Manfred Brocker · Mathias Hildebrandt (Hrsg.) Friedensstiftende Religionen?
Politik und Religion Herausgegeben von Ma...
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Manfred Brocker · Mathias Hildebrandt (Hrsg.) Friedensstiftende Religionen?
Politik und Religion Herausgegeben von Manfred Brocker (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) und Mathias Hildebrandt (Universität Erlangen-Nürnberg)
In allen Gesellschaften spielte der Zusammenhang von Politik und Religion eine wichtige, häufig eine zentrale Rolle. Auch die Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaften ist ohne die politische Auseinandersetzung mit den traditionellen religiösen Ordnungskonzepten und Wertvorstellungen nicht denkbar. Heute gewinnen im Westen – und weltweit – religiöse Orientierungen und Differenzen erneut einen zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss zurück. Die Buchreihe „Politik und Religion“ trägt dieser aktuellen Tendenz Rechnung. Sie stellt für die Sozialwissenschaften in Deutschland, insbesondere aber für die Politikwissenschaft, ein Publikationsforum bereit, um relevante Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Politik und Religion der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorzustellen und weitere Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet anzuregen. Sie ist deshalb offen für verschiedene disziplinäre und interdisziplinäre, theoretisch-methodologische und interkulturell-vergleichende Ansätze und fördert Arbeiten, die sich systematisch und umfassend mit wissenschaftlich ergiebigen Fragestellungen zum Verhältnis von Politik und Religion befassen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit „Politik und Religion“ soll damit in ihrer ganzen Breite dokumentiert werden, ohne dass die Herausgeber dabei mit den jeweilig bezogenen Positionen übereinstimmen müssen.
Manfred Brocker Mathias Hildebrandt (Hrsg.)
Friedensstiftende Religionen? Religion und die Deeskalation politischer Konflikte
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier ISBN 978-3-531-15724-5
Vorwort
Der vorliegende Band ist die fünfte Publikation des Arbeitskreises „Politik und Religion“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Der Arbeitskreis versteht sich als interdisziplinäres Dialogforum, das die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Religion einer grundsätzlichen Bestimmung zuführen will. Der erste Tagungszyklus des Arbeitskreises befasste sich mit dem ambivalenten Prozess der Säkularisierung in modernen westlichen Gesellschaften. Die Ergebnisse wurden in zwei Bänden publiziert: „Säkularisierung und Resakralisierung – Ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven“ (2001) sowie „Religion – Staat – Politik. Zur Rolle der Religion in der nationalen und internationalen Politik“ (2003). Der zweite Tagungszyklus widmete sich dem Thema „Politik und Religion im interkulturellen Vergleich“. Eröffnet wurde er mit einer Konferenz zum Thema „Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotenzial von Religionen“. Auf der folgenden Jahrestagung ging der Arbeitskreis der Frage nach, ob Religionen nicht auch zur Konfliktdeeskalation und Friedensstiftung beitragen können. Die Konferenz fand vom 30. Juli bis zum 1. August 2004 in Kloster Banz statt. Der vorliegende Band versammelt die überarbeiten Vorträge dieser Konferenz. Inhaltlich abgerundet wird er durch Aufsätze von Mathias Hildebrandt, Bernhard Moltmann und Rolf Schieder. Die Beiträge des Bandes befassen sich im Wesentlichen mit den historischen Ausformungen und politischen Chancen interreligiöser Dialoge, den theologischen, philosophischen und politiktheoretischen Aspekten friedensstiftender Religionen sowie, im dritten Teil, mit empirischen Beispielen des Konflikt schlichtenden bzw. -deeskalierenden Engagements religiöser Akteure. Wir danken allen Referentinnen und Referenten der Konferenz sowie den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre Mitwirkung. Danken möchten wir ferner auch der Hanns Seidel-Stiftung, München und den Mitarbeitern des Klosters Banz für ihre Unterstützung. Unser Dank gilt schließlich Barbara Matzner, Patrizia Rottmann und Sarah Nowak vom Lehrstuhl für Politische Theorie und Philosophie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt für ihre kompetente Hilfe bei der Erstellung und Überarbeitung des Druckmanuskripts. Die Herausgeber, im Frühjahr 2007
Inhaltsverzeichnis
Manfred Brocker Einleitung: Friedensstiftende Religionen? Religion und die Deeskalation politischer Konflikte
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I. „Religionsdialoge“ in Geschichte und Gegenwart Mathias Hildebrandt Mittelalterliche Religionsdialoge: Auf der Suche nach einer interreligiösen Hermeneutik
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Thomas Fuchs Reformatorische Auseinandersetzungen in der Stadt. Das Religionsgespräch der Reformationszeit als Konfliktlösungsstrategie
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Uwe Voigt „Allen alles auf allseitige Weise lehren“ (Johann Amos Comenius). Das Menschenrecht auf Bildung als Bedingung und Inhalt eines interreligiösen Dialogs
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Reinhard Sonnenschmidt Dialog der Religionen? Das Modell Eric Voegelins: „The Christian idea of mankind“ oder „Gnostizismus als Wesen von Modernität“?
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II. Theoretische Ansätze Peter Koslowski Der Dialog der Weltreligionen und die Philosophie der Offenbarungen
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Rolf Schieder Zivilreligionen als Friedensstifter?
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Inhaltsverzeichnis
Kerstin Kellermann Christus – Stein des Anstoßes. Über „kulturelle Friedfertigkeiten“ jenseits von Siegerlogiken in Religion und Politik
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Mark Arenhövel Über das Befriedungspotential der Religion in den „postsäkularen Gesellschaften“
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Andreas Hasenclever Merkmale gewaltresistenter Glaubensgemeinschaften – Überlegungen zum Schutz religiöser Überlieferung vor politischer Vereinnahmung
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III. Empirische Fallbeispiele Henrique Otten Friedensgedanken zwischen Tradition und Aufbruch im Katholizismus des frühen 20. Jahrhunderts. Krieg und Frieden aus der Sicht des Moraltheologen Joseph Mausbach und in der Zeitschrift „Die Schildgenossen“
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Bernhard Moltmann Irritationen des Friedens. Die nordirischen Kirchen auf der Suche nach ihrer Rolle als Friedensstifter
246
Sabine Kurtenbach Die Rolle der Kirchen bei der Konfliktregulierung in Zentralamerika – Modell für andere Regionen?
269
Thomas Scheffler Dialog und Dialog, Frieden und Frieden: Zur Ambivalenz von interreligiösem Dialog und Friedensarbeit im Nahen Osten
284
Markus A. Weingardt Das Friedenspotential von Religionen in politischen Konflikten. Beispiele erfolgreicher religionsbasierter Konfliktintervention
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Herausgeber, Autorinnen und Autoren
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Einleitung: Friedensstiftende Religionen? Religion und die Deeskalation politischer Konflikte Manfred Brocker
Dass das Thema „Religion“ in den Sozialwissenschaften lange Zeit als obsolet galt, weil man sich zu Unrecht einem unilinearen Modell der Modernisierung und Säkularisierung verschrieben hatte, kann inzwischen selbst als Topos der sozialwissenschaftlichen Forschung gelten. Dass mit dem neu erwachten Interesse an der Religion zugleich aber stets die Erwartung verbunden zu sein scheint, einem Konflikt auslösenden Faktor ersten Ranges auf der Spur zu sein, zeigt der Blick auf jüngst erschienene Publikationen: Da ist von der „Macht der Religionen“ die Rede, von „Glaubenskonflikten in der Weltpolitik“ (Röhrich 2004), von „Unfriedlichen Religionen“ (Hildebrandt/Brocker 2005), dem „Kampf für Gott“ (Armstrong 2004) oder vom „Terror im Namen Gottes“ (Juergensmeyer 2003). Die in diesem Zusammenhang bekannteste Veröffentlichung dürfte zweifellos das Buch „Clash of Civilizations“ von Samuel P. Huntington aus dem Jahr 1996 sein. Darin vertrat der Autor, einer der profiliertesten amerikanischen Politikwissenschaftler, die Auffassung, dass materielle und ideologische Faktoren für die politischen Auseinandersetzungen zwischen den Staaten nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation an Bedeutung verlieren und sich die Konflikte der Zukunft stattdessen entlang der Grenzen von acht Großräumen entwickeln würden, die er religiös-kulturell definierte. Entsprechend werde der Anteil interreligiöser Konflikte – insbesondere zwischen christlich und moslemisch geprägten Gesellschaften bzw. Staatenbünden – am globalen Kriegsvorkommen steigen. Auch wenn Huntington mit seiner Prognose offenbar nicht Recht hatte,1 trug er maßgeblich zur Wahrnehmung der Religion als eines zentralen Konflikt auslösenden Momentes der aktuellen Weltpolitik – und damit zur exponentiell wachsenden Zahl von Publikationen zur „Gefährlichkeit der Religionen“ – bei. Die Anschläge vom 11. September 2001, bei denen islamistische Terroristen das World 1
Empirische Studien vermochten seine These – zumindest bislang – nicht zu stützen; vgl. Russett/Oneal 2001: 239-269; Henderson/Tucker 2001; Fox 2001; Chiozza 2002; Müller 2003; Tusicisny 2004 sowie Hasenclever i. d. B.
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Trade Center in New York und das Pentagon in Washington DC durch gekaperte Passagierflugzeuge in Schutt und Asche legten, taten ein Übriges, diese neue Sicht zu verfestigen. So ist für den gegenwärtigen Wissenschafts- und Alltags-Diskurs der Konnex von Religion und Krieg bzw. Terror kennzeichnend. Nahezu überall, wo Religion thematisiert wird, geht es vor allem um religiöse Konflikte, in denen sich Andersgläubige gegenüberstehen, ob nun in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo oder in Nigeria, ob in Irland, Indonesien oder im Sudan, zu schweigen von der komplexen Konfliktlandschaft des Nahen Ostens, die vorschnell auf einen rein religiösen Nenner gebracht wird. Fast scheint angesichts dieser einseitigen Fokussierung der Hinweis auf Lateinamerika (Kolumbien, El Salvador, Guatemala und Nicaragua), Schwarzafrika (Angola, Mozambique, Westsahara etc.), den Zusammenbruch der Sowjetunion oder den Widerstand der Kurden in der Türkei notwendig, um deutlich zu machen, dass gesellschaftliche Auseinandersetzungen bis hin zu Bürgerkriegen eine Vielzahl nicht-religiöser Ursachen haben können. Damit soll nun das Faktum religiös begründeter Auseinandersetzungen in der Gegenwart keineswegs negiert werden. Ohne Zweifel können Religionen dort Konflikt auslösend oder verstärkend wirken, wo sie einen Monopolanspruch gegenüber anderen religiösen Gruppen erheben, wo sie staatliche Macht oder gesellschaftlichen Vorrang anstreben, wo sie von fundamentalistischen Gruppierungen zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden etc. (vgl. Hildebrandt 2005; Brocker 2003; 2004a). Hier soll das Augenmerk jedoch auf den gegenteiligen Effekt gelegt werden: Haben Religionen nicht auch friedensstiftendes Potential? Können sie folglich zur Konfliktvermeidung oder Deeskalation beitragen? Immerhin betrachten sich so gut wie alle Religionen als friedfertig und halten mannigfaltige diesseitige und jenseitige Friedensvisionen bereit. Schon archaische Ausprägungen von Religiosität haben stets beide Seiten des „Numinosen“ zum Ausdruck gebracht: das Schreckliche und Zerstörerische, aber auch das Heilende und Versöhnende. Religiosität kennt den Fanatismus, aber sie kann ebenso Impulse zur Versöhnung und zum Brückenbau über trennende Abgründe geben (Müller 2003, 576; Appleby 2000). Welche politischen Konsequenzen sind damit verbunden? Können die theologischen bzw. religionsphilosophischen Dispositionen der verschiedenen Glaubenslehren zum aktiven Engagement für den Frieden beitragen? Mit Fragen wie diesen betritt der vorliegende Band weitgehend Neuland. Denn sozialwissenschaftliche, insbesondere auch empirisch-quantitative Studien zur Konflikt deeskalierenden Wirkung von Religionen (mit einer anspruchsvolleren theoretischen Grundlage jedenfalls) liegen bislang so gut wie keine vor – auch wenn es eine Vielzahl an theologischen bzw. religionsphilosophischen
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Arbeiten mit meist allgemein gehaltenen Reflexionen zum Thema und gut gemeinten Ratschlägen gibt. Bislang wurden nicht einmal aussagekräftige quantifizierbare Indikatoren für das friedensstiftende Engagement religiöser Akteure in politischen Konflikten entwickelt. Auch wenn der vorliegende Band nicht alle bestehenden Lücken schließen kann, so bereitet er doch, wie die Herausgeber hoffen, solche Studien vor, indem er die Thematik breiter als bislang üblich beleuchtet und mit einer Fülle von historischem und aktuellem Material aufwartet. Insofern bietet er eine erste Bestandsaufnahme über den Beitrag religiöser Akteure zur Nicht- oder gar zur De-Eskalation und Befriedung von gesellschaftlichen oder politischen Auseinandersetzungen. Der Band gliedert sich in drei Teile: (I) Zunächst werden auf einer ideengeschichtlichen Ebene die theologischen Voraussetzungen der unterschiedlichen Religionen im Hinblick auf ihr Konflikt lösendes und friedensstiftendes Potential untersucht und danach gefragt, inwieweit die verschiedenen Religionen historisch einen Dialog mit konkurrierenden Glaubenslehren gesucht haben und welche Lösungsvorschläge hierbei unterbreitet wurden. (II) Hernach wird auf einer theoretischen Ebene die Dialog- und Relativierungsfähigkeit der Religionen betrachtet und ihre Fähigkeit geprüft, eigene Positionen zu moderieren oder ganz aufzugeben, um die Konfrontation mit dem religiös-politischen Gegner zu entschärfen. (III) Auf einer empirischen Ebene schließlich werden konkrete religiös-politische Konfliktlösungen im Hinblick auf die Strategien der Befriedung und die Rolle religiöser Akteure betrachtet. 1. „Religionsdialoge“ in Geschichte und Gegenwart Der erste, ideenhistorische Teil widmet sich vor allem dem Phänomen der „Religionsdialoge“. Er adressiert damit Konflikte, die von den Religionen zunächst selbst ausgingen, sei es aufgrund eines von ihnen erhobenen Absolutheitsanspruchs, sei es aufgrund einer sich durch räumliche Nähe verschärfenden Konkurrenzsituation. Dass solche Art des kritischen Gesprächs keine Erfindung der Moderne ist, sondern auf eine lange Tradition zurückblicken kann, zeigen die ersten drei Beiträge des Bandes. Mathias Hildebrandt geht in seinem Artikel „Mittelalterliche Religionsdialoge – Auf der Suche nach einer interreligiösen Hermeneutik“ bis in die Spätantike zurück und wartet mit einer Reihe interessanter Funde auf. So zeigt er, dass sich bereits das aufsteigende Christentum der Literaturgattung des Religionsdialogs sowohl als Mittel der Auseinandersetzung mit anderen Glaubenslehren als auch der Kritik an eigenen häretischen Strömungen bediente. Ihr Zweck war dabei vorgegeben: die christlichen Glaubenssätze gegen die Widerstände der paganen Umwelt und konkurrierender Religionen zu
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verteidigen und sie als katholische Orthodoxie gegenüber Abweichlern durchzusetzen. Am Ende obsiegte in der Regel der eigene Standpunkt, und der Antagonist konnte geschlagen bzw. für die Kirche gewonnen werden. Bei den spätantiken Religionsdialogen handelt es sich vermutlich überwiegend um fiktive oder fingierte Texte, auch wenn für die damalige Zeit intensive Auseinandersetzungen zwischen Vertretern des Judentums, des Christentums (nicht zuletzt christlicher Häresien), der antiken Philosophie und der römischen religio civilis keine Seltenheit waren. Allerdings dürften diese Dispute kaum in jener stilisierten Form abgelaufen sein und mit derart eindeutigen Ergebnissen geendet haben, wie es in den überlieferten Quellen der Fall ist. Die Religionsdialoge des Mittelalters fanden in einem anderen „Klima“ statt. Durch die Entstehung und Ausbreitung des Islam erwuchs für das Christentum in Europa eine neue Herausforderung, die es anzunehmen galt. Theologischer Inhalt der Religionsdialoge war nun unter anderem die Frage, ob Jesus Christus der Messias ist sowie die Lehre von der Trinität – Überzeugungen, die weder Juden noch Moslems teilen. Die von christlichen Autoren verfassten Schriften sollten hier die „Wahrheit“ und „Vernunftkonformität“ beider Positionen erweisen. Doch aufschlussreich, so Hildebrandt, sind die mittelalterlichen Religionsdialoge ohnehin weniger inhaltlich, als vielmehr hinsichtlich ihrer Methode. Vor dem Hintergrund konfliktreicher, teilweise kriegerischer Begegnungen mit der fremden Kultur und Religion des Islam, die als Bedrohung des eigenen Glaubens, der eigenen Gesetzesordnung und Lebensweise betrachtet wurde, versuchten die Autoren mit rationalen Argumenten, die eigene Theologie als wahr zu erweisen und dadurch zugleich ihre soziale und politische Ordnung zu verteidigen. Im Ansatz entwickelten sie dazu eine „interreligiöse Hermeneutik“, die ein „Hineindenken“ in fremde Glaubensüberzeugungen und Lebensweisen ermöglichen sollte. Das Ausloten von Verständigungsmöglichkeiten sollte Differenzen überbrücken helfen. Der Vernunftoptimismus der Dialoge – der auf der Überzeugung gründete, letztlich jeden Gegner umstimmen und zum Christentum bekehren zu können – lässt diese Form der friedlichen Auseinandersetzung explizit als Alternative zur militärischen Bekämpfung des Islam durch die Kreuzzüge erscheinen. Ohne schon die Position des Gegners im Sinne späterer Toleranzschriften oder des Pluralismusgedankens anzuerkennen, wird er immerhin als Gesprächspartner ernst genommen, der durch vernünftige Argumente gewonnen und nicht durch nackte Gewalt zur Konversion gezwungen oder ausgelöscht werden soll. In der frühen Neuzeit veränderten sich die Koordinaten solcher Religionsdialoge noch einmal grundlegend. Durch die Reformation zerfiel die religiöse wie politisch-soziale Einheit des christlichen Abendlandes. Jetzt standen sich Christen mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen gegenüber, trafen als „Zwinglianer“, „Calvinisten“, „Lutheraner“ und „Katholiken“ aufeinander. In den Religi-
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onskriegen wurde diese Rivalität blutig ausgetragen. Auch in dieser Situation erwies sich der Dialog als Mittel der Konfliktbewältigung und Friedensbewahrung, wie Thomas Fuchs in seinem Beitrag „Reformatorische Auseinandersetzungen in der Stadt – Das Religionsgespräch der Reformationszeit als Konfliktlösungsstrategie“ anhand von Beispielen zeigt. So hatte in Hessen-Kassel der Landgraf Moritz 1605 versucht, den Calvinismus als Landesreligion einzuführen. Die lutherischen Teile der Bevölkerung hatten sich diesem Ansinnen widersetzt. Ein Bürgerkrieg drohte. Als die Visitatoren des Landesherrn das Vorhaben mit theologischen Argumenten vor den Bürgern rechtfertigen wollten, schufen sie unbeabsichtigt eine Konstellation, in der allein der Diskurs, nicht aber mehr politische Macht oder militärischer Zwang den Ausschlag geben konnte. Am Ende wurde ein Teil des Fürstentums calvinistisch, ein anderer blieb lutherisch. Allerdings begünstigten mehrere Faktoren die friedliche, diskursive Lösung solcher Konflikte zwischen protestantischen Konfessionen. Zum einen war es die gemeinsame Frontstellung gegen die katholische Kirche und die Kräfte der Gegenreformation, die bei allen theologischen und politischen Differenzen ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit schuf. Zum anderen verstanden alle reformatorischen Strömungen das Christentum vor allem als eine Religion des Wortes, wonach allein die Bibellektüre und das Gespräch unter Gleichen über dessen Bedeutung Auskunft geben konnte. Die Betonung des Dialogs anstelle von Amtsautorität und Hierarchie erleichterte die gewaltlose Konfliktaustragung mittels diskursiver Praktiken. Da allerdings auch hier alle Seiten an der Vorstellung der einen Wahrheit festhielten, in deren Besitz sie sich jeweils wähnten, blieben wirklich konsensuale Lösungen ausgeschlossen: In politischer wie sozialer Hinsicht war allein ein modus vivendi erreichbar. Von einer zentralen Voraussetzung der Religionsdialoge handelt Uwe Voigts Beitrag „,Allen alles auf allseitige Weise lehren‘ (Johann Amos Comenius) – Das Menschenrecht auf Bildung als Bedingung und Inhalt eines interreligiösen Dialogs“. Voigt weist zu Recht darauf hin, dass Wissen und Kenntnisse über die eigene wie die fremde(n) Religion(en) notwendig sind, um überhaupt in ein fruchtbares Gespräch eintreten zu können. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte schon im 17. Jahrhundert Johann Amos Comenius der Bildung einen zentralen Platz in seinem philosophischen Werk eingeräumt. Während des Dreißigjährigen Krieges entwickelte er unter Rückgriff auf neuplatonische und christlichchiliastische Traditionsbestände die Vorstellung vom Menschen als einem „ergänzungsbedürftigen Teil“, der der Einsicht in das Wesen des „Ganzen“ bedürfe, um zu einem Verständnis seiner selbst, der Welt und Gottes, und damit zu Frieden und Eintracht, gelangen zu können. Diese Einsicht könne, so Comenius, nur durch die universelle Kommunikation zwischen den Menschen gewonnen werden, durch das Zusammenführen des vorhandenen Wissens, durch wechselseiti-
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ges Lehren und Lernen – für ihn der Inbegriff eines kooperativen Prozesses, an dessen Ende die Einsicht in das Wesen der Gesamtwirklichkeit („Pansophie“) stehe. Voraussetzung sei dafür die umfassende Bildung aller. Daraus lässt sich nach Voigt mit Comenius die Forderung nach einem Menschenrecht auf Bildung ableiten, dessen weltweite Durchsetzung die Erfolgschancen interkonfessioneller bzw. interreligiöser Dialoge wie die interkulturelle Verständigung insgesamt deutlich verbessern könne. Der hieraus sprechende Optimismus, mit dem auch die Philosophen des Mittelalters und der frühen Neuzeit den Gedanken des informierten Gesprächs zwischen den Religionen als Weg der Friedensstiftung und Kooperation betrachteten, ist in der Gegenwart allerdings nur noch selten anzutreffen. Selbst wer sich nicht der Prognose Huntingtons anschließt, wonach in Zukunft ein „Kampf der Kulturen“ das Weltgeschehen prägen werde, wird doch im Aufkommen des Fundamentalismus eine deutliche Verschlechterung der Chancen für einen umfassenden interreligiösen Dialog sehen müssen. Dass man jedenfalls mit gewaltbereiten Fundamentalisten und fundamentalistischen Terroristen in kein Gespräch eintreten kann, macht Reinhard W. Sonnenschmidt in einer Analyse des „Testaments“ der Attentäter des 11. September 2001 überaus deutlich. In seinem Beitrag „Dialog der Religionen? Das Modell Eric Voegelins: ,The Christian idea of mankind‘ oder ,Gnostizismus als Wesen von Modernität‘?“ zeigt er im Anschluss an Voegelin, dass „Hybris“ und „Revolte“ das Bewusstsein der Terroristen prägten. Eine solche Haltung führe, so Sonnenschmidt, zur Ausformung einer schizoiden Persönlichkeit, einer Spaltung in ein „weltliches“ und ein „göttliches“ Ich. Ersteres leidet unter der conditio humana und begehrt gegen seine Bedingtheit und Sterblichkeit auf. Letzteres verfällt dagegen dem Wahn, diese „Zerrissenheit“ aufheben und Erlösung bringen zu können: durch die Zerstörung der vermeintlich defizitären Ordnung der „alten Welt“ und die Schaffung einer „neuen“, in der alles „Schlechte“, „Unwürdige“ und „Böse“ beseitigt ist. Eine solche Bewusstseinshaltung, die schon bei spätantiken Gnostikern zu finden sei, spreche auch aus der „Letzten Verfügung“ des Selbstmordattentäters Mohammed Atta. Durch die Vernichtung der „ungläubigen“ westlichen Zivilisation solle der Weg für den Aufbau einer gottgefälligeren, friedlichen Welt geebnet werden. Aus dieser Haltung erwuchs die Bereitschaft, das eigene wie fremdes Leben einzusetzen. Letztlich ging es den Terroristen dabei um Selbsterlösung und Selbsttranszendierung: Als „Märtyrer“ wollten sie Unsterblichkeit erlangen und in ein jenseitiges Paradies eingehen. Dass der Erwähltheitsglaube und die Allmachtphantasien religiöser Terroristen keinerlei Raum für Verständigung lässt, ist unmittelbar einsichtig. Gleichwohl muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass von den Gewalttaten einzelner religiös motivierter Terroristen und der Gesprächsverweigerung religiöser Fundamentalisten nicht auf die grundsätz-
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liche Unfriedlichkeit oder Dialogunfähigkeit der Weltreligionen, insbesondere des Islam, geschlossen werden darf. 2. Theoretische Ansätze Ob und inwieweit nicht alle Weltreligionen ein friedensstiftendes Potential entwickeln können, diese Frage wird im zweiten Teil des vorliegenden Bandes erörtert. Den Anfang macht Peter Koslowski mit seinem Beitrag über den „Dialog der Weltreligionen und die Philosophie der Offenbarungen“. Nach Koslowski ist Religion der zentrale Versuch des Menschen, die Kontingenz seines Daseins zu bewältigen. Zwei Grundkategorien der Religion – und zwar offenbar aller Weltreligionen – seien hierfür wesentlich: „Retribution“ und „Offenbarung“. Religion befriedigt das Bedürfnis des Menschen nach „Rückgabe“ vorenthaltener Güter und nach Vergeltung für erlittenes Unrecht. Ihren Anspruch, dass diese Hoffnung fundiert ist, gründet sie auf eine Offenbarung durch Gott oder göttlich inspirierte Stifter. Alle drei abrahamitischen Religionen, also Judentum, Christentum und Islam, kennen das Totengericht, das Menschen für begangenes Unrecht bestraft und für erlittenes Unrecht entschädigt. Alle drei verurteilen zugleich den Selbstmord und die Tötung Unschuldiger, weil der Mensch nicht sich selbst, sondern allein Gott gehört und daher weder sein Leben noch das anderer als Mittel für welch höheren Zwecke auch immer einsetzen darf. Die Attentäter des 11. September 2001 verkehrten insofern die Logik der Retribution in ihr Gegenteil und verletzten die Ethik ihrer Religion, als sie zum Zweck des „heiligen Krieges“ das Mittel der Tötung von Nichtkombattanten wie die Selbsttötung rechtfertigten. In welchem Verhältnis stehen davon abgesehen die verschiedenen Offenbarungsreligionen mit ihrem Absolutheitsanspruch, je wahre Voraussage und damit wahre Theorie der Gesamtwirklichkeit zu sein, zueinander? Erkennbar widersprechen sich in Teilen ihre Aussagen – beispielsweise im Hinblick auf die Person Christi. Die Tatsache, dass Gott über lange historische Zeiträume die Koexistenz kontradiktorischer Glaubenslehren zulasse, stelle eine theologische wie philosophische Herausforderung dar, der sich laut Koslowski die Religionen selbst stellen müssten. Versuche einer Lösung des Dilemmas von außen – etwa mittels synkretistischer Verschmelzung oder Überhöhung durch eine Theosophie – seien dagegen kaum Ziel führend, weil die Offenbarungsreligionen damit die Geschlossenheit ihrer Lehre zugunsten eines Kunstgebildes aufgäben. Hilfreicher sei vielmehr, so Koslowski, die Einsicht in die nicht auszuschließende Möglichkeit, dass Gott an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten Menschen Offenbarungen zuteil werden ließ. Sich diesem Gedanken zu verschließen,
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widerspräche der Freiheit Gottes, ja bedeutete letztlich, Gott Vorschriften machen zu wollen, wie er sich zu offenbaren habe. Allein schon aus diesem Grund müssten Gläubige anderen Religionen und deren Anhängern mit Respekt begegnen und zum friedlichen Miteinander bereit sein. Einen Weg der Friedensstiftung jenseits solcher religionsphilosophischen Reflexion schlägt die so genannte „Zivilreligion“ ein, die den innerstaatlichen Konsens, die Integration religiös-pluralistischer Gesellschaften über den Rückbezug auf ein gemeinsames Wertefundament, gemeinsame Ordnungsvorstellungen und eine gemeinsame staatliche Aufgabe herstellen will. Gemeint ist mit „Zivilreligion“ – der Begriff wurde von Robert Bellah in Anlehnung an Rousseau geprägt und am Beispiel der USA erläutert2 – jenes Ensemble an Glaubenssätzen, Symbolen und Ritualen (wie gemeinsame Fahneneide, die feierliche Amtseinführung des Präsidenten, das Staatsmotto „In God We Trust“), das die Bürger an das politische Gemeinwesen bindet und dieses Gemeinwesen in seinen Institutionen und Repräsentanten selbst in letzter Instanz als religiös legitimiert erscheinen lässt. Es benennt und anerkennt öffentlich den Grund, der normativ festzulegen erlaubt, was prinzipiell menschlicher Dispositionsfreiheit entzogen sein soll (Lübbe 1981: 56), und stellt Geschichte und Schicksal der eigenen Nation in einen öffentlich vermittelten Sinnbezug. Zivilreligion ist ein „Ordnungsglaube“, der zu den unterschiedlichen „Heilsglauben“ der verschiedenen Religionen hinzutritt, mit ihnen aber nicht identisch ist (Marty 1986). Der Frage, ob „Zivilreligionen als Friedensstifter“ fungieren können, geht Rolf Schieder in seinem gleichnamigen Beitrag nach – und er beantwortet sie negativ. Zwar hätten die westlichen Nationalstaaten, als sie nach der konfessionellen Spaltung Europas zunehmend die Rolle von „Pastoralmächten“ übernahmen, durchaus disziplinierende und also auch pazifizierende Wirkungen nach Innen entfalten können. Doch sei das Konfliktpotential der (insbesondere: amerikanischen) Zivilreligion, die zur Zeit unter dem Banner der „westlichen Werte“ einen Krieg gegen den islamistischen Terror führe, zu hoch, um noch friedensstiftend wirken zu können. Anstelle von Zivilreligion mit der ihr immanenten Gefahr, für staatspolitische Zwecke instrumentalisiert zu werden, müsse, so Schieder im Anschluss an Michel Foucault, ein offener politischer Diskurs über Wahrheit, Freiheit und Gouvernementalität geführt werden, denn er biete die beste Gewähr für den Frieden. Die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Zivilreligion jedenfalls sei unter der Administration George W. Bushs nachhaltig erschüttert worden, weil in ihrem Namen, im Namen von Freiheit und Demokratie, letztlich eine primär den ökonomischen Interessen Amerikas dienende Außenpo2
Bellah 1967; vgl. zur „Zivilreligion“ weiterhin: Bellah 1975; Richey/Jones 1974; Mathisen 1989; Kleger/Müller 1986; Schieder 2001. Zu den historischen Ursprüngen des Konzepts vgl. Kleger/Müller1985.
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litik betrieben worden sei. Diese Wahrheit auszusprechen, so Schieder mit einer an die europäischen Verbündeten der USA gerichteten Mahnung, diene dem Frieden mehr als ängstliche Bündnistreue. Auch Kerstin Kellermann setzt in ihrem Beitrag „Christus – Stein des Anstoßes. Über ,kulturelle Friedfertigkeiten‘ jenseits von Siegerlogiken in Religion und Politik“ nicht auf die friedensstiftende Kraft der Zivilreligion. Sie rückt die spezifische Liebesethik des Christentums in den Mittelpunkt, das sie als die potentielle Friedensreligion schlechthin ansieht. Aufgabe konsequenter Friedensarbeit sei es, so Kellermann, das christliche Verständnis menschenwürdigen Lebens und „wahrhaftiger Lebensführung“ gegen die Imperative seelenloser Leistungsgesellschaften und „Konsumentendemokratien“, gegen die Postulate von „absoluten Herrschaftsansprüchen“ und „egozentrischen Siegerrationalitäten“ in Anschlag zu bringen. Kellermann plädiert für eine „sozial engagierte Spiritualität“, worunter sie eine „religiösexistentielle Lebensgrundhaltung und erkenntniswillige Religiosität im Sinne einer individuellen Sinnträgerschaft“ versteht. Hierdurch soll es gelingen, „Räume für eine dialogisch-schöpferische Gemeinschaftlichkeit“ zu eröffnen und befriedende Impulse für eine „Menschwerdung des Menschen“ zu geben, die in „konzentrischen Kreisen in den familiären, lokalen, regionalen und globalen Schicksalsgemeinschaften“ fortwirken. Erforderlich hierfür sei allerdings, das Spannungsverhältnis zwischen der ursprünglich christlichen Friedensbotschaft und den Konflikt provozierenden Absolutheitsansprüchen eines „klerikalisierten Christentums“ aufzulösen. In der „bedingungslos gelebten Liebe“ könne dies gelingen. Beispielhaft verwirklicht sieht die Autorin ein solches Leben der „unvoreingenommenen Friedenswilligkeit“ bei Albert Schweitzer, Jean Vanier und Desmond Tutu. Sie hätten erkannt, dass „der Friede die höchste Verwirklichung einer Seinsgerechtigkeit ist, welche sich in allen Dimensionen des Lebens dem freien Wirken der Liebe verdankt“. Nach diesen eher theologischen bzw. religionsphilosophischen Betrachtungen wenden sich Mark Arenhövel und Andreas Hasenclever der Frage nach der friedensstiftenden Kraft der Religion(en) aus politikwissenschaftlicher Perspektive zu. In seinem Beitrag „Über das Befriedungspotential der Religion in den ,postsäkularen Gesellschaften‘“ problematisiert Mark Arenhövel zunächst die inzwischen gängige Charakterisierung der Gegenwart als „postsäkular“: Einerseits sei die Vorstellung einer durchgängigen Säkularisierung der westlichen Welt schon immer falsch gewesen, andererseits ließe sich in der Gegenwart keine generelle Zunahme des Interesses an Religion konstatieren, die die Rede von einer „postsäkularen“ Epoche rechtfertigte. Was sich vielmehr verändert habe, sei allenfalls die öffentliche Wahrnehmung und Sichtbarkeit religiöser Phänomene.
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Unabhängig davon jedoch, wie man die gegenwärtige Epoche kennzeichnen solle, stelle uns die in westlichen Gesellschaften stark gewachsene Pluralität der Religionen und Weltanschauungen – mit ihren radikal verschiedenen Weltsichten und Heilsbotschaften – vor besondere Probleme: Wie können die Ansprüche von „Glauben“ und „Wissen“, von (konkurrierenden) religiösen Wahrheitsansprüchen und der wissenschaftstheoretischen Einsicht in die Vorläufigkeit aller Erkenntnis, von religiöser Moralbegründung und der demokratischen Rechtsgenese im (weltanschaulich neutralen) Verfassungsstaat zu einem fairen Ausgleich gebracht werden? Diese Frage diskutiert Arenhövel im Anschluss an Jürgen Habermas’ Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vom Herbst 2001 (Habermas 2001). Die Lösung sieht Habermas nicht in einer strikten Trennung von Religion und Politik, wie sie etwa vom zeitgenössischen Liberalismus gefordert wird, sondern in einer Öffentlichkeit, deren Diskurs sich nach beiden Seiten, zum Glauben wie zum Wissen hin öffnet. Während der Liberalismus die Privatisierung der Religion fordert und Gläubigen die Pflicht auferlegen will, im öffentlichen Diskurs religiös begründete Positionen in eine säkulare Sprache zu übersetzen, damit sie kommunizierbar und überprüfbar werden, und so verhindert werden kann, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung von partikularen, nicht-universalisierbaren Überzeugungen beeinflusst werden, die den innerstaatlichen Frieden gefährden würden (vgl. Brocker 2004b), zielt Habermas’ „osmotisches Verhältnis“ darauf, dass auch die säkulare Sprache „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt oder wieder entdeckt“. „Säkulare Sprachen“, so Habermas, „die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren“ (Habermas 2001: 24). Auch wenn Arenhövel Schwachstellen in Teilen der Habermasschen Argumentation aufdeckt, so stimmt er doch dessen Folgerung zu, dass man Gläubige wie Nichtgläubige am politischen Diskurs beteiligen soll – nicht zuletzt, weil gerade dies dem innerstaatlichen Frieden dient. Arenhövel interpretiert dies aber als „Nötigung“ der Gläubigen zur öffentlichen Diskussion, in der die Möglichkeit der Anbindung ihrer Glaubensinhalte an lebbare gesellschaftliche Praktiken auf den Prüfstand gestellt werde. „Das Befriedungspotenzial des Reflexivwerdens religiöser Imprägnierungen“ liege, so Arenhövel, in der „Sichtbarmachung, das heißt in der öffentlichen Inszenierung von Konflikten, die sich aus den in die Öffentlichkeit drängenden religiösen Bekenntnissen und Symbolen ergeben“. Dass Religionen jedoch – zumindest in kriegerischen Auseinandersetzungen – kaum je der primäre Konfliktgegenstand sind, sondern meist erst dann dazu werden, wenn sie aus politischen oder ökonomischen Gründen entsprechend instrumentalisiert werden, zeigt Andreas Hasenclever in seinem empirisch aus-
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gerichteten Aufsatz „Merkmale gewaltresistenter Glaubensgemeinschaften – Überlegungen zum Schutz religiöser Überlieferung vor politischer Vereinnahmung“. Danach lagen sowohl zwischen- als auch innerstaatlichen Kriegen in der Regel Macht- und Interessensrivalitäten zugrunde, kaum dagegen religiöse Differenzen. So gut wie alle empirischen Studien, die Hasenclever auswertet, zeigen die überragende Bedeutung politischer und wirtschaftlicher Faktoren für die Gewaltanfälligkeit von Staaten. Das Bürgerkriegsrisiko etwa wächst in direkter Abhängigkeit von Wirtschaftskrise und Staatsverfall. Deshalb betonen die ausgewerteten Studien regelmäßig die Notwendigkeit ökonomischer und politischer Reformen als Friedensstrategien, die die Anreize für Gewaltstrategien bei organisationsfähigen (Gegen-) Eliten senken sollen. Gleichwohl entdeckt Hasenclever Hinweise darauf, dass Religionen den Verlauf politischer Konflikte beeinflussen können. Dabei stellt er folgenden Zusammenhang her: Konflikt verschärfend wirken Religionen dort, wo gewaltbereite Eliten die religiöse Überlieferung für ihre Zwecke instrumentalisieren – etwa um Massenloyalität zu erzeugen. Sind brutale Machtcliquen dagegen in der Lage, mit kleinen, gut bewaffneten Verbänden ganze Regionen zu terrorisieren, werden Religion und Glaubensgemeinschaften für sie irrelevant. Gewalt hemmend wirken Religionen dort, wo es religiösen Gemeinschaften gelingt, die Binnenkomplexität ihrer Überlieferungen zu schützen und vor der Vereinnahmung durch gewaltbereite Eliten zu bewahren. Dies vermögen sie umso besser, je höher die religiöse Bildung ihrer Mitglieder ist, je autonomer die Glaubensgemeinschaften gegenüber Staat und Gesellschaft sind und je stärker sie transnational vernetzt sind. Zudem verweist Hasenclever auf eine Reihe von Fallstudien, die zeigen, dass das friedensstiftende Engagement religiöser Akteure in politischen Konflikten positive Auswirkungen auf den Konfliktverlauf hatte. So entstanden aus den großen Glaubensgemeinschaften heraus immer wieder politische Bewegungen, die auf der Grundlage ihrer Traditionen und Lehren mit friedlichen Mitteln gegen Krieg, Unterdrückung und Unrecht vorgingen – und dadurch gesellschaftliche Spannungen mildern konnten. Darüber hinaus erwiesen sich Glaubensgemeinschaften als wichtige Akteure bei der Beendigung bereits eskalierter blutiger Auseinandersetzungen und in der Phase der Friedenskonsolidierung nach deren Beendigung, indem sie etwa die Vertrauensbildung zwischen den Konfliktparteien förderten, indem sie ein neutrales Verhandlungsforum boten oder aufgrund ihrer gesellschaftlichen Präsenz die unparteiische Überwachung von Friedensvereinbarungen garantieren konnten. Hasenclever bezieht sich in diesem Zusammenhang insbesondere auf die katholische Laienorganisation Sant’ Egidio, die als glaubwürdiger Vermittler zwischen den Rebellen und der Regierung in Mosambik 1990 maßgeblich zur
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Beendigung des Bürgerkrieges beitragen konnte und auch andernorts erfolgreich Konflikt schlichtend wirkte. 3. Empirische Fallbeispiele Weitere exemplarische Analysen über das friedensstiftende Engagement religiöser Gruppen bietet der dritte Teil des vorliegenden Bandes. Den Anfang macht Henrique Otten. Unter dem Titel „Friedensgedanken zwischen Tradition und Aufbruch im Katholizismus des frühen 20. Jahrhunderts. Krieg und Frieden aus der Sicht des Moraltheologen Joseph Mausbach und in der Zeitschrift ,Die Schildgenossen‘“ untersucht er die Friedensbemühungen deutscher Katholiken vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Er zeigt, dass religiös begründete Positionen, hier: Friedensfördernde Interpretationen des katholischen Glaubens, in bellizistisch aufgeheizten politischen Debatten Begründungen für mäßigende oder sogar kriegskritische Haltungen liefern können. Otten führt eine Vielzahl von Belegen aus den Schriften des Münsteraner Moraltheologen Josef Mausbach und der Quickbornbewegung an, die deutlich machen, dass neben kriegsapologetischen auch kriegskritische Stimmen aus dem Kreis des deutschen Katholizismus der damaligen Zeit zu vernehmen waren. So mahnte Mausbach, einer der Väter der Weimarer Reichsverfassung, am Ende des Ersten Weltkrieges, die „Friedenseinigung der Völker als das pflichtmäßig von allen geistigen und politischen Mächten anzustrebende Ziel“ (Mausbach 1918: 115) anzusehen. Hatte er – wie andere Theologen – vier Jahre zuvor noch dem Krieg eine ethische Dimension zugesprochen, sah er es jetzt als seine Aufgabe an, die Kirche an die Seite jener zu führen, die den Krieg ächten und eine völkerrechtliche Grundlage zur friedlichen Beilegung von internationalen Streitigkeiten schaffen wollten. Damit zeichneten sich nach Otten die Züge eines spezifisch katholischen Versöhnungsgedankens ab. Dieser Strömung – die auch in der Zeitschrift „Die Schildgenossen“ der katholischen Jugendbewegung der 1920er Jahre in Teilen vertreten wurde – folgten Aufrufe zur Ausbildung einer der internationalen Friedensstiftung verpflichteten deutschen geistigen Führungselite. Wirkung zeitigten die Appelle allerdings, so schließt Otten lakonisch, in der Zwischenkriegszeit kaum. Natürlich lässt sich darüber streiten, ob die Kirchen überhaupt unter den gegebenen historischen Bedingungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker auf die politische Entwicklung in Deutschland hätten Einfluss nehmen können. Dass sie aber sehr viel deutlicher und vernehmlicher zur Pazifizierung und Humanisierung der deutschen Innen- wie Außenpolitik hätten aufrufen müssen, wird sicher niemand bestreiten.
