Eminenz.« Black verlieh seiner Stimme ein verletzte Nuance. »Ginge es mir nur darum, hätte ich mich längst absetzen können.« »Dann müssen wir sofort zur Festung.« Die Herrin von Nydda drosch ihrem Reittier die Hacken in die Flanken. »Hei-ho!« Der Yakk blökte und fiel in Galopp. Black folgte ihrem Beispiel. Sie galoppierten eine Weile durch die Nacht. Als in der Ferne die ersten Lichter der Stadt sichtbar wurden, zügelte Ihre Eminenz ihr Reittier und hielt an. »Sehen Sie das auch?« Sie deutete nach vorn. Black kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. In der Tat: Etwa hundert Meter vor ihnen stand am Rand der Küstenstraße ein kastenförmiger Schatten auf zwölf Rädern. Mit geöffneten Noteinstiegen. Der ARET! War er unbemannt? Mit den Händen auf dem Griff ihrer Säbel ritten sie vorsichtig heran und saßen ab. Black näherte sich dem stillen Fahrzeug. Die Luke auf der Fahrerseite stand sperrangelweit offen. Er sah niemanden. Schließlich schob er den Kopf hinein und schaute sich um. Keiner da. Er gab der Metropolitin ein Zeichen. Auch sie glitt aus dem Sattel. Als sie den Einstieg erreichte, hatte Black schon Platz genommen und nahm einen Testlauf der Steuerelemente vor. Eine Anzeige meldete, dass die Entführer schlicht den Motor abgewürgt hatten. Black wäre gern dabei gewesen. Es hatte den Fürsten bestimmt nicht erfreut, so kurz vor der Stadt einer so schönen »Waffe« verlustig zu gehen. Seine Erheiterung erhielt einen Dämpfer, als ihm einfiel, dass Myschkin noch immer Commander Drax' Driller hatte. Die Explosivwaffe war einfacher zu handhaben als ein Panzerfahrzeug, und der verräterische Fürst würde sich nicht scheuen, möglichst viel Schaden damit anzurichten. »Ist Ihre Eisenkutsche kaputt?« Die Herrin von Nydda
schwang sich auf den Beifahrersitz. »Nein, alles in Ordnung«, gab Black zurück, während er die letzten Checks absolvierte. »Wir können gleich aufbrechen.« »Wie funktioniert sie?«, fragte Ihre Eminenz. »Ich meine braucht sie keine Zugtiere?« Black hielt sich nicht mit langwierigen Erklärungen auf. »Warten Sie's ab.« Er schloss die Luke und schaltete das Triebwerk ein. Als der stählerne Koloss mit einem Ruck anfuhr, klammerte sich Ihre Eminenz an Blacks Arm und keuchte begeistert: »Was für ein Wunder! Hat die Kutsche Waffen?« »Der ARET«, dozierte Black, »ist kein militärisches Fahrzeug, sondern dient wissenschaftlichen Expeditionen. Wir haben zwar einige Handfeuerwaffen an Bord, aber die eigentliche Bewaffnung beschränkt sich auf einen Energiewerfer, der das zentrale Nervensystem paralysiert.« »Paral... Ach, wirklich?« Ihre Eminenz klammerte sich noch fester an Blacks Arm. Mit der Linken hielt sie sich an seinem Oberschenkel fest. Es war schon erstaunlich, welchen Respekt hochgezüchtete Technik einer starken, kämpferischen und selbstbewussten Frau wie dieser einflößen konnte! »Außerdem«, fuhr Black fort, »sind links und rechts Nebelwerfer angebracht, von denen die vorderen drei dreißig Grad nach rechts und die hinteren drei dreißig Grad nach links auswerfen.« »Ich bin entzückt«, hauchte Ihre Eminenz. »Und ich bewundere Ihre unglaubliche Sachkenntnis.« Black löste seinen rechten Arm aus ihrem Griff und deutete auf die Frontscheibe. »Die Fenster bestehen aus Panzerglas und lassen sich zusätzlich mit Hilfe von Stahlklappen verschließen.« »Dann sind wir also unbesiegbar?« Black wiegte das Haupt. »Das Bessere ist der Feind des Guten, Eminenz. Und es gibt nichts auf der Welt, das man nicht noch besser machen könnte. Trotzdem bin ich davon
