Der Streit der Interpretationen hat im letzten Jahrzehnt dazu geführt, die Basis des Sinnverstehens selbst und damit di...
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Der Streit der Interpretationen hat im letzten Jahrzehnt dazu geführt, die Basis des Sinnverstehens selbst und damit die Autorität der Hermeneutik in Frage zu stellen. In dieservornehmlich theoretisch geführten Debatte wurde eine Frage vernachlässigt, mit der dieses Buch einsetzt - die schlichte Frage, was uns die Beg riffs geschichte und der Sprachgebrauch vorab von den Leistungen des Verstehens zu erkennen geben. Damit hatte sich zuvor Hans Lipps in seiner hermeneutischen Logik, Karl Löwith in
Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen und Ludwig Witt.genstein in seiner Theorie der Sprachspiele betaßt. Das Vorhaben einer literarischen Hermeneutik, die solche Ansätze wieder aufnehmen und auf ihrem eigenen Feld - dem ästhetischen Sinnverstehen - weiterfüh ren will, setzt voraus, daß Hermeneutik keine esoterische Lehre, sondern die Theorie einer Praxis ist. Danach entspringt Verstehen primär nicht-der Beziehung von Subjekt und Objekt, sondern der Interaktion zwischen Subjekten, einem Sich -Entsprechen in der Rede, das ein immer wieder revidierbares Verständnis hervorbringt. Literarische Hermeneutik zumal ist von Haus aus nicht monologisch( sondern dialogisch. Sie setzt sich damit von a ler Hermeneutik ab, die das Verhältnis von Verstehen, Auslegen und Anwenden - gleichviel ob durch die Bindung an eine ursprüngliche Intention des Textes, an die voluntas auctoris, an die Autorität einer sakrosankten Schrift oder an die Geltung einer Tradition - auf einen vorgegebenen Sinn festlegen und damitvereindeutigen will. Dem steht die Auffassung entgegen, daß Verstehen gleichviel ob es um ein Verstehen des Andern in der Rede oder um ein Verstehen von Texten geht - nicht auf einem einzigen, für alle verbindlichen Weg gesucht werden kann, son dern auf verschiedenen Wegen zu erreichen ist. Insofern entspricht der Titel des Buches der Erfahrung, daß es immer wieder neu und anders zu stellende Fragen sind, die ermögli -
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chen, Zugänge des Verstehens zu eröffnen und bisher unerKannte Seiten einer Person oder Ansichten einer Sache aufzudecken. Der erste, systematische Teil beginnt mit einer Rückschau auf die Begriffsgeschichte von Verstehen, um von ihr aus die Eigentümlichkeit ästhetischen Sinnverstehens zu begründen. Damit ist keineswegs nur das Verstehen von Literatur und Kunst als einer Welt für sich gemeint. Das dialogische Prinzip der literari schen Hermeneutik erstreckt sich auch darauf, wie ästhetisches Verstehen, das an die Freiheit der Reflexion appelliert, zwischen verschiedenen Subsinnwelten der Lebenserfahrung wie Religion, Recht, Politik oder Moral zu vermitteln vermag . Dq~ gilt im besonderen für das Verhältnis von Asthetik und Moral. Ihrer vermeintlichen Unvereinbarkeit läßt sich entgegensetzen, daß die literarische Tradition gegenläufig zur präskriptiven Moral eine explorative Moral entfaltet und ~amit den genuin moralischen Anspruch des Asthetischen aus seinem Vermögen beBründet hat, das Verstehen des Andern zu eröHnen, aber auch wieder zu problemati sieren. Die Problematik und Ambivalenz dieser hermeneutischen Moral wird hernach an der Genese und Wi rkung des Dictums: Tout com prendre, c'est tout pardonner erörtert. Der zweite, historische Teil erprobt das hermeneutische Verfahren an einer Beispielreihe, die vom Buch Jona über die Tradition der Charaktere, Dante und Shakespeare, Yves Bonnefoy (als Repräsentant moderner Lyrik) bis zu Pavics Chasarischem Wörterbuch (als Reprise des Religionsgesprächs) führt. Der dritte, kritische Teil dokumentiert Stellungnahmen: zur Entdekkung des Individuums in der Renaissance, zum Dekonstruktivismus (Paul de Man), zum New Historicism, zur Epochenschwelle der Postmoderne, zu George Steiners Theologie der Kunst, zum Verhältnis von musikalischer und literari scher Hermeneutik und nicht zuletzt zur Reform der Gei steswi ssenschaften.
Hans Robert Jauß
Wege des Verstehens
Wilhelm Fink Verlag · München
Umschlagabbildung: Matthias Holländer: .. DIE TÜREN- 1987, Gouache auf Papier M x 8S cm
Die Oeuuche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Jau8, Han. Robert: Wep des Vcmehens / Hans Roben JauB. München: F'mk., 1994 ISBN 3-n05-2982-o
ISBN 3-7705-2982-0 C 1994 Wilhelm Fink Verlag, München HersteUung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderbom
Inhalt Vorw-ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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A. Ad dogmaticos: Kleine Apologie der literarischen Hermeneutik 1. Rückschau auf die Begriffsgeschichte von Verstehen 2. Hermeneutische Moral: der moralische Anspruch des Ästhetischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tout comprendre, c'est tout pardonner . . . . . . ..
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B. Hermeneutische Exempel 4. Das Buch Jona - ein Paradigma der ,Hermeneutik der Fremde' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vom Plurale tantum der Charaktere zum Singulare tantum des Individuums. . . . . . . . . . . . . . . . 6. Erleuchtete und entzogene Zeit - eine Lectura Dantis 7. Shakespeare im Horizontwandel der Moderne - eine Rezeptionsgeschichte von King Lear. . . . .. .. 8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung Yves Bonnefoy: Ce quifut sans furniere. . 9. Das Religionsgespräch, oder: The last things before the last . . . . . . . .
c.
. . 85 . . 107 . 147
. . 181 .. 210 . . 251
Kritische Gänge
10. Zur Entdeckung des Individuums in der Portraitmalerei der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 1 1. Brief an Paul de Man. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 12. Alter Wein in neuen Schläuchen? Bemerkungen zum New Historicism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .304
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Inhall
13. Die literarische Postmoderne - Rückblick auf eine umstrittene Epochenschwelle . . . . . . . . . . . .. 14. Über religiöse und ästhetische Erfahrung - zur Debatte um Hans Belting und George Steiner . . . . . . . 15. Salzburger Gespräch über musikalische und literarische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Die Paradigmatik der Geisteswissenschaften im Dialog der Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
. 402
Nachweise . . . .
.429
Autorenregister .
.432
. 324 . 346 . 378
Vorwort Die hier vereinten Schriften aus den Jahren 1985 bis 1993 verknüpft die zumeist unausgesprochene oder beiläufig gebliebene, nun aber eigens ausgeführte Absicht einer Apologie. Ich habe mich dieser Redegattung verschiedentlich bedient, als es darum ging, erst die Literaturgeschichte, dann die Literatur des Minelalters und hemach die ästhetische Erfahrung zu verteidigen. Der Vorwurf, überholt zu sein, trifft heute nicht selten die Hermeneutik. Wenn ich es darum für angezeigt halte, ihr Erkenntnisinteresse zu rechtfertigen, bin ich mir durchaus bewußt, daß Apologie einen theologischen Klang hat. Ist sie doch in der Geistesgeschichte seit dem Frühchristentum vornehmlich ein Instrument der Orthodoxie gewesen. Die literarische Hermeneutik hingegen sah sich immer wieder genötigt, die Wahrheit der Dichtung gegen den philosophischen oder theologischen Rigorismus zu behaupten. Eine De[ense o[ Poetry - um nur den berühmten Titel Sidneys zu nennen - geriet für die Orthodoxen und Fundamentalisten aller Lager begreiflicherweise immer wieder unter den Verdacht der Häresie. Den will ich gelassen in Kauf nehmen, wenn ich nunmehr die Waffen der Widersacher gegen sie selbst wende und behaupte: Hermeneutik war von Haus aus undogmatisch und ist es noch. Wer sie verachtet, weil er sie - um vorab die gängigen Vorwürfe zu nennen - für konservativ, vergangenheitshörig und traditionsgläubig, der ,Chimäre des Ursprungs· verfallen, für unkritisch, affirmativ und schlimmer noch - für herrschaftsstabilisierend, für subjektivistisch, unsystematisch und theorieblind hält, kann seinerseits in Dogmatismus verfallen, ohne zu bemerken, daß er in praxi doch selbst von dem zehrt, was er theoretisch ablehnt. Man denke nur an Verfahren der Interpretation und an Spielregeln der Kommunikation, die preiszugeben das elementare Bedürfnis, in der Situation der Rede den Andern zu verstehen und selbst verstanden zu werden, verleugnen hieße, . . ein Bedürfnis, das dem Menschen unbestreitbar nun einmal eigen 1st. Ich werde im ersten Teil dieses Buches vornehmlich dieses Bedürfnis erläutern, ausgehend von einer Frage, die - wie mir scheint - in der hochtheoretisch geführten Debatte vernachlässigt wurde: die
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Vorwon
schlichte Frage, was uns die Begriffsgeschichte und der Sprachgebrauch vorab von den Leistungen des Verstehens zu erkennen geben. Auf diese Weise hoffe ich, meinen Lesern am klarsten darlegen zu können, daß Hermeneutik keine esoterische Lehre, sondern die Theorie einer Praxis ist. Ineins damit möchte ich den Gebildeten unter ihren Verächtern zu bedenken geben, ob die modisch gewordene Schelte der Hermeneutik nicht ständig Türen einrannte, die in ihrer Geschichte wie in der Praxis des Sinnverstehens oft schon lange geöffnet waren. Der Titel Wege des Verstehens bedarf heute wohl kaum mehr einer ausführlichen Erläuterung. Er soll mein Vorhaben von aller dogmatischen Hermeneutik abrücken, sofern diese das Verhältnis von Verstehen, Auslegen und Anwenden - gleichviel ob durch seine Bindung an die ursprüngliche Intention eines Textes, an die voluntas auctoris, an die Autorität einer sakrosankten Schrift oder an die Geltung einer Tradition - auf einen vorgegebenen Sinn festlegen und damit vereindeutigen will. Ihm liegt die auch von anderen geteilte Auffassung zugrunde, daß Verstehen - gleichviel ob es um ein Verstehen des Andern in der Rede oder um ein Verstehen von Texten geht - nicht auf einem einzigen, für alle verbindlichen Weg gesucht werden muß, sondern auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann. Er entspricht der Erfahrung, daß es immer wieder neu und anders zu stellende Fragen sind, die ermöglichen, Zugänge des Verstehens zu eröffnen und bisher unerkannte Seiten einer Person oder Ansichten einer Sache vor Augen zu führen. Wenn es keinen für alle verbindlichen Weg der Erkenntnis geben kann, besagt das zunächst, daß ein jeder den Weg seines eigenen Verstehens suchen, dabei verschiedene Anläufe erproben und Umwege einschlagen muß, die ihm gewiß kein anderer ganz ersparen kann: "On ne re~oit pas la sagesse, iI faut la decouvrir soi-meme apres un trajet que personne ne peut faire pour nous, ne peut nous epargner, car elle est un point de vue sur les choses.· Dieser Satz, in dem Prousts A Ja recherche du temps perdu gipfelt (Ed. de Ja Pleiade, 11, 219), ist indes die Einsicht einer Rückschau, die zu einem Weg vereinheitlicht, was im Gang des Lebens in einer Vielheit von Zeiten und Wegen ohne ein erkennbares Telos erfahren wurde. Daß die vermeintlich vergebliche Suche in Wahrheit schon die unsichtbare Geschichte einer Berufung war, ist eine profane, doch späte Erleuchtung des Erzählers, die ihn erkennen läßt, daß erst sein Erinnern, wenn es den Weg durch die Zeit wieder beschreitet, den verlorenen Sinn der Vergangenheit in der wiedergefundenen Zeit zu entdecken vermag.
Vorwort
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Die Erinnerung an das Werk Marcel Prousts, mit dem mein eigener Weg in den Beruf des Philologen begann, soll auch hier mit der Metapher von den Wegen des Verstehens anzeigen, daß wissenschaftliche Erkenntnis stets den Zufällen des Suchens und Findens wie dem unerwarteten Widerstand des Fremden ausgesetzt ist und dabei Vieles der Begegnung mit denen verdankt, die uns als Weggefährten oder auf anderen Wegen zur Seite oder auch entgegen standen. Insofern meint die Metapher des Weges eine Erfahrung geschichtlicher Kontingenz und steht damit im strikten Gegensatz zur Metapher organischer Entwicklung, dem Bildungsideal einer vergangenen Epoche. Auch dem eigenen Weg der Erkenntnis, zu dem sich die verschiedenen Wege und Umwege des Verstehens erst in der Rückschau vereinen, ist nicht alles eigen. Solch vermeintlicher Kontinuität widerspricht das Bewußtsein, daß dieser Weg immer wieder auch anders hätte verlaufen können, daß auch das Verfolgen eines fernen Ziels immer wieder Änderungen der Richtung des Fragens erforderte, die nicht immer eigener Wahl, sondern oft auch fremdem Anlaß, dem Ansinnen einer Antwort auf ein neu gestelltes Problem, entsprangen. So sind auch die Fragestellungen, aus denen die Themen dieses Buches hervorgingen, nicht allesamt einer Absicht oder Planung des Verfassers zuzuschreiben. In seinen zweiten Teil sind vornehmlich Abhandlungen eingegangen, die für Kolloquien der Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik verfaßt wurden. Hier war ich in der glücklichen Lage, an der ThemensteIlung selbst beteiligt zu sein und meine Ansätze in den interdisziplinären Dialog einbringen zu können, der in diesem Kreis seit jeher dazu diente, verschiedene Wege des Verstehens zu erproben. Die Kapitel des dritten Teils hingegen sind aus Vorträgen hervorgegangen, mit denen ich zu Fragen Stellung nahm, die in aktuellen Debatten eine Antwort aus der Sicht der literarischen Hermeneutik herausforderten. Die Anlässe sind den bibliographischen Nachweisen (im Anhang) zu entnehmen. Es ist mir durchaus bewußt, daß ich bei alledem die angeschlagenen Themen keineswegs ausgeschöpft habe, von denen manches den Ausbau zu einem eigenen Buch zu verdienen schien. Doch sehe ich darin keinen Mangel, sondern die Konsequenz einer gesprächsoffenen Hermeneutik, die dazu einlädt, schon eingeschlagene Wege des Verstehens weiter zu beschreiten oder zu versuchen, auf anderen Wegen über sie hinauszugelangen. Nur Dogmatiker können glauben, ihr Thema ein für allemal ausgeschöpft zu haben. Eine Apologie des Verstehens hingegen, die nicht dogmatisch verstanden sein will, kann sich damit bescheiden, mit Paul Valery zu sagen: "Je travaille pour quelqu'un qui viendra apres" (Cahiers, 11 60).
A. Ad dogmaticos: Kleine Apologie der literarischen Hermeneutik 1. Rückschau auf die Begriffsgeschichte von Verstehen
I.
Wenn ich die Frage an den Anfang stelle, was die Begriffsgeschichte und der Sprachgebrauch vorab von den Leistungen des Verstehens erkennen lassen, folge ich dabei bereits einer bestimmten Hermeneutik: der Hermeneutik der Rede, die vor allem Hans Lipps (nach Karl Löwith) und später Ludwig Wittgenstein entfaltet haben. Don wird der formalen, auf Aussage oder Sachverhalt begründeten Logik eine hermeneutische Logik entgegengesetzt, die bestreitet, daß Wahrheit primär an der Aussage hafte, weshalb schon Aristoteles Rat, Bitte oder Frage aus der Logik als ,unwahr' ausgeschlossen hatte. Solche Redeakte oder Sprachspiele lassen ihre Bedeutung - den Logos semanticos - nicht in der Eindeutigkeit eines Begriffs, seiner Definition, sondern in der Verhältnismäßigkeit und Situationsbezüglichkeit aller Rede erkennen. Die Verbindlichkeit der Sprache entspringt nicht der Beziehung von Objekt und Subjekt, einer adaequatio rei et intellectus, sondern der Beziehung von Subjekt zu Subjekt, einem Sich-Entsprechen in der Rede, das ein stets revidierbares Verständnis hervorbringt. Verstehen ist primär nicht monologisch, sondern dialogisch. Mit diesen Prämissen stellt die Hermeneutik der Rede die von der cartesianischen Tradition preisgegebene Priorität der Mitwelt vor der Objektwelt wieder her. Die Hermeneutik der Rede ist gegen die radikale Sprachskepsis poststrukturaler Theorien aufzubieten, sofern diese behaupten, daß Hermeneutik die außersprachliche Realität verfehlen müsse, weil alles Verstehen immer schon der vorgreifenden Macht der Sprache, dem anfangs- und endlosen Strom anonymer Diskurse, botmäßig \ei. Solche Skepsis verabsolutiert Sprache als System (langue). Sie verkennt
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A. Ad dogmaticos
den Sprach wandel als die andere Dimension von Sprache (parole): das sprachschaffende Bewußtsein. das sich in Akten der Rede die Welt im Horizontwandel der Erfahrung, sei es rückschauend. sei es vorgreifend. aneignet. Hier sind wir nicht länger Gefangene der Sprache. sondern ihr Souverän. zumal in der Dichtung. sofern sie mögliche Welten - die Möglichkeit. anders sein zu können - zu entwerfen vermag. Die dichterische Sprache ist dabei - nach Eugenio Coseriu - nicht als ,Abweichung von einer Normalsprache zu begreifen. Sie stellt vielmehr mit ihrem kreativen Vermögen erst eigentlich die volle Funktionalität der Sprache dar. 1 Das zeigt sich gerade auch in Jacob Grimms Deutschem Wörterbuch. Z Dort ist der Großteil der Zeugnisse, die den Bedeutungswandel von Verstehen erfassen, dem Gebrauch in der Literatur entnommen, die in der Tat den hermeneutischen Logos. der in der Sprachgeschichte waltet. am schönsten zu erhellen vermag. Die folgende, primär diese Fundgrube auswertende Betrachtung ergänzt damit aus der Sicht der literarischen Hermeneutik die ältere Problemgeschichte, die KarlOtto Apel- ausgehend von Diltheys Scheidung zwischen Erklären und Verstehen - der Vorgeschichte des wissenschaftlich-philosophischen Verstehensbegriffs gewidmet hat. ) C
11. Der etymologische Ursprung von verstehen läßt im Lateinischen und im Deutschen zwei Grundfunktionen erkennen. Lat. intelligere (von inter-Iegere: dazwischen lesen, auslesen, unterscheiden) begreift die Bedeutung von verstehen analytisch: nämlich ,der charakteristischen Merkmale unterscheidend innewerden'. 4 Dem stellt Grimm ein germ. instan für: ,in einem Gegenstand stehen, fußen, zuhause sein', z,ur Seite, das die Bedeutung synthetisch begreift. Es folgt ein sprachgeschichtlicher Schritt von der sinnlichen Anschauung des Stehens (stdn) zur geistigen des Verstehens als ,rings um einen Gegenstand stehen, ihn umstehen, in der Gewalt haben c , dem lat. comprehendere entspricht. Dieser Schritt findet sich gleichermaßen in Parallelbil1 E. Coseriu: • Thesen zum Thema ,Sprache und Dichtung,e, in: B~ilTiigt ZIIT uxtlingllistik, hg. W. Stempel, München 1971, S. 183-188. 2 Belege aus dem Artikel Vtnt~hm von Grimms D~"tschnn WÖTtnbllch sind nicht eigens nachgewiesen. da don unter Lemma oder Automamen leicht zu finden. 3 .Das Vemehen (eine Problemgeschichle als Begriffsgeschichte)-, in: Archw f;;r B~griflsg~schicht~, Bd. 1 (1955), 142 ff . .. Nach K.E. Georges: L.t~inisc:h-tk"tsch~s Sc:h"IVIÖTt~rb"ch. Hannover und Leipzig, 11900. s. v. inlelligo.
1. Rückschau
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dungen, wie z. B. im Fall von greifen zu begreifen (für abstraktes Denken). Der Zusammenhang von sinnlicher und geistiger Anschauung wird von dem lat. Synonym sapere und der deutschen Entsprechung schmackhaft verstehen bewahrt. Ein Beispiel aus der Dichtung: "Denn werdet ihr wohl recht schmecken und verstehen / was Liebe für ein Labsal sei" (Lohenstein). Mithin liegt auch geistigem Verstehen noch sinnliche Erfahrung zugrunde. Das hat Hegel auf die schönste Formulierung gebracht: ",Sinn' nämlich ist dies wunderbare Won, welches selber in zwei entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird. Einmal bezeichnet es die Organe der unmittelbaren Auffassung, das andere Mal heißen wir Sinn: die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache". ~ Das sollte den Verfechtem einer ultramodemen Ästhetik zu denken geben, die glauben, die pure sinnliche Anschauung gegen das begreifende Verstehen, mithin die Sinne gegen den Sinn aufbieten zu können. Denn auch der zur jüngsten ästhetischen Norm erhobene "Eigensinn der Sinne" vereint noch - wie der Doppelsinn von ,Eigensinn' selbst verrät - sinnliche Wahrnehmung und wahrgenommene Bedeutung. 6 Verstehen ist keine abstrakte Sprachhandlung. Das bezeugt in der Wortgeschichte auch die Neubildung einen etwas verstehen lassen (1671) oder zu verstehen geben, die ein sinnfälliges ,merken lassen, andeuten~ voraussetzt. Nicht nur auf das Was, immer auch auf das Wie kommt es beim Verstehen an (so in der jüngeren Wendung: ,auf eine verdeckte' oder ,auf eine feine Art zu verstehen geben'). Die Wongeschichte gabelt sich in das Verstehen einer Sache und das Einander-Verstehen von Personen. Für das erstere: intelligere se in aliqua re verdrängt die Wendung sich verstehen auf seit dem 16. Jahrhundert alle anderen reflexiven Wendungen. Zum Verstehen einer Sache gehört auch das Sich-Verständigen. Denn es beschränkt sich auf einen bestimmten Zweck oder eine meist gegen Dritte getroffene Vereinbarung. Sich zu etwas verstehen wurde ursprünglich für eine Abmachung zwischen Parteien gebraucht. Beim Verstehen zwischen Personen wäre zu fragen (woran Grimm nicht dachte), ob hier nicht ein biblisches Vorbild aufgenommen wurde. Man denke etwa S VorkJII"gr" iibn die ÄJthrtik, in: Wrrkr (Suhrkamp-Ausgabc), Frankfun 1970, Bd. 13,S.173 . .. Der Titel .Entweder der Sinn oder die Sinne. Die Veneidigung der Welt g~en den Imperialismus der Weltbilder- von D. Kamper (in: A,,,grbou - Org." !iir Asthrtik. Heft 4, 1992) ist symptomatisch für die gegenwärtig so modische WeUe. Hingegen 7-eigt M. Seel, mit welchem Recht vom .Eigensinn der kontemplativen Naturwahrnehmung- gesprochen werden kann, von der zitienen Hege1stelle ausgehend, die ich anders interpretiere. (Einr Ästhrtik an Natllr, Frankfun 1991, S. 52 ff.)
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A. Ad dogmaticos
an folgende Stellen der Lutherbibel: Gott, dessen Handeln menschliches Verstehen übersteigt (" wer will den Donner seiner Macht verstehen?" Hiob 26, 14), versteht alle Heimlichkeit (Sir. 42,20); er "versteht aller Gedanken Dichten" (1. ehr. 28,9). Was Gott vorbehalten war: "Du verstehest meine Gedanken von ferne" (Ps. 139, 2), beansprucht die Dichtung der deutschen Klassik für das autonome Individuum. So Schiller: "Die einzige, die erste, / die meine Seele ganz versteht" (Don Carlos), oder Goethe: "Nur uns armen liebevollen beiden / war das wechselseit'ge Glück versagt, / uns zu lieben, ohn' uns zu verstehen" (An Frau von Stein). Das besagt im Kontext: während sonst die vielen, die kaum ihr eigen Herz kennen, nur das kleine Glück erfahren, einander zu lieben, ohne sich zu verstehen, fiele für das vollkommene Paar beides ineins, wäre ihm dieses höchste Glück, sich im Lieben ganz zu verstehen, nicht aus äußeren Gründen verwehrt. Hier erreicht die Wortgeschichte ihre idealistische Gipfelbedeutung: Verstehen wird zum Inbegriff rein individueller Erfahrung, des Sich-Verstehens im Andern - ein Verstehen, dem allein sich eröffnen kann, was sich im individuum ineffabile verbirgt. Oaran läßt sich eine Beobachtung anschließen, die ich in Immermanns Memorabilien 7 fand: "Sonst sagten die Leute, die sich verbinden wollten, zueinander: ,Du bist mein Alles, meine Welt, das Ziel jeglichen Wunsches.' Jetzt pflegt der Mann von dem Mädchen seiner Wahl zu rühmen, daß sie ihn verstehe. Und so spricht umgekehrt das Mädchen auch." Ein schönes Zeugnis dafür, wie die idealistische Hermeneutik nicht nur die philologische Auslegung von Texten bestimmte, sondern selbst noch in der Lebenswelt von 1840 ihr Echo fand! J
111. Sich selbst verstehen tritt bei Goethe an die Stelle der antiken Norm: ,Erkenne dich selbst· ("mit dir versuch' erst umzugehen, / und kannst du dich nicht selbst verstehen, / so quäl' nicht andre Leute"). Schiller hingegen unterscheidet feiner: "Willst du dich selber erkennen, so sieh wie die andern es treiben, / willst du die andern versteh 'n, blick in dein eigenes Herz. " Hier gabelt sich die Bedeutungsgeschichte in ein solipsistisches Verstehen, bei dem sich das Subjekt selbst genügen will, und ein altruistisches, bei dem sich das Selbst nur über den Andern zu erkennen vermag. Wie in der Folge das subjekt-
7 Wnkt. Bd. 5. S. 291.
1. Rückschau
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zentriene Denken den Vorrang gewann und das Sich-Verstehen im Andern verdrängte, hat Karl Löwith eindrucksvoll dargestellt. Gleichwohl bleibt beiden Bedeutungsrichtungen gemeinsam, daß Verstehen auf das Singulare, Individuelle die Welt des Geistes - bezogen ist und das Allgemeine, Gesetzhafte - die Welt der Natur - ausschließt. "Wer hat des irdischen Leibes / hohen Sinn erraten? / Wer kann sagen, / daß er das Blut versteht?", fragt schon Novalis. Die hier angezeigte, verhängnisvolle Scheidung von Geist und Natur schlägt sich danach im Gegensatz von Verstehen und Erklären nieder: "Die verstehen nur wenig, die nur das verstehen, was sich erklären läßt", bemerkt Marie Ebner-Eschenbach. Verstehen übergreift wohl das Erklären; doch was man intersubjektiv versteht, oder auch, was ,sich von selbst versteht', läßt sich oft nicht kausal erklären. Den Grenzfall bringt die Berliner Wendung auf die Pointe: "Det versteh'n sie nich, det versteh ik kaum." Das Triviale, was sich von selbst versteht' (hoc per se patet, oder im Jargon: ,Versteh'ste'), wird durch die profunde Einsicht geadelt: "Sag etwas, das sich von selbst versteht, / zum ersten Male, und du bist unsterblich" (Ebner-Eschenbach). Auch was sich von selbst versteht, liegt nicht von Anbeginn auf der Hand; es zu entdecken, erforden Geist, der auszusprechen vermag, was im gesellschaftlichen Leben hinfort gelten soll. IV. Aus der Wortgeschichte ergeben sich Grundbedeutungen, die sich zwischen den Gegenpolen: etwas verstehen (Verstehen einer Sache) und einander verstehen (Verstehen zwischen Personen) auffächern. Unter ,etwas verstehen' fällt vorab der rationale Begriff des Verstehens, nämlich das, was der Verstand vermöge der Begriffe erkennen kann. Nach Kant: "Erfahrung ist eine verstandene Wahrnehmung. Wir verstehen sie aber, wenn wir sie unter dem Titel des Verstandes uns vorstellen. -. Rationales Verstehen fühn indes nicht sogleich zum Begreifen der Wahrheit einer Sache. Davor hat Lichtenberg eigens gewarnt, als er den Anhängern Kants entgegenhielt: "Ich glaube, so wie die Anhänger des Herrn Kant ihren Gegnern immer vorwerfen, sie verstünden ihn nicht, so glauben auch manche, Herr Kant habe recht, weil sie ihn verstehen. (... ) Man sollte aber dabei immer bedenken, daß dieses Verstehen noch kein Grund ist, es selbst für wahr zu
8 Zit. nach Apd (wie Anm. 3), S. 1St.
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A. Ad dogmaticos
halten. Ich glaube, daß die meisten über der Freude, ein sehr abstraktes und dunkel abgefaßtes System zu verstehen, zugleich geglaubt haben, es sei demonstrien. "9 Auch der Sprachgebrauch selbst zeigt uns Grenzen des rationalen Verstehens an. Denn nicht jede Sache läßt sich unmittelbar mit Verstehen verbinden. Wir verstehen eine Sprache, einen Text, ein Gesetz (mithin geistige Hervorbringungen), nicht aber ein Ding, wie z. B. einen Baum, einen Ski, oder etwas, was man tut, wie z. B. einen Baum fällen oder Skifahren. Wollen wir ein solches Tun mit Verstehen verbinden, so gebrauchen wir die reflexive Wendung: ,Einer versteht sich auf etwas. ' Sich auf etwas verstehen ist mehr als ein bloßes etwas können (Grimm: "eine intensivere geistige Tätigkeit"): die Selbstbezüglichkeit implizien etwas wie Kennerschaft, eine Weise des Tuns, die einer Person eigen ist, sie vor anderen auszeichnet. Das zeigt sich nicht zuletzt beim Verstehen von Musik. Es hat nach earl Dahlhaus 10 mit dem sprachlichen Verstehen die Unterscheidung zwischen Vollzug und Interpretation gemeinsam, zwischen dem unreflektienen Verstehen von etwas als etwas (z. B. einer Sprache, wenn man sie gebraucht) und dem reflektienen Verstehen, in dem man sich Gestalt und Sinn eines Textes gleichsam durch ,Übersetzung' begreiflich machen muß. Das Verstehen von Musik geht aber insofern über sprachliches Verstehen hinaus, als Musik, näherhin absolute Musik, nicht auf ein Etwas außerhalb ihrer selbst referien, sondern nurmehr sich selbst bedeutet. Das besagt: auch das Klangereignis, der tönende Vorgang, ist Träger von Bedeutungen, die adäquat zu verstehen nun aber ein Aufnehmen und Interpretieren von nicht Notienem erforden. Wenn die musikalische Hermeneutik dieses Erfordernis mit dem Verstehen von Musik als Tonsprache gleichsetzt, nähen sie sich wieder der literarischen Hermeneutik, und zwar nicht nur metaphorisch. Vermag doch auch hier der Interpret die Sprache der Poesie erst angemessen zu verstehen, wenn er zwischen den Wonen lesend (intelligere!), was in der ,Panitur' des Textes nicht ausdrücklich verzeichnet ist, Gestalt und Sinn eines Werks zu begreifen sucht. Was das Verstehen zwischen Personen betrifft, kann dieses zunächst auch über eine Sache erzielt werden, wofür wir wiederum eine reflexive Wendung: sich in einer Sache verstehen, gebrauchen. Selbstbezug und Sachbezug können dabei verschieden gestuft sein. Für ein Sich-Verständigen genügt - der juristischen Herkunft gemäß 9 G. ehr. Lichtenberg: GtSilmmtlu ~kt. Hrsg. W. Grenzmann. Baden-Baden, s. d. Bd. 1, S. 439. 10 Ki4ssischt NruJ rowumtischt MNSiltiisthttilt, Regensburg: Laaber, 1988, S. 318 Ef.
1. Rückschau
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- das Einvernehmen für einen bestimmten Zweck, bei dem alles andere außer Betracht bleiben kann, was die Subjektivität des Anderen ausmacht (politische Verständigung z. B. pflegt keineswegs man denke nur an die vielberufene deutsch-französische Verständigung - mit sich zu führen, daß sich zwei Nationen oder Kulturen wechselseitig verstehen). Sich verstehen in einer Sache erfordert, "daß wir das sachliche Recht dessen, was der andere sagt, gelten zu lassen versuchen". Es soll zur "Teilhabe am gemeinsamen Sinn" führen, die "keinen Rückgang auf die Subjektivität des anderen motiviert". Solches Einverständnis in der Sache wäre nach H.-G. Gadamer das Ziel aller Verständigung und allen Verstehens. 11 Damit wird indes ein zweites, gleich ursprüngliches Interesse in den Hintergrund gerückt: das Verstehen des Andern in seiner Individualität und damit das Verstehen seiner selbst im Andern, des Eigenen im Fremden, woran der literarischen Hermeneutik vornehmlich gelegen ist. Schon in der alltäglichen Redesituation kann die Frage nach der Wahrheit einer Sache dahingestellt bleiben, wenn es darum geht, über eine Sache die Einstellung des Anderen, seine Eigenart, zu verstehen. Das gilt aber auch für die Erfahrung, die uns das Kunstwerk eröffnet. Von ihr sagt Gadamer zu Recht, daß sie "den, der sie macht, nicht unverändert läßt". 12 Doch nicht jede Erfahrung am Kunstwerk setzt voraus, daß ästhetisches Verstehen nurmehr aus der Begegnung mit der Wahrheit, die die Kunst ins Werk setzt, hervorgehen könne. Verstehen, das den Erfahrenden verwandelt, kann auch schon der Begegnung mit der fremden Welt des Andern entspringen. Wenn es im hermeneutischen Geschehen darum geht (wie Gadamer selbst einmal formuliert), "in dem Objekt das Andere des Eigenen und damit das Eine wie das Andere erkennen zu lernen" 11, bedarf es keiner weiteren Instanz, um in der Erfahrung der Kunst zwischen den Horizonten des Einen und des Andern zu vermitteln. Für die Brücke, die ästhetisches Verstehen zwischen Subjekt und Subjekt zu schlagen vermag, genügt die Bereitschaft, die Erfahrung seiner selbst auf die Erfahrung des Andern seiner selbst zu öffnen, in einem Prozeß wechselseitiger Anerkennung, die der Wahrheit des Andern ihr eigenes Recht beläßt. Solches Verstehen ist dann aber von der bloßen Einfühlung in ein mysteriöses fremdes Du abzusetzen. Denn was uns ästhetische Erfahrung vornehmlich eröffnet, ist keine Intuition fremden Wesens, wie sie mystische Erfahrung beansprucht, sondern der 11 .. Vom Zirkel des Verstehens". in: Kleine Sehn/un, Tübingen 1977, Bd. 4, S. 24-34. 12 Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. S. 95. 13 Wie Anm. 11, S. 34.
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uns zugewandte Horizont der Welt eines Andern, der seine Fremdheit als Möglichkeit eines Anderssein-Könnens verstehen läßt. Den beiden Weisen des sach- und des personbezogenen Verstehens ist - der Etymologie gemäß - gemeinsam, daß sie im Einzelnen stets ein Ganzes - den Zusammenhang einer Sache oder das Charakteristische einer Person - erfassen wollen. Wie immer auch der Zugang des Verstehens gesucht wird: der Teil und das Ganze bedingen sich stets derart, daß ein Vorgriff auf das Ganze, d. h. eine Sinnerwartung, die sich erfüllen, aber auch scheitern kann, das Verstehen im Einzelnen bedingt. Daß das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne wiederum aus dem Ganzen zu verstehen sei, nennt die Theorie bekanntlich den hermeneutischen Zirkel, der hier nicht eigens zu erörtern ist. Aus der Sicht der Wortgeschichte sei dazu nur so viel bemerkt, daß das Ganze einer Sache seine sinnliche Erscheinung mit einbegreifen muß, in der - wie wir am Beispiel von sapere sahen - seine geistige Bedeutung fußt. Das zeigt schon die umgangssprachliche Wendung etwas zu verstehen geben, bei der ein umschweifiger, doch sinnfälliger Ausdruck (,auf eine feine Art') etwas erkennen lassen soll, was direkt zu verstehen sich einer weigern könnte. Denn allem Verstehen ist eigentümlich, daß es nicht erzwungen werden kann. Wer Verstehen verweigert, kann am ehesten noch durch die Rhetorik einer geschickten Einkleidung oder durch die Evidenz eines treffenden Beispiels umgestimmt werden. Erfüllt der Zirkel des Verstehens die Erwartung der Teilhabe an einem gemeinsamen Sinn, so vermag er doch ein volles Einverständnis der Beteiligten letztlich nicht zu garantieren. Allem Verstehen ist eigentümlich, daß es einen Rest des Nicht-Verstehens hinterläßt. Dazu bemerkte Wilhelm von Humboldt: "Keiner denkt bei dem Wort gerade das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie der Kreis im Wasser, durch die Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen. "14 Den Antihermeneutikem unserer Tage ins Stammbuch zu schreiben, die der hermeneutischen Ästhetik vorwerfen, an ein bruch loses Verstehen zu glauben, obschon sie bereits bei Schleiermacher, dem Stammvater der modernen Hermeneutik, hätten lesen können, "daß das Nicht-Verstehen sich niemals gänzlich auflösen will .IS K
104 Zit. nach M. Frank: Stil in der Philosophie, Stungan: Reclam, 1992, S. 19. 15 Zit. nach M. Frank, H~rm~n~Ntik Nnd Kritik, Frankfun 1977, S. 328.
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v. Verstehen kann nicht erzwungen, nicht verordnet und auch nicht eingehandelt werden; es entzieht sich kausaler Erklärung und logischer Argumentation. Wie Marie Ebner-Eschenbach zu Recht bemerkte, versteht nur sehr wenig, wer nur das versteht, was sich erklären läßt. Die Umgangssprache bewahrt die Unterscheidung zwischen Verstehen und Erklären, obschon die Erkenntnistheorie die im 19. Jahrhundert herausgebildete Kluft zwischen verstehenden und erklärenden Wissenschaften heute weithin für überbrückt hält. Verstehen hat mit dem ästhetischen Urteil das Moment der Freiwilligkeit, der nur zumutbaren Beipflichtung, gemeinsam. Selbst das Sich-Verstehen in einer Sache setzt noch - wie Gadamer gegen Derrida hervorhob - den guten Willen zu verstehen voraus. 16 Auch wer mißversteht, wollte vorab verstehen. Woraus folgt: Verstehen schließt die Möglichkeit des Mißverstehens ein. Was jenseits des Verstehens liegt, kennzeichnet eine Sphäre der Indifferenz, der Selbstgerechtigkeit, des exklusiven Anspruchs auf Wahrheit, letztlich der blanken Durchsetzung von Gewalt. Dort endet, wer sich dialogischem Verstehen entziehen und allein auf den ,agonalen Diskurs' setzen will, wie Fran~ois Lyotard, der paradoxerweise selbst durchaus verstanden werden will, wenn er den unvermittelbaren Dissens als ultima ratio anpreist. 17 Ich brauche hier nur an den Fundamentalismus unserer Tage zu erinnern, in dem wiedererstanden ist, was die Aufklärer noch ,Fanatismus' nannten. Verstehen erfordert Toleranz, die - mit Adorno zu sprechen - "den besseren Zustand (... ) als den denken sollte, in dem man ohne Angst verschieden sein kann" .18 Selbst noch in der Polarisierung von Freund und Feind ist eine Kultur des Konflikts denkbar, sofern dieser die kommunikative Form eines "GegenseitigkeitshandeIns" bewahrt. 19 Hermeneutik in ihrer modernen Gestalt ist denn auch nach Odo Marquard "als Replik auf den tödlichen Streit um das absolute Verständnis der Heiligen Schrift" - entstanden und im 18. Jahrhundert zur selbständigen Disziplin erhoben worden: "Als Replik auf den Bürgerkrieg um den absoluten Text neutralisiert die Hermeneutik absolute Texte zu interpretablen und absolute Leser zu ästhetischen. "20
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In: Text und Interpretation, hg. Ph. Forget, München 1984, S. 59 H. Le differend, Paris 1983. Minim4 Moralia, Nr. 66, Franfurt 1951. Dazu J. und A. Assmann : Kultur und Konflikt, Frankfurt 1990, S. 11~8. • Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik eine Antwonist-, in:PH IX, S. 586/7.
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VI. Daß Verstehen im Unterschied zu Erklären ein Moment der Billigung oder Zustimmung erfordert, involviert letztlich auch die französische Sentenz: .,Tout comprendre, c'est tout pardonner. " Ihre intrikate Zweideutigkeit ist nicht zu verkennen. Zum einen will sie besagen, daß einander verzeihen zu können vor allem erfordere, den Andern zu verstehen, und zwar ganz zu verstehen, was einschließt, ihn als moralische Person voll anzuerkennen. Für den Akt des verstehenden Verzeihens ist dann nicht länger eine dritte Instanz vonnöten: er tritt an die Stelle des einseitigen Gnadenerlasses einer göttlichen oder weltlichen Autorität. Das Diktum setzt offenbar die erlangte Mündigkeit des aufgeklärten Bürgers voraus. Gewiß kann man dem Andern auch verzeihen, ohne ihn zu verstehen. Doch müßte ihn dies nicht beschämen, weil es ihn unbesehen gelten läßt und damit die Achtung der moralischen Integrität seiner Person verletzt? Jene Achtung, deren Gegenstand der Einzelne in seiner Partikularität oder nach Simone Weil- "die Anerkennung seines Vermögens der Zustimmung oder Ablehnung" ist. 2 \ Wie schon gesagt, kann Verstehen nicht erzwungen, nicht verordnet und auch nicht eingehandelt werden. Verstehen zumal, das Verzeihen herbeiführt, entzieht sich kausaler Begründung und logischer Argumentation, wie das ästhetische Urteil, mit dem es das Moment der Freiwilligkeit, der nur zumutbaren Beipflichtung gemeinsam hat. Zum andern wird die Sentenz aber moralisch höchst fragwürdig, wenn sie besagen sollte, daß die Toleranz des Verstehens keine Grenze kenne, mithin alles hinnehmen und verzeihen müsse. Zur Toleranz, einem Ideal, dem erst die Aufklärung zum Sieg verhalf, bemerkte Goethe: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen. "22 Dem läßt sich mit Peter Winch hinzufügen: "Daß man alles versteht, braucht nicht zu heißen, daß man alles verzeiht; womöglich wird die Empörung dadurch noch gesteigert. "2) Anders steht es beim Grenzfall 21 Zit. nach P. Winch: Versuchen zu verstehen, Frankfun 1992, S. 243. 22 Maximen und Reflexionen, SW (Anemis), Bd. 9, S. 614. 23 Wie Anm. 21. S. 265. -Schon Max Weber betonte zu Recht: nwederbedeutet ,alles verstehen' auch .alles verzeihen', noch fühn überhaupt vom bloßen Verstehen des fremden Standpunkts an sich ein Weg zu dessen Billigung. Sondern mindestens ebenso leicht. oft mit weit höherer Wahrscheinlichkeit. zu der Erkenntnis, daß, warum und worüber, man sich nicht einigen könne- (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen !1982, S. 503). Wenn Verstehen, wie ich meine. vom Anbeginn die Zumutung der Billigung implizien, zeigt der im Folgenden erörterte Grenzfall. daß eine unzumutbare Billigung bewirken kann, dem Unverzeihlichen jegliches Verständnis zu verweigern.
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des Holocaust, zu dem Winch völlig zu Recht bemerkt, "daß hier etwas vorliegt, was in gewissem Sinne nicht zu ,verstehen' ist, wenn wir unser Gefühl für das, was menschliches Leben ist, behalten wollen" .24 Diese Grenze des Verstehens, für die Winch eine Erklärung schuldig bleibt, läßt sich meines Erachtens auf das Moment der Billigung zurückführen, an der sich alles Verstehen scheidet. Verstehen kann dann unangemessen erscheinen, wenn eine unmenschliche Handlung das moralische Maß bloßer Mißbilligung übersteigt oder mit purer Empörung nicht abzutun ist. Wer vermöchte zu sagen, daß er das Unmenschliche von Folter, Inquisition, Erpressung, Vernichtung des Gegners oder Genozid, verstehe'? Es mag sein, daß sich solche Erscheinungen zwar historisch oder psychologisch durchaus ,erklären' lassen. Doch das besagt dann keineswegs, daß man damit den Folterknecht, den Inquisitor oder Mörder in seinem Handeln auch schon ,verstanden' hätte. Auch die poetische Fiktion wahrt diese Grenze: wenn sie - wie im Falle der Fleurs du MaP5 - es sich herausnimmt, das Bewußtsein im Bösen vorstellbar zu machen und damit unser Verstehen zu erweitern, impliziert solches Verstehen keineswegs eine Rechtfertigung des Bösen, sondern fordert unser moralisches Urteil heraus. VII.
Wenn moralische Billigung oder Mißbilligung allem Verstehen eine Grenze setzen kann, folgt daraus, daß das Verstehen nicht von Haus aus einvernehmlich ist, mithin Hermeneutik nicht per se affirmativ oder unkritisch sein muß. Es war schon davon die Rede, daß Verstehen - dem Anschein der Praxis entgegen - sich nicht einfach von selbst ergibt (weshalb Marie Ebner-Eschenbach zu Recht den rühmen wollte, der zum ersten Mal erkennt, etwas verstehe sich von selbst). Darum forderte Schleiennacher, die strengere Praxis der Hermeneutik habe davon auszugehen, "daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und daß Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden". 26 Zu bestreiten, daß Verstehen gesucht werden muß und gefunden werden kann. kennzeichnet seit jeher dogmatische Selbstüberhebung oder ideologische Unbelehrbarkeit - den blinden Glauben, allein im Besitz der Wahrheit zu sein. 24 Wie Anm. 21. S. 227. 25 Dazu näher in Kap. 2. S. 40 ff.
26 Hn-mmtllti/t. hg. H. Kimmerle. Heidelberg 1959. S. 86 (S 16).
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Das berühmteste Beispiel ist das dunkle Jesuswort in Markus 4, 10-12: "Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben, jenen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil, auf daß sie mit Augen sehen und nicht erkennen und mit Ohren hören und nicht verstehen, damit sie nicht etwa umkehren und ihnen vergeben werde." Sollte Jesus tatsächlich dem elitären Hochmut einer Jüngerschaft auf Kosten aller Nichterwählten das Won geredet haben? Die biblische Hermeneutik hat denn auch das Ärgernis der sogenannten ,Verstockungslehre' auszuräumen versucht, indem sie eine andere Übersetzung für den Schluß des Zitats vorschlug. Sie lautet: ,,(die) mit Ohren hören und doch nicht verstehen, es sei denn, daß sie umkehren und Gott ihnen vergebe" . 27 Nicht verstehen und nicht verstanden werden wollen, die zwanghafte Selbsttäuschung des Sektierertums, ist vom Mißverstehen zu scheiden. Bleibt doch im Mißverstehen die Möglichkeit, einander letztlich doch zu verstehen, immer noch bewahrt. Das schönste Beispiel dafür ist so bekannt, daß ich es nur zu erwähnen brauche: die Kalendergeschichte Kannitverstan von Johann Peter Hebel. Der deutsche Handwerksbursche, der die holländische Antwort auf seine Fragen als den Namen eines Herrn Kannitverstan mißversteht, kommt "auf dem seltsamsten Umweg (... ) durch den Irnum zur Wahrheit": "Und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in der Welt reich seien, und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, sein reiches Schiff, und sein enges Grab. " Auch wenn Hebels Venrauen auf eine präetablierte Harmonie des Verstehens unserer Zeit abhanden gekommen ist, bleibt der Hermeneutik doch die kritische Aufgabe, Mißverstehen, das beiderseits unerkannten Voruneilen zu entspringen pflegt, aufzuklären und zu prüfen, ob sich über die erkannte Differenz hinaus nicht doch noch eine Chance finden läßt, sie zu beheben, zum Beispiel sich in einer gemeinsamen Sorge um die Zukunft zu verständigen. VIII. Hermeneutik in ihrer modemen Gestalt ist Hermeneutik der Alterität. Sie stand seit Schleiermacher vor einem Problem, das sich erst mit dem Sieg des Historismus, dem Ende der fraglosen Geltung von Traditionen, in voller Schärfe gestellt hat: das Verstehen von Fremdheit, sei
27 NachJ. Jeremias: Die GkichnissejesII, Görungen 1958, S. 11.
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es die eines ferngerückten Textes, sei es die einer anderen Person. Einander verstehen meinte hinfort - wie schon das Schillerzitat bezeugt-: sich selbst im Andern zu verstehen. Solches Verstehen kann sich damit begnügen, im Andern das eigene Selbst wiederzuerkennen. Dann handelt es sich um eine ,laxere Praxis·, während eine ,strengere Praxis· erfordert, daß Verstehen nicht einfach das Eigene im Andern bestätigt finden darf, sondern bereit sein muß, den Andern in seiner Andersheit und zugleich als Instanz anzuerkennen, die gerade im Widerstand des Femen oder Fremden das Eigene neu zu verstehen erlaubt. Verstehen in der Dialektik des Eigenen und des Fremden war das heute oft verkannte Prinzip idealistischer Bildung. Es setzt den Bruch mit der Ästhetik der Nachahmung voraus. Die Antike ist - so Friedrich Ast - hinfort klassisch, "weil sie aus einer fremden Welt zu uns redet", nicht also, weil sie uns zeitlose Vorbilder vor Augen stellte. 2• Oder Hölderlin (im Brief an Böhlendorf): "Aber das Eigene muß so gut gelernt sein, wie das Fremde. Deswegen sind uns die Griechen unentbehrlich." Von Peter Szondi am treffendsten kommentiert: "Die Griechen sind dem hesperischen Dichter unentbehrlich, weil er in ihrer Kunst dem eigenen Ursprung als einem Fremden begegnet. "29 Verstehen setzt den "sittlichen Schmerz" des Schülers voraus, "dem seine unmittelbare Welt der Gefühle entfremdet wird"; es erfordert einen Durchgang durch das Fremde, durch den allein Bildung erlangt werden kann. 50 Hegel in der ersten seiner Nürnberger Gymnasialreden, in der das Wort Entfremdung zum ersten Mal fällt und sogleich zur "Bedingung der theoretischen Bildung" erhoben wird. lO Verstehen als Dialektik des Eigenen und des Fremden impliziert die Frage, wie das Fremde überhaupt angeeignet werden kann. Wäre das Fremde eines Textes oder einer Person schlechterdings fremd, so wäre es auch nicht versteh bar. Es bedarf also einer Brücke des Verstehens, die auf verschiedene Weise bestimmt werden kann: aus dem übergreifenden Horizont einer Tradition oder Kultur, beim Fehlen derselben durch sprachliche Universalien oder durch anthropologische Grundstrukturen, im zwischenmenschlichen Umgang durch typisierbare soziale Rollen, Redegattungen oder Handlungsmuster. Alterität läßt sich im Bereich der Künste leichter vermitteln, weil das Ästhetische per se auf ein 5innverstehen angelegt ist, das die Kontingenz situationsgebundener Erfahrung wie das ins Ritual verschlossene Sakrale übersteigt. 28 Zit. nach G. Buck: R;;cItw~g~ AllS tkr Entfr~"ng, München 1984, S. 29 Höldnlin-SlluJim, FrankIun 1967, S. 98. 30 Dazu G. Buck (wie Anm. 28), S. In Ef. (vgl. Heget, WW 4,321).
In.
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Das ästhetische Sinn verstehen wird gemeinhin vom Verstehen eines Textes abgeleitet. Es setzt die aus der antiken Rhetorik stammende Theorie vom Zirkel des Verstehens voraus. Gadamer hat den henneneutischen Zirkel von Ganzem und Teil, die sich wechselseitig bestimmen, durch eine weitere Bestimmung ergänzt - durch den " Vorgriff der Vollkommenheit" , der alles Verstehen leite. JJ Ob Gadamer diese für das ästhetische Sinnverstehen evidente Prämisse auch für die philosophische Henneneutik geltend machen kann, möge diese selbst entscheiden. Der literarischen Henneneutik ist das Postulat der Vollkommenheit aus der Ästhetik vertraut, aus der es in die Henneneutik eingewandert sein dürfte. Es läßt sich auch anthropologisch herleiten, wenn man die faszinierende Macht des Imaginären aus einem elementaren Bedürfnis erklärt - dem Bedürfnis nach einer Vollkommenheit, die Mangel und Not des endlichen Lebens übersteigt und die zu repräsentieren Religionen und Künste schon früh in Wettstreit traten. )2 Der Vorwurf, Gadamers Vorgriff der Vollkommenheit sei schierer Idealismus, wird seiner Intention nicht gerecht. Denn die These, "daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt" , bestimmt den Vorgriff näherhin durch die Struktur der Frage, durch das Offenlegen von Möglichkeiten. Der Vorgriff der Vollkommenheit erfordert primär eine grundsätzliche Suspension der eigenen Vorurteile, die Bereitschaft, erst einmal nach dem sachlichen Recht der Meinung des Andern zu fragen, an welcher der eigene Standpunkt ennessen, korrigiert und neu bestimmt werden kann. Das so verstandene dialogische Verstehen aber geht am Ende schwerlich in der vollkommenen Einheit von Sinn auf, die das hermeneutische Verfahren antizipierte. Der gefundene Sinn kann vielmehr selbst wieder problematisch werden und offene Fragen hinterlassen. Auch gelingendes Verstehen schließt stets die Möglichkeit ein, daß der Text auch wieder anders verstanden werden kann. Insofern unterliegt auch Gadamers Vorgriff der Vollkommenheit einer Hermeneutik der Alterität.
II • Vom Zirkel des Ventehens· (wie Anm. 1t), S. 10. l2 S. Vf.: .Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginären·, in: Äf, S. 294-302.
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IX. Die literarische Hermeneutik hat hier nur einzuwenden, daß der Vorgriff der Vollkommenheit zwar der Alterität des ferngerückten Textes angemessen ist, für das Verstehen des Andem von Subjekt zu Subjekt - sei es ästhetisch vermittelt, sei es in der Redesituation gesucht - nicht generell benötigt wird. Wie schon die Alltagsrhetorik zeigte, kann das Interesse, den Andern als Subjekt zu verstehen, ganz auf seine Selbstpräsentation gerichtet bleiben, ohne nach der objektiven Geltung seiner Argumente zu fragen. 33 Desgleichen kann die letztlich metaphysische Frage nach der Wahrheit, die sich in der Kunst manifestiert, suspendiert bleiben, wenn ein Kunstwerk primär als Zugang zum Horizont des Andern, zu seiner subjektiven Erfahrung von Welt, verstanden werden soll. Dann ist die Sinnerwartung nicht auf die Vollkommenheit, sondern auf das kontingente Sosein des Andern gerichtet. Dann eröffnet ästhetisches Verstehen die von Marcel Proust am treffendsten formulierte Möglichkeit, "de voir l'univers avec les yeux d'un autre, de cent autres, de voir les cent univers que chacun d'eux voit, que chacun d'eux est". 34 Gewiß ist diese Leistung des ästhetischen Verstehens späten Datums. Sie setzt die historische Wende zur Emanzipation der Individualität voraus, die sich literarisch explizit wohl zuerst bei Montaigne anzeigt. Die ältere, antike wie mittelalterliche Literatur stand auf ihrem Höhenkamm noch ganz im Bann einer inhärenten Idealisierung, die - wie etwa die heroische oder bukolische Dichtung zeigt - nur die reine Scheidung zwischen gut und böse, edel und gemein zuließ. Die Barriere des Vollkommenheitspostulats, das die höfische Lyrik auf die Spitze trieb, stand der Erfassung des Mitmenschen in der kontingenten, unvollkommenen Gestalt seiner Individualität entgegen. Nur ausnahmsweise, wie etwa im Briefwechsel zwischen Abaelardus und Heloisa, kündet sich ein neues Verhältnis zum Andem an, das beansprucht, ihn jenseits aller Nonnen und Ideale als Subjekt zu schätzen und zu verstehen - in seiner Singularität, die ihr eigenes Maß enthält. Es ist ein Ich-Du-Verhältnis, das Montaigne für seine Freundschaft mit La Boetie auf die berühmte Formel gebracht hat: "Et si on me presse de dire pourquoy je l'aimais, je sens que cela oe se peut exprimer qu'en respondant: parce que c'etoit luy, parce que
33 Nach W.-D. Stempel: "Bemerkungen zur Kommunikation im Alltagsgespräch-, in: PH XI, S. 151-170. 34 A '" rech""he au temps perau. Ed. de la Gerbe, Bd.12, S. 69.
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c'etoit moi. "lS Damit ist die Aura der Individualität an die Stelle der Aura der Vollkommenheit getreten. Wenn die Ich-Du-Beziehung im Einander-Verstehen keinen Vorgriff der Vollkommenheit benötigt, besagt das nicht, daß hier schon reine ,Einfühlung' genüge und keinerlei Brücken des Verstehens erfordert wären. Ein Verstehen des Andern in seiner Individualität kann sehr wohl über eine gemeinsame Sache, aber auch in einem Rollenverhältnis gewonnen werden, wie es in der Alltagskommunikation gang und gäbe ist. Nur dürfen Ego und Alter dann nicht auf ihre Rolle fixiert bleiben, sondern muß die mögliche Rollendistanz eingenommen und als Spielraum genutzt werden, um das su bjektive Verhältnis zur vorgegebenen Rolle wechselseitig zu interpretieren. Daß die reziproke Interpretation des Verhaltens in Rollen dazu führen kann, den Andern durch seine Rolle hindurch als Individuum zu entdecken und sich selbst im Andem neu zu verstehen, zeigt die dramatische Dichtung - dazu braucht nur an Marivaux, Kleist oder Giraudoux erinnert zu werden - auf das Schönste. Im Spiegel der Dichtung kann das typisierte Netz sozialer Rollen so aufgenommen und in der Reziprozität der Perspektiven transparent gemacht werden, daß eine Ebene des Einander-Verstehens erreicht wird, die sich der Determination der sozialen Rollen entzieht: eine Beziehung von Ich und Du, in welcher das Du gegenüber dem Ich keine Rolle mehr ist. Wenn der Soziologe bezweifeln muß, ob es ein Jenseits zum Rollenverhalten gibt, das Gegenstand seiner Wissenschaft sein könnte, darf der Literaturwissenschaftler diese Frage bejahen. An diesem Punkt - und nicht allein an diesem - werden ästhetisches Verstehen und soziologische Analyse komplementär. 16
x. Am Problem des Fremdverstehens, wie es uns in der soziologischen Anthropologie begegnet, wird deutlich, wie sehr die klassische Hermeneutik - und mehr noch die poststrukturale Theorie - auf das Textverstehen fixiert ist, dessen ungeachtet, daß dieses späten Datums ist, weil es den Prozeß der Verschriftlichung auf dem langen Weg von den ersten Manifestationen der ästhetischen Erfahrung zu ihrer Objektivation im Kunstwerk voraussetzt. Die Metapher von der Welt als Text ist so sehr zu einer passe-partout-Formel geworden, 35 Essais I, xxviii. 36 S. Vf.: ..Soziologischer und ästhetischer Rollenbegriff-. in: PH VIII, S. 599 ff.
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daß Umbeno Eco sehr zu Recht daran erinnern konnte: "Das Mittelalter ime. als es die Welt als Text verstand. die Moderne im. wenn sie den Text als Welt betrachtet".)7 Die imposante Geschichte des Topos: .die Welt als Buch' - als Buch der Offenbarung. als Buch der Natur. als Buch der Geschichte - hinterläßt die Frage. wie anders wohl ein Sich-Verstehen im Andern zu denken wäre, das sich noch nicht an der ,Lesbarkeit der Welt' orientieren konnte. Um wenigstens eine erste Vorstellung von anthropologischen Grundstrukturen zu geben, die Fremdverstehen ermöglichen, möchte ich eben noch einen jüngsten Ansatz von Thomas Luckmann referieren.)1 Er geht dahin, elementare Transzendenzen der Erfahrung auszumachen, die sich vom alltäglichen zum außeralltäglichen Bereich der Lebenswelt erstrecken. Die dabei anvisiene "Protoästhetik" geht von der Unterscheidung zwischen ich-bezogenen und ichüberschreitenden Erfahrungen aus und skizzien drei Ebenen kleiner, mittlerer und großer Transzendenzen, die auch für eine Proto-Hermeneutik der Alterität einschlägig sind. Ich zitiere: "Die Grenze zum Anderen kann nicht endgültig überschritten werden. das ,Außen' des anderen verkörpen ein ,Innen', das als solches nicht unmittelbar erfahren werden kann. Aber wir können uns sozusagen über die Grenze die Hände reichen: miteinander singen, tanzen, lieben, streiten, prügeln. Das können wir, solange das lebensweldiche Prinzip der Reziprozität der Perspektiven, der Venauschbarkeit der Standpunkte für uns Gültigkeit behält" (5. 13). Demgegenüber kennzeichnet die großen Transzendenzen eine Abkehr vom alltäglichen Handeln, um Wege in andere Wirklichkeiten einzuschlagen, deren Erinnerung in Symbolen verkörpen oder in ritualisienen Handlungen bewahrt, kanonisiert und zu selbständigen Sinn welten erhoben werden kann: "Sowohl religiöse wie ästhetische Erfahrungen haben hier ihren gemeinsamen Ursprung" (5. 14). XI. Hält man sich den Befund der Begriffsgeschichte vor Augen, der mir dazu diente, die vielfältigen Leistungen des Verstehens im Lichte einer Hermeneutik der Rede zu beschreiben, so erscheint die in den letzten Jahrzehnten ausgerufene Krise der Hermeneutik als eine 37 Der Streit der Interprelationen, Konstanz ]987, S. 29. 38 .Universale Strukturen menschlicher Erfahrung - historische Formen- (aus einem noch ungedruckten Ms. zilien).
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kleine Episode in ihrer langen, mit der Bibelexegese und Homerinterpretation einsetzenden Geschichte. In dieser hat sich das elementare Bedürfnis nach Sinnbildung und Sinnverstehen in unerahnter Fülle entfaltet. Verstehen, nach Heidegger eine Grundbestimmung des menschlichen Daseins, hat sein Vermögen im Horizontwandel geschichtlicher Erfahrung allmählich entfaltet und dabei immer wieder andere Möglichkeiten zwischenmenschlicher Kommunikation ergriffen, erprobt, normiert und institutionalisiert. Die Weisen sach- oder personbezogenen Verstehens sind in der alltäglichen wie in der ästhetischen Erfahrung unverloren und nicht schon dadurch überholt, daß auf der Ebene poststrukturaler Theorien hermeneutische Fragen ausgeklammert oder als obsolet angesehen werden. Wenn die - von Heidegger selbst eingeleitete - Absetzung vom Logozentrismus der Metaphysik und vom subjektzentrierten Denken des Idealismus seit den sechziger Jahren der gemeinsame Nenner für die Hermeneutikkritik ist, dann ist den Gebildeten unter ihren Verächtern, von Jacques Derrida, Paul de Man, Michel Foucault bis zu Fran~ois Lyotard, auch gemeinsam, daß sie bei der generellen Infragestellung allen Sinnverstehens geflissentlich die im Umgang mit Texten wie zwischen Personen gebildeten und historisch bewährten Formen des Verstehens übersehen, die nicht anzuerkennen sich auch ein dezidierter Anti-Hermeneut kaum leisten könnte, sobald er die Spielwiese seiner Theorie verläßt und sich der Erfahrung aussetzt, die wir im Leben mit anderen machen. Er wäre gleichermaßen unfähig, sich nach einem Weg zu erkundigen, einen Gruß von einer Drohgebärde zu unterscheiden, geschweige denn eine rhetorische Frage zu erkennen)' oder sich auf eine Argumentation einzulassen. Ich habe deshalb meine Apologie nicht wie üblich auf der Ebene einer rein theoretischen Auseinandersetzung geführt, sondern auf Beispielen aus der Praxis des Sinnverstehens aufgebaut, durch die sich - wie ich hoffe - schon mancher Vorwurf erübrigt hat, der in Unkenntnis der Begriffsgeschichte des Verstehens an die falsche Adresse - an einen Phantasie-Gegner, genannt Hermeneutik gerichtet war. Doch scheint mittlerweile der dogmatische Widerstand gegen die Hermeneutik dahingeschmolzen zu sein. Im Blick darauf möchte ich aus der Theoriedebatte des letzten Jahrzehnts wenigstens noch schlaglichtanig hervorheben, daß Paul Rica:ur den Streit zwischen Ideologiekritik und Hermeneutik nachhaltig zu schlichten wußte, daß Karlheinz Stierle die Kluft zwischen Semiotik
39 S. dazu meine Kritik in: ÄE. S. 422 ff.
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und Hermeneutik mit dem Vorschlag zu überbrücken suchte, die Fragerichtung der Rezeptionsästhetik als komplementär zu der Fragerichtung der Intertextualität anzusehen, und daß in den USA ein neuer Historismus die dekonstruktivistische Welle auffing, um eine neue, geschichtsbezogene Ästhetik der Alterität zu entwickeln. 40 Damit haben sich der klassischen Tradition der Hermeneutik gewiß weitere Horizonte des Verstehens eröffnet. Zwischen den Horizonten des Verstehens zu vermitteln, erfordert künftig nicht allein, nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Fremdheitserfahrung zu fragen, sei es im Verstehen des historisch Fernen, sei es im Verstehen des kulturell Fremden. Es erfordert auch, Brücken über die Grenzen der Sinn welten der Religion, der Philosophie, des Rechts wie der Politik zu schlagen und ihren verschiedenen hermeneutischen Zugang im Dialog der Disziplinen zu erproben. Für beide Aufgaben scheint mir die literarische Hermeneutik unentbehrlich zu sein. Ist sie doch von Haus aus dialogisch und grenzüberschreitend zugleich, sofern es ihr darum geht, nicht nur eine Sache, sondern auch das Eigene im Fremden und damit den Andern im Horizont seiner eigenen Welt zu verstehen. Sie kann damit als Korrektiv zur Hermeneutik anderer Disziplinen dienen, sofern es diesen primär um das Verstehen einer Sache, eines Arguments, eines Rechtsfalls oder - theologisch - einer Botschaft geht. Daran zu erinnern, daß dies nicht genug ist, um dem Bedürfnis aller Kommunikation, zu verstehen und verstanden zu werden, voll zu genügen, war die Absicht dieser Betrachtung.
40 P. Riccrur: "Hermeneutique et critique des ideologies", in: Archivio di Filosofra, 1972, Heft 2/3, S. 1>-61; K. Stierle: Dimensionen des Verstehens - Der Ort der literaturwissenschaft, Konstanz 1990 (Konstanzer Universitätsreden, Bd. 174); zum New Historicism S.u. Kap. 12.
2. Hermeneutische Moral: der moralische Anspruch des Ästhetischen I.
"Das Moralische versteht sich immer von selbst. • Es gibt wohl kaum ein geflügeltes Won, das so unglaubhaft geworden wäre wie dieser Satz, den der Held in Friedrich Theodor Vischers Auch Einer ständig im Munde fühn. In einer Zeit wie der unsrigen, in welcher ,Moral' einen schon so altväterlichen Klang angenommen hat, daß nichts naiver zu sein scheint, als nach der ,Moral von der Geschicht' zu fragen; einer Zeit, in der die Devise: ,Du darfst, was du willst" als Ideal nicht-repressiver Verantwortung gegenüber sich und anderen disku tien wird; in der sich vielerorts eine Regression in ethnischen Partikularismus oder religiösen Fundamentalismus abspielt, bei der jede Gemeinschaft sich ihre eigene Moral der Selbstverwirklichung zubilligt; einer Zeit schließlich, in der selbst noch die Universalität der Menschenrechte als eine bloße List der repressiven Vernunft verpönt werden kann - in einer solchen Zeit dürfte kaum einer noch vertreten wollen, daß sich das Moralische von selbst verstehe. Schon gar nicht im Bereich des Ästhetischen, das seine Unschuld im Dienst totalitärer Herrschaft verloren hat, so daß seine Verschwisterung mit dem Moralischen, die sich in einer mehrtausendjährigen Tradition der Devise: utile dulci fraglos wie von selbst verstand, post festum überhaupt in Zweifel gezogen wurde. Dies mag erklären, warum heute Literatur und Kunst der jüngsten, postmodernen Moderne fast schon obligat durch die Freisetzung von allem moralischen Anspruch definiert wird: eben darin - wie unlängst zu hören - "in der Entfaltung einer Freiheit von und jenseits ethischpolitischer Verantwortung bestehe der Sinn der modernen Gestalt des Ästhetischen·. I Demgegenüber soll dieses Kapitel historisch und henneneutisch begründen, warum die jüngsten Debatten über Ethik und Ästhetik, insbesondere die t 992 im Forum Humanwissenschaften der Frank1 Christoph Menke: .. Unbequeme Kunst der Freiheit-, in: Frank/Mn" RMndsch"", S. Mai 1992, Nr. l00i. S. 16.
2. Henneneutische Moral
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fuTter Rundschau gefühne2, wie auch schon der.~üricher Literaturstreit von 1967, die moralische Problematik des Asthetischen vereinseitigt, wenn nicht gar zu Unrecht verabschiedet haben. In diesen Debatten wird Moral durchweg auf ihre präskriptive Bedeutung reduziert und dabei der weitere Sinn des Begriffs ignoriert, den seine Geschichte eindrücklich bezeugt. Dieser ist zu entnehmen}, daß der Begriff Moral als Übersetzung von griechisch ethike auf Ciceros Neuprägung philosophia moralis zurückgeht und seither im Spannungsverhältnis von präskriptiv wertender Sinnvorgabe und von deskriptiv interpretierender Sinnermittlung steht. Ist die präskriptive Moral in der Tradition der klassischen Ethik auf die Frage des Guten im Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft gerichtet, so fragt die deskriptive, besser gesagt: explorative Moral nach der Eigentümlichkeit menschlichen Verhaltens (lateinisch moralis ist von mores, Sitten, abgeleitet). Antwortet die erstere auf die Frage: ,Was soll ich tun?" mit imperativischen Maximen, um die Ordnung menschlichen Zusammenlebens zu sichern, so fragt die letztere: ,Wie ist das Verhalten der Andern zu beurteilen?', um der R-ealität fremden Willens gerecht zu werden. Erwartet die präskriptive Moral, daß eine Maxime von jedermann übernommen werden kann, so verlangt die explorative Moral, sofern sie auf das vielfältig Besondere bezogen ist, keine allgemeine Geltung, sondern die Unterscheidung des Eigenen vom Fremden wie auch die Erprobung der Vereinbarkeit eigener mit fremden Normen des Handeins. Das Spannungsverhältnis zwischen normativer und explorativer Moral bestimmt in der europäischen Tradition durchgängig das Verhältnis des Ästhetischen zum Moralischen. Gewiß konnte auch hier die Literatur wie alle Künste in präskriptiver Funktion der Aufrechterhaltung und Legitimierung herrschender Ordnungen dienstbar gemacht werden. Dann schien ihre ästhetische Form bruch los in ihrem didaktischen Sinn aufzugehen. Dem Topos ,historia docet' stand die Erwartung, daß aus der Kunst wie aus der Geschichte zu lernen sei (auf die rhetorische Formel gebracht: docere - delectaremovere) wie selbstverständlich zur Seite. Die Trennung von delectare 2 Unter dem Titel: Ethik IIna Ästhrtilr, Beiuäge von Rüdiger Bubner, Christoph Menke. Wilhelm Schmid. Joseph Früchtl. Andreas Kuhlmann. Birgit Recki. Manin Seel, in wöchentlicher Folge ab 21. April 1992. Ferner: D~ AlttNÜtÄt tks Ästhrtischrn. Hannover Sept. 1992. nach der Rezension von Ulrich Greiner. DIE ZEIT. 11. Sept. 1992. Nr. 38. und: Tllnnrl ;;bt1'at1' Sprrr. Berlin April 1993. nach der Rezension von Thomas Rietzschel. FAZ. 28. April 1993 • Nr. 98, S. 33. 3 S. dazu den Anikel Moral im Historischrn Wörtt1'buch at1' PhiJosoph~, hg. J. Ritter. Basel/Stuttgan 1984, Bd. 6. Sp. 149.
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und prodesse, mit der das Schöne dem Nützlichen und Lehrhaften entgegengesetzt wurde, machte sich erst spät geltend, zu einer Zeit, als auch das Prinzip ,historia docet' in Frage gestellt wurde. Der Historismus und die autonome Ästhetik treten in der Aufklärung zugleich und nebeneinander hervor. Die Literatur und die Künste haben sich indes nicht erst mit dem Erlangen ihrer Autonomie der präskriptiven Moral entzogen. Ihre Geschichte stand immer schon in der Ambivalenz von Botmäßigkeit und Insubordination. Das Ästhetische konnte sowohl moralische Lehren verbildlichen, exemplifizieren und beglaubigen, als auch - im Schutze der Fiktion - das Selbstverständliche ihrer Geltung in Frage und zur Disposition stellen. Das zeigt schon das Diktum in Vischers Auch Einer. Denn die schrullige Figur, der es in den Mund gelegt ist, erregt gerade darum Aufsehen, weil sich das Moralische für alle andern nicht mehr von selbst versteht. Wie problematisch es ist, diesen Satz zu venreten, kommt denn auch gleich zutage, wenn sich der einzige, der ihn noch oder wieder venritt, in den Widerspruch verstrickt, daß er die Anerkennung seiner Maxime, auch wenn er in bester Absicht handelt, oft nur mit brachialer Gewalt erzwingen kann. Auch muß er von Anbeginn eingestehen, daß sie nur im "oberen Stockwerk des Lebens" realisierbar sei, während er im unteren in einem ständigen "Kriegszustand mit dem Bagatell" - mit der durch den Roman berühmt gewordenen "Tücke des Objekts" - verbleibe. 4 Das Ästhetische, hier in der literarischen Form des Komischen, macht das Moralische in seiner Problematik erst eigentlich ansichtig. Im Ästhetischen hön das Moralische auf, selbstverständlich zu sein. Hier wird kein normatives Wissen bestätigt oder verordnet, sondern ein neues Verstehen eröffnet, das erforden, sich selbst ein moralisches Uneil zu bilden und zu venreten. Im Ästhetischen ist die Fiktion in ihrem eigenen Recht, wenn sie immer wieder aufzudecken oder als Möglichkeit zu erproben vermag, was sich nicht von selbst versteht, weil es sich der präskriptiven Moral wie dem rechtlich normienen Verhalten entzieht: nämlich die Vielfalt der Sitten und damit ein Verstehen des Fremden, der Welt in den Augen der Andern, aber auch die Erfahrung des Privaten, das Eigenrecht, anders zu sein, und damit die Bildung eines Selbstverständnisses, das sich mehr und mehr aus institutionellem Zwang freizusetzen sucht. Auf dieser Ermöglichung eines nicht schon vorgezeichneten, von Regeln ableitbaren Sinnverstehens beruht das eigentümliche Verhält-
.. Fr. Th. Vischer: ANCh
Ein~r,
Slullgan/Berlin 1919, S. 21/23.
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nis, in dem seit der Antike das Ästhetische zum Moralischen stand. Daraus entsprang letztlich seine evidente Leistung für die Selbst behauptung des Humanen, Partikularen und Individuellen gegen den Absolutheitsanspruch des Allgemeinen, gegen den Dogmatismus letzter Wahrheiten wie gegen den Formalismus herrschender Gesetze. Dazu gehört ein lange Zeit ungeschriebenes, erst in der Renaissance kanonisiertes Gesetz der Poetik: das Postulat der poetischen Gerechtigkeit, die wieder einlösen sollte, was das moralische Empfinden in einer inhumanen Wirklichkeit, die sich gleichgültig über das Schicksal von Gut und Böse hinwegsetzt, nicht hinnehmen will. Angesichts der Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit, Gesetz und Moral, zwischen faktisch vorherrschenden und moralisch gerechtfertigten Normen, hat die Literatur auf ihre Weise immer wieder den Anspruch des moralischen Gewissens geltend gemacht. Wenn heute das Prinzip der Gerechtigkeit wieder vielfach gegen den Formalismus des Rechts aufgeboten wird, ist die philosophisch geführte Debatte an diese unausgeschöpfte Leistung der Literatur zu erinnern. Ist doch das Postulat der poetischen Gerechtigkeit in der Tradition kaum, aber auch in der Moderne selten verletzt worden. Und wo es doch geschah, wie wohl zuerst bei Shakespeare (man denke an King Lear!)\ so nicht, ohne den Zuschauer mit der moralischen Problematik von Gut und Böse zu konfrontieren.
11. Ästhetisches Sinnverstehen appelliert an die Freiheit der Reflexion. Es ist durch Freiwilligkeit ausgezeichnet, kann es doch weder erzwungen, noch verordnet, noch eingehandelt werden. Freiwilligkeit meint dabei keineswegs pure Freiheit von aller Moral und ethischpolitischer Verantwortung, sondern die im Umgang mit den Künsten ermöglichte Freiheit, das Moralische im menschlichen Zusammenleben zu beurteilen und zu vertreten. Dieser moralische Anspruch des Ästhetischen macht sich auch schon in der vorautonomen, vermeintlich immer nur dienstbaren Kunst geltend. Blickt man auf die Geschichte klassischer Werke zurück, so zeigt sich, daß in ihrer Rezeption moralische Beurteilung stets im Vordergrund stand. Ob der Krieg der Griechen gegen die Trojer gerecht war, ob der Mensch nur ein Spielball im Walten der Götter sei, ob Achilles oder Hektor
5 S. dazu meine Rezeptionsgeschichte von King Lear. Kap. 7.
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als Vorbild gelten könne - solche Fragen des moralischen Urteils haben die Rezeption der /lias stärker bewegt als Fragen der poetischen Form! Nicht allein die Verletzung poetischer Regeln, sondern vor allem der Bruch mit der herrschenden gesellschaftlichen Moral hat die Gemüter im Falle des Tartuffe, der Nouvelle HeLolse, der Leiden des jungen Werthers, der Madame Bovary oder der FLeurs du MaL leidenschaftlich erregt und öffentliche Skandale, wenn nicht gar gerichtliche Verfolgung ausgelöst. Der moralische Anspruch des Ästhetischen ist auch mit der proklamierten Autonomie der Künste, mit der Doktrin des L ~rt pour L~rt und selbst noch in den Manifesten der Avantgarden des 20. Jahrhunderts keineswegs hinfällig geworden. Wer ihn heute lauthals verneint, scheint nicht zu wissen, was er damit preisgibt. Will man sich dabei auf Kants Scheidung der Geltungsbereiche des Moralischen und des Ästhetischen berufen, so ist daran zu erinnern, daß diese Scheidung nicht Kants letztes Wort in der Sache gewesen ist. Denn er hat in der Kritik der UrteiLskraft seine Lehre vom Exempel in einer Weise revidiert, die wieder erlaubt, eine Brücke vom Ästhetischen zum Moralischen zu schlagen. Was das autonome Kunstwerk betrifft, das man heute gegen eine wie es scheint uferlose Ästhetisierung der Lebenswelt wieder aufbieten will, ist daran zu erinnern, daß dieses mit der ästhetischen Freiheit von aller sozialen und religiösen Bindung vom mündigen Bürger zugleich gefordert hat, sich ein Urteil über den Gegenstand zu bilden und es mitzuteilen. Die Binsenwahrheit, daß sich über Geschmäcker nicht streiten lasse, wird durch das autonome Werk Lügen gestraft. Seine Rezeption zeigt, daß sich gerade hier über das Ästhetische wie über das Moralische trefflich streiten ließ. Die Forderung, daß das autonome Werk aus sich selbst zu verstehen sei, schließt keineswegs aus, sondern ein, daß ästhetische Erfahrung die Möglichkeit zu eröffnen vermag, die wirkliche Welt anders zu sehen und damit sich selbst im Andern neu zu verstehen. Auch autonome Kunst "zeigt uns, was wir kennen, so wie wir es nicht kennen" . 6 Daraus folgt dann aber auch - so meine These -, daß sich die eigentümliche, nicht präskriptive Moral des Ästhetischen aus seinem Vermögen begründen läßt, Verstehen zu eröffnen, zu vertiefen und zu problematisieren. Die moralische Beurteilung ist dem Ästhetischen darum nicht erst nachträglich aufgesetzt. Sie ist nicht erst in Handlungsanweisungen konkretisierbar, die als direkte ,Moral von der Geschichte' zu fordern ein Rückfall in die didaktische Vereinnahmung der Künste wäre. Die implizite Moral des Ästhetischen ist im 6 Rüdiger Bubner (wie Anm. 2).
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Akt des Verstehens selbst schon angelegt, sofern dieses in seiner Freiwilligkeit ein Moment der Billigung oder Zustimmung erfordert, die einem Kunstwerk erteilt, aber auch versagt werden kann. Ästhetisches und moralisches Urteil schließen sich derart nicht mehr aus, sondern spielen ineinander. Diese These soll in dem umrissenen Kontext dieses zweite, problemgeschichtliche Kapitel nunmehr an einer Reihe von Beispielen erläutern. Dabei wird sich die Frage nach der Ambivalenz und den Grenzen des ästhetischen Verstehens stellen. Denn wenn dieses eine explorative Moral impliziert, die Verstehen eröffnet und dem moralischen Urteil anheimstellt, so kann es dieses auch schon insgeheim präjudizieren und den Anschein erwekken, als ob das ästhetische Urteil von sich immer schon das moralisch Gute verbürge. Auf diese Problematik waren wir schon im Blick auf jene Maxime gestoßen, die insbesondere der Kritik an der vermeintlichen Verantwortungslosigkeit des Ästhetischen wie an der vermeintlich von Haus aus affirmativen Hermeneutik Vorschub geleistet hat: die dubiose Sentenz: "Tout comprendre, c'est tout pardonner. " Deren ungeklärter Herkunft und Rezeptionsgeschichte soll das dritte Kapitel eigens nachgehen.
III. Das Ästhetische als von Grund auf amoralisch und verantwortungslos anzuklagen, weist auf berühmte Ahnen, Platos Verweisung der Dichter aus dem idealen Staat wie auf die Kunstfeindschaft der Kirchenväter, zurück. Emil Staiger hat diese Anklage im Züricher Literaturstreit in eine Laudatio temporis acti umgewandelt. Für ihn scheidet die Dichtung vor und nach Goethes Tod kurzerhand ihr Verhältnis zur Moral. Während es danach "eine über die ganze Welt verbreitete Legion von Dichtern gibt, deren Lebensberuf es ist, im Scheußlichen und Gemeinen zu wühlen"', sei den Dichtern vergangener Zeiten eine sittliche Gesinnung selbstverständlich gewesen, die allein ihr Werk überdauern ließ. Ihren Beistand gegen den Bildungsverfall der nachgoethischen Moderne herbeizurufen heiße, das moralische Gebot für den Dichter zu erneuern, der nicht nur im eigenen, sondern zugleich im Namen der Menschengesellschaft sprechen dürfe und sich "mit den Gesetzen, die Ordnung und Dauer verbürgen, einverstanden erklären" müsse (S. 92). 7 Zitien nach der Wiedergabe der Debatte in: Spracht im ltchnischtn Ztiulttr. 22 (1967).
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An Staigers Provokation brauchte kaum erinnert zu werden, hätte sie nicht auf den Nenner gebracht, was auch weiterhin die konservative Kritik an der amoralischen Moderne bestimmte: die Verwechslung präskriptiver Moral mit dem implizit moralischen Anspruch des Ästhetischen. Danach wäre das moralische Gebot für den Dichter in der Tradition des Klassischen vorgezeichnet; seine Autorität soll Dauer und Ordnung, die Aufrechterhaltung wahrer Humanität in einer aus den Fugen geratenen Welt, verbürgen. Dem widersprach Max Frisch mit dem ironischen Argument, das so formulierte moralische Gebot würde in Moskau offiziös nicht minder begrüßt als in Zürich - offiziös, denn es gefiele den Regierungsmännern, Erziehungsdirektoren und Staatspreisträgern der Sowjetunion, nicht aber den Schriftstellern, die unter Stalin lange im Kerker waren. Vor allem aber gefiele der Gedanke, "daß es die Aufgabe der Literatur ist, der jeweils herrschenden Gesellschaft ein heiles Leitbild zu dichten, und daß im übrigen die jeweils herrschende Gesellschaft entscheidet, was sittlich sei" (S. 108). Dem ist hinzuzufügen, daß das Klassische keineswegs von Anbeginn klassisch erschien. Das Ästhetische hat vielmehr seine Dauer verbürgende, autoritative Gestalt erst in dem Maße erhalten, wie es einer Tradition kanonisch einverleibt wurde. Was Staiger den Dichtem der Modeme vorwirft: ihre negative Ästhetik, träfe gleichermaßen die Klassiker der Weltliteratur, die sich durchaus ,unästhetischer' Mittel wie des Schrecklichen, des Niedrigen, des Häßlichen, des Frivolen, ja selbst des Obszönen bedienten, ohne darum als unmoralisch angesehen zu werden - Autoren wie Äschylus oder Seneca, Dante oder Boccaccio, Villon oder Rabelais, Montaigne oder Diderot, die im Kanon Staigers schwerlich einen Platz behaupten dürften, nähme man ihn beim Wort. Daß es immer schon das moralische Gebot der Dichtung gewesen sei, Ordnung und Dauer zu verbürgen, ist die retrospektive Illusion des Klassischen. Wo immer das Ästhetische sich seiner Dienstbarkeit entzog, hat es seine Autonomie dafür eingesetzt, dem herrschaftlichen Anspruch der Moral einen verstehenden Zugang zum Moralischen entgegenzusetzen. Die implizite, nicht präskriptive Moral des Ästhetischen appelliert an das moralische Gefühl. Sie macht institutionalisierte Normen und moralische Prinzipien diskutierbar, bringt ihre Widersprüche in der Kasuistik des alltäglichen Lebens zum Vorschein und fordert damit Urteil, Beipflichtung oder Mißbilligung heraus. So vermag sich im Ästhetischen eine ungebundene Moral gegen die Bevormundung durch Erziehung, Justiz und Religion zu wehren und dabei das Eigenrecht des Menschen zu behaupten, sein natürliches, soziales und geistiges Dasein auch ohne transzendente Begründung innerweltlich zu regeln. Darum konnte Christoph
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Menke zu Recht sagen: "Die ästhetische Freiheit bricht den Schein von, und Anspruch auf, Absolutheit, die sich die ethische Haltung der Verantwortung in ihrer Alternativlosigkeit von innen her zuspricht."8 Er übersah dabei lediglich, daß dies keine Entdeckung unserer Moderne ist, sondern immer schon die Leistung der poetischen Fiktion war, wie schon an der griechischen Tragödie - man denke nur an die Antigone - gezeigt werden könnte. Statt dessen möchte ich den moralischen Anspruch des Ästhetischen an weniger bekannten Beispielen erläutern.
IV. Eine Schwelle zwischen institutioneller und explorativer Moral zeigt sich zum Beispiel im Hervortreten einer Gattung an, die mit einer neuen literarischen Form zugleich einen eigenen moralischen Anspruch erhob: die Novelle. Es ist das Decameron, eine Schöpfung des Humanisten Boccaccio, der sich nicht scheute, bisher als niedrig angesehene Exempla, Mirakel, Märchen und Schwänke durch eine Kunst der Umerzählung zu nobilitieren, die deren Muster nunmehr in Zeit und Ort zu lokalisieren wie ihren vorentschiedenen Sinn zu problematisieren wußte. Boccaccios Novelle setzt sich gleichermaßen vom Idealismus der heroischen Dichtung wie von der direkten Moral lehrhafter Dichtung ab. Ihre Handlung ist zumeist kasuistisch: sie verstrickt die Betroffenen wie die Leser in einen Konflikt von Normen, den am Ende eine unerhörte Begebenheit zu lösen scheint, aber doch nur in der Weise, daß schon die folgende Novelle den nächsten Kasus und mit ihm die Frage aufwirft, nach welcher Norm diese Begebenheit moralisch zu bewerten sei. So wendet sich die prosaische Novelle der eigenen Zeit in ihrer alltäglichen Wirklichkeit zu, deren "Subjekt stets die Gesellschaft und deren Objekt die Form der Diesseitigkeit überhaupt ist, die wir Kultur nennen". 9 Boccaccio nutzt die ästhetische Lizenz, auch Unschickliches - das erotisch Frivole der alten Schwänke vorbringen zu dürfen, wenn es auf schickliche Weise gesagt wird und Anlaß geben kann, über die Natur des Menschen, seine Freiheit zu lieben, sein Recht auf irdisches Glück im Spiel und Widerspiel 8 Wie Anm. 2 (FR, 5. Mai 1992. S. 16). 9 Nach Erich Auerbach, dessen frühe Schrift: Die Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich, Heidelberg 1921 (hier S. 1). ich für immer noch unüberholt halte.
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von Fortuna, ein Gespräch zu führen. Denn Boccaccios Novelle ist bekanntlich eine Gattung des Gesprächs, geführt von einer Gruppe, die damit den Schrecken der Pest zu entgehen suchte. Sie ist Konversation als Form der "leidenschaftlichen Betrachtung des irdischen Lebens" 10 und damit als ästhetische Form ganz auf das Moralische gerichtet, das sich an dieser Epochenschwelle in der Tat nicht mehr von selbst verstand.
V. Dasselbe Verhältnis des Ästhetischen zum Moralischen treffen wir am Beginn der Neuzeit bei der Entstehung der von Montaigne geschaffenen literarischen Form des Essay an. Hier wird, nach der Erfindung des Buchdrucks, die Freisetzung des profanen Lesers von der bislang institutionsgebundenen Lektüre vollzogen, in einer Form, die ständig Texterfahrung und Selbsterfahrung, das große Erbe der Antike mit dem subjektiven Horizont der eigenen Welt, vermittelt. Das kanonische Wissen einer sakrosankten Überlieferung wird in dieser produktiven Rezeption (um nicht zu sagen: einem grandiosen ,creative misreading') der beginnenden Neuzeit frei verfügbar gemacht. Indem Montaigne die Exempla der klassischen Autoren nicht einfach kommentiert, sondern meditierend aufeinander bezieht und sie nicht selten gegeneinandersteIlt, wird die zeitlose Wahrheit der moralischen Sentenzen angefochten und der historische Abstand zwischen Antike und Moderne, aber auch die Fremdheit verschiedener Kulturen, ansichtig gemacht. Aus der Widersprüchlichkeit der Handlungen anderer gewinnt Montaigne seine Selbsterkenntnis: eine neue Einsicht in das durchschnittliche und doch nicht fixierbare Wesen der eigenen wie der fremden Individualität. So wurde der Essay dank seiner literarischen Form, die erlaubt, die Bewegung der Gedanken im Schreiben selbst zu erfassen, zum Medium einer unabschließbaren Selbsterprobung, die in ihrer Fülle und Authentizität beispiellos war. Dabei führte die moralische Reflexion zu einer neuen Sicht der "humaine condition", die in Frankreich die modeme Tradition der Moralistik eröffnet hat, aus der hernach - folgt man Gerhard Hess, Odo Marquard und Hans
10 Ebd., S. 3; s. S. 20 zum Recht der Liebesmoral: .. daß jedes Wesen, nach seiner körperlichen und geistigen Anlage, lieben und zurückweisen darf, wen es will, und daß die gesetzlichen Bindungen dieser Freiheit nachstehen. •
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Blumenberg - die Anthropologie als jüngste philosophische Disziplin hervorging. 11 Die literarische Erscheinung der Moralistik ist eine der stärksten Karten für meine These. Wer bestreitet, daß das Ästhetische genuin mit dem Moralischen verschwistert sein kann, muß vergessen haben, daß es vornehmlich das mit den literarischen Formen der Moralistik - dem Aphorismus, der rhetorischen Figuren, dem Charakterportrait, der Anekdote - eröffnete Verstehen war, in dem sich der Prozeß der Selbstentdeckung und Selbstbefreiung des Menschen aus den Bindungen von Wissen und Glauben vollzog, die ihm das Lehrgebäude der Philosophie und der Theologie auferlegt hatte. Die Moralistik zeigt uns den Weg, auf dem der Mensch in der beginnenden Neuzeit dazu gelangt ist, seine innerweltliche Erfahrung als eine ,terra incognita zwischen Natur und Geist, zwischen Vernunft und Offenbarung zu entdecken und damit eine Lücke im klassischen System von Physik, Metaphysik und Ethik zu besetzen. Es zeichnet die Moralisten der französischen Klassik dabei aus, daß sie nicht geradewegs zur Selbstbestätigung menschlicher Autonomie voranschritten, sondern als "Meister der Seelenprüfung" mit dem spezifisch moralistischen Gestus des Enthüllens die Zwiespältigkeit menschlichen Handeins ans Licht zogen und dabei - mit Nietzsehe zu sprechen - "ins Schwarze der menschlichen Natur" trafen. 12 Die deutsche Klassik kennt merkwürdigerweise nichts dergleichen, was zum Vergessen der moralistischen Tradition in der jüngsten deutschen Debatte beigetragen haben mag, obschon sie im Werk Nietzsches, später in Adornos Minima moralia und zuletzt in den Schriften von Roland Barthes wieder aufgelebt ist. C
VI. Gleichwohl hat auch die idealistische Ästhetik der autonomen Kunst keineswegs jeden moralischen Anspruch preisgegeben. Auch die Literatur der deutschen Klassik war nicht von Anbeginn eine Flucht in das autonome Reich des Schönen, sondern als bestimmte Negation 11 Zu G. Hess s. meine Würdigung in: KonstAnur UniT/mU;;tsr~d~n, Nr. 151, KonStanz 1985, S. 7-19; O. Marquard: ,.Zur Geschichte des philosophischen Begriffs •Anthropologie' ...• in Coll~gu.m philosophiam" hg. E. W. Böckenförde et al .• BaseV Stuugan 1965. S. 227; H. Blumenberg: WirJrlKhJr~iu", in timen ",ir kbm, Stungan 1981, S. 109. 12 M~nschlich~s. Allzl4menschliches. 136.
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einer bestehenden Ordnung, der Herrschaft des Ancien Regime, hervorgetreten. Verstand sie sich doch als "ästhetische Revolution" mit dem utopischen Ziel, durch ästhetische Bildung den Staat der Freien und Gleichen herbeizuführen, bevor sie im 19. Jahrhundert dem Verdacht der politikfernen affirmativen Kultur verfiel. J) Daran zu erinnern erscheint auch heute wieder geboten, weil die jüngste Debatte offensichtlich das Mißverständnis einer aller Praxis enthobenen, rein ästhetischen Kunst weiterträgt. Der Beginn dessen, was auch Goethe in der Rückschau auf seine Anfänge die "deutsche literarische Revolution" nannte l4 , läßt sich am besten an Goethes Werther (1774) und an Schillers Die Schaubühne als moralische Anstalt (1784) erläutern. Um mit Schillers Programmschrift zu beginnen, wird dort der stolzeste Anspruch formuliert, den die bürgerliche Öffentlichkeit im Namen der Moral gegen die herrschende Autorität von Staat und Religion erheben konnte: "Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. " Literatur als Instanz der aufgeklärten bürgerlichen Moral habe nun mehr die Bildungsgeschichte der Menschheit zu vollenden, zu einer Zeit, in der "Religion für den größten Teil der Menschen nichts mehr ist", in der "ihre Gemälde von Himmel und Hölle zernichtet" sind und in der politische Gesetze "nur Wirkungen hemmen, die den Zusammenhang der Gesellschaft auflösen" . U An der neu erhobenen Forderung poetischer Gerechtigkeit hat sich auch der Streit über Goethes Werther angesichts seiner überwältigenden Wirkung entzündet. 16 Hier war zugleich eine ästhetische und eine gesellschaftliche Norm im Spiel: das Faszinosum der Werthermode und das Tabu des theologisch wie juristisch verpönten Selbstmords. Auf die erstere hat sich Lessings Kritik bezogen, der "eine kleine kalte Schlußrede" für notwendig erachtete, denn sonst dürfte der Leser "die poetische Schönheit leicht für die moralische nehmen und glauben, daß der gut gewesen, der unsere Teilnehmung so stark beschäftigt". Dieses Mißverständnis ist nicht nur der naiven Rezeption nicht aufgeklärter Leser geschuldet. Es setzt vielmehr eine ästhetische Norm von säkularer Geltung voraus, die Goethe preisgab: die Erwartung einer platonisierenden Ästhetik, daß aus poetischer Schönheit fraglos moralische Wahrheit hervorgehe. Danach 13 S. dazu Vf. in: SE, S. 82 H.; ferner den.: .. Das kritische Potential ästhctj5cher Bildung-, in: Die ZNJrNnft an- ANfltliinmg, hg. J. Rüsen et al., Frankfun 1988, S. 221 ff. 14 In DichtNng Nna W.hTh~it, SW (Artemis), Bd. 10, S. S36. IS G~uam",~lu WvJr~, Berlin 19S5, Bd. 8, S. 98 ff. 16 Näherhin und zur Dokumentation s. Vf. in: ÄE, S. 320 ff. und Kap. 11 E.
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schien die empfindsame Darstellung der Leiden des jungen Werthers seine "Krankheit zum Tode" wie selbstverständlich zu rechtfertigen und "Bewunderung und Liebe" für seinen Charakter zu erlauben. Im Bruch mit dieser Erwartung war die Literatur der französischen Aufklärung Goethe schon vorangegangen. Sie hatte die klassische Ineinssetzung von ästhetischer und moralischer Vollkommenheit so in Diderots Neveu de Rameau - in Frage gestellt. Sie hatte das Faszinosum des Bösen offen thematisiert und den Verbrecher, den die klassische Tragödie nur als Gegenfigur zuließ, in seinem eigenen Schicksal interessant und literaturfähig gemacht. Die noch unverstandene Neuerung in Goethes Werther lag darin, daß hier der aufgeklärte Leser als Instanz des ästhetischen Urteils zugleich über das moralische Problem dieses Falls, über Recht und Unrecht der Leiden des bürgerlichen Individuums, befinden sollte, ohne länger auf die Evidenz des sittlich Wahren im Schönen vertrauen zu dürfen. Der junge Goethe war andererseits seinen Kritikern voraus, die im Werther wenn nicht den direkten moralischen Fingerzeig, so doch die augenscheinliche Verwirklichung poetischer Gerechtigkeit vermißten. So Bodmer, der Goethe vorhielt: "Ein poetischer Schöpfer sollte doch in seiner Welt, das ist in seiner Geschichte, strafen, da er es in der künftigen Welt nicht kann, wie der wahre Schöpfer." Bodmer hat hier verkannt, daß Goethe den letzten Schritt zur ästhetischen Autonomie damit vollzog, daß er das Bedürfnis nach Gerechtigkeit auf dieser Welt in der poetischen Fiktion seines Büchleins nicht mehr durch Schuld und Strafe abgelten wollte. Vielmehr suchte er dieses Bedürfnis dadurch zu befriedigen, daß er dem Leser das Verstehen der Leiden Werthers überhaupt erst ermöglichte und ihm anheimstellte, selbst über das moralische Problem des Selbstmords zu urteilen. Die implizite Moral des Ästhetischen beginnt hier damit, etwas verstehbar zu machen, kraft der poetischen Fiktion, die erlaubt - wie Werther zu Albert bemerkt -, daß wir uns "auf eine andere Weise vorstellen können, wie dem Menschen zumute sein mag, der sich entschließt, die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Denn nur insofern wir mitempfinden, haben wir Ehre, von einer Sache zu reden". 17 Verstehbar als "Krankheit zum Tode", womit Goethe den bald danach eintretenden Wandel in der Einstellung zum Suizid antizipiert, der zu seiner Zeit noch drastisch geahndet wurde, wie in Zedlers U niversallexikon von 1743 zu lesen: Sofern sie nicht "mit Schwermütigkeit, Raserei, Wahnwitz beladen gewesen", seien Selbstmörder "unter dem Galgen, wie ein Hund zu begraben". 17 SW (Artemis) Bd. 4. S. 427.
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VII. Als Stammvater der ästhetischen Moderne und Kronzeuge für den "Aufruhr des Schönen gegen das bürgerlich Gute"18 wird zu Recht immer wieder Baudelaire aufgeboten, doch nicht selten unbesehen der populär gewordenen Doktrin des L ~rt pour l~rt zugeschlagen. Dabei wird verkannt, daß Baudelaires Konzept einer sumaturalen Poesie der Moderne aus einer Absage an die Romantik hervorging, im eklatanten Widerspruch zu Rousseaus These, der Mensch sei von Natur aus gut und die Natur selbst - wie eine platonisierende Ästhetik wollte - letzter Ursprung des Guten und Schönen. Für Baudelaire, der sich dabei fatalerweise auf De Maistre, den Vordenker der katholischen Reaktion, berief, ist mit Adam und Eva die ganze Natur in Sünde gefallen. Gerade das Natürliche sei also an sich selbst korrumpiert und böse. Es könne darum allein durch das Künstliche überwunden werden, was nicht allein für die ästhetische Tätigkeit, sondern auch für das moralische Handeln gelte ("la vertu ... est artifici elle, surnaturelle"). Aus dieser Prämisse erklärt sich, warum Baudelaire einerseits in den Notes nouvelles sur Edgar Poe von 1857 das Nützliche, Lehrhafte und Moralische als Häresien der nur dem Schönen verpflichteten Kunst angeprangert hat, andererseits aber in seinem Artikel über Charles Dupont die "puerile utopie de l'ecole de l'art pour l'art" auf das schärfste verwerfen konnte. Der Rückzug der Poesie auf sich selbst ist für den Verfasser der Fleurs du Mal nur gerechtfertigt, wenn sie damit um so entschiedener ihren Widerspruch zum scheinbaren Recht des Bestehenden zu artikulieren vermag. Das Beispiel der Lieder von Charles Dupont zeige, daß selbst noch die naivste Poesie der "sterilen Utopie" des selbstgenügsamen L~rt pour l~rt vorzuziehen sei, da sie in der Verneinung der ungerechten Welt die Hoffnung auf eine universelle Versöhnung wachrufe: "Joyeuse ou lamentable, elle porte toujours en soi le divin caractere utopique. Elle contredit sans cesse le fait, apeine de ne plus etre. Dans le cachot, elle se fait revolte; ala fenetre de l'höpital, elle est ardente esperance de guerison; dans la mansarde dechiree et malpropre, elle se pare comme une fee du luxe et de l'elegance; non seulement elle conteste, mais elle repare. Partout elle se fait negation de l'Iniquite. " 18 Tb. W. Adorno: Minima Moralia, Nr. 107; näherhin und zur Dokumentation s. Vf.: "Thesen zur Position Baudelaires in der ästhetischen Modeme in: Zum Problem der Geschichtlichlteit ästhetischer Normen, hg. H. Stiller, Berlin 1986, 31-38 (Sitz.Ber.d. Akad.d. Wsch.d.DDR, Jg. 1986, Nr. 1/G); ferner in ÄE, S. 848 ff., und in SE. S. 174 ff. M
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Adornos modeme Ästhetik der Negativität schließt ein, daß die autonome Kunst allein schon durch ihre Fonn in Widerspruch zu gesellschaftlicher Herrschaft trete. Das ist hier offensichtlich schon vorweggenommen, so daß man die FleuTs du Mal keineswegs als selbstreferentieUe Poesie ohne moralischen und zeitkritischen Anspruch, geschweige denn als eine "Rhetorik des Bösen als des Schönen" verstehen kann. So unlängst Karl Heinz Bohrer, der damit die FleuTs du Mal für seine These vereinnahmen wollte, daß "die Imagination des Bösen Grundstein einer Poetologie der Modeme" und daß vorab die französische Ecole du Mal das Unternehmen gewesen sei, die Ausgrenzung des Bösen durch die idealistische Ästhetik im Gefolge Hegels wieder rückgängig zu machen. 19 Dem ist entgegenzuhalten, daß schon Theophile Gautier - Schulhaupt des L~rt pOUT l~rt und bedeutendster Kritiker der Zeit - dem vermeintlichen Immoralismus der Fleurs du Mal mit dem Argument widersprach, dass gerade Baudelaire das Böse als "ridicule, bourgeois et surtout malpropre" gehaßt und in seiner gegenwärtigen Erscheinung den Materialismus der bürgerlichen Demokratie dekuvriert habe. Wenn Baudelaires Lyrik in das Häßliche, Abstoßende und Krankhafte hinabsteigen könne, wisse sie sich auch wieder in die, blauesten Regionen des Spirituellen' zu erheben, 20 so daß der Untertitel Spleen et Ideal sehr wohl für das ganze Buch stehen könne. Damit hat Gautier auf ein Argument zurückgegriffen, das Baudelaire selbst vorbrachte, als seinen FleuTs du Mal der Prozeß gemacht wurde. Sein Buch werde in seiner "terrible moralite" verkannt, wenn man es nicht als Ganzes beurteile: "A un blaspheme j'opposerai des elancements vers le ciel; a une obscenite, des fleurs platoniques ... Livre destine a representer l'agitation de l'esprit dans le mal." Das einzelne Gedicht (wie Au lecteuT und andere, die Bohrer zitiert) kann und soll also das moralische Empfinden des Lesers durchaus immer wieder verletzen; seine provozierende Amoral wird indes in der Konzeption des Zyklus wieder aufgewogen, in dem - wie in Dantes Divina Commedia, der die FleuTs du Mal zu Recht an die Seite gestellt wurden - auf das Inferno der Modeme ihr Purgatorio und ihre Visionen eines irdischen Jenseits folgen. Das Böse ist demnach
19 _Das Böse - eine ästhetische Kategorie?-, in: Mn-kIlT 39 (198S), S. 4S9--473; fonge-
setzt mit "Die pennanente Theodizee. Ober das verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein-. in: MerRllr 41 (1987), S. 267-286. Anm. 20 von S. 46 20 MerklIr 39, S. 472.
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für Baudelaire mitnichten eine rein ästhetische Kategorie, wie Bohrer will, geschweige denn an sich selbst als Kunstwerk zu verstehen (eine Behauptung, bei der man sich fragt, ob man die Stimme eines Kirchenvaters oder die Nietzsches vernimmt). Es geht in den Fleurs du Mal nicht um eine sinnverweigernde Ästhetik des Bösen, sondern um "la conscience dans le mal", mithin darum, verstehbar zu machen (um Werthers Formulierung abzuwandeln), wie es einem zumute ist, der das Böse in seiner Faszination durchlebt. Nur so konnte dieser Text als Medium reiner Poesie die "maladie de l'epoque moderne" auf eine Weise ans Licht bringen, die den mimetischen Realismus des Romans wie die direkte Anklage der Satire und Karikatur an moralischer Strenge weit übertraf.
VIII. Die These, daß das Ästhetische schon im Akt des Verstehen ein moralischen Urteil sollizitieren kann, läßt sich auf Kants Lehre vom Exempel stützen. Wie Günther Buck zeigte, hat Kant den Rigorismus seiner Ethik, die jedes heterogene Moment, also auch das Schöne oder das Beispiel einer Handlung abwies, in der Kritik der Urteilskraft revidiert, indem er das Problem des Exemplarischen wieder aufnahm und in die Ästhetik verlagerte. 21 Das ästhetische Urteil hat die Eigentümlichkeit, daß es nicht logisch von einem vorgängigen Prinzip ableitbar, sondern auf eine noch unbestimmte Norm verweisend allein aus einem Beispiel, dem Verstehen eines Besonderen, zu gewinnen ist. Etwas als exemplarisch verstehen, schließt den bloßen "Mechanismus der Nachahmung" aus. Es erfordert statt dessen "freie und vernünftige ,Nachfolge' gegenüber einem Beispiel, das zugleich als Vorbild wirkt, welches ein anderes Subjekt zu dessen eigener Möglichkeit ,aufweckt'". 22 Als Muster eines uninteressierten, durch kein Bedürfnis erzwungenen Urteils (K.d. U. § 5) und zugleich als Muster eines offenen Konsens, insofern es "die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet" (K.d. U. § 8), konstituiert das notwendigermaßen pluralistische Geschmacksurteil (K.d. U. § 29) Gesellschafdichkeit. So vermag die reflektierende Urteilskraft im Exemplarischen eine Brücke zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, vom Ästhetischen zum Moralischen, zu schlagen. Wenn es heute wieder darum gehen soll, in 21 G. Buck: _Kants Lehre vom Exempel-, in: Archiv fNT B~griffsg~schicht~ 11 (1967), S. 180 ff.; ferner in: Hrrmm~"tilr BilJ""g. München 1981, Kap. 9. 22 G. Buck 1981 (wie Anm. 21), S. 208.
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2. Henneneutische Moral
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der ästhetischen Erfahrung den Ansatz oder das Korrektiv einer modernen Ethik der Lebensführung zu finden, ist er - wie mir scheint - am ehesten in der Vorgabe des Exemplarischen zu finden. Kants Lehre vom Exemplarischen erlaubt andererseits, die Formen ästhetischer Erfahrung zu bestimmen, in denen ihre inhärente Freiheit verfehlt oder verabsolutiert wird. Nicht alle ästhetische Erfahrung erreicht den Gipfel des auf Beistimmung anderer angewiesenen ästhetischen Urteils und stellt sich der Frage nach der involvierten moralischen Problematik. Das genießende Verstehen kann in der Bewunderung des ästhetischen Gegenstands verharren. Es kann in der naiven Identifikation mit dem ,Helden' aufgehen (wie im Fall der Werthermode). Und es kann allein schon in der puren Lust am ästhetischen Spiel der Sinne eine Erfüllung finden, die sich über Sinn, Moralität und Weltbezug eines Werks hinwegsetzt (wie im Fall des sogenannten Ästhetizismus). Günther Buck hat diese Einstellung die "ästhetische Epoche der Applikation" genannt. 23 Gemeint ist die Ausklammerung des moralischen Interesses in der ästhetischen Distanzierung eines Zuschauers, dem der Gegenstand an sich selbst gleichgültig bleibt und der kein anderes Interesse an den Handlungen und ihrer Moralität nimmt, als das Geschaute oder Gehörte ästhetisch zu genießen. In dieser Einstellung geht indes ästhetische Praxis keineswegs auf. Wenn hier - wie Martin Seel treffend bemerkt - "ein Spektrum von Einstellungen der Teilnahme und des Abstands gegenüber der lebens weltlichen Wirklichkeit durchspielt" wird, so doch nicht nur "um des sich damit eröffnenden Spielraums willen". 24 Im ästhetischen Suspens, oder anders gesagt: im "Spielraum anschauungserfüllter Freiheit"2!1 wird zugleich die Möglichkeit eröffnet, zu verstehen, "was uns dazu bewegt, nicht erlebtes Unglück und nicht begangene Schuld zu beklagen"26, mithin sich anzueignen, wofür ein Werk der Kunst beispielhaft sein kann. Solches Verstehen ist ästhetisch und cum grano salis moralisch zugleich, auch wenn es keine normative, Ethik des Ästhetischen' zu begründen vermag. Die Sentenz: "tout comprendre, eest tout pardonner" , impliziert diese Leistung des exemplarischen Verstehens, zeigt aber auch das Risiko an, dabei der Verfüh23 G. Buck 1967 (wie Anm. 21), S. 172. 24 Martin See! (wie Anm. 2). 25 Ebd.; inzwischen hat M. Seel in der ausgeführten Fassung seines zitierten Artikels (noch ungedruckt) gegen ultramodeme Tendenzen selbst den Standpunkt vertreten, daß .. eine differenzierte ästhetische Praxis ( ... ) doch eine Disposition zur Moral enthält, wenngleich eine höchst ambivalente" - eine Disposition, die meiner Unterscheidung von normativer und explorativer Moral durchaus entspricht. 26 Oscar Wilde, zitiert nach J. L. Borges: Gesammelte Werke SIll, S. 211.
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rung des Ästhetischen zu erliegen und das Ansinnen eines kritischen moralischen Urteils zu verfehlen. Wie die explorative Moral hingegen im ästhetischen Verstehen exemplarisch und kritisch zugleich werden kann, möchte ich zum Abschluß meiner Betrachtung über das Verhältnis von Ästhetik und Moral noch an einem Problem erörtern, das gegenwärtig viel diskutiert wird: das Problem von Recht und Moral, von Gesetzeskraft und Gerechtigkeit.
IX. Daß im Medium der literarischen Fiktion der moralische Gesichtspunkt immer schon geltend gemacht und dabei gerade auch das Ungerechte an der Gerechtigkeitz 7 aufgedeckt wurde, hat Lichtenberg wohl am schärfsten gesehen: "Denn obgleich im gemeinen Leben unter dem geschriebenen Gesetz und vor dem menschlichen Richter die Entscheidung über den Charakter leicht sein mag, so ist es doch, wo nicht eine einzige Tat gerichtet, sondern auf den ganzen Charakter geschlossen werden soll, sehr schwer und vielleicht unmöglich in einem besonderen Fall zu sagen, was ein Bösewicht sei; und an Wahnsinn grenzende Vermessenheit zu sagen, derjenige der aussieht wie der Kerl, den dieses oder jenes Städtchen für einen Bösewicht hält, ist auch einer. "11 Dies läßt sich hier an einem besonderen Fall konkretisieren, dem öffentlichen, zur gerichtlichen Verfolgung führenden Skandal, den Flauberts Madame Bovary 1857 ausgelöst hat. Flauberts Roman demonstriert den moralischen Anspruch des Ästhetischen, auf den sich die aktuelle Debatte über das Verhältnis von Recht und Moral offenbar noch kaum eingelassen hat, auf das eindrucksvollste. Denn hier geriet die Anklage auf Verstoß gegen die guten Sitten, auf eine vermeintliche Verherrlichung des Ehebruchs und auf Verletzung des religiösen Gefühls offensichtlich in eine moralische Aporie. Sah sich der Staatsanwalt doch genötigt festzustellen, es finde sich in diesem Roman keine Person, die über Emma den Stab hätte brechen können. Es ist dies eine Aporie von der Art, wie sie Jacques Derrida vor Augen hat, wenn er neuerdings erweisen will, daß erst und gerade die Dekonstruktion den Diskurs über Gerechtigkeit ermöglicht habe, sofern sie den Widerspruch zwischen dem stets auf Gewalt fußenden
27 S. dazu B. Rüthers: DtIS U"gn-uhtt." dn- G~ruhtjglt~il. Zürich 1993. 28 In: Obn- Physiog"omilt. zitien nach: D~"lSchn- G~ist. Frankfun 1969. S. 156.
2. Hermeneutische Moral
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Recht und der de facto nie ganz einlösbaren Gerechtigkeit aufdecke. 29 Dem ist entgegenzuhalten, daß die Dichtung nicht erst seit Flaubert, sondern immer wieder neu diesen Diskurs geführt und damit Gerechtigkeit, von der man - wie Derrida meint - nicht unmittelbar sprechen kann, ohne sie zu verraten (S. 21), im Medium der Fiktion erfahrbar gemacht hat. Wenn es zutrifft, daß Gerechtigkeit nicht warten darf (S. 53), geschweige denn auf einen messianischen Endhorizont verschoben werden kann (S. 56), so hat dies die Literatur nicht nur seit jeher beunruhigt, sondern sie auch dazu geführt, Gerechtigkeit für diese Welt zu fordern und im irdischen Jenseits der Dichtung vor Augen zu stellen. Und dies nicht allein durch die utopische Gestalt poetischer Gerechtigkeit, sondern auch durch das ihr eigene Vermögen, das Verhalten und Schicksal eines anderen Subjekts verstehbar zu machen und damit seinem fremden Willen gerecht zu werden. Insofern ist der Ausgang der Madame Bovary im doppelten Sinne gerecht: einerseits, weil der Verführer Rodolphe zwar nicht bestraft, dafür aber in der Hohlheit seines Wesens implizit gerichtet wird, andererseits, weil Charles durch einen Akt verzeihenden Verstehens ausgezeichnet bleibt, der Emmas Schicksal allein gerecht wird. Gerecht nun nicht mehr zufolge eines allgemeinen, imperativischen Prinzips formaler Gerechtigkeit, wohl aber im konkreten Sinn freiwillig erwiesener Solidarität, die sich allem rechtlich nonnierbaren Verhalten entzieht.
x. Hier tritt zutage, was es besagen kann, wenn J ürgen Habermas die These vertritt, daß "die deontologisch begriffene Gerechtigkeit (... ) als ihr Anderes Solidarität fordertM .)0 Demzufolge setzt der moralische Gebrauch der praktischen Vernunft dort ein, wo ihr ethischer Gebrauch endigt: an der Grenze zwischen dem Guten und dem Gerechten, nämlich dort, wo das Subjekt auf die Realität des fremden Willens stößt, mithin bei der Beurteilung der Rolle, in der das andere Subjekt begegnet (S. 116). Der Schritt zu einer Diskurstheorie der Moral bringt bei ihrem intersubjektiven Ansatz indes die Schwierigkeit mit sich, die Bildung von Solidarität hermeneutisch zu begründen. Für die Übernahme der Perspektive des Anderen ist die "Bedingung einer sympathetischen Einfühlung in seine Situation M, 29 In: GesetusItTa/t. Der mystische GTllnd deT A"toriliit. Frankfun 1991. 30 ETlii"terllngen ZIIT Disltllrsethilr. Frankfun 1991. S. 70/73.
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geschweige denn einer unmittelbaren Identifikation, nicht hinreichend (5. 58/73), fielen solche Bedingungen doch wieder in eine affirmative, von Habermas sonst abgewiesene Hermeneutik zurück. Statt dessen erbringt die literarische Hermeneutik Muster verstehender Aneignung der reziproken Perspektiven, die in der ausgespielten Dialektik des Eigenen und des Fremden den Spielraum für moralische Beurteilung erst eigentlich eröffnen. Muß nicht auch, bevor "solidarische Einfühlung eines jeden in die Lage aller anderen" erwartet werden kann (5. 73), das Verstehen erst dem Einzelnen in seiner Andersheit gerecht werden, soll sein "Recht, für den anderen ein Fremder zu bleiben" (5. 116), nicht wieder im Namen eines allgemeinen Begriffs der Gerechtigkeit verletzt werden? Hier scheint es geboten, die Diskurstheorie der Moral an die moralistische Tradition der Literatur zu erinnern. Zum einen, weil das ästhetische Urteil das Muster einer Entscheidung abgeben kann, die nicht einfach einer vorgegebenen Regel folgen darf und auf die freiwillige Beipflichtung der Anderen angewiesen ist, mithin den vielumstrittenen idealen Dialog antizipiert. 11 Zum andern, weil die nicht normative, sondern explorative Moral des Ästhetischen von Haus aus darauf angelegt ist, die egozentrische Perspektive des vereinzelten Subjekts wie den begrenzten Horizont einer konkreten Lebenswelt zu überschreiten. Wenn unsere politische Erfahrung daran zweifeln läßt, daß Argumentationen - wie Habermas behauptet - "per se über partikulare Lebenswelten hinausreichen" (5. 71), könnte er auf ästhetische Erfahrung rekurrieren. Vermag sie doch mit der Kraft des Exemplarischen per se das Moralische wachzurufen und einem Urteil anheimzustellen, das im Verstehen der Anderen Solidarität zu bilden vermag. 32
31 Dazu Vf.: .Anmerkungen zum idealen Gespräch-. in: PH XI. S. 467-i72. 32 Es fällt auf. daß Habtrmas bei seinem Versuch. Recht und Moral einander wieder näherzurücken. den Spielraum zwischen Gesetzgebung und Gesetzeskonkretisation nicht besser nutzt. Daß ein besonderer Fall sich der Subsumtion unter eine Rechtsnorm entziehen und dazu nötigen kann, deren Bedeutung übtr ihre ursprüngliche Intention hinaus anders zu konkmisieren oder neu auszulegen. so daß das Urteil zum rechtsschöpferischen Akt werden kann, eröffnet in der Rechuanwendung einen Spielraum für moralische Beurteilung, dem beim ästhetischen Urteil das Verhälmis von Einzelwerk und ästhetischer Norm vergleichbar ist. Dem enupricht Konkretisation als Schlüsselbegriff der literarischen Hermeneutik (s. dazu Vf.: D;~ R~uptions th~om. Konstanz 1987, S. 13 ff). Die juristische Theorie der fortschreitenden Konkretisation von Gesetzesnormen bleibt auch bei Derrida unerwähnt. der darum mit seiner Beschreibung der Aporie von Gesetz und Fall (S. 46 ff.) offene Türen einrennt.
3. Tout comprendre, c'est tout pardonner Die folgende Betrachtung soll die Frage nach der bisher ungeklärten Herkunft des Diktums aufnehmen und den Spuren seiner Rezeption als Sentenz nachgehen. Dabei verlohnt es sich, erst noch einen Blick auf die französische Wortgeschichte zu werfen, ergänzend zu der schon erstellten deutschen (Kap. 1).
I. Das Französische verfügt für das deutsche verstehen über zwei Verben: comprendre und entendre, deren Bedeutungsunterschied vorab zu klären ist. Er läßt sich pauschal durch einen aktiven und einen passiven Wortsinn charakterisieren. Die Ausgangsbedeutungen sind: comprendre von lat. comprehendere meint sowohl umfassen als auch begreifen, wie am schönsten aus dem Pascalzitat : "Roseau pensant ... par l'espace, l'univers me comprend et m'engloutit comme un point; par la pensee, je le comprends", erhellt (Robert, Nr. 1). I Entendre von lat. intendere meint sowohl vernehmen (hören) als auch wahrnehmen oder bemerken (seine Aufmerksamkeit auf etwas richten), aber auch beabsichtigen. Der passive und der aktive Wortsinn von Verstehen kommt in dem Racine-Zitat klar zum Vorschein: "Que dirai-je, Madame, et comment dois-je entendre / Cet ordre, ce discours que je ne puis comprendre?" (Nr. 14). Comprendre geht stets von einem willentlichen Akt aus, jemand oder etwas begreifen zu wollen, während entendre einen empfangenen, hinfort vertrauten Sinn voraussetzt, wie schon aus den Ronsard-Versen hervorgeht: "Que sert, dit Salomon, toutes choses entendre, / Rechereher la nature et la vouloir comprendre, / Vouloir pari er de tout, et toutes choses voir" (N r. 9). Daß das deutsche Wort die Unterscheidung zwischen passivem Im F. wird aus P. Roben: Dictionnaire alphabetique et an4loqique de la langue fran~aiset Paris 1963, S.v. comprendre bzw. entendre, nur mit Angabe der Belegnummer (kursiv für entendre) zitiert. Bei den folgenden Textausgaben wird gleichfalls durchgängig nur mit Seitenzahl im Text zitien.
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und aktivem Verstehen nicht wie franz. entendre vs. comprendre ausdrücklich macht, dürfte zum Mißverständnis der deutschen Hermeneutik in französischer Kritik beigetragen haben. 1 So unterstellt Lacan in La direction de la eure et [es principes de son pouvoir Jaspers einen autoritären Begriff des Verstehens, wenn er behauptet: "j'entends ici comprehension au sens nefaste Oll il a pris sa cote de Jaspers. , Vous eomprenez: -', exorde par Oll croit en imposer a qui ne comprend rien, celui qui n'a rien alui donner acomprendre."] Die deutsche Wendung: ,Sie verstehen!' soll für den auf Beherrschung des Patienten zielenden "discours de conviction ce einstehen und damit Lacans Postulat verletzen, daß der Analytiker kein vorgängiges Wissen im Dialog ausspielen darf. Als ob die französische Wendung: ,Entendez-vous?" nicht gleichermaß~n gebraucht würde, um einem Befehl oder einer Drohung Nachdruck zu verleihen! Eine semantische Betrachtung.. der französischen Begriffsgeschichte zeigt, daß eomprendre und entendre oft promiscue gebraucht werden. Wenn die feinere sprachliche Unterscheidung von passivem und aktivem Verstehen seltener getroffen wird, mag dies wohl auch daran liegen, daß sich passives und aktives Verstehen hermeneutisch nicht in allen Fällen scheiden lassen: in der Hin-und-HerBewegung des dialogischen Verstehens setzen sich die Positionen des hörenden Aufnehmens und der intentionalen Vorgabe einer Rede wechselseitig voraus. Ihr ständiger Wechsel charakterisiert eine symmetrische Situation der Kommunikation; sie wird asymmetrisch, wenn ein Gesprächspartner einseitig auf der aktiven Rolle beharrt. Er kann diese verbergen, wenn er den Andem eine insinuierte Bedeutung selbst erraten läßt, wofür als Seitenstück zu ,etwas zu verstehen geben' ein laisser entendre oder donner entendre eintritt. Analog zum Deutschen finden wir im Französischen zunächst den Gegensatz von ,etwas verstehen' und ,einander verstehen'. Eine Sache verstehen kann mit eomprendre wie mit entendre ausgedrückt werden (comprendre une matiere, entendre une plaisanterie); doch tritt ein Unterschied beim Intensivum ,sich auf eine Sache verstehen' zutage, wenn Robert kommentiert: "j'entends I'allemand, je le sais, j'y suis habile; je comprends I'allemand dirait moins" (Nr. 21). Man kann ,das versteht sich' sowohl mit: eela se eomprend de soi wie mit eela s'entend wiedergeben. Doch für "comprendre un peu, en panie" könnte ein ,j'entends un peu' nicht eintreten, wie auch einem bien entendu (wohlverstanden!) kein ,bien compris' zur Seite steht.
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2 Freundlicher Hinweis von Claus von Bormann. 3 In: Ecrits t Paris: Ed. du Seuil, 1966, S. 635 f.
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Offenbar scheint für entendre zu gelten, daß man den Sinn einer Sache synthetisch sogleich spontan und ganz aufnimmt und ihn anders gar nicht verstünde, wohingegen comprendre ein Verstehen erfordert, das analytisch im Schritt oder in Schritten des Begreifens vorgeht. In dieser Hinsicht findet sich bei Moliere: "cette lenteur a comprendre ... est la marque d'un bon jugement" (Nr. 6), oder bei Gide: "Ce n'est pas du tout qu'elle soit incapable de comprendre; mais elle veut trop vite avoir compris" (Nr. 12). Der Sprachskepsis Valerys ist alles spontane Verstehen suspekt: "Qui se hate a comprn; il ne faut point s'appesantir: on trouverait que les plus clairs discours sont tissus de termes obscures" (Nr. 11). Sobald sich die Reflexion in das vermeintlich Verstandene vertiefe, werde der Sinn der Worte selbst noch in einer klaren Rede dunkel. Die täuschende Evidenz des Verstehens muß durch bezweifelnde Verzögerung gebrochen werden. Sich selbst verstehen (wofür nur: s'entendre soi-meme üblich ist), bewahrt nicht vor Selbsttäuschung, die lange anhalten kann: "j'ai mis a comprendre que mon aprete etait un mensonge, autant de temps qu'a devenir vieille" (Co lette, Nr. 23). Das reziproke ,einander verstehen' kann französisch sowohl mit se comprendre run rautre als auch mit s'entendre wiedergegeben werden: "A force de silence nous sommes a peu pres parvenus a nous eni:endre" (Gide, Nr. 83). Dabei kehrt die emphatische, zuerst bei Goethe gefundene Gleichsetzung von Lieben und Verstehen wieder, bei Verlaine: ,,(Une femme qui) m'aime et me comprend" (Nr. 29) oder bei Bernanos: "Je ne dedaigne pas les autres. Bien loin de les dedaigner, je souhaiterais mieux les comprendre, car comprendre c'est deja aimer" (Nr. 34). Das Moment der Billigung erscheint im Sinne von sich verständigen als s'entendre avec: "vous croyez bien que je ne veux point m'entendre avec vos ennemis" (Sevigne, Nr. 79), aber auch im Sinne von einwilligen: ,,11 n'en voulut jamais entendre parler" (Bossuet, Nr. 44), oder auch: ,,0 toi qui sais aimer, reponds, amant d'EIvire / Comprends tu que l'on parte et qu'on se dise adieu" (Musset, Nr. 15). Die Sentenz: "tout comprendre, c'est tout pardonner" , setzt nach alledem den aktiven Sinn des einander Verstehens voraus.
11. So geläufig diese Sentenz auch ist, blieb bislang doch unaufgehellt, von wem sie in ihrer lapidaren Form geprägt und wie sie zum geflügelten Wort geworden ist. Büchmann zitiert Fontanes fenny Treibel (1892), wo sie Mme de Stael zugeschrieben und zugleich als Quintes-
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senz ihres Lebens erklän wird: .,Und fast ließe sich sagen, ,Ies defauts de ses venus' und ,comprendre, c'est pardonner' - das sind so recht eigentlich die Sätze, wegen deren sie gelebt hat" .4 Doch die einschlägige Stelle in Corinne ou 1'1talie (1809) hat noch nicht den Wonlaut in seiner prägnant symmetrischen Form, sondern umschreibt ihn wie folgt: .,car tout comprendre rend tres indulgent, et sentir profondement inspire une grande bonte" (XVIII, v). Büchmann verweist noch auf mögliche lateinische Vorgänger: .,Aequum est vos cognoscere et ignoscere." So endet der Prolog in Terenz' Eunuch, darauf bezogen, daß das Publikum das Stück erst einmal kennen lernen solle, um sodann über den Vorwurf eines Plagiats gerecht uneilen zu können. Das vorausgesetzte Wonspiel cognoscere / ignoscere stammt aus der Rechtssprache. Don verlangt die sogenannte Inquisitionsmaxime, daß erst der Sachverhalt zu erforschen sei, bevor über einen Fall befunden werden kann (ignoscere meint auch begnadigen). So zum Beispiel in Ciceros Pro Rascio Amerino: .,tametsi non modo ignoscendi ratio, verum etiam cognoscendi consuetudo iam de civitate sublata est" (§ 3). Sollte unsere Sentenz vielleicht noch auf das Rechtsverhältnis von Erkennen und U neilen zurückweisen? Das hermeneutische Problem intersubjektiven Verstehens stellt sich don indes noch nicht. In der theologischen Tradition andererseits findet sich ein Diktum, das eine mögliche Voraussetzung unserer Sentenz benennt. Es lautet bei Bernhard von Clairvaux: .,Res in tantum intellegitur, in quantum amatur. "s Etwas oder jemanden zu lieben kann Verstehen eröffnen und veniefen: .,Mit jedem Grad veniefteren Verständnisses muß das Gefühl der Zuneigung wachsen, das aus der Venrautheit kommt und das man gemeinhin als, Liebe zur Sache' bezeichnet. " Diese Erläuterung stammt von einem aller Mystik unverdächtigen Naturwissenschaftler, Huben Markl, der sich mit der Devise: ., Wer liebt, der forscht", gegen das Voruneil wendet, die wissenschaftliche Erforschung der Natur und die Liebe zu ihr schlössen einander aus." Solche Liebe zur Sache hat ihr implizites Vorbild in der verstehenden Liebe zu einer Person. Der weitere Schritt vom einander Verstehen zum einander Verzeihen setzt sie voraus. Dieses Verhältnis kann indes erst im vollen Sinne wechselseitig werden, wenn der Akt des Verzeihens aus einer moralischen Anerkennung des Andem hervor4 Fontane: Siimtlicht ~kt, München 1963, Bd. 4. S. 359.
5 Zilien bei Reichen: Urb"n IInJ hllwwn - Gttl4nktn ;;btr Llttinischt Sprichwörter, Frankfun 1992, S. 175. 6 ~ Iitbt. tkr forscht, in: FAZ Nr. 145,26. Juni 1993.
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geht, die keiner vermittelnden Instanz mehr bedarf. Es ist darum zu erwarten, daß unsere Sentenz erst dann Geltung erlangen konnte, als sie die Stelle der göttlichen Gnade einnahm, die alles menschliche Verstehen und Verzeihen übersteigt.
IU. Dabei wäre noch an eine andere Herkunft der Sentenz zu denken: die Geschichte der Beichtpraxis, der Foucault in La volonte de savoir (1976) nachgegangen ist. Danach bestand die einschneidende Veränderung der Beichtvorschriften in einer Forderung, die zuvor nur in der mönchischen Askese praktiziert wurde: nicht allein Handlungen, die gegen die Gebote verstießen, sondern alle geheimen Regungen, Vorstellungen und Wünsche zu beichten, die insbesondere die geschlechtliche Begierde in Körper und Seele auszulösen pflegt. So fordern zum Beispiel die Vorschriften zum 6. Gebot, alles zu sagen: "non seulement les actes consommes mais les attouchements sensuels, tous les regards impurs, tous les propos obscenes ... , toutes les pensees consenties." Von Foucault kommentiert: "Un imperatif est pose: non seulement confesser les actes contraires a la loi, mais chercher a faire de son desir, de tout son desir, discours. "7 In die Wirkungsgeschichte dieser Vorschriften, die Foucault bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verfolgt, hätte er auch den so berühmten wie berüchtigten Eingang von Rousseaus Confessions einrücken können: "j'ai devoile mon interieur tel que tu Pas vu toi-meme!" Denn mit dieser provokativen Usurpation der christlichen Lebensbeichte beansprucht Rousseau nicht allein, von sich selbst rückhaltlos alles zu sagen, was über das sündige Herz zu wissen sich bisher Gott allein vorbehalten hatte. Sondern ineins damit beansprucht seine literarische Selbstoffenbarung auch nichts weniger, als seinen Freispruch zu erlangen, mithin seine Absolution selbst in die Hand zu nehmen. Will er doch mit seinem Buch vor die ganze Menschheit treten und an sie als richtende Instanz appellieren: "Que chacun d'eux decouvre a son tour son cceur aux pieds de ton trone avec la meme sincerite; et puis qu'un seul te dise, s'il Pose: je fus meilleur que cet homme-Ia. "8 Der Anspruch des autonomen Individuums, von sich selbst alles Gutes wie Böses - sagen zu können, schließt für Rousseau seine moralische Rechtfertigung ein. Wer sich aufrichtig und rückhaltlos 7 La volonte de savo;r, Paris 1976, S. 29/30. 8 S. dazu im einzelnen Vf., in: ÄE, 5.232 H.
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("tout dire") zu sich selbst bekennt, muß auch als Mitmensch im Letzten verstanden werden. Wer wollte ihm dann noch seinen Freispruch versagen? Bedenkt man die außerordentliche Wirkung Rousseaus, so kann man sich fragen, ob seine kühne Proklamation des Eigenrechts eines neuen bürgerlichen Selbstgefühls nicht die Erwartung hinterließ, die sich in der Sentenz Taut comprendre, c'est tout pardonner konkretisiert hat.
IV. Daß Rousseaus Profanisierung von Lebensbeichte und Absolution eine Schwelle markiert, von der an das Paradigma des einander Verstehens beanspruchte, in der sympathetischen Erfahrung der ,schönen Seelen' - dem kommunikativen Ideal der Empfindsamkeit - den Andern ganz zu verstehen, mithin ihn als Individuum selbst noch in seinen Schwächen und Verfehlungen anzuerkennen, bestätigt ein Blick auf französische Vorstufen unseres Diktums. Hier wäre vor allem La Rochefoucaulds Sentenz: "On pardonne tant que l'on aime" (Nr. 330), anzuführen. Daß man verzeiht, solange man liebt, erklärt sich hier indes schwerlich aus einem wechselseitigen Sich-Verstehen. Es läßt sich vielmehr als Folge der blinden, aller Kontrolle von Vernunft und Willen entzogenen Macht der Liebesleidenschaft (amour passion) erklären. Für die Moralistik wie für die tragische Dichtung der französischen Klassik gilt: "Die Leidenschaft, deren zusammenführende Macht das Verstehen am ehesten fördern müßte, ist ihm am meisten fremd. "9 Solange die moralistische Anthropologie darauf bedacht ist, im Widereinander von Leidenschaft und Vernunft, Begehren und Verstehen, vornehmlich die dem Bewußtsein verborgenen allgemeinen Beweggründe menschlichen Handelns und Denkens aufzudecken und auf den "amour propre" als ihren letzten Antrieb zurückzuführen, kann sie den Mitmenschen noch nicht in seiner Individualität begreifen. Welche Barrieren zu überwinden waren, um ein reziprokes SichVerstehen im Andern - das kommunikative Ideal der heraufkommenden bürgerlichen Gesellschaft - anzubahnen, zeigt am schärfsten die Princesse de Cleves der Mme de La Fayette. Dieses Gipfelwerk der französischen Klassik markiert zugleich eine epochale Schwelle: den Bruch zwischen der höfischen Konvention der Bienseance, von der 9 G. Hess. in seiner noch unersetzten Einleitung zu Mme de La Fayette: Die Prinzessin flon CktJts. Wiesbaden 11949, 5.246.
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vornehmlich Selbstkontrolle, ja Selbstverbergung gefordert wurde, und dem Risiko eines neuen Vertrauens auf Aufrichtigkeit, das der Roman in einer Geständnisszene gipfeln ließ, die von den Zeitgenossen als skandalös aufgenommen wurde. Den allmählichen Prozeß der Grenzüberschreitung von den alten Idealen, der honnetete, der flatterie und der dissimulation zu den neuen, erst tastend formulierten Werten der franchise, der con{tance und schließlich der sincerite in der französischen Klassik hat zuletzt Roland Galle ans Licht gerückt. 10 Er erkannte in der Geständnisszene der Princesse de eleves zu Recht das experimentum crucis, das den Weg zur Selbsterfahrung des Subjekts eröffnen und als immer wieder ausgelotetes Grundmotiv für den bürgerlichen Roman konstitutiv werden soUte. Hier interessiert vornehmlich das Problem des reziproken Verstehens, das sich für Mme de La Fayette mit der Erprobung der sincmte stellte - ein für sie noch unlösbares Problem, an dem sie ihre HeIdin scheitern ließ. Noch nie habe eine Person eine so große, natürliche Aufrichtigkeit ausgezeichnet - so wird Mme de Cleves gleich eingangs charakterisiert. 11 Dieser Superlativ bewahrheitet sich nicht allein in dem, unerhörten Wagnis' eines Geständnisses vor dem Gemahl, das niemand von ihr erwarten konnte, sondern schließlich auch in der Absage an den Geliebten, als ihrer Verbindung am Ende kein Grund mehr entgegenzustehen schien. Will man in der Geständnisszene, in der sie vor ihrem Gemahl niederkniet, das Muster des Aktes einer Beichte erkennen, so wird hier die religiöse Institution aber zugleich profaniert. Denn Mme de Cleves hat nichts zu gestehen, was gegen Sitte und Religion verstoßen würde. Ihr Geständnis, daß sie sich künftig nicht mehr den Gefahren des Hofes ausgesetzt sehen möchte, erscheint auf den ersten Blick als ein Akt zur Bewahrung ehelicher Treue. Doch dieses Geständnis häne keine gesellschaftliche oder religiöse Norm erfordert, da es nurmehr als Bekundung ihrer Aufrichtigkeit verstanden sein will und sie darum allem Mißverständnis aussetzen muß. ,Aufrichtigkeit' ist in der Tat kein Begriff der vorgängigen Tradition antiker Ethik oder christlicher Moral. Die Forderung der Aufrichtigkeit ist - wie Lionel Trilling nachwies - erst seit der Epoche Montaignes und Shakespeares an eine Person gestellt worden. Ihr locus classicus ist die Maxime des Polonius im Hamlet: "To thine own self be true", mit der Folgerung, daß darauf moralische Verläß-
10 Grst.ndnis "nd S"bjelrtwiliit. München 19116. Kap. AI. 11 Mme de u Fayme: La prinasse tk ClkJes. Paris 1947: l.es Editions des QuaueVents. S. 85.
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lichkeit beruhe: "Thou canst not then be false to any man. "11 Der langsame Durchsetzungsprozeß dieser ethischen Norm neuzeitlicher Subjektivität ließe sich an einer Reihe großer Texte erläutern: sie verstrickt Cordelia im King Lear in den tödlichen Konflikt mit dem Vater, sie fühn Molieres Misanthrope in seine unentrinnbare Einsamkeit und sie erfüllt das humane Venrauen, daß rückhaltlose Aufrichtigkeit die verstehende Anerkennung durch den Andern bewirken könne, erst in der "unerhönen Tat", mit der Goethes Iphigenie das Einvernehmen mit König Thoas zu erzielen vermag. U Im Fall der Princesse de Cleves muß das Wagnis der sincerite scheitern, weil ihr Geständnis, das als ein außergewöhnlicher Akt ehelicher Treue erscheint, im Grunde ein egoistischer Akt der Abwehr ihrer erwachenden Zuneigung für einen Dritten ist, die ihr Geständnis verbirgt, aber doch auch wieder erraten läßt. Insofern bleibt ihr außergewöhnliches Verhalten, dessen sie sich selbst rühmt ("il faut avoir plus d'amitie et plus d'estime que I'on a jamais fait son mari", S. 214), im Schein der Wahrhaftigkeit letztlich zweideutig. Der semiotische Spielraum ihres Verhaltens in dieser und in anderen Szenen ist - wie Karlheinz Stierle zeigte - "ein Raum des beweglichen Sichvorwagens und Zurückziehens ( ... ), in dem das Ich sich zeigt und verbirgt, sich im Verbergen enthüllt und in diesem Enthüllen schon von neuem verbirgt". 14 Die Ambiguität ihrer Wahrhaftigkeit verschließt sich dem unmittelbaren Verstehen und entfremdet sie gleichermaßen dem Gemahl, der einer unentrinnbaren Eifersucht erliegt, wie dem geduldigen Liebhaber, den ihr Liebesverzicht der Verzweiflung überläßt. Die Aufrichtigkeit der Princesse de Cleves entspringt dem Egoismus einer angstvollen Selbstbewahrung. Sie schreckt davor zurück, sich selbst in ihrer ehelichen Rolle wie in ihrer Liebesleidenschaft zu bejahen. Ihre Selbsterfahrung vermag sich noch nicht in der Begegnung und im Austausch mit der Person des Anderen zu bilden. Liebe, die dieses wechselseitige Verstehen erforden, und Leidenschaft, die eine Liebesbeziehung im Ich-Du-Verhältnis über alles Rollenverhalten hinauszuführen verspricht, scheinen hier noch unvereinbar zu sein. Die Liebesleidenschaft läßt sich hier noch nicht
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12 Sincnity lind Allthtnticily, Harvard University Press, ~1974. 13 Zu King ullr s. U. Kap. 7; ferner Vf.: .Der Menschenfeind als Menschenfreund (Ein ,Charakter' im Horizontwandd des Ventehensr. in: Frllnzösuchr KJ.ssik, hg. F. Nies/K. Stierle, München 1986. S. 295; den.: .Raeines und Gocthes Iphigmü·. in: ÄE, S. 704-734. 14 In: .Die Modernität der französischen Klassik-Negative Anthropologie und funktionaler Stil-, in: Frllnzösischr KI.ssilt. wie Anm. 13, S. 53.
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zur Selbsterfahrung interiorisieren, weil Liebe als Leidenschaft für eine und nur diese Person als blinde Elementargewalt erfahren wird, die aller Vernunft wie dem eigenen Willen spottet, so daß die Betroffene entdecken muß: "toutes mes reflexions sont inutiles; je pensais hier tout ce que je pense aujourd'hui, et je fais aujourd'hui tout le contraire de ce que je resolus hier" (S. 209). Die Leidenschaft der Liebe, derer sich Mme de Cleves mit ihrem Geständnis zu erwehren sucht, entzieht sich als fremde Macht nicht nur dem eigenen Verstehen, sondern verstrickt, ständig geschürt durch die äußere Verkettung eines undurchdringlichen Zufalls, alle Betroffenen in das Verhängnis eines wachsenden Mißverstehens. Es verschuldet den Tod des Gemahls und kann auch am Ende, wenn der Duc de Nemours gesteht, das erste Geständnis der Mme de Cleves belauscht zu haben, durch kein Verzeihen mehr behoben werden: "Ne vous excusez point, reprit-elle; il y a longtemps que je vous ai pardonne, sans que vous m'ayez dit de raison" (S. 301). Was sie längst verziehen hat, vermag kein zukünftiges Einvernehmen mehr zu begründen, obschon dem kein äußerer Grund mehr entgegenstünde. Dieses letzte Gespräch - das erste und einzige unter vier Augenendet in einem wiederum paradoxen Akt der Aufrichtigkeit: sie gesteht ihre Liebe ein, doch nur, um ihr für immer zu entsagen. Nicht weil sie glaubt, einer Pflicht der Sittlichkeit genügen zu müssen, diewie sie selbst erkennt - vielleicht nur noch in ihrer Einbildung bestünde (,,11 est vrai, repliqua-t-elle, que je sacrifie beaucoup a un devoir qui ne subsiste que dans mon imagination", S. 309). Sondern weil ihr Mißtrauen inzwischen die Liebe als Passion selbst verzehrt hat. War nicht die Liebe ihres Gemahls so verhängnisvoll, weil sie von ihr nicht erwidert wurde? Und war nicht die Konstanz der Leidenschaft ihres Geliebten von dem gespeist, was ihr entgegenstand, so daß sie, würde sie erwidert, schwerlich ihr Leben überdauern könnte? So ist im Liebesverzicht der Princesse de Cleves, die im Quietimus ihre einzige Zuflucht sieht, schon der circulus vitiosus der Proustsehen Psychologie der Liebe antizipiert, die davon lebt, daß ihr der andere unerreichbar bleibt, und stirbt, sobald er ihr Begehren erfüllt.
v. La Rochefoucaulds Maxime: "On pardonne tant que l'on aime", wird durch den Roman der Mme de La Fayette in ein Zwielicht geruckt, das sie möglicherweise selbst in einem Brief an ihre Freun-
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din, Mme de Sevigne, zur Sprache gebracht hat. Dort rückt sie den klaren Sinn der Maxime in eine intrikate moralische Kasuistik: .. Voici une question entre deux maximes: ,On pardonne les infidelites, mais on ne les oublie point' - ,On oublie les infidelites, mais on ne les pardonne point', "15 Daß man verzeihen kann, solange man liebt, wird durch die verfeinerte Argumentation der angeschlossenen Maximen in Frage gestellt: wer eine Verfehlung des anderen verzeiht, hat sie darum nicht einfach vergessen; wer sie bloß vergißt, hat sie damit nicht verziehen. Damit bestreitet Mme de La Fayette offensichtlich die Maxime ihres Freundes La Rochefoucauld, die sie auf eine Untreue zwischen Liebenden bezieht, von der in der dritten Ausgabe der Reflexions morales von 1671 (die dem Brief an Mme de Sevigne vom 14. Juli 1673 vorausging) indes noch nicht die Rede war. In diesem Brief fügte Mme de La Fayette den zitierten zwei Maximen gleich noch zwei weitere hinzu: .. ,Aimez-vous mieux avoir fait une infidelite avotre amant, que vous aimez pourtant toujours, ou qu'il en ait fait une, et qu'il vous aime pourtant toujours?' On n'entend pas par infidelite avoir quitte pour un autre, mais avoir fait une faute considerable." Wollte Mme de La Fayette die Maxime La Rochefoucaulds: .. On pardonne tant que I'on aime", auf ihren Roman (entstanden vor 1672) beziehen, so mußte sie eine Verfehlung nachschieben, die mehr als eine triviale Untreue, also eine .. faute considerable" war. Was ihr vorschweben konnte, liegt nahe: das Verhalten ihrer Heidin war keine triviale "infidelite" und doch in den Augen der Gesellschaft eine .. faute considerable"! Wir bekommen damit den Anfang einer Konversation vor Augen, wie sie in den Salons der französischen Klassik auf höchstem Niveau geführt wurde: die im Gespräch weitergeführte Erprobung und Kritik moralischer Sätze. Zwar ist meines Wissens keine Äußerung La Rochefoucaulds zur Princesse de eleve überliefert. Doch ließe sich sein mögliches Urteil wohl rekonstruieren, wenn man Maximen, die sich mit Untreue befassen und in die vierte Ausgabe (von 1775) eingeschoben sind, als Replik auf die Kritik an seiner Maxime: "On pardonne tant que I'on aime" versteht, die der Brief seiner Freundin bewahrt hat. Auf ihren Roman bezogen wird der dunkle Sinn seiner folgenden Maxime sogleich evident: "Les infidelites devraient eteindre l'amour, et il ne faudrait point etre jaloux, quand on a sujet
15 Rijk"ions morales. in: (EutJres Complites. ed. L. Martin-Chauffier. Paris: Ed. de la Pleiade, 1950, S. 293, mit Anm. S. 649. die den Hinweis auf den Brief der Mme de La Fayette an Mme de 5evigne vom 24. Juli 1673 bringt.