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Wie aber verhalten sich die Kirchen gegenwärtig in einer Auseinandersetzung, in der der Glaube selbst von den Kontrahenten zur Identitätsbildung und Legitimierung herangezogen wird? In seinem Aufsatz „Irritationen des Friedens. Die nordirischen Kirchen auf der Suche nach ihrer Rolle als Friedensstifter“ richtet Bernhard Moltmann den Blick auf Nordirland, wo seit Jahrzehnten ein blutiger Konflikt zwischen katholischen und protestantischen Gruppen schwelt. Nach dem weltweit gelobten Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998, das die Basis für neue Institutionen und regelmäßige Wahlen legte, schien der Friedensprozess in Nordirland an Dynamik zu gewinnen. Doch die hohen Erwartungen wurden schon bald enttäuscht: Die politischen Parteien konnten sich nicht auf eine Kooperation verständigen, die Polarisierung zwischen den Lagern nahm wieder zu, und – auch wenn die Intensität der Gewalthandlungen gemessen an der Zahl der politisch motivierten Morde zurückging – die Summe der Gewaltakte insgesamt wuchs seither beträchtlich. Sie gehen weiterhin auf das Konto paramilitärischer Organisationen, aber auch auf das mit ihnen zum Teil eng verbundener krimineller Vereinigungen – ein Umstand, der, so Moltmann, die Folge des weitgehenden Verlustes eines kontrollfähigen staatlichen Gewaltmonopols sei. Welche Rolle können nun die Kirchen in einem solchen Umfeld für den Friedensprozess spielen? Als gesellschaftlich stark verankerte intermediäre Institutionen wären ihre Chancen angesichts des bestehenden politischen Vakuums beträchtlich. Doch ihre direkten und indirekten Verflechtungen mit den Konfliktparteien schließen ein stärkeres Friedensengagement noch immer weitgehend aus. So äußern sich Kirchenvertreter seit 1998 nur zögerlich zum Friedensprozess, erklären mitunter, dass Schritte der Versöhnung mehr Wunden aufreißen als heilen könnten. Dementsprechend operieren sie nicht an der Front der Initiative, sondern agieren in der Sorge um die Belange ihrer Klientel eher als Bedenkenträger. Forderungen, sich den eigenen Verstrickungen in die Gewalttaten der Vergangenheit zu stellen, fanden kein positives Echo. Von einer aktiven kirchenübergreifenden Zusammenarbeit bei der Gestaltung des Friedensprozesses könne, so Moltmann, weiterhin keine Rede sein, „Ökumene“ sei für die Akteure auf beiden Seiten nach wie vor ein Reizwort. Auch wenn es in anstößigem Kontrast zur christlichen Friedensbotschaft stehe, bleibe ihre Bereitschaft einer eigenen friedensbezogenen Positionierung gering. Besser ist es dagegen um die christlichen Kirchen als Friedensstifter in Mittelamerika bestellt, wie Sabine Kurtenbach in ihrem Beitrag: „Die Rolle der Kirchen bei der Konfliktregulierung in Zentralamerika – Modell für andere Regionen?“ zeigt. Dort hatten Laienprediger und Geistliche in den 1970er und 1980er Jahren wesentlichen Anteil an der Beendigung der Bürgerkriege in El Salvador, Guatemala und Nicaragua, auch wenn ihre diesbezüglichen Verdienste
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nur selten angemessen gewürdigt wurden. Warum konnte dort gelingen, was andernorts fehlschlug oder von den Kirchen gar nicht erst versucht wurde? Kurtenbach zieht aus den Erfahrungen in Zentralamerika einige interessante Schlussfolgerungen über die Möglichkeiten und Grenzen des Engagements der Kirchen bei der Befriedung entlang sozioökonomischer Konfliktlinien gespaltener Gesellschaften. Erstens ist die zentralamerikanische Bevölkerung überwiegend katholisch (Guatemala bildet partiell eine Ausnahme). Einen historisch gewachsenen Konflikt zwischen katholischen und protestantischen Gruppen, der die politische Instrumentalisierung des Glaubens erleichtert hätte, gab es also nicht. In einer solch religiös weitgehend homogenen Gesellschaft kann die Kirche, wenn sie nicht selbst Konfliktpartei ist oder von einer der Konfliktparteien zur Parteinahme gezwungen wird, offenbar leichter friedensstiftend wirken als in anderen Gesellschaften – wie etwa der nordirischen. Zweitens bewies die katholische Kirche in Zentralamerika eine hohe Anpassungsfähigkeit an die spezifischen örtlichen Gegebenheiten. Das trug zu ihrer Verankerung in der Gesellschaft bei und verschaffte ihr Kontakte zu allen Konfliktbeteiligten, zur Regierung wie zur Opposition. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung, aber auch, weil es in ihren Reihen Verfechter beider Positionen gab, war sie als Vermittlerin für beide Seiten akzeptabel. Drittens hatte die Kirche selbst viele Opfer zu beklagen. Ihre Aufrufe zur friedlichen Beilegung des Konflikts fanden daher besonderes Gehör. Viertens schließlich konnten ihre Versöhnungsappelle und ihre Unterstützung verschiedener Friedensinitiativen aufgrund des Vertrauens, das sie in allen Bevölkerungsschichten genoss, nicht als strategische Manöver missverstanden werden. Als wichtig erwies es sich dabei zudem, dass die katholische (in Guatemala auch die lutherische) Kirche als nationaler wie internationaler Akteur, etwa bei der Überwindung von Blockadesituationen, tätig werden konnte. Doch auch wenn die Kirchen maßgeblich zum Zustandekommen der direkten Friedensverhandlungen in Zentralamerika beitrugen – die schließlich von der UNO zum Erfolg geführt wurden –, eine Einigung erzwingen konnten sie nicht. Dafür fehlten ihnen, so Kurtenbach, schlicht die Ressourcen und die Sanktionsmöglichkeiten, um entsprechenden Druck auf Regierung, Opposition und die Streitkräfte auszuüben. Erst der Druck der UNO und vor allem der USA schufen hier am Ende die Bereitschaft, den Verhandlungsergebnissen zuzustimmen. Völlig anders als in Europa oder Zentralamerika liegen die Verhältnisse im Nahen Osten, einem der zentralen Krisenherde der Weltpolitik. Hier ringen Christen, Juden und Moslems um den Frieden. Wer an diese Situation mit westlichen Vorstellungen von einem „interreligiösen Dialog“ herantrete, missverstehe sie gründlich, wie Thomas Scheffler in seinem Aufsatz „Dialog und Dialog, Frieden und Frieden: Zur Ambivalenz von interreligiösem Dialog und Friedensarbeit im Nahen Osten“ zeigt. Denn schon die Erwartungen an ein solches Reli-
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gionsgespräch, so Scheffler, seien zwischen den Konfliktparteien völlig unterschiedlich. Aufgrund der engen Verbindung von Religion und Ethnizität seien die Hürden, theologische Differenzen zur Disposition zu stellen, besonders hoch. Zudem spiele der Gedanke des „auserwählten Volkes“ auf allen Seiten eine zentrale Rolle. Die europäische, vor allem in postreformatorischer Zeit geprägte Idee des „Religionsgesprächs“ sei hier nicht anwendbar, da keine gemeinsame Vergangenheit in kirchlicher Einheit und kein darauf gründendes Gefühl der – bei aller Differenz – grundsätzlichen Zusammengehörigkeit existiere. Wer sich unter diesen Umständen auf einen „Religionsdialog“ einlasse, laufe Gefahr, nicht nur als Häretiker, sondern auch als Sachwalter gegnerischer Gemeinschaften ausgegrenzt zu werden. Schefflers Beispiele aus dem Libanon, aus Ägypten, Libyen und Jordanien sind denn auch alles andere als ermutigend: Christliche Initiativen würden regelmäßig verdächtigt, Transmissionsriemen westlicher Politik zu sein, moslemische Vorstöße trügen den Protagonisten schnell den Vorwurf des Verrats ein. Lokale und regionale Gespräche seien noch am ehesten möglich. Doch bleibe abzuwarten, so Scheffler, ob diese Versuche, den interreligiösen Dialog in lokale Kontexte einzubetten, dem Druck der internationalen Krisenprozesse standhalten können. Die empirisch orientierten Beiträge, insbesondere von Moltmann und Scheffler, lösen Skepsis aus hinsichtlich der Fähigkeit und der Bereitschaft religiöser Gruppen und Institutionen, in Konflikten friedensstiftend zu wirken. Dagegen zeigt Markus A. Weingardt in seinem Aufsatz „Das Friedenspotential von Religionen in politischen Konflikten – Beispiele erfolgreicher religionsbasierter Konfliktintervention“ noch einmal sehr deutlich, dass ein solches Engagement gleichwohl möglich ist. Er präsentiert zahlreiche Beispiele, wo politische Gewalt, aber auch nationale wie internationale Spannungen und Antagonismen erfolgreich durch religiöse Akteure beendet bzw. gemildert werden konnten: die „Rosenkranzrevolution“ von 1986 auf den Philippinen, der Einsatz der Laienorganisation Sant’ Egidio im Bürgerkrieg in Mosambik, das Friedensengagement des buddhistischen Mönchs Maha Ghosananda in Kambodscha seit den 1980er Jahren, die Vermittlung des Vatikans im Grenzkonflikt zwischen Chile und Argentinien (1978-1984), die Rolle der evangelischen Kirche in der DDR vor und während der friedlichen Revolution von 1989 etc. Die Gründe, warum es religiösen Akteuren in den genannten Fällen gelang, friedensstiftend zu wirken, sind vielfältig: Sie standen in dem Ruf, neutral bzw. überparteilich zu sein, und wurden daher von allen Konfliktbeteiligten als Vermittler akzeptiert; sie genossen eine hohe moralische Autorität, galten als besonders glaub- und vertrauenswürdig, und man schrieb ihnen eine besondere Kompetenz zur Konfliktbearbeitung zu.
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Vielfältig waren ebenso die Formen ihres Engagements: Es reichte von Schulungen in Gewaltlosigkeit und der Erziehung zur Toleranz über die Kontaktvermittlung, die Initiierung interreligiöser Dialoge und humanitäre Hilfe, über die Politikberatung und die Ausarbeitung konkreter Friedensinitiativen bis hin zu gewaltlosem Widerstand. Welches Instrument oder welche Kombination von Instrumenten zu welchem Zeitpunkt jeweils zum Einsatz kam, hing von den konkreten Umständen des gegebenen Konfliktfalles ab, etwa der an ihm beteiligten Parteien oder aber der gesellschaftlichen Verankerung und Ressourcenstärke der religiösen Akteure. Auch wenn die im vorliegenden Band präsentierten Befunde kein völlig einheitliches Bild liefern, so ist doch wichtig festzustellen, dass Religionen erkennbar nicht nur Konflikt auslösend oder verschärfend, sondern eben auch deeskalierend wirken können. Unter welchen Umständen letzteres der Fall ist, ob die Beiträge religiöser Akteure nur unter sehr spezifischen historischen, gesellschaftlichen oder institutionellen Bedingungen wirksam werden können, welche konkreten politischen Wirkungen sie zu entfalten vermögen und ob ihre Leistungen auch von nicht-religiösen Akteuren erbracht werden könnten, um diese Fragen zu beantworten bedarf es weiterer Untersuchungen. Sie könnten, vor allem wenn sie über einzelne Regionen und Religionen hinaus vergleichend angelegt sind, Erkenntnisse über die Möglichkeiten und Grenzen religionsbasierter Friedensarbeit liefern und zugleich als Ansatzpunkt für die Entwicklung konkreter Strategien und Handlungsempfehlungen einer solchen Arbeit dienen. Literatur Armstrong, Karen (2004): Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam. München. Appleby, R. Scott (2000): The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence and Reconciliation. Lanham, Md. Bellah, Robert N. (1967): Civil Religion in America. In: Daedalus 96: 1-21. Bellah, Robert N. (1975): The Broken Covenant. American Civil Religion in Time of Trial. New York. Brocker, Manfred (2003): Politisierte Religion: Die Herausforderung des Fundamentalismus in vergleichender Perspektive. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 13/1: 23-52. Brocker, Manfred (2004a): Protest – Anpassung – Etablierung. Die Christliche Rechte im politischen System der USA. Frankfurt a. M. / New York. Brocker, Manfred (2004b): Das Verhältnis von Politik und Religion im zeitgenössischen amerikanischen Liberalismus. In: Manfred Walther (Hrsg.), Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes. Baden-Baden: 293-302. Chiozza, Giacomo (2002): Is There a Clash of Civilizations? Evidence from Patterns of International Conflict Involvement, 1946-1997. In: Journal of Peace Research 39/6: 711-734. Fox, Jonathan (2001): Two Civilizations and Ethnic Conflict: Islam and the West. In: Journal of Peace Research 38/4: 459-472.
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I. „Religionsdialoge“ in Geschichte und Gegenwart
Mittelalterliche Religionsdialoge: Auf der Suche nach einer interreligiösen Hermeneutik Mathias Hildebrandt
1. Die lange Tradition des Religionsdialogs Der Dialog der Religionen ist nicht erst eine Erfindung der Moderne oder sogar der Gegenwart, sondern kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die letztendlich bis zu den platonischen Dialogen zurückreicht. In gewissem Sinne können schon die philosophischen Dialoge Platons als Religionsdialoge bezeichnet werden, insoweit das Denken Platons eine religiöse Dimension besitzt und sich mit der überlieferten griechischen Religion bzw. Mythologie seit Homer auseinandersetzt. Die platonischen Dialoge haben ihre Wurzeln wiederum in der antiken Tragödie und dem sophistischen bzw. sokratischen Gespräch. Platons Dialoge wurden in der Folgezeit zum klassischen Vorbild, das nicht nur im antikgriechischen und hellenistischen Kulturraum wirkte, sondern über die Stoa insbesondere durch Cicero für die römische Kultur rezipiert wurde und sich dort fest etablierte. Von besonderer Bedeutung für das Mittelalter wurde Boethius’ Zwiegespräch mit der Philosophie (Boethius 1971). Die Eigentümlichkeit dieser Dialogform bestand in der Suche nach der Wahrheit, die durch dialektische Rede und Gegenrede gefunden werden sollte. Zumeist werden diese Dialoge von überlegenen intellektuellen Autoritäten dominiert, die ihre Gesprächspartner an die Wahrheit heranführen und sie damit gleichzeitig von ihren Irrtümern und Irrwegen befreien. Damit sind diese Dialoge oftmals durch ein Lehrer-SchülerVerhältnis geprägt, das den Unwissenden an die Erkenntnisse des Wissenden heranführt und unterweist. Für unseren Gegenstand ist nun die Tatsache bedeutend, dass diese Form des Dialoges in der Spätantike vom aufsteigenden Christentum rezipiert wurde und in der Auseinandersetzung zunächst mit dem Judentum (Iustinus Martyr 1917), dann aber auch mit der römischen religio civilis (Minucius Felix 1993), der antiken Skepsis (Augustinus 1928), konkurrierenden Religionen, wie dem Manichäismus (Hegemonius 1906; Augustinus 1972, 2004a, 2004b) und christlichen Häresien (Origines 1974), wie z. B. den Arianern, den Pelagianern (Augustinus
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2004c), den Donatisten (Augustinus 1963), den Arianern (Kyrillos von Alexandrien 1976-1978) und den Nestorianern (Kyrillos von Alexandrien 1965) angewandt wurde (vgl. Gruber 2002). Diese Form des Streitgespräches fand sowohl Eingang in die griechische Literatur des Oströmischen bzw. des Byzantinischen Reiches als auch in die lateinische Literatur des Westens und damit in das europäische Mittelalter (vgl. Hunger 2002). Diese spätantiken Dialoge sind der Literaturgattung der christlichen Apologetik zuzurechnen. Sie verteidigen und rechtfertigen die christlichen Glaubenssätze gegen die Kritik ihrer paganen Umwelt und konkurrierender Religionen, dienen aber auch der Durchsetzung der katholischen Orthodoxie gegenüber innerchristlichen Häresien. Neben der apologetischen Funktion haben sie damit auch immer eine missionarische Dimension angesichts der Tatsache, dass der Gesprächspartner vom christlichen Glauben überzeugt werden soll. In nicht wenigen Fällen obsiegt dann auch der christliche bzw. katholische Standpunkt und vermag den Gegner in die Schranken zu verweisen bzw. zu schlagen und auf die Seite der Kirche zu ziehen. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, wie realistisch sind diese Dialoge? Grundsätzlich ist dazu zu bemerken, dass es sich bis auf wenige Ausnahmefälle um fiktive oder fingierte Dialoge handelt, deren Verlauf natürlich von den Zielsetzungen ihrer Autoren vorgegeben und bestimmt werden. Sie übernehmen auch die Funktion propagandistischer Streitschriften, wie z. B. die nicht in Dialogform, sondern in Form eines Schreibens an den Kaiser gerichtete Apologie des Tertullian (Tertullian 1992). Insoweit sind diese Dialoge als nicht realistisch einzuschätzen. Auf der anderen Seite spiegeln sie aber die religiösen Konfliktlinien und Auseinandersetzungen ihres Zeitalters wider und dürften auf tatsächlich stattgefundene Streitgespräche zurückgehen und deren Verarbeitung darstellen. Insoweit haben sie einen realistischen Kern. Natürlich bietet die schriftliche Verarbeitung eines evtl. persönlich erfahrenen Streitgespräches die Möglichkeit, die eigene Argumentation zu verbessern und den Gesprächsaufbau so zu gestalten, um den Gegner in Fallen zu locken und in Widersprüche zu verwickeln, wodurch die eigene Argumentation in einem besseren Licht erscheint. Aber diese Dialoge und Streitschriften dienten für die Anhänger des Christentums natürlich auch als Argumentationshilfen in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern und dürften damit zur Verbesserung der Argumentation der Christen beigetragen haben. Die Tatsache, dass das Christentum letztendlich siegreich aus diesen geistigen Kämpfen hervorgegangen ist, dürfte unter vielen anderen Faktoren auch etwas mit der Qualität dieser Schriften zu tun haben. Insoweit könnte man von einem geschönten Realismus dieser Dialoge sprechen. Diese allgemeinen Vorbemerkungen gelten cum grano salis auch für die mittelalterlichen Religionsdialoge, denen wir uns nun zuwenden wollen.
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2. Die mittelalterlichen Religionsdialoge 2.1 Veränderte Konfliktlinien Die Literatur der mittelalterlichen Religionsdialoge ist bisher noch kaum aufgearbeitet worden. Während es zu den einzelnen Dialogen eine überschaubare Reihe von Abhandlungen gibt, wurden meines Wissens bisher gerade einmal drei Sammelbände, die die mittelalterlichen Dialoge bzw. Religionsdialoge zum Gegenstand haben, publiziert (Lewis 1992; Jacobi 1999a; Lutz-Bachmann 2004). Da die darin enthaltenen Beiträge sich mit einzelnen Autoren bzw. Aspekten mittelalterlicher Religionsdialoge auseinandersetzen und auch die Einleitungen keinen systematischen Überblick zum Thema bieten, ist es angebracht, einige allgemeine Bemerkungen voranzuschicken, um das Terrain der folgenden Ausführungen abzustecken. Im Gegensatz zu den spätantiken Religionsdialogen haben sich für die mittelalterlichen Religionsdialoge die politischen Konfliktlinien verschoben. Während in der Spätantike die Auseinandersetzung zum einen zwischen den Christen einerseits und der paganen Umwelt in Form der Philosophie, der römischen religio civilis und dem Manichäismus andererseits und zum zweiten zwischen dem sich formierenden orthodoxen Katholizismus einerseits und den vielfältigen Häresien andererseits verlief, sind die mittelalterlichen Religionsdialoge durch andere Konfliktlinien geprägt. Die Auseinandersetzung mit christlichen Häresien verschwindet aus den mittelalterlichen Religionsdialogen, obwohl das Hohe Mittelalter natürlich vehemente Konflikte mit häretischen Strömungen wie den Bogomilen, den Albigensern, den Katharern, den Waldensern, den Geißlern, den Brüdern des freien Geistes, den Taboriten usw. kannte (vgl. Cohn 1998). Aber eine literarische Verarbeitung in Dialogform setzte erst im späten Hochmittelalter mit Raimundus Lullus (1232-1316) ein (vgl. unten 3.7). Im Gegensatz zu dieser Veränderung wird das antike Erbe der Auseinandersetzung mit dem Judentum übernommen und bleibt das ganze Mittelalter bis in die Neuzeit hinein virulent. In den meisten Religionsdialogen stellt das Judentum einen Gesprächspartner. Dies ist darauf zurückzuführen, dass während des Mittelalters aufgrund der jüdischen Diaspora in Europa eine ganze Reihe von realen, teils öffentlichen Religionsdialogen zwischen Christen und Juden stattgefunden haben, die oftmals anschließend in literarischer Form verarbeitet wurden (vgl. Bunte 1990; Sapir Abulafia 1998). Als neue Konfliktlinie wurde mit der Ausbreitung des Islam seit dem 7. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit dem Koran und dem Propheten Mohammed in die Literatur der Religionsdialoge aufgenommen. Dies geschah zunächst im
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Byzantinischen Reich, das als erstes mit der neuen Religion in Berührung kam (vgl. Khoury 1969; Rissanen 1993; Newman 1993). Im Westen beginnt die theologische Auseinandersetzung mit dem Islam nicht wie zu erwarten gewesen wäre mit der Eroberung Spaniens im 8. Jahrhundert, sondern erst mit der beginnenden Reconquista und dem Zeitalter der Kreuzzüge am Ende des 11. und zu Beginn des 12. Jahrhunderts. Seitdem sind Muslime auch in den lateinischen Religionsdialogen des Mittelalters ein fester Bestandteil (vgl. zur allgemeinen Geschichte zwischen Christentum und Islam: Durant 1956; Cardini 2000; Goddard 2000; Hagemann 1999 Wheatcroft 2004; vgl. zur gegenseitigen Wahrnehmung von Christentum und Islam: Blanks 1999; Fritsch 1930; Southern 1981; Thomas 1987; Tolan 2002). Die Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie blieb ebenso in der Literatur der mittelalterlichen Religionsdialoge erhalten, wie die Diskussionen mit dem Judentum, allerdings unter leicht veränderten Vorzeichen. Während die spätantike christliche Literatur die Philosophie einerseits als Konkurrenten auf der Suche nach der Wahrheit wahrnahm und sie bekämpfte, sie aber andererseits im Dienste ihrer Apologetik und Theologie auch rezipierte, haben die mittelalterlichen Religionsdialoge dieses symbiotische Verhältnis zur Philosophie vertieft. Sie wird nicht mehr als Gegner ausgemacht, sondern zunehmend als Verbündeter, mit dessen Hilfe man beanspruchte, die Wahrheit der der Vernunft zugänglichen Aspekte des Christentums zu beweisen. Diese veränderte Stellung der Philosophie ist darauf zurückzuführen, dass in der mittelalterlichen Scholastik die Philosophie eben nicht wie in der Spätantike beanspruchte, eine andere und bessere Wahrheit zu vertreten als das Christentum und damit kein grundsätzlicher Widersacher war. Im Übrigen war die scholastische Rezeption der antiken Philosophie, die damit entstehenden Domschulen, aus denen die Universitäten hervorgingen und eine intellektuelle Klerikerschicht hervorbrachten, die Voraussetzung für die Verfassung der mittelalterlichen Religionsdialoge. 2.2 Die Gegenstände der Religionsdialoge Die Gegenstände sind explizit theologischer Natur. Politische, soziale, ökonomische und andere Aspekte tauchen nur gelegentlich und nur in den späteren Religionsdialogen auf. Die theologischen Differenzen bleiben durchwegs der eigentliche Gegenstand der Dialoge, die sich immer wieder um die gleichen Fragen drehen. Vereinfacht könnte man formulieren, dass diese Dialoge sich um die Beantwortung einer alles entscheidenden Frage zentrieren: Ist Jesus Christus der Messias bzw. Gottes Sohn oder nicht? Die Zentralität dieser Fragestellung ist insoweit verständlich und nachvollziehbar, als die Frage des Status’ der Person Jesu Christi natürlich die entscheidende Sollbruchstelle zwischen jüdischer,
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christlicher und islamischer Theologie darstellt, insoweit sowohl das Judentum als auch der Islam das Selbstverständnis des Christentums, Jesus Christus sei der Messias und Gottes Sohn, nicht akzeptieren und zurückweisen. Insoweit stehen von jüdischer Seite die Nichtanerkennung Jesu Christi als Messias, von christlicher Seite die Offenbarungsdogmen der Inkarnation und der Trinität, und von muslimischer Seite die Nichtanerkennung Jesu Christi als Gottes Sohn, die Prophetenschaft und Charaktereigenschaften Mohammeds, die Offenbarungsqualität des Korans und die islamische Ethik zur Diskussion und werden in feinere theologische Verästelungen und Differenzen hinein verfolgt. Da die hier behandelten Dialoge und Streitschriften durchwegs aus christlicher Feder stammen, dürfen die Ergebnisse der Dispute genauso wenig überraschen wie die Ergebnisse der Religionsdialoge der Kirchenväter: Die christliche Religion bzw. der christliche Glauben – es werden zumeist die Begriffe religio, fides und lex benutzt – geht durchweg als der überlegene und heilswirksamere Glauben aus den Dialogen hervor. Insoweit ist die Zielsetzung dieser mittelalterlichen Dialoge ebenso apologetisch und missionarisch wie diejenige der frühchristlichen Dialoge. Obwohl die theologischen Aspekte in diesen Dialogen eindeutig dominieren, haben sie dennoch in mehrfacher Hinsicht eine politische Tiefendimension, die eine politikwissenschaftliche Behandlung dieses Themas rechtfertigen. Alle diese Dialoge sind aus der Erfahrung von Religions- und Kulturbegegnungen hervorgegangen, die im Falle des Islam immer einen kriegerischen Charakter hatten, im Falle des Judentums zwar zumeist friedlich verliefen, aber ebenfalls als Bedrohung wahrgenommen wurden. Bedrohlich war nicht allein die militärische Gefahr, sondern die konkurrierenden Wahrheitsansprüche, die nicht nur die eigene Religion (religio), den eigenen Glauben (fides), sondern auch die eigene Gesetzesordnung (lex) und damit die eigene Lebensform (vita) bedrohten. Letztendlich stand in diesen Religionsgesprächen nichts geringeres als die Legitimität der mittelalterlichen politischen Ordnung zur Disposition, wenn die eigene Theologie nicht als wahr erwiesen oder zumindest gegen Kritik verteidigt werden konnte. Das Christentum musste in diesen Dialogen obsiegen, um die Legitimität der eigenen Lebensform und politischen Ordnung zu verteidigen. Aber diese Religionsdialoge haben nicht nur eine unterschwellige innenpolitische Dimension, sondern auch eine offen zu Tage tretende außenpolitische Funktion, insoweit durch die Ausbreitung des Islam der universelle Anspruch des Christentums bedroht war. Die Religionsdialoge haben deshalb nicht nur eine innenpolitische, sondern auch eine außenpolitische apologetische und missionarische Funktion, insoweit sie auf die Eindämmung, aber auch das Zurückdrängen des Islam in dessen eigenen Herrschaftsbereich abzielten. Von politikwissenschaftlichem Interesse ist dieser Aspekt der Religionsdialoge deshalb,
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weil sie sich explizit als Alternative zur militärischen Bekämpfung des Islam durch Kreuzzüge verstanden. Die Verfasser der Religionsdialoge wollten eine friedliche, geistige Auseinandersetzung mit dem Judentum und dem Islam, um eine friedliche Missionierung und Konversion der Andersgläubigen herbeizuführen. Zu diesem Zweck suchten sie Mittel und Wege der Verständigung, um die Differenzen zwischen den Kulturen und Religionen zu überbrücken. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist es deshalb von außerordentlichem Interesse, wie mit diesen Differenzen umgegangen wurde, wie auf der Grundlage religiös-theologischer Differenzen ein Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionen ermöglicht und geführt wurde. Unter dieser Perspektive und Fragestellung haben die mittelalterlichen Religionsdialoge einige interessante Einsichten zu bieten, die zwar nicht der Weisheit letzten Schluss darstellen, aber auch für die gegenwärtigen Dialoge der Religionen und Kulturen von Bedeutung sind, insoweit sich im Mittelalter zunehmend die Einsicht durchsetzte, dass derartige Gespräche nicht voraussetzungslos sind und auf eine ganze Reihe von Hürden stoßen, die überwunden werden müssen, um erfolgreiche Gespräche zu ermöglichen. Diese Voraussetzungen stehen zwar nicht im Zentrum der mittelalterlichen Religionsdialoge, werden aber entweder zu Beginn oder im Verlauf der Gespräche explizit oder implizit thematisiert und problematisiert. Es gilt also im Weiteren die Dialoge auf ihren Rahmen hin zu untersuchen und zu fragen: Welche Aspekte werden als Vorbedingungen für einen erfolgreichen Dialog herausgearbeitet? Wie ist eine Verständigung zwischen konkurrierenden Offenbarungsreligionen möglich? Welchen Hintergrund entwerfen die Autoren für ihre Dialoge, welche Szenerie wählen sie, mit welcher Haltung begegnet man sich, welche Gesprächsregeln werden aufgestellt, welche Argumente sind zugelassen und welche nicht, welche Autoritäten dürfen herangezogen werden und welche nicht, welche Kenntnisse hat man von der anderen Seite und welche nicht, sind sie zutreffend oder irreführend, wie weit tragen diese Regeln und Kenntnisse und wann führen sie das Gespräch in eine Sackgasse und lassen es letztendlich scheitern? Insgesamt gesehen soll also die Entwicklung einer interreligiösen oder interkulturellen Hermeneutik der mittelalterlichen Religionsdialoge herausgearbeitet werden und danach gefragt werden, welche Leistungen sie erbracht hat und wo ihre Grenzen liegen.
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3. Die Entwicklung einer mittelalterlichen interreligiösen Hermeneutik 3.1 Johannes Damaskenos (ca. 675-753/54) und Theodor Abnj Qurra (ca. 750820/25) Als die Araber nach dem Tod Mohammeds (632) ausgehend von der arabischen Halbinsel große Teile des Byzantinischen Reiches mit seiner christlichen und jüdischen Bevölkerung erobert hatten, kam es zu einer ganzen Reihe von theologischen Disputen zwischen Christen und Muslimen, von denen uns die Quellen berichten bzw. die uns sogar überliefert sind.1 Von besonderer Bedeutung in dieser lebendigen dialogischen Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen sind die Schriften des Johannes Damaskenos (ca. 670-753/54), dem Leiter der Finanzverwaltung von Damaskus und die ihm zugeschriebenen, aber überwiegend von Theodor Abnj Qurra (750820/25), dem Bischof von Harran, stammenden Texte (vgl. Khoury 1995). Im Weiteren werde ich die Schriften der beiden zum Islam, die im Wesentlichen aus Dialogfragmenten oder Kurzdialogen bestehen, der Einfachheit halber gemeinsam behandeln. Die Dialoge verfolgen eine doppelte Stoßrichtung. Auf der einen Argumentationsebene stellen sie Polemiken gegen den Islam dar mit dem Ziel, Mohammed als falschen Propheten, den Koran als falsche Offenbarung sowie Lehre und Gesetz des Korans als minderwertig zu erweisen. Auffällig ist auch, dass der Islam nicht als neue Religion, sondern im Rahmen des christlichen Weltbildes als eine ursprünglich arianische Häresie wahrgenommen und als Vorläufer des Antichrist identifiziert wird. Die Polemiken gegen den Islam enden – wie nicht anders zu erwarten – mit einer Widerlegung des Korans. Auf der anderen Argumentationsebene formulieren die Schriften eine Apologetik des Christentums und seiner Dogmen, wie der Trinitätslehre, dem Kreuzestod Christi, der menschlichen Willensfreiheit, den christlichen Kulten und seiner 1
So hat der monophysitische Patriarch von Antiochien, Johannes I. (635-648) im Jahre 639 oder 644 ein Gespräch mit einem muslimischen Statthalter geführt, bei dem es sich möglicherweise um Amr ibn al-`s, den Statthalter Ägyptens, handelte. Der gleiche Statthalter hat 643 evtl. auch ein Gespräch mit Benjamin von Alexandrien, dem Patriarchen der Monophysiten in Ägypten geführt. Ein nestorianischer Mönch des Klosters Beit-Hale, namens Abraham, verfasste 670 eine Schrift über ein Gespräch zwischen einem Christen und einem Muslim. Zwischen 684 und 687 formulierte der jakobitische Patriarch Athanasios von Balad ein Rundschreiben über das Verhältnis von Christen und Muslimen und vom Beginn des 8. Jahrhunderts ist der Text einer christlich-islamischen Kontroverse erhalten. Das so genannte Religionsgespräch von Jerusalem zwischen dem Christen Ibrahhm al-Tabaranh und dem Khalifen Abd al-Malik (685-705) ist vermutlich eine literarische Fiktion aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts (vgl. Khoury 1995: 34 f. mit Quellenangaben).
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Morallehren, die im Gegenzug zur Polemik wider den Islam als wahr erwiesen werden. Für unsere Fragestellung interessanter als die theologische und apologetische Theologie sind die formalen Methoden der Argumentation. Auch hier lassen sich zwei Ebenen unterscheiden. Auf der einen Seite greift die theologische Argumentation auf die Autoritäten des Alten und des Neuen Testamentes zurück, um sowohl die Unwahrheit des Islam als auch die Wahrheit des Christentums zu erweisen. Gelegentlich werden sogar einige Suren des Korans vom christlichen Gesprächspartner herangezogen, wenn sich diese als eine Bestätigung des Christentums lesen lassen. Aber dieser Rückgriff auf die christlichen Autoritäten bleibt für den muslimischen Gesprächspartner letztendlich unbefriedigend, weil er mit diesen „nicht eben viel zu schaffen“ hat (Damaskenos/Abnj Qurra 1995: 115), d. h. sie als Autoritäten nicht anerkennt. Er bittet den christlichen Gesprächspartner daher mehrmals, ihn „aufgrund zwingender und allgemein anerkannter Grundsätze“ (115, 109) zu überzeugen. Der christliche Theologe greift daraufhin auf die Grundprinzipien der Philosophie zurück und bemüht neben der platonischen Dialektik insbesondere die Kategorien der aristotelischen Metaphysik und Logik, um den Sarazenen, Barbar, Araber oder Hagarener – wie der Gesprächspartner bezeichnet wird – mit Hilfe von Syllogismen, Differenzierungen, Analogieschlüssen und Ausschlussverfahren zu widerlegen und den Zugang zum eigenen christlichen Glauben durch die Vernunft zu erleichtern. In dieser Übertragung philosophischer Methoden auf die Theologie erweist sich der Christ seinem muslimischen Gesprächspartner als überlegen. Es handelt sich durchwegs um asymmetrische Schüler-Lehrer-Dialoge: Der Muslim fragt, der Christ antwortet und erläutert. Gelegentlich greift der muslimische Gesprächspartner die philosophischen Methoden der Logik auf, um dem Christen Contra zu bieten, wird aber dennoch vom Christen widerlegt. Der Muslim erweist sich in philosophischen Dingen als Lehrling, der nicht mehr vollkommen unbedarft ist, aber sich der Meisterschaft des Christen als noch nicht gewachsen zeigt. Charakteristischerweise enden die Dialoge mit dem Schweigen der Muslime und gelegentlich wird eine Konversion angedeutet, aber nicht vollzogen. Die Dialoge beanspruchen also, die Überlegenheit des Christentums über den Islam zu erweisen. Sie sind apologetische Verteidigungsschriften, deren oftmals polemischer Ton eine Verständigung und gegenseitigen Respekt unmöglich machen. Inwieweit kann das in diesen Dialogen entfaltete Szenario der Begegnung der Religionen als realistisch bezeichnet werden? Auf der einen Seite scheint es eher unrealistisch zu sein. Das Christentum im Nahen bis Mittleren Osten und auch in Nordafrika war zersplittert. Die Kirchen von Ägypten, Äthiopien, Armenien und Syrien bestanden aus mehrheitlich monophysitischen Christen und die persi-
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schen Christen waren Nestorianer, die von der melkitischen Kirche Byzanz’ unterdrückt und verfolgt wurden. Daher wurde die in religiösen Fragen tolerantere Herrschaft der Muslime bevorzugt und es kam auch zu zahlreichen Konversionen. In dieser Hinsicht erwies sich das Christentum dem Islam als unterlegen. Auf der anderen Seite hatten die Christen die erfahreneren und philosophisch geschulteren Theologen, was auf die Revitalisierung der aristotelischen Tradition im 4. und 5. Jahrhundert zurückzuführen ist. Insoweit erwiesen sich die Christen den Muslimen als intellektuell überlegen und stellten eine Herausforderung dar, die die Muslime, insbesondere unter dem Khalifen al-Ma’mum (813-833), annahmen. Denn es erwies sich als sinnlos auf der Grundlage konkurrierender Offenbarungsschriften und Autoritäten zu argumentieren, die nicht als solche von allen Seiten anerkannt wurden. Man musste für ein erfolgreiches Gespräch auf die allgemein akzeptierten Grundsätze und damit auf die griechische Philosophie zurückgreifen, weshalb eine rege Übersetzungstätigkeit nestorianischer Christen und Konvertiten einsetzte, die die griechischen Philosophen ins Arabische übersetzten und damit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der islamischen Theologie und des islamischen Rechts leisteten. In dieser polemischen Situation wurde die Philosophie sowohl zur Brücke zwischen den Religionen als auch die Waffe, mit der auf dieser Brücke gekämpft wurde. In der muslimischen Welt ermöglichte die Rezeption des griechischen Denkens die Entstehung der islamischen Philosophie und in der byzantinischen Welt die Stärkung der philosophischen Elemente in der christlichen Theologie. Im Laufe des 10. Jahrhunderts wurden in den großen Kulturzentren des Ostens, insbesondere in Bagdad und Kairo, „freundschaftliche Religionsgespräche zu einer feststehenden Sitte“, in denen sich „Vertreter von Islam, Judentum und Christentum zu öffentlichen Unterredungen“ trafen. In den Überlieferungen dieser Disputationen „fehlt jede dogmatische Berufung auf die Autoritäten des eigenen Glaubens.“ Vielmehr versuchten die Teilnehmer an diesen Disputen, „die wahre Religion am Maßstab der menschlichen Einsicht zu ermitteln.“ Aus der Hauptstadt des Byzantinischen Reiches „sind aus jener Epoche ebenfalls regelmäßige christlich-jüdische Disputationen bezeugt“ (Gauss 1966: 296). Im Zuge dieser Rezeption der antiken Philosophie und deren Erprobung in diesen Religionsdialogen gingen die Muslime zum theologischen Gegenangriff über und versuchten nun ihrerseits, die christlichen Glaubenssätze zu widerlegen, wie z. B. die Confutatio des Al Qasim († 860), die erste vergleichende Religionsgeschichte des Ibn Hazam (994-1064) und die Refutatio des Al Ghazali (10851111) (vgl. Gauss 1966: 282 f., 297) zeigen. Die Resultate dieser islamischen und jüdischen Religionsphilosophie stellten die intellektuellen Machtverhältnisse auf den Kopf und zwangen das Christentum in eine theologische Defensive: „Dabei erwiesen sich die Grundlehren des
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Monotheismus – ein allumfassender Schöpfergott, Erschaffung und Leitung der Welt, ein Heilsziel für alle Menschen – weitgehend im Einklang mit der philosophischen Vernunfterkenntnis. Es schien darum zu gelingen, die Offenbarung durch die Vernunft zu erhellen und zu begründen. Unweigerlich aber standen die essentiellen Dogmen des christlichen Glaubens, die Lehren von der Trinität und der Menschwerdung Gottes, im Widerspruch zu der philosophischen Ratio, bestätigten sich also wie von Anfang an vor der logisch dialektischen Einsicht als Skandalon, als Ausdruck der Unvernunft oder Widervernunft“ (Gauss 1966: 282). Diese Defensive scheint sich aber nicht nur auf die islamische und orthodoxe Welt begrenzt zu haben, sondern ihre Auswirkungen waren auch im lateinischen Westen zu spüren, dem wir uns im Folgenden anhand der wichtigsten scholastischen Religionsdialoge zuwenden wollen. 3.2 Gilbertus Crispinus (1045-1117) und Anselm von Canterbury (1033-1109) Seit dem Ende des 10. Jahrhunderts entwickelte sich in Europa die jüdische Talmudgelehrsamkeit sowie Talmudschulen, die unter den Rabbinern Gershom ben Jehudah (960-1028) in Mainz und Salomon ben Isaaki (1040-1105) in Troyes – begünstigt durch das Ende des jüdischen Gaonats in Babylonien im Jahre 1040 – zum Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit der damaligen Welt aufstiegen. Erleichtert wurde diese Entwicklung durch jüdische Handelsreisende und Kaufleute, die den Kontakt zur islamischen Welt aufrecht erhielten und für einen stetigen Nachrichtenfluss sorgten, mit dem auch die aus den östlichen Religionsdialogen gewonnenen philosophischen und rhetorischen Einsichten ihren Weg nach Europa fanden. In diesem Zeitraum waren die Juden eine aufgrund ihres wirtschaftlichen Wohlstandes – der auf Landwirtschaft, Weinbau und Viehzucht beruhte – und ihrer Bildung durchaus anerkannte und integrierte soziale Schicht, die eine nicht geringe Anziehungskraft auf ihre christliche Umgebung ausübte. Christen kauften bei den Juden Fleisch und Wein, feierten mit ihnen den Sabbath und nahmen auch häufig an den jüdischen anstatt den christlichen Gottesdiensten teil (Awerbuch 1980: 13 ff, 23 ff). In dieser Situation erwies sich die intellektuelle Überlegenheit der jüdischen Gelehrten als eine echte Bedrohung für die christliche Geistlichkeit. Die Schärfe der jüdischen Polemik gegen die christlichen Dogmen offenbarte die geistige Wehrlosigkeit der Laien und des Klerus gleichermaßen. Denn da sich die jüdischen Gelehrten „im exegetischen Streit auf den verständlichen Wortsinn stützten und in der dialektischen Gedankenführung geschult waren, so wussten sie eben die Vernunft in doppelter Weise auf ihrer Seite. Dagegen scheuten Priester und Bischöfe in der Regel vor einer Disputation zurück, besonders wenn diese vor Zeugen oder gar in aller Öffentlichkeit zu führen war. Ein eklatantes Beispiel dafür bietet das Londoner Glaubensgespräch um 1090,
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wo auf Befehl des Königs Wilhelm Rufus der englische Episkopat sich den Juden entgegenstellen musste. Nur ‚mit großer Furcht‘ nahm er die Sache auf sich“ (Gauss 1966: 289 f.). Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte dieses Londoner Religionsgespräch von 1090 den Erfahrungsanlass für die Abfassung des ersten bedeutenden Religionsdialogs im lateinischen Westen durch den Cluniazenser Gilbertus Crispinus gewesen sein, der während seiner Ausbildung bei Lanfranc (1005-1089) und Anselm von Aosta (1033-1109) nicht nur mit der Kirchenreformbewegung, sondern auch mit der im Entstehen begriffenen Scholastik in Berührung kam. Als Lanfranc 1078/79 zum Erzbischof von Canterbury ernannt wurde, ging Gilbertus Crispinus mit ihm nach England und wurde 1085 Abt von Westminster. Dieses Amt hatte er bis zu seinem Tode im Jahre 1117 inne. Nach dem Tode Lanfrancs 1089 wurde Anselm von Aosta 1093 von König Wilhelm II. Rufus von England (1087-1100) zum Erzbischof von Canterbury ernannt. Im Zuge der normannischen ‚Eroberung‘ Englands gelangten auch jüdische Gemeinden aus der Normandie (Rouen) nach London. Die Aufforderung des Königs an den englischen Episkopat, sich einem Religionsgespräch mit den jüdischen Gelehrten zu stellen, war möglicherweise durch seine willkürliche Kirchenpolitik und die Hoffnung motiviert, den Klerus öffentlich zu desavouieren, was ihm anscheinend auch gelungen ist: Die jüdischen Theologen erwiesen sich als überlegen (Awerbuch 1980: 99 f.). Das Religionsgespräch des Gilbertus Crispinus Disputatio iudaei et christiani – entstanden im Winter 1092/93 – geht aber nicht nur auf dieses Londoner Gespräch zurück, sondern hat wohl auch private Unterredungen des Crispinus mit einem an der Mainzer Talmudschule ausgebildeten Juden als Hintergrund, der Crispinus regelmäßig aufsuchte und mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Dementsprechend findet dieses öffentliche Gespräch vor Zuhörern in einer freundschaftlichen Atmosphäre statt und die Kontrahenten legen zu Beginn die Spielregeln fest. Man wolle sich in Geduld und Unvoreingenommenheit, mit Gleichberechtigung und gegenseitiger Achtung begegnen und „eher der Vernunft als dem Streit Raum geben“ (Crispinus 2005: 37). Es schwingt auch ein gewisser Respekt auf Seiten Crispinus’ mit, wenn er festhält, dass die Argumentation des Juden „in sich stimmig und geschlossen“ war und er seine Argumente „folgerichtig entwickelte (…) Schritt für Schritt“ (33). Wohl in schlechter Erinnerung an das Londoner Gespräch einigt man sich darauf, die Reaktion der „Zuhörer gar nicht [zu] beachten“ und den Beifall für den einen oder anderen „energisch zurück[zu]weisen.“ Nicht der „Beifall der Menschen“, sondern die „Vernunft“ und die „Autorität der Schrift“ sollen über den Ausgang des Disputs entscheiden (37). Die beiden Kontrahenten einigen sich also nicht nur auf Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs, sondern legen auch Argumentationsregeln fest,
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indem sie nur Vernunft- und Schriftbeweise als legitime Argumente zulassen. Dabei ist zu beachten, dass als gemeinsame Basis nur die Vernunft und das Alte Testament bzw. die Thora von beiden anerkannt werden, während das Neue Testament vom jüdischen Gesprächspartner zwar gelegentlich zitiert, aber nicht als Autorität anerkannt wird. Dies ist die Basis dieses interreligiösen Dialogs. Der Kern der Kontroverse besteht, wie der Jude explizit feststellt, in der Person Christi, den er zwar als „hervorragendsten Propheten“ (47), nicht aber als Messias und gleich gar nicht als Gottes Sohn anerkennen könne. Für ihn ist der Glaube (fides) an Jesus Christus „fantastischer Unsinn“, der weder aus der Bibel noch aus der Vernunft heraus zu beweisen sei (67). Für den Christen besteht folgerichtig die Aufgabe darin, mit Schriftbeweisen und Vernunftgründen die Inkarnations- und Trinitätslehre des christlichen Glaubens nachzuweisen. Crispinus’ Christ versucht diesen Nachweis zunächst mit der Hilfe von Schriftbeweisen zu erbringen, indem er die Trinität aus dem Buch Jesaija und dem Neuen Testament abzuleiten versucht (61-65). Aber diese hermeneutische Methode trifft sofort auf den Einspruch des Juden: Die Christen legen seiner Meinung nach das Buch Jesaija und nicht nur dieses falsch aus und interpretierten Aussagen in die Thora, die dort nicht zu finden seien. Damit wird ein grundsätzliches Problem dieses interreligiösen Dialogs thematisiert. Obwohl die Thora bzw. das Alte Testament von beiden Gesprächspartnern als gemeinsame Autorität anerkannt wird, ist dennoch eine Einigung über seine Aussagen nicht möglich. Das liegt zum einen daran, dass Zweifel über die Korrektheit der Übersetzung aus dem Hebräischen ins Griechische und Lateinische aufkommen und die Notwendigkeit eines kritischen Übersetzungsvergleichs thematisiert wird (89-97) und zum anderen auch Uneinigkeit über die Einschätzung des Buches Baruch als kanonische bzw. apokryphe Schrift herrscht (91-93). Die entscheidende Kontroverse entsteht aber in diesem Gespräch über die angemessene hermeneutische Methode. Während der Jude auf einer literalistischen Interpretation der Thora beharrt, um die Unveränderlichkeit des Gesetzes (lex) zu verteidigen, beharrt der Christ auf der figurativen, allegorischen oder mystischen Auslegung, mit der das Alte Testament immer als Hinweis auf das (bereits erfolgte) Kommen Christi interpretiert wird. Für den Juden eröffnet die allegorische Interpretation Tür und Tor zu einer beliebigen Auslegung, während der Christ die Notwendigkeit der allegorischen Auslegung verteidigt, um Widersprüche im Alten Testament auszuräumen. Es ist augenfällig, dass der Dialog immer wieder an das Problem der Unvereinbarkeit der beiden Hermeneutiken stößt, das letztendlich den Dialogpartnern die gemeinsame Basis entzieht und eine Verständigung auf dieser nunmehr gespaltenen Grundlage unmöglich macht. Dennoch hält der Christ an seiner Ableitung aus der Schrift nach seinem Verständnis fest, ist aber auch bereit, einen Vernunftbeweis zu führen. Crispinus
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gibt sich alle Mühe, seinen Christen die Menschwerdung Gottes in der Person Christi als „strengste logische Notwendigkeit“ (71) darlegen zu lassen, kommt aber über die Behauptung, dass die Überwindung der Erbsünde notwendigerweise die Menschwerdung Gottes erforderte, nicht hinaus (71-81). Der Christ sieht sich daraufhin genötigt, einzugestehen, dass diese Mysterien des christlichen Glaubens „von der menschlichen Vernunft nicht begriffen“, aber nach Aussage der Bibel über die Natur als Spiegel unscharf gesehen werden können (89). Den Juden kann diese Argumentation natürlich nicht überzeugen, die er mit dem Hinweis, der Christ tue „der Schrift Gewalt an“ und verdrehe „die Schriftstellen so lange, bis sie [seinen] Glauben belegen“ (81), zurückweist. Der Problematik einer ausschließlich vernünftigen Verteidigung des Christentums versucht Crispinus in seinem zweiten Gespräch, der Disputatio christiani cum gentili de fide Christi, auf den Grund zugehen. In diesem Dialog treffen zwei Philosophen aufeinander, von denen der eine Christ und der andere Heide (möglicherweise Muslim) ist. Auch dieses Gespräch findet öffentlich statt, allerdings in einer anderen Umgebung. Es ist in einem Gasthaus lokalisiert, das hauptsächlich von gebildeten Leuten und Studenten der sieben freien Künste frequentiert wird und damit die neue Welt der Dom- und Kathedralschulen symbolisiert, aus denen in der Folgezeit die mittelalterlichen Universitäten hervorgehen sollten. Der Heide, „ein kluger Bestreiter des christlichen Glaubens (fides)“ (139) bestand darauf, dass in diesem Gespräch keine Schrift-, sondern ausschließlich Vernunftbeweise zugelassen werden. Die beiden Gesprächspartner sind sich sehr schnell einig, dass dem Menschen dank seiner Vernunft der Weg einer vernünftigen Gotteserkenntnis offensteht, den zu gehen er die Pflicht hat und der ihn zur Einsicht in die Existenz eines einzigen Gottes führt (139-141). Dagegen gelingt es dem Christen erst nach längerer Argumentation den Heiden davon zu überzeugen, dass die christliche Interpretation von Altem und Neuem Testament nicht im Widerspruch zur Lehre von der Unveränderlichkeit Gottes steht. Der Heide akzeptiert die Argumente des Christen als rationale Argumente (153-173). Allerdings erschöpfen sich die Möglichkeiten eines ausschließlich auf Vernunftbeweisen beruhenden Diskurses sobald das Gespräch auf das Theodizeeproblem sowie das Inkarnations- und Trinitätsdogma gelenkt wird. Der Heide beendet den Dialog mit dem Hinweis, dass sein Gesprächspartner weder in der Lage wäre, ihm „einen vernünftigen Grund zu nennen“, noch ihm seine „Zustimmung durch irgendeine Überredungskunst abzuringen“ (181). Der Christ fühlt sich zu dem Zugeständnis gezwungen, dass die Diskussion des Trinitätsdogmas zu Schwierigkeiten selbst unter Christen führt (155), noch viel größer aber die Probleme in Gesprächen mit Ungläubigen seien, die leicht in die „Fallstricke des Irrtums“ (183), d. h. der Häresie getrieben werden könnten. Trotz dieser Zugeständnisse beharrt der Christ allerdings auf der Möglichkeit, seinen
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„Glauben an Gott vernünftig zu rechtfertigen.“ Allerdings ist die Möglichkeit einer vernünftigen Rechtfertigung an die Voraussetzung des Glaubens an die Göttlichkeit Christi gebunden, weshalb der letzte Teil des Dialogs nur unter Christen geführt wird und mit dem Ergebnis endet, dass der Glaube an die Trinität heilsnotwendig ist, deren Verständnis dagegen nicht. Obwohl in beiden Dialogen die Gesprächspartner sehr wohlwollend argumentieren und durchaus zu Zugeständnissen an die Gegenseite bereit sind, zeigen die Dialoge doch recht eindrucksvoll durch ihr Scheitern die komplexen hermeneutischen Voraussetzungen eines erfolgreichen interreligiösen Dialogs: Zunächst bedarf es von beiden Seiten akzeptierter Spielregeln, die die Gleichberechtigung der Akteure, den gegenseitigen Respekt und die Sachlichkeit der Argumentation verbürgen. Des Weiteren bedarf es aber auch gemeinsamer sachlicher Grundlagen (die Schrift), auf die man sich im Gespräch beziehen kann, um einen Konsens oder eine Verständigung herzustellen. Die gemeinsame Grundlage ist allerdings ohne eine gemeinsame hermeneutische Methode nicht ausreichend, um dieses Ziel zu erreichen. Die Offenbarung der Schrift durch die Vernunft als gemeinsame Grundlage zu ersetzen, erweist sich auch als problematisch, insoweit die Vernunft die christlichen Glaubensmysterien nur unter der Voraussetzung des Glaubens zu explizieren vermag. Ohne den gemeinsamen Glauben als Voraussetzung ist eine rationale Verständigung über die christlichen Glaubensmysterien nicht möglich (vgl. Jacobi 1999b). Dieses Ergebnis verweist auf die Theologie des Lehrers Gilbertus Crispinus’, Anselm von Canterbury, dem er seinen Dialog zur Prüfung vorlegte, wie er in der Einleitung schrieb. Anselm, dessen theologischer Grundsatz „credo, ut intelligam“ – ich glaube, um zu verstehen – lautete, versuchte im Anschluss an Gilbert die in dessen Dialog offen gelassene Frage nach der Göttlichkeit Christi in seinem Religionsdialog Cur Deus Homo – warum Gott Mensch wurde – zu beantworten. Der Dialog findet zwischen Anselm und seinem Lieblingsschüler Boso statt, der die Rolle derjenigen übernimmt, „who are wholly unwilling to submit to the same faith, without the support of reason.“ Gemeint sind damit die Juden und die Heiden, die zumeist als Philosophen muslimischer Herkunft skizziert wurden. Derselbe Boso stellt zu Beginn des Dialogs den theologischen Grundsatz des Anselm vor: „As the right order requires us to believe the deep things of Christian faith before we undertake to discuss them by reason; so to my mind it appears a neglect if, after we are established in the faith, we do not seek to understand what we believe.“ Es ist also auf der einen Seite die Aufgabe des gläubigen Christen, zu versuchen, die Glaubensdogmen durch rationale Untersuchung zu verstehen. Aber auf der anderen Seite führt eine gescheiterte Untersuchung auch nicht zu der Notwendigkeit, sich dem Diktat der Vernunft zu unterwerfen: „even were I unable in any way to understand what I believe, still
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nothing could shake my constancy“ (Canterbury 1998: I. 2). Damit bleibt die Offenbarung der Schrift auch für Anselm die höchste Autorität, wie er an anderer Stelle des Dialogs explizit feststellt: „if I say anything which plainly opposes the Holy Scriptures, it is false“ (I. 18). Dennoch erhebt Anselm mit diesem fiktiven Religionsdialog den Anspruch, „to investigate the reasonableness of our faith“ (I. 2). Die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens versucht er „by absolute reasons“ und „by plain reasoning“ (Preface) darzulegen: „so any reason, however small, if not overbalanced by a greater, has the force of necessity“ (I. 10). Auf dieser Grundlage erhebt Anselm den Anspruch, über die Entwicklung seiner ‚Satisfaktionstheorie‘2 die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes rational bewiesen und damit die Einwände von Juden und Heiden zurückgewiesen zu haben, wie Boso dies abschließend formuliert: „you convince both Jews and Pagans by the mere force of reason“ (II. 22). So siegesgewiss der Abschlusskommentar des Schülers klingt, so deutlich meldet der Meister aber auch seine Zweifel zu Beginn und am Ende des Dialogs an, ob der erhobene Anspruch auch tatsächlich eingelöst werden könne: das angeschnittene theologische Problem, „as it is of a form fair above the sons of men, so is it of a wisdom fair above the intellect of men“ (I. 2). Zwar glaubt Anselm an die Richtigkeit des christlichen Dogmas, aber ob seine rationale Beweisführung ausreichend ist, bezweifelt er: „there are doubtless many reasons which are beyond me and which mortal men does not reach“ (II. 19; vgl. Sapir Abulafia 1992). Hier zeichnet sich nun ein deutlicher Wandel des Religionsdialoges ab. Während Crispinus’ Dialog als ernsthaftes Zwiegespräch zwischen einem Juden und einem Christen einerseits und einem Christen und einem Heiden andererseits begann, endete es in einem Selbstgespräch, das der rationalen Selbstvergewisserung des eigenen Glaubens diente. So ist auch der Dialog des Anselm letztlich ein christliches Selbstgespräch, das den gleichen Zweck verfolgte. Letztendlich dienten diese Dialoge weniger der Verständigung zwischen den Religionen als 2
Der Dialog bietet in den Worten Bosos eine kurze Zusammenfassung des Argumentationsganges: „Boso: The substance of the inquiry was this, why God became man, for the purpose of saving men by his death, when he could have done it in some other way. And you, by numerous and positive reasons, have shown that the restoring of mankind ought not to take place, and could not, without man paid the debt which he owed God for his sin. And this debt was so great that, while none but man must solve the debt, none but God was able to do it; so that he who does it must be both God and man. And hence arises a necessity that God should take man into unity with his own person; so that he who in his own nature was bound to pay the debt, but could not, might be able to do it in the person of God. In fine, you have shown that that man, who was also God, must be formed from the virgin, and from the person of the Son of God, and that he could be taken without sin, though from a sinful substance. Moreover, you have clearly shown the life of this man to have been so excellent and so glorious as to make ample satisfaction for the sins of the whole world, and even infinitely more. It now, therefore, remains to be shown how that payment is made to God for the sins of men“ (II. 18a).