überzeugt, dass sich Fürst Myschkin und Baron Grigorij an diesem Baby hier die Zähne ausbeißen werden...« * Matthew Drax hatte in seiner fast fünfhundertvierzig Jahre währenden Existenz schon allerhand mitgemacht - aber in einem goldenen Käfig war er nur selten gefangen gewesen. Und diesen Käfig musste er auch noch mit McKenzie im Allgemeinen und Rulfan im Besonderen teilen. Er wäre gern mit Aruula allein gewesen, dann hätte man die Stunden elender Langeweile wenigstens nutzen können. Zudem plagte ihn die Frage, wie es Mr. Black zwischenzeitlich ergangen war. Dass dem Running Man die Flucht gelungen war und er den ARET entführt hatte, wussten sie, seit Kanzler Romanow wutschnaubend hereingestürmt war und sie einer Befragung unterzogen hatte. Natürlich hatte keiner von ihnen gewusst, was Black plante. Aber zu wissen, dass er da draußen war und irgendetwas plante, war schon einigermaßen beruhigend. Seit dem Vorfall warteten die zwei Posten vor der Tür der pompös möblierten Zimmerflucht, und ein Trupp eilig bestellter Handwerker hatte die Fenster vergittert. Nun verbrachten sie schon die zweite Nacht in Gefangenschaft, ohne dass etwas geschehen war. Das Warten zerrte an ihren Nerven. Das Warten auf Mr. Black - und auf das Heer der Mutanten. Wenn einige tausend Narod'kratow, Woiin'metcha, Rriba'low, Mastr'ducha und andere unerfreuliche Zeitgenossen an die Tore Nyddas klopften beziehungsweise sie einrannten -, würden sie das zweifellos mitkriegen. So wälzte sich Matthew Drax, um Aruulas Nachtruhe nicht zu stören, schlaflos auf einem grünen Plüschsofa im Salon ihrer gemeinsamen Zimmerflucht hin und her, als er plötzlich ein Knirschen im Türschloss hörte. Der Salon war dunkel. Dave, Rulfan und Aruula lagen in
ihren Schlafgemächern. Matt hob lauschend den Kopf, stand dann eilig auf und huschte zur Tür. Handelte es sich bei dem späten Besucher um Mr. Black, der die Wachtposten überlistet hatte und gerade dabei war, das Schloss ihres Gefängnisses zu knacken? Matt trat dicht an die Tür heran. »Black? Sind Sie das?« »Commander Drax?« Matthew verharrte. Das war doch nicht Mr. Black! »Ich bin's: Romanow.« Die Stimme des Besuchers war so leise, dass Matt sich anstrengen musste, um sie zu verstehen. Warum flüsterte der Kerl? Und weshalb tauchte er zu nachtschlafender Zeit hier auf? Die Tür öffnete sich gerade so weit, dass Romanow hereinschlüpfen konnte. »Ich bin hier, um Sie zu befreien!«, flüsterte der Kanzler schnell, als befürchtete er einen Angriff. Daran hatte Matt in der Tat schon gedacht, aber die Neugierde hielt ihn zurück. Erst jetzt sickerte es in sein Hirn: Romanow hatte nicht »Hoheit« zu ihm gesagt wie üblich, sondern ihn mit seinem richtigen Namen angesprochen! Der Kanzler drückte die Tür leise ins Schloss. »Ich weiß jetzt, wer Sie wirklich sind«, fuhr er fort. »Es ist alles Baron Grigorijs Schuld! Er ist ein Verräter...« Jimi Romanow klang ängstlich und fahrig. Er hüstelte nervös. »Die Verschwörer sitzen schon in der Festung. Ich kann niemandem trauen. Fast alle Offiziere stehen auf deren Seite.« Im ersten Moment empfand Matt Schadenfreude. Geschieht dir Recht, du blöder Bürokrat. Dann fragte er sich, wie sich die neue Lage auf ihn und seine Gefährten auswirken würde. »Sie und ihre Freunde«, raunte Romanow, »sind vermutlich ebenso des Todes wie ich und alle Getreuen Ihrer Eminenz.« »Wieso wir?« Matt war nicht wirklich überrascht. »Was haben wir mit den hiesigen politischen Intrigen zu tun?« »Ihr Freund Black«, flüsterte Romanow, »hat herausgefunden, dass der Baron mit den Verschwörern unter einer Decke steckt. Grigorij kann ihn nicht am Leben lassen.