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C'CSl
[out pardonner
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de l'etre: il n'y a que les personnes qui evitent de donner de la jalousie qui soient dignes qu'on en est pour elles" (Nr. 359). Der Vordersatz klammert die triviale Untreue als unproblematisch, da keine Eifersucht wert, aus; der Nachsatz mit dem Paradox einer Eifersucht, die der geliebten Person keine Verfehlung vorwerfen kann, trifft genau die Situation von Monsieur de Cleves und interpretiert sie im Sinn der Autorin. Die folgende Maxime hingegen: "La violence qu'on se fait pour demeurer fidele ace qu'on aime ne vaut guere une infidelite" (Nr. 381), könnte die Situation von Madame de Cleves treffen, nun aber nicht mehr im Sinne der Autorin interpretieren. Im Blick darauf übersetzt: der Zwang, den sie sich auferlegt, um der geliebten Person treu zu bleiben, sei kaum besser als darauf zu verzichten, ihr untreu zu werden. Dabei stört, daß sich die Prinzessin im Roman genötigt sieht, dem Gemahl die Treue zu wahren, ohne seine Liebe noch erwidern zu können. Nimmt man diese Komplikation in Kauf, so bleibt die Kritik La Rochefoucaulds - wenn es denn eine war - gleichwohl in einem letzten Suspens. Der Zwang, Treue zu wahren, ist nicht besser, als eine Untreue zu begehen; das eine zu tun wiegt kaum auf, das andere zu lassen - eine Einschränkung, mit der die moralische Kasuistik unentscheidbar wird. Die Maxime: "On pardonne tant que l'on aime", von der diese Debatte ausging, kehrt verschiedentlich wieder. Sie wird im planen Sinn von Rousseau mit: "Une erreur involontaire se pardonne et s'oublie aisement" (Robert Nr. 22), und später bei Leconte de Lisle mit: "Je te pardonne tout, et veux tout oublier" (Nr. 5), aufgenommen, während Balzac mit: "On peut pardonner, mais oublier, c'est impossible" (Nr. 8), Verzeihen und Vergessen für unvereinbar hält und damit der Maxime La Rochefoucaulds wie schon Mme de La Fayette widerspricht. Ein Verzeihen, das die Verfehlung des Andem nicht einfach vergessen lässt, als ob sie das Verhältnis der Liebenden nicht berührt hätte, setzt ein Verstehen voraus, das auch die Verfehlung einbegreift und dem Andern im vollen Sinne verzeihen kann, weil es ihn auch noch in seiner Unvollkommenheit anerkennt. Ein solches Verstehen, das sich selbst im Andem, im Eigenen das Fremde erfährt und damit zur Bejahung des Individuellen gelangt, steht den Liebenden im Roman der Mme de La Fayette nicht zu Gebote, die ihre Leidenschaft als fremde Gewalt und noch nicht als Ausdruck ihres eigenen Wesens erfahren. Blickt man weiter auf die Nouvelle He[o;se, in der Rousseau die Transparenz des Selbstgefühls gerade in den Ekstasen wechselseitiger Liebesleidenschaft entdekken wird, so ist damit eine Grenze der von Karlheinz Stierle beschriebenen negativen Anthropologie der französischen Klassik
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überschritten \6, vor der den Liebenden - mit Goethe zu sprechen - das Glück der sich verstehenden Liebe noch versagt bleiben mußte.
VI. Zwischen der französischen und der deutschen Klassik liegt eine EpochenschweUe: die Durchsetzung des bürgerlichen Selbstgefühls, das sein kommunikatives Ideal in der Empfindsamkeit sah und Verstehen als ein Sich-Verstehen im Andem zum Inbegriff individueller Erfahrung erhob, zu einer Zeit übrigens, in der auch der modernen Hermeneutik die Gebunsstunde schlug. Goethes Gedicht An Frau von Stein, auf das ich anspielte, gibt dem neuen Begriff des individuellen Verstehens, dem" wechselseit'gen Glück", einander liebend zu verstehen ("unser wahr Verhältnis auszuspähen"), den schönsten Ausdruck, den die Aura des Wiedererkennens im Venrautesten ("Ach, du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester oder meine Frau") noch erhöht. Goethe war es auch, bei dem sich schon 1790 eine Verknüpfung von Verstehen und Verzeihen findet, die das Mme de Stael zugeschriebene Diktum vorwegnimmt. Sie ist im Tasso der Prinzessin in den Mund gelegt: Und soll ich dir noch einen Vorzug sagen. Den unvermerkt sich dieses Lied erschleicht; Es lockt uns nach, und nach, wir hören zu, Wir hören, und wir glauben zu verstehn, Was wir verstehn, das können wir nicht tadeln, Und so gewinnt uns dieses Lied zuletzt (v. 1110 ff.).
Es ist ein rühmendes Won an den Dichter, das dieser indes mißversteht, wenn er es auf seine Person bezieht und als Liebeserklärung der Prinzessin aufnimmt (" Welch einen Himmel öffnest du vor mir, / 0 Fürstin!"), was diese doch nur über die Wirkung seines Lieds gesagt hatte. Der Sinn des französischen Diktums taucht hier gleichsam im Kehrspiegel eines fatalen Mißverständnisses auf. Hatte Tasso doch "das Geheimnis einer edlen Liebe / Dem holden Lied bescheiden anvenraut" (v. 1108) und glaubt nunmehr, von der Angebeteten verstanden und ob dieser Kühnheit nicht getadelt zu sein. Die Wone der Prinzessin meinen indes nur die ästhetische Verführung durch die poetische Sprache; sie beschreiben vonrefflich, was man heute mit 16 Wie Anm. 14, S. 94
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Gadamer den hermeneutischen Vorgriff auf Vollkommenheit nennen würde, die Maxime nämlich, sich guten Willens erst einmal auf den Text einzulassen, um ihn in seiner Ganzheit zu verstehen und zu erkennen, ob sich dabei Vorurteile und vorschneller Tadel nicht erübrigen. Tasso hingegen verwechselt solches Verstehen eines Textes mit dem Gefühl, sich vom Anderen verstanden und im Verzeihen anerkannt zu wissen - eine Illusion, die schon sein ganzes weiteres Unglück absehen läßt. Es ist die Selbsttäuschung eines unheilbaren Narzißmus, den sein Gegenspieler Antonio mit der Mahnung trifft: "Inwendig lernt kein Mensch sein Innerstes / Erkennen; denn er mißt nach eigenem Maß" (11, iii). Gerade dies ist für Tasso, den seiner Melancholie zu entreißen alle Mühen verloren sind, unannehmbar. Speist sich sein Dichterturn doch gerade aus der Genugtuung, sich nicht verstanden zu wissen, dafür aber von der Natur mit einer Gabe ausgezeichnet zu sein, die das sprachlose Leid der Menschheit allein sagbar machen kann: Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede. Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide (v. 3432).
Dem geht voraus, daß Tasso allen anderen vorwirft, daß sie sich betrügen, wenn sie glauben, einander zu verstehen: Die Menschen kennen sich einander nicht; Nur die Galeerensklaven kennen sich, Die eng an eine Bank geschmiedet keuchen (v. 3338).
Die kathartische Wirkung der Dichtung, die Tassos berühmteste Verse bezeugen, beschränkt sich auf die Befreiung des Gemüts eines vereinsamten Dichters und seines im einsamen Schmerz verstummten Rezipienten. Sie vermag das Versagen der Kommunikation zwischen Mensch und Mitmensch, Individuum und Gesellschaft nurmehr zu kompensieren, nicht aber Kommunikation zu stiften, geschweige denn ein neues, gesellschaftsbildendes Vertrauen zu begründen. Insofern waren der ästhetischen Autonomie, die Goethes Drama gegen politische Herrschaft zu fordern schien, unverkennbar enge Grenzen gezogen.
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VII. Liest man heute Corinne ou I'Italie von Mme de Stael wieder, so kann dieser 1807 veröffentlichte Roman die Erwartung nur enttäuschen, hier würde die ihr zugeschriebene Sentenz im vollen Sinn ihrer Problematik ausgetragen. Sie erscheint erst retrospektiv nach der Trennung des hochromantischen Paares, als Corinnas ,Krankheit zum Tode' schon eingetreten ist und ihr die ganze Welt wie, von der Erinnerung an den Geliebten vergiftet' erscheint (XX, iii). Sie beginnt zu zweifeln, ob er ihrer überhaupt noch in Sympathie gedenke, wenn er von ihr höre oder lese. Werde sie in seinem fremden England doch ob ihrer künstlerischen Existenz und italienischen Lebensart angefeindet, weil man dort die Überlegenheit des Geistes und der Seele fürchte (in dieser Gestalt hat Mme de Stael den Nord-Süd-Konflikt der Romantik entdeckt). Die Überlegenheit eines Genies sei indes ,sehr moralisch'. Denn - und nun folgt der berühmte Satz - "tout comprendre rend tres indulgent, et sentir profondement inspire une grande bonte" (XVIII, v). Verstehen ist eine Auszeichnung überlegener Geister, womit nun aber ein tiefes Mitgefühl für das Leid der Welt, nicht ein sich verstehen und sich verzeihen können im Verhältnis des Paares gemeint ist. Gewiß beteuert Corinna hernach, ihr eigentliches Unglück sei, daß Oswald allein sie verstand ("que lui seul me comprenait") und daß sie hoffe, er möchte eines Tages erkennen "que moi seule je savais l'entendre" (nebenbei bemerkt: eine noch ganz unfeministische Verteilung des aktiven und des passiven Verstehen auf männlich und weiblich I). Doch die Erläuterung ihres Einvernehmens zeigt sogleich seine Grenzen: "Comment se fait-il que deux etres qui se sont confies leurs pensees les plus intimes, qui se sont parle de Dieu, de l'immortalite de l'ame, de la dOl,lleur, redeviennent tout acoup etrangers l'un al'autre?" (XVIII, v). Kaum vorzustellen, daß sich der Austausch intimster Gedanken und Wünsche auf Katechismusfragen beschränkt haben sollte! Die Mme de Stael zugeschriebene Sentenz: "Tout comprendre, c'est tout pardonner" , kommt in ihrem Roman selbst nicht zum Tragen, weil es immer nur von außen kommende Ereignisse sind, die eine unverschuldete Entfremdung zwischen den Liebenden herbeiführen. So muß ihre "familiarite confiante" einem bizarren, grausamen Spiel des Schicksals zum Opfer faUen (XVI, ii) und ist ihr Mißverstehen eine bloße Täuschung, die erst aufgelöst werden kann, wenn es zu spät ist. Verstehen und Verzeihen fallen im Ausgang ihrer beider Geschichte auseinander, der in seiner Melodramatik kaum zu überbieten ist, dem heutigen Leser aber kaum noch eine Träne entlocken dürfte.
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Der endlich nach Italien nachgereiste Oswald findet seine Geliebte auf dem Sterbelager vor. Er kann sich sein Verhalten selbst nicht verzeihen (XIX, vii), erfleht ein Gespräch, weil er nicht leben könne, ohne ihre Verzeihung erlangt zu haben (XX, iii), wagt aber nicht, ihr vor die Augen zu treten. Ein solches Gespräch hätte den Sinn der Sentenz erst eigentlich bewähren können! Dem versagt sich Corinna mit dem Argument der (ungenannten) Princesse de Cleves: "S'il ne fallait pour vous voir que de pardonner, je ne me serais pas un instant refusee." Doch Gott habe ihr vor ihrem Tod die Gnade erwiesen, ihr den Seelenfrieden zu schenken, den sie durch eine Begegnung nicht mehr aufs Spiel setzen wolle. Statt dessen inszenien die große Künstlerin ihren "dernier adieu" als einen ,Schwanengesang' vor großem Publikum. Da erst fällt Oswald vor der Geliebten auf die Knie, die nicht mehr reden, nur noch mit sterbender Hand auf den Himmel weisen kann, "ou je vous attendrai". Verzeihen können schließt hier kein verstehen wollen ein, das erst im Jenseits stattfinden darf. So zeigen sich im Künstlerroman der Mme de Stael die überlebten Seiten der französischen Romantik: die Melancholie eines grundlosen Weltschmerzes, die ästhetische Sublimierung des Religiösen und ein narzißtischer Kult des Leidens, der sich auf die Individualität des anderen letztlich nicht einzulassen vennag. Die Problematik der Sentenz kann darum erst eigentlich zum Tragen kommen, wenn kein äußerliches Mißverstehen, sondern die Interaktion wechselseitiger Anerkennung selbst ein Sich-Verstehen im einander Verzeihen bedingt.
VIII. So naheliegend diese Erwanung auch ist, wird sie doch in der Literatur des 19. Jahrhundens nicht ostentativ eingelöst. Die Wendung taucht vielmehr als schon geflügeltes Won auf, das zur Beglaubigung angefühn wird, nicht aber im zwischenmenschlichen Verhalten selbst ausgetragen wird. So in Victor Hugos L'annee terrible, dem in Verse gebrachten Kalendarium seines Schicksaljahrs 1871, als er nach dem blutigen Aufstand der Commune exilien in Belgien Zuflucht suchte und auch don im Mai 1871 des Landes verwiesen wurde. In seinem Versepos, das er erst L'epopee de Paris oder Paris martyr betiteln wollte, stellt er sich im Abschnitt Expulse de Belgique selbst als Märtyrer des Befreiungskampfes der Menschheit dar, dessen einziges Verbrechen ist, für die "grande justice" der Fratemite einzutreten. Seine Anklage an die Machthaber der Gegenrevolution gipfelt in den Versen:
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Je liehe de eomprendre afin de pardonner; Je veux quJon examine avant d'exterminer; Un feu de peloton pour resoudre un probleme Me deplait. (Mai 1871)
Wo und wann das Zitat aus Corinna nach Madame de Stael und vor Victor Hugo seine bleibende Gestalt als geflügeltes Wort angenommen hat, konnte ich nicht ausmachen. Seine spätere Spur ließe sich im Sprachgebrauch vielfach belegen, soll hier aber nicht verfolgt werden. Hier interessiert vielmehr, wie die Sentenz auf dem Höhenkamm der Literatur aufgegriffen, im Verhältnis von Personen thematisiert und in Konflikten des Verstehens ausgelotet wurde. Dabei kommt zum einen das idealistische Vertrauen zum Austrag, daß das Sich-Verstehen im Andem das Eigene der Person untrüglich zu erschließen vermöge. Zum andem kann dieses Vertrauen aber auch wieder an seine Grenze geführt werden: zu der Einsicht, daß - wie schon Schleiermacher bemerkte - "das Nicht-Verstehen sich niemals gänzlich auflösen lasse" . 17 Es ist das Fremde im Ich des Andem, das sich bei aller Übereinstimmung in Gefühlen und Gedanken dem Verstehen widersetzt und gleichwohl als autonom geachtet sein will. Ihm diese Achtung seiner Freiheit zu versagen, führt in Krisen und damit in die moralische Problematik des Verstehens und Verzeihens, die im Spiegel der Fiktion in ausgezeichneter Weise zutage tritt.
IX. Was man im Roman der Madame de Stael vergeblich erwartet, hat zu dieser Zeit Jane Austen mit Pride and Prejudice (1813) schon eingelöst. 18 Hier ist in den Charakteren der bei den Hauptpersonen, Elisabeth und Darcy, das Verhältnis von Verstehen und Verzeihen eigens thematisiert. Daraus geht letztlich ihre Sinnesänderung hervor, die
nicht mehr einfach - wie literarisch seit jeher üblich - auf die Macht der Liebe zurückzuführen ist. Ihrem Einvernehmen stehen nicht so sehr äußere Umstände entgegen als ein Verkennen des, wahren Charakters', der sich im Andern verbirgt. Was der Andere in Wahrheit ist, wird durch Vorurteile der Gesellschaft, durch Standesdünkel, rückständige Konventionen von Ehe und Liebe, beschämende Familienverhältnisse und nicht zuletzt durch Selbsttäuschung verstellt. In der
17 Zit. nach M. Frank: Hermeneldik und Kritik, Frankfun 1977, S. 328. 18 Jane Austen: Pride and Prejudice, hg. T. Tanner, Middlesex: Penguin Books, 1972.
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Charakterdarstellung der Jane Austen kündigt sich das sich selbst suchende und behauptende Individuum an. Es tritt in der wechselseitigen Entdeckung der verborgenen, tieferen Charaktere der beiden Liebenden zutage. Sie setzen sich damit von den flachen, stets durchschaubaren Charakteren der Gesellschaft wie ihrer Familien ab, die als Rollenträger fixien und zumeist unsympathisch oder karikaturhaft gezeichnet sind. Elisabeth und Darcy allein, die sich bei ihrer ersten Begegnung kaum ferner stehen könnten, sind fähig, aneinander und voneinander zu lernen. Im Wandel ihrer Einstellung von deklarierter Abneigung zu erfüllter Zuneigung weiß sich eine scheue Liebesleidenschaft nie offen zu äußern. Sie wird im inneren Widerstand des Selbstgefühls erfahren, in der wachsenden, so schmerzlichen wie beschämenden Einsicht, den Andern und mit ihm das eigene Selbst verkannt zu haben. Von der ersten Begegnung an trägt alles dazu bei, die Kluft zwischen den Liebenden, die letztlich als ein ideales Paar füreinander bestimmt sind (wie die Erzähierin den Leser nach altem Brauch erwarten läßt, S. 325), unüberbrückbar erscheinen zu lassen. Darcy lehnt es auf rüde Weise ab, mit Elisabeth zu tanzen, und bestätigt damit für die Verschmähte seinen Ruf, der stolzeste und unangenehmste Mann in der gesellschaftlichen Welt zu sein (S. 58). Elisabeth weiß es ihm mit dem trotzigen Satz: "and now despise me if you dare" (S. 96), heimzuzahlen und erweckt damit sein ihn selbst verwunderndes Interesse: "He really believed, that were it not for the inferiority of her connections, he should be in some danger" (S. 96). In der Tat ist ihre inferiore Familie, deren törichtes Verhalten Elisabeth immer wieder erröten läßt, für Darcy nicht weniger zumutbar wie für sie sein vermeintlich schändliches Verhalten zu ihrer Schwester Jane, deren Verlobung er hintertrieb, und zu seinem Jugendfreund Wickham, dem er ein Legat vorenthielt. Gleichwohl kommt es, für Elisabeth völlig unerwartet, zu einer Liebeserklärung Darcys, die völlig mißglückt (Kap. 34). Denn Elisabeth weist ihn nach einer ersten Anwandlung der Rührung über sein Geständnis, gegen das er vergeblich angekämpft habe, mit schroffen Worten ab, hält ihm seine vermeintlichen Verfehlungen vor, rügt sein jetziges Verhalten als nicht "gentlemanlike" und erklän ihm unumwunden, daß er mit seinem unerträglichen Charakter ("your arrogance, your conceit, and your selfish disdain of the feeling of others") der letzte Mann in der Welt sei, den sie zu heiraten vermöchte. Die Wendung in ihrem Verhältnis löst der folgende Brief aus, mit dem Darcy sein Handeln gegenüber ihrer Schwester und seinem ehemaligen Freund rechtfertigt. Der Prozeß eines Verstehens wider Wil-
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len dürfte kaum jemals in so subtiler Hermeneutik erfaßt worden sein wie in der Szene, als Elisabeth diesen Brief liest und sich dabei mehr und mehr genötigt sieht, ihre negative Einstellung zu dem Schreiber Schritt für Schritt abzubauen (Kap. 36). Sie beginnt in der rigiden Voreingenommenheit zu lesen, alles, was Darcy vorzubringen weiß, sei eitel Stolz und Insolenz. So legt sie den Brief entrüstet beiseite, um ihn nie wieder eines Blickes zu würdigen. Doch schon nach einer halben Minute greift sie ihn nolens volens wieder auf, um Satz für Satz zu prüfen und sich zu bestätigen, daß alles Vorgebrachte nicht wahr sein könne. Ein vergebliches Unterfangen, denn beim erneuten Lesen gewinnen die Details eine andere Bedeutung, schwinden ihre Vorwürfe mehr und mehr dahin und tritt hinter den verabscheuten Zügen des Schreibers sein ,.real character" ans Licht - eine Entdekkung, die sie zutiefst beschämt: ,.How humiliating is this discovery! - Yet how just a humiliation! - Had I been in love, I could not have been more wretchedly blind. But vanity, not love, has been my folly (... ) Till this moment, I never knew myself. " Hier tritt im Vorgang des Verstehens die Wechselseitigkeit von Fremderfahrung und Selbsterkenntnis eindrucksvoll zutage. Im Gefühl der Beschämung erkennt Elisabeth, daß sie dem wahren Charaluer Darcys nicht gerecht wurde und ineins damit sich selbst verkannt hat. Im Verstehen des Andern bahnt sich ein neues Selbstverständnis an. Daß in ihrem Verhalten nicht Überheblichkeit allein, sondern auch schon eine ihr selbst verborgene Zuneigung beteiligt war, vermag sie sich begreiflicherweise noch nicht einzugestehen. Dazu bedarf es weiterer Erprobung. Sie erfolgt nicht - wie zu erwarten - im Gespräch, sondern auf indirekte Weise. Wo immer die Liebenden sich hinfort begegnen und einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, ist ihr Gespräch befangen, von peinlichem Schweigen behindert, und bleibt ungesagt, was sie noch trennt und schon verbindet. Es ist ein subtiler Zug der Hermeneutik Jane Austens, daß sie den beiderseitigen Lernprozeß mit einem Besuch einleitet, den Elisabeth dem Landsitz Darcys, Pemberley Woods, abstattet. Hier beginnt sie erstaunt an ihren Eindrücken von der Schönheit des Parks, dem besonderen Stil der Gemächer, den respektvollen Reden des Personals, gleichsam abzulesen, welch ein ungewöhnlicher Mensch von feinstem Geschmack und welch ein von allen geschätzter Landlord der abwesende Darcy eigentlich sein müsse. Hemach ist sein großmütiges, doch verschwiegenes Eingreifen zur Rettung ihrer leichtfertigen Schwester und ihres Entführers, seinem skrupellosen Jugendfreund, ganz dazu angetan, ihre Beschämung noch zu vertiefen, gerade ihn einmal verachtet und zurückgewiesen
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zu haben. Und als schließlich die Stunde der Geständnisse gekommen ist, steht dem verstehenden Einvernehmen vor allem noch entgegen, daß beide glauben, sich etwas Unverzeihliches vergeben zu müssen: er ihr die verächtliche erste Zurückweisung ("the petulance and acrimony of her manner in re;ecting him", S. 285), sie ihm die Form seiner Werbung ("I shall never forget: ,had you behaved in a more gentleman-like manner'" , S. 376). Sie schlägt vor, dieser Anfang, von dem sie beide so ganz femgerückt seien, sollte vergessen werden. Damit will er sich nicht zufriedengeben. Verdanke er doch ihr allein, daß aus dem selbstsüchtigen Wesen, das er so lange zur Schau getragen, derjenige wurde, den sie heute liebe (S. 377). Einander verzeihen können darf nicht durch ein bloßes Vergessen erkauft sein; einander zu verstehen muß stark genug sein, das für beide nunmehr Vergangene einzubegreifen, wenn aus vollem Verstehen ein volles Verzeihen hervorgehen und zu wechselseitiger Achtung führen soll. Wie sich daraus ein neues Selbstbewußtsein der Liebenden bilden kann, das Stolz und Voreingenommenheit, Standesdünkel und Beschämung hinter sich gebracht hat, ist das Thema von Pride and Prejudice und damit der besondere Sinn, den Jane Austen der Sentenz: "Tout comprendre, ctest tout pardonner", zu geben wußte.
x. Dostojewskijs Roman Der Idiot (1868) stellt demgegenüber einen Extremfall der Applikation unserer Sentenz vor Augen. 19 Alles verstehen zu wollen und allen verzeihen zu können, selbst noch denen, die ihn betrügen, ist hier der dominante Wesenszug der Hauptfigur, des Fürsten Myschkin. Es ist dies ironischerweise die Einstellung eines nach seiner Heilung aus der Schweiz zurückgekehnen ,Idioten den nicht allein seine völlig unbekümmerte Naivität, sondern auch die Gabe eines physiognomischen Blicks auszeichnet. Myschkin vermag ebenso gut aus den Gesichtern die Charaktere von Mutter und Töchtern der Familie Jepantschin abzulesen wie zu erklären, was sich im Gesicht eines zum Tode Verurteilten abspielt (I 123-129) oder auch das ihm unbekannte Haus Rogoshins sogleich aus der Physiognomie seiner Familie zu erraten (I 412). So weiß er bei allen, denen er begegnet, das Gefühl zu erwecken, daß er allein jeden verstehe (11 181) und verstehend für alle leide. Was sich sonst auszuschließen C
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19 Dtr Idiot, in: Siimtücht
~kt,
München: Hanser, s.d., S. 424.
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pflegt: Herzenseinfalt und Scharfblick, ist in der Gestalt des Idioten auf die erstaunlichste Weise vereint: "Bald sind Sie die leibhafte Verkörperung einer solchen Unschuld, einer solchen Herzenseinfalt, wie sie selbst im goldenen Zeitalter unerhört gewesen sein muß, und bald wiederum oder vielmehr gleichzeitig durchschauen Sie einen mit den tiefsten psychologischen Beobachtungen, die einem wie Pfeile durch Mark und Bein gehen" (I 620). Wenn in Dostojewskijs ,Idioten' unsere Sentenz geradezu literarische Gestalt anzunehmen scheint, zeigt das Schicksal dieses, Narren in Christo' aber auch wieder, wohin es führen kann, sie unbeirrbar auszuleben. Myschkins exzentrische Erscheinung bewirkt in der Petersburger Gesellschaft nurmehr einen unaufhaltsamen Skandal. Wo immer er auftritt, provoziert seine Manie, alles verstehen zu wollen, unwillentlich die Enthüllung von Familiengeheimnissen, Selbstbekenntnisse, Verletzungen gesellschaftlicher Rituale, eklatante Beleidigungen und Akte des Verzeihens. Ein Höhepunkt dieser turbulenten Szenen ist das Geburtstagsfest der Nastasja Filippowna ein "Gegenfest"20, das mit einem peinlichen Gesellschaftsspiel beginnt (jeder soll seine schändlichste Tat gestehen), in dem Opferritual einer Geldverbrennung gipfelt und mit der öffentlichen Liebeserklärung des ,Idioten' endigt, der damit die Reinheit dieser ,femme fatale' wiederherstellen will. Dahinter steht gewiß auch die Absicht, die andern zu seiner Einstellung zu bekehren. Myschkin glaubt, sich dabei auf die beste Seite des russischen Wesens berufen zu können. Bei seinem gesellschaftlichen Debut apostrophiert er die erstaunten Gäste mit folgenden Worten: "Ich sehe Menschen, die fähig sind, zu verstehen und zu verzeihen, russische, gute Menschen, die fast ebenso gut und herzlich sind, wie die russischen Bauern, die ich auf dem Land kennen gelernt habe" (11 424). So kehrt hier unsere Sentenz in ihrer russischen Variante wieder, wird aber von der auserlesenen Gesellschaft. die Myschkin derart rühmt, auf Schritt und Tritt Lügen gestraft. Ihn selbst kann das nicht beirren. Für ihn allein, der stellvertretend für alle, den Verbrecher einbegriffen (11 226), leiden will und der den sterbenskranken Hippolyt bittet: "Gehen Sie an mir vorüber und verzeihen Sie uns unser Glück" (11 372), kennt das verstehende Mitleid keine Grenze. Es verstrickt ihn in den Widerspruch, daß er Aglaja zu lieben glaubt, aber auch von Nastasja nicht lassen kann, und in seiner Unschlüssigkeit selbst die nahende Katastrophe schürt. 20 Dazu R. lachmann: .Die Schwellcnsituation - Skandal und Fest bei Doste>ewskij-, in: PH XlV. S. 307-325.
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In der Gestalt des ,Idioten' - eine gescheitene Nachfolge Christierlangt das "tout comprendre, c'est tout pardonner" einen mystischen Sinn, den der letzte Skandal melodramatisch ins Unsagbare steigen. M yschkin verzeiht am Ende seinem Rivalen Rogoshin, mit dem er Bruderschaft schloß, um seinen Haß zu tilgen, die Ermordung der von beiden geliebten Nastasja, nun aber nicht mehr mit Wonen, sondern mit einer stummen Gebärde, in der alles Verstehen erlischt: ,,(er) schmiegte sein Gesicht an das bleiche unbewegliche Antlitz Rogoshins. Tränen flossen aus seinen Augen auf Rogoshins Wangen - doch wird er kaum seine Tränen gefühlt haben und vielleicht wußte er von nichts mehr" (11 542). Dostojewskij hat seinem Roman indes selbst schon den Zweifel an seinem mystischen Ausgang eingeschrieben, als er Hippolyt, die Gegenfigur zu Myschkin, die zum Geburtstag des Fürsten versammelte Gesellschaft mit seiner "Letzten Überzeugung" provozieren ließ: Natürlich sagen da Leute, wie der Fürst, daß man gehorchen muß, auch ohne zu verstehen, und zwar aus moralischen, sittlichen Gründen, und daß ich in der anderen Welt dafür belohnt werde. Wir erniedrigen jedoch die Vorsehung, wenn wir ihr aus Ärger darüber, daß wir sie nicht verstehen können, unsere Begriffe unterschieben. Und wiederum, wenn man die Vorsehung nicht verstehen kann - wie kann denn da der Mensch das verantworten, was er nicht verstehen kann? Und ebenso, wer kann denn mich verurteilen, wenn ich den Willen und die Gesetze der Vorsehung nicht verstanden habe? Nein, lassen wir die Religion lieber (11 166).
XI. Wird hier die metaphysische Problematik des Verstehens von Gut und Böse unbeantwortbar, so haben andere Autoren die moralische Seite des verzeihenden Verstehens ans Licht gebracht. So Gottfried Keller im Sinngedicht (1881). Hier scheint es zunächst nur ein zufallsbedingter Umstand zu sein, die falsche Verdächtigung der Frau, die das kommunikative Einvernehmen der Eheleute verstört. Doch wenn dann der Mann ohne die geringste Erklärung den Haushalt auflöst und die Emigration in ein fernes Land anordnet, tritt eine unselige Verweigerung des Verstehens ein. Er bringt es nicht über sich, die "stumme Trennung, die zwischen sie getreten", im offenen Gespräch aufzuhellen: "Nach dem bekannten Spruche konnte er begreifen und verzeihen, aber er konnte nicht wiederherstellen. a21 21 Das Sinng~dicht. in: Sämtliche Werke. München: Hanser. s.d .• S. 1018.
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Das tragische Mißverständnis liegt hier darin, daß er stillschweigend verziehen zu haben glaubte, wo nichts zu verzeihen war. Hier wird der Sinn der Sentenz in Frage gestellt, nicht etwa, weil das Verstehen zu spät gekommen wäre, sondern weil sie zur falschen Zeit Verstehen verhindert hat: "Allein das Schicksal wollte, daß die beiden Gatten, jedes mit einem anderen Geheimnis, dasselbe aus Vorsorge und Schonung verbergend, an sich vorbeigingen und den einzigen Renungsweg so verfehlten" (S. 1025).
Dem läßt sich Flauberts Madame Bovary (1857) an die Seite stellen, deren Schluß die nicht ausgesprochene Sentenz voraussetzt und in die tiefste Zweideutigkeit rückt. Nach dem schrecklichen Selbstmord seiner Frau begegnet Charles Bovary dem Lebemann Rodolphe. Als er dem Mann gegenübersitzt, der sie verführt und auf den Abweg ihrer romantischen Illusionen gebracht hatte, findet er ein berühmtes Wort des Verzeihens: "Je ne vous en veux plus ( ... ) C'est la faute de la fatalite" (S. 644).22 Charles großes Wort, "le seul qu'il ait ;amais dit", ist nicht allein dadurch ironisch, daß es an Rodolphe gerichtet ist, "qui avait conduit cette fatalite", und der diese Art des Verzeihens mehr als gutmütig, wenn nicht verächtlich finden muß. So aufgenommen würde sich Charles' Ausspruch kaum von dem Lächerlichen der Schwanksituation des betrogenen Gatten unterscheiden, der am Ende nur noch gute Miene zum bösen Spiel machen kann. Die sublimere Ironie dieser Szene entspringt daraus, daß dieses ,große Wort' keineswegs von ihm selbst stammt, sondern ein schon vergilbtes Klischee der Romantik war, das bereits Rodolphe für seinen schnöden Abschiedsbrief mißbraucht hatte. Für Charles hingegen, der vor dem Angesicht dieses Mannes, ,das sie geliebt hatte und in dem er etwas von ihr wiederzufinden glaubt', in tiefes Sinnen gerät, erhält der abgegriffene Gemeinplatz die Einmaligkeit eines großen Worts zurück: mit ihm hebt sich der von schöngeistigen Dingen nie berührte, einfältige Landarzt über die prosaische Wirklichkeit in die romantisch-poetische Welt seiner Frau hinweg, die er zu Lebzeiten nie verstanden hatte. So wird am Ende derjenige, der am wenigsten fähig war, an ihrer romantischen Existenz teilzuhaben, zum einzigen, der ihr Schicksal, obschon zu spät, verstand. Denn der Mann, dem Emma nie verzeihen konnte, daß er in ihr Leben getreten war, macht sich nach ihrem Tode ihre Lebensweise und ihre Ansichten zu
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(EllfJTes.
ed. de la Plejade, Paris 1951, Bd. 1, S. 644 f.
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eigen, besteht darauf, sie auf höchst romantische Weise zu bestatten, und stirbt bald danach "comme un adolescent sous les vagues effluves amoureux qui gonflaient son coeur chagrin (S. 645 r' .
XII. Die bisherige Betrachtung hat gezeigt, wie unsere Sentenz in der literarischen Aneignung erprobt, die Einlösung ihres Postulats versucht, aber auch schon bald wieder in Frage gestellt wurde - des Postulats, daß ein volles Verstehen des Andem einschließen müsse, ihm verzeihen und damit die Parität wechselseitiger Achtung wiederherstellen zu können. Ließ sich die Schwelle, nach der es de facto erhoben wurde und wohl auch erst erhoben werden konnte, zwischen Rousseau und dem deutschen Idealismus datieren, so blieb die definitive Prägung des Diktums ungewiß und zeigte sich seine Problematisierung schon im 19. Jahrhunden in wachsender Schärfe an. Setzte die Behauptung der Äquivalenz von Verstehen und Verzeihen die Verweltlichung der christlichen Lebensbeichte, die Proklamation der Autonomie des Gewissens, die Erhebung des Individuums zum Rechtssubjekt und die Wendung der Hermeneutik zum Verstehen des Individuellen voraus, so stellte die Problematisierung der Sentenz mehr und mehr ihre idealistische Prämisse in Frage: die Transparenz des Selbstbewußtseins wie des intersubjektiven Verstehens. Das Venrauen auf die Möglichkeit, sich Selbst im Andern und im Eigenen das Fremde zu erfahren, wie es Schillers Distichon: "Willst du dich erkennen, so sieh, wie die andern es treiben; willst du die andem versteh'n, blick in dein eigenes Herz", am schönsten bezeugt, ist offenbar ein prekärer Höhepunkt in der Geschichte der Literatur. Der Weg vom anfänglichen Mißverstehen zum Einklang eines Sich-Verstehens, das Voruneile aufzulösen vermag und in der Erfahrung des Andern zugleich das verborgene eigene Selbst erkennen läßt, ist nach Jane Austen, die ihn in Pride and Prejudice erprobte, soweit ich sehe, auf dem Höhenkamm der Literatur nicht mehr im Venrauen auf eine harmonische Lösung beschritten worden. Gewiß wäre hernach im obligaten Happy End der Trivialliteratur die naiv aufgenommene Erwanung des "tout comprendre, c'est tout pardonner" noch auszumachen - im verflachten Sinn der Sentenz, der sie zum Klischee einer affirmativen Hermeneutik werden ließ. Dementgegen wird die weitere Reihe meiner Beispiele vor Augen stellen, in welche moralische Problematik die erwanete Äquivalenz von Verstehen und Verzeihen führen kann, wenn ihre idealistischen Vorgaben preisgegeben werden.
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Die Krise, in die eine rigorose Applikation der Sentenz führen muß und die Dostojewskijs ,Idioten' zum Schicksal wird, bringt eine Vorgabe des verzeihenden Verstehens zum Vorschein, von der noch nicht die Rede war. Dessen harmonische Lösung war bislang dadurch präjudizien, daß der Andere nicht als ein kontingentes Subjekt, sondern als ein privilegienes Du begegnet. Die idealistische Äquivalenz von Verstehen und Verzeihen hatte es erleichtert, daß sie in Beziehungen von Freundschaft oder Liebe durchgespielt wurde, mithin auf einem tragenden Einvernehmen beruhte, das spontan - als Sympathie - erfahren oder auch allmählich - als Wesensverwandtschaft - erkannt werden konnte. Wenn nun aber an die Stelle des privilegienen Du ein beliebiger Anderer tritt, fehlt eine hermeneutische Brücke und stößt das Verstehen-Wollen auf den fremden Willen in seiner unvermittelten Kontingenz. Und wenn nun gar, wie im Falle des Fürsten Myschkin, verzeihendes Verstehen gegenüber allen geübt werden soll, löst sich die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden in ein alles übergreifendes Mitleid auf. Mitleid, das im Akt der Einfühlung jedwedem alles zu vergeben bereit ist, setzt sich über alle Grenzen des Verstehens und der moralischen Billigung hinweg; es setzt die Frage nach Gut und Böse, Recht und Unrecht, außer Kraft. Am Schicksal M yschkins ist abzulesen, wie anders sich das Problem des intersubjektiven Verstehens stellt, wenn der beliebige Andere als der Nächste die Stelle des privilegienen Du einnehmen soll. Das christliche Gebot: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst', benötigt keineswegs, ihn erst zu verstehen, um ihm alsdann in seiner Not zu helfen. Nächstenliebe darf sich nicht durch Sympathie für seine Person, durch eine Schätzung seiner menschlichen Qualitäten, bestimmen lassen, schließt sie doch sogar noch das Gebot der Feindesliebe ein. Sie setzt allein voraus, auch noch im geringsten Menschen einen Bruder oder eine Schwester in Christo zu erkennen. Sie forden - wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bezeugt - den konkreten Dienst am konkreten Nächsten, ist also durch Mitleid allein, durch ein bloß verstehendes Verzeihen, nicht abzugelten. Da gerade dies der dominante Wesenszug M yschkins ist, scheint es mir fraglich, ob Dostojewskijs ,Idiot', als ,Narr um Christi willen' verstanden, überhaupt noch dem neutestamentlichen Begriff christlicher Nächstenliebe entspricht. Gewiß sind seine christushaften Züge nicht zu verkennen und ist der fongesetzte Skandal, den sein Auftreten in der korrupten Gesellschaft auslöst, als Ärgernis des reinen Glaubens in einer glaubensfemen Welt zu begreifen. Doch seine Rolle als der heilige Narr, der unerlaubte
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Wahrheiten sagen darf, vermag hier die Andern nicht zur Wahrheit des Geistes evangelischer Kindheit zu bekehren: am Ende bleibt die Gesellschaft, die ihn belacht und zugleich bewundert, so korrupt wie sie von Anbeginn war. Er muß erkennen, daß" wir nie alles von anderen erfahren, wenn es doch so nötig ist", und darunter leiden, nicht verstanden zu werden, selbst nicht von der geliebten Aglaja (11 486). Er muß erfahren, daß sein alles verzeihendes Mitleid nicht genügt, weil es ihm, der wie Christus für alle leiden will, nicht gegeben ist, wie der wahre Erlöser dem reuigen Sünder alles vergeben und seine Schuld sühnen zu können. Er muß in dem Maße scheitern, wie sich sein Dienst am Nächsten in einer mystischen Liebe zu allen Menschen, gleichviel ob gut oder böse, verströmt, wobei er in seiner widersprüchlichen Neigung für Aglaja und Nastasja Eros und Agape verwechselt und beide verfehlt. Er muß zusehends unterliegen, weil er gerade für die ihm am nächsten Stehenden das Unheil nicht abwenden kann, obschon er die Ermordung Nastasjas durch Rogoshin vorausgesagt hat. Wenn der ,heilige Narr' am katastrophalen Ende glaubt, seinem Bruder in Christo selbst noch das Verbrechen an Nastasja vergeben zu können, um hernach in seine Umnachtung zurückzufallen, erlangt das "tout comprendre, c'est tout pardonner" seinen bisher unerkannten mystischen Sinn. Mit den Augen eines Nicht-Mystikers gesehen tritt hier aber auch zum ersten Mal in der feststellbaren Geschichte unserer Sentenz ihre fatale Kehrseite hervor, nämlich: alles zu verstehen genüge, um alles zu verzeihen, mithin auch: um alles zu rechtfertigen - ihr dubioser Hintersinn, der seither die Hermeneutik in den Verruf brachte, stets auch schon zu bejahen, was sie verstehbar macht.
XIII. Mit Henry James The Portrait of a Lady (1881) tritt die für die Moderne charakteristische Wendung ein, daß der Weg vom Mißverstehen zum Verstehen umgekehrt wird: hier endet die Geschichte einer Ehe, die vermeintlich im schönsten Einklang begann, in einem Zerwürfnis, das unheilbar ist, weil die Achtung der Person des Anderen auf eine Weise verletzt wurde, die kein verzeihendes Verstehen mehr erlaubt. 2)
23 The Portrait o[ a Lady, New York 1936 (New York Edition, Bd. III/IV).
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Als Beispiel einer harmonischen Auflösung, die Henry James verweigert, kann hier erst noch ein Roman von Anthony Trollope eingeschaltet werden, der von einer ähnlichen Personenkonstellation ausgeht. Can You Forgive Her? (1864) ist gleichermaßen das Portrait einer jungen Dame, die auf dem Weg zur Heirat merkwürdige Umwege einschlägt. 2• Alice bricht ihr Verlöbnis mit John Gray, einem Gentleman ohne Fehl und Tadel, um sich wieder mit George, ihrer ersten Liebe, zu verbinden; sie schlägt dann aber die schon versprochene Heirat mit dem bald skandal um witterten Vetter wieder aus und gibt am Ende doch dem sie unbeirrbar liebenden John ihr Jawort. Daß man ihr nachsagen kann, dreimal ihr Wort gebrochen zu haben (" that three times she would go back from her word, because her fancy had changed", S. 399), ist der äußere Anlaß, den Leser mit der Frage zu konfrontieren: "Can you forgive her in that she had sinned against the softness of her feminine nature?" (S. 730). Das Problem eines Verstehens, das Verzeihen einschließt, wird hier also ausdrücklich dem Leser gestellt, dem der altväterliche Erzähler sein eigenes Urteil vorgibt: "I think she may be forgiven, in that she had never brought herself to think lightly of her own fault" (S. 730). Gleichwohl spielt sich in der Handlung ein Drama des Verstehens ab, das unsere Sentenz in ein anderes Licht rückt: dem verstehenden Verzeihen steht hier entgegen, daß sich die Hauptperson selbst nicht verzeihen kann. Alice hatte die Heirat mit John im Grunde nur darum immer wieder hinausgeschoben und dann ausgeschlagen, weil sie ihn zu vollkommen fand (", He is perfect!' Alice had said to herself often. ,Oh that he were less perfect!'", S. 149), weil sie bezweifelt, ihm nicht gewachsen zu sein, und ihr Recht auf Selbstverwirklichung gefährdet sieht. Als sie dann die mit dem leichtfertigen und jähzornigen George eingegangene Beziehung schon wieder bereut, hält sie ihr Verhalten zu John für unverzeihlich (Kap. 11), und dies um so mehr, als er so großmütig wie geduldig das Äußerste unternimmt, um sie aus den Erpressungsmanövern ihres Vetters zu befreien. Die moralische Problematik, die Trollopes ausgeuferten, schon etwas vergilbten Roman immer noch lesenswert macht, gipfelt in der Wiederbegegnung des ungewöhnlichen Paars auf einer zu dieser Zeit obligaten Reise in die Schweiz. John erkennt, daß er ihr gemeinsames Glück erst begründen könnte, wenn Alice dazu gebracht würde, sich selbst zu verzeihen (Kap. 70): "She was as a prisonner who would fain ding to his prison after pardon has reached hirn, because he is conscious
24 Anthony Trollope: Can You Forgive Her?, Penguin Books. 1972.
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mat the pardon is undenied" (Kap. 74). Sein letztes Argument ist der Stätte des Gesprächs, dem Friedhof von Luzern, angemessen: wenn sie ihn nach allem, was geschah, doch liebe, habe sie kein Recht, ihn zurückzuweisen: "And am I to be punished, then, because of your fault? Is mat your sense of justice?" Einander verzeihen können erfordert, dem andem vor seinem eigenen Gewissen gerecht zu werden: "If you love me, Alice, I teU you that you dare not refuse me. If you do so, you will fail hereafter to reconcile it to your conscience before God." Es folgt der erste und einzige Kuß, dem der Erzähler, um der Sittenstrenge seiner Leser Genüge zu tun, noch hinzuzufügen weiß: "I wonder whether he was made happier when he knew mat no other touch had profaned those lips since last he had pressed them?"(S. 772) Solche Zugeständnisse an ein Happy End liegen Henry James völlig fern. Er hat seine Heidin mit liebevoller Ironie eingeführt. Das schlichte junge Mädchen aus Albany, als Waise in das altväterische England verbracht, zeichnet eine brennende Neugier nach dem Leben aus (IH, 45), wie auch "her combination of the delicate, desultory, flame-like spirit and the eager and personal creature of conditions" (HI, 69). Sie besitzt einen ,Edelmut der Phantasie, der ihr manche Dienste leistete und ebenso viele Streiche spielte' (IH, 68). So folgt sie - darin eine Nachfahrin der Emma Bovary - ihren spätromantischen Idealen und Illusionen unbeirrbar bis zur bitteren Neige. Die puritanische Variante ihres Bovarismus macht sich fawerweise bei der Behandlung ihrer Freier geltend. Sie bricht das Verlöbnis mit dem prosaischen amerikanischen Geschäftsmann Caspar Goodwood und weist den Heiratsantrag des so vollkommenen wie sympathischen englischen Peer Lord Warburton ab, weil er ihrer glanzvollen Vorstellung einer freien Entdeckung des Lebens widersprach (111, 155). Sie verkennt die tiefe Zuneigung ihres von einem Lungenleiden geschlagenen Vetters Ralph und schlägt seine Warnung vor dem ihrer unwürdigen Osmond in den Wind. Glaubt sie doch, diesen blasierten Müßiggänger gerade darum zu lieben, weil ihm alles fehlt, was Lord Warburton auszeichnet: Stellung, Vermögen, glänzende Eigenschaften, und sie sich einbilden kann, daß sie nur um ihrer selbst willen heirate (IH, 77). Kurzum - so kommentiert der Erzähler: "She was a person of great good faith, and if there was a great deal of foUy in her wisdom those who judge her severely may have the satisfaction of finding that, later, she became consistently wise at the cost of an amount of foUy which will constitute almost a direct appeal to charity" (HI, 145).
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Das berühmte Kapitel 42, in dem sie in tiefem Erschrecken erkennt, daß sie von Osmond bisher ,nur die Hälfte seiner Natur gesehen' (IV, 191), ist eine Gipfelszene dargestellter Hermeneutik. Eine unerwartete falsche Anschuldigung läßt Isabell mit einem Schlag erkennen, daß sie Osmonds Charakter nicht richtig gedeutet hat und daß ihre Ehe in Wahrheit auf einem schweigenden Mißverständnis beruhte. Nun, da das Schweigen unerträglich geworden, wird ihr das Trugbild ihres Einvernehmens allererst bewußt. Nicht daß sie ihn eines Vergehens oder grausamen Verhaltens hätte beschuldigen können (das perfide Komplott mit seiner ehemaligen Geliebten kommt ihr erst später zu Ohren). Sondern sie glaubt einfach, daß er sie im Grunde hasse (IV, 191). Aus seinem Haß und ihrem tiefen, unmerklich gewachsenen Mißtrauen erklärt sie sich die seltsame Opposition, in der sie sich gegenüberstanden: "An opposition in which the vital principle of the one was a thing of contempt to the other" (IV, 190). Die verletzte Achtung der Person und Freiheit des Anderen läßt nur noch ein Letztes zu: zu verstehen, daß man sich nicht mehr verstehen kann. Einander verstehen nimmt hier die negative Gestalt an, den Grund zu erkennen, der alles Verstehen und Verzeihen hinfort ausschließt: "For them there could be no condonement, no compromise, no easy forgetfulness, no formal readjustment. They had attempted only one thing but that one thing was to have been exquisite. Once they missed it nothing else would do" (IV, 247). Ein zweites, gegenläufiges Drama des Verstehens spielt sich zwischen Isabell und Ralph ab. Der schwerkranke Vetter verstand sie in seiner hoffnungslosen Liebe von Anbeginn besser, als sie sich selbst verstand, während sie immer versuchte, sein Verstehen abzuweisen. Sie verdankte ihm, doch ohne es wissen, das abgetretene Erbe und damit die Freiheit, nicht des Geldes wegen heiraten zu müssen. Ralph, der ,ein hohes Schicksal' für sie entwerfen wollte. durchschaut Os mond als einen ,sterilen Dilettanten' und warnt Isabell vergeblich: " You were not to co me down so easily" (IV, 69). Er erreicht nur, daß sie sich vornimmt, sollte ihre Ehe mißlingen, dies gerade Ralph niemals einzugestehen. Darauf ist sie selbst dann noch bedacht, als sie ihn an seinem Krankenlager in Rom besucht. Sie bildet sich ein, ihm eine Freundlichkeit zu erweisen, wenn sie ihn glauben mache, daß sie ihm nichts nachtrage und ihn nicht wissen lasse, daß ihre Ehe unglücklich verlief. Doch "Ralph smiled himself, as he lay on his sofa, at this extraordinary fonn of consideration; but he forgave her for having forgiven hirn" (IV, 204). Erst als sie es in ostentativer, doch stummer Auflehnung gegen Osmond auf sich nimmt, Ralph
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auf seinem Sterbelager beizustehen, löst sich der Konflikt in gegenseitiger Offenheit: ,.1 always tried to keep you from understanding; but that's all over." - ,.1 always understood", said Ralph. - "I thought you did, and I didn't like it. But now I like it" (IV, 415). Dem rührenden Höhepunkt eines Verstehens in extremis: ,.Here on my knees, with you dying in my arms, I'am happier than I have been for a long time. And I want you to be happy" (IV, 416), folgt ein merkwürdiger Ausgang. Warum glaubt Isabell nach ihrem Geständnis immer noch nicht, daß zwischen ihr und Osmond alles aus sein muß? Warum läßt sie sich von dem am Ende wieder aufgetauchten, unbeirrbar treuen Caspar Goodwood, obschon sie ihn zuletzt in seiner ,harten Männlichkeit' bejaht, nicht wie eine Schiffbrüchige ihrem Untergang entreißen (IV, 436)? Warum endet der Roman mit der Nachricht, sie sei nach Rom zurückgefahren, obschon für den Leser nicht mehr vorstellbar ist, wie ein weiteres Leben mit Osmond verlaufen könnte? Die gängige Deutung, sie habe dies aus Achtung vor ihrem Eheversprechen und aus Pflichtgefühl für die Stieftochter getan, erscheint mir zu einfach. IsabelI, die ihren Bovarismus im letzten Akt des Verstehens abgetan hat, mit dem sie der Liebe Ralphs gerecht wurde, dürfte sich schwerlich in die puritanische Rolle fügen, das Martyrium einer zerrütteten Ehe zu durchstehen. Auch wenn ihre Emanzipation auf halbem Weg stehenblieb, erscheint der Ausgang ihres Romans doch offen und zweideutig - so zweideutig, wie der schwache Trost der Geduld, den Miss Stackpole dem fassungslosen Caspar Goodwood mit auf den Weg gibt: "Look here, Mr. Goodwood, " she said; "just you wait!" (IV, 437). XIV. Dem Fall eines Verstehens, das sich fortschreitend als ein Mißverstehen enthüllt, läßt sich der kontrastive Fall anschließen, bei dem sich die Personen nur allzu gut verstehen: Ivy Compton-Burnetts A Family and a Fortune (1939). 2S Dieser Roman, den Nathalie Sarraute als Vorgänger der neuen Dialogform einer ,sous-conversation' wieder der Vergessenheit entriß, läßt die Ereignisse in der geschlossenen Welt einer Familie - den Zuzug von Großvater und Tante, die unverhoffte Erbschaft des Onkels Dudley, dessen Verlöbnis mit Miss Sloane, den Tod der Mutter Blanche, das Verstoßen der Gesellschaf-
25 A FamiJy and a Fortune, London: Victor Gollanz Ltd., 1972.
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terin Miss Griffin, das Zerwürfnis der unzertrennlichen Brüder ganz und gar in einem unbeendbaren Dialog der Beteiligten aufgehen: in einem "beautiful family talk, mean and worried and full of sorrow and spite and excitement" (S. 287). Mit dieser Bemerkung Onkel Dudleys ist nicht zu viel gesagt. Denn was sich im Schoße dieser Familie ständig abspielt, ist ein unaufhörlicher Streit zwischen den Generationen, Geschlechtern und Brüdern, der sich für den Außenstehenden - und damit für den Leser - keineswegs harmlos ausnimmt. Denn gleichviel, ob aus nichtigem Anlaß oder angesichts familiärer Glücks- oder Unglücksfälle gestritten wird, der Streit nimmt zumeist eine verletzende Form an, da jede Partei darauf bedacht ist, die andere in ihren uneingestandenen Motiven und ver:" heimlichten Interessen zu dekuvrieren. Hier kennen sich alle seit langem in- und auswendig (S. 10). Anders gesagt: sie verstehen sich nur allzu gut, so daß sich der Sinn der Sentenz in ihr Gegenteil verkehrt: alles zu verstehen scheint hier nur dahin zu führen, nichts vergessen, mithin einander auch nichts nachsehen zu können. Im neuartigen Dialog der Ivy Compton-Burnett sind alle Personen mit der analytischen Gabe ausgestattet, die Äußerung des Gesprächspartners nicht einfach wörtlich zu nehmen, sondern auf das hin zu interpretieren, was sie absichtlich oder unwillentlich verschweigt. Selbst Aubrey, der erst fünfzehn jährige jüngste Bruder, trifft in seinen altklugen Kommentaren oft den delikaten Punkt einer Situation. So zum Beispiel, wenn Justine den beiden Verlobten Dudley und Maria einen ungestörten Abschied ermöglichen will, dem der Vater und die Tante im Wege stehen: "Father's look at Uncle goes to my heart, '" she said, as she joined her brothers. Clement looked at her and did not speak. He also had followed his father's eyes ... "Some things are to sacred for our sight", said Aubry. "TItey can only bear Aunt Matty's" (S. 191). An dieser Stelle wird zugleich deutlich, daß der Streit zwischen den Mitgliedern der Familie bei aller Unnachsichtigkeit doch eine Grenze wahrt: das Eindringen einer fremden Person, in diesem Fall ein Übergriff der als unaufrichtig abgelehnten Tante, wird durch ein Zusammenrücken in den sonst nicht bemerkbaren Solidaritätskreis der Familie abgewehrt. Wer ihren Spielregeln nicht folgt, wird ausgestoßen. Dudleys schon zitierte Bemerkung über den ,herrlichen Familienschwatz' setzte darum auch voraus, daß sich Tante Matty erst verabschiedet habe (S. 375). Was es bedeutet, die innere Solidarität der Familie zu begreifen, wird Maria bewußt, als zwischen Dudley und Edgar, der dem Bruder die Verlobte abspenstig machte, der heftigste Streit ausbricht:
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Maria stood apart, feeling she had nothing to do with the scene, that she must grope for its cause in a depth where different beings moved and breathed in a different air. The present seemed a surface scene, acted over a seething life, which had been calmed but never dead. She saw herself treading with care lest the surface break and release the hidden flood, feit that she leamed at that moment how to do it, and would ever afterwards know (So 236).
Hier hat die Doppelbödigkeit eines Dialogs, der unter der Oberfläche konventioneller Rede verborgene Untiefen des vorbewußten ,brodelnden Lebens', der Impulse eines sich selbst fremden Wollens und Begehrens, hervorkehrt, ihren stärksten Ausdruck gefunden. Der Ausgang des Romans läßt dem, worin man einander nicht mehr verstehen kann, indes nicht das letzte Wort. Als durch einen Zufall aus elements Schreibtisch ein Haufen gehorteter Goldstücke - sein Anteil am Erbe Dudleys - sich auf den Boden ergießt und er mit ansehen muß, daß der Blick des ganzes Hauses auf den Geheimwinkel seines Lebens gerichtet ist (5. 285), zitiert Dudley unsere Sentenz: " We all have a titde of the feelings at time. To know all is to forgive all " , doch nicht ohne hinzuzufügen: "But we can't let people know all, of course" (5. 287). Daß man gut daran tue, den andem nicht alles zu verstehen zu geben, erläutert Dudley an anderer Stelle mit der weisen Bemerkung: "Saying a thing of yourself does not mean that you like to hear other people say it. And they say it differendy" (5. 180). Der ironische Kommentar der Sentenz rückt eine Hauptregel des ,Geschicklichkeits- und Glücksspiels', in dem die Beteiligten auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind (5. 204), in ein milderes Licht. Und wenn derselbe Dudley schließlich dem ihm so ähnlichen Bruder Edgar das einzige Geheimnis preisgibt, das er ihm jemals vorenthielt: daß er für Maria, die ihm Edgar abspenstig machte, jetzt nichts mehr empfinde, habe er doch inzwischen Miss Griffin einen Heiratsantrag gemacht und einen Korb erhalten, deutet dieses Geständnis ein Verzeihen an, das ihr brüderliches Sich-Verstehen wieder herstellt. So kann der Roman wieder mit der Szene enden, mit der er begann: "The pair went out and walked on the path outside the house, and Justine, catching the sight from a window, rose with a cry and ran to fetch her brothers" (5. 292).
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Xv. Hier glaube ich, meine Beispielreihe abbrechen zu können, in der Annahme, daß meine Interpretationen die Problematik der Sentenz hinlänglich erläutert haben, um vielleicht anderweitig das Interesse zu erwecken, ihre Rezeptionsgeschichte zu ergänzen und weiterzuführen. Die ausgewählten Texte sollten keine kontinuierliche Tradition unterstellen. Sie sollten vielmehr dazu dienen, Aspekte des Problems von Verstehen und Verzeihen, mithin der wechselseitigen Anerkennung im dialogischen Verhältnis von Personen - ihres Gelingens oder auch Mißlingens - am Wandel der Auffassung der Sentenz Tout comprendre, c'est tout pardonner auszumachen und historisch zu entfalten. Die Auswahl der Beispiele braucht den beschränkten Lektürehorizont des Verfassers nicht zu verleugnen; auch wenn sie repräsentativ genug sein dürfte, schließt sie gewiß nicht aus, daß das Problem zwischenmenschlichen Verstehens auch an anderen Texten und in anderen Epochen demonstriert werden könnte. Daß der englische Roman in dieser Perspektive dominiert, ist wohl kein Zufall, sondern bestätigt ein dort subtiler als in anderen Literaturen der Zeit ausgebildetes psychologisches Interesse. Den hermeneutischen Gipfelszenen, die in den Romanen von Jane Austen, Anthony Trollope, Henry James oder Ivy Compton-Burnett höchst dramatisch inszeniert sind, wüßte ich kaum analoge Beispiele aus der Geschichte des Dramas an die Seite zu stellen. Die große Ausnahme bildet Kleists Amphitryon, wo das Doppelgängermotiv das Problem des Sich-Verstehens im Andern radikalisiert. Darauf wollte ich nicht zurückkommen, da ich diesem Werk mit seiner Vor- und Nachgeschichte schon eine eigene Untersuchung gewidmet hatte, auf die ich hier verweisen darf. 26 Dabei ist Giraudoux' Amphitryon 38 als Replik auf Kleists Amphitryon für unsere Problematik besonders einschlägig. Denn dort, in einer antithetischen Konstellation - einer kenosis (einem, Ungeschehen-machen' im Sinne von Harald Blooms A Map 0/ Misreading) - erfährt Alkmene, das Opfer der bitteren Tragikomödie des deutschen Idealismus, gegenüber Jupiter, d. h. seiner voraufgehenden Gestalt als genius malignus, die glänzendste Rechtfertigung. Bei Giraudoux scheitert der allmächtige Gott bei jedem Versuch, das Sich-Verstehen des menschlichen Paars aufzubrechen. In Amphitryon 38 kann sich das endliche Bewußtsein gegen die göttliche Autorität behaupten,
26 In: ÄE, Kap. 11 D.
3. Toul comprcndre, c'eslloul pardonner
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weil für Alkmene und Amphitryon die Trennung von Identität und Rolle in einem unaustauschbaren Verhältnis zum Andern aufgehoben ist, weil sie ihr endliches Glück zu behaupten und damit göttlicher Willkür zu entziehen wissen. In Giraudoux' neuem Schluß ist der auf seine Zuschauerrolle zurückverwiesene Jupiter großmütig genug, die Integrität des menschlichen Paars wiederherzustellen, indem er Alkmenes Wunsch erfüllt, den vergangenen Tag aus der Erinnerung der Liebenden zu löschen, an dem beide einmal. dem Andern untreu wurden, ohne es zu ahnen. Alles vergessen zu dürfen kann hier alles Verzeihen erübrigen und das Verstehen erneuern - für ein wiederum anfängliches Paar, aber auch für Jupiter selbst, der, als erneut emeritierter Gott in seine lukrezische Rolle zurückkehrend, sich zugleich als ein verstehender Gott erweist. Eine Thematisierung des Verstehens, wie sie das Werk Giraudoux' insgesamt charakterisiert, ist eher eine Ausnahmeerscheinung in der Literatur der letzten Moderne, die vornehmlich die Problematik menschlicher Kommunikation hervorzukehren sucht. Ein Text, in dem unsere Sentenz gleichsam verabschiedet wird, ist Thomas Manns Tonio Kröger (1903). Dort verwirft der morbide Künstler "die Litteratur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur Liebe" und bekennt (sein Vorbild, Huysmans A rebours, verschweigend): "Alles verstehen hieße Alles verzeihen? Ich weiß doch nicht. Es gibt etwas, was ich Erkenntnisekel nenne (... ): Der Zustand, in dem es dem Menschen genügt, eine Sache zu durchschauen, um sich bereits zum Sterben angewidert (und durchaus nicht versöhnlich gestimmt) zu fühlen, - der Fall Hamlets, des Dänen, dieses typischen Litteraten. "27 Für den "ganzen kranken Adel der Litteratur" kann sich das Problem des Sich-Verstehens im Andern schon gar nicht mehr stellen (der Erkenntnisekel des Künstlers entspringt hier bezeichnenderweise dem Durchschauen einer Sache). Es kehrt indes bei anderen Autoren auf höherem Niveau wieder, nun aber nicht mehr im Verhältnis von Person zu Person, sondern im Verhältnis des Lesers zum Bewußtsein des Andern, das der Roman als ein fremdes thematisiert. Blickt man auf die Entwicklung des modernen Romans von J ames Joyce und Virginia Woolf bis zu Nathalie Sarraute und Robbe-Grillet vor, so werden die klassischen Brücken des Verstehens fortschreitend abgebaut, die dem Leser ermöglichten, sich fraglos in die Psyche und in den Horizont der Welt eines Andern zu versetzen. Das Vertrauen darauf, daß ein
27 In: Sämtliche Erzählungen, Frankfurt: S. Fischer, 1963, S. 235 H.
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A. Ad dogmaticos
gemeinsamer Horizont der Selbsterfahrung das Sich-Verstehen im Andern begründe, erscheint nicht mehr tragfähig, wenn eine explorative Literatur beginnt, die klassische Einheit des Subjekts preiszugeben, die Pluralität des Ichs aufzudecken, das Selbstbewußtsein in die ihm verborgenen Regionen des Unbewußten zu entgrenzen und mit dem Verzicht auf Charaktere auch noch die personhafte Konstitution des Dialogs aufzulösen. Demgegenüber findet sich der Leser in die Situation eines uneingeweihten Dritten versetzt, die ihm in ihrer ungewohnten Fremdheit neue Probleme des Verstehens auf gibt. So wenn ihn James Joyce mit dem inneren Monolog eines fremden Bewußtseins konfrontiert, das sich in seiner puren Kontingenz präsentiert. So wenn Virginia Woolf in The Waves das Schicksal von sechs Personen in ein kollektives Übersubjekt auflöst und es dem Leser überläßt, die Konturen des Individuellen im Wandel des Bewußtseins der Gruppe abzugrenzen. So wenn Nathalie Sarraute in Portrait d'un inconnu alle Attribute der klassischen Charaktere: Name, Herkunft, Gesicht, Körper, Kleidung, abbaut, um ihre nur noch pronominal (mit ich, sie, er) bezeichneten ,personae' ganz allmählich aus dem anonymen Strom der Subkonversation auftauchen zu lassen. So wenn Robbe-Grillet in La Jalousie umgekehrt die Beziehung zwischen drei Personen ganz auf den Aspekt einer befremdlichen, da überscharfen Wahrnehmung ihres äußeren Verhaltens und ihrer verdinglichten Umwelt reduziert, so daß der Leser erst allmählich erraten kann, daß es der gefangene Blick eines Eifersüchtigen ist, dem er folgen mußte.
XVI. Die implizierte Hermeneutik der Fremdheit kann aber auch zwischen Personen ins Spiel komment wenn Konflikte des Verstehens auf der Ebene gestörter Kommunikation ausgetragen werden. Hierzu sei zum Abschluß dieses Ausblicks nur noch an Edward Albee's Who~ Afraid ofVirginia Woolf(1962) erinnert. Ihm hat Paul Watzlawik eine wie mir scheint kaum zu übertreffende Interpretation gewidmet. 28 Konnte er doch zeigen, daß dieses Stück - ein Fegefeuer ehelicher Streitsucht - die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, in allen Aspekten gestörter Kommunikation vor Augen stellt, und zwar" wirklicher als die Wirklichkeit" (S. 139), mithin besser, als es 28 P. Watzlawik et al.: Menschliche Kommunikation - Formen, Störungen, Paradoxien. BernlStunganlforonto. 11990.
3. Tout comprendre. c'est tout pardonner
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die Psychologie vermöchte. Hier wird unsere Sentenz gleichsam im gegenteiligen Sinn erprobt: alles verstehen heißt hier nicht alles, sondern nichts verzeihen. Das Ehepaar George und Martha versteht sich nur in dem einen Punkt, einander nicht verstehen zu wollen. Sie sind sich in der Eskalation gegenseitiger Provokationen und in der Erfindung bizarrer und grausamer Beziehungsspiele ("Der gebeutelte Hausherr", "Die Gästefalle" , "Das Hausfrauenschändungsspiel" , "Wie sag ich's meinem Kinde?"), in die sie ihre beiden Gäste hineinziehen, paradoxerweise "einig, uneins zu sein". Diesem Paradox entspricht eine letzte Spielregel, die durch alle Beziehungsspiele hindurch eingehalten wird, deren Regeln fortwährend angerufen, befolgt und gebrochen werden: die Fiktion, einen Sohn zu haben. Daß George am Ende diese geheimgehaltene Regel verletzt und den imaginären Sohn für tot erklärt, gilt als wirklich verwerflich und muß das ganze Beziehungssystem des Paares zusammenbrechen lassen. Im Teufelskreis der Beschimpfungsduelle führt die Selbstreferenz der Spielregeln immer neu in Paradoxien, die von den Partnern innerhalb ihres zwanghaften Systems nicht gelöst werden können. Es sind Paradoxien der Unentscheidbarkeit von der Art des ,double bind' (klassisches Beispiel: ,Sei spontan!'): "Wenn ( ... ) die Mitteilung eine Handlungsaufforderung ist, so wird sie durch Befolgung mißachtet und durch Mißachtung befolgt; handelt es sich um eine Ich- oder DuDefinition, so ist die damit definierte Person es nur, wenn sie es nicht ist, und ist es nicht, wenn sie es ist. Die Bedeutung der Mitteilung ist also unentscheidbar" (S. 196). Der circulus vitiosus solcher Unentscheidbarkeit könnte erst gebrochen werden, wenn die Kommunikationen der Partner selbst zum Thema ihrer Kommunikation werden (S. 93) oder wenn ihnen ein Dritter ermöglicht, aus ihrer Zwangslage herauszutreten (S. 215), was - füge ich hinzu - auch durch ästhetische Vermittlung (so im sogenannten Psychodrama) geschehen kann. Unentscheidbarkeit (undecidability) ist mithin ein Symptom gestörter Kommunikation. Der Begriff hat hernach anderweitig Berühmtheit erlangt - als nicht mehr befragtes Prinzip des Dekonstruktivismus! Wenn dort seine Herkunft verleugnet wird, hat dies den einsichtigen Grund, daß ein Schlüssel begriff gestörter Kommunikation schwerlich geeignet sein dürfte, die Destruktion allen Sinnverstehens zu rechtfertigen. Daß aus einer Grenzerscheinung menschlicher Kommunikation unter der Hand ihr Normalfall konstituiert wurde, kann man als Dilemma des Verfahrens der Dekonstruktion zwar verstehen, ihren Adepten aber nicht einfach nachsehen. Tout comprendre, ce n'est pas necessairement tout pardonner...
B. Hermeneutische Exempel
4. Das Buch Jona - ein Paradigma der ,Hermeneutik der Fremde' I. Fragestellung
Was kann die literarische Hermeneutik zum Thema: "Wahrheit der Schrift - Wahrheit der Auslegung" beitragen? Sie ist sich durchaus bewußt, eine jüngere, profane Tochter der theologischen Hermeneutik zu sein. Das bedingt, daß sie zugleich ihre Dankesschuld und ihre Eigenständigkeit erweisen sollte. Eines der gemeinsamen Probleme ist die Vermittlung von Text und Gegenwart, das Verstehen eines Textes in seiner zeitlichen Feme und damit in der Andersheit der Welt, in der er entstand. Was die literarische Hermeneutik in die Arbeit der so perfekt ausgebildeten theologischen Exegese wohl noch am ehesten einbringen kann, ist der Zugang ästhetischen Verstehens. Er geht nicht von dem aus, was wir historisch und theologisch schon wissen, sondern von dem, was uns bei der Lektüre befremdet. Ästhetisches Verstehen sucht derart den Anschein zu hintergehen, der Text sei einer naiven Lektüre unmittelbar zugänglich. Es macht durch die Beschreibung seiner Fremdheit den Zeitabstand ansichtig, der zwischen dem Text und unserer Gegenwart liegt. Ästhetische Erfahrung steht nicht per se im Gegensatz zu religiöser Erfahrung. Sie kann dieser dazu dienen, eine erste Brücke zum Text einer uns fremd gewordenen Glaubenswelt zu schlagen und damit den Prozeß der Horizontvermittlung einleiten, den auch die theologische Exegese benötigt, wenn sie hermeneutisch verfahren, das heißt: die drei Schritte der Gadamerschen Triade: Verstehen, Auslegen und Anwenden ausführen will. Für die allgemeine Fragestellung nach Bedingungen und Möglichkeiten von Fremdheitserfahrung - nach einer Hermeneutik der zeitlichen (historischen) Feme wie der gleichzeitigen (kulturellen) Fremde - scheint das Buch Jona ein ausgezeichnetes Paradigma anzubieten.
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B. Abhandlungen
Daß es aus dem Alten Testament stammt, kann seinen exemplarischen Rang nur erhöhen, denn die Bibel ist mit der Übersetzung Luthers längst auch eine unerschöpfliche Quelle deutscher Erzählprosa geworden. Das Buch Jona konfrontien den modernen, sprich: aufgeklänen Leser, aber auch seinen noch im christlichen Glauben stehenden Zeitgenossen und selbst noch den Expenen, sprich: Theologen mit einem ganzen Bündel von Aspekten der Fremdheit: einem in seiner hochentwickelten literarisch-formalen Gestalt zugleich archaischen Text, drei Aktanten, die aller Erwanung zuwider handein: der unbotmäßige und versagende P~ophet, der zur Umkehr bereite Heide, der umständliche Gott, den das beschlossene Strafgericht gereut. Um diese potenziene Fremdheit aufzuarbeiten, empfiehlt es sich, Odo Marquard folgend zu verfahren und die rekonstruktive von der applikativen Hermeneutik, obschon sie einander von Anbeginn voraussetzen, zunächst in zwei Schritte der Interpretation zu trennen. Dann wäre vorab der primäre Kontext zu ermitteln, oder anders gesagt: "das Ensemble der im Text nicht ausdrücklichen Fragen, auf die der Text die Antwon war." Sodann wäre die ansichtig gemachte zeitliche Feme des Textes mit der Gegenwan des Lesers iu vermitteln, das heißt mit einem sekundären Kontext, oder anders gesagt: dem "Ensemble der im Text nicht ausdrücklichen Fragen, auf die der Text noch nicht die Antwon war" .1 Daß es diese Fragen noch nicht gab, als der Text entstand, macht sie nicht schon historisch illegitim, zur bloßen Retrojektion gegenwärtiger Interessen (in naiver Aktualisierung). Sie werden hermeneutisch legitim, wenn der rekonstruiene Sinn der Vergangenheit die Kontrollinstanz bleibt, an der sich das Fragen der Gegenwan bewähren muß (in genuiner Aneignung), das heißt, wenn nur Fragen im Spiel bleiben, auf die der Text eine bisher nicht erkannte Antwon bereit hielt, nicht aber solche, auf die er nicht zu antwonen vermag. Die literarische Hermeneutik hat dem vor allem hinzuzufügen, daß nicht alle Texte und Textgattungen von Haus aus Antwoncharakter haben (die Lyrik zum Beispiel steht zumeist nicht unter dem Primat einer ,Aussage', die als Antwon auf impliziene Fragen am ehesten zu verstehen ist). Die literarische Hermeneutik empfiehlt darum, die Hermeneutik von Frage und Antwon und damit die Entschlüsselung von möglichem Sinn zunächst zu suspendieren, um erst einmal die Andersheit der Welt und der Empfänger, für die der Text verfaßt wurde, ansichtig zu machen. Soll im Verstehen des Fremden 1 O. Marquard: .Feüx (MIpa? - Bemerlel4ngm ZI4 einem Applikationsschicleual von G~ne sis J-, in: PH IX. S. 53.
4. Das Buch Jona
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nicht gleich etwas Gemeinsames aufgedeckt, das Eigene im Fremden nicht einfach bestätigt, sondern erweitert und bereichert werden, so muß der Widerstand des Fremden erst möglichst stark herausgeholt werden, bevor er im Hin und Her von rekonstruktiver und applikativer Hermeneutik wieder abgearbeitet werden kann. Ziel dieses zweiten Schritts der Auslegung muß dann das Urteil sein, ob uns die Andersheit des Textes nur noch fremd und vergangen erscheint oder ob er eine neue Antwort auf eine legitime, den Sinn des Textes treffende Frage zu geben vermag. Dabei hat sich das Verfahren bewährt, im ersten Gang der Lektüre das Befremdliche des Textes möglichst sorgfältig aufzunehmen und die dunklen Stellen nicht sogleich zu enträtseln, sondern in offenen Fragen zu belassen (Fragen, die der Text selbst für uns offen läßt, nicht also solche, die erst die Rekonstruktion des primären oder die Applikation auf den sekundären Kontext stellen kann). Dieser Zugang setzt nurmehr die Reflexion der literarisch-ästhetischen Wahrnehmung, noch nicht die Zuhilfenahme theologischer Forschung voraus und sieht davon ab, daß der Text zwar literarisch gestaltet, aber seiner Intention nach ein Dokument des israelischen wie des christlichen Glaubens war und noch ist. Es kommt mir vielmehr darauf an, die Fremdheit eines Glaubenstextes damit ins Spiel zu bringen, daß er mit den Augen eines modernen ,Heiden' gelesen wird, doch mit dem parti pris, daß das Buch Jona auch für ihn noch eine höchst aktuelle Antwort parat hat, die merkwürdigerweise die Prämissen des christlichen Glaubens nicht benötigt, wie ich im zweiten Gang der Lektüre zeigen zu können hoffe. Wenn diese Lektüre Ansprüchen der Theologie nicht genügt, mag diese sich damit trösten, daß die profane Anerkennung des Glaubens als Fremderfahrung immer noch eine hermeneutische Brücke, mithin nicht die geringste Form einer Anerkennung des Andern ist.
11. Die Fremdheit des Textes (aus der Sicht der literarischen Hermeneutik) Das Buch Jona gehört zu den bekanntesten Texten der Bibel. Seine Bekanntheit ist so sehr über seine Quelle hinausgewachsen, daß die Geschichte vom ,Mann im Walfisch' selbst denen noch vertraut ist, die sie nie in der Bibel gelesen haben dürften und dem Glauben ihrer Vorfahren schon ganz fern stehen. Ein solcher Bekanntheitsgrad hat die hermeneutische Folge, daß der primäre Widerstand des Fremden völlig in eine sekundäre Vertrautheit aufgegangen ist - in die Illusion eines unmittelbaren Verstehens, dem alle archaischen Elemente der
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B. Abhandlungen
unvordenklichen Geschichte selbstverständlich geworden sind. So selbstverständlich, daß am Ende nicht mehr die Geschichte selbst, sondern allenfalls der Glaube derer, die sie in ,naiver' oder dogmatischer Einstellung für wahr hielten, als fremd empfunden wird! Selbst die Naturwunder und ihr Gipfel, das Meerungeheuer, das den Helden auf Geheiß Gones verschlingt, drei Tage und Nächte beherbergt und wieder ausspeit, verfielen dieser Selbstverständlichkeit. Nahm der aufgekläne Verstand erst noch daran Anstoß und verteidigte der christliche Dogmatismus ihre übernatürliche Realität, so ist heute auch dieser Streit erloschen: jedermann weiß, und auch der Theologe nutzt dieses Wissen, daß das Wunderbare in der Frühzeit des Glaubens wie später auch im Märchen nicht als Ausnahme, sondern als die Regel erfahren wurde. Wer's glaubt, wird selig, wer's nicht mehr glaubt, kann es ästhetisch genießen und sich dabei auf eine berühmte Formel- "the willing suspension of dis belief" - berufen, mit der sich die Erzähltheorie die Einstellung zum Wunderbaren, Nicht-Alltäglichen, und die daraus entspringende Realität des Irrealen erklän, die der naiven Einstellung zur Fiktion eigentümlich zu sein scheint. Diese sekundäre Vertrautheit abzubauen, um am Widerstand des zeitlich Fernen die uns fremde, primäre Venrautheit zu rekonstruieren, die der Text in der Welt seiner Adressaten noch voraussetzte, erforderte zunächst, die Formel der" willing suspension of disbelief" auf die ästhetische Einstellung zu beschränken, die sie gewiß schon implizien. Der willentliche Verzicht auf den Maßstab der alltäglichen Realität, oder anders gesagt: der Genuß des ,Als ob' erfordert ästhetische Distanz, die erst möglich wird, wenn ästhetische Erfahrung die unmittelbare Partizipation des religiösen Glaubens schon hinter sich gelassen hat. Das geglaubte Wunder kann und braucht dort den Unglauben nicht erst willentlich auszuklammern, weil das ,Wunder des Glaubens' unmittelbar evident zu sein beansprucht und damit per se der Scheidung von willentlich und unwillentIich, von fiktiv und real enthoben ist. Die uns heute so selbstverständlich gewordene Scheidung von Fiktion und Realität ist in allen Kulturen historisch späten Datums. 2 Sich in eine archaische Einstellung zurückzuversetzen, die offenbar durch die Nichtunterscheidung von Fiktion und Realität bestimmt war, erfordert eine Hermeneutik der zeitlichen und kulturellen Fremdheit, die gerade in dem, was sich im Text als scheinbar selbstverständlich präsentien, das Andere, uns Fremde und Herausfordernde aufzudecken sucht. Bei diesem Versuch 2 Dazu Vf.: .Z"rhistorischm Gm~~ tl" Sch~iJ"ng von Filttio" ""tl R~.lit;;t· in: PHX. S.42l-432.
4. Das Buch Jona
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kommt dem Ungesagten gewiß nicht weniger Bedeutung zu als dem Gesagten. Kap. I: Von Jona, dem Träger der Handlung, erfahren wir im Eingang der Erzählung nicht mehr, als daß er der Sohn Amitthais war (v. I), kein Wort über sein bisheriges Leben und Handeln, auch nicht über die Situation, in der - offenbar unversehens? - das Wort des Herrn an ihn erging. Warum gerade Jona entboten wird, der Stadt Ninive das Strafgericht über ihre Bosheit anzusagen, bleibt ungesagt. Soll das heißen, daß jedermann die Berufung zum Propheten treffen kann, oder bleibt der Grund seiner Erwählung hier noch verborgen, um erst später enthüllt zu werden? Die imperativische Rede des Herrn läßt vermuten, daß er mit den Schuldigen nicht in persona zu sprechen geruht, sondern sich eines Boten bedient, von dem keine Widerrede erwartet wird. Das dürfte das Aber in Vers 3 anzeigen, das erste in einer Folge von emphatisch gesetztem aber, das auch in Vers I. 4., 2. 1,4.4,4. 7 eine unerwartete Wendung des Geschehens eröffnet und sich anbietet, den Aufbau der Erzählung zu strukturieren. "Aber Jona machte sich auf, aus dem Angesichte des Herrn hinweg nach Tharsis zu fliehen, und ging nach Joppe hinab" (I. 4). Das Unerwartete dieses Verhaltens erscheint um so gravierender, als der Gottesmann gleichsam spontan "aus dem Angesichte des Herrn" die Kehrtwendung zur Flucht vollzieht. Sein Motiv - ist es Angst, Unvermögen, Zweifel an der Botschaft oder Ungehorsam? - bleibt wiederum ungesagt. Das zweite Aber leitet die Antwort des Herrn in der wortlosen Gebärde eines Gottes ein, "der das Meer und das Trokkene gemacht hat" (v. 9), und der nunmehr einen gewaltigen Sturm auf das Meer wirft, mithin zu einem unverhältnismäßig großen Mittel greift, um seinen kleinmütigen Propheten zu belehren. 4 Die ,Allmacht Gottes in der Natur' ist uns - zumindest als poetische Reminiszenz - zwar noch vorstellbar; doch was dieses ästhetische Gefühl des Erhabenen, ein Erbe des deutschen Idealismus und der Romantik, weltenfern von der Erfahrung des alttestamentarischen Gottes trennt, der erst einen furchtbaren Sturm und dann ein Meerungeheuer entbieten kann, um seinen unergründlichen Willen durchzusetzen, wird sogleich deutlich, wenn wir die Reaktion auf dem Schiff 3 Da das Hebräische und additiven oder adversativen Sinn haben kann. wie sich erst aus dem Kontext entscheiden läßt. schwanken die Bibelübersetzungen zwischen und und aber. Ich zitiere nach der Zürcher Bibel. 17. Auflage. 1980. .. H. Weinrich hat mit seinem Essay: .Das Zeichen desJon4 - ÜbertLu sehr Große und das sehr Kkine in der Literatur· (jetzt in: Literatur für Leser. Stungan 1971. S. 35-44) der Interpretation einen Zugang eröffnet, den ich hier dankbar aufnehme und weiter· führe.
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näher betrachten (vv. 5-15). Es ist eine Katastrophenstimmung in extremis: Todesangst, in der jeder zu seinem Gott schreit, Überbordwerfen der Ladung, dann die magische Handlung, durch Los zu erfragen, wer sich schuldig gemacht und den Zorn seines Gottes heraufbeschworen habe, schließlich - das aufgeklärte Bewußtsein nicht weniger schockierend das Sündenbockritual, Jona ins Meer zu werfen, um den Zorn seines Herrn zu besänftigen. "Da stand das Meer ab von seinem Wüten" (v. 15) - steht Jahwe noch diesseits oder schon jenseits des magischen Glaubens? Nutzt er ihn für eine Machtprobe, um seine Überlegenheit über die Götter der Heiden zu erweisen? So scheint es, denn die Schiffsleute bekehren sich am Ende "in großer Furcht" (v. 16) zu ihm. Ihr großmütiges Verhalten zu Jona kontrastiert von Anbeginn mit dem Kleinmut und der Verstocktheit des Gottesmannes auf eine Weise, die ein orthodoxes Gemüt gewiß skandalisieren mußte: sie fordern den schlafenden J ona erst nur auf, doch auch seinen Gott anzurufen; sie werfen ihn, nachdem ihn das Los getroffen, nicht gleich ins Meer, sondern erst, nachdem sie seine Herkunft erfragt und ihm selbst die Entscheidung anheimgestellt haben: " Was sollen wir mit dir machen, daß das Meer ruhig wird und von uns läßt?" (v. 11). Mit ,Kleinmut' war der komplexe Charakter Jonas indes noch nicht richtig getroffen. Warum kann er, während alle andern im Stunn um ihr Leben bangen, sich in den untersten Schiffsraum begeben und dort "fest schlafen" (v. 5)? Da ihm gewiß nicht der ,Schlaf des Gerechten' vergönnt war, sollte es dann eine - allerdings paradoxeProtestgebärde sein? Oder zeigt sich schon hier der lebensmüde Prophet an, der sich hemach lieber ins Meer werfen lassen will, als J ahwes Auftrag zu erfüllen? Doch warum hat dann Gott gerade ihn erwählt, der sich für das Amt des Propheten offensichtlich so wenig eignet? Kap. 2: "Aber der Herr entbot einen großen Fisch, Jona zu verschlingen, undJona war drei Tage und drei Nächte in dem Bauche des Fisches" (v. 1). Die Befremdung des Walfischwunders ist zu einem Teil philologisch auflösbar und insoweit für unsere Fragestellung auszuschalten. Davon sei nur vennerkt: Jona wird offensichtlich nicht darum gerettet, weil er sich eines Besseren besonnen hätte und in seiner höchsten Not wieder seinen Herrn anrief. Sein Gesang im Bauch des Walfischs ist ein Dankpsalm im Rückblick, der den erzählten Vorgang überblendet, mithin ein späterer Einschub, wohl schon verfaßt, um das Walfisch wunder typologisch, als "Zeichen des ProphetenJona" zu deuten, das für den, der ,Augen hat zu sehen', schon den Größeren ankündigt: den "Sohn des Menschen, (der) drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein (wird)", wie Christus selbst (Matth. 12. 38-42) als erster Ausleger den alttestamentarischen Text
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gegen unverständige Schriftgelehrte und Pharisäer interpretiert. Der primäre Widerstand des Fremden wird in der typologischen Exegese aufgehoben; das ,Zeichen des Jona' gehört schon in die sekundäre Fremdheit der uns ferngerückten altchristlichen Geschichtserfahrung, die das frühere Ereignis zeichenhaft auf den am dritten Tag wieder auferstandenen Gekreuzigten bezogen sah. Der primäre Widerstand des uns noch fremderen, archaischen Glaubens erlischt aber auch in der modernen, archetypischen oder tiefenpsychologischen Deutung. Zwar sind der Befund, daß die Verschlingung eines Helden durch ein Meerungeheuer zu den verbreitetsten, in vielen Kulturen bezeugten Mythen gehört (mit dem Prototyp der Sonne, die im Westen ins Meer versinkt, um im Osten wieder aufzuerstehen) oder auch der Rekurs auf den Urtrieb, in den mütterlichen Schoß zurückzukehren, um rein und integer zu einem neuen Leben wiedergeboren zu werdens, gewiß durchaus unverächtliche hermeneutische Brücken zur mythischen Welt fremder Kulturen oder zur traumatischen Befangenheit eines Patienten. Doch eben nur Behelfsbrücken, die nicht geradewegs zum fremden Sinn des Textes führen, sondern erst wieder abgebaut werden müssen, wenn dieser in seiner Alterität - in der spezifischen Differenz des alttestamentarischen Buches zu der mythologischen oder archetypischen Vorgabe - erschlossen werden soU. Die spezifische hermeneutische Differenz zu solch moderner Deutung, die leicht und meist undurchschaut selbst in Allegorese verfällt, muß dort gesucht werden, wo der Verfasser (oder Redaktor) unseres Textes das mythologisch-archetypische Muster verändert hat, um es in den heilsgeschichtlichen Kontext des Alten Testaments einzubauen. Mag seine Vorgabe ein ,Seemannsgarn' gewesen sein, wie es als ,Lügengeschichte' von Matrosen am Mittelmeer weitergesponnen wurde - der Erzähler hat es nobilitiert, indem er Jahwe zum großen, Jona zum kleinen Subjekt der Geschichte machte und ihre Beziehung kasuistisch vertiefte. Die Rettung Jonas beginnt nicht erst mit einem - aus dem späteren Dankpsalm nicht sicher erschließbaren - Notschrei zu dem Gott, vor dessen Angesicht Jona floh, sondern schon mit der Entbietung des Seeungeheuers, das sich wider alles Erwarten als Instrument der Rettung erweist. Im Unerwartbaren dieses Umschlags, in der unverdienten Zuwendung des Gottes und nicht in einer Rückwendung des aus Not bußfertigen Propheten zu seinem Herrn, liegt das Befremdliche dieses archaischen Glaubens. Mehr
5 Dazu H. Weinrich (wie Anm. 4) und H. W. Wolff: StlUÜm zlIm Jorwbllch t Neukin:hmVluyn, t 965, bes. S. 20 ff.
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noch: er erscheint uns auch darum fremd und fast schon wieder ,modern', weil die Beziehung von Gott und Prophet, Herr und Knecht, hier wie schon am Anfang und bis zum Ende antagonistisch und gleichwohl nicht heroisch ausgeformt ist. Jona ist im Gegensatz zu Herakles und Perseus, die das Ungeheuer bezwingen, "das Gegenteil eines heldischen Kämpfers und Siegers ... (er ist) der schuldige Bote, der von dem sendenden Herrn bezwungen wird". 6 Bezwungen, aber nicht im tiefsten überzeugt! Denn das Zeitsymbol der drei Tage und drei Nächte, im Märchen Zeichen der erfüllten Wendung zum Guten, leitet hier eine Rettung ein, die nicht schon die Lösung, sondern zu unserem Befremden die Weiterführung des ungleichen Kampfes von Herrn und Knecht nach sich ziehen wird. Der auf Geheiß Jahwes an Land gespieeneJona hat sich nur scheinbar eines Besseren besonnen. Kap. J: Wie der Charakter Jonas von Schritt zu Schritt problematischer wird, so auch der Charakter des Gottes, der den unbotmäßigen Propheten erwählte und trotz allen Versagens offenbar zu ihm steht. Daß Jahwe als Herr der Natur über ihre Elemente und Geschöpfe souverän verfügen, sie entbieten und wieder zurückrufen kann, liegt in der Konsequenz seiner Rolle als Schöpfer des Himmels und der Erde. Daß der so Gewaltige hingegen sein Wort zum zweiten Mal ergehen läßt, ohne die mindeste Rüge, als ob Jona nicht gefehlt hätte, befremdet auf sympathische Weise, denn es zeigt die von einem archaischen Gott kaum zu fordernde Tugend der Langmut, wenn nicht gar eine sanfte pädagogische Strategie an. Daß er sich dann sogar "das Unheil gereuen (läßt)", das er Ninive angedroht hatte (v. I 0), gilt gemeinhin als Schwäche menschlichen Handeins. Mag dies der Theologe auch ohne Bedenken als souveränen Akt des freien göttlichen Willens auslegen, der profane Laie dürfte Jahwes Reue gleichwohl als einen durchaus menschlichen Zug im Charakter des Allmächtigen (davon darf nun doch wohl gesprochen werden?) emp-
finden. Was Ninive betrifft, so tritt hinter dem eruptiven Gott der Natur nun offenbar ein planvoll handelnder Gott der Geschichte hervor. Denn wie bei den Seeleuten im Kleinen, so geht nun auch bei den Bewohnern der Weltstadt im Großen Jahwes Rechnung auf: die Heiden bekehren sich und werden damit der einen, universalen Geschichte einverleibt, auf die sich die bisher partikulare Geschichte Israels nunmehr zu öffnen beginnt. Die Bekehrung selbst weist eine Reihe von Details auf, die das Fremde einer archaischen Kultur vor Augen führen. Sollen wir uns 6 Wolff (wie Anm. 5), S. 25.
4. Das Buch Jona
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doch eine antike Weltstadt vorstellen, die zu durchwandern drei Tagesreisen erfordert, in der die Städter aber "zwischen rechts und links noch nicht unterscheiden können" (4.11) und obendrein vornehmlich mit Viehzucht beschäftigt waren! Mit der Erwähnung des Viehs übertrumpft nicht allein Jahwe in seiner letzten Rede die gewaltige Zahl von 120 000 Einwohnern. Das ,liebe Vieh' wird wie selbstverständlich schon in die geforderten Bußübungen einbezogen: nicht allein "groß und klein" soll fasten und Trauer anlegen (der König übrigens keineswegs als erster, wie zu erwarten wäre), sondern auch das Vieh: "Rinder und Schafe sollen nichts genießen, sie sollen nicht weiden noch Wasser trinken. Sie sollen sich in Trauer hüllen. Menschen und Vieh, und mit Macht zu Gott rufen ... " (v. 7, 8). So merkwürdig wie das Vereintsein aller Geschöpfe in der bußfertigen Unterwerfung unter den fremden Gott, so befremdend ist für den modernen Leser auch die hier zutage tretende, offenbar archaische Auffassung der Prophetie: die Prophezeihung J onas bewirkt bei seinen Hörern eine spontane Umkehr auf dem Weg zum Untergang, die wiederum den richtenden Herrn zur Umkehr und Aufhebung seines Beschlusses veranlaßt, damit aber das ergangene Wort seines Propheten nichtig macht, um nicht zu sagen: Lügen straft. Was Wunder, daß dieser Kasus Jona "gar sehr verdrießt" (4.1)! Wird damit bedeutet, daß die Heiden - wie schon auf dem Schiff edler oder naiver, wenn nicht einfach klug genug waren, der angedrohten Katastrophe durch eine unverzügliche Unterwerfung unter den stärkeren Gott zu entgehen? Oder ist an eine eigens ersonnene Lehrerzählung ad usum Delphini, hier: des Volkes Israel, zu denken, das bekanntermaßen von aufmüpfigem Charakter war und oft den Prophezeiungen seiner Propheten nicht oder erst zu spät Glauben schenken wollte? Den Leser unserer Tage, der vor Augen hat, daß selbst wissenschaftlich perfekt begründete Prognosen - die moderne Gestalt der Prophetie - über noch abwendbare Katastrophen das politische Handeln nicht zur frühzeitigen Umkehr zu bringen pflegen, befremdet vor allem der archaische Glaube an die fraglose Wahrheit von Prophezeiungen, die (für das moderne Bewußtsein) unbegründbar und gleichwohl - durch Umkehr im Handeln - auch wieder abwendbar waren. Könnte das heißen, daß die Prophezeiung erst im Gang der Geschichte jenen Grad an Unabdingbarkeit erreicht hat, den zwar der griechische Mythos Kassandra zusprach (mit den bekannten Folgen), nicht aber der alttestamentarische Glaube, aus dem paradoxerweise die Geschichtsphilosophie der Neuzeit hervorging (einem Diktum Hegels zufolge ist aus dem Verhältnis des Volkes Israel zu seinem Gott schon alles abzuleiten, was aus der Geschichte gelernt werden kann)?
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B. Abhandlungen
Kap. 4: Der Einsatz des nächsten Erzählstrangs folgt wieder einem Muster, das inzwischen als Strukturprinzip der ganzen Erzählung erkennbar wurde: ihr Grundmotiv kehrt mehrfach, doch in wechselnder Dimensionierung von Groß und Klein, wieder und führt in eine sich steigernde Verstrickung, die stets durch eine unerwartete Wendung - ein von Gott bewirktes Wunder - gelöst, von seinem Propheten aber nicht als Lösung anerkannt wird. Die eine Seite des Grundrnotivs ist die Fluchtbewegung, später das Abseitstreten Jonas: wie der flüchtende Prophet auf dem Schiff sich von den Schiffsleuten in den untersten Schiffsraum absetzt, um zu schlafen, während die Bekehrung der Heiden in Gang kommt, so kehrt der amtierende Prophet nach getaner Strafpredigt der Stadt Ninive den Rücken, um mit seinem Gott zu hadern, während nach der kleinen nunmehr die große Bekehrung der Heidenschaft sich abspielt. Und damit nicht genug, macht er sein Abseits provokativ sinnfällig, indem er aus der Stadt hinausgeht und eine Hütte baut, um aus der Feme, im Schatten sitzend, zuzusehen, wie es wohl der Stadt ergehen mag (man kann darin eine Variante des ,Schiffbruchs mit Zuschauer' sehen, die Hans Blumenbergs Sammlung noch einzuverleiben wäre). Die andere Seite des Grundrnotivs ist die stets überraschende, unerwartbare, für den Empfänger immer wieder anders dosierte Antwort Gottes, seines Herrn. Unerwartbar und unbegreiflich traf Jona schon seine Entbietung zum prophetischen Botengang. Auf seine Flucht erfolgt nicht eine ZurredesteIlung, sondern eine merkwürdige, wortlose ,Herrenantwort' vom Typus: unverzügliche Entbietung eines Elements, höchste Bedrohung des Lebens, unerwartete Zurücknahme des eingeleiteten Strafgerichts. Dasselbe Verfahren wird im Falle von Ninive mit umgekehrter Größenordnung durchgespielt: entbot Jahwe erst das Übergroße, den Sturm als kosmische Katastrophe, dann das Große, den schreckenerregenden Walfisch, der sich wider Erwarten als Retter erweist, so entbietet er schließlich das Kleine, den unverzüglich zum Schattenspender emporwachsenden Rizinus, doch unversehens gefolgt vom Überkleinen, dem Wurm, der am folgenden Morgen den Rizinus verdorren läßt. Haben wir bei diesem Handeln Jahwes nicht die schönste Demonstration dessen, was Blumenberg "mythische Umständlichkeit" genannt hat?' Gleichwohl scheint diese Formel nicht geradezu das so merkwürdige wie befremdliche Handeln Jahwes zu treffen. Im griechischen Mythos ist Umständlichkeit eines unter anderen Mitteln, um die 7 In: Arbt'it am Mythos, Frankfun 1979, S. 159.
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Übermacht göttlicher Willkür, ihr völliges Desinteresse an der Welt Llnd am Glück des Menschen, durch Gewaltenteilung und der daraus folgenden Verzögerung ihrer Beschlüsse in Distanz zu bringen. "Noch der zornigste Gott ist zur Umständlichkeit genötigt: Zeus kann die Diebe, die in seiner Geburtshöhle auf Kreta den Honig der neiligen Bienen gestohlen haben, nicht mit dem Blitz zerschmettern, weil Themis und die Moiren ihn daran hindern; es sei dem Heiligen (OOlOV) nicht gemäß, an diesem On jemand sterben zu lassen". 8 Jahwe hingegen istJona gegenüber gerade nicht zur Umständlichkeit genötigt; er hat sie selbst als Strategie gewählt, um seinen unbotmäßigen Propheten zur Räson zu bringen. Sein Handeln entspringt letztlich einem evidenten Interesse an der Welt der Menschen, an deren Heil ihm offenbar so viel gelegen ist, daß ihm kein Umweg zu mühsam wird, um nach der Bekehrung einer übergroßen heidnischen Stadt nun auch noch den kleinen, ihm widerstrebenden, onhodoxen Gottesmann zu seinem Willen zu bekehren. Das gewählte Mittel Rizinus und Wurm - folgt als die sanfteste Belehrung auf die Inszenierung des härtesten Schreckens durch Sturm und Seeungeheuer - in einer Gegensinnigkeit, die dem Geist Jahwes das seltenste aller Gottesprädikate - nämlich Humor - zuzusprechen erlaubt. 9 Auch sein letztes Won in der Sache ist kein Herrenwort, sondern eine offen gelassene Frage. Hingegen sind die Prädikate eines zornigen und eifernden Gottes im letzten Dialog auf seinen seltsamen Propheten übergegangen: "Das verdroß Jona gar sehr, und er ward zornig" (v. 1). Sein Gebet, in dem er sich vor seinem Herrn zu rechtfenigen sucht, erhebt ihn zur fast heroischen Größe unbeirrbarer Haltung: er sei vor ihm geflohen, weil er schon wußte, "daß du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld, und daß dich des Übels gereut" (v. 2). Wußte er es nicht erst post festum, sondern immer schon, so ist seine Rede ironisch, sofern sie den Herrn an die Glaubenswahrheit seiner Barmherzigkeit erinnert und ihm indirekt vorwirft, von ihr einen nicht rechtmäßigen Gebrauch gemacht zu haben. Die Bitte, nun doch seine Seele von ihm zu nehmen, demonstriert letzte Konsequenz als Moral des Knechtes, zur Belehrung des Herrn, der es an Konsequenz habe fehlen lassen. Die Antwon des Herrn unterläuft den Vorwurf durch die milde Form einer Gegenfrage: "Ist es recht, daß du so zürnst?" (v. 4). Der Gegenfrage folgt die sanfte Therapie 8 Blumenberg (wie Anm. 7), S. 160. 9 Den Humor des Jona-Buches erkannte auch schon die theologische Interpretation, s. Wolff (wie Anm. 5), S. 73.
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mit Rizinus und Wurm. Geduld und Ablenkung statt Ausspielen von Macht kennzeichnen den guten Pädagogen. Als solcher hat Jahwe zunächst wenigstens einen Teilerfolg: Jona freut sich über den schattenspendenden Rizinus ungemein. Doch wünscht er sich erneut den Tod, als der Herr den Rizinus verdorren läßt und dazuhin einen Glutwind entsendet, der Jona bei stechender Sonne sterbensmatt werden läßt. Jahwe weiß den Teilerfolg zu nützen. Die wieder gestellte Gegenfrage nach dem erneuten Todeswunsch lautet: nIst es recht, daß du zürnst um des Rizinus willen?" (v. 9). Hier ist unvermerkt wieder ein Kleines an die Stelle des Größten, der Rizinus an die Stelle des göttlichen, für den Menschen unergründbaren Rechts auf Vergebung gerückt worden. Je kleiner der Anlaß, um so absurder wird der Widerspruch. Jona geht dem - dürfen wir nun sagen: listenreichen? - Gott auf den Leim: Da sprach der Herr: Dich jammert der Rizinus, um den du doch keine Mühe gehabt und den du nicht großgezogen hast, der in einer Nacht geworden und in einer Nacht verdorben ist. Und mich sollte der großen Stadt Ninive nicht jammern, in der über 120000 Menschen sind, die zwischen rechts und links nicht unterscheiden können, dazu die Menge Vieh? (v. 10).
Der kluge Pädagoge liebt es, Fragen offen und den Schüler die Antwort selbst finden zu lassen, um vermeintlich Gewußtes oder Geglaubtes zu erschüttern und den Adepten durch die Aporie zu neuer Einsicht zu bringen. Der in der Bibel einmalige und auch sonst in der älteren Literatur seltene Schluß in offener Frage ist im Buch Jona für den heutigen Leser gewiß befremdlich modern. Er würde nicht anstehen, Jahwe als den ersten Sokratiker zu rühmen, müßte er nicht eines Strafgerichts der Theologen wie wohl auch der Philosophen gewärtig sein.
IH. Von der theologischen Rekonstruktion zur literarischen Applikation Wohl wissend, daß es wissenschaftlich für allein legitim gilt, nur solche Fragen zuzulassen, die man beantworten kann 1o, gestehe ich freimütig, daß ich das bei den vielen Fragen, die beim ersten Durchgang 10 So zum Beispiel nach L. Wittgenstein, Tractarus Iogico-philosophicus, 6.5: .. Zu einer Antwon, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwonet werden."
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mein Befremden über den Text signalisieren sollten, weder kann noch aufholen will. Hier möge die Theologie, wenn sie meine profane Lektüre beunruhigen sollte, ihres Amtes walten. Hingegen nehme ich ihre Hilfe in AnspruchlI, um den primären Kontext, den ,Sitz im Leben', den modus dicendi der Gattung und die mutmaßlichen Fragen zu ermitteln, auf die der Text zu seiner Zeit die Antwort war. Auch diese Ermittlung kann hier nur selektiv geleistet werden, soweit es zur Vorbereitung einer literarischen Applikation nötig ist. Diese hat dann zu prüfen, ob das Buch Jona auch noch für den profanen Leser eine Antwort auf eine aktuelle, ihn angehende, erst heute stellbare Frage enthalten kann - eine Frage, die im Sinne des Rahmenthemas dann vor allem legitimiert wäre, wenn sie die ansichtig gemachte Fremdheit des Textes als ein Anderssein und Andersseinkönnen zu verstehen erlaubt (so korrigiere ich die harmonisierende Forderung, es käme hauptsächlich darauf an, im Fremden das Eigene zu erkennen). Um nach einem guten literarhistorischen Brauch mit der Bestimmung der Textgattung zu beginnen: es handelt sich um eine weisheitliche Lehrerzählung in der formalen Tradition des sog. Midrasch, bestimmbar durch das Binom ,Wege und Worte näherhin um eine Geschichte, die der Erforschung einer Überlieferung dienen soll. Inhaltlich gehört die Geschichte von Jona der Gattung der Prophetenerzählungen an. Diese kennzeichnen typische Ereignisse wie Berufung, Botenspruch (in poetischer Rede abgehoben), dessen Ausrichtung (auch als Gerichts- oder Umkehrpredigt), Leiden und Anfeindungen des Propheten (in Gehorsam, aber auch in Ungehorsam). Der Prophet ist dabei, so sehr ihn sein Amt auch als Einzelperson, ja schon als exklusives Ich auszeichnet, aber "selbst nie der ,Held' der Erzählung, sondern vielmehr Jahwe, der sich an ihm verherrlichte".12 Die biographische Uninteressiertheit, daß nicht um Jonas selbst willen erzählt wird, erklärt das Fehlen seiner Lebensumstände. Die spezifische Erzählstruktur: Verstrickung in einen Widerspruch geltender Normen, dessen Lösung durch eine unerwartbare Wendung, die im neuen Anlauf zu neuer Verstrickung führt und sich zu einer letzten Aporie steigen, scheint dem Buch Jona allein eigen zu sein und kommt - wie noch zu begründen ist - schon der modernen Form einer Novelle nahe. Die Frage nach dem primären Kontext wird dadurch erschwert, C
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11 Außer auf H. W. Wolff (wie Anm. 5) und seinen Anikel in D~ R~ligion in G~schichte .. nd Gegenwart. Bd. 3, Tübingen 1959, stützte ich mich vornehmlich auf G. von Rad: Theolog~ des Alten Testaments. München 1968. bes. Bd. 2., S. 300 ff. 12 von Rad (wie Anm. 11). S. 302. Bayerische StaalstJlbliothek
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daß das Buch Jona ins 4. Jahrhundert datiert wird, aber von einem Gottesmann aus schon ferner Vergangenheit erzählt. Der historische Jona, unter Jerobeam im 8. Jahrhundert bezeugt, war "einer jener Heilspropheten, auf die sich der nationalreligiöse Hochmut Israels beziehen konnte, der von Amos zu gleicher Zeit aufs schärfste gegeißelt wurde".1l Ihn wieder in Erinnerung zu bringen, geschah gewiß nicht aus dem traditionalistisch-epischen Interesse an einer Verherrlichung der Vorzeit (laudatio temporis acti), sondern in der didaktischen Absicht, eine aktuelle Streitfrage zwischen zwei Auslegungen der Thora: ob Gottes Barmherzigkeit die Heiden einschließen kann oder ausschließen muß, durch den Rekurs (und die Umdeutung?) einer Überlieferung zu entscheiden. Obschon Mutmaßungen über zeitgeschichtliche Anlässe nicht zu erhärten sindi., wird vorgeschlagen, die Fragen, auf die der Erzähler mit diesem Text seine Antwort gab, wie folgt zu rekonstruieren: "Welches Ziel verfolgt Gott mit den Völkern? Welche Aufgabe fällt dabei Israel ZU?"IS Da dem aufgeklärten Leser der universalistische Standpunkt so selbstverständlich geworden wie ihm der partikularistische Glaube an einen ,Stammesgott' ferngerückt ist, scheinen diese Fragen kaum noch für eine Applikation geeignet, die auch einen profanen Leser unserer Tage überzeugen und mehr als sein historisches Interesse befriedigen könnte. Andererseits ist auch das Amt des Propheten durch politischen Mißbrauch in tiefen Diskredit geraten. Wäre das Buch Jona nur eine typische Prophetengeschichte, so bliebe - wie mir scheint - die profane Rezeptionsbarriere unüberwindbar. Dann wäre schon gar nicht mehr der nur noch historisch zu verstehende Text das eigentlich Fremde, sondern das naive Verständnis unserer eigenen Vorväter, die den Text für buchstäblich wahr hielten! Nun ist aber das Buch Jona gerade nicht eine typische Prophetengeschichte, sondern - nach dem Urteil Gerhard von Rads - "die letzte und seltsamste Blüte an dem
alten und fast schon erstorbenen literarischen Stamm". Letzte Blüte und darum seltsam, weil hier, wo "mit einer Anmut und Leichtigkeit erzählt wird, wie wir das in der prophetischen Literatur sonst nicht mehr finden"l6, die Tradition der Prophetenerzählung sich selbst zu
13 Wolff (wie Anm. S), S. 14. 14 von Rad (wie Anm. 11), S. 302: .. Von einer ,universalistischen' Opposition gegen die ,panikularistischen' Maßnahmen Esra-Nehemias wissen wir nichts, und in dem Büchlein finden sich dafür schlechterdings keine Anknüpfungspunkte. • 15 Wolff (RGG), Sp. 8SS. 16 von Rad (wie Anm. 11), S. 302.
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guter Letzt in Frage stellt! Dazu gehört, daß der ,Prophet wider Willen', der im Text niemals ,Prophet' genannt wird, Jona heißt, was ,Taube' bedeutet und zudem ironisch auf Israel selbst anspielen könnte: "Fast satirisch trifft die geheime Paränese der Lehrdichtung den jüdischen Partikularismus. Das Buch Jona mahnt aber nur indirekt. Es bezeugt, daß Jahwe sein Ziel auch mit einem widerspenstigen Israel erreicht" .17 Entsprechend von Rad: "Merkwürdig aber bleibt, daß eine der letzten Äußerungen der Prophetie Israels ein Wort von so vernichtender Selbstkritik ist" .18 Dazu gehört dann aber auch, daß der Gott, "der sich hier nicht an seinem Boten, sondern angesichts des völligen Versagens seines Botens verherrlicht"", in seiner Langmut und erfinderischen Geduld sich der Autorität, die absoluten Gehorsam fordern kann, einmal begeben hat, um seinen Boten, der als sein Parteigänger letztlich aus Rigorismus ungehorsam wird, zu überzeugen. Die paradoxe Formulierung von Rads impliziert ja doch auch wohl einen Gott mit ,Humor'! Wenn sich aber Humor und Selbstverherrlichung gemeinhin ausschließen, kann einem Gott gewiß zugestanden werden, sich in Anbetracht der Seltenheit auch durch erwiesenen Humor zu verherrlichen. Zumal wenn dieser Gott, der - im Unterschied etwa zu Jupiter - sich einen Scherz erlauben und warten kann, ohne zornig zu werden, mit seiner Pädagogik letztlich Erfolg hat. Denn wer von uns würde der implizierten Antwort seiner letzten Gegenfrage nicht vollen Herzens zustimmen? Sollte der biblische Jona, von dem der Text nichts mehr verlautet2°, sich dieser Antwort doch wieder versagt haben, weil er sich für jahwistischer hielt als J ahwe selbst, so hat er seinen Gott nicht verdient ... Aus alledem ergibt sich nunmehr mein Vorschlag, die Fragen, auf die der Text zu seiner Zeit noch nicht die Antwort war, zu unserer Zeit aber eine bedenkenswerte Antwort geben kann, wie folgt zu stellen: Wie müßte - theoretisch formuliert - Gott gedacht werden, wenn er unserer Zeit demonstrieren wollte, wie anders Autorität auch sein kann? Wie könnte - praktisch formuliert - der Dogmatis-
17 WolfE (RGG). Sp. 855. 18 von Rad (wie Anm. 11). S. 303. 19 Daraus gewann Uwe Johnson die Schlußpointe seiner Jona-Version: .Und Jona blieb sitzen im Angesicht der sündigen Stadt Ninive und wanne auf ihren Untergang länger als vierzig mal vierzig Tage? Und J ona ging aus dem Leben in den Tod. der ihm lieber war? Und Jona stand auf und fühne ein Leben in Ninive? Wer weiß.· Uonas zum B~isp~/, in: Karseh, und andeT~ Prosa, Frankfun 1966 (es 59). 20 von Rad (wie Anm. 11). S. 302.
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mus eines übereifrigen Parteimanns gebrochen und Konsens gewonnen werden, wenn der Appell an Disziplin oder an Vernunft versagt? Ich brauche den Text im Lichte dieser Fragen nicht erneut zu interpretieren, weil sie schon früher in einer Seminardiskussion mit Studenten gefunden wurden und implizit bei der Textbeschreibung insonderheit bei der Analyse der wachsend komplexeren Charaktere von Jahwe und Jona in der archaischen Dialektik von ,Herr und Knecht' - schon leitend waren. Der naive Zugang zu einem archaischen Text - darin stimme ich mit H. -G. Gadamer überein - verfällt nolens volens in die Illusion der Unmittelbarkeit. Der spätere Horizont des Lesers übergreift im Akt des Verstehens immer schon den früheren Horizont des Textes. Um seiner Fremdheit und zeitlichen Ferne ansichtig zu werden, muß der Standpunkt gegenwärtiger Erfahrung bewußt eingenommen werden, um - darin weiche ich von Gadamer mutmaßlich immer noch ab - der spontanen Horizontverschmelzung durch eine reflektierte Horizontabhebung entgegenzusteuern. Doch möchte ich meine Leser jetzt nicht bloß zur Wiederlektüre von Teil 11 einladen, bei der sie prüfen mögen, wie weit die Aufdeckung der Fremdheit des Buches Jona über die hermeneutische Brücke von Frage und Antwort schon zum Erkennen einer Andersheit führte, die bereits eine Anerkennung des Fremden einschließt und damit seine Aneignung ermöglicht21 , aber auch zu bedenken geben, ob und wo diese Fragen nicht hinreichen, den Widerstand des Fremden unserer Gegenwart zu erschließen. Ich bin es noch schuldig, zu zeigen, warum die eigentümlich komplexe Form und offene Struktur dieser letzten Prophetenerzählung in mancher Hinsicht eine spezifische moderne Erzählgattung antizipiert hat, so daß man das Buch Jona cum grano salis als die erste Novelle der Weltliteratur ansehen kann, was gewiß auch dazu beitrug, daß es eine Vorzugsgestalt der Bibelrezeption geworden ist.
Im Anschluß an die immer noch einschlägige Analyse der Einfachen Formen von Andre Jolles 22 kennzeichnet die Novelle in ihrer von Boccaccio neu geprägten Gestalt, daß sie sich als komplexe, schon 21 Hier nehme ich H. Weinrichs Unterscheidung von Fremdheit und Andersheit auf, aus: .. Fremdsprachen als fremde Sprachen-, in: HermeneNtik Jer Fremck, hg. A. Kruschel A. Wierlacher, München 1990, S. 24 Ei. 22 Wolff (wie Anm. 5) bemerkte bereits novelleske Zuge im Jona-Buch, stützte sich dabei indes nur auf W. Kayser, so daß die von JoHes: Einfache Formen (Halle 1929, 11956) herausgestellte kasuistische Struktur, das Spezifikum der (toscanischen) Novelle, das sie von früheren ,einfachen Formen' abzugrenzen erlaubt, unberücksichtigt blieb. Zur Kritik und Weiterführung von Jolles s. Vf. in: AM, S. 40 H.
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hochliterarische Form vom Idealismus der heroischen Dichtung wie von der direkten Moral lehrhafter Gattungen absetzt und dabei häufig ältere einfache Formen (wie Exempel, Legende, Mirakel, Vita, Schwank) durch Verzeitlichung und Problematisierung wieder aktualisiert. Durchaus analog nimmt der Erzähler im Buch Jona einfache Formen (Motive aus Seemannsgeschichten oder Mythen, Muster der Prophetenerzählung in der Tradition der Jeremia- und Elias-Überlieferung, das Gebet) wieder auf, um sie einem neuen, didaktischen Zweck dienstbar zu machen, doch in der anspruchsvollen Form eines Erzählens in offener (Ob-überhaupt-statt Wie-) Spannung und nicht vorentschiedener Bedeutung, die den Hörer oder Leser immer neu durch Erstaunen zur Reflexion bringen will und am Ende mit der offenen Schlußfrage sein eigenes Urteil herausfordert. Die Welt, die diese Erzählung erstellt, ist zwar in epischer Distanz situiert, aber in der historischen Konkretisation von Ort und Zeit nicht mehr idealisiert. Die konventionelle Idealisierung der Personen ist hier schon dadurch gebrochen, daß die Dichotomie von Gut und Böse in der Zuordnung auf Freund und Feind umgekehrt wird: die heidnischen Seeleute und die Bewohner von Ninive "sind einfach und durchsichtig vor Gott; Jona ist problematisch und psychologisch kompliziert" . 23 Wie die spätere Novelle dem vollkommenen Heiligen, dem Ritter ohne Fehl und Tadel, der so schönen wie edlen Frau nunmehr fehlbare, wandelbare und mehrdeutige Charaktere entgegensetzt, die sich als schon individuierte Personen in problematische Situationen verstricken, so setzt der Erzähler im Buch Jona den bußfertigen und darin edlen Heiden einen unbußfertigen, verstockten, bald zornigen, bald lebensmüden Knecht Gottes entgegen, der sich der allgegenwärtigen, übermächtigen Autorität seines Herrn durch Handlungen und Widerreden zu entziehen sucht, die uns manchmal an das subversive Verhalten eines Soldaten Schwejk erinnern (z. B. das im Gebet Kap. 4.2 so geschickt gegen Jahwe gewendete Jahwebekenntnis!) und den ,Propheten wider Willen c als fernen Vorfahren des unheroischen ,Helden' der Moderne erscheinen lassen. Was aber das Buch Jona der modernen Gattung der Novelle am nächsten kommen läßt, ist seine eigentümlich kasuistische Form: daß die Erzählung nicht - wie die Legende oder das Exemplum - auf Nachahmung oder direkte Belehrung angelegt ist, sondern dem Leser selbst "die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält - was sich in ihr verwirklicht, ist das
23 von Rad (wie Anm. 11). S. 301.
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Wägen, aber nicht das Resultat des Wägens". 24 Daß die innovatorische Leistung dieser Form einen Erzähler von ungewöhnlichem Rang voraussetzte, zeigt am schönsten ein Vergleich des biblischen Jona mit seiner Parallelversion in den von Louis Ginzberg gesammelten jüdischen Legenden. 2§ Dort ist der fehlbare und unbußfertige Gottesmann noch (oder wieder?) ein Imitabile, ein zur Vollkommenheit gelangender Heiliger, in dem als Person - nach Jolles' Bestimmung der Legende - "die Tugend sich vergegenständlicht (... ), eine Figur, in der seine engere und seine weitere Umgebung die imitatio erfährt" .26 Dort sind dieselben unerhörten Ereignisse, die das Wollen und Handeln des biblischen Jona in Frage stellen, so umerzählt, ergänzt und ausgeschmückt, daß sie Jonas Glauben bestätigen, ihn vor Gott rechtfertigen und seinen Erwählten schließlich sogar dem Tod durch unmittelbare Versetzung ins Paradies entrücken lassen. Die Erhöhung Jonas zum Heiligen setzt in der Legende gleich damit ein, daß er als der prominenteste Schüler Elias ausersehen wird, erst den König Jehu zu salben und später den Einwohnern von Jerusalem den Untergang ihrer Stadt zu verkünden. Als dann aber das prophezeite Strafgericht nicht eintrifft, weil das Volk sein Unrecht bereut und von Jahwe begnadigt wird, gilt Jona hinfort bei den Juden als der ,falsche Prophet'. Durch diese Vorgeschichte wird motiviert, daß Jona mit gutem Grund - von der göttlichen Barmherzigkeit überzeugt und nicht willens, erneut zum falschen Propheten zu werden - den Botenauftrag für Ninive verweigerte. Auch durfte er annehmen, daß Jahwe, der ihm in Joppe eigens ein Schiff zuführt, diese Entscheidung billigte. Das Wunderbare an dem sodann aufgebotenen Sturm ist hier, daß er nur Jonas Schiff in Not bringt, alle anderen Schiffe aber nicht. So wird er belehrt, ,daß Gott Herr über Himmel und Erde ist und daß sich kein Mensch irgendwo vor seinem Antlitz verstecken kann'. Gleichwohl (Motivationsbruch!) kommt es hernach zum selben Sündenbockritual. Dabei ist der Einsatz
gesteigert: auf dem Schiff befinden sich nicht weniger als 70 Nationen mit der entsprechenden Zahl von anzurufenden Götzen. Zugleich wird auch der Edelmut der Heiden erhöht. Die Passagiere weigern sich zunächst, dem grausamen Akt zuzustimmen, daß Jona auf seine eigene Bitte ins Meer geworfen werde. Sie können sich selbst dann noch nicht dazu entschließen, als sie den unbekannten 24 JoHes (wie Anm. 22), S. 29. 25 The Legends 01 the }twS, by Louis Ginzberg, Philadelphia 1913 246-253. 26 JoHes (wie Anm. 22), S. 29.
Cl 968),
Bd. IV, S.
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Gott gebeten haben, ihnen unschuldiges Blut nicht anzurechnen, und versuchen, das Meer zu besänftigen, indem sie Jona erst nur bis zum Knie, dann bis zum Nabel, schließlich bis zum Nacken ins Wasser senken. Jedesmallegt sich der Sturm, um bald wieder zu toben, bis er zu guter Letzt erlischt, als die See ihr Opfer hat. Das Wunderbare, das für uns hier wieder die Fremdheit des Magischen hat, nimmt in der Walfisch-Episode unverkennbar Züge einer ganz anderen Fremdheit - die des Märchenwunders in der An der lukanischen Lügengeschichten - an. Nur der neue Eingang setzt noch eine naive Einstellung des religiösen Glaubens voraus: schon bei der Schöpfung der Welt habe Gott eigens für J ona (untrügliches Zeichen seiner Erwähltheit!) einen wunderbaren Fisch geschaffen. Dessen Beschreibung und sein weiteres Schicksal dürfte - wenn ich nicht eines Besseren belehrt werde - schon die Einstellung der, willing suspension of disbelief' , nämlich das durchaus ästhetische Vergnügen an der mit Augenzwinkern hingenommen ,Wahrheit' von Lukians Wahren Geschichten erfordern: der Fisch war so groß, daß sich J ona darin so behaglich fühlte wie in einer geräumigen Synagoge; seine Augen dienten Jona als Fenster; ein Diamant, so heU strahlend wie die Sonne am Mittag, ließ Jona alle Dinge bis zum tiefsten Meeresgrund sehen. Das Märchenwunder scheint für uns den Widerstand des Fremden aufzuheben; über sein Anderssein als die gewöhnliche Realität kann man nur staunen, aber nicht daran Anstoß nehmen, ohne seinen schönen Schein zu zerstören. Gilt das auch schon für die ursprüngliche Aufnahme der Legende oder hat diese eine geglaubte Realität (oder Realität des Irrealen) vorausgesetzt, die sich mit dem Genuß des Fiktiven, sei es schön oder schaudererweckend, nicht vertrug? Ich stelle diese Frage der Diskussion anheim und referiere kurz die folgenden (offenbar heterogenen Quellen entstammenden) Episoden. Der wunderbare Fisch soll vom Leviathan verschlungen werden; doch Jona weiß dies abzuwenden: Leviathan flieht, als er auf Jonas Körper das Zeichen des Bundes bemerkt. Zum Dank fühn der Fisch seinen erwählten Gast zu den größten Sehenswürdigkeiten der Welt: zum Fluß, aus dem der Ozean entfließt, zum On, an dem die Israeliten das Rote Meer überquenen und zu anderen Stätten mehr. Dann scheint sich der Verfasser wieder der biblischen J ona-Geschichte zu erinnern. Als J ona nach drei vergnüglichen Tagen im Bauch des Fisches immer noch nicht daran denkt, Gott um seine Befreiung zu bitten, schickt dieser einen noch größeren weiblichen Fisch mit 365 Oahressymbol!) kleinen Fischen, die - nicht ohne eine erneute Intervention des Leviathan - Jona in einem schlechteren Gemach das
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Leben so vergällen, daß er aus der Tiefe seines Herzens Gott um Rettung ersucht und verspricht, seinen Auftrag zu erfüllen. Er wird daraufhin nicht einfach, sondern in einem ungeheuren Bogen von 965 ,Parasangs' an Land gespieen - ein letztes Wunder, ganz dazu angetan, den letzten Anstoß zur Bekehrung der Schiffsinsassen zu geben, die hinfort als fromme Proselyten in Jerusalern leben dürfen. Die Ninive-Episode entspricht zunächst dem Ablauf im biblischen Text, doch mit der gewohnten Superlativierung der Größendimension. Die Monsterstadt hat nicht weniger als ein und einhalb Millionen Einwohner, was Jona nicht schrecken kann, denn seine Stimme war so laut, daß sie bis in den letzten Winkel reichte und alles Volk, den König an der Spitze, unverzüglich zur Umkehr auf seinen gottlosen Wegen brachte. Die radikale Bekehrung wird sodann mit Details von größerer Lebensnähe ausgemalt: das Vieh brüllt mit, weil die Jungtiere von den Muttertieren getrennt wurden; die Niniviten rufen zu Gott: ,Wenn du nicht mit uns Erbarmen hast, werden wir auch keines mit diesen Tieren haben'; es wird nicht nur gefastet und gebetet, sondern auch jeder Rechtsstreit freiwillig und im Guten beigelegt. Daß Gott Ninive daraufhin verzeiht, ermutigt Jona (von Zorn ist nicht die Rede!), sich vor Gott zu rechdertigen, um Vergebung für die Flucht vor seinem Auftrag zu erlangen: -God spoke to hirn: IThou wast mindful of Mine honor' - the prophet had not wanted to appear a liar, so that men '5 trust in God might not be shaken- land for this reason thou didst take the sea: Therefore did I deal merciful with thee, and rescue thee from the bowels of Sheol', "
Die Rizinus-Episode bedarf daraufhin einer neuen Motivierung: die große Hitze im Bauch des Fisches hat Jonas Kleider verzehrt und auch sein Haar ausfallen lassen. Gott schützt ihn durch den über Nacht aufgewachsenen Baum mit 275 mehr als spannen großen Blättern und erteilt, nachdem er den Baum wieder verdorren ließ, die bekannte Lektion. Wie hier nicht mehr anders zu erwarten, kommt Jona zur Einsicht: ,0 Gott, lenke die Welt nach Deiner Güte!' Doch damit nicht genug, fallen die Niniviten am Ende der vierzig Tage wieder von Jahwe ab, werden sündiger als zuvor und gehen im Strafgericht eines Erdbebens unter, während Jona, wie schon erwähnt, für seine Leiden im Abgrund des Meeres (Motivationsbruch !) durch Versetzung ins Paradies entlohnt wird. Der Abstand zwischen der Legende, die Jona rechtfertigt, um den panikularistischen Glauben zu retten, und dem biblischen Buch Jona, das Jona problematisiert, um die Wendung zu einem universalistischen Glauben einzuleiten, könnte kaum größer gedacht werden,
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Im Buch Jona vollzieht sich die Wendung vom Dogmatismus des alten Glaubens an den Gott, der die Heiden als Fremde aus seinem Bund mit Israel ausschloß, zu dem Gott, der sie künftig in seine Barmherzigkeit einschließen will, vor unseren Augen und auf eine Weise, die den Widerstreit der beiden Normen nicht ,theoretisch', sondern in einer neuen, vom Erzähler offenbar selbst geschaffenen Erzählform austrägt. Der universalistische Plan Gottes und der partikularistische Standpunkt seines Propheten treten in einen Widerstreit, der durch eine, unerhörte Begebenheit' aufgehoben wird und gelöst wäre, würde Jona, der allein sich nicht überzeugen läßt, nicht ein zweites und ein drittes Mal den Kasus in einer neuen Situation wieder aufwerfen und ein weiteres Wunder herausfordern - in einem regressus ad infinitum, den sein Widerpart schließlich mit seiner großen Gegenfrage beendet, aber nicht entscheidet: die Pflicht der letzten Entscheidung ist dem Leser selbst auferlegt! Als "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit" hat bekanntlich Goethe (zu Eckermann, 25.1.1827) die Novelle definiert. Diese Definition gewinnt erst ihre volle Schärfe, wenn man sie auf die einfache Form des Kasus bezieht. Dann läßt sich die, unerhörte Begebenheit' näherhin als ein Ereignis bestimmen, das in einer unerwartbaren Wendung des Geschehens einen Kasus: den Widerstreit zweier Normen, in die sich die handelnden Personen verstrickt haben, löst. Jolles hat diese Genese der Novelle an der Kasuistik der Minnekultur gezeigt: die Erörterung von Streitfragen, die den Widerspruch gleichgewichtiger Normen ins Spiel bringt, strebt auf die Novelle zu, die mit einem Ereignis, das - bei Boccaccio als unverhofft glückliche oder unverdient tragische Wendung der Fortuna thematisiert - die Entscheidung bringt und damit den Kasus aufhebt. Im Decameron geschieht dies nun aber in der Weise, daß die Rahmenerzählung immer weiter fortschreitet, "und wie es im Leben in der Welt der Normen zu geschehen pflegt, kaum ist der eine Kasus entschieden, so erscheint schon wieder ein anderer, ja, sogar das Verschwinden des Einen verursacht das Erscheinen des Anderen" . 27 Die Analogie der komplexen Erzählstruktur im Buch Jona ist-wie mir scheint - frappant: die mehrfache Umkehr im Handeln der Aktanten onas', der vor seinem Auftrag flieht, der Seeleute und der Niniviten, die sich bekehren, Jahwes, den sein angedrohtes Strafgericht gereut) wird nicht allein durch eine immer wieder andere, unerhörte Begebenheit' bewirkt. Die Entbietung des Sturmes und des
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27 (wie Anm. 21) S. IS8.
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Walfischs, die Zurücknahme des Strafgerichts, die Entbietung des Rizinus, des Wurms und des Wüstenwinds sind nicht allein Wunder, die von der Allmacht und Barmherzigkeit Jahwes zeugen, sondern auch Ereignisse, die unerwartet und unerwartbar den Widerstreit zwischen der panikularistischen und der universalistischen Norm des Glaubens lösen, aber in undurchdringbarer Verkettung den Kasus immer wieder neu erstehen lassen. In dieser Sicht kann die letzte Prophetengeschichte des Alten Testaments darum in der Tat als die erste Novelle der Welditeratur angesehen werden! Sie ist vor der später einsetzenden profanen Tradition der Gattung dadurch ausgezeichnet, daß sie den Knoten der Kasuistik gleich drei Mal schürzt und im archaischen Streit des großen Gottes mit dem kleinen Propheten schon die modeme Dialektik von Herr und Knecht ahnen läßt. Es war meine These, daß das Buch Jona damit eine Antwort auf gegenwärtige Fragen parat hält, die ich jetzt noch einmal in Erinnerung bringen möchte: "Wie müßte - theoretisch formuliert - Gott gedacht werden, wenn er unserer Zeit demonstrieren wollte, wie anders Autorität auch sein kann? Und wie könnte - praktisch formuliert - der Dogmatismus eines übereifrigen Paneimanns gebrochen und Konsens gewonnen werden, wenn der Appell an Disziplin oder an Vernunft versagt?" Dagegen läßt sich der Einwand erheben, daß der modernen Autorität der wohl dosierte Gebrauch des Wunders nicht zu Gebote steht, um den sie die alte Autorität nur beneiden kann. Hier stößt die versuchte Applikation auf einen letzten Widerstand des Fremden, den aufzuheben die literarische Hermeneutik nicht selbst zu leisten, sondern nur wieder von einem Erzähler hohen Grades zu erhoffen vermag. 21
28 Als Beispiel einer Interpretation. die das Buch Jona unter einer verschiedenen Perspektive - daß es die sokratische Lehre. niemand könne wissend ich Böses tun, antizipie" - betracht~ ohne darum meiner Interpretation zu widersprechen. möchte ich abschließend anführen: David Daube: .Jonah: a rcminiscence· in:Jo"rruJ olJnJJuh St,,~s 3S (1984), S. 36-43.
5. Vom Plurale tantum der Charaktere zum Singulare tantum des Individuums I. Das Allgemeine sperrt sich gegen das Besondere (das Individuum als verschwiegene Instanz)
" Wie sah ein Mensch aus, der kein Individuum war?" So hat Lionel Trilling gefragt und danach das, was ein Mensch immer schon als ihm eigen empfand, wie seine Sinneswahrnehmungen, Gefühle und Leidenschaften, von dem unterschieden, was er nicht besaß oder tat, bevor er ein Individuum war, nämlich: "Er hatte kein Bewußtsein von dem (... ) inneren Raum (... ). Er dachte sich selbst nicht (... ) in mehr als einer Rolle, so als stünde er außerhalb oder über seiner eigenen Person"l. Trillings Antwort ist schon im Blick auf die merkwürdig späte Entdeckung der Aufrichtigkeit formuliert. Mir scheint die Unterstellung nicht weniger merkwürdig zu sein, daß der Mensch dereinst kein Individuum gewesen sein soll, auch wenn er sich - wie jedermann weiß - erst seit einer bestimmten Zeit als ein individuum ineffabile ansah. Trug der Mensch vor dieser ominösen Schwelle etwa nicht seinen Personennamen, der ihn ineins mit der kürzesten aller Geschichten der seiner Herkunft - auch ohne Geburtsurkunde, Fingerabdruck und Personenbeschreibung unverwechselbar machte? Hatte er nicht seinen Körper, der ihn in Momenten der Lust oder der Qual, wenn nicht gar der Todesangst, unbezweifelbar empfinden ließ, dieser und kein anderer zu sein? Und wenn er in der Tat von sich selbst nicht von Anbeginn in der ersten Person sprechen konnte, dem allmählichen Erlernen der Ich-Redefonn beim Kind entsprechend, hat er dann das Possessivum: die Scheidung von Mein und Nicht-Mein, nicht doch schon früher benötigt, in der elementaren Trennung des Eigenen vom Fremden, die der Scheidung von Subjekt und Objekt gewiß noch voraufgeht? Und wenn er sich selbst nicht in mehr als einer Rolle denken konnte, oder auch, wenn er als ein Charakter inmitten anderer Charaktere auf eine Eigenschaft oder Schwäche fixiert wurde, setzte dann
1 L. Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, Frankfun 1983, S. 3 t .
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die auferlegte Rolle oder angeborene Natur nicht doch unweigerlich die Zweideutigkeit voraus, die dem Begriff persona eigen ist, nämlich Einer und Etwas, Person und Sache zugleich zu sein, mithin als Person befragt werden zu können, wer sie ist, wie auch was sie is~? Trillings Frage wäre demnach umzukehren: Warum sah sich der Mensch so lange nicht als ein Individuum an, obschon er sich immer schon als singulares Ich im Verhältnis zu den Andem erlebt haben muß?
"Daß ich ein Mensch bin, daß ich ein Ich bin, daß ich eines der Naturwesen bin: alles dies deutet mir mein Leben nicht, so wie es erlebt wird, alles dies wird der nicht weiter ableitbaren Tatsache nicht gerecht, daß ich der bin, der ich bin und kein anderer, und daß dieses von jedem Menschen gilt"l. In diesem letzten Widerspruch von Erkenntnis und Leben sah Bemhard Groethuysen die eigentliche Dialektik der philosophischen Anthropologie. Was dem Bewußtwerden der Individualität in den Geschichten der Selbsterkenntnis einerseits, der Selbstdarstellung andererseits in der alteuropäischen Tradition so lange entgegenstand, läßt sich schwerlich auf einen begrifflichen oder auch nur begriffsgeschichtlichen Nenner bringen. Der Widerstand gegen die Selbstbestimmung des Menschen als Individuum nahm immer wieder andere Gestalt an, wenn nach Seele und Idee, nach Natur und Gattungsmerkmalen, nach Person oder sozialer Rolle oder schließlich nach dem Ich-Du-Verhältnis von Gott und Menschen gefragt wurde. Die vor dem Individuum errichteten Schranken sind zumeist von der Art stillschweigend anerkannter Konventionen, am ehesten daran abzulesen, was am Leben des Einzelnen für darstellungswürdig galt und was als seine Eigenheit noch ungesagt oder unsagbar blieb. Im Anschluss an Groethuysens Philosophische Anthropologie (1931) lassen sich zunächst die wichtigsten Positionen dieser Vorgeschichte bestimmen, um sodann zu fragen, wie die verschwiegene Instanz des Individuums in literarischer Präsentation erscheint und wo Anfänge seiner Artikulation sichtbar werden. In der Sokratesfigur scheint die platonische Philosophie den Anfang par excellence des Individuums gesetzt zu haben. Als Figur eines einmaligen Menschen, der als Mitte der Interpretation selbst in kein philosophisches System eingeht, "wird in der Anschauung des 2 K. Löwith, Das Indiflidl4l4m in der Rolle des Mitmenschen (1928), Darmstadt '1962. S.60. 3 B. Groethuysen. Philosophische Anthropologie (1931), Darmstadt '1969, S. 6.
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Sokrates die Bedeutung des Diesseits im Verhältnis zum Jenseits, des Augenblicks im Verhältnis zum Ewigen, des Individuums zum Allgemeinen, des Denkenden zum Gedachten wiederhergestellt"4. Und doch hebt sich Sokrates als in sich vollendeter Typus des philosophischen Menschen, der im geistigen Streben nach Ideenschau über dem Leben steht, markant vom sinnlichen Menschen des Alltags ab, so sehr, daß vom individuellen Verhalten des Sokrates nicht viel mehr auf die Nachwelt gelangt ist als drei Fälle, in denen er durch seinen Widerstand bestehende Gesetze verteidigte, aber so gut wie nichts über seine private Existenz als Mensch von Fleisch und Blut (noch die Anekdote, er habe Xantippe geehelicht, weil ihr Charakter seine philosophische Langmut auf die stärkste Probe stellte, negiert die Natur um der sich selbst suchenden Seele willen)5. Die Seele aber ist in Platons dualistischer Anthropologie unpersönlich, ein kosmisches Wesen, sich selbst entfremdet, solange sie sich nur als Mensch sehen kann, und erst zu sich selbst gelangend, sofern sie in der Ideenschau alles menschliche Leben übersteigt. Die Kluft zwischen dem Menschen als sich suchender Seele einerseits, als Natur- oder Gattungswesen andererseits kann nur durch ein therapeutisches Verfahren überbrückt werden: in der Vorbereitung der Seele zur Erkenntnis oder in der Erziehung des Menschen als Natur- oder gesellschaftliches Lebewesen, des politischen Menschen, durch den Gesetzgeber. Sucht man das literarische Korrelat zur platonischen Seele, so kommt ihr die Figur des Jenseitswanderers wohl am nächsten. Er ist der Fremdling in dieser Welt, über menschliche Bedürfnisse erhaben, Bachtins Wahrheitssucher, der nicht sein eigenes Leben, sondern das menschliche Leben ,auf der Schwelle' repräsentiert und erst in der subversiven Phase der menippeischen Satire, mit der dialogischen Prüfung der Idee und des Menschen, der sie vertritt, die Ausnahmegestalt des namhaft Singularen gewinnt. Bei Aristoteles hört der Mensch auf, ein Fremdling zu sein. Der Wanderer wird zum Schauenden, der sich als Naturwesen versteht und damit seine Stelle in der sublunaren Welt akzeptiert, in der er lebt und sich als Einzelner nach seiner Eigenart in das vielfältige Ganze einordnet. Doch dieser Einzelne, der hier Gestalt gewinnt und sich von den Andern nach seiner Natur abgrenzt, ist noch kein Selbst, sondern in seinem naturhaften Leben durchaus von dem Ganzen bestimmt. Sein Selbst fällt aus seiner Bestimmung als Naturwesen heraus. Was ihn in der Mannigfaltigkeit der Ereignisse persönlich 4 Ebd., S. 9. 5 So in Diderots Anikel: .,Philosophie socratique- der Encyclopedie.
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betrifft, sein empirisches Ich, gehört in einen anderen Bereich, in dem Tyche, der Zufall, herrscht. Es ist der Bereich dessen, was in unserem Leben nurmehr erzähl bar ist', aber auch der Bereich des praktischen Könnens, also auch der Kunse. Und eben darum, weil Tyche nicht mehr etwas ist, was dem Menschen als Naturwesen zukommt, wird das Ich in der aristotelischen Anthropologie ausgeklammert; hier "spricht der Mensch gewissermaßen stets von sich in der dritten Person. Das eigentliche, gar nicht weiter ableitbare Verhältnis, in dem er zu sich selbst steht, ist dabei das Irrelevante. Er ist sich selbst ,ein Fall', Exemplar einer Gattung; er ist ein Mensch"'. Das zeigt auch das griechische Pendant zum modernen Begriff des Individuellen. Das Merkmal des Eigenen und Eigentümlichen bezeichnet tou idion, und zwar stets mit abschätzigem Sinn: es war "niemals eine auszeichnende Eigenschaft dessen, was die Griechen LOgos und die Scholastiker ratio nannten. Der ,Logozentrismus' impliziert keineswegs einen Kult des ,Eigenen'. Dieses und sein Geschwister, das Private (ti> idion), tragen im Gegenteil den Makel einer Beraubung (steräsis, privatio): es sind nur gewissermaßen Seiende, anta, die die Wahrheit und volle Präsenz der Idee verfehlen"'. Manfred Frank hat zu diesem Ursprung des Begriffs so scherzhaft wie treffend bemerkt, "daß das Individuum in unserer Kultur in der Rolle des Idioten auf die Welt kommt", woran Sartre mit dem Titel seines Flaubertbuchs L 'idiot de La famille erinnere 'o . Die prägnanteste literarische Gestalt hat die aristotelische Anthropologie und Ontologie der Welt der Einzelnen in der Typenwelt der theophrastischen Charaktere angenommen. Als Charakter durch angeborene oder angewöhnte Eigenschaften geprägt, erscheint der Mensch im Alltagsleben als Exemplar verschiedener Gattungen oder Arten des Verhaltens, seine Natur im plurale tantum ethischer Charaktere, die durch ein Übermaß oder Untermaß zu der idealen Mitte bestimmt sind und durch ihr ridiculum das verfehlte Maß des guten Lebens per negationem vorstellen. Daß jeder Mensch nicht nur als Exemplar eines ethischen Charakters bestimmbar und klassifizierbar ist, sondern dabei und darüber hinaus als Einzelner seine Tyche, etwas Persönliches, nur ihm Eigenes hat, fällt dabei außer Betracht
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6 Groethuysen, wie Anm. 3, S. 45.
7 Aristoteles, Eth. Nie. VI. 1140a: ..... in gewissem Sinn bewegen sich praktisches Können und Zufall um dieselben Gegenstände, wie Agathon sagt: ,Kunst liebt den Zufall; dieser wieder liebt die Kunst.'· 8 Groethuysen, wie Anm. 3, S. 45. 9 M. Frank, Was ist NeostTukturalismus?, Frankfun 1983, S. 462. 10 Ebd., S. 463.
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und gelangt auch in der Komödie, die gerade als sogenannte Charak.terkomödie das singulare tantum des Einzelnen ausschließt, erst in der späten Moderne zum Durchbruch. Der Schritt vom biologischen zum biographisch zu fassenden Lebewesen vollzog sich in der römischen Lebensphilosophie, ineins mit dem begriffsgeschichtlichen Ereignis, daß nunmehr persona über die Bedeutung Maske den Begriff der sozialen Rolle inthronisiert. Damit wurde es möglich, am Menschen als Person zu scheiden und in Relation setzen zu können, wer und was einer ist, wie er sich mit den anderen und mit sich selbst zu teilen vermag. Davon gibt Ciceros Theorie der vier Masken (personae), die das Wesen jedes Menschen bedingen, eine Vorstellung: Persona ist erstens, was den Menschen generell als Vernunftwesen vom Tier abhebt, zweitens seine psychophysische Konstitution, die ihn als Charakter oder Temperament von seinen Mitmenschen unterscheidet, drittens, was ihm die Zeit und Umwelt, mithin die Gesellschaft an Rollen auferlegt, und viertens was er sich selbst etwa in der Berufswahl als sein genus vitae auferlegt". Dabei wird - wie Manfred Fuhrmann kommentierte - von allem ,Persönlichen' und ,Individuellen' (der modernen Soziologie durchaus vergleichbar) abstrahiert. Der seine Rolle suchende und ergreifende, gegebenenfalls auch einmal korrigierende Einzelne unterliegt einer Identitätspflicht, die ihr Telos noch nicht im Selbstbewußtsein, geschweige denn im sich selbst bildenden Charakter des deutschen Idealismus hat: .. Die Identität, um die es hier geht, ist, wie ersichtlich, keine subjektive Kategorie, kein aus dem eigenen Innern gesehenes Ich, keine Einheit des Erlebens und Bewußtseins - sie ist eine vom ,Stellenplan' der Gesellschaft aus betrachtete Größe, eine konventionelle Gegebenheit, ein ,pattern" kurz: die perpetuierte soziale Rolle" 12. Die Ausnahmegestalt, die sich nicht am und durch, sondern gegen die Andern bestimmt, indem sie aus allem eine Sphäre des Eigenen absondert, ist der Weise in der stoischen Philosophie: .. Er stellt, sozusagen, das Ich dar, wie es im Altertum zum Bewußtsein gelangt." Für ihn bedeutet Sein ein Sich-haben; er vermag zu scheiden, was sein wahres, geistiges Eigentum ist, und weiß sich dadurch frei von den Dingen: er ist "allein der vollkommene Eigentümer seiner selbst"ll. Wenn derart Mein oder Nicht-Mein, das Eigene und das Fremde, Herrschen oder Beherrschtsein, das Grundverhältnis II Cicero: De officiis I, S. 107--125. 12 .. ,Persona' - Ein römischer RoUenbegriff" tin: PH VIII, 101. 13 Groethuysen, wie Anm. 3, S. 54-56.
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der Person zur Weh auszumachen beginnen, ist die damit gewonnene Persönlichkeitsvorstellung indes keineswegs schon mit Individualität gleichzusetzen. Die Tatsache des Eigenen, nicht ob und wie es qualitativ anders ist, entscheidet. Was sich so darbietet, ist "mein", aber nicht Ich: "es bestimmt nur das Eigentum, aber nicht den Eigentümer selbst, der eben gar nicht von da aus gefaßt werden kann" 14. Von wo aus er dereinst als Einziger, als individuum ineffabile, gefaßt werden kann, tritt nicht erst in Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum zu Tage. Der antike Weise, der sich in Übereinstimmung mit dem Wehganzen weiß, war nurmehr formal Eigentümer seiner selbst, noch nicht der Einzige, der sein kontingentes Selbst, seine nur erzählbare Geschichte, nun auch inhaltlich als sein Eigentum behaupten will. Darum kann der Weise - wie W. Benjamin einmal bemerkteIS - kein Schicksal haben und waren sich alle Weisenwie alle Heiligen - im Grunde so ähnlich, in ihrerTugend nur beiläufig zu unterscheiden. Dabei ließ sich die Frage, warum der Mensch nicht von Natur aus weise ist, mit derTheorie der kranken oder gefallenen Natur beantworten. Wenn der Weise der Gesunde ist, kann der Durchschnittsmensch durch tugendhaftes Verhalten gesunden, seine Mängel und Leidenschaften ablegen, seinen naturbedingten Charakter wie seine Abhängigkeit von sozialen Rollen übersteigen, kurzum: als Einzelner seine Tyche hinter sich bringen, um durch Einsicht (oder christlich: durch Gnade) weise (oder gerecht), unabhängig und frei zu werden. Anders gesagt: der antike Begriff der Persönlichkeit, verstanden als Eigentümer seiner selbst, setzt paradoxerweise Entpersönlichung voraus. Damit stellt sich die weitere Frage, wann und wie Persönlichkeit als "höchstes Glück der Erdenkinder" nicht länger auf das Eigentum des Weisen, sondern auf die Eigenart des Einzelnen begründet wurde. Diese Wendung ist - wie kaum anders zu erwarten - durch eine Äußerung des alten Gocthe am eindrucksvollsten bezeugt:
" Wir leiden alle am Leben", hatte er in der Loge gesagt. "Wer will uns, außer Gott, zur Rechenschaft ziehen? Tadeln darf man keinen Abgeschiedenen. Nicht was sie gefehlt und gelitten, sondern was sie geleistet und getan, beschäftige die Hinterbliebenen. An den Fehlern erkennt man den Menschen; an den Vorzügen den Einzelnen. Mängel haben wir alle gemein; die Tugenden gehören jedem beson-
14 Ebd .• S. 67. 1S .Schicksal und Charakter- (1919), in: GrUJmwuhr Schriftrn 11. 1., Frankfun 1980. S. 173.
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ders"16. An dieser Stelle hat sich nicht allein - um wenig zu sagen-der Tugendbegriff in seinen modernen Gegensinn verkehrt, sondern ist mit dem Triumph des sich selbst rechtfertigenden Individuums zugleich das Ideal des Weisen verabschiedet worden. Der Anfang des Individuums, der mit der Heraufkunft des Christentums gesetzt wurde, ist in den Begriffsgeschichten deutlich markiert und als Epochenschwelle bei Augustin am besten zu erfassen. Seine Bekenntnisse gipfeln im Akt der Konversion, der Erweckung der christlichen Seele, die sich ihrem Gott gegenüber als Ich im Verhältnis zu einem Du erfährt, in einer durchaus persönlichen Beziehung, hinter der die Welt als ein bloßes Es, das es zu überwinden gilt, verblaßt. Der augustinische Mensch hat durch die Anerkenntnis der Sünde aufgehört, ein natürliches Wesen zu sein, und erfährt sich in der Beschreibung Augustins als eine entzweite, zeitlich gebrochene und - als Abbild ihres Schöpfers - notwendig unvollkommene Existenz 17 • Der christliche Anfang der Subjektivität steht demnach im Widerspruch zwischen einer hohen Auszeichnung der menschlichen Individualität und dem Selbstbewußtsein einer entzweiten Existenz, die ihre unauslöschliche Prägung im Akt der Taufe durch den character crucis erhält. Aus diesem ,geistlichen Malzeichen in der Seele' sollte, wie schon erwähnt, die moderne Vorstellung der Individualität des Menschen als seinem singularen Charakter und Grund seiner sich selbst bildenden Natur hervorgehen. Das neue Gewicht der Individualität des Christen, das auf Worte Jesu von der Liebe Gottes zu jedem einzelnen (Gleichnis vom verlorenen Schaf) zurückgeht, ist schließlich im Auferstehungsglauben begründet: "Erst das Christentum hat den platonischen Gedanken der Unsterblichkeit der Seele streng als Unsterblichkeit des Individuums gefaßt, indem es die platonische Lehre von der Wiederverkörperung ablehnte und so die unsterbliche Seele an die Einmaligkeit dieses leiblichen Lebens band"18. Der Christ als Sünder, der sein natürliches Wesen verlor, wird Mensch in einem geschichtlich-einmaligen Sinn. Die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit jeder individuellen Lebensgeschichte erfüllt sich in einem grandiosen Symbol des Weltgerichts. Augustin hat im 20. Buch der Civitas Dei den Text der Vulgata um einen erstaunlichen Zusatz erweitert: das Buch, das aufgeschlagen werden 16 Dichtung und Wahrheit, Anhang 11, Jubiläumsausgabe, StunganfBerlin 1902-1912,
Bd. 25, S. 273. 17 Näherhin s. Vf. .. Religiöser Ursprung und ästhetische Emanzipation der Individualität-, in: ÄE, A 8,6. 18 W. Pannenberg, "Person und Subjekt-, in: PH VIII, S. 408.