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vielmehr der Weiterentwicklung der christlichen Theologie zur frühmittelalterlichen Scholastik. In die selbe Richtung weist der nun zu behandelnde Dialog des Petrus Abaelardus. 3.3 Petrus Abaelardus (1079-1142) Während Gilbertus Crispinus und Anselm von Canterbury noch vor bzw. während des ersten Kreuzzuges (1096-1099) ihre Dialoge verfassten und auf ein relativ entspanntes Verhältnis zu den Juden blicken konnten, begann sich dieses Verhältnis in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu verschlechtern. Diese Entwicklung spiegelt sich auch im Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen des Petrus Abaelardus wider, das um 1125/26 entstand, und in dem der Autor dem Juden die Möglichkeit einräumt, sich über die schlechte Behandlung durch die Christen zu beklagen. So liegt dem Dialog des Abaelardus auch nicht mehr die Erfahrung eines wirklichen Religionsdialoges zugrunde, sondern es handelt sich explizit um einen fiktiven Religionsdialog in Form der „Erscheinung einer Nacht“, einer „Vision“ (Abailard 1996: 9). In dieser Vision kommen drei Menschen unterschiedlicher monotheistischer Glaubensrichtungen auf Abaelardus zu, die sich schon lange über die Vernünftigkeit ihres jeweiligen Glaubens gestritten hatten und sich nun, auf Initiative des Philosophen, an Abaelardus wandten, um sich seinem Richterspruch zu unterwerfen und dem zu folgen, „was in höherem Maße mit der Vernunft übereinstimmt“ (11). Die Intention des Dialoges besteht aber nicht nur darin zu entscheiden, ob das Judentum, das Christentum oder das natürliche Sittengesetz des Philosophen in höherem Maße mit der Vernunft übereinstimmt, sondern der Dialog ist letztendlich eine Auseinandersetzung Abaelards mit der kontemplativen Theologie seines Erzfeindes Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der die Verurteilungen Abaelardus’ auf den Synoden zu Soisson (1121) und zu Sens (1140) veranlasste. Abaelardus möchte seine philosophisch geschulte neue Theologie zwischen der monastischen Frömmigkeit einerseits und den seiner Meinung nach zu weitreichenden Ansprüchen der Vernunft andererseits positionieren (vgl. Seit 2004: 93). Dieses Motiv Abaelardus’ wird von dem Philosophen eingeführt, der eingangs feststellt, „dass es, obwohl in der Abfolge der Lebensalter und im Fortgang der Zeiten die menschliche Einsicht in allen übrigen Angelegenheiten wächst, im Glauben (fides), in dem die höchste Gefahr des Irrtums droht, keinen Fortschritt gibt“ (17). Im Gegenteil, es sei „keinem bei seinen Leuten erlaubt (…), zu erforschen, was man glauben solle, oder an dem ungestraft zu zweifeln, was von allen gesagt wird“ (19). Schuld daran sei die Anmaßung und der Hochmut eines Glaubens, der auf ein vernünftiges Verständnis zugunsten einer ver-
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ständnislosen Rezitation der Glaubensdogmen verzichtet. Diese Feststellung verweist auf Abaelardus theologischen Grundsatz „nihil credendum, nisi prius intellectum“ – nichts ist zu glauben, was nicht zuerst verstanden wurde – der den Rationalitätsanspruch im Vergleich zu Anselm erweitert. Auf der anderen Seite wird aber auch der Philosoph, der die Juden als „töricht“ und die Christen als „verrückt“ bezeichnet (11), von Abaelardus in die Schranken verwiesen mit dem Hinweis, er solle es „nicht für bedeutsam erachten, wenn es scheinen sollte, als ob [er] bei diesem Aufeinandertreffen die Oberhand“ behielt (13). Dennoch geht es nicht nur um die Verteidigung der neuen Theologie Abaelardus’, sondern der Dialog weist auch die „Konzeption eines wahrheitssuchenden Streitgespräches“ (Westermann 1999: 180) auf. Die Gesprächspartner gehen ein „Wagnis“ (Abailard 1996: 15) bei der „Erforschung der Wahrheit“ (147) ein. Das Wagnis besteht in der Gefahr der Widerlegung des eigenen Glaubens und Lebens (fides et vita), ebenso wie in der unfairen Austragung des bereits länger anhaltenden Streites. Deshalb suchen die Kontrahenten den Richter auf, um sich seinem Urteil zu unterwerfen (9 ff.). Abaelardus erweist sich in den Augen der Streitparteien aufgrund seines bewundernswerten Werkes der Theologie als die geeignete Person für das Amt des Richters. Er verfügt aufgrund seines Scharfsinns und seiner Gelehrtheit über die notwendigen philosophischen und theologischen Kenntnisse, um die Argumente der Gegner angemessen beurteilen und sich „dem Widerstand jedes einzelnen (…) gewachsen zeigen zu können“ (13). Obwohl Abaelardus Christ ist und damit möglicherweise parteiisch, drückt der Philosoph dennoch seine Hoffnung aus, er möge den Disput neutral leiten und entscheiden, wohl auch deswegen, weil die Gesprächspartner keinen Richter außerhalb der „drei Glaubensrichtungen“ finden konnten (11). Der Richter seinerseits übt sich in Bescheidenheit und gibt der Hoffnung Ausdruck, „beträchtliche Belehrung zu empfangen“, und erklärt, sich selbst in „Zurückhaltung“ zu üben (15). Der Richter begibt sich also als Zuhörer mit den Kontrahenten auf die Wahrheitssuche und garantiert zugleich den geordneten Verlauf des Gesprächs, indem er die hermeneutischen Regeln festlegt. Ausgangsbasis des Dialogs ist die Gleichheit der Kontrahenten, deren Unterhaltung auf einem freiwilligen Konsens zum Gespräch beruht. Trotz dieser Gleichheit wird dem Philosophen vom Juden, Christen und dem Richter eine „Vorrangstellung beim Aufeinandertreffen in diesem Kampfe“ (15) zugestanden, weil die natürliche Vernunft die gemeinsame hermeneutische Grundlage des Disputes darstellt. Damit schleicht sich eine gewisse asymmetrische Struktur zwischen den Kontrahenten ein, insoweit der Philosoph sowohl mit der Vernunft als auch mit der jeweiligen autoritativen Schrift(en) sich gegen seine Kontrahenten wenden kann, während weder der Jude noch der Christ seine Schrift(en) gegen den Philosophen ins Feld führen können, weil dieser jene nicht als Autori-
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täten anerkennt. Jude und Christ dürfen nur auf der Basis der Vernunft versuchen, den Philosophen zu widerlegen. In der Anwendung der Vernunft ist der Philosoph jedoch geschickter als die beiden Schriftgläubigen. Weil das natürliche Sittengesetz des Philosophen ursprünglicher als die jüdische und christliche Offenbarung sei, beansprucht der Philosoph zudem die Leitung des Gesprächs, indem er die Fragen stellt und die beiden anderen darauf antworten (13 f.). Die zentrale Fragestellung des Dialogs lautet deshalb, welche der drei Glaubensrichtungen „in höherem Maße mit der Vernunft übereinstimmt“ (11). Ohne hier im Detail auf den Gesprächsverlauf einzugehen, lässt sich das erste Gespräch zwischen dem Philosophen und dem Juden dahingehend zusammenfassen, dass der Philosoph zu dem Ergebnis kommt, die Juden seien so „lebensnah (animales) und sinnlich (sensuales)“ und „von keiner Philosophie beleckt“, die sie in den Stand setzen könnte, „Vernunftgründe“ zu diskutieren (109). Insoweit diese Zusammenfassung des Philosophen unkommentiert bleibt und auch der Richter davon Abstand nimmt, seinen Spruch zu fällen, mit der Bemerkung, er sei „eher begierig zu lernen als zu urteilen“, stellt das Resultat des ersten Dialoges anders als bei Crispinus eine sehr deutliche Abwertung der jüdischen Religion dar (vgl. Seit 2004: 51). Nachdem der Richter sein Urteil mit der weiteren Begründung aufgeschoben hatte, „zuvor die Vernunftgründe aller hören zu wollen, damit ich um so klüger beim Urteilen wäre“, scheidet der Jude aus dem Gespräch aus. Der Philosoph wendet sich dem Christen in der Absicht zu, wiederum die Gesprächsführung zu übernehmen, wird aber von dem Christen daran erinnert, seinem Gesprächspartner mehr Respekt entgegen zu bringen und ihn nicht als töricht oder verrückt abzuqualifizieren, wie er dies zu Beginn des Dialoges gemacht hatte (99 f.). Der Philosoph lenkt ein, indem er erklärt, seine Kontrahenten nicht beleidigen, sondern nur herausfordern zu wollen, was ihm vom Christen abgenommen wird (101). Im Laufe des nun folgenden Dialogs gewinnt der Christ allmählich die Überhand, indem er den Philosophen davon überzeugt, dass nicht die irdische, sondern die himmlische Glückseligkeit das größte Gut des Menschen ist (137 ff; 219). Mit diesem Zugeständnis muss der Philosoph auch das Defizit der Philosophie einräumen, sich auf die Erkenntnis der irdischen Dinge zu beschränken (217). Der Philosoph sieht sich zu dem Eingeständnis gezwungen, in seinem christlichen Gesprächspartner einen „erstrangigen Philosophen“ anzuerkennen, dessen „Vernunftschluss“ man sich nicht entziehen könnte (137). Damit hat Abaelardus sein Ziel erreicht, seine philosophische Theologie als der Philosophie zumindest ebenbürtig, wenn nicht als überlegen zu erweisen. Nachdem der Philosoph sein natürliches Sittengesetz (ius naturalis) dargelegt hat (127-203) und der Christ auf Anfrage des Philosophen ihm die christlichen Lehren der leiblichen Auferstehung, der Himmels- und Höllenvorstellungen
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erläutert hat, bricht der Dialog plötzlich ab. Der Christ fordert zwar den Philosophen auf, Gegenstände, die ihm erörternswert erscheinen, in die Untersuchung einzuführen. Jedoch schweigt der Philosoph am Ende. Genauso bleibt der zu Beginn und im Verlauf des Gespräches mehrfach angekündigte Richterspruch aus. Der iudex ergreift das Wort nicht mehr. Der Leser wird allein gelassen, warum? Eine mögliche Erklärung ist der Verweis auf den evtl. Fragmentcharakter des Werkes, das der Autor nicht fertig gestellt habe (so Thomas 1966: 19-20). Diese Erklärung darf jedoch als überholt gelten. Nach Westermann präsentiert der Dialog eine „vollständige Kommunikationshandlung, die weder eine dritte collatio noch ein abschließendes iudicium erfordert“ (Westermann 1999: 160). „An die Stelle des anfangs erhofften iudicium, das alle Unterredung ein für allemal beendet, ist die neu erworbene kommunikative und methodische Fähigkeit getreten, so miteinander philosophierend Theologie zu treiben, dass die inhaltlich erzielbaren Resultate ausgezeichnet sind. Ausgezeichnet durch eine ‚rationale‘ Rechtfertigbarkeit vor dem Forum geteilter Argumentations- und Gesprächsstandards“ (197). In der Tat kann die Aufforderung des Christen an den Philosophen, neue Aspekte in die Untersuchung einzubringen, als eine potenzielle Fortführung des Dialoges gelesen werden. Damit wäre das nicht erfolgte iudicium „der Dialog selbst, das dialektische Verfahren der asymptotischen Annäherung an eine (unter den Bedingungen der diesseitigen menschlichen Existenz) nicht einholbare Wahrheit“ (Seit 2004: 93). Im Hinblick auf unser Thema könnte der Dialogus des Abaelardus als die Einführung „der dialogisch-dialektischen Sinnsuche und -explikation“ in die Theologie, aber auch in die Begegnung der Religionen gelesen werden, auch wenn sein Dialog eher als ein internes denn ein externes Gespräch konzipiert ist. 3.4 Petrus Venerabilis (1092-1156) Die bisher behandelten lateinischen Dialoge konzentrierten sich auf die Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen und die Herausforderung des Christentums durch die wiederentdeckte antike Philosophie. Der Islam als theologisch-politischer Gegner tritt nur insoweit in Erscheinung, als der Philosoph des Petrus Abaelardus sich selbst zwar als Heiden (Abailard 1996: 49), vom Juden allerdings als „Ismaelit“ und damit als Muslim bezeichnet wird (63). Aber der Philosoph argumentiert nicht auf der Offenbarungsgrundlage des Korans, sondern orientiert sich strikt an der ratio der Philosophie. Dies mag damit zusammenhängen, dass der Koran und die Theologie des Islam zu dieser Zeit im Westen weitestgehend unbekannt waren. Dies änderte sich erst im Zuge der ersten Erfolge der Reconquista mit dem Fall von Toledo (1085) und dem Fall von Sa-
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ragossa (1118) am Vorabend des zweiten Kreuzzuges (1147-49), in dessen Folge die Übersetzung arabischer Schriften ins Lateinische begann. Im Rahmen dieser Entwicklung spielte der 9. Großabt von Cluny, Petrus Venerabilis – den eine enge Freundschaft sowohl mit Bernhard von Clairvaux als auch mit Petrus Abaelardus verband – eine wichtige Rolle. Im Zuge seiner 1142 unternommenen Reise nach Spanien zur Inspektion der dortigen Cluniazenserklöster entstand das aus Schriften zum Islam bestehende Corpus Toletanum oder Collectio Toletana3 und eine Übersetzung des Korans durch Robert von Ketton, wodurch das lateinische Abendland zum ersten Mal Zugang zu den muslimischen Offenbarungstexten erhielt. Auf der Grundlage dieser neuen Kenntnisse entstanden apologetische und missionstheologische Kampfschriften gegen den Islam, die exemplarisch an den beiden Arbeiten des Petrus Venerabilis, der Summa totius haeresis Saracenorum und Contra sectam Saracenorum vorgestellt werden.4 Sprache und Duktus dieser Schriften ändern sich radikal im Vergleich zu den früheren Dialogen: Der Koran wird als ein „aus jüdischen Legenden wie häretischen Schwätzereien bestehendes Teufelswerk“ (Venerabilis 1985: 9) und Mohammed als „gottloser Mensch“ (5) und falscher Prophet (7) beschimpft, dessen Lehre aufgrund ihrer rasanten Verbreitung (15) unbedingt bekämpft werden müsse, weil sie durch die Leugnung der Göttlichkeit Christi das Zentrum der göttlichen Weltordnung gefährde (17). Seine Bitte an Bernhard, sich „durch die Flamme des Hl. Geistes zur schriftlichen Widerlegung“ (21) anregen zu lassen, wurde anscheinend nicht nur abschlägig beschieden, sondern traf auf „heftige Vorwürfe“ (61), da Bernhard als Kreuzzugsprediger die militärische Bekämpfung des Islam vorzog. In diesem Gegensatz zu Bernhard und der weit verbreiteten Kreuzzugsstimmung liegt nun die Besonderheit der Schriften des Petrus Venerabilis, der sich in die Tradition der adversus haereticus-Schriften der Kirchenväter stellte, um die islamische, die gefährlichste aller Häresien, mit der Feder zu bekämpfen (45). Nach Petrus scheint ein prinzipielles Desinteresse an der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Islam vorherrschend gewesen zu sein: „Ich war entrüstet, dass die Lateiner den Grund eines solchen Verderbens nicht kannten, und dass 3
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Das Corpus Toletanum beinhaltete folgende Schriften: Summa totius haeresis Saracenorum (Petrus Venerabilis), Epistola de translatione (Petrus Venerabilis), Fabulae Sarracenorum (Robert von Ketton), Liber generationis Mahumet (Hermann v. Dalmatien), Doctrina Mahumet (Hermann von Dalmatien), Lex Sarracenorum (Robert von Ketton) und die Epistola Sarraceni et Rescriptum Christiani (Petrus von Toledo und Petrus von Poitiers). Petrus Venerabilis fasste seine Haltung zum Islam noch einmal in seiner 1155/56 entstandenen Schrift Contra Sectam Saracenorum zusammen; vgl. Venerabilis (1985: xv ff.). Petrus Venerabilis hatte bereits um 1138 einen Traktat gegen die Sekte des Petrus von Bruis, die Epistola sive Tractatus contra Petrobrusianos haereticos, und einen Traktat gegen die Juden, den Tractatus adversum Iudaeorum inveteratam duritiem, verfasst.
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durch eben diese Unkenntnis niemand zum Widerstand aufgerüttelt werden konnte. Denn es gab niemand, der antwortete, weil es niemand gab, der verstand“ (55). Die Übersetzung des Korans und seine eigenen Schriften sollten zum einen diese Wissenslücke schließen, das christliche Waffenarsenal aufrüsten, die Christen gegen den Islam immunisieren und die Muslime missionieren. Denn die eigentlichen Adressaten seiner Schrift Contra sectam Saracenorum, von der er hoffte, dass sie ins Arabische übersetzt werden würde, sind die Muslime (56 ff.). Nach dem einleitenden Grußwort an die „Araber, Söhne Ismaels, die ihr das Gesetz (lex) eines gewissen Muhammad befolgt“ (63), eröffnet Petrus sein Anliegen, die Muslime „zum Heil einzuladen“ (65). Er tue dies „aber nicht, wie es die Unsrigen oft tun, mit Waffen, sondern mit Worten, nicht mit Gewalt, sondern mit der Vernunft, nicht mit Hass, sondern mit Liebe“ (63). Im Folgenden zeigt sich, dass Venerabilis die von Anselm und Abaelardus inaugurierte dialektischdialogische Methode der philosophischen Theologie verinnerlicht hat. Er lobt die Bildung der Araber, lädt sie zum Gespräch ein, das nach dem Vorbild des freien philosophischen Gesprächs durch Reden, Fragen und Diskutieren zu Erkenntnis und Sicherheit sowohl in den weltlichen als auch den göttlichen Dingen führen solle (67 ff.), weil der Glauben (fides) Vernunftgründe voraussetze (85). „Diese Regel hat für die Weisen der Griechen, Lateiner, Perser, Inder und andere Völker immer gegolten“ (71). Venerabilis verweist zur Verdeutlichung seines Anliegens auf die christlich-jüdischen Religionsgespräche, die im Geiste der Tugend der Geduld geführt worden seien (98 f.). Er erhofft sich von den Muslimen eine vergleichbare Bereitschaft, den anderen anzuhören, wenn sie schon nicht bereit wären, ihrem Seelenheil zu folgen (105). Venerabilis verfolgt eine dreifache hermeneutische Strategie zur Widerlegung des Korans. Zunächst versucht er Mohammed und seiner Lehre die Vernunft abzusprechen und daraus die militärische Expansion des Islam zu erklären (89), indem er Suren des Korans aus der Übersetzung durch Robert von Ketton heranzieht. Diese Strategie beruht jedoch auf falschen bzw. missverständlichen Übersetzungen, die dem Koran übertriebene Gewaltlegitimation unterstellen (35 f.; vgl. 272, Anm. 278 ff.). Die zweite hermeneutische Strategie greift ebenfalls auf den Koran zurück, um aus dem Koran den muslimischen Vorwurf, das Evangelium sei eine (Ver-) Fälschung der göttlichen Botschaft, zu widerlegen. Insoweit der Koran sowohl auf das Alte als auch das Neue Testament zurückgreift, könnten diese beiden Schriften keine (Ver-) Fälschungen sein, sondern müssten der Wahrheit entsprechen, da die Muslime den Koran als Offenbarung Gottes anerkennen (145, 148). Auf der Grundlage des solchermaßen erfolgten Beweises der Bibel als Wort Gottes kann Venerabilis seine dritte hermeneutische Strategie auf dem christlichen Offenbarungsverständnis aufbauen, das nun auch
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von den Muslimen anzuerkennen sei (221), und sich im gesamten zweiten Buch daran machen, die Prophetenschaft Mohammeds über eine differenzierte Klassifizierung des Prophetenbegriffs zu widerlegen. Am Ende seiner Schrift bringt Venerabilis die Hoffnung zum Ausdruck, aufgrund seiner Argumente den Koran widerlegt und das Christentum als wahre Offenbarung Gottes erwiesen zu haben (219 f.). Doch für ihn ist damit nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit gesprochen. Vielmehr endet der Dialog mit einem fast verzweifelten Aufruf an die „Sarazenen“, den Dialog fortzusetzen und sich seinen Argumenten zu stellen. „Doch warum mache ich mir vergebliche Mühe? Was kämpfe ich gegen ein Nichts? Ich habe dich eingeladen und tue es noch, ich habe dich aufgerufen und tue es noch, zu antworten (…) Doch was tust du? Warum lässt du mich in Ungewissheit? Sag, wenn du etwas hast, um dich zu rechtfertigen!“ (223 f.). Tatsächlich nahmen die Franziskaner und Dominikaner im Anschluss an den vierten Kreuzzug (1202-04), der mit der Begründung des Lateinischen Kaiserreiches endete, und dem fünften Kreuzzug (1228-29), mit dem Friedrich II. Jerusalem auf dem Verhandlungswege wieder gewinnen konnte, und den Erfolgen der Reconquista (1212 Sieg bei Navas de Toloso, 1229 Eroberung Mallorcas, 1236 Fall von Córdoba, 1248 Fall von Grenada) in Spanien, aber auch im Orient ihre Missionstätigkeit auf. Diese Missionstätigkeit war zum einen eine Reaktion auf das Erlahmen der Kreuzzugseuphorie und drückte zum anderen eine Oppositionshaltung gegenüber deren Idee einer ‚militärischen Missionierung‘ aus. „Während die Franziskaner in erster Linie einer praktischmissionarischen Pastoralarbeit nachgingen (…) haben sich die Dominikaner von Anfang an auch in der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Islam engagiert“ (Hagemann/Glei 1987: 13). Eine herausragende Rolle in diesem Bemühen nahm Thomas von Aquin ein. 3.5 Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang seine 1265 fertig gestellte Summa contra gentiles und die anschließend verfasste Schrift De rationibus fidei. Aller Wahrscheinlichkeit nach verfasste Thomas die Summa auf Bitten des Raymundus Pennaforte, der sich als Ordensgeneral der Dominikaner für die Missionierung der Muslime in Spanien einsetzte. Die Schrift war wohl als Hand- und Lehrbuch für die Ausbildung der Dominikanermissionare gedacht, um ihnen in der Auseinandersetzung mit den Muslimen einen Argumentationsleitfaden an die Hand zu geben. De rationibus fidei war die Antwort auf eine Anfrage eines Cantor Antiochenus, in der Thomas „eine prägnante Zusammenfassung zentraler christlicher Glaubensmysterien in Auseinandersetzung mit islamischen Glaubenspositionen“ formulierte (Hagemann/Glei 1987: 14).
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Obwohl beide Schriften nicht dem Typus des Religionsdialoges zuzurechnen sind, sondern monologisch angelegte, diskursive Texte darstellen, formulieren sie dennoch einen geistigen Dialog mit dem Islam. Ihr Ziel besteht darin, den christlichen Glauben „gegen alle Angriffe und jeden Spott der Ungläubigen“ zu verteidigen (Aquin 1987: I. 1) und „die Wahrheit, die der katholische Glaube (fides) bekennt, nach unserem Vermögen darzulegen“ (Aquin 2005: I. 2). In dieser Absicht knüpft Aquin an die von Anselm und Abaelardus formulierte Hermeneutik an, die im interreligiösen Dialog ausschließlich mit „moralischen und philosophischen Gründen“ argumentiert, da es zwecklos erscheint, „Autoritäten gegen die anzuführen, die Autoritäten nicht anerkennen“ (Aquin 1987: I. 6). Der Rekurs „auf die natürliche Vernunft (…), der alle beizustimmen gezwungen sind“, ist allerdings nicht unproblematisch, da diese „in Bezug auf die göttlichen Dinge mangelhaft“ ist (Aquin 2005: I. 2). Aus der Einsicht in die Grenzen der menschlichen Vernunft entwickelt Aquin seine Lehre von den zwei Wahrheiten: „eine, zu der das Forschen der Vernunft gelangen kann, eine andere, die alles Vermögen der menschlichen Vernunft übersteigt“ (I. 4). In diesem Sinne stellen die Grenzen der Vernunft die Grenzen der menschlichen Erkenntnis dar. So ist der Mensch zwar in der Lage, auf dem Wege der Vernunft zu erkennen, „dass Gott ist, dass Gott einer ist und anderes dieser Art, was ja auch die Philosophen, geleitet vom Licht der natürlichen Vernunft, von Gott durch Beweise dargelegt haben“, aber die Erkenntnis anderer Wahrheiten über Gott, wie die Inkarnations- und Trinitätslehre, geht „über jede Fähigkeit der menschlichen Vernunft hinaus“. Aber nicht alles, so warnt der Aquinate, „was über Gott gesagt wird, ist, obwohl es mit der Vernunft nicht erforscht werden kann, sogleich als falsch zu verwerfen“ (I. 3). Da beide Wahrheitsformen letztendlich auf Gott zurückzuführen sind insoweit er sich durch die Offenbarung selbst mitteilt und die natürliche Vernunfterkenntnis auf der uns von Gott gegebenen Natur beruht, steht „der Wahrheit des christlichen Glaubens (…) die Wahrheit der Vernunft nicht entgegen“ (I. 7) und werden daher „beide mit Recht von Gott dem Menschen zu glauben vorgelegt“ (I. 4). Damit ist es aber auch die Pflicht des Gläubigen, seinen Glauben auf dem Wege der Vernunft zu rechtfertigen und zu vertiefen, indem er auf dem philosophischen Wege von der Natur zu Gott aufsteigt, zumal ihm dieser Weg die Möglichkeit einräumt, „Irrtümer über Gott zu beseitigen“ (II. 3). Insoweit allerdings die philosophische Vernunfterkenntnis „unzulänglich“ ist, eröffnete Gott den Menschen neben der ersten Erkenntnisart, mit der der Mensch „aufgrund des natürlichen Lichtes der Vernunft zur Erkenntnis Gottes aufsteigt“, eine zweite Erkenntnisart, die darin besteht, „dass die göttliche Wahrheit, die den menschlichen Verstand übersteigt, auf die Weise der Offenbarung zu uns herabsteigt“. Eine dritte und letzte Erkenntnisart „besteht darin, dass der menschli-
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che Geist zur vollkommenen Einsicht in das Offenbarte emporgehoben wird“ (IV. 1). Während die erste Erkenntnisart von der Vernunft dominiert wird, stellt die zweite Erkenntnisart die Domäne des Glaubens dar. Diese entspringt der menschlichen Natur, die „unter Verachtung des Sichtbaren allein die unsichtbaren Dinge“ begehrt (I. 6). Der Glauben stellt für Aquin ein Korrektiv gegenüber der „Gebrechlichkeit unseres Verstandes“ dar, dem „wegen der Vermischung mit Vorstellungsbildern zumeist Irrtümer beigemengt sind“ (I. 4). Deshalb erreicht der Mensch mit dem Glauben einen höheren Grad an Vollkommenheit als ausschließlich mit der Vernunft (vgl. I. 5). Aber der Mensch soll auch nicht leichtfertig glauben, weshalb die dritte Erkenntnisart notwendig ist, eine (vollkommene) Einsicht in die Offenbarung zu erlangen. Dafür bietet Thomas zwei Wege an: Zum einen wird der Glaube an die Offenbarung durch Wunder und das Wirken des Heiligen Geistes bestätigt, wovon die friedliche Verbreitung des Christentums Zeugnis ablegt (vgl. I. 6) und die Autorität der Schrift bekräftigt wurde (I. 9). So kann der Glauben letztendlich nur „aufgrund der Autorität der Heiligen Schrift“ bewiesen werden (IV. 1). Aber Thomas gibt sich damit nicht zufrieden. So wie Vernunftwahrheiten mit Beweisgründen zu untermauern sind, „durch die der Gegner überzeugt werden kann“ (I. 9), so können auch für Glaubenswahrheiten „Wahrscheinlichkeitsgründe“ beigebracht werden, „die jedoch nicht dafür ausreichen, dass die genannte Wahrheit im Sinne der beweisenden Darlegung oder als durch sich eingesehen begriffen wird.“ Der Anspruch, Glaubenswahrheiten beweisen zu können, ist für Aquin dagegen eine „Anmaßung“ (I. 8). Der Glaube stellt also eine Mäßigung des menschlichen Erkenntnisanspruchs dar (vgl. I. 5). Insoweit die Vernunft als fallibel gedacht wird, kann sie im Bereich der Glaubenswahrheiten keine beweisende, sondern lediglich eine falsifizierende Funktion ausüben: „Da aber solche [d. h. zwingende] Gründe für die zweite Wahrheit [d. h. Glaubenswahrheit] nicht beizubringen sind, darf unsere Absicht (…) nicht darauf gerichtet sein, dass der Gegner durch Argumente überzeugt werde, sondern dass seine Argumente, die er gegen die Wahrheit vorbringt, widerlegt werden, da der Wahrheit des Glaubens die natürliche Vernunft nicht entgegengesetzt sein kann, wie dargelegt wurde“ (I. 9). Aus dieser Epistemologie ergeben sich für den interreligiösen Dialog nun folgende Konsequenzen: Für den Bereich der Vernunftwahrheiten eröffnet sich die Möglichkeit eines offenen interreligiösen Dialoges, dem insbesondere die philosophische Gotteserkenntnis (1. Buch der Summa), die Natur der Schöpfung (2. Buch der Summa) und das Verhältnis von göttlicher Vorsehung und menschlicher Willensfreiheit (3. Buch der Summa) als Felder der Auseinandersetzung zur Verfügung stehen. In diesen Bereichen können „Beweisgründe und Wahr-
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scheinlichkeitsgründe“ angeführt werden, mit deren Hilfe „die Wahrheit bestätigt und der Gegner überzeugt wird“ (I. 9). Im Bereich der Glaubenswahrheiten schränkt sich die Möglichkeit eines interreligiösen Dialoges für Thomas von Aquin jedoch radikal ein. Zwar besteht im Bereich der offenbarten Glaubensmysterien einerseits die Möglichkeit, „die Beweise der Gegner [zu] widerlegen“ und andererseits die Möglichkeit, „mit Wahrscheinlichkeitsgründen und Schriftstellen (…) die Wahrheit des Glaubens dar[zu]legen“ (4. Buch der Summa). Jedoch ist nur die Widerlegung der Beweise der Gegner ein geeigneter Gegenstand für den interreligiösen Dialog. Die Darlegung der Wahrheit des Glaubens sollte dagegen in erster Linie der „Übung und dem Trost der Gläubigen, nicht aber zum Überzeugen der Gegner dienen.“ Die Begründung für diese Einschränkung verdeutlicht die rationalen Schwierigkeiten der christlichen Theologie im interreligiösen Gespräch: „Denn eben die Unzulänglichkeit der Gründe würde sie [sc. die Ungläubigen] in ihrem Irrtum noch mehr bestärken, wenn sie nämlich glaubten, wir stimmten wegen so schwacher Gründe der Wahrheit des Glaubens zu“ (I. 9). So ermahnt Thomas zu Beginn seiner Schrift De rationibus fidei seinen Adressaten, nicht darauf aus zu sein, „den Glauben durch zwingende Gründe zu beweisen“, sondern eher darauf zu bauen, den christlichen Glauben – „ebenso wie er nicht mit zwingenden Gründen bewiesen werden kann“, er „wegen seiner Wahrheit auch nicht mit zwingenden Gründen widerlegt werden kann“ – gegen die Kritik seiner Gegner zu verteidigen (Aquin 1987: II. 7). Insoweit Thomas zwischen Vernunft- und Glaubenswahrheiten unterscheidet, ist seine Apologie nicht, wie Hagemann und Glei behaupten (1987: 55), nur eine „apologia ad intra“, sondern insoweit über die Vernunftwahrheiten auf der gemeinsamen Grundlage der natürlichen Vernunft disputiert werden kann, auch eine „apologia ad extra“ (so auch Lutz-Bachmann 2004: 118). Dennoch hat Aquin weder real noch virtuell einen Glaubensdialog mit Muslimen geführt, da er selbst kein Kenner des Islam und des Korans war. Einer direkten Auseinandersetzung mit dem Islam kommen wir näher, wenn wir zwei Ordensbrüder des Thomas betrachten, die zumindest zeitweise in direktem Kontakt mit der islamischen Welt standen. 3.6 Wilhelm von Tripolis (13. Jh.) und Ricoldus de Montecrucis (1243-1320) Über Wilhelm von Tripolis’ Leben, der wohl aus Syrien stammte, wissen wir so gut wie überhaupt nichts (vgl. Engels 1992: 23 ff.). Allerdings sind von ihm zwei Schriften über den Islam überliefert, die im Zusammenhang mit dem gescheiterten letzten Kreuzzug Ludwigs IX. von 1270 und den anschließenden Bemühungen Papst Gregors X., zu einem erneuten Kreuzzug aufzurufen, gesehen werden
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müssen. Die Notitia de Machometo entstand 1271 und De statu Sarracenorum zwischen 1273 und 1276 als Kompilation eines anderen Autors aus De statu und möglicherweise anderen Notizen Wilhelms (66). Die Notitia ist zunächst eine Informationsschrift über die Geschichte der Entstehung und Verbreitung des Islam, die jedoch auch polemische Spitzen beinhaltet und versucht, den Koran zu widerlegen. Jedoch weiß der Autor dem Koran im Hinblick auf seine Verehrung Jesu Christi (Tripolis 1992: 8 und 12) und dem Islam im Hinblick auf den Gottesdienst und die Frömmigkeit der Muslime auch außerordentlich positive Seiten abzugewinnen mit der Einschränkung, „wenn sie (nur) den rechten Glauben hätten“. Die lobende Erwähnung dieser Aspekte des Islams diente wohl dem Zweck, die dogmatischen Verwandtschaften zwischen Christen und Muslimen und die prinzipielle Religiosität und Frömmigkeit der Muslime hervorzuheben, die von Wilhelm wohl als Voraussetzung für eine erfolgreiche Missionierung verstanden wurden. Denn der Traktat endet mit einem deutlichen Aufruf zur Missionierung der Muslime: „Gegen diese schrecklichen Irrlehren müssen unsere Theologen und Rechtsgelehrten, Leute, die eifrig diskutieren und sich um alle Seelen bemühen, sich erheben; sie sollen ihre Pfeile schärfen und abschießen, (den Sarazenen) diese (Irrlehren) austreiben und die unglücklichen Seelen den Fallstricken des Teufels entreißen und im Netz Christi fangen und sie schließlich auf jede erdenkliche Weise in den Hafen des Seelenheils bringen“ (15). Während die Notitia keine missionstheologische Schrift ist, verstärkt sich dieses Anliegen in der Kompilation De statu Sarracenorum. Auch hier werden die positiven Gehalte des Korans (25) und die darin enthaltenen „Lobpreisungen Christi und der heiligen Jungfrau Maria und seiner Anhänger“ gewürdigt (27) und betont, dass die Muslime aufgrund ihrer „Gottesfurcht (…) dem christlichen Glauben nahestehen und sich dem Heilsweg nähern“ (48), indem es sie zum „Glauben Christi hinzieht“ (49). Der Autor geht sogar soweit zu behaupten, dass es den Muslimen möglich sei zu erkennen, „dass der Vater und der Sohn und der Heilige Geist drei Dinge oder Personen sind“ (53) und zu begreifen, „dass der Herr Jesus das Wort Gottes ist, fleischgeworden“ (54). Der Traktat endet mit einer außerordentlich unrealistischen Einschätzung der Erfolgsaussichten einer christlichen Missionierung unter Muslimen: „Und auf diese Weise, aufgrund der einfachen Predigt über Gott, ohne gelehrte Diskussionen oder Waffengewalt, streben sie wie einfache Schafe die Taufe Christi an und treten ein in die Herde Gottes“ (55). In Wirklichkeit waren Missionsversuche nahezu unmöglich und „missionizing in Muslim countries was much more conducive to filling heaven with Christian martyrs than the earth with muslim converts“ (Kedar 1984: 155). Dennoch spiegeln die beiden Traktate die durch die Kreuzzüge entstandenen Kontakte zwischen Christen und Muslimen und die dadurch differenziertere Wahrneh-
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mung der Muslime wider, die weniger auf den kriegerischen Kreuzzug als vielmehr auf die friedliche Missionierung ihre Hoffnung setzte, wenngleich diese vollkommen unrealistisch war. In die gleiche Richtung stößt die um 1300 entstandene Confutatio Alcorani des Dominikaners Ricoldus de Montecrucis, der während einer Reise nach Palästina, Armenien und Bagdad die arabische Sprache erlernte, ansonsten aber im Florenzer Kloster Santa Maria Novella seine Wirkstätte hatte. Bereits in seinem Libellus contra nationes orientales hatte er fünf Kriterien für den missionarischen Dialog mit Juden, Muslimen und häretischen Christen entwickelt: „1) Kenntnis der Landessprache, 2) umfassende Bibelkenntnis, 3) Vertrautheit mit den Argumenten der Gegner, 4) Orientierung des Gesprächs an den Eliten und 5) als persönliche Qualitäten geistlicher Prägung Standhaftigkeit, Gottesliebe und Seeleneifer“ (Ehmann 1999: 12). Wohl aufgrund seiner Reiseerfahrungen geht Ricoldus davon aus, dass die Muslime „sehr neugierig darauf sind, etwas von unsrem Glauben zu hören, am meisten aber über die göttliche Trinität und über die Inkarnation“, auch wenn „sie weder daran glauben noch (…) es verstehen“ können (Montecrucis/Luther 1999: 2. 1). Seine Hermeneutik folgt ein Stück weit den Einsichten des Aquinaten, geht aber anschließend über diese hinaus, ohne jedoch dessen philosophisches Niveau zu erreichen. Ricoldus geht zum einen davon aus, dass die Muslime nicht in der Lage seien, mit zwingenden Beweisen, den christlichen Glauben zu widerlegen, die Christen aber in der Lage seien, die gegnerischen Argumente zu entkräften. „Das aber genügt zur Verteidigung des Glaubens (fides)“ (2. 3). Zum anderen warnt er aber davor, „ihnen sogleich von Anfang an die göttlichen Dinge vorzulegen, und Perlen vor die Säue zu werfen. Sondern man muss ihnen zuerst ihr leeres Gesetz (lex) vor Augen führen“ (2. 2). Denn Ricoldus erachtete „die Widerlegung dieses unwahrhaftigen Gesetzes (…) mit Hilfe des Korans“ als prinzipiell möglich (2. 4). Auf dieser methodologischen Grundlage führt Ricoldus in polemischer Absicht die üblichen Standardargumente gegen die unethische Lebensführung Mohammeds (8. 2), die Ethik des Islam (5. 6; 10. 1), die militärische Verbreitung des Islam (7. 4) und die unvernünftige Eschatologie (8. 24; 8. 36-37) an. Aber Ricoldus bleibt nicht bei seiner Hermeneutik der Widerlegung des Islam aus dem Koran heraus stehen, sondern greift auf die Autoritäten der Bibel und der Philosophen zurück, deren Aussagen im Widerspruch zum Islam stünden (5. 1; 8. 25). An diesem Punkt beruft sich Montecrucis auf die Autorität der Vernunft, „ohne die es keine andere Autorität gibt“ (8. 26). Auch auf dieser Grundlage glaubt er den Koran widerlegen zu können, wenn er den Muslimen vorwirft, ihre eigenen Philosophen nicht geachtet zu haben, da diese durch die philosophische Erkenntnis motiviert, dem Islam den Rücken gekehrt hätten
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(13. 13) und die Muslime seitdem aus Angst vor der natürlichen Vernunft, öffentliche Disputationen mit Nicht-Muslimen mieden (9. 31). Andererseits erachtet er das Evangelium als durch die Philosophen bestätigt und darum dem Koran als überlegen (16. 6). Obwohl der Autor gegen Ende des Traktates die Muslime dazu auffordert, den Koran selbst zu lesen, wenn sie seinen Argumenten keinen Glauben schenken wollten, kann Montecrucis zu keinem echten Dialog gelangen, sondern verbleibt vielmehr in einem innerchristlichen Abwehrmonolog. Dennoch hatte gerade diese Schrift eine nicht zu unterschätzende historische Wirkung, insofern Martin Luther sie 1542 in deutscher Übersetzung erneut herausgab. 3.7 Raimundus Lullus (1232-1316) In den Kontext dieser missionstheologischen Kampfschriften gehört auch das umfangreiche Werk des Katalanen Raimundus Lullus, der aber in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen der Dominikanermission fällt.5 Er war kein Dominikaner und gehörte auch keinem anderen Orden an, sondern hatte eine politische Karriere im Dienst des Königs Jaime I. von Mallorca eingeschlagen, bis er durch ein Bekehrungserlebnis im Jahr 1263 beschloss, sein Leben der „Verbreitung der christlichen Wahrheit zu widmen“ (Pindl 1998: 263). Auch hatte er keine scholastische Ausbildung genossen, sondern seine philosophischen, theologischen und arabischen Sprachkenntnisse eignete er sich als Autodidakt an. Arabisch sprach er später besser als lateinisch, weshalb er sich auch als „christianus arabicus“ bezeichnete (264). Lullus lebte auch nicht im Zentrum des christlichen Abendlandes, sondern an der Peripherie auf Mallorca, die nach der Reconquista 1229 ein Ort der alltäglichen Begegnung zwischen Juden, Christen und Muslimen war. Interessanterweise fand im gleichen Jahr seines Bekehrungserlebnisses 1263 in Barcelona ein theologischer Disput zwischen dem jüdischen Konvertiten und Dominikanermönch Pablo Christiá und dem Rabbi Moses ben Nahman statt, aus dem keiner als eindeutiger Sieger hervorging (Chazan 1992). Allerdings besteht kein belegter Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen. Wichtiger als Motiv für Lullus’ philosophische Theologie ist der in seiner Vita coeaetanea von 1311 erwähnte Konflikt mit seinem muslimischen Arabischlehrer, mit 5
Zu seinen bedeutendsten Schriften gehören u. a.: 1271/72 Liber de gentili et tribus sapientibus (Heide, Jude, Christ, Muslim); 1274 Liber magnus contemplatonis; 1275/82 Liber de Santo Spiritu (Muslim, Katholik, Orthodoxer); 1282/85 Liber Tartari et Christiani (Apologie); 12821287 Blaquerna (Roman); 1287/89 Disputatio fidelis et infidelis; 1292 Libre de passage; 1292 Qumodo Terra Sancta recuperari potest (Plädoyer für einen Kreuzzug); 1292 Tractatus de modo convertendi infideles; 1294 Petitio; 1294 Liber de quinque sapientibus (Muslim, Katholik, Orthodoxer, Nestorianer, Jakobit); 1305 Liber de fine; 1309 Liber de adquisitione Terra Sanctae; 1308 Disputatio Raimundi Christiani et Homeri Saraceni (Christ, Moslem).