Und Sie glauben doch nicht, dass er Sie und Ihre Freunde dann schonen wird?!« Das klang auf verquere Weise logisch - und gar nicht gut. Matt fluchte leise. Vom Regen in die Traufe... Romanow trat an eines der vergitterten Fenster und blickte in den Hof hinab. »Da wir nicht mehr fliehen können, bleibt uns nur eine Möglichkeit: Wir müssen den Fürsten und den Baron ergreifen und das Komplott gegen Ihre Eminenz aufdecken. Wenn ihnen die Anführer fehlen, werden die restlichen Verschwörer es nicht wagen, einen Aufstand anzuzetteln. Arbeiten Sie mit mir zusammen, und ich verspreche Ihnen, alles aufzuklären!« Matt brauchte einige Sekunden, um all diese Informationen zu verdauen. »Was ist mit den Posten im Gang?«, fragte er dann. »Die habe ich in die Küche geschickt, damit sie sich verpflegen«, sagte Romanow. »Sie werden also gleich zurück kommen?« »Darum müssen wir uns beeilen! Wecken Sie Ihre Freunde, Commander«, drängte Romanow. »Ich weiß, wo sich Myschkin und Grigorij aufhalten: in den Räumen Ihrer Eminenz. Ich führe Sie hin.« »Geht hier irgendwas vor, das ich wissen sollte...?« Matt fuhr herum. Eine der vom Salon abweichenden Türen hatte sich lautlos geöffnet. Rulfan stand im Rahmen. Er zeigte nicht den geringsten Anflug von Müdigkeit. Neben ihm ragte Wulf auf und nahm den Kanzler leise knurrend in Augenschein. Matt nickte. »In der Tat. Aber das sollten auch Aruula und Dave hören.« Die beiden zu wecken war kein Problem - Aruula hatte von jeher einen leichten Schlaf, und auch David McKenzie schnellte sofort hellwach in die Höhe, als ihn Rulfan an der Schulter rüttelte. Beide waren - wie Matt und Rulfan auch vollständig bekleidet. In ihrer Situation konnten Sekunden entscheidend sein, die man nicht mit Ankleiden vertrödeln
durfte. Allerdings hätten auch sie eher mit einem Auftauchen Blacks gerechnet als mit Kanzler Romanow. Nachdem Matthew die neue Sachlage erläutert hatte, war allen klar, dass Romanows Plan der einzige mit Aussicht auf Erfolg war. »Wie sieht es mit Waffen aus?«, fragte Rulfan. »Ach ja, richtig...« Der Kanzler griff hinter seine Rockschöße und zog mit einigen Verrenkungen zwei Säbel hervor, die er hinter seinem Rücken im Gürtel getragen hatte. »Mehr konnte ich leider nicht mitschmuggeln, sonst hätten die Wachen etwas bemerkt«, entschuldigte er sich. »Besser als nichts!« Rulfan nahm sich den ersten Säbel und ließ ihn waagerecht durch die Luft pfeifen. Die anderen sahen sich kurz an. Dann griff Aruula zu. Sie war von den dreien im Schwertkampf fraglos am geübtesten. Sie, Rulfan und Wulf - der an sich schon eine lebende Waffe war - verließen die Zimmerflucht als erste. Hinter ihnen traten Matt, Dave und Romanow auf den spärlich beleuchteten Gang. Er lag still und friedlich da. Aber wie lange noch? Diese Frage wurde beantwortet, als sie um die nächste Ecke bogen - und plötzlich zwei Soldaten gegenüber standen, die bis unters Kinn mit belegten Broten, Stücken von gebratenem Fleisch und zwei Humpen einer schäumenden Flüssigkeit beladen waren. Im nächsten Moment verteilte sich die Verpflegung auf dem Boden, als die beiden Posten ihre Säbel hervor rissen. Einer von ihnen spuckte den Hühnerschenkel aus, der zwischen seinen Zähnen geklemmt hatte, und bevor man ihn daran hindern konnte, brüllte er aus voller Brust: »Alarm! Die Geiseln sind ausgebrochen! Alle Mann zu den Waffen!« Matt konterte mit einem herzhaften: »Shit!« Schon krachte Stahl auf Stahl. Rulfan drängte den Schreihals in den Gang zurück, und Aruula ging wie eine Furie auf den zweiten Posten los. Der Mann war es offenbar nicht gewohnt, seine Klinge mit der einer Frau zu kreuzen.
Sein Zögern kostete ihn das Leben, denn gleich darauf sank er mit einem Ächzen zu Boden und besudelte ihn mit Blut. Matt bückte sich nach seinem Säbel. Als Rulfans Gegner, der die Hiebe des Albinos ohnehin nur mit Mühe und Not parieren konnte, dies sah, leitete er mit einem weiteren Schrei den Rückzug in Richtung Treppe ein. »Hinterher!«, rief Romanow. »Wir müssen ins Erdgeschoss!« Sie folgten dem Flüchtenden bis zur Treppe. Auf der plötzlich, aber nicht unerwartet ein halbes Dutzend Behelmte auftauchten, die nach oben stürmten. Für eine Sekunde kam beider Lauf ins Stocken. Dann fegte Wulf bösartig knurrend an den Freunden vorbei und stürzte sich mit einem weiten Satz auf den flüchtenden Posten. Der kam zu Fall, polterte die Stufen hinab und riss seine Kameraden von den Füßen. Wie ein Knäuel aus Armen, Beinen und Rüstungen kegelten sie über- und untereinander. Rulfan, Aruula und Matt nutzten die Gunst der Stunde und stürmten vor. Dabei stieß die Barbarin einen schrillen Kampfschrei aus, der allein schon genügt hätte, einen Gegner in die Flucht zu schlagen. Die Schergen, überrumpelt und völlig konfus, wehrten sich nicht, als die Gefährten und Romanow über sie hinweg trampelten. McKenzie nahm bei der Gelegenheit mit einem freundlichen »Ich darf doch?« einen herrenlos daliegenden Säbel auf. Immer drei Stufen auf einmal nehmend, ging es hinab. Als sie eine weitere Treppe hinter sich gebracht hatten, fiel ihr Blick in einen langen Gang, der in eine kleine marmorne Halle mündete. Das Portal dort machte deutlich, dass sie sich im Parterre befanden. Zahlreiche Türen wichen von dem Gang ab. Eine Tür klaffte sperrangelweit offen - und in ihrem Rahmen stand kein Geringerer als Baron Grigorij, der verräterische Neffe Ihrer Eminenz. Sein Gesicht wurde bleich vor Schreck, als er Romanow sah. Dass der Kanzler auf der Seite der Ausbrecher kämpfte, machte ihm wohl klar, dass