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soll, um Gericht zu halten, ist nicht mehr nur das eine Buch des Lebens, sondern das Buch der Leben: "Et alius liber apertus est qui est vitae uniuscuiusque (Zusatz!): et iudicati sunt mortui ex ipsis scripturis librorum secundum facta sunt"\9. Hans Blumenberg, auf dessen ausführlicheren Kommentar hier verwiesen werden kann, hat die äußerste Konsequenz des tiber vitae uniuscuiusque schon vorgezeichnet: "Die tiefe Verbindung, die Augustin zwischen seinem Gott und der menschlichen Erinnerung hergestellt hat, bekommt durch die apokalyptische Metaphorik des Gerichts einen eigenen Zug, der nur nicht bis zum letzten ausgezogen ist: durch die Erinnerung wird jeder sein eigener Richter, liest in sich sowohl das Buch des Gesetzes als auch die Chronik seiner Handlungen. Die Memoria ist das Gericht, wie es dereinst die Weltgeschichte werden sollte"20. Es ist das autonome Individuum der Modeme, das in der Person Rousseaus beanspruchen wird, allein durch die Erinnerung sein eigener Richter zu sein, um vor der ganzen Menschheit seinen Freispruch zu erwirken 21 . Dann kann das am Throne Gottes geführte Schuldbuch der Menschheit durch das von Rousseau selbst verfaßte ,Buch seines Lebens' erübrigt werden durch eine literarische Selbstoffenbarung, die wie selbstverständlich das Gott vorbehaltene Wissen vom geheimen Dichten und Trachten des menschlichen Herzens usurpiert hat und in der Rückhaltlosigkeit des ,Alles Sagens' die christliche Lebensbeichte übertrifft. Die Wahrheit seiner Lebensgeschichte, die dem autonomen Individuum in jedem Augenblick transparent zu sein scheint und für die es selbst noch in seinen Selbsttäuschungen Authentizität beansprucht, macht rückwirkend die Barrieren bewußt, die aller Selbstdarstellung in der Lebensbeichte des Christen bis hin zu Pascals Montaigne-Kritik ("Le sot projet qu'il a de se peindre!") gezogen waren. Auf die Polarität von ,ehemals' und ,jetzt', den Irrweg des sündigen alten und die Einsicht des neuen Ichs in göttliche Führung beschränkt, bewahrt die Autobiographie Augustins nurmehr, was die Normen der confessio peccati et laudis von seinem individuellen Leben als dem öffentlich abzulegenden Bekenntnis würdig erscheinen lassen. Der Filter des überhaupt Erzählbaren läßt von seinem Leben bis zur Schwelle der Bekehrung nur durch, was die typischen Verirrungen einer gottfernen Existenz beispielhaft macht, nicht was individuelle 19 Zitien nach H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfun 1981, S. 29. 20 Ebd., S. 30. 21 Zur Usurpation der Gonesprädikate für die Confessions Rousseaus s. Vf.• wie Anm. 17.
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Erfahrung unverwechselbar machen könnte, und nichts von alledem, was in den zwölf Jahren zwischen Bekehrung und Niederschrift den einziganigen Aufstieg zum Bischofsamt und zur führenden Rolle in der Christenheit mit sich brachte. So hat die normbildende Autobiographie der christlichen Ära, obschon sie gewiß ungleich mehr an schon individuienen Äußerungen - man denke nur an die frühkindliche Phase! - eines Menschenlebens darstellbar zu machen wußte als alle antiken Philosophenviten zuvor, paradoxerweise ihr Telos in der alsbaldigen Zurücknahme des von ihr entdeckten Selbst. Wenn sich Augustin zum Weg seines Irrens bekannt hat (Buch I-IX), setzt nach der Konversion und dem Tod Monikas die lange Meditation über die memoria ein (Buch X) und folgt in Buch XI und XII ein Kommentar zu der unvordenklichen Geschichte der Schöpfung. Ist das einmalige Ich des Christen im Du seines Gottes einmal gefunden, so erlischt das Interesse an seinem individuellen Selbst und muß das Sprechen von sich selbst ,Gottes eigener Grammatik' Raum geben 22 , der ein Hören und Antwonen gemäßer ist als ein Erzählen und Fragen, das nur um sich selber kreist. Gewiß wird im christlichen Anfang des Individuums mit dem höchsten Wen der Einmaligkeit auch schon der Raum einer Innerlichkeit entdeckt, in dem die nicht mehr platonisch verstandene Erinnerung den Weg weg von der Welt und hin zu Gott eröffnet. Doch gerade diese Wendung nach innen steht aller modernen Selbstreflexion noch ganz fern; sie stößt auf Paradoxien von der Art der Frage, wie Gott im Gedächtnis des Einzelnen wohnen kann, dessen ,Stuhl' doch allenthalben ist für jeden, der ihn fragt (X, xxvi) - Paradoxien, die den Innenraum der sich suchenden Subjektivität sogleich wieder neutralisieren, ihn mit unpersönlichen Mächten besetzen und derart die eine, besondere Gestalt des Subjekts unweigerlich im allgemeinen Geschick der christlichen Seele aufgehen lassen. Das Bildfeld par excellence der neuen christlichen Anthropologie, die Psychomachia, kann in seiner für das moderne Verständnis höchst befremdlichen Unanschaubarkeit - der Kampf in der Seele wird als Kampf um die Seele vorgestellt - vorzüglich erläutern, inwiefern die christliche Entdeckung der Innerlichkeit eben doch nur ein erster Anfang des Individuums war.
Dezentrierung des Subjekts gilt heute als Schlüsselbegriff, und oft schon als Zauberwort, an dem sich die Modernität eines Autors zu 22 Nach E. Vance •• Augustine's Confessions and me Grammar of Selfhood-, in: Genre 6 (1973), S. 1-28.
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erweisen hat. Das dekonstruktivistische Verfahren lebt von der Aufdeckung der Illusionen des autonomen Selbstbewußtseins, in der Absicht, den blinden Punkt in der Reflexion eines Autors und damit den Selbstwiderspruch in seinem Werk auszumachen, die Textautorität an sich selbst zu untergraben, die ästhetische Ganzheit zu zerbrechen und alle Sinnerwartungen bis auf die eine abzubauen, die den souveränen Interpreten zur Einsicht in die Selbsttäuschung seines Autors befähigt. Das Verfahren als solches ist keineswegs modern, sondern eine uneingestandene Reprise der längst totgesagten christlichen Allegorese: "aliud in verbis, aliud in sensu ostendit aut etiam interim contrarium". Wenn Wort oder Text in der dekonstruktivistischen ,Allegory of Reading' notwendig etwas anderes sagt, als es meint, wird Quintilians Definition des allegorischen Zeichens nicht nur wörtlich genommen, sondern auf den Extremfall des Widerspruchs von signifiant und signifie reduziert, nun aber nicht mehr wie in der altchristlichen Exegese heidnischer Texte -, um den verlorenen Sinn für die herrschende Lehre zu retten, sondern um die Herrschaft des Sinns - des Logozentrismus - aufzukündigen. Dabei ist dem poststrukturalen Dekonstruktivismus offenbar entgangen, daß die altchristliche Dichtung das selbstherrliche Subjekt auf eine nicht weniger rigorose Weise in Frage gestellt, nämlich das singulare tantum der Einzelseele in das plurale tantum von objektiven Mächten von personifizierten Affekten, Tugenden und Laster-entäußert ha~J. Das im Akt des Glaubens gefundene Subjekt der christlichen Seele ist noch kein Individuum, sondern als Einzelwesen immer zugleich Allegorie des Allgemeinen, insofern mit dem Kampf in der Seele zugleich ein Kampf um die Seele, mit dem Leib des Menschen zugleich der ganze Kosmos und mit der Situation des einzelnen Menschen zugleich die Heilsgeschichte der Menschheit bedeutet sein kann. Darum ist die neu entdeckte Innerlichkeit des christlichen Glaubens auch noch kein Fluchtraum der Selbstgewißheit, sondern die Szene eines ,bellum intestinum', in dem die Seele, um die Tugenden und Laster, die Mächte des Himmels und der Hölle kämpfen, zunächst noch gar nicht auf den Plan tritt. Die von Augustin geforderte Wendung nach innen steht im poetischen Paradigma der Psy-
23 Im Folgenden nehme ich Ergebnisse meiner Allegorie-Studien unter neuer Fragestellung wieder auf und verweise näherhin auf: .. Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia-. in: Medium Aevum Vivum, Festschrift Walther Bulst, Heidelberg 1960. S. 179-208 (don findet sich die Dokumentation zu den zitienen Texten); ferner auf: AM. S. 28-34. S. 153-308, und auf: .. Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie-, in: SE. Kap. 6.
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chomachia wie noch in der allegorischen Dichtung des Mittelalters unter der poetischen Prämisse einer offenbar unabdingbaren Entpersönlichung. Der christliche Dichter kann sich seiner inneren Welt nicht zuwenden, ohne zugleich in allegorische Rede zu verfallen; er kann nicht ,psychologisch' werden, ohne seine Gemütszustände und Affekte allegorisch zu personifizieren 24 ; er greift - wie noch Chretien de Troyes - zumeist zur Redefigur eines Dialogs im Monolog, zum inszenierten Widerstreit innerer Stimmen, wo wir die einsame Stimme einer Selbstaussprache erwarten. Die personifizierende Allegorie ist die literarische Gestalt der Entpersönlichung des Subjekts in der frühen christlichen Anthropologie. Was dem modernen Leser als bloße Personifikation abstrakter Begriffe erscheinen mag, waren zu ihrer Zeit alles andere als fiktive Verkörperungen psychischer Zustände: die Tugenden und Laster im Paradigma des Prudentius wie noch ihre höfische Umbesetzung im Rosenroman des 13. Jahrhunderts verkörperten die höhere Realität einer Geister- und Dämonenwelt, der gegenüber die alltägliche Welt zu einer Realität minderen Grades verblaßte. Gleichwohl zeigt sich in der mittelalterlichen Tradition allegorischer Dichtung die verschwiegene Instanz des entpersönlichten Subjekts schon verschiedentlich in marginaler Gestalt an. Alanus ab Insulis läßt im Anticlaudianus - so weit ich sehe zum ersten Mal- den Menschen selbst auf den Plan treten, um den sich bislang der Kampf zwischen Tugenden und Lastern abspielte. Es ist die mitkämpfende Gestalt eines iuvenis, mit der die Vorstellung des ,bellum intestinum' aufgegeben wird, doch um den Preis einer aus dem christlichen Rahmen herausfallenden Mythisierung. Denn der nun endlich selbst hervortretende Einzelne wird sogleich wieder zur Personifikation, zum neugeschaffenen homo perfectus - ein neuer Mythus, mit dem man offenbar schon bald nichts mehr anzufangen wußte, wie der Ludus super Anticlaudianum vermuten läßt, wo man den iuvenis schließlich ins Kloster abschob. Der erste Versuch, die allegorische Handlung der Psychomachia auf die Person des Dichters zu beziehen, findet sich im Tournoiement Antemst eines Huon de Mery, der damit wahrscheinlich den Entschluß rechtfertigt, vom weltlichen zum geistlichen Leben überzutreten, und das Dilemma, am Kampf um seine Seele selbst teilnehmen zu wollen, dadurch lösen will, daß er sich zum Zuschauer und Berichterstatter ernennt. Seine Einbeziehung in das, Turnier mit dem Antichrist' gelingt ihm indes nur mit einem alle-
24 Nach C.S. Lewis, The ALJegory 0/ Love (1936), Oxford 1953, S. 30/113.
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gorischen Scherz. Ein Pfeil der Venus, auf Virginite gezielt, die ihm durch Flucht ins Kloster gerade noch entgeht, trifft statt ihrer einen Unbeteiligten, nämlich das dargestellte Ich des Dichters durch das Auge ins Herz. Das schwierige Problem, den allgemeinen Sinn der Psychomachia mit dem besonderen Weg eines Menschen zu harmonisieren, wußte erst der Dichter des Rosenromans zu lösen. Hier ist die duplex sententia der Allegorese derart für die weltliche Dichtung angeeignet, daß die Fabel des Traumgeschehens immer zweifach ausgelegt werden kann: einmal im Blick auf den kontingenten Ablauf einer Aventüre von der Art der höfischen Liebesromane, deren Situationen nur noch von innen gesehen sind, zum andern im Blick auf den in der Abfolge der Personifikationen bedeuteten Sinn einer Ars amandi, die in der Fabel mit eingeschlossen ist. Wenn dabei das träumende Ich des Amant auf seinem Stationenweg das stets unsichtbare Du der erwählten Dame allein aus dem Wandel ihrer Figurationen, dem Wann, Wo und Wie ihres Erscheinens und Wiederverschwindens, erkennen muß, gewinnt die Geliebte mehr und mehr eine geheimnisvolle Gestalt, die in ihren personifizierten Eigenschaften nicht aufgeht und zumal dort, wo eine Personifikation aus der vorgegebenen Rolle fällt, etwas von ihrem einmaligen Sosein verrät. Die Krisis der mittelalterlichen Psychomachia sehe ich im 7esoretto von Brunetto Latini, in dem ein schon historisches Ich, das eigene Fragen zu stellen weiß, aus dem Bannkreis der idealen Wesenheiten, die alle Erfahrung präfigurieren, heraustritt und das laizistische Ideal der erwachenden Weltneugierde ankündigtls. Kann die allegorische Intention ihren Gegenstand nur ergreifen, indem sie das Persönliche entpersönlicht, so ist darin ihr Erlöschen mit der Heraufkunft des einzigartigen Individuums, der Symbolund Erlebnisästhetik beschlossen. Dann signalisiert Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie den Beginn unserer Moderne als Bruch mit der Ästhetik der Subjektivität. In den Spleengedichten der Fleurs du Mal gewinnt die Allegorie nunmehr die moderne Funktion, den romantischen Einklang von Innerlichkeit und Welt zu dementieren, gegen das autonom gewordene Subjekt die Mächte des Unbewußten auf den Plan zu rufen und dabei die eingetretene Entfremdung der menschlichen und Verdinglichung der kosmischen Natur als die tragische Grundverfassung unserer Moderne bewußtzumachen.
25 Dazu Vf., AM, S. 33 und Kap. VII.
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11. Das Allgemeine verbirgt sich im Besonderen (die Typenwelt der Charaktere) Die Entdeckung und Erforschung der ethischen Charaktere speist sich von Theophrast bis La Bruyere aus dem Erstaunen über die Vielfalt der menschlichen Natur, der ftdifference des esprits des hommes, aussi prodigieuse en eux que celle de leurs visages· l6 • Davon geht der Discours sur Theophrast aus und zeigt zugleich eine Grundpolarität der literarischmoralistischen Tradition an: auf der einen Seite die nur in ihrer Vielgestaltigkeit faßbare Natur des Menschen, auf der anderen Seite die seelisch-körperhafte Einheit seiner physiognomischen Prägung, die es erlaubt, das je Besondere an den Anzeichen seiner Charaktere oder Sitten, Leidenschaften oder Temperamente abzulesen. Das Bildfeld im Horizont von ethos/ ithos und charaae,. zeigt weitere Oppositionen von Grundbedeutungen an, die sich in der Begriffsgeschichte und ihren rhetorischen oder literarischen Repräsentanten ausfalten. Die doppelte Herkunft des ethischen Charakters, der zum einen im Angeborenen, der Naturanlage des ethos (= ingenium), zum andern im Erworbenen, in Gewohnheit, Sitte, Brauch wurzelt, macht sich bei der Frage der Bildbarkeit oder Unveränderlichkeit der Charaktere bereits bei Aristoteles und bei Theophrast geltend. Aristoteles, der das ithos einer Person aus einer Anlage oder Neigung hervorgehen läßt, die durch Übung und Belehrung zur Tugend vervollkommnet werden kann, hebt die Bildbarkeit der menschlichen Natur hervor (es gibt sogar verschiedene ithe für die Altersstufen eines Lebens). Doch hat das teleologische Modell des sich bildenden Charakters merkwürdigerweise bis zur Schwelle des Individualismus im 18. Jahrhunden keine Schule gemacht. Die Tradition folgte der Auffassung Theophrasts, der Erziehung nur im Heran wachsen der Jugend für möglich, die einmal geprägte An aber für unverlierbar und unabänderlich hielt, für die er als erster das zuvor nur dingbezogene Won charactir auf die Psyche des Menschen üben ragen hatte. Das epochemachende Muster seiner ethischen Charaktere war auch darin empirisch und rein deskriptiv, daß es die Extreme von Gut und Böse, Tugenden und Lastern ausschloß, und nurmehr den durchschnitdichen Menschen im Verhalten des alltäglichen Lebens in den Blick nahm. Ja, man kann wohl sagen, daß er ihn auf diese Weise allererst entdeckte, nach spezifischen Merkmalen erfaßte, in Ponraits beschrieb, nach Typen ordnete und damit eine Anthropologie begründete, die für jede spätere Epoche und Gesellschaft zu erneuern war. 26 La Bruym. UJ CArMtntJ Oll I~J malln dt ct neck. Paris 1965, S. 27.
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Die noch ungeordnete, der Beobachtung folgende Typologie Theophrasts legte auch schon eine Topologie nahe, wenn der Anspruch erhoben wurde, in der Reihung zeitlos scheinender Charaktere etwas wie eine Ordnung der gesellschaftlichen Welt zu finden. Das Wort ithos konnte die Bedeutung: Gewohnheit, Sitte, Brauch offenbar an eine Grundbedeutung: ,gewohnter Ort des Wohnens' anschließen. Ein Charakter kommt nicht erst dem gewohnten Verhalten des Einzelnen, sondern schon den Gewohnheiten oder Sitten zu, die für einen bestimmten Ort typisch sind. Die dreißig Charakterbilder Theophrasts erfassen gleichermaßen die Wesensprägung der Personen wie Leben und Sitten der Gesellschaft im Athen des Frühhellenismus auf dem Schauplatz von Markt, Badehaus, Theater und Volksversammlung. Charaktere können sowohl biologisch vorgeprägt als auch lokal und habituell bedingt sein, das Allgemeine im besonderen Verhalten des Einzelnen wie dem einer Gruppe von Lebewesen betreffen. Daher die Doppelung von ,Charakteren' und ,Sitten', die wie selbstverständlich im Titel von La Bruyeres Werk mitgeführt wird. Dem ging im 17. Jahrhundert besonders in England eine eigentümliche Form literarischer Anthropologie voraus: eine Bestandsaufnahme und Darstellung von Charakteren in Gestalt einer moralischen Kartographie, die bis zur Totale einer Micro-cosmographie gesteigert werden konnte. Als für sich selbst sprechende Titel seien genannt: John Earle: Miao-cosmographie or A piece 0/ the world discovered in essayes and characters (1628); H. Browne: A map 0/ miaocosme, or A moral desc:ription of man (1642); S. Person: An anatomicallecture 0/ man, or A map 0/ the little world (1664)21. Das berühmte Pionierwerk dieser Tradition war Joseph Halls: Mundus alter et ädern (1605). Es verknüpfte die Erzählung einer imaginären Reise mit der Beschreibung von Charakteren und schuf ein Muster, nach welchem hinfort die Vielgestalt der menschlichen Natur hierarchisiert und lokalisiert (die Sitten der Völker nach Ländern und Provinzen, die Charaktere der einzelnen Menschen als Städte und Dörfer) werden konnte. Dieser Schritt von der Typologie zur Topographie der Charaktere des Menschen eröffnete eine neue Weise der Lesbarmachung der Welt. Dabei kommt eine dritte Opposition in der Hintergrundsmetaphorik von character zur Geltung. Die Grundbi!deutung des Eingeritzten, Unauslöschlichen, später des Brandmals, des militärischen Kennzeichens, bezeichnet das Geprägte, um eine Sache, später auch 27 S. dazu L. van Ddft: .. CaracttfeS
rt lirux: La rrprisrnution dr l'hommr dans l'anthropologir clusiqur- in: Rt1I~ th littir.tlln com/Mrie (1983), S. 149-172.
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eine Person zu kennzeichnen, setzt also im Resultat der Prägung den Vorgang des Prägens schon voraus. Anders gesagt: was auf den ersten Blick als bloße Beschreibung und Abgrenzung vorgegebener Merkmale der vielgestaltigen Natur des Menschen erscheinen mag, konnte erst lesbar werden, wenn der Moralist in der allgemeinen Erscheinung des durchschnittlichen Lebens das latente, in der Selbstverständlichkeit verborgene Besondere aufgedeckt, in Anzeichen erfaßt, markiert, abgegrenzt und dadurch in eine Ordnung gebracht hatte. Die vermeintliche Mimesis der ethischen Charaktere wird erst durch eine Poiesis des beobachtenden Moralisten ermöglicht. Der Doppelsinn von Prägung und Geprägtem, Bezeichnung und Bezeichnetem, tritt am schärfsten hervor, wenn character die Bedeutung von ,Schriftzeichen' annimmt und danach auch die schriftstellerische Eigenart meinen kann. Auf dem Höhepunkt der literarischen Tradition wird die Bedeutung von marquer in der Definition des Begriffs vorherrschend. So lautet die Definition von caractere zum Beispiel im Dictionnaire von Furetiere (1690): "Ce qui resulte de plusieurs marques particulieres, qui distingue telleme nt une chose d'une autre qu'on la puisse reconnaitre aisement. Il se dit de l'esprit, des mceurs, des discours, du style, et de toutes autres actions." Der Moralist in der Nachfolge Theophrasts ist also nicht nur ein Anthropologe, der die menschliche Natur beobachtet und als eine Typenwelt von Charakteren beschreibt, sondern auch schon ein Semiotiker avant la lettre, der ein universales Zeichensystem entwikkelt hat, um die ,zweite Natur' des Menschen - seine Lebenswelt wie eine Schrift lesbar zu machen. Das Lesbarmachen der Welt durch die Typographie von menschlichen Charakteren erfordert vom Moralisten indes nicht allein die Kompetenz eines Semiotikers, sondern auch die eines Rhetorikers und Schriftstellers, der sein Zeichensystem durch Mittel der Fiktion zur peinture morale zu erheben und seinen Charakteren damit ästhetische Evidenz zu verleihen weiß. Das Gipfelwerk La Bruyeres verdankt seinen epochalen Erfolg nicht allein der Überbietung Theophrasts, sondern auch der Nutzung der Fiktion wie der virtuosen Handhabung von Techniken der rhetorischen Stilistik. Diese hatte seit der Zweiten Sophistik die Figuren der ethopoeia, der prosopographia (descriptio personae), des Charakterismus (descriptio morum), die durch Figuren der prosopopoeia und des Dialogismus erweitert werden konnten, empfohlen, um dem Charakterportrait die stärkste Evidenz zu verleihen. Die evidentia, ein zentraler Begriff der rhetorischen Stilistik, war durch notatio (Markierung von Charakteren) und effictio (besonders im Ponrait)
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zu erreichenlB • Das Ponrätieren von realen Personen war zur Zeit La Bruyeres bekanntlich eine beliebte gesellschaftliche Unterhaltung, die mit der Forderung der Erratbarkeit schon einen Weg zur Entdekkung und Anerkennung des Individuellen einschlug. Sieht man die Tradition der ethischen Charaktere insgesamt als einen Prozeß der Lesbarmachung der menschlichen Welt, so beginnt hier eine semiotische Anthropologie unter der Prämisse der vollen Evidenz des signifie im signifiant, um im Erkennen der Ambivalenz aller Zeichen - einer unabdingbaren Kluft zwischen Schein und Sein - zu endigen. Der Zweifel, ob die Evidenz von vorgeprägter An und Erscheinung in der Viel gestalt der menschlichen Naturen nicht trüge, ob die Typographie der ethischen Charaktere, die noch keine psychologische Fragestellung aufkommen ließ, letztlich nicht doch die tieferen Motive menschlichen Handelns verfehle, wird von Zeitgenossen La Bruyeres zum ersten Mal artikulien: Pascal und La Rochefoucauld, die (wie zuvor schon Montaigne), - wie K. Stierle zeigteder positiven, noch essentialistischen Anthropologie der klassischen Tradition eine negative Psychologie entgegensetzten und den unbewußten Grund der menschlichen Psyche als eine terra ignota zu explorieren begannen, haben als Moralisten keine Charaktere verfaßt. Die Geschichte der Gattung hat damit zwar noch nicht ihr Ende gefunden. Auf ihre Infragestellung antwonen im 18. Jahrhundert zwei moderne Entwicklungen. Zum einen geht die Tradition der ethischen Charaktere über in die der sozialen Konditionen, das literarische Ponrait der Einzelnen in das Tableau der Berufe, Positionen und Formationen der gesellschaftlichen Welt, bald auch Physiologien genannt, in denen die Motive menschlichen Verhaltens in ihren sozialen Determinanten aufgedeckt werden. Zum andern wird der einziganige Charakter postulien und gesucht: das Individuum als die bisher verschwiegene Instanz, das bei der Aufdeckung des Besonderen im Allgemeinen ausgeschlossen blieb, solange dieses Besondere in
den Charakteren selbst wieder nur als ein panikular Allgemeines bestimmt wurde. Zum Postulat des einzigartigen Charakters war auch schon die rhetorische Tradition der Antike gelangt. Vom Redner wird nicht allein geforden, die Charaktere, will sagen die typischen Verhaltensweisen seiner Hörer zu berücksichtigen, um ihre Affekte und Emotionen erwecken zu können. In Ciceros De Oratore wird die für das 28 Nach L. van Ddft, "Litterature et anthropologie: Le caractere a I'age classique" in: Le stat,,, de I4littiratNre, Melanges Paul Benichou, ed. M. Fumaroli, Genf 1982, S. 100 und 106 (vgl. S. 98, Anm. S).
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normative Denken der antiken Ästhetik geradezu unerhörte Überlegung angestellt, "daß der Stil je nach der Individualität des Künstlers, Dichters, oder Redners differiere und daß man demzufolge Qualität nicht hiernach bemessen könne, da jede Ausprägung in ihrer Art vollkommen sei - quot oratores, totidem ... genera dicendi, so daß sich die Frage aufdränge, ob es angesichts dieser Sachlage überhaupt so etwas wie eine Stillehre, wie allgemein verbindliche Stil regeln gebe"29. Doch dieses Postulat blieb lange Zeit folgenlos. Es konnte erst eingelöst werden, wenn der Moralist den Einzelnen nicht länger in den allgemeinen Merkmalen seiner Besonderheit - als seinesgleichen -, sondern in den unvergleichbaren Zügen seiner Individualität - als singulare tantum - erfassen wollte, womit er notwendig aufhörte, ein Moralist zu sein. Im folgenden muß ich mich wiederum darauf beschränken, die marginale Erscheinung des verkannten Individuellen in den typologischen Ordnungen der charakterologischen Tradition an einigen Beispielen zu erläutern.
Der Charakterologie Theophrasts geht eine mythologische Erfassung der vielgestaltigen Natur des Menschen voraus. Das älteste Zeugnis ist wohl- bedauerlicherweise - eine Frauensatire von Semonides, die erweisen soll, daß Zeus den Männem das Weib als größtes Übel und als ewige Fessel beigesellt habe. Acht Frauentypen werden aus Wesenszügen von Tieren (Schwein, Fuchs, Hund, Esel, Wiesel, Roß, Affe, Biene), zwei aus Eigenschaften von Erde und See abgeleitet. Die zehn Charaktere sind allesamt negativ charakterisiert, mit der einen Ausnahme der Biene, die alle wünschenswerten Tugenden in sich vereint. Die archaische Typologie entspringt noch einer kosmologischen Denkform: die zehn Charaktere der Frau sind Tieren oder den heiden Elementen ähnlich, weil sie von Gott aus ihnen geschaffen wurden. Wie hier jeder Stoff eine bestimmte Qualität repräsentiert.lO, so auch bei dem wohl ältesten und am längsten vorhaltenden charakterologischen System - den vier Körpersäften. Die daraus abgeleiteten vier Temperamente des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phlegmatikers haben die Außerkraftsetzung der hippokratischen Medizin bei weitem überdauert. Auch nach der Entdeckung des Blutkreislaufs leben die humores - am gran29 Siehe dazu M. Fuhrmann. Dieantilte Rhetorik. MünchenlZürich 1984. S. 59. 30 Dazu H. Fränkel. DichtNng Nnd Philosophie des friihen Griechentl4ms. München 11962. S. 232-236 (mit Übersetzung des Textes).
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diosesten verkörpert in Sternes Tristram Shandy - weiter. Als sich das neurologische Paradigma durchgesetzt hatte, galt zwar die Säftelehre als verabschiedet, nicht aber das System der Temperamente, das Cabanis noch 1802 von vier auf sechs erweitert hat (um ein temperament nerveux und ein temperament musculaire )11. Wie dereinst Albrecht Dürer seine vier Apostel nach den vier Temperamenten charakterisiert hat, so im 19. Jahrhundert offenbar auch Dostojewskij seine vier Karamasoff-Brüder: Dimitrij, den Mann der Leidenschaften als Choleriker, Iwan, den Mann des Intellekts als Sanguiniker, Aljoscha, den Boten des Glaubens, als Melancholiker und Smerdjakoff, den überall Ausgestoßenen, als Phlegmatiker. 32 Die fortschreitende Wissenschafts geschichte konnte zwar Theorien zur Konstitution des menschlichen Körpers außer Kraft setzen, aber offenbar nicht das Potential des Imaginären, das der antike Psychosomatismus hinterlassen hatte. Die Not, nicht benannte Körpergefühle versprachlichen zu müssen, mag erklären, warum auf dieses Repertoire metaphorisch zurückgegriffen wird, wo immer auch die exakteste medizinische Diagnose nicht ausreicht, die stummen Zeichen körperlicher Zustände zu entziffern (,zu sagen, wie ich leide'). Die antike Lehre von den vier Körpersäften, die Polybos, der Schwiegersohn des Hippokrates wohl zuerst systematisiert hat, baute die Einteilung der vier humores zu einem vollständigen kosmologischen System aus. Danach konnten die vier Zustände von Trokken, Feucht, Warm, Kalt mit den vier Elementen Erde, Luft, Wasser, Feuer verknüpft und per analogiam die vier Jahreszeiten, die vier Menschenalter und noch die vier Himmelsrichtungen in das System einbezogen werden. So vollkommen diese Symmetrie erscheinen mag, scheint doch eines der vier Temperamente aus dem Gleichgewicht der Analogien herauszufallen. Obschon die Melancholie ebenso wie die anderen drei Temperamente kausal auf die Wirkung
eines Körpersafts, der schwarzen Galle, bzw. auf die Mischung des Kalten mit dem Trockenen, zurückgeführt wird, scheint dieser Grund die Erscheinung der Krankheit doch nicht befriedigend erklärt zu haben. Sowohl in der Geschichte der Behandlung der Melancholie als auch bei ihren literarischen Repräsentanten fällt auf, daß ein Motivationsrest übrig bleibt, der sich in dem Befremden 31 Nach J. Starobinski. Geschichte dv M eLAncholiebehandbmg von den Anfängen bis 1900. Genf 1960. S. 56. 32 Nach P. Port "Lukacs und sein Sonntagskreis· • in: Zeitschrift fNr Literat"rwissenschaft "nd Ling"utik 53/54 (1984). S. 109.
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äußen, daß der melancholische Zustand offenbar grundlos einzutreten pflegt)). Dies zeigt schon das allererste Zeugnis im 6. Gesang der Ilws, die Geschichte von Bellerophon, der auf unerklärliche Weise von den Göttern verfolgt wird (v. 200): Als aber dann auch jener den seligen Göttern verhaßt ward, Wahrlich, da mußt' er allein durch irres Geländ Aleion Schweifen und fraß sein Herz und mied die Pfade der Menschen.
Sein Elend nimmt schon manche Züge der Melancholie vorweg: "Kummer, Vereinsamung, Abweisung jeder Beziehung zu irgend einem menschlichen Wesen, planloses Herumirren: dieser ganze Zustand ist ,grundlos', denn Bellerophon ist ein mutiger, gerechter Held und hat sich nicht an den Göttern versündigt")4. Fällt der Rekurs auf die Willkür einer transzendenten Instanz weg, so tritt die Melancholie der Moderne als ein grundloser Lebensüberdruß mit unwiderstehlichem Hang zum Selbstmord ans Licht, wie die Definition der "melancolie anglaise" im 18. Jahrhunden bezeugt1s . In welchem Sinn in der Melancholie ein unerkannter Anfang des Individuums und vielleicht - denkt man an Wenhers "Krankheit zum Tode" auch wieder sein antizipienes Ende lag, kann hier außer Betracht bleiben. Für einen unerkannten Anfang des Individuums spricht, daß Melancholie - zum ersten Mal in den Problemata des Aristoteles - als Charakter ungewöhnlicher Geister, besonders des Genies der Dichter und Philosophen, verstanden und ausgezeichnet wurde. Theophrast hat seine dreißig Charaktere offenbar so skizzien, als ob er sich allein von der Beobachtung alltäglicher Verhaltens- und Redeweisen habe leiten lassen. Sie sind weder aus einem ethischen System noch aus einer Affektenlehre abgeleitet. Die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse der Athenischen Lebenswelt bleiben marginal: nicht Familie, Beruf, ökonomische oder politische Stellung bestimmen die Verhaltenstypen, sondern allein die dominante Charaktereigenschaft, die in allen Handlungen und Reden durchschlägt. Ausgeschlossen bleiben Handlungen oder Fehlhaltungen, die beim Leser Mitleid mit menschlichem Elend oder Abscheu vor verbrecherischem Tun auslösen könnten. Es sind dies die Grenzen von miseria und scelus, die nach antiker Auffassung dem ridiculum gezogen sind, um das Lachen auf einen humanen Spielraum zu begrenzen. Die hier bemerkbare Literarisierung zeigt sich 33 Belege bei Starobinski (wie Anm. 31), S. 10, 11,23,52,57, SO. 34 Ebd .• S. 11. 35 Ebd., S. 80.
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weiterhin in der Inszenierung der Beobachtungen, in der mosaikartigen Fügung aller Züge zum Portrait, im Sinn für Komik und Pointierung in der Karikatur, vor allem aber in einem unübertrefflichen Gebrauch lebensnaher Details, die den modernen Leser in Staunen versetzt, gleichviel ob sie subtil beobachtet oder gut erfunden sein mochten. So kommt es zustande, daß Theophrasts Charakterskizzen, obschon sie alle Individualität a limine ausschließen, bei der Charakterisierung der Verhaltensweisen den Effekt einer sekundären Individualisierung des Typischen erzielen. Am Kriterium der Subtilität, Prägnanz und Fülle des charakteristischen Details gemessen: welcher singulare Held des antiken Epos und Romans oder der klassischen Tragödie kann den Vergleich mit Theophrasts Schmeichler, Bedenkenlosen, Schwätzer, Unverschämten, Kleinlichen usf. aushalten, die als Verkörperung immer nur einer Schwäche zwar flach bleiben, als Portrait aus summierten Einzelzügen aber vollkommen ausgerundete Charaktere vor Augen stellen? Die Differenziertheit und Unerschöpflichkeit dieser Ph~siognomie bezeugt auch der Umstand, daß die dreißig Portraits einzelne Charaktere in mehrfachen Varianten vorstellen, was dem ontologischen Prinzip widerspricht, daß jede Gattung von Wesen als einzig in ihrer Art zu bestimmen sei. Wie La Bruyere anmerkte, fänden sich in dem Werk seines Vorgängers drei (wenn nicht vier) Arten von Geiz, zwei Arten von Wichtigtuerei, von Schmeichelei und von ,grands parleurs'. Nimmt man hinzu, daß La Bruyere auch schon feststellte, die Griechen hätten oft zwei oder drei Ausdrücke für Dinge, für die das Französische nur einen habe und daß manche Worte ihre Bedeutung verändert hätten, wie zum Beispiel ,Ironie'l6, die bei Theophrast ,etwas zwischen Betrug und Verstellung' meine, so wird bei dem modernen Autor die Perspektive eines schon historischen Bewußtseins deutlich, das am sprachlichen Wandel den Zeitenabstand zu dem Alten feststellt und dabei erkennt, daß die Charaktere so zeitlos nicht sind, wie es die klassische Ästhetik voraussetzte. In anderen Worten: "Nur in der Geschichte - das hat La Bruyere schon geahnt: was lehrte es besser als die Mode? - stellt das bleibend Menschliche sich dar, und es prägt umgekehrt das geschichtlich Besondere")].
36 DiscolIrs SlIr Theophrastt (wie Anm. l)t S. 38/39: .Par exemple. ironie est chez nous une raillerie dans la conversation. ou une figurc de rhctorique, et chez Thcophraste c'est quelque chose entre la fourberie et la dissimulation. qui n'est pounant ni I'un ni I'aure. mais precisement ce qui est d«"t dans le premier chapitre •. 37 G. Hess. in der immer noch unentbehrlichen Einleitung zu seiner Übersetzung der Charakttrt. Leipzig s. d. (Sammlung Dieterich. Bd. 43). S. XVIII.
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Warum Theophrast vier Arten des Geizes: die Verachtung des guten Rufs um schnöden Gewinnes willen, in: Der Unverschämte (Nr. 9), die übermäßige Sparsamkeit, in: Der Kleinliche (Nr. 10), den Mangel an Ehrliebe in Hinblick auf Ausgaben, in: Der Knausrige (N r. 22) und die Habgier oder Begierde nach schändlichem Gewinn, in: Der Geizige (Nr. 30) unterschieden hat, ist definitorisch nicht auszumachen. Denn diese Unterscheidung setzt eine historisch verschiedene Wahrnehmung des allgemeinen Charakters voraus; sie ließe sich allenfalls mit Kriterien der Psychohistorie und der Sozialgeschichte aufhellen. Aus der Sicht des modemen Lesers wäre manches Detail zwischen den vier Typen austauschbar, wie zum Beispiel in: Der Knausrige (Nr. 22,5): "Als Trierarch breitet er die Decken des Steuermanns auf dem Deck für sich aus, die eigenen legt er beiseite.· Andere Details hingegen scheinen nur für eine Art von Geiz typisch zu sein, wie zum Beispiel in: Der Kleinliche (Nr. 10,13): "Und seiner Frau verbietet er, Salz, Lampendocht, Kümmel, Majoran, Opferschrot, Binden, Opferteig zu verborgen, sondern sagt: ,diese Kleinigkeiten machen im Jahr viel aus'" . 1I Daß es Details gibt, die in der alten wie in der neuen Welt denkbar wären, aber doch erst in der Modeme auftauchen, zeigt der Avare der französischen Klassik, der durch kein Detail schärfer charakterisierbar wäre als durch die Situation, in der er von seinem Stallknecht dabei ertappt und verprügelt wird, wie er in der Nacht seinen eigenen, halbverhungerten Pferden den Hafer aus der Futterkrippe stiehlt. Ein solches paradoxes Verhalten, das ostentativ aller Selbsterhaltung entgegenhandelt, gehört zu den Widerspruchen des modernen Selbstbewußtseins, in denen sich bei Moliere der Bruch mit der klassischen Anthropologie ank ündigt19. Unter den 30 Charakterportraits von Theophrast habe ich nur in einem Fall eine marginale Äußerung gefunden, mit der eine Person ein Bewußtsein davon artikuliert, gerade so zu sein und nicht anders sein zu können. Es ist der Schwätzer (Nr. 7), der hier noch als Beispiel für das Charakterportrait bei Theophrast vorgestellt werden soll. (1) Wenn einer die Geschwätzigkeit definieren wollte, erschiene sie wohl als Unmäßigkeit im Reden, der Schwätzer aber ist einer, (2) der jeden, den er gerade trifft, anredet, und wenn dieser ihm etwas erwiden, sagt er, das sei nichts, und er wisse alles, und wenn er ihn anhöre, werde er es 38 Theophrasu Ch.ralrtnt werden zilien nach der Übersetzung von Dietrich Klose. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 619, Snmgan 1970. 39 S. dazu meine Af..... rt-Interpretation in: Das französiseht Thtaln, hg. J. v. Staekelberg, Bd. I, Düsscldorf 1968, S. 290-310.
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erfahren. Und wendet jener etwas ein, fällt er ihm ins Won ... Sagtest du? Vergiß nicht, was du sagen willst!" und .. Gut, daß du mich erinnerst!" und .. Wie nützlich das Gespräch!" und .. Was ich sagen wollte" und .. Gleich hast du die Sache begriffen" und .. Schon lange habe ich darauf gewartet, ob du auf dasselbe verfallen würdest wie ich", und andere ähnliche Redensanen bringt er vor, so daß der Betroffene nicht mehr zu Atem kommt. (3) Hat er die Leute einzeln entwaffnet, ist er fähig, auch Leute, die in Gruppen zusammenstehen, anzugehen und mitten in ihren Geschäften in die Flucht zu schlagen. (4) Er geht in die Schulen und auf die Sponplätze und hinden die Kinder am Lernen, so viel schwätzt er mit Erziehern und Lehrern. (5) Wer sagt, er müsse gehen, den begleitet er und bringt ihn nach Hause. (6) Hat er etwas aus der Volksversammlung gehön, verbreitet er es und berichtet noch dazu von der Rednerschlacht unter dem Archonten Aristophon, und mit welchen Reden er selbst einst Beifall beim Volk fand. Und dabei streut er Anklagen gegen die Menge ein, so daß die Zuhörer vergessen (worum es geht) oder einschlafen oder sich inzwischen entfernen. (7) Wenn er mit zu Gericht sitzt, behinden er die Rechtsprechung, als Mitzuschauer das Zuschauen, als Essensgast das Speisen; denn er sagt, es sei schwierig für einen Schwätzer zu schweigen, die Zunge bewege sich von selbst, er könne nicht schweigen, auch wenn man ihn für geschwätziger als die Schwalben hielte. (8) Verspotten läßt er sich sogar von den eigenen Kindern, die ihm sagen, wenn sie einschlafen wollen: .. Papa, noch ein wenig schwätzen, damit der Schlaf kommt. "
Die Definition bestimmt das Fehlverhalten in der Weise der aristotelischen Tugendlehre als "Unmäßigkeit im Reden". Danach wird der Schwätzer zunächst durch stereotype Redensarten eingeführt, die ihn als einen zeigen, der auf den nächsten Besten einredet, ihn nicht zu Wort kommen läßt und niemals zugibt, etwas noch nicht gewußt
zu haben. Die folgenden Sätze erweitern die Szene auf Gruppen und Schulen, wo er in der Attitüde des Experten die Kinder durch Geschwätz vom Lernen abhält. Das nächste Detail: "Wer sagt, er müsse gehen, den begleitet er und bringt ihn nach Hause", gehört in seiner Kürze und Prägnanz zu den ungemein sprechenden Details, die durch die Subtilität der Beobachtung frappieren; es trifft hier die unersättliche, flottierende Begierde des Schwätzers, jedes Vakuum des Schweigenmüssens auszufüllen. Dann steigt die Beschreibung bis zur Volksversammlung auf, hebt die Züge des Tratschens, der Abschweifung und des Selbstlobs hervor, doch nur, um die Wirkungslosigkeit bei den Zuhörern hervorzukehren. Die Gerichts-
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szene (7) mit den Beispielen seiner immer nur störenden Rolle löst einen überraschenden Selbstkommentar aus: daß der Schwätzer von sich aus sagt, es sei schwierig für einen Schwätzer zu schweigen, hat kein Seitenstück bei den anderen Charakteren (nie sagt der Geizige, er sei geizig) und würde als Akt einer Selbsterkenntnis zu bewerten sein, wäre es nicht gerade der Schwätzer, der selbst noch über das Schwätzen zu schwätzen vermag und sogleich das geflügelte Wort von den geschwätzigen Schwalben parat hat, um den Anfang einer Selbsterkenntnis in der Rechtfertigung des Unvermeidlichen aufzuheben.
Zur Vorstellung eines modemen Charakters in der Art La Bruyeres habe ich aus dem Kapitel: De Ja mode die Portraitserie der Liebhaberei (Curiosite) ausgewählt. Die Präambel des Kapitels definiert die Mode, die sozialgeschichtlich gesehen in der Gesellschaft von ,La Cour et la Ville c als ästhetische Erfahrung des unbeherrschbaren, raschesten Geschmackwandels beunruhigt und darum zum Gegenstand moralistischer Reflexion erhoben wird, im Tenor schärfster Verwerfung: Une chose folle et qui decouvre bien notre petitesse, c'est l'assujettissement aux modes quand on l'etend ace qui conceme le gout, le vivre, la sante et la conscience. (5. 334)
Der moderne Moralist hat die ethische Neutralität seines antiken Vorbilds preisgegeben: Beobachtung und Kritik gehen ineinander über. Die Unterwerfung unter die Mode nennt La Bruyere eine Narrheit, die vorzüglich die ,Kleinheit C der Menschennatur hervorkehre und die um so bedenklicher sei, weil sie nicht allein den Geschmack, sondern Lebensart, Gesundheit, ja sogar das Gewissen zu korrumpieren vermöge. Die kollektive Faszination der Mode hat indes eine Kehrseite, auf der sich ein privates Interesse an subjektiver Auszeichnung zu behaupten sucht: La curiosite niest pas un gout pour ce qui est bon ou ce qui est beau, mais pour ce qui est rare, unique, pour ce qu"on a et ce que les autres n"ont point. Ce ntest pas un attachement a ce qui est parfait, mais ace qui est couro, a ce qui est a la mode. Ce niest pas un amusement, mais une passion, et souvent si violente, qu'elle ne cede a l'amour et a l'ambition que par la petitesse de son objet. Ce niest pas une passion qu"on a generalement pour les choses rares et qui ont cours, mais qu'on a seulement pour une cenaine chose, qui est rare, et pounant a la mode. (5. 334)
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,Curiosite meint hier nicht Neugier, sondern Liebhaberei, bestimmbar als Leidenschaft für eine Sache, wofür im 18. Jahrhundert mit dem Erfolg von Sternes Tristram Shandy das ,Steckenpferd' (hobby horse) eintreten wird. La Bruyeres Definition geht von der ethischen und ästhetischen Neutralität der Liebhaberei aus: ihr Gegenstand braucht weder gut noch schön zu sein, er muß lediglich Seltenheitswert haben. Der Liebhaber sieht den raren Gegenstand als etwas an, das er sich allein anzueignen wußte, mithin als ein singulares Eigentum, das ihm niemand anderes streitig machen kann. Eine Liebhaberei ist ungleich mehr und ernster als ein bloßer Zeitvertreib - eine Leidenschaft, die der Liebe und dem Ehrgeiz in nichts nachsteht und die das Besondere an sich hat, daß ihre Heftigkeit oft in umgekehrter Relation zum irrationalen Wert ihres Gegenstands zu stehen pflegt. Die sekundäre Individualisierung eines typischen Verhaltens gelangt bei der Liebhaberei nicht selten so sehr in die Nähe einer Bekundung von Subjektivität, daß im Resultat kaum noch zu scheiden ist, ob es sich um eine primäre (autonome) oder sekundäre (heteronome) Äußerung des Individuellen handelt: die Leidenschaft für eine Sache macht den Liebhaber durch sein absolut gesetztes Eigentum selbst .. . einzigartig. La Bruyere scheint diese beginnende Freisetzung des unterdrückten ,kleinen Subjekts' ("notre petitesse") nicht entgangen zu sein. Seine Reflexion über die Liebhaberei hebt im zweiten und wieder im vierten Satz eigens hervor, daß der Stolz, sich durch eine eigentümliche Liebhaberei von allen andern zu unterscheiden, keine autonome Handlung, sondern letztlich nur von einer Mode verursacht sei und dieser botmäßig bleibe. Doch diese Kritik klingt ganz nach Abwehr oder Verdrängung eines eklatanten Ärgernisses, blickt man auf das Folgende, wo eine der längsten Portraitserien unfreiwillig erweist, daß die Verhaltensweisen der Liebhaberei so unerschöpflich sind wie die Verschiedenheit von Individuen, die einer bizarren modischen Leidenschaft frönen. "Qui pourrait epuiser tous les differents genres de curieux?" - mit dieser verwunderten Frage bricht La Bruyere seine Portraitserie ab, die dem Blumenfreund den Obstliebhaber, der nur auf Pflaumenbäume erpicht ist, folgen läßt, dann den Münzensammler, dessen Auge die letzte leere Stelle in seinem Kasten beleidigt, dann den Sammler von Kupferstichen, der seit 20 Jahren vergeblich dem ihm einzig noch fehlenden (obschon schlechten!) Blatt von Callot nachjagt, schließlich den Büchersammler, der niemals liest, weil ihn nur die Einbände in schwarzem Maroquinleder interessieren. Es folgt ein allgemein gehaltener Ausfall gegen die ,Narren aus eitler Neugier' (les dupes de leur curiosite), die eine unmäßige Wissens-
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sucht beherrscht und die doch kein einziges Gebiet ordentlich beherrschen, die zum Beispiel alle Geschichtswerke lesen und nichts von Geschichte wissen. Warum La Bruyere eingangs sagen konnte, die Narretei der Mode könne letztlich sogar "la conscience" (Gewissen, aber auch Bewußtsein) korrumpieren, d. h. den Betroffenen zum Narren seiner eigenen Leidenschaft erniedrigen, wird in den folgenden Fällen noch deutlicher, wo das in seiner Leidenschaft verfangene Subjekt den eigenen Interessen, bzw. der Lust, die es sich von seiner Liebhaberei versprach, zuwiderhandelt. So der Liebhaber seines Hauses, das er so prächtig ausstattet, daß es unbewohnbar wird und nur noch als Schauobjekt für Touristen dienen kann, während der Hausherr den Rest seines Lebens in der Dachkammer verbringen muß (,alle verlangen das Haus zu sehen, niemand den Hausherrn', S. 337). So auch der Sammler seltener Büsten, die in einer Rumpelkammer verstauben, ohne daß er sich entschließen kann, Stücke zu verkaufen, um der Not seiner Töchter ein Ende zu machen. Und so schließlich Diphil, der sich anfangs einen Vogel hielt und jetzt tausend besitzt, die im Hause aber nicht Frohsinn und Heiterkeit, sondern Pestgestank verbreiten und das gesamte Haus als ein Vogelbauer erscheinen lassen. Hier schlägt die Beschreibung vollends in die Groteske um. Die Pflege der Vögel verzehrt nicht allein die Tage, sondern überwächst das erwartete Vergnügen, sie singen zu hören, so völlig, daß Diphil abends völlig erschöpft von seinem Vergnügen ins Bett sinkt und selbst noch im Schlaf von seinen Vögeln verfolgt wird: 11 retrouve ses oiseaux dans son sommeil: lui-meme iI est oiseau, il est huppe, il gazouille, il perehe; iI reve la nuit qu'il mue ou qu'il couve. (S. 338)
Das Subjekt ist schließlich so sehr zum Gefangenen seiner Leidenschaft geworden, daß es ihr auch im Schlaf nur noch entgehen kann, wenn es sich mit seinem Objekt identifiziert, wenn es träumt, selbst ein Vogel zu sein, der ein Häubchen trägt, zwitschert, von Ast zu Ast fliegt, sich mausert oder brütet. "Qui pourrait epuiser tous les differents genres de curieux?" Nicht allein die Arten der Liebhaberei sind unerschöpflich, weshalb La Bruyere dieser Feststellung gleich noch zwei weitere - den Muschelund den Schmetterlingssammler, der angesichts einer toten Raupe in schwärzeste Melancholie verfällt - folgen läßt. Auch die Eigenwelt, die das betroffene Subjekt produziert, ist unausschöpfbar, und die boshafte Satire, mit der sie La Bruyere als Perversion des Bewußtseins rügt, zeigt die Schärfe der Abwehr an, die das aus dem Bann-
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kreis der Vernunft ausbrechende Individuum noch auf dem Gipfel der französischen Klassik traf. Lediglich der Fleuriste am Beginn der Serie ist mit milder Ironie, wenn nicht gar mit insgeheim er Sympathie gezeichnet: Le fleuriste a un jardin dans un faubourg: il y court au lever du soleil, et il revient a son coucher. Vous le voyez plante, et qui a pris racine au milieu de ses tulipes et devant la Solitaire : il ouvre de grands yeux, il frotte ses maines, il se baisse, illa voit de plus pres, il ne l'a jamais vue si belle, il a le ereur epanoui de joie; illa quitte pour l'Orientale, de la il va a la Veuve, il passe au Drap d'or, de eelle-ci a li4gathe, d'oll il revient enfin a la Solitaire, Oll il se fixe, Oll il se lasse. Oll il s'assit. Oll il oublie de diner: aussi est-elle nuancee, bordee, huilee, a pieces emportees: elle a un beau vase ou un beau ealice: illa contemple, ill'admire. Dieu et la nature sont en tout cela ce qu'il n'admire point; il ne va plus loin que l'oignon de sa tulipe, qu'il ne livrerait pas pour mille ecus, et qu'il donnera pour rien quand les tulipes seront negligees et que les oeillets auront prevalu. Cet homme raisonnable, qui a une äme, qui a un culte et une religion, revient chez soi fatigue, affame, mais fort content de sa journee: il a vu des tulipes. (5. 334/335)
In diesem Portrait erscheint das Vergnügen an einer Liebhaberei ungeteilt und ungebrochen. Es erfüllt den Tag des Blumenfreunds vom Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Nacht. Es erfüllt seine Existenz in Zeit und Raum so vollkommen, daß es scheint, er habe unter seinen Tulpen selbst Wurzel geschlagen (" vous le voyez plante ... "). Die Figur der Identifikation ist subtil überboten: der Wunsch, mit der geliebten Tulpe eins zu werden, schlägt vor den Augen des Dritten gleichsam selbst Wurzel und wahrt zugleich den Abstand der Bewunderung vor der Erwählten, der kein sprechenderer Name als ,Die Einsame' (oder: Einsiedlerin) eigen sein könnte. Die Gebärden der Bewunderung des Einsamen vor der Einsamen nehmen mehr und mehr erotische Konnotationen an, bis hin zur Erfüllung (,das Herz hüpft ihm vor Freude'), die aber wieder suspendiert wird. Er trennt sich von der Geliebten, die er noch nie so schön sah, wendet sich zur Abwechslung der, Witwe' zu, betrachtet, Goldglanz' und, Agathe', um schließlich zu der ,Einsamen' zurückzukehren und sich ganz in ihren Anblick zu verlieren (er vergißt dabei das Essen, während er ihre Vollkommenheiten in durchaus fachmännischer Terminologie würdigt). Erst an dieser Stelle schlägt der Moralist wieder seinen kritischen Ton an. Die Bewunderung wird gerügt, weil sie weder das Werk Gottes noch das der Natur an der Tulpe rühmen will, sondern nurmehr den Stolz des Gärtners bekundet. La Bruyeres Kritik zielt auf die Eigenwelt des fleuriste, dessen Horizont nicht weiter reiche
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als der seiner Tulpenzwiebel, der sein einzig geliebtes Eigentum für nichts in der Welt hergäbe, es aber gleichwohl sofort und für nichts abträte, wenn die Mode von Tulpen auf Nelken überginge. Die letzte Szene des Portraits nutzt eine Anspielung auf die Genesis, um die Hybris des Jleuriste ins Komische zu ziehen. Das kleine Subjekt, das wider alle Vernunft seine eigene kleine Welt mit Seele, Kult und Religion ausstaffiert, glaubt sich wie Gott am siebten Schöpfungstag zu fühlen, wenn es höchlich befriedigt von seinem Tagewerk heimgekehrt ist: ,Denn siehe, es war gut' - ,er hat seine Tulpen gesehen. ' Gerhard Hess hat in seinen bahnbrechenden Arbeiten zur europäischen Moralistik La Bruyeres Charaktere als ein Werk des Übergangs interpretiert, "mit allen Vorzügen einer einmaligen gedanklichen, künstlerischen und sprachlichen Zucht ausgezeichnet und doch in die Zukunft weisend, ein Spiegel der ,Sitten des Jahrhunderts' und eine Mahnung zur Besinnung, eine Bejahung der glorreichen Epoche und ein Enthüllen ihrer inneren Verderbnis, daß sich zwei Jahrhunderte an der entscheidenden Wende darin begegnen, hierarchisches Denken und Kritik"40. Als ob er demonstrieren wollte, was alles dazu gehört, um ein bewundertes antikes Vorbild für die moderne Welt zu erneuern, hat La Bruyere den enggezogenen Rahmen der ethischen Charaktere Theophrasts auf den geschichtlichen Horizont der ,Sitten eines ganzen Jahrhunderts' erweitert. Er hat in seine Betrachtung einbezogen, was bei Theophrast ausgeschlossen blieb: die herrschenden Normen, kleinsten Züge oder Umstände und unerkannten Konventionen des sozialen und politischen Lebens, so daß der hierarchische Aufbau und das Wertsystem der Gesellschaft im Übergang von der spätfeudalen zur frühbürgerlichen Welt wie in einem vergrößernden Spiegel ablesbar wurde. Als Werk des Übergangs zeigen die Charaktere auch schon Grenzen des repräsentativen Weltbilds der französischen Klassik an, die ihre selbstverständliche Geltung zu verlieren beginnen. Das gilt vor allem für ihre affirmative Ästhetik wie für die ihr zugrundeliegende universalistische Anthropologie. Die von mir aufgezeigten Formen einer sekundären Individualisierung des Typischen gehören zu den Anfängen einer Entdeckung des Individuellen im Raum des Privaten und der intimen Kommunikation, mit der sich eine bisher gebundene Subjektivität gegen eine rigorose Disziplinierung zu behaupten suchte, die ihr geboten hatte, die Vernunft, die sie unterdrückte, auch noch zu lieben (Boileau: "Aimez la
40 G. Hess, wie Anm. 37, S. VII.
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raison")41. Nichts spricht mehr für den Rang des so scharfsichtigen wie unbestechlichen Zeitkritikers, daß er gegen Ende seines Kapitels De rhomme (wie ebd. auch schon in N r. 15/18) die Prämissen seiner Charakterologie selbst noch in Frage gezogen hat: Les hommes n'ont point de earaeteres, ou, s'ils en ont, e"est eeluy de n'en avoir aueun qui soit suivi, qui ne se demen te point et OU ils soient reeonnoissable. (Nr. 147)
Die hier offen geäußene Ahnung, daß es eine Eigenwelt und ein Eigenrecht des Individuellen geben könne, das aller Bevormundung und gesellschaftlicher Konvention entzogen blieb und auch mit dem Zeichenrepertoire der Charaktere nicht zu erfassen war, ist auch schon im ersten Kapitel Des oUf/rages Je resprit aus dem Dilemma des Vollkommenen zu erschließen. Es liegt in der nicht ausdrücklich gestellten, aber immer wieder akut werdenden Frage, wie das Vollkommene - und damit die höchsten Schöpfungen des Geistes - einzig in seiner Art sein kann und gleichwohl allgemeinen Normen des Geschmacks unterworfen sein soU (vgl. Nr. 10). Wenn sich das vollkommene Werk durch seine Einzigartigkeit bestimmt, analog zu dem klassischen Postulat, daß es ,unter den vielen verschiedenen Wendungen, die einen einzigen unserer Gedanken wiederzugeben vermögen, (... ) nur eine richtige (gibtr (Nr. 17), muß unweigerlich das Prinzip der Nachahmung seine säkulare Geltung verlieren. Es mag zwar noch ,Geistern im zweiten Range empfohlen werden. Für die größten aber muß hinfort gelten, daß sie die Grenzen der Kunst, die dem "esprit juste" gezogen sind, überschreiten und sich von den Regeln lossagen dürfen, ,wenn sie nicht zum Großen und Erhabenen führen' (Nr. 61). Das Erhabene (le sublime) ist das modeme, obschon aus der verspäteten Longinus-Rezeption übernommene ästhetische Kriterium, mit dem La Bruyere versucht, das Arcanum des Singularen im Vollkommenen zu erfassen (Nr. 55). Was aber ist
das Erhabene? La Bruyere vermag es zunächst nur in einem Katalog offener Fragen einzukreisen: Qu'est-ee que le sublime? 11 ne parait pas qu'on l'ait defini. Est-ee une figure? nait-il des figures, ou du moins de quelques figures? Tout genre d'ecrire re~oit-ille sublime, ou s'il n'y a que les grands sujets qui en soient eapables? (ete.)
41 Dazu neuerdings R. Galle, GtstÄnJnü ,mJ SlIbjtlrtiflitiit - Untnsllchll"gt" zlIm fr."zösischtn Roman zwüchtn KlMsilr lI"d Roma"tiIt. München 1986.
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Es gehört offenbar zu der merkwürdigen Kategorie des ,Je ne sais quoi' (,Ich weiß nicht was'), mit der die klassische Ästhetik die Erscheinung von Ausnahmen als Leerstelle in ihrem Normensystem zu bezeichnen pflegte. Die eigene Definition, die La Bruyere dann doch versucht, löst das Rätsel kaum: "Le sublime ne peint que la verite, mais en un sujet noble; illa peint tout entiere, dans sa cause et dans son effet; il est l'expression ou l'image la plus digne de cette verite" (Nr. 55). Denn diese Wahrheit wird sogleich wieder dem klassischen Ideal der Vollkommenheit, des einen Ausdrucks für jeden Gegenstand zugeordnet, der den mittelmäßigen Geistern nicht zu Gebote steht: ,Des Erhabenen aber sind selbst unter den größten Genien nur die hervorragendsten fähig' (ebd.). Was aber macht das Erhabene einzigartig? Wenn es den Regelkanon des Schönen übersteigt, weder eine rhetorische Figur ist, noch aus rhetorischen Figuren hervorgeht, auch an keine Kunstgattung gebunden ist und einen edlen Gegenstand erfordert, der indes seine Seltenheit nicht per se zu erklären vermag, muß dann die Einmaligkeit seines Ausdrucks nicht vom Künstler selbst herrühren, der dem großen Gegenstand seine Einmaligkeit aufprägt? La Bruyere hat diese Folgerung noch nicht gesehen, die erst von der Genieästhetik gezogen wurde und erst gezogen werden konnte, als das Postulat objektiver Vollkommenheit preisgegeben war und das Individuum den Anspruch erheben konnte, auch in seiner unvollkommenen Subjektivität wahr, einzigartig und im Ausdruck seiner selbst vollkommen zu sein. Gleichwohl lag im ,Je ne sais quoi' des Erhabenen ein Anfang und möglicher Anspruch des noch nicht bestimmbaren, aber schon dringlichen Individuums. Wie Erich Köhler bemerkte, hatte "ein je ne sais quoi auch im geschichtlichen Augenblick des gläubigsten Rationalismus neben Fragwürdigkeit und Ohnmacht auch Eigenart und Eigenwert des Individuellen in den Blick bringen können "42. La Sruyere, der die Gesellschaft seiner Zeit im Blick auf das plurale tantum ihrer Charaktere typisierend beschrieb, hat das singulare tantum des Unnachahmbaren (vgl. Nr. 64) immerhin schon der Ausnahmeerscheinung schöpferischer Geister zugestanden. Er hat Aspekte der Genieästhetik vorweggenommen, wenn er in seiner Zeitkritik das notwendige Unverstandensein des "auteur serieux" (N r. 28), das Versagen der Maßstäbe der Zeitgenossen (Nr. 27, 34, 49) und die Gerechtigkeit des Urteils, das erst die Nachwelt zu fällen pflege (Nr. 67), hervorkehrte. Und er hat 42 .,Je ne sais quoi' - Zur Begriffsgesc:hic:hte des Unbegreiflichen· ; in: Esprit N"d 4rlr.J;sehe Freiheit, FrankfurtlBonn 1966, S. 264.
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der Resignation des ,Ancien', die aus seinem berühmten ersten Aphorismus spricht: "Tout est dit, et l)on vient trop tard depuis plus de mille ans qu'il y ades hommes, et qui pensent", am Ende desselben Kapitels mit dem Argument eines ,Moderne' widersprochen, das seinen eigenen Anspruch anmeldet, als Individuum verstanden zu werden. Horace ou Despreaux I'a dit avant vous, je le crois sur votre parole; mais je I'ai dit comme mien. Ne puis-je pas penser apres eux une chose vraie et que d'autres penseront apres moi?
III. Das Besondere sperrt sich gegen das Allgemeine (Figuren der Fabel) Eine ganz andere Typenwelt als die ethischen Charaktere in der Tradition Theophrasts hat sich in der älteren äsopischen Tradition mit den Figuren der Fabel herausgebildet. Angesichts der Vielfalt ihrer Figuren, die Mensch und Tier analogisch erfassen, fällt die geringe Zahl an Überschneidungen auf. Allenfalls Figuren wie der neidische Esel, der unzufriedene Pfau, der geizige Fuchs, die unbeständige Hyäne, der leichtsinnige Hase, die doppelzüngige Katze wären auch in Charaktere der Art Theophrasts übersetzbaro. Doch dabei käme zutage, daß dieselbe Ontologie einer Welt der Einzelnen in den beiden Traditionen durchaus verschiedene Gestalt annimmt. Die ethologische Beschreibung erfaßt eine dominante Eigenschaft im zwangsläufig sich wiederholenden Verhalten, das menschliche Natur von immer nur einer Seite, zugleich aber Ort und Umstände der Alltagswelt in kontingenter Fülle mit darstellt. Am Ethos der theophrastischen Charaktere läßt sich darum sowohl die Prägung der seelischen Anlage, der inneren Natur, als auch Gewohnheit, Sitte oder Brauch, der Habitus der äußeren Natur, ablesen. Hingegen entlarvt die erzählende Kurzform der äsopischen Fabel den Charakter einer Figur stets in einer einzigen Situation, näherhin zumeist in einer Konstellation von Figur und Gegenfigur. Die Kontingenz des alltäglichen Lebens, seiner wechselnden Umstände und Bräuche, erscheint reduziert auf eine fingierte Welt, in der unter reinen Bedingungen gehandelt wird. Konstante Umstände, vorgeprägte Charaktere, festgelegte Rollen bestimmen eine modellhafte Konstellation, die - einmal erkannt - den Ausgang als notwendig absehen
43 W. Wienen, Die Typen dn- griechisch-römischen Fabel, Helsinki 1925 (FF Cornrnunications, 56), S. 131-137.
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läßt. Eben dadurch wird die Fabel das vorzügliche Modell zur "anschauenden Erkenntnis" (Lessing) einer Regel des Handelns, zur Warnung einer Autorität im Schutz der Fiktion, zur Überzeugung einer Versammlung bei anstehender Entscheidung, zur vergnüglichen Belehrung und ethischen Unterweisung in der Schulstube. Die Figuren der Fabel lassen uns nicht mehr nur menschliche Schwächen, Einseitigkeiten oder Fehlhaltungen belächeln. Sie geben vielmehr zu erkennen, was wir eingehen, wenn wir die eine oder die andere Rolle übernehmen, auf welche vorgezeichnete Bahn wir geraten, wenn wir uns so oder so verhalten werden. Damit hängt zusammen, warum der Gebrauch der Tiere für die Fabel wesentlich ist. Daß er nicht beiläufig entstanden sein kann, zeigt schon die Überlieferungsgeschichte, in der immer wieder - wie bei Marie de France - der Fabelschatz um schwankartige Stücke vermehrt, aber auch - wie im Codex Pithou für Phaedrus - die NichtTierfabeln aus dem Kanon der Gattung wieder ausgeschieden wurden. Zum andem ließe sich zeigen, daß der Mensch in der Fabel, zumal wenn er dem Tier gegenübertritt, selbst wieder als Gattungswesen (Mann oder Weib) bestimmt, als Einzelner auf einen sozialen Typus (reich oder arm, mächtig oder schwach) reduziert und damit auf eine vorgezeichnete Bahn gebracht wird, nicht anders als das Tier, das die Fabel zu einem moralischen Wesen emporhebt. Diese doppelte Verwandlung: daß Tiere, Pflanzen oder Dinge zu der höheren Natur vernünftiger Wesen emporgehoben, der Mensch andererseits auf ein naturhaft bedingtes Handeln herabgebracht wird, macht den "angenehmen Schein des Wunderbaren" in der Fabel aus. So Lessing, der gegen Breitingers Erklärung des Wunderbaren: daß Tiere reden und in die täglichen Geschäfte und Handlungen der Menschen etwas n Ungemeines oder merkwürdig Reizendes" hineinbringen können, zurecht einwandte: es würden uns nur Tiere in den erst gelesenen Fabeln wunderbar vorkommen 44 • Ist die Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur einmal erkannt, so erscheint dieses Wunderbare selbstverständlich und bedarf der Gebrauch der Tiere in der Fabel einer anderen Erklärung. Lessing sah die Ursache, warum der "Fabulist die Tiere oft zu seiner Absicht bequemer findet, als die Menschen, (... ) in der allgemein bekannten Bestandheit der Charaktere": Tiere brauchen nur genannt zu werden, um den "Begriff der ihnen zukommenden Denkungsart und anderen Eigenschaften zu erwecken" . Tieren ist - wie 44 .. Von dem Gebrauche der Tiere in der Fabel- t in: Gesammelte Werket BerlinIWeimar 1968, Bd. 4, S. 46 H.
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Hans Lipps formulierte - "ihr Artcharakter ins Gesicht geschrieben"4s. Um sie zu charakterisieren, bedarf es nicht erst einer Geschichte oder einer Beschreibung ihrer Person, Ihre Gestalt ist für uns immer schon identisch mit einem Sosein. Als Figuren der Fabel ermöglichen sie ohne umschweifige Erzählung unmittelbar die anschauende Erkenntnis vom typischen Geschick ihres Handelns, das letztlich darauf zurückzuführen ist, daß "das Tier ein ungebrochenes Verhältnis zu seiner Natur hat"46, Das typische Geschick, das den Figuren der Fabel zumeist als ein unvermeidliches Mißgeschick aufgrund ihrer Natur zufällt, ist danach von dem Schicksal zu unterscheiden, das der Einzelne zu übernehmen, als ,seines' zu ,sein' hat 47 . Es setzt schon das gebrochene Verhältnis des Menschen zu seiner Natur voraus - den Anfang des Individuums, das die Fabel in der Typenwelt der Charaktere noch verleugnet. Gegen Lessings berühmte Abhandlung sind Einwände erhoben worden, die seine Theorie zwar nicht aufheben können, aber doch weiterzuführen erlauben. Die Fabeltradition zeigt, daß den Tieren ihr Artcharakter keineswegs von Anbeginn eindeutig ins Gesicht geschrieben war. Sie werden mit verschiedenen Eigenschaften ins Spiel gebracht, in anderer Situation verschieden typisiert und moralisch ausgelegt, so daß die ,Bestandheit' ihrer Charaktere genetisch gesehen nicht als vorbekannt, sondern als allmählich durch die Tradition hervorgebracht anzusehen ist. Der Rabe und sein Pendant, die Krähe, findet sich zum Beispiel im Esope der Marie de France als Beispielfigur des hinterlistigen Ratgebers (XII: Adler und Muschel), aber auch des Loyalen (LIX: Wolf und Rabe), des Klugen (XL: Krähe und Schaf) und schließlich des Eitlen (LXVII: Rabe und Pfau), in der Eigenschaft, die dann durch die berühmteste Fabel vom Raben, dem der Fuchs den Käse abzulisten weiß, zum Artcharakter kanonisiert werden sollte. Der Vereindeutigung durch die Tradition geht eine Konkretisierung durch den Gegenspieler in der Konstellation der Fabel voraus, wie Karlheinz Stierle zeigte: "So haben auch die Tiere nicht schon von vornherein ihren Charakter. Ihre jeweilige, moralisch interpretierbare Besonderheit wird erst dann, Charakter', wenn sie in den Zusammenhang einer Konstellation gebracht ist, die eine ihr metaphorisch entsprechende Konstellation durchdringt. Hieraus erklärt sich, daß die Tiere in der Fabel zumeist mehr als einen Charakter vertreten können und daß erst ihr jeweiliger Gegenspieler aus 45 Die menschliche Natur. Frankfun 1941, S. 19. 46 Ebd .• S. 25. 47 Nach H. Lipps. ebd., S. 139.
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der Zahl der möglichen Charaktere den einen besonderen aktualisiert"··. Erst die Begegnung von Fuchs und Rabe macht am Mißgeschick des letzteren die Artcharaktere des Schlauen und des Eitlen prägnant. Stierle verdanken wir auch eine neue Rechtfertigung des Wunderbaren in der Fabel: es ist nicht Mimesis der Tierwelt, geschweige denn Einfühlung in die Tierseele, sondern eine .Poesie des Unpoetischen- .das Unwahrscheinliche, der ecart vom alltäglichen Leben, der Distanz zur wirklichen Welt und damit freien Spielraum der Reflexion ermöglicht"·'. Die Fabel, in der europäischen Tradition die erste rhetorisch-literarische Form, die den idealisierenden Gattungen des Epos und der Tnagödie entgegen den Menschen jenseits von gut und böse in seiner unidealen Durchschnittlichkeit erfaßte, ist in der poetologischen Tradition von Anbeginn in der Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur aufgenommen und kommentiert worden. Die äsopische Fabel: Pferd, Rind, Hund und Mensch so erklärt die fundamentale Analogie durch einen aitiologischen Mythos von der Schöpfung des Menschen: Als Zeus den Menschen schuf, gab er ibm nur kurze Lebenszeit. Der aber brauchte seinen Verstand, und als der Winter herannahte, baute er sich ein stattliches Gehöfte. Wie es nun einmal sehr kalt wurde und Zeus den Regen vom Himmel herabgoß, konnte das pferd es im Freien nicht mehr aushalten. So kam es denn im Galopp zu des Menschen Behausung heran und bat um Aufnahme. Der sagte: .lch will dich aufnehmen, aber unter der Bedingung, daß du mir einen Teil deiner Lebensjahre abtritut. • Das Pferd war es zufrieden und erhielt Stallung und Funer. Kurz darauf kam das Rind und noch später der Hund, und mit beiden beschloß der Mensch den gleichen Venrag. So kommt's, daß der Mensch, solange er in den Jahren steht, die ihm Zeus selbst verliehen hat, unverdorben und gut ist. In den Jahren aber, die er vom Roß hat, ist er hochmütig und üppig; in denen, die er vom Rind hat, ist er ein gewaltiger Schaffer und in denen, die ihm der Hund abtrat, mürrisch und bissig.
Der Epilog der mittelalterlichen Sammlung Romulus Vindobonensis bestimmt die Funktion der Fabel etymologisch; dank der fingierten Gespräche der an sich stummen Tiere hätten die Dichter ein Abbild menschlicher Sitten geschaffen, das erlaube, die wahre Bedeutung des Handeins (ad id quod agitur vera significatio) zu erkennen: 48 .. Poesie des Unpoetischen - Über La Fontaines Umgang mit der Fabel·, in: Pwtia 1 (1967), S. 527. 49 Ebd., S. 528. 50 Atsopischt Fabeln, zusammengestellt und ins Deutsche übenragen von A. Hausrath, München 1940, Nr. 10 (nach dieser Ausgabe wird im f. zilien).
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Fabulas Potae a fando nominaverunt, quia non sunt res factae, sed tantum loquendo fictae, quia ideo sunt inductae ut per ficu mutorum animalium inter se colloquia ymago quaedam vitae hominum monstraretur. ~I
Martin Luther, ansonsten ästhetischer Erfahrung nicht gerade zugetan, macht für die ethische Unterweisung die Ausnahme, daß "solche feine Lehre und Warnung unter der lieblichen Gestalt der Fabel lieber gelernet und fester behalten" würde: Wolan / es will niemand die Wahrheit hoeren noch leiden / und man kann doch der Wahrheit nicht emberen / So woellen wir sie schmuecken / und unter einer Luestigen luegenfarbe und lieblichen Fabeln kleiden. U
Auch Herder bewahrt noch den analogischen Sinn der Fabel als einer "Erfahrungslehre für eine bestimmte Situation des Lebens", die er gegen Lessing nun aber nicht mehr aus der Abstraktion einer allgemeinen moralischen Wahrheit, sondern als praktischen Satz aus der Erinnerung ähnlicher Fälle ableiten will. Die Fabel, die solche ähnlichen Situationen beisteHt, erhält dabei eine neue Legitimation: "Thiere handeln in der Fabel, weil dem sinnlichen Menschen alles Wirkende in der Natur zu handeln scheinet." Die Figuren der Fabel bestimmt nicht länger ihre Natur als Gattungswesen, sondern ein animistischer Naturbegriff ; ihre Sprache "dringt ans Herz, als ob der Naturgeist selbst aus diesen Wesen spräche"Sl. Romantisches Naturempfinden verdrängt den klassischen Naturalismus; es beginnt die Einfühlung in die Tierseele, die der praktischen Funktion der Fabel ein Ende setzt. So streng gefügt die Konstellation der Fabel, ihrer vorgeprägten Figuren und vorgeschriebenen Rollen, und so unmittelbar evident die anschauende Erkenntnis eines Allgemeinen im besonderen Fall zu sein schien, ist doch der Anfang eines Aufstands des Einzelnen gegen die Macht des Allgemeinen schon in der alten Welt der Fabel durchgespielt worden. Der Aufstand wird von einzelnen Figuren geprobt, die versuchen, von der vorgezeichneten Bahn abzuweichen, was unweigerlich dazu führt, daß sie in ihre zubestimmte Natur zurückfallen müssen. Der vergebliche Aufstand wird indes von unerwarteter Seite wieder aufgenommen - vom Empfänger der Fabel, der sich ihrem intendierten Sinn nicht einfach unterwirft, sondern den SI Zitiert nach H. U. Gumbrecht, Einl. zu M.rie tk Fr(UlC~: Ä10P, München 1973, S. 27 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters, 12). S2 Ebd., S. 28. S) Ebd., S. )) ff.
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für das Handeln verneinten Spielraum öffnen kann, indem er die Moral der Fabel immer wieder anders interpretiert. In der äsopischen Tradition ist das Verlangen der Kreatur, über die ihr zubestimmte Natur hinauszugelangen und einen anderen Ort oder höheren Rang in der Hierarchie der Wesen einzunehmen, schon vielfältig thematisiert. Im Katalog der Sinntypen der griechischrömischen Fabel ist das von Horaz auf die Formel: naturarn expellas furca, tarnen usque recurret, gebrachte Modell und seine Varianten: ,Jeder bleibe in seinem Stande' (z. B. der Rabe, der die weiße Farbe des Schwans haben möchte) oder: ,Überhebung findet Verachtung oder wird bestraft' (z. B. der Esel, der stolz auf die dem Löwen geleistete Hilfe pocht) vielfach bele~. Aus dem Esope der Marie de France sei hier nur das eine Beispiel der Maus angeführt, die auszog, um den Mächtigsten zu freien (LXXIII). Ihr Schwur, nicht ihresgleichen, sondern nur jemand höchster Abkunft ehelichen zu wollen, wird ironischerweise von der Reihe der befragten Wesen durchaus respektiert. Die Sonne verweist sie an die Wolke, die sie verdunkeln könne, die Wolke an den Wind, der mächtiger sei, dieser an den Turm, der ihm kraftvoll widerstehe, und der Turm wiederum an das einzige Wesen, das ihn gefährden könne - die an seinem Fundament nagende Maus. Der abweichende Weg der über ihren Artcharakter hinausbegehrenden Maus, den Maries Fabel bereits singularisierend als ihre ,Aventure' (v. 82) erzählt, führt zur Einsicht: ,Ich glaubte, so hoch zu steigen: nun muß ich zurückkehren und mich meiner Natur beugen' (v. 79) und bestätigt nurmehr die naturgesetzte Ungleichheit der Charaktere, oder mittelalterlich gesprochen: ihre Bindung an Ort und Rang in einem hierarchisch gestuften Kosmos. Dem OrdoGedanken des Mittelalters entgegen bestimmt indes die Figuren der Fabel nicht das Streben der Kreatur nach ihrem Schöpfer, sondern eine Bewegung der Hybris, die sie vom vorbestimmten Platz weg und unweigerlich wieder zu ihm zurückführt~~. Das Besondere sperrt sich in der Fabel aber auch noch in anderer Weise gegen das Allgemeine. Die Auslegungsgeschichte der Fabel stellt Lessings berühmte Definition wieder in Frage: "Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz
54 Wie Anm. 43. S. 86-94 (bcs. Nr. 26 und 37). 55 Im Näheren S. Vf., U"ttn ..ch .."gm z.. ,. muuWurlichm T~Jicht.."g, Tübingen 1959, Kap. I, bes. S. 39.
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anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel"S6. Doch auch in der anschauenden Erkenntnis geht der besondere Fall nicht ganz in der allgemeinen Wahrheit auf wie das Einzelwesen in seiner Art oder wie das einzelne Ding in seinem Begriff. Es bleibt ein nicht subsumierbarer Rest, der sich darin zeigt, daß aus ein und derselben Fabel nicht zu aller und jeder Zeit die gleiche moralische Lehre gezogen wurde. Die Fabel von Rabe und Fuchs s7 zum Beispiel steht bei Phaedrus unter dem Promythium: ,Wer sich an einer Schmeichelzunge Lob ergötzt, / wird in nutzloser Reue späte Buße tun. Doch schon ein späteres Epimythium kehrt diese biedere Moral in ihr Gegenteil um: "Hac re probatur ingenium quantum valet, / Virtute et semper praevalet sapientia." Desgleichen fügt der Romulus Nilantii seiner christlichen Version die durchaus unchristliche Frage hinzu: "Sed postquam homo perdiderit quid quid amat, quid poenitentia illi proficit?" Die Lehre, die Marie de France für ihre feudalaristokratischen Leser daraus zieht, rügt am Raben nicht Eitelkeit, sondern die Verblendung durch falschen Stolz und Ehrsucht ("Cest essamples des orguiUus / K.i de grant pris sont desirous"). Alexandre Neckam begnügt sich mit der schlichten Mahnung, ,ein Tor ist, wer nicht schweigen kann'. Die hausbackene Moral Heinrich Steinhövels: "Unrecht Gut gedeiht nicht" wird von Lessing zu einem (gattungswidrigen) Akt poetischer Gerechtigkeit gesteigert - der Käse war vergiftet: "Möchtet ihr euch nie etwas anderes als Gift erloben, verdammte Schmeichler!" Und in der vorläufig letzten Version James Thurbers, in der sich Fuchs und Rabe als Leser Äsops und Lafontaines begegnen, wird schließlich der bittere Ernst der Aufklärung in die ironische Pointe aufgelöst: C
It was true in Aesop's time, and La Fontaine's and now, no one else can praise thee quite so well as thou.
Die Auslegungsgeschichte der Fabel bringt die von Lessing harmonisierte Antinomie des Allgemeinen und des Besonderen an den Tag, in der sich ein Anfang des Individuellen verbirgt. Siegfried Kracauer hatte diese Antinomie gegen die generalisierende Methode der Universalgeschichte, sofern sie, von oben nach unten' gedacht war, ins Feld geführt und eine Geschichtsschreibung gefordert, die ,von 56 Wie Anm. 44, S. 45. 57 Belege zum F. bei H. Bihler, in: M~d;"m A"""m Roman;a,m, Festschrift H. Rheinfelder, München 1963, S. 21-48. Ferner J. Thurber, n F4b~ln INr Zeitg~nossen, Harnburg 1967.
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unten nach oben' prozediert, weil es in unserer Zeit nicht mehr als legitim gelten könne, ,von oben nach unten' zu denken s8 . Die Fabel hat offenbar immer schon ,von unten nach oben' prozediert, sofern sie sich in ihrer gesellschaftlichen Funktion nicht selten der Herrenmoral entgegensetzte. Darum konnte Schirokauer sagen: "Die Weisheit Äsops ist eine Lebenslehre für Unterjochte, seine Weltklugheit gibt dem Schwachen Handhaben für den Umgang mit Starken"s,. Im Lichte einer Betrachtung, die den Weg der Fabel von unten nach oben zu rekonstruieren sucht, gewinnt die sogenannte Äsoplegende60 mehr Bedeutung als nur die einer kuriosen Mythisierung: hier nimmt das Besondere, das bei den fürwitzigen Figuren der Fabel wieder in die Botmäßigkeit des Allgemeinen zurückfällt, bei ihrem Urheber eine erste Gestalt des Individuellen an. Die Typenwelt der für sich seienden Charaktere wird gleichsam von einem Subjekt durchmessen, das ihre Vereinzelung narrativ verknüpft. Sofern es von Situation zu Situation sich durch witzige Aussprüche oder durch Erfindung von Fabeln behauptet, erläutern diese zugleich die Lebensgeschichte Äsops, der sich mehr und mehr über das typische Geschick des Sklaven, des Schelms, des Rätsellösers und Ratgebers zu einem singularen Schicksal erhebt, das Ansehen eines Weisen erlangt und schließlich eines sokratischen Todes stirbt. Der Weg von unten nach oben beginnt im (verlorenen) Volksbuch beim Philosophen Xanthos, dem sein Sklave Aisopos ausgesprochene Schelmenstreiche spielt (von der Art des Wörtlichnehmens, wie zum Beispiel, wenn er ihm die leere Ölkanne bringt, weil nur die Kanne verlangt wurde). Dabei ertrotzt er seine Freilassung, als er in der politischen Notlage der Samier als Orakeldeuter und Ratgeber seinen Herrn beschämt. Er wird sodann zu Kroisos entsandt, weiß dessen Zorn durch die Fabel vom Menschen und der Zikade (Hausrath, Nr. 56) zu entwaffnen und seine Aussöhnung mit den Samiern zu erreichen. Im (erhaltenen) Äsoproman setzt der Aufstieg thematisch mit dem Gegensatz zwischen der praxisfernen Theorie des Philosophen und dem Mutterwitz des Sklaven ein, führt den Freigelassenen nach Babyion und Ägypten, wo er die königliche Autorität im Rätselwettkampf besiegt, und endet in Delphi, wo Äsop im Streit mit der Priesterschaft unterliegend als Neuerer mit Hilfe Apollos zu Fall gebracht und hingerichtet wird. Doch dieser Ausgang wird später 58 PH 111, S 577. 59 "Die Stellung Äsops in der Literatur des MA-, in: Festschrift W. Stammler, Berlin 1953, S. 180. 60 Bei Hausrath, wie Anm. 50.
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revidien: nicht allein müssen ihm die Priester Tempel und Ehrenstele errichten, sondern er wird zuguterletzt in den Kreis der Sieben Weisen aufgenommen, in dem er - wie Plutarch berichtet - beim Gastmahl in Korinth seiner Rolle als kluger Schalksnarr (derisor potius quam deridendus senex) treu bleibt und seine heitere Weisheit als Geschichtenerzähler (logopoi6s) bekundet. Der Äsoproman, der die Vereinzelung der Fabeln aufhebt, indem er sie aus der Lebensgeschichte ihres Urhebers hervorgehen läßt, singularisien die Typenwelt ihrer Figuren auch in der Hinsicht, daß ihre zeitlos gewordenen Konstellationen und Handlungsmodelle wieder auf konkrete historische oder gesellschaftliche Anlässe bezogen werden. Die Erzählfolge restituien oder fingien die Ursprungssituationen und die rhetorische Funktion, von der sich die literarisiene Fabel abgelöst hatte. Der Ausgang des Äsopromans zeigt die doppelte Singularisierung der Situation der Fabeln und ihres erzählend-erfindenden Subjekts in einer hochdramatischen Schlußphase. Äsop, auf seinem Weg durch die Städte von Hellas nach Delphi gelangt, beleidigt das Volk, das ihm keine Ehren erweist, durch die Fabel vom Holzklotz, der sich aus der Feme im Meer schwimmend zwar bedeutend, aus der Nähe aber wertlos ausnimmt (Hausrath, S. 127). Durch ein Schurkenstück eines Tempelraubs verdächtigt und ins Gefängnis geworfen, sucht der Delinquent das drohende Unheil noch auf dem Weg zum Richtplatz durch die Wamfabel von Frosch und Maus (Nr. 42) abzuwenden. Er bittet immer wieder, ihn noch einmal anzuhören, und kleidet seine an Zeus gerichtete Anklage, bevor er in den Abgrund gestürzt wird, in eine letzte Fabel. Es ist die vom Landmann, der, auf dem Acker alt geworden, endlich einmal die Stadt sehen möchte, auf dem nächtlichen Weg aber von Eseln, die man tückischerweise vor den Wagen gespannt hatte, in den Abgrund geschleuden wird. Die Lehre dieser Fabel zielt vordergründig auf die Delphier, hintergründig aber - was die äsopische Fabel sonst nicht tut - auf den, der sie erfand: ,,0 Zeus, womit habe ich an dir gefrevelt, daß ich so sinnlos zugrundegehen muß, nicht durch mutige Rosse oder wackere Maultiere, sondern durch elende Esel?" Die Wendung zur Selbstreflexion war zuvor schon ausdrücklich vollzogen worden, als ein Freund Äsop im Gefängnis besuchte und dieser auf die Frage, warum er weine, die Fabel von den falschen und echten Tränen (S. 130) erzählte, die in der Situation des drohenden Todes die Fiktionalität der Gattung durchbricht. Die Weisheit der Fabel, geschaffen um die Andem und insonderheit die Mächtigen zur Einsicht zu bringen, mündet am Ende ihrer personalisienen und legendären Gattungsgeschichte in eine Weisheit anderer An: die sokratische des ,Erkenne dich selbst'.
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Ist man geneigt, die Haltung Äsops vor dem Tod als Erreichen einer Schwelle zur Individualität zu interpretieren, so kann diese Deutung in der bekannten Phaedon-Stelle (60 EH.) bei Sokrates selbst, dem Vorvater des Individuums, eine Bestätigung finden: "Wiederholt hat den Sokrates in seinem Leben ein Traumgesicht aufgeforden, den Musen zu huldigen. Aber er hat sich immer nur um die Philosophie gekümmen. Nun in seinen letzten Tagen im Kerker beschließt er, dieser Mahnung zu folgen. Und was ist der Inhalt seiner Gedichte? Ein Hymnus auf Apollo und äsopische Fabeln. In einem Loblied in der alten Form der Raphsoden nimmt er Abschied von dem hehren Geistesgott, in dessen Dienst er sein Leben lang gestanden hat. Aber neben ihn tritt jetzt sein Gegenpol, der Volksweise, den die unverständige Menge zum Tod veruneilt hat, wie ihn, den Sokrates, selbst"". Der historische On, an dem aus den Figuren selbst das Individuum heraustritt, ist erst noch zu suchen. In Tburbers moderner Lesart der Fabel von Fuchs und Rabe wird ex post die Bedingung benannt, unter der das Individuum seinem Ancharakter und damit dem Bann der Natur entrinnen kann, immer nur als Exemplar seiner Gattung zu gelten: "Tbe fox had read somewhere, and somewhere, and somewhere else, that praising the voice of a crow with a cheese in his beak would make hirn drop the cheese and singe But this is not what happened to this panicular crow in this particular case." Die Pointe ist ironisch gemeint, denn der Fuchs läßt sich daraufhin eine neue List einfallen ("I recognize you, now that I look more closely, as the most famed and talented of all birds, and I fain would hear you tell about yourself, but I am hungry and must go"), die den Raben, der sich für absolut einmalig hält, am Ende doch wieder in seinen Artcharakter zurückfallen läßt. Die Pointe erinnen gleichwohl an den historischen On, an dem das Individuum seinen Anspruch erhebt, einziganig und ineins damit gleichberechtigt mit allen einzelnen Wesen zu sein - die Fabel der Aufklärung. Die Entdeckung, daß sich hier in der Fabel Lessings ein revolutionäres Prinzip ankündigt, das Prinzip der Egalite, der Gleichheit aller Individuen in ihrer Besonderheit, ist Dolf Sternberger zu danken f>2. Sein Paradefall ist die Fabel: Der Esel mit dem Löwen, in der nicht mehr der Esel, sondern zwei Esel auftreten, das Prinzip der klassischen Fabel durchbrechend, das die Gattung als Artcharakter immer nur als rundes Exemplar in der Einzahl zu repräsentieren erlaubte:
6] Hausrath. wie Anrn. SO, S. 144.
62 Figllren der Fabel, Frankfurt 1950, S. 79 ff.
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Als der Esel mit dem Löwen des Äsopus, der ihn statt seines Jägerhorns brauchte, nach dem Walde ging, begegnete ihm ein anderer Esel von seiner Bekanntschaft, und rief ihm zu: Guten Tag, mein Bruder! Unverschämter! war die Antwort. Und warum das? fuhr jener Esel fort. Bist du deswegen, weil du mit einem Löwen gehst, besser als ich? mehr als ein Esel?
Die Antwort auf die beiden Fragen hat Lessing dem aufgeklärten Leser anheimgestellt. Die erste Frage setzt das Individuum im gleichen Recht des Einzelnen schon voraus. Die zweite Frage weist es ironisch wieder in seinen Artcharakter zurück. Die hier angezeigte Schwelle wird erst ganz überschritten sein, wenn sich der Esel nicht schon darum für einen besonderen Esel hält, weil er mit dem Löwen geht, sondern wenn jeder Esel beansprucht, ,mehr als ein Esel' zu sein ... Doch dieser Anfang des Individuums läßt die essentielle Welt der Fabel notwendig hinter sich zurück. Denn er setzt die Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur außer Kraft. Das autonome Individuum kann von den vorgeprägten Figuren der Fabel keinen Rat mehr empfangen, wenn es seinen Charakter nicht länger als Bestimmung seiner Natur, sondern hinfort als Bestimmung seiner Geschichte, sich selbst zum singularen Charakter zu bilden, begreifen will.
6. Erleuchtete und entzogene Zeit eine Lectura Dantis
I. Das Fest aller Feste? Was kann eine Lectura Dantis zum Problem einer historischen Anthropologie des Festes wohl erbringen? Gewiß mag auf den ersten Blick Dantes Kühnheit, seine Divina Commedia (DC) mit einer Darstellung der ewigen Seligkeit zu krönen, dazu herausfordern, seine Paradiesvision als Inbegriff des höchsten Festes zu deuten. Stellt es nicht Merkmale eines Festes aller Feste vor Augen: den exaltierten Durchbruch durch die Normalität des alltäglich gleichförmigen Lebens, die Überhöhung der kontingenten Geschichte durch die überzeitliche Norm eines festlichen Rituals, wenn nicht gar eine spezifische Aufführungssituation (denkt man daran, daß sich Dantes Aufstieg ins Empyraeum vollzieht, als ob er privilegierter Betrachter und einzuweihender Novize zugleich wäre, für den Beatrice eigens die heilbringenden Stationen, Begegnungen und Erleuchtungen inszeniert hätte)? Und erfüllt sich die subjektive Vision nicht in der Teilhabe an der Schau des Allerhöchsten, die für die Seligen der eigentliche und einzige Inhalt einer immerdauernden Feier ist und das individuelle Schicksal des Wanderers am Ende in der Gemeinschaft der Heiligen aufgehen läßt? Der Vergleich des christlichen Paradieses mit einem , Fest aller Feste', den solche Fragen nahelegen, kann sich auf den ersten Blick darauf stützen, daß ihn Dante selbst einmal an einer herausgehobenen Station - auf dem Höhepunkt des Sonnenhimmels - gezogen und gerade Salomon bei einer Erläuterung der Auferstehung des Leibes in den Mund gelegt hat (Par. 14,37-39). Die Stelle ist im Kontext der verschiedentlichen Verwendung des Wortes "la festa" in der DC zu präzisieren. Das Wort selbst bleibt - wie zu erwarten - aus dem Inferno ausgeschlossen, fällt erst im Purgatorio viermal und kehrt im Paradiso achtmal wieder. Als ob sich Dante die volle Bedeutung des Festes für einen besonderen Anlaß hätte aufsparen wollen, beschränkt sich der Wortgebrauch vornehmlich auf Attribute des Festlichen wie Tanz (Purg. 29,130), festlicher Empfang (Purg. 6,81;
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B. Abhandlungen
26,33; 30,65; Par. 15,84: "la paterna festa", von Cacciaguida seinem Enkel bereitet; Par. 21,65) oder festliche Freude (Par. 12,22). "La festa di Tommaso" (Par. 16,129) meint indes nur den Thomastag, den einzigen Feiertag eines Heiligen, der in der DC erwähnt wird. Um so mehr Gewicht fällt auf die einzig verbleibende Stelle, an der "la festa" ausdrücklich den Zustand der Seligen vorstellbar machen soll: Quanto fia lunga la festa di paradiso, tanto il nostro amore si raggera dintomo eotal vesta (Par. 14,37-39).
Solange ,dies Fest im Paradies' noch dauen, wird auch die Liebe der Seligen mit einem Strahlenkleid umhüllt bleiben. ,Solange' bezieht sich auf ein noch ausstehendes Ereignis: die Wiederverleihung des Leibes, dessen Verklärung die Lichtgestalt des Wanezustandes dereinst noch überstrahlen wird (V. 55-57). Der Vergleich "la festa di paradiso", zu dem Salomo greift, ist zwar im Verhältnis zum irdischen Fest eine Steigerung, aber doch nur wieder ein Komparativ im Verhältnis zur letzten und höchsten himmlischen Seligkeit, die als Superlativ ewiger Vollkommenheit alle Vergleiche mit Vorstellungen der Zeitlichkeit, also auch das Fest als Inbegriff irdischen Glücks, übersteigen wird. Darum kommentien Gmelin die Rede Salomos, der dazu ausersehen ist, weil er im Hohen Lied die Hochzeit des Leibes mit der Seele vorausgesagt hatte, zu Recht als eine "auch den Seligen gewähne Form der Erdensehnsucht, die unverlierbare Liebe zum Leibe, La came gloriosa e santa, und zur einstigen irdischen Individuation" I • Der Vergleich vom Paradies als höchstem Fest stößt, wo er ein einziges Mal ausgesprochen wird, auch schon an seine Grenze. Er löst eine Reihe von weiteren Fragen aus, die den profanen wie den religiösen Sinn des Festes überhaupt betreffen. Ist das auf Dauer gestellte Fest überhaupt noch ein Fest? Muß die Aufhebung von Zeit und Raum im nune stans der Ewigkeit, die alle Nähe und Ferne vertausch bar werden läßt, letztlich nicht auch noch den supponienen Festcharakter der paradiesischen Seligkeit zum Erdenrest menschlichen Wünschens werden lassen? "Denn alle Lust will Ewigkeit" würde dieser Nietzschevers nicht Lügen gestraft, wenn sich das Gewollte buchstäblich erfüllen und das unersättliche Wollen nicht ewig wiederkehren würde? Ist seine christliche Erfüllung, das wandellose Glück der Gottesschau in der Gemeinschaft der Heiligen, nicht um den Preis erkauft, daß in der Anschauung ewiger Seligkeit alles Zeitliche, das geschichtliche wie das individuelle Dasein, wesen1 H. Gmelin. Kommentar zu seiner Übersetzung der De. Stuttgan 19S4. Bd. 3. S. 273f.
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los werden muß? Und daß damit auch das Bewußtsein der Spannung zweier Sphären erlischt, das den ausgegrenzten Freiraum eines Festes allererst konstituiert? Nicht aber erlöschen damit weitere Fragen, die der Konzeption der DC zugrundeliegen, auch wenn sie Dante nicht explizit formuliert hat: "Was gewährleistet den Sinn nicht nur des Notwendigen, von dem eingesehen werden kann, daß es nicht anders sein könne - sondern dessen, von dem zugegeben werden muß, es könne sehr wohl anders sein, ja überhaupt nicht sein, das aber unwiderrufbar ist, nämlich des Faktischen? (... ) Wenn die Ewigkeit ausbricht - wie kann dann Geschichte überhaupt noch Dichtigkeit und Sinn behalten ?"2 Wie kann die ewige Seligkeit das unselige Leben ausgrenzen und es gleichwohl- wenn Gottes Herrlichkeit in allem aufstrahlen sol1- noch oder wieder umfassen? Die poetologische Folgelast dieser metaphysischen Crux haben die scharfsichtigsten der Kritiker Dantes sehr wohl bemerkt. Goethe ließ sich wenigstens einmal vor einem ferventen Bewunderer Dantes zu dem Eingeständnis hinreißen: "Ich habe nie begreifen können, wie man sich mit diesen Gedichten beschäftigen möge. Mir [kommt] die Hölle ganz abscheulich vor, das Fegfeuer zweideutig und das Paradies langweilig."l Dem klassizistischen Geschmack, der die latente Spannung des poema sacro verkennt, muß sein Durchbruch nach unten abscheulich, sein Durchbruch nach oben langweilig, seine Normalität dubios erscheinen. Diese latente Spannung hat Nietzsche als Grundwiderspruch einer christlichen Ästhetik angesehen und verhöhnt: Dante hat sich, wie mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit schreckeneinflößender Ingenuität, jene Inschrift über das Tor zu seiner Hölle setzte ,auch mich schuf die ewige Liebe': - über dem Tore des christlichen Paradieses und seiner ,ewigen Seligkeit" würde jedenfalls mit besserem Rechte die Inschrift stehen ,auch mich schuf der ewige Haß' gesetzt, daß eine Wahrheit über dem Tor zu einer Lüge stehen dürfte! Denn was ist die Seligkeit des Paradieses? ... Wir würden es vielleicht schon erraten; aber besser ist es, daß es uns eine in solchen Dingen nicht zu unterschätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, Thomas von Aquino, der große Lehrer und Heilige. ,Beati in regno coelesti sagt er sanft wie ein Lamm, ,videbunt poenas damnatorum, ut beatitudo illis magis complaceat" . 4 C
,
2 R. Guardini, .Die Ordnung des Seins und der Bewegung". in: Dame Alighieri - AN/sätze zl4r Divina Commedw, hg. H. Friedrich, Darmstadt 1968 (Wege der Forschung, Bd. CUX). 3 J. W. Goethe, Italienische Reise, SW (Anemisausgabe), Bd. 11. S. 419. 4 Fr. Nietzsche, Zl4r Genealogie der Moral, "Erste Abhandlung-, 15.
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Dante ist dem dogmatischen Rigorismus einer für uns nicht mehr begreiflichen Gerechtigkeit, die - in Nietzsches Perspektive - sich selbst zur Feier ein Gegenfest ewiger Verdammnis inszeniert zu haben scheint, bekanntlich dadurch entgangen, daß er in der Erfahrung eines persönlich Betroffenen menschliches Mitleid zu einem ungelösten und darum gesteigerten Grundkonflikt der Jenseitswanderung ausgestaltet hat. Doch damit nicht genug, wird durch die allegorische Struktur der DC das ausgegrenzte, fehlbare, endliche Dasein wieder in die ewige Ordnung der göttlichen Schöpfung eingebracht - auf eine Weise, die das Werk Dantes gleichweit von allen früheren Jensei tswanderungen wie vom Lehrgebäude der scholastischen Theologie abrückt. Der einmalige Weg des Wanderers zeichnet sich als eine zeitliche Spur in die zeitlose Hierarchie der drei Jenseitsreiche ein. Die zeitgebundene Erfahrung des Schauens erlöst gleichsam die unabänderliche Ordnung aus ihrer Starrheit, belebt sie für einen Moment und von Moment zu Moment, um erst mit dem letzten Gesang in die in sich selbst ruhende Ewigkeit einzumünden. Dazu trägt bei, daß sich Dante mit poetischer Lizenz einen eigenen Spielraum von Frage und Antwort eröffnet, indem er den Wanderer die Seelen der Toten nach irdischem Schicksal, Schuld und Verdienst befragen und derart in den zeitlosen Räumen der Verdammnis, der Buße und der Seligkeit die Freiheit menschlicher Rede wiederstehen läßt. So kann die geschichtliche Existenz individueller Personen ihre Sprache finden, die zuvor in der dogmatischen, nach Lastern und Tugenden kategorisierten Stufenordnung von Hölle, Purgatorium und Himmel wenn nicht namenlos, so doch stumm geblieben war. Die alte theologische Lehre und ein neues historisches Bewußtsein vermitteln hier - nach der unvergeßlichen Deutung von Erich Auerbachs - eine duplex sententia, die erlaubt, die DC sowohl allegorisch und kanonisch als autoritative Antwort auf die Frage nach der latenten Gerechtigkeit des göttlichen Weltplans zu lesen, als auch den Text literal und historisch zu verstehen - als einen Spiegel der irdischen Welt und Geschichte, der im Endgeschick der Toten ihr individuelles Schicksal vielhundertfältig Gestalt werden läßt. 6
5 E. Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Wrlt, Berlin/Leipzig 1929. 6 Näherhin s. dazu Verf.•• Aus alt mach neu? Tradition und Innovation in ästhetischer Erfahrung-, in Tradition Nnd Innowation, hg. W. K1uxen, Hamburg 1978 (Verhandlungen des XIII. Deutschen Kongresses für Philosophie), S. 393-413.
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11. Zeitschere und Kairos Die zeitliche Spur, die das erzählende Ich in die zeitlose Ordnung der drei Jenseitsreiche einzeichnet, und die duplex sententia des ,Heiligen Gedichts', die sub specie aeternitatis die irdische Welt in ihrer geschichtlichen Individuation zu entdecken erlaubt, lassen sich auf einen lapidaren gemeinsamen Nenner bringen. Wird hier, an der Schwelle zum Nominalismus der modemen Welt, nicht in aller Stille die Zeit vor der Ewigkeit gerechtfertigt, so daß die menschliche Zeit als Erfahrung des Mangels vor der göttlichen Zeit, der alle Erfahrung übersteigenden Fülle, ihren eigenen Sinn gewinnt? Wird hier nicht der metaphysische Vorrang der Ewigkeit vor der Zeit, die in platonischer Tradition nurmehr das bewegliche Abbild des Immerseienden war, geradezu umgekehrt? Während im alten Verständnis der Mensch gehalten war, im zerstückten Abbild der Zeit die vollkommene Harmonie des Kosmos und hemach die gottgewollte Ordnung der Schöpfung zu erkennen, wird im neuen Verständnis Dantes die erschaute Ewigkeit zum Spiegel, in dem sich die diesseitige Welt abbildet, als gerichtete wohl, aber ineins damit auch als wiedergefundene und für immer bewahrte Zeit, die ohne diese Vermittlung menschlicher Erfahrung verloren wäre. Diese Umwendung der Fragerichtung läßt paradoxerweise die ewige Gegenwart des Reiches Gottes änner erscheinen als die in ihre Kehrseite eingezeichnete, alle Zeiten der Geschichte exemplarisch repräsentierende irdische Welt! Man mache die Gegenprobe und stelle sich vor, wieviel weniger für eine Beschreibung der unwandelbaren, ereignislosen Jenseitsordnung übrig bliebe, erschiene sie nicht im wandernden Blick und im ständigen Dialog dessen, der sie nicht totum simul erschauen kann, dafür aber fortschreitend entdecken und seiner Erinnerung einverleiben darf. Borges, der eine erfrischend polemische "Geschichte der Ewigkeit" schrieb, hätte Dante als Kronzeugen für seine These anführen können': .. Die Zeit ist für uns ein Problem, ein furchtbares und anheischiges Problem, vielleicht das vitalste Problem der Metaphysik; dagegen ist die Ewigkeit ein Spid oder eine müde gewordene Hoffnung. Wir lesen in Platons Timaios, die Zeit sei ein bewegliches Bild der Ewigkeit; doch ist dies zur Not ein schöner Akkord, der keinen Leser von der Überzeugung abbringen wird, daß die Ewigkeit ein aus der Substanz der Zeit hergestelltes Bild ist. • 7
J.L.
Borges, .Geschichte der Ewigkeit-, in Gesammelte Werke, Bd. 5/1, München 1981, S. 171-199.
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Zwar hat Borges seine unverfrorene erste Kritik an der ersten, antiken Ewigkeit ("Das ideale Universum, in das Plotin uns einführen will ( ... ) ist das bewegungslos starre und schreckliche Museum der platonischen Urbilder", S. 179) und an der zweiten, christlichen Ewigkeit (die der Bischof Irenäus von oben herab verfügte, "um die Ketzereien niederzuhalten und um die Unterscheidung dreier Personen in einer einzigen zu verfechten", S. 193) in einem Nachwort scheinbar zurückgenommen: "Wie konnte ich nicht fühlen, daß die von so vielen Dichtern mit Liebe ersehnte Ewigkeit ein prachtvolles Kunstwerk ist, das uns, wenn auch nur auf flüchtige Weise, von der unerträglichen Bedrückung des Nach und Nach befreit?" (S. 173). Bleibt die List dieser poetischen Rettung der Ewigkeit als Sinnfigur und "Stil der Sehnsucht" (S. 195) auch Dantes Intention gewiß unangemessen, so erklärt sie doch die Leistung seiner poetischen Fiktion: daß die Vision der erleuchteten Zeit, des ewigen Festes der Seligen, die entzogene Zeit im Endgeschick der Verdammten wie die befristete Zeit im Zustand der Büßenden vorstellbar und damit im Rückschluß transparent zu machen vermag, was sich der alltäglichen Wahrnehmung für gewöhnlich entzieht: das Zeitbewußtsein in der Erfahrung der Lebenswelt. Das so umrissene Verhältnis von erleuchteter und entzogener Zeit an dem dafür idealen Text zu untersuchen, ist die Absicht dieser Betrachtung. Wenn ihr Gegenstand die Frage nach dem Charakter des Festes auch nur ex negativo betreffen kann, hoffe ich doch, daß er erlaubt, die Frage nach der Zeiterfahrung des Festes einmal anders anzuschneiden als mit der nicht weit führenden Feststellung seiner Zeitenthobenheit. Vorab möchte ich meinen Ansatz noch durch einen theoretischen Rekurs und durch eine begriffsgeschichtliche Perspektive fundieren. Das religiöse Verhältnis von erleuchteter und entzogener Zeit läßt sich phänomenologisch im Anschluß an Hans Blumenbergs jüngstes Buch auf das Verhältnis von Lebenszeit und Weltzeit projizieren. Dann wäre die Lebenswelt erster Stufe (einer hypothetischen Stufe, noch vor den Lebenswelten von Epochen und Kulturen) durch die Identität von Weltbezug und Zeitkonstitution charakterisiert: "Als aus dem Leben des Bewußtseins unmittelbar hervorgehend, ist Lebenszeit zuerst und vor allem lebendige Zeit. "8 In ihrer Unmittelbarkeit bleiben Lebenszeit und ~'eltzeit ungeschieden und unbemerkt und wird Zeit noch nicht als Dimension wesentlicher Veränderungen erfahren. Erst wenn sich die "Zeitschere" zwischen
8 H. Blumenberg. Lebmsuit und Weltzeit, Frankfun 1986, S. 89.
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Lebenszeit und Weltzeit öffnet, die lebensweltliche Fraglosigkeit ihrer Indifferenz verloren ist, wird Zeit im Zeitmangel wie im Zeitüberfluß erlebbar, entsteht ein Zeitbewußtsein, das geschichtliche Erfahrung möglich macht. Blumenbergs Buch beschreibt Geschichte als einen Prozeß, der dadurch in Gang gebracht und beschleunigt wird, daß Lebenszeit und Weltzeit immer weiter auseinanderklaffen, der Lebensanteil an der Welterfahrbarkeit immer mehr schrumpft und die Lebenszeit des einzelnen immer weniger ausreicht zu erleben, was Welt genannt wird. Demgegenüber könne der" Weg, den die Philosophie mit der Idealisierung der Zeit wie des Raumes eingeschlagen hat, als Gegenbewegung gegen die Verschärfung der Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit" gesehen werden (S. 87). Diese Sicht könnte wohl durch eine andere Gegenbewegung ergänzt werden: durch den immer wieder erneuerten Versuch der Dichtung, die Zeitschere zu schließen und eine poetische Konvergenz von Lebenszeit und Weltzeit herzustellen. Ist nicht Dantes Vision auch ein solcher Versuch, der mit der erleuchteten Zeit des Paradiso das Maß einer Erfüllung vorgibt, an dem die entzogene Zeit im Inferno und die Not der Zeit im Purgatorio zu bemessen ist und das die Frage nach dem Sinn der Lebenszeit unabdingbar machte? War nicht schon die antike Lehre vom Kairos und seine poetische Umsetzung in das Carpe diem von Horaz ein Versuch, im Ergreifen eines Augenblicks der Lebenszeit des Ganzen habhaft zu werden, in einem Glücksgefühl, dem auch die Erfahrung der fortschreitenden Weltzeit nichts mehr würde hinzufügen können? Wie steht Dantes Jenseitsvision zu der antiken und der christlichen Tradition des Kairos, dem Zeitbegriff, der in Philosophie und Religion den exaltierten Durchbruch durch die Normalität der Lebenszeit beinhaltet? Der Beginn der Vision ist in der DC nicht, wie man erwarten könnte, als Kairos - als Geschenk eines unwiederbringlichen Augenblicks oder als Wendepunkt einer Bekehrung - thematisiert. Dante weiß nicht, wie er in den ,dunklen Wald' geriet und warum er ihm wieder entrann (Inf. 1,10). Er erfährt erst im Purgatorio, daß es Beatrice war, die ihn auf den letzten Weg einer Rettung brachte, die allein noch vom Anblick der verlorenen Seelen erhofft werden konnte (Purg. 30,136). Daß er selbst den rechten Augenblick der Umkehr nicht erkannte, entspricht der Tiefe einer Verstrickung, aus der ihn zu lösen offenbar keine ekstatische Erleuchtung genügen sollte, sondern erst der ganze Weg von der Hölle zum Paradies durchschritten werden mußte. Der Kairos einer erfüllten Zeit ist für den Wanderer erst mit der Ankunft in der höchsten Sphäre erreicht, angesichts der mystischen Lichtgestalt der Rose als himmlischer
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Wohnung der Seligen. Doch dieses Eintreten der erfüllten Zeit läßt zugleich den messianischen wie den apokalyptischen Sinn des Kairos vergessen: die Wiederkehr Christi und den Tag des Weltgerichts, den nur Gon kennt. Gibt dieses Verlöschen der spezifisch christlichen Bedeutung des Kairos nicht doch Borges recht, wenn er meinte, daß die vom Dichter ersehnte Ewigkeit letztlich ein prachtvolles Kunstwerk sei? Wenn mit der Ankunft im Empyraeum die Zeit des Heilswegs erfüllt ist, bleibt dieser Kairos antiker Vorstellung doch entgegengesetzt. 9 Die erleuchtete Zeit der ewigen Seligkeit ist der christliche Kontrapost zum horazischen "Laetus in praesens animus quod ultra est oderit curare'" (Od. 11 16,25). Der Kairos der DC schließt gerade ein, was die antike Lehre vom Glück, das im Gegenwärtigen liegt und in jedem Augenblick des Lebens ergriffen werden kann, ausschloß. Dort wird die Ewigkeit im Gegenwärtigen erfahrbar, wenn wir nur weise genug sind, alle Last des Vergangenen und alle Sorge um das Zukünftige von uns abzutun, wenn wir den gegenwärtigen Tag genießen, als ob er der letzte wäre. Für den Christen hingegen kann erst der letzte Tag, der Anbruch der erleuchteten Zeit, die Zeitschere zwischen Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Erwartung schließen und erfüllen, was die epikureische wie die stoische Ethik schon im Gegenwärtigen verspricht: daß im Kairos des einen Augenblicks zugleich der Sinn des ganzen Kosmos aufscheinen, Lebenszeit und Weltzeit in eins fallen werde. Mehr noch: daß dann die weiterschreitende Zeit nichts weiter erbringen könne, was nicht schon der frei gewählte Besitz der Gegenwart erkennen und genießen läßt. Dem christlichen Glauben kann diese Ethik nurmehr als Gipfel heidnischer Hybris gelten, die das totum simul der göttlichen Allmacht für den Menschen usurpieren will und verkennt, daß die Gebrochenheit seiner zeitlichen Existenz das Brandmal seiner Endlichkeit ist. Das heidnische Glück der Ewigkeit im Augenblick kann den Christen nur lehren, was ihm im Zustand der Sünde unabdingbar mangelt. Und kein Werk der christlichen Literatur des Mittelalters dürfte ihm am Maß der erfüllten Zeit vielfältiger und schmerzlicher den augustinischen Begriff der distentio temporis, die subjektive Erfahrung der Zeit als Mangel, Zerstückelung und Geworfenheit zu Bewußtsein bringen als gerade Dantes DC. Gleichwohl ist der heidnische Kairos des vollkommenen Augenblicks auch schon im Minelalter gegen das kanonische Zeitverständnis 9 Zu dieser s. P. Hadot: "Le present seul est none bonheur-, in Diog;n~ 133 (1986). S.
58-81.
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des christlichen Glaubens wieder ausgespielt worden. Was der Goethe-Vers: "Verweile doch, du bist so schön!", als höchsten Wunsch dem unendlichen faustischen Streben entgegensetzt, hatten schon Dichter der Zeit Dantes, vorab Petrarca, mit poetischer Lizenz evoziert. lo Und als die Dichter der Renaissance in der pseudolonginischen Schrift entdeckten, die Hervorbringung des Erhabenen sei lehrbar, der große Augenblick des raptus ad infinitum wählbar, löste sich der poetische Kairos, der den Zugang zum Schönen und damit die Teilhabe am Göttlichen zu eröffnen versprachli, hinfort vom Bann der christlichen Ästhetik.
IH. Feierlichkeit und Bedrängnis der Zeit Die Feiertage eröffnen die Pforten zur Sphäre des Göttlichen, wie Roger Caillois darlegte. Die kirchlichen Feste markieren die hohe Zeit der chrisdichen Lebenswelt; sie erlauben, die leeren, anonymen Tage zu zählen, die als bloßer Zwischenraum des Alltags erst im Vorher und Nachher zu den Feiertagen des kirchlichen Jahres Bedeutung gewinnen. 12 Dem entspricht die verchristlichte Sicht der aristotelischen Physik, die sich Dante in einem Kommentar des Convivio (IV, ii, 6) zu eigen machte: "Lo tempo, secondo che dice Aristotile nel quarto de la Fisica, e ,numero di movimento, secondo pria e poi'; e ,numero di movimento celestiale', 10 quale dispone le cose di qua giu diversamente a ricevere alcuna informazione." Beispiele für den ,Einfluß' der himmlischen Bewegung auf die irdische Zeitfolge sind zunächst der Frühlingsanfang und die zyklisch wiederkehrendenJahreszeiten, sodann (hier mit Bezug auf Amor) das Gebot der Amortheologie, auf die rechte Zeit des Redens und des Handelns zu warten - auf den Kairos, ,,10 quale seco porta 10 fine d'ogni desiderio". Wie verhält es sich nunmehr, wenn die Korrespondenz von himmlischer und irdischer Zeitfolge das Leben Dantes im Spiegel der Jenseitswanderung bestimmen soU? Seine irdische Zeit, die Daten seines Lebens, sind ganz in Ereignissen der Zeit seines Heilswegs aufgegangen. Deren feierlicher Gang zeigt sich nicht etwa - wie eigentlich zu erwarten - in der liturgischen Zeit, in der Zuordnung auf kirchliche Feste oder Tage der Heiligen an: Kein Datum ist auf die um 1300 noch vor
10 S. dazu Verf., in ÄE, S. 314f. 11 Nach K. Ley•• K.unst und Kairos·, in Poetica 17 (1985), S. 63. 12 R. Caillois: L'Homme et le sac:re. Paris 1950, S. 235.
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herrschende Weise nach ihnen fixien!1l Die Zeit des Heilswegs ist auf das Feierlichste dadurch erhöht, daß fast alle Zeitangaben astronomischer An sind: den Gang dieses Lebens mit seiner Umkehr in der ,Mitte der Lebensreise' (gleich im ersten Vers das 35. Lebensjahrnach Psalm 89,10 - meinend, das als norrngebendes Todesjahr Christi - nach Conv. IV, xxiii, 9 - galt) erleuchtet allein die himmlische Zeit! Die nur an der Bewegung der Himmelskörper abzulesende ,Sternenzeit' der Jenseitswanderung auf das Kalendarium der geschichtlichen und der liturgischen Zeit zu beziehen, erforden eine Rückübersetzung, deren Nachträglichkeit aller philologischen Akribie Grenzen setzte und sie bis heute zu keiner einhelligen Lösung gelangen ließ.14 Gesichen erscheint allein das Jahr 1300 für den Antritt der Wanderung (nach einer Anspielung Inf. 21,113), mithin das große Jubiläumsjahr der Kirche, nach einer mittelalterlichen Tradition auch die chronologische Mitte der auf 13 000 Jahre angesetzten Dauer des Lebens auf der Erde. Die nähere Datierung blieb kontrovers. Nach E. Moore begänne der Weg am 7. April, in der Nacht zum Karfreitag, und endete am 13. April nach Ostern, mit offensichtlichem Bezug zur Passion und Auferstehung Christi; nach A. Camilli wäre der Beginn des gleichfalls sieben Tage dauernden Weges auf den Freitag des 21. März 1300 zu datieren, gemäß einer Tradition, die an diesem Tag die Erschaffung Adams, die Empfängnis und den Tod Christi bzw. seine Niederfahn zur Hölle koinzidieren läßt. Für die erste Lösung spricht der Bezug zur Osterliturgie. Die Dauer der sieben Tage legt eine typologische Auslegung nahe: die Zahlensymbolik könnte auf Anfang, Mitte und Ende der Heilsgeschichte des gefallenen Menschen verweisen. Der Wanderer hätte danach zwei Tage in der Hölle (Zahl der Sünde), vier Tage im Fegefeuer (Zahl der animalischen Natur) und einen Tag im Paradies geweilt, dem siebten Tag (Zahl der Vollkommenheit) auf dem Weg seiner Bewährung.
13 Nach Amo Borst, dem ich die Korrektur dieser Seite verdanke. Er bemerkte dazu noch ergänzend, daß Dante in Conv. 11, vi, 2 bei den Stundenangaben die astronomischen, gleichen 24 Stunden vor den ungleichen des Stundengebets nenne, die er in Inf. 26,96 und Purg. 12,81 zweimal verwendet; dagegen finden sich Zeitangaben mit Graden Purg. 4, I ~ und Stemkonstellation in Purg. 19,1 H. Besonders bemerkenswert sei die Jahresangabe Par. 16,37ff. (für das GeburtSjahr Cacciaguidas in der Marskonstellation) sowie die Umschreibung der Welt jahre mit Sonnen und Sternen Par. 16,1 18ff. Daß Jahre und Stunden, aber keine Tage genannt werden, sei an sich schon ungewöhnlich für die Zeit; aber daß kein Michaelistag vorkommt. sei höchst merk würdig. Darum gab Amo Borst zu bedenken, ob die Zeit der DC - mit l.e Goff zu reden nicht vielmehr die des Händlers (und Gelehrten) als die des Kirchenkalenders sei. 14 S. dazu und zum F. den Artikel flu,ggio der EnciclopeJi.a D.nr~J"'.
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Aber auch die Tageszeiten sind in der Architektonik des poema sacro auf das Feierlichste überhöht. Die erste Morgenstunde mit dem Erscheinen der Sonne, die im , Wald der Sünde' den Berg der Läuterung und damit den direkten Weg, der dem Wanderer noch verwehn ist, aufleuchten läßt (Inf. 1,37-40), kehrt an der gleichen Stelle im ersten Gesang des Purgatorio (1,37-40) wie hemach im ersten Gesang des Paradiso (1,37-43) wieder. Die erste der astronomischen Zeitangaben in der DC gibt wie ihre Korrelate "die Konstellation des ersten Schöpfungstages an, die (nach Macrobius) auch diejenige von Christi Tod und damit die der Erlösung der Menschheit war"IS. Das Eintreten des Wanderers in die drei Jenseitsreiche steht unter verschiedenen allegorischen Vorzeichen der Tageszeit: der Nacht (desperatio) für die Hölle, der Morgenröte (spes) für das Fegefeuer, des Mittags (sol salutis) für das Paradies. Der Abstieg in das Inferno beginnt beim Einfall der Nacht (2,1). Die Dämmerung, die allen Lebewesen auf der Erde die Lasten abnimmt, bringt für den Wanderer allein mit sich, "a sostener la guerra / SI del cammino e SI della pietate" (2,4). Er muß aus dem gewohnten Rhythmus der Lebenszeit heraustreten, um auf dem Gang durch das Jenseits die ewige Nacht des Inferno, den ständig mahnenden Horenreigen des Purgatorio und den ewigen Tag des Paradiso zu erfahren die andere Zeit, die den Seelen der Toten auferlegt oder gewähn ist. Beim Verlassen des Inferno überstrahlt im Osten der Morgenstern die anderen Sterne. Der Anblick des südlichen Kreuzes läßt Dante die Bewohner der nördlichen Erdhälfte bedauern, da sie die Schönheit dieses Viergestirns niemals bewundern können, in dessen Strahlen das Antlitz Catos sonnenhell aufleuchtet. Die so angekündigte erscheint mit der Morgenröte, in deren Zeichen - t'IPalba vinceva Pora mattutina" (1,115) - das zu vollbringende Tageswerk, der Aufstieg auf den Berg der Läuterung beginnt. Beim Eintritt ins Paradiso hingegen findet sich nur noch die schon erwähnte astronomische Zeitangabe. Der Stand der Sonne verweist auf die glückhafte Jahreszeit des Frühlings, in einer Konstellation, die schon die des ersten Schöpfungstages war, übersteigt aber die vertraute Zeiterfahrung des irdischen Lebens. Denn das Glück der Mittagssonne, das als Zeichen göttlicher Gnade Dante auf seiner Himmelsreise begleiten wird, hat ihn an der Seite Beatrices dem irdischen Wechsel von Tag und Nacht gänzlich enthoben. Das zeigt sich sogleich in den Versen an, die aus kosmischer Schau die Hemisphären der fernen Erde, Marokko im Abendlicht und zugleich den Ganges im Morgenlicht, beschreiben:
15 H. Gmelin, Kommentar Bd. 1, S. 34.
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Fatto avea di la mane e di qua sera tal foce quasi, e tutto era la bianeo quello emisperio, e l'altra pane nera (1,43).
Abend und Morgen, die nächtliche Tiefe des Inferno (Purg. 23,122) und die Tageshelle des Aufstiegs zum Gipfel des Purgatorio entschwinden in einer Bewegung, die nicht mehr dem Wechsel der fortschreitenden Zeit, sondern dem Wandel mystischer Schau folgt einem itinerarium mentis in Deum, vom Blick in Beatrices Augen vermittelt. Und während allein noch der Blick in diese zweite Sonne, den Spiegel der Gottesliebe, den Wanderer emponrägt, scheint es ihm, als sei ein anderer Tag dem irdischen Tag hinzugefügt, der angebrochene ewige Tag des himmlischen Paradieses: e di subito parve giomo a giomo esse re aggiunto, come quei ehe puote avesse il ciel d'un altro sole adomo (1,61).
Der Weg durch das Jenseits folgt in der DC indes nicht allein dem feierlichen Gang der Zeit des gestirnten Himmels. In die Erscheinung der Füll~, der erleuchteten Zeit des Heils, ist gegenläufig eine Zeit des Mangels, die streng befristete, drängende Zeit der Wanderung und als Kontrapost zugleich die Zeit des Gerichts eingeschrieben, die den toten Seelen zur Strafe oder Buße auferlegt oder als himmlischer Lohn gewährt ist. Die Problematik der Zeit geht in der ,Zeit des Heils' keineswegs auf, der Franco Masciandaro die einschlägige Untersuchung gewidmet hat. 16 Dante hat seinen privaten Heilsweg nicht allein mit dichterischer Lizenz in den Rahmen einer kühnen Symbiose von aristotelisch-kosmischer und christlich-eschatologischer Zeit entrückt. Er hat ineins damit, gleichsam im Kehrspiegel der transzendenten Zeit des Heils, die immanente, irdische Gestalt der Zeit vor Augen gestellt und nicht weniger kühn den anderen christlichen Zeitbegriff, das augustinisehe Paradigma der ,inneren Zeit" der Erfahrung des in die endliche, geschichtliche Zeit geworfenen Menschen, aufgenommen, um zum ersten Mal sagbar zu machen, was vor ihm in der christlichen Dichtung ungesagt geblieben war. Die Feierlichkeit der erleuchteten Zeit steht in der DC vor einem dunklen Hintergrund: der Not und Bedrängnis der endlichen Zeitlichkeit. Diesen Hintergrund aufzuhellen und damit der ,augustinischen' gegenüber der ,aristotelischen' Zeiterfahrung ihr poetisches Recht zu verschaffen, ist die Absicht der weiteren Untersuchung. Zuvor soU erst noch die Spur der gerichteten,
16 Fr. Masciandaro. La problem4tic:a del tempo nelJa Commeaia. Ravenna 1976.
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endlichen Zeit auf dem Weg durch das Jenseits verfolgt werden, die für den Wanderer im Kairos der Heilszeit keineswegs gelöscht ist. Im Inferno treibt Virgil immer wieder (7,98; 11,13; 29,10) mit der Mahnung, Dantes Zeit sei knapp bemessen, ihre Frist nicht zu versäumen, zur Eile an: e gia la luna e sottO i nostri piedi: 10 tempo e poeo omai ehe n'e eoneesso, e altro e da veder ehe tu non vedi (29,10).
Dieser gespenstig eilige Blick auf die Sternen uhr, der sich im Flug der Zeit vergewissern muß, ob die Frist nicht schon überschritten ist, steht im schärfsten Kontrast zur ewig wiederkehrenden Qual der Verdammten: Auf sie muß Eile geradezu absurd, wenn schon nicht als eine beneidenswerte Gunst wirken! Wie ungemein sorgfältig und subtil Dante die drei Jenseitsbereiche im Stil und Gehalt ihrer Erfahrung verschieden abzustimmen wußte (Baudelaires Begriff des "paysage moral" trifft ihre eigentümliche Gestalt wohl am schönsten)17, zeigen selbst noch die zur äußeren Organisation der Erzählung notwendigen Elemente der Rede. Im Purgatorio, das durch die ständige Angabe von Tag und Stunde die bemessene Zeit im Reigen der Horen so reich gegliedert erscheinen und wie ein feierliches Ritual der zu verbüßenden Fristen ablaufen läßt, ist auch Virgils Mahnen weniger ein Antreiben zur Eile als ein Erinnern an den Wert der Zeit: "che perder tempo a chi piu sa piu spiace" (3,78; 23,5). Hier findet die Aufforderung der antiken Ethik, die entrinnende Zeit im Kairos des Gegenwärtigen zu nutzen, ihre christliche Entsprechung in der Mahnung, die Unwiederbringlichkeit der Stunde zu bedenken: "Pensache questodl mai non raggioma" (12,84). In der Zeitentrücktheit des Paradiso bedarf es keiner Mahnung mehr: In der erfüllten Zeit ist alle Not der fliehenden, versäum baren und zu nutzenden Zeit aufgehoben. Da aber die Erzählung erfordert, gleichwohl ihren notwendigen Abschluß zu markieren, hat Dante in den himmlischen Aufenthalt eine letzte Erinnerung eingefügt, daß die dem Wanderer gewährte Zeit fast verstrichen sei. Sie wird Bemhard in den Mund gelegt, bevor er sich an Maria wendet, sie möge Dante ihre Fürbitte zuteil werden lassen: Ma perehe '1 tempo fugge ehe t'assonna, qui farem punto t eorne buon sartore, ehe, eom'elli ha dei panno, fa la gonna(32,139). 17 S. dazu G. Hess:
S. 43ff.
D~
Landschaft in
Ba,.delair~s
,Flurs d,. Mal', Heidelberg 1953,
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8. Abhandlungen
Wie kann in der ewigen Gegenwart des Paradieses überhaupt noch an das Verfließen der wesenlos gewordenen irdischen Zeit erinnert werden? Um zu bedeuten, daß die vergehende Zeit keine Macht der Beschleunigung oder Verlangsamung auf das haben kann, was sich hier ebenso gemessen vollendet wie für den Schneider die Fertigung eines Rocks nach Maßgabe des vorhandenen Tuches, greift Dante, der Dichter der irdischen Welt, zu einem seiner schönsten Vergleiche, der das alltägliche Leben sub specie aeternitatis im stillen rechtfertigt und nobilitiert.
IV. Gerichtete Zeit: der status animarum post mortem Die Zeit der Bewährung des Wanderers ist vornehmlich auf den Anblick der gerichteten Zeit, des Zustands der toten Seelen bezogen. Die Anrede und sein teilnehmendes Fragen, sei es freundlich oder feindlich, überschießt ständig den an agogischen Zweck, die Belehrung über das Walten der göttlichen Gerechtigkeit, und erbringt für die Befragten einen letzten Beweis menschlicher Solidarität, sofern "für die Seelen der Toten Dantes Wanderung für alle Ewigkeit die einzige und letzte Gelegenheit ist, zu einem Lebenden zu sprechen; ein Umstand, der viele zu intensivstem Ausdruck treibt, und der in die Wechsellosigkeit ihres ewigen Geschicks einen Augenblick dramatischer Geschichtlichkeit einführt" 18. Im Gespräch wird den Schatten der Toten die gerichtete Zeit ihres Lebens als Verlust erst eigentlich und auf das Schärfste bewußt. Die gerichtete Zeit ist in den drei Reichen der Verdammten, der Büßenden und der Seligen wiederum verschieden abgestuft, ihr verbliebenes Zeitbewußtsein auf verschiedene Weise gebrochen und auf das Genaueste darauf abgestimmt, daß eine der drei Ekstasen des Zeitbewußtseins - Erinnerung, Wahrnehmung, Erwartung - ihnen entzogen ist oder ausschließlich dominiert. Ich möchte die drei Stufen der gerichteten Zeit erst aus der Sicht Dantes an drei zentralen Bildfeldern charakterisieren und dann erläutern, wie die Seelen der Toten die ihnen bemessene Zeit selbst erfahren müssen. Diverse lingue, orribili favelle parole di dolore, accenti d'ira, voci alte e fioche, e suon di man con elle
18 E. Auerbach, (wie Anm. 5), S. 187.
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facevano un tumuho, il qual s"aggira sempre in quell" aura senza tempo tinta, come la rena, quando turbo spira (3,25-29).
Im Halbdunkel des Inferno hört Dante zunächst das Heulen und Klagen der Verdammten als ein Gewirr vieler Sprachen und Stimmen, von Lauten des Schmerzes und des Zorns, in einem wilden, schreckenerregenden Tumult, der zwecklos wie der Sand im Wirbelwind ständig in sich selber kreist. In dieser kreiselnden Bewegung ist alle Veränderung nichtig: sie ist ,ungefärbt' und unzerteilt von der Weltzeit, von Tagen, Monaten und Jahreszeiten, leer und unausfüllbar zugleich - ein "tempo morto" (15,52), bloßer Widerhall der Seufzer, "che l'aura etterna facevan tremare" (4,27). Schlimmer noch: es sind die Verdammten selbst, die alle Bewegung in dieser, toten Zeit' hervorbringen, die ihre eigene Qual selbst unterhalten, die selbst - in einem ungemein sprechenden Bild - Mühle und Wind sind: Come quando una grossa nebbia spira o quando l"emisperio nostro annotta, par di lungi un molin ehe "1 vento gira (34,4).
Es ist gewiß kein Zufall, sondern ein beabsichtigter Kontrapost, daß sich dasselbe Bild, doch nun abgewandelt zur ,heiligen Mühle', im Paradiso wiederfindet. Die "santa mo la " meint dort den Gesang der Seligen, in den ein zweiter Chor mit einer Bewegung einstimmt, die den ersten wiederum kreisend umschließt (12,4). Die Umsetzung des erhabenen Bildes der Sphärenharmonie in eine ,Mühle des Gesangs' dürfte auf den modernen Leser unfreiwillig komisch wirken. Er muß erst gewärtigen, daß die Poesie selbst mit der Musik wetteifern muß, wenn das zeitentrückte Glück der Seligen beschrieben werden soll, und bedenken, daß Dante die Kreisbewegung als die vollkommenste aller Bewegungen galt. Darum kann in seinem Gedicht am Ende die vollkommene Bewegung der ewigen Liebe, die Sterne und Sonne bewegt, nur noch vom Bild des ruhig kreisenden Rades erfaßt werden: "SI come ruota ch'igualmente e mossa,ll'amor che move il sole e l'altre stelle" (33,144). Die Kreisbewegung des Himmels unterhält sich nicht selbst, sie geht - wie Dantes Sehnsucht - aus dem Verlangen nach Gott, dem unbewegten Beweger, hervor (Par. 1,76). Die Vereinigung selbst hat Dante an anderer Stelle aber auch wieder mit einem kühnen Rückgriff auf die irdische Zeit dargestellt. Es ist gerade ihre materiellste Gestalt, die Uhr mit Räderwerk und Glockenschlag, die nunmehr von der Poesie der Seligkeit ergriffen und zum Instrument der erleuchteten Zeit erhöht werden kann:
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B. Abhandlungen
Indi eome orologio, ehe ne chiami neWora ehe la sposa di Dio surge a mattinar 10 sposo perehe Pami ehe I'una parte l'altra tira e urge, tin tin sonando eon 51 dolce nota, ehe 'I ben disposto spirto d'amor turge, eosl vid'io la gloriosa rota muoversi erender voee a voee in tempra ed in dolcezza eh' esser non po nota se non cola dove gioir s·insempra (Par. 10,139).
Wiederum dürfte heute das ,Klingeling' der Glocke im Vergleich mit dem Anbruch der ewigen Freude für die Braut Gottes weniger kühn als rührselig wirken. Doch Dante scheut den Bildbruch zwischen dem Alltäglichen und dem Erhabensten nicht: wenn der Seligkeit des Paradieses ohnehin alle Bilder unangemessen sind, kann auch das profane Instrument einer Uhr gut genug sein, um in der Dissonanz von Zeitlichem und Ewigem die unsagbare Harmonie der Himmelsphären ahnen zu lassen (die Uhr wird noch zweimal, Par. 24,13 und 33,144, wiederverwendet) - um mit dem Ziehen und Schieben des Räderwerks noch einmal auf die Not der irdischen Zeit zu verweisen, bevor für die ,Braut Gottes' mit der Süße des Glockenschlags das Fest der ewigen Hochzeit anbricht. Steht die unheimliche Mühle im Inferno für die ,schlechte Unendlichkeit', die heilige Mühle im Paradiso für die gute, so kehrt im Purgatorio die unumkehrbar gerichtete, nun aber unüberhörbar markierte Zeit wieder: Era gii I'ora ehe volge il disio ai navieanti e 'ntenerisce il eore 10 dl e'han detto ai dolci amiei addio; e ehe 10 novo peregrin d' amore punge, s'e' ode squilla di 10nt3Oo, ehe paia il giomo pianger ehe si more (8,1-6).
Der Gesang der Büßenden, dessen Eindruck auf Dante die ausgesponnene Metapher wiedergibt, hat bereits im letzten Gesang mit dem Salve regina begonnen. Es ist ihr Abendgebet, gesungen bevor die Sonne untergeht und die Nacht den Aufstieg unterbricht. Die Büßenden sind diesem Verzug allesamt unterworfen. Ihnen ist die Weltzeit als Zeit des Wartenmüssens, als ein verlierbares, aber auch nutzbares Gut nicht anders als den Lebenden auferlegt ("il tempo e caro in questo regno", 24,91). War die Zeit im Inferno vom Fongang
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der Weltzeit abgeschnitten, im Paradiso als erleuchtete Zeit aufgehoben, so steht sie im Purgatorio, "dove tempo per tempo si ristora" (23,84), unter dem Gesetz der Wiedervergeltung. Die Saumseligen zum Beispiel müssen auf dem ersten Sims die versäumte Lebenszeit durch ebensolanges Warten abbüßen. Warten als Buße aber ist doppelt schmerzlich: durch das ,Nicht mehr' des unwiderruflich Vergangenen, das die zitierten Verse in das Bild des Abschieds von teuren Freunden, dann in das des fernen Glöckleins fassen, das diesen Tag zu Grabe läutet, wie durch das ,Noch nicht' des sehnlich Erhofften, der Ruhe in Gott ("D'altro non calme", 8,12), die erst verdient werden muß. "Jeder Tote empfindet seine Lage im Jenseits als den noch fortspielenden, jederzeitlichen Akt seines irdischen Dramas. "19 Das gilt für die Büßenden, die Verdammten und die Seligen auf je verschiedene Weise, wie jetzt zu zeigen ist . •EI par ehe voi veggiate, se ben odo, dinanzi quel ehe 'I tempo seeo adduee, e nel presente tenete altro modo< . •Noi veggiam, eome quei e ha mala luee, le eose<, disse, >ehe ne son lontano; eotanto aneor ne splende i1 sommo duee. Quando s'appressano 0 son, tutto eva no nostro intelleto; e s'altri non ci apporta, nulla sapem di vostro stato umano. Per<> eomprender puoi ehe tutta morta fia nostra eonoseenza da quel punto ehe dei futuro fia chiusa la porta< (Inf. 10,97).
Farinata beantwortet hier Dantes Frage nach dem Erkennen der Zeit, die für die Verdammten so merkwürdig verriegelt ist: sie sehen wie die Weitsichtigen nicht die nahe Gegenwart, dafür aber die ferne Vergangenheit und - sogar prophetisch - die weitere Zukunft! Daraus entspringt eine dreifache Qual. Sie leiden, weil ihnen versagt ist, zu wissen, wie das irdische Leben weiterging und was den Ihrigen seit ihrem Tod widerfuhr. Sie leiden an ihrer Vergangenheit, die ihnen der Spiegel der Erinnerung ständig vorhält, als ein versteinertes Bild ihrer selbst. Ob sie ihr Handeln bereuen oder es trotzig bejahen, ihre Vergangenheit ist ihr ewiges Geschick. Sie sind nichts mehr als ihre Vergangenheit: "Qual io fui vivo, tal son morto" (Capaneus; 14,51). Auch das Wissen von Zukünftigem, mit dem sie Dante nach eigenem Ermessen ausgestattet hat, zielt letztlich auf eine Qual - die Qual 19 E. Auerbach. (wie Anm. 5). S. 177.
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derer, die von der Prophezeihung betroffen werden. Für die Verdammten ist der letzte Horizont der Erwartung gleichermaßen verriegelt wie der ihrer Erinnerung, die Zukunft so unabänderlich wie die versteinerte Vergangenheit. Denn das vermeintliche Privileg prophetischen Wissens ist von einer letzten, unentrinnbaren Erwartung überschattet, in der alle Erkenntnis erstirbt: dem Tag des Jüngsten Gerichts, mit dem die Pforte der Zukunft endgültig zufallen wird. Dante hat dieses - man möchte sagen: abgefeimte - Folterinstrument des Zeitentzugs dazu genutzt, die vielgerühmte Begegnung mit Farinata zu einem dramatischen Höhepunkt des Inferno auszugestalten. Der Tote muß vom Lebenden, der Lebende vom Toten erfahren, was ihm zu wissen vorenthalten wurde und was ihn jetzt als die schlimmste Nachricht aus dem Munde seines dereinstigen Gegners zutiefst betrifft: Farinata die Niederlage seiner Partei, Dante die bevorstehende, höhnisch genau datierte Verbannung. Bei aller Schärfe des Redewechsels hat Dante indes der Größe des Ghibellinenführers doch eine stumme Reverenz erwiesen. Er läßt ihn aus seinem Flammengrab in so stolzer Gebärde sich aufrichten, ,als wollte er die Hölle tief verachten' ("Com' avesse l'inferno in gran dispitto", V. 36). Damit ist das antike Ethos in stiller Bewunderung aufgerufen und zugleich gerichtet, denkt man an Herkules auf dem Scheiterhaufen in Senecas Hereules Oetaeus (wofür Verbalreminiszenzen sprechen, vgl. V. 1740ff.) und an den Kommentar von Benvenuto da Imola, der zu Farinata bemerkt: "Imitator Epicuri non credebat esse alium mund um nisi istum; unde omnibus modis studebat excellere in ista vita brevi, quia non sperabat aliam meliorem. "20 Besteht die Strafe der Verdammten darin, in der Erwartung einer verriegelten Zukunft nur noch auf ihre Vergangenheit blicken zu können, die ihr ewiges Schicksal ist, so steht der Eintritt in das Purgatorio unter der Bedingung, nicht mehr zurückschauen zu dürfen: "Intrate; ma facciovi accorti / che di fuor torna chi' n dietro si guata" (9,131). Sie sind nicht mehr, was sie waren; sie haben zu sein, was sie nicht mehr sind. Sie müssen im zeitlichen ,contrapasso c der Buße ihre Vergangenheit Tag für Tag abarbeiten, sie langsam wie ein Kleid ablegen, bis schließlich nur noch ihre reine Person, ihr in den Namen allein gefaßtes Wesen übrigbleibt: ,,10 fui da Montrevelto, io son Buonconte" (5,88). Das Vermögen, sich in der büßenden Wiederholung von ihrer Vergangenheit zu lösen, kommt ihnen aus der Sicherheit der Zukunft, aus der Gewißheit des Heils, der erfüllten Zeit, die
20 Nach H. Gme1in, KommentAr Bd. I, S. 181.
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sie ihre Buße als eine immer leichter werdende Last empfinden und die moralische Landschaft des Purgatorio in einem verklärten, noch irdischen Licht erscheinen läßt. Schelling, der die DC zuerst synästhetisch, als ein Gesamtkunstwerk gedeutet hat, in dem das Inferno der plastische, das Purgatorio der pittoreske, das Paradiso der musikalische Teil des Gedichtes sei, hat die drei Stufen der Jenseitserfahrung in der fortschreitenden Wirkung des Lichts unübertrefflich charakterisiert: "Im Dunkel der Unterwelt konnte nur die Gestalt unterschieden werden, im Purgatorium entzündet sich das Licht noch gleichsam mit dem irdischen Stoff und wird Farbe. Im Paradies bleibt nur die reine Musik des Lichts, der Reflex hört auf, und der Dichter erhebt sich stufenweise zur Anschauung der farblosen reinen Substanz der Gottheit selbst. "21 Qualunque melodia piu dolce sona qua giu e piu a se I'anima tira, parrebe nube ehe squareiata tona, comparata al sonar di quella lira onde si coronava il bel zaffiro dei quale iI eiel piu chiaro s'inzaffira (Par. 23,97).
Diese Stelle gehört zu den vielen im Paradiso, an denen Dante die Musik-,Polyhymnia und ihre Schwestern' (23,56)-zu Hilfe ruft, um die transzendente Wahrheit seines Gegenstandes, die in der Sprache poetischer Bilder nicht mehr sagbar wäre, in dem Medium ahn bar zu machen, das ihr noch am nächsten kommt. Der Lobgesang, mit dem hier der Erzengel Gabriel den ,schönen Saphirstein' - die Jungfrau Maria - umkreist und die höchste Sphäre heller aufleuchten läßt (mit potenzierender Wirkung der figura etymologica "s'inzaffira" !), wird durch den Vergleich mit irdischer Musik zwar sogleich wieder per negationem (,nur wie Donner in Wolken') ins Unsagbare gerückt. Fragt man sich, warum Dante immer wieder die Musik zu Hilfe ruft, um die christliche Metaphysik des Lichtes vorstellbar zu machen, so liegt eine Erklärung aus dem Wesen der Melodie nahe: im Nacheinander der Töne wird ihr Miteinander gegenwärtig. Die Melodie beschreibt und erfüllt eine Figur, die dem ,nunc stans' der ekstatischen Schau - dem Aufgehobensein der fortschreitenden in der erfüllten Zeit - ähnlich ist. Um eine Melodie zu verstehen, muß dem Hörenden bei jedem neuen Ton die verklungene Tonfolge präsent bleiben; mit dem letzten Ton schließen sich Ende und Anfang zum Kreis eines Ganzen zusammen, mit dem nunmehr alle Töne kopräsent geworden sind. Die Melodie ist don angelangt, wo sie immer schon war und ist und sein 21 "Über Dante in philosophischer Beziehung-. in D.nte AUghim (wie Anm. 2), S. 25.