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dem er über die Trinitätslehre und die koranischen Paradiesvorstellungen in eine lebensbedrohliche Auseinandersetzung geriet, in deren Folge der Muslim sich das Leben nahm (Pindl 1998: 263 f.). Aus seiner Erfahrung der nicht immer friedlich beizulegenden Glaubensdifferenzen auf Mallorca entwickelt er in seinen umfangreichen Schriften, die eine ganze Reihe von Religionsdialogen beinhalten, die Vision einer Einheit des Glaubens, der Religion und der Völker (Lull 1998: 16 f.). Wie seine dominikanischen Zeitgenossen glaubt er allerdings nicht, dass dieses Ziel durch die Gewalt der Kreuzzüge, sondern über die Missionierung durch Religionsdialoge zu erreichen sei. Damit erhält der Dialog bei ihm eine missionarische Funktion. Denn der Dialog bietet die Möglichkeit der geistigen Auseinandersetzung unter dem Vorzeichen grundsätzlicher Gleichberechtigung, Freiheit, Freundschaft und gegenseitigen Respekts und Verzeihens (Pindl 1998: 266, 291, 295). Die Voraussetzung dieses Dialogs bleibt selbstverständlich die Annahme des prinzipiellen Wahrheitsgehalts des Christentums. Aber er gesteht auch den anderen Religionen einen prinzipiellen Wahrheitsverdacht zu. Aber der Glauben alleine ist für ihn kein Wahrheitskriterium, womit in jedem Glauben – auch dem christlichen – ein Zweifel als Ermöglichungsgrund des Dialoges angelegt ist. Letztendlich ist von diesem Ausgangspunkt gesehen die letze Wahrheit noch nicht gefunden, sie muss viel mehr erst entborgen werden. Denn in Lullus’ Sinne kann es in diesen Dialogen nicht darum gehen, Glauben gegen Glauben auszuspielen, sondern vielmehr darum, den Glauben dem Verstehen zuzuführen, ohne damit den Glauben selbst aufzuheben. Es kommt ihm darauf an, die Wahrheitsansprüche der Religionen auf ihre Demonstrierbarkeit hin zu überprüfen und eine Gradierung der Wahrheitsansprüche nicht auf der Grundlage der auctoritates, sondern der ratio, genauer gesagt auf der Grundlage der rationes necessariae vorzunehmen, mit denen auch die Mysterien zu beweisen sind (vgl. Domínguez 1999: 269 ff.; Colomer 1992: 220 ff.). Mit diesem Anspruch sprengt Lullus prinzipiell die von Aquin in weiser Selbstbeschränkung getroffene Unterscheidung zwischen Vernunft- und Glaubenswahrheiten und erweitert den Anspruch der Vernunft wiederum auf die Gesamtheit der Offenbarung, weil er der Meinung ist, dass ohne einen Beweis der christlichen Glaubensmysterien die Missionierung der Juden und Muslime zum Scheitern verurteilt ist (vgl. Colomer 1992: 220 ff.). Aber was veranlasst Raimundus Lullus anzunehmen, dass er den Herrschaftsanspruch der Vernunft in Glaubensfragen über die von Aquin formulierte Grenze hinaus erfolgreich ausdehnen könne? An diesem Punkt erweist sich nun seine mangelnde scholastische Ausbildung als kreativer Vorteil gegenüber seinen Zeitgenossen, weil er an den Grenzen bzw. Berührungspunkten der drei Religionen denkt und diese in seiner durch göttliche Eingebung offenbarten
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Methode miteinander synthetisiert. Der daraufhin als doctor illuminatus bezeichnete Raimundus verfasste in seinen beiden 1274 entstandenen Werken Liber magnus contemplationis und Ars magna seine Methode als Ars compendiosa inveniendi veritatem – also als universelle Wissenschaft der Wahrheitsfindung – mit der er den Anspruch erhob, das beste Buch der Welt (unus liber melior mundo) verfasst zu haben. Dieser Anspruch ist blasphemisch, beansprucht er doch nichts geringeres, als den Offenbarungsdiskurs der drei Religionen zu transzendieren und auf eine neue, allen gleichermaßen durch die natürliche Vernunft zugängliche und verständliche Ebene zu heben, deren Argumenten sich niemand aus vernünftigen Gründen entziehen könnte. Er ersetzt damit die „einzelnen Sprachen des Glaubens“ durch seine universale „Sprache der Vernunft“ (vgl. Domínguez 1999: 278 ff.). In diese Sprache der Vernunft findet sowohl die antike, christliche und muslimische Philosophie, die jüdische Kabbalistik und die islamische Sufi-Mystik Eingang, „die versucht, durch die Meditation der unendlichen göttlichen Attribute in der Schöpfung zu Gott selbst aufzusteigen“ (Pindl 1998: 280; vgl. Daiber 2004). Lullus’ Methode besteht in einer rationalisierten und systematisierten Meditation der göttlichen Attribute in seiner neuen Sprache der Vernunft. Ausgehend vom gemeinsamen Gottes- und Auferstehungsglauben werden die Offenbarungen der drei monotheistischen Religionen in die Sprache der Lull’schen Vernunft übersetzt. Das Gespräch ist eigentlich eine sukzessive Meditation der beteiligten Religionsvertreter anhand der göttlichen Attribute, um auf diesem Wege zu einer mystischen Schau Gottes aufzusteigen und auf dieser Ebene die Differenzen zu überbrücken. Zwar dienen die Dialoge Lulls letztendlich der Erbringung des Nachweises der Überlegenheit des christlichen Glaubens, aber zumindest seine frühen Dialoge enden nicht nur ohne ein konkretes Ergebnis, sondern verweisen auf eine zukünftige Fortsetzung des Dialogs bis die concordantia im Glauben durch die Vernunft gefunden werde. So dienen diese frühen Dialoge weniger dem Nachweis der Wahrheit des christlichen Glaubens als vielmehr dem Nachweis der Praktikabilität der ars Lulliana. Denn letztendlich trägt die diese Methode symbolisierende Dame Intelligentia im Disput den Sieg davon und beweist damit, dass ein Dialog auf dieser Ebene möglich ist, während seine späteren Dialoge klare Ergebnisse zeitigen (vgl. Domínguez 1999: 282 ff.). In der Realität scheiterte seine neue Disputationsmethode. Sowohl bei seiner Missionspredigt in Tunis 1292 als auch 1307 in seiner Disputatio mit dem Qadi oder Mufti von Bugia (Algerien) endete das Gespräch mit einem Eklat und Lullus wurde in den Kerker geworfen. In der Folge plädierte er bei Papst und Kardinälen für einen Kreuzzug, kehrte aber in den letzten Lebensjahren zu seiner Idee der friedlichen Missionierung durch den Dialog zurück. Obwohl in der katholischen Kirche in den folgenden Jahrhunderten umstritten, übten seine Schriften
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doch einen nachweisbaren Einfluss auf Nikolaus Kusanus und dessen Auseinandersetzung mit anderen Religionen aus. 3.8 Nikolaus Kusanus (1401-1464) Als Nikolaus Kusanus seinen Religionsdialog De pace fidei 1453 als unmittelbare Antwort auf die Eroberung Byzanz’ durch die Ottomanen und die antiislamische Agitation und Kreuzzugspläne in Europa verfasste (Riedenauer 2004: 192), waren ihm nicht nur die Werke des Raimundus Lullus, sondern auch das hier abgehandelte Schrifttum bekannt (Hagemann 1989: xiii ff.; Berger/Nord 2002: 15 f.). Neben diesem Dialog setzte er sich wenige Jahre später 1460/61 in seiner Cibratio Alkorani mit dem Islam auseinander. In der Zielsetzung seines Dialoges – den er als die Vision einer Meditation versteht (Kues 2002: I. 1) – geht Kusanus mit der Intention des Mallorquiner konform: die Überwindung der Differenzen, um zu einer „Versöhnung und zu einem haltbaren Frieden zwischen den Religionen (religio) gelangen zu können“ (I. 2). Kusanus geht davon aus, dass „es nur eine Wahrheit gibt“, die „jeder freie Geist erfassen“ kann (III. 8). Deshalb ist er zuversichtlich, „alle verschiedenen Religionen mit Zustimmung aller Menschen in eine einzige Religion“ zusammenzuführen, „die fortan von keinem mehr angegriffen werden darf“ (III. 9). Die empirische Pluralität der Religionen ist das Resultat der im Namen Gottes aufgetretenen Propheten, die in seinem „Namen Regeln für die Religionsausübung und Gesetze (cultus et leges) erlassen und das ungebildete Volk unterwiesen“ haben. Durch lange Gewohnheit seien diese Kulte und Gesetze dem Volk „in Fleisch und Blut übergegangen“ (I. 4). Doch hinter all den „verschiedenen Formen des Gottesdienstes (ritus)“ verberge sich ein und der selbe Gott, der von allen verehrt werde (I. 5). Trotz „der verschiedenen Formen des Gottesdienstes [gibt es] nur eine einzige Religion.“ Doch es kommt Kusanus nicht darauf an, die „verschiedenen Kultformen zu vereinheitlichen“, weil dies „weder möglich noch wünschenswert“ wäre (I. 6), sondern die Vielheit und Verschiedenheit der Kultformen in der Einheit der einen Religion zu bewahren und eben dieses Gemeinsame der Kulte herauszuarbeiten und zu vertiefen. Diesem Ziel dient der Dialog De pace fidei. In diesem Dialog lässt Kusanus 17 Vertreter unterschiedlicher Nationen6 und ihrer Kultformen unter wechselnder Anleitung durch das fleischgewordene Wort und die Apostel Petrus und Paulus die transzendenten Voraussetzungen der verschiedenen Kulte und Riten herausarbeiten. In Zielsetzung und Methode stimmt 6
In der Reihenfolge ihres Auftritts: das Wort, ein Grieche, ein Italer, ein Araber, ein Inder, ein Chaldäer, ein Jude, ein Skythe, ein Gallier, Petrus, ein Perser, ein Syrer, ein Spanier, ein Türke, ein Deutscher, ein Tartar, Paulus, ein Armenier, ein Böhme und ein Engländer.
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Kusansus dabei mit Raimundus Lullus überein, wenngleich er sich nicht der ars Lulliania bedient, sondern seine eigene begriffliche Meditationspraxis entwickelt. Denn letztendlich geht es auch Kusanus um eine mystische Schau Gottes, durch die die Differenzen der Kulte und Riten in einer höheren coincidentia oppositorum der einen Religion überwunden werden. Allerdings anders als Lullus nimmt Kusanus keine systematische (und sehr formalistische) Deklination der Attribute Gottes vor, sondern konzentriert sich auf einen zentralen Begriff, anhand dessen er den Leser zu seiner mystischen Theologie und dem Wesen Gottes hinführt. In seinem Dialog De pace fidei steht der Begriff der Weisheit im Zentrum seiner Meditation – anders verhält es sich in dem zeitgleich entstandenen Werk De visione Dei (Cues 1944) und in seinem 1464 entstandenen Spätwerk De apice theoriae (Cusa 1986). In De pace fidei ist die Weisheit Gottes nicht nur Gott selbst, sondern auch der Ursprung der Schöpfung und alles Geschaffenen und damit die transzendente Voraussetzung aller Religionen: „Ihr alle setzt also, obwohl ihr euch zu unterschiedlichen Religionen bekennt, in all dieser Verschiedenheit ein Einziges voraus, das ihr Weisheit nennt“ (Kues 2002: IV. 12). Da aber, wie Cusanus in seiner De docta ignorantia (1440) und De coniecturis (1440/44) feststellte, die Wahrheit letztendlich unerreichbar und damit alles Wissen eine Mutmaßung bleibt, „so ist [auch] die ewige Weisheit selbst niemals auszuloten“ (Kues 2002: IV. 12) und „nicht in Worte [zu] fassen (…). Aber jeder kann etwas von der Wirkung dieses nicht mit Worten zu beschreibenden, grenzenlosen Etwas erfahren. Wenn wir nämlich auf das schauen, was sichtbar ist, können wir feststellen, dass das, was wir sehen (oder hören oder sonst mit unseren Sinnen wahrnehmen), eine Wirkung der Weisheit ist, was beweist, dass die unsichtbare Weisheit über alles Sichtbare hinausgeht“ (IV. 11). Die aus dieser Einsicht resultierende negative Theologie ist für Kusanus ein Korrektiv jeder positiven Theologie, die Gefahr läuft, in Idolatrie zu münden, weil sie den Wahrheitsgehalt ihrer positiven Propositionen überschätzt (vgl. Riedenauer 2004: 209). Die negative Theologie zeigt die Grenzen der menschlichen Vernunft auf, das Göttliche in rationalen Begriffen zu beschreiben. Aber diese Grenzen können durch eine mystische Theologie überschritten werden, die in einer Schau Gottes mündet, aber letztendlich unaussprechlich bleibt und nicht angemessen in die Sprache der Vernunft zurück übersetzt werden kann. Damit wird die mystische Theologie wiederum zum Korrektiv der negativen Theologie und ergänzt die Schwächen der menschlichen Vernunft (200). Denn auf dem Weg der mystischen Theologie ist der Mensch in der Lage, den Satz vom Widerspruch zu transzendieren und zur coincidentia oppositorum vorzudringen. Letztendlich lädt De pace fidei zu einem „Dialog der Transzendenzerfahrung“ ein, der über die „Notwendigkeit hermeneutischer Arbeit mit fremden Traditionen und ihren heiligen Schriften“ führt (219). „Man prüfte sie und fand heraus, dass nach
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Auskunft aller vorliegenden Heiligen Schriften die Unterschiede eher in den Riten und Gebräuchen als in der Verehrung des einen Gottes lagen, weil alle Religionen von Anfang an immer den einen Gott vorausgesetzt und in allen Arten von Gottesdienst verehrt hatten.“ So endete der in „caelo rationis“ abgehaltene Dialog der Religionen (Kues 2002: XIX. 68). Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass Kusanus mit seiner Berufung auf die mystische Gottesschau und den Monotheismus die Offenbarungsdogmatik des Christentums zur Disposition stellen würde. Denn im Verlauf des Dialogs De pace fidei werden sukzessive die Trinität, die Inkarnation, die Auferstehung und die jungfräuliche Geburt als transzendente Voraussetzungen der einen Religion herausgearbeitet, die auch von Juden und Arabern unbewusst bekannt würden (vgl. IX. 26 und XII. 39), worauf Kusanus seine Hoffnung baut, Juden, Muslime und Angehörige anderer Religionen zur Konversion bewegen zu können (XII. 39 und XIX. 68). Die sich dahinter verbergende hermeneutische Methode, von den Voraussetzungen der jeweiligen Religionsgemeinschaften auszugehen, um zu einer Übereinstimmung zu kommen (XIII. 42), wendet er auch in seiner Cibratio Alkorani an, deren erklärtes Ziel die Siebung des „Gesetzbuches der Araber (librum legis Arabum)“ (Cusa 1989: Vorwort 2) ist, um „aus dem Koran die Wahrheit des Evangeliums zu erweisen“ (Vorwort 4; vgl. Vorwort 10). Allerdings nimmt er dennoch eine Relativierung der Bedeutung der christlichen Riten und Kulte vor, wenn er den Glauben, aber nicht die Riten als heilsnotwendig erachtet (XVI. 55) und in diesem Zusammenhang sowohl Taufe als auch Eucharistie als nicht heilsnotwendig bezeichnet, wenngleich er an der Notwendigkeit des Glaubens an die Transsubstantionslehre festhält (XVII. 62 und XVII. 64 ff.). Aufgrund der Relativierung der Heilsbedeutung der Riten kann Kusanus sich gegenüber der Vielfalt der Kulte und Riten tolerant zeigen. „Wo keine Gemeinsamkeiten in der Form festgestellt werden können, sollen die Religionsgemeinschaften, wenn nur der Glaube und friedlicher Konsens gewahrt bleiben, bei ihren frommen Bräuchen und Riten bleiben“ (XIX. 67). Auch wenn der Religionsdialog des Kusaners keine konkreten realpolitischen Folgen hatte, so deutet seine Konzentration auf einen mystischen und innerlichen Kern der Religion eine Entwicklung im Christentum an, die sich in der Reformation teilweise durchsetzen konnte und damit auch ein neues Verhältnis zur Pluralität, wenn nicht der Religionen, so doch der Christentümer hervorbringen sollte. 3.9 Jean Bodin (1529-1596) Während der Reformator selbst keinen Beitrag zum Dialog der Religionen formuliert hat, sondern im Gegenteil durch seine apokalyptische Theologie eher zu
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einer Verhärtung der Fronten nicht nur zwischen seinen Anhängern und dem Katholizismus, sondern auch zwischen dem Christentum und dem Judentum bzw. dem Islam beitrug, setzte der den calvinistischen Hugenotten zuneigende Jean Bodin die mittelalterliche Tradition der Religionsdialoge in seinem wahrscheinlich nach 1577 entstandenen, aber erst posthum veröffentlichten Colloquium heptaplomeres (Bodin 1975) fort.7 Der Dialog spiegelt die zerfallene Christianitas nach der Reformation wider. An dem Gespräch sind nicht nur ein Jude, ein Muslim, ein Vertreter der natürlichen Religion und des Skeptizismus beteiligt, sondern auch drei Christen, die den Katholizismus, die Lutheraner und Zwinglianer repräsentieren. Wie in den anderen Dialogen geht auch Bodins Religionsgespräch von einem grundlegenden Konsens der beteiligten Gesprächspartner aus. Dieser Konsens umfasst die Dogmen der Unsterblichkeit der Seele (Bodin 1975: 6) und der Auferstehung der Toten (135), die wiederum im Bekenntnis zum Monotheismus wurzeln, der nicht nur die natürliche Religion (religio naturae), das Judentum, Christentum und den Islam umfasst, sondern auch den Hintergrund für die polytheistischen Religionen (religiones) der antiken Welt, der Inder und Tartaren abgibt, die zwar als Irrtümer bezeichnet werden, aber dennoch bei dem einen ewigen Gott Gefallen finden (251). Von diesem Pluralismus der Religionen ausgehend stellt sich den Gesprächspartnern natürlich die Frage nach der wahren Religion (vera religio) (163). Aber schon bei der Frage, was denn die Kennzeichen der wahren Religion sind, wer der Schiedsrichter sein (170 ff.) und auf welche Autoritäten man sich in einer derartigen Debatte berufen könne (182), zeichnet sich ein grundlegender Dissens zwischen den Gesprächspartnern ab. In diesem Zusammenhang werden den Beteiligten auch die Gefahren eines Religionsgespräches bewusst, weil der Glaube (fides) durch den Rückgriff auf Beweise und Wissenschaft (demonstratione ac scientia) zerstört werden könnte. Dennoch einigt man sich letztendlich darauf, dass ein privates Gespräch unter Gelehrten über die göttlichen Angelegenheiten sehr fruchtbar sein könne (165, 169). Auf der Suche nach der wahren Religion findet man trotz dieser Probleme zunächst einen Konsens: Die älteste Religion sei wohl die wahre Religion und die älteste Religion sei die natürliche Religion (religio naturae), die rechte Vernunft (recta ratio) und das Naturrecht (lex naturae) (225 f.). Diese natürliche Religion sei nicht nur für die Erlösung ausreichend (186), sondern die Natur sei auch das älteste Beispiel eines wohlgeordneten Gemeinwesens (reipublicae bene constituae exemplar) (150). Jedoch stimmen auch die stärksten Verteidiger der natürlichen Religion, Toralba und Senamus, den Einwänden zu, dass erstens die 7
Die Tatsache, dass Bodin als Autor des Colloquium umstritten ist, soll hier nur erwähnt, aber nicht weiter berücksichtigt werden (pro: Häfner 1999; contra: Faltenbacher 2002).
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natürliche Vernunft die göttlichen Dinge ohne das göttliche Licht (sine divina luce) nicht voll erkennen könne (244) und zweitens, als die Menschen gegenüber dem Naturgesetz taub wurden, die göttliche Stimme (vox divina) zur Erneuerung des natürlichen Rechts notwendig wurde (249). In der Tat erachten die Vertreter der drei monotheistischen Religionen ihre jeweilige Offenbarung als eine Erneuerung und Bestätigung des Naturrechts (190 ff., 249 f.). Doch hier enden die Gemeinsamkeiten und die üblichen theologischen Differenzen brechen auf. Die Vertreter der natürlichen Vernunft lehnen das jüdische Ritual- und Zeremonialgesetz ab (186), die Christen die jüdische Beschneidung (213). Der Jude, der Muslim und die Philosophen lehnen die christlichen Inkarnations- und Trinitätsdogmen ab und die Christen sind unter sich über die Rolle des Abendmahls, der Konfession, der Bilder und Statuen und der Rolle der Katholischen Kirche uneins (465). Aber auch Juden und Muslime sind jeweils unter sich uneins und zerstritten. „In short, almost everyone is at odds with everyone; all are angry at all with curses and ill words for all“ (462). Keiner kann keinen von seinem eigenen Standpunkt überzeugen (463). Obwohl im Verlaufe des Gesprächs die paganen Religionen und der Islam als nicht ernst zu nehmende Kandidaten für die Antwort auf die Frage nach der wahren Religion disqualifiziert wurden (266) und sich das Gespräch in der Folge auf das Christentum konzentrierte (310 f., 324, 359 f., 376), endet das Gespräch letztendlich doch mit keiner Entscheidung für eine Religion, sondern mit der Feststellung eines grundsätzlichen Dissenses und der Unmöglichkeit, die wahre Religion zu bestimmen. Senamus, der Skeptiker, bringt das theologische Ergebnis der Unterredung auf den Punkt: „But I, lest I ever offend, prefer to approve all the religions of all rather than to exclude the one which is perhaps the true religion“ (465). Aber dieser theologische Skeptizismus hat auch politische Konsequenzen. Denn sehr früh in diesem Religionsgespräch ist die Frage aufgeworfen worden, welche politischen Konsequenzen die Pluralität und der Dissens der Religionen für ein Gemeinwesen haben. Das Ergebnis der Diskussion dieses Aspektes ist recht eindeutig. Curtius, der Zwinglianer, gibt zu bedenken: „Nothing is more destructive in a state than for citizens to be split into two factions, whether the conflict is about laws, honors, or religion. If, however, there are many factions, there is no danger of civil war, since the groups, each acting as a check on the other, protect the stability and harmony of the state.“ Octavius, der Muslim, stimmt dieser Diagnose zu. „For this reason, I think, the kings of the Turks and Persians admit every kind of religion in the state, and in a remarkably harmony they reconcile all citizens and foreigners who differ in religions among themselves and with the state“ (151). Senamus, der Skeptiker, stellt daraufhin die Wahrheitsfrage und kommt zu folgendem Ergebnis: „With such a large number of religions before us, perhaps it
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is possible that none of these is the true religion; on the other hand, it is not possible that more than one of these is true. Since the priests of all religions are disagreeing among themselves so violently, it is safer to admit all religions than to choose one from many, which may, perhaps, be false or to exclude this one which may be the truest of all.“ Oktavius warnt in diesem Zusammenhang vor den negativen Konsequenzen des Versuchs, eine unliebsame Religion zu verbieten: „It is not safe for princes or magistrates to try to uproot religions which have been received harmoniously for a long time and whose roots are deep“ (154). Die politische Konsequenz dieser Bestandsaufnahme wird von dem Katholiken Coronaeus als ziviltheologisches Minimaldogma formuliert: „I believe that all are convinced it is much better to have a false religion than no religion. Thus there is no superstition so great that it cannot keep wicked men in their duty through the fear of divine power and somehow preserve the law of nature, since rewards for the good and punishment for the wicked are considered part of divine judgment. (…) Of all the categories of public consideration nothing is more destructive than anarchy in which no one rules, no one obeys, no rewards are granted to good men, no punishment for the wicked“ (162 f.). Politisch gesehen ist daher jeder noch so große Aberglaube besser als der Atheismus, der dem Verbrechen Tür und Tor öffnet (239). Weil allerdings der religiöse Glaube nur durch freiwillige Zustimmung und nicht durch Gewalt lebendig bleibt (468), ist es notwendig und „possible for each man to enjoy liberty provided he does not disturb the tranquility of the state“ (467). Mit diesem Plädoyer für einen zivilreligiösen Minimalkonsens und religiöse Toleranz im Interesse des öffentlichen Friedens beenden die sieben Weisen ihr Religionsgespräch, das sie später nie mehr fortsetzen sollten, obwohl ein jeder von ihnen seinen Glauben beibehielt und verteidigte. 4. Das Resultat der mittelalterlichen Religionsdialoge Die hier behandelten Autoren mittelalterlicher Religionsdialoge stießen auf eine ganze Reihe von Problemen im interreligiösen Gespräch und formulierten jeder auf seine Weise Lösungsvorschläge für diese Hürden auf ganz unterschiedlichen Ebenen. 1. Die grundlegendste Ebene des interreligiösen Dialoges ist die der Diskursethik. Was sind die Spielregeln des Dialoges und in welchem Verhältnis stehen die Dialogpartner zueinander? Während die frühbyzantinischen Dialoge von Damakenos und Abnj Qurra aufgrund der intellektuellen Asymmetrien noch durch ein stark hierarchisches Schüler-Lehrer-Verhältnis geprägt sind, arbeiten
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Crispinus, Abaelardus, Lullus und Bodin eine egalitäre Diskursethik heraus, in der sich die Gesprächspartner gleichberechtigt in Freundschaft und gegenseitigem Respekt begegnen und im Geiste der Verständigungsbereitschaft miteinander kommunizieren. Allerdings ist diese Diskursethik nicht durchgängig bei allen mittelalterlichen Religionsdialogen zu finden. Die Dialoge Anselms und Nikolaus’ sind dem Typus des Lehrer-Schüler-Dialogs verhaftet und die nicht dialogischen Arbeiten von Venerabilis, Aquin, Tripolis und Montecrucis sind aufgrund ihres Handbuch- und Missionscharakters eher belehrende Schriften als Dialoge gleichberechtigter Partner. Wie die Dialoge mit egalitärer Diskursethik allerdings deutlich zeigen, ist diese bei weitem nicht ausreichend, einen erfolgreichen Religionsdialog zu führen und zwischen verschiedenen religiösen Kulturen zu vermitteln. 2. Denn mindestens genauso wichtig ist die Frage nach der materiellen Basis der Dialoge. Die materielle Basis der hier behandelten Dialoge sind die Offenbarungsschriften der beteiligten Religionen, die Thora, die Bibel und der Koran. Das Grundproblem dieser materiellen Grundlage besteht darin, dass diese Schriften – obwohl sie aus einer gemeinsamen Tradition hervorgehen – nur von der jeweiligen Religionspartei als Autorität anerkannt werden bzw. nur partielle Überschneidungen vorhanden sind. Argumentiert jede Partei nur auf der Basis der von ihr anerkannten Autoritäten ist eine Verständigung über die Grenzen des eigenen Offenbarungsglaubens nicht möglich, da jedes Argument vom Gegner als unverbindlich zurückgewiesen werden kann. In der Tat erwies sich in den Dialogen die gegenseitige Rezitation und Erläuterung von Zitaten der jeweiligen heiligen Schriften als kontraproduktiv. Die materielle Basis war keine gemeinsame Basis. 3. Aber auch wenn wie im Falle der Dialoge zwischen Juden und Christen eine partielle Überschneidung der Autoritäten in Form der Thora bzw. des Alten Testamentes vorlag, wurde eine Verständigung durch die Frage nach der angemessenen Hermeneutik des gemeinsamen Textes erschwert bzw. letztendlich unmöglich gemacht. Im Zusammenhang mit der Frage nach der angemessenen Hermeneutik traten auch Fragen nach der angemessenen Übersetzung der Texte in die Sprache des jeweiligen Anderen auf. Auf vergleichbare hermeneutische und übersetzungstechnische Probleme stieß auch der christlich-muslimische Dialog in den missionarischen Schriften, wenn deren Autoren versuchten, unter Zugrundelegung des Korans die Wahrheit des Evangeliums zu erweisen und den Koran selbst zu widerlegen. Die aus diesen gegensätzlichen Hermeneutiken gewonnenen Argumente sind für die jeweils andere Partei inakzeptabel und lassen letztendlich keine Verständigung zu. 4. Alle diese Probleme und Defizite wurden in den Schriften durchgängig gesehen und alle Autoren versuchten die Klippen einer reinen Offenbarungsher-
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meneutik durch den Rückgriff auf die natürliche Vernunft zu umgehen, von der man annahm, dass sie allen Menschen ungesehen ihres Glaubens gemeinsam ist und glaubte, damit eine gemeinsame Gesprächsbasis gefunden zu haben. Doch auch diese Hoffnung erwies sich als problematisch, weil sich daran die Frage anschloss, wie weitreichend der Anspruch der Vernunft gehen sollte. Der auch von der natürlichen Vernunft der antiken und mittelalterlichen Philosophie vertretene Monotheismus konnte nur das Eingangstor für das weite Feld der Auseinandersetzung um die Offenbarungswahrheiten zur Verfügung stellen. Welche Autorität die Vernunft jedoch im Bereich des Glaubens einnehmen sollte, war keineswegs Konsens, sondern wurde von den Autoren unterschiedlich beantwortet. Galt bei Crispinus und Anselm das Paradigma des „credo, ut intelligam“, konnte die Vernunft nur eine erläuternde Funktion gegenüber dem Glauben einnehmen und musste dessen Primat anerkennen. Ein vernunftgeleitetes Gespräch war damit nur unter der Voraussetzung des gemeinsamen Glaubens möglich und ein Dialog über Religionsgrenzen hinweg unmöglich. Gilt dagegen der Grundsatz Abaelards, „nihil credendum, nisi prius intellectum“, wird der Rationalitätsanspruch der Vernunft auch auf Glaubenssätze ausgedehnt. In dieser Perspektive obliegt es der Vernunft, die Glaubenssätze so weit wie irgend möglich als rational zu erweisen. Wie bei Abaelard, so zeigt sich auch bei Lullus’ Anspruch, die Offenbarung durch rationes necessariae als wahr zu erweisen, die prinzipielle Unabschließbarkeit dieses Projektes. Die Dialoge enden offen und deuten lediglich eine asymptotische Annäherung an die Wahrheit an. Gewissermaßen einen Mittelweg schlägt Thomas von Aquin mit seiner Unterscheidung von Vernunftund Glaubenswahrheiten ein. Mit dieser Unterscheidung eröffnet er im Bereich der Vernunftwahrheiten einen großen Spielraum des interreligiösen bzw. interkulturellen Dialogs, allerdings um den Preis der Ausklammerung der Glaubenswahrheiten, die nun nicht mehr als wahr erwiesen, sondern nur noch gegen Kritik verteidigt werden können. Eine Überbrückung der Glaubensdifferenzen ist auf dieser epistemologischen Grundlage nicht möglich. So zeigt sich, dass auch auf der Grundlage der natürlichen Vernunft die Möglichkeiten der Verständigung im Bereich der Offenbarungswahrheiten und des Glaubens begrenzt sind. 5. Neben den Offenbarungstexten und der natürlichen Vernunft als Grundlage eines Glaubensdialoges zeigen Lullus und Kusanus einen dritten Weg der Verständigung zwischen den Religionen, den der mystischen Theologie, die auf der Ebene der transzendenten Gotteserfahrung versucht, die offenbarungstheologischen Differenzen in einer letztendlich unaussprechlichen Gottesschau zu transzendieren. Auf diese Weise gelingt es den Autoren zwar den gemeinsamen Bezug aller Religionen auf das eine Göttliche hin zu erweisen, aber letztendlich bleibt auch dieser Lösungsmodus dem christlichen Diskursuniversum verhaftet, insoweit sowohl Lullus als auch Kusanus versuchen, die christliche Offenbarung
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als transzendente Voraussetzung der einen Religion und damit das Christentum als die vera religio zu erweisen. 6. Damit zeigt sich, dass die mittelalterlichen Religionsdialoge keine Gespräche zwischen den Religionen, sondern eigentlich christliche Selbstgespräche sind, die in der Auseinandersetzung mit dem Judentum, dem Islam und der Philosophie immer der Selbstvergewisserung des eigenen Glaubens dienen. Neben diesem apologetischen Aspekt haben einige dieser Schriften auch einen missionarischen Anspruch, aber die Erfolglosigkeit der Dominikanermission und auch der Lull’schen Bemühungen zeigen, dass diese Schriften diesen Anspruch nicht wirklich einlösen konnten. Dennoch dokumentieren diese Dialoge den wachsenden Einfluss der Philosophie auf die mittelalterliche Theologie und das Bedürfnis, den eigenen Glauben aus dem Zweifel heraus so weit wie möglich rational zu durchdringen, ebenso wie das Bemühen, mit den anderen Religionen in einen friedlichen Dialog jenseits kriegerischer und militärischer Auseinandersetzungen einzutreten. 7. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es den Religionsdialogen weder gelingt, einen überzeugenden Dialog der Religionen zu führen, noch die Wahrheit der christlichen Offenbarung gegenüber dem „Ungläubigen“ zu erweisen. Das Colloquium heptaplomeres des Jean Bodin zieht aus diesem Grundproblem die Konsequenzen: In Anbetracht der Pluralität der konkurrierenden Wahrheitsansprüche der Religionen kann nicht mehr festgestellt werden, welche Religion denn nun die vera religio ist. Aus dieser Bestandsaufnahme leitet Bodin ein grundsätzliches Toleranzgebot gegenüber den vielfältigen Religionen mit der doppelten Begründung ab, dass zum einen der Ausschluss einer Religion gerade die wahre Religion treffen könnte und dass zum anderen ein gewaltsames Verbot einer bereits lange praktizierten Religion in den Bürgerkrieg führen würde. Diese Einsicht konnte sich aber erst nach dem Zerbrechen der christlichen veritas in der Reformation durchsetzen, als die politischen Konsequenzen konkurrierender Wahrheitsansprüche in den europäischen Reichen deutlich wurden. Diese neue Toleranz gegenüber den Religionen bleibt aber an ein prinzipielles Bekenntnis zu dem in den mystischen Theologien Lullus’ und Kusansus’ formulierten „einen Göttlichen“ gebunden. Der Atheismus bleibt von diesem Toleranzgebot ausgeschlossen. Dieser Grundgedanke konnte sich während der Aufklärung in den Schriften Shaftesburys, Lockes, Spinozas, Humes und Lessings durchsetzen.
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Reformatorische Auseinandersetzungen in der Stadt. Das Religionsgespräch der Reformationszeit als Konfliktlösungsstrategie Thomas Fuchs
1. Einleitende Bemerkungen Im Jahre 1605 versuchte Landgraf Moritz von Hessen-Kassel, in seinem Fürstentum den Calvinismus einzuführen (Menk 1986; Menk 2000). Das Unterfangen endete unterschiedlich glücklich. Von den beiden alten Kernen des Territoriums, dem Niederfürstentum mit Kassel als Zentralort sowie das alte Fürstentum an der Lahn um Marburg, wandte sich das Niederfürstentum dem reformierten Glauben zu, während das Oberfürstentum fast gänzlich dem lutherischen Bekenntnis erhalten blieb. Marburg war das schließlich siegreiche Zentrum des Widerstandes. Auch in der hessischen Exklave Schmalkalden, erst seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Landgrafen, bissen sich die Obrigkeit und ihre Vertreter am Beharrungsvermögen der Lutheraner die sprichwörtlichen Zähne aus. Beide Städte, Marburg wie Schmalkalden, waren bedeutende Orte der lutherischen Erinnerungskultur. In der Lahnstadt hatte Luther Zwingli in die Schranken gewiesen, und die Hauptstadt des Schmalkaldischen Bundes hatte die großartigen Heerschauen des politischen und theologischen Protestantismus in ihren Mauern beherbergt. Im fest zur lutherischen Lehre stehenden Schmalkalden wurde die Stadtbevölkerung mit dem Ansinnen der Landesherrschaft konfrontiert, eine strenge Kirchenzucht einzuführen, die Bilder zu vernichten und das Abendmahl des Herrn als Gedächtnismahl zu feiern, symbolisiert durch das Brotbrechen, das an die Stelle der Hostie treten sollte. Das evangelische Gewissensprinzip ließ aber ein einfaches Befehlen und Gehorchen in Glaubensfragen nicht zu. Die Strategie des Landgrafen, um die Einführung des Calvinismus durchzusetzen, beruhte auf zwei Argumenten: Zum einen handle es sich nicht um Glaubensfragen, sondern nur um Zeremonien, d. h. mit der Einführung der Verbesserungspunkte, wie der Name schon sagt, sollte die evangelische Religion durch die Abschaffung einiger katholischer Reste
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verbessert werden, zum anderen setzte er auf die Kraft der Überredung, d. h. dass die Verbesserungspunkte schriftgemäß seien. Im Herbst 1605 hatte er das Geistliche Ministerium angewiesen, „dz sie hinfüro in der Predigt ihre zuhörer underrichten wollten, wie es umb die von I. f. gn. vor genommene Reformation gewandt, dz sie nemlich christlich Gottes Wortt gemeß und dz Ihre f. g. niemand dißfalß sein gewissen beschweren wollten, wie dan der herr Christus auch niemand gezwungen“ (Chronik des Vinzenz Marold, Schloß Wilhelmsburg Schmalkalden, ohne Signatur, fol. 386r). Weiterhin polemisierte der Landgraf gegen die individuelle Bibelreferenz der Gläubigen, die in diesem Falle unangemessen sei, da es sich um ein Adiaphoron handle, das in der Entscheidungsgewalt der Obrigkeit liege: „Es seye nicht also gemeint [die Schriftgemäßheit der Verbesserungspunkte], wie mancher roher geselle davon falschlich vorgebe und rede, soll ein ieder Gottes Wortt selbst fl. hören mitt rechtem verstand lesen, Gott bitten, dz er Christlich davon urtheilen möge, I. f. g. wolle die Ceremonien gehalten haben vermoge der hessischen Kirchen Agent und dz demselben seiner Zeit nachgelebt werde in seinem Landt dißfalß Ordnung zu machen“ (Chronik des Vinzenz Marold, Schloß Wilhelmsburg Schmalkalden, ohne Signatur, fol. 386v.).
Diese Polemik richtete sich gegen das Konzept des evangelischen Religionsgespräches – dazu später mehr. Trotzdem konnte der Landgraf Gespräche über diese religiöse Frage nicht verhindern, da ja die Gewissen in der persönlichen Anrede überzeugt werden mussten, oder wie es Luther in Worms 1521 vorbildhaft für die Epoche formuliert hatte, dass das Gewissen in den Worten Gottes gefangen sei (Selge 1971). Aus der Gefangenschaft konnte das Gewissen wiederum nur durch die Schrift befreit werden. Es musste überzeugt werden, und das Forum dafür war das Gespräch über religiöse Fragen. Im November 1608 kam der Landgraf selbst in die Stadt, um für klare, nämlich calvinistische Verhältnisse zu sorgen. Zuerst wurde der Amtmann ausgewechselt. Danach visitierten die mitgereisten Prediger und Superintendenten die Bevölkerung. Am 23. November wurden die Ratsherren sowie die vornehmen Bürger auf das Schloss beordert und einzeln befragt, was sie von den Verbesserungspunkten hielten und ob sie sie annehmen wollten. Habe einer „etwas undienliches“ geantwortet, so „haben sie dieselben in die heilige calvinische Biblien (die dann vor ihnen auf dem Tisch gelegen) [gemeint ist die Bibelübersetzung Zwinglis] gewiesen, u. also aus derselben alles behaupten oder vielmehr verkleistern wollen“ (Aus dem Bericht des Wagenmeisters Georg Wolf von 1609, Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, C 19, 23/24). Aber die Bürger gaben sich nicht so einfach geschlagen, sondern demonstrierten den Visitatoren ihre eigenen Bibelkenntnisse:
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„Weil aber dieses langsam von statten ging, damit sie oftmals an einen Bürger der in der Schrift ein wenig belesen, u. ihnen antworten konnte, eine ganze Stunde, an etliche wohl 2 Stunden oder länger verhöret haben, sind sie anders Raths worden u. damit sie desto eher zu Rede kommen u. die Bürgerschaft ganz u. gar verhöret werden mögten, haben sie sich in 4 unterschiedliche Stuben eingetheilt u. in denselben das angefangene Werk fortgetrieben, darneben aber erstlich verbothen, dass kein Bürger dem andern, was er gesaget, u. ihm vorgestellt worden, hat anzeigen dürfen, sondern sobald einer seinen bescheid bekommen, hat er stracks u. stillschweigend heimgehen müssen“ (ebd.).
Die Visitatoren hatten eine Kommunikationssituation geschaffen, nämlich das Gespräch über den Glauben auf der Grundlage der Heiligen Schrift, die sie nicht beherrschen konnten. Um Schlimmeres zu verhindern, versuchten sie, weitere Gespräche unter den Bürgern zu unterbinden und so den Konflikt einzuhegen. Landgraf Moritz sah im Widerstand der Bevölkerung den casus belli. Am 3. Dezember verschickte der Rat gezwungenermaßen Schreiben an die Zünfte des Inhalts, „dass sich diejenigen, so Friede haben wollen, in denselben unterschreiben sollen, im gegentheil sollen die Aufrührer besonders aufgezeichnet werden, was aber außer den Handwerkern unter der gemeinen Bürgerschaft gewesen, ist alles aufs Rathaus gefordert worden, allda ein jeder Friede zu halten u. zu keinem Tumult rath oder vorschub zu geben u. für Empörung zu hüten angeloben müssen“ (Chronik des Vinzenz Marold, Schloß Wilhelmsburg Schmalkalden, ohne Signatur, fol. 386v).