sein Bündnis mit dem Verschwörer Myschkin kein Geheimnis mehr war. »Verräter!«, schrie der Kanzler aufgebracht. »Dreckiger Verräter!« »Tötet sie!«, kreischte der Baron und deutete auf die Ausbrecher. »Bringt sie um - auch den Pfaffen Romanow!« Dann fiel ihm wohl auf, dass kein Soldat in der Nähe war, der seinen Befehl ausführen konnte, und nach einer weiteren Schrecksekunde sprang er schließlich zurück und schloss die Tür mit einem lauten Knall. »Feiger Verräter!«, erweiterte Jimi Romanow die Anklage. Als die Gefährten mit dem Kanzler im Schlepptau bei der Tür anlangten, ertönte aus der Halle vor ihnen ein lautes Krachen. Das Portal wurde von außen aufgestoßen - und ein Offizierskommando wogte über die Freitreppe in die Halle und eilte mit Säbel- und Brustpanzergerassel heran. Es waren mindestens zehn Mann, und sie sahen nicht so aus, als wollten sie so schmählich versagen wie die Schergen auf der Treppe. Da sich die Tür um keinen Zoll bewegte, als sich Rulfan und Matthew gleichzeitig dagegen warfen, und sie für einen zweiten Versuch keine Zeit mehr hatten, waren nun die Gefährten mit Zurückweichen an der Reihe. Kaum hatten die Offiziere aber Grigorijs Tür erreicht, als diese aufgerissen wurde und der verräterische Adelige die Offiziere mit blutrünstigen Parolen anfeuerte. »Tötet sie! Tötet sie alle! Lasst niemanden entwischen! Ihr wisst, um was es geht!« Matt dachte gerade: Verflucht! Die Offiziere vor uns, die Soldaten von der Treppe hinter uns - die klassische Zwickmühle!, als es auch schon hinter ihnen rasselte und schepperte. Die sieben Schergen hatten offenbar die Verwirrung ihrer Körper sowie ihrer Gedanken gelöst und sich darauf besonnen, den Ausbrechern zu folgen und die Schmach zu tilgen. Mit grimmigen Mienen eilten sie vom anderen Ende des Ganges auf die Freunde zu.
Sie saßen in der Falle. * Am nördlichen Himmel glitzerte noch ein einzelner Stern, als sich das Fünfzehn-Meter-Fahrzeug seinen Weg durch die Außenbezirke Nyddas bahnte. Dann tauchte das Festungstor in der Morgendämmerung auf. Es war nach dem Durchbruch des ARET nur notdürftig repariert worden. Der Innenhof der Anlage war erleuchtet. Dunkle Gestalten, die brennende Fackeln und blitzende Waffen schwangen, eilten aufgeregt hin und her. Die Außenmikrofone des ARET übertrugen gebrüllte Befehle aus heiseren Männerkehlen, Geschepper und das dumpfe Blöken aufgeregter Yakks. »Hier ist etwas im Gange!«, erkannte Ihre Eminenz und reckte den Hals. Ein Dutzend Wachen vor dem Tor zückten ihre Schwerter und Armbrüste, als die »Eisenkutsche« auf sie zu rauschte. Einige schossen sogar noch ihre Bolzen auf die Wandung des Panzers ab. Dann aber gaben auch sie auf und folgten denen, die bereits realisiert hatten, dass ein Stück Stahl härter ist als ein Knochen. Black steuerte den ARET in den Innenhof. Vor der Freitreppe des Haupthauses hielt er an und öffnete mit einem Knopfdruck die Cockpit-Luken. Wohin er und Ihre Eminenz auch schauten, wimmelte es von Bewaffneten. Die Portalhälften des Haupthauses waren geöffnet. In der Halle dahinter brannte Licht. Als Black ins Freie sprang, hörte er Flüche und Säbelgeklirr. Es schien, als hätte Fürst Myschkin zur Großen Revolte geblasen. Und das bedeutete Gefahr für die inhaftierten Gefährten! Mr. Black sprang aus dem ARET. Er musste seine Gefährten finden, so schnell wie möglich! »Warten Sie doch!« Ihre Eminenz kletterte aus der anderen Luke, als Black bereits mit gezückter Laserpistole - eine der