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wird. Sie hat dem Hörenden ihre Bewegung eröffnet, um sie am Ende wieder zu schließen und damit den Hörenden in den vollendeten Kreis ihrer ewigen Gegenwart aufzunehmen. So lese ich den Vers, den Dante auf den Text des Lobgesangs noch folgen läßt: "cosl la circulata melodia si sigillava" (V. 109), mit der kühnen Metapher des ,Versiegelns' , die das gegenwärtig Vollendete zum für alle Zeit Geprägten erhebt. Was den Verdammten entzogen war: die unmittelbare Gegenwart inmitten einer leer in sich selbst kreisenden, toten Zeit, ist den Seligen als Erleuchtung der erfüllten Zeit geschenkt: daß in der Schau Gottes alles gleich gegenwärtig ist, daß sie in seinem Antlitz das Vergangene wie das Zukünftige gleich nahe sehen können wie das Gegenwärtige, daß sie den anderen Menschen erkennen dürfen wie sich selbst, und daß sie schließlich zum seligen Spiegel Gottes werden, in welchem ,bevor du denkst, dein Denken sichtbar wird' ("in che, prima che pensi, il pensier pandi"; 15,63).
V. Nessun maggior dolore che ricordarsi Wie die irdische Zeit im Spiegel der Ewigkeit bei Dante gegenläufig zum platonischen Erbe der christlichen Kosmologie ihren eigenen Sinn gewinnt, so auch die Erinnerung gegenüber der thomistischen Anthropologie. Das tritt in der Spiegelmetaphorik zutage, die eines der zentralen, kaum ausschöpfbaren Bildfelder in der DC ist. 22 Hatte Plato die Metapher des Spiegels gebraucht, um die Tätigkeit des Künstlers als ein bloßes Abspiegeln der Dinge abzuwerten (Resp. 596 dIe), so gewinnt der Spiegel bei Dante - wohl unter Rekurs auf das alttestamentliche: "sapientia est speculum sine macula Dei majestatis, et imago bonitatis illius" (Sap. 7,26) und das neutestamentliche: "videmus nunc per speculum in aenigmate" (1. Cor. 13,12)-die Dignität, nicht mehr ein Scheinbild des Wahren, sondern das Wahre selbst erkennen zu lassen. Die alte Erwartung, im Spiegel ein Trugbild zu sehen, erweist sich als irrig, wenn Dante beim ersten Anblick der Seligen sich umwendet, ,um zu sehen, woher sie kämen', und lernen muß, daß hier die vermeintlichen Spiegelbilder zugleich die ,wahren Wesen' ("vere sustanze", Par. 3,7-29) sind. Sein Irrtum war der des Narziß, doch (wie Dante nicht vermerkt) unter umgekehrtem Vorzeichen: nahm Narziß das Spiegelbild im Quell für wirklich, so 22 Im F. nehme ich Ergebnisse einer (unveröffentlichten) Untersuchung auf, die Helga Meyer für ein Dante-Seminar (WS 1950/51) von Gcrhard Hess verfaßt hat. in dessen Rahmen auch meine Lectura Danus entstanden ist.
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nimmt Dante die Wirklichkeit der Seligen für bloße Spiegelbilder. Der Irrtum des Narziß ist indes - so könnte man nun sagen - das Fatum der sich selbst unterhaltenden Qual der Verdammten, nur daß es nicht mehr die trügerische Wasserfläche, sondern die untrügliche Erinnerung ist, die ihnen das nicht mehr liebenswerte, sondern das hassenswerte Bild ihrer selbst zurückwirft. Während Dante auf dem Gipfelpunkt seines Weges der Läuterung vor Beatrices Anklage den Blick auf das klare Wasser des Letheflusses senkt und aus Scham vor dem eigenen Spiegelbild in Tränen der Reue ausbricht, bleibt das Bewußtsein der Verdammten für immer an den Spiegel der Erinnerung gebunden, der nach Dantes Auffassung die Leiblichkeit der Schatten begründet und damit allererst zu erklären erlaubt, warum die vom Körper gelösten Seelen überhaupt Qual oder Seligkeit empfinden können. Hier ist daran zu erinnern, daß Dante nicht allein den antiken Schatten begriff erneuert, sondern auch den Zustand des Menschen zwischen Tod und Auferstehung - damit die thomistische Lehre korrigierend - mit poetischer Lizenz auf eigene Weise bestimmt hat. Zwischen dem leiblichen Tod und der Auferstehung des Fleisches existieren die Abgeschiedenen in der DC keineswegs als nur noch geistige Wesen. Sie bilden vielmehr einen Schattenleib für den Zwischenzustand, "den Dante nicht, wie ein Platoniker tun würde, als Freiheit von den Banden des Körpers, sondern als ein Stumm- und Gebundensein empfindet. So schildert er, wie die Seele sich aus dem Umgebenden - im Inferno und Purgatorio aus der Luft, im Himmel aus Licht - ein Bild ihres einstigen Leibes erzeugt, das fähig ist, schon jetzt ihre innere Wahrheit zu offenbaren"2l. Die Bildung des Schattenleibs sol1- wie Statius in den Mund gelegt wird - aus der" virtu informativa" (dem Zentralbegriff der scholastischen Zeugungslehre) heraus erfolgen, und zwar derart, daß nicht allein die drei Potenzen der memoria, der intelligenza und der volontade wieder aufleben (nach Dante sogar, viel schärfer als zuvor', Purg. 25,84), sondern auch die Sinnesempfindungen und die Affekte (im Gegensatz zu Thomas, der den Verstorbenen nur die anima rationalis beließ). Entscheidend ist dabei, daß der memoria die dominierende Funktion zukommt, aus der sich das Gebundensein des Schattenleibs allererst erklärt (wie zu Guardinis Erläuterung hinzuzufügen ist). Nicht allein bleiben intelligenza und volontade an memoria gebunden; auch ihr Spiegel kann nunnehr wiederbilden, was der Tote in seiner lebenden Gestalt, in seiner Leiblichkeit und individuellen Form, immer schon war. 23 R. Guardini, .. Landschaft der Ewigkeit-. in Festschrift f;;r Georg Heyse. hg. E. Meyer, Berlin 1950. S. 67.
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Daß die memoria als ein Spiegel, nicht also als ein Innenraum (wie bei Augustin) oder ,Speicher' (wie heute üblich) zu verstehen ist, ergibt sich gleich eingangs aus der Antwon, die Virgil auf Dantes Frage nach dem Grund der vermeindich nur imaginären Qual eneilt: E se pensassi eome, al vostro guizzo, guizza dentro allo speeehio vostra image, dö ehe par duro ti parrebbe vizzo (25,25).
Die von der memoria wiedergebildete Gestalt der Qual ist nicht leere Einbildung, weil sie die gleiche Realität hat wie das Zucken des eigenen Körpers, das der Spiegel im seI ben Moment wiedergibt; sie wird zum Paradox narzißtischer Selbstqual verschärft, weil memoria als virtu in!ormativa selbst erzeugt, was sie vergegenständlicht im Spiegel zurückwirft. Die gerichtete Zeit der Verdammten ist zur Qual verewigte erinnerte Zeit, ihr Gebundensein an den Schattenleib ein ,non posse non reminisci'. Li ruseelletti ehe de' verdi eolli dei Casentin diseendon giuso in Amo, faeendo i lor eanali freddi e molli, sempre mi stanno innanzi, e non indarno, ehe I'imagine lor vie piu m'asduga ehe 'I male ond'io nel volto mi diseamo. La rigida giustizia ehe mi fruga tragge eagion delloeo ov'io peeeai a metter piu li miei sospiri in fuga (Inf. 30,64).
Das elegische Landschaftsbild, das dem nach Wasser lechzenden Meister Adam stets vor den Sinnen steht, ist eines der vielen, in denen sich den Verdammten die irdische Welt einer fata morgana gleich spiegelt. Die äußere Gestalt des Falschmünzers, sein dicker Bauch und sein ausgemergeltes Gesicht, war zuvor schon beschrieben worden. Mehr als die Wassersucht, die dem Geldgierigen nach dem Prinzip des contrapasso auferlegt ist, quält ihn die individuelle Strafe, durch das Erinnerungsbild an den On seines Vergehens, seine Fälscherwerkstätte im Casentino, gebunden zu sein. Ob wohl Meister Adam diesen Ort jemals als locus amoenus sah, bevor er ihn für immer verlor? Man kann daran zweifeln, denn die elegische Rede schlägt in einen Ausbruch von Jähzorn um: er würde sogar einen Trunk aus der Brandaquelle drangeben, wenn er sich in hunden Jahren auch nur einen ZoUbreit bewegen könnte, um einen seiner Verführer in der Hölle zu finden!
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Aus dieser Episode erhellt, daß das Gebundensein des Schattenleibs an ein obsessionelies Bild des erinnerten Lebens die Existenz derer einschließt, die am irdischen Geschick der toten Seele beteiligt waren. Pointiert und zum Ruhme Sartres gesagt (der bei der Formulierung: "L'enfer- c'est les autres" schwerlich an Dante dachte): Einsamkeit scheint im Strafregister der DC zu fehlen! Da hier nicht der Ort ist, dieser Bemerkung in extenso nachzugehen, sei nur soviel angeführt: Dantes Inferno läßt keinen Schatten allein, sondern stets in einer Schar gleichaniger Mitsünder auftreten und selbst noch Brutus, Judas und Satan, die als Verräter Cäsars, Christi und Gottes den tiefsten Grad der Verdammnis einnehmen, zusammen leiden. Wie vielfältig Dante den Mitverdammten als Instrument der gottverhängten Strafe einzusetzen wußte, muß ebensoviel Bewunderung wie Schauder auslösen. Man denke nur an die Extremfälle: Ugolino und Ruggieri, wo dem Henker und Kindsmörder im Jenseits der ebenbünige Henker in seinem ehemals Gehenkten erstanden ist, und an Francesca und Paolo, die als Ehebrecher dazu verdammt sind, Seite an Seite die Qual der Erinnerung an ihre Liebe zu teilen. Dazwischen stehen Paare oder Gruppen, die sich ignorieren (wie Farinata und Cavalcante), aber auch die seltenen Fälle überraschender Solidarität, wie zum Beispiel, wenn der Wanderer in der Eisregion gebeten wird, darauf zu achten, daß er nicht auf die Köpfe seiner "fratei miseri" trete (Inf. 32,21; vgl. 22,110). Hier ist nur noch ein Wort zu dem Paradox zu sagen, daß Francesca und Paolo auf ewig vereinigt sind, daß sie in der durchaus lyrischen Inszenierung der Begegnung mit dem von Mitleid überwältigten Wanderer sogar als ein Urbild vollkommen geteilter und zartester Liebe erscheinen und daß sie gleichwohl eben damit rigoros bestraft sein sollen. "Mentre che l'uno spirto questo disse, l'altro piangea" (5,139): während der eine Geist erzählte, weinte der andere, als hätte ebenso gut Paolo erzählen und Francesca weinen können. Eine engere Verbindung der beiden läßt sich kaum vorstellen, und doch entspringt eben daraus die Qual der zur Gemeinsamkeit verdammten Liebenden. Der Spiegel der Erinnerung zeigt beiden - und zwar im Gegensatz zu allen anderen Verdammten - das gleiche Bild: die Geschichte ihrer Liebe bis zur Stunde der Lancelot-Lektüre, der Stunde, in der Erfüllung und Katastrophe ineins fiel. Dieser Spiegel der erinnerten Zeit muß nun aber nach dem fatalen Gesetz der dantesken Leiblichkeit der Schatten zum Instrument der Strafe werden. Denn er vereint die Liebenden zwar für immer, doch unter der Bedingung, daß der Anblick des leibhaften Anderen die Zeit ihres Glücks ("quanti dolci pensier, quanto disio", V. 113) aufruft und
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ständig wachhält, sie aber zugleich - als bloßer Schatten - ständig negiert und ins unwiderruflich Vergangene zurückstößt. Francesca und Paolo, mit deren ewiger Verdammnis zugleich der Stab über das Liebesethos einer ganzen Epoche, des ,fin amor' der provenzalischen und französischen Dichtung, gebrochen ist, sind insgeheim in dieser Qual geadelt. Sie allein wissen, worin andere Verdammte (wie etwa U golino) befangen bleiben: daß sie füreinander nur noch die Schatten ihrer Vergangenheit sind und, aneinander gefesselt, die Erkenntnis einer letzten Einsamkeit ertragen müssen. Die Einsamkeit Paolos und Francescas ist die Unerreichbarkeit des Andern, seine absolute Ferne in der nächsten Nähe - die Unmöglichkeit, das Schattensein des andern nicht zu wissen. Die Spiegelmetaphorik erlaubt, die verschiedene Funktion der Erinnerung in den drei Jenseitsbereichen genauer zu erfassen. Das Bild der Erinnerung im Inferno, das die selbstunterhaltene Qual der Verdammten nicht selten auf einen schicksalschweren Moment ihres ganzen Lebens fixiert, trifft Dante als Entstellung des Ebenbilds Gottes, an das noch die schlimmsten Metamorphosen der menschlichen Gestalt gemahnen. So beim Anblick der zum Rücken verrenkten Gesichter der Wahrsager, als er in Weinen ausbricht "quando la nostra imagine di presso / vidi si torta" (Inf. 20,22). Soll ihn hier die Erfahrung des Bösen vom Bösen befreien, so wird ihn der Aufstieg auf den Läuterungsberg darauf vorbereiten, in der Reue und Reinigung im Lethefluß sein wahres Selbst wiederzufinden. Der fatale Zirkel der fixierten Erinnerung wird im Purgatorio durch die Erkenntnis aufgelöst, daß Erinnerung für den Frommen zum Sporn werden kann, der ihn zum Guten antreibt ("per la puntura della rimembranza / che solo a' pii da delle calcagne"; 12,20) und der in dem Maße kleiner wird, wie er sich in Reue und Buße von seinem vergangenen Leben löst. Wenn die der Schlemmerei und Völlerei ergebenen Seelen im Purgatorio als Büßende wiedererscheinen, bleiben sie nicht wie Meister Adam im toten Zirkel der Qual: Hunger und Durst sind ihnen auferlegt, um sie nach dem Prinzip ,similia similibus' im zeitlichen contrapasso zu heilen: "in farne e'n sete qui si rifa santa" (23,66). Darum kann ihnen auch die Zeit freundlich, als feierlicher Reigen der Horen, erscheinen; jede Stunde erleichtert die Last und verringert die Mühen des Aufstiegs, bis ihnen schließlich das Steigen leichter wird als dereinst das Gehen in der Ebene (Purg. 12,118-120). Dabei waltet ein merkwürdig unchristlicher Rigorismus, der fordert, sich an die Gemeinschaft der Büßenden zu halten, allein auf das höchste Gut der Gottesliebe gerichtet zu sein und nicht länger an diejenigen zurückzudenken, die der göttlichen Gnade nicht
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teilhaftig wurden. So muß Dante gleich eingangs von Cato belehrt werden, daß ihn seine Gattin Marcia, an der seine Augen dereinst Wohlgefallen fanden, nicht mehr länger rühren dürfe, seit sie im Limbo zurückbleiben mußte (1,85). Nachdem der Durchgang durch den Lethefluß die Erinnerung von aller Reue gelöst hat, durchmißt der Wanderer die himmlische Hierarchie der Seligen, die allein noch in wachsenden Graden der Gottesschau sich bekundet und alle Erinnerung an das vergangene Leben in sich aufhebt. Doch Dante wäre nicht der Dichter der irdischen Welt, hätte er nicht seine eigene Weise gefunden, das wandeUose Glück der ewigen Seligkeit durch die Rückschau auf das Erdendasein noch zu erhöhen. Wie die erleuchtete Zeit den Sinn der erinnerten Zeit verwandeln, läutern und erneuern kann, spricht Cunizza im Venushimmel aus. Die dereinst große Sünderin braucht ihre Vergangenheit gerade nicht zu vergessen oder sich ihrer zu schämen, weil sie sich als Erlöste selbst ihre Sünde ,fröhlich verzeihen' kann: Ma lietamente a me medesma indulgo la cagion di mia sorte, e non mi noia; ehe parrla forse forte a1 vostro vulgo (9,34).
Der profanum vulgus, der diese Emporläuterung der irdischen zur himmlischen Liebe nicht versteht, könnte hier versucht sein zu erproben, ob sich der berühmte Francesca-Vers: "Nessun maggior dolore / che ricordarsi dei tempo felice / nella miseria" (Inf. 5,121) nicht auch von den Füßen auf den Kopf stellen läßt: ,Kein größer Glück als sich in der ewigen Seligkeit seiner vergangenen Sünden zu erinnern'. Darüber stünde allein noch das abstrakte Glück der Engel, die keiner Erinnerung bedürfen, weil ihr Denken stets ungeteilt bleibt (Par. 29,79). Doch bleibt zu bedenken, daß die Evokation einer zum Gnadenanlaß gewordenen sündigen Vergangenheit bei Cunizza - wie bei aller Rückschau der Seligen - eigens zur Belehrung Dantes geschieht, mithin doch wohl erst durch den einmaligen Dialog mit dem Wanderer ausgelöst wird. Ob dann die Seligen wohl auch unter sich - möchte man Dante fragen - eines Gespräches pflegen? Wir erfahren nur, daß sie - offenbar in den Pausen der himmlischen Symphonie - gegenüber den Spielern auf der Bühne der Welt die Rolle der Zuschauer im Himmel übernehmen. Nicht ohne gelegentlich in eine kaum noch überirdisch zu nennende Zuschauerleidenschaft zu verfallen! Ihr heiliger Eifer entlädt sich auf das Stichwort: ,,0 pazienzache tanto sosueni!" (Par. 21,135), das die Lichtgeister um Petrus Damiani zusammenströmen läßt, nachdem er seinem Zorn auf die entarteten Prälaten Luft gab und wieder zu einem Anruf gött-
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licher Langmut milderte. Dem pflichten die Seligen durch einen Entrüstungsschrei bei, der so schrecklich donnert, daß Beatrice ihren Schützling beruhigen muß wie ein Kind. Er soll erkennen, daß weder der "buon zelo" der Heiligen noch ihr Wünschen oder Fürchten die Rache Gottes zu beschleunigen vermag: La spada di qua su non taglia in fretta ne tardo, rna' ch'al parer di colui ehe disiando 0 ternendo I'aspetta (22,16).
Petrus Damiani hätte auch gleich die göttliche Rache verkünden können; sein Ausbruch bleibt ohne Folgen, wie auch der Übereifer der Seligen - ein Spiel der Zuschauer zu Ehren des Regisseurs! VI. Die Divina Commedia im Lichte von A la recherche du temps perdu Diese Lectura Dantis hat eine Vorgeschichte, die ihren Ansatz erklärt und darum hier noch nachzutragen ist. Sie geht auf eine Untersuchung von "Zeit und Zeitlichkeit in der DC" zurück, die der Verfasser schon vor geraumer Zeit für ein Oberseminar von Gerhard Hess erstellt hatte, das seinen Teilnehmern unvergeßlich geblieben ist. Ich arbeitete damals an meiner Dissertation über Marcel Proust und nahm mir heraus, die frisch gewonnenen Einsichten, die ich aus Bernard Groethuysens Theorie über Zeit und Erzählung und aus der Phänomenologie des Zeitbewußtseins (bei Sartre, noch nicht bei Husserl) gewonnen hatte, auf die Strukturen von Zeit und Erinnerung in der DC anzuwenden. Ich war damals von Mediaevistik noch weit entfernt und auch noch unangefochten von hermeneutischen Skrupeln. Was ich heute an diesem alten Referat noch stichhaltig fand, ist in die vorliegende Lectura Dantis eingegangen. Daß sich dabei der terminologische Überbau als nicht mehr zeitgemäß, die Interpretationen und die getroffene Auswahl der Beispiele hingegen als immer noch gehaltvoll erwiesen, bestätigt nur eine altbekannte hermeneutische Maxime. Die Auslegung eines früheren Werks im Lichte eines späteren mag für den rigorosen Historismus eine sträfliche Naivität sein. Sie kann gleichwohl die Chance einer expliziten Horizontvermittlung enthalten, einen vermeintlich zu Ende interpretierten Text wieder anders und gleichwohl legitim zu verstehen. Gewiß hat sich Dante die Frage nach Zeit und Ewigkeit anders gestellt als Proust, der sie in die Suche nach der verlorenen, in der Erinnerung wiedergefundenen Zeit ummünzte. Gleichwohl beant-
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wonet auch das mittelalterliche Werk auf seine Weise dieselben Fragen, die sich erst im Problemhorizont des modernen ,Roman des Romans' explizit stellen konnten: die Fragen nach der Form der Erzählung als einer ,Kunst der Zeit' und ,Poesie der Erinnerung', nach der Interaktion der drei Zeitekstasen von Erinnerung, Wahrnehmung und Erwartung, nach der Doppelung von erlebendem und zurückschauendem, erinnertem und erinnerndem Ich. Das mag wohl auch daher rühren, daß der augustinische Begriff der subjektiven Zeiterfahrung, den ich in meiner Lectura Dantis ins Licht zu rükken suchte, offenbar auch noch den Horizont des modernen Zeitbewußtseins bedingt. Könnten wohl Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1928, also zur Zeit der Recherche erschienen) prägnanter resümiert werden als durch die berühmte Augustin-Stelle (Conf. XI, cap. 20): Quod autem nune liquet et claret, nee futura sunt, nee praeterita. Nee proprie dieitur: Tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum; sed fortasse proprie dieeretur: Tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haee in anima tria quaedam, et alibi ea non video; praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus eontuitus, praesens de futuris expeetatio.
Das Verfahren, ein früheres Werk im Lichte eines späteren auszulegen, setzt hermeneutisch mehr als nur eine freischwebende Beziehung von Intertextualität, nämlich eine rekonstruierbare Vermittlung zwischen den Horizonten der beiden Werke voraus. In unserem Fall ist dies nicht allein durch die Rezeptionsgeschichte der DC, sondern auch durch die strukturelle Affinität mit der "Recherche" gegeben. Erich Auerbachs Buch: Dante als Dichter der irdischen Welt, auf das ich mich vor allem stützte, ist - wie ihm selbst durchaus bewußt war - nicht zu denken ohne eine der profundesten Seiten, die je über die DC geschrieben und wieder vergessen wurden: Hegels Würdigung in seinen Vorlesungen zur Ästhetik. 24 Fast vergessen ist auch, daß im 19. Jahrhunden neben Balzac mit seiner Comedie humaine ein zweiter Dichter stand, der sich mit gleich guten Gründen als ein Dante der Moderne verstand und sein Buch gegen die Anklage auf Immoralismus vor dem Richterstand damit verteidigte, daß es gleichfalls von einer Hölle - der Hölle der Moderne - durch ein Fegefeuer zum Aufschwung ins Ideale führe: Baudelaire als Verfasser der Fleurs du Mal. 2S Auf Baudelaire wiederum hat sich Marcel Proust bezogen, der 24 Hegel. Ästhetik. hg. F. Bassenge. Berlin 1955, S. 992. 25 Nach C. Vergniol, .. Cinquante ans apres Baudelaire-. in La rt1Jue de Paris, 1917. S. 684.
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ihm mit der Absage an den Platonismus und der Entdeckung des aisthetischen Vermögens und der idealisierenden Kraft der Erinnerung vorangegangen war. Die Poesie der Erinnerung als Erfüllung der Suche nach der verlorenen Zeit ist mutatis mutandis indes nicht die einzige Analogie zu Dantes DC, die in einem umfassenderen Sinn als die Vita nuova das ,Buch meiner Erinnerung' ("il libro della mia memoria") genannt zu werden verdient. Auch wenn in der Recherche nur sporadisch von Dante die Rede isr', kann die DC doch wie kaum ein anderes Werk als Schlüssel dienen, um in der Analogie und Differenz wechselseitig die latente kompositorische Struktur der beiden Gipfelwerke aufzuhellen. 1. Die gerichtete Zeit der DC kehrt in der Recherche als verlorene Zeit wieder, doch nun unter der modernen Verschärfung, daß das erzählende Ich selbst der Gebrochenheit aller innerweltlichen Zeiterfahrung erliegt und seine Identität in einer Folge von "moi successifs" eingebüßt hat. 2. Die erleuchtete Zeit der Recherche ist gleichfalls ein wiedererlangtes, doch zuvor - mit der Kindheit - notwendig verlorenes Paradies ("Car les vrais paradis sont les paradis qu'on a perdus"). Prousts Paradies der wiedergefundenen Zeit ist die durch Erinnerung verwandelte irdische Zeit, ihre Verewigung durch die Mnemosyne des Dichters, die den platonischen wie den christlichen Horizont der Ewigkeit ignoriert. 3. Die richtende Funktion der DC, die modernem Verständnis am fernsten steht, wird erstaunlicherweise am Ende auch für die Recherche wieder behauptet, nun aber im Namen der Kunst anstelle der Religion. Wenn der Erzähler auf der Matinee Guermantes, dem letzten Fest der Recherche, die Macht der Zeit an den grotesk gealterten Gestalten wahrnehmen muß und endlich seine Berufung erkennt, fällt auch das große Wort: "L'art est ce qu'il y ade plus reel, la plus austere ecole de la vie, et le vrai Jugement dernier. -27 4. Die Doppelung des Erzählers in ein erlebendes und ein zurückschauendes, ein erinnertes und ein erinnerndes Ich bestimmt die kompositorische Struktur der DC wie der Recherche28, bei der letzte-
26 .. tel etait ce nenuphar, pareil aussi aquelqu'un de ces malheureux dont le tourment singulier, qui se repete indefiniment durant I'eternite, excitait la curiosite de Dante" ; M. Proust A IA rechtTChe du temps perdu, Paris 1939, Bd. I, S. 228. 27 Ebd. Bd. 15, S. 23. 28 Darauf hat schon G. Conuni aufmerksam gemacht! .. Dante come personaggio-poeta della ,Commedia'· (1957), jetzt in Variant; e altri linguisticA, Tonno 1970, S. 33~ 361.
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ren nun aber unter der Bedingung, daß der Weg des Erinnerns selbst in die erinnerte Welt eingeschrieben wird. Der vierte Punkt erfordert noch einen letzten Durchgang, der meine Lectura Dantis beschließen kann. Die Erzählstruktur der DC setzt schon mit den ersten Versen eine Scheidung von erzählendem und erzähltem Ich, der Gegenwart des Erzählens und der Vergangenheit des Erzählten, voraus. Diese Brechung der Erzählform war in den Confessiones von Augustinus vorgegeben. Dante hat sie mit der Wahl der für ein episches Gedicht ungewöhnlichen Icherzählung erneuert. Für den Erzähler der DC ist seine Geschichte bereits vollendet, wenn er sie zu erzählen beginnt. Er versetzt sich wieder an den Anfang des Geschehens und erzählt, als ob ihm das schon Geschehene erst bevorstünde (erzähltechnisch formuliert: er führt den offenen Horizont des Zukünftigen wieder in den geschlossenen Horizont des Vergangenen ein). Doch erzählt er schon in der DC wie dann in der Recherche nicht mehr naiv. Er macht vielmehr die Zeit des Erzählers in der erzählten Zeit immer wieder sichtbar und damit den Bruch zwischen der fortschreitenden und der abgeschlossenen Zeit, zwischen der befangenen Sicht des Wanderers und der abgeklärten Erfahrung des Angekommenen, bewußt. Schon nach den ersten drei Versen springt das epische Präteritum der Erzählung in das Präsens des Erzählers um: Nel mezzo dei eammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oseura ehe la diritta via era smarrita. Ah quanto a dir qual era eeosa dura esta selva selvaggia e asp ra e forte ehe nel pensier rinova la paura (Inf. 1,1-6).
Dieser emphatische Tempuswechsel gewinnt unter der Hand Dantes die besondere Funktion, die Landschaften des Jenseits in der verschiedenen affektiven Betroffenheit des Wanderers aus der Erinnerung aufzurufen. Der schreckensvolle Anblick der Brudermörder, die bis zur Hüfte im Eis stecken, bleibt ihm immerzu vor Augen und wird ihn neu schaudern lassen, wann immer er eine gefrorene Pfütze sieht: Poseia vid' io mille visi eagnazzi fatti per freddo; onde mi vien riprezzo e verra sempre, de' gelati guazzi (Inf. 32,70).
Bleibt das Schreckensbild aus dem Inferno entäußen vor dem Auge der Erinnerung, in die es sich nicht einverleiben ließ, so kann sich die
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von Casella gesungene Canzone, die aus dem Purgatorio ,jetzt noch' nachklingt, verinnerlichen, gleichsam vom Ohr der Erinnerung vernommen werden: ,Amor ehe ne Ja mente m; ragiona' eomineio eHi allor 51 doleemente ehe la doleezza aneor dentro mi sona (Purg. 2,112).
Den Anblick Gottes aber vermag auch die Erinnerung so wenig wie die Sprache noch zu fassen. Hatte der Dichter zuvor erst noch sein Unvermögen, den höchsten Grad der Schönheit Beatrices beim Eintritt ins Empyraeum zu schildern, in der Huldigung ausgesprochen, vor der Erinnerung ihres "dolce riso" müsse die Kraft seines Geistes weichen. so muß am Ende in der Erfüllung der Gottesschau die Erinnerung selbst weichen. Sie wird erlöschen, wenn das Schauen ins Licht der Gottheit den Schauenden selbst entrückt: Da quinei innanzi il mio veder Eu maggio ehe'l parlar nostro, eh'a tal vista eede, e cede la memoria a tanto oltraggio (Par. 33,55).
Der emphatische Tempuswechsel ist bei Dante nicht nur ein vinuos genutzter Kunstgriff. Die damit erzielte Brechung der Erzählform ist dem Gegenstand des poema sacro besonders angemessen. Denn er schließt die Autonomie des Erzählens um seiner selbst willen und damit die von Augustin bis Pascal gerügte Eitelkeit aller Selbstdarstellung aus, sofern sie sich nicht damit begnügte, eine confessio laudis et peccati - das Eingeständnis sündigen Lebens und ein Rühmen göttlicher Führung - zu sein. Das christliche Weltverständnis, das die Heilsgeschichte wie auch die Lebensgeschichte des Individuums in den Brechungen von Fall, Sünde, Umkehr und Erlösung zu sehen lehn, muß alle immanente Teleologie des sozialen und individuellen Lebens verwerfen. Wenn darum ein profaner Dichter die Zeitschere zwischen Weltzeit und Lebenszeit in der imaginären Zeit der Erzählung schließen kann, so daß ihre epische Form im geschlossenen Kreis von Anfang, Mitte und Ende eine selbstgenügsame Welt konstituien, darf sich ein Menschenleben in der christlichen Lebensbeichte nicht um das selbstgenügsame Ich zum Kreise schließen. Vielmehr muß der christliche Dichter sein fragmentarisches Leben auf den Endhorizont eines Glaubens öffnen, der alles Zeitliche und Individuelle übersteigt. Daraus dürfte sich erklären, warum es in der DC - wie später auch in der Recherche - eine eigene Bewandtnis mit Anfang und Ende hat. In heiden Werken ist weder der Anfang noch das Ende der Erzählung
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mit einem ersten und einem letzten Ereignis im Leben des Erzählers identisch. Die erzählte Zeit mündet nicht in die Zeit des Erzählens ein; zwischen dem erinnerten Ich, das zu seinem Weg aufbricht, und dem erinnernden Ich, das auf den ganzen Weg zurückschaut, bleibt ein Hiatus bestehen. Der Anfang der DC ist, wie schon bemerkt, nicht der Moment eines Kairos, einer Umkehr der Lebensrichtung, sondern das nicht erinnerbare Jetzt eines Traums, der erst zur Konversion führt. Dante weiß nicht mehr zu sagen, wie er den ,rechten Weg' verloren hatte (1,4/10). Wenn er anhebt, von dem, wilden Wald' zu erzählen, in dem er sich verlor, überwältigt ihn erneut die Angst. Vor ihr springt die Erzählung gleich zweimal aus der erinnerten Zeit in die Zeit des Erinnerns um, als ob erst die Rückschau vom sicheren Port erlaubte, die tödliche Gefahr zu schildern, und zu erzählen, wie ihr der Wanderer entrann (1,7-9). Die vergangene Angst kehrt wieder, wenn der Erzähler berichten will, wie er aus finstrem Tal an den Fuß eines Berges gelangte. Im Anblick des sonnenbeschienenen Gipfels sei dann die Angst, ,die ihm im See des Herzens angestanden', ein wenig stiller geworden. In der folgenden Schiffahrtsmetapher ist der entlastete Blick der Rückschau auf den bezogen, der sich, noch vorwärts fliehend, zum ersten Mal zurückwendet, um nun erst die volle Gefahr zu erkennen, der er entrann: E eome quei ehe eon lena affannata useito fuor deI pelago aHa riva, si volge aH'acqua perigliosa e guata, eosil'animo mio, eh' ancor fuggiva, si volse a retro a rimirar 10 pas so ehe non laseio gii mai persona viva (1,22-27).
An dieser Stelle kreuzen sich Vorschau und Rückschau, erinnerte und erinnernde Zeit, auf paradoxe Weise. Der Aufblick auf den Gipfel ist eine visionäre Vorschau auf den Läuterungsberg, dem erinnerten Ich zugeschrieben, das hier indes vom Weg seiner Rettung noch nichts wissen kann. Das Zurückliegende, auf das der Vergleich den Wanderer zurückschauen läßt, kann als ,,10 passo che non lasciö gia mai persona vivace doch wohl nur das Inferno meinen, das ihm indes erst bevorsteht. Zwischen erinnerter und erinnernder Zeit - dem offenen Horizont des Aufbruchs und dem geschlossenen Horizont der Ankunft - öffnet sich eine Zeitschere, die erwarten läßt, daß sie sich wieder schließen kann, wenn am Ende der Erzählung der angekommene Wanderer auf seinen vollendeten Weg zurückschauen, oder anders gesagt: wenn das erinnerte Ich zum erinnernden Ich werden und mit der Gestalt des Erzählers eins werden kann.
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Ein solcher Schluß, wie ihn die Topik der Schlußformeln bereitstellte29 , findet sich indes in der DC gerade nicht. Das Werk Dantes wird nicht aus der Sicht des Dichters abgeschlossen; nicht der Schauende, allein noch das Geschaute steht am Ende - das in einem letzten Blitzstrahl sich offenbarende Wesen der Gottheit, vor dem alles Erzählbare erlischt. Es kann nur noch erlöschen, wenn die Sehnsucht des Geschöpfs zuletzt in der Liebe seines Schöpfers aufgeht, in derselben vollkommenen Bewegung, der ewig Sonne und Sterne folgen: All' alta fantasia qui maneo possa; ma gia volgeva il mio disio e 'I velle, si eome rota eh' igualmente emossa, I'amor ehe move il sole e I' altre stelle (33,142).
Der Ausgang des poema sacro ist ein Ereignis, das die Erzählung übersteigen muß, weil es immer gegenwärtig bleibt, also nicht mehr - wie die profane Erzählung mit ihrem letzten Wort - ins Vergangene abgerückt werden kann. Wie Dante gleichwohl die Zeitschere zwischen erinnerter und erinnernder Zeit zu schließen, noch vor dem Schluß seines Werks mit dem Moment der Ankunft ineins den Anfang zukünftigen Erzählens zu markieren, mithin Rückschau und Vorblick zu verknüpfen und so den Ursprung seines Textes metaphorisch in diesen selbst noch einzuschreiben wußte: dies alles wird am schärfsten erkennbar, wenn man die analoge Komposition der Recherche zu Rate zieht. Auch das Werk Prousts beginnt nicht mit einem markierten Anfang, sondern im offenen Horizont eines unbestimmbaren ,j etzt' der erinnerten Zeit, in der Verlorenheit zwischen Schlaf und Erwachen: "Longtemps, je me suis couche de bonne heure. Parfois ... " Hier setzt der Weg zurück, ein Weg vergeblichen Erinnerns ein, dem sich unversehens in der Madeleine-Episode eine Pforte zur verlorenen Zeit auftut (ein erst am Ende begriffener Kairos!), worauf der Weg durch die erinnerte Zeit beginnt. Auch die Recherche endet nicht mit dem Moment, in dem die Reise durch die Zeit in die Gegenwart des Erzählers einmündet. Ihr letztes Wort ist "Le temps", verewigt im "edifice immense du souvenir", wie das letzte Wort der DC .. le stelle", die Ewigkeit des gestirnten Himmels ist. Proust hat die Zeitschere schon vorher geschlossen, im Kairos der erst durch den ganzen Weg zu gewinnenden Erkenntnis, daß die vergebliche Suche nach der verlorenen Zeit in Wahrheit schon die verborgene Geschichte der 29 S. dazu E.R. Cunius, Kap. 5, S5.
ENTOpäisch~
LiuratNT Nnd lat~inisch~s Mitr~LUur, Bem 1948,
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Berufung zum Schriftsteller war und als wiedergefundene Zeit schon das mögliche Kunstwerk enthielt, das ,morgen' nur noch geschrieben zu werden braucht. Das ,Morgen' des Schreibens ist die Schwelle, an der sich das ganze, Vorher' des Weges in das ,Nachher' des Romans verwandeln und die verlorene Zeit als wiedergefundene dank der Erinnerung im Lichte einer "adoration perpetuelle" erscheinen kann - als ein durch die Kunst wiedergewonnenes Paradies, wenn es denn wahr ist, ,,(que) les vrais paradis sont les paradis qu'on a perdus lClO • Dem mittelalterlichen Dichter war es noch versagt, die verlorene Zeit in der Erinnerung selbst aufbewahrt zu finden, deren Poesie dem modernen Dichter die irdische Welt erleuchtet und ihn ineins damit seine verlorene Identität wiederfinden läßt. Die erleuchtete Zeit des christlichen Paradieses ist kein Fest der Mnemosyne, sondern ein Wiederfinden oes Paradieses, das Adam verscherzte. Bedarf der Erzähler der Recherche eines Kairos der innerweltlichen Zeit, des Geschenks der unfreiwilligen Erinnerung, um die Pforte zu seinem Paradies zu finden, so bedarf der Wanderer durch die Jenseitsreiche einer transzendenten Beglaubigung (die erst Beatrice, dann Petrus in den Mund gelegt wird, Purg. 33,52 und Par. 27,64), um im höchsten Auftrag verkünden zu dürfen, was er dort geschaut. Doch Dante wäre nicht der Dichter der irdischen Welt, hätte er die Schwelle zwischen dem, Vorher' seiner Erfahrung und dem ,Nachher' seines Schreibens nicht selbst noch in seine Darstellung des Paradieses eingeschrieben. Sie erinnert inmitten der ewigen Seligkeit an das irdische Glück der Heimkehr, mit einem der schönsten Vergleiche, der an die schon zitierte Schiffahrtsmetapher mit der Rückschau auf überstandene Not im ersten Gesang der DC zurückdenken läßt. Bevor der heilige Bernhard sein Geleiter wird, vergleicht der Wanderer sein Angekommensein mit dem überwältigenden Eindruck, den Rom auf die Pilger, die ,Barbaren aus dem Norden" macht. Dann mischt sich in ihr ausruhendes Verweilen am Ziel die Hoffnung, dereinst nach der Heimkehr davon zu berichten, in einem ,Morgen' des Erzählens, das Prousts "demain j'ecrirai" antizipiert und den Erzähler - nicht ohne Stolz auf das Vollbrachte - aus dem Jenseits des Wanderers in das Diesseits des Autors verabschiedet:
30 Proust, Rtch~rch~ Bd. 15, S. 12; zu den Belegstellen s. Verf., Z~it ..nd Erinnn..ng in Marctl Pro ..sts.A La rtch~rch~ dN ttmps p~rd.. ·, Frankfun 1986, S. 276.
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io ehe al divino dall' umano, all etremo dal tempo era venuto, e di Fiorenza in popo I giusto e sano di ehe stupor dovea esser compiuto! Ceno tra esso e 'I gaudio mi faeea libito non udire e starmi muto. E quasi peregrin ehe si ricrea nel tempio dei suo voto riguardando, e spera gii ridir com' ello stea, su per la viva luca passeggiando t menava io li ocehi per li gradi, mo su, mo giu, e mo recirculando (Par. 31,37-48).
7. Shakespeare im Horizontwandel der Moderne eine Rezeptionsgeschichte von King Lear I. Fragestellung Wer sich als romanistischer Outsider verlocken läßt, über das Thema "Shakespeare im Horizontwandel der Modeme" zu sprechen, begibt sich in die Gefahr, ohne Kompaß auf einem Episodenmeer zu treiben, wenn nicht gar beim Versuch unterzugehen, den Fischzug einer zeitgemäßen Rezeptionsgeschichte zu wagen. Die Menge der Interpretationen und Zeugnisse - der Gründlinge wie der kleinen und großen Fische - ist unüberschaubar; die Ausbeute der Vorgänger keineswegs ermutigend. Schon 1906, als Tolstoi sein fulminantes Strafgericht über Shakespeare anstellte, hatte er es mit 11 000 Bänden aufzunehmen, die von ästhetischen Kritikern zum Ruhme des Klassikers verlaßt waren; als Larry S. Champion 1980 eine King Lear allein gewidmete Bibliographie herausgab, benötigte er zwei Bände mit 2 532 Titeln! Aus der Schar der Vorgänger seien nur deren zwei genannt. Friedrich Gundolf zog 1914 aus, um den weißen Wal des deutschen, in der Shakespeare-Rezeption Herders und Goethes wiedererweckten Geistes zu fangen. Er sah darin ein "weltgeschichtliches Ereignis", das noch "unablässig an unserem Wesen formt"'. Doch diese erst und gerade Gundolf zuteil gewordene Einsicht entzog sich profaner Nachfolge: seine Devise "Methode als Erlebnisart" (S. VIII) kann nur für Eingeweihte gelten. Solche Esoterik lag Klaus Peter Steiger fern, der sich rühmen kann, bei einer frisch-fröhlichen Rezeptionsjagd seine Netze 1987 vom Globe-Groundling bis hin zu seinen jüngsten, aus der Art geschlagenen Nachfahren in Regietheater, Verfilmung, Kabarett und Happening ausgeworfen zu haben. 2 Was er dabei vor allem zur Strecke brachte, war die zum Popanz erhobene Rezeptionsästhetik. Doch Steiger, der auszog, um den vermeintlichen Totalitätsanspruch der "Neuen Lehre" zu widerlegen, I F. Gundolf. Shaltespeare ..nd JeT tU ..uche Geist. Berlin )1918. S. 221. 2 Vgl. K.P. Steiger. D~ Geschichte JeT Shaltespeare-Rezeption. Stuttgart 1987. bes. Kap. I: .. Vom Globe Groundling zum Rezeptionsästheten-. S. 14--42.
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schreckte dann doch nicht davor zurück, sich auf eigene Faust als "Rezeptionsästhet" zu betätigen. Dabei gelangte er aber kaum über die Feststellung sich ablösender Bewegungen von Aktion und Reaktion hinaus, die keinen Zusammenhang erkennbar machen, der den Namen einer Geschichte verdiente. So ist es nur folgerichtig, wenn er in dem Zweifel endigte: "Wie weit schreitet aber die Rezeption überhaupt fort?" (S. 42) Dieser Zweifel ist weder durch ein selbstgewähltes "Richter- und Sichteramt" (Gundolf 1918, S. VIII) noch durch eine möglichst vollständige Auswertung aller Rezeptionsdokumente zu beheben, aus welcher der Sinn einer Rezeptionsgeschichte gleichsam von selbst evident würde. Was Steiger ein weiteres Mal gegen die Rezeptions..ästhetik vorzubringen weiß, folgt nicht aus ihrer hermeneutischen Theorie, sondern aus deren Mißbrauch, nämlich aus der unkontrollierten Verselbständigung des Rezeptionsobjektes (S. 18), aus einer Desensibilisierung für historische Größe und dem Ausgleiten in eine neue,_ postmoderne Beliebigkeit (S. 29), aus der Resignation vor der schlechtett Unendlichkeit von Interpretationen und "unserem ewigen Verlust, da wir die ursprüngliche Intention und Rezeption des Werks nicht kennen" (S. 40). Doch all dies schließt die hermeneutisch-kritische Möglichkeit nicht aus, den Sinn eines Werks aus seiner Wirkung im Blick auf seine Bedeutung für das Verständnis der Gegenwart zu erschließen. Eine kritisch verstandene Rezeption wird den Vorurteilen der eigenen Zeit am ehesten dann entgehen, wenn sie ihre Relevanz an der Vorgeschichte der eigenen Erfahrung bemißt wenn sie es nicht verschmäht, an das schon Verstandene oder Mißverstandene anzuknüpfen, um den noch offenen und doch nicht beliebigen Spielraum eigener Deutung zu erproben. Für dieses Verfahren spricht schon der schlichte Grund, daß die Rezeption eines Werks vom Range Shakespeares mehr Möglichkeiten der Deutung in ihrer Geschichte bewahrt, als eine ab ovo, vermeintlich frei zwischen Himmel und Erde schwebende Interpretation es sich erträumen könnte. Um hier noch einmal an Altbekanntes zu erinnern: eine Geschichte der Shakespeare-Rezeption muß drei Forderungen einer rekonstruktiven und zugleich applikativen Hermeneutik genügen. Zum einen muß das Werk selbst Kontrollinstanz aller Sinnkonstitution bleiben, d. h., es muß die Frage, die wir an es richten, im Kontext des Werks selbst eine Bestätigung finden, was auch dann noch der Fall sein kann, wenn dieses zu seiner Zeit auf andere Fragen geantwortet hat. Zum andern benötigt die Rekonstruktion einer Rezeptionsgeschichte im Horizontwandel von Frage und Antwort nicht alle
7. Shakespeare im Horizontwechsel der Modeme
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Zeugnisse einer Tradition, sondern nur solche Interpretationen, die als normbildend anerkannt wurden. Die so begründete Auswahl erlaubt dann, die Vorgeschichte eines Verstehens zu erfassen, das im Rückblick die Deutung des Werks bereichern kann und im Vorblick ermöglichen soll, den Text auch wieder anders zu begreifen. Zum dritten muß der Hintergrund der Kulturgeschichte Europas seit der Renaissance, in den die Rezeption Shakespeares eingeschrieben ist, den Horizont jeder paradigmatischen Interpretation bilden. Denn erst vor diesem Horizont können die oft nicht zutage liegenden Bedingungen des Verstehens, aber auch des produktiven Mißverstehens der Vorgänger erkannt und ein neuer Zugriff legitimiert werden. Das Woraufhin der Fragerichtung ist für die folgende Betrachtung der von mir anderweitig dargestellte Horizontwandel der Moderne, näherhin der Vorgriff, daß die Aneignung Shakespeares nicht allein wie zum Beispiel die Rezeption Homers oder Vergils - das sich wandelnde Selbstverständnis literarischer Epochen begleitet, sondern es oft sogar inauguriert hat. Diese Hypothese soll vornehmlich am King Lear erläutert werden. Dabei wird sich zeigen, daß der Kanon der Interpretationen in das Licht einer anderen paradigmatischen Selektion treten kann, wenn man Shakespeare als Protagonisten der Modeme würdigt. Seit Ben Jonson an Shakespeare rühmte, daß er die größten antiken Autoren in der Tragödie wie in der Komödie übertroffen habe (1623), steht der elisabethanische Dichter im Mittelpunkt der Querelle des Anciens et des Modernes. Doch hat die enkomiastische Rezeption so wenig wie die philologische Kritik bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine normgebende Gesamtdeutung hinterlassen. Die Berufung auf Naturwahrheit, die Shakespeares Bildungsdefizite entschuldigen sollte, wurde erst brisant, als sein Werk nicht länger in Schönheiten, die nachzuahmen, und in Fehler, die zu vermeiden seien, aufgeteilt wurde. Nunmehr konnte derselbe Shakespeare als Genius der Natur gegen die klassizistischen Normen der imitatio naturae ausgespielt, als Originalgenie, das sich selbst die Regeln des Schaffens gibt, verstanden und schließlich als alter deus zum Prototyp des autonomen Individuums erhoben werden. Die Aufklärung hat indes noch zwei weitere Paradigmen hinterlassen, die gemeinhin unterschätzt blieben: Nahum Tates Lear- Bearbeitung, der Cordelia um der poetischen Gerechtigkeit willen retten wollte und damit einen Eingriff in den Text vornahm, dessen Tragweite erst Balzac und Victor Hugo am Ende des bürgerlichen Zeitalters ausloten sollten. Ferner Voltaire, dem seine Shakespeare-Invektiven den einhelligen Spott der Nachwelt eintrugen, wobei bisher niemand bemerkt zu haben scheint, daß Voltaires Kritik schon
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eine von ihm selbst noch nicht anerkannte Ästhetik der Modeme die Preisgabe des Schönen für das Erhabene - ankündigt. Die gewählte Perspektive wird auch eine Um belichtung der kanonischen Deutungen nach sich ziehen. Für die Leitfrage, mit welchem Recht Shakespeare als Prototyp der fortschreitenden Selbstbehauptung der Modeme gelten kann, ist Herders Rezeption einschlägiger als die Goethes, die Hegels weitreichender als die Schlegels und Grabbes Polemik Über die Shakespearo-Manie bedeutsamer als die Tolstois oder Bernhard Shaws. Weiterhin läßt sich die ShakespeareRezeption des 20. Jahrhunderts analog zu Nietzsches drei Grundeinstellungen zur Historie in eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Phase perspektivieren. Gundolfs vielbewunderte monumentalische Lear-Deutung von 1928 wäre danach als Paradigma einer Anti-Modeme anzusehen. Schückings Buch von 1919 stünde für die antiquarische Tradition, zumal er sich gegen Bradley's psychologisierende Deutung wandte, gleichwohl aber die Charakterprobleme bei Shakespeare zur Richtschnur nahm. Zu dieser Zeit hatte die englische Forschung längst die Wendung von den Charakteren auf Sprache und Stil der Stücke, mithin zur werkimmanenten Interpretation, vollzogen. Der Bruch mit diesem Paradigma, mit dem New Criticism und seinem Kult des selbstreferentiellen Werks, wie insgesamt mit den Normen des humanistischen Idealismus, kennzeichnet nicht allein die jüngste Phase einer kritischen, besonders vom New Historicism ausgetragenen Shakespeare-Rezeption. Wenn diese seit den siebziger Jahren mit der Vielfalt neuer Deutungsansätze - wie mir scheint - alle Paradigmen der bisherigen Rezeptionsgeschichte überboten hat, zeigt sich hier noch mehr als nur ein literarisches Ereignis an. Denn dieses steht an der Schwelle einer Verabschiedung der jüngsten Modeme durch eine Postmoderne, die hier auch darum ernst genommen zu werden verdient, weil es wiederum gerade Shakespeare war, dessen Aneignung ein neues Epochenbewußtsein der "Belatedness· heraufgerufen hat.) Mit den genannten Paradigmen habe ich auch schon eine Vorschau auf den weiteren Vortrag skizziert.
11. Das Paradigma des noch unverstandenen Sublimen (Voltaire) Bei keinem Autor ist es den Philologen leichter gefallen, ihr selten geübtes Richteramt auszuspielen, als im Falle von Voltaires lebenslanger Shakespeare-Kritik. Seine sattsam bekannten Diatriben gegen ) S. dazu Kap. 13.
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den "grand fou", der als der Corneille Englands galt, der Spott über seine monströsen Farcen, die man Tragödien nenne, die selbstgerechte Behauptung der kultureUen Hegemonie Frankreichs brauchen hier nicht ein weiteres Mal abgekanzelt zu werden. Doch dabei fäUt mir auf, daß die gesamte Metakritik eines unterlassen hat, nämlich sich zu fragen, was Voltaire wohl an Shakespeare so ungemein fasziniert haben mag, obschon er ihn so unbarmherzig verriß und sich gleichwohl rühmte, ihn als erster den Franzosen nahegebracht zu haben. Er hat sich in der Tat selbst einmal gefragt: "Pourquoi l'on court aces pieces, et pourquoi l'on s'y plait, tout en les trouvant absurdes?" (43,141).4 In diesem Paradox ist das Problem eines Rezipienten beschlossen, der sich den ästhetischen Reiz eines unerklärbar Fremden eingestehen muß, das er aus Gründen des guten Geschmacks n ur ablehnen kann. Die eigentümliche ästhetische Faszination Voltaires tritt inmitten der zahlreichen Shakespeare-Referenzen seines Gesamtwerks immer wieder zutage. So, wenn er gesteht, er sei demJulius Caesar (für dessen Übersetzung er eine schon philologische Akribie aufwandte) von der ersten Szene an interessiert und bewegt gefolgt: "et, malgre tant de disparates ridicules, je sentais que la piece m'attachait" (7,485). Voltaire hat die Mischung des Hohen und des Niedrigen, des Komischen und des Tragischen bei Shakespeare - die von der doctrine classique ausgeschlossene Stilmischung - zwar durchweg gerügt und sie damit abgefertigt, der Dichter habe dem Hof und dem Pöbel zugleich gefallen woUen. Gleichwohl vennochte auch er im "Barbarischen" seiner Stücke schon etwas wie "Kraft und Energie" zu entdecken (22,210), Merkmale einer "poesie barbare" , wie sie Diderot der klassizistischen Bienseance entgegensetzen wird. Die Pole der Stilmischung sind erst noch mit "le comique ... joint a la terreur" und "la beaute" (7,484), dann aber auch schon mit dem Possenhaften und dem Sublimen (31,203) besetzt. Hier taucht die Ästhetik des Erhabenen auf, die Voltaire in der Erläuterung seiner Hamlet-Übersetzung schon ex negativo - bezeichnenderweise an den Schwierigkeiten der Sprache Shakespeares! - in ihren für die Zeit modemen Normen zu beschreiben weiß: "son naturel, qui ne craint pas les idees les plus basses, ni les plus gigantesques; son energie, que d'autres nations croiraient durete; ses hardiesses, que des esprits peu accoutumes aux tours etrangers prendraient pour du galimathias. Mais sous ses voiles on decouvrira de la verite, de la profondeur, et je ne sais quoi qui ana.. Zit. wird nach Voltaire. (Eu'Vres Comp/etes. Paris: Garnier 1877 H," mit Bd. und l
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che et qui remue beaucoup plus que ne ferait l'elegance" (24,203). Im "Ich weiß nicht was" Voltaires verbirgt sich das im ästhetischen Faszinosum Shakespeares geahnte Erhabene, das die klassischen Schranken des zeitlosen Schönen durchbrechen sollte!
111. Das Paradigma des Genius der Natur (Herder) Die erste literarische Revolution in Deutschland, der 1770 von Straßburg ausgehende Sturm und Drang, hat bekanntlich Shakespeare an der Seite von Rousseau zum epochemachenden Leitbild erhoben. Wenn damals-wie Grabbe im Rückblick bemerkt- "kräftige Geister genug da waren, welche von den wahrhaft electrischen Blitzschlägen Shakespeares wohl erleuchtet, aber auch zu eigner Gluth entzündet wurden"S, so war es Herder, der - präludiert von Wieland und Lessing - Shakespeare nunmehr als Protagonisten der Modeme dem Aufbruch deutscher Dichtung vorangestellt hatte. In seiner Schöpfung sah er Rousseaus Evangelium der Natur poetisch geoffenbartdurch einen "Schöpfergeist" , der "Stände und Menschen, Völker und Sprecharten, König und Narren, Narren und König zu dem herrlichen Ganzen" zusammenfügte, "zu einem Wunderganzen, was wir, wenn nicht Handlung im Griechischen Verstande, so Aktion im Sinne der minieren, oder in der Sprache der neueren Zeiten, Begebenheit (evenement), großes Eräugniß nennen wollen"6. Der von Herder an Shakespeare gewonnene Naturbegriff löst die klassische Einheit von Raum, Zeit und Handlung durch das "Ganze eines Eräugnisses" ab; Natur als Ereignis, als Geschichte im Ganzen, soll nunmehr die zeitlose Natur der Klassik übergreifen: "Eine Welt Dramatischer Geschichte, so groß und tief wie die Natur; aber der Schöpfer gibt uns Auge und Gesichtspunkt, so groß und tief zu sehen" (S. 112). Was Herder dem Sturm und Drang an Shakespeare als Offenbarung der Natur erschloß, ist über die Offenbarung des christlichen Glaubens hinaus und soll doch noch eine poetische Theodizee sein ("Symbole zum Sonnen riß einer Theodizee Gottes", S. 111)! So kann auch das Schicksal Lears - "Wahnsinn gleichsam pochend vom Himmel herab" (S. 112) - überhöht, sein Ausgang apokalyptisch gedeutet werden: "Lear stirbt nach Cordelia, und Kent nach Lear! es ist gleichsam Ende seiner Welt, jüngster Tag, da 5 Chrisuan Dietrich Grabbc •• Über die Shakespearo-Manie" in: H. Blinn (Hrsg.). ShaIt~Jpe4T~-R~zeption in D~lItJchlanJ. Bd. 11. Berlin 1988. S. 210. 6 .Shakespeare". ebd .• Bd. I. S. 111.
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alles aufeinander rollet und hinstürzt, der Himmel eingewickelt und die Berge fallen, das Maaß der Zeit ist hinweg" (S. 117). Doch schon Hegel wird die Größe Shakespeares darin sehen, daß seine Natur auf keine transzendente Macht mehr verweise - ein Paradigma, das am Ende Heiner Müller dahingehend verschärft, Shakespeares Blick enthülle Geschichte als sinnfremden Naturzusammenhang.
IV. Shakespeare als Schöpfer autonomer Charaktere (Hegel) Das Paradigma des deutschen Shakespeare: der Dichter als Weltschöpfer, der die Natur zum Ereignis zu machen weiß, ist nicht schon von Herder, sondern erst von Goethe als Entdeckung des autonomen Individuums, das sich selbst das Gesetz seines Handelns gibt, begriffen und ausgefühn worden. Bei Herder ist nur davon die Rede, das "Individuelle jedes Stücks, jedes einzelnen Weltalls (gehe) mit Ort und Zeit der Schöpfung durch alle Stücke" (S. 114). In Goethes Ansprache Zum Schäkespears Tag (1771) hingegen wird der berühmte, dem alles gleichmachenden Tod entgegengehaltene Satz: "Für nichts gerechnet! Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne!" als die Erfahrung gerühmt, die ihn von der ersten Seite an zeitlebens Shakespeare zu eigen gemacht habe. Die Behauptung: "seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punckt, den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat: in dem das Eigenthümliche unsres Ich's, die prätendierte Freyheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstösst"7, erhellt in der Rückschau vor allem, wie es zu dem individualistischen Mißverständnis der Charaktere Shakespeares kam und warum Goethe im Götz 'Von Berlichingen - wie Grabbe bemerkte - "nicht sowohl als Nachfolger, sondern als Nebenbuhler Shakespeares auftrat ... (der sich zu Goethe1n wie Michel Angelo zu Raphael verhält)" (S. 210). Es war dann aber doch ein Philosoph, der Shakespeares Charaktere aus ihrer Differenz zur modemen Individualität begriffen hat: Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik. 8 Seine Deutung stärker herauszustellen scheint angezeigt, weil sie keine Schule gemacht hat, obschon sie alles übertrifft, was in der An Bradleys oder Schückings über Charakterprobleme bei Shakespeare verhandelt wurde. Obschon Hegel für die moderne Tragödie fordert, daß sich "die Individuen in sich selbst mit ihrem individuellen Schicksal versöhnt 7 Sämtliche Werke (Artemis). Zürich 1977. Bd. 4, S. 122-126. 8 Im F. Zil. nach G. F. W. Hegel, Ästhetik. Hrsg. F. Basscngc. Berlin 1955.
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zeigen müßten", und gesteht, daß er dem bloßen Untergang der Individuen einen glücklichen Ausgang vorziehe (5. 1100), sieht er schärfer als seine Zeitgenossen, daß diese idealistische Auffassung Shakespeare noch fern lag. Da seine Konflikte nicht "einer höheren Anschauung ihr Recht geben", seine Personen noch nicht eigentlich "schöne Charaktere" seien, deren eigentliche innere Natur mit den äußeren Zufällen übereinstimmen müßte, blieben sie "der Hinfälligkeit des Irdischen", dem "Schicksal der Endlichkeit" überantwortet (5. 1100). Dazu steht nur scheinbar im Widerspruch, wenn Hegel gleichwohl davon spricht, daß sich Shakespeare gerade "durch das Entschiedene und Pralle seiner Charaktere selbst in der bloß fonnellen Größe und Festigkeit des Bösen" auszeichne (5. 258). Denn im Vergleich zur Antike habe Shakespeare in der Tat bereits eine historische Schwelle zur Selbständigkeit individueller Charaktere überschritten. Sind diese nach Hegel doch nicht mehr "durch irgend etwas Höheres", sondern allein aus ihrer bestimmten Natur begründet: "Da ist nicht von Religiosität und von einem Handeln aus religiöser Versöhnung des Menschen in sich und vom Sittlichen als solchen die Rede" (5. 544). Während uns die antike Tragödie nicht den vollen Anblick der Bosheit und Verworfenheit gebe, führe uns z.B. King Lear "das Böse in seiner ganzen Gräßlichkeit vor" (5. 239). Hegel hat Shakespeares Schritt von der Götterwelt der Alten zur entgötterten Modeme auf die lapidare Fonnel gebracht: "Die Götter werden zum menschlichen Pathos und das Pathos in konkreter Tätigkeit ist der menschliche Charakter" (5. 251). War die Tragödie der Antike durch allgemeine, substantielle Mächte des Handeins bestimmt, so erscheinen diese nunmehr als bewegendes Pathos menschlicher Individualität, in einer "subjektiveren Tiefe der Innerlichkeit und Breite der partikulären Charakteristik", die den alten Tragikern noch nicht zu Gebote stand (5. 1055). Dazu trägt auch bei, daß Shakespeares Tragödien eine Vergangenheit voraussetzen, in der "die Lebendigkeit des Individuums in seinem Beschließen und Ausführen noch das Vorherrschende ist", weil "Inhalt und Boden der heroischen, mythischen Zeit" von "gesetzlicher und sittlicher Durchbildung (noch) abliegen" (S. 212f.). So kennzeichnet Hegel die Autoritätskrise der feudalen Ära als den Hintergrund der modernen Tragödie, den später Robert Weimann am historischen Wandel von Autorität, theatralischer Repräsentation und subversiver Mimesis in ein schärferes Licht gerückt hat. 9 Hegel war seinen Zeitgenos-
9 Vgl. R. Weimann, Sh.Jees/H"re ,."d die Macht der Mimesis. Berlin und Weimar 1988.
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sen aber auch darin voraus, daß er die Stilmischung des Tragischen und des Komischen, die selbst Goethe an Romeo und Ju/ia unverständlich blieb (Bd. 14, 766), auf seine Weise zu rechtfertigen wußte. Gegen die herkömmliche Kritik an Shakespeares gehäuften und buntscheckigen Vergleichen, "die er seinen Personen oft im höchsten Drange des Schmerzes zuteilt, wo die Heftigkeit des Gefühls am wenigsten Raum für die Ruhe der Reflexion zu vergönnen scheint, die zu jedem Gleichnis gehört", rühmt Hegel, daß sich hier das Individuum über das Pathos einer bestimmten Situation, Empfindung, Leidenschaft durch die Kraft des Geistes erheben und sein eigenes Schicksal im Bild aussprechen könne: "Diese Befreiung der Seele ist es, welche die Gleichnisse zunächst ganz formell ausdrücken, indem nur die tiefe Gefaßtheit und Stärke, sich auch seinen Schmerz, seine Leiden zum Objekt zu machen, sich mit anderem zu vergleichen und dadurch in fremden Gegenständen theoretisch sich anzuschaun imstande ist" (S. 409). Gewiß kann man bestreiten, daß Shakespeare selbst schon für seine Charaktere die subjektive Größe des Gemüts, in der Distanz zu sich selber sein eigenes Schicksal im Bild auszusprechen (S. 410), intendiert habe. Gleichwohl bringt das Paradigma der Hegelschen Deutung etwas zutage, was ihre erstaunliche Wirkung besser als zuvor erklärt: die eigentümlich moderne Bestimmung der Selbstbehauptung im Humor ("sich im fürchterlichsten Spotte über sich selbst auch seine eigene Vernichtung wie ein äußeres Dasein gegenüberstellen und dabei ruhig und fest in sich selber bleiben zu können", wie unser Zitat endet). Wer wollte bestreiten, daß Shakespeares Charaktere und zumal das Paar von König und Narr ihren antiken Vorfahren eines voraushaben: den tiefsinnigen, oft bitteren Humor, wie ihn Hegel am Stilbruch zwischen dem Tragischen und dem Komischen, dem Hohen und dem Niedrigen (übrigens an trefflichen Beispielen!) erläutert.
V. Das Paradigma des bürgerlichen Vater-und-Tochter Dramas Blickt man von diesem Höhepunkt der idealistischen Rezeption auf Nahum Tate und die Shakespeare-Bearbeitungen der bürgerlichen Ära zurück, so ist vorab zu fragen, ob das "Herabstimmen der Tragödie auf das Niveau wahrer Familienstücke aus der Diderot-Lessingischen Schule"'O nur noch von antiquarischem Interesse ist. Die
10 So Grabbe (wie Anm. S), S. 210.
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Crux, der sich die bürgerliche Aneignung stellte, hat indes auch allen späteren Interpreten zu schaffen gemacht: Warum muß Cordelia sterben? Jede Antwort auf diese Frage bringt vom unglücklichen Ausgang her den befremdlichen - von Goethe für absurd gehaltenen - Eingang in die Schwebe, macht Cordelias berühmtes "Nothing" rätselhaft und stellt ein Folgeproblem, das erst Schauspiel und Roman der bürgerlichen Empfindsamkeit ausloten sollten, als sie die Vater-Tochter-Beziehung in der bürgerlichen Intimsphäre an die Stelle der aristokratischen Vater-Sohn-Konflikte rückten. Die schlichte Lösung Tates, der die alte Märchenfabel wiederherstellte, die verstoßene dritte Tochter den zum Bettler erniedrigten König die Krone zurückerringen ließ, den Narren kurzerhand strich und dafür eine rührende Liebesgeschichte zwischen Edgar und Cordelia mit Happy-End hinzufügte, läßt gewiß noch nicht ahnen, welche mythische Größe Balzac und Hugo der Vater-Tochter-Beziehung wiederzuerstatten wissen. Sie werden den glücklichen Ausgang nicht mehr benötigen, um den "innocent distressed Persons" - wie Tate forderte - Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, doch nicht mehr im Dienste mor'llischer Erziehung, sondern als Kritik an der modemen Gesellschaft, deren Dramaturgie der Macht wahre Vatergesinnung und Tochterliebe zuschanden werden läßt. Wie die deutsche, so setzt auch die französische Literaturrevolution, die hinfort Romantik als Aktualismus begreifen will, im Namen Shakespeares ein. Sein Theater war nicht länger Abbild einer zeitlosen Natur, sondern das aktuellste Tableau seiner Gegenwart: so proklamiert Stendhal in Raa.ne et Shakespeare von 1823. Es stellte den Engländern von 1590 ihre eigene Zeit - die blutigen Katastrophen eines hundertjährigen Bürgerkriegs - vor Augen und verschaffte ihnen mit seinen Komödien das Vergnügen, sich von diesem traurigen Schauspiel zu erholen. Shakespeare als Vorbild erfordert für die Kinder der Revolution von 1789, ein Drama ihrer eigenen Zeit zu schaffen, das als prosaische Tragödie die großen Sujets der nationalen Geschichte, als modernes Lustspiel die alltägliche Realität in ihren konkreten Details zu erfassen habe. Diese These war die Kriegserklärung an den herrschenden Klassizismus und an seine Gralshüter in der Academie Fran~aise. Sie implizierte die Befreiung von dem Dogma der klassischen drei Einheiten wie von der Zwangsjacke des Alexandriners, aber auch vom Purismus der Stiltrennung. Denn zum Drama der modemen Ära gehört - wie das zweite Manifest, Victor Hugos Preface de Cromwell von 1827, hinzufügt - eine antiklassische Ästhetik, die Shakespeare auch darin folgt, das Schöne wie das Häßliche, das Hohe wie das Niedrige einzubegreifen: "le sublime et
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le grotesque" - jene Verknüpfung des Erhabenen mit dem Grotesken, aus der nach Hugos berühmter Formel allererst die voUe Gestalt der Realität hervorgehen kann. Doch dieses Projekt der französischen Shakespeare-Rezeption scheitene: Stendhal gab seine frühen Tragödienentwürfe bald wieder auf, und Hugo erlitt mit seinem romantischen Theater einen spektakulären Schiffbruch. Das an Shakespeare entwickelte Postulat eines aktualistischen Realismus konnte erst eingelöst werden, als Stendhal den Schritt vollzog, die Konflikte der Gesellschaft seines Jahrhunderts in der Gestalt seines Nouveau roman zu vergegenwärtigen, der damit die Funktion der klassischen Tragödie übernahm. Die bedeutendste Shakespeare-Aneignung dieser Epoche ist denn auch nicht im Theater, sondern im Roman - in Balzacs Pere Goriot - zu finden. Balzacs Ehrgeiz, mit Shakespeare zu wetteifern, ist - obschon mehrfach bezeugt - von der zeitgenössischen Kritik zwar gesehen, aber als Intention seines Pere Goriot verkannt und seither wenig beachtet worden. 11 Sie wird erst manifest, wenn man erkennt, daß Balzacs Rückgriff auf King Lear die Rezeptionsgestalt einer grandiosen, antithetischen Vereinseitigung - einer tessera im Sinne Harold Blooms - angenommen hat. 12 Hier wird das mythische Substrat der shakespearischen Tragödie aufgerufen, um der modernen, von ökonomischen Interessen beherrschten Gesellschaft die Monomanie einer archaischen Leidenschaft entgegenzusetzen und damit deren paternalistisches Fundament - die Würde der im Vater Goriot zur Narrheit gesteigenen Paternite - zu treffen. Ein "zu wenig" und ein "zu viel" kennzeichnet - auf die kürzeste Formel gebracht - die Vaterrollen bei Shakespeare und bei Balzac. Während Lear als Vater versagt, Cordelias Aufrichtigkeit gleichermaßen verkennt wie die Falschheit ihrer Schwestern und an der Verhöhnung naturgesetzter Achtung verzweifelnd in Wahnsinn verfällt, geht Goriot an zuviel Vaterliebe, die sich durch keine Demütigung beirren läßt, zugrunde. Vaterschaft ist bei Balzac, was sie bei Shakespeare noch nicht sein kann - eine alles verzehrende Leidenschaft: "un sentiment si grand que rien ne l'epuise, ni les froissements, ni les blessures, ni l'injustice", eine Monomanie, die alle Natur und Sitte übersteigt: "un homme qui est pere comme un saint, un martyr, est chretien". Die zeitgenössische Kritik hat denn auch gerügt, Balzac habe der Vaterliebe das Diadem ihrer Würde benommen; sein Vater Goriot habe 11 Zit. nach Balzac, L4 Comedie HNma;ne (ed. de la Plejade). Paris 1976ff., Bd. III; dazu die Eint. von P.-G. Castex zu Pert Goriot, ed. Garnier, Paris 1981. 12 H. Bloom, A Map 0/ MisreaJing. New York 1975, S. 95ff.
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keine Antigone, die ihn tröste, keinen Zorn, der ihn räche, sein "Christ de la Paternite" sei blasphemisch, seine Beschreibung der Gesellschaft zynisch. J) In der Tat hätte eine Cordelia die bis zum Wahn gesteigerte Vaterleidenschaft gemindert. Balzacs Rückgriff auf King Lear, mit dem er die dritte Tochter strich, die Rolle des "enfant meconnu qui aime son pere" in die Nebenfigur einer Victorine verlegte (S. 94) und die Rollen von König und Narr zur dominanten Figur des bürgerlichen Vaters verschmolz, läßt an Walter Benjamins "Tigersprung ins Vergangene" denken. Wenn der so gewaltsam angeeignete Prototext gleichwohl stets präsent gehalten wird, dürfte dies auch daran liegen, daß der "amour fou" Goriots (S. 112) wie schon die Narrheit Lears ständig ans Erhabene rührt. "Le pere Goriot est sublime!" (S. 115): dies an der Spottfigur in der elenden Pension zu erkennen, fällt Rastignac zu, der am Debut seiner Pariser Karriere steht und am Ende noch seine Uhr verpfändet, um für den Märtyrer der Vaterliebe das Leichentuch zu bezahlen. Als ob sich Hugos Formel an Heines Variante: "Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt" umgekehrt bewahrheiten sollte, entdeckt der Leser im grotesken Verhalten des verspotteten " Vater Goriot" Zug um Zug das Erhabene seiner bis zum Laster gesteigerten Vaterschaft ("la patemite d'instinct, de passion et a Petat de vice", S. 1219). Die bürgerliche Tugend des "pere de familie" erweist sich hier, maßlos und hilflos zugleich, als ein - mit La Rochefoucauld zu sprechen - sich selbst verborgenes Laster. Der herzzerreißende Vorgang, in dem der einst reiche Vater sein ganzes Vermögen bis zum letzten Stück Brot aufopfert und dabei klaglos die fortschreitende Demütigung durch seine beiden Töchter hinnimmt, die ihn noch in der Todesstunde schamlos verleugnen, ist im Kontext der Gespräche mit Rastignac zu lesen. Hier tritt zutage, wie eine geradezu hündische Ergebenheit (z. B. wenn Goriot sich bescheidet, seine Töchter aus der Feme ausfahren zu sehen: "j'aime les chevaux qui les trainent, et je voudrais etre le petit chien qu'elles ont sur leurs genoux", S. 148) mit dem Stolz einhergeht, sich als bürgerlicher Vater nur an Gottvater selbst messen zu können (" Voulez-vous que je vous dise une dröle de chose? Eh bien! quand j'ai ete pere, j'ai compris Dieu", S. 161). Ein solches Bekenntnis kann indes auch wieder in naive Blasphemie umschlagen (z.B. wenn Goriot sich vorwirft, von Delphines jüngstem Kummer nichts geahnt zu haben: "moi, qui vendrais le Pere, le Fils et le Saint-Esprit pour leur eviter une larme a toutes les
13 Brief an Mme. Hanska vom 18.10.1834 (wie Anm. 11, S. XIV).
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deux", S. 177). Wie Lear mit der Natur, so wird Goriot am Ende mit Gott rechten (,,0 mon Dieu! puisque tu connais les miseres, les souffrances que j'ai endurees pourquoi me fais-tu donc souffrir aujourd'hui? J'ai bien expie le peche de les trop aimer", S. 275 - mit Anspielung auf Markus XV, 34). Wie Lear, der - die tote Cordelia in den Armen - seine Welt untergehen sieht, wird auch für Goriot die Todesstunde ein jüngstes Gericht sein, nun aber - Shakespeares Pessimismus noch überbietend - in der grausamsten Illusion gipfelnd, wenn der Sterbende mit letzter Kraft seine Hände segnend auf die Häupter der beiden Studenten legt, die er für seine abwesenden Töchter hält, und murmelt: "Ah! mes anges!" (S. 284). Wenn die jüngste Shakespeare-Rezeption gerade die Dramaturgie der Macht in seiner Tragödie und damit ihre subversive politische Brisanz hervorkehrt, ist diese Deutung durchaus auch dem Pere Goriot angemessen. Obschon Balzac im Grunde konservativ und monarchistisch gesonnen war, stellt sein Roman den Fortschrittsglauben der bürgerlichen Gesellschaft radikal in Frage. In ihre Ordnung versetzt, erscheint sein moderner Lear als ein Schicksal, das der Herrschaft ihrer "lois sociales" entgegensteht, auch wenn er nur unbewußt ("par ignorance et par sentiment", S. 46) gegen sie revoltiert, wohingegen Vautrin, der aus dem Bagno entkommene große Verbrecher, sich zynisch über ihre Konventionen hinwegsetzt, dem armen Studenten Rastignac zur Lehre, den er auf den Weg eines "homme superieur" (S. 141) bringen will. Die Begegnung der drei Outlaws findet in der Pension Vauquer statt, dem Ort, "ou regne la misere sans poesie" (S. 54), auf dem Schauplatz der Weltstadt Paris, deren mondäner Glanz darüber hinwegtäuscht, daß sie in Wahrheitwie die von Indianerstämmen bevölkerte Savanne der Neuen Welt unter dem Gesetz der] agd steht, dem Gesetz des Tötens, um nicht getötet, und des Täuschens, um nicht getäuscht zu werden (S. 143/ 151). Goriot selbst war, bevor er zur Spottfigur der Pensionäre herunterkam, ein "Hurone der Getreidehallen" (S. 44), während der Revolution vom einfachen Arbeiter zum reichen Getreidehändler aufgestiegen, der seine Geschäfte mit einer Meisterschaft zu führen wußte, die ihn zu einem Ministeramt befähigt hätte. Der Charakter Goriots ist demnach nicht naturbedingt, sondern Ergebnis einer sozialen Genese: so monoman er dem kommerziellen Erfolg nachjagt und dabei doch der stupide, für allen Genuß unempfängliche Prolet bleibt (S. 124), so monoman vergeudet seine Vater leidenschaft das erworbene große Vermögen, um den Töchtern den höchsten Glanz des Pariser Lebens zu verschaffen, den er selbst zu genießen unfähig wäre. Der bitterste Undank, den er dabei ernten muß, ist
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dabei nur äußerlich ein moralisches Versagen der vergötterten Töchter. Was Balzac anklagt, ist nicht so sehr die "corruption feminine" als vielmehr die verborgene Kehrseite der "loi sociale, implacable dans sa formule", das einem Mitmenschen so wenig verzeihe, sein Gefühl rückhaltlos zu äußern, als keinen Sou mehr zu besitzen (S. 115/262). Der eigentliche Krebsschaden der degenerierten modernen Zivilisation sei im Großen, was sich im Kleinen des Milieus der Pension Vauquer abbilde: eine Sphäre ohne zwischenmenschliche Kommunikation, in der die Insassen so gleichgültig wie mißtrauisch zueinander dahinleben: "il ne restait donc entre elles que les rapports d'une vie mecanique, le jeu de rouages sans huile" (S. 51/ 62). Wie die Tragödie des klassischen Lear auf keine höhere Instanz des Schicksals mehr verweist, so entspringt auch das Schicksal des bürgerlichen Lear nicht mehr dem Konflikt substantieller Mächte. An deren Stelle ist nunmehr die Abstraktion und Anonymität einer Gesellschaft getreten, der als letzter Gott allein noch das Geld verblieb. Balzac hatte das Projekt seines Pere Goriot selbst auf die lapidare Formel gebracht: "Un brave homme - pension bourgeoise 600 fr. de rente - s'etant depouille pour ses filles qui toutes deux ont 50 000 fr. de rente - mourant comme un chien" (S. iv). Es war sein besonderer Ehrgeiz zu erweisen, daß in dieser modernen Gesellschaft, deren Dasein von der Übermacht ökonomischer Interessen beherrscht wird und das dabei vergessen läßt, daß es von aller Natur wie vom Glück der Individuen abstrahiert ist, sich gleichwohl täglich hohe Tragödien abspielen. Es sind bürgerliche Tragödien, zwar ohne Gift, Dolch, Blutvergießen, und doch nicht weniger grausam wie das Schicksal, das der illustren Familie der Atriden widerfuhr. 14 Zur hohen bürgerlichen Tragödie inmitten der prosaischen Verhältnisse der Moderne wird Balzacs Roman vornehmlich durch seine archaische, aus der Vorwelt Shakespeares aufgerufene Psychologie: "Wiederum sollen also Liebe, Rache, Ehre - die archaischen Leidenschaften einer vorbürgerlichen Heroik - die eigentlichen Triebfedern der Geldbewegung im bürgerlichen Zeitalter sein." U Wenn im Pere Goriot der archaische King Lear wiederkehrt, gewinnt Balzacs Rückgriff indes noch eine letzte, eigene Legitimation im Versuch einer 14 Wie Balzac in Eugcn~ Grantkt bekundet: La comidie hum4in~. Ed. de la Pleiade, Paris 1976, Bd. 111, S. 1148; vgl. p"~ Goriot, S. 126: .. lei se terminc I'cxposition dc cette obscure. mais effroyable tragedie ... 15 So Heinz Schlaffer. Faust Zweit" TtiJ - die AII~gorie d~s 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1981, S. 181 (zu eisar Biron~au).
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Überbietung des klassischen Musters. Gemessen an der Vaterliebe Goriots muß die Lears gering erscheinen. Vermag sie doch noch nicht einmal ahnen zu lassen, welch eine abgründige Leidenschaft in ihr steckt, die beim bürgerlichen Vater ans Sublime reicht, weil Balzac ein noch älteres Paradigma: die christliche Humilitas ins Spiel brachte - den Kelch eines Leidens, den sein "Christ de la Paternite" bis zur Neige leeren muß. VI. Das Problem von Genesis und Geltung in den Paradigmen monumentalischer und antiquarischer Deutung Die nächste Phase der Rezeptionsgeschichte kann kürzer abgehandelt werden. Denn die monumentalischen Deutungen, wie auch ihre antiquarische Kritik, haben auf die spätere Forschung nicht so sehr durch paradigmatische Vorgaben als durch offen gebliebene Fragen gewirkt. Man kann diese Fragen mit Wolfgang Iser allesamt auf das Problem von Genesis und Geltung zurückführen: "Wie ist die historische Verwurzelung des Werks mit dessen fortdauernder Gegenwärtigkeit zu vermitteln ?"16 Das Problem hat sich der monumentalischen Deutung von Carlyle bis Gundolf nicht gestellt, weil sie - den Dichter als Heilsbringer, als "a Priest of Mankind" oder als "das menschgewordene Schöpfertum des Lebens selbst" rühmend - sein Werk auf seine vermeintlich überzeitliche Geltung reduzierte, während sich die antiquarische Philologie mit der Rekonstruktion seiner Genese begnügte. Beide Paradigmen ignorierten die hermeneutische Differenz des Zeitabstands, in der erst wieder das kritische Paradigma der jüngsten Rezeption seinen neuen Zugang finden sollte. Victor Hugos Essai von 1864, England zur Glorifikation seines größten Dichters gewidmet, wirft manche Schlaglichter auf Shakespeare, die Hugo noch lesenswert machen. So im Blick auf King Lear, wo der poetische Demiurg die Tyrannei vor Augen stelle, um ihre Schwachheit zu erweisen. Dabei erhebt Hugo Cordelia zur Hauptgestalt. In ihrer Gestalt habe Shakespeare ein so ungewöhnliches wie ehrwürdiges Sujet entdeckt: "la maternite de la fille sur le pere" und auf die rührendste Weise verbildlicht: "La jeune mamelle pres de la barbe blanche, il n'est point de spectacle plus sacre. "\7 Die Erlösung des Vaters schenkt der Tochter die Rolle einer Mutter ("Ah! il est enfant, ce vieillard. Eh bien! illui faut une mere. Sa fille parait·) - ein 16 Sh.lt~~.T~ Historie" - G~,,~sis .."d Gtlt .."g. Konstanz 1988, S. 22. 17 Victor Hugo, WJli4m Sh.lttspt.rt. L'(Euvrt camplete, Bd. 43, Paris 1979, S. 288ff.
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kühnes Paradoxon, der künftigen Psychoanalyse anheimgestellt, das Hugo aber auch erlaubt, den tödlichen Ausgang in ein versöhnliches Licht zu rücken: Wen die Götter lieben, den lassen sie das Entschwinden des Engels nicht überleben (,,0 Dieux, ceux que vous aimez, vous ne les laissez pas survivre", S. 290). Man mag das bärtige Greisenhaupt an der jungen Brust der Tochter belächeln. Es evoziert gleichwohl ein Urbild der Archäologie des 19. Jahrhunderts, dem sich ein anderes, gleich mächtiges an die Seite stellen ließe, Turgenjews König der Steppe ein riesenhafter russischer Lear, der in einem grandiosen Akt letzter Verzweiflung mit blutenden Händen das Dach seines eigenen, den schändlichen Töchtern vererbten Hauses zerstört. Bei Grabbe, dessen ausgezeichnete Kritik die deutsche Shakespear-Manie durchaus verdient hat, fällt einmal der Satz: "Despotie in der Kunst ist noch unerträglicher als im Leben" (S. 227). Man ist versucht, ihn auf das Kunstrichterturn zu erweitern, liest man Tolstois Studie von 1906, in der er seine "vollständige Mißbilligung für diese allgemeine Vergötterung" gegen die westliche Bildung insgesamt gerichtet hat. Sein Verdikt wird auf eine vorgeblich unparteiische Inhaltsangabe des King Lear gestützt, die von der Neigung zum Obszönen über die Unnatürlichkeit der Charaktere (aus denen immer nur der Autor selbst spreche) bis zu den unpassenden Unterhaltungen zwischen König und Narr fast nur Gemeinplätze der klassizistischen Kritik wiederholt. Es sei hier nur ein Beispiel herausgegriffen: Am Schluß trete Lear auf und trage "die tote Cordelia auf den Armen, obgleich er mehr als achtzig Jahr alt und krank ist ... Lear fleht, noch immer in Raserei, man möge einen seiner Knöpfe öffnen ... Er dankt für die Erfüllung seines Wunsches, bittet alle, auf irgend etwas zu schauen und stirbt".'8 "Pray you, undo this button" 0/, iii, 309) hätte indes gerade Tolstoi als eines jener quereinschießenden, konkreten Details würdigen können, an denen er dereinst das Verfahren der Verfremdung aufgedeckt hatte. Sein zur Schau gestelltes Unverständnis erklärt sich aus seiner Parteinahme gegen alles Ästhetische, mit dem zugleich er seine früheren theatralischen Stücke verdammte. Kunst sei nur als eine Lebensansicht erlaubt, "welche mit dem höchsten religiösen Verständnis einer gegebenen Zeit harmoniert" (S. 92). Der Beifall Bernard Shaws mußte diese von ihm schwerlich geteilte Ansicht in das Argument verkehren, daß alle Fähigkeiten Shakespeares "mit seinem absurden Ruf als Denker stehen und fallen" (ebd., S. 148). Tolstois These über Shakespeares Wir18 Shaltespeare: Eine kritische StNdie !.Ion Leo Tolstoi. Hannover 1906, S. 37.
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kung: seine Dramen "stimmten mit dem unreligiösen und unmoralischen Seelenzustand der oberen Klassen seiner und unserer Zeit überein ", verwirft die "Lehre von der sogenannten objektiven, d. h. einer für Gut und Böse gleichgültigen Kunst" (S. 97). Tolstoi bezog damit den Standpunkt einer Anti-Moderne, für die Gundolf umgekehrt gerade Shakespeare zum Paradigma ernennen wollte. Diese Absicht folgte dem Trend einer visionären - gegen Demokratie, Sozialismus und Rationalismus gerichteten - Geisteswissenschaft; sie war nur durch eine kongeniale Nachdichtung zu erreichen, die das "Erlebnis" zu fassen suchte, das Shakespeare "zum Leidgenossen Lears" machte (11,383).19 Gundolfs monumentalische Deutung sucht zu ergründen, was sich aller Wissenschaft der Interpretation entzog: das "Geheimnis, daß der leidvollste Mensch den Leib der Allmacht trägt" (11,393). Es sei dies der tiefste Grund der Schöpfung King Lears, jenes Dramas, das "durch die Eintracht von Weltschöpfung und Weltuntergang, durch den Zusammenschluß der mythischen Ursprünge mit der abgefeimtesten Sozietät, der seherischen Menis mit dem künstlichsten Witz, dem Durchgreifen aller Stände, das eben damit ein Emporheben aller Säfte ist, dem Bilde, das die Menschheit seit Jahnausenden sich von Gott gemacht und Michelangelo am sinnfälligsten gestaltet, am nächsten ... wie denn auch Lear unwillkürlich sich mit den Zügen des Zebaoth oder des Odin aufdrängt" (ebd.). Wem es bei dieser Gottähnlichkeit nicht bange wird, der mag versuchen, dem Verfahren auf die Spur zu kommen, durch das Gundolf zur großen Schau gelangte, deren faszinierende Formeln auch wider Willen noch beeindrucken. Das zitierte Schlußwort ist die letzte einer Reihe von Substitutionen. Die Vorlagen des Stücks werden als ein bloßes "Gemenge von zugleich widrigen und nichtigen Fabeln" (299), die Beziehung von Stoff und Gehalt als "bloßer Zufall von Vorwand und Vorlage" abgetan, weil der "Geheimsinn des Weltverderbs und seiner Gerechtigkeit" alle Theaterhandlung übersteige (299). Desgleichen verlieren in der Verzauberung des Stoffs zur "Form der gesichtigen Feier" (300) die Personen um Lear und vorab das Motiv des Undanks der Töchter ihr dramatisches Eigenrecht. Die mythisierende Sicht läßt angesichts der Übergröße und "Strahlung" Lears selbst noch seine Königs- und Vaterrolle - und mit ihr die dramatis personae, deren Charaktere sich an ihm brechen - mehr und mehr vergessen und "jenseits der Menschensicht" an die Stelle der dramati-
19 F. Gundolf. Shakespeare - Wesen "nd Werk. Berlin 1928.
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schen Handlung allein noch "die Wahrnehmung der Mächte" treten, "wovon das Menschliche nur Spiel und Gleichnis ist" (299). Lears Größe und Schwäche wird emporgesteigert zur "Allmacht des Allleidens und All-sehens" (320), sein Wahnsinn als Weg einer Erleuchtung harmonisiert, auf dem ihm im Dialog mit den Mächten, "im Getobe brüderlicher Stürme" (331), letztlich eine "Offenbarung von den Schöpfungsgründen her" (315) zuteil werden soll. Die erste und letzte Substitution in Gundolfs "Lear-Mysterium" (300) ist, dem Geschöpf der Dichtung seinen Schöpfer zu substituieren, den Dichter "zu einem selbst den Kräften überlegenen, eingeweihten Gott zu machen" (384). Was die "kläglichen Abstraktionen von Furcht und Mitleid" nicht mehr zu erklären vermöchten, erklärt bis hin zu dem skandalösen Schluß allein die Seele Shakespeares : "Der allzerschmetternde Schluß ( ... ) war eine Forderung von Shakespeares Seele, kein szenisches Bedürfnis (... ) und nur ein pathetisches Zeitalter mit dem stärksten Mut zur Vernichtung selbst, nur ein heroisch gesinntes Geschlecht konnte solche Gesichte ertragen" (1918, S. 22). Fügen wir hinzu: aber auch nur ein eingeweihter Deuter konnte das "menschlich nicht faßbare, kaum deutbare Walten der Mächte ( ... ) woraus die Lear-Tragödie ihr Pathos zieht" (367), so insgeheim verstehen. Was Wunder, wenn ihm die nicht eingeweihten, zu spät gekommenen Interpreten nicht gefolgt sind ... Die Kritik an der monumentalischen Shakespeare-Deutung hat im 20. Jahrhundert eine Fülle antiquarischer und werkimmanenter Interpretationen hervorgebracht. Sie fallen in die Phase der neueren Shakespeare-Philologie, die hier nicht eigens gewürdigt, sondern erst dort aufgenommen werden kann, wo sie über den akademischen Bezirk hinausreichte, ein Echo in der ästhetischen Praxis fand oder von dieser - wie in der Zeit des Regietheaters - inspiriert wurde. Doch sei kurz erläutert, welche Art von Fragen die philologische Forschung hinterließ. Als Beispiel kann das Verhalten Cordelias in der Eingangsszene dienen. Es wirft die Frage nach ihrem tieferen Motiv auf, an der sich das Textverständnis insgesamt scheidet. 20 Bradley's Interpretation, die den wertvollen Nachweis führt, daß alle Inkonsistenzen des Stücks verschwinden, wenn der Betrachter zum Leser wird, läßt Cordelias "dumbness of love" unerhellt. Ihre Rede sei verunglückt, Lears Gegenrede: "Let pride, which she calls plainness, marry her" (I, 1, 129) wiederum höchst ungerecht, doch habe Cordelia ja auch 20 John F. Danby. ShaJtts~are's Doctrine o{ Nature. London 1949, S. 114: .. To understand Cordelia is to understand the whole playa .
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nichts über "plainness· gesagt.21 Was aber mag "plainness· dereinst bedeutet haben, wenn das Mißverständnis von Vater und Tochter darin beschlossen war? Konnte es nicht darin liegen - füge ich hinzu -, daß Cordelia eine moralische Norm antizipien, die das feudale Zeitalter noch nicht kannte, weil sie sich erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts in England durchzusetzen begann: die Norm der Aufrichtigkeit? Dabei wäre an Lionel Trilling's "Sincerity and Authenticity· (1974) zu erinnern, der seine These mit den Poloniusversen: "This above all: to thine own self be true / And it does follow, as the night the day, / Thou canst not then be false to any man· eingeführt und später auch schon am Beispiel von Cordelia, Kent, dem Narren und Comwalls revoltierendem Diener ("a blessed hierarchy of English plain speakers·, S. 23) erläuten hat. Die "plainness· der jüngsten Tochter, die vom königlichen Vater noch nicht erwiden werden kann, weil sie im alten Zeremoniell unverstanden bleiben mußte, wäre dann ein Wagnis von der An, das noch zwei Jahrhundene später, in Goethes Iphigenie, als eine "unerhöne Tat· angesehen wurde, nun aber im Risiko des Venrauens auf das aufrichtige Won den dramatischen Konflikt zu lösen vermochte. Das offenbar erst für den modemen Leser Befremdliche im Charakter Cordelias hat Bradley eher beseitigt als erklärt. Das gilt auch für Danby, dessen These das Verdienst hat, die in King Lear repräsentienen Naturauffassungen (Bacon und Hooker vs. Hobbes) seiner Epoche aufgezeigt zu haben. Danby bestreitet den "kleinen Fehltritt·, von dem Swinburne sagte, daß er nurmehr dazu diene, Cordelia vor Vollkommenheit zu bewahren. Sie verkörpere - wie schon im moralisch eindeutigen Märchen - das Ideal der Tradition einer "natürlichen Theologie- und weise vor auf eine "community of goodness in which Lear's regeneration and Cordeliats truth might be completed: a Utopia and a New Jerusalem"Zl. Doch eine Läuterung Lears durch Cordelia, gestützt auf den beiläufigen Vers: "who redeems nature from the general curse" (IV, 4, 207), ist von philologischer Kritik mit triftigen Gründen bestritten worden. So schon von Schücking, der feme Märchenquellen heranzog, don schon Jähzorn als Grundzug des greisen Königs und Vaters vorfand und sein Schicksal als "Geschichte einer Zerrüttung" interpretiene - "einer Zersetzung, die die wundervollsten, packendsten Erscheinungen zutage treten läßt, so wie sich das absterbende Laub gerade am allerschönsten färbt". 2la 21 A.C. 8radley, Sh.Jeespearta" TrageJy. London 1904 (1964). 22 Danby. a.a.O., S. 202. 22a L. L. Schücking. D~ Char.Jettrprobleme be; Shakes~.ret Leipzig 1919, S. 206.
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Die" Wunderlichkeit der Eingangsszene" fällt aus dieser (für einmal ästhetischen!) Deutung heraus. Offenbar ist uns hier - wie Schücking auch zur Komik im Tragischen bemerkt - der Schlüssel des Verstehens verlorengegangen, den das erste Publikum besaß. Ihn zu rekonstruieren liegt Schücking noch so fern wie aller rein antiquarischen oder werkimmanenten Interpretation. Die keineswegs so neue Einsicht, daß gerade dort, wo unser Verstehen auf Befremdliches stößt, die eigentliche Aufgabe der Hermeneutik beginnt, haben sich erst wieder Autoren und Kritiker der jüngsten Rezeptionsgeschichte zu eigen gemacht. VII. Das Paradigma der produktiven Rezeption als Vorreiter der Postmoderne Seit der Mine der sechziger Jahre setzt in der Praxis des Theaters eine Entwicklung ein, die auf dem Feld der Shakespeare-Forschung einen Paradigmen wechsel nach sich zog.21 Es ist die Erscheinung des in Deutschland sogenannten Regietheaters, das sein englisches Seitenstück in einer provokativen Wiederverarbeitung Shakespeares hat. "Aus alt mach neu· war immer schon die Devise einer guten Regie und der im vermeintlichen "Nachleben der Antike" wirksame Ehrgeiz von Autoren der Moderne. Nun aber werden die Horizonte von Alt und Neu nicht länger in der Kontinuität kultureller Tradition verschmolzen, sondern gerade in ihrer Zeitenferne voneinander abgehoben, durch ein Verfahren verjüngender Rezeption, die ihre wechselseitige Fremdheit zutage bringt und zum dramatischen Agens macht. Auf diesen gemeinsamen Nenner läßt sich bringen, was erst eigentlich den Namen "postmodernes Theater" verdient, in Deutschland bei Zadek und Stein, bei Hildesheimers Mary Stuart und Plenzdorfs Neuen Leiden des jungen Wo, in England bei Charles Marowitz und Robert Wilson, bei Tom Stoppards RosenCTantz and Guildenstern Are Dead und Eward Bonds Lear. Hier wie don wird die historische Distanz zwischen dem klassischen Text und der Gegenwart seiner Aufführung eigens in die Inszenierung einbezogen, die Vermittlung ihrer Horizonte dem Publikum selbst zur Reflexion aufgegeben. Die Erwartung der ShakespeareGemeinde wird dadurch schockien, daß solche Stücke das Tabu des nicht anrührbaren Wortlauts und der unveränderlichen Gestalt des
23 Dazu eingehender Kap. 13.
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klassischen Werks durchbrechen, daß sie den venrauten Horizont des zeitlos klassischen Werks nunnehr in Zitaten und Bruchstücken aufrufen, um die Feme und Fremdheit einer vergangenen Welt ansichtig zu machen und ineins damit das Selbstverständnis der gegenwänigen Zeit in Frage zu stellen. So zerbricht zum Beispiel Stoppard mit Rosencrantz and Guildenstern Are Dead von 1966 die sakrosankte Ganzheit eines klassischen Werks, indem er Hamlet aus der Sicht zweier Rand- und Spottfiguren wieder aufnimmt, die elisabethanische Tragödie mit dem Modell von Becketts Waiting for Godot von 1953 verschränkt und die beiden Texte in ein Spiegelverhältnis bringt. Eine schon abgeschiedene Klassik erweist sich unerwanet als höchst modern, wobei das postmoderne Theater in zwei extreme Einstellungen führen kann: die optimistische einer Sinnentlastung im Genuß des reinen "Spiels der Signifikanten" oder die pessimistische einer Destruktion aller Sinn verheißung. So stehen sich in der neu gewonnenen Freiheit der Verfügung über alle kanonisiene Tradition bei Stoppard die humorvolle Auflösung ihrer Autorität, bei Eward Bond oder Heiner Müller der in bitterem Ernst gegen sie erhobene Protest gegenüber. 24 Die gegenwärtige Gesellschaft nimmt Shakespeare auf eine falsche Weise auf, bemerkt Bond in seinen Arbeitsnotizen. zs Sie verkennt das Potential des Protestes gegen autoritäre Herrschaft und die sie legitimierende moralische Konvention. Wer King Lear für uns wieder relevant machen will, muß auf den "renaissance preacher addressing himself to Gods (who) teils all the lies", mithin auf Lear im Stunn auf der Heide, auf die dreigestaltige Narrheit, aber auch schon auf den Konflikt von Erbteilung und Undank der Töchter verzichten. Er darf Lear nicht heroisch als Opfer eines Verhängnisses verklären. Er wird darum nicht erst bei seinem Abschied vom Leben eines Herrschers einsetzen, sondern dieses selbst in der Willkür seines Regiments zeigen und das Drama mit einer Figur enden lassen, die in einer zeichensetzenden Handlung stirbt. Kurzum: Bond will das alte Sujet wieder aufnehmen, doch nicht als dessen Kommentar, Kritik oder Korrektur, sondern in eigener Struktur, um zu zeigen, was uns ein moderner Lear lehren könnte. Gleichwohl setzt Bonds Lear zum vollen Verständnis die Erinnerung an seinen Vorgänger, mithin eine ständig zu leistende Horizont24 Edward Bond. L~.r. DeutSCh von Chrisuan Enzensherger. Frankfun 1973. Zu Heiner Müllen H.",ktmllJCbin~ s. u. S. l .... f. 2S Nach Maleolm HaylPhilip Rohem. Bo"d - A St"d, 0/ his PI.,s. London 1980. S. 10l ff.
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abhebung voraus. Dafür ein Beispiel aus vielen. Anstelle von Gloucesters Blendung läßt Lears Tochter Bodice dem Lord Warrington die Zunge herausschneiden. Damit löst das Grundmouv von Reden und Schweigen, Gehorsam und Ungehorsam, das Grundmotiv von Sehen und Nichtsehen, Einsicht und Verblendung, ab, das im alten Text dominierte. Wenn dann gegen Ende der Geist des Totengräbersohns zu Lear sagt: "Leg dich hin ( ... ) Morgen kommt Cordelia, dann kannst du ihr sagen, daß du jetzt endlich weißt, wie man schweigt" (S. 115), wird die intertextuelle Beziehung explizit. Lear, der in der Abgeschiedenheit des Totengräberhauses erfahren soll: "So ist die Welt, in der du leben lernen mußt" (S. 114), könnte nunmehr verstehen, warum seine Tochter dereinst schweigen mußte und damit doch etwas sagen konnte. Doch solche Einsicht kommt in Bonds Stück zu spät: Cordelia ist hier nicht mehr seine leibliche Tochter, sondern eine junge Frau, die sich nach ihrer Schändung entschließt, den Aufstand gegen das alte Regime zu leiten. Sie ist es auch, die Lear schließlich verkündet, daß ihn die neue Regierung vor Gericht stellen will: "Es kann nur ein Urteil geben. Deine Töchter sind getötet worden. Und es ist klar, daß eigentlich kein Unterschied zwischen dir und ihnen ist" (S. 117). Der alte, feudale Konflikt zwischen Vater und Töchtern ist abgetan. Sofern beide Parteien an derselben Gewalt teilhatten, um ,Lawand Order' - sei es durch Repression, sei es durch Aggression - durchzusetzen, besteht kein relevanter Unterschied zwischen Lear und seinen Töchtern mehr. Der Konflikt, aus dem eine neue Gesellschaft hervorgehen kann, setzt Gerechtigkeit gegen Gewalt, die stets nur noch mehr Gewalt provoziert, wie gegen gesellschaftliche Moral, die nicht der Befreiung der menschlichen Natur, sondern letztlich wieder ihrer Unterdrückung dient. Dies ist dem letzten Dialog zwischen Lear und Cordelia zu entnehmen (S. 117ff.), in dem Bonds Lear einem Brechtschen Lehrstück am nächsten kommt. Cordelia will Lear den Mund verbieten, damit er das Projekt der Revolution, ein neues Leben zu schaffen, nicht gefährde. Doch der König muß reden, um nur Eines zu sagen: "LEAR: ,Baut die Mauer nicht weiter.' CORDELIA: ,Wir müssen.' LEAR: ,Dann ist alles wie früher! Eine Revolution muß wenigstens etwas ändern!' CORDELIA: ,Alles ANDERE hat sich geändert!' LEAR: ,Nicht wenn ihr die Mauer stehen laßt! Reißt sie ab!' CORDELIA: ,Dann werden wir von unseren Feinden angegriffen. ,. Dasselbe Argument hatte Lear in der Eingangsszene auch schon gebracht; inzwischen hat er gelernt, daß eine von Mauem umhegte Existenz Freiheit ausschließt. Die Mauer, das unsichtbare, erst am Ende vor Augen tretende Zentralsymbol des Stücks, steht für die Gewalt von
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"Lawand Order,". Gerechtigkeit verträgt indes keine Eingrenzung. Die Ummauerung wird die Revolution wieder zunichte machen, denn: "Euer Gesetz ist immer schädlicher als das Verbrechen, und eure Moral ist eine Form der Gewalt. " Was Lear in Erwartung seines Todes noch zu tun bleibt, ist, eine Schaufel zu ergreifen - "aber für ein Zeichen reichts noch" - und damit zu beginnen, die Mauer abzutragen. So endet Bonds Lehrstück, zu dem er sagte: "Ich schreibe über Gewalt ebenso selbstverständlich, wie Jane Austen über Sitten geschrieben hat. Unsere Gesellschaft ist von Gewalt besessen und geformt, und wenn wir nicht aufhören, gewalttätig zu sein, haben wir keine Zukunft. " (Nachwort, S. 125). VIII. Paradigmen der Shakespeare-Forschung im letzten Jahrzehnt Wie von Edward Bonds Lear könnte auch von der Shakespeare-Forschung des im letzten Jahrzehnt hervorgetretenen New Historicism und CuLturaL MateriaLism gesagt werden, daß hier ebenso selbstverständlich über Gewalt geschrieben wurde wie zuvor in der Ära einer idealistischen Ästhetik über Wesen und Ideale des Menschen und über die Autonomie großer Dichtung. Gleichfalls verabschiedet wurde mit den neuen Paradigmen die Erwartung, daß das Shakespeare-Theater geradezu als Spiegel der Ideen seiner Zeit zu verstehen sei. Der spätere Begriff des autonomen Werks habe den Blick darauf verstellt, welche politische Brisanz das Ästhetische in Shakespeares RadicaL Tragedy gewinnen konnte. 26 Der neue Zugang erfordere eine Hermeneutik der "Otherness", ein Verstehen gegen den Strich der kanonisierten Tradition offizieller Kultur, die Rekonstruktion dessen, was im Dialog der Zeiten durch Diskurse der Macht verdrängt wurde. "Otherness" meint dabei nicht allein, was sich der Herrschaft einer sozialen Ordnung nicht fügte, an ihren Rand gedrängt wurde und darum am ehesten aus unkanonischen Quellen erschlossen werden kann. "Otherness" meint auch den Teufelskreis der repressiven Toleranz: daß die Subversion marginaler Kulturen sich selbst immer wieder entfremdet wurde, nicht ahnend, daß es immer schon die List ideologischer Herrschaft war, ständig und gnadenlos Opposition zu produzieren, um sie hinterrücks wieder zu vereinnahmen. Historische und kulturelle Prozesse bleiben dem Dreischritt von Selbsterhaltung, Subversion und Reintegration (consolidation, subversion, 26 John Dollimore. Radica/ Tragedy. Brighton 1984. Im F. nehme ich Formulierungen aus Kap. 12 wieder auf.
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containment) unterworfen. Also sei es an der Zeit, auch Shakespeare im Lichte eines erneuerten kulturellen Marxismus zu interpretieren. Es ist vollauf anzuerkennen, daß das Paradigma der "Otherness" (die feministische Variante einbegriffen) einen neuen Reichtum an Deutungen erbracht hat. Demgegenüber ist aber auch der amerikanischen Kritik in dem Punkte beizupflichten, daß der Zugang des New Historicism nicht selten" with a sense of the almost inevitable defeat of the poor, the innocent, and the oppressed" endigte. Auf diese Weise verfiel er derselben Logik der Inversion wie Foucault, der in seiner Theorie der anonymen Diskurse der Macht den ideologiekritischen Verdacht verabsolutierte und nolens volens seinen ursprünglich antiautoritären Ansatz in ein totalitäres Modell verkehrte. Die jeweils herrschende Kultur definiert nicht das Ganze der Kultur; ideologische Herrschaft vermag subversive Stimmen zwar in die "Otherness" abzuschieben, nicht aber das von Haus aus grenzüberschreitende Vermögen der Fiktion aufzuhalten, das der volkstümlichen und der hohen Literatur gleichermaßen zu Gebote steht. Darum konnte Robert Weimann zu Recht der autoritativen, an sich selbst theatralischen Macht der Repräsentation in der elisabethanischen Ära die stille und subversive Gewalt entgegensetzen, die der komischen wie der tragischen Mimesis inhärent ist. Seine Lear- Interpretation baut auf seiner früheren These auf, die gegen die idealistische Deutung, die Shakespeare um das festliche, närrische, anachronistische und verkehrende Element seines Theaters verkürzt hatte, wieder den Anteil des Folk-Dramas zur Geltung brachte. In King Lear ist das typische topsy-turvy-Muster des Folk-Dramas nicht nur in der Narrenfigur präsent, sondern auch für die hohe Tragödie der Repräsentation sinntragend : "Der Titelheld selbst streift sich die königlichen Stiefel ab. Lear selbst folgt einem gleichsam utopischen Gebot; barfüßig nimmt er die Bürde der Buße und Läuterung auf sich, die der für Cokaygne geforderten ful grete penance durchaus vergleichbar ist. "27 Die Autoritätskrise der Zeit, die in diesem Schauspiel einen Höhepunkt erreicht, ist zugleich eine Krise der Repräsentation, der Geltung sozialer Zeichen, und zwar nicht allein für den König, der Stiefel, Talar und Pelz ablegt, sondern auch für Cordelia, die es nicht vermag, "die Zeichen wirklicher Liebe ... mit dem Zeremoniell der Macht zu vermischen" (5. 208). Ein Bruch zwischen dem Akt des Repräsentierens und der Welt des Repräsentierten wird offenkundig: von nun an stehen die alten Insignien der Macht "einer
27 Weimann (wie Anm. 9), S. 88.
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neuen Macht und Bedeutungskraft inoffiziell angeeigneter Zeichen gegenüber" (S. 22). Gegen das klerikale Monopol und das humanistisch-gelehrte Privileg des Lesens und Schreibens ennöglichen Refonnation und Erfindung der Druckerpresse eine neue Autorität des Schreibens, die den Diskurs der Shakespeareschen Figuren vom Zwang zur Repräsentation und aus den Konventionen der herrschenden Moral zu befreien beginnt. Die kritische Leistung des anglo-amerikanischen New Historicism erscheint mir vorläufig noch stärker als seine eigenen Deutungsansätze. Ich kann hier nur Arbeiten von Jonathan Dollimore und Stephen Greenblatt herausgreifen. Dollimore hat mit den Vorgaben der Paradigmen humanistischer, christlicher und existentieller Interpretation gründlich aufgeräumt: Dort werde das Leiden zur Läuterung oder Erlösung mystifiziert und der Mensch mit einer quasitranszendenten Identität ausgestattet, wovon im Text selbst nichts belegbar sei. Die vermeintlich intimen Familienbindungen blieben stets von der Ideologie der Besitzverhältnisse bedingt, eine Wandlung König Lears zum Mitleid mit der menschlichen Kreatur fraglich, weil daraus keine Gerechtigkeit hervorgehe ("Justice, we might say, is too important to be trusted to pity", S. 192). Lears Verzweiflung auf der Heide zeige keine Selbsteinkehr, sondern nunnehr den Prozeß, wie der Mensch von allen stoischen, humanistischen und christlichen Gründen der Selbstrechtfertigung entblößt werde. Der Ausgang des Stücks schließlich sei pessimistisch, ein "refusal of closure", da er verweigere, den Menschen als ein im Tod sich vollendendes, tragisches Wesen zu begreifen. Kurzum: King Lear im anderen Horizont seiner Zeit sei "above all, a play about power, property, and inheritance" (S. 197). Greenblatt hat die Prämissen eines kulturellen Materialismus durch seine Theorie der Zirkulation sozialer Energie vertieft. Danach steht das literarische Leben stets in der Interaktion mit allen anderen Sphären einer Lebenswelt, im wechselseitigen Tausch von materiellen wie symbolischen Produkten, welcher nur noch aus Spuren und aus den unterdrückten "Stimmen der Toten" rekonstruiert werden kann. 28 Solche Stimmen sind Stimmen eines kollektiven Bewußtseins, also kein privater Besitz. Ihren fremden Diskurs zu rekonstruieren erfordert .,a sense of estrangement", eine Hermeneutik der Alterität, die das Individuum selbst wie auch die mimetische Tätigkeit als Produkt eines kollektiven Austauschs versteht. Fern davon, 28 Stephen Greenblatt: Shakespearean Negoti4tions. The CiTClllation ofSocUJ En"l] in Renaissance England. Oxford 1988, Kap. 4. S. dazu im einzelnen Kap. 12.
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nur abbildend zu sein, erscheint Mimesis stets von Austausch und Handel begleitet, wenn nicht gar daraus hervorgebracht (S. 12). Im Falle des King Lear kann Greenblatt erweisen, daß Shakespeare hier die charismatische Praxis des Exorzismus, die nach dem Zeugnis Harsnetts von der offiziellen Kirche verworfen wurde, auf die Bühne gebracht hat. Damit gelingt ihm eine schlüssige Erklärung der befremdlichen Rolle Edgars ("an experience of awe and wonder"), seiner Maskierung wie auch der Heilung seines Vaters in der Szene von Dover ("a disenchanted analysis of both religious and theatralic illusions", S. 118). Der Wahnsinn des Königs selbst hat nichts Übernatürliches, sondern entspringt der Heimsuchung durch Rituale und Obsessionen einer "hysterica passio" im Sinne Harsnetts, die Shakespeare aufgriff, um sie ihres Sinnes zu entleeren. Damit stellt sich die Frage: "But if false religion is theater, and if the difference between false and true religion is the presence of theater, wh at happens when this difference is enacted in the theater?" (S. 126). Die offizielle Einstellung wird - in der Art eines Brechtschen Verfremdungseffekts sinnentleert, und zwar gerade auch da, wo sie scheinbar loyal bestätigt wird. Shakespeare begnügt sich nicht damit, ein betrügerisches Ritual wie ein Großinquisitor zu entlarven. Er schreibt zum höheren Ruhm des Theaters, einer Institution, die selbst den Raum erzeugt, in dem es die Herrschaft der Zeit, in der es entstand, überdauert. Und wenn eine spätere Kultur seinen King Lear noch bewundern kann, ein Stück, das soviel Leiden und Exorzismus zur Schau stellt, so wohl auch darum, weil es unser Bedürfnis nach magischen Zeremonien befriedigt, die uns faszinieren, auch wenn wir nicht mehr an sie glauben.
IX. Ein neuer Zugang: "The Avoidance of Love" In ganz anderer Fragerichtung hat Stanley Cavell in seinem Shakespeare-Buch von 1987 eine Lear- Interpretation vorgelegt, mit der ich schließen möchte, weil ich sie besonders schätze und ihr wünsche, daß sie eine neue Phase der Rezeptionsgeschichte eröffnen möge. CaveUs Intention wird noch nicht gerecht, wer seine Rückwendung zu Shakespeares Charakteren als eine Rückkehr zum Verständnis der Romantik ansieht. 29 Cavells Titel: Disowning Knowledge setzt viel29 Stanley CaveU. Disowning Knowltdgt - In Six Plays 0/ Shaktsptart. Cambridge 1987: dazu Gerald L. Bruns•• Stanley CaveU's Shakespeare" in: Crilicallnquiry 16 /1990) S. 612-632.
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mehr den Rückgang von "knowledge" zu "acknowledgment", mithin Hegels Begriff des Sich-Anerkennens voraus - einen Prozeß, der das selbstgewisse Subjekt aus dem Vorgewußten in den Modus des Antwortens und Sich-Verantwortens bringt und damit den Konflikt der Personen in die Dialektik wechselseitiger Anerkennung stellt. Danach erscheint der Konflikt Lears gleich in der Eingangsszene als ein Konflikt der "Avoidance of Love", als ein Sich-Wehren, vom andern erkannt zu werden ("to avoid being recognized "). An die Stelle von autoritärer Hybris und Kindesundank trin das verdeckte Grundrnotiv: "For some spirits to be loved knowing you cannot return that love is the most radical of tortures" (S. 46/61). Der Schlüssel für Lears seltsames Verhalten ist nicht Zorn, sondern Scham, die Furcht davor, sich von den andern erkennen zu lassen ("his terror of being loved, of needing love", S. 62). Der Wahnsinn Lears entspringt nicht seinem Zorn, sondern daraus, daß die Scham seinen Zorn gegen das falsche Objekt kehrte. Der Schlüssel für Cordelias "Nothing" ist, daß sie sich dem Handel von purer Macht und falscher Liebe ("trading power for love, pure power for mixed love", S. 68) verweigern muß und ihre reine Liebe nicht öffentlich eingestehen kann, ohne mißverstanden zu werden. Cavells Paradigma vermag eine ganze Reihe von Schwierigkeiten der Lear-Interpretation neu zu lösen, wie hier nicht mehr referiert werden kann. Ich greife nur die Frage heraus, ob und wie Gloucesters Blendung dramatisch zu rechtfertigen ist. Cavell kann hier an P.]. Alpers anknüpfen, der nachwies, daß die gängige Meinung, G loucester lerne in seiner Blindheit allererst sehen, aus dem Text nicht belegbar ist. Wenn aber erst ein modernes Verständnis erwarten läßt, daß "sight" zu "insight", zur Erkenntnis moralischer Wahrheit führe, die ein verblendetes Sehen verkannte, muß auch ein anderer Sinn für die Blendungsszene gesucht werden. Cavell sieht ihn darin, daß Gloucester das Gleiche als Strafe erleide, was er dem illegitimen Sohn antat: ihn nicht als Sohn anzusehen ("In his respectability, he avoided eyes; when respectability falls away and the disreputable comes into the power, his eyes are avoided", S. 49). Daraus folge, daß Edmunds Maskerade den Vater ein weiteres Mal seiner Augen beraube, aber auch, daß eben darum, weil Gloucester blind ist, Lear es zuerst von ihm hinnehme, erkannt zu werden. Die Frage, warum Cordelia sterben muß, löst Cavell damit, daß auch der Schluß, wie schon die Eingangsszene, unter dem Dilemma der "avoidance of love" stehe: "again Lear abdicates and again Cordelia loves and is silent" (5. 68). Zwar habe Lear inzwischen die Liebe seiner Tochter erfahren; doch daß er mit ihr ins Gefängnis
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gehe, zeigt nur, daß er für ihrer beider Liebe keinen anderen Raum sehe, mithin ihre Relevanz für die Welt leugne: "Because we are hidden together we can love" (5. 69). Liebe und Tod sind für Lear unabdingbar verschwisten. Und wenn er, die tote Tochter auf den Armen, zu spät erkennt: "I might have saved her" (V, 3, 270), spricht aus seinen Wonen wiederum nicht Schuld, sondern die Scham, ihrer Liebe zu bedürfen, ohne ihr gewachsen zu sein: "His need, or his interpretation of his need, becomes her sentence. This is, what is unbearable. Or bearable only out of the capacity of Cordelia. If we are to weep her fonune we must take her eyes" (5. 73). Wenn ich Cavells Deutung als paradigmatisch auszeichnen darf, denke ich auch an ihre historische Zuordnung und an ihr Verfahren. Der geistesgeschichtliche On, auf den sie bezogen wird, ist die mit Descanes einsetzende Wende zum Skeptizismus der Moderne: "To overcome knowing is a task Lear shares with Othello and Macbeth and Hamlet" (5. 96). Was diese Stücke zu philosophischen Dramen mache, sei der Gegendiskurs zum canesianischen Zweifel: sie stellen das Wissen des seiner selbst gewissen Bewußtseins in Frage, sofern sie von einer Unwissenheit handeln, die durch Information nicht behoben werden kann: "h is the thing we do not know that can save usa (5. 96). Descanes' methodischer Zweifel könne zwar die Existenz Gottes oder der Welt beweisen, nicht aber die Existenz des Mitmenschen. Cavells Kritik am Begriff des Wissenkönnens im Zeichen von Herrschaft hat Konsequenzen für seine Hermeneutik der Interpretation. Sie forden, den Rückgang vom Erkennen zum SichAnerkennen auch im Verstehen von Charakteren zu vollziehen: "The presentness of other minds is not to be known, but to be acknowledged" (5. 95). Gegen alle offen oder uneingestanden allegorische Lektüre (,the words do not mean what they saye) forden Cavell wieder den Vorrang des im Text kontinuierlich Gegenwänigen, mithin ein Sich-Einlassen auf die paradoxe Situation einer Tragödie, die uns mit Furcht und Mitleid erfüllt, obschon wir wissen, daß sie fiktiv ist. Sich auf ihre Charaktere einzulassen, die uns zwar nicht wahrnehmen, aber gleichwohl unser vorgegebenes Wissen erschüttern und unsere Antwon herausfordern können, stiftet eine dem Theater eigene Verantwonung: "Tragedy shows that we are responsible for the death of others even when we have not murdered thema (5. 103). Kraft dieser nur vermeintlich naiven Einstellung nämlich vermag ein Stück wie King Lear im Horizont des Spiels Bedingungen zu vergegenwärtigen, die zugleich unsere Existenz jenseits der Bühne betreffen: Bedingungen von Verborgenheit t Schweigen, Isolation, deren Erhellung den vollen Sinn mitmenschlicher Existenz
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restituiert: "We must learn to reveal ourselves, to allow ourselves to be seen" (S. 104). Hier breche ich ab. Rezeptionsgeschichten können bekanntlich nur abgebrochen, nicht abgeschlossen werden. Was den Redner bei solchem Unternehmen zum Schweigen bringt, soll in meinem Fall nicht die obligate Berufung auf Goethes "Shakespeare und kein Ende" sein. Das Diktum ist ohnedies längst zur bequemen Ausflucht geworden. Und die Aufgabe der Rezeptionsgeschichte ist nicht die Pflege eines Nachruhms, der bei Shakespeare keiner Sorge bedarf. Ihre Aufgabe hat Heiner Müller, mein Vorgänger von 1989, auf die prägnanteste Formel gebracht: "Unsere Aufgabe, oder der Rest wird Statistik sein und eine Sache der Computer, ist die Arbeit an der Differenz. "')0
30 Heiner Müller, .Shakespeare eine Differenz·, in: Sh.k~s~.r~-J.hrbllch 125 (1989), S.23.
8. Ein Abschied von der Poesie der ErinnerungYves Bonnefoy: Ce qui fut sans lumiere PROLOG: DIE HINFÄLLIGKEIT DER "POEsiE DE LA MtMOIRE" IN DER MODERNE
"Comment vivre si I-on n-est pas al'origine?" (R, S. 125)\ Wer anders als Hölderlin könnte sich diese Frage gestellt haben, bei dem sie im Kontext des Briefes an Böhlendorf vom 4. Dezember 1801 ihren legitimen Ort fmden dürfte. Doch stammt sie von Yves Bonnefoy, aus Rue Traversiere (1977), und hat dort ein nicht geringeres Gewicht. Bewahrte die Frage nach dem verlorenen Ursprung und nach dem, was daraus für die Poesie der Moderne zu folgern sei, ihre Geltung seit der Zeit eines Autors, der sich an ihrem Anfang, bis zu einem Späteren, der sich an ihrem Ende sah, so war beider Antwort doch grundverschieden. Der Autor von "Andenken" und "Mnemosyne" suchte sie im Rückgang zur Quelle der Erinnerung; der Autor von Ce qui fut sans lumiere bestritt, daß Mnemosyne hinfort noch als "Mutter der Musen" gelten dürfe, und entwarf eine ,Poetik der Erde', die in der Gestalt seiner Lyrik einen deutschen Leser nicht selten umbesetzte Bildfelder der Hölderlinschen Hymnen wiedererkennen läßt (daß Bonnefoy seinen, Vorgänger' kannte, bezeugt ein Motto aus Hyperion, das sein zweiter Gedichtband Hier regnant d~sert trägt). Zwischen Hölderlin und Bonnefoy liegt eine Epoche moderner Dichtung, von der man zunächst annehmen möchte, daß in ihr nach dem klassischen Prinzip der Nachahmung und dem romantischen der freien Inspiration nunmehr Erinnerung als noch verbliebener Legitimationsgrund beansprucht worden wäre und Form wie Sinn von Dichtung geprägt hätte. Daß dem nicht so war, daß die "poesie de la memoire" im 19. Jahrhundert marginal oder trivial blieb und erst eigentlich von Marcel Proust ergründet wurde, 1 Aus dem Werk Y. Bonndoys werden im folgenden abgekürzt zitiert: Ponn~J. mit einem Vorwort von J. Starobinski. Paris 11982 (= P); u ""'g~ ro"gt - Esuis s"r La poltiq,,~. Paris 19n (= N); L·lmprob.bl~ tt ."trtJ tJ~. Paris 1980 (= I); Rtciu m ritlt, Paris 1987 (= R); Ct q"i I"t ..ns "'mint. Paris 1988 (= Cl; LA "bitt tk La ,.rolt. Paris 1988 (= V).
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dessen Roman der verlorenen und wiedergefundenen Zeit singulär geblieben ist, kann hier nur eben skizziert werden. Mit "verlorenem Ursprung" ist in Bonnefoys Frage die geschlossene Einheit des antiken Weltbilds gemeint, dessen Ganzheit seit dem Beginn der Neuzeit mit der Spaltung von theoretischer und ästhetischer Einstellung, von begrifflicher Sprache der Wissenschaft und sinnlich-konkreter Sprache der Poesie und Kunst, unwiederbringlich vergangen ist. Wie J. Starobinski zeigtez, setzt Bonnefoys Poetik die berühmte These von Joachim Ritter voraus, derzufolge die autonom gewordene Kunst die von der Philosophie preisgegebene kosmologische Funktion übernahm, das Ganze der Welt in ihrer sinnlichen Erscheinung, näherhin di~ sinnfremde äußere Natur als beseelte Landschaft, zu vergegenwärtigen . .zu dieser These ist hier ergänzend zu bemerken): die Wende in der Geschichte der ästhetischen Erfahrung vollzog sich um 1800 in dem Bewußtsein, daß die modeme Dichtung und Kunst das Ganz~ der Natur nicht mehr unmittelbar wie die Alten, in der Anfänglichkeit des Naiven finden, sondern nur noch - wie die verlorene Kindheit - in der Nachträglichkeit des Sentimentalischen erfahren könne. Doch wenn das Heile der antiken Welt und das Schöne ihrer Kunst, die von der sich etablierenden Philologie des Altertums hinfort historisch gesehen wurde, mithin nicht länger als Vorbild par excellence gelten konnte, nurmehr ein Schönes im Status des Vergangenseins war, konnte diese abgeschiedene Zeit dem modernen Empfinden dann nicht doch wieder im Medium der Erinnerung zurückgebracht werden? Mit dieser Einsicht in den Vergangenheitscharakter des für den Klassizismus seit jeher zeitlosen Schönen begann die romantische Entdeckung des aisthetischen Vermögens der Erinnerung - eine Wende, von der aus vielleicht auch die vieldiskutierte These von Hegels Ästhetik: daß "die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes (bleibt)"" in ein anderes Licht zu rücken wäre. Gleichwohl wird man nicht behaupten können, daß die moderne Mnemosyne (modern im Blick auf ihr aisthetisches Vermögen, das ihrer antiken Schwester noch nicht abverlangt wurde) zur Mutter der Musen des 19. Jahrhunderts avanciert wäre. Hölderlins Einsatz blieb - wie mir scheint - für die deutsche Tradition nicht weniger singulär wie der Prousts für die französische. Befreit man Hölderlin von der Überschattung durch Heideggers Deutung (dem "Gesetz des dich2 In seinem Vorwon zu Poemes (P, s. 9f.). 3 Ich führe hier weiter aus, was in ÄE, S. 152, in einer Fußnote verblieb. 4 Ästhetik, hg. F. Bassenge. Berlin 1955, S. 57.
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tenden Heimischwerdens im Eigenen aus der dichtenden Durchfahrt des Unheimischseins im Fremden"S), so erscheint Erinnerung bei Hölderlin gerade nicht als Weg der Rückkehr zum Ursprung, vom Eigenen über das Fremde zum heimisch Eigenen, sondern als Medium einer Vermittlung, die den entgegengesetzten Charakter des Eigenen und des Fremden, des Modernen und des Antiken, begreifen läßt und bewahrt. 6 Diese Dialektik des Eigenen und des Fremden, des Gegenwärtigen und des Vergangenen, gleichviel ob sie zum "freien Gebrauch des Eigenen" führen, ob sie die Möglichkeit einer kommenden, schöneren Zeit avisieren oder ob sie die unwiederbringliche Idylle der Frühzeit elegisch betrauern mag, unterscheidet die idealische Erinnerung Hölderlins 7 von vergleichbarer Dichtung der Romantik. N·icht die verlorene Wahrheit des Ursprungs der Menschheit wird hier im Kontrast des Eigenen und des Fremden zur Erinnerung gebracht, sondern die Vergänglichkeit der Zeit betrauert und Trost im schmerzlichen Glück gesucht, das Erinnerung an Stätten entschwundenen Lebens dem vereinsamten Ich bereitet. Lamartines "Le lac" und Victor Hugos "Tristesse d'Olympio", Paradestücke jeder französischen Anthologie, könnten vorzüglich erläutern, wie das aisthetische Vermögen auf das okkasionelle, private Erlebnis reduziert und dieses zum Gegenstand melancholischer Reflexion erhoben wurde, die der auratischen Gestalt der erinnerten Zeit noch keinen Ausdruck zu verleihen wußte. Eine Ausnahme bildet wohl allein Nerval, der sich aus trümmerhaften Momenten seines eigenen Schicksals den subjektiven Mythos einer zeitlosen mediterranen Landschaft erbaut, eine Szenerie geheimnisvoller Ereignisse und Begegnungen, die den Horizont privater Erinnerung unkenntlich werden läßt. 8 Hat Baudelaire in der Tat eine erste Poetik der Erinnerung konzipiert und in seinen FleuTs du Mal zur Geltung gebracht? Ich habe die diesbezüglichen Thesen von W. Benjamin schon an anderer Stelle
5 "Andenken·, in ErläuterNngen zu Hölderlins Dichtung, FrankfunlM. 1963. S. 83. 6 Nach P. Szondi ... Überwindung des Klassizismus·. in Hölderlinstudien. Frankfurt/
M. 1967. S. 85-104. bes. S. 98. . 7 Brief an Böhlendorf (.den freien Gebrauch des Eigenen"). Sämtliche Werke. hg. F. Beissner. Bd. 2, S. 220. Zum weiteren s. H. Bachmaier: .. Hölderllns Erinnerungsbegriff in der Homburger Zeit". in Homburg 'Vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, Hrsg. ehr. Jamme/O. Pöggcler, Stuttgan 1981, S. 131-160. 8 Dazu G. Hess. Die Landschaft in BaNdelaires .FkuN du Mar, Heidclberg 1953, S. 19/20. Dort findet sich auch eine Erönerung aller Ansätze Baudelaires zu einer Poetik der Erinnerung (S. 107-122). der ich im weiteren folge.
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revidiert 9 und brauche hier nur zu belegen, warum sich aus den verstreuten Äußerungen Baudelaires keine stimmige Theorie ergibt. Gewiß wird Erinnerung in den Fleurs du Mal auf verschiedene Weise beschworen. Doch kann sie hier nurmehr als Gegenkraft zum Ennui der Selbstentfremdung erscheinen und erlaubt noch nicht, die Erfahrungen und Krisen des lyrischen Subjekts selbst wieder zu totalisieren. Der fulminante Satz: "que le souvenir etait le grand criterium de l'art; l'art est une mnemotechnie du beau: or, l'imitation exacte gate le souvenir"IO, setzt Erinnerung gegen Nachahmung und damit auch (bei dem Antiplatoniker Baudelaire) gegen Anamnesis. Das damit gemeinte produktive Gedächtnis hat kaum etwas mit der alten, reproduktiven Mnemotechnik zu tun. Das bestätigt der Abschnitt "L'art mnemonique" in der Würdigung von Constantin Guys: er zeichne nie nach dem präsenten Leben, sondern stets aus der Erinnerung, die keiner vorgegebenen räumlichen Ordnung folge, sondern die Dinge despotisch, verkürzt und synthetisch evoziere. 11 Erinnerung als produktives Vermögen leistet damit dasselbe, was im Salon de 1859 der Imagination zugeschrieben wird: "Elle decompose toute la creation, et, avec les materiaux amasses et disposes suivant des regles dont on ne peut trouver l'origine que dans le plus profond de l'ame, elle cree un monde nouveau, elle produit la sensation du neuf. "12 Einen zweiten Ansatz bringt der Vergleich von Gedächtnis und Palimpsest in Un mangeur d'opium. Er ist verblüffend gewaltsam, denn er zwingt das Gedächtnis, das als ein immenser Palimpsest alles Wahrgenommene unzerstörbar, doch in chaotischer Ablagerung bewahrt, zusammen mit der produktiven Kraft der Erinnerung, die als ein .,palimpseste divin cree par Dieu" das phantastische, groteske Chaos der Sedimente in eine spirituelle Harmonie verwandelt. Und damit nicht genug, glaubt Baudelaire aus der Unzerstörbarkeit aller Erinnerungen folgern zu können, daß daraus die gleichfalls unauslöschliche Einheit der Selbsterfahrung hervorgehe: "Quelque incoherente que soit une existence, l'unite humaine n'en est pas troublee. Tous les echos de la memoire, si on pouvait les reveiller simultanement, formeraient un concert, agreable ou douloureux, mais logique et sans dissonances. "\} In dieser Hypothese, die für Baudelaire etwas
9 In ÄE, S. 152ff. 10 Salon de /846, in (E"wes completes, 2 Bde. hg. C. Pichois, (Pleiade) Paris 1975/6, Bd. 2, S. 455. 11 Ebd. Bd. 2, S. 697ff. 12 Ebd. Bd. 2, S. 621. 13 Ebd. Bd. 2, S. 506.
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zugleich "unendlich Tröstliches" und etwas "unendlich Schreckliches" hat, kündet sich Prousts Entdeckung der unfreiwilligen Erinnerung ("Ies echos de la memoire, si on pouvait les reveiller"), aber auch schon sein Vertrauen darauf an, in der synthetischen, die Erfahrungen seiner ganzen Vergangenheit totalisierenden Leistung der Erinnerung am Ende sein an die Welt verlorenes Selbst wiederzufinden. Ein Vertrauen, das sich in den Zyklen der FleuTs du Mal gewiß noch nicht bezeugt findet! Ein dritter Ansatz entfaltet sich aus dem berühmten Satz: "Le genie n'est que I'enfance TetTouvee avolonte, I'enfance douee maintenant, pour s'exprimer, d'organes virils et de I'esprit analytique qui lui permet d'ordonner la somme de materiaux involontairement amassee. "14 Danach wird die produktive Erinnerung erst eigentlich kunstschaffend, wenn sie willentlich leistet, was die Wahrnehmung des Kindes unbewußt und mühelos vollbringt: "L'enfant voit tout en nouveaute; il est tou;ours iVTe. "15 Dahinter steht die schon auf Freud vorweisende Einsicht der frühkindlichen Prägung der künstlerischen Kreativität: "Tel petit chagrin, teUe petite ;ouissance de I'enfant, demesurement grossis par une exquise sensibilite, deviennent plus tard dans I'homme adulte, meme ason insu, le principe d'une reuvre d'art. "16 Die Kindheit des Dichters, die von Proust auf ungewöhnliche Weise rekonstruiert wird, um das "edifice immense du souvenir" zu tragen, bleibt in den FleHTs du Mal fast völlig verschwiegen (bis auf das einzige Relikt: "Je n'ai pas oublie, voisine de la ville, / Notre blanche maison, petite mais tranquille", doch ohne die Mutter zu benennen). 17 Hier bestimmt die Ästhetik der Neuheit ("voir tout en nouveaute") und Hinfälligkeit des Schönen ("beau fugitif") die moralische Landschaft, im kalkulierten Umschlag von Landschaften des Ennui in Landschaften der Ekstase. Die in ihrer poetischen Transformation gelöschte Spur der Erinnerung in eine Kindheit zurückzuverfolgen, die sie geprägt haben könnte, hat Baudelaire seinen psychoanalytischen Interpreten überlassen. Selbst in der kontrastiven Folge ekstatischer Gedichte ist die auratische Form der Erinnerung nur ein einziges Mal zu finden - in "Le Balcon", wenn die Verse:
14 15 16 17
Ebd. Bd. 2. S. 690. Ebd. Bd. I, S. 690. Ebd. Bd. 1. S. 498. Ebd. Bd. 1. S. 99; 5. dazu die Würdigung von J. Starobinski, ..Je n'ai pas oublie... • (Baudelaire: poeme XCIX des Fleurs du Mal). in AN bonheNT des moU - Meumges en I'honneNr de G. Antome. Nancy 1984, S. 419--429.
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Tu te rappelleras la beaute des caresses, La douceur du foyer et le charme des soirs, Mere des souvenirs, maitresse des maitresses!
die aufleuchtende Fülle des prekären Moments einer wiedergefundenen, der Geliebten verdankten Zeit zur Sprache bringen. Es ist indes, wie G. Hess zu Recht anmerkte, "das einzige Gedicht, in dem Baudelaire nicht ,ausbricht', nicht in die Ennui-Sphäre der Skrupel und des Hasses, nicht in die Ferne paradiesischer Länder, nicht in die Erfahrung der Kindheit, nicht in die spiritualisierende Verklärung, nicht in die Künstlichkeit erzwungener Paradiese- . 11 Wenn W. Benjamin die Figur der "correspondances" in den Fleurs du Mal als "Data des Eingedenkens" begreifen wollte, mit denen Baudelaire den Dingen im denaturierten Dasein die verlorene Aura durch Erinnerung wiedererstattet hätte, der als unwillkürlicher eine verjüngende Kraft zukommen soUte, hat er Baudelaire bereits mit den Augen von Proust gelesen. 19 Die Spur einer erwartbaren Poetik der Erinnerung hat unlängst G. Wunberg im 19. Jahrhundert gesucht. zo Im Gefolge der Industrialisierung, der neuen Verfahren der technischen Reproduzierbarkeit und Thesaurierung von Daten, sei die Gedächtniskapazität fortschreitend überfordert worden. Darum habe sich die Dichtung mehr und mehr auf Erinnerung als Vehikel reiner Subjektivität zurückgezogen (wobei in der deutschen Lyrik am ehesten noch an Mörike zu denken wäre2 l ) 18 Hess (wie Anm. 8) S. 156. 19 Dazu näherhin ÄE. S. 154. 20 .Mnemosyne - literatur unter den Bedingungen der Modeme: ihre technik· und sozialgeschiehdiehe Begründung-. in: M"nnof1"t - FormnI .."d F.."lttiont" Jn IttJ, .. ,-rUm Erin"n..",. hgg. A. Assmann/D. Harth, FrankfunlM. 1991, S. 8~100. Das einsame Mallarme·Zitat: Je dis: Une Fleur! el. hon de l'oubli ou ma voix relegue aueun contour. en tant que quelque chose d'autrt' que les ealiees sus. musicalement. se leve, idee meme et suave. l'absente de tous les bouqucu- (Anm. 12) spricht nur von .oubli-. nicht von .souvenir-. und dies nicht zufällig. denn aus Mallarmis Poetik ist jede Gedächtnisspur getilgt. 21 H. Schlaffer machte mich zu Recht auf Gedichte wie "Erinnerung. An C. N. - •• Besuch in Urach-, .Peregrina IV-, "Lang, lang i5t's her-, "Ach nur einmal noch im Leben-. aufmerksam. Sie bewahren meist das Okkasionelle einer privaten, mit der Widmung aufgerufenen Erinnerung und erreichen in .Besuch in Urach- auch einmal die hohe Stillage der Elegie: .Erinn'rung mcht mil Licheln die verbitten / Bis zur Betäubung süien Zauberschalen. • Die Grundstimmung mupringt der erfahrenen Diskrepanz zwischen Gegenwärtigem und Vergangmem, nicht länger also dem Goetbeschm .Im Gegenwärtigen Vergangenes-. Doch wird man nicht sagen könnm. daß die Formen der Ich aussprache in Mörikes Lyrik insgesamt von einer Poetik der Erinnerung geprägt seien. noch daß die erwähnten Beispiele ein nonngebundenes Muster der lyrik des 19. Jabrhundms hergaben.
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und es der Geschichtswissenschaft überlassen, die Summe des Verg~genen zu bewahren und der kollektiven Erinnerung zu ihrer Offentlichkeit zu verhelfen (worin in der Tat Victor Hugo noch die Sendung der Lyrik sah). Für die Rückwendung der Dichtung auf die reine Subjektivität des Erinnerns vermochte indes auch G. Wunberg kein poetologisches Zeugnis vor Proust aufzubringen. Die im 19. Jahrhundert in der Tat schärfer bewußt gewordene Dichotomie von Erinnern und Vergessen, die an die Stelle der bis dahin vorherrschenden von Nachahmung und Imagination trat, kam zwar in Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie (1873) zutage, wenn er zugunsten des Lebens das Vergessen empfahl, nicht aber in der ästhetischen Theorie und Poetologie. Hier hat sie erst Proust zur Geltung gebracht, mit der umgekehrten Einsicht, daß gerade im Vergessen und nicht in der "memoire volontaire" die Chance liege, die verlorene Wahrheit des Vergangenen unentstellt von den Selbsttäuschungen des Wollens wiederzufinden und eine neue Poetik der Erinnerung zu begründen. Ich habe dem Weg, auf dem Proust zu dieser Einsicht und damit zur Konzeption seines Hauptwerks gelangt ist, schon früher eine eigene Untersuchung gewidmefl, aus der ich hier lediglich die SchlüsselsteIle in Erinnerung bringen will, die (wie ich vermute) zum ersten Mal beschreibt, was allererst die ,Poesie der Erinnerung' begründen könne und sie von aller bisherigen Memorialistik und Gedächtniskunst unterscheide. Sie findet sich in La Bible d'ltmiens, einem Text aus der Zeit seiner Ruskinstudien, die ihn nicht allein zu einer dezidierten Absage an allen ästhetischen Platonismus führte, sondern auch über die Entdeckung des "souvenir involontaire" (die de facto schon von Rousseau erkannte Leistung der affektiven Erinnerung) hinausgelangen ließ. Er habe, so heißt es dort, dem Text der Bible d'ltmiens durch Zitate aus anderen Werken Ruskins eine An von Resonanzkasten schaffen wollen, der indes einen gravierenden Mangel habe: Mais aux paroies de la Bible d 'Amiens ces echos ne repondront pas sans doute, ainsi qu'il arrive dans une memoire qui s'est faite elle-meme, de ces horizons inegalement lointains, habituellement caches anos regards et dont noue vie eUe-meme a mesure jour par jour les distances variees. 115 n'aurant pas, pour venir rejoindre la parole presente dont la
22 Zuerst in Ro"",,,ische Forsch""gm 66 (1955) S. 2SS-Jo. ö jetzt als 11. Kapitel: .Proust auf der Suche nach seiner Konzeption des Romans-, in: Zeil"nd Erin"en"" in Mar· al Pro"sts.A La r~chvche t" umps pna,,', FrankfunlM. )1986, S. 62-97.
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ressemblance les a attires, atraverser la resistante douceur de cette atmosphere interposee qui a l'etendue meme de notre vie et qui est toute la poesie de la memoire. ll
Nicht also die Entgegensetzung von einst und jetzt, aber auch nicht allein der kontingente Moment des "souvenir involontaire", der im Jetzt der Erkennbarkeit eine vergessene Vergangenheit wieder gegenwänig werden läßt, sondern erst der Widerstand der ganzen dazwischen liegenden Zeit erfahrenen Lebens macht den eigentümlichen Reiz der Poesie der Erinnerung aus! Diesen Widerstand in eine Dichtung einzubeziehen erfordert, den Abstand zwischen erinnerndem und erinnenem Ich, dem vertrauten und dem fremd gewordenen eigenen Leben, Schritt für Schritt aufzuarbeiten - auf einem Weg durch die Zeit, der als Suche nach der verlorenen Identität immer schon der unerkannte Gegenstand des Werkes war, das erst nachträglich erkennen läßt, wie es als Roman der Erinnerung seine eigene Genese beschrieb. Der Roman nach Proust ist der Lösung von A La recherche du temps perdu nicht gefolgt, sondern hat sie - beginnend mit Becketts Proust-Essai - wieder destruiert. Am eindrucksvollsten Claude Simon, der - nach R. Warning24 - das aisthetische Vermögen der Erinnerung kongenial ausspielte, um - gleichsam in einer Ausführung der Baudelaireschen Hypothese, der Gedanke an die Unzerstörbarkeit der Erinnerungen könne auch etwas unendlich Schreckliches haben die erlittene und zugleich tätige, absurde Gewalt von Krieg und Eros in den Obsessionen eines um sein Trauma kreisenden Gedächtnisses unverklärt darstellbar zu machen. Wie hernach Yves Bonnefoy die dabei entschwundene Poesie der Erinnerung noch einmal aufrief, um sie nun nicht mehr in ihrer narrativen, sondern in ihrer lyrischen Gestalt zu verabschieden, ist die Leitfrage, die der Interpretation von Ce qui [ut sans lumiere einen neuen Zugang erschließen soll.
23 Ebd. S. 82. 24 .Claude Simons Gedächtnisräume: La RONte des Flandres·. in Gediichtnis/eNnst: RaNm-Bild-Schrift-StNdien ZNr Mnemotechnik, hgg. A. Haverkamp/R. Lachmann. FrankfunlM. 1991. S. 356-384.
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"LE SOUVENIR"': AUSLEGUNG UND EXKURSE
I. "Le souvenir" (V. 1-11) Erinnerung, die im weiteren Zyklus allgegenwärtig ist, aber nur im ersten Gedicht eigens aufgerufen wird, nimmt hier sogleich die Gestalt eines Alptraums an. Es ist ein kosmisches Schreckbild: ein jäher Umschlag des Windes über dem geschlossenen Haus, hernach ein großes Rauschen, als ob eine Leinwand durch die ganze Welt hindurch bis auf den Grund der Dinge zerrissen werde. Im Alptraum scheint eine apokalyptische Urgewalt wiederzukehren, die kosmische Katastrophe, als der gekreuzigte Jesus verschied: "Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriß von oben bis unten in zwei Stücke, und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen" (Matth. 27,51). Dort zerstört der Riß die festere Materie, hier den "Stoff der Farbe", das immateriell und doch sinnenhaft Schöne der Erde. "Toile" kann französisch aber auch "Segel" oder das gesamte Segelwerk eines Schiffes meinen. Wenn hernach die Erinnerung entschwindet, doch nur, um sogleich in einer erschreckenden Gestalt wiederzukehren, tritt die andere Bedeutung heraus. Nun schlägt der Wind das Segel einer Barke auf die Arme eines Paares nieder, das sich vergeblich abmüht, sie flott zu bekommen. Hier erlaubt keine archetypische Vorgabe, den dunklen Sinn der Bildelemente: der Maskierung von Mann und Frau, der allzu schweren Barke, des Feuer fangenden Segels, der Schwärze des Wassers, zu entziffern. Die Frage, die mit dem letzten Vers der Strophe anhebt: "Que faire de tes dons, ö souvenir (... )", verneint sich selbst. Ihre Ironie trifft die "Gaben der Erinnerung", ihre verklärende, selbst noch das Schreckliche harmonisierende Kraft. Die unerwartete Antwort, durch ein "sinon" markant an den Anfang der nächsten Strophe gerückt, setzt der Erinnerung einen anderen, noch ungenannten Ursprung der Poesie entgegen, mit dem sich dieselben Bildelemente zu einem neuen Sinn zusammenfügen. Um es mit der Umkehrung eines berühmten Rilkeverses zu sagen: "Denn das Schreckliche ist nichts als des Schönen Anfang. "
Exkurs zu memoire/souvenir im Recueil .,Poemes· Erinnerung ist kein eigenes Thema in Bonnefoys Lyrik, wohl aber eine Art von Gegenkraft in seiner Poetik. "La memoire" ist lediglich einmal ein Vierzeiler überschrieben: .. Der Text ist im Annex (5. 24S-248) beigefügt.