Die Widerständler, nicht verlegen um eine Antwort, schlugen in der folgenden Nacht Zettel mit einer unverhohlenen Drohung an verschiedenen Stellen in der Stadt an: „Wem die lutherische Lehre und die Seligkeit lieb seye, der soll des Morgens in die Kirche kommen, allda sollte den Pfaffen die Köpfe entzwei geschlagen und die Augspurgische Confession und Schmalkaldische Artikel vertheidiget werden.“ Der Chronist kommentierte trotz seiner unverhüllten Ablehnung des Calvinismus: „wäre aber nicht der rechte Weg gewesen.“ Der Konflikt eskalierte weiter. Die Bürger mussten ihre Waffen abgeben, Soldaten wurden ins Schloss gelegt und die Bevölkerung mit der Einquartierung von Soldaten bedroht. Letztendlich scheiterte die Einführung der Verbesserungspunkte an der Verweigerungshaltung der Stadtbewohner, die das Abendmahl nicht mehr besuchten. Schmalkalden blieb eine lutherische Stadt. Diese Episode aus der thüringischen Kleinstadt beleuchtet eine Vielzahl von Momenten, die für unser Thema wichtig sind. Die Einführung des Calvinismus führte zu einem Konflikt, der den Konsens in der Stadt und den Frieden mit der Landesobrigkeit bedrohte. Mit Hilfe von religiösen Gesprächen auf der Basis der Heiligen Schrift versuchten die hessischen Amtleute und Pfarrer, die Friedensbedrohung zu beseitigen und den religiösen Konsens in der Stadt wieder herzustellen. Das Gegenteil war aber die Folge. Die Gespräche vertieften den Graben
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und manifestierten den religiösen Dissens. Die folgenden Bemerkungen gehen der Frage nach, warum Religionsgespräche nicht zu einer konsensuellen Lösung des religiösen Zwiespaltes beitragen konnten. 2. Das evangelische Religionsgespräch der Reformationszeit Der christliche Glaube ist ein Glaube des Wortes über den Neuen Bund. Er basiert auf einer Wortverkündigung, die seit apostolischer Zeit in Offenbarungsschriften vertextlicht wurde. Die diskursive Orientierung des Glaubens schlug sich in der Geschichte der Kirche in bestimmten Gesprächsformen nieder, die in der Reformation dramatisch aktualisiert wurden: zum einen die akademisch geprägte, nach bestimmten logischen Operationen ablaufende Disputation, zum anderen das freie Gespräch synodalen Charakters über religiöse Fragen (Fuchs 1995: 16-34). Die akademische Disputation als wissenschaftlich-rationales, stark ritualisiertes Verfahren der Wissensfindung geriet spätestens durch den Frömmigkeitsaufbruch des christlichen Humanismus massiv unter Druck. Im August 1517 berichtete Heinrich Glareanus Erasmus von einer Disputation an der Sorbonne, während der sich ernsthafte Theologen in wüsten Beschimpfungen über Adam ausgelassen hätten, weil er im Paradies nicht Birnen statt Äpfel gegessen habe (Allen/Allen 1913: Nr. 618, 37). Erasmus hielt Disputationen, die danach fragten, ob Gott in Eselsgestalt auftreten könne, für frivol (Erasmus von Rotterdam 1975: 133). Die Syllogismen und logischen Schlüsse des scholastischen Disputationswesens behinderten in den Augen der Reformatoren die gläubige Annahme des Gotteswortes, da sie die menschliche über die göttliche Vernunft setzten. In der 1536 in Wittenberg abgehaltenen Zirkulardisputation De veste nuptuali wird der logische Schluss geboten: „Fides est efficax per charitatem. Ergo fides non sola, sed etiam opera iustificant“ (Luther 1928: 279) ebenso wie der Syllogismus „Certitudo requiritur in iustificatione. Certitudo fit in opera. Ergo opera sunt necessaria ad iustificationem“ (Luther 1928: 292). Beide Schlüsse wies Luther mit einer methodisch dem Humanismus entlehnten Bibelexegese zurück, die die dazu herangezogenen Bibelstellen in den historischen Kontext stellte. Diese Disputation galt ihm als unnütze „logomachia“ (Luther 1928: 279). Die Reformatoren diskreditierten endgültig das Gesprächsideal der Scholastik als Sophisterei, als leeres Wortgefecht, das die Ernsthaftigkeit des Glaubens bedrohte. Die Resakralisierungsbestrebungen der evangelischen Bewegung setzten dem Disputationswesen das Konzept eines freien Gespräches über religiöse Fragen entgegen, das die Tiefe des Glaubens gegen die Oberflächlichkeit der
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menschlichen Hybris setzte, eine Hybris, in der die Rhetorik über den Inhalt siegen konnte. Andreas Karlstadt meinte nämlich, dass in einer Disputation Christus erkannt werden müsse (Seitz 1903: 26). Wahre Gespräche über den Glauben konnten in den reformatorischen Augen nur ohne die Wortfechterei der Scholastik stattfinden. Nicht mehr die These des Magister wurde dem Gespräch zugrundegelegt, sondern die Heilige Schrift. Da nun aber die Verwerfung der syllogistischen Gesprächsform die methodische Absicherung der Wahrheitsfindung zerstört hatte, musste die Wahrheitsfindung auf eine andere Weise sichergestellt werden. Die Reformatoren fanden diese Absicherung in der Schrift. Mit mehreren Bibelstellen formulierten sie das Konzept des Gespräches über den wahren Glauben: Gal 1, 8: Aber auch wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen würden, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, der sei verflucht; 1. Thess 5, 21: Prüft aber alles, und das Gute behaltet; 1. Kor 14, 29/30: Auch von den Propheten lasst zwei oder drei reden, und die anderen lasst darüber urteilen. Wenn aber einem andern, der dabeisitzt, eine Offenbarung zuteil wird, so schweige der erste; Mt 18, 19/20: Wahrlich, ich sage euch auch: Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen (Fuchs 1995: 457 f.). Auf der Grundlage des Gotteswortes konnten die Gläubigen über religiöse Fragen diskutieren, weil ihnen Christus versprochen hatte, dass er selbst die Wahrheit herstellen werde. Mit der Bibelübersetzung Luthers und dem religiösen Schrifttum der reformatorischen Bewegung wurde den Laien ein Instrument in die Hand gegeben, mit dem sie dem Klerus entgegentreten konnten. Die Kirche erkannte durchaus die Gefahr. So hieß es schon in einem Zensuredikt des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg von 1485, dass durch den Buchdruck eine Vielzahl von Menschen von der rechten Bahn abweichen würde. „Denn wir mußten sehen, daß Bücher, die die Ordnung der Heiligen Messe enthalten, und außerdem solche, die über göttliche Dinge und die Hauptfragen unserer Religion verfaßt worden sind, aus der lateinischen in die deutsche Sprache übersetzt wurden und nicht ohne Schaden für die Religion durch die Hand des Volkes wandern“ (Füssel 1999: 74).
3. Wilde Diskussionen, gezähmte Diskussionen Die christliche Religion kann als Religion der Riten und als Religion des Wortes verstanden werden. Die Reformatoren sahen zwischen diesen beiden Polen die Kirche zuallererst als Wortgemeinschaft, und je weiter sie von der römischen Kirche abwichen, desto stärker wurde der Wortcharakter und desto weniger die
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Ritusgemeinschaft betont. Hierin kam gleichsam die Spannung zwischen der virtuellen Ecclesia universalis und der real existierenden Kirchengemeinde, die sich im Abendmahl rituell konstituierte, zum Ausdruck. Der Ausbruch aus der römisch-katholischen Ritusgemeinschaft delegitimierte die Ritusordnung der Kirche grundlegend. Die befriedende Wirkung des Ritus, der das Mysterium des Glaubens und seine Herausforderung für Individuum und Gesellschaft in gleichförmige Strukturen goss, war weggefallen (Lottes 1997). Der Glaube in seiner ganzen Explosivität konnte ungehindert auftreten, als der Rituskonsens von den Menschen aufgekündet wurde. In den ersten stürmischen Jahren der reformatorischen Bewegung, in der noch vieles im Fluss war, von der Kirchenbildung bis zur dogmatischen Ausprägung der protestantischen Kirchen, manifestierte sich der Wortbezug des evangelischen Glaubens in einer Gesprächskultur, die wesentlich von Laien bestimmt wurde. Auf der Grundlage der Heiligen Schrift, ausgestattet mit dem Selbstbewusstsein des Gewissensprinzips und getrieben von einem mehr oder weniger schwammigen Antiklerikalismus traten sie den Geistlichen in wilden Gesprächen öffentlich entgegen. Ausgestattet mit dem neuen Selbstbewusstsein, dass selbst Papst und Bischöfe aus der Taufe gekrochen seien, nutzten die Laien das evangelische Schriftprinzip und seine Bibelreferenz gegen die Klerikerkaste, der sie einen Sonderstatus in Religion und Gesellschaft absprachen. Johannes Cochlaeus beschrieb den auf der Bibel rekurrierenden witzig gewordenen Laien, der die Kirche und ihre Amtsträger angriff: „Auf wunderbare Weise wurde Luthers Neues Testament durch die Buchdrucker vervielfältigt, so daß auch Schuster und Frauen und alle Laien, welche nur halbwegs die deutschen Buchstaben gelernt hatten, es aufs eifrigste lasen, wie die Quelle aller Wahrheit. Die Anhänger Luthers trugen das Buch bei sich und lernten es durch immer neues Lesen auswendig. Dadurch eigneten sie sich binnen weniger Monate so viele Lehrkenntnisse an, daß sie nicht davor zurückschreckten, nicht bloß mit katholischen Laien, sondern auch mit Priestern und Mönchen, ja sogar mit theologischen Magistern und Doktoren über Glaubensfragen und das Evangelium zu disputieren“ (zit. nach Moeller 1983: 19).
Der Ulmer Dominikaner Felix Fabri hatte dagegen den priesterlichen Anspruch formuliert, dass durch die Kleriker „das Gemeinwesen mit den Himmlischen und Gott verbunden wird“ (zit. nach Geiger 1971: 154). In der direkten Konfrontation der Reformationszeit behauptete der Dominikaner Peter Hutz in einer Verteidigungsschrift gegen Anklageartikel eines Bürgerausschusses, dass „der jungfraulich stand sei mer, dann der eheliche“ (Stadtarchiv Ulm, A [1565], fol. 2v). Die Laien ließen die Kleriker spüren, dass sie diese Ansichten nicht mehr teilten. Das Gespräch als Form mündlicher Kommunikation kam ihnen dabei entgegen. In Magdeburg verwickelte am 7. August 1524 ein „Seiden-krahmer
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Knecht(en)“ einen Franziskaner in eine wilde Diskussion, als er während der Predigt den Mönch der Lüge bezichtigte: „Munnich Du leugst, alles was du sagst; sich, hier stehet viel anders und hatte ein buech in der Handt gehabt. Deswegen ist der Munnich gantz und gar verschrocken und ist von stundt vom Predigstuel gegangen, er hette den sermon bey der Helfte zu ende gebracht, ist das Volck mit bespottung davongegangen“ (Kastner 1994: 201-205).
Der anonyme Laie konnte sich bei seinem Auftritt auf die evangelischen Prediger berufen, die in 18 Artikeln unter anderem gefordert hatten: „Ein Christlich gemein oder Versammlung hat recht und macht alle Lehre und lehrer zu urtheilen und Diener des worts Gottes zu erwehlen nach Inhalt der schrifft und nicht allein die Bischoffe, gelerten und Concilia, wie sie sich ruhmen“ (Kastner 1994: 210). Schon einige Tage zuvor hatten die Gemeindeverordneten die Kleriker von drei Kirchen zusammengerufen und angewiesen, keine Memorien, Vigilien und Seelenmessen mehr zu lesen. Ein oder zwei von ihnen sollten sub utraque kommunizieren, die Kinder auf deutsch taufen und Begräbnisse ohne Vigilien und Seelenmessen abhalten (Kastner 1994: 208). In einer Vielzahl von wilden Diskussionen stellten die Laien den religiösen Frieden mit der Amtskirche in Frage. Ein weiteres Beispiel, nun aus Augsburg: Am 13. Juli 1523 bestieg ein Dominikaner die Kanzel von St. Margarethen und riet den schwangeren Frauen, die heilige Margarete um Beistand anzurufen. Ein „beckenknecht“ namens Jörg Fischer unterbrach ihn mit den Worten „,lieber her, ir habt von sant Margredten gepredigt‘, wau er dasselb in geschrift fund, da sagt der minch: ,wau der teufel nicht hin mag, da schickt er sein botten!‘ also sagt der beck, er solt sollich ding nicht predigen, dan er verfurti die leutt darmit. Da sagt der minch, er welt in verklagen. Da sagt der beck, wann er ims in geschrift bewis, das er gepredigt hat, dass dasselb war wer, so welt er ain straff darumb leiden, was zu leiden wer. Also gieng dem minch ain aumacht zu, und sanck dahin und sagt: ,owe, maria gotz mutter, wie will mir geschechen!‘ also hiessen in die klosterfrauen zu in hinauff gan, dan er wer schwach; da warden etliche weiber über den becken schreien, und ettliche weiber die waren auff des becken seitten. Da schrie ain klosterfrau überlaut herab und sagt gegen dem becken, die burger, die leiden doctor Urban [Urbanus Rhegius] und in in ire heuser zu gast, und die minnten den burgern ire weiber. Da sagt ain altz weib gegen der klosterfauen, sie lug, ,und du liessest dich sie gern minnen, so wellen sie dein nicht!‘“ (Kastner 1994: 173/174)
Wie reagierte der Rat, der für die Aufrechterhaltung des Friedens in der Stadt verantwortlich war, deren Bevölkerung sich nicht nur als politische Gemeinschaft, sondern auch als corpus christianum im Kleinen verstand? Unter Strafandrohung erging ein Bescheid an Fischer, der durch den Versuch gekennzeichnet war, auf der einen Seite die religiöse Autonomie des Gläubigen zu bewahren, auf der anderen Seite durch die Privatisierung des religiösen Suchens die Bedrohung des öffentlichen Friedens abzuweisen. Fischer dürfe die Bibel lesen, aber er
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dürfe nicht öffentlich mit den Geistlichen diskutieren. Wenn er möchte, könne er sich gütlich von den Predigern privat unterweisen lassen; aber nicht privat oder öffentlich mit ihnen diskutieren. Fischer setzte dagegen den Vorbehalt des Gewissensprinzips, „das er sich hierinne hallten, wie er das gegen got und aim erbern rat als seiner ordenlichen oberkait verantwurten wöllte“ (Kastner 1994: 174/175). Die wilden Diskussionen der frühen Reformationsepoche machten mehrere Phänomene deutlich. Der sakrale und der politisch-soziale Konsens der Stadtgemeinschaft war samt seiner inhärenten Hierarchie und Trennung in Weltliche und Geistliche zerbrochen. Die Religion bildete kein friedensstiftendes Element der Gesellschaft mehr. Denn Friede und Rechtseinheit hatten immer ein sakrales Element besessen. Die Friedensordnung bildete nur die göttliche Ordnung ab, die durch die Gottlosigkeiten der falsch Glaubenden gestört wurde. Die wilden Gespräche bedrohten offensichtlich den gesellschaftlichen Frieden, der auch gewaltsam gegen die Kleriker durch die Anhänger der evangelischen Bewegung aufgekündigt wurde. Dies reichte von Tätlichkeiten gegen einzelne Kleriker über den Kampf gegen die Götzen bis zu den eschatologisch motivierten Gewaltszenarien eines Thomas Müntzer oder des Münsteraner Täuferreiches. Die Obrigkeiten in den Städten setzten, neben vielen anderen Mechanismen wie Strafandrohung, Ausweisung, Privatisierung der Religion und Predigtmandate, ebenso wie die Reformatoren, spätestens als die evangelische Bewegung sich zu zersplittern begann, auf die Domestizierung der wilden Gesprächskultur. Bis 1524 hatte Luther öffentlichkeitswirksam das Konzept des gemeindlichen evangelischen Religionsgespräches vertreten (Fuchs 1995: 468-485). Seit 1524 betonte er das Studium der Sprachen für die rechte Schriftauslegung. Es gebe die Prediger, die aus der übersetzten Bibel so viele Kenntnisse besäßen, dass sie Christus verstehen, lehren und heilig leben könnten. Darüber stünden die „Propheten“ nach 1. Kor. 14, 29/30, denen aufgrund ihrer Sprachkenntnisse die Exegese der heiligen Schrift und der Kampf gegen die Häresie zustünde (Luther 1899: 4042). Martin Bucer, der einst betont hatte, dass gerade bei den Ungebildeten rechte Schrifterkenntnis zu erwarten sei, schrieb 1537, dass jeder Schriftverständige die Sprachen, die Tradition und die Wissenschaften kennen müsse (Sehling 1963: 51). Durch die Veränderung der Grundlegung der Schrifterkenntnis gelang es den Reformatoren, das evangelische Religionsgespräch als Instanz zur Durchsetzung des evangelischen Glaubens in vielen Städten einzusetzen. Nun diskutierten nicht mehr ungebildete Laien mit den Priestern, sondern ausgebildete Theologen. Den wissenschaftlich gebildeten Pfarrern gelang dadurch die Disziplinierung des Glaubensdiskurses. Der Preis bestand in der Zurückdrängung der religiösen
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Gestaltungsmöglichkeiten der Bevölkerung unterhalb der Ratsebene. Die Ratsherren, zumindest die evangelischen, unterstützten die Theologengespräche, mit denen ein Weg gefunden wurde, die religiösen Streitigkeiten zu beenden und den religiösen Frieden wiederherzustellen. Eine Vielzahl von Gesprächen solcher Art fand in den Städten statt. Als Beispiel soll auf das Religionsgespräch in Kaufbeuren am 30. Januar 1525 hingewiesen werden. Schon seit den frühen zwanziger Jahren breitete sich reformatorisches Gedankengut in der Stadt aus. Bekannt ist, dass 1521 Sebastian Fuchsstein Lutherschriften von der Kanzel der Martinskirche verlas. Die Situation eskalierte so weit, bis der katholische Klerus in der Stadt nicht mehr sicher war. Angeheizt wurde der Konflikt durch den evangelischen Prediger Jakob Lutzenberger und den Kannengießer Ulrich Winkler, der mehrmals Predigten des Spitalpfarrers Georg Sigk störte, gipfelnd in dem Vorwurf Lutzenbergers, Sigk predige „verfurisch, ketzerisch leren“ (Sigk in einer undatierten Supplikation an den Bischof von Augsburg Christoph von Stadion, Evangelisches Kirchenarchiv Kaufbeuren, Anlage 044, fol. 4r/v). Die Situation eskalierte am 8. Januar 1525 während einer Predigt Lutzenbergers. Hauptperson war wieder Ulrich Winkler, der in der Kirche neben einem katholischen Pfarrhelfer stand. Er unterbrach die Predigt: „her Jacob heren auf, ir habt gnug gebredigt, dann der pfaf, so sein mers gebredigt vnd da stiende, sagte, es were erlogen“ (Hans Ruef d. J. an den Kaufbeurer Stadtschreiber Johann Ruef, 11. Januar 1525, Evangelisches Kirchenarchiv Kaufbeuren, Anlage 059, fol. 39r-42v). Gleichzeitig ging er mit Schlägen auf den Kaplan los. Im allgemeinen Tumult versuchte Lutzenberger vergeblich, die Kanzel zu verlassen. Erst der Bürgermeister Blasius Honoldt, ein Lutheraner, konnte die Menge beruhigen. Der Kaplan wurde in einer Kapelle festgesetzt, wegen der kalten Witterung dann aber in ein Privathaus überführt. In Folge des Aufruhrs verließen die katholischen Geistlichen die Stadt, dem gefangengesetzten Kaplan misslang die Flucht am darauffolgenden Tag. Im Weberhaus versammelten sich am Montag 150 Personen, die aus sich heraus eine Deputation wählten, die am Dienstag in der Ratssitzung „begerten, die pfaffen gegen ain ander zestellen, sy disputieren zelassen vnd alsdann notturftiklich zehern, vnde welher vberwunden, dem andern, beliben, zefolgen, wa aber nit, ine der Stat zuuerweisen“. Diesem Ansinnen der Gemeinde kam der Rat nach und berief für den 30. Januar ein öffentliches Religionsgespräch. Das Protokoll des Kaufbeurer Gespräches beginnt mit einem Bericht über die Umstände seines Zustandekommens (Pfundner 1991/1992). Die Priester legten das Wort Gottes unterschiedlich aus. Daraus resultierte Irrung und Zwiespalt im Volk, was „zuuerderbung der Seelen und zu emperung und auffrur gedient sein möchte“. Die Situation eskalierte in einem Aufruhr gegen die Priester. Die Ob-
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rigkeit sei ihrer Pflicht nachgekommen. Um Aufruhr zu verhindern und Friede, Ruhe und Einigkeit zu erhalten, sei das Religionsgespräch einberufen worden. Die Gemeinde beschuldigte nach dem Protokoll den Pfarrer und seine Helfer, das „wort gotts one grund der gottlichen geschrifft“ gepredigt zu haben und wandte sich deshalb an den Rat. Sie forderten ein „freundlich gesprech“ zwischen dem evangelischen Prediger Lutzenberger und dem Pfarrer Georg Sigk. Interessant ist die Begründung für dieses Ansinnen. Es wurde mit dem christlichen Kommunalismus argumentiert: Nach der Empörung während der Predigt hätten Sigk und seine Helfer die Stadt verlassen. Er sei „alls der hiert auss der Stat ganngen und die Schefflein nit anderst dann in Irrung waiden wellen, deshalb bey Inen erwegen und bedacht, das viellaicht der pfarer Lieber Irrung und Blutvergiessen dann frid zuerhalten geneigt“, denn er sei ohne Grund aus der Stadt gegangen (Pfundner 1991/1992: 44). Deshalb sei er kein tauglicher Pfarrer mehr. Um den Zwiespalt zu beseitigen, habe Lutzenberger ein Gespräch über die zwiespältigen Fragen auf der Grundlage der heiligen Schrift angeboten. Auf die Supplikation der Gemeinde hin erließ der Rat ein Ausschreiben des Gespräches samt sieben Artikeln Lutzenbergers, die diskutiert werden sollten. Begründet wurde das freundliche und brüderliche Gespräch mit der Herstellung von Friede und Einigkeit in der Stadt, ganz auf der Linie der Gemeindeeingabe, und in der Hoffnung, dass sich die streitenden Parteien mit Hilfe der Gnade Gottes einigen werden. Argumentiert werden durfte nur mit der Bibel. Das Gespräch hatte auf deutsch stattzufinden. Die Obrigkeit wolle entsprechend der Schriftgemäßheit der vorgebrachten Argumente handeln und für Friede und Einigkeit sorgen. Diese Konsensfindung sei durch die Vorhersage Christi in Mt 18, 19/20 verheißen: „(…) der vngezweyffelten und tröstliche Hoffnug der Almächtig got werde durch seinen hailigen Geist undter und in denen So in seinem Namen versamelt sein, also wirckhen, damit wir gemeiniglich der waren gotlichen erkentnis geweist und bey Ime nach disen zeit ewigklich leben werden.“ Das Gespräch wurde am 30. Januar 1525 mit einer Rede des Bürgermeisters Blasius Honoldt eröffnet, der noch einmal den obrigkeitlichen Standpunkt zum Ausdruck brachte. Zunächst weigerten sich die katholischen Geistlichen, in das Gespräch einzutreten und verwiesen auf die kirchlichen Instanzen zur Lösung des Glaubensstreites. Als Grundlage beriefen sie sich auf ein Verbot des Augsburger Bischofs. Dieses Argument lehnten die Ratsherren mit Hinweis auf 1. Kor 14, 29/30 ab (Pfundner 1991/1992: 50 f.). Die Auseinandersetzung um die rechte Verkündigung gehöre vor eine christliche Versammlung und nicht vor ein fremdes Gericht. Der Führer der katholischen Partei, Pfarrer Sigk, sowie sein Anhang verließen daraufhin die Veranstaltung. Die übrigen Gesprächsteilnehmer began-
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nen die Diskussion auf der Grundlage der sieben Artikel Lutzenbergers (zum Gespräch: Pfundner 1991/1992: 53-62). Zu Artikel 1 über die Kirche wurden die anwesenden Kapläne reihum befragt. Die Antworten entbehren nicht einer gewissen Komik. Die Kapläne Kun, Wurm, Hauser, Funk und Leming wussten nichts daran auszusetzen. Sumer, Lauer, Bauhof und Klee baten darum, nicht zur Antwort gezwungen zu werden. Scheichenbog überließ das Urteil dem Rat und Beringer erklärte sich für inkompetent. Auch als Lutzenberger die Geistlichen anklagte und sie ihrer Angriffe gegen ihn beschuldigte, konnte er keine Antwort provozieren. Bei der Diskussion des 2. Artikels über den Glauben beriefen sich die Geistlichen entweder auf ihre Unkenntnis oder blieben bei den vorherigen Antworten. Diese Prozedur wiederholte sich auch bei den folgenden Artikeln. Während der Diskussion der Messe brachte der Marktoberndorfer Frühmessner Hans Kempter seine ökonomischen Ängste zum Ausdruck und verwies auf den Stifterwunsch. Als Johannes Wanner aus Memmingen daraufhin das Messopfer als schriftwidrig verwarf, versprach Kempter in Zukunft das Messopfer nicht mehr ausführen zu wollen. Nach dem Ende des Gespräches verpflichtete der Rat die Geistlichen auf die friedliche Verkündigung des reinen Gotteswortes, also auf die evangelische Predigt. Der Bauernkrieg und die Reaktion des Schwäbischen Bundes machten allerdings die evangelischen Neuerungen rückgängig. Objektiv war das evangelische Religionsgespräch zum Ansatzpunkt für die Reformierung der Stadt geworden. Subjektiv meinten die Evangelischen, den wahren, d. h. evangelischen Glauben gefunden zu haben, der als letzte Konsequenz nur das Verbot der katholischen Predigt zuließ. So wie in Kaufbeuren endeten auch in den anderen Städten die Religionsgespräche. In Breslau, Memmingen, Riga, Nürnberg, Memmingen, Ulm, Zürich und anderen Orten führten die Religionsgespräche zum Übergang der Gemeinden zur Reformation. Den Obrigkeiten dienten sie der Konfliktbewältigung und Friedenswahrung. Resultat war meistens das Verbot der katholischen Predigt. Der Grad der Beteiligung der Bevölkerung zeugt dabei vom Durchsetzungsvermögen der Obrigkeit in der jeweiligen Stadt. 4. Schriftprinzip, Gewissensfreiheit und die Uneindeutigkeit des Gotteswortes Durch das evangelische Schriftprinzip, die autoritative Vorrangstellung der Bibel in allen Fragen des Glaubens, konnte der städtische Frieden nicht konsensual, sondern nur als Entscheidung für oder gegen die Reformation hergestellt werden.
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Das Religionsgespräch mutierte gleichsam zu einem juristisch-politischen Instrument obrigkeitlicher Entscheidungssetzung. Schon die Grundprinzipien vormoderner Religiosität verhinderten eine konsensuale friedensstiftende Funktion des Glaubensgespräches, denn es konnte nur eine Wahrheit geben. Eine Meinung musste deshalb immer falsch sein. Eine Diskussion über Glaubensfragen war eigentlich unmöglich. Kurzum: Es gab nichts zu diskutieren. Es gab nur etwas zu verkündigen. Denn die Vorstellung, dass Christus selbst im Gespräch anwesend sei und den Gläubigen den rechten Weg zeige, verhinderte den Austrag der Meinungen. Der wahrhaft Gläubige ist im Stand der Gnade. Das Angenommensein konnte aber wiederum nur im eigenen Gewissen gefunden werden, das der Ort der Gewissheit war. Hier lag ein struktureller Widerspruch im Konzept des evangelischen Religionsgespräches begründet. Christus war nicht wirklich im Gespräch anwesend, sondern nur im wahrhaft Gläubigen. Die jeweiligen Kontrahenten waren dagegen Ungläubige. Bei ihnen konnte Christus nicht anwesend sein. Deshalb waren Kompromisse nicht möglich, da es bei Christus nur eindeutige Entscheidungen geben kann. Dieser Grundhaltung wirkten Gewissensprinzip und Schriftprinzip entgegen. Die Reformatoren waren der Überzeugung, dass sich das Wort Gottes gleichsam von alleine durchsetzen werde. Ermöglicht wurde diese Vorstellung durch die These von der Eindeutigkeit der Schrift. Ihre tatsächliche Uneindeutigkeit führte aber zu einer Uneindeutigkeit ihrer Auslegung. Das Schriftprinzip zusammen mit der Gewissensfreiheit des Gläubigen führte zu einer Vielzahl religiöser Meinungen, die nicht konsensual vereinheitlicht werden konnten. Hier lag die grundsätzliche Ursache für die Professionalisierung und Akademisierung des reformatorischen Diskurses und damit auch der Religionsgespräche. Denn die Zersplitterung der reformatorischen Bewegung und der bleibende Widerstand der katholischen Kirche führte den Reformatoren vor Augen, dass sich das Wort eben nicht von alleine werde durchsetzen können, sondern die Unterstützung besonders gebildeter Theologen benötige. Neben der Akademisierung und Professionalisierung der Theologengespräche setzten die Reformatoren auf eine innere Hierarchisierung der Schrift. Nicht mehr alle biblischen Schriften besaßen das gleiche Gewicht, sondern die Texte, in denen über Evangelium und Gnade geschrieben wurde, standen über den Büchern, die vom Gesetz und der Geschichte des Volkes Israel handelten oder die pädagogische Ansprüche formulierten. Die Aufkündigung des gesellschaftlichen Friedens durch die Reformatoren und ihre Anhänger bzw. die Aufkündigung durch die römischen Priester in der Sicht der Evangelischen führte zu dem Problem, wie dieser Konsens wiederhergestellt werden könne. Der Verlust des Friedens resultierte aus den Sünden der Menschen, die Sünden wiederum aus dem Unglauben. Wie konnte aber von
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sündhaften Menschen der wahre Glaube, der nun umstritten war, wiederhergestellt werden. Das evangelische Religionsgespräch stellte die Lösung für dieses Problem bereit, allerdings keine konsensuale als höhere Übereinkunft der Meinungen, sondern als schiedsrichterliche Entscheidung durch die Stadtobrigkeit. Der Friede wurde nicht durch einen Kompromiss hergestellt, sondern durch den von der Obrigkeit festgestellten Sieg einer der Meinungen. Das evangelische Religionsgespräch, in dem die Kirchengemeinden memorial in die apostolische Zeit zurückkehrten und den in ihren Augen katholischen Neuerern die unverfälschte Christusbotschaft entgegenhielten, basierte auf der Vorstellung, dass der Heiland selbst das menschliche Gespräch zu einem heiligen Ort erheben werde. Damit war auch das Problem der Wahrheitsfindung gelöst. Christus selbst entschied in seiner Gnade den Streit. Den unterlegenen katholischen Geistlichen riss er die Maske vom Gesicht und entlarvte sie als Hirten, die nicht ihre Schafe, sondern ihren eigenen Vorteil im Blick hatten. Der Gesichtsverlust für den katholischen Klerus war total. Sie verloren die Grundlage ihrer geistlichen Existenz, die sie durch ihren Habitus sinnfällig zum Ausdruck brachten. Denn die Bürger akzeptierten nicht mehr ihre Sonderstellung. Die Reformatoren und ihre Anhänger hatten dem Wort Gottes in der Verkündigungssituation des Religionsgespräches zum Durchbruch verholfen. Literatur Allen, Helen Mary/Allen, Percy Stafford (Hrsg.) (1913): Opus epistularum Desiderii Erasmi Roterdami, vol. 3: 1517-1519. Oxford. Erasmus von Rotterdam (1975): Laus stultitiae. Das Lob der Torheit. In: Werner Welzig (Hrsg.) (1975): Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden lateinisch und deutsch, Bd. 2. Darmstadt, 1-211. Fuchs, Thomas (1995): Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit. Köln/Weimar/Wien. Füssel, Stephan (1999): Gutenberg und seine Wirkung. Frankfurt a. M. Geiger, Gottfried (1971): Die Reichsstadt Ulm vor der Reformation. Städtisches und kirchliches Leben am Ausgang des Mittelalters. Stuttgart. Kastner, Ruth (Hrsg.) (1994): Quellen zur Reformation: 1517-1555. Darmstadt. Lottes, Günther (1997): Luther und die Frömmigkeitskrise im Spätmittelalter. In: Martin Greschat/ Günther Lottes (Hrsg.) (1997): Luther in seiner Zeit. Persönlichkeit und Wirken des Reformators. Stuttgart/Berlin/Köln, 13-28. Luther, Martin (1899): An die Ratsherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen. 1524. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15. Weimar, 9-53. Luther, Martin (1928): Die Zirkulardisputation „De veste nuptuali“, 15. Juni 1537. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 39/I. Weimar, 264-333. Menk, Gerhard (2000): Die Konfessionspolitik des Landgrafen Moritz. In: ders. (Hrsg.) (2000): Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft. Marburg, 95138.
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„Allen alles auf allseitige Weise lehren“ (Johann Amos Comenius). Das Menschenrecht auf Bildung als Bedingung und Inhalt eines interreligiösen Dialogs Uwe Voigt
1. Das Menschenrecht auf Bildung – eine Herausforderung für „friedensstiftende Religionen“? Ungleich verteilte Chancen sind ein Zündstoff von Konflikten. In einer aufkommenden weltweiten Informations- und Wissensgesellschaft lässt sich Friede daher nur dann gewinnen und bewahren, wenn möglichst viele Menschen über alle Nationen und Kulturkreise hinweg eine angemessene Bildung erhalten haben, die es ihnen ermöglicht, an dieser Gesellschaft zu partizipieren. Das bereits in einschlägigen Deklarationen verankerte Recht des Menschen auf Bildung1 auch wirklich einzulösen ist deshalb eine zentrale Aufgabe künftiger Friedenssicherung. Da es um die Teilnahme an globalen Wissensbeständen geht, lässt sich diese Aufgabe nur durch weltweite grenzübergreifende Zusammenarbeit bewältigen. Ist das auch ein Thema der „friedensstiftenden Religionen“, nach denen dieses Kolloquium fragt, dann können sie es daher jeweils nicht im Alleingang bearbeiten, sondern sind auf einen möglichst umfassenden interreligiösen Dialog angewiesen. Das Menschenrecht auf Bildung ist nicht etwa ein nebensächliches Thema dieses Dialogs; es stellt vielmehr seine notwendige Bedingung dar und sollte zugleich einer seiner zentralen Inhalte, eine seiner brennendsten Herausforderungen sein. Diese These vertritt vorliegender Beitrag mit Blick auf den mährischen Universalgelehrten Jan Amos Komenský bzw. Johann Amos Comenius (1592-1670), der sich zu diesem Zweck aufgrund seiner vielfachen Qualifikation als irenischer Theologe (Sturm 1995; DvoĜak 1998), entschlossener Reformpä1
Vgl. insbesondere Art. 26 (1) der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948: „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung“. Nach dem weit gefassten Bildungsbegriff, wie er bei Comenius begegnet (siehe unten), gehört zur Bildung auch die Erziehung der Kinder, die das deutsche Grundgesetz in Art. 6 (2) als Grundrecht betont.
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dagoge (Schaller 2004) und nicht zuletzt als ein Friedensdenker mit umfassendem theoretischen und praktischen Anspruch (Michel 1997; Korthaase u. a. 2005; Schadel 2003a, 2005a)2 empfiehlt. In der Folge sollen unter diesem Aspekt insbesondere zwei einschlägige Werke aus der „reifen“ Schaffensperiode3 des Comenius betrachtet werden: der Weg des Lichtes (Via Lucis [VL], entstanden 1641/42, veröffentlicht 1668 mit einem Widmungsschreiben an die Londoner Royal Society) und die Allgemeine Beratung über die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten (De rerum humanarum emendatione consultatio catholica [CC], entstanden ab 1646, allerdings unvollendet geblieben).4
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Das Friedensdenken sowie insgesamt das Politik-Verständnis des Comenius ist bislang von der Politologie und verwandten Disziplinen kaum untersucht worden (Korthaase 2005: 36 f.). Die These, jenes Verständnis sei von einem Zwiespalt zwischen mittelalterlich-statischem und neuzeitlich-dynamischem Denken geprägt (Dieterich 1994), erweist sich jedenfalls bei näherem Hinsehen als zu pauschal (Schadel 2005c). Das Schaffen des Comenius lässt sich in drei Phasen unterteilen (P. Floss 1985; unter besonderer Berücksichtigung seines Geschichtsverständnisses: Voigt 1996b): Zunächst (1614-1621) bemüht er sich im Geist des zeitgenössischen Enzyklopädismus darum, die Welt in ihrer ganzheitlichen Struktur zu erfassen und seinen Mitmenschen zugänglich zu machen. Die krisenhaften Erfahrungen zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges lassen ihn am Sinn der menschlichen Existenz zweifeln und um göttlichen Trost und Beistand ringen (1622-1624). Den gesuchten Sinn findet er schließlich in der Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten, die es in Zusammenarbeit mit dem menschenfreundlichen Gott zu erstreben gilt (1624-1670). In dieser dritten Phase entwickelt Comenius wiederum schrittweise (Voigt 1996: 26-29) die Konzeption der Allgemeinen Beratung. CC gliedert sich in sieben Teile: Panegersia (allgemeiner Weckruf), Panaugia (allgemeine Erleuchtung), Pansophia (allumfassende Weisheit), Pampaedia (allumfassende Erziehung), Panglottia (Entwurf einer Universalsprache), Panorthosia (allgemeine Verbesserung) und Pannuthesia (allgemeine Ermahnung). Die Pansophia wiederum durchläuft sieben „Welten“, d. h. sieben ontologische Schichten, aus denen die Gesamtwirklichkeit nach Comenius aufgebaut ist: Mundus possibilis (Die Welt des Denkmöglichen), Mundus idealis seu archetypus (Die Welt der Ideen im Geiste des drei-einen Gottes), Mundus angelicus (Die Welt der reinen Intelligenzen), Mundus materialis (Die materielle Welt), Mundus artificialis (Die Welt der menschlichen Kunstfertigkeit), Mundus moralis (Die Welt des verantwortlichen menschlichen Handelns), Mundus spiritualis (Die Welt der Beziehung zu Gott) und schließlich Mundus aeternus (Die eschatologische Vereinigung und Vollendung aller anderen Welten). Der Aufbau von CC insgesamt sowie von Pansophia entspricht einem neuplatonischen Egress-Regress-Schema (Schurr 1981). In der Folge wird CC nach diesen Titeln sowie nach der römischen Band- und arabischen Spaltenzahl der Prager Ausgabe zitiert. Nachweise aus VL und anderen Schriften des Comenius erfolgen mit der arabischen Band- und Seitenzahl der noch unabgeschlossenen Gesamtausgabe der Tschechischen Akademie der Wissenschaften (DJAK). Übersetzungen stammen jeweils vom Verf.
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2. „Der Mann der Sehnsucht“: grundlegende Erfahrungen und Anliegen des Comenius An seinem Lebensabend bezeichnet sich Comenius als einen „der demütigen Männer der Sehnsucht“ (VL: Widmungsschreiben an die Royal Society, in: DJAK 14: 292). Die Sehnsucht, die das Leben und das Werk des Comenius zutiefst prägt, ist die Sehnsucht nach Frieden. Sie speist sich aus den prägenden Erfahrungen, die Comenius mit der Friedlosigkeit seiner Zeit machen muss; sie steht hinter dem Anliegen einer „Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten“, das er in seinen zahlreichen Aktivitäten verfolgt; sie motiviert die Projekte, denen er um dieses Anliegens willen nachgeht. Schlüsselerfahrungen mit Unfrieden macht Comenius in seinem Leben (Blekastad 1969; Dieterich 1991; Hanisch 1991) in drei Bereichen, die er als die entscheidenden Felder menschlichen Handelns – der „menschlichen Angelegenheiten“ – betrachtet: Bildung, Religion und Politik. Im Bereich der Bildung machten ihn insbesondere die geistlose Methode des Vokabelpaukens im Schulwesen und die Zerrissenheit der akademischen Welt, in der zahlreiche Schulen und Paradigmen miteinander konkurrierten, betroffen (Wollgast 1988). Im Bereich der Religion bekam er als Geistlicher, zuletzt sogar als letzter Bischof einer kleinen Konfessionsgemeinschaft, der böhmischmährischen Brüderunität, die Intoleranz der großen Konfessionen in vielfacher Form zu spüren. Die politische Entwicklung in Europa seit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges empfand er als eskalierende Katastrophe: Zu Beginn der Auseinandersetzungen hatte Comenius durch eine kriegsbedingte Seuche Frau und Kinder verloren; im Zuge der aggressiven Rekatholisierungspolitik Habsburgs wurde er mit seinen Glaubensgenossen des Landes verwiesen; auch nach dem Westfälischen Frieden 1648 blieb der Brüder-Unität die Anerkennung und damit die Rückkehr aus dem Exil verwehrt; 1656 brandschatzten polnische Milizen den Exils-Ort Leszno und vernichteten dabei auch einen Großteil der bis dahin Manuskript gebliebenen Werke des Comenius; bis zu seinem Tod 1670 in Amsterdam blieb ihm trotz der Unterstützung durch Mäzene nur der prekäre Status eines „Asylanten“ (Schaller 1993). Um die „menschlichen Angelegenheiten“ ist es nach diesen Erfahrungen des Comenius schlecht bestellt. Angesichts dessen bleibt die Sehnsucht nach Frieden bei ihm allerdings kein frommer, ohnmächtiger Wunsch; sie wird vielmehr zu einem dringlichen Anliegen: Die menschlichen Angelegenheiten sind entscheidend zu verbessern, wörtlich: „von ihren Fehlern zu befreien“ (emendatio rerum humanarum). Dieses Anliegen führt Comenius zu zwei eng miteinander verflochtenen Projekten: Es gilt zum einen die theoretischen Grundlagen einer solchen Verbesserung zu erarbeiten, zum anderen und insbesondere aber auch, die
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Verbesserung in der Praxis wirklich durchzuführen.5 Das Projekt einer theoretischen Grundlegung der Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten nennt Comenius „Pansophie“ und versteht darunter die Einsicht in das Wesen des Ganzen, das die Wirklichkeit darstellt. Praktisch durchführen möchte Comenius die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten im Rahmen einer weltweiten „allgemeinen Beratung“ (consultatio catholica). Das theoretische Projekt lässt das Menschenrecht auf Bildung als Bedingung eines interreligiösen Dialogs erscheinen; im praktischen Projekt fungiert dieses Menschenrecht als Inhalt eines derartigen Dialogs. 3. Pansophie: Das Menschenrecht auf Bildung als Bedingung eines interreligiösen Dialogs Das Projekt der „Pansophie“ speist sich bei Comenius hauptsächlich aus zwei Quellen, die er miteinander verbindet: einem Wirklichkeitsverständnis in der Tradition des christlichen Neuplatonismus (Schaller 1957: 10; Patoþka 1971, 1981b, 1984b; Froschauer 2005; Schadel 2005b), und einer Geschichtsauffassung im Geiste des Chiliasmus, der Erwartung einer tausendjährigen Friedensherrschaft Christi auf Erden (Voigt 1996: 88-118; Wollgast 2005). Die erfahrbare Wirklichkeit ist demnach von dem trinitarisch verfassten Gott geschaffen worden, der in sich einen ewigen Prozess vollkommener Kommunikation vollzieht (Schadel 2002b: 221-237). Die Schöpfung verweist daher allenthalben auf diesen Schöpfer zurück: Sie ist eine dynamische Ganzheit (Schaller 1958; Matula 2005; Schifferová 2005), deren unterschiedliche Teile wesentlich in wechselseitigem Austausch bestehen und nur durch diesen Austausch jeweils zu ihrer vollen Verwirklichung gelangen können. „Cooperatio“ – gemeinsames Wirken, das die beteiligten Instanzen nur im Zusammenspiel vollziehen können und das diese Instanzen zugleich als solche konstituiert (VL: XIII 17, in: DJAK 14: 330)6 – ist die zentrale Konzeption im Denken des Comenius. Diese Konzeption wendet er insbesondere auf den Menschen an, dem er eine vermittelnde Stellung in der Gesamtwirklichkeit beimisst (Schaller 1957: 12 f.): Einerseits gehört der Mensch zu dieser Welt, sie ist Gegenstand seines Erkennens und seiner Tätigkeiten; andererseits ist er Gottes Ebenbild und als solches zu freiem, verantwortlichem Handeln fähig, insbesondere zur freiwilligen Zusammenarbeit mit Gott und mit anderen Menschen. Den Menschen macht dem5 6
Gelegentlich betont Comenius in seinen späteren Schriften sogar den Vorrang gelingender friedensstiftender Praxis vor der Theorie (Voigt 2005). Zum kooperativen Denken des Comenius in seiner früheren Schrift Prodromus Pansophiae (DJAK 15/I: 11-53) vgl. Beer (2005).