Waffen, die im ARET verblieben und glücklicherweise nicht entdeckt worden waren - die Stufen zum Portal hinauf stürmte. Oben stellten sich ihm zwei verbissen wirkende Offiziere entgegen. Der eine war Leutnant Ohara, der ihn am Stadttor so vorbildlich abgefertigt hatte, der andere ein fettleibiger Oberleutnant. Während Leutnant Ohara beim Anblick Blacks unschlüssig wirkte, schwang der Oberleutnant bereits seinen Säbel. Black feuerte einen dünnen Laserstrahl, und die Klinge wirbelte davon. Der Dicke krümmte sich zusammen und presste die durchschossene Hand heulend gegen den Leib. »Lasst ihn durch!«, klang hinter Black die Stimme Ihrer Eminenz auf. »Er steht unter meinem persönlichen Schutz!« Ob das nun so klug war angesichts der Tatsache, dass hier Verschwörer gegen die Metropolitin am Werke waren, vermochte Black nicht zu sagen - zumindest aber wich Leutnant Ohara zurück und senkte die Waffe. Black stürmte an ihm und dem jammernden Oberleutnant vorbei ins Haupthaus der Festung. Schneller als erwartet wurde er fündig: In dem Gang, der sich an die marmorne Halle anschloss, drosch eine Soldatenhorde mit surrenden Klingen auf die Leute ein, die er suchte. Commander Drax und seine Gefährten eigenartigerweise gehörte auch Kanzler Romanow zu ihnen standen mit den Rücken zueinander und wehrten sich verzweifelt in beide Richtungen. Zwischen den Offizieren, die sich bemühten, sie aus dieser Welt in die nächste zu befördern, sprang der junge Baron Grigorij auf und ab und schrie hysterisch: »Macht sie nieder! Keine Gnade!« Black zögerte keine Sekunde. Die Lage war verworren, aber es konnte kein Fehler sein, in den ungleichen Kampf einzugreifen. Er eilte auf die kämpfenden Offiziere zu und griff sie von hinten an. Nicht mit der Pistole, denn so ein Laserstrahl reichte weit und hätte in dem engen Gang einen der Freunde treffen können. Black steckte sie in den Gürtel und schwang seine Fäuste. Mit den beiden ersten Schlägen
hatte er bereits zwei Soldaten zu Boden gestreckt. Die unerwartete Attacke von achtern verwirrte die Uniformierten so sehr, dass einige von ihnen herumfuhren und ihre bisher geordnete Front durcheinander geriet. Die Gefährten jubelten, als Fortuna in Gestalt eines dunkelblonden Hünen unverhofft zu ihren Gunsten eingriff, und mobilisierten ihre letzten Kräfte. Ihr plötzliches Vorrücken demoralisierte die Offiziere. Black setzte zwei weitere mit eiserner Faust außer Gefecht. Als er sich die restlichen vier vornahm, die noch immer unverwandt auf Drax und sein Gefolge einschlugen, brüllte hinter ihm eine Stimme: » Aaaach-tung!« Der Pawlowsche Reflex schlug zu. Sämtliche Schergen fuhren herum. Das Säbelklirren verstummte. Keuchen erfüllte den Gang und die Marmorhalle. Mitten in der Marmorhalle stand, breitbeinig und die Hand am Säbelknauf, ein Hauptmann. Neben ihm ragte mit funkelndem Monokel Ihre Eminenz auf. Zwischen ihren Zähnen klemmte eine Zigarre. Auch sie hielt einen Säbel in der Hand. »Kampfhandlungen einstellen!«, schnauzte der Hauptmann und deutete in den Gang hinein. »Die Geiseln sind sofort freizulassen!« Black drückte sich mit dem Rücken an die Wand. Sein Blick musterte prüfend die nach Luft ringenden Offiziere, und er fragte sich, ob sie so einfach aufgeben würden. Die einfachen Soldaten weiter hinten im Gang ließen daran keine Zweifel: Ihre Waffen klirrten zu Boden. Auch die Gefährten und Kanzler-Romanow - ließen ächzend ihre Waffen sinken. Sie wirkten erschöpft. Nur Rulfans Lupa schien dem plötzlichen Frieden nicht ganz zu trauen: Wulf stand geduckt da und zeigte den Uniformierten seine doppelten Zahnreihen. »Tötet sie!« Blacks Kopf fuhr herum. Sein Blick richtete sich auf Baron Grigorij. Er deutete mit vor Hass funkelnden Augen auf Ihre Eminenz. »Bringt sie alle um! Ich bin der neue Herrscher von
Nydda! Ich befehle es!« Ihre Eminenz verzog keine Miene. Der Hauptmann an ihrer Seite schnappte empört nach Luft. Einige der Offiziere im Gang stierte wild umher und wussten nicht, was sie nun tun sollten. Da drängte sich Kanzler Romanow nach vorn und deutete mit seinem Säbel anklagend auf den Baron. »Er hat Sie verraten, Eminenz. Er steht auf Fürst Myschkins Seite!« Er schaute sich um. »Und ebenso fast alle hier anwesenden Offiziere!« Mr. Black hielt unwillkürlich die Luft an. Das war genau ein Satz zu viel gewesen! Wenn den Offizieren bewusst wurde, dass sie so oder so ihr Leben verwirkt hatten, würden sie lieber kämpfend sterben als unter dem Henkersbeil. Ihre Eminenz reagierte, wie man es von einer Staatsfrau erwartete. Indem sie die in dieser Situation einzig mögliche Lösung fand: »Wer jetzt die Waffen niederlegt und sich auf meine Seite stellt, genießt Amnestie!«, rief sie laut. Und fügte hinzu: »Was natürlich nicht für Fürst Myschkin und Baron Grigorij gilt!« Die Offiziere überlegten nicht lange. Lieber lebendig als tot, hieß die Devise. Auch wenn sie wohl damit rechnen mussten, vom Hof verbannt zu werden. Doch bevor sie wie gefordert ihre Waffen niederlegen konnten, tauchte eine schwarz gekleidete Gestalt im Rahmen der Tür auf, durch die Grigorij in den Gang getreten war. Black erkannte sie sofort. »Kämpft!«, schnarrte Fürst Myschkin und starrte die Offiziere aus blutunterlaufenen Augen an. »Ihr habt mir den Eid geschworen! Ihr könnt nicht mehr zurück!« Sein von Hass erfüllter Blick traf Ihre Eminenz. »Und du verdammte Hure stirbst als Erste!« Den Driller in seiner Hand sah Mr. Black erst, als der Fürst einen Schritt nach vorn trat und die Waffe auf Ihre Eminenz richtete. Für eine Sekunde schien die Zeit selbst zu erstarren.