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11 y a que les doigts s'etaient erispes, I1s tenaient lieu de memoire, 11 a fallu deseeller les tristes fore es gardiennes Pour jeter I'arbre et la mer. (P, S. 149)
Das Gedicht hat die von Bonnefoy geschätzte gnomische Kurzform. Es bestimmt das Wesen des Gedächtnisses lapidar, doch nicht durch eine plane Aussage, sondern durch eine metaphorische Umschreibung, die erfordert, sein Wesen erst zu entziffern. Die ungewöhnliche syntaktische Konstruktion des Eingangs (auf ein präsentisches nil y a que" folgt ein Vorgang im Präteritum) erhöht den apodiktischen Charakter der Verse. Statt eines Vergleichs (dem Erwartbaren : "das Gedächtnis bewahrt wie mit verkrampften Fingern") setzt ein eröffnendes "Es ist der Fall" absolut, was als Metaphorik eigentlich einen fiktionalen Vorgang impliziert (das Lösen - verstärkt zum "Entsiegeln" - der Finger, um das Erstarrte aus seiner Haft zu befreien). Eine doppelte Personifikation verschärft das Gewaltsame, das dem Gedächtnis überraschenderweise zugeschrieben wird: die verkrampften Finger erst als "Statthalter", dann als "traurige Schutzmächte" (oder Leibwache) des Gedächtnisses. Nicht weniger hart ist der Gegensatz von Erstarrung und Leben: aus der Haft zu lösen (wiederum verstärkt zu "jeter" = "herauszuschütteln") sind Baum und Meer, ein beweglicher Gegenstand und das beweglichste Element der Natur. Nichts von der im stillen bewahrenden, sammelnden, ordnenden und verklärenden Kraft des Gedächtnisses - sein Wesen erscheint hier als eine harte, sinnfremde Gewalt, die erst gebrochen werden muß, wenn die Dinge wieder zum Leben erwachen sollen! Der Raum der Erinnerung entspricht in Bonnefoys Lyrik denn auch vornehmlich dem Titel des Zyklus: Hier regnant desert (P, S. 115). Es ist ein Raum des Schweigens, eines verlassenen Feuers (P, S. 118), das nur Asche hinterläßt (P, S. 121), ein Land, nur aus gehäuften Steinen erbaut (P, S. 172), aus dem der Dichter die Geliebte herausruft, um sie in den "Garten der Gegenwart" zu führen. Im "jardin de presence" (P, S. 166) ist die Macht des Gedächtnisses gebrochen: "Un souci de toi / Qui a bu ma vie / Mais dans ce feuillage / Aucun souvenir" (P, S. 236) und wird das geteilte Glück eines Sommers erfahrbar ("Aimant l'ete, buvant tes yeux sans souvenirs" (P, S. 191). Es setzt den bewußten Abschied von der Erinnerung an die Kindheit voraus, vor deren Gärten (Reminiszenz an Gen. 3,24!) schon die drohende Gestalt des Engels stand:
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Nous avons grandi, je le sais Dans les memes jardins obscurs. Nous avons bu La meme eau difficile sous les arbres Le meme ange severe tJa menacee. Et nos pas sont les memes, se deprenant Des ronces de I'enfance oubliable et des memes Imprecations impures. (P, S. 244)
Der Dichter selbst ist diesem Abschied voraus. Er ist gehalten, der " Verlockung der Schwelle" zu folgen, die versiegelte Tür aufzustoßen und an der leeren Phrase gleichermaßen Anstoß zu nehmen wie an der "inutilite/de se souvenir" (P, S. 258, im Programmgedicht des Zyklus "Dans le leurre du seuil"). Wenn er zurückschaut auf die Zeit seiner Kindheit, sieht er sich in Erinnerung eingeschlossen wie die rote Flamme des Öls im Glasgefäß ("0 memoire, je fus I dans son vaisseau de verre I'huile diurne I Criant son ame rouge au ciel des longues pluies", P, S. 213). Wenn er vorausschaut, kann er dem Vogel folgen, der sein Nest im grauen Gemäuer der Ruine baut, unbekümmert um Tod und Leid, Erinnerung und Ewigkeit: L'OISEAU DES RUINES L'oiseau des ruines se degage de la mort, nidifie dans la pierre grise au soleil, n a franchi toute douleur, toute memoire, ne sait plus ce qu'est demain dans I'etemel. (P, S. 175)
n n
11. "Le souvenir" (V, 12-18) "5inon recommencer le plus vieux reve, I Croire que je m'eveille?": als ob man aus der Erinnerung wie aus einem Traum erwachen könne, hebt die zweite Strophe mit einem "Jetzt des Erwachens" an, das an Walter Benjamins "Jetzt der Erkennbarkeit" denken läßt, von dem es sich indes sogleich wieder unterscheidet. Denn während dort im "Jetzt des Erwachens" eine vergessene, unerlöste Vergangenheit erkennbar und zitierbar wird, weist hier dieser Augenblick auf keine erinnerbare Vergangenheit zurück, sondern auf die Möglichkeit, den ,ältesten Traum' des Menschen neu zu beginnen - den Traum, aus dem Bann der Erinnerung zu erwachen, um der verkannten Gegenwart des Schönen der Erde gewahr zu werden. Der Kairos dieses Augenblicks ist in das Paradox gefaßt, daß die Befreiung zur Wachheit des Bewußtseins selbst traumhaft sei, mithin ein Traum im Traum des nur erinnerten Lebens, aber zugleich auch ein Akt des
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Willens, selbst den Anfang eines erwachten Lebens zu setzen. Wenn dieses Paradox der radikalen Frage unaufgelöst stehenbleibt, so zeigen die folgenden Verse aber doch an, was aus dem erwachten Erkennen hervorgeht. Im selben Bildfeld, auf dem der Schrecken des Erinnerns lastete, hat sich der drohende Sinn der Bilder verkehrt, das Disparate in ein Ganzes von arkadischer Harmonie gefügt. Der Kontrast von aufloderndem Feuer und schwarzem Wasser ist dem Licht einer Nacht gewichen, das auf die Wasser herniederrieselt. Die kühne Metapher vom "Segel der Sterne", das in der Brise aus fernen Räumen kaum merklich erzittert, hat die Schreckbilder der zerreißenden und auflodernden Leinwand aufgelöst, wie dann auch das Grauen vor dem maskierten Paar vor der zu schweren Barke. Nun ist dasselbe Wort zum Inbegriff des schlummernden Daseins aller Dinge und Wesen wie ihres möglichen Aufbruchs zur Fahrt des Lebens geworden!
Exkurs zum Bild/eid der Barke Die Dunkelheit der Verse 7-10 läßt sich am ehesten aufhellen, wenn man die Genese des Bildfelds der Barke und seine oft erstaunlichen Umbesetzungen im weiteren Kontext verfolgt. Es gehört zu den Schlüsselmetaphern (wie "terre", "aube", "feu", "ete", "arbre", "pierre"), die der archaischen Szenerie der Lyrik Bonnefoys ihr unverwechselbares Gepräge geben. Aufgenommen wird zuerst das antike Motiv vom Nachen des Charon, "la barque des morts" (P, S. 65, vgl. S. 122, 153), in der Zwiesprache mit Douve, der toten Geliebten, doch nicht im Ton der Klage, sondern in einer Bejahung des Todes, die sich dem Ewigkeitsglauben entgegenstellt. Dem antiken Mythos tritt bald ein modernes Gegenstück, dem schmerzbeladenen Nachen Charons das glückvolle "Schiff eines Sommers" (P, S. 186) gegenüber, mit der Geliebten als Galionsfigur ("heureuse, indifferente, qui conduit / Les yeux adem i dos, le navire de vivre" , P, S. 187;vgl.S. 225). Nun kann der sterbliche Mensch selbst die Stelle Charons beanspruchen ("Moi le passeur, / Moi la barque de tout atravers de tout" , P, S. 296), die Barke zum Inbegriff einer Erfahrung der Fülle des Lebens werden, auf einer Fahrt, die das All durchquert und auf der die Gegenwart der Geliebten wie eine zweite Barke erscheint - eine kühne Verdoppelung des Bilds, die in dem Gedicht "Deux barques" ihr füreinander Gegenwärtigsein ("ces deux presences") zwischen Ruhe und Bewegung evozieren läßt, in einer Erfüllung des Sich-
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B. Abhandlungen
Begegnens und Sich-Begleitens, die das "schlechte Verlangen nach dem Unendlichen" hinter sich gebracht hat. Als Metapher der sich selbst erfüllenden Erfahrung des Lebens kann die Barke das erhöhte Selbstgefühl ("moi la barque de tout") meinen, aber auch extrapoliert vor Augen treten, als ob die Figuration geglückten Lebens von außen gesehen werde: Paix, sur l'eau eclairee. On dirait qu'une barque Passe, chargee de fruits; et qu'une vague O'une suffisance, ou d'immobilite, Souleve notre lieu et cette vie Comme une barque apeine autre, liee encore. (P, S. 278)
In dieser überraschenden Verdoppelung interferieren subjektive und kosmische Erfahrung im Kairos der erleuchteten Nacht. Während dort eine mit Früchten beladene Barke vorüberzieht, erhöht eine "Welle der Selbstgenügsamkeit" den Ort des gemeinsamen Lebens der Liebenden, das selbst wieder in den Vergleich mit einer Barke gebracht ist. Soll die metaphorische Verdoppelung im sei ben Bildfeld besagen, daß die kosmische, auf das Ganze des Lebens bezogene Figuration kaum eine andere sein dürfte als das zur Selbstgenügsamkeit erhobene Leben der Liebenden, vielleicht nur darin anders, daß ihre Barke noch vertäut ist, während die Barke der Erde schon weiterzieht, nicht als Wunschbild einer jenseitigen Welt, sondern als Figuration eines möglichen Glücks? Das spätere Gedicht "Les nuees" (P, S. 299) nimmt dieselbe Konstellation wieder auf, doch nun, um den Einklang in Frage zu stellen. Hier wird der Augenblick der Ankunft ("Nuages, oui, / L'un al'autre, navires a l'arrivee / Dans un rapport de musique", S. 300) gerühmt, als Ereignis eines Wiedererkennens wie am Schluß des Wintermärchens, wenn sich die Getrennten wiederfinden, wenn man nicht weiß, ob ihr Schweigen den äußersten Schmerz oder die äußerste Freude bezeugt, wenn - in einem Zitat aus Shakespeare - "they look'd as they had heard of a world ransom'd, or one destroyed" (P, S. 301). Hier wie anderweitig führt die Poesie Bonnefoys ständig wieder in die Gefährdung des Einklangs, in eine unabdingbare Schwebe zwischen Leben und Tod, Erlösung und Zerstörung. Auch in "Nuees" zieht ein Schiff herauf, als ob es von anderen Ufern käme, doch nun mit unheimlichen Attributen: "Un navire afond plat, dont la proue figure / Un feu, une fumee, est apparu, / Livre rouvert, nuage rouge, au fatte, / Oe la houle qui s'enfle" (P, S. 302). Meint das "wiederaufgeschlagene Buch" das Buch der Offenbarung? Doch hernach, im Dialog der Liebenden, untersagt die Stimme der Frau, das
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versiegelte Buch zu öffnen (P, S. 307). Die Sonne, deren Gang erst die Hoffnung auf Vollendung erweckt (in einer der schönsten Metaphern: "Le soleil de l'aube / Et le solei I du soir, illumine, / Menent bien, bceufs aveugles, la charrue / De l'or universeI inacheve", P, S. 303f.), nimmt am Ende die Gestalt der Todesbarke an: "L'enigme, le solei I reve, la barque rouge / Passe, boitant sa mort" (P, S. 31 t). Die Hoffnung auf eine vollendete Welt ist uns versagt; auch Anamnesis vermag das verlorene Ganze nicht zurückzubringen. Was der Poesie zu tun bleibt, sagen die Verse: Encore nous chargerons, a contre-jour Dans l'afflux d'en dessous, etincelant, Notre barque a fond plat de fruits, de fleurs Comme d 'un feu, rouge, dont la fumee Dissipera de ses acres images Les heures et les rives. (P, S. 305)
In unserem Zyklus bestimmt das immer wieder in anderer Gestalt auftauchende Motiv der Barke die Konstellation der lyrischen Landschaft in ihren weitesten Horizonten. Ihr Mittelpunkt, ein verfallendes Haus (nach "L'adieu·, C, S. 21, ein wieder aufgesuchter "Ort des Ursprungs·) erscheint im Schattenspiel auf der Terrasse als "barque brulee, proue qui derive· ("Les arbres· , C, S. 17). Der Ort, einst "le lieu de l'evidence, mais dechiree·, ist dem Vergessen preisgegeben: Nous formions nos projets: mais une barque, Chargee de pierres rouges, s'eloignait Irresistiblement d'une rive, et l'oubli Posait deja sa cendre sur les reves Que nous recommencions sans fin, peuplant d 'images Le feu qui a brote jusqu'au dernier jour. (.L'adieu·, C, S. 21)
Wo die Erinnerung erlischt, beginnt die Hoffnung zu träumen (C, S. 94) - Träume, die an die fernsten Grenzen von Zeit und Raum reichen, die das prekäre Glück in der nächsten Gegenwart eines Menschenpaares suchen, aber auch vom Hervorgang einer neuen Welt erwarten. Ist nicht die Spur eines Feuers, das noch vor dem Beginn der Welt brannte, im Freudengeschrei der Kinder verborgen, die am Sommermorgen ihre Schiffchen auf schwarzen Tümpeln zum Schwimmen bringen, wie auch in jedem bescheidenen Wort, das die Poesie aufgreift ("Aimer ouvrir / L'amande de l"absence dans la parole?", in: "Le mot ronce ... ", C, S. 42)? Ist nicht der Wunschtraum des Kindes, die Grenze zu erreichen, an der die Erde endigt (.,on revait que c'etait un lac qu'on finirait par atteindre, iI y aurait
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dans les herbes, abandonnee, faisant eau, une barque peinte de bleu" (C, S. 53), das Zeichen eines Wissens von einer anderen, noch nicht jenseitigen Welt? Sind die Sterne selbst nicht Barken, auf denselben Pol gerichtet, von denen sich eine aus der Masse lösen und als "Barke einer anderen Welt" (C, S. 27), eines "anderen Flusses" (C, S. 103), aus der Höhe der Welt vor uns erscheinen kann? Und wenn es scheint, als ob der Himmel wieder versiegelt, der Aufgang der Dinge . versperrt sei: Le ciel etait sceUe pounant, comme aujourdJhui, La barque de chaque chose, venue chargee O'un ble du haut du monde, restait bichee A notre quai nocturne (... ). (.Le haut du monde·, C, S. 77)
liegt es dann nicht allein am Menschen, sich an den Bug zu stellen, das Feuer wieder aus der Asche zu entfachen und auf das Zeichen der Morgenröte zu setzen (C, S. 85)? Am Ende des Zyklus werden alle Motive der Barke auf eine Weise enggeführt, die erlaubt, das Dunkel der Verse des Eingangs aufzulösen. In "L'agitation du reve· kehrt die durch so viele Träume gegangene Barke wieder, doch nun mit einer erkennbaren Besatzung: Et qui sont-ils, a bord? Un homme, une femme Qui se detachent noirs dans la fumee O'un feu qu'ils entretiennent a la proue. Oe l'homme, de la femme le desir Est donc ce feu au dedale des mondes. (C, S. 8)
Mann und Frau, die sich im Dunkel der Nacht vom Feuer auf dem Bug abheben: es ist dieselbe Konstellation wie in "Le souvenir", doch mit der Veränderung, daß dort die zu schwere Barke nicht vom Ufer zu lösen ist und das Segel Feuer fängt, während hier die Barke weiterzieht und das Feuer von dem Paar selbst entfacht ist. Ist es das Feuer des Verlangens der Liebe, das sie durch die Fährnisse der Welten bewegt (" Vois, moi je souffle le monde", sagt das Kind im folgenden Gedicht, C, S. 89)? Und gelingt ihre Fahrt, weil sie nicht ,maskiert', nicht voreinander verschlossen sind? Dafür sprechen die letzten beiden Gedichte des Zyklus: Glisse la barque etroite aux deux sommeils Qui respirent l'un pres de l'auue, sans recherche Oe rim, dans l'immobilite, qu'un meme soufflee A l'aube le courant va plus rapide, La barre qu'on n'entend pas de nuit gronde la-bas, L'enfant qui joue a l'avant de la barque
8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung
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Alors a compassion et se rapproche (... ) 11 s' approche, il se penche 11 voit dans leur travaill'homme, la fernrne, C' est une terre pauvre, dont les voies 50nt emplies d'eau comme apres les orages. 11 place dans ce sol Le genne d'une plante, qui recouvre De ses palmes bientöt, sans souvenirs, Le lieu de I'origine, aux rives basses. (5. 98f.)
In "La barque aux deux sommeils" vereint die eine Barke den Schlaf beider Liebenden. Vom Kind war zuvor gesagt: "On dit que la lu miere est un enfant / Qui joue, qui ne veut rien, qui reve ou chante" (S. 92). Es pflanzt auf die "arme Erde" menschlicher Liebe den Keim einer Hoffnung, die das letzte Gedicht "La tiche d'esperance" mit der Erwanung der Morgenröte benennt. Nicht die Erinnerung vermag den "On des Ursprungs" wiederzugewinnen, sondern die Morgenröte der Hoffnung allein: "la plante qu'on appelle / Bitir, avoir un nom, naitre, mourir" (S. 102).
111. "Le souvenir" (V. 19-37) Aus dem Schlummer der Dinge taucht das Haus auf - ein Haus, von dem im Präteritum gesprochen wird (V. 20, 25, 30), Indiz der Erinnerung an "la terre que j'ai aimee". Was die Strophe evozien, ist indes nicht die Rückkehr zum Ursprung, ein Wiederfinden des vergangenen Ichs, das in den vertrauten Räumen der Erinnerung ruht ("ou dort une pan de ce que je fus", V. 45). Es ist vielmehr das damals Versäumte, etwas, das wir damals nicht wissen konnten: was der Vogelruf bedeutete, welche Freuden der Blick vom Fenster auf das von ihm beherrschte Land in sich barg, ob die Suite der Säle mit Tischen, beladen mit Früchten, Steinen und Blumen, einem Wunschbild entsprach, das ein inneres Begehren auslöste, oder aber das ein Gott schuf, der uns zu dem Fest eines ganzen Sommers einlud. An die Stelle konkreter Erinnerungen treten drei dunkle, mythisch anmutende Bilder: der nahe Vogelruf, der feme Rudernde, das Fest des Gottes. Zum ersten gibt es eine Variation in dem älteren Gedicht "Le chant de sauvegarde" (P, S. 151). Die zwei Töne ("on dirait moqueuses, I Mais non sans compassions") in unserem Text scheinen das Motiv des Vogels wieder aufzunehmen, der don aus dem "singenden Gewölbe"
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in den Sand stürzt. Dort ist das lyrische Ich dem Vogelruf gefolgt: es willigt ein, in dem Haus zu leben und zu altem, vernimmt erst die nächtliche, grausame Stimme des Vogels, später aber seinen anderen Gesang, nqui s'eveille / Au fond morne du chant de l'oiseau qui s'est tu'" (P, S. 152). Die Alternative zwischen Tod und Leben, Schweigen und Gesang blieb im nLe chant de sauvegarde", dem Titel entgegen, am Ende offen, wie so oft in der Lyrik Bonnefoys. In unserem Text folgt auf den gedoppelten und darum Furcht erweckenden Vogelruf ein Hören der Stille, dann ein Morgenrot (nIes flambeaux des montagnes", etc.), das unvermittelt mit nO Joies'" apostrophiert wird. Die Freuden eines anbrechenden Tags werden in dem Bild eines Rudernden antizipiert, der auf dem glänzenden Wasserspiegel mühelos dahingleitet. Der Alptraum des Eingangs hat sich in eine Vorstellung schwerelosen Daseins verwandelt, in der sich die Reprise eines Rimbaud-Gedichts verbirgt, auf die ich gleich zurückkomme. Zur folgenden Erläuterung der einst unerkannten Freuden ist mit Gewinn ein Prosatext Bonnefoys nL'Arriere-pays'" (1972) (R, S. 975) beizuziehen. Er beginnt mit der Erfahrung eines Gefühls von Unruhe, die den Autor zeitlebens an Wegegabelungen befiel und die erst in der Rückschau erkennen ließ, daß der nicht eingeschlagene Weg den Zugang zu einem npays d'essence plus haute'" , einer "terre seconde"', einer neuen Erde jenseits der wirklichen, hätte führen können. Doch war der versäumte Weg in der Tat ein Verlust? War die Vorstellung eines narriere-pays"', das ihm in manchen Gipfelwerken der Landschaftsmalerei aufzuleuchten schien, nicht eine nostalgische Verweigerung der Welt, der dem Menschen anheimgegebenen Erde? Eine Idee, die ihn, wenn er sie als Dichter zu verwirklichen suchte, gerade dessen beraubte, was er liebte (R, S. 35)? Nicht in einer zweiten Welt, sondern in einer nzweiten Gegenwart'" dieser Welt ist das Schöne zu suchen (R, S. 17) - in der Weigerung, die bestehende Welt einfach hinzunehmen, um gerade in der Vemeinung ihre verlorene, authentische Gegenwart zu entdecken ("Un refus, mais qui se nourrit, avidement, d'accepter ce qu'il deprecie"'; R, S. 18). Unser Text präsentiert gleichfalls den Moment, der in der Rückschau eine unverwirklichte Möglichkeit: das nFest des Gottes'" erwägen läßt. Die weiteren Strophen werden die Möglichkeit verschiedener Wege und die Folgen ihrer Verweigerung im nJetzt der Erkennbarkeit'" erproben.
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Exkurs: Eine Replik auf Rimbaud: .Memoire
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G "
Geht man vom Titel .Memoire u aus, so geht die Erwanung einer Rückwendung zur subjektiven Welt der Erinnerung, zur abgeschiedenen und wiederzufindenden Zeit der lyrischen Stimme, die erst in der letzten Strophe mit ,Ich' hervortritt, leer aus. Der Vergleich: ttcomme le sei des larmes dJenfance u im ersten Vers kündet nicht eine nostalgische Evokation der Kindheit an, sondern ist eine kühne Umschreibung für ttlJeau claireu • Er steht im Kontext einer phantasmagorischen Szenerie, auf der sich ein wilder Aufstand abspielt: weißer Frauenleiber gegen die Sonne, seidener Lilienbanner gegen Mauem, die im Schutz einer Jungfrau standen, schließlich des ausgelassenen Treibens von Engeln. Ein abruptes Non setzt dem Aufruhr ein Ende: im goldenen Fließen (der Sonne?) regen sich schwarze, schwere, grasartige Arme. Der klare Wasserspiegel verdüstert sich, ruft die Schatten von Hügel und Brückenbogen herauf, die Vorhänge bilden, während sich das blaue Firmament wie zu einem Betthimmel verengt. Wie in der ersten bestimmt auch in allen weiteren Strophen ein solcher Umschlag die Struktur der Bildfelder- ein Aufschwung des Verlangens nach mythischer, sinnlicher und zugleich erotischer Fülle, der sogleich wieder in den Zustand des Gefangenbleibens zurückfällt. In die Bildfelder der Auflehnung, des Überschreitens der Grenze einer leeren, sinnfremden Realität ins Irreale einer anderen Welt, ist immer schon die Vergeblichkeit dieser Grenzüberschreitung der Poesie eingezeichnet. In der zweiten Strophe wird das verbliebene Bild der Resignation selbst wieder positiviert, das kleine Geviert der Wasserfläche als Bett mit Gold ausgestattet und mit dem blassen Grün von Weiden wie mit Mädchenröcken umkleidet. Die Gebärde der Auflehnung geht nunmehr von dem Augenlid der Dotterblume aus, dem reinsten Gelb, das gleichwohl, zum Zenit gerichtet, nicht an den Glanz seiner ttSphere rose et chere u heranreicht, um den ihn der glanzlose Spiegel im Diesseits nur beneiden kann. Die dritte Strophe läßt erkennen, daß die Gleichsetzung von "reinstem Gelb u und "ta foi conjugale, ö l'Epouse G ironisch gemeint war. Madame mit dem Sonnenschirm, umgeben von ihren lesenden Kindern, die erst die für sie zu stolzen Dolden austritt und he mach vergeblich dem Gatten nachläuft, der am imaginären Horizont der Engel über alle Berge entschwindet: so wird die prosaische Existenz
• Der Text ist im Annex (5. 243 f.) beigefügt.
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der bürgerlichen Familie in den Rahmen der idyllischen Natur eingeschoben und der Lächerlichkeit preisgegeben. In der vienen Strophe fällt die mythisch überhöhte Natur, das heilige Bett der Goldmonde des April, selbst dem Verderben, der an Augustabenden keimenden Fäulnis, anheim. Die Wasserfläche kehrt wieder, nun vom goldenen Bett (V. 10) verwandelt in eine bleiern graue Wasserdecke, auf der sich ein greiser Fischer im unbeweglichen Baggerkahn abquält. Dieser Gestalt verleiht der Dichter in der letzten Strophe die Stimme eines Ichs, das in den letzten Gebärden vergeblicher Auflehnung seine Klage erhebt. Die Apostrophe: ,.oh festgebannter Kahn!" kontrastien erst mit "Spielzeug dieses verdüsterten Wasserauges" , dann mit den hilflosen Gebärden der Arme, die viel zu kurz sind, um die eine oder die andere der (rettenden?) Blumen zu ergreifen. Schließlich steigert sich die Klage zur Evokation der Szene des Untergangs: während die von einem Flügel gepeitschten Weiden zerstäuben und die Rosen des Schilfs schon von den Wogen verschlungen sind, erscheint die Wasserfläche als ein Auge ohne Ränder, in dessen Abgrund von Schlamm (abgründiger noch durch: ,.30 quelle boue?") der Kahn von seiner Kette hinabgezogen zu werden droht. Wendet man sich am Ende der Lektüre zum Anfang des Gedichts zurück, so schließt das Verstehen der Struktur seiner eigentümlichen gebrochenen lyrischen Bewegung den Sinn des Titels nicht gleichermaßen auf. "Memoire" kann hier schwerlich Erinnerung als einen Akt des Bewahrens oder Andenkens, des Suchens oder Wiederfindens einer verlorenen Zeit meinen. Schon die durchgehend präsentische Zeitfügung scheint alle Evokation eines Vergangenen auszuschließen. Danach bliebe noch zu erwägen, ob memoire hier nicht die Bedeutung von pro memoTÜl, der Mahnung, einer Sache eingedenk zu sein, haben könnte. Rimbauds Gedicht "Memoire" beträfe dann die Sache der modemen Poesie, die "große Verweigerung- , die ihr als einer "Poesie ohne Götter" in einer entzauberten Welt allein noch verbleibt, die sich gegen den Trug der poetischen Sprache richtet, welche versprach, uns vor der verannten Realität in ein "chateau de presence, d'immortalite, de retour" verschließen zu können. So hat Yves Bonnefoy in L'acte et le lieu de La poesie (1959) die Position Rimbauds an der Schwelle zur Lyrik der Moderne selbst bestimmt. Er rühmt an dem Gedicht ,.Memoire" , daß es die Situation des Scheiterns vor Augen stelle, doch nicht in der puren Negation verharre, sondern sich dem Eingeständnis seines Scheiterns selbst wieder überhebe: "Dans le chateau de la poesie de l'essence, quand l'infinnite s'y avoue, c'est de fa~on si archetypale, si pure qu'elle n'est
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plus un desir qui accepte de se perdre, mais I'ime qui se detache de ses entraves terrestres et veut ainsi se sauver" (I, S. 108). Angesichts der Poesie Rimbauds, die den Tod vergessen lasse, setzt Bonnefoys Folgerung für eine eigene Poetik mit der Gegenfrage ein: "Ou aimonsnous pour lui-meme l'objet perdu, voulons-nous atout prix le ressaisir?" (I, S. 109) Dann komme es darauf an, Poesie nicht - wie Mallarme - in ein "chateau de parole" einzuschließen, sondern mit einer Hoffnung gleichzusetzen, die dem Prinzip folgt: "La poesie se poursuit dans l'espace de la parole, mais chaque pas en est verifiable dans le monde reaffinne. Elle opere la transmutation de l'abouti en possible, du souvenir en attente, de l'espace desert en cheminement, en espoir" (I, S. 132). Die Wendung von Erinnerung in Erwartung, vom Vollendeten zum Möglichen - und damit die Rettung der von den alten Göttern verlassenen Erde - stellt danach sein Gedicht "Le souvenir" auf eine Weise vor Augen, die nahelegt, es als eine (von Bonnefoy selbst unvennerkte) Replik auf Rimbaud zu lesen. Wenn Bonnefoy mit "Le souvenir" an Rimbauds "Memoire" erinnert, geschieht dies von Anbeginn in einer Umkehrung des lyrischen Vorgangs. Die Bildfelder von archetypischer Gewalt oder arkadischer Reinheit, deren evokative Abfolge hier wie dort die Komposition bestimmt, entspringen bei Rimbaud der Auflehnung eines Verlangens, das stets wieder in das depravierte Leben zurückfällt, während sie bei Bonnefoy aus einer sich erneuernden Verweigerung hervorgehen, die sich zunächst gegen die angewachsene Last der Erinnerung richtet. Dabei nimmt die "barque trop grande" offensichtlich den "canot immobile" aus "Memoire" auf, als Zitat durch die scheiternde Anstrengung der Insassen unverkennbar. Doch was dem "vieux dragueur" bei Rimbaud versagt bleibt, wird dem "rameur" bei Bonnefoy in der Apostrophe der Freuden der Erde zuteil. Auf diese Reprise gestützt kann nun auch ein weiterer intertextueller Bezug ausgemacht werden. Die Verse: ,,0 canot immobile! oh! bras trop courts! ni l'une / ni l'autre fleur: ni la jaune qui m'importune, / ni la bleue, amie a l' eau couleur de cendre" (V. 34-36) zeigen zwei ausgeschlagene Möglichkeiten an, durchaus analog zu dem schon erörterten Grundmotiv der Wegegabelung bei Bonnefoy, das in "Le souvenir" dreifach thematisiert wird: "Je ne veux pas savoir la question qui monte" (V. 41), sodann mit einem emphatischen Non (so auch bei Rimbaud V. 5): "Non, plutot rendors toi, feu eternel" (V. 50), schließlich mit einem "Adieu, nous n'etions pas de meme destin, /Tu as a prendre ce chemin et nous cet autre" (V. 100). Der unerreichbaren blauen Blume, Inbegriff der abgeschiedenen Romantik, entspricht in "Le souvenir" die Verweigerung, das "ewige Feuer", Inbegriff der
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B. Abhandlungen
göttlichen Poesie, wieder zu entfachen: "Non, plutöt rendors-toi, feu eternel, /Tire sur toi la cape de tes cendres" ("cendres" erinnert an "amie a l'eau couleur de cendre" !). Es war leicht, ein Dichter unter Göttern zu sein, doch wir leben in einer Zeit nach den Göttern, heißt es lapidar in L'aae et le lieu de La poesie: "Nous n'avons plus le recours d'un ciel pour garantir la transrnutation poetique" (I, S. 109). Daraus folgt für "Le souvenir", daß das "Fest des Gottes" zwar das Andenken an sein "Haus der Kindheit" im Hölderlinschen Ton wachruft, doch nicht mehr als den wahren Ort moderner Poesie. Die Frage nach ihrem anderen Weg, mit Rimbauds "gelber Blume" antizipiert, führt uns zur nächsten Strophe weiter.
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"Le souvenir" (V. 38-60)
Der einfache Vorgang, daß sich der Sprechende vom Bück aus dem Fenster abwendet, die Zimmer durchquert, in die Gewölbe einer Kirche hinabsteigt, sich dort über eine Flamme beugt, dann eine Türe öffnet, vor der ein Garten mit Mandelbäumen üegt, läßt kaum mehr erkennen, daß hier ein Raum der Erinnerung beschritten wird. Daß dort "ein Teil dessen schlummert, der ich einmal war", löst nicht ein Verlangen aus, dieses vergangene Ich wiederzufinden, so wenig wie hernach die Feuerstelle im Gewölbe, wo ein anderer "dormeur que l'on touche a l'epaule" nicht geweckt werden, sondern wieder in seinen Traum einwilligen soU. Die Stunde des Erinnerns ist nicht eingetreten, die Stunde, "eine Flamme im Spiegel zu entfachen, der aus dem Dunkel sprechen könnte". Als ob es darauf ankomme, alle Erinnerung sogleich in Erwartung, alles Vollendete in das Mögliche umzuwandeln, wendet sich der Sprechende (nachdem die Zeit wie ein angewachsener Fluß die Ufer des Traums zerstört hat) vom Fenster mit dem Bück auf "la terre que j'ai aimee" wieder ab, durchschreitet das Haus und tritt ins Freie. Was mag wohl die Frage sein, die er nicht hören will: "la question de cette terre en paix"? Sie wird erst in Strophe sechs ausgesprochen werden. Es ist die vom Dichter schon lange zuvor im Blick auf T. S. Eliots The Waste Land gestellte, don aber versäumte Frage - eine Parzivalfrage, die dem Dichter nach Eüots Mythos der modemen Kultur aufgegeben ist: "Le Perceval en nous d'une conscience a venir n'aurait pas a se demander ce que sont les choses ou les etres, mais pourquoi ils sont dans ce lieu que nous tenons pour le nötre et queUe obscure reponse ils reservent a notre voix" (I, S. 1-23). Die dunkle Antwort einer neuen ,Poetik der Erde' läßt uns im verwüsteten Land die andere
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8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung
Seite eines Janushauptes entdecken, im Ruin aller verwirkten Möglichkeiten ein wieder Mögliches erscheinen. Diese Poetik der Erde wird, nachdem die blaue Blume der Romantik, ihre Poesie der Erinnerung, so unerreichbar geworden ist wie ihre vorvergangene platonische Heimat, die Poesie der Ewigkeit, in drei Anläufen der folgenden Strophen ("Et j'avance V. 61; "Je vais·, V. 71; "Je vais V. 84) entworfen. Sie war - um Rimbauds Metaphorik noch einmal aufzunehmen - im reinen Gelb der Dotterblume verborgen, die dem Himmel des Mittags entgegengerichtet die höhere Sphäre nicht mehr um ihren Glanz zu beneiden braucht, weil sie in der Reinheit ihrer Farbe und Gebärde den ,wahren On der Poesie', unseren im Mangel der bestehenden Welt verborgenen Besitz bezeugt. ll
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Exkurs: Bonnefoys Anti-Platonismus
Diese Deutung läßt sich auch darauf stützen, daß Bonnefoy die Sammlung seiner früheren Gedichte mit einem "Anti-Platon (1947) überschriebenen Text eröffnet hat. Das folgende Stück dürfte auf das Höhlengleichnis anspielen: ll
Captif d'une saUe, du bruit, un homme mele des cartes. Sur I'une: .Eternite, je te hais!« Sur une autre: -Que cet instant me dclivre!« Et sur une troisieme encore I'homme ccrit: -Indispensable mon.« Ainsi sur la faille du temps marche-t-i1, eclairc par sa blessure. (P, S. 37)
Der "Gefangene der Höhle" setzt der Vollkommenheit des ewigen Seins die Befreiung zum gegenwänigen Augenblick, der Idee der Unsterblichkeit die Bejahung des Todes entgegen. Die Zeit, in der er voranschreitet, ist der "Spalt im Gestein" ("la faille der Ewigkeit. Nicht die "vollkommenen Ideen, die im Munde des Menschen nurmehr verblassen können" (S. 33), sondern das ,Unvollkommene ist das Höchste': ll
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Aimer la perfection parce qu'elle est le seuil, Mais la nier sitot connue, I'oublier mone, L'imperfection est la cime. (p, S. 139)
Das Vollkommene ist die Schwelle zum wahren, diesseitigen On der Poesie, der im Unvollkommenen - im "Waste Land dieser Erdegesucht, als ein Jenseits im Diesseits in Besitz genommen und sogleich wieder negien werden muß, um nicht selbst dem inhärenten Platonismus aller Poesie - der Verewigung eines verklärten Daseins anheimzufallen. ll
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B. Abhandlungen
Das Gedicht "Le souvenir" ist in seinem Aufbau von diesem Prinzip der Poetik Bonnefoys beispielhaft geprägt, das J. Starobinski als Grundfigur des "recommencement" im Pendelschlag von emre und desecire schon eingehend gewürdigt hat: "le moment OU l'espoir s'enferme dans le monde des mots qu'il a lui-meme construits, et la rupture, ,en avant', qui sacrifie les mots, pour un avenir habite par plus de verite. Quitter le monde aride pour ,ecrire puis quitter I'ecriture (inevitable faute), pour le ,lieu' ." (P, S. 25) Das Vollkommene, das nur die" Verlockung einer Schwelle" (P, S. 25), nicht länger Ziel und Erfüllung sein kann, schließt die säkulare Ästhetik des Platonismus, die Rückkehr zur verlorenen Einheit des Wahren, Guten und Schönen, gleichermaßen aus wie die moderne Gestalt der Gnosis, das Verlangen, die schlechte Realität zu negieren, um sich vor ihr in ein "chateau de parole" (I, S. 109), in eine zweite Welt der reinen Poesie zu verschließen. Bonnefoy hat die so lange unbestrittene Autorität der referenzlosen modernen Lyrik und insbesondere Mallarmes Sakralisierung von "Le Livre" unermüdlich als "falschen Weg einer modernen Gnosis" in Frage gesteUt. Er wirft ihr vor, die Gegenwart dieser uns anheimgefallenen Welt im Namen einer anderen, vermeintlich höheren Ordnung der Realität preiszugeben, ein Vorwurf, der sowohl die Abstraktheit der modernen Wissenschaft wie die Traumwelt der Surrealisten treffe, aber auch - im Falle des christlichen Dichters Pierre Jean Jouve - den letztlich durchaus unchristlichen Glauben an eine erlösende Askese der Poesie (N, S. 245 ff.). Die dunklen Verse in "Le souvenir": "L'heure n'est pas venue de porter la flamme / Dans le miroir qui nous parle dans I'ombre. / J'ai a demeurer seul" (V. 5~5) könnten wohl auch auf das Höhlengleichnis bezogen werden. Ist hier nicht das sinnlich Wahrnehmbare nurmehr wie im Spiegel, als bloßer Schatten gegeben und wird es nicht erst erkennbar, wenn der Gefangene eigenhändig die Flamme hinzubringt, wenn er selbst das Dunkel mit dem Licht der Wahrheit erhellt? Diese Vermutung könnte stützen, daß die Flamme, deren Stunde nicht gekommen ist, in Opposition zu "feu etemel" steht, dem beschieden wird, weiterzuschlummern. Der Kontext ("dans I'eglise", "epiphanie") bestimmt es als die ewige Lampe der christlichen Liturgie. Die Verweigerung, es zur vollen Erscheinung zu bringen, wird mit "puisque tu bois / Toi aussi ala coupe de I'or rapide" begründet und verweist offenbar in die antike Kosmologie, auf "un feu qui y bnila aI'avant du monde", wie es an späterer Stelle heißt (C, S. 42). Denkt man an eine frühere Stelle: "( ... ) ce feu qui imite dans I'atre / Le feu plus grand qui luit sur les mondes deserts" (P, S. 146), so gilt das "Non" dieser Verweigerung dem Weg der platonisierenden l
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8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung
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Poetik, die in allem Irdischen nurmehr ein Gleichnis der Ewigkeit sucht. Die hier noch nicht gekommene Stunde, eine irdische Flamme in ihrer selbstgenügsamen Schönheit zu entzünden, wird später eintreten, wenn einer, der in ein Haus seines früheren Lebens einkehrt, einen Zweig auf das "Bett der Flammen" legt ("La branche" C, S. 44). Nun wird der Spiegel in einer kühnen Metapher auf die Glut bezogen: "Je l'ecoute qui cherche dans le miroir / Des braises le rameau de la lumiere" und diese in einer weiteren Variante durch eine Bestimmung des Schönen noch überboten, die es aus seinem platonischen Himmel in seine irdische Epiphanie versetzt: Est-ce que la beaute N'a ere qu'un reve Le visage aux yeux clos Oe Ia Iurniere?
Non, puisqu'elle areflet En nous, et c'est Ia flamme Qui dans I'eau du bois mon Se baigne nue. (e, S. 62)
V. "Le souvenir" (V. 61-70) / VI. (V. 71-83) Die beiden Strophen sind parallel gebaut und auch durch eine wieder anders aufgenommene Frage ("Est-il vrai?", V. 63, 75) verkettet. In der fünften Strophe schreitet der Sprechende in das kühle Gras hinein, in der sechsten geht er dem Haus entlang auf eine Schlucht zu, beidemal dem Land zugewandt, das den Ort umgibt. Es wird nicht konkret veranschaulicht; "les choses du simple", seine ureinfachen Elemente (das kühle Gras, sandige Wege, ein Mandelbäumchen) fügen sich nicht zum Horizont einer Landschaft zusammen (die Wege verlieren sich in unbestimmter Ferne). Und dies, obschon im Schritt aus dem Haus sich das Land als ein unmittelbares, einladendes Gegenwärtigsein ("Presence si consentante, si donnee") darbietet. Bonnefoys Lyrik setzt jenseits aller Natur- und Erlebnisästhetik ein. Auch das Wort der Dichtung, so hat er selbst unter Berufung auf Hegel betont (I, S. 117), vermag vom unmittelbar Gegebenen nichts zu erfassen; was es von der sinnlichen Erfahrung bewahren kann, ist immer nur ein Rahmen oder Paradigma, in dem das Gegenwärtige erlischt. Wenn das Wort der Dichtung gleichwohl das Vollkommene, "la terre parfaite", von seiner Schwelle aus zu evozieren vermag, muß dies im Suspens zwischen zwei Welten (Starobinski, P, S. t 5), zwischen der unvollkommenen Wirklichkeit und dem in ihr verborgenen Vollkommenen, dem, wahren Ort' geschehen. Dieser Suspens wird in den parallelen Strophen durch die Fragefonn, die sie in einer langen Parataxe durchzieht, thematisiert - durch die Form einer lyrischen Frage, der es eigen ist, die scheinbar vorge-
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B. Abhandlungen
gebene Antwort, wie sie eine nur rhetorische Frage suggeriert, in die Schwebe zu bringen und einen unerwarteten Horizont möglicher Bedeutung zu eröffnen, den durch erprobendes Verstehen zu konkretisieren dem Leser aufgegeben ist. Die aufeinander folgenden Fragen thematisieren den Suspens der Poesie zwischen den Horizonten der Erinnerung und der Erwartung. Die erste ruft erneut das Fest des Gottes auf, doch nun nicht mehr als Fest eines Sommers (Y. 35), sondern als ein zu Ende gegangenes Fest ("Les guirlandes du soir de fete"). Dem deutschen Leser mag dabei Hölderlins "Andenken" vor Augen stehen (ob Bonnefoy vertraut, ist mir nicht bekannt), wo die Feienage an den Ufern der schönen Garonne, an denen die braunen Frauen auf seidenem Boden gehen, unmerklich entschwunden sind, wenn das Andenken auf eine hinabgegangene Zeit des Reichtums sich richtet, die "das Schöne der Erd" wie den "geflügelten Krieg" umschließt. Die in Bonnefoys "Le souvenir" gestellte Frage hat nicht den Ton der Melancholie ("Zu wohnen einsam, jahrlang, unter dem entlaubten Mast"). Wenn sie als lyrische Frage sich implizit selbst beantwortet, wenn es denn wahr ist, daß die "Stunde des Festes" und mit ihr die Zeit der Fülle unwiderruflich der Vergangenheit angehört, kann auch Mnemosyne nicht länger als Mutter der Musen angerufen, kann Erinnerung weder rückwärtsgewandt - als trauernde Frage nach der Reinheit des Ursprungs - noch vorwärtsgewandt - als Quelle der Möglichkeit einer kommenden, schöneren Zeit - der eigentliche Ort und Gegenstand der Poesie sein. Die Stimmen der Erinnerung verlieren sich in der Ferne, "auf Wegen von Sand"; wer ihnen nachtrauert, will nichts davon wissen, was ein neuer Tagesanbruch an Möglichkeiten in sich birgt. Das hier Versäumte gewinnt auf dem nächsten Gang, als ein sich öffnender Weg "sous l'etoile qui prepare le jour", Gestalt. Eine hypothetische Gestalt, denn die Apostrophe, die mit" Terre, est-il vrai" einsetzt, sich in einem sechsfachen parallelismus membrorum (von "tant de seve" bis "tant de desir de toi") zur Fülle von "terre panaite" steigert, hat wiederum die Form einer lyrischen Frage, die ihre Antwort selbst einschließt: sollte a1l dies nicht doch geschaffen sein, um wie eine Frucht zu reifen und im Augenblick der Ekstase, vom Zweig sich lösend, uns zubereitet sein? Gleichwohl hält die Form der Frage, mit der die Strophe endet, die geforderte Bejahung im Suspens, wie andererseits der erwartete Tagesanbruch - wie erst allmählich zu bemerken - bis zum vorletzten Vers des Gedichts hinaus gerückt bleibt. Der äußere Vorgang, der "Le souvenir" umrahmt, ist ein nächtlicher, immer wieder aufgenommener Gang, ein Beschreiten,
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Erwägen und wieder Verwerfen von Wegen, als ob die Erinnerung selbst ein unerleuchteter Raum geworden, dem Vergangenen kein eigenes Licht mehr eigen und befreiende Erfahrung erst zu erhoffen sei, wenn das lyrische Subjekt aus ihr zu einem wiederbeginnenden Tag erwacht. Sollte darin der Sinn des Titels Ce qui rut sans lumiere zu suchen sein?
Exkurs zur Poetik der Erde Die emphatische Apostrophe der "terre parfaite" bleibt in der Form eines fragenden Verlangens verhalten; was sie rühmt, entspringt dem, was sie entbehrt, nicht dem, was ihre Gegenwart der alten Poesie der Natur dereinst an Daseinsfülle zu gewähren schien. "La poesie nait de sa propre carence so hat es Bonnefoy unlängst wieder bei der Eröffnung des Kolloquiums Poesie et Verite in Loches lapidar formuliert. 25 Die Poesie der Moderne setzt den Weltzerfall und Weltverlust, der mit dem Beginn der Neuzeit eintrat, unabdingbar voraus. Eine neue Poetik der Erde ist weder in der Zeitenferne des Ursprungs aller Poesie, dem antiken Einklang von Natur und Mensch, noch in der Zeitentrücktheit einer anderen Welt des Schönen zu finden. Was einst die Mythen verbürgten und heute allein die Kunst als Möglichkeit aufzurufen vermag: das Vollkommene einer Erde, auf welcher der Mensch sein Wohnen gründen kann: "non la nature, mais une terre; non la matiere et ses lois mais un lieu et ses clefs de voGte dans la parole" (S. 267), muß aus dem Jetzt und Hier der armen Gegenwart (einer "mauvaise presence") hervorgehen. Der Horizont einer "terre parfaite· muß in Spuren des Einfachsten erkannt werden, in den "errants du reel, ces categories du possible, ces elements sans passe ni avenir, jamais entierement engages dans la situation presente, toujours en avant d'eUe et prometteurs d'autre chose, que sont le vent, le feu, la terre, les eaux - tout ce que l'univers propose d'indefini. Elements concrets, mais universels (... ) On peut dire qu'ils sont la parole meme de l'etre, degage par la poesie" (I, S. 128). Solche Spuren werden in vielen Gedichten unseres Zyklus benannt (z.B.: "Passant aupres du feu"; "Le puits"; "Les ronces"; "La rapidite des nuages"; "La branche"; "La neige"), auf eine Weise, die sie als einem Ort zugehörig erfahren läßt, an dem das Unendliche einer begrenzten Welt aufscheint: "Je parle d'un objet qui appartient ace monde qui sJouvre fll
-
25 Jetzt in Y. Bonnefoy, hier S. 275.
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(/978-1990), Paris 1990, S.
25~275,
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a nous dans I'experience du lieu, et de I'infini que I'on sent dans I'etre propre du Iieu bien qu'il se reserre dans I'absolu de cette presen ce etroite. " (1990, S. 259) In diesem Verhältnis von "monde" und "Iieu" dürfte sich Bonnefoys Poetik der Erde mit der Dialektik von Welt und Erde in Heideggers Der Ursprung des Kunstwerks berühren. Wie dort das Tempel-Werk läßt hier die Poesie, indem sie "eine Welt aufstellt, den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen, und zwar im Offenen der Welt des Werkes: der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen"26. Wie dort das Werk läßt hier das Gedicht "die Erde eine Erde sein" (5. 32). Dieser Übereinstimmung steht aber sogleich wieder entgegen, daß Bonnefoys Poetik die seinsgeschichtliche Dialektik des Streites von Welt und Erde fernliegt, daß er den Werkbegriff offensichtlich vermeidet, und daß der Wahrheit, die sich nach Heidegger durch die Kunst ins Werk setzt, bei Bonnefoy eine Wahrheit der Poesie gegenübersteht, die allererst aus der Beziehung zum Mitmenschen, zum Mitsein des Andem, erstehen kann. Die Welt, die sich uns durch das gründende Wort der Poesie in der Erfahrung eines Orts eröffnet, kann nicht länger die Erde, sondern muß eine Erde sein, die für den Andern mit erfahrbar, für alle anderen wieder bewohnbar ist: "Sachant qu'il n'est d'experience de la presence que si autrui aussi est rencontre pleine, iI lui faut par necessite rechercher les desirs, les biens, les impressions les valeurs que les habitants de la terre peuvent chacun accepter sans avoir pour autant a se demettre. Pour dire la presence, la poesie doit elaborer un lieu qui vaudra pour tous. Voila la sorte d'universel que sa verite recherche. " (wie Anm. 25, S. 267) t
VII. "Le souvenir" (v. 84-114)NIII. (V. 115-121) Auch diese beiden Strophen nehme ich zusammen, weil sie thematisch aufeinander bezogen sind: die siebte evoziert die pathetische Situation eines Abschieds, in einer Versfolge, die der fünfmal gesetzte Vokativ "Adieu!" skandiert, während die achte dieses große Wort als nicht sagbar mit dem letzten Vers wieder revoziert. Zunächst scheint es, als ob die mit "Je vais" wieder aufgenommene Bewegung, der
26 Frankfurt/M. (19SO) 1980, S. 31.
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Gang aus dem Haus ins Freie, Bonnefoys Poetik der Erde, die nicht die einsame, sondern eine geteilte Erfahrung voraussetzt, geradezuwenn nicht gar in traumhaft schöner Wunscherfüllung - einlösen würde. Der Schatten, der sich dem Hinausschreitenden zuzugesellen scheint, nimmt für ihn die Züge eines jungen, barfuß im Gras gehenden Mädchens an und erweckt das Verlangen, ihr Gesicht mit den Händen zu umschließen - "ce visage / qui est la terre meme" (V. 91). Doch die Gleichsetzung von "jeune fille" und "la terre meme", die ihm in einer Gebärde der Liebe vorschwebt, wird ihm sogleich wieder versagt. Die so lange geahnte und doch "geheimnisvoll nahe" Gegenwart entzieht sich im Augenblick ihrer Erfüllung; die Erde, der wahre Ort der Poesie, läßt sich nicht durch eine Gebärde der Liebe in Besitz nehmen (V. 111-113). Das junge Mädchen ist nicht wie eine Geliebte, und derjenige, dem sie - im distanzierenden Vergleich - vor Augen tritt, ist schon nicht mehr das bisher redende lyrische Subjekt, sondern - im gleichfalls distanzierenden Wechsel vom "je" zum "il" - einer, der aufbricht ("celui qui pan"), der einen anderen Weg einschlagen muß als die mädchenhafte Gestalt der Erde, deren Lippen der "Gott des Abends" berühren wird. Hier scheint die lyrische Bewegung unversehens in einen mythologischen Horizont eingetreten zu sein. Er wird in Bildern evoziert, die den deutschen Leser wiederum an die hymnische Sprache Hölderlins gemahnen: Opfergabe und den Göttern dienende Magd, die ihr Antlitz nicht mehr dem heimischen Herd zukehrt (V. 99-101), Tal und jäher Schrei des jagenden Vogels, worüber das Unbekannte lastet (V. 104-106), Fluß und großes, klares Rauschen des Wassers, das indes "nicht seinem Ufer gehört" (V. 108/9), der Gott des Abends, der sich über das "alternde Licht" im Antlitz des Mädchens beugt (V. 110111), das Liebesspiel von Gott und Erde, ihr erlöschender Blick im Erglühen der Dinge, wonach sich der Gott in die Nacht entfernt (V. 115120). Doch dieser mythologische Horizont erscheint gerade nicht als Erinnerung an den unvordenklichen hieros gamos, an die Vermählung von Himmel und Erde. Der alte Mythos von der ersten Zeit des freundlichen Umgangs zwischen Göttern und Menschen erscheint hier, so greifbar nah er vor Augen tritt, als "image impenetrable": als Lockbild einer unerreichbaren Ferne, als das Gewisseste, wo alles Zweifel war, und doch als Chimäre zugleich, als Ahnung einer sich erfüllenden Gegenwart, die zu verabschieden ist, wenn sie sich gerade einzustellen scheint. Die Abrückung des mythologischen Horizonts zum auratischen Bild wird schon durch den Wechsel vom lyrischen Subjekt ("Je vais") zum aufbrechenden Wanderer ("celui qui part") eingeleitet und durch die mehrfache Verweigerung des wie-
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derholten "Adieu" aufrechterhalten. Und in dem Maße, wie das Bewußtsein des Unverfügbaren zu der Einsicht wächst: "Adieu, nous n' etions pas de meme des tin " und sich die Wege von Wanderer und Mädchen teilen, kann auch über das vermittelnde "nous" das lyrische Subjekt wieder als Ich die Stelle der dritten Person des Wanderers einnehmen: "J'envie le dieu du soir ( ... )" 01. 110) Hier schließt sich kompositorisch ein Kreis zum "Fest des Gottes" im Haus seiner Kindheit, das der Anfang des Gedichts zu verheißen schien (V. 3537) und aus dem sich das sprechende Ich nunmehr ausgeschlossen weiß. Gleichwohl nimmt das letzte "Adieu?" die Form des Zweifels an und hinterläßt die Frage, warum der Abschied vom mythologischen Ursprung nicht das letzte Wort der Poesie der Modeme sein kann.
Exkurs zum problematischen lyrischen Subjekt Der Wechsel des Personalpronomens von "Je" zu ,,11", zu "Nous" und wieder zu "J e" ist bedeutungsvoll, zumal bei einem Autor, der das Subjekt von den Verstrickungen des narzißtischen Ich befreien will. Doch für Bonnefoy kann der proklamierte, Tod des Subjekts' nicht im freischwebenden ,Spiel der Signifikanten' enden, weil diese Utopie nicht aufzuheben vermöge, daß wir unabdingbar als Person an das Jetzt und Hier unserer sozialen Existenz, die uns nötigt, zu wählen und uns zu verantworten, gebunden bleiben (wie Anm. 25, S. 2). Der grammatische Wechsel von "Je" zu "celui qui part" erinnert an die Krise in "L'Arriere-paysu, an eine Reise, um das Geheimnis der florentinischen Malerei zu ergründen, ein Unternehmen, bei dem das Ich des Schreibenden dem ,,11" des Reisenden gleichsam über die Schulter sehen will, das Unternehmen dann aber wieder abbricht, weil ihm Zweifel kommen. Wenn der Autor bemerkt, daß er unwillkürlich bald in der ersten, bald in der dritten Person schreibt, stellt sich ihm die Frage nach dem Grund dieser Verdopplung: "Que signifie ce dedoublement, ce ,passage du Je au 11', ce regard porte comme du dehors sur des fantasmes?" (R, S. 41) Rührt sie daher, weil die Erinnerung trügt, weil sie weder in sich selbst noch im vorgestellten Schicksal des Reisenden den Anfang der Erfahrung finden und schon gar nicht erreichen kann, was die Orte der Reise von dem bewahren und zugleich verbergen, was sich an ihnen ereignet hat: "Et le voyageur se demande: le lieu ne garde-t-il rien de ce que pourtant a eu lieu? L'etre s'oublie-t-il, instant par instant, est-ce amoi, amoi seul, de me souvenir?" (R, S. 44)
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Was hier in Frage gestellt wird, ist - obschon unausgesprochen nichts Geringeres als Prousts Poetik der Erinnerung: ihr in A la recherche du temps peTdu eingelöster Anspruch, daß weder Inspiration noch poietische Konstruktion, sondern allein noch Erinnerung als letzte verbliebene Instanz die Wahrheit von Dichtung verbürgen, daß vielmehr ihre aisthetische, weltaneignende Kraft mit der vergessenen Realität des Vergangenen zugleich die verlorene Identität des Subjekts, die Integrität seiner Selbsterfahrung, wiedergewinnen könne. "Est-ce a moi seul de me souvenir?" - dieser Zweifel steht gegen Prousts Unternehmen, auf dem von niemand anderem so erfahrenen Weg der Erinnerung in der wiedergefundenen Zeit die Welt in ihrer subjektiven Einzigartigkeit wieder zu entdecken ("de voir I'univers avec les yeux d'un autre"), im Vertrauen auf die notwendige Evidenz der wahren, unentstellten Zeit, deren Spur im Vergessen allein die "profane Erleuchtung" (mit W. Benjamin zu sprechen) der Momente unfreiwilligen Erinnems wiederzufinden erlaubt. Die Krise in "L'Arriere-pays" ist in der Tat eine Krise der Selbsterfahrung und der Erinnerung zugleich. Auch die gelegentlichen ,souvenirs involontaires' vermögen den einstigen Weg durch die Toscana, die Erfahrungen des Reisenden, aus denen ein Buch werden soUte, nicht mehr im Horizont des Vergangenen authentisch zu erschließen. Imagination und Erinnerung, die Vorstellung des Möglichen und die Erfahrung des Faktischen, geraten in einen Konflikt: "Le voyageur ne se montrait pas la OU l'histoire, la psychologie predominent. " (R, S. 46) Das begonnene Buch wurde zerrissen, weil es dem Schreibenden um die bewußte Aufklärung seiner Erfahrung ging, die eine nur imaginative Schreibweise nicht erbringen konnte ("parce que je ne voulais pas I'ecriture imaginative, et scellee, mais I'analyse avertie, condition de I'experience morale" , R, S. 50). Häne die Rückwendung auf seine Kindheit - das ungehobene Material authentischer Selbsterfahrung - nicht nahegelegen ? So fragt sich Bonnefoy an dieser Stelle selbst und fügt auch ein Probestück bei: die Erinnerung an zwei gegensätzliche Landschaften Frankreichs, in die sich die Welt seiner Kindheit teilte, als das erste Verlangen nach einem "arriere-pays", einem anderen, wahren Land jenseits des Horizonts der Alltagswirklichkeit erwachte. Doch Bonnefoys Poetik der Erde schließt den Solipsismus von Prousts Poesie der Erinnerung aus. Wo er einmal in "La Rue Traversiere" einen Ort seiner Kindheit aufsucht, muß er entdecken, daß sich im Lauf seines Lebens zwei Erinnerungen gebildet haben, deren Bilder sich nicht einmal berühren, und sich fragen: "Quel est en moi celui qui s'efface
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quand l'autre, ou un autre, et quel autre, entre dans la petite maison pres du canal ( ... )?" (R, S. 136) Woraus folge und auch für die Dichtung gelte: "A autrui (... ) on est redevable du sens. " (R, S. 17) Was man dem Andern schuldet, kann nur eine mit ihm teilbare, nicht also die unteilbare Erfahrung einer allein erinnerten, rein subjektiven Welt sein. Und wenn in Ce quifut sans [umiere ein Ort des Ursprungs aufgesucht wird, ist dieser Ort ein solcher, der als "lieu de l'evidence" seine Stätte in der gemeinsamen Erinnerung eines Paares hat und nur betreten wird, um für immer von ihm aufzubrechen ("L'adieu", worauf ich noch zurückkomme).
IX. "Le souvenir" (V. 122-136) In der letzten Strophe tritt ein arkadischer Horizont an die Stelle der mythologischen Szene. Was dem lyrischen Subjekt bleibt, nachdem es die Erinnerung an den Mythos der gottnahen Poesie verabschiedet hat, ist eine Poesie der Erde ohne Götter. Moderne Poesie, die dazu steht, eine "poesie sans les dieux" (I, S. 109) zu sein, darf darum das Vermögen der Sprache nicht selbst wieder vergöttlichen. Sie muß die sinnleere Realität selbst poetisch verwandeln, die Spuren des Einfachsten, des zugleich Konkreten und Universalen, aufnehmen (I, S. 128), die für den Dichter auch noch in der entzauberten Gegenwart erkennbar bleiben. Für diese dürfte in der neunten Strophe "la maison vide" und "ce lieu desert de tous" stehen: der verarmte Ort, der verlassen werden muß, um erwachten Sinns dessen gewahr zu werden, was die Träume erwarten ließen. Die poetische Verwandlung setzt gleich in den ersten vier Versen mit einer kühnen, ungewöhnlich schönen Bildkontamination ein: Träume, dicht aneinandergedrängt wie Schafe, die im ersten Rauhreif trippelnd (und fröstelnd) ausziehen. Der Ruf des Schäfers und das Hundegebell, die dem Tagesanbruch vorausgehen, setzt die traumhaft arkadische Szenerie fort. Sie gipfelt in: "Je vois l'etoile boire parmi les betes", ein Vers, der den hieros gamos von Strophe sieben verweltlicht, sofern nun der Stern an die Stelle des Gottes getreten ist. Auffällig ist die temporale Fügung der Strophe: dreimal taucht in der präsentischen Evokation Vergangenes auf: "I'appel du berger d'autrefois retentit encore", "J'entends l'aboi qui precedait le jour", "et resonne encore la flute". Meldet sich hier doch Erinnerung zu Wort, obschon der Autor von Anbeginn sichtlich vermieden hat, in "Le souvenir" Erinnerungen an ein dereinst bewohntes Haus zum Gesamtbild einer vergangenen und wiedergefundenen, subjektiv erfahrenen Zeit zusammenzufügen?
8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung
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Präteritale Einsprengsel finden sich auch schon in früheren Strophen: "L'oiseau dont nous ne savions pas le nom" (V. 20), "la terre que j'ai aimee" (V. 26), "et nous ne savions si c'etait en nous" (V. 31), "Ou dort une part de ce que je fus" (V. 45). Doch "das Land, das ich geliebt habe" , gewinnt keine Gestalt, die etwas von einer unvertauschbar privaten Erfahrung verriete. Der Ort des Ursprungs, von dem "Le souvenir" ausgeht, um die sinnfremde Welt zu erneuern, ist älter als die private Erinnerung des sprechenden Ichs. Die Möglichkeit der Erneuerung setzt beim Einfachsten und Ältesten ein - auf den "ältesten Wegen", zu denen die Schafe im Bild für die Träume vor dem Anbruch des neuen Tages aufbrechen. Erinnerung bleibt diesem Aufbruch ins noch und wieder Mögliche untergeordnet. Wenn die Lampe vor dem Stall wie hernach der Stern auf dem Wasserspiegel der Tränke beim Tagesanbruch erloschen ist, bleibt immer noch der Ton der Flöte im Dunst des Morgenlichts vernehmbar: "Et resonne encore la flute / Dans la fumee des choses transparentes." Den dunklen Sinn dieses letzten Verses mag eine Parallelstelle erhellen. Der Ton der Flöte vermag das Noch in ein Wieder zu verwandeln, in die Melodie einer Poesie der Erde, der ein geringer Ort genügt, um sie neu zu erschaffen: Chemins, Non. ce n'est pas
EPILOG: ZUM SINN DES TITELS
Ce qui [ut sans lumiere
In welcher Beziehung das Eingangsgedicht zum Titel des Zyklus stehen mag, bleibt zunächst verborgen. Als wiederkehrendes Schlüsselwort nimmt "la lumiere" verschiedene Bedeutungen an, bevor es einen spezifisch poetologischen Sinn konkretisiert. In der Lichtmetaphorik des Zyklus wird der poetologische Sinn - der platonischen Tradition vom transzendenten Licht der Wahrheit zuwider - gegen die Kosmologie des Urfeuers ("D'un feu qui y bnila a l'avant du monde"; C, S. 42) aufgeboten. Der Himmel hat sein anderes Licht, den ewig in seiner Gleichgültigkeit kreisenden Zyklus der Gestirne ("Mais le ciel / A son autre lurniere. Et n'a pas cesse / Le cyde de l'in-
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B. Abhandlungen
difference de I'etoile"; C, S. 96). Dies zu wissen und das Licht dennoch zu lieben, ist ein Wissen der Poesie (C, S. 42). Es ist dem Lied der Grille ähnlich, ein "chant qui est matiere faite voix lEt, peut-etre, lumiere mais pour rien" (C, S. 6). Es ist nicht "Abglanz des Ewigen", sondern eine Gegenkraft des Irdischen, die in jedem dürren Zweig darauf wartet, durch die Flamme zur Schönheit entzündet zu werden ("c'est la flamme I Qui dans l'eau du bois mon I Se baigne nue"; C, S. 62 - im zweiten Teil des Zyklus, der dieses Thema umkreist). Solchem Entfachen der Flamme entspricht in Teil 111 und IV, in die beidemal eine Ekphrasis eingerückt ist, die Tätigkeit des Künstlers. In "Dedham, vu de Langham" (Constable gewidmet) wird der Maler gerühmt, weil unter seiner Hand das Licht keine Gewalt sei, die alle Form zerstöre, "mais une joie I Dans les coupes memes noircies du jour de fete" (C, S. 66). Seine Hand wisse die Dinge an ihren wahren Ort zu führen: "Elle enveloppe la leur dos de lumiere ( ... ) Elle sait rassembier leur troupe craintive I Pour le pietinement de nuit, sur un sol nu" (C, S. 68; hier kehrt das arkadische Motiv aus der letzten Strophe von "Le souvenir" wieder, nunmehr metonymisch ausgelegt, um die poietische Tätigkeit des Versammelns von Verstreutem zu erläutern !). Die Hand des Malers wisse die Spuren des Einfachsten zu entziffern: "Quelques figures simples, quelques signes I Qui brillent au-dela des mots, indechiffrables / Dans I'immobilite du souvenir" (C, S. 69). Wenn der Landschaftsmaler die vergessenen Dinge wiedererwecken und den gleichgültigen Anblick der Erde durch das Licht allein erneuern kann ("Les fruits, les voix, les reflets, les rumeurs, I Le vin leger dans rien que la lumiere"; C, S. 69), kommt ihm dieses Licht nicht aus der Erinnerung zu Hilfe. Fast will es scheinen, als sei Erinnerung, in deren Erstarrung die Figuren und Zeichen des Lebens unentzifferbar geworden sind, für Bonnefoy der Raum ohne eigenes Licht, in den nicht länger - wie bei Proust - der alles erhellende Blitz eines "souvenir involontaire" einschlagen kann. "Qu'est-ce que la lumiere? I Qu'est-ce que peindre ici, de nuit?" (C, S. 73), wird darum in der zweiten Ekphrasis "Psyche devant le chiteau d'Amour" (Claude Lorrain gewidmet) gefragt. Die Bildbeschreibung läßt offen, ob Psyche vor dem Schloß zusammengebrochen ist oder ob sie halblaut vor sich hinsingt. Dieses Singen antizipiert eine Traumgestalt aus dem fünften und letzten Teil des Zyklus: das Kind in einem Baum, das auf die Frage: "Wer bist du?" mit der Gegenfrage antwortet: .Qui es-tu? Puisque tu ne sais pas souffler la flamme. I Qui es-tu? Vois, moi je souffle le monde, I Il fera nuit, je ne te verrai plus, I Veux-tu que ne nous reste que la lumiere?" (C, S. 89) Die Flamme entfachen, die die Welt wieder atmen und neu beginnen
8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung
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läßt, vermag nicht die Erinnerung, sondern die Kunst allein oder folgt man der Allegorese in "Le pays du sommet des arbres" - ein spielendes Kind (ob in einer profanen Umdeutung der heiligen Sophia, sei dahingestellt): On dit que la lurniere est un enfant Qui joue, qui ne veut rien, qui reve ou chante. Si elle vient anous c'est par jeu encore, Touchant le sol d'un pied distrait, qui serait I'aube. (C, S. 92)
Die Annahme dieser Interpretation, daß Bonnefoys Zyklus mehr oder minder ausdrücklich ein Abschied von der mit dem Namen Marcel Prousts verknüpften "poesie de la memoire" durchzieht, läßt sich abschließend an dem noch ausgesparten Gedicht "L'adieu" bestätigen. Es ist das vierte im I. Teil des Zyklus, der die meisten Spuren der Erinnerung an eine Stätte aufweist, die das lyrische Subjekt mit einem ungenannten Du teilt. v Vom zweiten Gedicht an trin nous neben tu häufiger an die Stelle des einsamen je und mehren sich praeteritale Zeitformen: "Nous regardions nos arbres" (C, S. 17), ,,11 y a nombre d'annees, / A.V., / Nous avons vu le temps venir au-devant de nous / Qui regardions par la fenetre ouverte / De la chambre au-dessus de la chapelle" (C, S. 19), "Es-tu venu par besoin de ce lieu" (C, S. 27), "Et venais-tu pour la nuque ployee / La-haut, dans cette chambre" (C, S. 28). Das vierte Gedicht benennt diese Stätte in Erinnerung an eine Rückkehr zum "Ort unseres Ursprungs", die indes - wie schon der Titel ankündigt - im Zeichen des Abschieds stand. Das Gedicht ergründet, warum diese Rückkehr zum Ursprung nicht im Glücksgefühl einer wiedergefundenen Zeit aufgehen konnte, sondern dazu führen mußte, sie für immer zu verabschieden. Die Erinnerung an das Vergangene, die das alte, seither zur Ruine verfallene Bauwerk auslöst, wird im Kontrast von einst und jetzt mythisch überhöht: Nous sornmes revenus anotre origine. Ce fut le lieu de I'evidence, mais dechiree. Les fenetres rnelaient trop de lurnieres, Les escaliers gravissaient trop d'etoiles Qui sont des arches qui s'effondrent, des gravats, Le feu sernblait bruler dans un autre monde. (C, S. 21)
27 Die Benennung A. V. (C. S. 19) meint nicht eine angeredete Gefährtin, sondern eine biographisch verschlüsselte Stäne, derer hier gedacht wird. Nach einer freundlichen Mitteilung von Friedhelm Kemp heißt sie Valsaintes. Die glc:iche Stäne kehrt in Dans le klirrt a" StlliJ (.La terre-): .Flamme de terre / sur la table de la cuisine abandonnee / A. V. / Dansles gravats • wieder.
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Wenn das zerfallene Haus der ,Ort der Evidenz' war, die nun zerrissen erscheint, so stellt sich die Frage, worin sie eigentlich bestand und ob einzig die zerstörende Macht der Zeit ihren Verlust nach sich zog. War die Evidenz des unmittelbar Wahren und Ganzen nicht immer schon geteilt, war das Licht, das die Fenster zu überströmen schien, nicht doch ein Feuer, das in einer anderen Welt brannte, war die Vorstellung von Treppen, die die Sterne zu erklimmen schienen, nicht doch nur dem Verlangen entsprungen, den heimischen Raum mit Bildern zu bevölkern, während das Vergessen wie eine Barke, schwer mit roten Steinen beladen, schon unaufhaltsam entschwand oder seine Asche auf das Erträumte legte? War die Evidenz des Ursprünglichen - sich am wahren Ort zu wissen -, nicht dafür erkauft, so könnte man weiterfragen, nicht von dem Riß zu wissen, der Schein und Sein auch schon am Ort des Ursprungs trennt? Sind die wahren Paradiese - mit Proust zu sprechen - nicht erst die verlorenen Paradiese; wird nicht der Ort der Evidenz erst in der Rückschau des von ihm geschiedenen Bewußtseins evident, wenn nicht gar durch sie allererst konstituiert? Doch Bonnefoys Poetologie ist alles andere als sentimentalisch. Wenn sie die archaische Figuration der Rückkehr zum Ursprung wieder aufnimmt, so nicht, um eine vergangene Zeit in der auratischen Schönheit der Erinnerung wiedererstehen zu lassen, sondern um im Vergangenen Zukünftiges, im Licht des Anfänglichen der verkannten Dinge die Möglichkeit ihrer Erneuerung zu finden: L'avenir se prend-il dans l'origine Comme le ciel consent aun miroir courbe, Pourrons nous recueillir de cette lurniere Qui a ete le miracle d'ici La semence dans nos mains sornbres, pour d'autres f1aques Au secret d'autres champs ,barres de pierresC? (C, S. 23)
Die Möglichkeit der Erneuerung der Welt ist dem dichterischen Wort gegeben, sofern es die coincidentia oppositorum von Herkunft und Zukunft, von Abend und Morgen, von Angst und Freude, von Tod und Geburt, zur Sprache bringen kann: Est-il vrai, mon amie, Qu'il n'y a qu'un seul mot pour designer Dans la langue qu'on nomme la poesie Le soleil du matin et celui du soir, Un seul cri de joie et le cri d'angoisse, Un seull'amont desen et les coups de haches, Un seulle lit defait et le ciel dJorage, Un seull'enfant qui nait et le dieu mort? (C, S. 2lf.)
8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung
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Bonnefoys Apologie der Poesie antwortet auf diese Frage mit einer Replik auf den (von mir eingeführten) Satz Marcel Prousts. Der Ort der Evidenz ist nicht als Paradies der Erinnerung wiederzufinden. Sein Urbild, der biblische Garten Eden, ist für immer verloren. Er ist in Trümmern über die Welt zerstreut, wie Blumen, die auf armes Gras ausgesät wurden. Sie wieder aufzusammeln, ist die durchaus irdische Aufgabe der Poesie ("Le paradis est epars, je le sais, / C'est la tache terrestre d'en reconnaitre / Les fleurs disseminees dans l'herbe pauvre"). Wie Adam und Eva (mit einer Huldigung an die letztere durch nie premier regret" und "le premier courage" charakterisiert) muß auch das spätere Paar ein letztes Mal durch den Garten schreiten, um den Mut zu finden, die Schwelle zu durchqueren, die der Aufbruch vom Ort der Gewißheit ins Ungewisse möglicher Welten erfordert. "Tout est toujours a remailler le monde" (V. 5): nicht ein Paradies der Erinnerung wiederzufinden oder statt seiner ein Paradies der Worte zu erstellen, ist die unvollendbare Aufgabe der Poesie. Ihr kommt es vielmehr zu, den Ort der Gewißheit - nie lieu pour vaincre, pour nous vaincre" (V. 54) - immer wieder zu überschreiten, um eine Welt ohne göttliches Licht neu zu ordnen und zu erhellen. Und dazu ist keine andere, reinere Quelle der Inspiration vonnöten als der halb zerbrochene Brunnentrog vor dem alten Haus, der bei jedem Tagesanbruch sein Wasser nutzlos - wie das Wort der Dichtung (V. 31) - verströmt : Cenes, le lieu pour vaincre, pour nous vaincre, c'est ici Dont nous panons, ce soir. Ici sans fin Comme cette eau qui s'echappe de I'auge.
YVES BONNEFOY: LE SOUVENIR I.
Ce souvenir me hante, que le vent toume D'un coup, la-bas, sur la maison fermee. C'est un grand bruit de toile par le monde, On dirait que I'etoffe de la couleur s Vient de se dechirer jusqu"au fond des choses. Le souvenir s'eloigne mais il revient, e'est un homme et une femme masques, on dirait qu'ils tentent De mettre aflot une barque trop grande. Le vent rabat la voile sur leurs gestes, 10 Le feu prend dans la voile, I'eau est noire. Que faire de tes dons, ö souvenir,
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Sinon recommencer le plus vieux reve, Croire que je m'eveille? La nuit est calme, Sa lumiere ruisselle sur les eaux, La voile des etoiles fremit apeine Dans la brise qui passe par les mondes. La barque de chaque chose, de chaque vie Don, dans la masse de I'ombre de la terre, Et la maison respire, presque sans bruit, eoiseau dont nous ne savions pas le nom dans la vallee A peine a-t-illance, on dirait moqueuses Mais non sans compassion, ce qui fait peur, Ses deux notes presque indistinctes trop pres de nous. Je me leve, j'ecoute ce silence, Je vais ala fenetre, une fois encore, Qui domine la terre que j'ai aimee. Ö joies, comme un rameur au loin, qui bouge peu Sur la nappe brillante; et plus loin encore Briilent sans bruit terrestre les flambeaux Des montagnes, des fleuves, des vallees. Joies, et nous ne savions si c'etait en nous Comme vaine rumeur et lueur de reve Cette suite de salles et de tables Chargees de fruits, de pierres et de fleurs, Ou ce qu'un dieu voulait, pour une fete Qu'il donnerait, puisque nous consentions, Tout un ete dans sa maison d'enfance. Joies, et le temps qui vint au travers, comme un fleuve En crue, de nuit, debouche dans le reve Et en blesse la rive, et en disperse Les images les plus se reines dans la boue. Je ne veux pas savoir la question qui monte Oe cette terre en pm, je me detourne, Je traverse les chambres de I'etage Ou dort toute une part de ce que je Eus, Je descends dans la nuit des arches d'en bas Vers le feu qui vegete dans I'eglise, Je me penche sur lui, qui bouge d'un coup Comme un dormeur que I'on touche a I'epaule Et se red res se un peu, levant vers moi L'epiphanie de sa face de braise. Non, plutöt rendors-toi, feu eternel, Tire sur toi la cape de tes cendres, Reacquiesce aton reve, puisque tu bois Toi aussi ala coupe de I'or rapide.
8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung
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L'heure n'est pas venue de porter la flamme Dans le miroir qui nous pule dans I'ombre, j'ai a demeurer seul. j'ouvre la porte Qui donne sur les amandiers dont rien ne bouge, Si paisible est la nuit qui les vet de lune. Et j'avance, dans Pherbe froide. Ö terre, terre, Presence si consentante, si donnee, Est-il vrai que deja nous ayons vecu L'heure Oll 1'00 voit s'eteindre, de branche en branche, Les guirlandes du soir de fete? Et on ne sait, Seuls a nouveau dans la nuit qui s'acheve, Si meme on veut que reparaisse Paube Tant le cccur reste pris aces voix qui chantent La-bas, encore, et se font indistinctes En s' eloignant sur les chcmins de sable. Je vais Le long de la maisoo vers le ravin, je vois Vaguement miroiter les choses du simple Comme un chemin qui s'ouvre, sous l'etoile Qui prepare le jour. Terre, est-il vrai Que tant de seve dans I'amandier au mois des fleurs, Tant de feux dans le ciel, tant de rayons Des I'aube dans les vitres, dans le miroir, Tant d'ignorances dans nos vies mais tant d'espoirs, Tant de desir de toi, terre parfaite, N'etaient pas faits pour murir comme un fruit En son instant d'extase se detache De la branche, de la mauere, saveur pure? Je vais, Et il me semble que quelqu'un marche pres de moi, Ombre, qui sourirait bien que silencieuse Comme une jeune fille, pieds nus dans I'herbe, Accompagne un instant celui qui part. Et celui-ci s'arrete, illa re garde , 11 prendrait volontiers dans ses mains ce visage Qui est la terre meme. Adieu, dit-il, Presence qui oe fut que pressentie Bien que mysterieusement tant d'annees si proche, Adieu, image impenetrable qui nous leurra D'etre la verite enfin presque dite, Certitude, la Oll tout n'a ete que doute, et bien que chimere Parole si ardente que reelle. Adieu, nous ne te verrons plus venir pres de nous
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Avec l'offrande du eie! et des feuilles seches, Nous ne te verrons pas rapprocher de l'itre Tout ton profil de servante divine. Adieu, nous n'etions pas de meme destin, Tu as a prendre ce chemin et nous cet autre, Et entre s'epaissit cette val I« Que l'inconnu surplombe Avec un cri rapide d'oiseau qui chasse. Adieu, tu es deja touchee par d'autres levres, L'eau du fleuve n'appartient pas a son rivage Sauf par le grand bruit clair. J'envie le dieu du soir qui se penchera Sur le vieillissement de ta lurniere. Terre, ce qu'on appelle la poesie T'aura tant disiree en ce siede, sans prendre Jamais sur toi le bien du geste d'amour! IlI'a touchee de ses mains, de ses levres, lIla retient, qui sount, par la nuque, lila regarde, en ces ycux qui s'effacent Dans la phosphorescence de ce qui este Et maintenant, enfin, il se detoume. Je le vois qui s'eloigne dans la nuit. Adieu? Non, ce n'est pas le mot que je sais dire.
Et mes reves, serres L'un contre I'autre et I'autre encore, ainsi La some des brebis dans le premier givre, us Reprennent pietinant leurs plus vieux chemins. Je m"eveille nuit apres nuit dans la maison vide, 11 me semble qu'un pas m'y precede encore. Je sors Et m'&onne que I'ampoule soit allumee 1)0 Dans ce lieu desene de tous, devant l"etable. Je cours derriere Ja maison, parce que I'appel Du berger d'autrefois retentit encore. J'entends I'aboi qui precedait le jour, Je vois l'etoile boire parmi les betes us Qui ne sont plus, a l'aube. Et resonne encore la flute Dans la fumee des choses transparentes.
8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung
ARTHUR RIMBAUD: MEMOIRE I.
L"eau claire; comme le seI des larmes d'enfance, L'assaut au soleil des blancheurs des corps de femmes; la soie, en foule et de lys pur, des oriflammes .. sous les murs dont quelque pucelle eut la defense;
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l"ebat des anges; - Non ... le courant d'or en marche, meut ses bras, noirs, et lourds, et frais sunout, d'herbe. Elle sombre, ayant le eiel bleu pour ciel-de-lit, appelle po ur rideaux l'ombre de la colline et de l'arche.
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Eh! l'humide carreau tend ses bouillons limpides! L"eau meuble d'or pile et sans fond les couches pretes. Les robes venes et deteintes des fillettes font les saules, d'ou sautent les oiseaux sans brides.
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Plus pure qu'un louis, jaune et chaude paupiere le souci d'eau - ta foi conjugale, ö l'Epouse! au midi prompt, de son terne miroir, jalouse au ciel gris de chaleur la Sphere rose et chere.
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Madame se tient trop debout dans la prairie prochaine ou neigent les fils du travail; l'ombrelle aux doigts; foulant l'ombeUe; trop fiere pour elle; des enfants lisant dans la verdure fleurie
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leur livre de maroquin rouge! Helas, Lui, comme mille anges blancs qui se separent sur la route, s'eloigne par deli la montagne! Elle, toute froide, et noire, coun! apres le depan de l'homme!
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Regret des bras epais et jeunes d'herbe pure! Or des lunes d'avril au cceur du saint lit! Joie des chantiers riverains i l'abandon, en proie aux soirs d'aout qui faisaient germer ces pourritures!
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Qu'elle pleure i present sous les remparts! l'haleine des peupliers d'en haut est pour la seule brise. Puis, c'est la nappe, sans reflets, sans source, grise: un vieux, dragueur, dans sa barque immobile, peine.
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Jouet de cer a:il d'eau mome, je n'y puis prendre. ö canot immobile! oh! bras trop courts! ni I'une ni I'autre fleur: ni la jaune qui m'importune, la; ni la bleue, arme a I'eau couleur de cendre. Ab! la poudre des saules qu'une aiJe s«oue! Les roses des roseaux des longtemps devorees! Mon cmot, toujours fIXe; et sa chaine tirie Au fond de cer ~il d'eau sans bords, - a queUe boue?
9. Das Religionsgespräch oder: The Last Things Before The Last
EinleitNng ,.Ist ( ... ) nicht das Ende deshalb eine problematische Kategorie, weil nichts, was endet, darin aufgehen kann, Ende zu sein?- Diese rhetorische Frage aus dem Prospekt kann - obschon die implizierte Antwort fast zu schön ist, um wahr zu sein - sehr wohl meinen Versuch eröffnen, das Religionsgespräch als eine Figuration des Endes zu erönern. Zunächst aus dem Grund, weil es im historischen Raum der mediterranen Kulturen sporadisch immer wieder aufgenommen wurde, aber nie zu Ende gebracht werden konnte. Das ist auch der Aufklärung nicht gelungen, obwohl es schien, als führe die dort errungene Religions- und Gewissensfreiheit geradenwegs zur Befreiung des Menschen von der Religion. Denn diese (aus Karl Marx: ZNr }N denfrage, 1843, stammende) Formel ist als emanzipatorische Erwartung des 19. Jahrhunderts im 20. gründlich enttäuscht worden. Mit dem Zusammenbruch des marxistischen Imperiums scheint - wie post festum zutage trat - zugleich eine universale Konzeption des Menschen, der Form seiner Gesellschaft und seiner solidarisch zu verantwortenden Geschichte erloschen zu sein. Hat doch dieses Ende ein Vacuum hinterlassen, in welchem allerons Religions- und Bürgerkriege entbrannten, gespeist von der Wiederkehr eines archaischen, nationalen wie religiösen Fundamentalismus, den die Aufklärung unter dem vorgängigen Namen ,Fanatismus' für alle Zeiten überwunden zu haben glaubte. Grund genug, dessen zu gedenken, wie man in der Vergangenheit den tödlichen Streit von Parteien, die sich im Alleinbesitz der Wahrheit wähnten, manchmal zu befrieden suchte - durch ein Religionsgespräch ! Da ein moderner Nathan der Weise für den Endhorizont des zweitenJahrtausends noch nicht in Sicht ist, habe ich mich an einen Autor gehalten, der die in der Geschichte verloren gegangene Überlieferung des mutmaßlich ältesten Gesprächs zwischen den drei Weltreligionen (der mosaischen, christlichen und moslemischen): die chasarische Polemik (8. oder 9. Jahrhundert) wieder in Erinnerung gebracht hat.
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B. Abhandlungen
Es ist Milorad Pavic mit seinem Chasanschen Wörterbuch, ein Gipfelwerk der postmodernen Literatur, noch vor dem Ereignisjahr 1989 verfaßt, doch seine Folgen schon antizipierend. Er hat vornehmlich aus dem Liber Cosri von Jehuda Halevi geschöpft. Von anderen Religionsgesprächen aus dem dazwischen liegenden Jahrtausend ist nicht die Rede, die im Endhorizont dieses Buches mit gegenwärtig sind (Abaelard und Nikolaus von Kues, Lessing undJan Potocki, um nur die bedeutendsten theologischen und literarischen Repräsentanten zu nennen). Daß solche Gespräche im Altertum wie in der Neuzeit, seit dem Auftritt des Apostel Paulus auf dem Areopag und erneut seit Luthers Vorladung auf den Reichstag zu Worms, immer wieder geführt wurden, steht außer Frage. Doch scheinen sie weder bei Theologen noch bei Historikern bisher das Interesse erweckt zu haben, der im Dunkel der Geschichte sich verlierenden Spur nachzugehen. So fehlt eine Gesamtschau, die erst zu klären erlaubte, wann, wie und mit welchem Ausgang es zu'Streitgesprächen zwischen den Weltreligionen kam und ob sie überhaupt eine eigene Tradition gebildet haben, die es rechtfertigt, von einer Geschichte des Religionsgesprächs zu sprechen. Materialien dafür habe ich nachträglich bei J. Fried und bei F. Niewöhner gefunden. I Der erstere untersucht die Begegnung der römischen Kirche mit den Mongolen im 13. Jahrhundert. Gab es schon lange eine regelmäßige Disputation zwischen lateinischen und orthodoxen Christen und vertraute man darauf, "Ketzer, Juden, Muslime und Heiden, die beiden letzten sogar allein auf der Basis natürlicher Vernunft, ohne Autoritäten, für das wahre Christentum zu gewinnen (S. 308), so sahen sich die Delegationen und katholischen Missionare im Herrschaftsbereich der Mongolen (seit 1326 sogar in China!) in die Situation versetzt, daß der Glaubensdisput im Orient ganz ungewohnt war. Dazu berichtet z.B. der Franziskaner Rubruk, daß die Buddhisten darüber zürnten, ihre Geheimnisse offenlegen zu sollen (ebd.). F. Niewöhner untersucht die Vorgeschichte von Lessings Ringparabel in der sie bedingenden kryptischen Tradition des berüchtigten Buches De tribus lmpostoribus und zieht dabei ZeugCI
1 J. Fried, .Auf der Suche nach der Wirklichkeit - Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhunden, in: Historisch~ Z~ilschrift 243 (1986), S. 287-332; F. Niewöhner, Vmw siv~ Varietas - L~ssings Toinanzparab~lllnd das Blich flon tU,. drn Betriigem, Heidelberg 1988. Zum konfessionellen Religionsgespräch der Reformationszeit, das hier nicht berücksichtigt werden konnte, sei verwiesen auf: G. Müller (Hg.), D4S R~ligionsg~spräch der R~formationszeit, Gütersloh 1980, und M. Hollerbach, Das R~Iigionsg~spräch als Mitul der ltonf~ssion~lJ~n lind politisch~n Alls~inantkrs~tzung im D~lItschLand des 16. Jahrhunderts, FrankfunlBern 1982.
9. Das Religionsgespräch
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nisse ans Licht wie das vom Mongolenherrscher Khubilai Khan, der Moses, J esus, Mohammed und Buddha gleichermaßen zu verehren gebot. Zu dieser Zeit schrieb Ibn Kammuna in Bagdad einen Traktat, um die Gleichberechtigung der drei monotheistischen Religionen zu erweisen: was Peter Abaelard in seinem Toleranz-Dialog nurmehr als Traumvision zu konzipieren wagte, "das war in Baghdad Wirklichkeit und durch die geschichtlichen Ereignisse bedingte Notwendigkeit" (5. 222ff.). Mein Beitrag zur Geschichte des Religionsgesprächs muß sich darauf beschränken, seinen historischen Wandel an den genannten literarischen Texten zu beschreiben. Einen zweiten Ausgangspunkt für meinen Versuch konnte ich in der Tradition von Poetik und Hermeneutik finden. Zu den unvergeßlichen Aussprüchen, die Siegfried Kracauer hinterließ, gehört seine Bemerkung, ihn interessiere die Vergangenheit vornehmlich als Geschichte der" verpfuschten Ideen". Was er damit andeutete, trat in seiner nachgelassenen Geschichtsphilosophie zutage: "Jede Idee wird plump, platt und verzerrt auf ihrem Weg durch die Welt. Die Welt vereinnahmt sie nur nach Maßgabe ihres eigenen Verstandes und Bedarfs. Wird aus einer Vision erst eine Institution, ziehen Staubwolken auf, die ihre Konturen und Inhalte verwischen. Die Geschichte der Ideen ist eine Geschichte von Mißverständnissen. "2 Ein Kronzeuge Kracauers für diese Auffassung, mit der er die Theorie der Institutionen in ein ungewöhnliches Licht gerückt hat, war Erasmus: "Er war wesentlich von der Überzeugung motiviert, daß die Wahrheit aufhört, wahr zu sein, sobald sie zum Dogma wird und so die Ambiguität verwirkt, die sie als Wahrheit kennzeichnet." Mit Erasmus teilte er die skeptische Haltung zur vorgeblichen Lösung letzter religiöser Probleme, "die man, wie er gelegentlich bemerkte, besser auf den Tag verschöbe, an dem wir Gott gegenüberstehen" (5. 21). Geschichtliche Erkenntnis erfordert die Bescheidung auf einen Bereich eigenen Anspruchs - "jenen der vorläufigen Einsicht in die letzten Dinge vor den letzten" (S. 26). In dieser Sicht der Geschichte steht das Religionsgespräch am Gegenpol zur Situation der Entstehung großer ideologischer Bewegungen. Der offene Spielraum des Anfangs, in dem eine neue Idee ihren Wahrheitsanspruch nicht einfach behaupten kann, sondern einsichtig machen und gegen die Herrschaft anderer Ideen durchsetzen muß, besteht nicht mehr. Das Religionsgespräch setzt einen Endhorizont: die abgeschlossene Wahrheit und verfestigte Gestalt der 2 In dt. Übersetzung: Geschichte - Vor den letzten Dingen. in: Sehn/tm. FrankfurtlM. 1971, Bd 4, S. 18.
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B. Abhandlungen
Glaubenslehren, voraus. Hier wird Wahrheit nicht länger gesucht, sondern ihre Gewißheit behauptet. Hier werden Glaubensinhalte zu Dogmen, die zu bestreiten bessere Gründe nicht verfangen, wenn nicht gar dem Verdacht der Häresie aussetzen. Sobald jede Partei nurmehr auf Ausbreitung oder Verteidigung der Herrschaft ihrer Religion bedacht ist, muß der allein seligmachende Glaube blind für den Glauben des Anderen machen. Dann sind der Auseinandersetzung über die letzten Dinge so enge Grenzen gesetzt, daß ein Gespräch mit der Absicht, die Argumente des Andersgläubigen ernstzunehmen, geschweige denn, einen fremden Glauben verstehen zu wollen, erst gar nicht aufkommen kann. Als Beispiel dafür läßt sich ein von J. Fried referiertes Streitgespräch zwischen lateinischen und nestorianischen Christen, Muslimen und Buddhisten anführen, das der Mongolenherrscher Möngke Khan in Karakorum anberaumt hatte (S. 308 H.). Der vom Papst Innozenz entsandte Franziskaner Wilhelm Rubruk, der in seinem Itinerarium davon berichtet, beherrscht das Gespräch vermöge seiner scholastischen Schulung (er führt das Sentenzenwerk des Petrus Lombardus im Reisegepäck mit sich). Er setzt von Anbeginn die scholastische Methode eines von ,natürlicher Vernunft' gesteuerten Fragens (die "via inquisitionis") durch - einen Weg des Fragens, der allen anderen Zivilisationen fremd ist. Als die Nestorianer zunächst gegen die Muslime disputieren wollen, müssen sie sich seinem Verfahren einer systematischen Subordination unterwerfen: erst Monotheismus gegen Polytheismus, dann christlicher Monotheismus gegen muslimischen, dann wahres Christentum gegen irrtümliches. Er verwirft die Absicht der Nestorianer, mit der Erzählung der Weltgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht zu beginnen. Weil die Heiden keine Offenbarungsschrift anerkennen, beweise es nichts, Erzählung gegen Erzählung zu stellen, sondern müsse man ihnen mit Vernunftargumenten - der Gewißheit des ontologischen Gottesbeweises - beikommen. Als der Buddhist vorschlägt, ob man damit beginnen wolle, wie die Welt geschaffen sei oder was mit den Seelen nach dem Tode geschehe, erwidert Rubruk: "Freund, damit dürfen wir unser Gespräch nicht beginnen. Von Gott stammt alles, er ist Quelle und Haupt aller Dinge. Wir müssen zuerst von Gott sprechen." Als man im weiteren (hier nicht verfolgbaren) Verlauf auf das Böse zu sprechen kommt, erweckt Rubruk mit der These Augustins: "Alles was ist, ist gut", den heftigsten Widerspruch der Buddhisten. Doch ihre Frage: "Woher kommt also das Böse?" bringt ihn nicht in Verlegenheit. Er kontert schroff: "Du fragst falsch! Zuerst mußt du fragen: Was ist das Böse? Dann kannst du fragen:
9. Du Religionsgespräch
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Woher kommt es. " Die Gesprächsphase endet mit dem Eingeständnis des Lamaisten, keinem Gott Omniszienz zubilligen zu können und mit dem Triumphgelächter der Muslime über diese Niederlage des Buddhisten. Doch dann unterbrechen die Nestorianer den Siegeszug der natürlichen Vernunft: "Sie erzählten alles, bis zur Wiederkunft Christi und zum Jüngsten Gericht (... ) und verwiesen durch Analogien auf die Trinität", beklagt Rubruk ihre methodologische Unfähigkeit; trocken beschreibt er den erwarteten Mißerfolg: "Alle hörten ihnen zu, keiner widersprach und keiner bekannte: ich glaube und will Christ werden." Keine Taufe, sondern ein Trinkgelage beendet den Wettstreit der Religionen. Die von mir betrachteten Texte zeigen demgegenüber - was wohl auch ihrer literarischen Form zu danken ist -, daß ein Religionsgespräch auch weniger dogmatisch verlaufen kann, als zu befürchten steht. Wenn die Position der Gegner auch nicht anerkannt werden darf, kann sie doch schon in ihrer Fremdheit wahrgenommen werden. Vermeintlich naive Fragen können den Dogmatiker in Verlegenheit bringen. Der blinde Glaube an letzte Wahrheiten vermag nicht geradezu zu überzeugen; ihn einsichtig zu machen, kann eine Rhetorik der vorläufigen Einsicht, den Umweg über das Glaubwürdige, aber nur Wahrscheinliche erfordern. Was als zeitlos wahr gelten soll, kann nicht durch Begriffe, sondern nur durch "absolute Metaphern" glaubwürdig gemacht werden - eine Glaubwürdigkeit, die in jeder konkreten Situation neu gesucht werden muß, mithin nur eine Antwort im Vorletzten auf eine Frage nach dem Letzten sein kann. Darum sind Blumenbergs "absolute Metaphern", die paradoxerweise den Status historischer Wahrheiten haben und nur als eine "verite a faire" gelten können), die eigentliche Denkform, die im Religionsgespräch begegnet. Die folgende Betrachtung setzt bei seinem jüngsten Repräsentanten ein, um von ihm aus seine Vorgeschichte aufzuhellen. • ) S. dazu PttrtUJigme" ZN einer Metttphorolog~, Bonn 1960, S. 9 und 20/21: .Sie geben einer Welt StrUktur. repräsentieren das nie erfahrbare. nie übersehbare Ganze der Wirklichkeit. (... ) Die Wahrheit der Metapher ist eine tJ~rit~ af';re. • .. Texte: Da BNch KNSAri tks }eh.tL. HtJn,i. Hrsg. und übersetzt von David Cauel, Berlin 1922~. - Petrus Abaelardus. DiIJog"s inter Philosoph.m.}NdMNm el Christi."Nm, Hng. R. Thomas, Stuttgan-Bad Cannstan. 1970. - Nikolaus von Kues, De IM" ~ in: Opertt 0""';', Bel VII, Hrsg. R. Klibansky/H. Bascour, Hamburg 1969. - G.E. lessing. N.,hlUl J.n \lTise, in: Geummelte Werke, Bd 2, Berlin und Weimar, 1968. Jan Potocki, Die HlUltlschrifl 110" SttrttgosSA. Hng. R. Caillois, dt. Ausgabe, FrankfunlM. 1961. - Milorad Pavic, DIIS ChttSArische Wörterbuch. Lexikonroman in 100 000 Wönem, Männliches Exemplar, MünchcnlWien. 1988.
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I.
B. Abhandlungen
FIGUREN DES ENDES IN PAVICS ,CHASARISCHEM· WÖRTERBUCH
a) Das Verlangen nach dem Ende Die aristotelische Strukturformel von Anfang, Mitte und Ende begreift drei Grundmöglichkeiten ein, geschichtliche Erfahrung in Formen der Erzählung zu verstehen. Geschichte kann als erzählte verschiedene Bedeutung erlangen, je nach dem ob der Anfang (Ursprung), das Ende (Telos) oder die Differenz zwischen Anfang und Ende (commutatio rerum) ihren Sinn bestimmen soll. S Anthropologisch gewendet entsprechen die anfangs- und endbezogenen Erzählformen (biblisch: Paradies mit Sündenfall oder Apokalypse mit Weltgericht) einem doppelten, gleich mächtigen Bedürfnis: dem Verlangen, den Anfang zu ergründen, aus dem alles hervorging, oder ihn selbst zu stiften, aber auch dem entgegengesetzten Verlangen, das Ende einer Zeit zu wissen oder es selbst herbeizuführen. Das Verlangen nach dem Ende ist wohl kaum einem Text so prägnant eingeschrieben wie Pavics Chasarischem Wörterbuch. Das zeigt sich schon mit seinem ersten Satz an: "Der derzeitige Autor dieses Buches beteuert dem Leser, daß er, sollte er es zu Ende lesen, nicht zu sterben braucht, wie das mit seinem Vorgänger, dem Benutzer der Ausgabe des Chasarnchen Wörterbuchs aus dem Jahre 1691, der Fall war. " Von dieser Ausgabe hatte Daubmannus ein Exemplar mit vergifteter Druckerfarbe gedruckt, das ihrer Vernichtung durch die Inquisition entging. Es dürfte den Leser, der an der neunten Seite sterben mußte, kaum getröstet haben, daß dies gerade bei den Wörtern Verbum cara factum est geschah (S. 14). Daß der Buchstabe den Geist töten kann, wird nicht erst hier wortWörtlich exekutiert. Schon im 9. Jh. weiß sich die Prinzessin Ateh vor dem Feind zu schützen, indem sie des Nachts je einen Buchstaben auf das Augenlid geschrieben trägt - Buchstaben aus dem verbotenen chasarischen Alphabet, "dessen jedes Schriftzeichen tötete, sobald man es las" (S. 31). Wie zu erwarten, werden schließlich auch noch das vergiftete goldene und das silberne Kontrollexemplar "jedes an seinem Ende der Welt" vernichtet (S. 17). Hier wird die Theorie der ,clöture du texte' wörtlich genommen und überboten. In diesem Buch verschließt sich der Text nicht einfach in sich selbst und damit vor der Welt: mit ihm findet eine Welt ihr Ende. Während sonst das Buch dem Leser eine Welt zu eröffnen pflegt, verschließt ihm dieses - seine Neugier mit dem Tov bedrohend - den Horizont der Welt, die es erwarten läßt. 5 S. dazu Verf., ÄE, S. 349.
9. Das Religionsgespräch
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b) Das Wörterbuch - eine Endgestalt des Weltwissens ? Zu dieser Figuration von Ende und Tod scheint im Widerspruch zu stehen, daß der Autor behauptet, seine moderne Version sei ein offenes Buch, nämlich auf unzählige Arten zu lesen, "und wenn man es schließt, kann man es weiterschreiben: so wie es einen früheren und einen gegenwärtigen Lexikographen besitzt, kann es in Zukunft neue Autoren, Fortsetzer und Ergänzer gewinnen" (S. 20). Daß der ursprüngliche Text in sich selbst verschlossen war, aber in seiner rekonstruierten Version gleichwohl ein offenes Buch geworden ist, erklärt sich vorab daraus, daß es nicht als Erzählung mit Anfang, Mitte und Ende, sondern lexikographisch in Form von drei Wörterbüchern angelegt ist. Diese folgen in der Anordnung den verschiedenen hebräischen, arabischen und griechischen Alphabeten, so daß die Namen und Stichworte nicht in der gleichen Reihenfolge erscheinen. Damit entfällt für den modernen Leser, was dem Leser des Daubmannus noch vergönnt war: "aus der Reihenfolge der Ordnungswörter den verborgenen Sinn eines Buches herauszulesen". Doch solche Leser sind - meint der Autor - ohnedies längst von der Erde verschwunden (S. 20). Dem modernen Leser wird anheim gestellt, das Buch auf die für ihn angenehmste Weise zu benutzen: von links nach rechts oder von rechts nach links blätternd - in einem Zug lesend, um sich ein Gesamtbild zu verschaffen - von Verweis zu Verweis springend, um eine Begebenheit genauer zu verstehen - diagonal, um zu vergleichen, wie verschieden die drei Wörterbücher von Personen oder Ereignissen berichten. Doch wie immer er auch verfährt, das Puzzle seiner Sinnsuche geht nie vollständig auf. Aus den Ordnungswörtern der drei Hauptquellen ergeben sich drei Perspektiven, die bald sich ergänzen, bald sich widersprechen, dabei aber nicht erlauben, vom durchaus erkennbaren pani pris der Verfasser aus nach historisch-kritischer Methode zu erschließen, ,wie es eigentlich gewesen'. Sie widersetzen sich dem Versuch, den Verlauf des Religionsgesprächs, dessen Ausgang jede Partei für sich verbuchte, objektiv zu rekonstruieren. Darum wird man dem Autor schwerlich abnehmen, der Daubmannus habe einen idealen Leser postuliert: "Denn nur derjenige, der es versteht, die Teile eines Buches in ihrer richtigen Reihenfolge zu lesen, vermag aufs neue die Welt zu erschaffen" (S. 20). Denn da auch schon der Daubmannus alphabetisch angeordnet war, konnte er die ,richtige' Reihenfolge nicht vorgeben, es sei denn, die Ordnung der Worte habe der Ordnung der Dinge entsprochen. Der Glaube, daß das Alphabet selbst die Ordnung der Dinge enthülle, nicht also nurmehr seine abstrakte Ordnung der Unordnung
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B. Abhandlungen
der Welt überstülpe, findet im Chasarischen Wörterbuch indes keine Stütze. Als nicht aufgehendes Puzzle reiht es sich an die berühmte Reihe von enzyklopädischen Weltmodellen an', um mit der "folie dans l'ordre alphabetique"7 zugleich das Ideal einer Endgestalt des Weltwissens ironisch aufzulösen. Wenn schon eine einzelne historisch-legendäre Begebenheit nicht mehr erinnert und vollständig gewußt werden kann, um wieviel weniger darf dann erwartet werden, daß die Welt als Natur und als Geschichte in einem Thesaurus des Gedächtnisses, in der Kombinatorik einer Grammatik oder in der subtilsten Taxinomie dem Wissen gänzlich verfügbar gemacht werden könne. Nur ein Pedant muß es beklagen, wenn der enzyklopädische Alphabetismus daran scheitert, die Welt in Wißbarkeiten zu ordnen. Er verkennt dessen eigentümliche Poetik, die unlängst H. Meschonnic zu beschreiben unternahm. Sie entspringt dem Paradox, daß gerade das einfachste und strengste Ordnungsprinzip der Alphabetisierung für den Leser impliziert, sich nicht an es zu halten, sondern es zu genießen, zur eigenen Sinn suche aufgefordert zu sein. 8 c) Das Chasarentum - ein gnostischer Mythos? Das historisch verschollene Volk der Chasaren repräsentiert selbst schon eine Figuration des Endes, weil es nicht allein ein spurloses Ende in der Geschichte fand, sondern - offenbar einer Lust am Untergang verfallen - sein eigenes Ende betrieb. Nicht im apokalyptischen Glauben an einen im "Buch der Völker" (S. 157) schon eingeschriebenen Untergang der Welt (S. 232). Denn es verschwand von der historischen Bühne, just nachdem es sich zu einem der drei Glaubensbekenntnissen hatte bekehren lassen, als ob es durch eine gewollte Selbstauflösung dem Endgericht entgehen wollte. Zu den Merkwürdigkeiten des Staates der Chasaren gehören Maßnahmen wie die Bevorzugung fremdvölkischer Minoritäten, das Verbergen und allmähliche Sich-Lossagen von Name, Herkunft, religiösen Gebräuchen, selbst der eigenen Sprache. Diese wird absichtlich entstellt, während sie gelehrte Juden, Griechen oder Araber durchaus 6 S. dazu R. Lachmann. .Gedächtnis und Weltverlust - Borges' memorioso - mit Anspielungen auf Lurijas Mnemonisten- in: PH Xv, S. S02 ff. 7 Dazu neuerdings H. Meschonnic. Des mou er cks mondes. DictionNAires, encyclopedies. grammaires. nomenc14t"re; Paris 1991. bes. S. 40ff. 8 Meine Zusammenfassung; s. dazu S. 9: .Le monologuedes dictionnaires et encyclope-
dies est une conversauon qu'on a avec soi-meme. en feuilletant les presents du passe. les passes du present. Les systemes du monde y deviennent I"autoponrait du lecteur.-
9. Das Religionsgespnch
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schätzen, von denen einige sogar chasarische Gedichte schreiben: "Nur den Chasaren selbst ist dies nicht erlaubt, sie dürfen über die eigene Vergangenheit weder sprechen noch Bücher über sie zusammenstellen" (S. 233-235, vgl. 73, 159). Die Gegenposition zur Erwartung einer Apokalypse nimmt der chasarische Mythos von Adam Kadmon ein, dem "älteren Bruder Christi und jüngeren Bruder Satans (... ), erschaffen aus sieben Teilen" (S. 348). Ob ihn Pavic aus der Kabbala (wo Adam Kadmon aus den zehn Emanationen oder Sephirot als Archetyp des Menschen gebildet wird) oder aus gnostischen Quellen übernommen hat, ist kaum zu entscheiden. In der chasarischen Version geht die Selbstauflösung dieses Volkes am Ende in einer Figur der Wiedervereinigung auf: es siedelt sich nicht allein Adams Seele in allen Nachfahren, sondern auch deren Tod in Adams Tod an, in Teilchen, aus denen sich Adams Körper und Leben wieder erbaut (S. 349). In der arabischen QueUe sind es die Träume aller Menschen, die den Leib des engelgleichen Vorfahren sich wieder zusammenfügen lassen (S. 185).
d) Die absonderliche Zeiterfahrung der Chasaren Ein solches Volk hat sein eigenes Verhältnis zur Zeit. Nach der christlichen Quelle wurde die Chronologie nach den chasarischen großen Jahren berechnet, die lediglich die Kriegszeiten berücksichtigt und das Anwachsen oder Abflauen einer Sache als verschiedene Ordnungen betrachtet (S. 74). Nach der islamischen Quelle waren die Chasaren der Ansicht, "daß sich mit dem Verlauf von vier Jahreszeiten stets zwei Jahre ablösen und nicht ein Jahr das andere, wobei das erste in umgekehrter Richtung zum zweiten verläuft" (das eine aus der Zukunft der Vergangenheit, das andere "aus der Vergangenheit der Zukunft zu", wobei sich Tage und Jahreszeiten wie Karten mischen können, S. 156). Im legendären Horizont des Textes, seiner erstaunlichen Phantastik (die in der Literatur des westlichen Mittelalters kaum ein Seitenstück hat!) scheint das Gesetz der unumkehrbaren Zeit aufgehoben zu sein: ihr Rad kann sich vorwärts und zurück drehen (S. 254), in einer Welt, in der die Schwalben auch rücklings fliegen können (S. 66); sie kann allzu langsam dahinfließen, so daß man in einem Jahr so viel alterte wie früher in sieben Jahren (S. 171); sie kann vorweggenommen werden, wie in Atehs schnellem Spiegel (S. 34) oder in der Fertigkeit Brankovics, anstelle des folgenden Tags einen späteren aus der Zukunft herauszunehmen (S. 46); sie kann im Traum vom Ende zum Anfang zurück gelesen werden (S. 54, 213);
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8. Abhandlungen
sie läßt geheimnisvolle Kompensationen erkennen, wie im Falle des Dr. Suk: "In seiner Rocktasche lagen der Schlüssel, der den Tod ankündigte, und das Ei, das ihn vor dem todbringenden Tag erretten konnte" (5. 132). Bei alledem dominiert die Vorstellung, daß die chasarische Zeit vom Ende des Lebens zu dessen Anfang fließe (5. 214), daß die Zukunft unbarmherzig oder schon zerschlissen auf die Chasaren zukommt (5. 160), sei es daß die Prinzessin Ateh das Leben ihrer Mutter nachspielen muß (die ihr "im voraus alle Berührungen der Liebe gestohlen" hat, S. 33), sei es daß der Tod der Kinder den der Eltern vorformt: "entgegen dem Strom der Zeit geht er von der Jugend auf das Alter über, vom Sohn auf den Vater - den Tod erben die Vorfahren von den Nachkommen wie einen Adelstitel" (5. 201). e) Das chasarische Religionsgespräch Das Problem, in welchem Ausmaß Pavic Fiktion und historisch Bezeugtes vermischt hat, als er die chasarische Polemik des 8. oder 9. Jahrhunderts so vielstimmig, mit dem vierfachen Aufgebot der Beteiligten, sodann der Chronisten (darunter Jehuda Halevi mit der berühmtesten Quelle, dem Liber Cosri von 1141), schließlich der Forscher des 17. und der des 20. Jahrhunderts wiedererstehen ließ, kann nur von der Fachwissenschaft entwim werden. Wie in Ecos Der Name der Rose oder in Hildesheimers Marbot wird auch im Werk Pavics die herkömmliche Grenzziehung zwischen Fiktion und Realität so täuschend aufgehoben, daß das Erfundene, Legendäre oder selbst das Wunderbare den Schein des Authentischen erlangt und damit der historischen Wahrheit nicht ferner steht als das faktisch Bezeugte, ja dessen Bedeutung allererst zutage bringt. Dieses Verfahren ist auch und gerade darum modem, weil es nicht vorgibt, eine letzte Wahrheit des Ereignisses erkannt zu haben: ob die chasarische Polemik die Bekehrung zu einer der drei Religionen zur Folge hatte, bleibt am Ende unerweisbar. Historische Wahrheit läßt sich auch im Horizont der Fiktion nur perspektivisch erkennen. Sie steht damit im ironischen Kontrast zum Anspruch der sich streitenden Religionen, die absolute Wahrheit zu besitzen: daß sie unteilbar sein soll, wird durch den Streit der drei Parteien für den Betroffenen - den Herrscher der Chasaren, der guten Willens ist, sich zum wahren Glauben zu bekehren - ja gerade dementiert. Ist die Frage nach der letzten Wahrheit, um die sich Religionen streiten, unentscheidbar? So daß es kein historischer Zufall wäre, daß eine Lösung der chasarischen Polemik nicht überliefert ist? Oder war dieser Streit zwar
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theoretisch unentscheidbar, aber doch praktisch - durch die getroffene Entscheidung für einen Glauben - zu lösen? Für letzteres könnte der Satz sprechen, den der Kagan im Traum aus dem Munde eines Engels vernimmt: "Dem Schöpfer sind deine Absichten lieb, aber deine Werke sind es nicht" (S. 172). Die Wortführer der drei Religionen haben ihn als erstes zu deuten. Sollte das besagen, daß die Frage nach seinem Sinn allen dogmatischen Differenzen übergeordnet war und die Antwort das Kriterium sein sollte, an dem die Wahrheit einer Religion letztlich zu bemessen war? Doch wenn der moderne Leser hier an Berufbarkeit auf den guten Willen oder auf gute Werke denken könnte, ist davon in den theologischen Disputen nirgends die Rede. Statt dessen vernimmt die Prinzessin Ateh einmal eine zarte Stimme, die ihr sagt: "Die Handlungen im menschlichen Leben gleichen den Speisen, die Gedanken aber und Gefühle den Gewürzen. Derjenige, der Kirschen salzt und Kuchen mit Essig übergießt, wird nicht gut davonkommen" (S. 149). Aber auch dieser poesievolle Kommentar bleibt für den Streit folgenlos, zumal es dieselbe Ateh ist, die mit ihren dunklen Reden stets den Ausschlag gibt, doch ironischerweise in jeder der drei Quellen für eine andere Religion (5. 22, 148, 228). Die einfachste, im Chasarischen Wörterbuch verschwiegene Auslegung des Satzes findet sich im Liber Cosri. Sie lautet: "Deine Gesinnung ist zwar dem Schöpfer wohlgefällig, nicht aber deine Handlungsweise. Und dabei war er so eifrig in der Religion Kusar's, daß er sich selbst am Tempeldienst und der Darbringung der Opfer beteiligte" (S. 21). Mithin wäre das Motiv zur Bekehrung gewesen, daß dem einen Gott zwar die Gesinnung des chasarischen Glaubens wohlgefällig war, nicht aber sein religiöser Kult. Hätte dann der Autor des Chasarischen Wörterbuchs die Frage nach dem wahren religiösen Kult auf das ethische Problem von Absicht und Tun, Wollen und Handeln erweitert? Doch davon ist in den drei Versionen der chasarischen Polemik nicht die Rede, denen wir uns nun zuwenden. Dabei überrascht auf den ersten Blick, daß sie nicht eigentlich auf dogmatischer Ebene ausgetragen wird. Lediglich in der Darstellung der christlichen Quellen hat Konstantin, der, Philosoph c, die schwierige Aufgabe, Dreifaltigkeit und Jungfrauengeburt zu rechtfertigen. In Verlegenheit bringt ihn aber erst das Argument des Rabbiners, daß seine Religion allein friedfertig sei, während Christen und Moslems einander töteten und die Welt für die Herrschaft ihres Glaubens mit Krieg überzögen (S. 83). Dieses Argument ist ganz dazu angetan, den König der Chasaren zu überzeugen. Wenn er sich am Ende dann doch für den christlichen Glauben entscheidet, ist dies der Einmi-
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schung der Prinzessin geschuldet, die dem jüdischen Glauben mit einem Argument den Boden entzieht, das der Kagan mit folgenden Wonen zusammenfaßt: "daß die juden sich selbst eingestünden, ihr Gott habe sie verworfen und über die Welt zerstreut" (S. 84). Nach den islamischen Quellen hätte Farabi Ibn Kora über den griechischen Theologen durch seine Auslegung der Verkündigung des Traums gesiegt. Dem Kagan sei weder der Engel der Erkenntnis noch der Engel der Enthüllung, sondern Adam Ruhani selbst erschienen (S. 166). Sich zu ihm zu erheben, sei die gute Absicht des chasarischen Glaubens; daraus ein Buch machen zu wollen, sei indes ein falsches Werk. Was ihm mangle, sei ein Buch Gottes, "ein Bote der Liebe zwischen Gott und den Menschen", wie der Koran: "Nehmt es von uns und teilt es mit uns und verwerft das eure" (S. 243/167). Nach den hebräischen Quellen hätte aber die listenreiche Ateh gerade dieses für die Bekehrung zum Islam ausschlaggebende Argument mit einer Frage zu Fall gebracht, die der Mulla nicht zu beantwonen wußte: "jedes Buch hat einen Vater und eine Mutter. Einen Vater, der stirbt, während er die Mutter befruchtet und dem Kind einen Namen gibt. Und eine Mutter, die das Kind gebien, es stillt und in die Welt entläßt. Wer ist die Mutter eures Göttlichen Buches?" (S. 243). Der Rabbiner Isaak Sangari weiß den Traum des Kagan durch einen Vergleich zwischen Adam, den jehova schuf, und seinem Sohn Seth, den Adam schuf, zu deuten: "Demzufolge sind Seth und alle Menschen nach ihm Gottes Absicht, aber Werk des Menschen" (S. 302). Die Bekehrung des Kagan zum jüdischen Glauben vollendet sich damit, daß er die Sprache versteht, in der Gott im Paradies zu Adam gesprochen hatte (S. 245).
f) Poesie als Widerspruch zu den ,letzten Dingen' Es zeichnet unseren Text vor dem Hintergrund einer eher didaktischen Überlieferung vor allem aus, daß hier der Ernst des theologischen Streits um die letzte Wahrheit der drei Weltreligionen ständig durch den ironischen Geist des Widerspruchs, den die Prinzessin Ateh verkörpen, in eine ästhetische Schwebe gebracht wird. Als Genius malignus, der den gelehnen Theologen der herrschenden Religionen gleichsam die dogmatischen Waffen aus der Hand schlägt, indem er für jeden eine unlösbare Aufgabe erfindet, venritt Ateh gleichsam das Recht der Poesie, den Absolutheitsanspruch der Theologie zu bestreiten - das Recht, die Frage nach der im Streit unerkennbaren letzten Wahrheit zu suspendieren und sich mit einer provisori-
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schen Moral zu begnügen. Aus Atehs quereinschießenden Gleichnissen, dunklen Sentenzen und ungelösten Rätseln spricht nicht allein die Lust an der Negation, sondern zugleich eine rhetorische List von eigener Vernunft, die den Streit der Konfessionen in einen Wettstreit zwischen Theologie und Poesie zu überführen scheint. So zum Beispiel bei ihrer (schon zitierten) Frage an den arabischen Abgesandten: "Wer ist die Mutter eures Göttlichen Buches?" Hier verwundert, daß sich der Mulla nicht einfach auf das 12. Kapitel des Koran beruft, auf das Borges verweist, um den aus dem Orient stammenden Begriff des heiligen Buches zu erläutern: (Die Moslems) glauben, daß der Koran der Schöpfung der arabischen Sprache vorhergeht; er ist eines der Attribute Gottes, nicht ein Werk Gottes; er ist wie Seine Barmherzigkeit oder Seine Gerechtigkeit. Im Koran wird in höchst rätselhafter Weise von der Mutter des Buchs gesprochen. Die Mutter des Buchs ist ein im Himmel geschriebenes Exemplar des Koran. Es wäre dies der platonische Archetyp des Koran, geschrieben und bewahn im Himmel, Attribut Gottes und älter als die Schöpfung. So verkünden es die Mullas, die moslemischen Gelehnen. 9
Wenn man unterstellt, daß dies Ateh (bzw. Pavic) bekannt war, bringt die Form ihrer Frage den Mulla gleichwohl in eine intrikate Verlegenheit: sie nimmt die Formulierung: "Mutter des Buches", die im Korantext selbst schon eine absolute Metapher ist, wonwörtlich, um ihren Sinn zu hinterfragen. Denn danach müßte nun das mehrfache Paradox aufgelöst werden, wie der Koran männlich und weiblich zugleich, Attribut des Vaters und archetypische Mutter ineins, ungeschaffen und gleichwohl ein im Himmel geschriebenes Werk sein kann. Die poetische Fiktion, von der Theologie als lügnerisch verworfen, enthüllt die uneingestandene Fiktionalität der Metaphysik des absoluten Buches. 10 Nach alledem wäre der Widerspruch der christlichen, arabischen und jüdischen Autoritäten, deren jede den Ausgang der Bekehrung für sich verbuchen will, nicht ein Widerspruch parteilicher Quellen, sondern von Ateh eigens herbeigeführt. Es wäre ihr Geniestreich, gegen die theologische Vernunft eine Vernunft der List aufzubieten, die behaupten darf, was erst die Toleranzidee der Aufklärung einlö-
9 Gesammelte Werke, Bd S/II, München 1981, S. 120/230. 10 S. dazu R. Wammgs Derrida-Kritik: .. Alle Destruktion bedarf, will sie nicht ihrerseits dem transzendentalen Signifikat aufsitzen. der literarischen Fiktion. deren metaphysische Unbotmäßigkeit gleich am Anfang der Geschichte abendländischer Metaphysik. in der Aggressivität der Platonischen Po/iuia. exemplarisch sichbar wird". in .. Imitatio und Intenenualität-, Kolloquium Kunst und Philosophie 2, Hrsg. W. Ölmüller, 1982. S. 17tf.
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sen wird: daß es sich mit jeder Religion, sobald die Herrschaft eines a1Jein seligmachenden Glaubens erst einmal aufgekündigt ist, gleich gut leben läßt. g) Statt einer Apokalypse - der Ausgang des Chasarischen Wörterbuchs Entgegen der Erwartung, der "Lexikonroman in 100 000 Wönern" ende mit den letzten Buchstaben der drei Alphabete, hat Pavic dem Werk eine ironische Figur des Endes aufgesetzt. Als ob das Interesse, die letzte Wahrheit im Streit der Religionen zu suchen, erlöschen mußte, sobald die Chasaren Gegenstand moderner Forschung wurden, kommt bei der dritten und letzten Reprise der chasarischen Polemik schon gar kein theologischer Disput mehr zustande. Statt dessen findet sich zu guter Letzt als "Appendix 11- noch ein "Auszug aus dem GerichtsprotokoU mit den Zeugenaussagen zum Mordfall Dr. Abu Kabir Muawija-, der das Religionsgespräch in ein letztes, um nicht zu sagen: Jüngstes Gericht auslaufen läßt. Es hat seinen symbolischen On in Istanbul, wo ein Orientaiistenkongreß, datien auf 1982, wieder drei gelehne Venreter der alten Religionen zusammenführt, um sich über ihre Forschungen auszutauschen. Dieses Ereignis mit seinem fatalen Ausgang zeigt auf der modernen Szene, die mit fraglos hingenommenen legendären Motiven durchmischt ist, unverkennbare Züge einer Wiederkehr der alten Konstellation einer" Vergangenheit(,) eingemauen in diese gegenwärtige Zeit" (S. 214). Zwar nicht der Kagan, wohl aber die ehemalige Prinzessin Ateh kehn als Kellnerin des Hotels Kingston wieder; aus ihrer Zeugenaussage spricht wiederum der unauslöschliche, das Gericht verblüffende Geist des poetischen Widerspruchs. Einer der Gäste spielt abends sehr schön auf einem aus dem Panzer der weißen Schildkröte gefertigten Instrument, offenbar eine Wiederverkörperung Aschkanis, eines berühmten Lautenspielers des 17. Jahrhunderts, dessen Namen eine Zeitlang der Teufel (Schejtan) trug; sein kleiner Sohn wird - dessen würdig -" wie ein Profi" den Revolver auf Dr. Muawija abfeuern (S. 357ff.l141ff.). Wie der On und die dramatis personae gehön auch der Zeitpunkt in die Figuration des Endes. Denn das Datum des 18. Oktober 1982 ist für die drei Gelehrten fatal, bringt es doch das mehrfach angekündigte Ende ihrer Lebensgeschichte und zugleich der tausendjährigen Suche nach dem letzten Exemplar des chasarischen Wönerbuchs, dessen Geheimnis seine letzten Erforscher in den Tod mitnehmen. Denn auch Dr. Isajlo Suk wird ermor-
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det, von Dr. Dorota Schulz, deren Briefe nach der Verurteilung in Istanbul stets mit dem Satz enden: "Unser falsches Opfer errette uns vor dem Tode" (S. 362). Statt über diesen unverständlichen Satz oder über den Sinn der behaupteten Differenz zwischen der weiblichen und der männlichen Ausgabe des Chasarnchen Wörterbuchs nachzugrübeln, dürfte es sich eher verlohnen, über die Stelle nachzudenken, an der das ChasaTische Wörterbuch ein einziges Mal über die Welt des Textes in die Realität der gegenwärtigen Geschichte hinausweist. Dort öffnet sich die heitere Travestie der textimmanenten Apokalypse auf den vermeintlich apokalyptischen Horizont des ausgehenden zweiten Jahrtausends. Es ist die Rede, die Ateh dem vierjährigen Kind in den Mund legt, das Handschuhe trägt, weil es vor den Resultaten der Demokratie Ekel empfindet: Bisher unterdrückten die großen Völker die kleinen. Jetzt ist es umgekehn. Jetzt terrorisieren im Namen der Demokratie die kleinen Völker die großen. Sieh dir die Welt um uns herum an: das weiße Amerika fürchtet die Schwarzen, die Schwarzen die Puertorikaner, die Juden die Palästinenser, vor den Juden fürchten sich die Araber, vor den Albanern die Serben, die Chinesen fürchten sich vor den Vietnamesen, die Engländer vor den Iren. Die kleinen Fische beißen den großen Fischen die Ohren ab. "(5. 359)
Eine erstaunliche Prognose, bedenkt man, daß das Buch vor dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums verfaßt wurde, der mit der Regression in den blinden Partikularismus nationaler Identitäten nicht allein die universalen Ziele der Aufklärung erlöschen, sondern zugleich auch den religiösen Fanatismus wieder aufleben ließ! Hat man das Buch als eine hintergründige Kritik des religiösen Fundamentalismus gelesen, so wird man nachträglich von seinem Autor eines Schlimmeren belehrt, der unlängst angesichts des in seinem Land tobenden Kampfs aller gegen alle glaubte, ein öffentliches Bekenntnis zur Ideologie eines Groß-Serbiens ablegen zu müssen."
11 Anikel in: DIE ZEIT Nr. 31,26.7.1991.
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11.
B. Abhandlungen BEMERKUNGEN ZUM HORIZONTWANDEl DES RELIGIONSGESPRÄCHS
Das Religionsgespräch dürfte in der Spätantike zum Zwecke der Missionierung geschaffen worden sein. Ein Prototyp, die Doctrina Jacobi (ca. 634 n.ehr.) hat die Gestalt eines fingierten Konversionsdialogs zwischen einem christianisierten Juden und seinen Glaubensgenossen. Im Liber Cosri (1146?) wird in die Erzählung von der Bekehrung des Königs der Chasaren die dritte Weltreligion in Gestalt eines "Gelehrten Edoms" einbezogen. In christlicher Tradition ist vor Abaelard nur ein Fall bezeugt, in dem ein Christ mit einem Heiden konfrontiert wird: Gilbert Crispins Disputatio Christiani cum Gentil; de fide Christi; derselbe Autor hatte auch eine Disputatio Judaei cum Christiano verfaßt. Abaelard, der die drei Religionen zusammenführt, rückt seinen Dialogus inter Philosophum,Judaeum et Christianum (um 1136) schon etwas vom puren Bekehrungseifer ab. Seinem Philosophus gereicht es zur Ehre, daß er allein im offenen Horizont einer Wahrheitssuche diskutieren will: er habe die bestehenden religiösen Schulen sorgfältig geprüft, in der Absicht, sich derjenigen anzuschließen, die am meisten im Einklang mit der Vernunft stünde (S. 22). Bei Nikolaus von Kues' De Pace fide; (1453), geht es darum, nach der Schreckensnachricht von der Einnahme Konstantinopels durch die Türken den Konflikt der Religionen nicht länger durch Waffengewalt zu schüren, sondern durch Argumentation in einen allgemeinen Weltfrieden zu überführen. Sowohl Abaelard als auch Nikolaus von Kues kleiden ihren theologischen Traktat in literarische Form, der erstere in die einer Vision (nach dem Vorbild von Daniels Traum ?), der letztere in die einer im höchsten himmlischen Rat einberufenen Versammlung von Wortführern aller bekannten Religionen (die indische einbegriffen). Seit der Aufklärung nimmt die Fiktion das Religionsgespräch in eigene Regie, Lessing im Zeichen der Toleranzidee, Potocki im Interesse des Ethnologen, eine tief in die Vergangenheit zurückreichende Konkordanz der Natur- wie der Offenbarungsreligionen aufzudecken. Die genannten Texte können im folgenden nicht eigens gewürdigt, sondern nur im Blick darauf interpretiert werden, wie sich im geschlossenen Horizont der Dogmatik anzeigt, daß auch in der Gewißheit eines Glaubens nichts, was endgültig zu sein scheint, darin aufgehen kann, Ende zu sein.
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a) Jehuda Halevis: Liber Cosri Das Buch zeigt mit dem Untertitel "Buch des Beweises und Argumentes zur Verteidigung des gering geschätzen Glaubens· seine apologetische Absicht an. Sie ist gegen die griechische Philosophie, den arabischen Nationalismus wie gegen die jüdische Sekte der Karäer gerichtet 12 und stellt sich zugleich als Konversionsdialog dar, in dem der chasarische König die Fragen stellt. Die bei den konkurrierenden Theologen, ein Christ und ein Moslem, können rasch abgefertigt werden, nachdem sie zugestehen mußten, viele ihrer Glaubenssätze gingen auf die Lehre der Tora zurück. Darum fällt die höhere Kompetenz einem Rabbi zu, der als Sprachrohr Halevis den König umfassend über Denken und Glauben des Judentums belehrt. Dessen eigentlicher Widersacher ist ein arabischer Philosoph, dem der erste Platz im Dialog eingeräumt wird. Seine Hauptargumente, auf die zurückzukommen der Rabbi immer wieder genötigt ist, sind: die Nichterschaffenheit des Kosmos, die Erhabenheit Gottes über alles menschliche Wissen und WoUen, die Fähigkeit des Menschen, durch den tätigen Verstand zur Vollkommenheit zu gelangen, ein Ziel, das alle Religionen vereinigen könnte (I. 1). Das zweite Argument ist ganz dazu angetan, die Weisung des Traums hinfällig zu machen: "Bei dem Schöpfer gibt es weder Wohlgefallen, noch Mißfallen; denn er ist erhaben über alles Wollen und alle Absicht (... ) er weiß nichts von dir, geschweige denn, daß er deine Gesinnung und deine Handlungsweise kenne, oder gar, daß er dein Gebet hören und deine Bewegungen sehen soUte" (I. 1). Es kennzeichnet die friedfertige Gesinnung Halevis, daß er seinem Epigramm gemäß: "Laß dich durch griech'sche Weisheit nicht verlocken, / die keine Fruchte treibt, nur höchstens Blüten - I } die Argumente des Philosophen nicht schroff zurückweist und sich vielmehr darauf beruft, "daß das Göttliche doch noch ein anderes Geheimnis habe, als das, was du, Philosoph, mir vorgetragen hast" (I. 4). Er setzt der Spekulation der Philosophen entgegen, daß ihnen die Gabe der Prophetie und damit die unmittelbarere Kenntnis von Gott mangle, weshalb sie nicht begreifen könnten, daß Gott eine Lehre auf Erden mitgeteilt und sich in der Geschichte Israels sichtbar manifestiert habe (I. 8). Er anerkennt die Lehre von der Willensfreiheit, läßt zu, Gott menschliche Eigenschaften beizulegen, und geht 12 Nach Jakob S. Minkin:}4!'h"J. H4lnJi. in: Groß4!' GestAltm tks}lUkntllms. Hng. S. Noveck, Zürich 1972, S. 93. 13 Ebd. S. 94.
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8. Abhandlungen
sogar so weit zuzugestehen, daß der Glaube an die Schöpfung aus dem Nichts für den Gottesbegriff nicht wesentlich sei: "Die Frage der Anfangslosigkeit oder Erschaffenheit ist dunkel, und die Beweise für beide wiegen einander auf. (... ) Ja wäre ein Bekenner der Tora sogar gezwungen, an die Hyle, die unerschaffene Materie, und an viele Welten vor dieser Welt zu glauben, so würde das seiner Religion keinen Eintrag tun" (I. 67). Worauf es vielmehr ankomme, sei, daß Gott mit den Vätern Israels in Verbindung getreten, sie geleitet und ihnen Wunder erzeigt habe. Darum habe Gott die Rede an sein auserwähltes Volk mit den Worten angefangen: "Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt", und nicht: "Ich bin der Schöpfer der Welt und euer Schöpfer" (I. 25). Doch an einer Stelle scheint die Religion der Philosophen dem Offenbarungsglauben überlegen zu bleiben. Als davon die Rede ist, daß sich Edom und Ismael, d. h. Christen und Moslems, in die Welt geteilt haben und einander töten, "in dem Glauben, daß diese Tötung ein gottgefälliges Werk sei", kann der Philosoph geltend machen: "Die Religion der Philosophen verlangt nie die Tötung eines Menschen, da sie nur auf den Verstand das Augenmerk richtet" (I. 2-3). Darauf fehlt zunächst eine Antwort. Sie fmdet sich erst ganz am Ende, als der Rabbi sein großes Verlangen bekundet, nach Jerusalem, der Stadt seiner höchsten Hoffnung, zu wandern. Die Gefahren, die ihm der König vorhält, will er gerne auf sich nehmen. Sollte er dabei umkommen, so will er Gott auch dafür dankbar sein, "da ihm so der größte Teil seiner Sünden gesühnt wird. Das halte ich doch für einen bessern Entschluß, als wenn man sein Leben im Krieg in Gefahr bringt, um dann als Held gedacht zu werden, oder großen Lohn zu empfangen" (V. 23). b) Petrus Abaelardus: Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum Wie im Liber Cosri wird auch bei Abaelard der Dialog um einer Bekehrung willen geführt. Hier ist der Betroffene nicht die Figur eines edlen, unbefangenen Heiden, sondern ein hochgebildeter arabischer Philosoph, dem Abaelard die objectiones anvertraut. Damit wird der Streit der Religionen unter den hohen Anspruch gestellt, die quaestio des Textes: "quo summum bonum sit et qua illuc via nobis sit perveniendum" (S. 128), mithin eine ,letzte Frage', ganz ohne Überheblichkeit und Sophisterei zu diskutieren (S. 162) und dabei nicht den Meinungen, sondern allein der ratio zu folgen (S. 15). Der
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Philosoph beginnt damit, er habe die herrschenden Religionen geprüft, in der Absicht, sich derjenigen anzuschließen, die am meisten im Einklang mit der Vernunft stünde. Er habe die Lehre der Juden töricht, die der Christen widersinnig befunden ("comperi Iudaeos stultos, Xristianos insanos" , S. 29), und wolle sich nun, um ihrem Streit ein Ende zu setzen, dem Spruch eines Schiedsrichters unterwerfen (S. 37). Dessen Entscheidung, die sich Abaelard als iudex vorbehielt, bleibt indes offen, weil er den Text unvollendet hinterließ. Abaelards Religionsgespräch ist eigentümlich, daß die Kontrahenten bestimmte Grundüberzeugungen teilen: die kultische Verehrung des einen Gottes (S. 5), den Vorrang der ethica moralis im Denken wie im Glauben (S. 18) und die Sorge um das Heil der Seele (S. 165). Die drei Religionen scheiden sich danach durch ihr fundamentum inconcussum: der lex naturalis beim Philosophen, der lex Mosis beim Juden, der lex Christi beim Christen. Da dem Philosophen im Gespräch die Rolle des Fragenden zufällt, können sich der Jude wie der Christ nicht auf die Autorität ihrer Offenbarung berufen, sondern müssen dem philosophischen Verfahren folgen, mithin ihr argumentum fidei wie die Verbindlichkeit ihrer Tradition der Prüfung durch die ratio unterwerfen. Es zeigt sich dabei, daß der Philosoph gegenüber dem Juden leichtes Spiel hat, aber dem Christen gegenüber, der über ,zwei Schwerter' - das Alte und das Neue Testamentverfügt (S. 59), mehr und mehr aus der Rolle des Fragenden in die des Belehrtwerdens zurückfällt. Um einen Eindruck von Niveau der Argumentation zu geben, referiere ich kurz den ersten Gesprächsteil. Dort ist das stärkste Argument des Philosphen, die lex naturalis sei dem mosaischen Gesetz überlegen, weil es schon vor ihm bei den Heiden wie bei den israelischen Patriarchen die Gottesliebe wie die Nächstenliebe begründet habe. Dafür weiß er neben der Reihe von Abel über Abraham bis Melchisedech noch den ,Heiden' Hiob (S. 485), aber auch J eremias anzuführen, der schon vor seiner Geburt geheiligt worden sei, so daß es einer Beschneidung nicht bedurfte. Dieses Ritual (vgl. S. 297: "Que tam tenera humani corporis portio quam iUa, cui hanc plagam in ipsis quoque infantulis lex infligit", und S. 569/843), das der Philosoph für völlig abstrus hält, zu rechtfertigen, fällt dem Juden begreiflicherweise am schwersten. Auf die entscheidende Frage: ,Sei nicht das freiwillige Befolgen des Naturgesetzes höher zu schätzen als sich un ter das Joch der mosaischen Gebote und Rituale zu beugen?' (S. 362/910) sieht er sich genötigt zuzugestehen, daß in der Tat das Doppelgebot, den Nächsten wie Gott zu lieben, zum
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tugendhaften Handeln genüge und daß, wo besondere Werke fehlten, der gute Wille allein schon verdienstlich sei (damit ist ihm ein Kernsatz von Abaelards Theologie in den Mund gelegt!). Am Ende fehlt nicht der schon topische Vorhalt: Wie könne seine Religion glaubwürdig bleiben, wenn das auserwählte Volk ohne Grund die schwerste Last zu tragen habe - wenn ihm versagt sei, sein Gesetz zu erfüllen, das sich gewiß nicht im Exil, sondern allein im Gelobten Land hätte einlösen lassen (S. 548)? Das mögliche Gegenargument: daß Israel niemals anderen Völkern das Gesetz seines Glaubens aufzuzwingen suchte, wie es Moslems und Christen in ihren ,heiligen Kriegen' oder Kreuzzügen taten, fällt ihm nicht bei. So scheint ihm auch noch in Abaelards Religionsgespräch die Rolle des stultus anzuhängen, dem im Mittelalter topischen Vorurteil gemäß, daß die Juden, die sich nur an den literalen Sinn der Heiligen Schrift hielten, für ihre figurale Bedeutung blind seien und darum die Chance der Erlösung verfehlten. Zu diesem Vorurteil hat M. Saim angemerkt, daß die rabbinische Exegese des 12. Jahrhunderts, besonders Rachi (Solomon bar Isaac) und seine Schüler (die sog. Tosaphisten), de facto schon Verfahren der Glossierung entwickelt hatten, die über den Literalsinn hinausführten und Abaelards Hermeneutik wie seinem kritischen Verhältnis zur Tradition durchaus nahestanden. 14 Im zweiten Gesprächsteil widerfährt dem Philosophen, obschon er mit dem Alten wie mit dem Neuen Testament gleichermaßen vertraut ist, die gleiche Abfuhr: der Christ nimmt gerade dann, wenn ein philosophisches Argument für ihn bedrohlich wird, ein Vorrecht auf den Figuralsinn für sich in Anspruch. So vor allem bei dem stärksten Argument des Philosophen: ,Warum finden die Christen ihre Seligkeit nicht schon in dieser Welt und bedürfen eines Himmels, mithin eines aufgeschobenen Endes im Jenseits, wenn doch ihr Gott überall ist und der Segen der divina visio den Gläubigen allerorts und jederzeit zuteil werden kann?' (S. 276). Dem setzt der Christ entgegen, daß ihm eben wie dem Juden der mehrfache Schriftsinn verschlossen sei: Si prophetizare magis quam iudizare in litera nos ses et, que de Deo sub specie corporali dicuntur, non corporaliter, sed mystice per allegoriam intelligi scires, non ita, ut vulgus, que dicuntur (5. 279).
Es folgt eine Auslassung über die Torheit, sich Gott als ein Wesen mit körperhaften Zügen vorzustellen - offensichtlich eine Ausflucht, denn der eigentliche Einwand des Philosphen bleibt unbeantwortet. 14 .Raison et dialogue chez Abaelard c , in: Socüte. Hiver 1988, Nr. 2. S. 77-107. hier S.96ff.
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Diese Abfenigung des Philosophen ist für den Leser unserer Tage um so mehr enttäuschend, als Abaelard die Rolle des arabischen Philosophen erst zum Wahrheitssucher erhöht hat, ihm die Widerlegung des Juden überläßt und ihm dabei sogar eigene Auffassungen über das AT und sein Verhältnis zur lex naturalis in den Mund legtls, bevor er ihn schließlich wieder in die Blindheit der Nicht-Christen zurückweist. Diese Positivierung der arabischen Philosophie ist um so bemerkenswerter, bedenkt man, wie tief selbst noch mittelalterliche Theologen, die zur Zeit Abaelards die apokalyptische Vision des Glaubensfeindes aufgaben und sich ernsthaft mit dem Koran und der Philosophie des Islam befaßten, in einem christlichen Fundamentalismus verhaftet waren, über den sich Abaelards Dialogus schon so weit erhebt, daß man ihn cum grano salis als ,Nathan des 12. Jahrhunderts' rühmen konnte. Wie unlängst G. C. Anawati zeigte, begegneten selbst christliche Theologen, die das tödliche Feindverhältnis in eine friedliche Disputation überführen wollten, dem Denken des Islam mit dem Unverständnis des Glaubenseifers. 16 So nannte Petrus Venerabilis, der 1141, zur Zeit von Abaelards Dialogus, die erste lateinische Übersetzung des Koran in Gang brachte, in seiner Summa totius haeresis Saracenorum den Islam die "Kloake aller Häresien ce (5. 248ff.). Die Kreuzzüge und die Reconquista in Spanien taten ein übriges, um die Kluft zwischen den beiden Religionen wieder zu vertiefen, die zu überbrücken die um Frieden bemühte Theologie begonnen hatte. Das Fazit Anawatis ist darum, daß die Begegnung von Islam und Christentum im Mittelalter zwar im Bereich der Kultur durchaus bereichernd war, im Bereich der Religion aber völlig gescheitert sei (5. 284). Bedenkt man, daß Abaelards Dialogus die drei monotheistischen Religionen in der Anerkennung einer universal gültigen, auf Vernunft gegründeten Ethik übereinstimmen läßt (Saim, S. 100), so zeigt der Gang des Gesprächs im Gegensinn doch zugleich auch die dogmatischen Grenzen an, die diesem kühnen Ansatz zu seiner Zeit noch gezogen waren. Bei ihm zeigt die als christliches Privileg beanspruchte Lehre vom mehrfachen Schriftsinn die schärfste Grenzlinie an. Hat sie ursprünglich für die christliche Theologie nach innen eine Protohermeneutik von der Autorität der Dogmatik freigesetzt, so 15 Nach P.J. Payer, Einleitung zu seiner englischen Übersetzung von Abaelard: A Dia-
logue o{ a Philosoph er with a Jew and a Christian, Toronto 1979, S. 11. 16 "Islam et christianisme: La rencontre de deux cultures en Occident au moyen ige-,
in: Melanges Je J'lnstitut Dominicain d'Etudes orie"tales du Gure 20 (1991), S. 233299. Der Verf. hat Abaelards DiaJogus leider nicht einbezogen.
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konnte sie nach außen zur Waffe der Intoleranz werden, sofern sie gegenüber anderen Religionen, wie auch gegenüber der sich emanzipierenden weltlichen Dichtung, allein der theologischen Bibelexegese die Erkenntnis des Figuralsinns vorbehielt. 11 Hermeneutik vermochte zum einen in ihren theologischen Anfängen als Instrument der immer neu zu leistenden Vermittlung zwischen Text und Gegenwart, geoffenbartem Wort und seiner Applikation, den Endhorizont des Dogmas auf Möglichkeiten zu öffnen, seine Wahrheiten auch noch anders zu verstehen. Sie war zum andern indes nicht davor gefeit, sich selbst zu widersprechen, wenn sie sich wieder dogmatisch verfestigte und forderte, die Wahrheit eines Glaubens sei so und nicht anders zu verstehen. So schien auch das Religionsgespräch Abaelards, das einen Anfang setzte, das Gemeinsame in der Verschiedenheit des Glaubens zu erkennen, wieder in eine figur des Endes, der Behauptung des Absolutheitsanspruchs der christlichen Religion, einzumünden. Wenn aus unserer Sicht die Zurückstufung des arabischen Philosophen in den Stand der Blindheit der Nicht-Christen eine Schwäche des DialogNs war, kann man sich fragen, ob dies Abaelard nicht selbst bewußt gewesen sein konnte. Daß er diesen Text unvollendet beließ, wäre dann nicht dem äußeren Grund seines Todes zuzuschreiben, sondern der ungelösten Schwierigkeit, für den Streit der drei Weltreligionen einen die Vernunft wie den Glauben befriedigenden Ausgang zu finden. c) Nikolaus von Kues: De pace fidei (1453) Nach der Einnahme Konstantinopels durch die Türken wird Nikolaus von Kues der prominenteste Vertreter der Idee, die Schrecknisse des Religionskriegs nicht durch Waffengewalt weiter zu nähren ("formidare habemus ne gladio pugnantes gladio pereamus-' S. 97), sondern im Vertrauen auf die Kraft der Argumente das religiöse Freund-feind-Verhältnis in einem universalen Religionsfrieden aufzuheben. Er wird später mit seinem Freund Johannes von Segovia eine Konferenz (contraferentia) christlicher und islamischer Gelehrter planen, von der dieser erhoffte, die Moslems durch den Nachweis zu bekehren, daß ihr Buch nicht geoffenbart sein könne, zumindest aber zu erreichen, daß selbst beim Scheitern eines solchen Gesprächs doch ein Jahrzehnt Frieden gewahrt bleibe, was weniger koste als 17 S. dazu Verf .••Chanson de geste und höfischer Roman-. in: St..m. yorrwnicA.04, Heidelb4:rg 1963, S. 78.
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9. Das ReligioRsgespräch
eine militärische Aktion (wie Anm. 16, S. 273). Der vorangegangene Text, De pace [uJei, antwortet auf die Katastrophe von 1453 mit einer Vision in literarischer Form. Dort ist an die Stelle der ethica moralis, die Abaelard in der Konvergenz der drei Religionen auffinden wollte, das metaphysische Prinzip des Kusaners getreten, das seinen Text von vornherein allem Dogmatismus der sich im Namen der Rechtgläubigkeit bekämpfenden Religionen (die orthodoxe Theologie der christlichen einbegriffen) überhebt. Es ist seine Metaphysik der complicatio und explicatio, mit dem Grundgedanken, daß in Gott, dem Nicht-Anderen, alle Dinge derart ein gefaltet sind, daß sich in ihnen zugleich das Wesen Gottes ausfaltet, was auch besagt, daß alle Dinge in der einmaligen Verschiedenheit ihres Andersseins je nach ihrer Nähe und Ferne zu Gott an seiner Wahrheit teilhaben können. Danach sind auch alle Religionen der Welt nur "quaedam loquutiones verbi Dei sive rationis aeternae" und entspringt ihr Streit dem Verkennen des letzten Horizonts, in dessen Erkenntnis die Aufhebung aller endlichen Gegensätze (coincidentia oppositorum) im Unendlichen und damit die Möglichkeit eines irdischen Religionsfriedens liegt. Das Religionsgespräch des Kusaners erhält seine besondere Weihe, weil er es im höchsten himmlischen Rat, "praesidente Cunctipotenti", stattfinden läßt. Als erster spricht ein Erzengel, die Bitte vortragend, der Allmächtige möge selbst den Frieden zwischen den auf Leben und Tod streitenden Parteien stiften, da der Streit ja letztlich um seinetwillen geführt werde ("Propter te enim, quem sol um venerantur in omni eo quod cuncti adorari videntur, est haec emulatio" ; 7, 10). Durch viele irdische Sorgen und Geschäfte gestört, vermöchten sie nicht, den einen, verborgenen Gott zu suchen. Angesichts des Leidens der Menschheit erbarmt sich sodann der Herr seines Volkes und bewilligt, "omnem religionum diversitatem communi omnium hominum consensu in unicam concorditer reduci amplius inviolabilern" (10, 17). Nun ergreift Christus selbst das Wort, um die angesehensten Wortführer der verschiedenen Religionen (es erscheinen nacheinander: ein Grieche, Italiener, Araber, Indier, Chaldaeer, Jude, Skythe, Gallier) einzeln zu vernehmen und ihre Fragen zu beantworten. Von Abaelard her kommend fällt auf, daß das Gespräch sehr sanft geführt wird, daß die Fragen oft schon ,ad usum Delphini' gestellt sind und daß sich die Fragesteller leicht mit der Antwort zufrieden geben. Der Grieche zum Beispiel, darauf angesprochen: ,Ihr seid doch alle Philosophen und liebet die Weisheit konzediert sogleich, daß es nur eine Weisheit geben kann: ,Allerdings auf keinem anderen C
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8. Abhandlungen
Wege, als durch Staunen über die sichtbaren Werke der Weisheit gelangen wir zur Liebe zu ihr' (12, 12). Mithin waren sie schon auf dem richtigen Wege zum gemeinsamen Ziel, ohne es zu wissen, was mehr oder minder auch für alle andern gilt (lediglich der Tartar bedarf einer Bekehrung, nachdem er als ein ,simplex' erst katechisiert worden ist; 54, 21). Petrus fällt es dann zu, auf die Frage zu antworten, wie das Wort Fleisch geworden sein kann (hier erscheinen - wieder in bunter Reihe - ein Perser, Syrer, Spanier, Türke, Deutscher, Tartar). Schließlich wird Paulus bemüht, der als doctor gentium delikate Fragen des Ritus, der Beschneidung, der Eucharistie behandelt (an den Tartaren, Armenier, Böhmen und Engländer gewendet). Das Religionsgespräch des Kusaners ist, seiner Theologie gemäß, an sich selbst eine utopische Figur des befriedeten, glücklichen Endes. Die Teilhabe am Einen in der Verschiedenheit beruht auf der Gottesebenbildlichkeit des mit einem vernünftigen Geist begabten Menschen: "Ex limo terrae placuit corpus hominis formatum spiritu rationali per te inspirari, ut in eo reluceat ineffabilis virtutis tuae ymago" und zugleich auf der Vielfalt seiner irdischen Gestalten: "Multiplicatus est ex uno populus multus, qui occupat aridae superficiern" (5, 1). Obschon der Mensch, umfangen von Schatten, das Licht seines Ursprungs nicht mehr zu erschauen vermag, hat ihm Gott alles gegeben, damit er im Staunen seiner Sinne dereinst mit dem geistigen Auge seinen Schöpfer erkennen und sich am Ende mit ihm in Liebe wieder vereinen kann (5, 7). Das Religionsgespräch endet mit dem angekündigten Beschluß der hinfort unverletzlichen pax fidei in der verwirklichten Eintracht aller Religionen, der hernach, wenn die zur Erde zurückgesandten Weisen ihre Völker zur Einheit des wahren Kults gebracht haben, in Jerusalern den politischen Frieden herbeiführen soll. Einen ewigen Frieden, weshalb De pace [uJei nach der Intention seines Verfassers als Vision eines Religionsgesprächs zu verstehen wäre, das als ein letztes kein weiteres mehr benötigt. d) J an Potocki: Die Handschrift von Saragossa Zur literarhistorischen Situierung und zum besonderen Rang des Textes kann hier auf das Nachwort der Ausgabe von Roger Caillois verwiesen werden. 1I Er präsentiert dieses "Meisterwerk der phantastischen Literatur" als "eine der seltenen Erzählungen, welche die Kraft 18 S. 839 ff. der dt. Ausgabe.