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nach eine dreifache Beziehung aus: zur außermenschlichen Welt, zu den Mitmenschen und zu Gott (Pampaedia III 10, in: CC II: 23). Als von mehreren Menschen geteiltes Handeln in der Welt im Dienste Gottes kommt diese dreifache Beziehung zu ihrer Einheit. Da der Mensch als Einzelwesen sowie als Gattung auf zeitliche Entfaltung angewiesen ist (VL: I 7, in: DJAK 14: 294), entfaltet sich auch jene Beziehung geschichtlich. Sie ist zwar durch den Schöpfungsakt anfänglich gegeben, aber noch auf weitere Vertiefung angewiesen – beim einzelnen Menschen als lebenslanger Bildungsprozess, den Comenius bereits vor der Geburt beginnen lässt und erst in der „Schule des Todes“ enden sieht (Pampaedia VIII-XV, in: CC II: 114234); bei der Menschheit als eine Abfolge aufeinander aufbauender, zunehmend wirkmächtiger Bildungsinstitutionen, die den Verlauf der Weltgeschichte prägen (VL: XIII, in: DJAK 14: 326-330). Dieser Verlauf erstreckt sich vom eigenständigen Hinsehen des Menschen auf die Wirklichkeit über Zwiegespräche, größere Versammlungen und die Erfindung der Schrift bis hin zu Buchdruck und interkontinentaler Seefahrt als den für Comenius neuesten Innovationen auf diesem Gebiet. Auch und gerade jener gleichsam onto- und phylogenetische Bildungsprozess vollzieht sich als Kooperation: als Kooperation des Menschen mit Gott, der ihm die ganze Welt als eine Schule mit verschiedenen Erkenntnisquellen zur Verfügung stellt (VL: I, in: DJAK 14: 293-295), und als Kooperation der Menschen untereinander. Jegliche gelingende menschliche Gemeinschaft von der Familie bis hin zu den internationalen Beziehungen besteht für Comenius wesentlich in wechselseitigem Lernen und Lehren als dem kooperativen Prozess par excellence (Patoþka 1971: 41 f.). Nach den katastrophalen Erfahrungen seiner Zeit muss die Entfaltung des Menschen zur Menschlichkeit Comenius zufolge auf allen Bereichen zwar nicht gescheitert, aber ernsthaft gestört sein (Panegersia V-VI, in: CC I: 35-56). Die Ursache dieser Störung sieht er darin, dass der Mensch Parteilichkeit (Panegersia XI 28, in: CC I: 92) pflegt und sich so der umfassenden wechselseitigen Kommunikation verschließt. Darin besteht für den Theologen Comenius die menschliche Erbsünde, deren Folgen der Zeitkritiker Comenius brandmarkt: Es herrschen unmenschliche Gewaltzustände in allen Handlungsbereichen des Menschen. Was als ergänzungsbedürftiger Teil eines Ganzen angelegt war und sich nach der in dem bekannten Emblem des Comenius niedergelegten Maxime verhalten sollte – „Alles fließe von selbst, fern sei die Gewalt den Dingen!“ („Omnia sponte fluant / absit violentia rebus“; zit. nach: Schadel 2003a: 107) – verabsolutiert sich stattdessen und wendet sich gewaltsam gegen die anderen Teile und gegen das Ganze: konkurrierende Strömungen im Bildungsbereich, verfeindete Glaubensgemeinschaften in der Religion und rivalisierende Staaten in der Poli-
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tik. Was jedem dieser Teile fehlt, ist die Einsicht in das Wesen des Ganzen und damit die Erkenntnis, dass Kooperation statt Konfrontation Not tut. Es mangelt also an „Pansophie“ im Sinne des Comenius (De condendo pansophiae libro consultatio 25-28, in: CC I: 262 f.). Die Konflikte auf allen Gebieten können deshalb nur dann einem „universalen Frieden“ (VL: XX 13, in: DJAK 14: 359) weichen, wenn eine solche Pansophie entwickelt und allen Menschen zugänglich gemacht wird. Dieser Prozess würde nach Comenius die weltgeschichtliche Entwicklung der Bildungsinstitutionen vollenden. Was auch immer die vorhergehenden Stufen an Wissensgütern errungen und verbreitet haben, soll nun in seiner umfassenden Struktur für alle einsichtig werden; dadurch lässt sich das ganzheitlich-kooperative Wesen der Wirklichkeit erkennen (Scherbaum 2005). Comenius fasst diese Zielsetzung der Pansophie in der Wendung „allen alles auf allseitige Weise lehren“ (VL: XIV, in: DJAK 14: 331-337) zusammen. Erreichen lässt sich diese Zielsetzung durch die Integration aller verfügbarer Erkenntnisquellen bzw., in der bildreichen Sprache des Comenius, aller „GottesBücher“ (VL: XVI 9-11, in: DJAK 14: 341 f.; De condendo pansophiae libro consultatio, in: CC I: 259-274). Diese Erkenntnisquellen finden sich in jedem der drei Bereiche, auf die der Mensch wesentlich bezogen ist: die Gegenstände der außermenschlichen Welt, mit denen sich die Einzelwissenschaften befassen sollen; der Mensch als ein Wesen, das die Dynamik seiner Wünsche und Bestrebungen an sich und im Zusammenleben mit seinen Mitmenschen erfährt; und schließlich die Offenbarung Gottes, als deren Kerngehalt Comenius Gottes Verheißung inner- und übergeschichtlicher Vollendung an die Menschheit ausmacht und die er als einen unabgeschlossenen Prozess lebendiger Kommunikation zum Zweck einer heilsgeschichtlichen Pädagogik versteht (Friedrichsdorf 1995: 136142). Es gilt, die mit diesen Bereichen befassten „Spezialisten“ durch Argumente, die sie jeweils akzeptieren können, davon zu überzeugen, dass sie bei aller Selbstständigkeit auf wechselseitige Zusammenarbeit angewiesen sind, wenn sie jeweils ihre eigenen Disziplinen und insbesondere die gesuchte Pansophie voranbringen möchten (VL: Widmungsschreiben an die Royal Society, in: DJAK 14: 290). Als deren zentrales Ergebnis antizipiert Comenius die Einsicht, dass jeder Mensch einen Anspruch auf Bildung in dem bereits genannten umfassenden Sinne hat. Dieser Anspruch lässt sich im Rahmen der Pansophie sowohl im Hinblick auf den Menschen selbst als auch auf die Offenbarung begründen: Erst durch Bildung und insbesondere durch pansophische Einsicht kann der Mensch die dreifache Beziehung, die er anfänglich bereits ist, voll verwirklichen. Bildung zu gewähren bedeutet demnach, die spezifische Würde des Menschen zu achten; sie zu verweigern heißt, diese Würde zu verletzen. Diesen Anspruch, den
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der Mensch als Mensch auf Bildung hat, bekräftigt für Comenius auch die biblische Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes: Ein Gott, der das Heil des Menschen will, fordert und fördert auch dessen Bildung. Zwar führt Comenius keinen ausdrücklichen Menschenrechts-Diskurs, wie er vor allem seit dem 18. Jahrhundert üblich geworden ist. Dass Comenius Bildung trotzdem für ein grundlegendes, und zwar, wie gesehen, sowohl anthropologisch als auch theologisch fundierbares Menschenrecht hält, verdeutlicht das folgende Zitat: „Unrecht tut also der ganzen menschlichen Natur, wer nicht ernsthaft wünscht, dass es der ganzen menschlichen Natur [durch den Bildungsprozess] wohl ergeht“ (injurius ergo est toti humanae Naturae, quisquis non ut toti humanae Naturae bene sit, optat serio; Pampaedia III 10, in: CC II: 11). Die universale, weltweit geltende Rechtsordnung, die zur Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten etabliert werden soll (Kumpera 2005: 349 f.), muss daher auch die freie Verbreitung des Bildungswesens gewährleisten (Panorthosia XVII 8.11, in: CC II: 548 f.), die durchzuführen allerdings spezifische Aufgabe des „collegium lucis“ ist (Panorthosia XVI 5 f., in: CC II: 540 f.). Wenn der so verankerte Anspruch auf Bildung weltweit eingelöst wird, dann befähigt dies alle Menschen zu vorbehaltloser und gelingender Kommunikation.7 Die Fähigkeit der Menschen, jeweils sich selbst und den anderen zu verstehen, erreicht dann ihre größtmögliche Entfaltung (VL: XX, in: DJAK 14: 356-360). Dies gilt auch für den Dialog zwischen Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften: Es wird erkennbar, was an der eigenen sowie der fremden Glaubenstradition der Beziehung zu Gott – auch und gerade in deren Verbundenheit mit der Beziehung zu den Mitmenschen und zur außermenschlichen Natur – dient und was daran für diese Beziehung hinderlich ist. Dadurch können einzelne Glaubensgemeinschaften ihren spezifischen Beitrag zum menschlichen Gottesbezug besser erkennen und sich darüber mit anderen Glaubensgemeinschaften friedlich-kooperativ austauschen. Auch hier gilt das Prinzip der vertieften Selbstfindung gerade durch Kommunikation. Das Menschenrecht auf Bildung, das diese Kommunikation ermöglicht, ist demnach aus der Perspektive des Comenius eine wesentliche Bedingung für den interreligiösen Dialog.
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Comenius ist sogar davon überzeugt, dass dann eine universale Sprache entwickelt werden kann, welche ebenso einfach verständlich wie sachgerecht ist und dadurch jene Kommunikation noch erleichtert (VL: XIX, in: DJAK 14: 351-356; Panglottia, in: CC II: 249-355).
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4. Allgemeine Beratung: Das Menschenrecht auf Bildung als Inhalt eines interreligiösen Dialogs Nach Comenius soll die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten durch eine „allgemeine Beratung“ (consultatio catholica) in die Praxis umgesetzt werden (Panegersia X, in: CC I: 100-105). Diese Beratung ist zum einen der Weg zum Ziel: Über Repräsentanten sollen sich die Menschen über die Möglichkeiten ihres weltweiten friedlichen Zusammenwirkens austauschen und entsprechende verbindliche Beschlüsse fassen (Panorthosia XXV, in: CC II: 658-681). Dieser Prozess soll in Europa beginnen, aber auf die Beteiligung immer mehr anderer Weltregionen abzielen, so dass schließlich die gesamte Menschheit daran beteiligt ist. Zum anderen ist dieser Prozess auch in seinen Anfangsstadien schon eine Vorwegnahme des Ziels, des universalen Friedens in umfassender Kommunikation, die von Einsicht in das Wesen der Gesamtwirklichkeit getragen wird. Diese Entwicklung soll nach den Vorstellungen des Comenius durch drei Instanzen vorangetrieben und gesichert werden (Panorthosia XV-XVIII, in: CC II: 533-566): eine Vereinigung aller Wissenschaftler („collegium lucis“), ein Weltfriedensgericht („dicasterium pacis“) und einen spirituellen Weltrat („consistorium sanctitatis“). Diese drei Instanzen entsprechen der genannten für den Menschen konstitutiven drei-einigen Beziehung: Das „collegium lucis“ sichert die Erkenntnis der außermenschlichen Wirklichkeit; das „dicasterium pacis“ regelt das friedliche Zusammenleben der Menschen untereinander; das „consistorium sanctitatis“ pflegt die Beziehung der Menschen zu Gott – und zwar jeweils in enger wechselseitiger Zusammenarbeit der drei Gremien untereinander.8 Das „consistorium sanctitatis“ ist nun dasjenige Gremium, das in besonderer Weise dem interreligiösen Dialog dient – allerdings nicht in der Weise, dass in ihm alle Religionen gleichwertig und gleichberechtigt vertreten sind. Der spirituelle Weltrat setzt sich vielmehr aus Vertretern des erneuerten Christentums zusammen, das sich an Andersgläubige in der Absicht wendet, auch sie zu dieser Religion zu bekehren (Panorthosia XVIII 10, in: CC II: 553). Der interreligiöse Dialog hat bei Comenius nämlich durchaus den Charakter einer Auseinandersetzung um die wahre Religion; doch soll diese Auseinandersetzung gerade deshalb friedlich und kooperativ verlaufen (Panegersia XI 10, in: CC I: 108 f.), weil sie das Menschenrecht auf Bildung zum zentralen Inhalt hat: Religion ist nach Comenius die konkret gelebte Beziehung des Menschen zu Gott (Pansophia, Mundus spiritualis II, in: CC I: 1031-1050), die in der Theologie unter dem Gesichts8
Dass dieser Entwurf des Comenius heutige Instanzen wie die UNESCO, den Weltsicherheitsrat und die Weltversammlungen der Religionen vorwegnimmt, wurde bereits bemerkt (Eykmann 2005: 175, P. Floss 2005: 359).
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punkt der Praxis (Sturm 1995: 9; Lášek 2005), d. h. des angemessenen menschlichen Handelns im Rahmen dieser Beziehung, reflektiert werden soll. Aufgrund der Menschenfreundlichkeit Gottes ist das Ziel der Religion und damit auch das Ziel des entsprechenden menschlichen Handelns die inner- und übergeschichtliche Vollendung des Menschen und der Menschheit. Da diese Vollendung auf dem Menschenrecht auf Bildung beruht, ist dieses Menschenrecht ein zentrales Anliegen auch der Religion. Eine spezifische Aufgabe des „consistorium sanctitatis“ im Zusammenspiel der drei Gremien ist es beispielsweise, die anderen Gremien im Hinblick auf die noch ausstehenden göttlichen Verheißungen zu motivieren (Panorthosia XVI 13, in: CC II: 545). Diese Verheißungen finden sich nach Comenius am deutlichsten in der auf unmittelbarer Offenbarung beruhenden jüdisch-christlichen Tradition und in ihr wiederum am verbindlichsten im Christentum (Zemek 2005). Wie das sich in der Geschichte entfaltende Beziehungswesen Mensch überhaupt, so ist allerdings auch das Christentum von Verfallserscheinungen betroffen (Pansophia, Mundus spiritualis II-III, in: CC I: 1031-1050). In der Linie der Reformationen des 15. und 16. Jahrhunderts fordert Comenius daher eine umfassende Erneuerung des Christentums, die sich im Zuge der „allgemeinen Beratung“ durch interkonfessionellen Dialog vollziehen soll (Panorthosia XV 17, in: CC II: 536 f.). Überwindet dieser Dialog die konfessionelle Zersplitterung des Christentums, dann findet dieses wieder zum authentischen, d. h. auf ausstehende Vollendung ausgerichteten Verständnis seiner von Gott offenbarten Überlieferungen zurück (Steiner 2005). Ein dermaßen erneuertes Christentum eröffnet den interreligiösen Dialog, indem es Vertreter anderer Religionen darauf befragt, welchen Beitrag sie zu jener Vollendung leisten können, und indem es gleichsam seine eigene diesbezügliche Leistungsfähigkeit hervorhebt. Im interreligiösen Dialog sind dann zu diesem Thema die jeweiligen Vorzüge, aber auch Mängel, der einzelnen Glaubensgemeinschaften herauszuarbeiten; dadurch sollen jeweils innere Reformprozesse angeregt werden, die dann schließlich in wechselseitigem Austausch zu einer einzigen „allgemeinen Beratung“ zusammenwachsen. „Wir machen Fortschritte, einer durch den anderen, bis wir alle das Beste erreichen“ (proficimus alij per alios, donec veniamus omnes ad optimum; Pansophia, Mundus spiritualis X, in: CC I: 1241). Ziel des Christentums in diesem Dialog bleibt es, unter andauernder Vervollkommnung seiner selbst die anderen, sich ebenfalls reformierenden Religionen in sich aufzunehmen, ohne deren positive Ansätze dabei auszulöschen (Panegersia IX 38, in: CC I: 98 f.). Dieser Vorgang hat vollkommen friedlich durch die Kraft des guten Beispiels, der praktizierten Gottesbeziehung zu geschehen. Gewaltsame Bekehrungsversuche lehnt Comenius von seinen denkerischen Grundlagen her konsequent und kategorisch ab. Die Vereinigung aller Religionen bleibt für ihn das eschatologische Heilshandeln Gottes, an
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dem Menschen zwar mitwirken können und dies auch nach Kräften tun sollen, das sich von ihnen aber auf keinen Fall erzwingen lässt (Panorthosia XVIII, in: CC II: 556). Das Menschenrecht auf Bildung ist demnach bei Comenius ein zentraler Inhalt des interreligiösen Dialogs: ein Wert, den es anzuerkennen und im eigenen Handeln kooperativ zu berücksichtigen gilt. 5. Ausblick Was hat die gerade vorgestellte Position des Comenius einer Zeit zu sagen, die zwischen der Furcht vor einem „Kampf der Kulturen“ (Huntington 1996) und der Hoffnung auf einen „kreativen Frieden durch Begegnung der Weltkulturen“ (Beck/Schmirber 1995) und ein daraus resultierendes „Weltethos“ (Küng 1990) schwankt?9 Folgendes kann festgehalten werden: Das Bemühen um das Menschenrecht auf Bildung und das Bemühen um interkulturellen bzw. interreligiösen Dialog stehen in einem Verhältnis, das sich weithin als „eine noch unentdeckte Allianz“ charakterisieren lässt (vgl. Wolfinger 2000 zur Beziehung zwischen Religionen und Menschenrechten im Allgemeinen). Comenius hat diese Allianz zu seiner Zeit und von seinen spezifischen Voraussetzungen her bereits entdeckt und zu begründen versucht. Dass dieser Versuch an seine Voraussetzungen gebunden war, ist Comenius nicht zum Vorwurf zu machen, denn dies trifft auf jeden derartigen Versuch zu. Lehrreich an Comenius ist jedenfalls, dass sein Projekt friedliche Kommunikation als hohen Wert festschreibt und zugleich am Vorrang des Christentums und an dessen auch missionarischem Charakter festhält, dabei aber auch Mission an das Gelingen eigener Reform und kooperativen Handelns zurückbindet. Lässt sich dies als ein Modell für den friedlichen und friedensstiftenden Dialog verschiedener Religionen verwenden? Das kann und soll nicht am grünen Tisch entschieden werden, sondern nur im Zuge entsprechender „allgemeiner Beratungen“. Bei diesen könnte sich die Verheißung bewahrheiten, mit der Leibniz seinen poetischen Nachruf auf Comenius beschließt: „Sicher wird kommen die Zeit, da jeder Gute auf Erden / Dich, o Comenius, ehrt, preisend Dein Werk und Dein Ziel“ (zit. nach: Schaller 2004: 12).
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Eine große Nähe des Comenius zum Projekt eines „kreativen Friedens“ (Frieden durch wechselseitige Ergänzung kultureller Gegensätze) konstatiert Schadel (2003); mögliche Impulse, die Comenius dem „Projekt Weltethos“ im Hinblick auf interreligiöse Lernprozesse geben könnte, untersuchen K. Floss (2005) und Rehm (2005).
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Dialog der Religionen? Das Modell Eric Voegelins: „The Christian idea of mankind“ oder „Gnostizismus als Wesen von Modernität“? Reinhard W. Sonnenschmidt
Im Jahre 1953 erfährt Eric Voegelin eine besondere Ehrung. Zum 30. Jahrestag des TIME Magazine wird sein Buch The New Science of Politics ausführlich gewürdigt. Der Artikel mit dem Titel „Journalism and Joachim’s Children“ nimmt die Würdigung zum Anlass, auf der Grundlage des Voegelin’schen Buches Tagesereignisse zu verstehen und ethische Prinzipien für Journalisten und Intellektuelle zu formulieren. So heißt es: „If Voegelin is right, his analysis should throw light on the present and future. Journalism can apply his theory to some of the ,current events‘“ (TIME Magazine, 9. März 1953: 59). Als solche erklärungsbedürftige Tagesereignisse werden genannt: der Kalte Krieg, der Koreakrieg, die UdSSR, die Vereinten Nationen, McCarthyism, das Amerikanische Unternehmen, die Zweite Amerikanische Revolution. Fast genau 50 Jahre später, in Zeiten kruden Terrors, legitimierten Krieges und drohenden Verfalls, möchte ich hinsichtlich der Gegenwarts- und Zukunftsfähigkeit Voegelin’scher Analysen folgende Grundfrage erörtern: Bietet das Voegelin’sche Denken einen Ansatz der Verständigung bzw. Konfliktlösung in einem „Dialog der Religionen“? Das führt zu der zweiteiligen Frage: a. Taugt für diesen Zweck das Modell einer Christian idea of mankind, wenn eine menschheitliche Gemeinschaft von christlichen Gläubigen vorausgesetzt wird, die an einem gemeinsamen Geist (Spirit) partizipieren? Hier lautet die Antwort: Nein. b. Reicht die im wesentlichen in The New Science of Politics niedergelegte These vom „Gnostizismus als dem Wesen von Modernität“ aus, um eine Entscheidung für oder gegen einen religiös-politischen Standpunkt zu begründen? Hier lautet die Antwort: Ja.
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1. Das Modell einer „Christian idea of mankind“ In dem 1977 erschienenen, Arbeiten aus den späten 1940er und frühen 1950er Jahren enthaltenden Buch From Enlightenment to Revolution führt Voegelin unter dem Titel „The loss of the Christian idea of mankind“ aus: „The Christian idea of mankind is the idea of a community whose substance consists of the Spirit in which the members participate; the homonoia of the members, their likemindedness through the Spirit that has become flesh in all and each of them, welds them into a universal community of mankind. This bond of the spirit is timeless. The Spirit is not more present today than it was yesterday and it will not be more present tomorrow than it is today. Only because the Spirit is transcendentally out of time can it be universally present in time, living in each man equally, irrespective of the age or place in which the man lives. Only because the source of the community is out of time is mankind a universal community within historical time. Turgot’s evocation of the masse totale transposes the Christian idea of mankind into the utilitarian key. Man is no longer a spiritual center but a mere link in the chain of generations. The spirit which welds the plurality of men into the unity of mankind is no longer a transcendental reality to be experienced by every individual soul but has become a thread of meaning to be touched at one point by a man if he is fortunate but beyond the reach of the vast majority of mankind. And the eternal presence of the Spirit to every soul that willingly opens itself is transposed into a precarious, fleeting meaning which can be ascertained only with some difficulty by scholars who know a good deal about the problems of mathematized science. At first sight, this whole transposition looks so much an infantile insult to the dignity of man that the mass appeal, which the idea undoubtedly has to this day, is hardly intelligible“ (Voegelin 1977: 95 f.).1
Die Partizipation der Mitglieder dieser universalen, christlichen Gemeinschaft an dem Geist (Spirit) ist das zeitlose Band, das zeitlich präsent ist und die Menschheit zu einer Einheit zusammenführt. Bedingung ist die Bereitschaft jedes Einzelnen und Aller, die in dieser Gemeinschaft existieren, sich auf die ewige Präsenz des Geistes (Spirit) durch eine Offenheit der Seele hin zu ordnen. Weder Nützlichkeitserwägungen noch Gliedschaft in einer Kette der Generationen noch eine flatterhafte Schwächung der Seele sind erlaubt. Deutlich wird Voegelin in Die neue Wissenschaft der Politik, wo er anlässlich seiner Betrachtungen über die „Ungewissheit des Glaubens“ mit „Erfahrungspsychologie“ argumentiert. Hier ist es die „Kraft zu dem heroischen Abenteuer der Seele, das Christentum heißt“, die erforderlich ist, die schwache Bindung des Glaubens (Hebr 11,1) auszuhalten. So heißt es: „Das Band ist schwach in der Tat und leicht kann es reißen. Das Leben der zu Gott hin geöffneten Seele, das Warten, die Zeiten der Dürre und Mattigkeit, der Schuld und Betrübnis, der Zer1
Vgl. Voegelin 1966: 291 zum Sprachsymbol homonoia: Aristoteles (Teilnahme aller am nous), Alexander (Reichsreligion); „und Paulus schließlich führt sie in die Symbolik der christlichen Gemeinschaft ein“.
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Reinhard W. Sonnenschmidt knirschung und Reue, der Verlassenheit und der gläubigen Hoffnung, der stillen Regungen von Liebe und Gnade, zitternd an der Schwelle einer Gewissheit, die, wenn sie gewonnen, ein Verlust ist, – gerade die Schwerelosigkeit dieses Gewebes mag sich als zu schwere Belastung für Menschen erweisen, die auf handfesten Besitz aus sind“ (Voegelin 1959a: 173 f.).
In einer späten Auswahl seiner Schriften eröffnet Voegelin denn auch, was für seine Begriffe relevant ist, indem er indirekt auf den Ersten Brief an die Korinther verweist: Die „Tugenden der existentiellen Spannung – Liebe, Hoffnung und Glaube – sind immer wiederkehrende Symbole von den Vorsokratikern und den klassischen Philosophen über den Hl. Paulus und Augustinus bis in die Gegenwart“ (Voegelin 1988: 110). Verschwiegen werden darf hier nicht, dass die Entscheidung: „Platon oder Paulus?“, die Voegelin in The Ecumenic Age (1974) ausführlich begründet, für eine Bevorzugung des letzteren ausfällt, weil dieser aufgrund seiner Damaskus-Vision ein theophanisches Erlebnis im metaxy gehabt habe, was zu einer radikalen Transfiguration führte. In Voegelins Worten: „The vision of the Resurrected convinced Paul that man is destined to rise to immortality, if he opens himself to the divine pneuma as Jesus did. Faith in Christ means responsive participation in the same divine pneuma that was active in Jesus who appeared in the vision of the Resurrected“ (Voegelin 1974: 242). Glaube als Partizipation an einem göttlichen Pneuma bzw. die SelbstÖffnung hin zu demselben sind für Voegelin neben Hoffnung und Liebe die kriteriologischen Sprachsymbole, das „klassisch“ genannte, also im wesentlichen platonische Denken zu verlassen und der nicht hinterfragbaren Vision eines Paulus den Vorrang vor einer noetischen Exegese respektive Theophanie zu geben. So ergeht in aller Kürze das Urteil: „The truth of existence emerges from the theophanic events in history. Paul’s exegesis of his vision, with its concentration on the dynamics of theophany, brings the historicity of existential truth into sharper focus than did the philosopher’s exegesis of the noetic theophany“ (251).2 Kategorisch stellt Voegelin fest: – – – –
Die Vision des Paulus und deren Exegese ist der Gegenstand. Die Vision anzunehmen oder zurückzuweisen aber nicht. Eine Vision ist kein Dogma. Sie ist ein Ereignis in metaleptischer Realität, die nur bestmöglichst verstanden werden kann.
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Vgl. Voegelin 1966: 324: „die Realität des Partizipationswissens lässt geschichtlich eine Fülle sichtbar werden, die weit über die Ratio hinausgeht. Ich denke vor allem an die Erfahrungen von Glaube, Liebe und Hoffnung, die schon Heraklit als Quellen des Wissens erkannt und unterschieden hat. Es ist durchaus berechtigt, außer von einer cognitio rationis auch von den cognitiones fidei, amoris et spei zu sprechen“.
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– – – – –
Die Vision ereignet sich als Symbol im Metaxy. Eine Aufspaltung in „Objekt“ und „Subjekt“ der Vision ist verboten. Die Vision ist also durch sich selbst gerechtfertigt. Die Seele des Empfängers antwortet auf die „göttliche“ Gegenwart. Das Geheimnis göttlich-menschlicher Partizipation, wie es sich in einer Theophanie ereignet, ist unantastbar. – Psychologische Erklärungen göttlicher Präsenz in Paulus sind unmöglich; ebenso „kritische Zweifel“ (Voegelin 1974: 242).
Damit ist für die „Christian idea of mankind“ ein- für allemal festgelegt, was für den Teilhaber an dieser universellen Gemeinschaft zu gelten hat, nämlich der unverbrüchliche, gefährdete Glaube, die offene Liebe zum göttlichen Grund des Seins und die damit eng verbundene Hoffnung. Das damit begründete, unaufhebbare Zwischensein des Menschen findet sprachlichen Ausdruck in folgender Passage: „Nicht der sichtbare Besitz seiner wahren menschlichen Natur, sondern die Sorge um ihre volle Verwirklichung ist das Schicksal des Menschen. Existenz hat die Struktur des Zwischen, des platonischen metaxy, und wenn irgendetwas in der Geschichte der Menschheit konstant bleibt, dann ist es die Sprache der Spannung zwischen Leben und Tod, Unsterblichkeit und Sterblichkeit, Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Zeit und Ewigkeit; zwischen Ordnung und Unordnung, Wahrheit und Unwahrheit, Sinn und Sinnlosigkeit der Existenz; zwischen amor dei und amor sui, l’âme ouverte und l’âme close; zwischen den Tugenden der Offenheit gegenüber dem Seinsgrund, wie Glaube, Hoffnung und Liebe, und den Verirrungen der Abkapselung und des Sich-Verschließens wie Hybris und Revolte; zwischen den Stimmungen von Freude und Verzweiflung; und schließlich zwischen Entfremdung in der doppelten Bedeutung der Entfremdung von der Welt und der Entfremdung von Gott“ (Voegelin 1988: 106).
Das bedeutet für die Beantwortung der Teilfrage a): Wenn erstens die „Sprache der Spannung“ die Sprache ist, die für alle Teilhaber an der universellen Gemeinschaft gilt und von allen geteilt wird, und zweitens die „Offenheit gegenüber dem existentiellen Seinsgrund“ die notwendige psychische Haltung ist, dann ist eine Verständigung bzw. Konfliktlösung in einem „Dialog der Religionen“ nicht möglich und nicht nötig, weil die Bedingungen eindeutig formuliert sind. Dieser Gemeinschaft ist die „Christian idea of mankind“ selbstverständlich, und aufgrund dieser Selbstverständlichkeit taugt letztere nicht für einen Dialog, weil sie ausschließliche Geltung beansprucht und in einer Spannung, Offenheit und Balance des Bewusstseins existiert. Werden allerdings Hybris und Revolte geltend gemacht, ist das Niveau von Spannung, Offenheit und Bewusstseinsbalance verlassen, und ein Konflikt ist unausweichlich.
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2. Gnostizismus als Wesen von Modernität Der existentielle Gegenentwurf bzw. gegenexistentielle Entwurf wird sprachlich bezeichnet durch „Hybris und Revolte“. Revolte ist für Voegelin das ganze Spektrum von Entgleisungen eines obsessiv-egophanischen Bewusstseins.3 Dieses ist jedoch kein freischwebendes, sondern bleibt auch in dieser Formation ein konkretes, allerdings eines, das die Ordnung der „Gesamtexistenz in der Welt“ negiert (Voegelin 1966: 340). Damit ist auch die „optimale Bewusstseinshelle“ verlassen, in der der Mensch sich „zugleich als in der Zeit stehend und als partizipierend an der Ewigkeit des Grundes“ (346) erfährt. Es ist die „Revolte gegen Gott“, die „dämonisch“ und „gnostisch“ gegenüber der „transzendenten Realität verschlossen“ ist: „In der gnostischen Bewegung bleibt jedoch der Mensch gegen das transzendente Sein verschlossen; der Wille zur Macht stößt an die Mauer des Seins, das zum Gefängnis geworden ist; er zwingt den Geist in den Rhythmus von Täuschung und Selbstzerfleischung. (…) Aber die gnostische Bewegung des Geistes führt nicht zur erotischen Öffnung der Seele, sondern zu dem tiefsten Punkt des Beharrens in der Täuschung, an dem sich als ihr Motiv und Zweck die Revolte gegen Gott enthüllt“ (Voegelin 1959b: 41/44).
Damit wird die gnostische Traumwelt zum Gefängnis für denjenigen, dessen Seele sich gegen die „menschliche Natur“ in irrationaler Weise auflehnt, d. h. entweder ein Sich-Verschließen gegenüber dem Grund oder sein Verfehlen (Voegelin 1966: 289). Die „Tragödie des Gnostizismus“ besteht geradezu in der „Selbsterlösung“ (Voegelin 1959a: 240), ja, es ist eine ausgesprochene „spiritual disease“ (Voegelin 1977: 298) oder anders: „In der gnostischen Traumwelt hingegen ist die Nichtanerkennung der Realität das erste Prinzip. Infolgedessen gelten gewisse Handlungstypen, die in der realen Welt wegen der realen Folgen, die sie zeitigen, als sittliche Erkrankung angesehen werden, in der Traumwelt als sittlich, weil sie ganz andere Folgen beabsichtigt hatten“ (Voegelin 1959a: 233). Gesellschaftlich wirkt sich die egophanisch-entfremdete Revolte aus in Form von Gewalt, Konzentrationslagern und Massenmord; persönlich in der Zerstörung existentieller Ordnung und psychologisch in der Ausformung eines geteilten Selbst, wobei das Menschen-Ich unter der defizienten conditio humana leidet, während das Gott-Ich Erlösung bringt und die Zerrissenheit schließt (Voegelin 1974: 28, 254). Was aber aus dieser Selbstspaltung des Gnostikers erwächst, hat Voegelin nur vorsichtig angedeutet: 3
Vgl. Voegelin 1974: 260: The symbol egophany „will express the pathos of thinkers who exist in a state of alienation and libidinous obsession“.
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„It would be tempting to characterize the ,divided self‘ of the alienated thinker as ,schizoid‘, but the relation of this type of pneumopathological deformation to the phenomena which in psychopathology are treated under the general head of schizophrenia are not yet sufficiently explored. Certainly, however, the comparison casts some light on the phenomenon that is conventionally called ,immanentism‘“ (Voegelin 1974: 255).
Ausgehend von dieser vorsichtigen Andeutung formuliere ich meine These, die zugleich die Beantwortung der Teilfrage b) ist: Das konkrete Bewusstsein des modernen Gnostikers ist geprägt durch Schizoidität. Wie bei seinen spätantiken Vorläufern ist es in ein „göttliches“, „pneumatisches“ Ich und in ein „weltliches“, „irdisches“ Ich gespalten. Dringendes Bedürfnis des modernen Gnostikers ist die Aufhebung dieser Bewusstseinsspaltung, die im Ergebnis aber nicht zur Voegelin’schen „Balance des Bewusstseins“ mit all ihren Implikationen führt. Erforderlich wird daher die Kreation einer „neuen Welt“, was die Zerstörung der „alten Welt“ respektive jeder vermeintlich defizitären Ordnung bedingt. Die gnostische Weltzugewandtheit ist somit zugleich Weltfremdheit, insofern alle Einrichtungen von Grund auf schlecht oder „böse“ sind. Legitimiert wird durch diese Weltdeutung das Bestreben, neues Denken, Handeln und Verhalten zu definieren bzw. umzudeuten, was als bisheriges Denken, Handeln und Verhalten geläufig war. Oder anders gesagt: Die Abschaffung des Schlechten, Falschen, Unzulänglichen entspringt nicht einer verwirrten Psyche, sondern einem Bewusstsein, das radikal für sich das Hegel’sche „Herzklopfen für das Wohl der Menschheit“ in Anspruch nimmt und eine zweite, gegenexistentielle Realität entwirft und zur Grundlage aller Aktivitäten erhebt. Gegenstand des revoltierenden, egophanischobsessiven Aktionismus ist also die „wahre Menschheit“, in der und mit der ein konstruiertes Kollektivbewusstsein zum Weltgrund erklärt wird, das alle Personen umgreift, die denkend, handelnd oder sich verhaltend an dem gegenexistentiellen Realitätsentwurf partizipieren. Ich möchte als Beleg für diese These ein repräsentatives Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit heranziehen, nämlich die schriftlich fixierten Äußerungen des Selbstmordattentäters Mohammad al-Amir Atta.4 Es geht um eine Bewusstseinshaltung, die Zeugnis ablegt für den Glauben an und die Unterwerfung unter eine hypostasierte Größe, die ebenso abstrakt wie austauschbar „Gott“ genannt wird. Die subjektzentrierte Beziehung zu der Hypostase „Gott“ offenbart in einer „Letzten Verfügung“ stufenweise eine Ablehnung der „Ablenkungen des Lebens“, die diminutiv gesteigert wird zu der für diese Bewusstseinshal4
Vgl. z. B. aus psychologischer bzw. psychoanalytischer Sicht die Beiträge von Christian Büttner, Hans-Jürgen Wirth und Johannes Döser in dem Sammelband: Auchter/Büttner/Schulze-Venrath/Wirth (2003).
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tung schwer erträglichen Tatsache, von einer Frau geboren worden zu sein. Denn nach dem Tod jener Trägerperson dieser Bewusstseinshaltung heißt es: „5. Weder schwangere Frauen noch unreine Personen sollen von mir Abschied nehmen – das lehne ich ab. 6. Frauen sollten nicht für meinen Tod Abbitte leisten. Ich bin nicht verantwortlich für Tieropfer vor meinem aufgebahrten Leichnam (…). 11. Frauen sollen weder bei der Beerdigung zugegen sein noch irgendwann später sich an meinem Grab einfinden. (…) 15. Eine Stunde sollten die Menschen an meinem Grab zubringen, auf dass ich ihre Gesellschaft genießen kann; ein Tieropfer soll erfolgen, das Fleisch an die Bedürftigen verteilt werden“ (Der Spiegel 40, 2001: 32).
Zunächst werden „schwangere Frauen“ und „unreine Personen“ in einem Atemzug genannt, weshalb ein durch das „und“ gekennzeichneter Zusammenhang anzunehmen ist. Also hat „Schwangersein“ etwas mit „Unreinheit“ zu tun. Abgelehnt wird eindeutig, dass diese beiden Personengruppen – wenn anders Frauen Personen sind – „Abschied nehmen“, ein Begehren, das die Verachtung für beide bzw. die Nichtanerkennung ihres Status als Abschiedsberechtigte einsichtig werden lässt. Dies zeigt die Aufforderung, dass Frauen keine „Abbitte leisten“ sollten, wobei zu vermuten ist, dass diese Betätigung ihren offenen Ausdruck in einem „Tieropfer“ vor dem „aufgebahrten Leichnam“ finden wird, eine archaisch anmutende, aber als normal aufgefasste Handlung. Bekräftigt wird die Verachtung der Frauen durch die wiederholte und auf Dauer gestellte Anweisung, diese mögen weder „bei der Beerdigung zugegen“ noch in künftiger Zeit („irgendwann später“) sich am „Grabe einfinden“. Als Widerspruch könnte aufgefasst werden, dass „die Menschen“ einen genau abgemessenen Zeitraum am Grab zubringen sollten, was im Bewusstsein des Toten und Begrabenen, also Nicht-mehr-Aufgebahrten bedeutet, dass er „ihre Gesellschaft genießen kann“. Sogar ein Tieropfer ist jetzt erwünscht mit der Maßgabe, die lebenden Bedürftigen zu versorgen mit dem Fleisch des Opfers. Unschwer ist aus der Ablehnung des Aufenthaltes von Frauen am Grab die Bevorzugung männlicher Gesellschaft zu folgern. Das bedeutet aber auch, dass die Anwesenheit von Männern ausschließlich dem Toten und, wie anzunehmen ist, auch dem vormals Lebenden Genuss bereitet hat und bereitet. Das wirft des Weiteren ein Licht auf die Zusammennennung von Frauen, die schwanger, und Personen, die unrein sind: Wird doch hier wenigstens in der Andeutung klar, dass Schwangerschaft und Unreinheit verknüpft sind, woraus zwanglos folgt, Männlichkeit und Reinheit bzw. Gereinigtsein von Schwangerschaft zusammenzufügen. Aus dieser Implikation folgt nun zunächst: Die Frau wird gering geschätzt bzw. verachtet wegen der nicht nur zu befürchtenden, sondern im Normalfall erfolgenden, aus Unreinheit erwachsenden Geburt, die auch dem Toten notwendig widerfahren ist. Die Geburt durch eine Frau ist daher der augenfälligste Grund, die Erfordernisse der Existenz als unfreiwillige Geworfenheit in
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das Gefängnis des Lebens zu deuten. Der Tod, ob natürlich, für sich oder andere herbeigeführt, ist dann mögliches Durchgangsstadium zu einem Zustand jenseits des Todes. Die Verantwortung für die unnötig-ungewollte Spanne zwischen Geburt und Tod wird also in der Verknüpfung mit Unreinheit der Frau zugeschoben. Die Verachtung der Frau, die schlechtes Leben gibt, begründet zugleich die Geringschätzung des Todes. Diese Frauenverachtung, die verknüpft ist mit einem an männlicher Gemeinschaft orientierten Selbstgenuss, ist nun eine wesentliche Komponente gnostischmännlichen Bewusstseins (vgl. Sonnenschmidt 2001: 43-126). Denn die Vorstellung einer Erlösung des Selbst von Übel, von Bösem, von Schlechtem, von Tod ist das Signum eines Strebens nach Unsterblichkeit, das den Weggang aus einem strapaziert-gebrandmarkten „Leben“ in die sphärische Hypostase „Gott“ symbolisiert. Daraus folgt die Bereitschaft, das eigene wie fremde Leben todessehnsüchtig einzusetzen gegen solche, die als „Ungläubige“ bestimmt werden. Dieser gnostische Aktivismus markiert ein Welt- und Selbstbewusstsein, in welchem die Hypostase „Gott“ zusammen mit prophetischem Wirken erster und letzter Legitimationsgrund für die „Arbeit (der Einzelnen) und die Arbeit der Gruppe“ sind. Eine „Aktion im Namen Gottes“ wird von „sich gegenseitig Anerkennung“ zollenden „Brüdern“ ausgeführt; sie trösten und verschaffen sich ein Herz, das mit „Glück erfüllt“ sein sollte, weil sie glauben: „Das Ende steht bevor, und das Himmelsversprechen ist zum Greifen nahe. Öffne dein Herz, heiße den Tod im Namen Gottes willkommen. (…) Betrachtet man die Menge der Ungläubigen, so wird Gott – trotz der hohen Anzahl der Ungläubigen – dazu beitragen, dass die Gläubigen die Mehrheit besiegen“ (Der Spiegel 40, 2001: 36). Derart als elitäre Gruppe und jeder einzelne „Bruder“ als Auserwählter eingesetzt, wird das Vertrauen auf die Hypostase „Gott“ und der Schutz durch die Engel, „obwohl du davon nichts bemerkst“ (36), angerufen. Daraus erwächst ein Kampfeswille, „(alle) westlichen Zivilisationen“, „ungläubigen Nationen“ und „ungläubigen Völker“ zu besiegen, und zwar mit Gottes „Kraft“, „Segen“ und „Vergebung“. Das Töten ist eigentlicher Zweck, geäußert in dem inbrünstigen Wunsch: „(…) Gott besiege sie und lass uns siegen und die Ungläubigen niederschlagen und sie ihre Köpfe senken lassen“ (37). Das ist die Todes-Arbeit des Einzelnen und der Gruppe, die jeden als „Held“ erweist, der folgende Ermunterungen beherzigt: „Du kommst nicht zur Erde zurück und pflanzt die Angst in die Herzen der Ungläubigen, wie Gott sagte, schlag sehr hart in das Genick, in dem Wissen, dass der Himmel auf dich wartet, dich erwartet und du dort ein besseres Leben führen wirst, und Engel rufen deinen Namen und tragen für dich ihre schönsten Kleider. (…) 7. Reinige dein Herz von allen schlechten Gefühlen, die du hast, und vergiss alles über dein weltliches Leben; denn alles, was du in deinem Leben getan hast, wird bald vorüber sein. Die Zeit ist reif, um das Richtige zu tun. Wir haben unser Leben verschwendet, und nun ist die Gelegenheit und die Stunde gekommen, uns Gott hinzugeben und
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Reinhard W. Sonnenschmidt ihm zu gehorchen. 8. Öffne dein Herz, denn du bist nur einen kurzen Moment entfernt von dem guten, ewigen Leben voller positiver Werte in der Gesellschaft von Märtyrern. Dies ist die beste Gesellschaft, in der man sich befinden kann. Wir bitten um Gottes Segen und sind optimistisch, denn der allmächtige Gott mag optimistische Menschen, die Dinge für Gott tun“ (38).
Lernen muss der Einzelne also folgende Botschaft: Die Erde ist endgültig verlassen. Alle Ungläubigen, d. h. alle, die Angst haben und damit Söhne und Töchter des „Teufels“ sind, bleiben zurück in der geschlagenen Welt. Das erlösende Wissen um die Existenz im Himmel – ein Warten und Erwarten – garantiert das gute, bessere, ewige Leben, genaues Gegenteil verschwendeter Weltlichkeit. Ausgelöscht werden Erinnerungen an das Diesseits, Heimstatt ist – in Kürze – das Jenseits. Der Ruf der Namen durch Engel bestimmt jeden einzelnen gnostischen Held zur Hingabe an und Gehorsam gegenüber der Hypostase „Gott“. Dort findet er die Gesellschaft von gleichgesinnten Märtyrern. Sie alle sind Zeugen des Optimums: nämlich Ungläubige töten, selbst ewig leben. In diesem Reich wird die angestrebte Fülle des Lebens lichte Realität. Diese Teilhabe an einer imaginierten Allmacht für das geöffnete Herz des wahren Menschen bzw. Mannes ist zugleich prächtiger Abschluss einer defizitären Existenz. 3. Zusammenfassung Hybris und Revolte, unaufhebbar verbunden mit Obsession und Egophanie, bezeichnen einen im Voegelin’schen Sinne entfremdet-schizoiden Bewusstseinszustand, d. h. Entfremdung von der Welt und von Gott. Dieser Zustand bzw. diese Haltung weist in drei Richtungen: Erste Richtung: kollektive Subjektzentriertheit. Diese strebt zugleich danach, die Spaltung in ein schlechtes „Welt-Ich“ und ein gutes „Gott-Ich“ aufzulösen, und zwar durch die Zerstörung alles dessen, was der eigenen Glaubenshypostase entgegensteht (Egophanie). Zweite Richtung: leidenschaftlicher Wille. Dieser giert danach, ein verachtetes Leben, von der Frau gestiftet, zu beenden und im Tod heldenhafter Märtyrer und im Reiche der Hypostase „Gott“ unsterblich zu sein (Obsession). Dritte Richtung: aktivistisches Niederreißen. Diesem gilt Alles nichts, und die Reinheit des Herzens und der Seele sind absolutes Gebot, so dass selbst die Schau des eigenen Ursprungs mit Abscheu zurückgewiesen wird (Revolte). Im Gegenzug zum Modell einer „Christian idea of mankind“ bietet die These vom „Gnostizismus als dem Wesen von Modernität“ Gelegenheit, eine Entscheidung für oder gegen einen religiös-politischen Standpunkt zu begründen. Denn die erste Variante einer Verständigung bzw. Konfliktlösung legt die Kriterien Glaube, Liebe und Hoffnung eindeutig fest, d. h. sie ist ausschließlich auf die
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paulinische, d. h. die nicht-philosophische Perspektive der Offenheit zum Seinsgrund ausgerichtet. Die zweite Variante des Voegelin’schen Denkens formuliert als Kriterien Egophanie, Obsession und Revolte, die sowohl die erfahrungspsychologische als auch (und vor allem) die Bewusstseinsebene als Haltung und Zustand in den Vordergrund rückt. Das bedeutet für einen wie den hier vorgetragenen gnostischen Standpunkt: Religiöser Wahn und politischer Terror bilden keine Diskussionsgrundlagen für eine Verständigung bzw. Konfliktlösung, da diese pneumopathologische Geisteshaltung sich als solche und für andere konsequent disqualifiziert. „Dialog“ kann nicht bedeuten, mit jedem alles zu erörtern, sondern nur mit diskussionsfähigen und diskussionsbereiten Zeitgenossen. Ansonsten hieße „Dialog“ Übung aussichtsloser Zwiesprache mit grundlosen und abgekapselten Selbsten. Oder mit Eric Voegelin zu sprechen: „Wer es sich in geistigen Dingen leichtmacht, der hat nicht mitzureden“. Literatur: Auchter, Thomas/Büttner, Christian/Schulze-Venrath, Ulrich/Wirth, Hans-Jürgen (2003) (Hrsg.): Der 11. September. Psychoanalytische, psychosoziale und psychohistorische Analysen von Terror und Trauma. Gießen. Sonnenschmidt, Reinhard W. (2001): Politische Gnosis. Entfremdungsglaube und Unsterblichkeitsillusion in spätantiker Religion und politischer Philosophie. München. Voegelin, Eric (1959a): Die Neue Wissenschaft der Politik. München. Voegelin, Eric (1959b): Wissenschaft, Politik und Gnosis. München. Voegelin, Eric (1966): Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik. München. Voegelin, Eric (1974): Order and History. Vol. IV: The Ecumenic Age. Baton Rouge/London. Voegelin, Eric (1977): From Enlightenment to Revolution. Durham. Voegelin, Eric (1988): Ordnung, Bewußtsein, Geschichte. Späte Schriften – eine Auswahl. Hrsg. v. Peter Opitz. Stuttgart.
II. Theoretische Ansätze
Der Dialog der Weltreligionen und die Philosophie der Offenbarungen Peter Koslowski
Das Interesse an Religion entsteht aus der Kontingenz menschlicher Existenz, aus der Zufälligkeit der Geburt, des menschlichen Erfolgs und Misserfolgs, aus der „Zufälligkeit“ des menschlichen Todes: Der Mensch kann sein Leben verfehlen, er kann Opfer seiner eigenen Schwäche, Opfer widriger Umstände und bewusster Bosheit seiner Mitmenschen werden. Selbst wenn die Gesellschaft und Wirtschaft gut eingerichtet sind, gibt es Kontingenzen, mit denen der Einzelne fertig werden muss – vor allem den individuellen Tod. Religion ist der zentrale Versuch des Menschen, mit der Kontingenz seines Daseins fertig zu werden. Der Wunsch zu dieser Kontingenzbewältigung ist dem Menschen eigentümlich und nicht auszurotten. Der wissenschaftliche Atheismus hat diesen Wunsch und seine Befriedigung in der Religion als „Opium fürs Volk“ abgelehnt und seine Verheißung, dass die Menschheit zu einer Gesellschaft ohne Leiden fortschreitet, an die Stelle der Religion gesetzt. Von Anfang an war die Achillesferse des marxistischen Versuches, die Religion überflüssig zu machen, der individuelle Tod. Selbst wenn die Menschheit voranschreitet: Was hilft das dem Einzelnen, der sterben muss und diesen Fortschritt gar nicht mehr erlebt? Wie sollte es die zahllosen Opfer des Marxismus-Leninismus in der Sowjetunion trösten, dass ihr vorzeitiger, gewaltsamer Tod der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft diente? Man musste von Anfang an erwarten, dass der Marxismus die Religion nicht vollständig werde ausrotten können, weil er die Kontingenz des menschlichen Daseins nicht beseitigen konnte, selbst wenn es ihm gelungen wäre, die wirtschaftliche Knappheit in der Welt zurückzudrängen. Dass die Eschatologie des Kommunismus nicht eintrat, ist einer der ersten Gründe für die heute in der ganzen – und nicht nur in der islamischen – Welt beobachtbare Rückkehr der Religion. Es handelt sich hier um eine Menschheitswende: Dem 20. Jahrhundert, das die Sterne der Religion endgültig so auslöschen wollte, dass niemand sie je wieder werde anzünden können, folgt ein Jahrhundert, das eben diese Sterne wieder anzuzünden im Begriff ist.