Atemlose Stille herrschte. Dann riss Black die Laserpistole aus dem Gürtel. Er war schnell; schneller als je zuvor in seiner Karriere als Weltrat-Agent und späterer Running Man. Und beinahe doch nicht schnell genug. Der Finger des Fürsten krümmte sich bereits um den Abzug, als sich der Laserstrahl in seine Stirn fraß. Vermutlich wurde dabei irgendein Muskel im rechten Arm aktiviert; jedenfalls zuckte die Hand in genau dem Moment nach oben, als der Schuss sich löste. Das Explosivgeschoss flirrte den Gang entlang, flog eine Handbreit über den Kopf Ihrer Eminenz hinweg und sprengte ein kürbisgroßes Loch in die feine Marmorvertäfelung der Halle. Die Druckwelle spürte sogar noch Black im Gang. Die Metropolitin und den Hauptmann riss sie von den Beinen. Auch Fürst Jurii Myschkin stürzte, aber sein Fall war endgültig. Er war schon tot, als er auf dem Boden aufschlug. Eine Sekunde später klirrten die Waffen der Offiziere auf den Boden. Die Soldaten ergaben sich mit erhobenen Händen. Nur einer nicht. Und als Commander Drax sein Fehlen bemerkte, spurtete er augenblicklich los, während Black mit der Laserpistole die entwaffneten Schergen in Schach hielt. Baron Grigorij hatte sich abgesetzt, war wieder in den Raum verschwunden, aus dem er und Myschkin getreten waren. Matthew Drax stürmte in den Salon und schaute sich suchend um. Der Baron stand neben dem Kamin vor einem mannshohen Gemälde, das einen Zigarren rauchenden Fettsack mit einem Ölarbeiterhelm zeigte. Das bis zum Boden reichende Bild war zwar kein Rembrandt, aber dass Grigorij daran zerrte und es mit dem Stiefel traktierte, erschien Matt als Kunstkritik etwas übertrieben. Umso größer war sein Erstaunen, als die Leinwand riss und dahinter ein in die Finsternis führendes Loch sichtbar wurde, groß genug, um einen Menschen hindurch zu lassen.