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jener Gattung erneuern und ihre Würde bekräftigen" (S. 869). Das seit 1805 erst allmählich und stückweise bekannt gewordene Manuskript ist von einer ungewöhnlich komplexen Struktur. Es hat - in 66 Tage gegliedert - den Rahmen von Tausend und einer Nacht, kann mit seiner "lächelnden und intelligenten Immoralität" als ein neues Dekameron gelten, führt zugleich die Zaubermärchen Cazottes weiter, nobilitiert den zu dieser Zeit beliebten Schauerroman und kündet mit seiner Lust am Okkulten wie mit der ständigen Vertauschung von Realem und Irrealem schon den Stil E. T. A. Hoffmanns an. In seiner Nähe zur beginnenden Romantik bewahrt Potocki gleichwohl das Erbe der Aufklärung: die Neugier eines unersättlichen Reisenden, der die Sitten der Spanier, der Musulmanen, der Sizilianer und am Ende noch der Mexikaner pittoresk zu verzeichnen weiß; den wissenschaftlichen Ehrgeiz, zwischen den verschiedenen Zivilisationen eine tief in die Vergangenheit zuruckreichende Konkordanz aufzudecken (er gilt auch als Begründer der slawischen Archäologie!), und nicht zuletzt die kritische Absicht, in der Handschrift von Saragossa die Geschichte der Offenbarungsreligionen, ihrer Dogmen und Riten, wie auch ihres Aberglaubens, mit der Vernunft der natürlichen Religion zu konfrontieren. Vornehmlich unter diesem letzten Aspekt soll die Handschrift 'Von Saragossa im folgenden betrachtet werden, aus der Pavic einiges übernommen haben könnte (wie die Mystifizierung eines Frühdrucks, das Traumleben, den Spiegel der Ateh, oder auch einen gnomischen Satz: "daß die Tugenden festere Grundlagen hätten als die Ehre", den zu ergründen dem Erzähler Alphons aufgegeben ist), nicht aber die Idee eines übergreifenden Religionsgesprächs, denn in der Handschrift 'Von Saragossa finden sich nur Einzelgespräche (die zusammenzufügen allerdings nahelag).19 Der Sieg der aufgeklärten Vernunft erscheint im Text Potockis als Endhorizont der Geschichte der Religionen. Diese werden vordergründig - nach Mustern des Schauerromans - in Gestalten des Aberglaubens eingeführt. Was immer dem Erzähler Adolph an Schauerlichem und übernatürlichem begegnet: Gespenster (vorab in der Wiederkehr der beiden Gehenkten), dämonische Geschöpfe (succubi) wie die beiden Cousinen, Teufelsglaube, Inquisitionsrituale u. a. m. löst sich im Verlauf der Handlung durch natürliche Erklärung auf. 19 Vgl. S. 1134: die KabbaLa S~firoth, 1684 lateinisch und chaldäiscb .in einer kleinen deutschen Stadt namens Frankfurt gedruckt-; S. 32: die beiden Adolph gemeinsam liebenden Cousinen erscheinen nur im Traum (u.a.m.); S. 160,216/7: Liebe im Spiegel, der zerbricht; S. 69 (88, 107,474): der Lehrsatz des Eremiten.
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Dem naiv unaufgeklärten Helden, der alle Versuchungen, ihn zum Islam zu bekehren, unbeirrbar ausschlägt, steht als Verkörperung der aufgeklärten Rationalität der Geometer Velasquez gegenüber. Er könnte als eine witzvolle Endgestalt des esprit geometrique interpretiert werden, weiß er doch seine exakte Methode auf alles anzuwenden, was bisher dem esprit de finesse vorbehalten blieb: Geometrie als der sicherste Weg zum Glück (S. 300), als Schlüssel für den Sinn historischer Ereignisse (S. 327) wie für das vermeintliche, in Wahrheit algebraische Geheimnis der Liebe (S. 481), als Grund der U nterscheidung von toter und organischer Materie (S. 543), als Prinzip der Erziehung (S. 554) wie der Weltordnung überhaupt (S. 361). Er weiß sein eigenes Leben aus einer algebraischen Gleichung zu entwickeln (5. 609) und macht sich anheischig, jedes Wunder gemäß der Theorie der geometrischen Progression zu erklären (S. 613). Dem Geometer Velasquez ist auch die Antwort auf die Frage der schönen Jüdin Rebekka nach dem Wesen der Religion in den Mund gelegt, die er als eine "geometrische Frage" aufnimmt (S. 53 Off. ). Da schon die Geometrie das unendlich Große wie das unendlich Kleine zwar bezeichnen, nicht aber begreifen könne, "wie könnte ich dann das ausdrükken, was zugleich unendlich groß, unendlich weise, unendlich gütig und Schöpfer aller Unendlichkeiten ist?" Wissenschaft sei mit dem Gottespostulat keineswegs unvereinbar: "Die Wissenschaft führt niemals zum Unglauben, sondern der Mangel an Bildung ist es, der uns in ihr versinken läßt" (S. 531). Dies zeige das Beispiel Newtons oder Leibnizens, der sich lange mit der Vereinigung der Kirchen befaßt habe. Es folgt die Erklärung, wie aus der Fähigkeit des Menschen zu abstrahieren, die ursprüngliche Naturreligion entstanden sei: "Und führt uns diese nicht zu demselben Ziel wie eine offenbarte Religion, das heißt zu einer zukünftigen Belohnung oder Strafe?" Dann wird ein Theologe einbezogen und die Frage des Wunderglaubens erörtert. Auf den Vorhalt des Philosophen, für den Glauben an Wunder sei es gleichgültig, ob diese Wunder tatsächlich stattgefunden haben (ein Lessingsches Argument !), antwortet der Theologe: Wer aber hat dir die Naturgesetze enthüllt? Woher willst du wissen, daß die Wunder. statt Ausnahmen zu sein, Äußerungen dir unbekannter Phänomene sind? (S. 536)
Dem setzt der Philosoph Potockis These über die Anfänge des Christentums entgegen: Wenn ich nicht imstande bin, ein Wunder zu erklären, so hast auch du, Seilor Theologe, kein Recht, die Zeugnisse der Kirchenväter zu verwerfen, die zugeben, die Dogmen und Mysterien unseres Glaubens hätten schon in vorchristlichen Mysterien existiert. (S. 537)
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Das Christentum habe sich aus allem gebildet, "was in heidnischen Religionen und in der jüdischen Religion das Reinste gewesen war". Der Schöpfer der Welten habe "in antiken Mysterien den Samen der vollkommenen Religion verborgen". Und deshalb "nennen wir Gott die Vorsehung, denn andernfalls würden wir ihn nur die Macht nennen" (S. 538). Das Religionsgespräch in der Handschrift von Saragossa setzt die Entdeckung der natürlichen Religion nicht einfach gegen den Offenbarungsglauben der alten Religionen, sondern fordert ihre wechselseitige Anerkennung. Der Geometer ist sich bewußt, daß seine Auffassung für die meisten eine allzu gefährliche Waffe sei: Der Glaube, der auf Gewohnheiten gründet, die uns von Kindheit vertraut sind: auf der Liebe der Kinder zu den Eltern, auf allen Bedürfnissen des Herzens, gibt dem Menschen ein weit festeres Fundament als die Vernunftschlüsse (S. 535).
Der aufklärerische Impetus Potockis hält sich in den Grenzen einer weisen Pädagogik. Hier wird Vernunft, deren letzte Einsicht besser den wenigen vorzubehalten sei, nicht schroff gegen die Vorurteile der Tradition ausgespielt. Hier wird vielmehr das Recht des Gewordenen schon im Geiste des Historismus anerkannt und wird hingenommen, daß Traditionen des Glaubens das Leben der Völker zu orientieren und zu tragen vermögen, auch wenn ihr Glaube rational nicht begründbar ist. Die herrschenden Religionen, die zeitlose Geltung beanspruchen, erscheinen in der Handschrift von Saragossa nunnehr als historische Gestalten im Wandel der Zeiten und Weltbilder. Als sich der ewige Jude, enttäuscht von der Intoleranz der Synagoge, von einem ägyptischen Priester über die älteste Religion belehren läßt, aus der nicht allein Herodot und Plato, sondern auch israelische Theologen uneingestanden ermaßen geschöpft hätten, erfährt er von dem weisen Cheremon: Die Religionen sind, wie alles in der Welt, einer stillen und stetigen Kraft unterworfen, die bewirkt, daß ihre Form und Natur sich ununterbrochen ändern, so daß nach einigen Jahrhunderten eine Religion, von der man meint, sie sei stets dieselbe, dem Glauben der Menschen ganz neue Ansichten darbietet, Allegorien, deren Sinn sie nicht mehr durchschauen, oder Dogmen, an die sie nur noch zur Hälfte glauben (S. 473).
Wird der theoretische Streit der alten Weltreligionen in der Handschrift von Saragossa auch nicht zu einem Gipfelereignis zusammengeführt, so stellt der Text seine friedliche Lösung doch in der Romanhandlung vor Augen. Pandesowna, dem zweiten Protagonisten, wird
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eröffnet, daß im Refugium der Alpajurras Angehörige aller Religionen friedlich nebeneinander leben, unter Duldung der heiligen Inquisition: diese "hat Gründe, bei allem, was hier vor sich geht, durch die Finger zu sehen" (S. 778). Endet diese Idylle auch mit einer großen Detonation, die das Goldbergwerk des maurischen Geschlechts der Gomelez und damit ihren Traum einer allumfassenden islamischen Monarchie zerstört, so erweckt der Schluß des Romans doch wieder die Hoffnung auf eine Versöhnung aller Religionen. Sie findet zwar noch ganz im Privaten statt, wenn sich Adolph und die ihm Nahestehenden als Glieder einer Familie und zugleich als Glieder verschiedener Religionen erkennen und anerkennen, von denen aller Eifer, einander bekehren zu wollen, abgefallen ist. Doch könnte der zeitgenössische Leser diese Szene einer zugleich familiären und religiösen Anagnorisis auch noch anders verstanden haben: als Vorschein einer Weltfamilie im Geiste des Freimaurerordens, dessen Einfluß die jüngste Forschung in der Symbolik wie im Initiationsschema der Handschrift von Saragossa ausmachen konnte. 20 e) Lessing: Nathan der Weise und seine jüngste Reprise Das klassisch gewordene Werk und seine Wirkung brauche ich hier nicht eigens zu würdigen, weil es unlängst Gegenstand einer Debatte wurde, die als ein Religionsgespräch unserer Tage die Reihe der von mir betrachteten Texte am besten beschließen kann. Die Frage nach der Herkunft der Ringparabel wurde dort schon gar nicht mehr gestellt, was die Debatte wohl vereinfacht haben dürfte. Darauf noch kurz einzugehen, erscheint mir geboten, weil erst die intrikate Vorgeschichte der Ringparabel die hintergründige Problematik in Nathan der Weise voll ansichtig macht, mit dem Lessing die" Tyrannei des einen Rings" gebrochen, zur Toleranz aufgerufen und damit das humane Ethos der aufgeklärten Vernunft proklamiert hat. Sind doch in dieser Vorgeschichte zwei Traditionen, die Parabel von den drei Ringen und der Traktat Von den drei Betrügern (gemeint sind die Religionsstifter Moses, Jesus und Mohammed!) aufs engste verbunden, wie F. Niewöhner unlängst in einem ungewöhnlich spannenden und gelehrten Buch aufgedeckt hat. 21 20 Nach C. Nicolas. in den Cahins J~ VanOf)~ (Publikation eines Kolloquiums über Jean POlocki). 1992. S. 274ff. 21 Vnitas sw~ Vamtas (wie Anm. 1).
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Seine Suche nach der ältesten Gestalt der Parabel führte einerseits zu Boccaccio (Decameron I, 3), Lessings unmittelbarer Quellen, andererseits zu einer jüdischen Version im Schevet-jehuda von Ibn Verga zurück, einem im 15. Jahrhundert schreibenden Marranen, der Boccaccio nicht kannte. In beiden Versionen, wie in allen weiteren, ist es stets ein Jude, der die Parabel vorträgt: die Lehre der Toleranz ist gerade der allerorts oft verachteten und verspotteten Gestalt in den Mund gelegt.23 Die älteste bekannte jüdische Fassung!4 unterscheidet sich von aUen späteren dadurch, daß der Vater, ein Goldschmied, jedem seiner beiden (statt drei) Söhnen einen Edelstein (statt einen Ring) hinterläßt, und zwar jedem einen echten, so daß lediglich eine pädagogische List, aber noch kein frommer Betrug im Spiele ist. Gott als Vater ist toleranter als seine Kinder, die sich darüber streiten, welcher Stein der bessere sei. Für den Vater im Himmel, der allein den Unterschied der Steine kennt, aber verschweigt, sind alle Weisen seiner Verehrung willkommen, mithin alle Religionen gleichermaßen echt. Diese Folgerung legt der Kontext der Parabel nahe, in der die Weisheit des Juden, Ephraim ben Sancho, mit der Unbelehrbarkeit Nicolas', eines christlichen, Weisen', konfrontiert wird. Auf dessen Frage an den spanischen König: "Es war immer bei den heiligen Königen der Brauch, alle Religionen der ihrigen zu unterwerfen; warum unterwirfst du diese nicht?", antwortet Don Pedro: "Ich habe nie einen Erfolg bei einer Sache gesehen, die durch Zwang geschieht" und stellt Nicolas anheim, eine Bekehrung durch "milde Belehrung" zu versuchen. Der Ausgang bleibt offen, weil Nicolas die Juden nach wie vor für unbelehrbar hält. Derart wird in der ältesten jüdischen Version, deren Kritik an christlicher Intoleranz offensichtlich ist, die Ambivalenz der Ringparabel vermieden, bei der von Boccaccio bis Lessing die Wahrheit der Toleranz um den Preis eines frommen väterlichen Betrugs ad usum Delphini erkauft ist: die Duldung aller drei Religionen erfordert, die Unterscheidung von wahr oder falsch wenn nicht überhaupt preiszugeben, so doch zumindest die Entscheidung, welcher 22 Boccaccios Text gehen selbst wieder verschiedene Varianten der Ringparabel aus christlich-mittelalterlicher Tradition voraus (bei Niewöhner nicht aufgeführt), die hier außer Betracht bleiben können (s. dazu M. Penna, La parabola tki trt antlJi t la tokTanza ntl mtdio ""'0, Torino 1953). 23 Worauf die rabbinische Interpretation zu Recht besonderen Wert legt, s. j.S. Bloch, QNtlkn Nnd Paralltltn ZN Ltssings Nathan dtr Wtist, Wien 1880. Warum Bloch Ephraim den Weisen als Urheber der Parabel ansieht und statt von zwei gleich von drei Steinen spricht. ist unerfindlich (wenn nicht gar ein frommer Betrug?). 24 Text nach Niewöhner (Vtritas S. 48-50) wiedergegeben.
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Glaube der echte sei, zu suspendieren. Gleichwohl ist auch im Schevet Jehuda von Betrug die Rede, von fünf Männern, die sich fälschlich als Messias ausgegeben haben (Niewöhner S. 26tH.). Ibn Verga beruft sich für diese kleinen Betrüger auf das Sendschreiben an die Jemeniten von Maimonides, doch ohne die drei großen Betrüger seiner Vorlage - Jesus, Paulus und Mohammed - zu erwähnen. Wenn er statt dessen die Ringparabel erzählt, wie Niewöhner annimmt, scheint er "mit dieser Erzählung die Betrugsthese des Maimonides korrigieren zu wollen, denn hat nicht ,unser Lehrer Maestre Moscheh aus Ägypten' gesagt, ,daß auch die trefflichsten unter den Nicht juden des ewigen Lebens teilhaftig werden'? Der MaimonidesVerehrer Ibn-Verga korrigien Maimonides mit Maimonides. (... ) Der Jude erzählt die Ringparabel, weil erst der Messias wird entscheiden können, welcher Sohn ( ... ) den wenvoUen Ring getragen hat" (S. 266). So laufen die beiden Fäden der Ringparabel und des Satzes von den drei Betrügern über die heterogenen Zeugnisse der abenteuerlichen Spurensuche Niewöhners im Wirkungshorizont von "Maimonides" zusammen. Er bestätigt damit eine Vermutung, zu der unabhängig von ihm Hans Blumenberg in seiner Matthäuspassion (1988) gelangt ist: "Maimonides wäre zwar nicht die letzte Wurzel der Parabel, wohl aber mit dem Wandel zur Toleranz gegenüber den zunächst nur ,falschen' Messiassen der Vater ihrer Gesinnung" (S. 272). Die Gründe und Hintergründe der Religionsdebatte des 18. Jahrhunderts, auf die sich Niewöhners Hypothese stützt, daß es Maimonides war, der noch als Vorbild für Lessings Nathan hätte dienen können ("wer es war, aber doch nicht sein durfte S. 21) und daß er mit der wieder aufgenommenen Parabel von den drei Ringen eine Antwort auf das Buch De tribus impostoribus gegeben hatte (S. 329), brauchen hier nicht referien zu werden. In dieser Sicht wäre Lessings Aufruf zur Toleranz ("Es eifre jeder seiner unbestochnen von Voruneilen freien Liebe nach!·) das Resultat der Einsicht, "daß die drei Söhne wenn auch aus Liebe - Betrogene sind. Während im Schrifttum De tribus impostoribus die drei Religionsstifter immer belastet werden, werden sie in Lessings Parabel entlastet - doch zu Lasten Gottes" (S. 53). M
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Im Religionsgespräch der Aufklärung ist das Toleranzgebot nicht mehr durch die Erwartung gesichen, daß sich der Streit der Religionen um die letzte Wahrheit dereinst mit dem Kommen des echten Messias entscheiden werde. Mit dem Sieg der Toleranzidee wurde in der Aufklärung nicht allein der Absolutheitsanspruch einer jeden
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Religion verabschiedet, sondern zugleich die Frage der Echtheit religiösen Glaubens immediatisien. Über den echten Glauben entscheidet hinfon allein das rechte Handeln, nicht das Dogma einer Religion, sondern ihre praxis pietatis. Daß dafür bei Lessing gerade der durch Geldgeschäfte zu Reichtum gelangte Nathan einsteht, traf ein tief eingewurzeltes Voruneil gegen ,den Juden' und ist denn auch ein fortwirkendes Ärgernis seines Dramas geblieben. Schon der oben angefühne Rabbiner J. S. Bloch sah sich veraniaßt, mit seiner Deutung einen Ausspruch von Kuno Fischer zu widerlegen: nMan bringe doch diesen Nathan vor eine rechtgläubige Synagoge und lasse sich sagen, ob der ein Repräsentant des Judentums ist. "2S Als dann im Regime Hitlers die Aufführung von Lessings Drama auf deutschen Bühnen verboten wurde und der jüdische Kulturbund 1933 ostentativ Nathan der Weise als erstes Stück auffühne, stieß diese Wahl auf die Kritik der zionistischen nJüdischen Rundschau", mit dem Argument, Juden müßten den universalen Idealen des Bildungsbürgertums, denen sie auf dem Weg ihrer Emanzipation folgten, aufgeschlossen sein - naber als Juden" .26 Demgegenüber hatte das Toleranzedikt in Lessings Drama mit dem Absolutheitsanspruch der Religion zugleich auch schon die Hybris des im 19. Jahrhunden aufblühenden Nationalismus getroffen. Das durchschlagende Argument, das im Dialog zwischen Nathan und dem Tempelherrn die Sinnesänderung des Christen bewirkt, war die Antwon des Juden auf die Frage, welches Volk denn zuerst das auserwählte sich nannte und den Stolz, nur sein Gott sei der rechte Gott, auf Christ und Muselmann vererbte. Nathans Replik nimmt hier schon den Sinn der Ringparabel vorweg: Verachtet Mein Volk so sehr ihr wollt. Wir haben beide Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind Wir unser Volk? Was heißt denn Volk? Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden häne, dem es gnügt, ein Mensch Zu heißen! (11, V)
Wenn damit nicht allein der Anspruch auf den allein seligmachenden Glauben, sondern auch die ,Blutszugehörigkeit' zu einem Volk mithin avant la lettre die Ideologie von RaSse und völkischem Wesen 25 Wie Anm. 23. S. 8
26 S. dazu G.l. Mosse.JiUlisch~ l"t~U~lrt,,~U~ i" D~"tschl.nd - ZVJischm R~Jjgio" lind Natio".w.",,,s. FrankfunINew York 1992, S. 117ff.
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- preisgegeben ist, stellt sich die Frage nach einer für alle Menschen verbindlichen Wahrheit neu. Wenn alle Religionen der Wahrheit gleich nahe oder gleich fern stehen und beginnen, sich wechselseitig zu tolerieren, darf doch die Wahrheitsfrage selbst - die Frage nach dem wahren Leben, nach dem Sinn der Welt und nach dem Ziel der Geschichte - nicht der Gleichgültigkeit anheimfallen. Muß dann nicht allein die siegreiche Idee der Aufklärung, sondern mit ihr zugleich ein neuer Glaube an die Stelle der unerweislichen Wahrheit der Religionen treten: der von der Vernunft geforderte Glaube an den mündig gewordenen Menschen und an seine unveräußerlichen Rechte? Kann dieser Glaube allein aus dem Ethos reinster Menschlichkeit, das Nathan in seiner Weisheit verkörpert, legitimiert werden? Reicht die emanzipative Kraft der Toleranzidee noch aus, wenn sie nicht auf den guten Willen zum Gespräch, zum Verzicht auf Gewalt und zur Anerkennung der Eigenart fremder Kultur trifft, sondern auf Intoleranz, Unbelehrbarkeit, Herrschsucht stößt - auf einen Fundamentalismus, der die universale Geltung von Menschenrechten a limine verleugnet? Folgt daraus nicht, daß dem Toleranzedikt wieder Grenzen gezogen werden müssen? Führt die politische Maxime: ,Wer Toleranz verneint, kann sie nicht beanspruchen' nicht unweigerlich in den Teufelskreis der Dialektik der Aufklärung? Solche Fragen kennzeichnen die Situation, in der 1992 das jüngste Religionsgespräch zwischen den drei monotheistischen Religionen, die islamische vertreten durch Muhammed Salim Abdullah, die jüdische durch Stephane Moses, die christliche durch den Katholiken Hans Küng und durch den Protestanten Walter Jens (als Moderator), als ein Dialog zur Ringparabel geführt wurde. 27 Von der hier betrachteten Tradition aus gesehen hat das jüngste Religionsgespräch allen Rigorismus der früher umstrittenen dogmatischen Positionen weit hinter sich gelassen. Alle Gesprächspartner haben sich als Repräsentanten von Religionen nach der Aufklärung den Standpunkt Lessings ohne Bedenken zu eigen gemacht und bemühen sich von Anbeginn zu erweisen, daß der Sinn der Ringparabel durchaus im Einklang mit einer undogmatischen Auslegung ihres Bekenntnisses stehe. Moses zitien einen Paralleltext aus dem Talmud zu der Frage, warum am Anfang der Schöpfungsgeschichte nicht mehrere Menschen, sondern einzig der Mensch (Adam) geschaffen wurde. Die Antwort lautet:
27 In: Spracht im ttchnischtn ZtitAlter 122. März 1992. S. 12-29.
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um dich zu lehren, daß, wenn jemand eine menschliche Seele vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet (... ) Der König der Könige aber, der Heilige, gepriesen sei Er, prägt den Menschen mit dem Stempel des Urmenschen, und doch gleicht nicht einer dem anderen. Daher muß auch jeder einzelne sagen, meinetwegen ist die Welt geschaffen worden.
Der zentrale Punkt des Problems der Toleranz sei die Subversion der Idee der einen Wahrheit. Wenn Nathan dem Sultan beweise, daß es viele Wahrheiten gebe, könne aus dieser Pluralität ein fruchtbarer Dialog entstehen. Und diese revolutionäre Idee sei heute noch neu (S. 13/17). Abdullah belegt, daß Lessing mit seinem Nathan eine wichtige Stelle aus dem Koran (den 49. Vers der 5. Sure) entlehnt hat (oder hätte entlehnen können). Sie lautet:
a
Einem jeden von euch uden, Christen und Muslime) haben Wir eine klare Satzung und einen deutlichen Weg vorgeschrieben. Und hätte Gott es gewollt, Er hätte euch alle in einer einzigen Gemeinschaft zusammen geführt, doch Er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was Er euch gegeben hat. Wetteifert darum miteinander in guten Werken. Zu Gott ist euer aller Heimkehr; dann wird Er euch aufklären über das, worüber ihr uneinig gewesen seid.
Es gebe im Koran eine Stelle, die untersage, Juden und Christen zu missionieren. Das Todesurteil gegen Rushdie finde im Koran keine Legitimation. Und was den ,Heiligen Krieg' betrifft, so handle es sich lediglich um lokal begrenzte Anweisungen an die von zahlreichen Feinden bedrängte kleine islamische U rgemeinde von Medina (S. 13/16/23). Küng, der als katholischer Christ als Dritter zu Wort kommt, konzediert zunächst, daß das Christentum, wie alle prophetischen Religionen, von Hause aus nicht sehr tolerant sei. Denn "nur wenige Christen wissen, daß im Neuen Testament nicht nur steht: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, sondern auch: Wer nicht gegen uns ist, ist für uns" (S. 14). Er betont sodann, "daß es nicht darum gehen kann, über allen Standpunkten zu stehen", was auch nicht die Position Lessings gewesen sei. Er will dies an der gemeinsamen Opposition von Juden und Muslimen gegen die "hochgestochene, hellenistische Christologie" erläutern, deren Kritik "sehr ernst zu nehmen sei" (5. 17/22). Doch darauf läßt sich das Gespräch nicht ein, das vielmehr an aktuellen Divergenzen - der Stellung der Frau, dem Verhältnis zur Ausbeutung der Natur - interessiert ist. Den Parallelen zur Ringparabel im Talmud und im Koran hätte der protestantische Christ an die Seite stellen können, daß sich bei
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Luther, der anläßlich der Bannandrohungsbulle den Satz verteidigte: "Haereticos comburi est contra voluntatem spiritus", der Begriff einer Tolerantia Dei findet. Hier folge ich G. Ebeling: "Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft", der von der Begriffsgeschichte ausgeht und zeigt, daß tolerantia an die Stelle der vorgängigen, der stoischen Ethik entstammenden patientia tritt, mit einem Bedeutungswandel von Geduld zu Duldung, der schon im Mittelalter bezeugt isr8 • Mithin sei die Toleranz Gottes der Toleranz der Vernunft vorausgegangen: "Die Struktur des alten Toleranzbegriffs : daß ein Übel (die Häresie, die religio falsa, die Pluralität gegensätzlicher Glaubensansprüche) zur Verhinderung eines noch größeren Übels (die Bedrohung der pax publica) zu dulden sei, wurde durch die Aufklärung umgestülpt: Toleranz ist geboten, um dem edelsten Gut, der Freiheit des Menschen Raum zu geben gegenüber dem Grundübel, der intoleranten Verquickung von Wahrheits anspruch und Zwangsgewalt" (S. 68). Die Idee der Toleranz ist der christlichen Theologie indes nicht erst seit ihrer Freisetzung von der Toleranz Gottes suspekt. Schon bei Luther findet sich der Satz: "Fides nihil pati potest, dilectio omnia suffert. Quod in Christo videmus qui nos tulit" (S. 66). Die paradoxe Formulierung steht quer zu der tolerantia Dei, von der sich moderne Theologen wie Karl Banh oder Emil Brunner offenbar abgesetzt haben. Vom letzteren wird zitiert: "Die Wahrheit selbst ist intolerant ( ... ) und das Gute ist intolerant (... ) Es ist darum kein Zufall, daß die höchsten geistigen Religionen intolerant sind - nämlich alle diejenigen, die Gott als Herrn anerkennen" (S. 59). Ebeling ist weniger rigoros; ihn bewegt vielmehr die Sorge, ob die politisch notwendig gewordene Suspendierung der Wahrheitsfrage nicht ihre Vergleichgültigung zur Folge habe, die der Nährboden neuer Intoleranzen sei (S. 69). Darum sei es auch unerläßlich, die Grenzen der Toleranz zu bestimmen: "Wer Toleranz verneint, kann sie nicht beanspruchen" (S. 72). Wie aber soll sich danach ein Christ gegen Intoleranz verhalten? Diese höchst aktuelle Frage bleibt hier offen und hat auch die Teilnehmer an unserem jüngsten Religionsgespräch nicht bewegt. Dort haben die Repräsentanten des Judentums und des Islams offensichtlich weniger Schwierigkeiten mit dem Erbe der Aufklärung als die christliche Theologie. Für Moses ist der Sinn der Ringparabel : "Niemand hat die Wahrheit, weder ich noch Sie, niemand besitzt die 28 In: GLa"b~ "na TolnlUlz - Das lheologisch~ Erb~ der A"/kliir"ng, hg. T. Rendtorff. Gütersloh 1982, S. 68.
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Wahrheit, als wäre sie ein Gegenstand", und meint die Pluralität der Wahrheits ansprüche, "daß jeder an seine eigene Wahrheit glaubt. Aber diese Pluralität der Wahrheiten wird im Judentum als die normale Struktur des Seins betrachtet. Das ist eine Denkform, die im Katholizismus und besonders in denjenigen Tendenzen, die von der griechischen Philosophie beeinflußt worden ist, schwer akzeptabel ist" (S. 18/21). Für AbduUah ist "der Dialog der Religionen ein Auftrag Gottes, dem wir den gleichen Gehorsam schulden wie den Zehn Geboten". Der Islam habe die Aufklärung nicht zu fürchten, weil es gegenwärtig in der Diaspora darum gehe, die originär islamische Aufklärung-die ,mutaliza' -wiederzuentdecken. Der Islam habe im 7.18. Jahrhundert seine große Aufklärungszeit durchlaufen, in der versucht wurde, "Vernunft und Glauben miteinander zu versöhnen". Das herrschende Feindbild des Islam könne sich nicht auf den Koran und die - nicht organisierte - islamische Religion stützen, sondern verwechsle diese mit dem machtbesessenen islamischen Staat. Der wahre Islam (ein Name, der wörtlich ,Frieden' bedeute) "ist also nicht nur ohnmächtig, er ist auch entmündigt. Eigentlich ist es nur in der Diaspora möglich, den Islam auszuleben" (S. 24/16/15). Hier hätte es nahegelegen, das Verhältnis des Christentums zur Institutionalisierung des Glaubens (von der Kracauer meinte, sie korrumpiere unweigerlich seine reine Wahrheit) mit dem Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat zu diskutieren. Statt dessen entläßt uns das Gespräch mit guter Hoffnung. Den aufgeklärten Anhängern der drei abrahamitischen Religionen wird vom christlichen Moderator empfohlen, die Hoffnung der Aufklärung auf eine friedlichere Welt nicht aufzugeben: " Wenn es nicht mehr möglich ist, die Wirklichkeit mit der Möglichkeit zu konfrontieren, dann in der Tat hätten wir das Erbe der Aufklärung endgültig zuschanden geritten" (S. 29). Diesem Schlußwort kann man schwerlich seine Zustimmung versagen. Mein eigenes Schlußwort braucht dem nur noch Eines hinzuzufügen. Das vorläufig letzte Religionsgespräch scheint mein Eingangszitat: "daß nichts, was endet, darin aufgehen kann, Ende zu sein", durchaus zu bestätigen. Ich möchte dem aber noch einen anderen Sinn geben. Wenn dieses Gespräch in der wechselseitigen Anerkennung des Wahrheitsanspruchs verschiedener Religionen aufzugehen schien und forderte, die schlimme Wirklichkeit mit der Möglichkeit einer besseren Welt zu konfrontieren, so ist dabei noch nicht bedacht, daß im Ausgang dieses Gesprächs noch eine weitere, bisher versäumte Aufgabe beschlossen lag. Die Anerkennung der verschiedenen Ansprüche auf die Wahrheit des eigenen Glaubens ermöglicht
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B. Abhandlungen
gewiß, einander in einer gemeinsamen Sache zu verstehen. Sie ist aber erst ein Anfang zu dem nächsten Schritt, die Religion des Andem in ihrer Fremdheit anzuerkennen, mithin den Andem in seiner Andersheit gelten zu lassen. Die älteren Religionsgespräche zeigen allesamt, daß sie im Bemühen, eine gemeinsame Position zu finden, vor dieser Schwelle stehen blieben. Eine Hermeneutik der Fremdheit ließ sich in der Vorgeschichte des Religionsgesprächs auch nicht in Ansätzen erkennen. Die Toleranzidee der Aufklärung andererseits erwies sich, wie die jüngste Geschichte zeigt, als nicht zureichend. Soll sie für das Zusammenleben der Menschheit wirksam werden, so setzt sie nicht ein bloßes Dulden des Andern, sondern die Anstrengung des Verstehens und Aufarbeitung des Trennenden voraus. Darin liegt - wie mir scheint - ein neuer Anfang im Ende des bisherigen Religionsgesprächs, soll mit dem allgemeinen Ziel einer friedlichen Zukunft die Anerkennung des Menschenrechts auf Verschiedenheit - das Recht, "ohne Angst anders sein zu können" (Adorno) - verwirklicht werden.
c.
Kritische Gänge
10. Zur Entdeckung des Individuums in der Portraitmalerei der Renaissance Das Problem, ob und wie vorab in der Malerei der Renaissance, der die Dichtung erst mit denkwürdiger Verspätung folgte, sich eine Entdeckung des Individuums im Medium von Portrait und Selbstportrait vollzogen haben kann, ist unlängst von Gottfried Boehm erörtert worden. I Die erstmals von Pomponius Gaurizus in De sculptura (1504) erhobene Forderung, die darzustellende Person ex se, mithin ohne Bezug auf vorgeordnete Normen zu repräsentieren, kann als Eckdatum eines neuen Anspruchs auf Selbstdarstellung gelten. Doch hat sich dieser erste Ruf nach ästhetischer Autonomie - nach dem Recht eines oder gar jedes Menschen, nicht länger als Träger heteronomer Bedeutung, sondern hinfort allein aus sich selbst, als Repräsentant eigener Bedeutung verstanden zu werden und darstellungswürdig zu sein - in der nun überhaupt erst eigentlich beginnenden Gattungsgeschichte des selbständigen Portraits offensichtlich nicht mit einem Schlag erfüllt. Die Darstellung von Boehm zeigt den Prozeß einer fortschreitenden Verselbständigung in den Schritten vom personifizierenden über das idealisierende zum individuellen Portrait, angesichts derer man sich am Ende fragen kann, ob die postulierte Abgelöstheit und Reinheit einer Darstellung des Individuums ex se und per se (d.h. ohne Auftrag) nicht so sehr die praktizierte Norm als vielmehr ein nie ganz erfüllbares Ideal und eben damit das Movens immer wieder anderer Entwürfe ästhetisch vermittelter Selbsterfahrung gewesen ist. Das Buch Boehms erneuert die These, daß es die Maler der Renaissance waren, die mit der Schöpfung des selbständigen Portraits "Individualität (... ) in den Bereich der Erkenntnisleistung der Kunst 1 Gottfried Bochm, Bildnis und IndifJUJuum - Obu tkn Ursprung tkr Pomaitmalnei in der italienischen Renaissance. München 1985, 316 S.
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C. Kritische Gänge
gebracht" haben (5. 68). Dabei zeigt sich aber bald, daß das rhetorische und ethische Interpretament der ,Charaktere' und Temperamente als Vorgaben das italienische Ponrait bis ins Cinquecento geprägt haben und sogar noch den Selbstbezug im autonomen Portrait nach Modalitäten wie Düsterkeit, Ernst, Freundlichkeit, Lächeln (Korrelat zu Ethos, Pathos, Hexis, Tychai, S. 72) zu differenzieren erlauben. Insofern erscheint es mir problematisch, daß Boehm prinzipiell zwischen noch bedeutungs bezogener und schon selbstbezogener Repräsentation scheiden will und darum auch das personifizierende, das idealisierende und das synkritische Ponrait als "Bildnisse ohne Individuen" behandeln zu n:tüssen glaubt. Dagegen ist einzuwenden, daß auch unselbständigen Formen der Bildniskunst ein hohes Maß an Individualität eigen sein kann, während andererseits das selbständige Ponrait der Hochrenaissance seine prätendiene Autonomie um den Preis einer Idealisierung des Okltasionellen zu erkaufen pflegt, die immer noch mehr repräsentiert als nur den kontingenten Einzelnen. Giorgiones La Vecchia zum Beispiel, für Boehm ein Typenponrait und noch keine um ihrer selbst willen gewürdigte Person, zeigt alle Attribute des Alters (faltige Haut, Haarsträhnen, etc.), doch schon nicht mehr im vorgegebenen Muster aufgehend, sondern durch die Affekthaltung, den ,persönlichen Blick' und zugleich durch den Selbstbezug der fragenden Gebärde der rechten Hand deran vermittelt und dem zugespitzten, vergänglichen Moment integrien, daß die hinzugefügte Devise col tempo zu besagen scheint: ,So bin ich mit der Zeit geworden!' Die konventionelle Allegorie der Vergänglichkeit wird in der Kontingenz des ergriffenen Moments mit der auf sich selbst zeigenden Fragegebärde so sehr individualisien, daß nicht mehr einzusehen ist, warum auf diesem Bildnis "Altem und Individualität noch nicht identische Gesichtspunkte" geworden sein sollen (5. 109). Käme einem selbständigen Ponrait wie zum Beispiel Tizians letztem Selbstbildnis, das ebenso viele selbstredende, aber im Unterschied zu La Vecchia durchweg verschönte Altersattribute aufweist, nur darum ein höherer Grad an Individualität zu, weil im einen Fall eine uns Unbekannte, im andern aber eine namhafte und höchst berühmte Persönlichkeit sich als Individualität inszenien hat? Ist Tizian in seiner Darstellung ex se gewiß mehr als die Symbiose seiner Lebensrollen als Künsder, Patrizier, Philosoph (nicht zuletzt auch: "ein Lob oder eine Feier des Auges und des Lichts", S. 246), so ist auch Giorgiones La Vecchia gewiß noch mehr als die immer schon bekannte Repräsentation des unentrinnbaren Alters und vergangener weiblicher Schönheit, nämlich das individuelle Altersgesicht einer beliebigen Person, das
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nun gerade in seiner Deformierung durch die Zeit darstellungswürdig geworden ist. Mit welchem Recht soll dann noch zwischen einem Mehr und einem Weniger an Individualität geschieden werden? Meine Kritik soll nicht schmälern, daß ich Boehms Buch für einen bedeutenden Wurf halte, nicht zuletzt auch darum, weil es neue Perspektiven eröffnet, die auf diesem Kolloquium zum Tragen kamen. 2 Liest man es unter dem Vorbehalt, daß sich die Entdeckung des Individuums im Portrait nicht als freie "Autonomisierung seiner selbst" (S. 31), sondern unter der Vorgabe oder in der Aneignung physiognomischer, ethischer wie auch gesellschaftlicher Normen vollzog, so ergibt sich folgende Perspektive: die Absicht einer Darstellung ex se brachte bei vielen, als selbständig angesehenen Portraits de facto die Modalitäten der alten Charaktere (des Temperaments, Affekts, Standes, Lebensalters, beim Einzelnen wie in der Synkrisis einer Gruppe, Gilde, Familie) noch so wenig zum Schwinden, daß der Ausdruck des unverwechselbar Individuellen oft gerade in einer sekundären Individualisierung des Typischen gewonnen zu sein scheint. Wenn auf dem Gipfel der neuen Portraitkunst - bei Antonello, Giorgione, Lotto, Tizian, Raffael- alle fremde Bedeutsamkeit ausgespart zu sein und ein Individuum sich im primären Selbstbezug, allein noch auf sich selbst verweisend, zu repräsentieren scheint, dürfte die Vollkommenheit und Fülle seiner in zeitlose Gegenwart erhobenen Erscheinung gleichwohl wieder eine übergeordnete Bedeutung mitrepräsentieren : die Idee der magnitudo animi, der Individualität als Mikrokosmos im Makrokosmos, als idealer Mitte von Mensch und Welt. Vermochte nicht erst der Bruch mit dem "individualisierenden Platonismus" (Georg Simmel), der Abbau der Normen des Vollkommenen, das Hereinholen des ausgegrenzten Zufälligen und Mangelhaften, die exzentrische Perspektive auf eine an sich selbst vielfältige, unendliche Welt, das Individuum in seiner Kontingenz rein aus sich selbst zum Vorschein zu bringen? So einleuchtend aus Boehms Interpretationen hervorgeht, wie mit der Durchsetzung der Zentralperspektive der Umraum des Portraitierten enttypisiert und zugleich als Landschaft ,gesichthaft' wurde, so wenig kann sein Versuch überzeugen, der perspektivischen Einheit des Raums eine subjektive "Einheit der Zeit" (S. 89ff.) beizufügen. Diese müßte sich doch wohl noch anders bekunden als an den - noch typischen - Spuren des Lebensalters. Als Individuum in seiner Zeit hat sich erst Rembrandt begriffen und zu malen versucht, wie die lebenslange quasibiographische Folge seiner Selbstportraits monumental demonstriert. 2 In: PH XIII.
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C. Kritische Gänge
Das Autonomieprinzip im Verhältnis von Bildnis und Individuum hat Boehm als "Idee der Charaktermitte" und näherhin als einen mittleren, zwischen allen Extremen des physiognomischen Ausdrucks ausbalancienen Modus des Ponraitierens bestimmt. Er wirke als ein regulatives, zwischen Innen und Außen, Charakter und Handlung vermittelndes Prinzip, das im Bildnis sichtbar mache, "was unmittelbar deswegen nie zu sehen ist, weil es mit keinem angebbaren ,Punkt' des Menschen identisch sein kann" (S. 67). Doch wenn es zutrifft, daß sich Individualität im Ponrait zeigt und zugleich verbirgt, daß wir den Abgebildeten wiederzuerkennen glauben, obschon wir das Original nie zu Gesicht bekommen haben (S. 14/28), dann wirft dieses Paradox aller Ponraitkunst ein hermeneutisches Problem auf: wie kann eine konstitutive Unbestimmtheit des Ponraitienen angenommen und gleichwohl an nur ihm eigentümlichen Zügen unverwechselbar beschrieben werden? Wie gelangen wir vom Vorverständnis der Physiognomik, die ganz aus der Nachfrage gekommen ist und dennoch - nach Kant, den Boehm zitien (S. 14) - im Umgang mit Menschen wie in der Kultur des Geschmacks unentbehrlich blieb, zur Erkenntnis des Individuellen, das sich in seiner Präsenz sogleich wieder entzieht? Der deskriptive Aufweis okkasioneller Züge bleibt in Boehms Bildanalysen - wie mir scheint - unbefriedigend und gibt keine Antwon auf die Frage" was der Betrachter in der stummen Lektüre eines solchen schweigsamen Bildes (erfähn)" (S. 12). Boehm, der eingangs forden, die Relation von Bild und Betrachter müsse die Grundlage einer Hermeneutik des Ponraits werden, arbeitet in praxi nach wie vor mit Kategorien der Repräsentation (Ähnlichkeit, mittlere Wägung des Ausdrucks, Potentialis des Handeins). Soll hingegen aus der stummen Lektüre, dem Entziffern einer sich zeigenden und in ihren Zeichen sich verbergenden Individualität ein visueller Dialog werden, so empfiehlt es sich, einem Vorschlag von Michael Podro folgend auf die (schon von Simmel genutzte) Schauspielermetapher zurückzugreifen und die zweistellige Relation von Bild und Betrachter auf die dreisteIlige Relation von Künsder, Persona (ModeU) und Adressat zu erweitern. Danach lassen sich folgende Weisen unterscheiden, in denen der Maler in seinem Werk gegenwänig sein kann: (1) als Akteur, der den Andern als Rolle vorstellt, die er malt, (2) als Autor, der den Andern nicht spielt, sondern sich an ihn als Adressaten wendet, (3) als Protagonist, der sich selbst für einen Andern (Freund, KoUegen, Patron, Familie) darstellt, mit einer letzten Möglichkeit, (4) sich nur noch für sich selbst darzustellen (PH XIII, S. 577 ff.). Die hermeneutische Voraussetzung ist, daß das Malverfahren unser Verständnis des Ponraitienen stimulieren und bereichern
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kann, aber auch, daß die Selbsterfahrung des Betrachters die Situation und Physiognomie des Modells erschließen muß: "Wir müssen uns vorstellen, zornig, hochmütig oder bekümmert zu sein, um zu erkennen, wie wir uns ausnehmen, wenn wir in den Spiegel (des Portraits) blicken." Dabei wird das, was der Maler als Akteur in das Bildnis des Andem einbringt, von diesem selbst so ununterscheidbar wie die Person eines Schauspielers von der Rolle, die er verkörpert. Im zweiten Fall, erläutert an Tizians Frau im Pelz und Rubens Bildnis der Helene Fourment, bleiben Maler und Modell in getrennten Rollen. Der erstere bietet der Adressatin eine Deutung ihrer selbst an, die zugleich Ausdruck seiner Bewunderung ist. Den dritten Fall erläutern Selbstbildnisse, die Rubens für Karl I. und für seinen Freund Peiresc malte. Hier setzt der Maler seine eigene persona ein, um sich selbst in seiner Meisterschaft und zugleich als gesellschaftliche Erscheinung für den Adressaten darzustellen ("selfpresentation through one's likeness, embodying one's skilI"). Nach Podro war diese Weise der Selbstinszenierung, eine kompetitive Darstellung der eigenen Rolle für einen Andern, das vorherrschende Paradigma der neuen Gattung des Selbstportraits. Die letzte Schwelle zur vollen Autonomie wäre erst von Rembrandt überschritten worden, als er sich in seinem Selbstbildnis von 1640 in großartiger, höfischer Pose malte, doch nun nicht mehr als Demonstration seiner Meisterschaft vor anderen für einen Patron oder Freund, sondern für sich allein und vor der Welt überhaupt. Zwar konnte er dabei noch an die Konvention von Portraits großer Würdenträger, Gelehrter oder Künstler anknüpfen. Doch geschah dies nun nicht mehr im Auftrag und für einen Patron, sondern gleichsam als Herausforderung jedes Betrachters, selbst die Rolle des Patrons zu übernehmen. Die späten Selbstbildnisse lassen sich nach Podro aus zwei neuen Weisen erklären. Rembrandt, der sich lange Zeit in Rollen vorstellte, um in der Duplizität von Sehendem und Gesehenem den wechselnden Ausdruck seiner selbst zu studieren, legt schließlich alle Rollen ab, um seine Individualität allein noch ex se und per se, also auch nicht mehr als Akteur seiner selbst, zu erfassen. Dabei kann die leere Stelle des Adressaten noch einmal durch die Welt insgesamt eingenommen werden, doch nunmehr- im Kenwood Selbstportrait, wo der Maler inmitten, aber ab gewandt vor einer riesigen Leinwand steht - als eine leere, nur mit den zwei Kreisen der mappa mundi bezeichneten Welt. Andererseits kann anstelle der Welt das Bildnis selbst Rembrandts letzter Adressat werden, in einem visuellen Dialog mit dem Andern seiner selbst, der - Macbeths letzter Zwiesprache mit sich selbst vergleichbar- nach dem Fallen aller Mas-
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ken allein noch der Selbsterforschung dient und - wie ich hinzufügen möchte - jeden Betrachter als Dritten eigentlich abweist. Der Prozeß der Entdeckung des Individuums im Ponrait hat hier seine Klimax erreicht, auf der sich schon die moderne, von Max Imdahl ins Licht gerückte Dialektik von Präsenz und Entzug ankündigt. Meine Betrachtung suchte bisher dem modemen Zweifel gerecht zu werden, ob es überhaupt möglich und nicht vielmehr eine ,klassische' Illusion sei, zu erwanen, daß der je Einzelne als Individuum aus seinem eigenen Grund und als Ursprung einer jemeinigen Welt begriffen und dargestellt werden könne. In der Tat erwies es sich ja auch als fraglich, ob das von Boehm als autonom interpretiene Portrait der Renaissance geradezu die ästhetische Ausformung eines schon canesianischen Subjekts, der Individualität einer nur noch sich selbst zeigenden Person, gewesen sein kann. Und erwies nicht selbst noch Rembrandts monumentale ,Biographie' im Selbstponrait, daß dieses Selbst nach dem Verzicht auf alle Selbsterprobung durch Rollen und Verkleidungen in seiner Abgelöstheit rätselhaft blieb - ein individuum ineffabile und darum keine zeitenthobene Substanz, geschweige denn eine ,geprägte Form, die lebend sich entwickelt'. Aber auch nicht faßbar als Totalität eines Lebens, das in jeder momentanen Gestalt als das Absolute von Seele und Ich voll gegenwänig wäre, wie Georg Simmel meinte. Seine Formel: "Jeder Augenblick des Lebens ist das ganze Leben", für die Sequenz von Rembrandts Selbstbildnissen geltend gemacht, scheint gewiß nicht nur mir gerade in der Umkehrung wahr zu werden: kein Augenblick des Lebens, den der Maler im Bildnis ergreift, kann sein ganzes Leben repräsentieren, weil kein Anblick des Individuums seine ganze Individualität auszuschöpfen vermag, die sich in der geglückten Präsenz des Bildnisses sogleich wieder entzieht. Die Behauptung, mit der Entstehung einer zuvor unbekannten Ponraitkunst habe die neuzeitliche Entdeckung des Individuums im Medium der bildenden Kunst begonnen, ist darum indes keineswegs nur eine idealistische Illusion. Dafür spricht der historische Befund, daß in dieser Epoche eine bislang anonyme Vielzahl je einzelner Menschen in einer erstaunlich anwachsenden Fülle unverwechselbarer Gestalten aus dem normativen Bann des Allgemeinen hervonrat, daß das Individuum - erst der Fürst, dann der Gelehne oder Künstler, schließlich der Bürger und beliebige Personen des Alltags - um seiner selbst willen und nicht mehr nur als Träger universaler Normen darsteUungswürdig erscheint, um in einem nächsten großen Schritt, mit dem demokratischen Prinzip der Egalite, als beliebiger Einzelner rechtswürdig, will sagen zur Rechtsperson erhoben zu
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werden. Dies alles kann auch von der heute herrschenden Kritik an der subjektzentrierten, aufgeklärten Vernunft und am Erbe des Idealismus nicht verleugnet werden. In meiner Sicht lag die Herausforderung der Schönen Künste nicht schon im Anspruch des cartesianischen Subjekts, autonome Instanz der Erkenntnis von Welt und Natur zu sein. Sie lag vielmehr in der Chance, in der Zeit der kopernikanischen Wende eine dezentrierte, in den unendlic.hen Räumen des Alls verlorene Welt nunmehr vom Standort und aus der subjektiven Perspektive des in sich selbst zentrierten, unvertauschbaren Ichs neu zu ordnen, die eigene, ästhetisch konstituierte Welt mit exemplarischer Bedeutung zu erfüllen. Die Herausforderung jedes Einzelnen, das unendliche Ganze von seinem Standort aus selbst zu perspektivieren, zeigt sich nicht allein in Gestalt des Individuums als idealer Mitte, dem klassischen Prinzip der Portraitmalerei, sondern bald auch - und schärfer noch - in der manieristischen Brechung der Einheit von Ich und Welt an. Der Parmigianino, der 1523 sein Selbstbildnis im Konvexspiegel malte, hat den Umraum der Person einem konzentrischen Ordnungsmuster unterworfen, das den natürlichen Anblick der Welt (Fenster, Wände und Decke des Zimmers) in der Kugelform des Hohlspiegels, die mit der Form des Bildnisses ineinsgesetzt ist, verzerrt. Die Selbstmächtigkeit des Malers geht hier so weit, das Natürliche im Künstlichen zu überbieten, um seine partielle Welt aus dem unendlichen Ganzen auszugrenzen. Insofern die kleine, das Individuum kugelförmig umschließende Welt, in der allein noch das Gesicht als ihre Mitte integer bleibt, im Verhältnis zur nur vorstellbaren großen Welt verzerrt wird, scheint sie im experimentell durch den Spiegel gesteigerten Selbstbezug schon die Erfahrung der nachkopernikanischen Welt vorweg zu nehmen. Die in subjektiver Brechung gespiegelte Welt bleibt in der Vorstellung des Subjekts - auf das integer gehaltene Gesicht bezogen - zwar eine zentrierte; doch diese jemeinige Welt erscheint - auf das Ganze des Kosmos bezogen - nicht länger integer, sondern dezentriert, in einer Verzerrung, die sie zur Illusion werden läßt. Hätte Parmigianinos Experiment derart die subjektzentrierte Welt gemalt, um sie in eins damit als Trugbild zu entlarven? Nicht also die abstrakte Reinheit und Absolutheit des Selbstbezugs, sondern die konkrete Vermittlung von Selbstsein und In-derWelt-Sein war die Antwort der Schönen Künste auf die neuzeitliche Erfahrung vom Verlust des alten Kosmos, der Identität von Sein und Natur und des anthropomorphen christlichen Weltbilds. Die Entfaltung der Portraitmalerei von personifizierender über idealisierende zur selbständigen Darstellung und Selbstdarstellung von Individuali-
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tät stünde danach unter zwei gleich konstitutiven Bedingungen: der Dialektik von Präsenz und Entzug und zugleich einer Dialektik von bedeutungs- und selbstbezogener Repräsentation, die den Prozeß der fortschreitenden Selbstbehauptung und Selbsterprobung des Individuums im Medium ästhetischer Erfahrung ermöglicht haben. Der Problematisierung des Portraits in der Moderne hat Max Imdahl eine Studie gewidmet.) Seine Analyse einer Portraitzeichnung von Alberto Giacomeni scheint zunächst der Entdeckung des Individuums in der klassischen Kunstphase des Portraits das viel beschworene Ende des Individuums in einer dem Subjekt abholden Zeit entgegenzusetzen. Doch in diesem mutmaßlichen Ende, das die seit Goyas Selbstbildnis (1815) bemerkbare Entpersönlichung - eine Preisgabe des souveränen und Aufdeckung des anonymen Mächten ausgelieferten Subjekts (Boehm, S. 9) - schon voraussetzt, scheint sich bereits wieder ein Anfang des sich selbst behauptenden Individuums abzuzeichnen. Nachdem das photo graphische Portrait das gemalte Bildnis durch dokumentarische Authentizität, die das Abbild einer Person mit dieser selbst verwechselbar machte, gleichsam überboten hatte, suchte die Portraitmalerei eine neue Legitimation. Sie fand sie in dem Verfahren, die Differenz zwischen dem Gesehenen und dem Vorgestellten eigens zu thematisieren, um sichtbar zu machen, was in der naiven Ineinssetzung von Abbild und Person verschwunden war. Das Problem einer modemen Portraitkunst liegt hinfort darin, die Individualität des Portraitierten aus aller unminelbaren Anschaulichkeit wieder freizusetzen, sie vor der Verwechslung mit ihrem Abbild gleichsam zu schützen. Damit ist die Verwechselbarkeit - so möchte ich aus Imdahls These folgern - nunmehr auf ihrem Gegenpol angesiedelt: nicht mehr die Verwechslung mit den Andem, sondern die Verwechslung mit dem Andem seiner selbst wird nun zum Problem. Während das klassische Portrait das Individuum unverwechselbar machen wollte, indem es das Subjekt in sich selbst zentrierte, sucht es das modeme Portrait vor der Verwechslung mit seiner visuellen Repräsentation zu bewahren, mithin vor dem Identifiziertwerden mit einem vermeintlich substantiellen Selbst. Dieses ist nunmehr einer Dezentrierung des Subjekts anheimgefallen, die als Entfremdung, aber auch wieder als Möglichkeit neuer Erfahrung thematisiert werden kann. Doch sollte sich das Individuum im modemen Portrait nur noch darum portraitieren, um sich aus einer niemals endgültigen, ungewissen Gestalt ins Unverfügbare, der Deutung des Andem für immer J In: PH XIII, S. 587-598.
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Verschlossene entziehen zu können? Wäre dieses schlechthin Unverfügbare nicht selbst wieder ein substantialistischer Restbestand? Könnte dementgegen nicht die produktive Leistung des Betrachters ins Recht gesetzt werden, die auf die Spitze getriebene Dialektik von Präsenz und Entzug durch die andere Dialektik von bedeutungs- und selbstbezogener Individualität aufzuwiegen? Wenn die eine Wahrheit des reinen Selbstbezugs als idealistische Illusion des klassischen Subjekts zu verabschieden ist, erlangt dann - soviel Schein, soviel Sein nicht die andere, provisorische, aber darum nicht bedeutungslose Wahrheit für den Andern neues Gewicht? Kann die Differenz zwischen Abbild und Person nicht auch dadurch hervorgekehrt werden, daß die Kunst der Moderne die Theorie des dezentrierten Subjekts beim Wort nimmt, das Portrait oder Selbstportrait als eine gewollt subjektive Deutung unter anderen, gleich möglichen Deutungen versteht und damit das Individuum in der Erfahrung der Andem wie in der Erfahrung seiner selbst als ,Dividuum' thematisiert? Läge darin für die moderne Portraitkunst vielleicht die Chance, die verlorene Vermittlung von Selbstsein und In-der-Welt-Sein wiederzugewinnen, nun aber befreit von der Überforderung des autonomen Individuums, sich als einsame Mitte einer Welt behaupten zu müssen, die heute gewiß nicht länger als eigens für den Menschen, das vormalige Ziel der Schöpfung, geschaffen und zugeordnet angesehen werden kann?
11. Brief an Paul de Man Lieber Paul, kein Name ist zwischen Sathertor und Wheeler Hall im Seminar so oft gefallen und im Gespräch von Studenten und Kollegen wie von mir selbst angerufen worden wie der Ihrige! Stand die Debatte 1973 in New York unter den Vorzeichen von Rezeptionsästhetik und Semiotik, 1976 in New Haven im Spannungsbogen von Konstanzer Schule und Yale Critics, so stand sie 1983 in Berkeley im Bann der Polarität von Hermeneutik und ,deconstruction c • So kann ich heute mein drittes amerikanisches Abenteuer nicht besser abschließen als durch einen Dankesbrief für Ihre Einleitung zu "Toward an Aesthetic of Reception - . I Der verspätete Dank hat wenigstens eine gute Seite. Der Zeitenabstand erweist sich wieder einmal als hermeneutisch produktiv: er destruiert die Befangenheit des unmittelbaren Verstehens und läßt mich nunmehr schon am Echo unseres gemeinsamen Buches (so darf ich doch wohl sagen?) ermessen, was seine Wirkung wohl der deutschen Herkunft und was seine amerikanische Rezeption wohl dem außergewöhnlichen Charakter Ihrer Präsentation verdanken mag. Es wird den Verfasser der "Allegories of Reading" kaum verwundern, daß ich dabei immer wieder auf ein spezifisches "misreading" stieß, nämlich unentwegt gefragt wurde, was ich denn selbst von einer Präsentation dächte, die - dem akademischen Brauch der Laudatio entgegen - dem angekündigten Buch sogleich seine erste amerikanische Kritik mit auf den Weg gab. Ob ich mich nicht befremdet, wenn nicht gar verkannt fühlen müsse? Ob Hermeneutik und Dekonstruktion durch einen unüberbrückbaren Abgrund getrennt blieben? Ob Ihre Kritik nicht meine Rechtfertigung und eine Gegenkritik herausfordere, die den Streit um "Blindness and Insight" erneuern werde, die große Debatte, die kein anderer als Paul de Man - "bewundert viel und viel gescholten- - heraufgeführt und damit die Methodendiskussion seit den Sechziger Jahren so ungemein gefördert hat? 1 Erschienen in der University of Minnesota Press, Minneapolis, 1982 (danach im F.
zilien).
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Auf solche Fragen such ich seit meiner Ankunft zu antworten, doch offenbar ohne meine Gesprächspartner letztlich überzeugen zu können. Sie scheinen mir nicht zu glauben, wenn ich versichere, daß ich mich durch Sie in meinen Intentionen und Grenzen im Ganzen sehr wohl verstanden glaube, in manchen Positionen sogar, besser, als ich mich selbst verstand'. Das gilt auch für meine Forschungsgruppe, deren Name Poetik und Hermeutik von niemand, auch nicht von ihr selbst, so treffend erläutert wurde wie gerade von Ihnen. Man scheint hierzulande nicht zu sehen, daß es zwischen den Schulen in Konstanz und Yale mehr Gemeinsamkeiten gibt, als sich dogmatische Anhänger beider Lager träumen lassen. Und man kann sich schwer vorstellen, daß unsere gleichwohl verbleibenden Verschiedenheiten nicht von der Art sind, die sich durch ein ,falsch oder richtig' definitiv entscheiden lassen, weil sie verschiedenen Frageinteressen entspringen, die man nicht teilen muß, um das Recht des Andem gleichwohl zu sehen und anzuerkennen. Gadamers Diktum, es sei ein Vorzug der Hermeneutik, auch noch den Widersacher zu verstehen, ist mehr als nur eine List der liberalen Vernunft ... Darum wende ich mich jetzt mit meinen Antworten an Sie als den abwesend-anwesenden Dritten, der mich - "both praising and blaming" - so eingehend, am Ende streng und im Ganzen doch stets generös gewürdigt hat, und hoffe dabei, für meinen Fall den Mythos zu widerlegen, daß man im Dialog mit Paul de Man stets die alte Warnung zu beachten habe: "timeo Danaos, et dona ferentes". Daß die Yale Critics und die Konstanzer Schule gleichermaßen mit einer Absage an den Logozentrismus, respektive an den Essentialismus der traditionellen Philologie und klassischen Ästhetik (für mich repräsentiert durch Curtius, Lukacs und auch noch Gadamer) in den Methodenstreit eintraten, scheint als gemeinsame Grundposition beider Gruppen von amerikanischen Gesprächspartnern noch nicht bemerkt worden zu sein. Ob das wohl daher rührt, daß hierzulande Hermeneutik kurzerhand mit esoterischer Theologie des alten exegetischen Stils ("ultimate aim: to do away with reading altogether", S. ix) gleichgesetzt wird, wohingegen die jüngere deutsche Hermeneutik der Heideggerschen Maxime folgt: "Eine rechte Erläuterung versteht jedoch den Text nie besser als dessen Verfasser, wohl aber anders"? Der vermeintlich zeitlosen Gegenwart des Klassischen den dynamischen und dialektischen Prozeß einer fortgesetzten Kanonbildung und Kanonumbildung entgegenzusetzen, verbindet mich in der Tat mit Harold Bloom, nur daß sein Interesse primär produktionsästhetisch, das meinige rezeptionsästhetisch orientiert ist und ich in der Kritik an Gadamers "Horizontverschmelzung" ein verfeiner-
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tes Verfahren des aktiven historischen Verstehens - der Horizontabhebung - entwickelt habe. Mit Ihrer wahrhaft klärenden Erläuterung meiner Theorie der Horizontstruktur des Verstehens als eines "complex interplay between knowing and not knowing" (S. xii) haben Sie eine zweite Gemeinsamkeit der beiden Gruppen ans Licht gebracht: die Einsicht in die epistemologische Ambiguität des historischen Bewußtseins und die daraus folgende "willingness to give up the illusion of unmediated understanding" (S. xiv). Ich kann nur zustimmen, wie Sie die Diskrepanz von Erwartung und Erfahrung im Horizontwandel des geschichtlichen Verstehens am Verhältnis von herrschender Konvention und individuellem Werk, dessen formaler Struktur und konkretisierender Interpretation, erläutern ("in Jauß's historical model, a syntagmatic displacement within a synchronie structure becomes, in its reception, a paradigmatic condensation within a diachrony", S. xiv). Und ich nehme es dankbar an, wenn Sie mir dabei das Verdienst einer genuinen Synthese von Rezeption und Semiotik zuschreiben, nicht ohne Ihnen zu gestehen, daß ich diese Konsequenz noch nicht absah, als ich die Prager Strukturalisten las und entdeckte, daß Vodickas Begriff von Rezeption als Konkretisation einer linguistischen Zeichen-Struktur mit meinem Modell vom Erwartungshorizont, seiner Durchbrechung und neuer Horizontstiftung konvergierbar ist. Nicht zustimmen kann ich indes, wenn Sie später sagen, literarisches Verstehen, das stets einen Horizont von Erwartungen voraussetzt, sei alltäglicher Wahrnehmung analog, ahme diese sogar nach und sei darum im Grunde "mimetisch" (S. xxii). Widerspricht diese Behauptung nicht alledem, was Sie eingangs über den Vorzug meines Horizontbegriffs: seine Ambiguität zwischen Bewußtem und Unbewußtem (oder: noch nicht Gewußtern) gesagt haben (.. the historical consciousness of a given period can never exist as a set of openly stated or recorded propositions" , S. xii)? Der Erwartungshorizont eines literarischen Werks kann in meinem Modell keineswegs mimetisch bestimmt werden, weil er Wahrnehmbares und nicht Wahrnehmbares (in meiner Terminologie: das latente Vorverständnis) einer Lebenswelt einschließt, ja sogar die Differenz von Selbstverständnis und Vorverständnis einer Welterfahrung im Unterschied zur planen alltäglichen Wahrnehmung allererst hervorkehrt, bewußt macht oder wieder zu rekonstruieren erlaubt. Eben darum benötigt mein Modell das hermeneutische Instrument von Frage und Antwort (ein Vorverständnis kann nur erfragt oder ,hinterfragt', nicht unmittelbar wahrgenommen werden), das Sie in seiner ateleologischen
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Struktur zuvor ja auch schon treffend erläutert hatten ("the question occurs as an individual disruption of an answer that has become common knowledge", S. xiii). Wenn ich vermuten muß, daß Sie diesem hermeneutischen Instrument, das die dekonstruktivistische Kritik ständig nutzt, ohne es meines Wissens schon in ihre Theorie aufgenommen zu haben, nicht zutrauen, latente Horizonte eines literarischen Werks aufzudecken, den Horizont vergangener Erfahrung zu rekonstruieren und mit dem Horizont gegenwärtigen Verstehens zu vermitteln, kann ich diese Skepsis wohl nur in praxi durch meinen Versuch einer methodischen Applikation entkräften, den Sie in meinem neuen Buch unter dem Titel: "Rousseaus ,Nouvelle Heloise' und Goethes ,Werther' im Horizontwandel zwischen französischer Aufklärung und deutschem Idealismus"2 finden werden. Wenn wir uns gegenüber unseren ferventen Anhängern und den Gegnern der ,hermeneutic maffia' auf ein gemeinsames Grundverständnis berufen können (die Yale Critics setzen gleichermaßen eine Theorie des Verstehens, die Konstanzer Schule setzt gleichermaßen die Ambiguität des historischen Bewußtseins voraus), tritt in Ihrer Präsentation die Verschiedenheit der Positionen - wie in einem echten Familienzwist bei der Einmischung der Senioren - erst eigentlich bei der Berufung auf philosophische Autoritäten zutage. Sie wird trennscharf, wo immer die Kategorie des Ästhetischen ins Spiel kommt, die Sie zu Recht als den punctum saliens unserer Differenzen hervorheben (S. xviii). Mit Autoritäten läßt sich trefflich streiten (,auf einen Schelmen anderthalb', wie ein deutsches Sprichwort sagt). Sie halten es wie ich selbst für müßig, einander philosophische Vorlieben und Abhängigkeiten vorzuhalten (S. xvii). Da sie nicht zufällig gewählt und darum auch nicht nur biographisch zu erklären sind, ergänze ich Ihre Reihe mit der meinigen, um die verschiedenen Frageinteressen ansichtig zu machen - mögen die Konsuln der Philosophie dann entscheiden, wer wen mit besseren Gründen herangezogen oder ,richtiger' interpretiert hat. Sie berufen sich auf den frühen Benjamin ("Die Aufgabe des Übersetzers" von 1923, wo Rezeption verworfen und Übersetzung allein als Vorbild des Verstehens zugelassen wird), ich auf den späten Benjamin ("Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker" von t 937, wo die Wendung zur Rezeption vollzogen wird - zum "Jetzt der Erkennbarkeit", das auch in den "Geschichtsphilosophischen Thesen" seine ästhetische Herkunft aus dem "Jetzt der Lesbarkeit" nicht verleugnen kann). Sie bevorzugen
2 ÄE. 11 E.
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den späten Heidegger der Holzwege (I 950), der dem großen Dichter ein eigenes Verhältnis zur Wahrheit, dem Kunstwerk ein "selbstgenügsames Anwesen" zuerkannte (was Sie in meiner Wiedergabe eine "Simplifikation" nennen müssen, S. xvi); ich halte mich an den frühen Heidegger vor der, Wende zur Seinsgeschichte' , an sein Kantbuch (1929) mit seiner Analyse der transzendentalen Einbildungskraft und im besonderen mit der schon zitierten hermeneutischen Maxime des notwendigen "Andersverstehens". Sie können gegen meinen Versuch einer Rehabilitierung des ästhetischen (für mich immer auch schon: verstehenden) Genießens Kierkegaard, Nietzsche und Adorno ins Feld führen, während ich zur Begründung, warum das Lustprinzip in ästhetischer Erfahrung - wie Sie selbst so treffend formulieren - ein "eudaemonic judgement" (S. xviii) einbegreifen kann, als ebenso respektable, in ihrer Tradition unterdrückte Autorität Kant mit seiner Analyse der reflektierenden Urteilskraft aus der dritten Kritik aufbieten kann. In alledem setzen Sie dem Ästhetischen die destruktive Kraft des mit Rhetorik gleichgesetzten Poetischen entgegen und machen mich neugierig, warum eigentlich für Sie das Ästhetische zur Kategorie der "blindness· par excellence (zum "aesthetic idol", das Sie in Anmerkung 26 versteckt haben) werden mußte. Geraten Sie damit nicht in die säkulare, von Plato über Rousseau bis Adorno reichende Tradition der rigorosen Puritaner, in der Sie sich schwerlich wohl fühlen dürften? Stehen wir beide nicht eher auf der Seite der, Modernes', die das zu stürzende Idol der ,Anciens' in der platonischen Triade - "Das Wahre, das der Vater ist, der das Gute zeugt, das der Sohn ist, aus dem das Schöne hervorgeht, das der Heilige Geist ist" (um dem Neveu de Rameau die Ehre zu geben) - erkannten? Die Befreiung von diesem platonischen Erbe ist für mich das Werk der ästhetischen Erfahrung, wie das Kapitel über die Zweideutigkeit und Unbotmäßigkeit des Schönen in meinem Buch expressis verbis darzulegen sucht. Wenn es für Sie das Werk der poetischen oder rhetorischen Analyse ist, meinen wir dann unter verschiedenen Namen nicht nahezu das Gleiche? Würden Sie dann nicht die jüngste These von Rainer Waming annehmen (oder mit welchen Gründen ablehnen), "daß imitatio als rhetorischer Sprachgebrauch, also als eine bestimmte Form semiotischer Praxis implizite immer schon ihre metaphysische Fundierung als panizipierende Nachahmung von Sein dementiert ... daß die ,Lügen' der Dichter insgeheim immer schon jene Metaphysiken in Frage zu stellen glaubten", mithin: daß es dem Dekonstruktivismus letztlich nicht um die Dekonstruktion poetischer Texte gehen sollte, "sondern um den Nachweis, daß die
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poetische Fiktion selbst der systematische Ort aller Dekonstruktionsarbeit ist"l. Liegt in dieser These, der ersten expliziten Rezeption des Dekonstruktivismus in der Konstanzer Schule, nicht vielleicht doch eine neue Chance der Einigung mit den Yale Gritics? Was mich betrifft, würde ich nach der Lektüre von "Deconstruction and Criticism" ohne Bedenken sowohl das Fazit von Harold Bloom: "Poems instruct us in how they brake form to bring about meaning" als auch das Fazit Geoffrey Hartman's: "For (us) the ethos of literature is not dissociable from its pathos" unterschreiben können. So stelle ich Ihnen anheim, lieber Paul, mich künftig wenn nicht im Purgatorium der ,Boa-Deconstructivists', so doch im Limbus des gemäßigten Flügels Ihrer ,Bella Scuola' als korrespondierendes Mitglied zu plazieren! Verbleibende Differenzen wie unsere verschiedene Interpretation von Baudelaires Spleen I I ließen sich sodann mit der Maxime schlichten, einen Text ,auch noch anders verstehen zu können' - eine Maxime, die ja gerade dort am produktivsten wird, wo nicht entscheidbar ist, ob der eine Interpret den Text, besser verstand' als der andere. Sie setzen bei einer anderen thematischen Ebene ein (S. xxix), dem Geist als einem leeren Behältnis, plazieren dort den enthaupteten Maler (Boucher / debouche) und bringen seine Verwandlung in eine Stimme in Analogie zu dem Itinerarium mentis ad Aegyptum (in der emblematischen Sequenz von Erinnerung, die Tod konnotiert, Pyramide und Sphinx). Dann nehmen Sie Hegel zu Hilfe, für den die Pyramide ("in welche eine fremde Seele versetzt und aufbewahrt ist", WW 3, 270) das Paradigma für Zeichen im Gegensatz zum Symbol ist. 4 Doch nicht die Pyramide (Vers 6), sondern die Sphinx (Vers 22) ist die letzte Gestalt, in die sich das Ich von Spleen 11 entäußert! Wenn schon Hegel, müßten Sie dann nicht auch etwas davon sagen, daß für ihn die Sphinx das Paradigma für Symbol ("das Symbol gleichsam des Symbolischen selber", WW 13, 465) war, näherhin das Symbol für den ägyptischen Geist (" wie er anfängt, sich aus dem Natürlichen zu erheben, sich diesem zu entreißen", WW 12,246), auf einer letzten Stufe, auf der "das Verschlossene, das Geistige ( ... ) als menschliches Gesicht aus dem Tierwesen heraus (bricht)" (WW 12, 263), während auf der neuen Stufe des griechischen Mythos durch Ödipus, der die Sphinx tötet, "das Rätsel so gelöst worden: der Inhalt sei der Mensch, der freie, sich wissende 3 Kolloquium Kunst ..nd Philosophie 2: Ästhetischer Schein. hg. W. Ölmüller. Paderbom 1982, S. 168ff. 4 Werke (Suhrkampausgabe), Frankfun 1970.
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Geist- (WW 16, 442)? Ich sehe noch nicht ein, worauf Sie sich stützen könnten, wenn Sie sagen: "But the sphinx is not an emblem of recollection but, like Hegel's sign, an emblem of forgetting" (S. xxv). Von Erinnerung oder Vergessen ist in Hegels Unterscheidung von Zeichen und Symbol nicht die Rede. Wohl aber hat Baudelaire, als er die beiden ägyptischen Mythen, Sphinx und Memnonsäule, höchst eigenwillig zusammenführte und im Gegensinn zu ihrer säkularen Tradition interpretierte (in Ihrer Terminologie: destruierte), die Sphinx (in meiner Terminologie) zur "Allegorie des Vergessens" gemacht. Hegel hin oder her (wir können ihn jetzt beiseite lassen): hier sind unsere Auslegungen offensichtlich zum gleichen Ergebnis gelangt, obschon Sie es nicht sagen ... Die nächste Differenz betrifft die Stelle: "oublie sur la carte". Sie interpretieren: "In Baudelaire's poem he is not just 'oublie' but 'oublie sur la carte', inaccessible to memory because he is imprinted on paper, because he is hirnself the inscription of a sign" (S. xxv). Sie unterstellen (was Baudelaires Formulierung nicht hergibt!), daß der Ort der Sphinx auf der Karte verzeichnet war und nur eben vergessen worden sei (obschon ein auf Papier gedrucktes, mithin veröffentlichtes Zeichen per se nicht unzugänglich zu sein pflegt). Hier bilde ich mir ein, die Dekonstruktion des Mythos schärfer gefaßt zu haben, wenn ich - dem buchstäblichen Sinn folgend - interpretiere: die Sphinx Baudelaires ist unrettbar vergessen, weil ihr Ort auf keiner Karte verzeichnet ist (weil man vergaß, sie auf einer Karte zu verzeichnen). Gerade als "Andenken für niemand" ist sie "Allegorie des Vergessens"! Auch für mich ist die Sphinx am Ende, nach dem Umschlagen des Ichs in das versteinerte Nicht-Ich, wie für Sie "the grammatical subject cut off from its consciousness·, nur daß ich die Destruktion des Selbst als unentrinnbaren Prozeß des Verlustes der Erinnerung in der Bewegung des Gedichts selbst von Schritt zu Schritt - von "j'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ans· bis zum "Andenken für niemand" - aufzeige, während Sie die Destruktion von Selbst und Welt sogleich vom Zeichencharakter der Sphinx ("because he is hirnself the inscription of a signa) ableiten wollen. Das poetische Instrument, das Baudelaire erlaubt hat, diesen Prozeß einer Destruktion des Selbst darstellbar zu machen, ist für mich das von ihm modernisierte Verfahren der Allegorie (S. 168), wie wiederum auch für Sie (S. xxiii), so daß es mich verwundert, von Ihnen auf eine "classical position" verwiesen zu werden. So bleibt als letzte und - wie ich fürchte - nicht auszuräumende Differenz meine abschließende Deutung des Gesangs der Sphinx als ,Poesie der Poesie', die in der Rückwendung auf die Genese des Tex-
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tes seine Produktion selbst beschreibt. Hier kann nur ein Paul de Man so großzügig sein, dem Freund zuzugestehen, daß er seine Deutung "convincing" , das Versprechen ästhetischer Sublimation "powerfully argued" finde und ihm gleichwohl widersprechen muß, weil er Valerys Konzeption, der ich verpflichtet bin, nicht teilt und aller ästhetischen Sublimierung unerbittlich den Kampf angesagt hat. Dabei ist nicht eigentlich die Erscheinung des Schönen, in die der Prozeß der Destruktion von Selbst und Welt am Ende umschlägt, der Streitpunkt. Denn auch ich lege Wert darauf, daß das Schöne in Spleen 11 nicht mehr in klassischer Transparenz, sondern nur noch als "Allegorie des unverstandenen Schönen" aufscheinen kann (S. 179). Der Streitpunkt ist vielmehr, ob Baudelaires Gedicht, wenn es Weltangst bis in ihre äußersten Schrecken vergegenständlicht, kraft ästhetischer Sublimierung seine eigene Katharsis herbeiführen kann und darf. Ich sehe in der kathartischen Wirkung der Dichtung ihre Stärke, Sie hingegen ihre Schwäche. Auch die Schatten von Aristoteles und Plato, die man hier herbeizurufen pflegt, könnten diesen letzten Streitpunkt zwischen Henneneutik und Dekonstruktivismus schwerlich schlichten. Lassen Sie mich darum Ihre letzte Frage an mich mit einer letzten Frage an Sie erwidern, die gleichfalls ins Ungewisse führt: Was wäre gewonnen, wenn Baudelaires Gedicht aller ästhetischen Sublimierung widerstände? Wäre es überhaupt noch ein Gedicht? Sie scheinen selbst zu zweifeln: "What he 'singst can never be the poem entitled 'Spleen'; his song is not the sublimation but the forgetting, by inscription of terror, the dismemberment of the aesthetic whole into the unpredictable play of the literary letter" (S. xxv). Doch inwiefern wäre dies ("the forgetting, by inscription, of terror") noch Gesang? Darf die dekonstruktivistische Sphinx überhaupt noch singen, wenn sie der hermeneutischen Sphinx den Gesang versagt?
Hier brach unser Dialog ab - für immer, wie wir bei unserem letzten Gespräch nicht wissen konnten. Keiner hat besser gewußt und schmerzlicher erfahren als Paul de Man, warum alle ,Apology of Poetry', aber auch alle Freundschaft Fragment und darum eine unendliche Aufgabe bleiben muß, der er sich mit ungebrochener Leidenschaft verpflichtet wußte. Möge dieser Brief, für mich das letzte Zeichen eines durch lange Jahre hindurch gewachsenen, beglückenden Einvernehmens im Widerspruch, etwas von der geistigen Gestalt des Freundes bewahren und als Allegorie des Unvergeßlichen verstanden werden, die sein Werk auf die Weltkarte der Gelehrtenrepublik eingezeichnet hat!
12. Alter Wein in neuen Schläuchen? Bemerkungen zum New Historicism I. Rückschau auf eine deutsch-deutsche Debatte Suche ich in der Rückschau auf den Begriff zu bringen, was seit mehr als dreißig Jahren die Position gewesen sein mag, die ich mit Manfred Naumann über die Grenzen der sogenannten bürgerlichen und marxistischen Lager hinweg zunächst unausgesprochen teilte und die ermöglichte, daß aus den anfänglichen Widersachern mehr und mehr Bundesgenossen auf parallelen Wegen wurden, so finde ich keine prägnantere Formulierung als die in Aphoristische Bemerkungen über die Literaturgeschichte und Literaturtheorie von 1973, wo es heißt: "Die Methodenkämpfe unserer Disziplin ... sind der Ausdruck der Bemühung, sich der Literaturgeschichte in der Entfremdung von ihr zu bemächtigen. "I Ich sah diese Entfremdung vorab in der konservativen Philologie, dem Paradigma der selbstgenügsamen werkimmanenten Interpretation, er vorab im vulgärmaterialistischen Dogmatismus, der unweigerlich Literatur in Soziologie auflösen und damit "ebenso wie die idealistische Souveränitätserklärung der geistigen Schöpfung das wirkliche Wesen der literarischen Phänomene verfehlen" müsse. 2 Für ihn wie für mich schloß sich das Ästhetische und das Geschichtliche im literarischen Charakter der Texte nicht aus und ging es darum, die "Eigenart des Ästhetischen" nicht länger in einer zeitlos abgehobenen Sphäre, sondern in der eigentümlichen Geschichtlichkeit ästhetischer Erfahrung - der Verflechtung von Produktion und Rezeption im Prozeß ästhetisch vermittelter Kommunikation - zu begreifen. Demgegenüber erscheinen heute die alten Divergenzen in der wechselseitigen Theoriebildung episodisch, die zeitweilig temperamentvolle Polemik vordergründig. Der von der Berliner Schule eingeführte Begriff der Rezeptionsvorgabe hätte auch von der Konstanzer Rezeptionsästhetik übernommen werden können, wenn man ihn - wie Man1 Manfred Naumann: BücltpMnltt Lestr- LiteratMrtheoretische AM/sätze. Leipzig 1984.
S. 3. 2 Ebd .• S. 17.
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fred Naumann - vom normativen Rezeptionsmodell Boris Mejlachs absetzte und konzedierte, "daß die Rezeptionsvorgabe des gleichen Werkes auf ganz verschiedene Weise realisiert werden kann CI.) Das Marxsche Kreislaufmodell der ökonomischen Dialektik, nach welchem sich Produktion und Konsumtion wechselseitig sollizitieren, konnte beiden Theorien dienen: hier die Triade von poiesis, aisthesis und katharsis zu erläutern, dort den Schritt über das Widerspiegelungsmodell hinaus zu legitimieren und weiterhin die kommunikative Funktion der Interaktion zwischen den Subjekten zu revalorisieren, die im Kreislaufmodell als dritte Sphäre der Distribution instrumentell reduziert blieb. Desgleichen konnte der Streit über den ,idealistischen' und ,materialistischen' Standpunkt der Literaturtheorie in dem Maße ausgeräumt werden, wie die Diskussion das wechselseitige Ärgernis die idealistischen Implikationen der materialistischen Theorie und die materialistischen Defizite der idealistischen Hermeneutik - zur beiderseitigen Anerkennung gebracht hatte. Und als das Leninsche Dogma vom Kulturerbe, das einzig und gesetzmäßig der sozialistischen Gesellschaft zufallen sollte, preisgegeben war, stand auch nichts mehr im Wege, die freie Aneignung von Literatur und Kunst der Vergangenheit zur Bildung einer gewaltfreien ästhetischen Kultur der Zukunft als eine gemeinsame Verpflichtung zu begreifen, die uns das unvollendete Projekt der Aufklärung hinterlassen hat. Die Wendung zur dialogischen Kooperation markiert in meiner Erinnerung die Innsbrucker Begegnung von 1976, als Zoran Konstantinovic die Berliner und Konstanzer Gruppen am denkbar schönsten, neutralen Ort, unter blühenden Obstbäumen auf einer Anhöhe über der Stadt, zu einem Gespräch zusammengeführt hatte. Don erwies es sich, daß Manfred Naumann und Hans Robert Jauß nicht länger als Widersacher figurieren wollten und gelten konnten, weil ihnen inzwischen aus beiden Lagern Widersacher der jüngeren Generation erwachsen waren, gegen deren Kritik die Rezeptionstheorie nunmehr von beiden Senioren zusammen verteidigt werden mußte. Der geteilte Vorsitz auf dem Komparatistenkongreß von 1979, auf dem die Drachensaat von zwei Hundertschaften der zur Rezeptionstheorie übergegangenen Komparatisten zu bewältigen war, hat dieses Bündnis konsolidiert. Aus ihm sind seither mancherlei Unternehmungen hervorgegangen, die den Wiederbeginn einer deutsch-deutschen Gelehrtenrepublik schon mehrfach geprobt hatten, als beim jüngsten Werner-Krauss-KoUoquium sich den Teil-
3 Manfred Naumann: Gesellschaft - LiuratN" - Lesen, BerlinIWeimar 1973, S. 35.
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nehmern die historisch einmalige Chance bot, die Theorie der Französischen Revolution von 1789 in die Praxis der deutschen Revolution von 1989 umzusetzen und sich zu deren letztem Akt in die Demonstration vor der Bastille des ZK einzureihen. Meinen Dank dafür auszusprechen, was ich dem Freund aus all diesen Jahren an Einsicht, Kritik und Unterstützung verdanke, kann hier und heute nicht die Gestalt einer akademischen Laudatio annehmen. Statt dessen scheint es mir eher angebracht, mich im Rückblick auf die Erfahrung des Methodenstreits der letzten Jahrzehnte einer aktuellen Herausforderung zuzuwenden, die uns beide in persona gleichermaßen betrifft wie die von uns patronierten Berliner und Konstanzer Gruppen: die Provokation der deutschen Rezeptionstheorie durch den in den USA wie in England auf den Plan getretenen New Historicism und Cultural Materialism. Deren Anspruch auf eine neue anthropologisch fundierte Theorie der Geschichte und Funktionsgeschichte der Künste ist ganz dazu angetan zu prüfen, mit welchem Recht man dort die kontinentale, vermeintlich idealistische Hermeneutik überwunden zu haben glaubt und ineins damit eine Erneuerung des marxistischen Humanismus zu fordern und zu leisten vermag.
11. Alter Wein in neuen Schläuchen? Da die angloamerikanische Debatte über den New Historicism und Cultural Materialism noch in vollem Gange, der angebahnte Paradigmenwechsel noch umstritten und das letzte Kapitel der Wissenschaftsgeschichte der Humanities noch nicht geschrieben ist, muß sich die folgende Betrachtung damit bescheiden, den gegenwärtigen Stand der Diskussion aufzunehmen. Dafür bietet sich der jüngste Artikel Stephen Greenblatts : Resonance and Wonder in Literary Theory Today an, zumal ich dort die Ehre habe, an seiner Seite zu figurieren. 4 Für meine Replik stütze ich mich auf zwei einschlägige Debatten zwischen Verfechtern und Kritikern der neuen Tendenzen, die unlängst in New Literary History unter dem Titel History and ... (Bd. 21/2) und in der folgenden Nummer unter dem Titel: New Historicisms, New Histories and Others (21/3) publiziert wurden. Greenblatt, der Urheber des Namens New Historicism, hatte diesen 1982 analog zu New Criticism gebildet, um seine Gegenposition
4 Ed. P. Collier/Ho Geyer-Ryan: Literary Theory Today, Polity Press, Cambridge 1990,
S.74--9O.
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zu dem noch herrschenden Paradigma ostentativ zu kennzeichnen. S Erst seine jüngste Arbeit nimmt ausdrücklich die Debatte mit dem alten Historismus auf. Sie setzt mit der ironischen Vorbemerkung ein, der ,Neue Historismus' strafe - wie das ,Heilige Römische Reich' - ständig seinen Namen Lügen. Denn er widersetze sich entschieden den Merkmalen, die gemeinhin (It. The Amencan Heritage Dictionary) den Begriff "historicism" definieren: ,,1. The belief that processes are at work in history that man can do little to alter. 2. The theory that the historian must avoid all value jugdements in his study. 3. Veneration of the past or of tradition" .6 Sich von solchen Bestimmungen des ,alten Historismus' abzusetzen, kann aus kontinentaler Sicht kaum überraschen. Überraschen muß vielmehr, warum dies erst so spät, so lange nach dem Sieg des Historismus in der europäischen Romantik, erfolgt sein soll. Von diesem gibt sein amerikanischer Erbe offensichtlich eine höchst naive Vorstellung. Lediglich die ,Theorie', der Historiker müsse sich aller Urteile über die Vergangenheit enthalten, weist auf Rankes Begriff von historischer Objektivität zurück - auf sein Ideal eines Geschichtschreibers, der von sich selbst und den Interessen seiner eigenen Zeit absehen will, um zu erreichen, daß sich die Geschichte gleichsam selbst erzählt. Doch die Historische Schule des 19. Jahrhunderts, die derart den Faden zwischen Vergangenheit und Gegenwart von Geschichte - zwischen einer abgeschiedenen Epoche, "wie sie eigentlich gewesen", und "dem, was aus ihr hervorging" - durchschnitt, huldigte eben darum gerade nicht dem Glauben an einen gesetzmäßigen Ablauf der Geschichte im Ganzen. Davon konnte erst wieder seit Marx, doch dann im komplexeren Sinn eines dialektischen Materialismus, die Rede sein. Der Historismus der Ranke-Schule war hingegen aus der Abkehr von aller totalisierenden Geschichtsphilosophie, von Hegels Auffassung der Geschichte als Vernunftsprozeß zumal, hervorgegangen und zugleich - als individualisierende Betrachtung einmaliger Epochen - in Opposition zum nomothetischen Erkenntnisideal einer Naturwissenschaft entfaltet worden. Indem der klassische Historismus jede Epoche als etwas für sich Gültiges ansah und danach trachtete, sie "in ihrer Existenz selbst, in 5 Dazu Anton Kaes: New Historicism and the StNdy ofGerman LileratNre t in: German
QNaterly, 62.2 (1989), S. 21~219. bes. S. 211: -The term originated, as Greenblatt admits, in a somewhat Eeeble witticism: a world-play on me 'new criticism' and also a tug oE oppositions betWeen 'new' and 'history' ... The term 'new historicism' was meant to gesture toward the possibility that we could shift me ground oE literary study away Erom the notion oE a text as an autonomous artifact. • 6 Greenblatt (wie Anm. 4), S. 74.
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ihrem eigenen Selbst", also nicht mehr bloß als Stufe in der Emanzipationsgeschichte der Menschheit zu begreifen 7, entdeckte er auf seine Weise, was der ,Neue Historismus' heute als Otherness (Andersheit) einer Vergangenheit zu rekonstruieren sucht. Eine solche Verehrung der Vergangenheit ist wiederum nicht gleichbedeutend mit bloßem Traditionalismus. Die individualisierende Betrachtung vergangener Zeiten löste im 19. Jahrhundert alle Nonnativität (wie zum Beispiel den Vorbildcharakter der klassischen Antike) und zugleich die substantielle Einheit der einen abendländischen Kultur auf. Wer in rein antiquarischer Andacht verharrt oder wer Tradition monumental verherrlicht, den trifft schon im 19. Jahrhundert der Vorwurf des naiven Historizismus, dem Nietzsche 1874 das Postulat eines kritischen Historismus entgegengesetzt hat. Für den pejorativen Sinn des Worts hat sich im Deutschen später ,Historizismus' eingebürgert. Wenn das Englische nur das Wort ,historicism' kennt und damit der Unterschied des naiven und kritischen Wortgebrauchs verwischt wird, mag dies daran liegen, daß die Wissenschaftsgeschichte in den USA offenbar an der Historismusdebatte kaum beteiligt war, die in Deutschland schon mit Droysens Historik (1868) einsetzte, in den 20er Jahren von Troeltsch bis Heidegger das von Dilthey gestellte Problem einer Kritik der historischen Vernunft aufnahm und in den 60er Jahren zum Paradigmenwechsel des sogenannten ,Zweiten Historismus' führte. Der Nachholbedarf des New Historicism ist darum für den deutschen Beobachter offensichtlich. Dessen Probleme und Argumente sind ihm in einem Maße vertraut, daß der Anschein entsteht, als ob man im Grunde nur Fragestellungen erneut durchspielte, die hier schon in den 60er Jahren angeschnitten und im Methodenstreit zwischen Henneneutik und Ideologiekritik durchgefochten wurden. Es war hier wie dort der akademische Traditionalismus und Formalismus - die Paradigmen des philologischen Objektivismus und der werkimmanenten Interpretation' -, gegen die sich eine modeme Literaturwissenschaft abzusetzen suchte. Zu bemerken, daß dort eine Problematik wieder ab ovo aufgerollt wurde, für die hier schon Antworten gefunden und Lösungen konzipiert waren, sollte nicht als ein selbstgerechtes Pochen auf Priorität mißverstanden werden. Es soll vielmehr dazu überleiten, mit dem folgenden Vergleich der 7 Ranke: Ober die Epochen der neueren Geschichte. in: Geschichte und Politik -Ausgewählte Aufsätze. ed. H. Hofmann. Stungan 1940. S. 141. 8 Nach Greenblan (wie Anm. 4): "twin legacies of early nineteenth-century Gennany". 5.78.
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beiderseits errungenen Positionen den unterbrochenen transatlantischen Dialog wieder aufzunehmen und zu fragen, welche Chancen in der hier wie dort angebahnten Wende vom alten Historismus zu einer neuen, anthropologisch fundierten Literatur- und Geschichtswissenschaft liegen. Dabei kann das Diktum vom Alten Wein in neuen Schläuchen durchaus auch besagen, daß der alte Wein des Historismus in den neuen Schläuchen eines ,kulturellen Materialismus' eine neue Qualität erlangt hat, die er auf europäischem Boden nicht erlangen konnte - eine Qualität, die erst eine, Weinprobe' erweisen kann. Weshalb ich mir herausnahm, den Sinn des biblischen Gleichnisses (Luk. 5,37) ironisch zu verkehren ... Um zu zeigen, daß die Probleme, vor denen die angloamerikanische Debatte derzeit steht, keineswegs überholt, sondern auch auf der deutschen Szene Streitpunkte der Anciens und der Modernes geblieben sind, werde ich sie in drei Perspektiven resümieren: im Blick auf die Problematik einer Historik und Hermeneutik der Alterität (111), auf die Unterscheidung von offizieller und marginaler Kultur (IV) und auf das Postulat einer Neubestimmung des marxistischen Humanismus (V).
III. Zu einer Historik und Hermeneutik der Alterität Der alte Historismus - argumentiert Greenblatt - habe nicht allein den Prozeß der Geschichte vergegenständlicht, sondern auch seine Subjekte homogenisiert, nämlich der Prämisse einer in allem historischen Wandel sich selbst gleichen Natur des Menschen unterworfen; der neue Historismus venneide den Kollektivsingular des Menschen und sei bestrebt, menschliches Handeln - sei es intentional oder nichtintentional- in der Kontingenz heterogener Situationen wie in der Interferenz verschiedener Identitäten von Klasse, Geschlecht, Religion und Nation zu begreifen. 9 Diese Position hat der ,Zweite Historismus' in Deutschland ebenso vertreten (von einem Nachholbedarf feministischer Forschung einmal abgesehen). Das Experimentierfeld des anglo-amerikanischen Unternehmens war bisher - von der Shakespeare-Forschung ausgehend - vorzugsweise die Epoche der Renaissance. Es hat damit den paradigmatischen Vorrang der Romantik abgelöst, der Epoche, die von den New Critics bis zur Yale School als Probierstein par excellence galt, während die ,Neue Mediävistik' auf ihrem eigenen Feld eine Hermeneutik der Alterität 9 Ebd., S. 74.
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erprobte. Für die deutsche Theoriedebatte war die paradigmatische Epoche der deutsche Idealismus mit der Weimarer Klassik, während der progressive Marxismus der Krauß-Schule die lange vernachlässigte Erforschung der Aufklärung revalorisierte. Daraus ist auch zu ersehen, daß eine Wissenschaftsgeschichte der H umanities den Paradigmenwechsel der Schulrichtungen an ihren bevorzugten Gegenständen und Geschichtsepochen erfassen müßte. Der ,Neue Historismus' bestritt vorab, daß das Shakespeare-Theater primär als Spiegel der herrschenden Ideen seiner Zeit angemessen zu verstehen sei. Er entdeckte einen anderen Shakespeare in Aspekten, die dem "ideas-of-the-time-approach" entgehen mußten, zumal dieser unbemerkt ästhetische Normen der eigenen Zeit in die Elisabethanische Welt hineingetragen hatte. Zu diesen Aspekten gehören nach R. Levin: der Antinaturaüsmus der nicht-illusionistischen Shakespearebühne, ihre weder als Masken noch als Individuen gedachten Personen der Handlung, eine für uns befremdliche Lizenz der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, das Fehlen eines Begriffs für das autonome Werk, woraus sich erkläre, welche politische Brisanz das Ästhetische in Shakespeares Radical Tragedy gewinnen konnte. lo Levin hat diese (wie mir scheint) überaus fruchtbare Forschung ingesamt mit dem Bonmot "the non-ideas-of-the-timeapproach" abfertigen wollen und glaubte, sich dabei auf die jüngste, von E.D. Hirsch ersonnene "fallacy of the unscrutable past" berufen zu können. 11 Beides zu Unrecht! Denn sich zu fragen, was in der Literatur einer vergangenen Epoche noch nicht denkbar war (wie zum Beispiel das erst im 18. Jahrhundert proklamierte individuelle Selbst im Drama Shakespeares) ist eine genuin hermeneutische Reflexion. Sie erfordert vom Interpreten eine kontrollierte Vermittlung vergangener und gegenwärtiger Erfahrung. Nur so vennag er zu erkennen, welche Bedeutung einem literarischen Text oder einem historischen Ereignis von den Zeitgenossen zugemessen wurde, oder aber erst im Zeitenabstand zutage treten konnte. Nur so kann er gewahr werden, was uns als Zeugnis oder Relikt einer abgeschiedenen Vergangenheit befremdlich bleibt, was gegenwärtigem Verstehen widersteht und gerade in seiner Andersheit unser Vorwissen in Frage stellt. Greenblatt nennt diese hermeneutische Einstellung, die er dem historischen Ideal des sich selbst und seine Gegenwart ausklammernden Gelehrten entgegenhält, "a sense of estrangement". 12 Er trifft 10 New LiuTary History 21/3, S. 434ff. 11 Ebd. 12 Greenblan (wie Anm. 4), S. 77.
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damit, was auch die modeme deutsche Historik, Hermeneutik und Rezeptionstheorie voraussetzt: das historische Bewußtsein der Horizontgebundenheit und damit der Partialität aller geschichtlichen wie der mit ihr verschwisterten ästhetischen Erfahrung. Mit dem ,Sinn für das Befremdliche' allein ist es indes nicht getan. Die Andersheit der Vergangenheit kann auch in ihrer Fremdheit - gleichviel ob sie aus zeitlicher oder kultureller Ferne hervorgeht - erst in der wechselseitigen Erkenntnis des Eigenen im Fremden rekonstruien werden. Das schlechthin Fremde wäre - wie auch das schlechthin Neue - ein hermeneutischer Nullwert! Soll die Wahrnehmung des uns Fremden nicht wieder in die bloße Beschreibung, wie anders es eigentlich gewesen, zurückfallen, so müssen die Horizonte der fremden und der eigenen Welt in selbstkritischer Reflexion vermittelt werden. Partialität im henneneutischen Sinn meint sowohl Einsicht in die Begrenztheit geschichtlicher Horizonte als auch in die Angewiesenheit aller Selbsterkenntnis auf die Erfahrung des Andem. So verstanden kann die Partialität des historischen Bewußtseins weder in puren Relativismus noch in blinden Traditionalismus verfallen. Sie erforden, jedem Zugriff auf das Ganze der Geschichte zu mißtrauen und menschliches Handeln als Prozeß einer unabschließbaren, von jeder Zeit wieder neu zu leistenden Totalisierung zu begreifen. Totalisierung, "in welcher die menschliche Praxis Momente der Vergangenheit in sich einschließt und eben durch diese Integration belebt" steht hier als Korrelat zu Partialität gegen den ideologischen Anspruch auf Totalität der Erkenntnis. Ich habe das Zitat aus Karel Kosiks Dialektik des Konkreten 1970 an den Schluß von Literaturgeschichte als Provokation II gestellt und würde heute hinzufügen, was ich aus der ideologiekritischen Debatte gelernt habe: daß Totalisierung als "Prozeß der Produktion und Reproduktion, des Belebens und Verjüngens" durch Erinnern und Vergessen bedingt ist, daß die Bildung von Kultur um den Preis der Ausgrenzung des ihr nicht Botmäßigen erkauft und daß der Dialog zwischen den Zeiten auch im Bereich der Schönen Künste durch Diskurse der Macht entstellt sein kann. Doch solche Alterität zu berücksichtigen, ist die Aufgabe einer kritischen Henneneutik und auch ein weiterer Grund, warum Geschichte immer wieder totalisiert, das heißt umgeschrieben werden muß, und die Geschichte der Künste zumal, weil nur so Hoffnung besteht, dem von der Tradition Ausgegrenzten
13 Frankfun 1967, S. 148.
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Anerkennung zu verschaffen - kraft ästhetischer Erfahrung, die sich ideologischer Dienstbarkeit stets auch wieder zu entziehen wußte. Es kann danach nicht unwidersprochen bleiben, wenn Peter Haidu in: The Semioties of Alterity -A Comparison with Hermeneuties (dem einzigen Anikel in NLH 21/3, der sich mit Theorie deutscher Herkunft befaßt), glaubte, über die philosophische und literarische Henneneutik mit folgender Behauptung den Stab brechen zu können: -Hermeneutics is one of the greatest philosophies of continuity: its metaphorical vocabulary is that of inheritor, with the recurrence of tenns such as 'debt', 'heritage', 'tradition', and 'recognition'. Semiotics on the other hand is characterized by disjunction and discontinuity. Its theory and methodology are reactions of discontinuity, to the experience of alterity" .14 Ein solches Verdikt verkennt vorab, daß die Henneneutik seit ihrer Emanzipation von der theologischen Henneneutik - wie zuletzt Glenn Most U zeigte - aus einem historischen Bruch mit der Rhetorik, die als Ars memoriae auf Bewahrung von Kontinuität angelegt war, hervorgegangen ist. Die neuzeitliche Hermeneutik setzt die Erfahrungen des Abstands zwischen Gegenwan und Vergangenheit, der Differenz zwischen (abwesendem) Autor und Rezipient, zwischen Schreiben und Lesen, Buch und Welt, mithin die Bewältigung von Diskontinuität voraus. Ferner scheint es Haidu entgangen zu sein, daß es gerade Schlüsselbegriffe wie ,Schuld', ,Erbe', ,Tradition', ,Wiedererkennen' waren, die noch 1945 das herrschende Paradigma der Andens bestimmten, von denen sich die Modemes in der Literatunheorie, der Ästhetik und Historik beider deutscher Lager absetzten. Die Rezeptionstheorie im besonderen kann solche Kritik nicht treffen, war ihre Position doch von Anbeginn - und schon vor der ,semiotischen Wende' - bestimmt durch den Widerspruch gegen die Ursprungsüberlegenheit des Sinns, gegen die Metaphysik einer sich selbst tradierenden Tradition, gegen den Alleinvenrerungsanspruch des Kulturerbes, gegen den Platonismus des Wiedererkennens, gegen den Vorrang des Klassischen wie gegen eine Ästhetik der Identität. Haidus Kritik trifft allenfalls Gadamers Prinzip der Wirkungsgeschichte, sofern man es auf passive Horizontverschmelzung reduzien und übersieht, daß Gadamer andererseits die historische Arbeit des aktiven Verstehens durchaus - wie bei der Erkenntnisfunktion des Zeitenabstands gesehen und gewürdigt hat. 14 NnII Litera? History, 2113. S. 689.
15 Rhttori1r "ntl Hnmmt"tiJr. Z",. Konstit .. tion der Nt .. ztitlichlrtit. in: Antikt ..nd Abmtl/4ntl JO. t 984. S. 62-70.
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Haidu ist die Gegenfrage zu stellen, ob er den höheren Erkenntnisanspruch seiner "Semiotik der Alterität" im Ernst ohne hermeneutische Vorgaben begründen könnte. Daß aller Formalismus mit seinen Binarismen immer schon Alterität voraussetze l6 , ist im Blick auf die historische Alterität einer vergangenen Epoche eine petitio principii und erklärt mitnichten, wie man den Erfahrungshorizont einer fremdgewordenen Lebenswelt inhaltlich rekonstruieren und wieder verstehen kann. Auch ein semiotisches Verfahren verfügt nicht über das Privileg eines unmittelbaren Zugangs zum Vergangenen, sondern bedarf - wie schon bei G. Droysen zu lesen - der Vermittlung durch "Analogien der historischen Erfahrung". 17 Es kann auf das hermeneutische Instrument von Frage und Antwort nicht verzichten, weil eine historische QueUe in der Tat erst wieder zu uns spricht, wenn wir sie zuvor befragen. Tradition ist nicht per se dialogisch, kein "Gesang der Geister über den Wassern". Sie kann erst wieder dialogisch werden, wenn eine verstummte Vergangenheit aus der Gegenwart des Fragenden ins Gespräch gezogen wird, woran mich Haidu nicht zu erinnern brauchte l8 , weil ich diese Auffassung von Anbeginn vertreten habe. IV. Zum Verhältnis von offizieller und marginaler Kultur Der traditionelle Historismus und Formalismus, in dem Greenblatt das fatale, zweifache deutsche Erbe des frühen 19. Jahrhunderts sieht, habe die Vision einer Hochkultur entwickelt, die als eine zweite, idealere Welt jenseits der Alltagsrealität eine Sphäre der Versöhnung vor Augen stellte, doch um den Preis der Negierung oder Verdrängung aller ökonomischen und politischen Bedingungen des geschichtlichen Daseins erkauft war. Das neue Paradigma wolle hingegen von dem ausgehen, was solch harmonisierendem Verstehen Widerstand leistet: "What is missing is psychic, social and material resistance, a stubborn, unassimilable othemess, a sense of distance and difference". 19 Das neue Frageinteresse sei primär auf all das gerichtet, was bei der Kanonisierung einer offiziellen Kultur an ihren Rand gedrängt oder aus ihrer Herrschaft ausgegrenzt wurde und am ehesten noch aus unkanonischen Quellen erschlossen werden könne: 16 NtfIJ Liurary History 2113, S. 680. 17 Historik. München 1967. S. 159. 18 NtfIJ Lilerary History 21/3, S. 674. 19 Greenblatt (wie Anm. 4), S. 78.
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"New historicists, writes Walter Cohen, are likely to seize upon something out of the way, obscure, even bizarre: dreams, popular or aristocratic festivals, denunciation of witchcraft, sexual treatises, diaries and autobiographies, descriptions of clothing, report of diseases, birth and death records, accounts of insanity. "20 Daraus folgte eine provokative Infragestellung der konventionellen Grenzlinien zwischen Literatur und Nicht- Literatur, Text und Kontext, Vorder- und Hintergrund, zwischen den Sphären autonomer Dichtung und sozialer Realität. Gegenstand der Forschung sei hinfort "both the social presence to the world of the literary text and the social presence of the world in the literary text" .2\ Wie kaum anders zu erwarten, hat sich Greenblatt mit solchen Formulierungen dem Verdacht ausgesetzt, einer marxistischen Theorie der Literatur Vorschub zu leisten. Für diese stand in der Tat auch in der deutschen Debatte "das Problem, wie Dichtung in die Zeit gesenkt ist, (... ) im Zentrum aller ernsten wissenschaftlichen Diskussionen". Wemer Krauß, der damit 1950 seine Programmschrift Literatur als geschichtlicher AuftragU eröffnete, hat die materielle Seite der Literaturgeschichte insbesondere für die Epoche der Aufklärung bereits bis in die Alltagsrealität hinein aufgearbeitet, die gesamte Organisation des literarischen Lebens (Buchproduktion, Distribution und Rezeption) erfaßt und dabei die "unbekannten Soldaten" der Aufklärung ihren Wortführern entgegengesetzt. Sein Protest gegen die herrschende, in der Hitlerzeit korrumpierte Geistesgeschichte nimmt den des Cultural Materialism in mancher Hinsicht vorweg: "Die Literaturgeschichte kann auf die Frage nach der gesellschaftlichen Bestimmung und Wirkung der literarischen Gebilde keine befriedigende und erschöpfende Antwort geben, solange sie den Weg der literarischen Schöpfung nicht bis zum Ende verfolgt, bis zu ihrer Umwandlung in ,KnechtsgestaltC, in der sie an den Türen der Menschen anklopft und ihre unbegrenzte Dienstbarkeit für die Erleuchtung des Alltags entbietet. "2) Das Problem, wie Dichtung in die Zeit gesenkt ist, war für Krauß indes durch eine vulgärmaterialistische Auflösung der Literatur so wenig gelöst wie durch die idealistische Souveränitätserklärung der geistigen Schöpfung. Seine Kritik am Vulgärmaterialismus (der simplen Reduktion aller Erscheinungen des Überbaus, also auch der Kunst, auf Determinanten des ökono20 21 22 23
Ebd. New Litnary History 2112, S. 258. Akademie Ausgabe, Berlin und Weimar 1984 ff., Bd. I, S. 12. Akademie Ausgabe, Bd. 11, S. 248.
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mischen Unterbaus), aber auch an der seinerzeit herrschenden Theorie Georg Lukacs' (der Kategorie der Widerspiegelung wie der "Eigenart des Ästhetischen") kehrt mutatis mutandis in der amerikanischen Debatte der SOer Jahre wieder. Dort wurde dem neuen Paradigma von seinen Kritikern vorgeworfen, daß es die Funktion des Ästhetischen im gesellschaftlichen Kontext einebne, daß es bei der Aufdeckung historischer Differenz den historischen Wandel unerklärt lasse und daß die Auflösung des Subjekts der literarischen Tätigkeit am Ende nurmehr die Knechtsgestalt der Künste im Verblendungszusammenhang der Ideologien zum Vorschein bringe. Die Aufhebung der Grenzen zwischen Literatur und Nicht-Literatur ist nicht auf den Beginn der Neuzeit beschränkt, sondern in einem größeren historischen Zusammenhang zu sehen. Die Geschichte der Künste wie die der Theologie läßt seit jeher einen Pendelschlag zwischen Kanon und Lizenz erkennen: ein Prozeß der Kanonbildung fordert stets auch wieder eine Entkanonisierung in Gestalt von Grenzüberschreitungen heraus, zumal in den Künsten, wo noch jede Klassik im Gegenzug der folgenden Moderne eine Entgrenzung der offiziellen Kultur nach sich gezogen hat. Die Grenzaufhebung des New Historicism steht im Gefolge eines Paradigmenwechsels der 60er Jahre, in denen die Geschichtswissenschaften die Wendung von der herkömmlichen Ereignisgeschichte zur modernen Sozial- und Strukturgeschichte vollzogen haben. Ihr Frageinteresse war hinfort auf die Prozesse verschiedener Dauer im historischen Wandel wie auf die Erforschung geschichtlicher Lebenswelten (Mentalitäts- und Alltagsgeschichte) gerichtet, wobei die Unterscheidung fiktionaler und nicht-fiktionaler Quellen dahinfiel und historische Erkenntnis über ihre etablierten Grenzen hinaus erheblich erweitert wurde. Demgegenüber vertritt der New Historicism, soweit er sich als Cultural Materialism versteht, einen noch radikaleren Ansatz: es sei nicht genug, die Präsenz literarischer Texte im sozialen Kontext zu erfassen, wie es die seither proliferierenden ,Sozialgeschichten der Literatur' schon zur Genüge taten. Damit werde letztlich doch nur wieder die kanonisierte Tradition offizieller Kultur bestätigt. Nun komme es vielmehr darauf an, das aus der offiziellen Kultur vergangener Epochen Ausgegrenzte - ihre Otherness - aus marginalen, bisher kaum anerkannten Quellen zu erschließen. Otherness meint dabei nicht allein, was sich der Herrschaft einer sozialen Ordnung nicht fügte, an den Rand der offiziellen Kultur gedrängt wurde und dort mit Duldung der Autorität sein Dasein fristen durfte. Otherness meint in ideologiekritischer Sicht zugleich, daß die Subversion mar-
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ginaler Kulturen sich selbst wieder entfremdet wurde. Denn eine Lizenz zum Anderssein, die sie scheinbar eigenmächtig beanspruchten, konnte hinter ihrem Rücken de facto von der Macht der Ideologie ausgehen, sofern diese das ihr Unbotmäßige in das Anderssein zu verstoßen pflegt (daher der Neologismus Othering!), um ihre Herrschaft - mit Marcuse zu sprechen- durch "repressive Toleranz" zu sichern. 24 Hier ist dem New Historicism vorgehalten worden, daß der neue Zugang selbst noch einem Formalismus verhaftet bleibe, wenn er den marginalen Text oppositioneller Diskurse auf dieselbe Weise lese wie bisher literarische TextelS , ferner daß er - im Bann Foucaults - das Schicksal der unterdrückten, armen und unschuldigen Subjekte nur als eine unentrinnbare Niederlage beschreibe, ohne eine Alternative anbieten zu können. l6 Den ersten Einwand hat Umbeno Eco einmal auf die schlagende Formulierung gebracht: "Das Mittelalter ime, als es die Welt als Text verstand: die Modeme irn, wenn sie den Text als Welt betrachtet. "27 Die Welt als Text zu verstehen oder - nach Greenblatt - "to grasp simultaneously the historicity of the texts and the textuality of history"2', impliziert als wönlich genommene Metapher letztlich wieder eine idealistische Hermeneutik. Denn dabei bleibt unberücksichtigt, daß schon die Verschriftlichung eines Ereignisses zur Quelle eine Differenz in der Vermittlung entstehen läßt, die zu bedenken das Geschäft einer historischen Hermeneutik ist. Desgleichen läßt die Aufhebung der Grenze zwischen literarischen (fiktionalen) und nicht-literarischen (expositorischen) Texten verkennen, was man den Surpluscharakter der ästhetischen Erfahrung nennen könnte, der sie vor der schlicht pragmatischen Erfahrung auszeichnet. Es ist dies jene "Eigenart des Ästhetischen·, die Lukacs in seinem gleichnamigen Buch (1963) zu bestimmen versuchte, aber nurmehr im "ästhetischen Fürsichsein des Werks" erkennen wollte. Die Eigenart des Ästhetischen verwirklicht sich indes nicht erst in einer Welt des ästhetischen Wesens, in einer zweiten Welt der Poesie: dem eines Tagesmit der vollendeten Emanzipation der Künste - für autonom erklärten Reich des Schönen. Das Surplus der ästhetischen Erfahrung bekundet sich schon auf der Ebene alltäglicher Praxis in dem Vermö24 Cf. dazu Porter, N~ Litn.ry HUlory 21/2, S. 259-267. 25 Ebd., S. 257. 26 VI. Cohm: PoIitic41 Criticism ofSh"~stH.r~, in: Sh..~J~.n ~"crd. hg. j.M. HowardlM.F. O'Connor, New YorklLondon 1987. S. 53. 27 Sind dn t"tnprrtllticmen. Konstanz 1987. S. 29. 28 Greenblatt (wie Anm. 4), S. 80.
t 2. Alter Wein in neuen Schläuchen?
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gen, das Erfahrbare über den Moment und die Not des HandeIns hinaus freizusetzen und kommunizierbar zu machen, mithin: den möglichen Sinn von Realität als Weltentwurf zu erschließen. Die Frage, wie Dichtung in eine Zeit eingesenkt sein und deren Horizont gleichwohl übersteigen kann, gehört zum Geschäft der literarischen Hermeneutik. Diese Frage hat sich in Deutschland schon in der Brecht-LukacsDebatte gestellt. Sie kam später wieder zwischen Krauß und Lukacs zur Geltung, deren nicht offen ausgetragene Divergenz Manfred Naumann auf den Begriff gebracht hat. 29 Sie betraf nicht allein Lukacs' Kategorie der Widerspiegelung, deren Dogmatismus Krauß die gesellschaftsbildende Funktion der Literatur entgegensetzte, sondern vor allem die Eigenart des Ästhetischen. Für Lukacs stellte sich die Geschichte der Kunst als "Befreiungskampf des ,ästhetischen Wesens' gegen die Momente, die seine Entfaltung hemmen" dar. Für ihn war die geschichtliche Materie nurmehr "der Widerstand, den das ästhetische Wesen zu überwinden hat, um die Logik seiner Kategorien durchzusetzen". So mußte für Lukacs das Historische der Tendenz nach zu einer bloßen Funktion des Ästhetischen werden, "wohingegen für Krauß das historische Prinzip den Standpunkt bezeichnet, der an das Ästhetische herangetragen werden muß, wodurch dieses als Funktion des Historischen, d.h. als Funktion der Gesellschaft, des gesellschaftlichen Subjekts, der gesellschaftlichen Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen ins Blickfeld gerät". Das Ästhetische als Funktion des Historischen meint dann nicht läns.er eine einseitige Dependenz, sondern die relative Autonomie des Asthetischen - jenes Surplus der ästhetischen Erfahrung, das erlaubt, das Anderssein einer Vergangenheit überhaupt noch, und immer wieder neu, zu rekonstruieren. Ästhetische Erfahrung ist aber in ihrer Eigenart - ihrer fundamentalen Ambivalenz von Affirmation und Subversion - erst voll zu begreifen, wenn ihre Unbotmäßigkeit nicht einseitig am Widerstand unkanonischerTexte, sondern auch an der Wirkung kanonischer Texte erkannt wird, die bekanntlich nicht vom Anbeginn für ,klassisch' galten, sondern es erst in einem Maße geworden sind, wie ihr Bruch mit bestehenden Nonnen selbst wieder normiert und im hin fort geltenden Kanon der Kultur aufgehoben wurde. Es bleibt mir noch, ein Wort zu dem Problem zu sagen, wie marginale, zumeist nicht ästhetisch intendierte Quellen zu verstehen sind, ohne daß ihr Widerstandscharakter durch kooptierende Textinter29 Naumann (wie Anm. 1), S. 28-29.
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pretation sogleich wieder in den Konformismus der Traditionsbildung vereinnahmt wird. GreenblattlO will dafür das Kategorienpaar "Resonance and Wonder" einführen, das er am Beispiel der Musealisierung von Artefakten und Dokumenten erläutert. In beiden Einstellungen wird der Betrachter auf eine noch sichtbare Spur von Vergangenem gebracht. Beim Artefakt versetzt ihn das ausgestellte Objekt in einen Zustand erhöhter 'Aufmerksamkeit. Angesichts der Einzigartigkeit des Exponats wird der Betrachter aus seiner Alltäglichkeit in die Verwunderung des Schauens entrückt, die das Geschaute zur alleinigen Präsenz erhebt und derart die es umgebenden Exponate - mithin auch den Kontext seiner vergangenen Welt vergessen läßt. Seine staunenerweckende Macht ("the power to arouse wonder") liegt im rein Visuellen; es ist die "Mystik eines Objekts", das unberührbar bleibt, das man nicht nach Hause bringen kann und das man nur insofern besitzen kann, als man es zur Schau stellt. Diesen Bann der admirativen Identifikation zu brechen, erfordert, der anderen Spur zu folgen, um die Resonanz zu vernehmen, die in den Horizont einer abgeschiedenen Vergangenheit zurückweist. Nun gilt es, die Situation aufzusuchen, in der dieses Zeugnis geschaffen und aufgenommen wurde, noch nicht als ein in sich geschlossenes Werk, sondern als Träger einer noch offenen Bedeutung ("to recreate the work in its moment of openness"JI). Nicht ästhetische Vollkommenheit, sondern die Wundmale, die der Gestalt eines Werks von der Gewalt der Geschichte zugefügt wurden, oder auch die Intensität von Namen, in denen vergessene Stimmen nachklingen, weisen in das Anderssein einer Vergangenheit zurück. Kurz gefaßt: in Resonanz und Verwunderung treten sich der nostalgische Appell an Erinnerung und die verklärende Schau des zeitentrückt Schönen gegenüber. Für erinnernde Resonanz und verklärende Schau ließe sich ein analoges Kategorienpaar einsetzen, dessen Bestimmungen Greenblatts Erläuterung ständig umkreist, aber nicht benennt: Spur und Aura. Sie bilden ein Grundverhältnis in Walter Benjamins geschichtsphilosophischer Ästhetik, die gleichermaßen gegen die affirmative Kultur (die "Tradition der Sieger") die ausgegrenzte Existenz der Unterdrückten aus der Vergessenheit zu retten versuchte. Der dafür einschlägige Aphorismus im Passagen-Werk lautet: "Die Spur ist die Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Feme, so nah das sein mag, was sie her30 Wie Anm. 4, S. 79-89. 31 Ebd., S. 80.
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vorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser. "32 Die Fragerichtung ist dieselbe, nur daß der unbekannte Vorgänger dialektische Bilder wählte, um in der Spur noch mehr als die Resonanz vom Vergangenen zu finden. Ihm ging es darum, im "Jetzt der Erkennbarkeit" dem aufleuchtenden, korrelaten Moment des Vergangenen den Hoffnungsfunken zu entreißen, der das Vergessene wiederzuerwecken und verübtes Unrecht zu vergelten mag. Auch ging Benjamin noch in anderer Hinsicht einen Schritt weiter, indem er am Kunstwerk den Verlust seiner Aura in der Moderne diagnostizierte, aber auch schon ihr imaginäres Museum wieder zu rechtfertigen wußte. Der vielbeklagte Verlust der Aura vergangener Kunst durch ihre Musealisierung, die sich heute schon die jüngst vergangene Gegenwart einverleibt, bringt nach Benjamin auch wieder den Gewinn, daß das imaginäre Museum die Dinge von der Fron, nützlich zu sein, befreie und "der großartige Versuch (sei), das völlig Irrationale seines bloßen Vorhandenseins durch ein neues, eigens geschaffenes historisches System, die Sammlung, zu überwinden. "33
V. Zum Problem einer Neubestimmung des marxistischen Humanismus
Zur selben Zeit, schrieb Walter Cohen34 , als der Marxismus in Westeuropa in eine tiefe Krise geriet und auch in der DDR zum Erliegen kam, habe er sich in der Englisch sprechenden Welt, wo er bislang wenig bedeutete, zwar nicht als politisches Modell, dafür aber im Denken der Intellektuellen erneuert. Und in einer weiteren Rückschau auf diese um 1980 einsetzende Tendenz bedauerte John Dollimore den Fehlschlag einer vulgärmarxistischen Shakespeare-Interpretation mit dem denkwürdigen Nachsatz "because we need a spirited reiteration of Marxist Humanism". lS Dabei sei die Alternative Vorgabe marxistischer Kulturkritik aufzunehmen und an Autoren wie Walter Benjamin, Antonio Gramsci, Th. W. Adomo, Herbert Marcuse und Louis Althusser anzuknüpfen, die das Stereotyp der Basis-Überbau-Dependenz längst verabschiedet und bei der Analyse der Hochkultur die Ambivalenz und Komplexität ihrer Machtstruk32 Passagen-Werk M 16a. 4. 33 H la, 2. Zum Vorstehenden s. Verf. in: SE, S. 189-215. 34 In: Shakespeare reproduced (wie Anm. 26), S. 21. 35 New Literary History 21/3. S. 481.
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turen ans Licht gebracht hätten: "tbe terrible power and often violence of representation Jtl6, den Teufelskreis der repressiven Toleranz, die Aporie der instrumentellen Vernunft, in die sich die Dialektik der Aufklärung verstrickte, aber auch die Auswege einer notwendigen utopischen Hoffnung, die Gramscis berühmte Devise eröffne: "Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens". 37 Dieses Fazit erspart mir, den hier schon benannten Nachholbedarf der angloamerikanischen Avantgarde erneut zu erläutern. Statt dessen möchte ich noch darauf eingehen, in welches Dilemma sich der New Historicism dadurch verstrickte, daß er die kulturkritische Theorie der vorgenannten Autoren ignorierte und sich vornehmlich an die Epistomologie des späten Foucault hielt.)I Nach Carolyn Porter hat die Foucault-Rezeption in den USA dazu geführt, das Paradigma einer alle Sphären der Kultur wie des politischen Handelns übergreifenden Jtdramaturgy of power (... ) being performed, as it were, by history itselfU1' zu entfalten. Foucault stand Pate, wenn zum Beispiel Greenblatt behauptet: uTheatrality (... ) is not set over against power but is one of power's essential modes Jt40 . Er folgt derselben Logik der Inversion, wenn er die oppositive Kraft - wie Foucault im Falle der Sexualität - im diskursiven Feld vom negativen Pol der Subversion zum positiven Pol ihrer Vereinnahmung verlagert, d. h. die Institution des Shakespeare-Theaters als bloßes Produkt und Instrument der Herrschaft erklären will. Nur ein formalistischer Glaube an die Autonomie der Literatur könne dieser dann paradoxerweise noch das Vermögen einer Kraft des Widerstandes gegen die Allmacht ideologischer Herrschaft zuerkennen, die ständig und gnadenlos Subversion produziere, um sie hinterrücks zu vereinnahmen. 41 Historische und kulturelle Prozesse bleiben in diesem Paradigma dem Dreischritt von Selbsterhaltung, Subversion und Reintegration (ltconsolidation, subversion and containment") unterworfen, wie DoUimore auch für den Cultl4ral Materialism programmatisch formulierte. 42 Bedenkt man, daß die Forschung des New Historicism Jt with a sense of the almost inevitable defeat of the poor, tbe innocent, and the oppressed" endigte41, so schien er selbst einer 36 37 38 39 40 41
Ebd., S. 479. Ebd., S. 482. Nach Cohen (wie Anm. 26), S. 33 und Porter, NnlJ Lan-.ry Hutory 21/2, S. 262ff. Poner (wie Anm. 24), S. 260. Ebd., S. 262.
Ebd. 42 PolilicJJ Shalrr~.rr, a.a.O., S. 10. 43 Cohen (wie Anm. 26), S. 35.
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Logik der Inversion zu verfallen, wenn er Literatur als oppositive Kraft dem Formalismus als dessen Illusion überließ, dessen Fallstricke zu destruieren er einmal ausgezogen war! Er beerbt damit Foucaults Selbstwiderspruch, der in der politischen Praxis der Revolte von 1968 das Projekt eines Auswegs aus dem diskreditierten bürgerlichen Liberalismus suchte, während er in seiner Theorie der anonymen Diskurse der Gewalt den ideologiekritischen Verdacht verabsolutiene <"Die herrschende Literatur ist die Literatur der Herrschenden", lautete der korrelate Slogan auf der deutschen Szene) und so den ursprünglich anti-autoritären Ansatz in ein totalitäres Modell verkehrte. Carolyn Porter hält dem zu Recht entgegen, daß die marginalisierende Strategie gar nicht erst hätte aufkommen müssen, wenn Literatur und die schönen Künste seit ihrer Verweisung aus Platos idealem Staat nicht immer schon als eine Bedrohung kultureller Herrschaft angesehen worden wären. « Die jeweils herrschende Kultur definiert nicht das Ganze einer Kultur; ihre Herrschaft vermag subversive Stimmen zwar an ihren Rand zu drängen, nicht aber das von Haus aus grenzüberschreitende Vermögen der Literatur zum Erliegen zu bringen. Sie vermag ihre Hervorbringungen nie ganz vorherzusehen, ihre in Fiktion versteckte Negierung der bestehenden Ordnung nicht sogleich zu durchschauen, das Lachen oder Weinen, das sie auszulösen vermag, nicht zu verhindern, mithin das keineswegs nur affirmative ästhetische Vergnügen auch nicht vollständig zu manipulieren. Das Vermögen der Literatur, die bestehende soziale Ordnung zu transzendieren, ist indes nicht allein an den Rändern der Subkulturen, sondern auch inmitten der Hochkultur, auf dem Höhenkamm autonomer Kunstwerke, auszumachen. Der Gedanke von der Kultur als Ideologie muß der Neigung anheimfallen, selbst zu Ideologie zu werden, wenn er die inhärente Negativität des autonomen Werkes verkennt, das nach Adorno, obschon Produkt gesellschaftlicher Arbeit, immer schon "der Empirie durchs Moment der Fonn opponiert" und gerade nach erlangter Autonomie, wenn sich die Kunst den Normen des gesellschaftlich Nützlichen versagt, aus solcher Negation des Bestehenden wieder eine eminent gesellschaftliche Funktion gewinnt. 45 Bei Marcuse, der schon 1936 den Affirmativen Charakter der Kultur aufgedeckt und den Weg der ästhetischen Kunst unter den Verdacht eines unmerklichen Sich-Abfindens mit gesellschaftlichem Unrecht gestellt hatte, ist auch zu lesen, daß der 44 Poner (wie Anm. 24), S. 263. 45 Ästhetische Theorie, Frankfun 1970, S. 15.
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Idealismus ursprünglich keineswegs affirmativ, sondern durchaus gesellschafts kritisch aufgetreten ist. Desgleichen hat auch die ästhetische Kultur der deutschen Klassik einmal im Zeichen dessen begonnen, was Leo LöwenthaI 1957 als die anfänglich kritische Funktion des bürgerlichen Idealismus ans Licht gerückt hat. 46 Aus alledem lassen sich Erwartungen formulieren, denen eine Neubestimmung des Marxistischen Humanismus heute gerecht zu werden hätte: zum einen, die repressive Toleranz ideologischer Herrschaft nicht länger als ultima ratio einer Geschichte der politischen und ästhetischen Kultur anzusehen, zum anderen, das grenzüberschreitende, dank seiner Gewaltlosigkeit subversive Vermögen des Ästhetischen sowohl in marginalisierten Subkulturen aufzudecken, als auch im dialektischen Moment von Werken autonomer Kunst zu bestimmen, und zum dritten, über der Kritik am individualistischen Leitbild humanistischer Bildung die Frage nach dem Subjekt - dem handelnden wie dem leidenden - nicht zu versäumen, das letztlich Geschichte als menschliches Werk konstituiert und als Erfahrung in den Künsten bewahrt und weiterreicht. Dann dürfte es dem New Historicism auch leichterfallen, seine gewollt anekdotischen Zugänge, die ganz unbekümmert disparate Aspekte einer Lebenswelt verknüpfen (sein "commitment to arbitrary connectedness")47, wieder in eine Form der Geschichtsschreibung einzubringen und dem gewichtigsten Vorwurf zu entgehen: "'Yet unlike Marxism it does not complement a lateral or horizontal approach with a vertical one: new historicism describes historical difference, but does not explain historical change. "41 Welch unersetzbare Leistung historischer Erkenntnis der Literatur zukommen kann, wenn man ihr Schicksal nicht allein im Dreischritt von "consolidation, subversion and containment", sondern auch in ihrem gesellschafts- und bewußtseins bildenden Vermögen sieht, hat Wemer Krauß schon 1937 ausgesprochen. Ich zitiere ausführlich, weil diese Apologie der Literatur in der Moderne ihresgleichen sucht, zumal aus dem Munde eines heterodoxen marxistischen Humanisten. Er setzte bei der vulgärmarxistischen Gretchenfrage nach der Priorität von ideologischem Überbau und sozialökonomischer Basis ein - "eine Fragestellung, deren Ausweglosigkeit und methodische Verkehrtheit im vorigen Jahrhundert zur Genüge erprobt worden war"-, um fortzufahren: "Die Unfruchtbarkeit die46 Schriften, Frankfurt 1981, Bd 2, S. 41-79. 47 Cohen (wie Anm. 26), S. 34. 48 Ebd., S. 33.
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ses Dilemmas konnte allein überwunden werden, wenn es gelang, hinter dem unaufhebbaren Gegensatz von gesellschaftlich-wirtschaftlicher Gebundenheit und geistiger Freiheit das Subjekt der Geschichte zu erkennen. Bei der Ermittlung dieses geschichtlichen Täters ist der Literaturgeschichte ein besonderer Anteil beschieden. Denn während die politische Geschichte auf die zufällige Auswahl der Vordergrundfiguren beschränkt bleibt, ist die Literaturgeschichte in der Lage, das Bewußtsein einer Zeit in seiner umfassendsten und zugleich konkretesten Form zu begreifen. Das Schriftwerk zeugt nicht nur vom Willen dessen, der es schuf, sondern nicht weniger von der Gesinnung derer, für die es geschaffen wurde. Es zeigt das Vergangene in einem Stadium der noch nicht abgeschlossenen Geschichtlichkeit, als ein Werden, in der Offenheit des Gesprächs ausgetragen, als einen in fortschreitender Bewegung sich bildenden Prozeß" . 49 Sollten die Vertreter des New Historicism im Ernst meinen, daß das Theater Shakespeares und die Literatur seiner Epoche nunnehr die Knechtsgestalt der Ideologie, nicht aber das umfassende Bewußtsein dieser Vergangenheit begreifen lasse, so müßte man bezweifeln, daß ihre materialistische Theorie hinreicht, über ihre bevorzugte Epoche hinaus (wenn es für diese überhaupt zutrifft) mit dem Anspruch auf Verallgemeinerung Literatur und Kunst als Medien gesellschaftlicher Kultur im materiellen Lebensprozeß der Geschichte erfassen zu können.
49 Wemer Krauß: GeSAmmelte A ../sätze z .. ,. Littrat.. ,.- ..nd Sprachwissenschaft. Frankfun 1949. S. 321-22.
13. Die literarische Postmoderne - Rückblick auf eine umstrittene Epochenschwelle I. Wir haben mehr damit zu schaffen, Interpretationen zu interpretieren als die Sachen selbst, uns mehr mit Büchern über die Bücher zu befassen als mit einem anderen Gegenstand: was tun wir anderes als uns wechselseitig zu glossieren?t
Dieses berühmte Zitat kam mir in den Sinn, als ich meinen Beitrag zum Programm des Symposions: "Moderne versus Postmoderne zur ästhetischen Theorie und Praxis in den Künsten" bedachte. Es stammt von Montaigne, der damit die von ihm inaugurierte Gattung des Essays ironisch glossierte, mithin aus der Prämoderne. Es ist gleichwohl vorzüglich geeignet, das Dilemma zu beschreiben, das die Postmoderne noch oder wieder in ihrem Epochenbewußtsein charakterisiert, aber auch das Risiko eines weiteren Symposiums über die Frage Moderne versus Postmoderne betrifft. Es ist das schon in der Vorsilbe Post angezeigte Dilemma, für das sich in der amerikanischen Kritik der Begriff der belatedness eingebürgert hat, auf deutsch mit ,Bewußtsein der Nachträglichkeit" des Zuspätgekommenseins wiederzugeben. Das gilt, wie mir scheint, auch für dieses Symposium, in dem mir fast alle anderen Redner schon so gut bekannt sind wie ich ihnen selbst. Vorab bekannt in ihren Theorien, Positionen und Gegenpositionen. Hat nicht jeder sein Wort zur Sache schon gesagt und publik gemacht wie ich selbst, zuletzt und vermeintlich definitiv in meinen StNdien ZNm Epochenwandel der ästhetischen Moderne (Frankfun 1989)? Und sind wir nicht allesamt, sofern wir den Ereignischarakter der proklamierten Verabschiedung der letzten großen Epoche der ästhetischen Moderne zunächst bestritten haben, mit der zögernden Anerkennung des Neuen zu spät gekommen? Ist der zwei Jahrzehnte anhaltende theoretische Streit ihrer Anhänger und Widersacher nicht historisch überholt und heute 1 EsSlJis III, xiii (ed. de la Pleiade, Paris 19SO, 1199): .Il y a plus affai~ a interpreter les interpretations qu'a interpreter les choses, et plus de livra sur les livres que sur auue subject: nous ne faisons que nous enuegloser.·
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müßig geworden, nachdem die Postmoderne in der ästhetischen Praxis seither unverkennbar das Bürgerrecht einer Epoche in der jüngsten Geschichte aller Künste erlangt hat? Die gegenwärtige Chance, dem Dilemma der Nachträglichkeit uns ein weiteres Mal wechselseitig interpretieren zu sollen, ohne uns zu wiederholen - zu entgehen, liegt in dem hier angebahnten Gespräch zwischen den Veteranen der bisherigen Debatte und der nun auf den Plan tretenden Avantgarde der Musikwissenschaft. Um mich dabei nicht nur paraphrasieren oder theoretisch selbst überbieten zu müssen, gedenke ich, in meinem Beitrag den gordischen Knoten der Nachträglichkeit wenn nicht zu lösen, so doch kurzerhand zu durchschlagen. Ich hoffe, dem autopoietischen Streit der Interpretationen dadurch zu entgehen, daß ich kühnlich behaupte: die Stunde dieses Symposiums ist nicht länger die einer Theoriedebatte, der selbstgenügsamen Verteidigung sattsam bekannter Positionen. Sie ist vielmehr die Stunde der RückwenduQg von ästhetischer Theorie zum erreichten Stand ästhetischer Praxis. In ihr käme es vor allem darauf an, in der Interpretation der Werke selbst, die vor einer kritischen Rückschau nach nunmehr 25 Jahren als bahnbrechend bestehen können, das eingetretene Neue vom hinfort abgerückten Alten zu scheiden, näherhin zu prüfen, ob der Anspruch des postmodernen Avantgardismus auf ein neues Epochenbewußtsein, seine Kritik an der Rationalitätsform der Moderne, seine Behauptung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzten ästhetischen Normen hätten sich erschöpft, in neuen Leistungen der Künste mit historischem Recht erhoben worden ist. Dabei müßte sich auch erweisen, ob die Selbstbezeichnung als Post-Moderne nurmehr ein epigonales Verhältnis zur klassischen Moderne verrät oder aber, ob sich in der prononciert eingestandenen Nachträglichkeit nicht doch auch ein genuines Epochenbewußtsein bekundet hat, das der ästhetischen Praxis neue Horizonte unausgeschöpfter Erfahrung eröffnete. Bevor ich mich meinen Beispielen für den Neueinsatz der Erzählkunst und des Regietheaters in der Mitte der 60er Jahre zuwende, noch eine Vorbemerkung zur Hermeneutik von Epochenschwellen. Die Bestreitung einer jüngsten Epochenschwelle zwischen Moderne und Postmoderne ist zu einem guten Teil auf trügerische Erwartungen zurückzuführen. Auf Erwartungen folgender Art: Eine Epochenschwelle setze in der Geschichte der Künste ein normgebendes Programm voraus. Der Schritt vom Alten zum Neuen müsse als Epochenwandel gleichsam mit einem Schlag den Stil aller Künste und Kunstgattungen ergreifen. Der Anfang des Neuen könne von allen Zeitgenossen wahrgenommen werden. Der Anspruch auf Innova-
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uon dürfe nicht durch Argumente, was alles schon früher dagewesen, bestreitbar sein. In solchen Erwartungen, die natürlich keiner meiner Kollegen teilt, bekundet sich hermeneutische Naivität. Sie verkennt, daß ein Epochenwandel im ästhetischen wie im politischen Bereich durch eine fundamentale, von Reinhart Koselleck begründete Kategorie der historischen Anthropologie: durch die Asymmetrie von Erwartung und Erfahrung bedingt ist. 2 Allen historischen Wandel charakterisiert ein Hiatus zwischen dem spontanen Eintreten des Neuen und seiner sukzessiven Wahrnehmung, zwischen Ereignis und Wirkung, zwischen Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Die Bedeutung einer ereignishaften Wende wird erst aus dem voll erkennbar, was aus ihr hervorging. Sie kann nicht alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens auf einmal erfassen, steht im Spannungsfeld der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und gewinnt ihre Geltung erst im Prozeß ihrer Durchsetzung - in dem Maße, wie das erst von Wenigen erkannte Neue allmählich von Vielen anerkannt wird. Im Prozeß der Anerkennung des Neuen wird auch das Altedie sich abscheidende Vergangenheit - auf das Ereignis neu zugeordnet. Dessen epochemachende Bedeutung erweist sich nicht zuletzt am Vermögen seiner Innovation, die Sicht auf die bisherige Tradition zu erneuern. Die Vorgeschichte einer Epochenschwelle läßt sich erst aus ihrer Nachgeschichte erschließen. Auch und gerade Vorläufer stehen unter dem Gesetz der Belatedness: in dieser Rolle gewinnen sie erst im nachhinein ihre historische Existenz! Das gilt in besonderem Maße für den Epochenwandel im Bereich der Schönen Künste, obschon ihr Vorzug ist, die Erwartung des Neuen präformieren zu können. Petrarca, der Vater des Humanismus, konnte bekanntlich nicht wissen, daß mit seinem Werk der Beginn einer neuen Epoche, der Renaissance, datiert werden sollte. Friedrich Schlegel und Schiller hingegen haben mit ihren Schriften von 1798 den Epochenumbruch zur Romantik in voller normativer Evidenz programmiert. Dies ist aus meiner Sicht der seltene Fall einer Koinzidenz von Epochenschwelle und Epochenbewußtsein in der Geschichte der ästhetischen Erfahrung. Der Protest der Avantgarden um 1965 war hingegen aus dem Bewußtsein gespeist, am Ende einer sich erschöpft habenden Moderne zu stehen. Das Neue, das aus dieser Abscheidung einer hinfort klassischen Moderne hervorgehen 2 R. Koselleck: Vtrgangene Zl4kl4n/t - Zl4r SemAntik geschichtlicher Zeiten. Frankfun 1979. 00. S. 349ff. S. dazu ferner den Band XII der Reihe Poetik I4na Hermenel4tik: Epochenschwelle I4na Epochenbewl4ßtsein. hrsg. v. R. Kosel1eck. München 1987. bes. S.563ff.
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sollte, hatte noch keine programmatisch einheitstiftende Gestalt: einig war man sich nur in dem, was man verabschieden wollte, nicht in dem, was eine postmoderne Ästhetik erbringen könnte. Das ließe sich etwa an dem Katalog zeigen, den Ihab Hassan 1971 mit sieben (später 13) Kriterien erstellte}; was davon normbildend war, läßt sich erst retrospektiv ausmachen, nachdem sich die ästhetische Praxis über den ideologischen Streit der Apologeten und Kritiker der Dialektik der Aufklärung hinweggesetzt und sich der Wildwuchs postmoderner Anfänge in allen Künsten, vorab der Architektur, gelichtet hat, so daß paradigmatische Werke nunmehr die Konturen einer neuen Ästhetik erkennen lassen. Ein untrügliches Kennzeichen dafür, daß sich ein neuer Epochenbegriff durchzusetzen beginnt, ist seine Bestreitung durch Vordatierung seiner Anfänge, mit der Suche nach Vorgängern, bei denen alle behaupteten Innovationen schon explizit oder implizit zu finden seien. 4 Im Fall der Postmoderne ist die Erstellung einer de facto erst retrospektiv möglich gewordenen Vorgeschichte inzwischen bei Nietzsche angelangt; die Entdeckung Montaignes als prämoderner Postmodernist, der mein Zitat Vorschub leisten könnte, steht zu befürchten. Dementgegen ist Jorge Luis Borges zu Recht als eine der Gründerfiguren der literarischen Postmoderne anzusehen. An seinem Werk lassen sich in der Tat Ansätze einer postmodernen Ästhetik ablesen 5, die indes - und gewiß nicht zufällig - erst 25 Jahre später norm bildend geworden sind. Ich habe darum in meinen Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne als ein erstes Paradigma, das die schon voll entfaltete postmoderne Ästhetik in einer theorieorientierten Textinterpretation vor Augen stellen sollte, einen Autor gewählt, der Borges gewiß voraussetzt, seine Ansätze aber auch schon erheblich weiterführte: Italo Calvino mit seinem Roman: Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979). Darauf brauche ich hier nur zu verweisen, indem ich die Kriterien dessen zusammenfasse, was nach diesem Paradigma postmodern genannt zu werden verdient: die Wendung vom esoterischen Experiment eines asketischen Modernismus zur exoterischen Bejahung von sinnlicher Erfahrung und verstehendem Genießen, von satirischem Überschwang und subversiver Komik; der Umschlag vom proklamierten Tod des Subjekts in die Erfahrung der Entgrenzung des solitären 3 .POSTmodernISM·, in: NnJI Lunary History 3 (1971), S. S-30. " Im F. übernehme ich zwei Passagen aus SE, S. 13/295. 5 Dazu näherhin meine Abschiedsvorlesung: D~ Theo,v an Reuptw", Konstanz 1987, S. 30ff.
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Bewußtseins auf ein polyphones Ich und Du; die Preisgabe des autonomen Kunstwerkes, der selbstreferentiellen Poetik, für eine Öffnung der Künste auf die Gegenwart der hochindustrialisierten Welt und ihrer neuen Medien; sodann die freieste Verfügung über alle vergangene Kultur (,Intertextualität'); die Verlagerung des ästhetischen Interesses auf Rezeption und Wirkung; nicht zuletzt eine unbefangene Verschmelzung von Hoch- und Massenkultur, die das Fiktive, Imaginäre, Mythische als Medium der Kommunikation zu nutzen und gegen die Informationsflut unserer technisierten Welt aufzubieten weiß. In der Symbiose von Hoch- und Massenkultur eine Eigentümlichkeit postmoderner Ästhetik zu erkennen, rechtfertigt wohl auch - wie ich für dieses Symposium zur Diskussion stellen möchte - die jüngste, durch die ,mediale Revolution' eingeleitete Phase der Musikkultur. Don ist mit dem Triumph der Reproduktionstechniken eine Wendung von der alten, monozentrischen zu einer neuen, polyzentrischen Musikkultur zu verzeichnen, in der die "Interpenetration of Folk, Pop(ular) and Art Music" alles übertrifft, was in der bisherigen Tradition europäischer Musik gewiß nicht unbekannt war, aber doch marginal blieb (wie z.B. die Integration von Folklore in der Wiener Klassik oder die Bearbeitungen klassischer Musik in der Art von Liszt oder Strawinski).6 Vergleichbares ist im Literarischen über Intenextualität in postmodernen Texten zu sagen. Sie entspringt einer wieder gewonnenen Unbefangenheit gegenüber aller Autorität der Tradition, ihrer Dekomposition und Rekomposition - einer Wiederaneignung und zugleich Verjüngung des Vergangenen, in der man die Kehrseite eines Epochenbewußtseins sehen kann, das sich seiner Nachträglichkeit voll bewußt ist, doch gerade aus ihrer Positivierung wieder kreativ zu werden vermag. Calvinos postmoderner Roman des Romans führt das Prinzip der Intertextualität in einer Weise aus, die dem Schlagwort des neuen Pluralismus erst seinen tieferen, dialogischen Sinn verleiht. Dieser postmoderne Roman des Romans ist aus zehn abgebrochenen Erzählungen zusammengefügt, die ebensoviele Stilmuster der Trivialliteratur aufnehmen, um sie als Einstellungen zur Welt zu nobilitieren. So kann die Vielstimmigkeit das dialogische Prinzip der wechselseitigen Selbstinszenierung von Leser und Leserin thematisieren, das dem Leser in dem Maße, wie er sein einsames Ich preisgibt, um in die 6 Ich beziehe mich hier auf eine Round Table: .Interpenetration of Folk, Pop(ular) and An Music in the 20th Ccntury- des XIv. Internationalen Musikologenkongresses in Bologna (27.8. bis 1. 9.1987).
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Suche nach dem Anderen seiner selbst einzutreten, durch die fiktiven Diskurse eine Vielfalt von Horizonten möglicher Welterfahrung eröffnet.