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Das Ende des Kommunismus war und ist begleitet von einer Relativierung der Hoffnungen auf den Staat, die ebenfalls die Religion stärkt. Der Marxismus war trotz seiner Rhetorik vom Absterben des Staates und vom Primat der Ökonomie wesentlich eine politische Ideologie der Diktatur der Partei der Arbeiterklasse. Ökonomisch hat er seine Vorstellungen von Planwirtschaft nie realisieren können, weil er dem Faktum der Kontingenz wirtschaftlicher Prozesse nicht Rechnung tragen konnte. Kontingenz sollte durch Notwendigkeit ersetzt werden, freie wirtschaftliche Tätigkeit durch geplante Prozesse. Mit dem Markt und der Globalisierung ist jedoch die Kontingenz in das Leben der Nationen zurückgekommen, und mit ihr die Not, mit Zufälligkeit fertig zu werden. Nicht nur die individuellen, sondern auch die Wechsellagen der Industriebranchen und der Gesamtwirtschaft schaffen in einer globalisierten Weltwirtschaft Kontingenzen. Damit wächst zugleich das Bedürfnis, die Kontingenz individueller wie gesellschaftlich-wirtschaftlicher Wechsellagen zu bewältigen. Wie so oft können auch hier die Ansprüche die notwendigen Mittel überschreiten. Wir wünschen uns, die Zufälligkeit unseres Lebens zu bewältigen, aber wir haben außer der Religion keine Mittel dafür, weil wir die Welt, wie sie ist, nicht so ändern können, dass es in ihr keine Kontingenz mehr gibt. Kontingenzbewältigung durch Religion könnte jedoch nichts anderes sein als „wishful thinking“ oder Ersatzdroge, eben Opium, wie es auch die Religionskritik eingewendet hat. Zwei Grundkategorien der Religion – und zwar offenbar aller Weltreligionen – sind für die Möglichkeit wirklicher Kontingenzbewältigung zentral: Retribution und Offenbarung. Die Religion befriedigt das Bedürfnis des Menschen nach Retribution, nach Rückgabe und Vergeltung, und sie gründet ihren Anspruch, dass diese Hoffnung begründet ist, auf eine Offenbarung durch Gott oder göttlich inspirierte Stifter. Retribution umfasst die Rückgabe dessen, was dem Menschen in seinem Leben vorenthalten, und die Vergeltung für das, was ihm Unrechtes angetan wurde. Die drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam sind von dem Gedanken bestimmt, dass das Totengericht alle Menschen für das Unrecht, das sie getan haben, bestraft und für das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, entschädigt, ihnen ihre Rechte zurückgibt. Noch die Attentäter des 11. September 2001 waren von der Idee besessen, dass Gott sie für ihren durch Selbstmord herbeigeführten frühzeitigen Tod, der die Bedingung und die Folge ihrer Tat der Rache an den Ungläubigen war, durch das ewige Leben entschädigen werde. Diese Idee des Martyriums scheint zunächst der religiösen Logik der Retribution zu folgen. Allerdings haben die Attentäter die Logik der Retribution in ihr Gegenteil verkehrt und die Ethik ihrer eigenen Religion, des Islam, verletzt. Woher wussten sie, dass Gott ihren Selbstmord mit Gutem vergelten werde? Alle theistischen Religionen verurteilen den
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Selbstmord und den Mord an Unschuldigen und Nichtkombattanten. Der Selbstmord ist nicht ein Mittel des religiösen Kampfes, weil nach der Religion nicht der Mensch, sondern Gott Eigentümer des Lebens ist. Der Mensch kann nicht für einen höheren Zweck sein Leben selbst töten, weil dieses Mittel nicht in seiner Verfügung steht. Die Tötung von Nichtkombattanten im Religionskrieg ist ebenfalls gegen das Naturrecht der Religionen, weil der Zweck des heiligen Krieges nicht das Mittel der Tötung von Nichtkombattanten rechtfertigt. Warum sollte es Allah gefallen, den Sieg des Islam mit Hilfe der Tötung Unschuldiger zu erringen? Im Hinduismus, Buddhismus und Jainismus wird die Retribution durch das Karma gesichert. Böse Taten häufen schlechtes Karma, gute Taten gutes Karma an. Entsprechend dem guten oder schlechten Karma, das der Mensch in seinem Leben durch seine Taten gebildet hat, wird er in einer höheren oder niedrigeren Form der Existenz wiedergeboren. Von Interesse ist, dass es atheistische Schulen wie die Schramana-Tradition des Buddhismus und Jainismus gibt, die den Gottesbegriff ablehnen, aber am Karma-Gedanken festhalten. Sie bilden atheistische Religionsformen, die jedoch Religion sind, weil sie die Wirklichkeit als eine auffassen, in der das Gesetz des Karma und der Retribution über den Tod des individuellen Lebens hinaus gilt. Die Erwartung des Menschen, für die Kontingenz seiner Existenz entschädigt zu werden, wird im Hinduismus und Buddhismus durch die metaphysische Verfasstheit der Wirklichkeit als Karma sichergestellt. Für jeden Menschen gilt das Gesetz des Karma, der Retribution. Auf die Frage, wer oder was die Retribution des Karma sicherstellt, antworten die Schulen der Schramana-Tradition nicht mit „Gott“, sondern wieder mit dem Karma. Die Wirklichkeit ist so beschaffen, dass in ihr das Karma als eisernes Gesetz gilt, als ein transzendentales Prinzip der Welt. Auch wenn es keinen Gott gibt, der es personal durchsetzt, verwirklicht das Karma selbst die Retribution. Für die personalen Religionen des Theismus ist es schwer, sich vorzustellen, dass ein unpersönliches Gesetz die Retribution leistet. Für beide religiösen Systeme der Retribution, die theistischen und die Karma-Systeme, stellt sich die Frage nach dem Grund ihrer Hoffnung auf Retribution, und für beide liegt dieser Grund in einer geoffenbarten Wirklichkeit, die sich der unmittelbaren Erkenntnis verschließt. Offenbarung wird damit zum Grundprinzip der Religionen. Für das Judentum, das Christentum und den Islam ist die Offenbarung Gottes, dass es ihn gibt und dass er gerechte Taten belohnt und ungerechte bestraft, der Grund für die Hoffnung auf Retribution für die Kontingenzen der menschlichen Existenz. Im Hinduismus und Buddhismus ist der Offenbarungsgrund weniger explizit, weil sie nicht von einer Offenbarung Gottes selbst sprechen. Aber auch ihre Zentralaussagen werden durch heilige Texte ihrer Stifter „geoffenbart“.
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Offenbarung als Fundament der Religion ist etwas, das durch die Ereignisse des 11. Septembers in seiner Mächtigkeit und in seiner Ambivalenz von neuem ins Bewusstsein der Menschheit getreten ist. Es gibt Milliarden von Menschen, für deren Daseinsdeutung und soziale Lebensführung nichts wichtiger ist als das, was Gott im siebten Jahrhundert einem Kaufmann aus Mekka geoffenbart hat, und die damit dem westlichen Rationalismus Hohn lachen. Teile des Islam stellen das Prinzip Offenbarung dem Prinzip der Vernunft unmittelbar gegenüber. Der Westen wird durch diese neue Präsenz der religiösen Offenbarung im Bewusstsein der Menschheit zugleich herausgefordert, die Bedingungen des Rationalismus und der Offenbarungsreligion neu zu klären. Er wird auch darauf verwiesen, dass seine eigene Mehrheitsreligion, das Christentum, auf Offenbarung gründet. Die fünf Weltreligionen sind als fünf Glaubenssysteme der Retribution und der Offenbarung1 zu deuten, als fünf kohärente Glaubenslehren, welche die Kontingenzbewältigung durch Retribution sichern, indem sie die Retribution nach dem Tode entsprechend ihrer Offenbarung entweder durch das Totengericht oder durch das Karma glaubhaft machen. Ihre Begründungen der Retribution stehen zueinander in einem Verhältnis der Spannung. Vor allem das christliche und das islamische Verständnis von Retribution und Erlösung widersprechen einander in der Deutung Christi als Erlöser und Sohn Gottes einerseits und als Prophet und als Vorläufer Mohammeds andererseits. Der islamisch-christliche Dialog wird durch die entgegengesetzte Deutung der Christologie und ihrer Offenbarung in den beiden Religionen erschwert. Während das Christentum Christus als die zentrale, einmalige und unüberholbare Selbstoffenbarung Gottes in der Menschwerdung ansieht, steht diese inkarnatorische Deutung Christi im Gegensatz zum Festhalten des Islams an der Einheit und Einzigkeit Allahs und zu seiner Behauptung, als spätere Religion die Überholung des Christentums und daher auch die Überholung der Offenbarung in Christus zu sein. Der Gegensatz IslamChristentum ist daher unter allen Weltreligionen der theologisch und philosophisch schärfste und gefährlichste, und dies bereits lange vor den politischen Gegensätzen. Er ist theologisch und philosophisch in dem unterschiedlichen Verständnis von Offenbarung und der Absolutheit des jeweiligen Religionsschöpfers gegeben. Für die Philosophie ist daher das Bedürfnis nach interreligiösem Dialog nicht primär ein politisches, sondern ein philosophisches oder spekulatives, das sich aus dem geltungstheoretischen Pluralismus der Religionen und ihrer widerstreitenden Ansprüche, wahre Offenbarung zu sein, ergibt. Die Vielheit der Weltreli1
Vgl. auch Koslowski (2002). Dieser Aufsatz wird im Folgenden verwendet. Die Verwendung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Wilhelm Fink-Verlags.
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gionen steht mit dem theologischen und philosophischen Anspruch, eine wahre Theorie der Gesamtwirklichkeit zu finden, zunächst im Widerspruch. Die Vielheit der Religionen ist aber auch eine Herausforderung für die Religionen selbst, weil sie sich, wenn sie sich nicht auf bloße Sozialreligion zurückziehen und nur als Ausdruck des Selbstverständnisses von Gruppen begreifen wollen, mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass Gott mehrere Religionen mit einander widersprechenden Wahrheitsansprüchen zulässt und ebenso zulässt, dass sie über eine lange historische Zeit einander widersprechend gegenüberstehen. Die Faktizität der Vielheit der Religionen ist nicht zu leugnen, und da diese Vielheit bereits so lange währt und so mächtige Gruppen von Menschen umfasst, können die Religionen nicht annehmen, dass ihre Vielheit vollständig gegen den Willen Gottes ist. Auf die Vielheit der Religionen kann man theologisch und philosophisch mit zwei Positionen antworten. Man kann die Ansicht vertreten, dass, wenn es mehrere Religionen gibt, die einander widersprechen, sie alle irgendwie gleich weit entfernt von der Wahrheit sind, weil wenn eine Religion die Wahrheit wäre, sie sich ja wohl durchgesetzt hätte. Wenn man die Ansicht vertritt, dass alle Religionen aufgrund der Pluralität der Religionen unwahr sind, muss man die Frage beantworten, ob es denkbar ist, dass Gott es zulässt, dass über Tausende von Jahren eine große Anzahl von Menschen eine bestimmte Auffassung über sein Wesen und sein Wirken in der Geschichte sich zu eigen macht, die völlig verkehrt ist. Eine solche Position einzunehmen, hieße die Existenz Gottes als ganze in Frage stellen. Dies scheint die Schwierigkeit der radikal inklusivistischen These zu sein. Wenn alle Religionen gleich wahr sind, sind sie zugleich gleich unwahr und gleich oder ähnlich weit entfernt von der wahren Erkenntnis Gottes. Sind sie jedoch alle gleich wahr und gleich unwahr, liegt ein schwerwiegendes Theodizeeproblem vor. Wie könnte man das Handeln Gottes in der Geschichte angesichts einer solchen Zulassung der Irrtumsbefangenheit der fünf großen Weltreligionen erklären? Man müsste fragen, wie es angesichts der Voraussetzung, dass Gott allgütig oder vollkommen wohlwollend und auch nicht neidisch in dem Sinne ist, dass er sich dem Menschen nicht offenbaren will, denkbar ist, dass er es zulassen könnte, dass in der Lehre von sehr großen, sehr alten Religionen nichts Wahres von ihm gewusst und gelehrt wird. Nun sagt die inklusivistische These nicht, dass in der Pluralität der Religionen zum Ausdruck kommt, dass sie alle nichts Wahres wissen. Sie sagt vielmehr, dass die Religionen in gleichem Umfang alle etwas von Gott wissen. Hier wäre nun aber die andere Frage zu stellen, wie die Theodizee angesichts der Aussage gelingen könnte und die Allgüte Gottes angesichts der Aussage zu rechtfertigen wäre, dass alle Religionen nur Spuren der Wahrheit, also Spuren Gottes lehren, sie alle in einer Weise gleich falsch und gleich richtig oder halb richtig und halb falsch zugleich sind. Gegen diese Position
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könnte man mit Hegel einwenden, dass man einem Gott, der sich nicht offenbart, Neid zuschreiben müsste, weil er offenbar sein Wesen den Menschen nicht mitteilen will. Die radikal inklusivistische These der Theologie der Religionen, die sagt, dass überall Spuren der Wahrheit sind, es aber keine gibt, die einen besonderen Anspruch auf Wahrheit erheben kann, kommt angesichts der Güte Gottes oder auch der Annahme, dass Gott sich aus Liebe zu den Menschen zeigen will, in Begründungsnot. Die andere These, dass nur eine einzige Religion – wobei wir zunächst noch gar nicht wissen, welche das ist – die Offenbarung Gottes sein kann, wirft ebenfalls große Probleme der Rechtfertigung Gottes angesichts der Tatsache auf, dass, wenn man ihr folgt, ein Großteil der Menschheit über Gott völlig im Irrtum ist und überhaupt nichts von ihm weiß, weil dieser Teil der Menschheit Religionen anhängt, die nur im Irrtum sind. Die Position des radikalen Exklusivismus ist für jede Religion - gleich welche ihn vertritt - problematisch, weil auch der radikale Exklusivismus die Theodizee und damit die Glaubwürdigkeit der Existenz Gottes in Frage stellt. Der Exklusivismus, dass nur eine Religion die wahre ist, vermag nicht die Frage zu beantworten, warum alle anderen Religionen im Irrtum sind. Beide Lösungen, der radikale Inklusivismus und der radikale Exklusivismus, sind ganz offensichtlich mit der Güte Gottes kaum zu vereinbaren und daher unglaubwürdig. Unabhängig von politischen Konflikten werden die Religionen daher durch die zunehmende Wahrnehmung ihrer Pluralität in der Welt vor die zunächst ganz innerreligiöse, theologische und philosophische Aufgabe gestellt, ihr Verhältnis zu einander, zu ihrem jeweiligen Anspruch, Offenbarung Gottes zu sein, zu reflektieren und annehmbare Lösungen ihrer Koexistenz und ihrer konfligierenden Ansprüche zu finden, jeweils wahre Offenbarung zu sein. Dies ist ein theologisch-philosophisches Problem, das mit politischen Dingen noch nichts zu tun hat. Es entsteht einfach aus dem Zweifel, der dem Angehörigen jeder Religion angesichts der Tatsache kommen muss, dass die Nachbar- oder die ferneren Religionen unterschiedliche Dinge mit Wahrheitsanspruch lehren. Deshalb ist auch die Begegnung völlig unterschiedlicher Religionen im Allgemeinen als ein Schock von den Menschen empfunden worden. Wir wissen, um ein Beispiel zu geben, dass das Aufkommen der ersten Quelle über die zarathustrische Religion in Europa im 18. Jahrhundert, die erste französische Übersetzung des Zend Avesta in Europa zu einer schweren intellektuellen Krise der christlichen Religion geführt hat, weil zum ersten mal ein Buch von höchstem spekulativen theologischen und philosophischen Niveau über eine ganz fern liegende neue asiatische Religion bekannt wurde. Natürlich wusste man vom Zarathustrianismus schon vorher, aber man kannte ihn nicht genau. Die ver-
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schiedensten Philosophen und Theologen in ganz Europa reagierten auf diese Herausforderung im 18. Jahrhundert mit der Integration zarathustrischer Gedanken in die europäische Philosophie. Der interreligöse Dialog hat zunächst die theologisch-philosophische Seite auf der theoretischen Ebene, wie man mit einander widersprechenden Aussagen umgeht, also die Aussage etwa, dass Christus der Sohn Gottes und seine volle Inkarnation und Offenbarung ist, die mit der Aussage des Islam, dass nur ein Gott ist, der nicht trinitarisch verfasst ist, prima facie nicht zu vereinbaren ist. Man muss einen großen und zweifelhaften theologischen Aufwand treiben, um zu einer Vereinbarkeit beider Aussagen zu kommen.2 Es bleibt doch die Spannung der Unvereinbarkeit der christlichen und der islamischen Deutung der Person Christi. In einer Welt, in der die Begegnung mit dem Andersgläubigen zwangsläufig zunimmt, kann man dem theologisch-philosophischen Problem der widersprüchlichen Offenbarungen der Weltreligionen nicht ausweichen. 1. Geographische Segregation der Weltreligionen als Lösung ihres Konflikts? Die geschichtlichen Erfahrungen Europas mit dem Problem des Aufeinanderstoßens verschiedener Religionen im selben Staatsgebiet gehen auf die konfessionellen Konflikte in Europa zurück. Wenn man sich die Lösung ansieht, die das Problem der unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen nach der Reformation in Deutschland gefunden hat, erkennt man, dass man versucht hat, das Problem, dass man nicht mehr miteinander leben konnte, dadurch zu lösen, dass man sich aus dem Weg gegangen ist, was dadurch erreicht wurde, dass man bestimmte Gegenden bestimmten Konfessionen zugeschrieben hat. Man führte das Prinzip cuius regio eius religio, Wessen die Gegend, dessen ist die Religion, ein. Das ist zunächst eine ganz unspekulative, untheologische und unphilosophische Lösung. Man beschloss, weil man keine Lösung des theologisch-philosophischen Streites fand und die Wahrheitsfrage nicht entscheiden konnte: Nach den langen Streitigkeiten bleibt uns nur die Möglichkeit, einander aus dem Weg zu gehen, was nur dadurch möglich ist, dass eine Gegend evangelisch, eine andere Gegend katho2
Anawati (1987: 207 f.) beschreibt die Position der Maximalisten des Verhältnisses von Christentum und Islam, die davon ausgehen, dass der „Koran Wort Gottes (und) daher (auch) für die Christen verbindlich ist. (…) Von diesem Ismaael also würden die Araber abstammen und Mohammed wäre ein von Gott gesandter Prophet der gekommen ist, um in einer besonderen Weise den Monotheismus zu bekräftigen und den Kindern Hagars die ihnen verwehrte Verheißung und die ihnen verweigerte Bevorzugung (vgl. Gen 17) wieder zurückzugeben“.
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lisch ist. Derjenige, der darüber entscheidet, welches Gebiet wem zugeschlagen wird, ist der Landesfürst. An dieser Lösung ist interessant, dass sie immerhin den Konflikt entschärft hat – allerdings mit hohen Kosten. Man muss nun die Frage stellen, ob ein solches Prinzip der regionalen Segregation heute eine Möglichkeit für das Verhältnis der Weltreligionen ist. Man könnte ja sagen, wenn es zwischen Islam und Christentum immer zu Konflikten und Schwierigkeiten kommt, entscheidet man, dass diese Gegend islamisch ist und jene christlich. Dies wäre durchaus eine Möglichkeit. Es ist sofort erkennbar, dass die Lösung der regionalen Segregation gebunden ist an ein obrigkeitsstaatliches Regiment: Der Fürst hat in früheren Zeiten entschieden, welcher Religion seine Region ist. Unter demokratischen Gesichtspunkten ist dies nur unter Verletzung des Minderheitenschutzes möglich, weil die Minderheit sagen wird – angenommen es gibt eine Religion in der Mehrheit und die andere ist in der Minderheit –: „Wir sehen das nicht ein, dass wir aus religiösen Gründen hier in den Nachbarlandkreis, in den nächsten Kanton oder gar in die nächste Weltgegend gehen sollen“. Man muss vermuten, dass es in einer Demokratie nicht einfach sein wird, die Segregation nach Religionen geographisch vorzunehmen. Andererseits tun sich demokratische Länder häufig gerade wegen des Mehrheitsprinzips schwerer als monarchisch regierte, gemischtreligiöse Regionen zu akzeptieren, weil das Mehrheitsprinzip es erlaubt, Reinheit durchzusetzen. Die Erfahrung zeigt, dass die Demokratie uns nicht vor ethnisch-religiösen Säuberungen bewahrt. Im früheren Jugoslawien führten formell demokratische Verhältnisse dazu, dass die Mehrheiten sagten, hier sind wir jetzt nur noch orthodox oder hier sind wir nur noch islamisch, und die anderen müssen gehen. Die Demokratie – obwohl man das hoffen sollte – schützt nicht aus ihr selbst heraus vor dieser Lösung. Also kann auch demokratisch dieses Prinzip der religiösen oder konfessionellen Segregation herbeigeführt werden. Um eine Anekdote zu geben: Es gab einen katholischen Edelmann in Maryland in den USA, der protestantische Flüchtlinge aufnahm. Nach einer Weile wurden es so viele, dass sie die Mehrheit bekamen, worauf sie dann erst einmal alle Papisten – wie man sie dann nannte – aus dieser Gegend vertrieben. (Es gibt sicherlich auch den umgekehrten Fall). Die Entscheidung, religiöse Homogenität in einem Landstrich zu schaffen, scheint nicht zu funktionieren, weil die religiöse Minderheit zu Recht sagen kann: „Ihr könnt nicht von uns verlangen, dass wir aus religiösen Gründen Eure Gegend von uns säubern.“ Das cuius regio eius religio ist keine Lösung für demokratische Verhältnisse. Es setzt voraus, dass die Obrigkeit entscheidet, welche Religion in einem Territorium die gültige ist. Es steht mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit und dem Prinzip des Minderheitenschutzes im Gegensatz.
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Die Schärfe, die der konfessionelle Konflikt in der Geschichte Europas annahm, ist heute kaum noch nachvollziehbar. Immerhin hat selbst G. W. F. Hegel noch, als er nach Bamberg ging, geschrieben, dass er nun in ein Gebiet der anderen Religion ziehe. Er ging als Protestant in eine katholische Gegend und sprach von einem „Land der anderen Religion“. Das zeigt, dass die Konfessionen im konfessionellen Zeitalter ebenso trennend angesehen wurden wie heute die großen Religionen, vielleicht noch trennender als das heute bei den verschiedenen Religionen aufgrund der Säkularisierung der Gesellschaften der Fall ist. 2. Offenbarung Die Religionen werden in ihrem Kern durch Offenbarung bestimmt. Die Offenbarung ist die Bedingung dafür, dass Retribution nach dem Tode denkbar ist und dass damit Kontingenzbewältigung, die wir als die zentrale Aufgabe der Religion aufgewiesen haben, möglich ist. Gleichzeitig ist der Anspruch jeder Religion, Offenbarung Gottes zu sein, der Ursprung ihrer Konflikte. Das TheodizeeArgument, dass keine der großen Weltreligionen ganz falsch sein kann, relativiert theologisch und philosophisch den Alleinvertretungsanspruch jeder Religion. Das politische Argument, dass in einer Gesellschaft, in der verschiedene Religionen miteinander konkurrieren, der Staat eine berechtigte Forderung an die Religionen richtet, ihre Konflikte zu begrenzen, relativiert politisch ihren religiösen Alleinvertretungsanspruch. Dieses zweite politische Argument wird häufig mit dem Säkularisierungsargument gleichgesetzt, dass der säkulare Staat die Religionen auf den Verzicht auf Offenbarungsansprüche verpflichte. Diese Gleichsetzung ist nicht überzeugend. Der strikt religiös neutrale Staat muss auch noch gegenüber der Alternative Säkularismus – Religion neutral sein. Er vertritt nicht Säkularisierung im Sinne des Verdrängens der Religion, sondern weltanschauliche Neutralität gegenüber den Religionen und gegenüber dem Agnostizismus oder Atheismus. Er nimmt keine Bevorzugung des Agnostizismus vor und hat auch kein Interesse an der Verdrängung der Religion aus der Gesellschaft.3 3
Tilman Nagel (2002) vertritt die Ansicht, dass der Islam seinen Überlegenheitsanspruch aufgeben und das säkulare Staatsverständnis Europas übernehmen müsse. Das erstere ist aber nicht wahr wegen des Säkularismus, sondern weil die Religionen mit der Tatsache fertig werden müssen, dass auch die anderen Religionen beanspruchen, Offenbarung zu sein. Der moderne Staat ist auch nicht säkular, sondern weltanschaulich neutral. In Frankreich ist der Staat in der Tradition des Jakobinismus säkular und anti-religiös, in Deutschland ist er jedoch weltanschaulich neutral und orientiert sich am Modell der Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften.
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Das Argument von der Faktizität der Pluralität der Offenbarungen der Religionen und das Argument vom Interesse des Staates bleiben den Religionen äußerlich. Beide Argumente sind negativ: Die Pluralität verbietet es, nur eine Offenbarung in der Welt gelten zu lassen, der innere Frieden des Staates verbietet es, dass sich der Staat eine oder mehre Religionen zu eigen macht. Wenn man nun fragt, ob es über diese negativen Argumente zur Begrenzung von Absolutheitsansprüchen der Offenbarungsreligionen philosophische und theologische Argumente für eine solche Begrenzung gibt, wird man auf die Philosophie gewiesen. Ein Beispiel aus der deutschen Philosophiegeschichte wurde bereits angeführt, der Versuch einer philosophischen Deutung der Religion im Deutschen Idealismus als Versuch, die konfessionellen Differenzen innerhalb des Christentums durch die Rückführung auf eine ihnen gemeinsame Philosophie der Offenbarung zu überwinden. Einen sehr viel früheren philosophischen Versuch, die Differenzen der Religionen zu überwinden, bildeten in der Antike der Gnostizismus und die Theosophie. In der Spätantike fragte man sich, was man angesichts der vielen verschiedenen Religionen und Kulte, die im Römischen Reich miteinander konkurrierten, zur Friedenssicherung unter den Religionen tun könne. Man suchte die Lösung darin, das ihnen allen Gemeinsame in einem Synkretismus zu finden, der Elemente der verschiedenen Religionen zusammenführte. Das nannte man dann Theosophie als Gottesweisheit also nicht Religion im Sinne von Offenbarungsreligion. Man versuchte vom Offenbarungsbegriff wegzukommen, weil dieser als partikular galt, und hinzukommen zu einer Weisheitslehre, einer Sophia, die über den dogmatischen Offenbarungsreligionen steht. Der radikale Synkretismus hat sich nicht bewährt, weil er gerade die Stärke der Offenbarungsreligion, die Geschlossenheit ihrer Lehre als Offenbarung, aufgeben und daher ein Kunstgebilde bleiben musste. Im 19. Jahrhundert ist der Begriff der Theosophie noch mal aufgenommen worden in der Theosophischen Gesellschaft. Das Interessante an dieser Gesellschaft ist ihr Motto: „Keine Religion steht über der Wahrheit“. Wenn man sich den Satz anschaut, erscheint er zunächst als recht plausibel. Es kann nichts wahrer sein als die Wahrheit, es kann keine Religion über der Wahrheit stehen. Wenn man den Satz jedoch weiter analysiert, wird sofort deutlich, dass damit der Anspruch erhoben wird, man wüsste, dass die Wahrheit außerhalb der Aussagen steht, die von den Religionen gemacht werden. Das würde dann im Umkehrschluss bedeuten, dass diese Theosophische Gesellschaft die Wahrheit kennt und weiß, dass sie über den Religionen steht. Dies kann nicht richtig sein, weil dann die Theosophie eine Art Super-Religion wäre, die noch mehr weiß als die Offenbarungsreligionen, nämlich vielleicht nicht die ganze Wahrheit, aber doch die Wahrheit, dass die Wahrheit über den Offenbarungsreligionen steht. Dies ist aber
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etwas, das man nicht wissen kann. Man kann wissen, dass wenn Gott existiert, nicht alle Religionen falsch sein können und in allen, die sehr lange gewährt und viele Menschen umfasst haben, etwas Richtiges sein muss. Deshalb ist die Lösung einer Theosophie, die über den Religionen und in Äquidistanz zu ihnen die Wahrheit im Eklektizismus und Synkretismus hat, nicht möglich. Die Theosophische Gesellschaft, die in Madras in Indien domiziliert, versuchte, eine Harmonisierung der Ansprüche der Religionen zu denken, indem sie das Problem der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, als ein Gemeinsames der Religionen zu verstehen suchte, als ein Gemeinsames des Christentums und der indischen Religionen, weil sich auch die „Trinität des Hinduismus“ – Shiwa, Brahman oder Vishnu – im menschlichen Wesen inkarniert. Die Gesellschaft ging soweit, dass sie einen jungen Krishna mit Namen Murti als eine Wiedergeburt Christi ausrief. Interessanterweise war dies der Punkt, an dem sich das Mitglied der Theosophischen Gesellschaft Rudolph Steiner, der Begründer der Anthroposophie, von ihr trennte, weil er sagte: Die Gemeinsamkeit der Religionen suche ich auch, aber die Annahme, dass dieser Junge als die Wiedergeburt Christi im Sinne einer neuen Inkarnation ausgerufen wird, geht mir zu weit. Steiner hat daraufhin die Theosophische Gesellschaft verlassen und die Anthroposophische Gesellschaft gegründet, die wie schon ihr Name sagt, in Bezug auf die Weisheit als Menschenweisheit bescheidener war als die Gottesweisheit. Wenn man sich den Versuch des theosophischen Synkretismus ansieht, so scheidet er aus den genannten Gründen aus. Gleichwohl ist das Problem, wie man damit umgeht, dass es die Behauptung verschiedener Inkarnationen Gottes in den Weltreligionen gibt, zentral. Im Christentum steht bei Paulus die Aussage, dass Gott in Christus nur einmal Mensch geworden und für unsere Sünden gestorben ist (Eph‘ hapax). Nimmt man diesen Satz in dem Sinne, dass Gott nur in Christus Mensch geworden ist, würde er sofort einen exklusivistischen Anspruch des Christentums begründen, dass es eben nur eine Inkarnation Gottes in der Geschichte gegeben hat. Die Einzigkeit der Inkarnation Gottes in Christus in dieser Schärfe zu behaupten, würde alle Wahrheitsansprüche des Hinduismus ausschließen. Man muss überlegen, ob Paulus wirklich mit diesem Satz meinte, dass es keine anderen möglichen Inkarnationen Gottes in anderen Epochen und in anderen Weltgegenden gegeben habe und geben könne? Gegen eine solche These von der Absolutheit des Christentums spricht ein theologisches und philosophisches Argument. Eine Religion kann über die ihr gemachte Offenbarung hinaus nicht ausschließen, dass Gott auch noch andere Offenbarungen seiner selbst an die Menschheit an anderen Orten und zu anderen Zeiten gemacht hat, weil die Freiheit Gottes in der Geschichte über dem steht, was aus der Logik der Theologie für sein geschichtliches Handeln zu folgern
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oder zu fordern wäre. Das Gegenteil, nämlich aus der Perspektive einer Religion zu behaupten, er könne sich nur in ihr offenbart haben, hieße Gott Vorschriften zu machen, wie er sich zu offenbaren hat. Die Faktizität der Religionen steht hier über dem Interesse einer Religion an Einzigkeit und Abschluss der Offenbarung Gottes. Auch philosophisch kann nicht aus einer Menge von Sätzen über die Onto-Logik und die Natur des Absoluten gefolgert werden, dass dem Christentum Absolutheit im philosophischen Sinne zukomme, dass nur es allein mit einer rationalen Philosophie vereinbar sei. Diese Verwechslung seiner eigenen Logik mit der Logik Gottes und derjenigen seines Geschichtshandelns ist Hegel und seiner These von der Absolutheit des Christentums unterlaufen. Kardinal Kasper schreibt zutreffend, „dass die Rede von der Absolutheit des Christentums nicht zum traditionellen theologischen Wortschatz gehört“ (Kasper 1987: 122). Angesichts der Absolutheit Gottes die Absolutheit einer geschichtlichen Religion zu behaupten, ist unangemessen und folgt aus Hegels Tendenz, seinen philosophischen Begriff des Christentums über dessen geschichtliches Selbstverständnis als Offenbarungsreligion zu setzen. Die Lehre des Paulus, dass Christus nur einmal Mensch geworden ist, zielte primär auf Lehren, welche die Ansicht vertraten, dass die Geschichte wiederkehrt in großen Zyklen und dass Christus in jedem solchen Großzyklus für die Menschheit erneut am Kreuz sterben würde. Eine solche Lehre findet sich später bei Origenes und wurde von der Kirche als häretisch abgelehnt. Diese christlichhäretische Lehre, dass Christus immer wieder in Zyklen der Kosmosgeschichte am Kreuz stirbt, ist von der Lehre, dass es auch in anderen Weltgegenden Ereignisse und Religionen von authentischer Offenbarung Gottes geben kann, deutlich unterschieden. Sie nimmt eine zyklische Wiederholung des Zentralereignisses der Inkarnation an, die deren singulärer Heilsbedeutung widerspricht. Die Aussage des Paulus zielt daher auf die Singularität, Einmaligkeit und Zentralität des Ereignisses am Kreuz, das sich als es selbst eben nicht wiederholt, nicht aber auf eine Ausschließung anderer Offenbarungen Gottes. Literatur Anawati, Georges C. (1987): Christentum und Islam. Ihr Verhältnis aus christlicher Sicht. In: Bsteh 1987: 197-216. Bsteh, Andreas (1987) (Hrsg.): Dialog aus der Mitte christlicher Theologie. Mödling. Kasper, Walter (1987): Das Christentum im Gespräch mit den Religionen. In: Bsteh 1987: 105-130. Koslowski, Peter (2002): Philosophie der Weltreligionen als Philosophie der Offenbarungen. In: ders. (Hrsg.): Philosophischer Dialog der Religionen statt Zusammenstoß der Kulturen im Prozess der Globalisierung. München, 237-283. Nagel, Tilman (2002): Die Heilsbotschaft als Machtpolitik. Die islamische Verknüpfung von Glaube und Staat. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 51, 2./3. März, Beilage Literatur und Kunst, 49-50.
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Es ist eine historische und eine empirische Frage, ob eine Religion friedensfähig und friedensstiftend ist. Eine Antwort auf diese Frage ist schwer zu geben. Selbst zeitlich und regional begrenzte Untersuchungen, wie etwa die Evaluation der Mediationsprojekte der „World Conference on Religion and Peace“ in BosnienHerzegowina (Wettach 2006) oder die Frage, welche Rolle die religiöse Identität für die drei Millionen Einwohner Kapstadts spielt (Bekker/Leildé 2004), zeigen, dass neben den komplexen Datenerhebungsprozessen die Frage, mit welchem Konzept von Religion gearbeitet wird, eine bedeutende Rolle spielt. Sowohl in Bosnien-Herzegowina als auch in Kapstadt kamen die Religionsforscher übrigens zu dem Ergebnis, dass die Bereitschaft der muslimischen Bevölkerung hoch ist, religiöse Pluralität produktiv zu verarbeiten und einen eigenen Beitrag zum Aufbau des Gemeinwesens zu leisten. Dieses Ergebnis halten die Forscher deshalb für relevant, weil es der häufig publizierten Meinung in den westlichen Gesellschaften widerspricht, der Islam neige zu anti-westlichem Fundamentalismus. So rasch man sich darauf verständigen kann, dass eine seriöse Religionsforschung historisch und/oder empirisch verfahren sollte, so bleibt doch der Sachverhalt bestehen, dass historisch und empirisch ungeprüfte Diskurse und Narrative über die Religion sowohl im Wissenschaftsdiskurs als auch im kollektiven Bewusstsein einer Gesellschaft eine Rolle spielen. Auch die Konzepte der Empiriker und Historiker sind von solchen Narrativen nicht frei. Und so bleibt die kritische Auseinandersetzung mit ihnen eine bleibende Aufgabe der Religionsforschung. Gingen die klassischen Modernisierungstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts davon aus, dass die Religion ein passives Opfer von Säkularisierungs- und Globalisierungsprozessen sei, so mehren sich die Stimmen, die Religion als selbständigen Akteur in diesen Prozessen verstehen. Religionen modernisieren sich selbst und beeinflussen als solche auch andere gesellschaftliche Akteure. Robert N. Bellah (1967) wollte mit seiner Zivilreligionstheorie auf diesen Sachverhalt aufmerksam machen. Trotz der Trennung von Staat und Kirche gebe es
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auch in der Neuzeit einen engen kommunikativen Zusammenhang zwischen Politik und Religion. Zumindest für die USA sei dieser Zusammenhang zu belegen. Die Rezeptionsbedingungen für Bellahs Theorie waren aber ungünstig. In den Sozial- und Politikwissenschaften der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sah man Religion nicht als einen unabhängigen Faktor, sondern als ein von der Politik je und je instrumentalisierbares soziales Kapital. Und so befürchteten die einen, dass eine Zivilreligionstheorie die Resakralisierung der Politik befördern würde, und die anderen befürchteten die politische Instrumentalisierung von Religion. Unter dem Einfluss der augustinischen Bestimmung des Verhältnisses von „civitas Dei“ und „civitas terrena“ hat sich in der politischen Kultur der westlichen Christenheit die Idee einer das politische Gemeinwesen umfassenden Zivilreligion nicht entwickeln können. Vielmehr schien die Spannung zwischen Sacerdotium und Imperium den politischen Frieden hinreichend garantieren zu können. Das änderte sich nach der konfessionellen Spaltung. Unter dem Einfluss der Konfessionskriege entwickelte sich ein Diskurs über Zivilreligion, der die Privatisierung des Konfessionellen und eine Einheit und Frieden stiftende Zivilreligion zum Inhalt hatte. Wenn auch eine Zivilreligion etwa im Sinne eines Jean-Jacques Rousseau nie politische Wirklichkeit wurde, so bleibt doch zu konstatieren, dass die westlichen Nationalstaaten zunehmend die Rolle von „Pastoralmächten“ übernahmen. Sie vermochten damit innenpolitisch durchaus disziplinierende und also auch friedensstiftende Wirkungen zu erzielen, das Konfliktpotential einer Zivilreligion, die zur Zeit unter dem Banner westlicher Werte einen Krieg gegen den islamistischen Terror führt, ist aber ausgesprochen hoch. In diesem Essay wird deshalb in Anlehnung an Michel Foucault argumentiert, dass jenseits von Zivilreligion der politische Diskurs über Wahrheit, Freiheit und Gouvernementalität die beste Gewähr für den Frieden bietet. Dass dieser Diskurs nicht gegen und nicht ohne die religiösen Traditionen des Westens entstanden ist, soll im Folgenden gezeigt werden. 1. Die Unterscheidung von Politik und Religion als Erbe des Christentums. Aurelius Augustinus als Beispiel Aurelius Augustinus (354-430) hat die Strukturen der spätantiken Zivilreligion analysiert und kritisiert. Augustin trägt seine Kritik an der römischen Zivilreligion in der Auseinandersetzung mit Markus Varros Antiquitatum rerum divinarum libri vor. Varro hatte vorgeschlagen, drei Arten von Theologien zu unterscheiden: die fabulierende Theologie der Dichter, die Göttermythen tradiert und erfindet, die natürliche Theologie der Philosophen, die die letzten Fragen nach dem
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Woher und dem Wohin des Menschen erforscht und die Ziviltheologie, die der Pflege des Staatskultes dient. Augustinus unterzieht Varros Religionstheorie einer radikalen Religionskritik. Mit ihm ist er sich zunächst einig, dass die „mythische“ Art des Theologietreibens, wie sie die Dichter und Theaterdramaturgen pflegen, zwar das Unterhaltungsbedürfnis der Bevölkerung befriedigt, mit einer ernsthaften theologischen Reflexion aber wenig zu tun hat. Die Übereinstimmung zwischen Varro und Augustinus endet aber bereits bei der Frage, wie viel Öffentlichkeit man der philosophischen Theologie zugestehen darf. Weil Augustinus die philosophische Theologie für die wertvollste hält, wirft er Varro vor, gerade diese der Öffentlichkeit vorenthalten zu wollen: „Doch hielt er diese Art vom Markte, also vom Volke fern und schloss sie hinter Wänden in den Schulen ein. Dagegen die erste, so lügenhafte und schändliche, hat er der Öffentlichkeit nicht entzogen. O diese frommen Ohren des Volks, auch des römischen! Was die Philosophen über die Unsterblichen disputieren, können sie nicht vertragen. Aber was die Dichter singen und die Schauspieler darstellen, Fabeleien, die dem Wesen und der Würde der Unsterblichen widersprechen, […] vertragen sie nicht nur, sondern hören es mit Vergnügen“ (Augustinus 1978: 293).
Noch misstrauischer macht Augustinus Varros Unterscheidung von philosophischer – in der Terminologie der Antike: natürlicher – und ziviler Religion. „Es ist ja klar, weshalb die fabulierende Art abgesondert werden muss, weil sie falsch, schändlich und unwürdig ist. Sondert man aber auch die natürliche von der zivilen ab, gesteht man dann nicht ein, dass auch letztere lügnerisch ist? Denn wenn jene natürlich ist, was gibt es dann an ihr auszusetzen, dass man sie ausschließen müsste? Wenn aber die sogenannte zivile nicht natürlich ist, worin besteht dann ihr Wert, dass man gerade sie zulässt?“ (293).
Mit aufklärerischem Pathos will er diese Verschleierungstaktik aufdecken. Wer zwischen einer philosophischen Theologie, die nach der Wahrheit fragt, und einer Zivilreligion unterscheide, der habe die philosophische Frage nach der Wahrheit bereits der politischen Instrumentalisierung geopfert. Nicht nur die fabulierende, auch die zivile Theologie sei einem wahrheitsliebenden, mithin philosophisch denkenden Menschen nicht zuzumuten. „Beide sind schändlich, beide verdammlich, aber die eine, die Theologie des Theaters stellt Schändlichkeit zur Schau, die andere, die städtische, schmückt sich mit der Schande der ersten“ (296). Und als hätte Augustinus die mediale Inszenierung von Politik im Auge, die offenbar in der Spätantike ebenso üblich war wie heute am Beginn des dritten Jahrtausends, stellt er fest: „Es besteht also eine enge Beziehung zwischen der staatlichen Theologie und der Fabel-, Theater- und Bühnen-Theologie“ (298). Augustinus sah wohl das Dilemma der staatstragenden Intellektuellen, die Religion für sich selbst ablehnten, sie aus Staatsraison aber für unentbehrlich hielten: „Denn die scharfsinnigen und gelehrten Männer, die hierüber schrieben,
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sahen wohl, dass beide, sowohl die fabulierende als auch die zivile, nichts taugten, wagten aber nur jene, nicht auch diese zu missbilligen“ (303). Demgegenüber stellt Augustinus lakonisch fest: „Die zivile und die fabulierende Theologie fabulieren beide und sind beide staatlich“ (303). Eine Zivilreligion, die die Philosophie fürchtet, ist für Augustinus Beihilfe zur Superstition und Betrug des Staates an seinen Bürgern. Augustinus’ Kritik an der Instrumentalisierung der Religion für staatspolitische Zwecke ist heute Allgemeingut. Lediglich Diktaturen können sich noch zivilreligiöse Inszenierungen erlauben, die sich der Wahrheitsfrage entziehen. Spannend ist freilich die Frage, ob Augustins eigene Verhältnisbestimmung von Religion und Politik überzeugen kann. Noch völlig ohne die Inanspruchnahme christlichen Gedankengutes bestimmt Augustinus in Anlehnung an Cicero den Staat als „Volkssache“ und interpretiert Cicero weiter: „Unter ,Volk‘ aber versteht er nicht jede beliebige Ansammlung einer Menschenmenge, sondern eine Ansammlung, die durch Rechtsgleichheit und gemeinsamen Wohlfahrtszweck verbunden ist“ (92). Dem neuzeitlichen Staatsgedanken nicht unähnlich führt Augustinus weiter aus: „Wo demnach keine wahre Gerechtigkeit ist, da kann es auch keine durch Rechtsgleichheit verbundene Menschengemeinschaft geben, also nach Scipios und Ciceros Definition auch kein Volk. Wenn aber kein Volk, dann auch keine Volkssache, sondern nur Sache einer Menge, die den Namen Volk nicht verdient. Darum, wenn der Staat Volkssache ist und ein Volk durch Rechtsgleichheit verbunden sein muss, Recht aber nicht sein kann, wo keine Gerechtigkeit ist, ergibt sich unweigerlich der Schluss: Wo keine Gerechtigkeit, da auch kein Staat“ (567).