Im gleichen Moment schaute Baron Grigorij auf. Als er seinen Verfolger sah, fluchte er und ließ von dem Gemälde ab. Sein Blick fuhr suchend umher, und eine Sekunde später sprang er an der Wand hoch und riss einen schlangen Degen von einer Halterung über dem Kamin. »Na komm doch!«, fauchte Grigorij mit erhobener Klinge. »Im Degenfechten kann mich niemand schlagen!« Im nächsten Moment machte er wie zur Bestätigung einen Ausfallschritt. Die Spitze des Degens deutete urplötzlich auf Matts Kehle, dessen Säbel mit der Reichweite der Florettwaffe nicht mithalten konnte. Matt steppte einen Schritt zurück. »Geben Sie auf!«, fuhr er den Baron an, in dessen Augen der Irrsinn glitzerte. »Es hat doch keinen Sinn mehr!« »Mein Spiel ist aus, ich weiß«, knurrte Grigorij. »Doch bevor ich gehe, werde ich so viele mitnehmen, wie ich nur kann. Und du wirst der Erste sein!« Matthew seufzte. Kam er denn wirklich nicht darum herum, sich mit diesem Kerl zu schlagen wie einst Errol Flynn? Fast schien es so, doch dann gewahrte Matt hinter dem Baron eine Bewegung. Er sah genauer hin - und wollte es kaum glauben. »Äh... ich will Sie ja nicht in Ihrem Größenwahn unterbrechen«, merkte er an und deutete an Grigorij vorbei, »aber Sie sollten sich vielleicht mal umdrehen.« »Ha!«, höhnte Baron Grigorij und sah Matt Drax fast schon mitleidig an. »Glaubst du Hundsfott tatsächlich, ich würde auf diesen uralten Trick hereinfallen?« »Ich hab's ja nur sagen wollen...«, erwiderte Matt schulterzuckend. Sein Grinsen verwirrte den Baron nun doch so sehr, dass er ruckhaft den Kopf drehte. Vielleicht bekam er aus den Augenwinkeln die Bewegung sogar noch mit. Zu spät. Das schwere Ölbild kippte auf ihn herab, und der noch schwerere Rahmen erwischte ihn so heftig am Hinterkopf, dass er nach vorne flog und, bereits bewusstlos, an Matt vorbei schlidderte. »Knockout durch den General Manager der
Benton/Gasprom in der ersten Runde«, kommentierte Matthew Drax trocken. * In Nydda herrschte endlich wieder Frieden. Die helle Morgensonne erhellte den Festungshof, und ein blauer Himmel schien alle bösen Schatten zu leugnen, die in den letzten Monaten über der Stadt gelegen hatten. Ein Heer von Lakaien räumte die Toten und Verwundeten beiseite. Baron Grigorij saß, eiserne Armbänder tragend, in einer Kerkerzelle und dachte über seine dunkle Zukunft nach. Die verräterischen Offiziere waren schon, bar aller Kleidung und Ehre, auf dem Weg landauswärts. In einem Akt der Nächstenliebe hatte Commander Drax ihnen zum Abschied geraten, nicht gerade gen Osten zu ziehen. Die Bedrohung, die sich von dort Nydda näherte, war auch der Grund dafür, dass David McKenzie ungeduldig hinter dem Steuer des ARET saß und sich wünschte, das Fahrzeug hätte eine Hupe. Nach dem, was sie über das Mutantenheer wussten, war er sehr darauf bedacht, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Späher auf den höchsten Zinnen hatten bereits eine dunkle Staubwolke gemeldet, die in breiter Front auf Nydda zu kam. Augenblicklich hatte Ihre Eminenz Andronenreiter losgeschickt, um die Bevölkerung zu warnen und zur Stadt zu rufen. Nur Matthew Drax, Aruula, Rulfan und Wulf hatten scheint's die Ruhe weg. Sie standen zusammen mit Kanzler Romanow am Fuße der Freitreppe vor dem Hauptgebäude und wohnten dem Festakt bei, den Ihre Eminenz für Mr. Black veranstaltete. Offensichtlich hatte sie einen Narren an dem Hünen gefressen. Gerade verlieh sie ihm den Großen Vaterländischen Verdienstorden mit Brabeelenlaub am Band. Drei Dutzend verschwitzte Soldaten, deren müde Gesichter allerlei Blessuren aufwiesen, standen mit erhobenen Säbeln Spalier und brüllten »Hurra!«. Matt, Aruula und Rulfan
applaudierten. Wulf, offenbar nicht weniger ergriffen, fing an zu heulen. »Ohne Sie, Mr. Black, stünde es schlecht um mein Reich«, führte die Metropolitin von Nydda aus. »Hätten Sie unseren Kampf nicht so beherzt unterstützt und mir gleich zwei Mal das Leben gerettet, wäre Fürst Myschkin nun an der Macht.« Sie räusperte sich. »Deswegen zeichne ich Sie nicht nur mit dem Großen Vaterländischen Verdienstorden aus, sondern auch mit der höchsten Belobigung, die unsere Nation einem Ausländischen zuteil werden lassen kann.« Nun mach schon, Baby, dachte McKenzie und trommelte ungeduldig auf die Armaturen. Wir haben's eilig! Dann traten seine Augen ein klein wenig vor, denn Ihre Eminenz ergriff Mr. Blacks linkes Ohr und zupfte daran, während sie ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte. »Ich... ähm... fühle mich sehr geehrt, Eminenz...« Mr. Black blickte verlegen zu Boden, dann zu seinen Gefährten. Matt tippte mit gestrecktem Zeigefinger dorthin, wo man normalerweise eine Armbanduhr trug. Mach hinne! »Und ich... äh... werde Ihrer wunderbaren Stadt und ganz besonders Ihnen, Eminenz, immer einen Platz in meinem Herzen reservieren.