11. Trat die Postmoderne architektonisch zuerst inmitten der eurozentrischen Zivilisation auf den Plan, so ist ihr literarischer Ursprung - wie wir heute schärter erkennen - an deren Rand zu suchen. Es ist die lateinamerikanische Erzählkunst, die in den 60er Jahren das herrschende, in seinen esoterischen Experimenten erschöpfte Paradigma des französischen ,Nouveau roman' abgelöst hat. Bahnbrechend waren der Mexikaner Carlos Fuentes, der Peruaner Mario Vargos Llosa und der Kolumbianer Gabriel Garcia Marquez; als ihr Stammvater gilt mehr und mehr der Argentinier Jorge Luis Borges. Eine literarische Postmoderne ist demnach nicht aus den atlantischen Kemländern der Moderne, sondern aus der kontinentalen Randlage Südamerikas hervorgegangen - aus einer eigentümlich nperipherischen Modernität" (Carlos Rincon), die das alteuropäische Erbe voraussetzt, seiner Autorität, seinem Geschichtsbild wie seiner Technokratie nun aber den Gehorsam aufkündigt. 7 Der Anspruch, eine eigene kulturelle Identität zu begründen, dürtte als ein höherer politischer Einsatz erklären, worin diese Bewegung dem bloßen Avantgardismus oder Post-Avantgardismus überlegen ist, der sich im Weiterrollen der ästhetischen Moderne nur noch von sich selber abstoßen kann. Carlos Fuentes, der eine erste Geschichte des neuen hispanoamerikanischen Romans verfaßt hat, sieht in ihr den Versuch, einen ,Mythos' zu schaffen, in dem sich Imagination und Kritik, Vieldeutigkeit, Humor, Parodie und Subjektivität zu narrativer Komplexität vereinigen. 8 Mythos meint dabei gerade nicht - wie in europäischer Tradition - ein Zurückholen des Ursprungs, ein Wiedergewinnen des reinen Anfangs: nU rsprünglich ist das Unreine, die Mischung. Wie wir, wie ich, wie Mexiko - das Ursprüngliche bedeutet also eine Mischung, eine Schöpfung, nicht etwas Unvermischtes, was vor unserer Erfahrung liegt. Wir werden nicht ursprünglich geboren, wir entwickeln uns zu Originalen: Ursprung ist Schöpfung. 7 C. Rinc6n: .. Borges und Garcia Marquez oder: das periphere Zentrum der Postmoderne", in: Postmoderne - globale Differenz, Hrsg. R. WeimannlH. U. Gumbrecht. Frankfun 1991, S. 246-264. 8 In: La novela hispanoamericana, Mcxico 1974.
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Mexiko muß seine Originalität erreichen, wenn es voranschreitet ; in der Vergangenheit wird es sie nie finden. "9 Der neue Mythos Lateinamerikas schafft sich, auch wenn er seine heterogene Vergangenheit aufholt, seine Gegenwart selbst; er ist - mit Ernest Renan zu sprechen - ein tägliches Plebiszit für das solidarische Unternehmen der Zukunft. In der postmodernen Gestalt solcher Romane vereint sich Erinnerung und Imagination, Geschichte und Fiktion auf eine bislang unverwirklichte Weise: das Imaginäre steht der Realität nicht als eine andere Welt gegenüber, sondern macht sie in ihrer Fremdheit alJererst erfahrbar. Der Paradigmenwechsel vom ,Nouveau roman' zum hispano-amerikanischen Roman vollzog sich - wie auch sonst im Epochenwandel der ästhetischen Erfahrung - nicht in der puren Negation bisher geltender Normen. Die Wiedereinsetzung des dort für tot erklärten Erzählers schloß die formalen Errungenschaften der französischen Vorgänger keineswegs aus, sondern nutzte sie - wie besonders am Werk Llosas gezeigt werden könnte - zu einer vielfältig perspektivierten Inszenierung der Erfahrung einer fremden Kultur. Der Durchbruch zur Anerkennung des Neuen, der ungewohnten Normen einer postmodernen Erzählkunst, wurde indes erst eigentlich mit dem weltweiten Erfolg von Garcia Marquez' Hundert Jahre Einsamkeit (1967) erzielt. Auf ihn neben Italo Calvino (Le Cosmocomiche, 1965) berief sich John Barth, als er in The Literature of Exhaustion (1967) das Ende der Ära Pound, J oyce und Beckett ausrief und eine neue Literature of Replenishment (1980) ankündigte. Schon Barth erläuterte die ästhetischen Normen, die nach dieser Epochenschwelle ins Spiel kamen, an Texten von Borges lO, obschon sie schon aus den 40er Jahren datieren. Seither wird Borges von den Verfechtern der Postmoderne als ihr früher Theoretiker, von ihren Gegnern hingegen als einer der letzten ,Klassiker der Moderne' beansprucht. Zu diesem Streit möchte ich bemerken, daß Borges - sieht man sein Werk im Lichte dessen, was aus seiner Rezeption hervorging - sehr wohl als Kronzeuge für die Epochenschwelle um 1967 angesehen werden kann. Und zwar darum, weil er den Fiktionsbegriff der Klassiker der ästhetischen Moderne in seine letzten Aporien führt, dabei aber schon Lösungen anvisiert oder herausfordert, die von der nächsten, postmodernen Generation aufgenommen oder weiterentwickelt wurden. 9 Von Carlos Fuentes in: La region mas transparente, Mexico 1958; (dt. Übersetzung: Landschaft im klAren Licht) einer Romanfigur. dem Schriftsteller Zamacona. in den Mund gelegt. 10 In:.The Literature of Exhaustion'" The AtLmtic Monthly 1967, S. 32.
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Inwiefern sein PieTTe Mesnard als hermeneutisches Experimentder Aufdeckung der Nicht-Identität des Wiederholten in der Wiederholung - bereits in nuce eine postmoderne Ästhetik enthält, habe ich schon an anderer Stelle gezeigt. II Kurz gesagt: das Experiment, in dem das wörtliche Wiederschreiben des Don Quijote den alten Text im Zeitenabstand als ein Werk mit neuem Sinn erscheinen läßt, leitet den Paradigmenwechsel von der klassischen Produktionsästhetik zur Rezeptionsästhetik der 60er Jahre ein. Sofern jeder alte Text zum ,Prätext' oder Palimpsest neuer Texte werden kann, wird die Singularität des autonomen Werks preisgegeben, dafür aber der Horizont einer Intertextualität eröffnet, in dem die thematisierte Gegenwart anderer Texte im polyphon gewordenen Text selbst die freieste Verfügung über alle vergangene Kultur erlaubt. Wenn andererseits die Absicht des Experiments darin gesehen wird, die vermeintliche Ursprünglichkeit allen Schreibens und Lesens als eine Illusion zu erweisen, kündet sich darin schon die radikale Kritik an aller Sinnkonstitution, mithin der sogenannte Dekonstruktivismus an, der heute - faute de mieux - so gerne als Philosophie der Postmoderne bemüht wird. Borges, der Verfasser der Fiktionen und Labyrinthe, hatte dann das Zeitgefühl des eingetretenen Post-Histoire zu der grandiosen poetischen Vision seiner Bibliothek von Babel gesteigert, deren ingeniöse Kombinatorik von 25 Buchstaben erlaubt, alle schon vorhandenen, aber auch alle noch möglichen Bücher entweder vollständig zu repräsentieren oder in einem einzigen Buch mit unendlicher Seitenzahl zu erfassen. Wie schon John Barth zu Recht bemerkte, begnügte sich B'orges indes nicht damit, letzte Aporien zu exemplifizieren, sondern wußte sie ästhetisch zu nutzen. 12 Das pessimistische Pathos der neuen Mythen vom Endzustand unserer Welt, vom Tod des Subjekts und von der Selbstzerstörung der Vernunft ist nicht seiner Weisheit letzter Schluß; es bekundet - wie mir scheint - schon nicht mehr die sich formierende Ästhetik der Postmoderne, sondern Symptome des Ausgangs einer Modeme, von der sich die Generation der am Werk Borges' herangebildeten Autoren absetzt. Borges selbst hatte der apokalyptischen Vision seiner Bibliothek von Babel die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis tertius gegenübergestellt, in der eine geheime Gesellschaft von Gelehrten eine rein hypothetische, von der Algebra bis zum Feuer vollständige Welt ausarbeitet. Borges' Kritik der Fiktion schließt die Alternative möglicher, die gegebene Realität ersetzender 11 Wie Anm. S, S. 30ff. 12 Wie Anm. 10, S. 31.
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Welten ein. Sie bleibt nicht bei einer Philosophie der Sprache stehen, die uns zu Gefangenen der anonymen Diskurse der Macht erklären will. Sie bestreitet die List der Vernunftkritik: ihre Behauptung, daß uns die Worte nie sagen, was sie meinen, wonach der Sinn, den sie scheinbar repräsentieren, die Fiktion par excellence sei, die Vorstellung einbegriffen, die wir uns von uns selber machen. Daß diese Philosophie nicht die von Borges war, hat der französische Dichter Yves Bonnefoy unlängst begründet. tl Das Mißverständnis rühre daher, daß Borges wie mancher große Schriftsteller als Repräsentant einer Ideologie gelte, mit der er außer dem historischen Augenblick seines Hervortretens nichts gemein habe. Seine Rezeption in Frankreich fiel in die Zeit, als dort das Ende des Logozentrismus, einer subjektzentrierten Anthropologie und seinsbezogenen Ontologie und damit einer dem Repräsentationsprinzip folgenden Ästhetik ausgerufen wurde. Borges' Faszination durch die Labyrinthe des Fiktiven kam dem entgegen. Das Werk von Borges spreche indes gerade nicht für die Selbstgenügsamkeit einer welt- und referenzlosen Sprache, sondern revoltiere gegen ihre Selbstverstrickung in Fiktion im Namen der verleugneten Realität, die jenseits der Welt als Text bestehe. Das Werk von Borges führe in Labyrinthe der Fiktion hinein, aber auch wieder aus ihnen hinaus. So zum Beispiel in seinen unterschätzten Gaucho-Geschichten. Hier treten namhafte, bezeugte oder legendäre Personen auf, als Zeugen einer Realität, in der jede Handlung, sei sie gut oder böse, ein Schicksal erfüllt und die Dinge wieder erkennen läßt, wie man sie nur von nahem sehen kann, und in der ein Erzähler wiederersteht, der sich epische Neutralität auferlegt, doch epische Totalität versagt. Diesen Schritt - die von Borges nicht versuchte Singularisierung aller Geschichten in der polyphonen Großform eines Epos der peripheren Welt Lateinamerikas - hat erst Garcia Marquez unternommen. In Hundert Jahre Einsamkeit hat sich die literarische Fiktion aus der Selbstverstrickung der Sprache völlig freigesetzt und die anfängliche Kraft einer exuberanten Imagination wiedergewonnen. In diesem Schritt wird eine Grenzlinie zwischen klassischer Moderne und Postmoderne trennscharf. Die erstere hatte im Schreiben und Scheitern des Schreibens, in der Vergeblichkeit des Setzens und Zurücknehmens der Worte und rhetorischen Figuren, immerzu das Verfahren des Fingierens aufgedeckt und dem Leser die Kluft zwischen Fiktion und Realität bewußtgemacht. Der postmoderne 13 ..Jorge Luis Borges·, in: La vmte de La parole, Paris 1988, S. 305-317.
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Roman hebt diese im Grunde noch ontologische Opposition auf und läßt seine Fiktion in der Realität selbst auf Schritt und Tritt unerkennbar werden, im erneuerten Vertrauen auf das Vermögen der Imagination, zugleich welterschließend, sinnstiftend und identitätsbildend, mithin nicht länger nur der Zugang zu einer zweiten selbstgenügsamen Welt der Dichtung zu sein. Hundertjahre Einsamkeit '4 steht formal in der von Bachtin aufgezeigten, vorzüglich an Rabelais und Dostojewski bestimmten Tradition des polyphonen (menippeischen) Romans, obschon diese dem Autor schwerlich vor Augen stand. Das vielstimmige Werk ließe sich mit gleicher Bündigkeit und hohem Genuß als Sammlung von unversieglich sich fortsetzenden Geschichten lesen, aber auch als eine viele Generationen umgreifende Saga vom Aufstieg und Niedergang einer Familie, als Mythos der südamerikanischen Natur, ihrer Besiedlung, inkarniert in der legendären Stadt Macondo und deren Untergang in der modernen Zivilisation, als Reprise von Krieg und Frieden auf einem fremden Kontinent, dazuhin als ein neues Decameron, das kein Liebesspiel zwischen Epithalamium und Bordell ausläßt, und nicht zuletzt als eine phantasmagorische Enzyklopädie, die alle Register unkanonischen Wissens: Magie, Mirakel, Wunder- und Aberglauben, Zauberei, Alchimie, Vorzeichen, Allegorese aus sanskritischer und Prophezeihung aus nostradamischer Quelle zu ziehen weiß. Ich möchte im folgenden nur umrißhaft versuchen, die Entgrenzung der Erfahrung von Raum, Zeit und Person zu charakterisieren, in der aus meiner Sicht die spezifische, der kognitiven Leistung der Imagination verdankte Neuerung dieses Werks - warum also nicht auch seine postmoderne Ästhetik? - zu sehen ist. Die Handlung in Hundert Jahre Einsamkeit vollzieht sich in einem Raum, dessen imaginäre Geographie die peripherische Situation Lateinamerikas gegenüber der europäisch-atlantischen Welt mit abbildet. Macondo ist Mitte einer selbstgegründeten und Rand einer unkenntlichen Welt in der Ferne zugleich, ein "Raum aus Einsamkeit und Vergessen" (21). Ihr Gründer selbst, der einst mit den Seinen ausgezogen war und die Sierra überquerte, um einen Zugang zum Meer zu finden, die Unternehmung nach nahezu zwei Jahren Marsch abbrach und befahl, an der kühlsten Uferstelle eines glutheißen Ortes ihr Dorf anzulegen (35), Jose Arcadio Buendia selbst "tappte über die Geographie der Umgebung völlig im dunkeln. Er wußte zwar, daß gen Osten die undurchdringliche Sierra lag und dahinter 14 eien anos de soledaJ (1967), zit. nach der dt. Übersetzung von Kun Meyer-Clason: HNndertJahre Einsamkeit. Köln 1967.
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die alte Stadt Riohacha, in der in vergangenen Zeiten (... ) Sir Francis Drake sich damit ergötzt hatte, mit Kanonen auf Kaimane zu schießen", und weiter, daß "im Süden die von einem ewigen Pflanzenschleim überzogenen Sümpfe lagen sowie das weite Weltall des großen Moors, das nach der Zeugenaussage der Zigeuner grenzenlos war" (19). Zwar ist auch von einer Hauptstadt des Landes die Rede, zu der ein Bote indes nur gelangen kann, wenn er nach endlosem Irren zufällig auf einen Saumpfad stößt, der ihn zur Maultierpost führt (12). Gleichwohl kehren Jahr für Jahr an dem weltverlorenen On Zigeuner mit staunenerweckenden Gütern der Zivilisation ein und erwecken in dem stets unternehmungslustigen Jose Arcadio die Begierde, die Wunder der femen Welt kennenzulernen. Seine Idee, den "glücklichen On, in dem niemand älter war als dreißig Jahre und in dem noch niemand gestorben war", zu verlassen und in die ihn umschließende Natur eine Schneise zu schlagen, "die Macondo mit der Welt der großen Erfindungen verbinden würde" (18/19), wird in eine Expedition umgesetzt, die nach 26 Monaten unsäglicher Strapazen doch wieder nur an eine unüberschreitbare Grenze stößt: "Angesichts dieses aschgrauen, schäumenden und schmutzigen Meeres, das nicht die Gefahren und Opfer seines Abenteuers verdiente, waren seine Träume zu Ende. ,Verdammt!' schrie er. ,Macondo ist auf allen Seiten von Wasser umgeben'." (22) Schon früher hatte er mit Hilfe von Astrolab, Magnetnadel und Sextanten nachentdeckt: "Die Erde ist rund wie eine Orange" (13). Die Raumerfahrung in Macondo ist vorkopernikanisch, doch im Bewußtsein, nicht von einem schützenden Kosmos umfangen, sondern von einer feindseligen Natur eingeschlossen zu sein. Das Faszinosum dieses postmodernen Romans beginnt für den europäischen Leser damit, daß er in den fremden Horizont einer Lebenswelt hineingezogen wird, der seine Erfahrung von Raum und Zeit übersteigt und im besonderen seiner Vorstellung von Natur und Landschaft widerspricht. Natur erscheint hier als sinnfremde Macht, als das Negative und schlechthin Andere im erbarmungslosen Kampf ums Dasein; ihre urweltliche, stumme und blinde Gewalt vermag auf diesem Schauplatz kein ordnender Blick in das Schöne oder Erhabene einer Landschaft zu verwandeln. Wer aus ihrem Bannkreis ausbrechen will wie die Mutter Ursula auf der Suche nach dem Sohn (47) oder wie der Oberst Aurelio, der im Bürgerkrieg den Marsch seines Vaters wiederholen will, wird zur Umkehr gezwungen und muß schließlich - wie am Ende noch die letzten, bis nach Rom und Paris gelangten Nachkommen - bestätigt finden, daß der ganzen Sippe beschieden ist, in Macondo den Tod zu finden. Wenn sich die anfäng-
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liche Leere der unkenntlichen Umwelt im Verlauf der hundert Jahre allmählich füllt, wenn endlich eine regelmäßige Mauleselpost zur Hauptstadt eingerichtet, der Fluß schiffbar gemacht, hernach vom Enkel des Gründers eine Eisenbahnlinie angelegt wird, wenn die 32 Kriegszüge des Revolutionshelden schließlich auf die fernsten Orte und Küsten des Kontinents ausgreifen, scheint sich der Bann der Abgeschlossenheit zum freundlicheren Horizont einer bewohnten Erde zu lichten. Doch die vergessene Macht der feindlichen Natur kehrt mit ungeahnten Schrecknissen wieder. Über das Wirtschaftswunder der Industrialisierung, deren wahres Gesicht ein blutig niedergeschlagener Streik enthüllt, brechen urweltliche Katastrophen herein: es regnet vier Jahre, elf Monate und zwei Tage, dann erhebt sich ein glühend heißer Wind, der das verfaulte Macondo dem Erdboden gleichmachen sollte, es folgt eine Invasion von Vögeln, zuletzt ein alles zermalmender Angriff bunter Ameisen. Zurückgedrängt in die Einsamkeit des Hauses der Buendias, "dem ein einziger Atemstoß fehlte, um einzustürzen" , gräbt das letzte Paar die "letzten Schützengräben des unvordenklichen Krieges zwischen Mensch und Ameise" (468/69). Der Sieg der Natur trifft das letzte Kind der Sippe: es wird - wie von Anbeginn prophezeit - von Ameisen gefressen (474). Einsamkeit ist in Marquez' Roman radikal, unaufhebbare Dissonanz, nicht Einklang mit der mütterlichen Natur oder Sehnsucht nach dem verlorenen Ursprung. Einsamkeit schließt hier Selbsterfahrung im Angesicht der Natur, von Petrarca bis zur Romantik das große Thema der europäischen Lyrik, gerade aus, wie andererseits die Selbstfindung im unteilbaren Glück verlorener und wiedergefundener Zeit. Erinnerung ist hier kein Vermögen der Verinnerlichung, sondern das Verhängnis eines Familienerbes (217), ein Gedächtnis, das sich in einen steinernen Polypen verwandeln kann (448), eine wiederkehrende Heimsuchung, der sich eine Gier des Vergessens zu erwehren sucht (439) und die sich im Aussterben Macondos selbst vernichtet (461). Derart übersteigt auch die Erfahrung der Zeit in Hundert Jahre Einsamkeit den uns vertrauten Horizont einer subjektbezogenen Welt. Zwar bleibt die Chronologie Macondos von der Gründung bis zum Erlöschen des Namen im Ganzen gewahrt, doch nicht im einsinnigen, nur erratbaren Gang von Uhr und Kalender. Statt seiner erscheint Zeit in vielfältiger Gestalt: bald gerichtet, bald gegenläufig, oft vorausspringend, dann wieder zurückkehrend, unmerklich zerrinnend, aber auch wieder in einem Augenblick arretiert, verrätseit, bis endlich ihr letztes Geheimnis auf der letzten Seite enthüllt wird. Im Binnenraum von Macondo wird die naturale Zeit
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durch die Geschlechterfolge und durch mythisiene Ereignisse wie die Pest einer monatelangen Schlaflosigkeit (60), die Weltzeit durch die von außen kommenden Zigeuner repräsentien, deren Mitbringsel - Magnet, Fernrohr, Lupe, Daguerrotyp - jeweils den jüngsten Fortschritt der Zivilisation anzeigen, bis diese selbst mit Landrichter, Eisenbahn, Bananenplantage das idyllische Dasein erreicht und zerstört. Der naturalen Zeit scheint der Zigeuner Melchiades entrückt zu sein, der, den Schlüssel des Nostradamus besitzend, so ziemlich allen Plagen des Menschengeschlechts entrann, der zwar altert und für tot gesagt wird, jedoch aus dem Tod zurückkehrt, "weil er die Einsamkeit nicht enragen konnte" (64). Der Augenblick der Erschießung des Obristen, vom ersten Satz an mehrfach antizipien, verdichtet sein Schicksal in ein stehendes Jetzt und trügt doch sein Bemühen, Vorahnungen zu erkennen: er wird dem erwarteten Tod durch die Kugel entgehen (151) und bis ins hohe Alter goldene Fischchen herstellen, doch nur, um sie sogleich wieder auseinanderzunehmen, dem "Laster des Aufbauens um des Abbauens willen" verfallen (362). Für Ursula, die streitbare, die hunden Jahre überlebende Unnutter, kommt der Gang der Zeit, die sich in Aurelios Arbeit selbst verzehrt, auf andere Weise zum Stillstand: "Es ist, als mache die Zeit kehrt, als seien wir zum Anfang zurückgekehrt" (228). Sie findet diese Erfahrung in der Wiederkehr der vier Verhängnisse: Kriegslust, Kampfhähne, Freudenmädchen, Wahnsinnsunternehmungen bestätigt, die den Verfall ihrer Sippe herbeigeführt hatten (222). So endet, was mit dem Sieg der Zivilisation über die Natur begann, mit dem Triumph der ewig in sich selbst kreisenden Zeit der Natur - mit der Einsicht Pilar Terneras, die "ein Jahrhunden des Kartenlegens und der Erfahrung gelehrt hatte, daß die Geschichte einer Familie ein Räderwerk nicht wiedergutzumachender Wiederholungen war, ein kreisendes Rad, das ohne den unablässigen. unrettbaren Verschleiß der Achse sich bis in alle Ewigkeit drehen würde" (453). Wenn der letzte Buendia die chiffrienen Voraussagen des Pergaments, das die Geschichte seiner Sippe als vorgezeichnete, nunmehr vergangene Zukunft enthält, bis zur letzten, mit seinem eigenen Tod schließenden Seite entziffen hat, ist damit zwar das Uneil gesprochen, daß "die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilten Sippen keine zweite Chance auf Erden bekamen" (477). Doch damit läßt sich das Werk von Garcia Marquez mitnichten in den taedium vitae des Posthistoire vereinnahmen. Aller Rede von Sprach- und Sinnkrise, von Welt- und Erfahrungsverlust, widerspricht hier auf Schritt und Tritt ein wieder in sein verlorenes Recht eingesetzter Humor, die Haltung der unvergeßlichen Personen, die gegen die Realitäten von
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Angst, Zwang und Unterdrückung das Lustprinzip behaupten, und ein unbefangen ausgespielter" wunderbarer Sinn für die Unwirklichkeit" (460), der die Grenzen wahrscheinlicher Erfahrung ständig erweitert. Das gilt vor allem auch für die allgegenwärtige Erfahrung des eigenen wie des fremden Körpers, den die oft phantasmatische Wahrnehmung in der Hülle seiner normierten Gestalt durchdringt. All dies kann ich hier nicht mehr durch Beispiele erläutern. Nur eines sei noch angeführt, in dem sich zwei Unwirklichkeiten in grotesker Komik durchkreuzen. Pater Nicanor will, um endlich Geld für den Bau der Kirche zu erlangen, einen unwiderleglichen Beweis von Gottes unendlicher Macht führen: Der Junge, der bei der Messe geholfen hatte, reichte ihm eine Tasse mit dicker, dampfender Schokolade, die er, ohne Luft zu holen, austrank. Dann wischte er sich mit einem Taschentuch, das er aus einem Ärmel zog, die Lippen ab, breitete die Arme aus und schloß die Augen. Nun hob Pater Nicanor sich zwölf Zentimeter über den Erdboden. Das war ein überzeugendes Mittel (102).
Einzig Jose Arcadio, den ob seiner Verrücktheit lebenslang an den Kastanienbaum gefesselten Patriarchen, vermag es nicht zu überzeugen. Er erklärt das christliche Wunder der Levitation schlicht alchimistisch: "Hoc est simplicissimum, homo iste statum quartum materiae invenit", und fordert - eine Unwirklichkeit ist der anderen wert - als einzigen Beweis den ,Daguerrotyp Gottes'. Das wie selbstverständlich eintretende reine Wunder vermischt sich mit dem Profansten (Schokoladen tasse und Taschentuch); das verteufelte Kauderwelsch Jose Arcadios erweist sich als reines Lateinisch und setzt dem ,süßen Gottesbeweis' durch Umsetzung der Schokolade den abstraktesten, eine Photographie des Unsichtbaren, entgegen. Das Schicksal des Stammvaters, der wie ein Gigant ("zehn Männer waren nötig, um ihn niederzuringen, vierzehn, ihn zu fesseln, zwanzig, um ihn zur Kastanie des Innenhofs zu schleppen CI, 98) an eine lateinamerikanische Weltesche Yggdrasill gebunden sein Leben endigt, ist nur eine der vielen, so unglaublichen wie symbolträchtigen Geschichten, die der Mythos von Macondo singularisiert, obschon jede für sich - von der des Magiers Melchiades, über die Remedios der Schönen und des liebeskranken Musikers Pietro Crespi oder der Hurenmutter Pilar Temera bis zum katalanischen Weisen und Bibliothekar - Stoff für einen Roman allein bieten würde. Erstaunlich ist, daß in dieser diskreten Vielfalt die Geschichten der Buendias ein so hohes Maß an Individuation gewinnen, obwohl sie vom selben Einsamkeitszeichen der Familie geprägt sind (301) und
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als Namensträger bei der den Leser verwirrenden Wiederkehr der Aurelianos und Jose Arcadios zwei Grundcharaktere weitervererben, von denen gesagt wird: "Während alle Aurelianos verschlossen, aber gescheit waren, stellten die Jose Arcadios Impulsivität und Unternehmungslust zur Schau, hatten aber eine Neigung zum Tragischen" (214). Gleichwohl geht jeder seinen unvertretbaren Weg, hat seine eigentümliche Liebesgeschichte und stirbt seinen durchaus eigenen Tod. Das letzte Paar, der in die Lektüre der uralten Schrift versponnene Aureliano und die weitläufige, vom Pariser Hauch umgebene Amaranta U rsula, ragt aus der Geschlechterfolge heraus. Der Tollheit ihrer Liebe inmitten des untergehenden Macondos entspringt ein letzter Nachkomme mit der Hoffnung, "die Sippe von neuem ganz am Anfang zu beginnen und sie von ihren schädlichen Lastern und ihrer Neigung zur Einsamkeit zu läutern, da er als einziger in einem Jahrhundert mit Liebe gezeugt worden war" (471). Wenn diese Hoffnung trügt, weil sich herausstellt, daß er das fatale Zeichen des Inzests - einen Schweineschwanz - trägt und hernach von den bunten Ameisen gefressen wird, bleibt ihnen doch eine Gewißheit, die dem düsteren Ausgang im letzten Triumph der Gegenspielerin Natur überlegen ist. Haben sie in ihren Liebesnächten doch gelernt, den Tod selbst durch Humor zu überwinden, nämlich in der Gewißheit glücklich zu werden, "daß sie sich weiterhin in ihrer Natur als Gespenster lieben würden, lange nachdem andere Arten künftiger Tiere den Insekten das Elendsparadies entrissen haben würden, das eben diese Insekten vollends den Menschen entrissen" (470).
III. Auch im Bereich des Theaters trat in der Mitte der 60er Jahre eine Entwicklung ein, die in der Rückschau den Schritt zu einer postmodernen Ästhetik schärfer erkennbar werden läßt. Eine neue Konzeption zeigt sich hier nicht allein im Formalen - dem Primat sinnlicher Gestaltung und dem Körperspiel-, sondern auch in der Thematik dem Primat der produktiven Rezeption klassischer Stücke - an. Es ist die Erscheinung des in Deutschland sog. ,Regietheaters' , das sein englisches Seitenstück in einer provokativen Wiederverarbeitung Shakespeares hat. ,Aus Alt mach Neu' war immer schon die Devise einer guten Regie und der im vermeintlichen, Nachleben der Antike' wirksame Ehrgeiz von Autoren der Modeme. Nun aber werden die Horizonte von Alt und Neu nicht länger in der Kontinuität kultureller Tra-
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dition verschmolzen, sondern gerade in ihrer Zeitenferne voneinander abgehoben, auf eine Weise, die ihre wechselseitige Fremdheit zutage bringt und zum dramatischen Agens macht. Zadeks) Maß für Maß von 1967 ist gegen die Erwartung eines Klassikers inszeniert, negiert sein Identifikationsangebot und erneuert den Sinn des Textes durch seine Verfremdung. Mit Rosencrantz and Guildenstern are Dead von 1966 zerbricht Stoppard die sakrosankte Ganzheit eines klassischen Werks, indem er Hamlet aus der Sicht zweier Rand- und Spottfiguren wieder aufnimmt, die elisabethanische Tragödie mit dem Modell von Becketts Waiting for Godot von 1953 verschränkt und die beiden Texte in ein Spiegelverhältnis bringt. Der respektlose Umgang mit dem Klassischen, der Bruch mit dem Ideal der Werktreue, die souveräne Verfügung über eine entkanonisierte Tradition, die Lust am Text als ,Intertext' , in dem jeder Vorgang andere Texte zitieren kann und darf: dies sind vorab die Merkmale, die seither Schule machten und den ,Dienst am Werk', die Nonn des Bildungstheaters der Väter, aber auch das politische Engagement des vorangegangenen dokumentarischen Theaters obsolet werden ließen. IS Da der inzwischen eingetretene Wildwuchs des postmodernen Theaters seine ursprüngliche Intention nicht mehr so leicht erkennen läßt, möchte ich sie am Verfahren der produktiven Rezeption erläutern. Dieses findet sich gewiß immer schon in einfacher Fonn, wenn ein autonomer Dichter, und sei es in der Nachahmung seiner Vorbilder, die ihm eigene ästhetische Nonn verwirklicht. Werktreue ist ein typisches Philologenideal, kein spezifisches Prinzip humanistischer Dichter. Ihr freizügiger, ja gewaltsamer Umgang mit ihren Quellen liegt auf der Hand, wie Ch. Marowitz zu Recht bemerkte: "Wären die Elisabethaner ehrfürchtig mit Kyd, Holinshed, Seneca, Whetstone, Boccaccio und Belleforest umgegangen, hätten wir nie einen Shakespeare gehabt. "16 Davon unterscheidet sich produktive Rezeption, wie sie in Deutschland mit dem Regietheater Zadeks und Steins, sodann mit Hildesheimers M ary Stuart oder Plenzdorfs Neuen Leiden des jungen w., in England mit Charles Marowitz und Robert Wilson, mit Tom Stoppards Rosenkrantz and Guildenstern oder Edward Bonds Lear einsetzt, durch ein komplexeres Verfahren: hier wird die historische Distanz zwischen dem klassischen Text und der Gegenwart seiner Aufführung eigens in die Inszenierung einbezo15 Naeh G. Mack: Die Farce, Kap. 7: "Zeitgeistliebstes Spiel?-Zur Aktualität der Farce in Inszenierungen des Regietheaters·. München 1989, S. 174ff. 16 "How to rape Shakespeare and emerge psychologically in-taet·, in: Jahrbllch 1988 der Deutschen Shakespeare-Gesellsehaft West, Bochum 1988, S. 8-24 (hier S. 17).
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gen, die Vermittlung ihrer Horizonte dem Publikum selbst zur Reflexion aufgegeben. Die Erwartung der Shakespeare-Gemeinde wird vor allem dadurch schockiert, daß solche Stücke das Tabu des nicht anrührbaren Wortlauts und der unveränderlichen Gestalt des klassischen Werks durchbrechen, daß sie den vertrauten Horizont des zeitlos Klassischen nurmehr in Zitaten oder Bruchstücken aufrufen, um die Feme und Fremdheit einer vergangenen Welt ansichtig zu machen, die damit z~gleich das Selbstverständnis der gegenwärtigen Welt in Frage stellt. Asthetische Erfahrung ist nicht länger im Wiedererkennen eines ursprünglicheren Sinns, sondern aus der ständigen Konfrontierung der Horizonte von Vergangenheit und Gegenwart, des Fremden und Anderen mit dem Eigenen und Vertrauten, zu gewinnen, in einem Prozeß, der auch in die beiden Extreme des postmodernen Theaters, das pessimistische einer Destruktion aller Sinnverheißung und das optimistische einer Sinnentlastung im Genuß des reinen ,Spiels der Signifikanten' führen kann. Das anspruchsvollere Verfahren der verjüngenden Rezeption ist im Grunde die nunmehr selbst in Szene gesetzte literarische Hermeneutik, nämlich eine Anwendung ihres Prinzips der dialektischen Vermittlung geschichtlicher Horizonte. Es begründet die konstitutive Nachträglichkeit dieses Theaters: warum es gerade im Rückgriff auf zitierbare Klassik innovativ werden, gerade in seiner Post-Modernität ästhetisches Eigenrecht beanspruchen konnte. Hier erweist sich, daß die gewollte Partialität produktiver Rezeption, das Zerbrechen der ästhetischen Einheit im Herausgreifen von Fragmenten eines klassisch gewordenen Werks, unerahnte Möglichkeiten freisetzen kann, es gegen verfestigte Konventionen neu und wieder anders zu verstehen, es aus einer abgeschiedenen Vergangenheit zurückzuholen und es damit gleichsam zu verjüngen erlaubt. Als Beispiele für das geglückte Verfahren verjüngender Rezeption seien hier die beiden Stücke von Hildesheimer und Plenzdorf genannt. Ich habe sie vor Jahren unter dem Titel: Klassik - Wieder modern? interpretiert, noch ohne an die sich hier anzeigende Schwelle zur Postmoderne zu denken. 17 Kurz zusammengefaßt: für die neue Maria Stuart wie für den neuen Werther ist charakteristisch, daß sie im dramatischen Vorgang selbst den Schein zerstören, klassische Dichtung vollziehe von sich aus - durch Horizontverschmelzung im Sinne der Gadamerschen Hermeneutik - die Überwindung des Zeiten abstands. Die Verschmelzung der Horizonte des klassi-
17 Zuletzt in: ÄE. Kap. IH. C. (Erstveröffentlichung 1977).
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schen Werks und seiner gegenwärtigen Erfahrung geschieht hier nicht mehr hinter dem Rücken, sondern vor den Augen des Publikums. Ihm ist es nunmehr aufgegeben, am Widerstand des Fremden zu erkennen, ob der Text auf sein Fragen antwortet oder nicht mehr antwortet, ob er unser Selbstverständnis nur bestätigen, oder in Frage stellen und dadurch erweitern kann. Hildesheimer setzt im vertrauten Horizont der Weimarer Klassik ein, den er sogleich verfremdet, indem er die Handlung von Schillers Tragödie auf die eine, letzte Szene der Hinrichtung zurückschneidet. Er unterzieht das große Ereignis einer historischen Anatomie, um die brutale Wirklichkeit einer Epoche aufzudecken, von der uns die Psyche der Herrschenden gleich unverständlich bleibt wie die der U nterdrückten. Die Destruktion der idealistischen Sinnerwartung ist indes nicht das letzte Wort der Mary Stuart: Hildesheimer läßt am Ende der entmythologisierten Historie als Gegenkraft die idealistische Sprache aus dem Munde der zum Tod schreitenden Königin wiedererstehen. Plenzdorf setzt umgekehrt bei der denkbar größten Gegenwartsferne eines Klassikers ein, dem auf der Toilette gefundenen Reclamheft ohne Titelseite, also mit dem anonym gewordenen Relikt eines von Goethe völlig abgelösten Textes. Er demonstriert am Unverständnis eines naiven Lesers, wie fremd die Sprache Goethes einer späteren Zeit werden konnte. Aber auch hier setzt inmitten der Sinndestruktion ein gegenläufiger Prozeß ein: der Leser wider Willen entdeckt, wahrend er Zitate aus dem alten Text aufgreift, daß die literarischen Leiden des alten Werther mit den erlebten Leiden Edgar Wibeaus überraschend mehr und mehr konvergieren. Die zitierte Wirklichkeit läuft seinem Erleben voraus; sie erklärt und eröffnet ihm Erfahrungen, die für die Selbstsuche des renitenten Lehrlings durch das klassische Zitat erst eigentlich aussprechbar werden und ihn den kritischen Zustand der sozialistischen Gesellschaft unversehens erkennen lassen. Die Shakespeare-Rezeption befreit sich im postmodernen Theater zu ungeahnten Möglichkeiten. Bahnbrechend war Jan Kotts Buch: "Shakespeare Our Contemporary" von 1965, das in Gestalten wie Richard und Jago "das wahre Antlitz der großen Diktatoren und Henker unserer Zeit" aufdeckt. II Solche Zeitgenossenschaft will indes nicht länger in der monumentalen Historie die tragische Ambi18 R. Ahrens: WJliam Shaleespeare - DitLzlrtisches HandbNCh, München 1982, S. 906; die prägnanteste Zusammenfassung der Shakespcare-Rezeption mit der Wendung zur Postmoderne findet sich bei eh. Marowitz (wie Anm. 16).
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valenz politischen Handelns erkennen, sondern enthüllt Geschichte als Alpdruck oder anders gesagt - damit setzt Heiner Müller ein Geschichte im sinnfremden Naturzusammenhang: "Nie zuvor sind die Interessen so nackt aufgetreten, ohne den Faltenwurf, das Kostüm der Ideen." 19 Der dramatische Vorgang zitiert Vergangenheit, den fremden im eigenen Horizont; er ruft eine Welt auf, die unsere Hoffnung nicht mehr reflektiert. Wenn der zitierte Vorgang Einfühlung im Detail verschafft, so um den Preis der Verfremdung des Ganzen: "Der Kessel von Stalingrad zitiert Etzels Saal. (... ) Die deutschen Soldaten haben im Kessel von Stalingrad die Lektion der Nibelungen nicht gelernt. ( ... ) Erst wenn das Modell geändert wird, kann aus der Geschichte gelernt werden. "20 Das Modell muß geändert werden und wird um diese Zeit in England von Marowitz, Bond, Stoppard und anderen in der Tat geändert, im Protest gegen einen Hamlet, der zum "Lustobjekt der Interpreten" geworden isr l , gegen eine Catherine, an der in The Taming o[the Shrew eine Gehirnwäsche vollzogen wird, gegen einen M erchant o[Venice, der nach den letzten 75 Jahren jüdischer und israelischer Geschichte nicht mehr in naiver Texttreue gespielt werden kann. 22 Ist der theatralische Bann konsakrierter Erwartung einmal gebrochen, so kann im heilsamen Schock postmoderner Inszenierung erfahrbar werden, daß der in neuer Freiheit zitierte Shakespeare im Fundus seiner ausgespielten Stücke mehr Handlungsentwürfe enthielt, als sie der Erfindung neuer Sujets zu Gebote stünden. 23 Das postmoderne Theater weiß die freie Verfügung über alle kanonisierte Tradition auf die vielfältigste Weise zu nutzen. Zwei Varianten seien hier noch skizziert: die Umwendung des Kanonischen in die humorvolle Entlastung von aller Autorität (bei Stoppard) und der im bitteren Ernst gegen sie erhobene Protest, der in den Versuch führt, "eine Erfahrung zu beschreiben, die keine Wirklichkeit hat in der Zeit der Beschreibung" (bei Heiner Müller). 24 Rosencrantz and Guildenstern are Dead setzt wie Die Hamletmaschine (die mit dem Satz beginnt: "Ich war Hamlet") paradoxerweise sogleich nach dem zu Ende gespielten Shakespeare ein. Gerade die Nachträglichkeit muß die Chance der Erneuerung erbringen! Stop19 .. Shakespeare eine Differenz·, in: Heiner Miilkr Materi4J - Texte ,md KommentAre, hrsg. v. F. Hömigk, Leipzig 1989, S. 107. 20 Wie Anm. 19, S. 61. 21 Wie Anm. 19, S. 106. 22 Nach eh. Marowitz (wie Anm. 16), S. 13ff.
23 Ebd., S. 18. 24 Shakespeare eine Differenz (wie Anm. 19), S. 105.
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pard sieht sie im synkretistischen Prinzip einer "marriage between the play of ideas and farce or perhaps even high comedy" . 2S Er nimmt den klassischen Harnlet wieder auf, indem er ihn im Kontext von Becketts Waiting for Codot (1953), der modernsten ,high comedy', bruchstückhaft zitiert, diese aber gleichermaßen über ihr Ende hinaus weiterspielt. Der so schlichte wie ingeniöse Einfall, Shakespeares Höflingspaar in die Jedermann-RoUen von Vladimir und Estragon einzusetzen, bringt eine ständige Brechung zwischen Tragik und Komik, Gedankenhöhe und Trivialität, zwischen Individualität und Vertauschbarkeit der Charaktere, frei gewählter und verhängter Rolle zum Vorschein, die im Theater Becketts das "erstickte Lachen" wieder freigibt, indem sie Harnlet mit den Augen von Becketts Figuren und diese in Erwartung eines Shakespeareschen Schicksals sehen läßt. Das Lachen über Rosencrantz und Guildenstern entspringt nicht dem Absurden der ständig vertauschten Horizonte selbst, sondern ihrer ausgespielten Gegensinnigkeit. Das marginale Paar, in Shakespeares Tragödie Objekt und Opfer des Gelächters, wird zum Subjekt einer für es selbst unkenntlichen Handlung und muß gleichwohl im Kleinen und Kleinsten - wie Harnlet in seinem berühmtesten Monolog - die Frage nach Sein oder Nichtsein stellen: "You can't go through life questioning your situation at every turn" mahnt sie der Player vergeblich. 26 Was immer sie tun und in der unversieglichen Komik ihrer Doppelheit kommentieren, sei es im eigenen Spiel der Wette um die Münze, sei es im fremden Spiel, dessen Regeln sie nicht kennen: all ihre Handlungen mißlingen und bringen in der "Artistik des Mißlingens"27 doch immer wieder mehr zutage als nur absurdes Theater. Wie ihr ständig wieder aufgenommenes Wettspiel die tödliche Mechanik der Schicksalstragödie im Gegensinn des modernen Probabilismus aufhebt, so erweist sich arn Ende, als Guildenstern den Player niedersticht, der vermeintlich wirkliche Tod als ein nur literarischer Tod. Und wenn zu guter Letzt nicht Leichen davongetragen werden, sondern das unsterbliche Paar wie zwei Schauspieler von der Bühne abtreten kann, hat Stoppard die unausgesprochene Wette gewonnen, daß gerade im erwarteten Endspiel von Shakespeares Tragödie der Anfang ihrer Erneuerung zu finden ist. 25 Zitien im Nachwon zu der dt. Ausgabe von: Ros~"crantz and GNiJd~"stern ar~ Dead, Stungan (Reclam) 1985, S. 157. 26 Im Text (wie Anm. 25), S. 72. 27 S. dazu W. Iser: Die Artistik des Mißlingens - Ersticltt~s Lachm im Theater Becltetts, Heidelberg 1979.
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C. Kritische Gänge
In Heiner Müllers Hamletmaschine bleibt der Anfang des Neuen ungesagt: "Das Stück versucht nicht, den Kampf zwischen Altem und Neuem, den ein Stückeschreiber nicht entscheiden kann, als mit dem Sieg des Neuen vor dem letzten Vorhang abgeschlossen darzustellen; es versucht ihn in das neue Publikum zu tragen, das ihn entscheidet. "21 Der zitierte Hamlet spricht im Eingangsmonolog mit der Brandung, "im Rücken die Ruinen von Europa" . Er inszeniert die alte Tragödie selbst, die Stichworte gebend oder soufflierend, als Endspiel der ganzen bisherigen Geschichte, das zeigt, daß ihre Maschinerie nichts als eine Folge von Katastrophen, die Welt nichts als ein Gefängnis war und nurmehr das Denkmal einer versteinerten Hoffnung hinterließ. "Ich zertrümmere die Werkzeuge meiner Gefangenschaft", läßt er Ophelia in der zweiten Szene sagen, die damit ausspricht, was das Stück im Ganzen vollzieht: im Staatsbegräbnis der ersten Szene, das mit Leichenschändung und Unzucht das angesagte Familienalbum profaniert; im Scherzo der drinen Szene, in der die toten Philosophen auf Hamlet ihre Bücher werfen, der sodann als Transvestit in Ophelias Kleidern einen makabren Tanz aufführt; in der vierten Szene: Pest in Buda - Schlacht um Grönland, in der auf den Sturz des Denkmals das einzig noch denkbare Drama, der Aufstand, folgen soll, aber nicht stanfmden kann, weil das Textbuch verloren gegangen ist, wonach Harnlet als Mann, der Geschichte machen wollte, selbst eine Maschine sein will und am Ende mit dem Beil die Köpfe von Marx, Lenin, Mao spaltet; in der fünften Szene, in der Ophelia im Rollstuhl, mit weißen Binden verschnürt, reglos auf der Bühne bleibt, nachdem sie im Namen der Opfer an die Metropolen der Welt die letzte Botschaft gerichtet hat: "Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe." Der Titel der letzten Szene; WilJharrend / In der furchtbaren Rüstung / Jahrtausende verweist auf Heiner Müllers Version zu Brcchts Fragment Reisen des Glücksgotts und zu Benjamins Engel der Geschichte, auf den Text: Glückloser Engel, den die Steinschläge der Geschichte zum Stillstand gebracht haben und der nun unbeweglich verbleibt, "wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem, bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt" . 29 Teilt Heiner Müller auch nicht mehr die Überzeugung Brechts, daß 28 Das von Heiner Müller zum Loh,.Jriiclrn Gesagte (wie Anm. 19, S. 135) gilt gleichermaßen für seine H.mkmuuchiM (im F. zitiert nach der in Anm. 19 genannten
Ausgabe). 29 Wie Anm. 19, S. 124.
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es unmöglich ist, "das Glücksverlangen der Menschheit ganz zu töten"lO, so läßt das Bild der versteinerten Hoffnung doch die utopische Chance einer Befreiung von der Vergangenheit offen. Für unsere Fragestellung kann und sollte auch dieses Beispiel zeigen, daß das postmoderne Theater nicht als Ennächtigung der Willkür, des "brain-stonning'" oder des referenzlosen Spiels der Signifikanten verstanden werden muß. "Unsere Aufgabe, oder der Rest wird Statistik sein oder eine Sache der Computer", bemerkte Heiner Müller anläßlich eines Konzepts zu Macbeth, "ist die Arbeit an der Differenz. "lI
30 Zitien nach F. Hörnigk (wie Anm. 19), S. 126. 31 Shaltespeare eine Di!fn-enz (wie Anm. 19), S. 107.
14. Über religiöse und ästhetische Erfahrung - zur Debatte um Hans Belting und George Steiner
"Bilder hatte man schon lange: Die Frömmigkeit bedurfte ihrer schon früh für ihre Andacht, aber sie brauchte keine schönen Bilder, ja diese waren ihr sogar störend. Im schönen Bilde ist auch ein Äußerliches vorhanden, aber insofern es schön ist, spricht der Geist desselben den Menschen an; in jener Andacht aber ist das Verhältnis zu einem Dinge wesentlich, denn sie ist selbst nur ein geistloses Verdumpfen der Seele ... Die schöne Kunst ist ... in der Kirche selbst entstanden, ... obgleich ... die Kunst schon aus dem Principe der Kirche herausgetreten ist. ce So zu lesen in der ersten Ausgabe von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837), in einem Wortlaut, der merkwürdigerweise von späteren Ausgaben nicht übernommen wurde. Walter Benjamin zitiert in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die Stelle im Kontext seiner Theorie der auratischen Kunst. Sie scheint mir vorzüglich geeignet zu sein, die Positionen zu klären, die in der jüngsten Debatte über Hans Beltings Bild und Kult und George Steiners Von realer Gegenwart vertreten wurden. I Hegels Fazit im Eingang seiner Ästhetik - "Die eigentümliche Art der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr aus; wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können ce - sei denen vorab ins Stammbuch geschrieben, die glauben, aus der entzauberten Welt der Moderne geradewegs in den Schoß einer profanen Kunstreligion zurückkehren zu können. Belting handelt von der tausendjährigen Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, Steiner vom Erlebnis "großer Kunstce, das
I Hans Belting, Bild lind Killt. Einr Grschichu drs Bildrs VOT dem Zril4lttr der Kllnst.
München: Beck 1990; George Steiner, Von Tealn Gegenwart. Hat linseT Sprechen Inhalt? München: Hanser 1990. - Die Debatte wurde geführt u.a. von Eckhard Nordhofen (D~ Zrit, 22. Februar 1991), Jörg Drews (SZ, 23.124. März 1991), Gerhard Kaiser und Sebastian Kleinschmidt (FR, 7. Mai 1991), Gerhard Neumann und Christoph Menke (FR, 4. Juni 1991), Gottfried Boehm und Anselm Haverkamp (FR. 16. Juli 1991).
14. Über religiöse und ästhetische Erfahrung
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er - als verstünde sich das von selbst - im Lichte der Ästhetik autonomer Kunst interpretiert, die sich seit der Renaissance, mithin nach dem Zeitalter der sakralen Kunst, durchgesetzt hat. Der vermeintliche Konvergenzpunkt bei der Werke ist die im kultischen wie im ästhetischen Gegenstand erfahrbare Gegenwart eines im Verhältnis zum alltäglichen Leben Anderen. Es ist dies für Belting die Realpräsenz des Sakralen, das sich der Andacht der Gläubigen im personenhaften Kultbild offenbart, für Steiner hingegen die verlorene und wiederzugewinnende Unmittelbarkeit ("reale Gegenwart") von transzendentem Sinn im Werk der Kunst. Es sei dies eine Erfahrung, die auf die "notwendige Möglichkeit" metaphysischer Wahrheit in profaner Kunst schließen lasse, die erst ein fehlgeleiteter Modernismus zu unserem Schaden preisgegeben hätte. Stünde es uns danach wirklich frei, der fatalen Herrschaft des sekundären Diskurses schon dadurch zu entkommen, daß wir Steiner folgend wieder zur t~eophanen Herrlichkeit großer Kunst zurückkehren? Was sagt uns Belting über die ursprünglich religiöse Erfahrung des Kultbilds, nach der Steiner wohlweislich nicht fragt? Kann Belting andererseits, dei seiner Zunft vorwirft, die Erscheinung des älteren Kultbildes immer schon durch die Brille der autonomen Ästhetik betrachtet zu haben, das Andere religiöser Bilderfahrung ganz ohne den von Steiner so virtuos gehandhabten ästhetischen Zugang erfassen? Wie verhält sich religiöse Andacht zu ästhetischer Kontemplation, der Kultwert einer Ikone zu ihrem Kunstcharakter? Geht die Aura eines Kunstwerks letztlich auf die Aura des Kultbilds zurück? Wäre auratische Kunst aus der Erfahrung des Sakralen erborgt oder als Gegenentwurf des frei geschaffenen Schönen zu verstehen? Und wenn auch Hegel das Wesen von Andacht als "geistloses Verdumpfen der Seele" verkannt hat, bleibt nicht doch seine Bemerkung zu erwägen, daß Frömmigkeit von Haus aus keiner schönen Bilder bedurfte? Die "schöne Madonna· mag für romantische Ästheten einen theolog~sch dubiosen Rückweg zum Glauben aufgetan haben. Doch die Ara des christlichen Kultbilds hob gerade nicht im Zeichen des sinnfällig Schönen an, sondern im Gegensatz zum Bilderdienst und Kult der in Schönheit verherrlichten heidnischen Götter. Wie es dazu kam, das Schöne auch wieder dem Heiligen zuzuschreiben, und warum aus der ursprünglich bildlosen Religion des früheren Christentums überhaupt ein so erstaunlich reicher Bilderkult aufblühen konnte, ist eine alte Frage, die Belting umfassender und genauer als bisher zu beantworten wußte. "Die Theologen haben immer wieder versucht, materiellen Bildern ihre Macht zu entreißen, wenn diese im Begriff waren, zuviel
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C. Kritische Gänge
in der Kirche zu gewinnen." Damit ist Beltings Vorhaben angezeigt, die Rezeptionsgeschichte der Ikone im Spannungsfeld zwischen Byzanz und Rom aufzuarbeiten. Sie soll erweisen, was die europäische Kunstgeschichte der Rezeption des Kultbilds verdankt und wie aus seiner Krise an der Schwelle zur Renaissance das Bild als ästhetisches Produkt - die autonome Kunst und ihre Ästhetik - hervorging. Für dieses Unternehmen sieht Belting wenig Hilfe bei Theologen und Geisteswissenschaftlern. Zwar habe die Kirche schon früh eine eigene Bildertheologie entwickelt, doch sich dabei "vom sichtbaren Bild einen so allgemeinen Begriff (gemacht), als existiere es nur in der Idee". Das unausrottbare Bedürfnis nach Verbildlichung des Sakralen war für sie eher ein Ärgernis, ihre Bilderlehre immer schon der Versuch, diesen Druck von unten - der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe - durch Rationalisierung oder liturgische Vereinnahmung aufzufangen. Gleichwohl bezeugt die Nachträglichkeit der kirchlichen Bilderlehre auf dem Weg, den sich die frühen Christen zwischen den Götterbildern des Polytheismus und dem Bilderverbot der Juden bahnten, mehr als nur die "Ohnmacht der Theologen": hier formiert sich eine Ästhetik avant la lettre, die das Paradox des religiösen Bildes umkreist, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen. Damit gehört sie in die ungeschriebene "Geistesgeschichte des Unsichtbaren" (Hans Blumenberg), die der Neuplatonismus der Renaissance beerbte (worauf sich Belting nicht mehr einläßt). Bei Blumenberg hätte Belting auch die vom ihm vermißte hermeneutische Theorie zur Klärung der Prozesse der Kultübertragung finden können, mit denen er auf Schritt und Tritt konfrontiert ist. Am Anschauungsbedürfnis der konvertierten Heiden, das die Frage einer Konvertitin : "Wie kann ich ihn denn verehren, wenn er nicht sichtbar ist, und ich ihn nicht kenne?", so prägnant bezeugt, entzündete sich das Problem, wie das reine Wort der Heiligen Schrift Andersgläubigen überhaupt vermittelt werden sollte. Die lange umstrittene Lösung war die Zulassung des Kultbilds, welches in Gestalt der Ikone, die "nichts anderes als ein spätantikes Tafelbild (ist), ... die dreifache Erbfolge von Götterbild, Kaiserbild und Totenportrait antritt". Belting ist solchen Durchsetzungsprozessen Schritt für Schritt nachgegangen - besonders spannend beim Tuchbild Christi, aus dem sich die Veronica-Legende entspann, oder bei der Marienikone, die an die Stelle des Kults der "Großen Mutter" (Kybele) trat. Seine Geschichte des christlichen Kultbilds läßt sich insgesamt als das bisher fehlende Seitenstück zu Blumenbergs Arbeit am Mythos wie zu seiner Darstellung der Rezeption antiker Philosophie durch die christliche Theologie lesen, zumal Belting selbst von "Leerstellen" spricht,
t 4. Ober religiöse und ästhetische Erfahrung
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die von den Ikonen auszufüllen waren, von einem "Begründungszwang" , dem die Legende des Lukasbildes folgte oder der sich ergab, als das Bild als rein ästhetisches Produkt vorzustellen war. So werden die Folgelasten der christlichen Epochenwende im kultischen Bereich auf eine Weise beschrieben, die Blumenbergs These belegt, daß eine neue Religion stets Anschluß an die alte gewinnen muß, wenn sie diese plausibel (als Antwort auf ihre Fragen oder Fragwürdigkeiten) widerlegen will. Wenn solche Plausibilität erfordert, daß alles Neue als Antwort formuliert werden muß, stellt sich im Bereich von Kult und Bild immer neu das Problem, wie das alte Anschauungsbedürfnis befriedigt und gleichwohl bei der Übernahme von Funktionen des alten Glaubens die spezifische Überlegenheit des neuen Glaubens behauptet werden kann. Wie schwer dies der orthodoxen Theologie gelang und immer wieder mißlang, zeigen die Kapitel, die Belting dem "Bürgerkrieg um die Ikone" im Bilderstreit zwischen Byzanz und Rom und zum Abschluß noch der Bilderkritik und dem Bildersturm in der Reformation gewidmet hat. Seine These: "Nicht die Ikone als solche, sondern ihre Verehrung hat die Zerstörung religiöser Kunst ausgelöst", möchte ich im Lichte der eingangs zitierten Hegelstelle aufgreifen, um - gestützt auf seine Befunde und auf weitere Belege in eigener Perspektive zu erörtern, was es besagen mag, daß die Frömmigkeit der frühen Christen gegen eine bilderlose Dogmatik den Gebrauch des Kultbilds durchsetzte, und ob es in der Tat "sogar störend" gewesen sein kann, "schöne Bilder" zu verehren. Zunächst ist zu bemerken: Die Frömmi~keit benötigte nicht von Anbeginn Bilder für ihre Andacht. David Freedberg hat in The Power o[ Images (1989) daran erinnert, daß nicht nur der Judaismus und der Islam, sondern zum Beispiel auch der Buddhismus in seiner ersten Phase eine Verbildlichung der Gottheit untersagte. Doch er bestreitet zugleich, daß der Monotheismus an sich selbst bild los sei. Vielmehr habe sich das Bedürfnis nach Verbildlichung des Numinosen immer wieder gegen einen bildlosen theologischen Rigorismus durchgesetzt, wie verschiedene monotheistische Kulturen bezeugten. Auch bestätige das Auftreten eines Ikonoklasmus eher die Furcht vor der Macht der Bilder als ein Verlangen nach reiner Spiritualität. Bei den frühesten Kultobjekten setzt die Aura des Sakralen noch nicht einmal Bildcharakter, geschweige denn eine ästhetische Qualität voraus, sondern nur, daß es sich (wie später wieder bei der byzantinischen Ikone!) um ein nicht von Menschenhand geschaffenes Gebilde handelt. So der schwarze, vom Himmel gefallene Meteorit (baitula), dessen Kult altgriechisch bezeugt ist. Auch die älteste griechische
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Kultstatue, aus Holz geschaffen, noch ohne Augen, Hände und Füße (xoana), gilt als vom Himmel gefallen, woher sich ihre numinose Macht ableitet. Porphyrius berichtet nicht nur, daß die xoana als göttlich angesehen wurde, obschon sie aus Holz geschnitzt war, sondern fügt auch hinzu: "Obschon andere Statuen kunstvoller gestaltet und darum bewundernswert seien, gäben sie eine geringere Vorstellung von der Gottheit. " Nimmt man Strabos Äußerung hinzu: "Die alten Römer hätten sich nicht um Schönheit gekümmert, da sie mit wichtigeren und notwendigeren Dingen beschäftigt waren", so gewinnt Hegels Behauptung, daß schöne Bilder der Frömmigkeit "sogar störend· sein konnten, eine historische Kontur. In der Entstehung des christlichen Kults hat sich indes nicht allein die Verehrung von heiligen Bildern, sondern - ab wann und wie bleibt zu fragendas Schöne als zur Aura des Sakralen gehörig durchgesetzt. Das führt uns zurück zum eigentlichen Gegenstand Beltings, der religiösen Erfahrung der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes im sichtbaren und wirksamen Kultbild - seiner "Andersheit" im Vergleich mit der ästhetischen Erfahrung des autonomen Kunstwerks. Nähme man George Steiner beim Wort und fragte, wie sich in der Erfahrung von Werken der Kunst die unmittelbare Gegenwart einer transzendenten Wirklichkeit, wenn nicht gar "eine Gegenwart Gottes·, historisch bekundet hat, so würde das Kultbild, von dem bei ihm nicht die Rede ist, seiner Erwartung im vollsten Sinne, obschon gewiß gegen seine Intention, gerecht. Belting hat die reale Präsenz des Heiligen im sakralen Objekt an der Geschichte der Ikone auf das eindrucksvollste herausgestellt, nicht ohne davor zu warnen, die Präsenz des autonomen Werks mit der einstigen Präsenz des Heiligen im Werk zu verwechseln. Seine Beschreibungen haben den Vorzug, die Andersheit des Kultbildes aus allen erdenklichen (oft legendären) Zeugnissen seiner Aufnahme zu erfassen, um zu verfolgen, wie es immer wieder anders in Gebrauch genommen wurde. Und sie machen zugleich die hermeneutische Naivität deutlich, der Steiners Reprise von Sedlmayrs Verlust der Mitte anheimfällt. Wie recht Hegel mit der lapidaren Feststellung hat, daß wir darüber hinaus sind, Werke der Kunst göttlich zu verehren und sie anbeten zu können, zeigt die aus zahlreichen Dokumenten rekonstruierte Erfahrung der religiösen Verehrung von Bildern. Solche Verehrung wurzelt in einer tieferen Schicht der Erfahrung als die uns noch vertrautere Kontemplation. Berichte von sprechenden, blutenden, weinenden, heilenden, kämpfenden, sich besuchenden, aber auch Rechtsangelegenheiten entscheidenden Bildern setzen Bildmagie voraus, auch wenn darunter nur verstanden werden soll, daß sie als
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selbsthandelnd, mit Eigenleben begabt und als wunderwirkend galten. Kaum eine andere Erscheinung im religiösen Leben hat aber auch soviel Kritik, Empörung und Aggression ausgelöst wie die populäre Verehrung von heiligen Bildern: sie wurden verstümmelt, geschändet, gestürzt, verbrannt und konnten in Byzanz wie in der Reformation blutrünstige Bürgerkriege entfesseln. Für die Andacht der Gläubigen, denen das Kultbild an Festen rituell enthüllt wurde, die dem Heiligenbild die Füße waschen, es küssen, als Nothelfer anrufen und Gegenleistungen erwarten (beim Ausbleiben der Hilfe sogar bestrafen!) konnten, war im Bild die Person des Heiligen unminelbar materialisiert: "Das Bild, in Dinglichkeit und Echtheitsbeweis, erbt die Funktionsmerkmale der Reliquie. Es wird Gefäß einer höchst realen Präsenz des Heiligen" - eines Heiligen, zu dessen Grab man pilgerte, um an der authentischen Stäne seines Lebens einer fortwirkenden Gnadenverminlung teilhaftig zu werden. Das, ungemalte' Christusbild bewahrte wie die Berührungsreliquie die Spur des Heiligen, seiner historischen Existenz und seiner postmortalen Gegenwart zugleich, was auch besagt: sie waren kein bloßes Abbild eines idealen Urbilds. Die Präsenz des Heiligen im Kultbild setzt die Nichtunterscheidung von Abbild und Urbild, Fiktion und Wesenheit voraus. Das hat schon Hans-Georg Gadamer bemerkt, als er in Wahrheit und Methode bei seiner Ontologie des Bildes davon ausging, daß am Anfang seiner Geschichte der magische Bildzauber stehe, der auf der Nichtunterscheidung von Bild und Abgebildetem beruhe, und daß auch noch das differenzierte Bildbewußtsein autonomer Kunst sich von solch magischer Identität nie ganz lösen könne. Daraus folgt dann aber auch, daß die Unterscheidung von Darstellung und Dargestelltem - zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dessen Wahrheit im Dargestellten nur mittelbar zur Erscheinung kommt eine schon reflektierende Einstellung voraussetzt. Ob diese beim religiösen Bild sogleich als ästhetische Unterscheidung verstanden werden kann, erscheint mir fraglich, weshalb ich vorschlage, sie als kontemplative Einstellung (der griechischen theoria entsprechend) von Andacht (a do ratio ) abzuheben. Das Verhältnis von Andacht zu Kontemplation läßt sich auch mit Hilfe von Walter Benjamins Unterscheidung von Spur und Aura erläutern: "Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Feme, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser. " Sofern das Kultbild in der Nichtunterscheidung von Abbild und Urbild erfahren wird,
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Kritische Gänge
hebt sich seine Ferne für den Andächtigen auf: er kann es küssen, seine Nähe empfinden, ja sogar - sofern man, wie berichtet, ein Heiligenbild aus eßbarem Material herstellte - etwas von ihm als Medizin einnehmen. Mit der Unterscheidung von Bild und Abgebildetem andererseits wird die Andacht zur Kontemplation, die in der Anschauung des Kultbilds die Erscheinung seiner Ferne als Aura seiner Unnahbarkeit erfahren läßt. Spur und Aura sind in religiöser Erfahrung letzdich komplementär: im Habhaftwerden einer Körperspur (Reliquie) wie in der Anschauung eines Kultbilds erfüllt sich religiöse Erfahrung am Ende darin, daß sich die Aura des Heiligen unser bemächtigt. Sie kann sich aber nur dann unser bemächtigen, wenn die Betrachtung nicht in ästhetischer Distanz innehält, um das Abbild in seiner Eigenständigkeit zu bewundern, sondern sich der Kraft des Kultobjekts aussetzt, um seine Gnadenwirkung zu erfahren. Die rein ästhetische Anschauung steht am Ende des von Belting geschilderten Prozesses, in dem das Bild aus seiner Dienstbarkeit als Kultobjekt sich allmählich zur vollen Bildhoheit befreit, die nicht länger von der Aura des Heiligen, sondern hinfort von der Aura des Schönen bestimmt ist (ob und auf welche Weise die letztere von der ersteren zehrt, wird noch zu erörtern sein); allmählich befreit, denn die Ära des Bildes und die Ära der Kunst sind nicht scharf durch eine epochale Zäsur zu scheiden. Das Ästhetische kommt im Kultischen schon bald ins Spiel, wenn sich das Bedürfnis nach Versinnlichung des Übersinnlichen geltend macht. Es kann dazu dienen, den abstrakten Inhalt des Dogmas zu veranschaulichen, aber auch dazu verhelfen, die gefährliche Macht der Bilder-den religiösen "Materialismus" - zu domestizieren. Belting hat diese Interrelation von religiöser und ästhetischer Erfahrung vor Augen, obschon nicht durchgängig thematisiert. Sein Buch läßt sich auch anders, nämlich im Blick darauf lesen, wie aus der Geschichte des Kultbilds das Schöne im Sakralen erst sporadisch und subversiv, dann mit wachsender Eigenständigkeit hervortritt, als ein erst - mit den Statuen der heidnischen Götter - verworfenes, dann doch übernommenes, zweischneidiges antikes Erbe, das in der Renaissance den Sieg über die sakrale Kunst davontragen sollte. Dafür einige Beispiele. Die eingetretene Wende vom Bilderverbot zum Bilderdienst des frühen Christentums bezeugt schon im Jahre 599 ein Brief Gregors des Großen an den Eremiten Secundinus, in dem dieser darin bestärkt wird, ein Bild des Gottessohnes täglich zu betrachten, weil es sein Herz zur Gottesliebe entflammen könne: "Wir sehen keinen Schaden in dem Wunsch, das Unsichtbare im
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sichtbaren Abbild zu schauen. Gerade dies hatten Eusebius oder Augustinus in der Polemik gegen die heidnischen Anbeter von Bildern und Gräbern noch rigoros bestritten. Auf den Druck von unten, der einen christlichen Bilderkult forderte und schon unbotmäßig ausübte, antwortete die kirchliche Autorität auf zweifache Weise: durch Zulassung der nicht von Menschenhand geschaffenen Ikone und durch eine neuplatonische Bildertheologie, mit der sie die wiedererstandene Macht der Bilder - ihre dinglich-magische Faszination - wieder unter Kontrolle zu bringen suchte. Für den Gebrauch religiöser Bilder wurden danach zwei Traditionen der Legitimierung entwickelt. Eine "Ästhetik der Ikone" hatte deren Authentizität auch dort zu rechtfertigen, wo - wie im Falle der Gottesmutter - kein Abbild existierte (daher der Begrundungszwang der Lukaslegende, die den Apostel zum Maler Mariens machte) oder wo die Echtheit durch Inspiration - die gottesfürchtige Hand des Malers - gerettet werden mußte. Die Fotografie schließlich konnte dem ikonischen Anspruch auf Authentizität wieder unmittelbar genügen: bei der Proklamation eines neuen Heiligen, des Arztes Giuseppe Moscati, brauchte 1987 nur sein überlebensgroßes Foto in ein barockes Bildtabernakel eingefügt zu werden, in dem bis dahin ein gemaltes Altarbild saß, um am selben Ort dem Anspruch auf Authentizität zu genügen, den das Foto von Haus aus besitzt. Die erste Theologie des Bildes des Johannes von Damaskus geht hingegen von dem Argument aus: "Wer kann sich von dem unsichtbaren, unkörperlichen, unumschriebenen und gestaltlosen Gott ein Abbild machen? ... Daher war im Alten Testament der Gebrauch der Bilder unüblich. Es ist aber Gott ... unseres Heiles wegen wahrhaftig Mensch geworden ... und hat auf Erden gelebt.· Die Doppelnatur Christi wurde danach in den christologischen Kontroversen des (vorzüglich dokumentierten und kommentierten) Bilderstreits zum stärksten Rechtfertigungsgrund, das Privileg der Schrift (und des Hörens) durch den Anspruch des Bilds (und des Sehens) zu brechen, hinfort selbst als Medium der Offenbarung zu gelten. So konnte die Paradoxie des religiösen Bildes, Unsichtbares sichtbar machen zu wollen, mit einer christlichen Ästhetik des Unsichtbaren aufgelöst werden, für welche das Weltmodell der platonischen Philosophie eine geradezu ideale Hilfe anbot. Mußte nicht im Menschensohn das Urbild Gottes wie in einem Abbild enthalten, mußte nicht auch schon die geschaffene Natur als Abbild einer göttlichen Idee entstanden sein? Konnte dann das antike Modell der Mimesis als kosmisches Prinzip nicht doch mit der christlichen Auffassung von der Schöpfung der Welt übereinstimmen? Somit waren auch in der Ikone &&
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Christi Bild und Urbild, konkrete menschliche Gestalt und übersinnliche Gottheit zu unterscheiden, doch nur formal, da die göttliche Natur nicht in zwei verschiedene Personen zerfallen darf. Ein Lehrsatz der Synode von 869 zieht daraus die erstaunliche, mit dem Verlust der ewigen Seligkeit sanktionierte Folgerung: nWir schreiben vor, die Ikone unseres Herrn ... zu verehren, und ihr dieselbe Ehre zu erweisen wie den Büchern der Evangelien. Denn so gut wie alle durch die Buchstaben der letzteren zum Heil kommen, ebenso finden alledie Wissenden und die Unwissenden - durch die Bildwirkung der Farben ihren Nutzen darin, und sind dazu imstande ... Wenn also einer die Ikone Christi nicht verehrt, so soll er auch nicht imstande sein, seine Gestalt bei der Wiederkunft zu schauen. " Die Theologie der Bilder ging in dem Maße unmerklich in eine christliche Ästhetik über, wie die Aura des Sakralen als übersinnliche Schönheit des Wahren begriffen wurde. Diese platonische Prämisse hat legitimiert, das Schöne allmählich vom akzidentiellen zum notwendigen Prädikat des Heiligen zu erheben. Schon das antike Totenbildnis, der Vorgänger der Heiligenikone, zeigt, wie griechische Konventionen der Idealisierung die individuellen Züge einer detailrealistischen Auffassung zurückdrängten (so im Mumienbildnis von Dumbarton Oaks). Merkmale der Schönheit wurden über alle individuelle Form hinaus vorab in der Marienikone zur ästhetischen Norm der Vollkommenheit erhoben (S. Maria Antiqua, mit dem schönen Verkündigungsengel). Ein weiterer Schritt war es, das Idealporträt Christi mit dem wahren Abdruck seiner Gesichtszüge als den vornehmsten Gegenstand anzusehen, um ein ästhetisches Ideal zu formulieren. Das Abgarbild, nobwohl in seinem Adyton den ,sündigen Blicken' entzogen, weckte den Schauder vor dem Mysterium, daß Erdgeborene das Antlitz erblicken dürfen, vor dem die Cherubim ihr Gesicht verhüllen ... So konnte man das ,Abbild (charakter) des Abbilds der Person des Vaters' verehren, den ,ehrwürdigen Siegelabdruck (sphragis)' der Schönheit des Archetypus Christus". Eine neue Ästhetik der Ikone entstand mit der nBeseelten Malerei" des 11. Jahrhunderts. Ihr Kommentator, Michael Psellos, ist so kühn, sich auf die Bibelstelle von der Gottesebenbildlichkeit des ersten Menschen zu berufen, wenn er erklären will, wie der "gebildete Glauben" in privater Kontemplation die nunmehr nicht mehr statisch, sondern dynamisch begriffene Ikone verstehen sollte: als Modell einer durch das Schöne führenden ethischen Vollendung des Menschen zum Bild Gottes (nDas Laster ist folglich eine, Unfähigkeit zum Schönen', weil Schönheit eine ethische Kategorie ist").
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Die Verehrung des Heiligen im Bild durch die Dignität des Schönen zu rechtfertigen, war offenbar manchem Theologen suspekt. Im Bilderstreit zwischen Byzanz und Rom findet sich neben den geläufigen Argumenten der Bildgegner auch der Zweifel, ob die Schönheit und kostbare Ausstattung einer Ikone nicht eine Verehrung mit sich bringe, die der Kraft der Andacht abträglich sei. Im Gutachten der Libn Carolini (ca. 790) heißt es: "Man zeige doch einmal einem Bilderfreund die Bilder zweier schöner Frauen und sage ihm, dies eine stelle Maria, das andere Venus dar. Beide sind sich in der Figur, in den Farben und im Bildträger zum Verwechseln ähnlich und unterscheiden sich nur in der Beischrift ... , die sie aber weder heilig noch verwerflich machen kann." Hier tritt die für den Platonismus insgesamt charakteristische Ambivalenz des Schönen zutage, das sowohl auf ein übersinnlich Wahres verweisen als auch um seiner selbst willen, in der bloßen Lust am sinnlichen Schein, bewundert werden kann. Die Verführung der Sinne durch das Schöne (concupiscentia oculorum) ist der Andacht abträglich, sie läßt verstehen, warum schöne Bilder der Frömmigkeit "sogar störend" werden konnten. Dagegen hätte ein kryptisches Argument der neu platonischen Ästhetik aufgeboten werden können, das offenbar nicht in den Bilderstreit eingegangen ist: die in der negativen Theologie des PseudoDionysios und dann bei Hugo von S. Victor zu findende Theorie der "unähnlichen Ähnlichkeit" (dissimilis similitudo). Danach wäre das Wahre, Gute, Vollkommene, ja Gott selbst, am reinsten aus den Dingen zu erkennen, die ihm unähnlich sind, so daß gerade das Häßliche ob seiner Ferne zum Schönen ein tieferes Verlangen nach Erkenntnis des Wahren auszulösen vermöchte als die augenscheinliche Schönheit. Diese negative Ästhetik wäre der Glaubenswahrheit des Messias humiliatus nähergekommen als der Pantokrator der byzantinischen Kunst: daß der Gottessohn nicht in strahlender Schönheit, sondern zur Knechtsgestalt erniedrigt auf Erden erschien, zwischen materiell und geistig Armen lebte und die äußerste Entstellung der Kreuzigung auf sich nahm, um die Menschheit zu erlösen. Daß diese ursprüngliche Provokation des Platonismus durch den christlichen Sermo humilis (nach Erich Auerbach) der fortschreitenden Idealisierung byzantinischer Kunst anheimfallen konnte, bleibt für die Geschichte der Ecclesia triumphans nicht weniger erstaunlich als die Übernahme des antiken Bilderkults ! "Als die Bilder ins Zwielicht gerieten, wurden sie als Werke der Kunst gerechtfertigt." Dieses Zwielicht hat Belting vortrefflich an der Kontroverse erörtert, die 1519 anläßlich der Wallfahrt zur Schönen Maria von Regensburg entbrannte (ihr Name wurde mit Versen
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aus dem Hohen Lied gerechtfertigt; die Errichtung ihrer Kirche an der Stelle einer Synagoge sollte indes auch den Makel eines Pogroms tilgen; die triumphale Mariensäule wurde 1543, nach Einführung der Reformation, in Stücke geschlagen). In der Folgezeit der katholischen Reform hat das verehrte Bild die alte Aura des Sakralen gegen die neue Aura des Künstlerischen (einer würdigen Inszenierung des Kultbildes ) eingetauscht: hinfort sollte der Kunstcharakter das Kultobjekt reUen. Die Umkehrung dieses Arguments: daß die wahre Schönheit eines Kunstwerks kultische Verehrung verdiene, blieb einer späteren Zeit vorbehalten. Belting stellt dies an der Rezeptionsgeschichte der Sixtinischen Madonna vor Augen. An Raffaels Gemälde selbst läßt sich die Aufgabe des Kultanspruchs ablesen: die mit der Idee der Schönheit gleichgesetzte Idee des Göttlichen löscht den an seinen Ort gebundenen kultischen Ursprung aus. Die spätere romantische Rezeption erhob die Sixtinische Madonna zum Meisterwerk schlechthin. Sie wurde Gegenstand eines ästhetischen Kults, mit dem sich die Wende zu einer Sakralisierung der Kunst ankündigt, die im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts Boden gewann. George Steiners Buch ist einer ihrer verspäteten Ausläufer. Dieser Anfang einer Kunstreligion läßt sich nicht besser charakterisieren als durch die Beschreibung, die Friedrich Schlegel 1799 von der Verwirrung gab, die das fromme Bild unter Protestanten anrichtete: Man sei "in Gefahr, katholisch zu werden", wurde befürchtet. "Es ist keine Gefahr dabei, wenn Raffael der Priester ist", wurde entgegnet. (Kurz darauf ist Schlegel selber katholisch geworden.) Wie es zur Restitution des Kultcharakters am ästhetischen Objekt kam, scheint mir damit geklärt zu sein: wer die Aura eines Kunstwerks mit seinem Kultwert gleichsetzen will, muß diesen aus der Erfahrung des Sakralen in der vergangenen Ära des Kultbilds erborgen. Die Verehrung großer Kunst im ästhetischen Kult ist eine spezifische Nostalgie der romantischen Ästhetik; ihre Kunstreligion, die das Vakuum ausfüllen wollte, das die Religionskritik der Aufklärung hinterließ, konnte den Makel eines Surrogats nie ganz verbergen. Merkwürdigerweise glaubte auch Walter Benjamin, der sonst so gar nicht als Proselyt einer Kunstreligion auftrat, seinen Begriff der Aura vom ursprünglichen Kultcharakter der Kunst ableiten zu müssen: "Die Definition der Aura, als ,einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag', stellt nichts anderes dar als die Fonnulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. ce Aus der Geschichte des Kultbilds war indes zu ersehen, daß die Aura des Sakralen nicht bruchlos in die Aura der Kunst eingehen konnte: das Schöne, auch wenn es am Kultbild zuerst wahrge-
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nommen wurde, fügt der Andacht etwas hinzu, was ihr Ritual von Hause aus nicht benötigt. Es transzendiert von Anbeginn - und auch weiterhin in aller Sakralisierung der Kunst - die primäre Erfahrung gläubiger Betroffenheit: die reale Gegenwart des Heiligen im Bild. Das Schöne am sakralen Objekt eigens wahrzunehmen, erfordert den zeitweiligen Suspens der religiösen Einstellung, eine subjektive Distanz der Betrachtung, die in der Anschauung des Bildes das Abgebildete, die Aura der Erscheinung seiner Feme, erfährt (während die Ferne und Unnahbarkeit des Heiligen in der Andacht - wie schon bemerkt - gerade aufgehoben wird). Daß die Aura des Schönen nur scheinbar von der Aura des Sakralen zehrt, zeigt auch der verschiedene Sitz im Leben von Kultbild und Kunstwerk. So gewiß das Kultbild in seiner realen Gegenwart an den Ort gebunden bleibt, an dem der Pilger seiner Spur habhaft werden kann, so wenig bleibt ein Werk der autonomen Kunst der Zeit und dem Ort seines Ursprungs verhaftet. Seine semantische Autonomie nach Paul Ricceur: seine Fähigkeit, über die Situation und Welt seiner Entstehung hinaus zu sprechen - macht gerade seinen ästhetischen Charakter aus. Darum sah sich Benjamin genötigt, das fehlende kultische Substrat der Dichtung durch ein subjektives Substrat der Produktionsästhetik zu ersetzen: durch die "Einmaligkeit des Bildners" , näherhin durch die Authentizität seines Werks: "Mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle des Kultwerts." Dies mag zwar den Dichterkult erklären, der mit der Kunstreligion des 19. Jahrhunderts einherging, macht aber Benjamins zuvor aufgestellte These: "Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff der Echtheit aus", untauglich, den postulierten Zusammenhang zwischen Kultwert und Authentizität historisch zu erweisen. Denn das Jetzt und Hier eines Heiligenbildes bestimmte seine Aura als einen Kultwert, der die Frage der Echtheit per se erübrigte. Die Aura der Authentizität hingegen, die der Faust als einmalige Schöpfung Goethes gewann, hing gewiß nicht mehr von Jetzt und Hier der Weimarer Uraufführung ab. Wie also und durch welche Vermittlung soU Authentizität an die Stelle des Kultwerts getreten sein? Wenn seit der Romantik der schöne Schein des klassischen Kunstwerks - seine modeme Aura - wieder als Kultwert empfunden wurde, ist die dafür geforderte Einstellung selbstvergessener Kontemplation selbst schon eine sekundäre Sakralisierung jener Aura der Authentizität, die das Originalgenie der Erlebnisästhetik als autonomes Individuum auf eigene Faust hervorbringen wollte. Dort setzte sich der Geniekult mit einem ästhetischen Akt an die SteUe des religiösen Kults. Säkularisation ist dafür ein irreführender Begriff. Denn
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er unterstellt als List der theologischen Vernunft, daß ein substantieller religiöser Gehalt nur eben in profaner Gestalt weitergelebt hätte. Wenn sich an dieser Schwelle zur Modeme aber Dichtung und Kunst kühnlich an die SteUe des Sakralen setzen, ist ihre ästhetische Aura nicht mehr aus der Erfahrung religiöser Kunst erborgt, sondern dieser provokativ entgegengesetzt. Es handelt sich hier, kurz gesagt, nicht um eine Profanierung des Sakralen, sondern umgekehrt: um eine Sakralisierung des Profanen. Auf diesen Nenner würde George Steiner seine Antwort auf die Frage, warum es überhaupt Kunst geben soll, schwerlich zu bringen geneigt sein. Sie lautet: "Es gibt ästhetisches Schaffen, weil es die SchöP!l4ng gibt", und weiter: "Ich glaube, daß die daseinschaffende Tätigkeit des Dichters, Künstlers und ... des Komponisten, Gegenschöpfung ist." Wie in dieser neuen Theologie der Kunst "Gott, der Vater der Bedeutung in Seiner Gestalt als Autor" und "der meisterliche Künstler als ,ein anderer Gott'" -mithinjehova und Prometheus - zusammengedacht werden sollen, wie die "Begegnung mit Unmittelbarkeit und Transzendenz im Bereich des Ästhetischen" eine transzendente Instanz bezeugen, dann aber als ästhetischer Akt doch wieder ein transzendentales Subjekt voraussetzen soU - solche und andere Widersprüche, die den Leser irritieren, fallen offenbar für den nicht ins Gewicht, der" vom Eintritt des Mysteriums der Andersheit von Kunst und Musik in unserem Leben" Zeugnis ablegen will. Wenn Gerhard Neumann einerseits von Steiners "Salto morale in die ,reale Gegenwart' der Transzendenz" spricht, andererseits dann aber doch seine Erneuerung der Schöpfungsästhetik zu retten versucht, ist ihm entgegenzuhalten, daß dieser unweigerlich die beglaubigende Instanz fehlen muß: Kunst als subjektive "Gegen-Schöpfung" kann zwar die "Lust am Anfang des Seins" befriedigen, nicht aber das selbstgeschaffene Sein objektiv verbürgen. Den vorletzten Versuch, einen Gottesbeweis von der Schönheit der Schöpfung aus zu führen und die christliche Religion als die wahre Philosophie der Schönen Künste zu erweisen, hatte 1802 Chateaubriand in Le genie du christianisme unternommen. Dem ist nun Steiners neue Theodizee anzureihen. Geht es ihm doch unter Berufung auf unsere "hebräisch-attische Erfahrung" um nichts Geringeres, als die Kunst zum Ort einer theophanen Herrlichkeit zu machen. Da sie um den Preis der Christologie erkauft ist (die Menschwerdung und Passion des Gottessohnes wird offenbar nicht benötigt; der Rekurs auf die Eucharistie ist eine unvennerkte Zutat von Botho Strauß und auch darum so verfehlt wie sein ganzes, von Jörg Drews zu Recht verrissenes Nachwort), dürfte sie schwerlich den Beifall der
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Theologen finden. So läuft Steiners Retheologisierung der Kunst unweigerlich auf eine Ästhetisierung Gottes hinaus, wozu Gerhard Kaiser schon das Treffende gesagt hat. Sie verfehlt auch die Absicht, dem Dekonstruktivismus definitiv das Handwerk zu legen. Nicht weil sich - wie Sebastian Kleinschmidt meint - das Bedürfnis nach Erfahrung von Sinn nur theologisch gegen die bis zum totalen Verblendungszusammenhang geführte Logoskritik Derridas wehren könnte. Sondern weil Steiners kryptische Theologie der realen Präsenz die negative Theologie, von welcher der Dekonstruktivismus uneingestanden zehrt, im Grunde nur umgedreht hat. Wie Gottfried Boehm zu Recht bemerkt, hat sich Steiner die geschichtsphilosophische Diagnose des Dekonstruktivismus - die Aufdeckung realer Abwesenheit von Sinn - durchaus zu eigen gemacht und darum den Prozeß der Moderne einseitig als Rückzug in die Wertlosigkeit und "Zeit des Epilogs" verzeichnet. Der Moment des Sündenfalls in seiner Version ist der auf Mallarme und Rimbaud datierte "Bruch des Vertrags" zwischen Wort und Welt, Sprache und Realität. Eine historisch gehaltvolle Perspektive läßt sich daraus - sehr im Unterschied zu Beltings Geschichte des Kultbilds - nicht gewinnen und referieren, trotz der eingebauten Mythen (Adam, der den Dingen Namen gibt; Moses und Aron; der Turmbau zu Babel) und der aphoristischen Fülle zitierter (und oft in brillanten Sätzen gewürdigter) Autoren und Werke. Die besten Stücke sind nicht narrativ und historiographisch, sondern parabolisch, wie eingangs die Fiktion einer Gesellschaft der Bürger des Unmittelbaren oder gegen Ende der ausgesponnene Vergleich der Rezeption eines Kunstwerks mit der Aufnahme eines fremden Gastes. Ist mein Haupteinwand gegen Steiners Essay damit abgegolten, gezeigt zu haben, wie anders nach Belting die reale Gegenwart des Göttlichen erscheint, wenn man Steiners These historisch auf die Probe stellt, so ist dem nun eine hermeneutische Bemerkung zur gegenwärtigen Hochkonjunktur der Andersheit anzuschließen. Sie betrifft vorab Eckhard Nordhofen, wenn er - der List der theologischen Vernunft auf den Leim gehend - Steiners Buch auf die Formel bringen wiU, Säkularisation sei auch für die Kunst der Moderne ein wieder legitimer Begriff, sofern er nicht das Verschwinden, sondern "die Wanderschaften von Sakralität und Alterität" meine. Dem Unbehagen an der Moderne steht neuerdings ein Unbehagen an der Hermeneutik zur Seite. Warum eigentlich fühlt sich manch einer gedrängt, lauthals Hermeneutik pauschal zu verschmähen, obschon er in praxi ständig von ihren Verfahrensweisen lebt? Belting, der unterstellt, die geisteswissenschaftliche Hermeneutik sei nur
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reproduktiv, glaubt dem zu entgehen, wenn er bei der Materialerschließung "dem bewährten Mittel der Erzählung" folgt, nicht ahnend, daß ihm darin eine narrative Theologie voranging und daß die rekonstruktive Hermeneutik gerade darauf aus ist, die "alten Erklärungen" im anderen Horizont ihrer Vergangenheit zu erfassen. Dabei weiß er als Kunsthistoriker das Ästhetische oft virtuos als hermeneutische Brücke zur Andersheit religiöser Bilder einzusetzen ("Der ästhetische Bereich bietet, wenn man will, eine Art von Ausgleich zwischen der verlorenen und der gebliebenen Bilderfahrung"). Wenn Belting archaische Ikonen derart mit dem Instrumentarium moderner Farb-, Stil- und Kompositionsanalysen unserem Verständnis erschließt, bestätigt er nurmehr die hermeneutische Maxime, daß sich Früheres sehr wohl aus Späterem verstehen läßt, sofern der Interpret bereit ist, seine Vorgabe am Gegenstand selbst zu revidieren, um Vergangenes in seiner historischen Differenz zu erfassen. Auch George Stein er folgt in seinen Ausfällen gegen eine "theoretische Poetik und Hermeneutik" und gegen die Rezeptionstheorie im besonderen dem modischen Trend einer Theorieverachtung, die von dem zehrt, was sie zu bekämpfen glaubt. Mit dem autoritätheischenden Gestus seiner Theorie-Travestie verfehlt er gerade die zentralen Streitpunkte der gegenwärtigen Debatte zwischen Ästhetik und Hermeneutik: die deutsche Kritik an der Kompensationstheorie (nach der ästhetische Erfahrung allenfalls kompensiere, was als Erfahrung nicht mehr zu haben sei), aber auch die Moraldiskussion, die sich in den USA zwischen Dekonstruktion und Pragmatismus abzeichnet; Anselm Haverkamp, der Steiner an polemischer Verve nicht nachsteht, hat dies treffend dargelegt. Dem sei noch hinzugefügt, daß Steiner durchgängig das Modell szientistischer Deskription mit dem der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik verwechselt. Die letztere hat sich gerade nicht als Metatheorie, sondern als eine das Verstehen von Text und Rede begründende Reflexion - mithin als Theorie einer Praxis - verstanden und sich von Anbeginn - in der von Steiner zu Recht favorisierten rabbinischen Kultur des Kommentars wie in der christlichen Exegese - gegen den Dogmatismus kanonischer Vereindeutigung von Sinn entfaltet. Gewiß sind ästhetische Urteile zwar szientistisch durch Quantifizierung und Formalisierung nicht widerlegbar, wohl aber hermeneutisch legitimierbar, je nachdem, ob sie anerkannt und in das fortschreitende Sinnverstehen aufgenommen oder als bloßes Faktum im historischen Wissen zurückgelassen wurden. Doch warum muß das George Steiner gesagt werden, der als großer Apologet der Übersetzung (Nach Babe/), der hermeneutischen Kunst par exceUence, angesehen ist? Wie kann er, dem die her-
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meneutischen Verfahren der Vermittlung zwischen Text und Gegenwan so venraut sind, nunmehr als Apologet der "Begegnung mit Unmittelbarkeit" auftreten und aller hermeneutischen Erfahrung entgegen behaupten: "Der Theorie wohnt also Wahrheit inne, wenn sie sich unverwandt in den Anblick ihres Gegenstandes versenkt"? Wäre unmittelbare Evidenz das letzte Won ästhetischer Erfahrung, so würde der legendäre Farmer aus Texas, der sich die I/ias im Paperback kaufte und hernach an den Supermarkt schrieb, man möge ihm die Adresse von Mister Homer verschaffen, damit er den Verfasser dieses großanigen Textes kennenlernen dürfe, zum idealen Kandidaten für Steiners "Theorie" ... Mit diesem Beispiel soll nun gerade nicht bestritten werden, daß selbst noch diese naive Lektüre der /lias etwas von der poetischen, über alle Zeiten hinwegreichenden Kraft des archaischen Epos bezeugt. Der naiv genießenden Lektüre kommt in der Tat ein Eigenrecht zu. Ihm entspricht, daß schon lange vor Steiner - von Erasmus' De ratione studii über Valerys Poietique bis zu Spitzers Critique des Beautes - für die Arbeit philologischer Aneignung geforden wurde, von der ästhetischen Evidenz der ersten Lektüre als der Erfahrungsbasis auszugehen, an der sich die Triftigkeit aller Auslegung und Bedeutungssuche zu bemessen habe. Doch dürfte auch Steiner schwerlich behaupten können, daß eine naive Lektüre per se schon der "realen Gegenwan" der I/ias, der homerischen Welt in ihrer Andersheit, ansichtig werde, geschweige denn, daß auch schon für den texanischen Farmer (der als Konsument von dem von Steiner ingrimmig zugestandenen "absoluten Recht der Unfreien" Gebrauch macht) gelten könne: "Die ,Andersheit" die in uns eintritt, macht uns anders. " Die Andersheit eines alten Textes tritt nur scheinbar wie von selbst in uns ein. Soll erkannt werden, was in den Schein der Unmittelbarkeit an eigener Vorstellung eingeflossen ist und was dieser widersteht, so bedarf das Begreifen der Andersheit der Vermittlung durch ein hermeneutisches Verfahren, durch den Dreischritt von Verstehen, Auslegung und Applikation, mithin einer Vermittlung zwischen dem ästhetischen und dem historischen Zugang. Es ist der fundamentale hermeneutische Mangel der akklamienen neuen Ästhetik der Unmittelbarkeit und Andersheit, daß sie diese Vermittlung stillschweigend voraussetzt, aber den Anschein erweckt, als könne sie uns die Arbeit reflektiener Aneignung ersparen. Verleugnet sie doch, wie sehr auch sie davon lebt, daß der ästhetische Zugang die Erfahrung einer vergangenen Welt zu erschließen, aber auch, daß historische Erkenntnis wiederum den Zugang zum fremdgewordenen Horizont eines klassi-
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schen Textes zu eröffnen vermag. Was die uns gegenwärtige Dichtung und Kunst betrifft, nimmt Steiner sein anfänglich auf die Rezitation von Poesie und Performation von Musik gestütztes Postulat der Unmittelbarkeit des Verstehens selbst bald wieder zurück: "Nicht einmal die rudimentärsten Bildungsstrukturen und Formen musikalischer Rezeption sind ohne kritische oder didaktische Vermittlung vorstellbar." Vor Tische las man's anders. Nun erscheint auch ästhetische Performation als vermittelte, aber zugleich - im Kontrast zur alltäglichen Erfahrung- gesteigerte Unmittelbarkeit, die sogar Reflexion vorangegangener Kunst einschließen kann. Vermittelte Unmittelbarkeit war auch schon die Pointe von Valerys berühmtem Diktum: "C'est l'execution du poeme qui fait le poeme", das ja gerade nicht ein unmittelbares passives Verstehen, sondern die aktive, bedeutungkonstituierende und vermittelnde Arbeit des Interpreten fordert. Mißt man Steiners Buch an seinem Anspruch, eine Ästhetik der Alterität zu entfalten, so zeigt sich ein zweiter Mangel. Wie seine Darstellung ständig zwischen Transzendenz als heteronomer Instanz und dem "Transzendentalen der Betrachtung", zwischen unmittelbarer ästhetischer Evidenz und historisch-hermeneutischer Vermittlung hin und her springt, so erscheint auch Alterität bald als Begegnung mit dem Anderen ("Es gibt Sprache, es gibt Kunst, weil es ,das andere c gibt"), bald als Stimme des Anderen ("wenn eine menschliche Stimme sich an eine andere richtet"). Die unvermerkte Vertauschung von das und der Andere ist charakteristisch für die Beliebtheit, deren sich Alterität heute als ein schon mythisierter Begriff erfreut. Er war im Anschluß an mein Buch Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur (1977) durch eine Debatte in New Literary History (1979) in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses der "Neuen Mediävistik" getreten. Ich hatte ihn, gestützt auf die Sprachtheorie Eugenio Coserius, eingeführt, um die hermeneutische Struktur eines Diskurses zu benennen, der uns als Zeugnis einer historisch abgeschiedenen Vergangenheit in befremdender Andersheit erscheint, gleichwohl aber als ästhetisch vermittelte Rede auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein bezogen ist. Wenn das ästhetische Vergnügen der unmittelbaren, präreflexiven Leseerfahrung die erste hermeneutische Brücke zur Vergangenheit eines Textes sein soll, erfordert dieser Anfang des erprobenden Genießens indes einen zweiten Schritt, das reflektierende Aufnehmen seiner befremdenden Aspekte, um der Andersheit der vom Text eröffneten Welt ansichtig zu werden und hernach in einem dritten Schritt zu fragen, was der Text gerade unserer Gegenwart zu sagen vermag.
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Diese drei Schritte der Vermittlung von Horizonten der Andersheit sind dem Historiker seit langem vertraut. Die damit geforderte Dialektik des Eigenen und des Fremden schärfer zu profilieren, schien indes für die literarische Hermeneutik geboten, solange sie noch unter dem Verdacht stand, die Differenz zwischen Text und Gegenwart im Banne der kanonisierten Tradition zu harmonisieren. Die weitere Entwicklung einer Hermeneutik der Alterität hat in den USA und in Deutschland verschiedene Richtungen eingeschlagen. Dort hat der New Historicism den Neologismus Otherness auf sein Panier geschrieben, womit gefordert war, durch eine Lektüre gegen den Strich der kanonisierten Tradition zu rekonstruieren, was im vermeintlich freien Dialog zwischen den Zeiten durch Diskurse der Macht unterdrückt und vergessen wurde. Unter Otherness fällt, was sich der Herrschaft einer offiziellen Kultur nicht fügen will, an ihren Rand in ein Anderssein gestoßen (daher: othering!) und zeitweilig in Gestalt marginaler Kulturen geduldet wird, doch nur, um als produzierte Opposition im Teufelskreis repressiver Toleranz desto sicherer wieder vereinnahmt zu werden. Zur selben Zeit hat sich in Europa die radikale Vernunftkritik des Begriffs bemächtigt, um gegen die Herrschaft des eurozentrischen Logozentrismus nunmehr "das Andere der Vernunft" auszuspielen, als dessen Statthalter der Leib als Mitte der Erfahrung einer dezentrierten Subjektivität oder die Heilkraft einer "Ästhetik der Natur" verherrlicht wird. Das "Andere der Vernunft" erscheint mir in seiner unbedachten Zirkularität nicht weniger mysteriös als Steiners Rede vom "Eintrin des Mysteriums der Andersheit von Kunst und Musik in unser Leben". Wer ihm bei dieser Glaubensentscheidung nicht folgen will, kann in seinem Buch auch eine andere Möglichkeit finden, die Leistung der Kunst vor der Dekonstruktion ihres Sinns zu renen. Man braucht nicht gleich auf das ganze Andere einer Epiphanie der Transzendenz zu setzen. Man kann sich auch auf den Anderen berufen, auf den im Umgang mit Kunst eröffneten "Austausch zwischen dem Selbst und der Andersheit der fiktiven Persona". Das ganz Andere ist, wie das absolut Neue, ein hermeneutischer Nullwert; das relativ Andere in Gestalt einer anderen Person ist, sofern es im reziproken Verhältnis der Kommunikation ermöglicht, sich selbst im Anderen seiner selbst zu erfassen, der dialogische Ursprung aller Hermeneutik. Steiner hat seine Frage nach der kommunikativen Form in der Zeit des Epilogs mit der Einführung des mittelalterlichen Begriffs cortesia (als ursprüngliche Kraft der Höflichkeit) auf das glücklichste gelöst. Er hat eine Phänomenologie unserer Begegnungen mit der geliebten Person, dem Feind, dem Vertrauten oder dem Fremden
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entworfen und auf den Akt der Rezeption und des Verstehens bezogen, bei dem das Kunstwerk wie ein Fremder in unser Leben tritt, der uns als Gast nur etwas zu bringen vermag, wenn seine auctoritas als Freiheit, die der Freiheit begegnet, geachtet wird. Ich sehe in dieser Lösung, die sich in der praktischen Umsetzung auf alle Stufen (lexikalisch, syntaktisch, semantisch, rhetorisch) philologischer Rezeption erstreckt, die eigentliche Einlösung des Versprechens, der ästhetischen Erfahrung ihre verlorene ethische Bedeutung zurückzugewinnen, worin Christoph Menke zu Recht das Überzeugende und Bleibende hinter allen Provokationen Steiners sah. Sollte es meine Kritik an cortesia haben fehlen lassen, so soU dies zum Schluß durch einen der schönsten Aphorismen Steiners abgegolten werden, der in unübenrefflicher Prägnanz ausspricht, was uns als Widersacher verbindet: "Narziß hat kein Verlangen nach Kunst."
Ergänzungen
I. Zum Problem der anfänglichen Nichtgeschiedenheit von religiöser und ästhetischer Einstellung
Meine Betrachtung der Genese des Kultbilds ist auf eine anfängliche Nichtgeschiedenheit von religiöser und ästhetischer Erfahrung gestoßen, von der sich die ästhetische Unterscheidung von Bild und Abgebildetem erst allmählich - als eine Leistung der distanznehmenden kontemplativen Einstellung - abhebt. Dieser Schritt ist in anthropologischer Theorie nicht beachtet worden, sofern sie ästhetische Autonomie unvermerkt voraussetzte und diese sogleich auf die Anfänge figurativer Gestaltung ausdehnte. So Ernst Cassirer, bei dem sich das ästhetische Bewußtsein "von Anfang an der reinen ,Betrachtung' überläßt, indem es die Form des Schauens im Unterschied und Gegensatz zu allen Formen des Wirkens ausbildet" .2 Im Stufengang von der mythischen Sphäre der Wirksamkeit über die sprachliche Sphäre der Bedeutung erscheint die ästhetische Sphäre als " Welt des Bildes", in der "gleichsam nur das reine ,Sein', nur die ihm eigene innewohnende Wesenheit des Bildes als solche ergriffen wird", sogleich als eine" Welt des ,Scheines'· (11 34). Ein eindrucks-
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PhiJosoph~
an symbolisch~n Form~n, Dannstadt )1958, Bd. 11, S. 311.
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volles Zeugnis für das persistierende Vorurteil idealistischer Ästhetik! Zumal Cassirer der Kunst, "die dem Menschen zu seinem eigenen Bilde verhalf", zugleich und wiederum anachronistisch die Entdekkung des Individuums zuschreiben will. Während das babylonische Gilgamesch-Epos noch deutlich den allgemein-astralen Charakter trage, handele es sich in der homerischen Dichtung "nicht mehr um die Schicksale von Sonne und Mond, sondern, hier ist der Held, und in ihm der individuelle Mensch" als tätiges und leidendes Subjekt entdeckt" , der die Vermittlung zwischen Gott und Mensch vollziehe (11 234/5). Desgleichen verkennt auch Amold Gehlen, wenn er die "Grenze eines bisher unbetretenen Geländes - einer ,Physiologie der Kunst'" - überschreiten wilP, in welchem Maße er dabei ein Vorverständnis autonomer Kunst voraussetzt, ohne dieses an seinem Gegenstand zu revidieren. Zwar will er gegen die Methoden der Kunstwissenschaft gewisse Eigentümlichkeiten des ästhetischen Erlebnisses mit Qualitäten der menschlichen Antriebsstruktur in Zusammenhang bringen: "Denn um ein abgesondertes, asketisches Eigenleben des Bewußtseins kann es sich hier unmöglich handeln" (5. 121). Doch dann will Gehlen das ursprünglich ästhetische Lustgefühl, die Freude an Farben und Gestalten, auf den "eigenartigen Zug des Kontemplativen" zurückführen: "er ist handlungslos, und man könnte in Abänderung eines Wortes von Kant sagen: ,schön ist, was folgenlos gefällt'" (5. 122). Schon der altsteinzeitliche Mensch wäre demnach mit interesselosem Wohlgefallen begabt! Dem steht entgegen, daß "der gesamten paläolithischen Kunst Europas ein mythographisches Thema zugrunde liegt" und daß auch die vermeintlich rein ästhetische, tendenzlose Verwendung von Gestalt und Farbmotiven zur Dekoration de facto nicht zweckfrei, sondern als M ythogramm komponiert war. 4 Es ist darum abwegig zu behaupten, dem ästhetischen Verhalten komme, da es handlungslos und verpflichtungslos sei, von Anbeginn "keine soziale Gestaltungskraft zu" (5. 124). Und heißt es nicht, den intellektuellen Kunstgenuß des ,L'Art pour l'Arte schon in der Steinzeit anzusiedeln, wenn Gehlen findet: "So erlebt der Mensch seinen tiefsten Wesenszug, die Enthebung aus der Instinktfesselung, die Entl.tstung, von außen her, er feiert im Grunde und ohne es zu wissen, in der Schönheit jeder Blume sich selbst" (5. 124). 3 Anthropologischt Forsch"ng, Hamburg 1961, S. 120. H""J "na \lbrt - D~ EfloJ..tion tl'on TtclmiJr. SprMht IIna K"ns" Frankfun '1984, S. 469-473.
-4 Nach A. leroi-Gourhan:
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Im Gegensatz zu Cassirer und Gehlen setzt Andre Leroi-Gourhans Paläontologie der Symbole nicht erst auf der figurativen Ebene der Schaffung von Bildern der Außenwelt, ein: "Die ästhetische Sensibilität des Menschen hat ihre U rspriinge in den tieferen Bereichen der viszeralen und muskulären Sensibilität, in der Hautsensibilität, in den Sinnen des Riechen/Schmeckens, Sehens und Hörens und schließlich auch im intellektuellen Bild, dem symbolischen Reflex des gesamten Empfindungsgeflechts" (S. 338f.). Ganz im Gegensatz dazu, daß ästhetische Einstellung uns heute asozial erscheinen mag ("das Kunsterlebnis isolien, es führt nicht zusammen", Gehlen, S. 124), umfaßt die vorfigurative Ästhetik für Leroi-Gourhan alles, was als ästhetisches Verhalten das Beziehungsnetz zwischen dem Individuum und der Gruppe normien: den "Code jener Gefühle, die dem ethnischen Subjekt die klarste Eingliederung in seine Gesellschaft ermöglichen" (S. 335/337). Der "ethnische Stil" wird als die einem Kollektiv eigene Art und Weise bestimmt, "die Formen, Wene und Rhythmen aufzunehmen und zu kennzeichnen" (S. 335/347)eine Stilisierung, die "vom rein Physiologischen in den Körperhaltungen etwa bis zum abstrakten Symbolismus im Umgang mit den Zahlen und dem Kalender reicht" (S. 347). Die fundamentale Verbindung, welche Kunst und Religion, ästhetische und religiöse Erfahrung, dabei eingehen, ist emotionaler An: sie dient der "Schaffung eines Ausdrucksmodus, der die wirkliche Situation des Menschen in einem Kosmos restituien, in dessen Zentrum er sich selbst stellt und den er noch nicht durch eine Vernunft zu durchdringen versucht" (S. 249). Die Scheidung ästhetischer von religiöser Erfahrung ist demgegenüber eine späte Konsequenz der Evolution des sozialen Organismus. Wenn es uns scheint, als ob "die Briiche in den natürlichen Rhythmen, langes Wachen, die Umkehrung von Tag und Nacht, sexuelle Abstinenz ( ... ) eher in den Bereich der Religion als der Ästhetik fallen", berechtigt uns nichts dazu, eine solche Unterscheidung "auf jene 30 000 Jahre zu projizieren, in denen der Mensch sein Leben ohne eine solche Aufspaltung lebte und physiologische Beherrschung die Grundlage der großen Triebkräfte bildete" (S. 353). Leroi-Gourhan befaßt sich im übrigen nurmehr mit den ältesten Äußerungen ästhetisch-religiöser An, die Reaktionen auf den Tod und auf ungewöhnliche Ereignisse bezeugen (S. 140), noch nicht mit der Genese des Kultbilds, die eine schon entfaltete Fähigkeit zur Symbolisierung erforden. Er fragt sich indes, ob wir" vom behaglichen Gefühl des Verdauens bis zum formschönen Werkzeug, zur Tanzmusik und zum Tanz, dem man aus seinem Sessel heraus
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zuschaut nicht vor demselben Exteriorisierungsprozeß stehen (S. 343). Und er vertrin die These, daß sich die ästhetische Wirklichkeit nicht auf den Bereich der Symbole beschränken lasse, weil die ästhetischen Werte des gegenwänigen homo sapiens • vom Gipfel der Figuration bis zu den physiologischen und funktionellen Grundlagen hinabreichen und weiterhin: .Die Bestrebungen der heutigen abstrakten Kunst müssen - als Rückkehr zu den Quellen - ganz unverständlich bleiben, solange diese Quellen nicht erforscht sind (S. 340). Diese These steht quer zu allem, was die modische Verherrlichung der körperlichen Erfahrung, die der Prozeß der Zivilisation in europäischer Kunst vermeintlich verdrängt habe, in jüngster Zeit aufbieten will. Dafür mag hier nur Dietmar Kamper stehen, Mitverfasser einer Schrift zur Neubegründung der Historischen Anthropologie. S Seine These lautet: die maßgebliche Maxime dieses Prozesses: .Absterben des Körpers heißt Aufleben der Sprache", habe die Richtung vom Materiellen ins Immaterielle gewiesen, eines .. Untergang des ,Realen'fiI, der den "Aufgang des ,Symbolischen'fiI bedingte, näherhin: einer Überwindung der Natur als Preis für die Errichtung einer repressiven symbolischen Ordnung, die als Spätwirkung der .. christlichen Abstraktion zu verstehen sei (S. 49/76). Kamper blickt dabei nur auf den Topos von der Seele als Gefängnis des Körpers und auf das Ideologem vom .. Subjekt als Statthalter der Staatsmacht mithin auf Internalisierung von Außen kontrolle. Er bedenkt dabei nicht, daß Sprache nicht allein als Instrument der Normierung dienen, sondern auch die Lizenz ästhetischer Rede nutzen kann, um Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche zu artikulieren, die der moralische Kanon einer offiziellen Kultur auszuschließen sucht. Er läßt sich an keiner Stelle auf die Befunde einer physiologischen Ästhetik ein, die keineswegs nur in der Frühzeit zu erheben sind, sondern in europäischer Literatur und Kunst fortWirkten und die unter dem Höhenkamm der kanonisierten Kultur auszumachen gerade einer neu zu begründenden Historischen Anthropologie aufgegeben wäre. Der normierenden Internalisierung der Körperlichkeit steht auf Schritt und Tritt eine Exteriorisierung leibhafter Erfahrung gegenüber, die der imaginativen Lizenz der Sprache zu danken ist. Man denke nur an die groteske Versprachlichung der Funktionen aller niederen Sinne bei Rabelais - ein Aufleben des Körpers, das nicht allein in der ,
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5 Gcbaucr/Kampcr/LenzenlManenklonlWulflWün5chc: Hisrorischt Anthropou,gie -
ZIIm Prob/mi dn' Hllmanwissnuch,,!rtn htllrt odn Vtnllcht tinn' NtllbtgrNndllng. Hamburg 1989. S. 49 ff.
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Tradition der menippeischen Satire das Fortleben der physiologischen Ästhetik bezeugt. Und selbst die sublimsten Leistungen der Lyrik setzen noch voraus, was Leroi-Gourhan aus der ästhetischen Erfahrung muskulärer Sensibilität abgeleitet hat. Aus ganz anderer Sicht, die noch vor aller Errichtung symbolischer Ordnungen einsetzt, hat Hans Blumenherg das anthropologische Problem des Verhältnisses von religiöser und ästhetischer Erfahruns. aufgegriffen. Seine Neubestimmung des Mythos als permanenter Uberwindung des Ursprungs geht von der Arbeit am Abbau der Schrecken der Urzeit, eines "Absolutismus der Wirklichkeit" aus. 6 Die "Macht des Unbesetzten" fängt der Mythos in einer imaginativen Aneignung der Fremdheit der Umwelt vorab durch eine "archaische Gewaltenteilung" auf, die zwei Strategien hervorbringt: "Was durch Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat" (S. 12). Diese Bannung der Angst vor der Übermacht des Anderen (das noch nicht der Andere, sondern das Andere ist, S. 28) ist eine erste Leistung der Distanz durch ,Arbeit am Mythos' selbst (S. 15), ein Imaginäres als noch unerkannte Fiktion, als eine Abwehr, der gegenüber das Heilige eine spätere, schon institutionalisierte Reduktionsform sei (S. 21). Blumenberg beschreibt es - die Theologie schockierend - durch ein "Repertoire der Erzwingungsformeln gegenüber einer Macht, deren sich zu versichern alles bedeutet" ("Bei den Transformationen der Unumgänglichkeit sollte man nicht nur an Haltungen der Verehrung und Gunstwerbung denken ... ", S. 23). Soweit Blumenbergs Theorie von" Ursprung des Polytheismus nicht aus dem Ureigenen des Menschen, sondern aus dem Urfremden". Davon hebe sich der Feuerbach-Gott als der alleinige, monotheistische Gon ab, als einer, der Seinesgleichen sein soll, in einer Ebenbildlichkeit, die "erkennbar etwas anderes (ist) als die schöne, zur Kunstform einladende Menschengestaltigkeit der Olympier" (S. 35). Ob das Faszinosum des Kultbilds, dessen Erscheinung gleichfalls aus Angst oder aus Gunsterwerbung erklärbar ist, mit Verehrungswie auch mit Erzwingungsformeln beschrieben, wenn nicht gar als eine religiöse Gestalt der Gewaltenteilung (der Zuständigkeit verschiedener Heiliger) aufgefaßt werden könnte, nach Blumenberg als Nachfolgeerscheinung der mythischen Einstellung anzusehen wäre, wage ich nicht zu entscheiden. Es kam mir hier vor allem darauf an,
6 Arbeit 4m Mythos, Frankfun 1979. Teil I: .Archaische Gewaltenteilung-.
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die anfängliche Ungeschiedenheit des Religiösen und des Ästhetischen noch aus anderer Sicht zu erläutern. Auf welche Weise und in welchen Schritten sich ihre Sphären getrennt haben, ist eine der noch ungeschriebenen Geschichten der neu zu begründenden Historischen Anthropologie. Blumenberg, der das Mythische so prägnant von der theoretischen, der dogmatischen und der mystischen Einstellung abgrenzt, läßt sich darauf nur gelegentlich ein. Auch bleibt im Prozeß der ästhetischen Neugierde unentschieden, ob Neugierde von Haus aus als theoretisches oder als ästhetisches Vermögen gelten soll. Derart scheint das Ästhetische nicht nur vom Anbeginn der Arbeit am Mythos als Distanznahme oder zur Befriedigung des Bedürfnisses, "in der Welt heimisch zu sein" (5. 127, in derselben Formulierung übrigens schon in Hegels Ästhetik!Y, sondern auch weiterhin an der fortschreitenden Differenzierung aller Lebenssphären teilzuhaben. Liegt dies daran, daß ästhetische Erfahrung nicht erst nach Erlangung ihrer Autonomie, sondern schon auf dem Weg zu ihr als das heteronome, weil grenzüberschreitende und horizontbildende Vermögen par exceUence angesehen werden kann?
11. Zum Problem des Verlangens nach Visualisierung des Numinosen Galt es Hegel für ausgemacht, daß die Frömmigkeit schon früh der Bilder für ihre Andacht bedurfte, so hat sich für ihn damit offenbar die Frage nicht mehr gestellt, warum sie ihrer bedurfte. Das mag auch damit zusammenhängen, daß er als Protestant Luthers Verwerfung der selbstgerechten, fürwitzigen Andacht teilte: "Darumb ist Gott keinem ding so feind als der eygen Andacht; ist auch die schendlichste plage auff erden. "8 Die von Hegel gerügte Verdinglichung des Sakralen im Kultbild trifft vor allem die Bildmagie, mithin ein Bedürfnis nach realer Präsenz des Heiligen - das Verlangen, unmittelbar an der übernatürlichen Kraft, die ihm zugeschrieben wird, teilzuhaben, sein unsichtbares Wesen in sichtbar wirkendes Leben zu ziehen und auf seiner Körperspur (Reliquie) der Sache zum eigenen Heil oder Nutzen habhaft zu werden. Die Herstellung der magischen Identität von Abbild und Abgebildeten dient einem Austausch übernatürlicher Kräfte, noch nicht dem Verlangen, die Macht eines höheren Wesens in einer Inkarnation personhaft zu begreifen. Dieses archaische Verhältnis kann hernach sublimiert und nobilitiert wer7 Ästhttilt, Hrsg. F. Bassenge, Berlin 1955. S. 75/127. 8 Wtimartr Allsgabt Bd. 24, 389, 27ff.
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den, wenn das Andere als fremde Macht der Natur zur anthropomorphen Gestalt des Anderen verbildlicht wird, was Anziehung durch Wesensverwandtschaft voraussetzt. So konnte schließlich Ficino die Magie auf die Liebe zurückführen, da beide auf Anziehung beruhen, die "ein Gegenstand auf einen anderen aufgrund einer bestimmten Wesensverwandtschaft ausübt (... ). Aus dieser entspringt Liebe, und aus der Liebe die gemeinsame Anziehung. Und dies ist die wahre Magie. "9 Damit sind die Gegenpole einer materialen und einer idealen Magie abgesteckt, zwischen denen das Verlangen nach Visualisierung des Numinosen anthropologisch zu klären und in seinen historischen Manifestationen aufzusuchen wäre. Nach Gehlen setzte archaische Kultur mit dem Schritt zur Außenwelt-Stabilisierung ein, die er einer Leistung der Darstellung zuschreiben will. Die Bewältigung des Anderen, der Mächte des Unbesetzten, erscheint hier als "Ablösung der daseinswichtigen Außenweltdinge aus der Irrationalität der Raumzeitstelle" . Sie erfolgt als Fixierung ihrer Dauer: "So gesehen ist die Darstellung die Oberführung in die Kategorie des Beisichbehaltens und der Dauer, sie ist zunächst in vivo, als imitatorischer Ritus erfolgt und erst sekundär als Darstellung in materia, als Malerei oder Plastik. "10 Diese Theorie mag die Geburt der Institutionen (auch der Form der Religion, die eines sichtbaren Außenhaltes bedarf, S. 219f.) erklären. Doch Darstellung, reduziert auf Fixierung in die Dauer, sagt wenig über die magische Gegenwart und visuelle Macht des Dargestellten und nichts über die Fiktionsbedürftigkeit des Menschen. Ihr hat Wolfgang Iser sein jüngstes Buch gewidmet. 11 Dort wird das Imaginäre in seinem Ereignischarakter beschrieben, das in der Phantasie eine Geschichte hat: "Sie ist kontrafaktisch zum Unvollkommenen; sie verändert die Welt, in die sie eintritt; sie vagabundiert im Bewußtsein und durchbricht Verweigerungen" (S. 294). So bestimmt läßt die Einbildungskraft in ihrer Unbezähmbarkeit das Fiktionsbedürfnis von Anbeginn doppeldeutig erscheinen: als Potential einer Selbstüberschreitung, die indes das Bewußtsein bis zur Selbstgefangenschaft zu faszinieren vermag. Darum geht aller Visualisierung (wie im Anschluß an Coleridge entwickelt wird) eine Aktivität voraus, die im Bild selbst ihre Arretierung erfährt: "Ein Hin und Her zwischen Geist und Natur (primary imagination), zwi9
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. J. Ritter, Basell97lff., s. v. Magie.
10 Urmensch u"d Spätlrultur, Bonn 1964. S. 55. 11 Das FilttitJe u"d das 11f'UIginäre- Perspektwen literarischer A"thropologie. Frankfun 1991.
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schen Destruktion und Aufbau (secondary imagination), sowie zwischen Kombinieren und Entflechten (fancy)" (S. 326). Die Imagination wäre danach primär gerade nicht als das Vermögen, Bilder zu formen, zu verstehen. Ihr Werk ist immer schon "zum Produkt erstarrt, wenn sich das Spiel zu Bildern ausprägt" (S. 325). Imagination läßt den Prozeß der Selbstkonstitution im Bild nie zum Stillstand kommen; sie ist vielmehr das Vermögen, Bilder zu verändern (so schon Bachelard, zit. S. 320), d.h. uns von der Macht der unmittelbaren Wahrnehmung durch das Aufrufen des Anderen im eigenen Selbst zu befreien. Sie vermag dies als ein "unerschöpflicher Vorrat an Andersheit", der in die Psychogenese umgesetzt wird (Castoriades, zit. S. 365). Isers Theorie gibt ästhetischer Erfahrung einen Vorrang, sofern gerade sie erklärt, wie Literatur die Plastizität des Menschen zu formen erlaubt - einem "Drang zur Vergegenständlichung" folgend, "der jedoch in keiner bestimmten Gestalt endgültig aufgehen kann, weil das Überschreiten von Beschränkungen die Bedingung seiner Manifestation ist" (S. 11). Was ergibt sich nun, wenn man Isers anthropologisches Modell auf dem Feld religiöser Erfahrung erprobt? Wäre hier nicht an das Bedürfnis nach einer Verbildlichung des Unbesetzten zu denken, die den ungesicherten Prozeß eines ständigen Sich-selbstÜberschreitens aufzufangen verspricht - im Stillstand der Visualisierung eines Anderen, das als letzte, transzendente Instanz dem Subjekt in den Nöten seiner Existenz den Sinn seines In-der-Welt-Seins verbürgt? Setzt der vorrangig im Medium der Imagination erfaßbare Prozeß der Selbstüberschreitung genetisch nicht erst die Konstitution des Selbst am Anderen seiner selbst voraus, das in der archaischen Welt die Gestalt des Numinosen annimmt? Dann wäre die seit der Antike beliebte Herleitung der Religion aus der Angst auch darum zu kurz gegriffenIl, weil das mysterium tremendum, fascinans und augustum, mit denen Rudolf Dtto das Heilige beschrieb, das Verlangen, es zu visualisieren und den Gott in seiner Übermacht zu schauen - und sei es unter Einsatz des eigenen Lebens -, nicht auszulöschen vermocht hat. Das zeigt sich nicht allein im unaufhaltsamen Triumph des Kultbilds über seine Ächtung im frühen Christentum, sondern sogar selbst in der jahwistischen Religion an, obschon diese dem Kult des einen und einzigen Gottes das offizielle Verbot auferlegt hat, ihn zu schauen, ins Abbild zu ziehen und in solcher Gestalt zu verehren. Das deuterono-
12 Dazu Waller Burkert: Anthropolop MS rtligiösen OpftrS. München J1987 (CarlFriedrich-von-Siemens-Stiftung. Theman Xl). S. 38.
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mistische Bilderverbot zeigt nach J an Assmann Il ineins damit den Bruch mit dem alten Kosmotheismus an: "Daß ihr euch nicht frevelhafterweise ein Gottesbild in Gestalt irgendeines Standbildes verfertigt (... ) und daß du, wenn du die Blicke gen Himmel schweifen läßt und die Sonne, den Mond und die Sterne, das ganze Heer des Himmels betrachtest, dich nicht dazu verleiten lassest, dich vor ihnen niederzuwerfen und ihnen Verehrung zu bezeugen!" (Dtn 4, 16-19). Der bislang herrschenden Auffassung, das Eigentümliche der jahwistischen Religion sei ein unsichtbarer Gott, der sich der Menschheit nicht zeige und sich nur durch seine Stimme manifestiere, hat unlängst Daniel Boyarin widersprochen, mit guten Gründen, bei denen man sich fragen muß, wie sich das Vorurteil befestigen konnte, der Judaismus sei die Religion, in welcher Gott nur gehört, aber nicht gesehen werden kann. Seine These ist, daß die biblische und rabbinische Tradition frei von Scheu und Angst vor der Körperlichkeit und Sichtbarkeit ihres Gottes war, die in der jüdischen Kultur erst unter hellenistischem Einfluß entstanden seien (S. 533). Dort habe das Verbot, Gott im Kultbild anzubeten, ein Verlangen, ihn mit Augen zu schauen, nicht erlöschen lassen. War das Tabu, Bilder von Gott herzustellen, absolut, so war das Tabu, ihn zu sehen, doch nur relativ. Nicht allein werde Jahwe mit gestalthaften Zügen eines Kriegshelden in Psalmversen und anderweitig gerühmt und im Hohelied die Beziehung von Gott und Israel ohne die geringste erotische Scheu als ein Liebesverhältnis unmittelbar visualisiert. Sondern es sei vor allem auch daran zu erinnern, daß das Alte Testament zwei heilsgeschichtliche Höhepunkte - die Übergabe der Thora und die Durchquerung des Roten Meeres - dadurch auszeichne, daß hier Gott selbst seinem Volk in der Glorie seiner sichtbaren Gestalt erschienen sei. Die biblische Erinnerung, Gott geschaut zu haben, und mit ihr das Verlangen, dieser Erfahrung wieder teilhaft zu werden, sei ein Kernstück der rabbinischen Theologie geblieben. Die Rede Jahwes zu Mose: "Du kannst mein Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut" (Ex. 33, 20), impliziert im Midrash wie in der späteren mystischen Tradi-
13 Zu seiner ägyptischen Herkunft 5. Jan Assmann: .Magische Weisheit - Wissensformen im ägyptischen Kosmotheismus·, in: A. Assmann (Hrsg.): Wrish~it-Arch;;olo gie der literarischm Komw"".iJeation, München 1991, S. 241-258. Zum F. Chr. Dohmen: DaJ Büdn'flerbot. Frankfun 11987, und Danie! Boyarin: .The Eye in the Thora: Ocular Desire in Midrashic Henneneutic·. in: CriticaL Inq,,;ry 16 (1990), S.532-550.
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tion das Versprechen an Israel, den Herrn in seiner Glorie wieder schauen zu dürfen. Daraus folgt, "that the Jews are willing to suffer and even to be killed if only there is a promise that through this action they will be restored (individually or nationally) to the state in which they could see God in his beauty. The rabbis do not valorize an end to ocular desire but rather seek its fulfiUment" (S. 544). Das Risiko des Todes als Preis, um Gott von Angesicht zu Angesicht zu schauen! So scheint das höchste Verlangen nach Visualisierung der Gottheit, vom Religiösen ins Anthropologische gewendet, W. Isers These in extremis zu bestätigen, daß das Überschreiten von Beschränkungen die Bedingung der Konkretisierung des Imaginären ist. Es sei hier nur noch angefügt, daß nach Boyarin auch die hermeneutische Praxis des Midrash als ein Mittel verstanden wurde, die Erfahrung der Gottesschau wiederzugewinnen (S. 541) - als eine Hermeneutik, die nicht in der Rekonstruktion einer Botschaft durch Allegorese gründe, sondern im "ocular desire" , im Verlangen zu lesen, um die volle Gegenwart Gottes wiederzugewinnen, wie sie sich Israel in seiner biblischen Vergangenheit bezeugte. Aus der bisherigen Erörterung ergeben sich einige Fragen, die ich weil meine Kompetenz überfordernd - der Diskussion anheimsteUen möchte. Ließe sich aus Gen. 1, 27: "Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn", nicht etwa folgern, daß die Gestalt des Menschen das legitime Gottesbild enthalten müßte? Warum wohl wird an keiner Bilderverbotsstelle auf Gen. 1, 27 Bezug genommen? (vgl. Dohmen, S. 281) Ferner: Was mag es besagen, daß die Inkarnation Gottes in Gestalt des Menschensohns nicht allein die Erlösung der mündigen Menschheit ermöglichen sollte, sondern offenbar auch ein uraltes anthropologisches Bedürfnis nach Visualisierung des Heiligsten erfüllt hat? Ist dies der christlichen Theologie willkommen oder eher störend? Schließlich: Läge in dem Paulinischen ,nicht sehen und doch glauben' die stärkste Differenz zur Rechtfertigung des "ocular desire" im rabbinischen Glauben? Oder lebt nicht auch der offizielle bildlose christliche Glaube ("da wir nicht schauen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare", 2. Kor. 4, 18) letztlich von der Hoffnung dereinstiger Gottesschau ("Denn wir sehen jetzt nur wie mittels eines Spiegels in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht", 1. Kor. 13, 12)? Bringt man die fortschreitende Rationalisierung der Weltbilder mit Jürgen Habermas auf den Nenner eines Abstraktionsprozesses, "der die mythischen Mächte zu transzendenten Göttern und schließlich zu Ideen und Begriffen sublimiert und, auf Kosten eines geschrumpften sakralen Bereichs, eine entgötterte Natur zurück-
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läßt"t4, so geht mit ihm nicht allein eine" Versprachlichung des Sakralen" (S. 139), sondern zugleich dessen Verbildlichung einher. Es ist ein Prozeß der Konkretisierung des Imaginären, in dem ästhetische Erfahrung gegen die Autorität der Religion die "Menschenrechte des Auges" beansprucht. Der Maler gibt - so kommentiert Werner Hofmann die berühmte Formulierung von Aby Warburg - "den Menschen die Rechte zurück, die dieser übermenschlichen Kräften überlassen hatte. Die Vermenschlichung des Lichts geht mit seiner Säkularisierung einher. "t~ Dabei kommt dem Maler, sofern er nach Aby Warburg die ewige Spannung zwischen Logik und Magie auszutragen hat, die Doppelrolle des Künstlers zu. Sein Produkt ist am wirkungsmächtigsten, wenn es nicht einfach Schöpfung des Neuen, sondern auch eine Rückkehr zu den Quellen und damit "ein Akt geheimnisvoller antäischer Magie" ist: "Das Neue muß sich durch eine Rückwendung stärken. Dabei handelt es sich nicht um ein einfaches Zitat, sondern um ein ad /ontes, das der Magie nahekommt : die alten Formen übertragen ihre Macht und ihre Autorität - es sind schützende Totems. Selbst dem Künstler, der sich als Diener des Lichts versteht, ist eine magische Macht verliehen" (S. 97). Hier taucht wieder einmal das Syndrom der ,Säkularisierung' auf. Um der List der theologischen Vernunft zu entgehen, möchte ich auch hier das passivische Verständnis einer nur erborgten, dem Sakralen auch noch in seiner Profanierung geschuldeten Aura durch den aktiven Sinn einer Sakralisierung des Profanen ersetzen. Der Prozeß ästhetischer Produktion ist kein Überlieferungsgeschehen, sondern eine Aneignung des Alten dtrth das ·Neue. Die alten Formen übertragen nicht von sich aus ihre magische Macht; sie werden ,antäisch' aufgerufen, um ihre Autorität zu beanspruchen und ihre Kräfte in Dienst zu nehmen. Das zeigt nicht zuletzt die theologische wie philosophische Begriffsgeschichte der Gottesschau selbst. Aus ihr hat unlängst Thomas Rentsch den so verblüffenden wie stringenten Nachweis geführt, daß die wesentlichen Formqualitäten der ästhetischen Erfahrung als cognitio c/ara et con/usa, wie sie seit dem 18. Jahrhundert von Baumgartens Ästhetik bis zu Kants Lehre von den ästhetischen Ideen gefaßt wurden, dem Status der kontemplativen und insbesondere visionären Goneserkenntnis des Mittelalters entsprechen: "Die durch Kunst und schöne Natur vermittelte Erfahrung erhält so diejenigen Genuß- und Heilsqualitäten, die ehemals 1. Theorie des kommMnileatwen Handeins, Frankfurt 1981, 2/127. 15 In Hofmann/SyamkenlWamke: Die M mschmrechtt eies ANges - iiber Aby WarbNrg. Frankfun 1980, S. 8S-112.
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die Dignität der jenseitigen visio konstituierten. Der Glücksanspruch des ästhetischen Blicks und die Art, wie seine Erfüllung gedacht wird, postfiguriert die traditionelle eschatologische Glücksverheißung. "16 Rentsch spricht von " Postfiguration " , nicht von Säkularisierung. Er möchte die aufgewiesenen Filiationen eher anthropologisch, als absolute Metaphern verstehen, die ein Leibfundament (des Auges, des Sehens, des Lichtes) indizieren und an Hans Jonas' "Adel des Sehens" denken lassen (S. 352). Dabei von einer "Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion" zu sprechen, hieße den Prozeß der sich emanzipierenden ästhetischen Erfahrung wiederum substantialistisch kurzzuschließen, wie es überraschenderweise gerade Werner Hofmann anderweitig tat. In seiner gleichnamigen Einleitung zu dem sonst so beachtlichen Band: Luther und die Folgen für die Kunst (München, 1983), vertritt er die These: "Theoretisch beginnt die Musealisierung des Kunstwerks mit der Reformation; sie ist das Resultat seiner Entideologisierung, bedeutet aber letztlich nur den Wechsel von einer Ideologie zu einer anderen, zur Kunstreligion. Rückte die protestantische Bilderangst das Kunstwerk in eine neutrale, von Bildmagie unberührte Wirkungssphäre, so eröffnete sie ihm auf weite Sicht die Duldung, welche es heute atheistischen Staaten erlaubt, ihre ehemaligen Gotteshäuser als Kunstmuseen offenzuhalten. Auf die Kunst, die der Religion gehört, folgt die Religion der Kunst, deren Glaubensartikel der jeweilige Betrachter mit sich selbst auszumachen hat" (S. 51). Zwar macht Hofmann zu Recht darauf aufmerksam, daß die Geschichte des Rangstreits zwischen Wort und Bild noch ungeschrieben ist und daß Luthers Entscheidung, die Bilder zu den nicht heilsnotwendigen adioaphora zu zählen, das ästhetische Brucherlebnis der Reformation war (S. 17). Denn hinfort sind Bilder" wertfrei und religiös neutral, sie sind also nicht heilsnotwendig wie Wort und Sakrament. Der Betrachter macht sie zu dem, was sie sind" (S. 47). Doch die so überraschende Einsicht, daß Luthers Abwertung der Bilder in deren Aufwertung umschlug ("Die Beschränkung erwies sich als Befreiung" ,S. 47), sollte nicht dazu verführen, zwischen den Reformatoren als unfreiwilligen Wegbereitern der autonomen Kunst und der ästhetischen Moderne des 20. Jahrhunderts einen unilinearen genetischen Zusammenhang zu postulieren. Wenn die Schönen Künste in der Tat der Reformation die Befreiung von einer Kunst verdanken, die der Religion gehört, ist der Umschlag von der Abwertung 16 .. Der Augenblick des Schönen-. in: H. BachmaierlTh. Rentsch (Hg.): Autonomie. Stuttgan 1987, S. 331.
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zur Aufwertung der Bilder doch schwerlich dem Protestantismus geschuldet. Hofmanns Erläuterungen: "Daß die von den Reformatoren betriebene Wort-Bild-Polarisierung zu den beiden Extrempunkten führte, die Kandinsky als die ,große Abstraktion' und die ,große Realistik' bezeichnete'" (S. 637), daß eine "Linie (... ) von Calvins Kunstfeindlichkeit über seinen autoritären Versuch der lückenlosen Lebensregelung zu Mondrian und De Stijl führt'" (S. 61), ferner daß "das letzte Bild des Katholizismus dessen Verspötter und Bewunderer im Lager der Dadaisten und Surrealisten entfaltet haben'" (S. 68) oder daß im objet trouve Duchamps nurmehr das banale Relikt zur Reliquie aufbereitet werde (S. 59) - solche zunächst verblüffenden Analogien sind trügerisch, weil sie den Surrogatcharakter der Kunstreligion verschweigen. Auf die Kunst, die der Religion gehörte, folgte nicht unmittelbar die Religion der Kunst, sondern die Emanzipation der Schönen Künste, mit dem Anspruch, die von der Philosophie preisgegebene kosmologische Funktion zu übernehmen und den ästhetischen Weltbegriff an die Stelle des religiösen zu setzen. Hat nicht erst die Enttäuschung, die aus der Überforderung der Kunst durch diesen Anspruch folgte, die Kunstreligion des 19. Jahrhunderts gezeitigt und erwiesen, daß der (nach Hofmann von Luther initiierte) Versuch, "die profanen Bildbereiche in Richtung auf eine innerweldiche Religiosität durchlässig zu machen" (S. 18), nur zu einer Pseudoreligion führen konnte? In Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handeins findet sich der kühne Satz: .. Soweit der sakrale Bereich für die Gesellschaft konstitutiv gewesen ist, treten ( ... ) weder Wissenschaft noch Kunst das Erbe der Religion an; allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ verflüssigte Moral kann in dieser Hinsicht die Autorität des Heiligen substituieren" (Bd. 2, 140). Wenn ich am Ende zu der Auffassung gelangt bin, dieser These aus der Perspektive ästhetischer Erfahrung zustimmen zu können, bin ich doch um so mehr neugierig zu erfahren, wie die hier anwesenden Nachbardisziplinen darüber denken. Für die uns aufgegebene Überlegung, welchen Problemen sich eine literarische Anthropologie heute widmen könnte, hat mein Versuch, das Verhältnis von religiöser und ästhetischer Erfahrung in seinem historischen Wandel zu verfolgen, gewiß mehr Fragen hinterlassen als beantwortet. So ist zum Beispiel die Frage nach dem .. Erbe der Religion" nicht einfach damit abgetan, die These der Säkularisierung als eine List der theologischen Vernunft zu verwerfen. Es bleibt die anthropologische Frage, was wohl die Kunst genetisch der Religion und umgekehrt, was die Religion der Kunst verdankt. .
14. Ober religiöse und ästhetische Erfahrung
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Will man sich nicht damit begnügen, die Entstehung ästhetischer Sensibilität mit Gehlen einseitig im Ornamentalen, in der "primitiven Freude an leuchtenden Farben und regelmäßigen, oft geometrischen Gestalten" und den daraus hervorgehenden Schmuck-, Zierund Distinktionsfonnen zu suchen und ästhetisches Verhalten kurzerhand aus einer "Entlastung der Sinnesorgane vom Instinktdienst" zu erklären J7 , so muß am Ursprung des Ästhetischen vor allem auch das andersgeartete Bedürfnis nach Visualisierung bedacht werden. Die Kategorie des darstellenden Abbilds ist dafür nicht zureichend, weil die Verbildlichung des Heiligen ihre zugleich bannende und befreiende Kraft nicht einfach mimetisch-realistisch gewinnen, sondern erst in der Sichtbarmachung einer unsichtbaren Realität erfüllen kann - eine Aufgabe, welche wie mir scheint die Kunst der Religion verdanken könnte. Die andere Frage, was die Religion der Kunst und näherhin der Imagination verdankt, ist schon vor zehn Jahren im Kreise von Poetik und Hermeneutik diskutiert worden. Wolfhart Pannen berg hat uns seinerzeit mit der These überrascht, daß das "Irreale des Glaubens" , sofern er sich kontrafaktisch und futurisch den Realitäten und Fiktionen der gegenwärtigen Welt entgegensetzt, notwendig die Imagination des Gläubigen erfordert: "Das religiöse Bewußsein überschreitet als Gottesbewußtsein das Gegebene in einer prinzipielleren Weise (... ) In desto höherem Maße wird es der produktiven Kraft der Imagination bedürfen." 11 Odo Marquard hat daraufhin vorgeschlagen, die anthropologische Theorie W. Isers und die theologische W. Pannen bergs als konvertibel anzunehmen: "So hat W. P. - der zugleich die Religion mit der Kunst eng zusammenrückt - dasjenige ausdrücklich ausgesprochen, was bei W. I. nur extrapoliert werden konnte: die Fiktion geht aufs Allerwirklichste, denn Gott existiert kontrafaktisch. Das Fiktive agiert als ens realissimum- (S. 494). Dieser Vorschlag mit dem Widerspruch von W. Iser (S. 497ff.) ist meines Wissens seinerzeit nicht mehr diskutiert worden. Dieses heute zu tun, schiene mir eines der lohnenden Themen dieses Kolloquiums zu sem.
17 .Über einige Kategorien des endasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens·, in: D. HenrichlW. Iser (Hrsg.): Th~orinI Jn K"nst, Frankfun 1982, S. 237ff. (das danteJlende Abbild wird, obschon .gleich ursprünglich·, dabei ausgeklammen). 18 PH, S. 34.
15. Salzburger Gespräch über musikalische und literarische Hermeneutik
Hans Robertlauft (H Rl): Mit diesem Vortrag· habe ich eine frühere Phase meiner theoretischen Arbeiten wieder aufgenommen, die Rezeptionsästhetik, zu der ich mit dem Artikel "Rezeption" im Historischen Wörterbuch der Philosophie von J. Ritter eigentlich mein letztes Wort gesagt zu haben glaubte. Darüber führte schon Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik hinaus. Und in den letzten Jahren beschäftigen mich vor allem Fragen im Blick auf eine Erneuerung der historischen Anthropologie, die für die Musikologie gewiß nicht weniger interessant sein dürften als für die Literaturwissenschaft. Was nun die Rezeptionstheorie betrifft, so bemerkte ich, daß sie längst in aller Munde ist, es aber immer noch wenige Arbeiten gibt, die den Namen einer kritischen Rezeptionsgeschichte verdienen. Dem wollte ich mit einem Beispiel abhelfen und wählte Shakespeare, um zu zeigen, was zu tun ist, wenn man einer Überfülle von Zeugnissen und Interpretationen aus verschiedenen Epochen gegenübersteht. Daraus resultiert auch schon ein erstes Problem für unser Gespräch: Unter welchen Bedingungen setzen sich manche Interpretationen durch und werden normbildend ? Wann und wie werden sie als solche erkennbar oder auch wieder verworfen? Wie vollzieht sich dieser ständige Prozeß der Kanonbildung und Kanonumbildung in der Musikgeschichte? Siegfried Mauser (SM): Eine wichtige Frage, welche Kriterien ausschlaggebend sind, daß aus der Interpretation ein Paradigma entsteht. H Rl: Ist es nicht auch im Fall der musikalischen Interpretation so, daß dafür Innovation allein, die bloße Originalität nicht genügt? Wolfgang Gratzer (WG): Grundsätzlich scheint Originalität ein genauso zentrales, wie heikles Qualitätskalkül zu sein, wird es doch • Der Beginn des Gespräches knüpfte unmittelbar an meinen Vortrag: .. Shakespeare im Horizontwandel der Modeme. Eine Rezeptionsgeschichte des King Lear- (s. o. Kap. 7) an.
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oftmals unscharf definiert, zugleich aber absolut verfochten - auf Produktionsseite und weit öfter noch, was für den Prozeß der Kanonisierung bedeutsamer ist, in der Rezeption. Im Blick auf die Musikgeschichten lassen sich wohl nur wenige verbale und aufführungspraktische Interpretationen anführen, deren geschichtliche Vertiefung zu Paradigmen nicht vorrangig auf Originalitätsargumenten basiert. Trotzdem wurde und wird der Begriff der Originalität immer wieder verschieden eingesetzt. "Das Neue in der Musik" steht, obwohl als Frage der Musikgeschichtsschreibung mehrmals fruchtbar diskutiert, je nach historischer Gegenwart also immer wieder zur Diskussion. Rezeptionsgeschichten spiegeln immer rezeptionsästhetische Positionen. Das zeigt sich alleine schon daran, daß in unserem Fach bereits die Kriterien für die Einstufung einer Interpretation von Musik als paradigmatisch nicht ohne weiteres "selbstverständlich" sind. . Gernot Gruber (GG): Sicherlich gibt es Paradigmen der musikalisch-praktischen Interpretation. Deren Konsistenz ist aber in Worten schwer greifbar. Darin liegt für uns ein großes Problem. SM: Die grundsätzliche Verschärfung des Problems einer Anwendung der Rezeptionsästhetik auf musikalische Sachverhalte liegt in der Unklarheit, wo der ästhetische Gegenstand zu suchen ist: im Erklingenden oder in der Notation. Aber es gibt ja auch eine Analogie zur Literatur, nämlich zur Dramatik. HRJ: Eine Analogie besteht nicht allein in der dramatischen Performation, sondern auch in der lyrischen Dichtung. Ich brauche hier nur an den fulminanten Satz von Paul Valery zu erinnern, der die Brücke zwischen musikologischer und poetologischer Ästhetik schlug: "C~est I'execution du poeme~ qui fait le poeme." Aus ihm ging nicht allein die Poetik der klassischen Moderne, sondern letztlich auch die Rezeptionsästhetik selber hervor. Valerys These, daß der poetische Text wie eine Partitur angelegt sei und erst eigentlich durch seine Rezitation zum, Werk' werde, daß erst die immer wieder neue Lektüre den Text aus der Materialität seiner Zeichen erlöse und damit seinen Sinn zu aktueller, immer reicherer Bedeutung bringe, dürfte gerade dem Musikologen urvertraut sein. Gehört doch das Ineinandergreifen von Text (oder: Partitur), Interpretation (oder: Aufführung) und Aufnahme (oder: Rezeption) zum Erstgegebenen in der Erfahrung von Musik.' t Vgl. hierzu R~uptionsästh~tik .. nd Rtzeptionsgtschichte in der Musikwissmscha/t, hg.
von Hermann Danuser und Fricdhelm Krummacher, Laaber 1991, S. 13 (KoUoquium Hannover 1988, wo diese Analogie indes kaum diskutiert wurde).
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C. Kritische Gänge
SM: Aber in der Musik liegt trotzdem eine problematische Form dieses Verhältnisses vor, da die Systeme radikal unterschiedlich sind. Das in der Zeit verlaufende akustische Klangzeichen ist qualitativ verschieden vom Notat, vom Zeichensystem der Notation. H RJ: Gewiß, aber das würde für die Poesie auch gelten. Kann man doch ein Gedicht auf verschiedenste Weise vortragen. Und lange Zeit hat die Lyrik eigentlich nur vom Hören gelebt. Aber auch in der Geschichte des Lesens gibt es einen großen Schritt vom hörenden (murmelnden) zum stummen Lesen. Selbst wenn man für sich war, pflegte man laut zu lesen, um den Text zu hören. Hierzu verweise ich auf ein kapitales Buch von Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand (Frankfurt 1991). Es schildert diese entscheidende Wende im 12. Jahrhundert, den Schritt vom mönchischen zum scholastischen Lesen. Erst durch die fortschreitende Alphabetisierung, das Layout der Manuskripte und schließlich durch die Drucktechnik rückt der Text ab vom gesprochenen und gehörten Wort. Dem möchte ich noch hinzufügen, daß in jüngster Zeit offenbar als Reaktion auf die Übermacht der Bilder in der Medienwelt - sich Kassetten und Disketten mit gesprochenen Romantexten einer wachsenden Beliebtheit erfreuen. Kurzum: es scheint, daß es zwischen der rezeptiven Struktur von Musik und Dichtung mehr Analogien gibt als gemeinhin angenommen wird. GG: Umgekehrt kennen wir das Phänomen des "inneren Hörens" beim Lesen musikalischer Partituren. Ja die Sublimierung kann soweit gehen, bereits dem Notat musikalischer Zeichen einen ästhetischen Reiz zuzubilligen, wie dies etwa Thomas Mann in seinem Doktor Faustus- Roman tat. WG: Dabei wäre bei der Rezeptionsdiskussion über Musik wie über Literatur auch das nicht immer ernstgenommene "innere Visualisieren- des Gehörten und Gelesenen in Betracht zu ziehen. Dieses Phänomen wirft, denken wir nur an die vielen verrufenen, weil eher schwülstig poetisierenden Texte über Musik, nicht geringe Probleme auf. H RJ: Die deutsche Klassik und Romantik haben in der Tat Shakespeare als Lesedrama angesehen. Goethe war sogar der Meinung, daß Shakespeare ein schlechter Dramatiker und eigentlich gar nicht für die Bühne geeignet sei. SM: Ich möchte auf Ihren Aufsatz "Rückschau auf die Rezeptionstheorie" zu sprechen kommen: die Spuren der Vorgeschichte der Rezeptionsästhetik, die Sie finden und zusammenstellen, lesen sich eigentlich ähnlich wie Gadamers Vorgeschichte der Hermeneutik. Wie sehen Sie die Differenzen aus der Sicht der Rezeptionstheorie ?
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H RJ: Gadamer steht vor demselben Problem, vor dem ich auch stand, daß nämlich die abendländische Tradition zwar eine Theorie der Interpretation kennt - und zwar schon früh im Zusammenhang mit der Homer- und Bibelexegese -, daß man sich aber die Frage, inwiefern alle Interpretation schon einen Akt des Verstehens voraussetzt, zu keiner Zeit ausdrücklich gestellt hat. Insofern ist in der ganzen abendländischen Geschichte des Text-Verstehens erst dann ein Problem bemerkt worden, als der Historismus in aller Schärfe die Frage gestellt hat: Was muß ich eigentlich tun, um einen Text in seiner geschichtlichen Ferne zu verstehen, d.h. aus dem Horizont seiner Andersheit zu rekonstruieren? In der Homerdeutung hat man die zeitliche Distanz entweder durch allegorische Interpretation aufgelöst, oder aber dadurch, daß man den Sinn des Textes unbekümmert in die Gegenwart übersetzte. Das änderte sich erst mit dem Siegeszug des historischen Verstehens, der Konsequenzen für die Hermeneutik wie für die Ästhetik hatte, die nicht zufällig im selben 18. Jahrhundert zu autonomen Disziplinen erhoben wurden. Deren Vorgeschichte konnte - das gilt wohl für alle Vorgeschichten - erst im Nachhinein erkennbar werden; sie war im latenten Prozeß der theoretischen wie der ästhetischen Erfahrung aufzusuchen, die in älterer Zeit eng verschwistert blieben. SM: Wäre das Verhältnis von Hermeneutik und Rezeption so zu denken, daß die Rezeptionsästhetik quasi eine Konkretisierung hermeneutischer Theoriebildung darstellt? HRJ: SO ist es in der Tat, wobei der Konzipierung einer Rezeptionsästhetik entgegenkam, daß Gadamers Hermeneutik selbst vornehmlich auf dem Begriff des Klassischen aufgebaut ist, der den ästhetischen Zugang voraussetzt. Auf meine Differenz zu Gadamer möchte ich hier nicht erneut eingehen, sondern nur soviel bemerken, daß ich das produktive Verstehen favorisiere, davon auch klassische Texte nicht ausnehme und darum Gadamers Horizontverschmelzung die aktive Leistung der Horizontvermittlung entgegensetze, die uns ästhetische Erfahrung ermöglicht. Wie dies methodisch einzulösen ist, konnte Ihnen meine Interpretation von Baudelaires Gedicht Spleen I I (in Ästhetische Erfahrung, Kap. III 0) vor Augen stellen. Dort versuche ich, an der Partitur eines Textes verschiedene Horizonte der Lektüre voneinander abzuheben: den progressiven Horizont des ästhetischen Wahrnehmens, den retrospektiven Horizont des auslegenden Verstehens und den historischen Horizont der zeitgenössischen wie der späteren Rezeption. Wäre ein solches Verfahren nicht auch auf ein musikalisches Werk anwendbar? Dabei zeigt sichwie Sie schon im Fall von King Lear sahen -, daß der poetische Text
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im Horizontwandel seiner Lektüren einen immer wieder anderen Sinn, aber nicht jeden beliebigen Sinn konkretisiert: die Rezeptionsgeschichte ist ein Prozeß, indem das ästhetische Uneil den historischen Wildwuchs ständig korrigiert, indem es fruchtbare Interpretationen als normbildend anerkennt und Deutung aus subjektiver Willkür ausscheidet. Der Kanon des Bewahrenswerten setzt Auswahl und Vergessen voraus. Valerys zweiter großer Satz: "Mes vers ont le sens qu'on leur prete", ist darum nicht, wie Gadamer meint, "hermeneutischer Nihilismus·, sondern die etwas salopp formulierte Prämisse einer literarischen Hermeneutik, die dem Substantialismus des klassischen, selbstgenügsamen Kunstwerks Valet gesagt hat. WG: Kritiker hermeneutischen Denkens sehen dabei gelegentlich den Status des Textes gefährdet, so daß die strittige Frage aufgeworfen ist, inwieweit diese Sinnkonstitution vom Rezipienten geleistet wird und inwieweit sie schon vom Text vorbestimmt ist. Es steht zur Diskussion, in welchem Ausmaß der Text (oder für Musik: die Textur) als "Material- die - möglicherweise dann selbst wieder paradigmatischen - Sinnkonstitutionen mitprägt. Ich denke, auch hier spielen Konventionen der Interpretation wesentlich herein, so daß der Vorgang der Sinnkonstitution in jedem Fall als geschichtlich einzuschätzen ist. HRJ: In der Tat bleibt auch für die Rezeptionsästhetik der originäre Text die letzte Instanz des zu erprobenden Sinns. Erwartungen, denen er nicht entspricht, oder Fragen, auf die er keine Antwort parat hat, müssen preisgegeben werden. Als Artefakt hat selbst der modernste Text eine ästhetische Struktur, die jeder Interpret erst aufnehmen muß, bevor die bedeutungstiftende Arbeit seiner Auslegung beginnt. Das naive Argument, das mir so gerne entgegengehalten wird: ,Es gibt so viele Interpretationen wie es Leser gibt., ist ein unerkannter Ableger der Genieästhetik. Sehen wir vom rein indivi.J duellen, ästhetischen Erlebnis ab, das nur biographisch relevant sein könnte, so würde das Argument voraussetzen, daß jeder Leser ein Originalgenie sei. Dies widerlegt schon das Experiment, eine Gruppe von Studenten einen Text ohne Vorgaben interpretieren zu lassen. Nach meiner Erfahrung entstehen dann weitaus mehr typische, einander ähnliche Interpretationen als unverwechselbar individuelle. Es reicht heute fast schon an Genialität, wenn einer über die gängigen Muster der Interpretation hinaus eine durchaus eigene Deutung zu fmden vermag. Oswald Panagl (OP): Wobei man dabei natürlich auch unterscheiden muß: ist der Text ein literarisches Werk oder eine Gebrauchsanweisung für einen Walkman.
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H RJ: Richtig. Ich würde sagen, die Gebrauchsanweisung für den Walkman ist als solche eindeutig. Solange ein Text auf einen ganz bestimmten Gebrauch abzielt, ist sein Sinn klar, aber ich kann jeden eindeutigen Text mehrdeutig machen, obschon mit einiger Anstrengung. WG: Dann war es letztlich doch kein eindeutiger Text. H RJ: An sich selbst für den intendierten Gebrauch schon; erst in ästhetischer Funktion kann das Eindeutige vieldeutig werden. OP: Zum Begriff der Textpartitur: In der Zeit, da ich linguistisch sozialisiert wurde, also in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren, war die Textpartitur ja geradezu modisch. Ich habe mich damals gefragt: Wieviel von dem, was Partitur ja auch konnotativ bedeutet, wird hier wirklich eingelöst, wieviel bleibt metaphorisch, bleibt analogisch. Sprache ist, darüber haben wir uns, glaube ich, nicht mehr besonders zu einigen, in eine syntagmatische, sprich: horizontale, und eine paradigmatische, sprich: vertikale Ebene zu trennen. Man kann mit Roman Jakobson sagen, daß das Wesen der Poetizität unter anderem darin liegt, daß Dinge kombiniert werden, die üblicherweise nur in Auswahl bzw. in Austausch zueinander gesetzt werden können. Aber es bleibt für mich doch eine Grundtatsache, daß ein Satz rein linear verläuft, daß er segmental abläuft, daß er seriell abläuft, während eine Partitur schon vom Visuellen her eine horizontale und eine vertikale Ebene im System hat. Nun die konkrete Frage: Was ist beispielsweise in der Sprache das Analogon zu einem Akkord? Ist vielleicht ein Wort, ein Inhalt mit seinen semantischen Schwingungsknoten, mit seinen Nebenbedeutungen, durchaus diesem Akkord, dieser vertikalen Ebene vergleichbar? HRJ: Würden wir dafür einen poetischen Text heranziehen, dann entspräche dem Akkord zum Beispiel das Zusammenklingen und die Variation von Reimen. Die Reime ergeben ja eine vertikale und zugleich eine horizontale Struktur. Ich lese ja nicht bloß hintereinander, nicht einfach linear. In die Diachronie des linearen Prozesses kommt eine Synchronie herein, ich muß mich bei jedem Vers an das vorangegangene Reimwort zurückerinnern. Ich muß mich zurückerinnern, um die Differenz zu erkennen. In dem Augenblick trete ich auch schon aus dem bloßen Aufnehmen in der Sequenz heraus. Das gilt im poetischen Text nicht allein für die Reimwörter, das gilt ebenso für die Metaphorik wie für die Metonymie. Insofern ist auch das vertiefende Lesen eines poetischen Textes ein Vor- und Zurückspringen, ein ständiges Vergleichen und Unterscheiden. Ist die nicht innehaltende Tonfolge in einer Melodie vielleicht nicht fast noch strenger linear als die Abfolge in einem Womext, bei der ich immer
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wieder innehalten kann? Gibt es überhaupt ein analoges Verhältnis im Musikalischen, in der Notation, zum Reim? Das wäre meine Gegenfrage. SM: Wenn man den Begriff der Melodie einführt, so glaube ich schon, daß Synchronie dort ebenfalls etwas Bedeutsames und der linearen Wahrnehmung ebenfalls gleichsam eingeschrieben ist. Übrigens betrifft das alle Phänomene musikalischen Formverständnisses am akustischen Ereignis. Vor allem die Melodie wäre sonst nur als eine sukzessive Abfolge von Tonhöhen wahrzunehmen. Ihr Begriff ist ein gestalthafter und impliziert, daß über den jetzt im Augenblick erklingenden Ton hinausgehört wird, als gestalthafte Einheit. Das hat ja bereits Ernst Kurth in seiner Musikpsychologie überzeugend erarbeitet. Melodik hat so in besonderer Weise immer schon einen synchronen Aspekt ... HR]: ... was natürlich in der Rezeption voraussetzt, daß dem Hörenden bei jedem neuen Ton die verklungene Tonfolge präsent bleibt: im Nacheinander der Töne wird ihr Miteinander gegenwärtig, bis sich mit dem letzten Ton alle Töne zu einer Figur zusammenschließen (und das gilt mutatis mutandis auch für einen lyrischen Text). So hat schon Dante, der im dritten Teil der Divina Commedia, dem Paradiso, ständig Musik zu Hilfe ruft, um die christliche Metaphysik des Lichts vorstellbar zu machen, das Wesen der Melodie beschrieben. 2 Im 23. Gesang (v. 97ff.) beschreibt und erfüllt die Melodie des Lobgesangs eine Figur, die dem ,nunc stans' der ekstatischen Schau - dem Aufgehobensein der fortschreitenden in der erfüllten Zeit - entspricht. Ihre Erfüllung, wenn sich Ende und Anfang zum Kreis eines Ganzen zusammenschließt, hat"Dante in die kühne Metapher des" Versiegelns" ("cosi la circulata meLodia si sigiLlava") gefaßt, die das gegenwärtig Vollendete zum für alle Zeit Geprägten erhebt. WG: Zurück zur Rede von Synchronie. Ich halte es für entscheidend, daß auch dabei historisch differenziert wird. Es sind doch je nach Quelle und je nach Interpretenstandort immer wieder auch unterschiedliche Melodiebegriffe von Bedeutung. Die Diskussion zur Synchronie müßte heute im Bezug auf Wagner, etwa, ganz anders verlaufen als in bezug auf Arten der "Melodie"-Bildung im Mittelalter. HRJ: Wollten Sie damit sagen, daß bei Wagner die gestalthafte Figuration einer Melodie nicht mehr ausreicht, um zu beschreiben, was die Eigenart seiner Musik ausmacht?
2 Vgl. dazu meine Lectura Dantis.
5.
o. Kap. 6. S. 165.
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WG: Nein: ich wollte ansprechen, daß sehr vielfältige Melodietypen existieren und von daher eine zu sehr verallgemeinernde Analogiebildung problematisch ist. Auch der angesprochene Vergleich zwischen Akkord und Reim scheint eher schief, zumal die verschiedenen Töne eines Akkordes tatsächlich zur selben Zeit erklingen. Die Vergegenwärtigung vertikaler Strukturen von Versen hingegen ist auf die an das lineare Lesen gekoppelte Erinnerungsleistung angewiesen. Die formbildende Funktion von Akkord und Reim sind durchaus unterschiedlich. Außer Frage steht, daß für die Interpretation da wie dort horizontale und vertikale Tangenten konstitutiv sind. Angesichts der strukturell ganz und gar verschiedenartigen Vertikalität aber sind, wie ich denke, vorderhand einmal je eigene Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster in Kraft. Diese Muster an ausgewählten Beispielen zu differenzieren wäre eine spannende, wiewohl auch komplexe Aufgabe. H RJ: Wagners Leitmotive sind literarisch sehr erfolgreich nachgeahmt worden, von Tolstoi etwa oder von Proust. Insofern gibt es da einen evidenten Austausch. GG: Es fragt sich nur, welche Funktion Leitmotive jeweils zu erfüllen haben. NachdeIn durch die Lockerung der Formschemata und der rhythmisch-metrischen Normen so etwas wie ein Gerüstverlust eingetreten ist, hatten die Leitmotive in den Musikdramen Wagners neben der semantischen eine wesentliche formale Funktion erhalten. Verkompliziert wird die Sachlage auch dadurch, daß in gewissen historischen Perioden Melodik, Metrik und Harmonik eng aufeinander bezogen, also voneinander abhängig sind, aber in anderen historischen Perioden (etwa im 14. Jahrhundert oder bei bestimmten Erscheinungen unseres Jahrhunderts) mit Kalkül getrennt werden. SM: Mehrfach wurde auf das seltsame Desideratum hingewiesen, daß es vielfach Harmonielehren gibt, aber keine Melodielehre zumindest keine historisch differenzierende. H RJ: Die Analogie von Musik und Dichtung beruht nicht allein darauf, daß sich beide in der Dimension des zeitlichen Ablaufs realisieren, sondern auch auf ihrem gemeinsamen Ursprung im Rhythmus. Ich denke dabei an Andre Leroi-Gourhans Hand und Wort (Frankfurt 1980), der zeigte, daß die Protoästhetik auf der Wahrnehmung von Bewegung und Form, den Rhythmen und den Werten, beruht: "Die Rhythmen sind die Schöpfer von Raum und Zeit,
zumindest für das Subjekt; Raum und Zeit werden nur in dem Maße erlebt, wie sie in einer Hülle von Rhythmen erlebt werden" (So 384). Wie in der Musik ist auch in der Dichtung nicht Abbildung, sondern
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Rhythmisierung das Erstgegebene, mit dem die sozialisierende Funktion des ästhetischen Verhaltens einsetzt. Aus der späteren Entwicklung ist für unsere Frage der Primat des Hörens und Gehörtwerdens wichtig: daß in allen uns bekannten Kulturen die Literatur mit Versdichtung anfängt, nicht mit Prosa, daß auch nach der Erfindung der Schrift bestimmte Texte erst Geltung erlangten, wenn sie gesprochen wurden (und das ist heute noch bei Urkunden der Brauch), und daß - wie schon gesagt - in der Geschichte des Lesens das Verstehen eines Textes im lauten Lesen und Hören hergestellt wurde. SM: Die Differenz zwischen Literatur und Musik ist damit schon abgeschwächt. Aber ein hermeneutisches Problem sehe ich trotzdem: Das Verhältnis zwischen dem Notat und dem Sprechen ist in der Literatur vermittelt durch den Normalsprachgebrauch. In der Musik aber ist die "Sprachform " der Notation kategorisch unterschieden von der Sprachform des Erklingenden. Und zudem nicht vermittelt durch Alltagserfahrung. Wir haben hier eine ganz andere Chiffrierungsform. HRJ: Die Verschiedenheit des sprachlichen und des musikalischen Notats zugestanden, bleibt doch die Frage, ob archaische Musik in der Tat so rigoros von Alltagserfahrung abgehoben werden kann. Begleitet sie nicht rhythmisierend Lebensvorgänge wie Arbeit oder Feier? Andererseits ist auch archaische Dichtung zwar durch Sprache vermittelt, aber doch deutlich durch Rhythmisierung und Versform (man denke z.B. an die Merseburger Zauberspruche) von der Alltagssprache abgehoben. GG: Die Spezifik des Umgangs mit Musik hat der Komponist Boris Blacher einmal salopp ausgedrückt: Musik sei ein "DreiMann-Job", einer stellt eine Partitur her, einer spielt sie und einer hön zu, aber jeder ist auf jeden angewiesen. Spielt dieses triadische Prinzip in der Dichtung auch eine Rolle - in der Dramatik schon ... HRJ: ... in der Dramatik sicher ... GG: ... aber im übrigen könnte man doch eher von einer Bipolarität in der Literatur sprechen. Ein solches Modell wäre im Hinblick auf Musik völlig unzureichend. H RJ: Die mittlere Instanz, die ausfühn, fällt bei der Dichtung in der Tat zunächst mit dem aufnehmenden Leser ineins. Die Leserrolle kann indes wieder in die Doppelheit des impliziten und des expliziten Lesers auseinandertreten, wenn der Schritt von ästhetischem Genießen zu auslegendem Verstehen bewußt vollzogen wird - wenn ich mich vom spontan Aufgenommenen zuruckwende, um seinen Sinn im Ganzen zu bedenken, den ich im Gang der ersten Lektüre nur vermuten, noch nicht ausschöpfen konnte.
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OP: Beziehungsweise in einer anderen Variante, bei Rhapsoden, fällt der Dichtende mit dem Ausführenden zusammen. H R}: Das scheint zwar so zu sein, doch wissen wir von der mittelalterlichen Chanson de geste, daß sich der Dichter in das Gewand des Sängers (jongleur) kleidete, solange das Anonymat für das Epos (das sich gleichsam ,selbst erzählt') konstitutiv war. Das schloß in der fließenden Überlieferung der oralen Dichtung ein, daß der Ausführende - die mittlere Instanz - mit dem vorgegebenen Stoff frei schalten und walten konnte, so daß jede Aufführung eine eigene Version ergab. Der psalmodierende Vortrag hinterließ bei der späteren Aufzeichnung Spuren seiner Notation. Gibt es dazu wohl Analogien in der Musikgeschichte? OP: Das ist letztlich ja auch ein gutes antikes Prinzip. Entweder es muß ein Auctor dahinterstehen, ein Gewährsmann, man muß wie in der Historie selbst dabeigewesen oder authentische Zeugenaussagen haben, wie es bei Herodot der Fall war. "Historie" heißt ja etymologisch übersetzt "Augenzeugenschaft" . Man muß dabei gewesen sein ... H R}: ... das gilt allerdings primär für die Geschichtsschreibung. Die Verselbständigung des Autors ist ein sehr langsamer Prozeß. Die Auctoritas im vollen Sinne des Wortes ist erst seit der Renaissance aufgekommen, als die modemen Verfasser für ihre Werke das gleiche Recht auf Urheberschaft (oder "geistiges Eigentum") beanspruchten wie die Auctores der Antike. GG: Sie haben vorhin darauf hingewiesen, daß der Leser eines Textes sich selber gegenübertritt. Er liest und beginnt dann einen Reflexionsprozeß. Aber ich glaube, es ist doch ein erheblicher Unterschied dazu, daß bei Musik einer spielt und ein anderer zuhört ... SM: ... und jeder stellt andere Fragen und zieht andere Antworten aus dem Text - der Interpret bereits, indem er es zum akustischen Ereignis werden läßt, und der Hörer, indem er sich auf dieses bezieht. Aus rezeptions ästhetischer Perspektive gesehen handelt es sich um eine eigentümliche Gedoppeltheit. H R}: Haben Sie dabei nicht außer acht gelassen, daß der Hörer selbst mitsingen oder ein Instrument spielen kann, und daß der Interpret, der ein Werk zum akustischen Ereignis werden läßt, seine Performation von Probe zu Probe hörend vorbereitet und korrigierend zur Vollendung bringt? Gilt nicht auch für die Musik, daß der Autor nicht bei einem Nullpunkt einsetzt, sondern immer schon Hörer war, wenn er zu komponieren beginnt, wie der Dichter, dessen originaler Schöpfung es keinen Abbruch tut, daß sie den Horizont früherer Lektüren voraussetzt? Wie die Gedoppeltheit von passivem
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Hören und aktivem Verstehen, von ästhetischer Wahrnehmung und bedeutungsstiftender Auslegung zusammenwirkt und gleichwohl in einer Analyse der Horizonte verschiedener, hintereinander gestaffelter Lektüren begriffen und beschrieben werden kann, habe ich an dem eingangs angeführten Beispiel eines Baudelaire-Gedichts gezeigt. Dabei gilt das hermeneutische Prinzip: primum percipere, deinde interpretari. Leo Spitzer, der große Ahnherr der Stilistik, hat es einmal auf die Formel gebracht, es sei für die Interpretation eines Gedichts unabdingbar, von der in den Text eingeschriebenen Folge der Wahrnehmung auszugehen, d.h. die Bildung der aus ihr erwachsenden ästhetischen Gestalt zu verfolgen, an der sich alle spätere Deutung zu bewahrheiten habe. Die Rückbindung des auslegenden Verstehens an die vorgängige Erfahrung der ästhetischen Wahrnehmung legitimiert reflexiv die Deutung, die dann durchaus verschieden ausfallen kann; wo diese hermeneutische Prämisse mißachtet, die vorgezeichnete Ordnung der ästhetischen Wahrnehmung übersprungen wird, beginnt die Willkür von Interpretationen, die den poetischen Text vorschnell auf eine ,Aussage' reduzieren. Wie Sie aus meinem Beispiel ersehen, habe ich meine Analyse methodisch in zwei Schritte gesondert, im ersten die ästhetische Wahrnehmung im Horizont einer ersten Lektüre beschrieben, dabei die Frage nach der Bedeutung registrierter Eindrücke zunächst ausgeklammert, der ich dann im zweiten Schritt, der Rückwendung des Verstehens auf das Wahrgenommene, nachgehe und Schritt für Schritt den mir aufgehenden Sinn des Gedichts zu begreifen suche. Darüber hatte ich einmal ein Gespräch mit earl Dahlhaus, der das hier Dargelegte auch für die musikalische Hermeneutik als relevant ansah. Könnten Sie dem zustimmen? SM: Im Prinzip schon, obwohl sich ein Problem nicht vollständig auflöst, das sich in folgender Frage darstellen ließe: Wo ist der erste Eindruck im musikalischen Bereich, wenn das, was mich als erster Eindruck erreicht, bereits Ergebnis eines stattgefundenen Frage- und Antwortspiels ist, vorausgesetzt, ich gehe nicht davon aus, daß sich das musikalische Werk nicht primär im Notat zeigt, sondern im Klangereignis ? H RJ: Dahlhaus hielt es durchaus für möglich, die erste Erfahrung im Anhören eines Musikstückes auf die beschriebene Weise zu erfassen. Auch für ihn setzte Interpretation reflexive Distanz zum Erstgegebenen der ästhetischen Wahrnehmung, mithin einen zweiten Durchgang voraus. Im ersten Durchgang pflegen wir noch nicht explizit zu interpretieren, beim Hören um so weniger, als wir dabei im Unterschied zur Lektüre nicht willkürlich innehalten, den Vor-
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gang unterbrechen können, um bei einer Stelle zu verweilen. Texte und Partituren sind - von experimentellen Ausnahmen abgesehen nicht darauf angelegt, daß sie mit Expertenwissen beim ersten Lesen oder Hören sogeich in ihrer feineren kompositorischen Struktur verstanden werden. Erfordert die musikalische Hermeneutik also nicht auch meine Unterscheidung? Muß nicht auch eine musikalische Deutung an dem sukzessiv sich einstellenden Gesamteindruck des ersten Hörens verifizierbar sein? SM: Grundsätzlich sicher eine ebenso faszinierende wie adäquate Vorstellung, die dennoch das hermeneutische Problem eines "sich einstellenden Gesamteindrucks des ersten Hörens" nicht löst. Wenn ich davon ausgehe, daß das Klangereignis den ersten Eindruck liefert, dann muß ich sofort zugeben, daß das Klangereignis, so wie es mich erreicht, selbst immer ein durch Frage- und Antwortspiel vermitteltes ist. Ohne Interpreten gibt es für mich nicht den ersten Eindruck des Erklingenden, der damit als solcher nur bedingte Relevanz beanspruchen darf. HRJ: Das habe ich vielleicht nicht klar genug gesagt: das Frageund Antwortspiel ist zumeist schon ein hermeneutisches Instrument, es gehört mithin schon zum zweiten Akt des Verstehens. Es gibt auch literarisch nur ganz bestimmte Textgattungen, wie etwa Katechismen oder die eigentümliche lyrische Frage), die primär darauf basieren. Bei meinem Beispiel habe ich dieses Instrument beim ersten Durchgang dazu genützt, um sorgfältig registrierte Momente der Überraschung, Befremdung oder Dunkelheit als Erwartungen in noch offenen Fragen zu vermerken. Was Wolfgang Iser "Unbestimmtheitsstellen" oder Sinnlücken nennt, läßt sich derart in Frageform präzisieren. Die Antworten zu suchen, ist das Geschäft des zweiten, bedeutungstiftenden Durchgangs. SM: Das Grundproblem in diesem Zusammenhang scheint l1Jir in der Frage zu kulminieren: Wo liegt die erste sinnliche Evidenz im musikalischen Bereich? Eigentlich gibt es den nicht interpretierten ersten Eindruck nicht, wenn ich davon ausgehe, daß das Klangereignis das Wesentliche und dieses immer schon notwendig ein Interpretiertes 1st. H RJ: Ist das Klangereignis, so gewiß es aus einer Interpretation des Dirigenten hervorgeht, denn auch für den Hörer, der ein Werk zum ersten Mal hört (nicht also seine Aufführung schon mit anderen vergleicht), schon "ein Interpretiertes"? Das möchte ich bezweifeln.
3 S. dazu ÄE. 11 A, Kap. 6.
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Denn wo immer ich sonst das Wort "Ereignis" gebrauche, meint dies etwas Neues, was ich nicht vorhersah, was mich überraschend trifft und erstaunt, oder es meint - beim geschichtlichen Ereignis - eine unerwartete Wendung der Dinge, deren Bedeutung noch offen ist, weil sie erst an den Folgen des Ereignisses erkannt zu werden vermag. Der Ereignischarakter des neuen Werks schließt natürlich nicht aus, daß ich beim Anhören in ein Spiel von Erwartungen eintrete, die sich im Weiteren erfüllen oder nicht erfüllen, daß ich Wiederholungen, Modulationen, Variationen bemerke oder Erinnerungen an früher Gehörtes mit aufrufe. Doch all dies begründet doch schwerlich schon eine Interpretation, die sich vom Ende auf den Anfang zurückwenden muß, wenn sie das im ersten Wahrnehmen implizit Vorverstandene explizit begreifen will. Oder meint Ihre Rede vom Klangereignis eine mir nicht faßbare absolute Unmittelbarkeit? Solches ist mit meiner These vom hermeneutischen Vorrang der ersten ästhetischen Wahrnehmung gerade nicht gemeint. In der Tat ist alle Kunst - jede auf ihre Weise - in einem noch zu klärenden Sinn immer schon vermittelt. Hans Blumenberg hat dies unlängst auf die unübertreffliche Formulierung gebracht: "Das Maß des Gebens kann nicht das des Nehmens bleiben; aber gültig bleibt das Paradox aller Rezeption, daß der nichts erfährt, der noch nichts erfahren hat. "4 Das allererste Erlebnis eines Liedes oder eines Kinderverses bleibt der Ästhetik entzogen. So weit wir auch in der Erinnerung zurückgehen, finden wir keinen absoluten Anfang: ,,/l n'y a pas d'experience esthetique pour La virginite". S Auch ein nie gehörtes oder gelesenes Werk tritt uns nicht für sich allein entgegen, sondern immer schon als ein noch unbekanntes unter schon bekannten Werken. Erst unter dieser Bedingung erwächst aus dem singulären Erlebnis ästhetische Erfahrung, zu der noch nicht gelangen kann, wer nur ein einziges Buch oder Musikstück kennen würde. Ohne Erwartung ist keine Erfahrung, ohne Erfahrung keine Erwartung möglich. Das schließt indes nicht aus, sondern ein, daß - wie gerade Baudelaires Ästhetik der Nouveaute hervorkehrt - es ästhetische Erfahrung auch vermag, die eine bekannte, vorgewußte oder auch sinnfremd gewordene Welt in ihrer Anfänglichkeit und Bedeutungsfülle wiedererstehen zu lassen. 6 Kurzum: etwas zu erfahren, als ob man es wieder zum ersten Mal erführe, ist - wie mir scheint - eine genuine Leistung der ästhetischen Wahrnehmung (aisthesis), bei der zu fragen wäre, ob 4 Hans Blumenberg. MatthäNspass;on. FrankfuniM. 1988. 5 Gaetan Picon. IntTodNction aNn~ esth~thiqNe de Ja [jtteratNre I. Paris 1953, S. 90. 6 Dazu ÄE. S. 42.
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dies für die Musik gleichermaßen wie für die Poesie gilt. Um diesen Ereignischarakter eines pour LA premiere lois ansichtig zu machen, habe ich bei meinem Experiment mit dem Spleen-Gedicht, das ich natürlich schon kannte, simulien, daß ich es zum ersten Mal lese, was erfordene, alles was mir neu, überraschend, erstaunlich, befremdlich oder dunkel erschien, sorgfältig zu protokollieren. Warum soUte das für ein Musikstück nicht auch möglich sein? Könnte eine musikalische Interpretation nicht auch versuchen zu rekonstruieren, wie ein Musikstück klingt, wenn ich es zum ersten Mal höre, und so den Ereignischarakter wieder einholen? SM: PrinzipieU ist das wohl möglich, als grundsätzliche Intention auch wünschenswen, jedoch spielt das im gegenwärtigen Spektrum interpretatorischer Ansätze eine geringe RoUe. WG: Mir drängt sich folgender Einwand zunehmend mehr auf: der, wie Sie es nennen, "Ereignischarakterfll des ersten Eindrucks scheint mir nicht wirklich "rekonstruierbarfll zu sein. Etwas rekonstruieren heißt: es als das wiederherstellen, was es einmal war und nun nicht mehr ist. Freilich lassen sich vergangene Eindrücke, worauf Sie in einem praktischen Beispiel hingewiesen haben, simulieren. Jede Simulation früherer Werkkonstitutionen enthält jedoch, da wir zwischenzeitliehe Erfahrungen genausowenig beiseite schieben können wie die Distanz zwischen unserer eigenen Erkenntnisposition und der in vielen musikwissenschaftlichen Debatten immer noch absolut gesehenen Autorintention, die Signatur des Späteren. Diese Signatur des Späteren vereitelt nun bekanntlich aber nicht, sondern ermöglicht erst, von späterer Wane aus frühere (Kunst-) Erlebnisse zu reflektieren. OP: Ich glaube, im eigentlichen ging es in Ihrer Diskussion um die Frage nach der Ontologie des Werkcharakters. Wir hatten in der Vorbeschäftigung für diese Diskussion manchmal den Eindruck, daß das Werk zwischen anderen Faktoren etwas zu kurz kommt. Herr Mauser und ich hatten aus ganz unterschiedlichen Gründen Probleme mit dieser Sicht. Herr Mauser meint, daß für ihn als Interpreten, wenn er sich ein Stück aneignet, jenseits aller Variablen so etwas wie eine Konstante vorhanden ist, so etwas wie Substanz, an der er sich orientieren kann. Und für mich war als Philologen und Sprachwissenschaftler umgekehn das Problem: Was bleibt von einem Werk übrig, wenn man sich zum Beispiel auf die Vorstufen der Homerischen Dichtung, auf die oral poetry - zumindest in einem Gedankenexperiment zurückbegibt? Was ist da jetzt an Invariablen überhaupt noch vorhanden? H Rl: Die oral poetry ist ein Grenzfall, weil für die fließende Überlieferung die Variabilität selbst konstitutiv ist. Die mehnausendjäh-
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rige Rezeptionsgeschichte Homers, die von der vereinheitlichten Endredaktion ausgeht, zeigt indes, daß es bei aller Vielfalt der Interpretation sehr wohl eine mythische Grundstruktur geben muß, die zwar verschieden gedeutet, aber nicht verändert worden ist (man konnte aus Hektors Abschied zwar eine bürgerliche Elegie machen, nicht aber, ihn überleben lassen). In allen Rezeptionsprozessen gibt es ein Verhältnis von Selbigkeit und Andersheit. Das hat Gadamer auf die prägnante hermeneutische Formel gebracht: "daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht". 7 Ich unterscheide danach zwischen vorgegebenem und aufgegebenem Sinn. Dem vorgegebenen Sinn, der sogenannten Intention eines Werkes, entspricht der Artefakt mit den kompositorischen Strukturen, über die sich keine Interpretation ungestraft hinwegsetzen darf, die sie aber doch - als ästhetische Normen - auf verschiedene Weisen konkretisieren, mithin immer wieder anders verstehen kann. Der vorgegebene Sinn ist darum nicht selbstgenügsam, er läßt Raum für seine fortschreitende Aktualisierung und gibt jeder späteren Zeit auf, ihn sich neu anzuzeigen. Für die Rezeptionstheorie ist das "offene Werk" keine Erfindung der Modeme, sondern das, was den ästhetischen Gegenstand vor anderen Hervorbringungen auszeichnet. Mit Blumenberg zu sprechen: "Das Maß des Gebens kann nicht Maß des Nehmens bleiben." Dagegen verstoßen Arbeiten wie Eggebrechts Geschichte der Beethoven-Rezeption, die den vorgegebenen Sinn zum absoluten Richtmaß erheben wollen und in der späteren Interpretationsgeschichte im Grunde nur noch eine Verfallsgeschichte sehen können. Gibt es bessere Rezeptionsgeschichten in der Musikwissenschaft? Auch würde ich gerne noch einmal die Frage stellen, ob mein Verfahren auch auf die Rezeption von Musik anwendbar wäre. WG: Es fehlt in der Musikwissenschaft gewiß nicht an positivistisch orientierten, eher auf Dokumentation zielende Arbeiten zur Rezeptionsgeschichte, wohl aber oftmals an der impliziten und vor allem expliziten Bewußtmachung des je eigenen Standorts, von dem aus, verschiedenen Fragestellungen folgend, Rezeptionsgeschichten erzählt werden. Einen Ansatz hierzu leisteten einige Beiträge beim bereits angesprochenen Hannoveraner Symposium von 1988. GG: Ihrem "vorgegebenen Sinn" nähern wir uns mit Adomos Ideal des "strukturellen Hörens" durch darauf bezogene Methoden der Strukturanalyse. Der "aufgegebene Sinn" von Musik kann beim 7 Im Anschluß an Heidegger: .Eine rechte Erläuterung versteht jedoch den Text nie
anders als dessen Verfasser ihn verstand. wohl aber anders. Allein dieses Andere muß so sein. daß es dasselbe trifft. dem der erläuternde Text nachdenkt- (dazu ÄE. S. 670).
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Interpreten auffallend phantastische Blüten treiben: aber auch im Rahmen der kunstwissenschaftlichen Vorgangsweisen kann sich die Heuristik als sehr schwierig erweisen. Wenn ich selbst zum Beispiel in die Lage komme, neue Musikstücke theoretisch zu interpretieren, für die ich keine passenden Kriterien parat habe, mache ich es immer so, daß ich nicht sofort an die Partitur herangehe, sondern das Stück mir zunächst mehrmals anhöre. Ich erstelle dann ein Protokoll meiner Eindrücke, ohne irgendeinen bewußten Raster, ohne Vorgabe, ein strukturelles Hören erreichen zu müssen. Nicht nur das Kantsche "Spiel des Erkenntnisvermögens", auch viele Bilder, Assoziationen und Empfindungen steigen dabei auf, die sich in einem mehr oder minder langsamen Prozeß zu einem Bild von einer Sache verdichten. Sicherlich gibt es auch auch den umgekehrten Fall, daß viele Menschen annähernd das Gleiche spontan imaginieren. Der Musikpsychologe Albert Wellek hat schon in den 1960er Jahren mit dem sogenannten "unwissenschaftlichen Verfahren" einschlägige Tests gemacht. Da zeigt sich etwa, daß beim Hören von Ligetis Atmospheres zahlreich und intensiv Vorstellungen wie ich fühle luft von anderen planeten aufgetreten sind. Nur fragt sich, welche Prägungen da eine Rolle spielten, vielleicht schon solche durch Science-fictionFilme? HR): Ihren Beispielen aus der Neuen Musik läßt sich vielleicht an die Seite stellen, daß es literarische Texte gibt, bei denen die unmittelbare Wahrnehmung bei einer ersten Lektüre versagt, weil sie von vornherein auf eine zweite Lektüre angelegt sind. Gewiß kennen Sie auch Fälle eines prononcierten Avantgardismus, bei denen ich schon eine Theorie mit- und einbringen muß, um überhaupt etwas zu verstehen. Kleines Beispiel: bei einem Kolloquium über Hermeneutik der Fremdheit hat uns einmal ein Musikwissenschaftler ein Beispiel indischer Musik gebracht, die uns natürlich sehr fern lag. Dann hat er uns ein Stück von Boulez vorgeführt, der aus unserem Kulturkreis kommt. Das Merkwürdige war, daß uns die indische Musik viel vertrauter erschien als Boulez. Offenbar setzte Boulez eine Theorie voraus, die uns fehlte. Da kann man natürlich fragen, ob das nicht ein Einwand gegen diese Art Musik ist ... GG: ... obwohl Sie vermutlich die indische Musik falsch verstanden haben ... HR): ... das möchte ich in der Tat annehmen. GG: Ich habe etwas Ähnliches wie Sie bei einer Tagung (Gießen 1977), die der Begegnung von Musikpädagogen und Musikwissenschaftern diente, erlebt. Musikpädagogen setzten damals große Erwartungen auf den schulischen Einsatz von außereuropäischer
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Musik. Der Musikethnologe Josef Kuckertz verhalf uns durch ein Experiment zu interessanten Erfahrungen: er spielte uns ein einfaches und kurzes Stück süd indischer Musik mehrmals vor und bat uns dann zu erzählen, was wir gehört und empfunden hatten. Dabei zeigte sich, daß wir überwiegend auf Dinge geachtet hatten, die Rastern auf irgendeine Weise entsprechen, welche uns von der abendländischen Musik her vertraut sind (etwa Steigerungsverläufe). Oder wir sahen uns in unseren Erwartungen durch nebulose "meditative" Momente bestätigt. Herr Kuckertz erläuterte uns daraufhin die Funktion des Stückes für eine hinduistische Gesellschaft und machte uns klar, wie wenig wir von elementaren kompositionstechnischen Vorgängen überhaupt wahrgenommen hatten. Wir waren also mit unserem Verstehensversuch völlig falsch gelegen. HRJ: Völlig falsch" scheint mir das typische Urteil eines Spezialisten zu sein. Auch im Mißverständnis bewahrt die ästhetische Evidenz noch ein gewisses Eigenrecht. Unser Schulbeispiel lautet: Ein amerikanischer Farmer kauft sich im Supermarkt Homer. Und hinterher schreibt er an den Herausgeber, er hätte ein Buch von einem Mr. Homer gelesen, das hätte ihn ungemein beeindruckt, und er möchte diesen Mann gerne einmal kennenlernen. Im Sinne des Historismus scheint dabei natürlich alles falsch, und trotzdem ist er von etwas beeindruckt worden, was nur dieser "Mr. Homer" auslösen konnte. Selbst die völlig naive Lektüre der Ilias bezeugt noch etwas von der poetischen, über alle Zeiten hinwegreichende Kraft des archaischen Epos - manchmal mehr, als in spitzfindigen Produkten positivistischer Gelehrsamkeit zu finden ist. GG: Um bei meinem Beispiel zu bleiben: eine "Rückfrage am Werk" als notwendiges Korrektiv im Verstehensprozeß war schon aus wahrnehmungspsychologischen Gründen gar nicht möglich. Daher hatten wir marginale Dinge für wichtig genommen und Wichtiges überhört. H RJ: Manchmal kann gerade ein marginaler Eindruck einen neuen Zugang des Verstehens eröffnen. Die Methode des schon erwähnten Philologen Leo Spitzer bestand gerade darin, von einem marginalen Detail oder Stilzug auszugehen, um die bisherigen Konventionen der Deutung zu unterlaufen und mit seiner vom unerkannten Detail zum Ganzen führenden Deutung eine neue Sicht auf das Werk zu begründen. Bei dieser Anwendung des hermeneutischen Zirkels korrigiert die Rückbindung an die ästhetische Wahrnehmung, was beim ersten Eindruck noch subjektive Willkür gewesen sein mochte. Das Neue einer Deutung fällt indes nicht vom Himmel. Es setzt den Horizont des Alten, der bisherigen Deutungen, voraus. Das absolut Neue wie Jt
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die absolute Andersheit wäre ein hermeneutischer Nullwert, für die ästhetische Produktion und Rezeption gleichennaßen impraktikabel. SM: Das war wohl Ihr Problem bei Boulez. H RJ: In dem von mir gehörten Stück gab es Passagen mit einem dreifachen pianissimo. Die kann man überhaupt nicht, außer wenn man in der Partitur mitliest, zur Kenntnis nehmen. Sonst sind die gar nicht mehr wahrnehmbar. Was sagen Sie zu diesem Extremfall? WG: Durch Stücke etwa Morton Feldmans, dessen Zweites Streichquartett gar über einige Stunden hinweg in leisesten Klängen verbleibt, sind derartige mittlerweile als "stille Musik" verschlagwortete Erscheinungen zu einem zentralen Thema der neueren Musik geworden. Und siehe da, selbst ppppp-Passagen lassen sich, auch ohne Partiturstudium, wohl aber nicht ohne entsprechende konzentrierte Aufmerksamkeit verfolgen. Und nicht nur diese: Feldman und besonders auch John Cage ließen damit Alltagsgeräusche im Saal, wie sie im Konzertbetrieb traditionell als störend empfunden werden, in ihre Musik ein. Das Publikum wird, was ein in solcher Form "neues" Rezeptionsbewußtsein dieser Komponisten anzeigt, als Teil der Musik gleichsam begrüßt. OP: Wobei sich natürlich in traditioneller Musik bei solchen überzogenen Notationen die Frage stellt, wieweit haben sie einen Wert per se oder wie weit sind das dramatische Appelle an den Interpreten, sich nur ja anzustrengen. SM: Wie heißt es bei Schumann: "so schnell wie möglich", und kurz danach: "noch schneller" . H RJ: Das ist eine bloße Provokation des Interpreten, vergleichsweise bescheiden, denkt man an die Provokation eines Stückes, das beim Publikum einen Skandal erregt hat. Kann man diese ursprüngliche Provokation rekonstruieren? Diese Frage wäre die eigentliche Provokation der Musikwissenschaft durch die Rezeptionstheorie . GG: Beaumarchais' La folie joumee, ou Le mariage de Figaro war zweifellos eine Provokation des Ancien regime. Für Da Pontes und Mozarts Le nozze di Figaro im josephinischen Wien trifft dies, wenn auch abgeschwächt und in anderer Weise, ebenfalls zu. Historiker können Dramentexte und den schriftlichen Niederschlag zeitgenössischer politischer Auseinandersetzung vergleichen. Aber keineswegs in der sei ben belegbaren Weise läßt sich Mozarts musikalische Provokation im Figaro rekonstruieren. Auch Kammennusik-Werke Mozarts fanden eine - uns heute kurios anmutende - Kritik. Als Historiker kann ich wohl argumentieren, daß z. B. das Klavierquar-
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tett damals noch eine junge Gattung war, die eine Geselligkeitsfunktion zu erfüllen hatte, folglich nicht zu anspruchsvoll sein sollte. SM: Hinzu kommt ein symphonischer Zug, eine "unzulässige" Vermischung der Gattungstraditionen, die Ablehnung auslöste. GG: Nur, ich habe keine Möglichkeit, dies in der nötigen Konkretheit zu rekonstruieren. HR}: Aber können Sie nicht doch rekonstruieren, was damals ein Hörer, der zum ersten Mal ein Mozartsches Klavierquartett hörte, als neu, als überraschend empfand. WG: Welchen Hörer in welcher Hörsituation aber sollte man, da es "den ca Hörer bekanntlich nicht gibt, in den Blick zu bekommen versuchen? Gerade wenn die Auswahl nicht groß ist, zeigt sich erfahrungsgemäß die akute Gefahr, vereinzelte Stellungnahmen als repräsentativ zu überschätzen. GG: Hörgewohnheiten vergangen er Zeiten zu belegen, ist schwierig. Die Kritiken, die geäußert worden sind, bleiben recht unspezifisch. Joseph Haydn hat ja zum Teil sehr anspruchsvolle Kammermusik geschrieben, die sogar für Mozart viel Anregung brachte. Dennoch wurde gegen Haydn keine derartige Kritik laut. SM: Hat sich Haydn tatsächlich innerhalb der einzelnen Gattungsnonnen konventioneller bewegt? GG: Das vermuten wir. Aber nehmen wir zum Beispiel den geistvollen Humor in vielen Schlußsätzen Haydnscher Streichquartette. Mit ihm ist ein heutiges Kennerpublikum offensichtlich überfordert, sonst würden die Konzertbesucher bei derlei Stücken nicht so ernste Gesichter machen. Waren diese Ansprüche vor 200 Jahren leichter zu bewältigen - und fielen vielleicht Dinge, die uns selbstverständlich geworden sind, dem damaligen Hörer sehr schwer? Solche Fragen liegen nahe, sind aber kaum stichhaltig zu beantworten. SM: Ich habe mir überlegt, ob es auch möglich wäre, eine Geschichte der Paradigmen, wie Sie sie am King Lear vorführten, zum Beispiel mit der IX. Symphonie von Beethoven zu rekonstruieren. Dabei komme ich wieder zu meinem Grundproblem : Sie haben in Ihrem Referat unter Ihren Paradigmen verschiedene Rezeptionshaltungen beschrieben, so der Aufführungspraxis, des Regietheaters, der ästhetischen Kritik. Wenn ich nun ähnlich mit der IX. Symphonie von Beethoven verfahre, dann habe ich zwei Schienen, die nicht gleichberechtigt nebeneinanderstehen, da sich die Rezeptionsgeschichte von der praktischen Interpretationsgeschichte ableitet. Daß Bach als hochromantischer Komponist angesehen wurde, hängt damit zusammen, daß die Brandenburgischen Konzerte in großer Besetzung, womöglich mit Klavieren, so etwa von Furtwängler, auf-
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gefühn wurden. Das heißt also: die Rezeptionsgeschichte, die ich nachzeichnen möchte am Modell der IX. Symphonie, ist abhängig von der Interpretationsgeschichte. Ich kann nicht Interpretationsgeschichte und die kritische Rezeption eines Hörers auf dieselbe Ebene stellen als gleichberechtigte Stützen meiner Paradigmen, da sich eines vom anderen ableitet. HRJ: Diese Unterscheidung mache ich auch. Aber wir kennen eben auch den umgekehrten Fall. Manchmal hinkt die Interpretationsgeschichte der Rezeptionsgeschichte nach. So z. B. bei Rousseaus Nouvelle Heloise., einem der größten Erfolge des Romans der Aufklärung. Das Werk wurde von der offiziellen Kritik der Experten verkannt, in der Rezeption durch ein breites Publikum indes enthusiastisch aufgenommen. Hier setzte die Interpretationsgeschichte erst eigentlich ein, als ihr die naive Rezeption den Weg gebahnt hatte. SM: In der Musik ist dies sehr schwer denkbar: eine Rezeptionsgeschichte zu rekonstruieren, die nicht auf die Interpretationsgeschichte angewiesen ist. H RJ: Ich fange selbst auch mit der Interpretationsgeschichte an, und ich bin immer froh, wenn ich entsprechende Rezeptionszeugnisse finde. Das ist in der Neuzeit leichter zu verwirklichen als im Mittelalter, wo sich kaum Rezeptionszeugnisse finden und der implizite Erwartungshorizont eines Werkes erst rekonstruiert werden muß. OP: Manchmal koinzidieren freilich personell Interpretation und Rezeption. Beispiel: Wagner mit seinen Aufführungen und seinen Analysen der IX. Symphonie. H RJ: Eine Rezeptionsgeschichte, die diesen Namen verdient, setzt, auch wenn sie bei der zeitgenössischen Aufnahme eines Werkes beginnt, vorab den Horizont seiner gegenwärtigen Erfahrung voraus. Sie muß die Vergangenheit des Textes mit unserer Gegenwart vermitteln. Mir stand schon die gegenwärtige Shakespeare-Rezeption, das sogenannte Regietheater, vor Augen, als ich historisch aufsuchte, was sie vorbereitet hat. In der Perspektive einer Vorgeschichte dessen, was unsere gegenwärtige Erfahrung bedingt, schlagen nur Interpretationen zu Buche, die als Muster norm- oder schulbildend wirkten oder aber zu unrecht verkannt wurden und es verdienen, wieder erneuert zu werden. Die Anerkennung einer Interpretation durch andere, die früher oder später erfolgen kann, ist das Movens aller Tradition, wenn darunter nicht eine bloße Akkumulation, sondern ein Prozeß ständiger Kanonbildung und Umbildung verstanden wird. SM: Heißt das, daß die Rezeption einer Interpretation das Vehikel ist, das es zum Paradigma macht?
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H RJ: SO ist es in der Tat. Die literarische Hermeneutik gebraucht dafür wie die juristische den Begriff der Konkretisation. Damit ist folgendes gemeint: wenn über einen Rechtsfall ein Urteil zu fällen ist, reichen die vorhandenen Gesetze und Rechtsnormen oft nicht hin, den besonderen Fall durch Subsumtion (die direkte Anwendung einer Regel) zu entscheiden. Der Gesetzgeber konnte nicht alle möglichen Einzelfälle vorhersehen. Es entsteht eine Gesetzeslücke. Dann muß die Norm angesichts des besonderen Falls neu ausgelegt werden. Dieses Uminterpretieren nennt die juristische Hermeneutik Konkretisation. Der besondere Fall erfordert, die allgemeine Bedeutung eines Gesetzes neu zu konkretisieren. Diese Konkretisation wird hinfort normgebend für weitere Entscheidungen. Man kann sich danach auf diese Entscheidung als Präzedenzfall berufen. Das ist die sogenannte progressive Rechtsschöpfung, die im Rechtsleben eine erhebliche Rolle spielt. Ihr Analogon bei der Bildung ästhetischer Urteile liegt auf der Hand. Auch hier erfordert ein neues Werk, wenn es nicht bloße Nachahmung ist, die bisher geltenden ästhetischen Normen neu zu konkretisieren. Interpretationen werden in dem Maß normativ, wie sie anerkannt werden und sich allgemein durchsetzen. Eine Interpretation, die auf Dauer nicht überzeugt oder nicht über die Spielwiese akademischer Spitzfindigkeiten hinausgelangt, schlägt für die Rezeptionsgeschichte nicht zu Buche. WG: Und doch wird sie, sobald im Bewußtsein als Sinnpotential verankert, Teil der Rezeptionsgeschichte. So manche Interpretation überzeugt erst nach sehr langer Zeit. OP: Welchen Stellenwert besitzt das produktive Mißverständnis? Es ist zwar ein Holzweg, aber ein paradigmatischer Holzweg, beziehungsweise etwas, das dann später durchaus zu ästhetisch bemerkenswerten Leistungen führen kann. H RJ: Die Rezeptionstheorie hat, auch außerhalb Europas, so viel Erfolg gehabt, weil sie sehr viel besser als die bloße Komparatistik die Aneignungsprozesse in anderen Kulturen rechtfertigen konnte. Aber Mißverständnisse müssen natürlich produktiv sein. OP: Es gibt ja nicht nur das produktive Mißverständnis, das interkulturell ausgelöst ist oder durch einen großen diachronen Hiat, etwa von der Antike ins bürgerliche Zeitalter herein, sondern das kann sich auch synchron abspielen. Ich habe die sichere Erwartung bei einigen Heine-Vertonungen, daß Schumann Heine gründlich mißverstanden hat und dies dann entsprechend musikalisch umgesetzt hat - und das, obwohl sie Zeitgenossen waren. Wie sehen Sie solche Tangenten?
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HR]: Gerade Heine-Vertonungen sind dafür ein gutes Beispiel. Denn Heine selbst hat ja bereits die Romantik ironisch aufgelöst. Nun kann das produktive Mißverständnis darin bestehen, den Ironie-Anteil bei Heine wegzuschaffen. Dann kommt wieder ein Nachklang der Romantik heraus, eine Konkretisation, die ihr Eigenrecht hat, auch wenn sie die Intention Heines nicht mehr trifh. Aber diese kann nicht die für alle Nachkommenden verbindliche Norm bleiben. Die Intention, das heißt: das Sinnpotential eines Werks, ist immer reicher als die Absicht seines Autors. SM: Und wenn explizite Äußerungen zum Werkumfeld vorliegen? H R]: Dann sind diese eine Interpretation unter anderen. Das ist ja auch schon der Sinn des Schleiermacher-Wortes: den Autor besser verstehen können, als er sich selber verstand. Das erklärt sich ganz einfach mit der Horizonthaftigkeit allen Verstehens. Der Späterkommende hat immer eine Perspektive mehr. Er kann im Lichte des Späteren das Frühere neu sehen. WG: Daß der Späterkommende immer eine Perspektive mehr hat, würde ich weniger behaupten, denn daß er immer zumindest etwas andere Perspektiven hat, bzw. haben sollte. GG: So könnte es sogar so sein, daß sich irgend etwas im 19. Jahrhundert, was damals nicht als Paradigma anerkannt wurde, sich erst erheblich später als solches herausstellt. HRJ: Das könnte sein, wie in der Lear-Rezeption u.a. das Beispiel Hegels zeigt. GG: Aber was dann, wenn ich kein Verständnis mehr für grundlegende Voraussetzungen eines ferngerückten Musikstückes besitze? Die heute nicht mehr geläufigen Modi bzw. "Kirchentöne" in der Musik des Mittelalters und der Renaissance oder das noch wohl vertrautere Prinzip, durch harmonische Kadenzen Verläufe zu gliedern, wären solche Voraussetzungen. Ist jemand gegenüber solchen Elementen musikalischer Sprachhaftigkeit ahnungslos, hört er über Wesentliches hinweg. Muß man hier nicht in radikaler Weise von einem Mißverstehen reden? H RJ: Das schon. Aber es gibt auch Mißverständnisse, die die Chance ihrer Aufhellung enthalten. Wir haben in unserer verfeinerten westlichen Henneneutik ein großartiges Instrumentarium, um auch Fremdartiges zu beschreiben, das man mit der inhärenten Theorie dieser fremden Kultur möglicherweise gar nicht erfassen könnte. WG: Wiederum würde ich, um derartige Überlegungen nicht mir immer wieder begegnenden Mißdeutungen auszusetzen, dabei betonen, daß gerade auch bei weniger vertrauten Kulturen das Besser-
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Verstehen vorrangig im Anders-Verstehen zustande kommt, also nicht eine Position der Überlegenheit behauptet werden sollte. SM: Ich hätte abschließend noch zwei Fragen. Die eine betrifft Ihre Gadamer-Kritik, die sich auf den Horizontverschmelzungsbegriff und die Kategorie der Ursprungsüberlegenheit des Klassischen bezieht. Meine Frage: Es gibt ja innerhalb der Rezeptionsgeschichte Rezeptionslücken. Ein Werk verschwindet in der Rezeptionsgeschichte und taucht wieder auf. Der Normalfall wird sein, daß ein ästhetisches Umfeld da ist, das zu neuen Konkretisationen einlädt und das Werk wieder ins Zentrum rücken läßt. Aber ist es nicht denkbar, daß ein Werk solche Rezeptionslücken überspringt und, obwohl die Zeit nicht reif für dieses ist, aufgrund der Ursprungsüberlegenheit die neuerliche Rezeption geradezu erzwingt? H RJ: Es sei denn, Sie bringen mir ein schlagendes Beispiel nach: in literarischer Tradition scheint ein solcher Fall nicht denkbar zu sein. Da sich Tradition nicht von selbst tradieren kann (mit dieser Prämisse beginnt Literaturgeschichte als Provokation), vermag sie auch keine Rezeption zu erzwingen. Aus einem schlichten Grund, der mir erst später voll bewußt wurde: weil ästhetisches Verstehen durch Freiwilligkeit ausgezeichnet ist. Man kann jemanden zwingen, vor einem Kultbild zu knien, nicht aber, es zu bewundern. Das gilt für jeden ästhetischen Gegenstand. Verordnete Bewunderung, also auch verordnete Verehrung des Klassischen, ist ein Widerspruch in sich selbst. Die Nachahmung der Antike war immer schon, selbst auf ihrem Höhepunkt, der Renaissance, aemulatio in der imitatio - der insgeheime Versuch, sich der "anxiety of influence" (Harold Bloom) durch produktive Rezeption zu entziehen. SM: Könnte es in Ihrem Sinne sein, wenn man die Kategorie der Ursprungs überlegenheit beibehalten wollte? Beispielsweise wäre die Offenheit, Komplexität, Vielfalt auf Konkretisationsmöglichkeiten hin ein mögliches Kriterium dieser Ursprungs überlegenheit. Kann man das so sehen? HRJ: Gadamers Kategorie der Ursprungs überlegenheit ist eine spätere Umschreibung (im Nachwon zu Wahrheit und Methode von 1973) seiner früheren Bestimmung von Tradition als "Überlieferungsgeschehen ", der er selbst anderweitig mit seiner aktiven Bestimmung des Verstehens widersprach. Wenn Sie den "eminenten Text" durch Offenheit, Komplexität, Vielfalt auf Konkretisationsmöglichkeiten kennzeichnen woUen, haben Sie den Substantialismus seines Klassikbegriffs ("Das Klassische ist etwas, was sich selbst bedeutet") schon verabschiedet. Auch wird das Klassische seit Winckelmann nicht zufällig durch seine unerreichbare, selbstgenügsame
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Schlichtheit beschrieben ("Edle Einfalt und stille Größe") - eine verlorene Ganzheit, wohlverstanden, die schon die moderne Erfahrung der Entzweiung von Mensch und Natur voraussetzt (die sentimentalische Einstellung, die in der Kunst der Griechen das Urbild des Naiven sucht). Ich glaube darum, mich auf Gadamer gegen Gadamer berufen zu können, wenn ich nicht von Tradition als Honzontverschmelzung ausging, sondern von seiner aktiven Bestimmung des Verstehens, und ästhetische Erfahrung in ihrem Vermögen der H onzontvermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Sphären der Lebenswelt, wie in der Kommunikation zwischen Ich und Du, zu erfassen suchte. Tradition erscheint dann nicht länger als allmähliche Offenbarung des in ursprünglicher Vollkommenheit vorgegebenen Sinns eminenter Texte, sondern - wie Hans Blumenberg in Arbeit am Mythos so eindrucksvoll vor Augen stellte - als ein Prozeß, in dem erst die fortschreitende, doch unabschließbare Arbeit der Aneignung den Spielraum möglicher Erfahrung ausschreitet und einen Reichtum an Sinn hervorbringt, der die vermeintliche Fülle des Ursprungs bei weitem übertrifft und dem eminenten Text seine Autorität erst aus seiner wachsenden Anerkennung zukommen läßt. SM: Meine zweite Frage: Beim letzten Ihrer Texte, den ich kenne, fiel mir auf, daß Sie jetzt beginnen, Zusammenhänge zu akzentuieren zwischen dem Paradigmen wechsel, der durch die Rezeptionsästhetik herbeigeführt wurde, und durch den Paradigmen wechsel Moderne versus Postmoderne. Das scheint mir sehr einleuchtend. Wenn man die Geschichten der Konkretisationen im Rezeptionsprozeß und deren Vielfalt betrachtet - das wären doch analoge Vorgänge zu Phänomenen, die beispielsweise Jencks mit dem Begriff der Mehrfachcodierung benennt ... H R}: ... eine ausgesprochene Analogie. Das würde ich auch so sehen.
16. Die Paradigmatik der Geisteswissenschaften im Dialog der Disziplinen Stellt man die Geisteswissenschaften vor die Frage, welcher Anspruch ihre wissenschaftliche Tätigkeit begründet, näherhin: welche Fragestellungen sie leiten, welche Zugänge sie der Erkenntnis eröffnet, welche Methoden sie ausgebildet und der Forschung verfügbar gemacht haben - kurzum: warum behauptet werden kann, daß sie für das Ziel einer wissenschaftlich reflektierten Kultur nach wie vor unentbehrlich sind, so lassen sich gute Gründe für die folgende These geltend machen. Den Geisteswissenschaften ist - wie ihre Vorgeschichte eindrücklich bezeugt - im Prozeß der Bildung wissenschaftlicher Disziplinen eigentümlich, in ihrer Sache selbst grenzüberschreitend, aber auch wieder integrativ und nicht zuletzt dialogisch zu sein. Aus diesen drei Funktionen ging nicht allein die wissenschaftsgeschichtliche Leistung der vorangegangenen Tradition der H umaniora sowie der ehemaligen Artistenfakultät (des sogenannten Triviums) hervor. In der Erneuerung dieser Funktionen liegt auch - so die These dieses methodengeschichtlichen Kapitels - die Chance einer Neubestimmung der Geisteswissenschaften in ihrer gegenwärtigen Gestalt, die aus der Humboldtschen Reform hervorging, als Institution vom gesellschaftlichen Prozeß der Modernisierung und Demokratisierung überrollt wurde und heute mehr denn je in Frage gestellt ist. Die Geisteswissenschaften sind von Haus aus grenzüberschreitend. Das zeigt vorab ihr Ursprung in der Geschichte der abendländischen Philosophie. Sofern sie die offene Frage höhersteIlte als die gesicherte Antwort, hat die Philosophie seit den Griechen die Grenzen des Erkannten ständig erweitert. Sie hat dabei, indem sie die von ihr eröffneten Felder des Wißbaren der Ausarbeitung durch die Gelehrten überließ, die Bildung von Fachwissenschaften initiiert: Psychologie, Politologie, Soziologie, Ethnologie zum Beispiel waren schon lange durch die Philosophie als Disziplinen konzipiert, bevor sie im 19. Jahrhundert den Status autonomer Fächer erlangten. t Gleicher1 L. Geldsetzer: .. Die Geisteswissenschaften. Begriff und Entwicklung-, in: H. Rombach (Hg.): WISS~nsCh4ftsth~oJÜ I, Frciburg 1974, S. 144.
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maßen grenzüberschreitend waren hernach die Geschichts-, die Sprach-, die Literaturwissenschaft und die Ästhetik. Daran zu erinnern ist heute um so mehr angezeigt, als die Zukunft der Geisteswissenschaften vornehmlich in ihrer Reduktion auf Bewahrung von Tradition und Kompensation von Modemisierungsschäden gesehen wird. Die Geisteswissenschaften sind von Haus aus grenzüberschreitend und integrativ zugleich. Sie haben dem älteren europäischen Wissenschaftssystem die Grundlage aller Studien im Trivium, dem Verbund von Logik, Grammatik und Rhetorik, die Ausbildung des richtigen Denkens, Schreibens, Lesens und Sprechens vermittelt. Und sie haben, nachdem mit der Humboldtschen Reform die unterste der vier alten Fakultäten, die sogenannte Artistenfakultät über Theologie, Jurisprudenz und Medizin zur obersten, der neuen philosophischen Fakultät avancierte, die Erkenntnis der Wahrheit um ihrer selbst willen über das praktische Interesse der Ausbildung gestellt. Die Auszeichnung der Philosophie im "Streit der Fakultäten" sollte nach einer kühnen Formulierung Kants nichts Geringeres besagen, als daß die Philosophie alles "der Gesetzgebung der Regierung" entzieht und der Gesetzgebung der Vernunft unterwirft. 2 Von dieser Intention ist in der Folge der Humboldtschen Reform zunächst das integrative Prinzip geblieben, doch mehr und mehr preisgegeben worden, daß sie den Eigensinn der Disziplinen mit der Forderung konfrontierte, alles bloße Fachwissen im übergreifenden Horizont des "objektiven Geistes" zu verorten, wobei Philosophie, Geschichte, Gesellschaft, Sprache und Kultur nacheinander die Synthese von Leitwissenschaften zu leisten hatten. Die Geisteswissenschaften sind von Haus aus dialogisch. Die Hermeneutik als ihr gemeinsames methodisches Prinzip hat als Kunstlehre vom Verstehen, Auslegen und Anwenden zunächst der Vermittlung und Bewahrung des Sinns kanonischer Texte gedient. Sie hat aber auch schon als dogmatische Hermeneutik bei der Vermittlung zwischen Tradition und Applikation den Dialog zwischen Text und Interpret, Vergangenheit und Gegenwart, ermöglicht. Die moderne Hermeneutik, nicht zufällig während der Zeit der konfessionellen Bürgerkriege entstanden, als dem theologischen Anspruch auf alleinrichtige Deutung das philologisch-historische Prinzip mehrfacher Auslegbarkeit entgegengesetzt wurde), hat mit Schleiermacher den 2 G. Brand: .. Rolle und Funktion der Philosophie-, in: H. Lübbc (Hrsg.): WoZN Philosophie?, BerlinlNew York 1978, S. 31. 3 O. Marqua.rd: .Frage nach der Frage. auf die Henneneutik eine Antwort ist-, in: PH
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Schritt vom Text zur Rede vollzogen und sich damit als dialogische und zugleich universale Hermeneutik von den dogmatischen Vorgaben der Bibel- wie der Gesetzesexegese emanzipiert. Die Geisteswissenschaften sind danach dialogisch, sofern sie das Selbstverständnis des Interpretierenden einbeziehen, das erst in der Konfrontation mit dem Fremden, als ein Sich-Verstehen im Andern, aufgeklärt werden kann. 4 Das gilt gleichennaßen für das Verstehen der Rede von Gesprächspartnern wie für das Verständnis von Tradition und Kultur. Auch die eigene - und heute zumal die eurozentrische - Kultur wird nicht einfach in der Wahrung ihrer Identität, sondern erst eigentlich im Dialog mit anderen Kulturen zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion: ,.Die zentrale Bedeutung, die die Geisteswissenschaften für die Modeme haben, besteht dann nicht darin, daß sie die Modeme kompensieren, sondern daß sie sie vollziehen: modeme Kultur ist wissenschaftlich reflektierte Kultur. ·S Die These, daß die gegenwärtig gebotene Neubestimmung der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften von einer Erneuerung ihrer t. integrativen, 2. dialogischen und 3. grenzüberschreitenden Paradigmatik ausgehen könne, soll nun in drei Perspektiven erläutert werden.
I. Die integrative Paradigmatik der Geisteswissenschaften Der unaufhörlich wachsende Berg an Wissen, an Perspektiven, denen man folgen, an Regeln, die man anwenden soll, vermehn die Schwierigkeiten aller Wissenschaften und Künste; auf der anderen Seite aber entstehen zugleich neue Fähigkeiten, die erlauben, solche Schwierigkeiten wieder aufzuwiegen. (... ) Die Mathematik und Physik zum Beispiel sind Wissenschaften, deren Joch mehr und mehr auf den Gelehnen lastet, so daß man sich schließlich fragen möchte, ob man nicht resignieren soll. Aber die Methoden vermehren sich im selben Gang der Zeit. Derselbe Geist, der unsere Erkenntnis von den Dingen vervollkommnet, indem er ihnen neue Ansichten hinzufügt, vervollkommnet auch die Weise, ihre wachsende Summe durch abkürzende Verfahren besser zu begreifen. Der Geist moderner Forschung vermag beides: den Umkreis der Erkenntnis immer weiter auszudehnen und zugleich neue Minel zu schaffen, die drohende Unüberschaubarkeit wieder zu bewältigen (Fontenelle 1688).' • G. Buck: Hnm~n~IItilt llrul BilJllng, München 1981. 5 E. Tugmdhat: .Die GeistesWissenschaften als Aufklärungswissmschaftm-, in: Philos. A,,/siitzt, Frft. 1992, S.•55. 6 DigrtJSion sIIr /es AncimJ ~, /es MoJnn~s, in: W. Krauss: Fontm~lk lind die AIIJ1eliirllng, München 1969, S. 1S5.
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Die Frage, ob die Wissenschaft unüberschaubar werde, ist nicht erst in unserer Zeit dringlich geworden. Der zitierte Kritiker, der den nervus rerum des Problems so scharfsinnig erfaßte, hat sie schon vor dreihundert Jahren gestellt. Es war der Philosoph und Dichter Fontenelle, ein Wegbereiter der Aufklärung. Seine Antwort bleibt denkwürdig, weil sie den Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis auf eine Weise begreift, die in der Wissenschaftsgeschichte bisher zu wenig beachtet wurde: das Fortschreiten der freigesetzten Erkenntnis hat bei der immensen Anhäufung des Wißbaren immer auch wieder Methoden seiner Vereinfachung und Bewältigung, der Umbewertung des alten Wissens im Lichte neuer Fragestellungen, gezeitigt. Dem Wissenschaftsprozeß der Neuzeit ist zwar keine einheitstiftende letzte Idee, wohl aber die totalisierende Kraft einer immanenten Ökonomie von Differenzierung und Reintegration eigen, der die Erwartung genügt, "die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten"'. Demgegenüber ist die Forderung, die verlorene Einheit aller Wissenschaft wieder herzustellen, nostalgisch - ein neuer Mythos vom, Verlust der Mitte', oder näherhin : der kosmozentrischen Unschuld. Denn sie verkennt, daß die anthropozentrische Einheit der alteuropäischen Metaphysik in der nachkopernikanischen Welt der Preis gewesen ist, der für die Emanzipation der Wissenschaften in der Moderne entrichtet werden mußte. Kein spekulativer Zugriff aufs Ganze, auch nicht das Vertrauen auf die Einheit der wissenschaftlichen Rationalität oder das logische Modell einer Einheitswissenschaft vermochte sie nach den letzten Synthesen der idealistischen und der materialistischen Philosophie wieder herzustellen. 8 Gleichwohl hat die Philosophie an der Humboldt-Universität die integrative Funktion der ersten Schlüsselwissenschaft wahrgenommen, enzyklopädisch und normgebend zugleich die Einheit aller Disziplinen, der Gebiete der Geschichte wie der der Natur, zu verbürgen. Die Philosophie hatte nicht allein propädeutisch "die Grundlage von allem, was dort getrieben wird", zu vermitteln9 ; ihr kam es auch zu, das theoretische Niveau wissenschaftlicher Leistung zu bestimmen. Sie verkörperte die "eigentliche Universität", wohin-
7 W. von Humboldt: .Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin-. in: Gesammelte Schriften X. Berlin 1903, S. 256. 8 J. Habermas: .. Die Idee der Universität - Lernprozesse-, in: Eine Art Schatknsabwicklung - Kleine politische Schriften, Frankfun 1987, S. 88. 9 F. Schleiermacher (1808). in: W. Weischedel (Hg.): Idee und Wirklichkeit zur Geschichte der Fr. W. Universität zu Berlin. Berlin 1960, S. 125.
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gegen die Jurisprudenz, Medizin und Theologie nurmehr "Spezialschulen" für eine unentbehrliche Praxis sein sollten. 10 Daß "der allgemeine Begriff ihrer Kunst der Ausübung dieser Kunst vorhergehen", der Rechtsbegriff zum Beispiel "schon vorher durch Philosophieren gefunden sein müßte"", begründe den Vorrang der Philosophie vor den drei alten Fakultäten. Schleiermachers Denkschrift wollte darum denn auch den Doktortitel nur in oder in Verbindung mit Philosophie vergeben lassen. 12 Von dieser Spitzenstellung ist die Philosophie Schritt für Schritt bis zu ihrer derzeitigen Gestalt als eine unter anderen Fachwissenschaften herabgestiegen. Die integrative Funktion der Schlüsselwissenschaft hat schon bald im 19. Jahrhundert die Geschichte, danach die Psychologie, später die Soziologie, schließlich die Linguistik für sich beansprucht. Ob diese Rolle heute wieder von einer einzigen Disziplin beansprucht werden kann, ist noch nicht entschieden. Der Sieg des Historismus zeigte sich um 1850 im Entstehen neuer Disziplinen wie der Rechts-, Kunst-, Religions- und Philosophiegeschichte an. Die Psychologie trat, nachdem sich in den 60er Jahren die naturwissenschaftliche Fakultät von der philosophischen abgespalten hatte, als "geistige Naturwissenschaft" und damit als Basiswissenschaft zwischen Geist und Natur auf den Plan, bevor sie zur reinen Verhaltenswissenschaft geriet. n Die Soziologie, in ihrer französischen Tradition als eine Naturwissenschaft des sozialen Lebens begründet, führte philosophische, historische, ökonomische und juristische Zugänge zusammen. In der Hoffnung auf ihre integrative Funktion wollte earl H. Becker, 1925 bis 1930 preußischer Kultusminister, soziologische Lehrstühle einrichten, um das synthetische Denken der Studenten zu wecken. 14 Beim Paradigmenwechsel der 60er Jahre, der Abkehr des Strukturalismus von der historisch-philologischen Methode, wurde die von Saussure initiierte synchronische Sprachwissenschaft zur Schlüsselwissenschaft der beteiligten, durchaus verschiedenen Disziplinen. Und selbst noch im Wildwuchs des gegenwärtigen Methodensynkretismus zeichnet sich ab, daß das Ungenügen am Anspruch der Informatik, die Basiswissenschaft der Zukunft zu sein, bisherige Außenseiterdisziplinen wie Psychoanalyse, Kultursemiotik, historische Anthropologie und Kommunika10 11 12 13 14
Schleiermacher (1808). wie Anm. 9. S. 125. Fichte (1807). wie Anm. 9. S. 50/60. Schleiermacher (1808), wie Anm. 9. S. 175. H. Schnädelbach: Philosophie in D~IItschlanJ 1831-1933, Frankfun 1983, S. 96f. W. Lepenies: Dw Jr~i Kllüllren. MünchenlWien 1985. S. 301.
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tionstheorie auf den Plan ruft, um die Kluft zwischen Natur und Geschichte, zwischen formalisierend beschreibenden und interpretierend verstehenden Methoden zu überbrücken. Blickt man auf die Methodengeschichte im engeren Sinne, so zeigt die Entfaltung der Geisteswissenschaften seit der Aufklärung einen Prozeß, der sich in der Tat mit Fontenelles Ökonomie des fortschreitenden Wissens - dem Pendelschlag zwischen Differenzierung und Reintegration - am besten beschreiben läßt. Die vergleichbare modeme, heute so erfolgreiche Theorie wissenschaftlicher Revolutionen von Thomas S. Kuhn (1967), die den Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis aus diskontinuierlichen Paradigmenwechseln erklärt, ist zu einseitig an den Naturwissenschaften orientiert, um sehen zu können, wie sich die Durchsetzung des Neuen in den Geisteswissenschaften stets auch auf die Wiederaneignung des Alten erstreckt. Hier pflegt ein Paradigmen wechsel die bislang herrschende Methodik mit ihren erbrachten Befunden nicht einfach radikal zu entwerten und in das Museum des antiquierten Wissens abzuschieben. Hier vermag ein neues Paradigma das ausgeschöpfte alte in seinen Resultaten anders zu nutzen, das ausgeuferte analytische Wissen mit der Kraft vereinfachender Synthesen neu zu organisieren und durch bisher nicht gestellte Fragen dem gegenwärtigen Interesse dienstbar zu machen. Das gilt vorab für drei Wissenszweige, die ein neues Frageinteresse der Aufklärung zum Gegenstand der Forschung erhob und damit die modemen Disziplinen der Geschichtsphilosophie, der historischen Anthropologie und der Ästhetik schuf. \S Die Historie als Ansammlung des Wissens vom Vergangenen und als Repertoire von Beispielen galt seit alters als nicht wissenschaftsfähig. Sie wurde es erst, nachdem Voltaire die Vielzahl der faktischen Historien, Herrscher-, Staaten- und Kriegsgeschichten in die eine Philosophie der Geschichte integrierte, mit dem Argument: nicht schon die politischen Aktionen, erst die Öffnung des Blicks auf den Wandel der Sitten und auf die Errungenschaften der Künste lasse die Größe wie das Elend der Geschichte der Menschheit ennessen und gebe der Anhäufung von Fakten einen Sinn, der nicht nur das Gedächtnis, sondern auch Denken und Geschmack beschäftige. 16 Zur gleichen Zeit wurde die SchweUe von der alten Naturgeschichte zu einer modemen Geschichte der Natur überschritten: aus der vergleichenden Ethnologie ging eine historische Anthropologie hervor, die aus den BerichIS O. Marquard: Absch~d tIOm PrinziiMlJm. Stungan 1981. S. 39ft. 16 Verf.: Litrr.tllrgrschichtr.ls Provolution, Frankfun 1970, S. 212.
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ten über die Sitten der Wilden der Neuen Welt und der parallel gesehenen Überlieferung von der griechischen und israelischen Frühzeit die Urgeschichte der Menschheit zu rekonstruieren suchte - eine Geschichte der menschlichen Natur, die den humanistischen Kanon griechischer Vollkommenheit gleichermaßen preisgab wie den Vorzugscharakter des auserwählten Volkes Israel. Der Singularisierung der Historien zur einen Geschichte folgte die Singularisierung der Künste zur einen, für autonom erklärten Kunst, eingeleitet durch Baumganen, der die Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis begründete, und weitergeführt durch Winckelmanns "Geschichte der Kunst des Altertums", das Paradigma einer Geschichte, die das Wesen der Kunst und den Begriff des Schönen in ihrer historischen Entfaltung vollständig zur Anschauung bringen sollte. Die integrative Funktion der Geisteswissenschaften wird durch diesen Paradigmen wechsel auf dem Höhepunkt der europäischen Aufklärung zur vollen Evidenz gebracht. Will man in der Entstehung der drei Disziplinen bereits die Gebunsstunde der modernen Geisteswissenschaften sehen, so wären hier Geschichte und Natur des Menschen noch in einer Paradigmatik vereint, während beim nächsten großen Paradigmenwechsel, dem des deutschen Idealismus, auf den die modeme Konzeption der Geisteswissenschaften gemeinhin zurückgeführt wird, die geschichtliche Welt von der Natur (als dem "Anderen des Geistes") sich zu scheiden beginnt. Die drei modemen Disziplinen: Geschichte, Anthropologie und Ästhetik bilden schon im früheren Werk Vicos den für seine "Scienza Nuova" (,Neue Wissenschaft') konstitutiven Verbund. Obschon diese im 18. Jahrhundert so gut wie unbekannt blieb, hat sie doch das moderne Fundament der Geisteswissenschaften antizipiert. Denn hier zuerst wird der geschichtliche Prozeß in seiner Gesamtheit als Arbeit des menschlichen Geistes in den Blick genommen, um die These zu begründen, "daß der Mensch mit der Kulturwelt zugleich seine eigene geschichtliche Natur selbst hervorbringt"·'. Das Eigenrecht der Geisteswissenschaften, ihr Erkenntnisziel, das Geschichte und Natur des Menschen umgreift, ist wohl nicht wieder so umfassend und stringent begründet worden. Daran zu erinnern, erscheint gerade heute geboten, wenn die Hoffnung zu Recht besteht, daß der Zersplitterung und Isolierung der geisteswissenschaftlichen Forschung am ehesten und sinnvollsten durch eine Anthropologisierung des Wissens zu begegnen wäre. 17 F. FeUmann: DM VICO-A.xiom: Dt1' Mnasch rrwcht d~ Gtschichtt. FreiburglM ünchm 1976, S. IS.
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Fragt man nach den Methoden, die von den Geisteswissenschaften seit ihrer Etablierung als wissenschaftliche Disziplinen entwikkelt wurden, so ist vom historisch-philologischen Paradigma auszugehen. Der historische Zugang zu Zeugnissen der Vergangenheit, den Sprache und Schrift eröffnen, wobei der Zeitenabstand zu einer älteren Sprachstufe durch grammatische Interpretation überbrückt werden kann, ist allen Textwissenschaften gemeinsam. Die historisch-philologische Methode ist ein unersetzbares Instrument des Verstehens geblieben, auch wenn später andere, deskriptive Paradigmen (wie das formalistische, das strukturalistische oder das sprachkritische) einen systematischen Zugang bevorzugten. Die Geisteswissenschaften haben sich unter dem Primat des Historismus als Disziplinen konstituiert - im Gegenzug zum normativen Denken der humanistischen Gelehrsamkeit wie zum taxonomischen Rationalismus der französischen Enzyklopädie und zu den spekulativen Systemen des deutschen Idealismus. Die wissenschaftliche Revolution des Historismus hat die kanonischen Texte allesamt entkanonisiert und einer universalen Hermeneutik unterworfen, derzufolge alle geschichtlichen Epochen als gleichberechtigt ("gleich unmittelbar zu Gott", nach Rankes berühmtem Ausspruch) anzusehen waren. Nicht mehr die Autorität der klassischen Antike und ihrer Werke, das zeitlose Vorbild der humanistischen Bildung, sondern die historische Kultur der Griechen und Römer war Gegenstand der sich etablierenden (sich selbst so benennenden) Altertumswissenschah. In den Geisteswissenschaften gibt es indes den in den Naturwissenschaften kaum denkbaren Fall, daß ein historisch zu Ende gegangenes Paradigma wieder erneuert werden kann. So das normative Paradigma des Klassizismus in der Traditions- und Toposforschung, auf die sich die Philologie während der Hitlerzeit und ihrer völkischen Exzesse zurückzog. Es wurde von Ernst Robert Curtius (in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1948) wieder zum Leben erweckt, um die Dauer und Unverlierbarkeit der antiken Kultursubstanz zu erweisen, was nun aber nur um den Preis eines Rückgangs auf vermeintlich zeitlose Archetypen zu erkaufen war. Desgleichen hat nicht die rationalistische Sprachtheorie der Aufklärung oder ihr Konzept einer Allgemeinen Grammatik die Sprachwissenschaft als eine wissenschaftliche Disziplin begründet, sondern die historische Frage nach dem Ursprung der Sprachfamilien, der Verschiedenheit des Sprachbaus und der geschichtlichen Entwicklung der Volkssprachen. Das neue Frageinteresse entsprach der Faszination des Unbekannten, Anfänglichen, mit der sich die Romantik
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der Überfrachtung durch organisiertes Wissen zu erwehren suchte l8 ; es blockierte eine systematische Begründung der Sprachwissenschaft, die auf die synchronische Sprachtheorie Saussures (1907) warten mußte. Das hier zutage tretende Spannungsverhältnis zwischen historischem und systematischem Zugang kennzeichnet die Paradigmatik der Geisteswissenschaften insgesamt. So auch im Fall der Philologie. Die neueren Philologien folgten dem Muster der klassischen Altertumswissenschaft so sehr, daß sie sich ganz auf die ältere Literatur zentrierten und die gegenwärtige aus dem wissenschaftlichen Kanon ausschlossen. Gerade die Altphilologie hatte die historischphilologische Methode indes - die enzyklopädische Tradition der Aufklärung wieder aufgreifend - in den Rahmen einer Kulturwissenschaft zu stellen versucht, die August Boeckh bereits in einer Semiotik avant la lettre oder "Kunst, alle Arten von Zeichen zu erklären" , fundieren wollte. 19 Die Begründer der Altphilologie sahen ihr wissenschaftstheoretisches Kernstück in der funktionalen Zuordnung der Hermeneutik zur Grammatik und Kritik, einer Systematik, bei der die herm~neutisch reflektierte Interpretation zwischen Sprachanalyse und Textkritik zu vermitteln hatte. Dieser systematische Ansatz der alten Enzyklopädien der Philologie verdiente es, in die gegenwärtigen Überlegungen zur Reform der philologischen Studien einbezogen zu werden. Ist er doch in dem Maße, wie die neueren Philologien ihrem "nationalistischen Geburtstrauma "20 erlagen, so völlig verloren gegangen, daß sie bei ihren immer breiter anwachsenden Darstellungen der Nationalliteraturen den Anschluß an die hermeneutische Reflexion, Theorie und Kritik ihres Tuns versäumten. Das historische Verstehen hat im 19. Jahrhundert seine integrative Kraft in dem Maße eingebüßt, wie die universelle Idee der aufgeklärten Geschichtsphilosophie in die Vielheit der Geschichten nationaler Identitäten zerfiel und wie die Historische Schule, die sich im Gegenzug zu der als spekulativ verschrieenen Geschichtsphilosophie etablierte, die ästhetische Form der Vergegenwärtigung des Vergangenen dem Exaktheitsideal des Positivismus zum Opfer brachte. Das positivistische Paradigma, auf naive Weise der empirischen Naturwis18 w.j. Ong: .Crisis and Undersunding in the Humanities· t in: JOHmal o/tht Ammcan Acatiemy 0/ Arts 4nti Sciences 98 (1969). S. 630. 19 K. Stierle: .Altenumswissenschaftliche Hermeneutik und die Entstehung der Neuphilologie-. in: H. Flashar (Hrsg.): Philologü Hnd Herm~n~Htilr im 19. JahrhHndm t Göningen 1979. S. 267. 20 H. U. Gumbrecht. in: Haubrichs/Sander (Hrsg.): WasstTIscha/tsgeschichte d~ PhiJologün. Göttingen 1984. S. 72.
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senschaft nachgebaut, war keine eigenständige geisteswissenschaftliche Methode, sondern die Reduktion des Historismus auf die Kausalitäten einer probaten Normalwissenschaft. Der Positivismus hat mit seiner Faktengläubigkeit und Theorieblindheit, mit einer florierenden, weil faktisch verifizierbaren Quellen- und Einflußforschung, die den Kunstcharakter wie die gesellschaftliche Funktion und Wirkung der Werke ignorierte und den Faden zwischen vergangener und gegenwärtiger (noch nicht wissenschaftsfähiger) Kultur durchschnitt, bis in die Gegenwart das negative Urteil über die methodische Naivität der Geisteswissenschaften bestimmt. Die Abkehr vom Positivismus, in der Philosophie durch Husserl, Bergson und Croce vollzogen, bahnte sich in der Sprachwissenschaft fast unbemerkt mit Saussures Begründung einer synchronischen Sprachwissenschaft an, die mit dem Vorrang des (schon weithin ausgeschöpften) Paradigmas der historischen Grammatik brach. Zugleich wurden die herkömmlichen Literatur- und Kunstgeschichten durch Paradigmen eines werk- und stilbezogenen formal-ästhetischen Zugangs in Frage gestellt. Dazu gehörten die von Karl Vossler und Leo Spitzer eröffnete Stilistik, die von Konrad Fiedler ausgebaute Theorie der Kunst als reiner Sichtbarkeit und die von der Russischen Schule der Formalisten entwickelte Theorie von der Kunst als Verfahren. Die formal-ästhetische Methode, mit der die bislang fast ausschließlich historisch orientierten Kunstwissenschaften die Herausforderung der ästhetischen Avantgarden aufnahmen, hat nicht allein die Ästhetik aus ihrer Absonderung als Gebiet der Philosophie in die Auslegungspraxis zurückgeholt. Sie hat damit auch ein unschätzbares Arbeitsinstrument geschaffen, das erlaubte, die ästhetische Wahrnehmung und Wirkung von Werken der Künste wie von symbolischen Formen, von übergreifenden Formationen des Individual-, Gattungs- und Epochenstils methodisch zu erfassen. Sie hat auf diese Weise den Anstoß gegeben, die konventionellen (und überdies ideologisch gefährdeten) Nationalgeschichten der Künste in systematisch begründete Kunstwissenschaften zu überführen. Langsame Durchsetzungsprozesse sind in den Geisteswissenschaften nicht selten. Das gilt für die um dieselbe Zeit von Karl Lamprecht programmierte Kulturgeschichte, eine Aufkündigung des Primats der politischen und Ereignisgeschichte, mit der die ,Krise des Historismus' einsetzte, die aber erst akademische Anerkennung fand, als die in den 60er Jahren sich formierende Sozialgeschichte und die Mentalitätsgeschichte sich auf diesen, Vorläufer' beriefen. Das gilt gleichermaßen für die synchronische Sprachtheorie Saussures, deren Rezeption seit den 20er Jahren blockiert war und deren große Stunde erst nach
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1945 schlug. Es war der sogenannte ,linguistic turn', mit dem nicht allein der Vorrang der historischen Sprachwissenschaft gebrochen, sondern auch ein geisteswissenschaftliches Paradigma weit über die linguistischen Fachgrenzen hinaus von allen anthropologischen Disziplinen übernommen wurde. Das Modell Saussures war der Kern des strukturalistischen Paradigmas, das in den 60er Jahren von der Ethnologie über die Geschichte bis zu den Textwissenschaften das Feld der Forschung beherrschte. Den strukturalistischen Zugang charakterisiert der Vorrang des Synchronischen über das Diachronische, des Systems über das Ereignis, des Beziehungsgeflechts über das Subjekt, der Ordnung der Sprache (Langue) über die singuläre Rede (Parole). Das Prinzip der strukturalistischen Methode: ,Vom Einzelnen gibt es keine Wissenschaft' (de singularibus non est scientia), hat die Beschreibungsverfahren rigoros klassifiziert und heuristisch - im Auffinden von Analogien, Differenzen und Operationen des Denkens - bereichert. Es schien die Erkenntnis von der Überlast des historischen Wissens zu befreien, ist aber, nachdem es in die Geschichtswissenschaft Eingang fand, dort bald in einer neuen Symbiose von Struktur und Ereignis, Sozial- und Begriffsgeschichte aufgegangen21 - der schon 1928 von Jakobson und Tynjanov vorweggenommenen Erkenntnis, "daß jedes System notwendigerweise als Evolution auftritt und andererseits die Evolution zwangsläufig Systemcharakter trägt" . 22 Der linguistischen folgte 1969 die semiotische Wende. Als allgemeine Wissenschaft von den Zeichensystemen gleichfalls von Saussure konzipiert, hat das semiotische Paradigma die Ebene sprachlicher Manifestation überschritten, die Kluft zwischen Text als sprachimmanenter Welt und Welt als lesbarem Text überbrückt und einen Umbau der historischen Geisteswissenschaften in systematische Kulturwissenschaften eingeleitet. 2) Das semiotische Verfahren war weit über die Geisteswissenschaften hinaus erfolgreich: das Ausgreifen auf nicht-verbale Zeichensysteme ermöglichte, Probleme der psychologischen wie der biologischen Verhaltensforschung und der medizinischen Diagnose methodisch zu erfassen. Es erbrachte mathematische und kognitive Einsichten in die Syntax von Zeichensprachen und fundierte das Verhältnis von Code und Information in der Nachrichtentechnik. Der semiotische Zugang hat sich ferner auf einem Feld bewährt, das bis zur Stunde eine Verlegenheit der philologischen Disziplinen geblieben ist: den modernen Massenmedien. 21 R. Koselleck: Einleitung zu Geschichtliche Grllndbegnffe. Stungart 1972. 22 Verf. (wie Anm. 16), S. 170. 23 K. Stierle (wie Anm. 19), S. 218.
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Sie hat der physikalisch gefaßten Kategorie der Information (der einseitigen Relation von Sender und Empfänger, Signal und Steuerung) die intersubjektive Kategorie der Kommunikation (der wechselseitigen Relationen der Produktion und Rezeption, der Distribution und Interpretation von Zeichen) gegenübergestellt und damit die Schwelle zwischen der subjektlosen "Welt des Signals" und der intersubjektiven "Welt des Sinns" vor den Blick gebrachr\ die seither die Grundunterscheidung der sich formierenden Kommunikationswissenschaft ist. Das semiotische Paradigma, das sich heute mehr und mehr wieder der Hermeneutik zuwendet, die es ursprünglich negierte, dürfte damit auch in der Lage sein, die vehemente Kritik an den ,affirmativen und konservativen Geisteswissenschaften' wieder aufzunehmen und zu disziplinieren, die von der materialistischen Ideologiekritik, der immer weiter verbreiteten Psychoanalyse und unlängst dem sogenannten Dekonstruktivismus entwickelt wurde. Diese Richtungen, die zeitweilig in den Ruf von Heilsbringerwissenschaften gelangten, bestreiten allesamt die herkömmliche Prämisse des historischen wie des biographischen und des ästhetischen Sinnverstehens : die Identifizierbarkeit der Korrelationen von Sinn und Zeichen, Textbedeutung und Textreferenz. Sie stellen die Transparenz der Konstitution und Kommunikation von Sinn selbst in Frage: die Ideologiekritik durch die Reduktion aller geistigen Manifestationen auf Determinanten der materiellen Kultur und sich verstellende Herrschaftsinteressen, die Psychoanalyse durch das Ausspielen von Elementarprozessen des Unbewußten gegen die Selbstrepräsentation des bewußten Lebens, der Dekonstruktivismus durch eine radikale Kritik am subjektorientierten Primat der Vernunft (Logozentrismus), die unermüdlich das Trugbild der Zeichen und der Zeichenprozesse zu entlarven sucht. Sofern sich die Semiotik als eine hermeneutisch reflektierte, allgemeine Theorie der Kommunikation durch Zeichen versteht, kann sie die Doppelstruktur von manifestem und latentem Sinn, wonach - wie schon Schleiermacher bemerktel~ - alles Verstehen von der Möglichkeit des Mißverstehens auszugehen hat, durchaus einschließen, ohne mit der Destruktion der vermeintlichen Identität von Zeichen und Sinn die Aufklärung ihrer Differenz und damit die Konstitution von Sinn als Dimension zwischenmenschlicher Kommunikation preiszugeben.
u.
24 U. Eco: stTNttlm, assmte. MiJano 1968. 25 HnmeneNtiJe. hg. H. KimmerJe, Heidelberg 1959, § 16.
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Wenn es heute darum geht, die integrative Funktion der Geisteswissenschaften, wie sie diese Rückschau am historischen Wandel ihrer Paradigmatik zu erläutern suchte, für den Dialog der Disziplinen zu reaktivieren, kann sehr wohl wieder auf ihre klassischen Disziplinen gesetzt werden: auf die Philosophie, sofern sie gegen den einheitswissenschaftlichen Anspruch, aber auch gegen eine exklusive Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Wissenschaft, sich der Verminlungsprobleme zwischen den Sphären von Wissenschaft, Moral und Kunst annimmt, um eine an Geltungsansprüchen orientierte Verständigung für die kommunikative Alltagspraxis zu ennöglichenZI> - auf die Linguistik, sofern sie das selbstgenügsame Universum der Sprache verläßt und ihre verselbständigten Forschungszweige in die Leitfrage nach der anthropologischen Dimension von Sprache integrienl7 - auf die Geschichtswissenschaft, sofern sie ihre eurozentrische Tradition dafür einsetzt, die Eigenart fremder Kulturen zu begreifen und bei der Rekonstruktion der historischen Lebenswirklichkeit die mitbeteiligten Nachbarfächer zu gemeinsamen anthropologischen Fragen zusammenzuführenz8 - auf die Literaturwissenschaft, sofern sie ein vergessenes Humboldtsches Erbe wieder aufgreih, demzufolge die Philologie ihre vornehmste Aufgabe erst erfülle, wenn sie nicht als bloßes Handwerk selbstgenügsamer Textinterpretation, sondern "als das allgemeine Kunstminel aller Verständigung M29 und damit zugleich als Verminlerin ästhetischer Bildung verstanden werde.)Q
2. Die dialogische Einheit im neuen Streit der Fakultäten Bei diesem Zusammenhange nun kann es nur ein leerer Schein sein, als ob irgendein wissenschaftlicher Mensch abgeschlossen für sich in einsamen Arbeiten und Untersuchungen lebe. Vielmehr ist das erste Gesetz jedes auf Erkenntnis gerichteten Bestrebens: Mitteilung (... ). Daher müssen sich rein aus dem Triebe nach Erkennmis, wo er nur wirklich erwacht ist,
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J. Habermas: .Die Philosophie als Platzhalter und Interpret-, in: D. Hegel (Hrsg.):
KM' oJn H~g~1? Obn Formm Jn B~grii"J""g in Jn Philosophie, Stungan 1983. 27 H. Weinrich: .Für eine Grammatik mit Augen und Ohren, Händen und Füßen... -, in: Rheinisch-Westfälische Akad. d. Wsch., VortT.g~ Gm'~W1issmsch.ftm, Opladen 1976. 28 Chr. Meier: Jenseiu von Europa. Geschichtswissenschaft heute muß den Dialog mit den anderen Kulturen wagen-. in: IN Z~il, 24. März 1989, S. 54. 29 Fichte (1807), wie Anm. 9, S. 58. 30 K. Stierle (wie Anm. 19).
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auch alle zu seiner zweckmäßigen Befriedigung nötigen Verbindungen, die verschiedensten Anen der Mitteilung und der Gemeinschaft aller Beschäftigungen von selbst gestalten; und es wäre irrig zu glauben, daß alle dergleichen Anstalten» wie es jetzt scheint, nur das Werk des Staates sein könnten (Schleiermacher 1808).11
Die gegenwärtige Not der Wissenschaft wird vorab nicht allein in der ungemeinen Vermehrung des Wißbaren gesehen, das heute kein Universalgelehrter mehr überschauen könnte, sondern zugleich auch in einer unbewältigten Vermehrung, Spezialisierung und Verselbständigung von Disziplinen, Fächern und Fachgebieten. Ihre institutionelle Verselbständigung ging mit dem Ehrgeiz eigener, oft esoterischer Fachsprachen einher und hat die Kommunikation und Kooperation nicht allein zwischen szientistischen und hermeneutischen Wissenschaften, sondern auch zwischen Disziplinen, die sich im Verbund der alten Fakultäten noch verständigen konnten, nach deren Auflösung erheblich erschwert. Der institutionengeschichtliche Prozeß wird seit dem 19. Jahrhundert gemeinhin als ein Weg von der alten, in sich geschlossenen Vorlesungsuniversität zur modernen, sich fortschreitend differenzierenden Arbeitsuniversität beschrieben. Danach haben sich aus dem Verbund der klassischen vier Fakultäten (Philosophie, Theologie, Jurisprudenz, Medizin) nacheinander erst die naturwissenschaftlichen, dann die staats-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten abgespalten, etwas später die Technischen Hochschulen Autonomie erlangt, zugleich aber auch angesehene Forschungsinstitutionen (wie die Kaiser-Wilhelm-, später Max-PlanckInstitute) sich jenseits der Universitäten auf eigene Füße gestellt.)l Nach 1960 haben sich im Gefolge der Reformen und expandierenden Neugründungen die neuen Fachbereiche als selbstgenügsame Einheiten von Forschung und Lehre konstituiert und mit der Auflösung der fächerübergreifenden philosophischen Fakultät stillschweigend die universale Idee der Wissenschaft verabschiedet. Den eingetretenen Wild wuchs verdeutlicht die letzte Statistik mit der gespenstischen Zahl von 4000 um das Prestige der Wissenschaftlichkeit kämpfenden Fächern, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit inzwischen 172 förderungswürdigen Fachgebieten aufzufangen sucht.
31 Wie Anm. 9, S. 108. 32 H. SchnädelbKh (wie Anm. 13), S. 43ff., 96ff.
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Der institutionelle Preis für den Gewinn fortschreitender fachlicher Differenzierung trat erst zutage, als das Fehlen der allgemeinen Instanz bemerkt wurde, die den Fachegoismus der autonomen ,Einheiten von Lehre und Forschung' hätte brechen können. Die neuen Fachbereiche beanspruchten nurmehr die gleichen Vorrechte der alten Fakultäten, doch ohne deren wichtigste Pflicht - die Konsensbildung zwischen den Interessen und Ansprüchen verschiedener Fächer und Gruppen - wahrnehmen zu können. Eine Gelehrtenrepublik setzt die wechselseitige Anerkennung von Freien und Gleichen, von Personen wie ihrer Wissenschaft voraus; die so häufig gewordene ,Ein-Fach-Fakultät' ist institutionell ein Widerspruch in sich selbst ("Wer nichts als nur Chemie versteht, versteht auch die nicht recht", nach dem bekannten Diktum Justus von Liebigs, dessen Urheber Lichtenberg war). Dieses düstere Bild mit der Klage, daß bei der unaufhaltsamen Vermehrung des Wissens und der mit ihr Schritt haltenden Differenzierung der Fächer die Idee der Einheit der Wissenschaft, das tragende Ethos und integrierende Selbstverständnis der alten europäischen Universität verloren gegangen sei, bedarf indes heute einer Revision. Denn dem unbestreitbaren Verlust der spekulativen Idee der einen wissenschaftlichen Wahrheit lassen sich durchaus auch Gewinne im Haushalt der Wissenschaftsgeschichte gegenüberstellen. Dem sich fortgesetzt beschleunigenden Umschlag des alten in neues Wissen und seiner Bewältigung durch sich aussplitternde, mehr und mehr spezialisierte Fächer, wirkte nicht allein - wie schon gezeigt - die integrative Funktion fachübergreifender Methoden entgegen, sondern auch eine inhärente Disziplinierung der keineswegs immer nur im Wildwuchs entstandenen neuen Fachgebiete. Der Anspruch auf selbständige, dem besonderen, neu erkannten Gegenstand methodisch angemessene Erkenntnis hatte sich den etablierten Fächern gegenüber zu bewähren. Jede Erweiterung und Umgliederung im System der Wissenschaften brachte auch wieder neue Erfordernisse arbeitsteiliger Kooperation mit sich und damit einen ständigen interdisziplinären Dialog der beteiligten Fächer in Gang. Im neuen Streit der Fakultäten entfaltete sich das Prinzip einer dialogischen, dynamischen, nie ganz zu verwirklichenden Einheit wissenschaftlicher Erkenntnis, das an die Stelle der spekulativen, systemhaften Einheit wissenschaftlicher Wahrheit trat. Die gang und gäbe gewordene Idealismusschelte hat in der Kritik an der Humboldtschen Konzeption, die sie auf die (oft mißverstandene) Formel von "Einsamkeit und Freiheit" verkürzte, vergessen lassen, daß das dialogische Prinzip in Wissenschaft und Bildung schon ein Kernstück dieser Universitätsreform gewesen ist. Da es das
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erste Gesetz aller Erkenntnis sei, auf Mitteilung bezogen und auf Anerkennung durch den Andem angewiesen zu sein, wie das eingangs gebrachte Schleiermacher-Zitat begründet, kann gerade auch der wissenschaftliche Diskurs nicht monologisch, sondern nur dialogisch sein. Die geisteswissenschaftliche Abkunft des Prinzips dialogischer Erkenntnis liegt auf der Hand: es ist der platonische Dialog (den Schleiermacher durch seine Übersetzung zu neuem Leben erweckte). Desgleichen forderte Fichte, daß "der wissenschaftliche Unterricht aus der Form einfach fortfließender Rede, die er im Buchwesen auch hat, sich verwandelt in dialogische Form, und eine wahrhafte Akademie, im Sinne der Sokratischen Schule (... ) errichtet werde" .)) Danach sollten die Studierenden "auch unter sich in fortgesetzter Mitteilung und in einem wissenschaftlichen Wechselleben verbleiben, in welchem jeder allen die Wissenschaft von derjenigen Seite zeige, von welcher er, als Individuum, sie erfaßt" . )4 Die Berliner Neugründung war darum gerade nicht als eine, Vorlesungsuniversität gedacht. Gewiß ist Fichtes Forderung: "nicht mündlich zu lehren, was im Buche steht"15, bis in unsere Tage ein selten erfülltes Ideal geblieben. Doch verlor Fichtes Kritik an der monologischen Vorlesung, die sich durch den Buchdruck eigentlich erübrigt habe, mit seinen praktischen Vorschlägen, den wissenschaftlichen Unterricht in dialogische Form zu bringen und das Examen aus der Einseitigkeit bloßen Abfragens zu befreien, nichts an Aktualität. Geblieben und allgemein verbreitet ist die damit begründete, schon zuvor von der klassischen Philologie eingeführte Institution des Seminars, als Stätte forschenden Lemens die geisteswissenschaftliche Form dialogischer Wissenschaft par exceUence. Mit welchem Recht das dialogische Prinzip einer modemen, im Konsens zu suchenden, der Diskussion entspringenden, doch unabschließbaren Einheit der Wissenschaft für den Streit der neuen Fakultäten nach der Humboldtschen Reform vorauszusetzen ist, kann hier nur an wenigen Beispielen erläutert werden. Die Geisteswissenschaften im engeren Rahmen der philosophischen Fakultät waren von Haus aus fachübergreifend konstituiert: Philosophie, Historie, Sprach- und Literaturwissenschaft setzten sich wechselseitig, in arbeitsteiliger Kooperation, und damit ein dialogisches Verhältnis voraus, das auch nach der Auflösung des alten Verbunds nicht ganz erlosch. Zum Studium von Literatur zum BeiC
33 Fichte (1807), wie Anm. 9, S. 36. 34 Ebd. 35 Fichte (1807), wie Anm. 9, S. 61.
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spiel wurde und wird immer noch historische Anschauung, sprachliche Kompetenz, Verständnis philosophischer Begriffe und ästhetisches Urteil erfordert. Für die anderen Disziplinen gilt das Entsprechende. Die Preisgabe dieser Voraussetzung kennzeichnet die monologische Verarmung des fachimmanenten Diskurses. Ihr dialogisches Verhältnis bestimmt aber auch die Theoriebildung der Geisteswissenschaften. Die Theorie der Geschichte ist im Dialog zwischen Philologen und Historikern, in der Konkurrenz von Geschichte der Künste und pragmatischer Geschichtsschreibung entstanden. Gervinus, Urheber der ersten wissenschaftlichen Darstellung einer "Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen", hat auch seine "Grundzüge der Historik" verfaßt. Rankes Geschichtsschreibung ist durch ästhetische Kategorien bestimmt, die auf Winckelmanns Paradigma der Stilgeschichte zurückweisen. 36 Droysens "Historik" mit ihrem Begriff der "geschichtlichen Arbeit" setzt eine Hermeneutik voraus, die im geschichtlichen Verständnis des Kunstwerks vorgegeben war (ebd. 226). - Die Stilistik mit der Theorie des poetischen Wortes ist im Dialog zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft entstanden und später im Streit zwischen linguistischer Poetik und literarischer Hermeneutik entfaltet worden. - Die Theorie der Rezeption, von der literarischen Hermeneutik entwickelt, um die Kluft zwischen historischer Betrachtung und ästhetischem Zugang, Vergangenheit und Gegenwart von Texten, zu überbrücken, hatte sich in der Debatte über Traditionalismus und Kulturerbe mit der philosophischen Hermeneutik auseinanderzusetzen ; an ihrer Weiterbildung sind heute Kunst- und Musikwissenschaft, aber auch Theologie und Rechtswissenschaft beteiligt. 37 Wenn heute wieder an die genuin dialogische Funktion der Geisteswissenschaften erinnert werden muß, ist vor allem auch an ihr Verhältnis zur Soziologie zu denken, bei deren Herausbildung sie Pate standen, während dann umgekehrt nach 1960 die Soziologie einen Paradigmenwechsel der Geisteswissenschaften mit herbeigeführt hat. Wie jede neue Disziplin ist auch die Soziologie, die Auguste Comte, einer ihrer Stammväter, als "Naturwissenschaft des Sozialen" begründen wolltelI, nicht in Einsamkeit und Freiheit entdeckt, sondern in ständiger Auseinandersetzung mit rivalisierenden Disziplinen, im Streit über alte und neue Kompetenzen und in der 36 Verf.: (wie Anm. 16), S. 222. 37 Verf.: D~ Th~orie tkr Ru~ptio,.. Riicksch." Konstanz 1987. 38 W. Lepenies (wie Anm. 14), S. 18.
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allmählichen Anerkennung einer eigenen, bisher versäumten Fragerichtung entstanden. Es ist das Verdienst von Wolf Lepenies, in seinem Buch Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und WISsenschaft (1985) ein Stück Wissenschaftsgeschichte auf neue Weise - als einen interdisziplinären Dialog - geschrieben zu haben. Dieser Dialog kommt zu wenig in den Blick, wenn man Wissenschaftsgeschichte allein in den Wegen und Stationen oder ereignishaften Paradigmenwechseln sieht, über die einzelne Disziplinen je für sich zur wissenschafdichen Autonomie gelangt wären. Wie in der Geschichtswissenschaft die alte Ereignisgeschichte der Nationalhistorien durch die moderne Strukturgeschichte mit dem Interesse am langfristigen Wandel von Systemen abgelöst wurde, könnte auch die herkömmliche Wissenschaftsgeschichte in neue Perspektiven eintreten, wenn ihre Prozesse zugleich historisch und systematisch, in der Verflechtung und Entflechtung der Disiplinen, ihrer Konkurrenz und Kooperation, erfaßt werden. Dabei würde das dialogische Prinzip wissenschaftlicher Erkenntnis, der ständig sich erneuernde ,Streit der Fakultäten' vor Augen treten, der im 19. Jahrhunden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, humanistischer und szientistischer Kultur ausgetragen wurde und zur Stiftung der Sozialwissenschaften als eines dritten Weges, wenn nicht gar - nach Lepenies - zur Eröffnung einer ,dritten Kultur' gefühn hat. In der Tat hat der wissenschaftsgeschichtliche Prozeß die besondere Gestalt eines Streites zweier Kulturen gerade zu der Zeit angenommen, als sich die Wissenschaft als verbliebene Instanz der Aufklärung aufgerufen sah, die verlorene Geltung religiöser oder metaphysischer Weltbilder durch wissenschaftliche Bildung zu ersetzen. Daß die Idee, die Wissenschaft selbst zur Pflanzstätte von Kultur zu bestimmen, im Gefolge der idealistischen Scheidung von Natur und Geist die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften und mit ihr die Kluft zwischen zwei Kulturen zutage brachte, hat seine tiefere Ursache in einem fundamentalen Problem, das die Aufklärung hinterließ: der zuerst von Rousseau als Brandmal der Moderne diagnostizienen Entzweiung von Natur und Zivilisation, von natürlicher und gesellschaftlicher Existenz. Rousseau hatte den fatalen Zirkel der Menschheitsgeschichte aufgedeckt, in der Wissen und Moral nicht gleichermaßen fonschreiten, sondern Wissenschaft und Künste in dem Maße aufstiegen, wie die Formen des menschlichen Zusammenlebens mißlangen und Herrschaftsinteressen verfielen. Rousseau hatte damit die Vernünftigkeit der Welt einer der Idee nach unteilbaren Rationalität menschlichen Erkennens und Handelns radikal in Frage gestellt: rationales Wissen und das rechte Leben und Handeln
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gehen nicht notwendig auseinander hervor, die Objektivität des Erkennens vermag die Moralität des Handelns keineswegs zu verbürgen, die entfremdete gesellschaftliche Existenz des Bürgers schließt die ungeteilte Existenz und damit das individuelle Glück des natürlichen Menschen aus. 39 Nicht allein der deutsche Idealismus mit seinem Versuch, die philosophische Einheit von Mensch und Natur wiederzugewinnen, auch die Humboldtsche Universitätsreform kann als eine Antwort auf Rousseaus Diagnose und die Widersprüche seiner Lösungen verstanden werden: die Konzeption eines Studiums in Einsamkeit und Freiheit wird erfordert, um den Zögling jenseits der depravierten Gesellschaft und frei von Zwängen der bürgerlichen Existenz zum autonomen Individuum und aufgeklärten Citoyen zu kultivieren, und zwar nicht in der Einsamkeit der natürlichen Erziehung (wie Rousseaus Emile), sondern in der Soziabilität von Lehrenden und Lernenden, durch die Erfahrung von Wissenschaft als Bildung. Die Erwartung, daß Wissenschaft als rationale Kultur die verlorene lebensweltliche Funktion der Religion und Metaphysik wieder erfüllen könne, erwies sich als nicht realisierbar. Zum einen, weil auch die wissenschaftliche Bildung - so wenig wie Rousseaus natürliche Erziehung - die Kluft zwischen Wissen und Moralität, autonomem Individuum und bürgerlicher Existenz überbrücken konnte. Zum andern, weil die idealistische Scheidung von Natur und Geist zugleich den Begriff der einen rationalen Kultur teilen mußte. Die Hegeische und Schellingsche Vorstellung, wonach sich der Geist auch in der Natur wiedererkennt, wurde durch den Empirismus der Naturwissenschaften illusionär. Und wenn sich der Mensch in der Natur als dem Anderen des Geistes nicht wiederzuerkennen vermag, sondern allein aus der Geschichte als seinem eigenen Werk, so bleibt damit unweigerlich die Erkenntnis der Natur aus der Selbsterfahrung, dem Ziel von Wissenschaft als Bildung, ausgeschlossen. Ganz davon zu schweigen, daß das naturwissenschaftliche wie das geisteswissenschaftliche Erkenntnisideal ständig mit dem hinterlassenen Problem der Aufklärung konfrontiert blieben, wie die objektive Rationalität des Wissens in die subjektive Moralität des Handelns zu überführen wäre, wenn sie sich nun einmal wechselseitig nicht voraussetzten. Näherhin war der im 19. Jahrhundert einsetzende Streit der szientistischen und der hermeneutischen Disziplinen die Antwon auf eine spezifische Herausforderung der Zeit: auf den gesellschaftlichen
39 Verf., in: ÄE, S. 608ff.
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Wandel, den die noch unabsehbaren Prozesse der demokratischen und der industriellen Revolution ausgelöst hatten. Es war in der Tat das aktuell gebliebene Problem, die Nöte und Chancen der industriellen Gesellschaft zu begreifen und Lebensformen zukünftiger moderner Kultur zu begründen, an dem sich 1880 der Streit entzündete, den Matthew Amold und Thomas H. Huxley über den Bildungswert der klassisch-humanistischen Studien und des instrumentalen Wissens der modernen Naturwissenschaft eröffneten. Seither hat sich die Kluft zwischen Hermeneutik und Szientismus, verstehend interpretierender und formalisierend beschreibender Methode mehr und mehr vertieft, ein Streit, der bei Charles P. Snow (der 1956 mit"The Two Cultures" die jüngste Phase einleitete) und F. R. Leavis im wechselseitigen Vorwurf wissenschaftlicher Ignoranz und politisch-moralischer Insuffizienz endigte. In dieser aporetischen Situation wird das Vakuum unübersehbar, in dem - gleichsam als lachende Dritte - die Soziologie ihren genuinen Ort finden konnte. Die Geschichte dieses Dialogs lehrt, wie eine neue Disziplin einerseits ständig aus dem Erbe der Methoden und Befunde der rivalisierenden alten Disziplinen schöpfen und wie diese andererseits selbst wieder Errungenschaften der erst heftig bekämpften "experience sociologique"40 sich allmählich zu eigen machen konnte. Die Soziologie in Frankreich nahm nicht allein das Wissenschaftsideal der Physiologie und Biologie, ihre ,experimentelle Methode' auf, die Claude Bemard 1865 mit seiner Introduction a La medicine experimentale proklamierte und die zur selben Zeit Zola, der Begründer der naturalistischen Schule, auch auf die Literatur anwenden zu können glaubte. Die Soziologie machte sich auch unbedenklich literarische Quellen zunutze: "Verfügte man erst, wie Comte, über eine soziologische Theorie, so ließ sich der grundlegende Charakter einer Epoche am besten aus ihren literarischen Meisterwerken erschließen. "41 Balzac, der sich selbst als "docteur es sciences sociales" titulierte, wurde zum prominenten Vorbild für die französischen Soziologen, wie Dickens oder George Eliot für die englischen. Das Vorbild der "experience sociologique" stand andererseits Pate beim Paradigmenwechsel der Literarhistorie zur positivistischen Literaturwissenschaft. Gustave Lanson bekannte 1904 in einem Vortrag über, Literaturgeschichte und Soziologie' in Institut Durkheims: "Wir Kritiker ähneln Monsieur Jourdain: wir machen Prosa, d.h. Soziologie, ohne es zu wissen. (... ) Wir müssen in der Literatur das gleiche tun, was in 40 VI. Lepenies (wie Anm. 14). S. 19. 41 Ebd .• S. 37.
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der Geschichtswissenschaft bereits geschehen ist, nämlich die systematische Philosophie durch eine induktive Soziologie ersetzen. "42 Wilhelm Scherer versuchte in seiner "Poetik" von 1888, Nationalökonomie, Wirkungsästhetik und Rhetorik zu verknüpfen, um zu erfassen, wie Verschiedenheiten des Publikums auf die literarische Produktion zurückwirken. oll Die Geschichtswissenschaft sah in der entstehenden Soziologie, die an die Seite der alten Staatswissenschaften trat, ihre Konkurrenzdisziplin par excellence, wie zuerst Treitschkes Habilitationsschrift von 1859 Die Gesellschaftswissenschaft polemisch bezeugt. Den Übergang von der Ereignis- zur Sozialgeschichte vollzog in Frankreich die Schule der Annales, die sich als legitime Erbin Durkheims ansah...., in Deutschland Karl Lamprecht mit Kurt Breysig, die noch einen Skandal auslösten, als sie Geschichte als Kulturgeschichte den exakten Wissenschaften annähern und die Erkenntnis des einmalig Individuellen den Künsten überlassen wollten. Die schroffste Ablehnung der fremden, als ,morbus gallicus' geschmähten Soziologie bestimmte nach dem Ersten Weltkrieg die Wissenschafukritik des George-Kreises. Sie gipfelte in dem Anspruch, daß Wissenschaft überhaupt an der Dichtung zu messen sei, und zeitigte in der Auflehnung gegen Demokratie, Sozialismus und Rationalismus den antimodemen Trend der visionären Geisteswissenschaften eines Bertram, Gundolf, Spengler oder Keyserling, der - auf die völkische ,Deutsche Bewegung' der 30er Jahre heruntergekommen - dazu beitrug, den Namen der Geisteswissenschaften als eine deutsche Idiosynkrasie zu diskreditieren. Dem stand die methodische Strenge und das reine Ethos der verstehenden, historischen Soziologie Max Webers entgegen, des wohl bedeutendsten Wegbereiters zum großen Paradigmenwechsel der 60er Jahre, mit dem ein neues, überaus fruchtbares Streitgespräch der Disziplinen in Gang kam. Nicht zuletzt unter dem Ansporn einer unerwaneten Man-Renaissance ging nunmehr aus der Zusammenführung der strukturalistischen Methode (die sich auf den ,linguistic turn', die Rezeption Saussures, berief) mit sozialwissenschaftlichen Modellen (der ideologiekritischen und der Systemtheorie, der Soziologie des Wissens und der Episteme Foucaults) eine ganze Reihe neuer Disziplinen hervor: die Sozial-, Begriffs- und Mentalitätsgeschichte, die Semiotik (die bald die neu orientierte Linguistik über42 Ebd .• S. 52. 43 Verf. (wie Anm. 37), S. 26. 44 W. Lepenies (wie Anm. 14). S. 30S.
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flügelte), die nachfreudianische Psychoanalyse (die zur Tiefenhermeneutik und zur Psychohistorie weiterschritt), die strukturale Anthropologie und vergleichende Ethnologie, die in eine umfassende historische Anthropologie einmündete und eine neue Symbiose von Sciences humaines et sociales anstrebte, von deren Fruchtbarkeit, disziplinärer Vielfalt und Kooperationsmöglichkeiten die Programme der Pariser Ecole Pratique des Hautes Etudes und des Centre national de La recherche scientifUJue den größten Eindruck geben. Mußte diese zukunftsreiche Forschung, die die Trennung zwischen den sogenannten Geisteswissenschaften und den sogenannten Sozialwissenschaften hinter sich ließ, ihre Heimstätte außerhalb der Universitäten finden, weil don versäumt wurde, den lebensnotwendigen Dialog und die arbeitsteilige Kooperation der Disziplinen zeitgemäß zu erneuern? Nach dieser Rückschau auf die dialogische Konstitution der Geistes- und Sozialwissenschaften bedarf es kaum einer weiteren Begründung, warum ihre gegenwänige Tendenz zur Spezialisierung in der Forschung und zur Verselbständigung in scheinautonomen Kleinfakultäten und isolierten Instituten durch eine gezielte Förderung interdisziplinärer Forschung und Lehre überwunden werden muß. Der Streit, ob ihre Angewiesenheit auf Dialog und Kooperation besser als Intra-, Inter-, Multi- oder Transdisziplinarität zu bestimmen sei, erscheint demgegenüber als ein Streit um Wone. Im Gefolge der Auflösung der alten Philosophischen Fakultät hat die Zeneilung ihrer Disziplinen in Teil- und Bindestrichfächer wie deren oft willkürliche Zusammenordnung nicht selten einen Zustand erreicht, für den keine sachlichen Gründe in der Wissenschaftstheorie oder der Forschung mehr erkennbar sind. Gewiß kann es heute nicht mehr im Ernst darum gehen, die Philosophische Fakultät in ihrer historischen Gestalt wiederherzustellen, wohl aber darum, neue Formen der Kooperation, des Arbeitsverbunds und des fachübergreifenden Dialogs zu fördern und institutionell abzusichern, die einen wissenschafts- und erkenntnisfördernden Dialog zwischen den einzelnen Disziplinen ermöglichen. 4s Widerstände gegen interdisziplinäre Ansätze entspringen zumeist einer ängstlichen Hütung fachlicher Alleinkompetenz und der mangelnden Einsicht, daß bei fachübergreifenden Problemen nicht die Befragung der Nachbardisziplin, sondern die unkontrolliene Übernahme ihrer Methoden und Resultate dilettantisch werden kann. Interdisziplinarität erforden 45 Gewerkschaft, Erziehung und Wissenschaft (GEW): Silluatüm PhiJologim, GEW Diskussionspapier 60, 1989, S. 10/13.
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indes gewiß noch mehr als nur wechselseitige Befragung und Information. Sie erforden darüber hinaus, dialogische Formen wissenschaftlicher Argumentation zu entwickeln, die erlauben, an Problemzusammenhängen verschiedene Zugänge, Sehweisen, Theorien und Methoden gemeinsam zu erproben. 3. Die grenzüberschreitende Funktion der Geisteswissenschaften: ein Instrument interkultureller und anthropologischer Forschung Philosophie im traditionellen Sinn stellt alltägliche Fragen - Fragen nach Gut und Böse, nach der Rolle, die der Mensch zu übernehmen hatte, wenn er ein gutes Leben führen wollte, nach der Natur, dem Staat und dem Schönen. Um Antwonen auf solche Fragen zu geben, entwickelte die Philosophie das, was wir heute Wissenschaften nennen, und wurde gewahr, daß ihr diese entwuchsen. Sie erlangten Autonomie, verloren die Beziehung zu diesen naiven und fundamentalen Fragen (fundamental weil naiv) und wurden bedeutungslos - das heißt: nur den Spezialisten betreffend, nicht das menschliche Dasein im Ganzen seines Lebens. Dieses Ganze ist per definitionem unwissenschaftlich, weil jede Wissenschaft ihr begrenztes Feld hat. Kein Physiker geht zur Wahl, heiratet oder kämpft als Physiker, sondern als menschliches Wesen. Philosophie wäre demnach damit befaßt, was die Wissenschaften nicht vennögen und auch nicht tun wollen, eine An von origineller Mixtur, aus der sich Wissenschaften kristallisieren, die aber in sich selbst unerschöpflich ist. Sollten wir nicht fürchten (oder können wir nicht hoffen), daß der Fall der Humanities dazu eine genaue Analogie bildet? (E. Weil 1970)46
Geisteswissenschaften sind von Haus aus nicht vergangenheitsbezogen, sondern grenzüberschreitend, sofern sie sich wie die Philosophie vorab mit Fragen befassen, für die es keine wissenschafdich exakte Antwon gibt. Antwonen sind wissenschaftlich, sofern sie rationaler Kritik standhalten, Fragen sind es nicht, sofern sie die Grenze des Vorgegebenen, Gewußten oder scheinbar Selbstverständlichen überschreiten und den offenen Horizont der Erfahrung des noch Ungewußten eröffnen. Wenn Fachwissenschaften daraus entstanden, daß sie diese Erfahrung vereinnahmten und zum System ordneten, haben sie im Maße ihrer wachsenden Präzision zugleich die Beziehung zur Lebensbedeutsamkeit der Ausgangsfragen verlo46 E. Weil: .Humanistic Studies: Their Object, Methods and Meaning-, in: Dua.llls 99 (1970), S. 248.
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ren und darum zum menschlichen Dasein im Ganzen nichts mehr zu sagen. Das ursprüngliche Orientierungswissen von Frage und Antwon ist in ein bloßes Verfügungswissen eingegangen, das partikularen Zwecken dienen, doch aufgeklänes Handeln nicht mehr verbürgen, kein Einverständnis der Wissenden und der Handelnden mehr erzielen kann. Angesichts dieses (auch von Husserl diagnostizienen) Verlustes der Lebensbedeutsamkeit empirischer Wissenschaften ermutigt die These von Eric Weil die diskreditienen Humanities, ihrer ursprünglichen Rolle eingedenk wieder das kulturelle Bewußtsein ihrer Zeit zu werden, Modelle eines sinnvollen Lebens zu entwerfen, aufzudekken, was unsere Entscheidungen bedingt, was unsere Wünsche und Ideale widersprüchlich werden und doch auch wieder den Spielraum möglichen Handelns erkennen läßt. 47 Daß die Geisteswissenschaften die Herausforderung der modemen Welt nicht aufnahmen und sich nur noch vergangenheitsbezogen als Hüter der klassischen oder nationalen Tradition verstanden, war der hauptsächliche Grund der Diskreditierung, in die sie sowohl in den USA als auch in Deutschland in den 60er Jahren gerieten. Don wie hier wurde die Krise zwar gewiß nicht allein von der studentischen Protest bewegung verursacht, aber doch von ihr ausgelöst und in die Öffentlichkeit getragen. Die Kritik am Traditionalismus der Geisteswissenschaften hat ihre Selbstbesinnung bis zur Stunde so nachhaltig herausgeforden, daß sie in dieser Betrachtung nicht fehlen darf. Der politisch-gesellschaftliche Anlaß der deutschen Krise war nicht allein ein Aufstand der Söhne gegen die Väter mit ihrer verdrängten Vergangenheit der Hiderzeit, sondern auch ein Aufstand gegen das Erziehungsideal des klassischen Individualismus. Da dieses - so wurde argumentien-die unmenschliche Realität des ,Dritten Reiches' nicht hatte verhindern können, ja ihm offenbar kaum entgegenstand, erschien es schwer verständlich, warum es nach 1945 bei der Wiedereinrichtung des geisteswissenschaftlichen Studiums stillschweigend oder unbedacht restaurien werden konnte. Mit dem Angriff auf die unkritischen, affirmativen und staatsfrommen Geisteswissenschaften war letztlich eine Prämisse der Humboldtschen Reform in Frage gestellt: die Universität als apolitische Gemeinschaft jenseits der Gesellschaft, in welcher sich der Student in ,Einsamkeit und Freiheit' - suspendien von aller politischen Verantwonung wie von der Sorge um den Lebenserwerb - gleichwohl für seinen späteren Beruf als Bürger im Staat vorbereiten sollte. ,Gesellschaftliche Relevanz' des Studi47 Ebd., S. 252.
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ums, jetzt und hier, nicht erst in einer vorab gesicherten Laufbahn, war das pathetische Schlagwort in der Vollversammlung wie in den Instituten, das höchste Kriterium, wenn es um die Reform von Studienmodellen oder um die Begründung des Interesses an Lehrveranstaltungen ging. Der Ruf nach gesellschaftlicher Relevanz erscholl in diesen Jahren aber auch an amerikanischen Universitäten: die deutsche Krise der Geisteswissenschaften war zugleich das Echo einer weltweiten Krise der Humanities. Das bezeugt am eindrucksvollsten die große Enquete The FlltllTe 01 the Hllmanities zu einer Daedalus-Konferenz, die 1969 in der gleichnamigen Zeitschrift veröffentlicht wurde. Das Unternehmen verstand sich als Antwort auf die studentische Revolution, näherhin auf die dabei vorgebrachte Kritik am Traditionalismus der Humanities, die es versäumt hätten, ihr großes Erbe zur Lösung der politischen, der moralischen wie auch der ästhetischen Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft einzusetzen. Es zeichnet diese Debatte aus, daß die Vorwürfe der Studenten allesamt ernstlich aufgegriffen, als Symptome einer unbestreitbaren Krise analysiert und von namhaften Ven.retern aller Disziplinen (auch von solchen der Künste und der Medien) mit nicht nur abweisender, sondern auch konstruktiver Kritik beantwortet wurden. Die akademische Erziehung habe in der Tat ihre selbstverständliche Geltung verloren. Es sei nicht genug, große Namen wie Shakespeare, Michelangelo, Bach oder Platon ins Feld zu führen, deren Bewahrung als Kulturgüter gewiß keiner Rechtfertigung bedürfe. Aber diese Selbstverständlichkeit rechtfertige mitnichten, daß die humanistische Erziehung in ihren Konventionen erstarrt sei, nicht mehr über die Grenzen ihres Parochialismus hinausblicke und fremde oder minoritäre Kulturen gleichermaßen ignoriere wie sie die Massenmedien als bloßen Niedergang der Hochkultur verachte. Dem entgegen seien die H umanities nunmehr zu ihrer unabdingbaren Modemisierung aufgerufen und vor die Aufgabe gestellt, die Kluft zwischen Theorie und Praxis, Literatur und Alltag, Spiel und Arbeit, akademischer Freiheit und bürgerlicher Verantwortung zu überbrücken, kurzum, ihre kommunikative, identitäts- und konsens bildende Funktion zu erneuern: "Humanists should be more alert than they are to the socially unifying eHects of humanities weil understood and interpreted. The arts can create community, enabling people to defme themselves as communities or cultures. The humanities should make more of intersubjectivity and of participation. - .. 48
WoJ. Ong (wie Anm. 18). S. 622.
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Dieses Postulat, mit dem Walter J. Ong das Fazit der amerikanischen Konferenz auf den Begriff gebracht hat, sollten und könnten sich gewiß auch die Geisteswissenschaften in Deutschland für ihre Neubestimmung zu eigen machen. Es zeigt auf, worin ihr genuiner Beitrag zum akutesten Problem im gegenwänigen Dialog aller Disziplinen, der natur- und sozial- wie der geisteswissenschaftlichen, liegen könnte: dem Problem einer Reintegration der technologischen Zivilisation in die gesellschaftliche Kultur der Zukunft. Ong hat dafür auch schon eine konkrete, eminent interdisziplinäre Fragerichtung benannt, die im letzten Jahrzehnt die Forschung verschiedener Herkunft zusammenführte und die schon zum Mythos gewordenen Grenzen zwischen den zwei oder drei Kulturen überschreiten ließ. Es ist das Erkenntnisziel einer "Anthropologisierung des Wissens", die sich in so verschiedenen Forschungsbereichen wie der Epistemologie, der Begriffs- und Mentalitätsgeschichte, der Psychologie oder der Biologie anzeigte, die Schranken zwischen Ethnologie und Geschichte abbaute und das Wissen von der Natur und von der Geschichte des Menschen auf neue Weise wieder zusammenführte. Das neue Interesse an einer historischen Anthropologie ist darauf gerichtet, die Befunde einer ahistorisch begründeten Disziplin wie der deskriptiven Ethnologie zu vergeschichtlichen, wie u~gekehrt die anthropologische Dimension von Sprache, Historie und Asthetik zu erschließen. Das Interesse solcher Forschung führt über das traditionelle und auch institutionell noch eurozentrische Wissenssystem hinaus, benötigt eine Hermeneutik interkultureller Kommunikation (,Hermeneutik der Fremdheit') und erfordert, regionalistische Schwerpunktforschung (wie Afrikanistik, Südamerikanistik u.a.m.) aus ihrer Isolation zurückzuholen, um ihre Befunde für eine allgemeine Theoriebildung fruchtbar zu machen. Die sich neu formierende historische Anthropologie erstreckt sich von den Ansätzen zu einer Archäologie der Formen und Gattungen mündlicher und verschriftlichter Kommunikation bis zu dem noch ganz offenen Problem der Veränderung von Kulturgewohnheiten, die der Sieges zug der Medientechnologien nach sich zieht. Es sprechen gute Gründe dafür (wie bei der Befragung der Einzelfächer mehrfach angeregt wurde), bei der fälligen Neuorientierung der Geisteswissenschaften von ihrer modernen Bestimmung als Kulturwissenschaften auszugehen. ,Kultur' kann dann nicht länger nur das Teilgebiet einer Lebenssphäre (neben Politik, Recht, Ökonomie, Religion) meinen, sondern muß auf das kulturelle Ganze, "auf Kultur als Inbegriff der menschlichen Arbeit und Lebensformen, naturwissenschaftliche und andere Entwicklungen eingeschlossen·, erweitert
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werden.·' Wenn heute nichts Geringeres auf dem Spiel steht als die "kultureUe Form der Welt-, würden die neu bestimmten Geisteswissenschaften wieder der "On, an dem sich die Welt ein Wissen von sich selbst verschafft- ; dann bildete die Erfahrungsfonn des Wissens ihren Gegenstand, wie die Maximenform des Wissens den der Philosophie (ebd. 20). Ihre Paradigmatik wäre dem Projekt der neuen Anthropologie von Nutzen, sofern sie Zugänge eröffnet, die nicht allein Werke der Kunst oder Ereignisse der Geschichte, sondern alle Äußerungen menschlichen Handeins dem Verstehen erschließen. Die Geisteswissenschahen werden im Dialog der Disziplinen unersetzbar bleiben, wenn es darum geht, einen Gegenstand aus seinem Begriff, aus seiner Geschichte, aus seinem Zeichencharakter oder aus seiner Form, nämlich philosophisch, historisch, sprachlich oder ästhetisch zu verstehen. Die Chance ihrer Erneuerung liegt darin, die bloße Information in Mitteilung zu übersetzen, das Verstehen des Eigenen am Fremden wie des Fremden am Eigenen zu kontrollieren und immer neu zu erweisen, daß Grenzen nicht notwendig trennen müssen, sondern stets auch Horizonte vermitteln und ineins damit das Einvernehmen der Wissenden und der Handelnden befördern können. 50
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J. Mittebtraß: .Geistes- und Sozialwissenschaften im SYStem der Wissenschaft-, in:
Min~;u,,.gm thrTU Br.",.scInn;g 23 (1988), S. 16. SO G. Buclr. (wi~ Anm. 4), S. 178.
Nachweise Abgekürzt werden zitiert: PH = Poetik und Hermeneutik - Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe, Bd. I (1964) bis Bd. XV (1993), München: Wilhelm Fink Verlag. AM = Verf.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München: Wilhelm Fink Verlag, 1977. ÄE = Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1982 (stw 955: 1991). SE = Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Modeme, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1991 (stw 864). Zu Kapitell -16: Rückschau auf die Begriffsgeschichte von Verstehen Vortrag (unter dem ursprünglichen Titel): "Ad dogmaticos - Kleine Apologie der literarischen Hermeneutik" für das Symposion "Kunst verstehen - Musik verstehen" der Bayrischen Akademie der Schönen Künste, München 4.5.1992; Symposion "Horizont und Grenze - zur hermeneutischen Arbeit heuteIe , Institut für Hermeneutik, Zürich 11.9.1992; John-F.-KennedyInstitut der Freien Universität Berlin, 4. 11. 1992; Technische Universität Berlin, 5.11.1992; Universität Frankfurt, 5.12.1992; Symposion zu Ehren von Thomas Luckmann, Universität Konstanz 3.2.1994. Druck: Jahrbuch 6 (1992) der Bayrischen Akademie der Schönen Künste, S. 195-213; Wiederabdruck in: Kunst verstehen - Musik verstehen, Hrsg. S. Mauser, Laaber-Verlag 1993, S. 11-30; für die letzte Fassung erweitert. Hermeneutische Moral: der moralische Anspruch des Ästhetischen Vortrag: "Die moralische Problematik des Ästhetischen-, Deutsche Gesellschaft für Ästhetik (im Rahmen des XVI. Deutschen Kongresses für Philosophie) Berlin, 20.9.1993; Karl-Rahner-Akademie Köln, 6.12.1993; Universität Düsseldorf, 11.2.1994 (unveröffentlicht). Tout comprendre, c'est tout pardonner (unveröffentlicht). Das Buch 10na - ein Paradigma der Hermeneutik der Fremde Vortrag: Kolloquium "Hermeneutik der Fremde", Wemer-Reimers-Stiftung Bad Homburg, 22.-24.11.1984; Symposion"The Theory and Fonns of Early Narrative", Universität Tromsö, 15.6.1990; Vorlesungsreihe der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, 1.7.1992.
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Nachweise
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Shakespeare im HorizontVJandel der Moderne - eine Rezeptionsgeschichte von King Lear Vortrag: Tagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar, 27.4.1991 (Wolfgang Iser gewidmet); Universität Salzburg, 14.6.1991. Druck: Shakespeare-Jahrbuch 128 (1992), S. 80--98.
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Das Religionsgespräch, oder: The last things belore the last Beitrag zum Kolloquium "Figuren des Endes·, PH XVI. Z14r Entdeck14ng des Individ1414ms in der Portraitmalerei der Renaissance Druck: Merkur 41 (1987), S. 331-338 (als etwas umfänglichere Rezension des Buches von G. Boehm: Bütinis "nd Individ1414m, München 1985); PH XIII, S. 599-606.
Briefan PaNI de Man Als Replik auf seine Präsentation meiner Rezeptionstheorie in: Toward an Aesthetic 01 Reception (University of Minnesota Press, 1982), am 28. Februar verlaßt in Berkeley, ergänzt nach einem letzten Gespräch am 25. März 1983 in New Haven, publiziert in dem seinem Gedächtnis gewidmeten Band: Reading de Man Reading, Hng. L. Watenlw. Godzich, Univenity of Minnesota Press, 1989.
Alter Wein in ne14en Sch/;i"chen? Bemerk14ngen z14m New Historicism Vortrag: Akademie der Wissenschaften der DDR (zu Ehren von Manfred NauMann), 18.10.1990; Symposion .European Literary Theory-, AristotelesUniversität Thessaloniki, 22.10. 1991. Druck: Lendemains 60 (1990), S. 26-38.
Nachweise
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Die literarische Postmoderne - Rückblick auf eine umstrittene Epochenschwelle Vortrag: Symposion "Moderne versus Postmoderne - Zur ästhetischen Theorie und Praxis in den Künsten- auf der zweiten Münchener Biennale der Bayrischen Akademie der Schönen Künste, 7.5.1990; Kolloquium .. Epochenschwelle - Stilwandel- Umbesetzung- an der Janus-Pannonius-Universität Pecs (Ungarn), 27.10.1993. Druck: Jahrbuch 4 (1990) der Bayrischen Akademie der Schönen Künste, S. 310-332. Über religiöse und ästhetische Erfahrung -zur Debatte um Hans Belting und George Steiner Druck: Merkur 45 (1991), S. 934-946. Die (ungedruckten) Ergänzungen wurden für das Kolloquium .. Historische Anthropologie - Literarische Anthropologie- an der Universität Konstanz, 19.-21.12.1991 verfaßt. Salzburger Gespräch über musikalische und literarische Hermeneutik Im Anschluß an den Vonrag : .. Shakespeare im Epochenwandel der Moderne-, 14.6.1991, im Institut für musikalische Hermeneutik des Mozarteum Salzburg; erscheint in der don herausgegebenen Reihe: Schriften zur musikalischen Hermeneutik, Bd. 1: Musikalische Hermeneutik im EntwurfThesen und Diskussion, hg. W. Gratzer et al., bei Laaber, 1994 Die Paradigmatik der Geisteswissenschaften im Dialog der Disziplinen Vonrag: "Die Geisteswissenschaften an der deutschen Universität (ihr verlorenes Erbe und ihre gegenwänigen Chancent , Festakt zum 900. Jubiläumsjahr der Universität Bologna, 14.9.1988; Offene Universität im Weiterbildungszentrum Düsseldorf, 19.4.1990; Humboldt-Universität Berlin, 13.3.1990; Goethe-Institut Athen, 20.11.1991. Druck: Der für Bologna verfaßte Vonrag ist als ein Teilstück in meinen Beitrag zur Denkschrift: Geisteswissenschaften heute (Kap. II), Hrsg. W. Frühwald, H.R. Jauß, R. Koselleck, J. Minelstraß, B. Steinwachs, Frankfun: Suhrkamp-Verlag, 1991, S. 45-72 (stw 973), eingegangen.
Au torenregister::· Abaelardus 25, 266, 268-272 Adomo, T.W. 19,39,43,286,300, 319,321,392 Alanw ab Insulis 117 Albce, Edward 82f. Althusser, L. 319 Anawati, G.C. 271 Apel, K.O. 12 Aristoteles 11, 109, 125, 158, 303 Amold. Manhew 421 Äschylw 36 Äsop 136, 139, 142-146 Assmann. A. und J. 19,372 Ast, Fricdrich 23 Auerbach, E. 37, ISO, 160, 163, 173, 355 Augustin 113-116, 154, 158, 173-176, 353 Austcn, jane 64-67, 71
Boccacio 36-38, 279 Bodmer 41 Boeckh, A. 410 Boehm. G. 287-289 Bohrer, K.H. 43 Bond, Edward 201-203, 339 Bonncfoy, Yves 210-250,332 Borges, j.L. 151f., 263,327,329-332 Borst, A. 156 Bossuct 51 Boulez, Pierre 393, 395 Boyarin. D. 372 Bradley, A.C. 184, 199 Brecht, Benolt 344 Breitinger 137 Bruneno Latini 118 Bubner, R. 31, 34 Buck, G. 23, 44f., 428 Burken, W. 371
Bachtin, M. 109,333 Balzac 59, 173, 183, 191-194.421 Banh, john 33Of. Banhes, R. 39 Baudelaire 34,42, 159, 173,212-215, 30H.• 39O Baumganen 408 Becken, Samuel 217,339,343 Bccthoven 396 Benjamin, W. 112, 192,220,239,299, 318f., 344, 346, 351, 356 Bergson 411 Bemanos 51 Bcmard, Claude 421 Bcmhard von Clairvaux 52 Bibel 14,22,85-106, 166, 218f., 372 Blacher, Boris 386 Bloom, H. 80, 191,297,301,400 Blumenbcrg, H. 39,94, 114, 152,255, 280,348,368,390,401
Caillois, R. ISS, 274 Calvino, Italo 327,330 Cassirer, E. 364 CaveU, St. 206-208 Chateaubriand 358 Chretien de Troyes 117 Cicero 31, 52, 111, 122 Cohen, W. 314,319 Colette 51 Compton-Bumctt, Ivy n-79 Comte, Auguste 418,421 Contini, G. 174 Coseriu, E. 12,362 Croce, B. 411 Curtius. E.R. 178,297,409
.. Register ersteUt von Olivier Blanchard
Dahlhaus, C. 16, 388 Danby, J.F. 198 Dantc 36, 147-180,384 Daube, D. 106 de Man, Paul 28, 296-303 Derrida, J. 19, 28, 46, 263 Dickens, Charles 421
Autorenregister
433
Diderot 36,41, 109, 185,300 Dilthey, W. 12 DoUimore, J. 203,205, 319f. Dostojewskij 67-69, 72f., 124 Droysen, G. 313,418 Durkheim, E. 422
Grimm, Jacob 12f., 16 Groethuysen, B. 108- 111 Guardini, R. 167 Guillaume de Lorris 118 Gumbrecht, H.U. 410 Gundolf. F. 18tf., 184, 197
Ebner-Eschenbach 15, 19,21 Eco, U. 27,260,316,413 Eggebrecht, H.H. 392 Eliot, T.S. 230 Eliot, G. 421 Erasmus 253 Eusebius 353
Habennas, J. 47f., 373, 376, 405, 414 Hadot, P. 154 Haidu, P. 312f. Hartman, G. 301 Haydn 396 Hebel, J. P. 22 Hegel 13,23, 173, 184, 187-189,211, 301,307, 346f., 350, 369, 420 Heidegger 28.211,236.300 Heine, Heinrich 398f. Heroer 140, 184, 186 Hess, G. 38, 54, 126, 133, 159, 212 Hildesheimer, Wolfgang 260, 339, 341 Mirsch, E.D. 310 Hoffmann, W. 374 Hölderlin 23, 210-212, 230. 232, 237 Homer 34, 125, 183.361,391,394 Horn 153 Hugo. Victor 63f., 183, 190, 195,212, 216 Hugo von St. Victor 355 Humboldt. Wilhe1m von 18,403,405, 416,420.425 Huon de Mery 117 Husserl 167,411.425 Huxley, Th.H. 421
FeUmann. F. 408 Fichte, j.G. 406,414,417 Fiedler. K. 411 Ficioo 370 Flauben 34. 46. 70f. Fontane 51 Footenelle 404. 407 Foucault. M. 28,53.316.320,422 Frank, M. 110 Fränkel, H. 123 Freedberg, D. 349 Freud, Sigmuod 214 Fried, J. 252, 254 Frisch, Mn 36 Fuentes, Carlos 329 Fuhnnann, M. 111, 123 Gadamer, H.G. 17-19,24,61,100. 297. 312,340,351, 380f., 400f. Galle, R. 55, 134 Garcia Marquez, Gabriel 329f. Gautier, Theophile 43 Gehlen, A. 365.370,377 Geldsetzer, L. 402 George, Stefan 422 Gervinus, H.H. 418 Gide, Andre 51 Giraudoux, Jean 26, 80 Gmelin, H. 148 Goethe 14.20,34,40,51,56, 60f., 105, 112, 149, 155, 184, 187, 189, 199 Grabbe 184, 186, 189, 196 Gramsci. A. 319f. Greenblatt, St. 205.306,313,316,318, 320 Gregor der Große 352
Illich, I. 380 Imdahl, M. 292, 294 Immermann 14 her, W. 195, 343, 37Of.• 373, 377, 389 Jakobson. R. 383 James. Hemy 73-77 Jaspers, K. 50 Jehuda Halevi 252 Jens. w. 282 Johannes von Damaskus 353 JoUes, A. 100-102, 105 Jooson, Ben 183 Joyce, James 81 Kamper, D. 13, 367 Kant 15,34,44.300,393,403
434
Autorenregister
Keller, Gottfried 69f. Kierkegaard 300 Kleist 26, 80 Koselleck, R. 326 Kosik, K. 311 Kott, Jan 341 Köhler, E. 135 Kracauer, S. 142, 253 Krauß. W. 317 Kuhn, Th. S. 407 Küng. H. 282
La Bruyere
119-122. 126-135 Lacan. J. 50 Lachmann, R. 68, 258 La Fayette. Mme de 54-59. 63 La Fontaine 142 Lamartine 212 Lamprecht, K. 411. 422 Lanson. G. 421 La Rochefoucauld 54.57-59. 122. 192 Leavis, F.R. 421 Leconte de Lisle 59 Lenin 305 Lepenies, W. 419,42tf. Leroi-Gourhan, A. 365f., 385 Lessing 40, 137. 141. 145. 186.276. 278-283 Levin, R. 310 Lewis, C.S. 117 Lichtenberg 15,46,416 Liebig, J. von 416 Lipps, H. 11. 138 Llosa, Mario Vargos 329 Lohenstein 13 Löwenthal. L. 322 Löwith. K. 11. 15, 108 Luckmann. 111. 27 Lukacs. G. 297.315-317 Luther 14. 140.369.375 Lyotard. F. 19.28
Mallanne 215.229,232 Man. Paul de s. de Man Mann. Thomas 81 Marcuse. H. 316.319.321 Marie de France 13 7. 141 Marivaux 26 MarkJ, H. 52 Marowitz. Ch. 339 Marquaro. O. 19.38,86.377.403.407
Marx 251.305.307.422 Masciandaro. Fr. 158 Meier. Chr. 414 Menke. Chr. 30i.. 37 Meschonnic. H. 258 Mittelstraß. J. 428 Moliere 34. 51, 56. 127 Montaigne 25.36,55, 114. 122, 324, 327 Moses. St. 282 Mosse, G.L. 281 Most. G. 312 Mozan 395 Mörike 215 Musset 51 Müller. Heiner 209. 342. 3«f. Naumann. M. 304.317 Nietzsche 39. 44. 148. 184, 216.300. 308.327 Niewöhner. F. 252.278 Nikolaus von Kues 266 Novalis 15 Ong. W.G.
410, 426f.
Pannenberg. W. 113.377 Pascal 49.114.122.176 Pavic. Milorad 252. 256-1b3 Petrarca 155. 326. 335 Petrus Venerabilis 271 Picon. G. 390 Plato 35. 231. 300. 303, 353 Plenzdorf, Ulrich 339. 34] Podro. M. 290 Porphyrius 350 Poncr. C. 320 Potocki, Jan 274-278 Proust. Marcel 8,25,57, 172-179,21 216.239.385 PseUos, M. 354 Pseudo-Dionysios 355 Rabelais 36 Racine 49 Rad, G. von 97-99 Ranke. L.von 307.418 Renen. E. 330 Rentsch. Th. 374 Riccr:ur. P. 28f.• 357
Autorenregister Rimbaud, Anhur 227-230 Rinc6n, C. 329 Ritter, J. 211 Robbe-Grillet, Alain 81 Ronsard 49 Rousseau 34, 53f., 59, 71, 114, 186, 216,300,397,419 Rubruk, Wilhelm 2~f. Ruskin, John 216 Salim Abdullah, Muhammed 282 Sarraute, Nathalie 77,8tf. Sanre, Jean-Paul 110, 169 Saussure, F. de 406, 411. 422 Schelling 165, 420 Scherer, W. 422 Schiller 14. 23, 40, 71, 326 Schlaffer, H. 194,215 Schlegel. Friedrich 184, 326, 356 Schleiermacher 18, 2tf., 64, 403, 405, 413,415,418 Schnädelbach. H. 406,415 Schücking, L.l. 184, 199 Sedlmayr. H. 350 5«1, M. 31,45 Semonides 123 Seneca 36, 164 5evigne. Mme de 51, 58 Shakespe~
33.55,181-209,222,
34Of., 397 Shaw, Bemhard 184, 196 Simon, Claude 217 Snow, Ch.P. 421 Sokrates 145 Spitzer, l. 361, 394, 411 Stael, Mme de 51,62-64 Staiger, E. 35 Starobinski, J. 124,211,214, 232f. Stempel, W.-D. 25 Stendhal 190 Sternberger, D. 145 Sterne, laurence 130 Stierle, K. 28,56,59, 122, 138,410, 414 Stirner, Mn 112
435
Stoppard. Tom 201,339 Suabo 350 Szondi, P. 23, 212 Tate. Nahum 183, 189 Terenz 52 Theophrast 110, 119, 125-128, 136 Thomas von Aquin 167 Thurber, James 142, 145 Tolstoi, leo 181, 196,385 Treitschke, H. von 422 Trilling, l. 55, 107 TroJlope, Anthony 74 Turgenjew 196 Valery 9,51,303, 36tf. Vance, E. 115 Vergil 183 Verlaine 51 Vico, Giambanista 408 Villon 36 Vischer, F. Th. 30, 32 Voltaire 183-185, 407 Vossler, K. 411 Wagner, Richard 384f. Warburg, Aby 374 Waming, R. 217, 263, 300 Watzlawik, P. 82 Weber, Mn 20, 422 Weil, E. 424 Weil. Simone 20 Weimann, R. 188, 204 Weinrich, H. 89,91, 100,414 Wellek, A. 393 Wieland 186 Wil50n, Roben 339 Winch, P. 2Of. Winckehnann 400,408,418 Wittgenstein. l. 11, 96 Wolff, H. W. 9tf. Woolf, Virginia 8tf. Wunberg, G. 215 Zola, ~mile 421