« Rulfan räusperte sich und wippte auf den Zehenspitzen. »Gern würde ich noch länger hier verweilen...«, kam Black langsam zum Ende, »aber leider...«, er seufzte, »drängt die Zeit, wie Sie wissen.« Auch Ihre Eminenz seufzte. »Ja, ich weiß. Zu schade...« Sie schüttelte Black die Hand. »Vielleicht sehen wir uns mal wieder.« Black tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn, dann schritt er, von den Hurrarufen der Soldaten begleitet, die Treppe hinunter und begab sich zu seinen Gefährten. »Abmarsch!«, befahl er der Gruppe, und diesmal war Matthew Drax nicht verstimmt über die Anmaßung. Im Gegenteil. Sie stiegen durch die Heckluke in den ARET, und Mr. Black übernahm die Steuerung. Der Forschungspanzer rollte
durch das Festungstor. Ihr erstes Ziel war der Hafen, denn dort wartete Kapitän Boronin an Bord der Genosse Troozki, um das Black gegebene Versprechen zu erfüllen. »Und ihr seid sicher, dass es besser ist, wenn wir uns trennen?«, fragte Aruula zum wiederholten Male. »Die Ereignisse hier haben es doch gezeigt«, entgegnete Matt. »Wie leicht läuft man Gefahr, plötzlich festzusitzen? Je mehr Gruppen wir bilden, desto größer ist die Chance, dass eine davon nach London durchkommt.« »Oh«, fiel Mr. Black bei diesem Stichwort ein, »das habe ich ganz vergessen zu erwähnen: Dr. Stuart und Miss Ncombe waren hier!« »Hier?«, echote McKenzie verblüfft. »In Nydda?« »Ich traf sie am Abend meiner Flucht in einer Spelunke. Sie waren mit dem Zug gekommen und hatten kein Geld, um weiter zu reisen. Ich habe ihnen... ausgeholfen.« »Sie sind also unterwegs?«, vergewisserte sich Matt. »Richtung Westen«, nickte Mr. Black. »Der Zug fährt bis Kiew; von dort müssen sie sich einen anderen Weg bis Britana suchen.« »Haben Sie ihnen von den Daa'muren und dem Mutantenheer erzählt?«, fragte Matt. »War gar nicht nötig«, entgegnete Black. »Sie hatten unterwegs Aiko, Honeybutt und Pieroo im Dingi getroffen und wussten schon über alles Bescheid.« Der Cyborg und die junge schwarze Rebellin brachten den todkranken Pieroo im Beiwagen des ARET nach London, wo man seine Strahlenkrankheit würde behandeln können. »Ich hätte Jed und Majela gern noch mal gesehen«, sagte Aruula, »aber es ist besser so. Wahrscheinlich kommen die beiden lange vor uns an.« »Wenn man die Geschwindigkeit zugrunde legt, wird wohl das Dingi das Rennen machen«, belehrte sie Professor McKenzie. »Es schafft immerhin gut hundertzwanzig Stundenkilometer, und wenn das Gelände es zulässt -« »Also eine weitere Gruppe mehr«, unterbrach ihn Rulfan.
»Damit sind es vier. Es sollte mit dem Teufel oder Orguudoo zugehen, wenn nicht mindestens eine es schafft, die Communities zu warnen.« Er blickte zu Aruula, und in seine Augen trat ein Hauch von Wehmut. »Ich hoffe, du schaffst es. Hast du es dir noch einmal überlegt...?« Matt zog die Augenbrauen zusammen, während die hübsche Barbarin wortlos den Kopf schüttelte. Rulfan konnte nicht aus seiner Haut - er musste es ganz einfach immer wieder versuchen, so aussichtslos es auch für ihn war. Er, David McKenzie und natürlich Wulf würden an Bord des Raddampfers gehen, während Mr. Black, Aruula und Matt mit dem ARET weiter den Landweg nahmen. Panzer, Dingi, Schiff und Eisenbahn - vier Verkehrsmittel, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Es würde sich zeigen, wer die bessere Wahl getroffen hatte. Und Quart'ol? Kurz dachte Matt an den hydritischen Freund, der sie schon beim Kratersee verlassen hatte, um nach seinem verschleppten Assistenten Mer'ol zu suchen. Hatte er inzwischen Erfolg gehabt - oder war auch er den Daa'muren und Todesrochen zum Opfer gefallen? Insgeheim hoffte Matthew, ihn oder gar beide Hydriten in London zu treffen, wenn er dort anlangte.
ENDE
Die Bunkerliga von Jo Zybell
»Es gibt achtzehn bekannte Bunkerkolonien in Russland, die beiden größten in Moskau und St. Petersburg. Daneben diverse Stützpunkte und Außenbasen. Die Kolonien sind weitgehend autonom, haben sich aber zu einer losen Konföderation mit wechselndem Kommissariat verpflichtet, um gemeinsam Wiederaufbau anzustreben und ein Mittel gegen die Immunschwäche zu finden. Hinter den Kulissen schwelen die üblichen Konflikte. Moskau wacht streng über die föderale Struktur der Liga, während man in Petersburg glaubt, nur eine starke Zentralregierung könne die drängenden Probleme lösen. Die beiden Bunker in Perm benutzen diese latente Meinungsverschiedenheit, um alte Rechnungen zu begleichen. Die Menschen der Liga haben ihre eigene Mentalität: sentimental, korrupt, gutherzig, fatalistisch, radikal, risikofreudig. Sex, Schnaps und Macht spielen hinter den Kulissen eine erhebliche Rolle...« (aus dem MADDRAX-Serienexpose)