Umgekehrt gilt dann: „Was anderes sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden?“ (173). Und worin liegt der Mehrwert des Gottesstaates gegenüber den irdischen Staaten? Augustins Konstruktion der Differenz zwischen menschlichem und göttlichem Staat liegt nicht das Konstruktionsprinzip des „ganz Anderen“, sondern das Konstruktionsprinzip des Überbietens zugrunde: Wenn Gott trotz der Sünde des Menschen bereits den weltlichen Staat so gut eingerichtet hat und noch erhält, um wie viel mehr wird der Gottessaat ein Reich unendlichen Genusses sein. Damit das Überbietungsparadigma greift, muss Augustinus gegen den Platonismus darauf bestehen, dass Gott diese Schöpfung einschließlich der Leiblichkeit und der Sozialität des menschlichen Lebens für gut befunden hat. Mit der ersten Sünde hat der Mensch nicht Gott beleidigt, sondern sich selbst geschadet. Seitdem spürt er die Spannung zwischen der Realität seines Lebens und einem Leben, wie es sein könnte. Er sehnt sich nach einem glückseligen Leben und leidet unter der Not seines realen Lebens. Die beiden Staaten sind „in dieser Weltzeit ineinander verworren und miteinander vermischt“ (530 f.). Solange die Pilgerschaft der Christen hin zum Gottes-
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staat anhält, haben sie sich auch um den irdischen Frieden zu kümmern. Weil aber himmlischer Friede nichts anderes ist als „die bestgeordnete, einträchtigste Gemeinschaft des Gottesgenusses und wechselseitigen Genusses in Gott“ (563), kann die himmlische Ordnung als Vorbild und Modell politischer Praxis dienen. Gerechtigkeit und allgemeine Wohlfahrt, Friedenssicherung und Förderung eines allgemeinen Wohlwollens sind genuine Aufgaben auch des irdischen Staates. Niemand kann vollends sicher sein, ob er Bürger des Gottesstaates oder des weltlichen Staates ist. Im Zustand der Vermischung gehört es zu den Aufgaben der Christen, an einem Gemeinwesen mitzuarbeiten, das der Analogie zum Gottesstaat würdig ist. An einer Zivilreligion, die Gott instrumentalisiert und Nützlichkeit höher schätzt als Wahrheit, können sich Christen nicht beteiligen. Denn auch der irdische Staat muss sich an der Vision vom Gottesstaat messen lassen, an der Vision von einem Reich ewigen Friedens, ewiger Gerechtigkeit, ewiger Wahrheit und ewigen wechselseitigen Genusses. Die Götter der römischen Zivilreligion sind Götter von Gnaden der Menschen. Sie sind ohnmächtig. Die christliche Vision aber vom kommenden Gott, der seinen Staat aufrichten wird, erschien Augustinus auch politisch ungleich kraftvoller zu sein. 2. Zivilreligion als integraler Bestandteil der Macht des Souveräns. Thomas Hobbes’ Leviathan als Beispiel Die mittelalterliche Kirche transformierte Augustins Modell der Pilgerschaft in ein ekklesiokratisches Modell der Überlegenheit der Kirche über den Staat. Mit den Religionskriegen hatte dieses Modell aber seine Plausibilität verloren. Die Reformatoren entdeckten die selbständige religiöse Würde des politischen Gemeinwesens wieder. In Luthers reformatorischen Frühschriften lässt sich noch ein an Augustinus erinnerndes Spannungsverhältnis des freien Christenmenschen ausmachen, der ein freier Herr über alle Dinge und als solcher ein dienstbarer Knecht aller sei. Thomas Hobbes hingegen gesteht dem religiösen Individuum diese Freiheit nicht mehr zu. Eine Berufung auf das Gewissen hält Hobbes für nicht zulässig. „Denn das Gesetz ist das öffentliche Gewissen […]. Andernfalls muss es notwendigerweise geschehen, dass bei solcher Vielzahl privater Gewissen, die nur private Meinungen sind, das Gemeinwesen in Aufruhr gebracht wird und niemand wagt, der souveränen Macht weiter zu gehorchen, als es ihm in seinen eigenen Augen gut scheint“ (Hobbes 1996: 274).
In seinem Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil aus dem Jahre 1651, der als Grundlage der politischen Philosophie der Neuzeit gilt, entwickelt Hobbes ein Modell politischer Souveränität,
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das auf einer Vertragsidee aufruht. Joachim J. Krause (2005) hat freilich darauf aufmerksam gemacht, dass Hobbes nicht den Begriff „contract“, sondern den Begriff „covenant“ gebraucht. Hobbes habe seinen Gesellschaftsvertrag in Analogie zur alttestamentlichen Tradition des Bundesschlusses des Volkes Israel mit JHWH konzipiert. Welche weiteren religiösen Legitimationsmuster verwendet Hobbes? Bemühte sich Augustinus, das Politische politisch und gerade nicht zivilreligiös zu begründen, so weist bereits die Hobbes’sche Benennung des Gemeinwesens als „sterblicher Gott“, „dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und unsere Sicherheit verdanken“ (Hobbes 1996: 145), darauf hin, dass ihm an einer zivilreligiösen Begründung des Politischen gelegen ist. Die zivilreligiöse Begründung der Macht des Souveräns hält er schon deshalb für nötig, weil ohne die Kenntnis der göttlichen Gesetze niemand weiß, „wenn ihm etwas von der Staatsmacht befohlen wird, ob es Gottes Gebot widerspricht oder nicht; und so verstößt er entweder durch allzu viel staatsbürgerlichen Gehorsam gegen die göttliche Majestät, oder er übertritt aus Furcht, gegen Gott zu verstoßen, die Gebote des Gemeinwesens“ (300). Wie es nur ein Königreich Gottes und von diesem abgeleitet nur einen Souverän gibt, so soll auch die öffentliche Verehrung Gottes einheitlich sein (311).1 Hobbes bemüht sich, die Gefährdung des Gemeinwesens durch Berufung auf eigene religiöse Gründe zu minimieren. Da es neben der Evidenz der Offenbarung Gottes in den Naturgesetzen lediglich die Offenbarung Gottes in den biblischen Wunderberichten von den Propheten und Jesu Christi gebe, heute aber keine Wunder mehr geschähen, sei allein eine sorgfältige Auslegung der Heiligen Schrift imstande, die Weisungen Gottes, die über die Naturgesetze hinausgehen, zu erkunden. Nach Hobbes’scher Exegese gelte es wieder in Erinnerung zu rufen, dass die Rede vom Königreich Gottes in der Heiligen Schrift keineswegs metaphorisch sei. „Umgekehrt stelle ich fest, dass das Königreich Gottes an den meisten Stellen der Schrift ein Königreich im eigentlichen Sinne bezeichnet, errichtet durch die Stimmen des Volkes Israel auf besondere Art, wobei sie Gott durch den mit ihm geschlossenen Bund zu ihrem König wählten, aufgrund dessen, dass Gott ihnen den Besitz des Landes Kanaan verhieß“ (345).
In einer beeindruckenden Exegese von Ex 19, 5 will Hobbes zeigen, dass zwar die gesamte Menschheit qua Naturgesetz Gott untertan ist, dass es das Volk Israel aber auf besondere Weise ist. „Alle Völker der Welt sind mein, aber ihr 1
Hobbes fährt an dieser Stelle fort: „Und wo viele Arten von Verehrung zugelassen sind, die den verschiedenen Religionen von Privatpersonen entstammen, kann man daher nicht sagen, daß es dort eine öffentliche Verehrung gäbe oder daß das Gemeinwesen überhaupt eine Religion hätte.“
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seid mein auf besondere Weise; denn sie sind mein aufgrund meiner Macht, aber ihr sollt mein sein durch eure Zustimmung und den Bund […]“ (347). Mit der Aufrichtung eines eigenen Königtums habe Israel freilich den Bund gebrochen und erst Jesus habe das Königreich, das einst von Moses dem Volk offenbart worden war, wiederhergestellt. Den Anspruch der Kirche, Statthalterin des kommenden Reiches Gottes zu sein, weist Hobbes zurück. Kirche ist für ihn vielmehr „eine Gemeinschaft von Menschen, die sich zur christlichen Religion bekennen, vereint in der Person des Souveräns, auf dessen Befehl sie sich versammeln und ohne dessen Ermächtigung sie sich nicht versammeln sollten“ (394). Wie Moses der Souverän über das Volk Israel war, so hat der heutige Souverän die Macht auch über den religiösen Bereich des Gemeinwesens. Und so gilt: „Aus dieser Vereinigung des politischen und kirchlichen Rechts in christlichen Souveränen geht klar hervor, dass sie jederlei Macht über ihre Untertanen haben, die einem Menschen zur Lenkung der äußeren Handlungen der Menschen sowohl in der Politik wie in der Religion verliehen werden kann, und dass sie Gesetze erlassen können, die sie selbst am geeignetsten zur Beherrschung ihrer Untertanen dünken, insoweit sie das Gemeinwesen, wie auch insoweit sie die Kirche sind, denn Staat wie Kirche sind dieselben Menschen“ (462).
Weder eine eschatologische Spannung zwischen dem Reich Gottes und den Reichen der Welt noch die Unterscheidung zwischen Sacerdotium und Imperium will Hobbes zulassen. Weltliche und geistliche Macht liegen beim Souverän. Mit dieser Integration des Religiösen in das Politische steht Hobbes nicht allein. Von Baruch Spinoza über Hugo Grotius bis hin zu Jean-Jacques Rousseau lässt sich dieser Strang einer vorneuzeitlichen Zivilreligionstheorie verfolgen. 3. Die Pastoralmacht des neuzeitlichen Staates. Michel Foucaults Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Moderne Die gängigen Definitionen des Verhältnisses von Politik und Religion in der Neuzeit werden von Michel Foucault gründlich in Frage gestellt. So fasst er Säkularisierung nicht als Trennung von Staat und Kirche, sondern als Ausweitung der pastoralen Praktiken des Staates. Dass seit der Aufklärung der Mensch im Mittelpunkt steht, hält er weniger für eine Befreiung der Anthropologie von der Theologie als vielmehr für ein Moment moderner Biopolitik und deshalb propagiert er das Programm einer Dezentrierung des Subjektes. Freuds Triebtheorie und die sozialpsychologische These vom Zusammenhang zwischen Triebverzicht und Gewalt hält er für falsch und zeigt, dass der moderne Staat das Begehren nicht unterdrückt, sondern bewirtschaftet.
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Foucault unterscheidet drei Formen der Macht: die juridisch codierte Souveränitätsmacht des Staates, die Disziplinarmacht gesellschaftlicher Institutionen und die Bio-Macht. Foucault macht einen Mentalitätenwandel in der frühen Neuzeit für die Entstehung der Bio-Macht verantwortlich. War die Macht des Herrschers bis dahin die Macht, den Untertanen das Leben nehmen zu können, so beginnen die Regierenden im 17. Jahrhundert systematisch das Leben der Untertanen zu verwalten, zu sichern, zu entwickeln und zu bewirtschaften. „Im Gegensatz zur Souveränitätsmacht, die sterben macht und leben lässt, lässt die neue Macht sterben und macht leben. Aus der Macht über den Tod wird eine Macht über das Leben, eine Bio-Macht, die es weniger mit Rechtssubjekten als mit Lebewesen zu tun hat“ (Lemke 1997: 135). Die Polizei, die im 17. Jahrhundert entsteht, erhält nicht nur hoheitliche Aufgaben, sie strebt nach geordneten Lebensverhältnissen. Der Code „Recht/Unrecht“ wird vom Code „Normal/Anormal“ überlagert. Es entsteht eine Normalisierungsgesellschaft, die nicht mehr straft, foltert oder tötet, sondern die die Lebewesen normiert und normalisiert. Das Biologische wird Staatsinteresse. Mit dem Begriff der „gouvernementalité“ versucht Foucault, den Zusammenhang von politischem Regieren und Selbstregierung zu erfassen. Ein Blick in die Begriffsgeschichte zeigt ihm, dass der Begriff „Gouvernement“ erst im 18. Jahrhundert zu einem politischen Begriff wurde. Bis dahin gab es eine Vielfalt von Bedeutungen. Vom „gouvernement de soi“, der Selbstregierung, über der Leitung der Familie durch den Familienvater bis hin zur Führung der Seelen durch den Priester wurde der Begriff des „gouvernements“ gebraucht. Der Begriff der „gouvernementalité“ wird für Foucault zu einem Schlüsselbegriff, weil er daran zeigen kann, wie der Staat der Neuzeit nicht nur die Sicherung des Territoriums und die Aufrechterhaltung des Rechts zu seiner Angelegenheit macht, sondern die Organisation der Lebensführung überhaupt in seine Hände nimmt. In der frühen Neuzeit entsteht die Pastoralmacht des Staates und sie wird institutionell und strukturell zunehmend ausgebaut.2 Dazu muss der Staat eine Institution entmachten, der bis dahin zumindest die Führung der Seelen anvertraut war: die Kirchen. Säkularisierung in Foucaults Perspektive ist also nicht die schiedlich friedliche Trennung von Kirche und Staat oder gar die Befreiung des Menschen von der finsteren Macht der Kirche. 2
Ganz auf der Linie der Perspektive Foucaults hat Alexis de Tocqueville diesen Prozess zu Beginn des 19. Jahrhunderts so beschrieben: „Ich scheue mich auch nicht zu behaupten, dass in fast allen christlichen Völkern der Gegenwart […] die Religion in die Hände der Regierung zu fallen droht. Nicht dass die Herrscher sehr darauf erpicht wären, selber das Dogma festzulegen; sie bemächtigen sich aber mehr und mehr des Willens dessen, der es erläutert: sie […] brauchen den Einfluss, den der Priester besitzt, zu ihrem alleinigen Vorteil; sie machen aus ihm einen ihrer Beamten und oft einen ihrer Diener und dringen mit ihm ins tiefste Seeleninnere jedes Menschen ein“; zitiert nach Lemke 1997: 151.
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Vielmehr kopiert und nostrifiziert der Staat das, was früher kirchliche Domäne war. Der Staat selbst übernimmt die Pastoralmacht im Lande. So dumm war der neuzeitliche Staat jedenfalls nicht, dass er seine Existenz von Voraussetzungen abhängig gemacht hätte, die er selbst nicht garantieren konnte. Auch durch unablässiges Zitieren kommt dieser Satz über den Status eines frommen Wunsches nicht hinaus. Die Geschichte des Begriffs des „gouvernements“ führt Foucault also zu einer entscheidenden Einsicht: Gouvernementalität kann sowohl Formen der Selbstregierung wie solche der Regierung eines Gemeinwesens unter eine Perspektive bringen. Im Privaten wie im Öffentlichen wird regiert; an Gouvernementalität sind Politik, Familien und Religion gleichermaßen interessiert. Auf jeden Fall gilt: Die Wiege der westlichen Idee von Politik als Führung des Menschen ist die Fortführung des christlichen Pastorats. Charakteristisch für das Pastorat ist das Versprechen des Heils, die Aufrichtung eines göttlichen Gesetzes und – für die Entstehung moderner Subjektivität am wichtigsten – der Wille zur Wahrheit durch die auf Dauer gestellte Selbsterforschung. Die pastoralen Führungstechniken haben Subjektivierungsformen aufgebaut, an die der moderne Staat anknüpfen konnte. Heil und göttliches Gesetz konnten leicht in Wohlstand und Recht transformiert werden. Bio-Macht und Pastoralmacht verstärkten einander. Mit der Rede von der Pastoralmacht ist nicht gemeint, dass sich der moderne Staat theologisch-kosmologisch begründet. Der Staat der frühen Neuzeit begründet sich bekanntlich emphatisch selbst: es gilt die Staatsraison. Die Regierungskunst rekurriert auf eine autonome politische Rationalität. Ist für die im 17. Jahrhundert entstandene ‚Sekte der Politiker‘, wie Foucault sie nennt, die Staatsraison oberste Richtschnur, so beruft sich die im 18. Jahrhundert neu entstandene Gruppe der Ökonomen auf die Eigengesetzlichkeit der ökonomischen Vernunft. Diese entdecken das Begehren der Menschen als schier unendliche Ressource. Dieses macht sie für ökonomische Machttechniken durchlässig. Das Gouvernement der politischen Ökonomie unterscheidet sich vom alten Modell des Regierens. Das alte wollte dem Begehren Grenzen setzen, das neue setzt das Begehren strategisch ein. Die Ökonomen wollen nicht Grenzen setzen, sie fragen: Was kann das Begehren stimulieren, vorantreiben und vervielfachen? Der Liberalismus schließlich führt ein kritisches Prinzip ein. Das Ziel des Staates liegt nicht mehr in ihm selbst, sondern in der Gewährleistung von Gesellschaft. Die Rationalität des Regierens muss mit der Rationalität des freien Handelns der Subjekte zusammenstimmen. Der Staat gibt der Ökonomie nicht mehr sein Gesetz vor, sondern regiert nach den Gesetzen der Ökonomie – freilich mit dem Effekt, dass der Wohlstand der Bevölkerung zum Gradmesser für den Er-
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folg der Regierungskunst der Regierenden wird. Sie werden tendenziell zu Renten-, Sozial- und Gesundheitsversicherungsvertretern. Nicht mehr die Legitimität, sondern die soziale Sicherheit ist der Ort der politischen Wahrheit. Mit dem ökonomische Sicherheit garantierenden Sozialstaat werden zwar auch heute noch Wahlkämpfe geführt, es gab für Foucault aber bereits Ende der 1970er Jahre genügend Hinweise darauf, dass eine neue Regierungsform ihren Siegeszug schon angetreten hat. Foucault zeigt am amerikanischen Neoliberalismus, dass die Ökonomisierung des Sozialen neue Formen des Regierens generiert hat. Der Neoliberalismus ist kein Rückfall in frühkapitalistische Verhältnisse. Er zielt vielmehr darauf, die Individuen dazu zu bewegen, ihrer eigenen Existenz eine unternehmerische Form zu geben. Jeder ist eine „Ich-AG“. Der Staat zieht sich aus der Regelung der ökonomischen und sozialen Probleme zurück und weist die Verantwortung für individuelle Lebensrisiken dem Einzelnen zu. Weder autoritäre Repression noch wohlfahrtsstaatliche Intervention ist das Prinzip neoliberaler Gouvernementalität, sondern der Appell an die Selbstregierungsfähigkeiten der Subjekte. Nicht mehr nur das Begehren, sondern auch die Selbstbestimmung wird zu einer ökonomischen Ressource. Wenn die neue Form von Gouvernementalität in der Aktivierung von Selbstregierungstechniken besteht, wenn also das selbst bestimmte Individuum damit rechnen muss, von der neuen neoliberalen Regierungskunst bereits kolonialisiert zu sein, wenn die Selbsttechniken der Subjekte nur noch Imitate von medial verbreiteten Technologien des Selbst sind, dann stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten der Zurückweisung dieser Zumutungen, wenn man so will, welche Widerstandspotentiale dem an Selbstregierung interessierten Subjekt eigentlich noch bleiben? 4. Parrhesia und Selbstregierung als kritische Momente einer politischen Ethik Macht wirkt im privaten wie im öffentlichen Raum. Der Ausgangspunkt für Machtanalysen darf dann aber nicht bei den politischen Institutionen gewählt werden, sondern er muss seinen Ausgang bei den Individuen, genauer: bei der Freiheit der Individuen nehmen. „Wenn Sie also versuchen, die Macht zu analysieren und nicht von der Freiheit, den Strategien und der Gouvernementalität [des Einzelnen] ausgehen, sondern von den politischen Institutionen, dann können Sie das Subjekt nur als Rechtssubjekt in den Blick bekommen. […] Umgekehrt erlaubt der Begriff der Gouvernementalität, die Freiheit des Subjektes wertzuschätzen sowie den Bezug zu den anderen, d. h. genau zu den Themen, die die Ethik konstituieren“ (Foucault 2001: 1548).
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Die Beziehung von Ethik und Freiheit bestimmt Foucault so: „Freiheit ist die ontologische Basis der Ethik. Und Ethik ist die reflektierte Form der Freiheit“ (1531). Freiheit ist aber nicht nur die Basis der Ethik, sie ist auch die ontologische Basis der Macht, genauer: der Beziehungen der Macht. „Ich benutze das Wort Macht nicht mehr. […] Ich verwende nur noch: ‚die Beziehungen der Macht‘. […] Wenn man von Macht spricht, dann denken die Leute sofort an eine politische Struktur, eine Regierung, eine dominante soziale Klasse, den Herrn gegenüber dem Knecht. Das ist ganz und gar nicht das, woran ich denke, wenn ich von Machtbeziehungen spreche“ (1538 f.).
Vielmehr gilt: „In den menschlichen Beziehungen, welcher Art sie auch immer sein mögen, […] ist die Macht immer präsent: ich meine damit eine Beziehung, in der einer versucht, die Lebensführung des anderen zu dirigieren“ (1539). Beziehungen der Macht als der Versuch, die Lebensführung anderer zu führen, gibt es überall, wo Menschen interagieren. „Diese Machtbeziehungen sind mobile Beziehungen, d. h. solche, die sich modifizieren können, solche, die nicht ein für alle mal gegeben sind“ (1539). Machtbeziehungen kann es aber nur in dem Maße geben, wie die Menschen frei sind. „Diese Machtbeziehungen sind also mobil, reversibel und instabil. Man muss auch im Auge behalten, dass es Machtbeziehungen nur in dem Maße geben kann, in dem Menschen frei sind. Wäre einer der beiden vollkommen zur Disposition des anderen […], dann gäbe es keine Machtbeziehungen. Um eine Machtbeziehung auszuführen, braucht es also auf beiden Seiten immer eine gewisse Form der Freiheit. […] Das heißt, dass es in den Machtbeziehungen in forcierter Weise die Möglichkeit des Widerstandes gibt, denn gäbe es keine Möglichkeit des Widerstandes – des gewaltsamen Widerstandes, des Widerstandes der Flucht, der List, der Strategien, die die Lage umkehren –, dann gäbe es überhaupt keine Machtbeziehungen“ (1539).
Das ist zwar ein Zirkelschluss, gleichwohl wird Foucaults Anliegen deutlich. Freiheit und Widerstand sind Momente der Macht, nicht ihr Anderes. „Ich weigere mich auf die Frage zu antworten, die mir manchmal gestellt wird: ‚Aber wenn die Macht überall ist, dann gibt es keine Freiheit‘. Ich antworte: ‚Wenn es Machtbeziehungen gibt […], dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt‘“(1539). Das politische Problem sind nicht die Machtbeziehungen („relations de pouvoir“), sondern die Zustände der Herrschaft („états de domination“); Strukturen also, die das freie Spiel der Machtbeziehungen fixieren und Freiheit limitieren. Das Verhältnis der Geschlechter dient Foucault als Beispiel: Erst mit der Befreiung der Frauen aus Zuständen der Herrschaft sind Machtspiele zwischen Männern und Frauen möglich, die als Gebrauch der eigenen Freiheit gelten können und deren Ausgang offen ist. Die gängige Perspektive auf Macht als etwas Negativem weist Foucault zurück. Er wählt die Pädagogik als Beispiel:
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Rolf Schieder „Ich sehe nicht, wo das Schlechte in der Praktik von jemandem liegt, der, unter den Bedingungen eines gegebenen Wahrheitsspiels, mehr weiß als ein anderer, diesem sagt, was er falsch macht, ihn lehrt, ihm ein Wissen vermittelt, ihm Techniken kommuniziert. Das Problem ist vielmehr, herauszufinden, wie man in diesen Praktiken, […] Effekten der Herrschaft, entkommt“ (1546).
Freiheitspädagogik als Unterscheidungslehre zwischen Macht und Herrschaft! Die Einsicht in den Zusammenhang von Macht und Wissen, von savoir und pouvoir, impliziert als normativen Hintergrund eben gerade nicht, dass die Macht abgeschafft gehört. Sie ist zunächst einfach zu konstatieren. Richard Rorty hat offenbar nicht gründlich genug gelesen, wenn er behauptet: „Die Allgegenwart der Foucaultschen Macht erinnert an die des Satans und damit an die der Erbsünde – den teuflischen Fleck auf jeder menschlichen Seele“ (Rorty 1999: 92). Foucaults Interesse an der Analyse von Machtwirkungen denunziert die Freiheit nicht, sondern ist Freiheit im Vollzug. Einen bloß negativen Bezug auf Macht sieht Foucault auch bei Habermas gegeben. Deshalb wendet er kritisch ein: „Das heißt genau nicht zu sehen, dass die Machtbeziehungen nichts Schlechtes an sich sind […]; ich glaube, dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, wenn man sie als Strategien versteht, durch die Individuen versuchen, die Lebensführung anderer zu führen und zu bestimmen. Das Problem ist also nicht, zu versuchen, diese in die Utopie einer vollkommen transparenten Kommunikation aufzulösen, sondern sich Regeln des Rechts, Techniken der Verwaltung und der Moral zu geben, ein Ethos, eine Selbstpraktik, die es erlauben, diese Machtspiele mit dem möglichsten Minimum an Herrschaft zu spielen“ (2001: 1546).
Foucault stellt also Macht und Herrschaft nicht einfach abstrakt einander gegenüber. Vielmehr versucht er politische, soziale und individuelle Bedingungen zu benennen, unter denen Herrschaft minimiert werden kann. Während in den Machtbeziehungen der eine versucht, den anderen zu beeinflussen, und der andere möglicherweise darauf antwortet, indem er sich gerade nicht beeinflussen lässt, oder seinerseits auf die Lebensführung des anderen Einfluss nehmen will, haben wir es bei den „états de domination“ mit Strukturen zu tun, die Machtbeziehungen sistieren wollen. Zwischen dem Fluidum der Machtbeziehungen und den sistierten Zuständen der Herrschaft identifiziert Foucault die gouvernementalen Techniken. „Mir scheint, dass man unterscheiden muss zwischen Beziehungen der Macht als strategische Spiele zwischen Freiheiten [...] und den Zuständen der Herrschaft, die das sind, was man gemeinhin Macht nennt. Und zwischen den beiden […] haben Sie die gouvernementalen Technologien […] das ist ebenso die Weise, wie man seine Frau, seine Kinder regiert wie die Art und Weise, wie man eine Institution führt. Die Analyse dieser Techniken ist wichtig, denn sehr häufig etablieren und erhalten sich durch diese Techniken die Zustände der Herrschaft. In meiner Machtanalyse gibt es diese drei Niveaus: die strategischen Beziehungen, die Techniken der Regierung und die Zustände der Herrschaft“ (1547).
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Sind die Machtstrategien für Foucault durchaus positiv konnotiert und die Zustände der Herrschaft eher negativ, so können die Techniken der Gouvernementalität ihre Wirkungen nach der einen wie nach der anderen Seite entfalten. Die Techniken der Gouvernementalität ebenso wie die Strategien der Beeinflussung und selbst die Herrschaftsstrukturen stehen in der westlichen Kultur unter dem Imperativ, ihre Wahrheit zu erweisen. Wenn es denn ein Erbe des Christentums gibt, das tief in den neuzeitlichen diskursiven Praktiken verankert ist, dann ist es die Aufforderung, die Wahrheit herauszufinden und sie zu sagen: die Wahrheit über sich selbst und die Wahrheit über Gott und die Welt. „Das ist tatsächlich ein Problem: Warum eigentlich die Wahrheit? Und warum sorgt man sich um die Wahrheit – übrigens mehr als um sich selbst? Und warum sorgt man sich um sich nur durch die Sorge um die Wahrheit? Ich glaube man rührt hier an eine Frage, die fundamental ist und die die Frage des Westens ist: was hat dafür gesorgt, dass die ganze westliche Kultur angefangen hat, sich um diese Obligation zur Wahrheit zu drehen […]?“ (1542).
Welche Praktiken haben also diesen Zwang zur Wahrheit generiert? Wie haben wir gelernt, Wahrheitsspiele zu spielen? Die Rede von „Spielen der Wahrheit“ impliziert übrigens keine Unernsthaftigkeit. Foucault will damit nur deutlich machen, dass das, was in einer Epoche als wahr gilt, nicht einfach gegeben ist, sondern das Ergebnis von Spielen – im Sinne von geregelten Auseinandersetzungen – ist, bei denen es Gewinner und Verlierer gibt. Die Wahrheit setzt sich historisch gesehen nicht durch, weil sie wahr ist, sondern weil bestimmte diskursive Formationen zu einer bestimmten Zeit dominieren. Der Zwang, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden, ist bereits für die antike Kultur belegt. „Erkenne dich selbst“ hieß da die Aufforderung. Das Christentum hat den Wahrheitsdiskurs aber verschärft. Im Lichte der göttlichen Wahrheit soll sich der Christ erkennen. Die Methoden der Introspektion wurden immer mehr verfeinert – allerdings ging damit nicht unbedingt eine Ermutigung zur Selbstsorge, sondern auch ein auf Dauer gestelltes Misstrauen gegen sich selbst einher, das leicht für die Stabilisierung von Herrschaftszuständen genutzt werden konnte. Der Bezug auf Wahrheit hat aber nicht nur – wie es die Ideologiekritik will – verschleiernde Effekte. Sie besitzt ein befreiendes Potential. Ohne Wahrheitsspiele gäbe es keine Hochschätzung der Wissenschaften. Freundschaft ist ohne Wahrheit nicht denkbar: „Man braucht einen Führer, einen Ratgeber, einen Freund, jemanden, der einem die Wahrheit sagt“ (1534). Vor allem aber: Ohne die hohe Akzeptanz der Wahrheit gäbe es auch kein Recht der Regierten, den Regierenden die Wahrheit zu sagen. Drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Subjekte wahrheitsfähig sind. Sie müssen frei sein, sie müssen sich auf vorgängige Wahrheitsfindungsre-
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geln verständigt haben und sie müssen bestimmte Praktiken der Selbstregierung und der Einflussnahme auf andere erlernt haben, um an den Spielen der Wahrheit teilnehmen zu können – mit anderen Worten, sie müssen machtfähig sein, um wahrheitsfähig werden zu können. Die Form des Die-Wahrheit-Sagens, die Herrschaftszustände verflüssigt und neue Lagen entstehen lässt, nennt Foucault „Parrhesia“. Parrhesia und Spiritualität gehören zusammen. Mit Freimut die Wahrheit sagen kann nur, wer sich selbst gegenüber nicht nur wahrhaftig ist, sondern wer an seiner Selbstregierung arbeitet. „Unter Spiritualität verstehe ich […] das, was sich präzise auf den Zugang des Subjektes zu einer Seinsweise und zu Transformationen bezieht, die das Subjekt selbst vollziehen muss, um diese Seinsweise zu erreichen“ (1541). Spiritualität ist also eine gesteigerte Form Gouvernementalität seiner selbst, die durchaus auch Machtwirkungen auf andere haben kann. 5. Wahrheit und Zivilreligion Die Forderungen, sich selbst zu regieren und die Wahrheit zu sagen, hält Foucault für die beiden wirksamsten Imperative, die Antike und Christentum der gegenwärtigen Kultur des Westens hinterlassen haben. Ihnen entkommt auch die Zivilreligion nicht. Darauf hatte bereits Aurelius Augustinus aufmerksam gemacht. Ein Gemeinwesen mag über eine noch so ausgefeilte Zivilreligion verfügen: Wenn sie allgemeinen Wahrheitsansprüchen nicht mehr genügt, dann wird sie keinen Bestand haben können. George W. Bush macht diese Erfahrung in diesen Tagen, wo die Existenz geheimer CIA-Gefängnisse ans Licht kommt und wo er sich selbst von so engen Verbündeten wie den Deutschen sagen lassen muss, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt. Die Doppelstrategie amerikanischer Außenpolitik des „liberate and liberalize“, also die Strategie der politischen Befreiung bei gleichzeitiger Liberalisierung der Märkte zum Wohle der Ökonomie in den USA wird sich auf Dauer nicht mehr als Demokratiebeglückungsprogramm darstellen lassen. Es ist noch kein Antiamerikanismus, wenn man mit leidlich guter Beobachtungsgabe und wachem Verstand wahrnimmt, dass der „American Dream“ in den USA selbst zwar noch eine hinreichend hohe Attraktivität genießt, dass aber die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Zivilreligion nachhaltig erschüttert ist und für viele Menschen außerhalb der USA der amerikanische Traum zu einem Alptraum geworden ist. Mit Freimut diese Wahrheit auszusprechen, dient dem Frieden mehr als ängstliche Bündnistreue.
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Literatur Aurelius Augustinus (21978): Vom Gottesstaat. Buch 1-10, übersetzt von Wilhelm Thimme, erläutert von Carl Andresen. Bd. 1. Zürich/München. Bekker, Simon/Leildé, Anne (2004): Faith in Cape Town: Identity, Cooperation and Conflict. No. 6 Monograph Series Cape Town: Institute for Justice and Reconciliation. Bellah, Robert N. (1967): Civil Religion in America. In: Daedalus 96: 1-21. Foucault, Michel (2001): L’éthique du souci de soi comme pratique de la liberté (1984). In: ders., Dits et écrits. Bd. 2. Paris: 1527-1549 (dt.: Frankfurt a. M. 2002). Hobbes, Thomas (1996): Leviathan. Aus dem Englischen übertragen von Jutta Schlösser, herausgegeben von Hermann Klenner. Hamburg. Krause‚ Joachim J. (2005): Der Bund im Alten Testament und bei Hobbes. Eine Perspektive auf den Leviathan. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2005: 9-39. Lemke, Thomas (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Berlin/Hamburg. Rorty, Richard (1999): Stolz auf unser Land. Frankfurt a. M. Wettach, Tanja (2006): Interreligiöse Kooperation und Konflikttransformation. Die Effektivität interreligiöser Konfliktmediationsprojekte analysiert am Beispiel der WCRP-Initiative in Bosnien-Herzegowina. Unveröffentlichte Dissertation.
Christus – Stein des Anstoßes: Über „kulturelle Friedfertigkeiten“ jenseits von Siegerlogiken in Religion und Politik Kerstin Kellermann
1. Was ist fragwürdig? Der nachstehende Beitrag ist im Rahmen Politischer Kulturforschung als eher ungewöhnlicher Versuch einer disziplinenübergreifenden Besinnung auf elementare Voraussetzungen für friedfertiges Denken und Handeln zu lesen. Methodologisch bedeutet dies in Anlehnung an Eric Voegelin formuliert (Voegelin 1981: 130 ff.) eine Erkundung der meditativen Ursprünge philosophischen Ordnungswissens des bewusst handelnden Menschen. Die Grenzen zwischen Politischer Philosophie, Geschichtshermeneutik und Theologie werden in dem Bemühen überschritten, der geistigen Verfasstheit und seelischen Verfassung von Leistungsgesellschaften in der Moderne auf den Grund zu gehen. Das abendländische Erbe ist in seiner gewaltigen Ambivalenz äußerst umstritten und fordert uns direkt und indirekt zu einem friedfertigen Umgang mit Macht und Ohnmacht auf. Wie kann es in theoria cum praxi in Europa so angenommen und gewandelt werden, dass es seine Erben vertraut macht mit den dringlichen Aufgaben konsequenter Friedensarbeit? Denn einem vor allem auf antiken und ursprünglich-christlichen Traditionen fußendem Verständnis menschenwürdigen Lebens, mit dem sich unverzichtbare Forderungen nach einer Wahrhaftigkeit der Lebensführung verbinden, stehen bis heute in Religion und Politik gewaltsam verteidigte Postulate von absoluten Herrschaftsansprüchen gegenüber, die sich über den (vermeintlichen) Wissensbesitz oder über die totale Nihilierung von „Wahrheit“ legitimieren. Als eine der Hauptursachen für eine lebensverächtliche Wechselwirksamkeit der Sphären „Politik“ und „Religion“ kann insbesondere für die letzten drei Jahrhunderte in Europa die Wirkmächtigkeit egozentrischer Siegerrationalitäten ausgemacht werden. Diese prägen auch noch die Leistungsgesellschaften und Konsumentendemokratien der Gegenwart (vgl. Kellermann 2005, 43 ff.).
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Vor diesem zwielichtigen Hintergrund der Verheißungen und Verkehrungen von wahrhaftigen Freiheits- und Gerechtigkeitsforderungen ergibt sich um so mehr die Notwendigkeit authentischer, individuell verantworteter Lebensweisen. Sie geht im Rahmen dieses Beitrages mit der Spurensuche nach einer sozialengagierten Spiritualität einher. „Spiritualität“ wird in Abgrenzung zu religionsdogmatischen Glaubensformen anhand von konkreten Beispielen als „religiösexistentielle Lebensgrundhaltung“ und „erkenntniswillige Religiosität“ im Sinne einer „individuellen Sinnträgerschaft“ qualifiziert werden. – Wie können gesellschaftlich Räume für eine dialogisch-schöpferische Gemeinschaftlichkeit eröffnet und offengehalten werden? – Wie können hierbei christlich-tradierte Spiritualia neu aufgelesen und verkörpert werden, dass von ihnen für eine Welt der Menschwerdung des Menschen befreiende und befriedende Impulse ausgehen – solche, die in konzentrischen Kreisen seiner familiären, lokalen, regionalen, nationalen und globalen Schicksalsgemeinschaften fortwirken? Wenn eine dauerhafte Befriedung wirklich gewollt wird, gilt es die politischsystemische Ebene eines Lösungsmanagements von Konflikten bei weitem zu überschreiten – gerade weil die Verhältnisse hypertrophierender Leistungsgesellschaften angesichts der Herausforderungen der Globalisierung in nahezu allen Lebensbereichen überspannt, unbefriedet sind. Deshalb nehmen die Überlegungen ihren Ausgang von der Frage nach der persönlich-sinnbezeugenden Handlungsfähigkeit und -möglichkeit der Mitglieder spätmoderner Gesellschaften. Eingedenk des dramatischen Spannungsverhältnisses zwischen ursprünglich christlicher Friedensbotschaft und konfliktprovozierenden Absolutheitsansprüchen eines klerikalisierten Christentums beinhaltet dies notwendig eine Verwindung und Überwindung sowohl der künstlichen Grenzziehungen zwischen den Sphären des Religiösen und des Politischen als auch ihrer unseligen Verstrickungen. Angesichts einer nahezu unüberschaubaren Fülle an neuesten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Themenfeld „Religion und Politik“ ist auffällig, dass diejenigen Publikationen bei weitem überwiegen, welche sich mit den konfliktprovozierenden Potentialen von „Religion“ beschäftigen und dies vornehmlich mit Blick auf die institutionellen Dimensionen von „Religion“ als historisch gewachsener Deutungsinstanz und als gesellschaftlicher Machtfaktor („Kirche“, „Konfession“ u. ä) tun. Fragen nach der religio des Menschen aber, nach der Ursprünglichkeit und Bestimmtheit seines Lebens sowie die Weisen, in denen er darauf Antwort gibt, verweisen weit darüber hinaus auf das Phänomen der Religiosität als ein unhin-
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tergehbares Existenzial des Menschen. Eine Mißachtung der Ursprungsreligiosität in anthropologischer Auslegung kommt demnach der Preisgabe einer jeglichen Erfüllungsdimension menschlicher Bedürftigkeit nach Sinn und Kontinuität im Ringen um das, was bleibt, gleich. Dies gilt auch für die in platonischer Tradition stehende Ursprungsfrage des Politischen in den soziomoralischen, wirtschaftlichen etc. Anstrengungen für eine Ordnung, die Menschen befähigt, sich und anderen in lebendiger Gemeinschaft gerecht zu werden. Diese schließt die dauerhafte Förderung eines Gemeinwesens mit ein, das sich auf möglichst friedlichen Wegen – gerade in allem beschwerlichen und schicksalhaften Wandel der geschichtlichen Herausforderungen – zu erhalten weiß. 2. Ein Anfang … Bedingungen und Chancen für politisches Denken und Handeln als kultureller Friedfertigkeit zu erforschen, heißt folglich zugleich, die religiös-existentiellen Gründe der Freiheit zu entdecken. Auf einen wahrhaftig gemeinten und gelebten, auf einen illusionslosen Frieden können wir uns nur ganz aus freiem Willen täglich neu zubewegen. Entsprechend kann jede ernsthafte Suche nach den Ursachen lebensbedrohlicher Pathologien in den Leistungsgesellschaften der Gegenwart und jeder glaubwürdige Versuch, Schritt für Schritt aus unbefriedeten Verhältnissen herauszugehen, nur mit dem Naheliegendsten beginnen: mit uns selbst. Philosophisch gesehen ist der Krieg überhaupt kein Problem. Alles, was uns problematisch erscheint, resultiert aus der einen ebenso machtvollen wie widersprüchlichen Phänomenalität „Mensch“, aus der Tatsache, dass der Mensch „ungeheuerlich“ ist – daimonós heißt es in dem bekannten Chorgesang der Antigone des griechischen Dichters Sophokles. Unberechenbar und unbeherrscht – wir sagen: „von allen guten Geistern verlassen“ – können wir uns bis zur Zerstörung gegen uns selbst richten, unsere eigene Menschlichkeit zu Grunde richten. Wir tun dies gerade dann, wenn wir sie im Spiegel eines vermeintlich anderen missachten und gewaltsam leugnen, über den/die wir uns in irgendeiner Weise erheben. Aber dies ist nicht das erste und es ist nicht das letzte Wort vom Menschen. Denn wann immer Menschen sich und anderen in Wort und Tat Zwang und Gewalt antun, sind sie nicht in derjenigen fraglosen Lebensbejahung einer versöhnlichen Lebensmitte gegenwärtig, in der sie auch sein könnten. Glücklicherweise sprechen mannigfaltigste Zeugnisse quer durch alle Zeiten und Kulturen über uns auch eine ganz andere Sprache. Es gehört tief greifender zu unserem
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Seinsvermögen, wohlwollend-entschieden, liebevoll und freigiebig im weitgehend friedlichen Miteinander leben zu können. Unzählige bemühen sich trotz aller zum Teil erdrückenden Beschwernis kriegerischer oder katastrophaler Verhältnisse um ein wirkliches Füreinander. Dieses kann sich nicht anders begründen und entfalten, denn im Sinne einer qualitativen Einheit in der Vielfalt, eines vielgestaltigen Lebenswandels aus dem einigenden Grunde der gemeinsamen Würde unseres Menschseins heraus, die uns niemand – außer wir uns je selbst – rauben kann. Sie eröffnet uns inmitten einer Welt der inneren und äußeren Zerissenheiten immer wieder Wege in eine neue Mitteilsamkeit und kann uns eine schöpferische, konkret-alltägliche Vermittlungskraft verleihen. Wenn wir aber offenkundig jederzeit mit unserer Unmenschlichkeit, mit unserem Hang zur Selbstentwürdigung und Selbstzerstörung rechnen müssen – woran können und dürfen wir uns angesichts unserer Entscheidungsnöte und unserer Handlungshemmnisse halten? Welche vernünftigen und glaubwürdigen Antworten können wir aus unseren europäischen Traditionen heraus hierauf geben? Wie verwahren wir uns vor illusionärem „Sicherheitsdenken“ und vor den subtilen Täuschungsmanövern eines letztlich unbarmherzigen Willens zur Macht, der systematisch über Herrschaftsrationalitäten und Leistungskategorien u. a. in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Forschung und Bildung virulent ist? „,Wer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: Was sollen wir tun? und: wie sollen wir unser Leben einrichten?‘ oder in der (…) hier gebrauchten Sprache: ,welchem der kämpfenden Götter sollen wir dienen? oder vielleicht einem ganz anderen, und wer ist das?‘ – dann ist zu sagen: Nur ein Prophet oder ein Heiland“ (Weber 1951: 593). Max Weber formulierte seine Rede in einem zwar von Zweifeln heimgesuchten, doch letztlich verteidigten Glauben an die Ordnungsmächtigkeit moderner Rationalität (politisch gesprochen: des Nationalstaatlichen). Allerdings ist ausgehend vom europäischen Kontinent unter ihrer Vorherrschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts weltweit offenkundig geworden, dass die intrinsische Funktionalität ihrer verabsolutierenden Formen an Welt- und Selbstbildern von Misstrauen und Abspaltung, Konkurrenz, Befeindung und Befehdung „lebt“. Deshalb kann sie sich selbst in letzter Konsequenz nur in unversöhnlichen Realitäten reproduzieren, welche es darob systemimmanent (stillschweigend) zu erhalten gilt. Politische Geschichtshermeneutik, Philosophie und Bildung in der Intention, scheinbar unaufhebbar antagonistische Spaltungs- und Subsumptionslogiken aufzudecken und gleichartige Realitäten zu transformieren, führt uns vielmehr vor die Herausforderungen: Wie „besiegen“ wir eine besonders charakteristische Gefährdung „westlichen“ Denkens und Urteilens: die unterschwellige Zwanghaftigkeit, um jeden Preis obsiegen zu „müssen“ und dabei „Recht“, „Wahrheit“ und „Wissen“ tendenziell absolut und nach Möglichkeit gewinnbringend in Be-
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sitz nehmen zu wollen? Wer oder was befähigt uns dazu, klar Stellung zu beziehen gegen jede Form von lebensverächtlichem Treiben und Getrieben-Werden, ohne irgendeinem „der kämpfenden Götter“ einen Tribut zu zollen? Wer oder was stiftet in uns tatsächlich einen lauteren freien Willen, über die eigene Person und egoistische Anhaftungen an alles Nur-für-sich-Gewollte hinaus eine Willensgemeinschaft zu wollen, die mehr als nur ihren Selbsterhalt sucht? Die Verwirklichung des Menschlichsten in uns hängt nicht vom Begriff und von Forderungen einer absoluten Freiheit der Person beziehungsweise Autonomie ab, die sich nur in sich selbst oder in der permanenten Abgrenzung gegen andere erschöpfte, sondern von den freiheitlichen Schöpferkräften, die Sinn erzeugen, eine Notwendigkeit erkennen, eine Aufgabe ergreifen und sich hierin auf eine das Persönliche übersteigende Willenswirklichkeit richten. Jede wohlwollende Bezogenheit auf eine natürliche und soziale Gemeinschaft mit allem, was lebt, bedeutet eine Form geistiger Einigung des Einen mit dem Anderen. Ihre konkreten Übereinstimmungen erweisen sich im harmonikalen Sinne – jenseits monotoner Gleichförmigkeit – als sinnvoll und lebensförderlich. Gesellschaftlich gesprochen reifen Personen zu Persönlichkeiten, zu entschiedenen Menschen heran, je öfter sie freien Willens Einigkeit darüber erlangen, sich gegenseitig zu befördern in der Verwirklichung der Einzigartigkeit des Je-Menschlichen ihrer Existenz. Einheitsstiftende Kräfte, die aus sich heraus befriedend wirken, sind allesamt sympathetischer Natur. Sie begründen sich in der Wirklichkeitsmacht der Liebe. Menschliche Freiheit gebiert sich somit synergetisch und kreativ nur in der fortwährenden Selbsttranszendierung: in der Hingabe an die individuell-allgemeine Aufgabe des Einen Lebens. Die Rede von einer lebendigen Einheit in der Vielfalt ist in den Sozial- und Geisteswissenschaften längst zu einem Schlagwort geworden. „Zukunftsweisenden“, also visionären und prophetischen Sinn erhält der Ausdruck allerdings nur aus dem schöpferischen Urgrund einer solchen Transzendenz vollkommener Freigiebigkeit: aus der Liebe als voraussetzungslosem Urgrund der Seinsverwirklichung. Christlich gewendet ist in der Allheit Gottes der freie Geist in Wahrheit eins mit dem Sein der Liebe. Das Leben Jesu hat in der Bedingunglosigkeit Seiner gelebten Liebe eine Ihm ganz ureigene zeitüberlegene Ausstrahlungskraft. Im Christus-Glauben, im Christus-Bewusst-Sein lebt das Liebeswerk Jesu weiter als Verheißung der immer schon Hier und Jetzt möglichen Anteilhabe an einer vollendet friedfertigen Menschheit. Darauf verweist nicht zuletzt auch der Geist der Rede vom Einen Leib Christi und seinen vielen Gliedern. Im weihnachtlichen Gruß zur menschlichen Geburt des göttlichen Kindes „Friede der Erde“ (Lk 2,14) wird im christlichen Glauben die Frohe Botschaft der Gotteskindschaft aller Menschen gefeiert – wer sie für sich wie bewusst auch immer ergreifen mag.
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Das Evangelium ist in seinem geistigen Wesen nicht abhängig von den historischen Ausprägungen und Institutionalisierungen des Christentums (wenngleich es viele Mittel und Methoden seiner Verkündigung sehr wohl sind). Es bleibt vielmehr auf einer transzendenten Erfahrungs- und Bewusstseinsebene ursprünglich lebendig im Gedächtnis der Menschheit. Es offenbart sich Gläubigen immer wieder auf vielfältigste Weise unmittelbar; insbesondere Lebenszeugnisse von MystikerInnen geben hierüber Aufschluss (vgl. Institut für Spiritualität 2000: 25 ff. sowie Hense 1997). Häufig zeigen Transzendenzerfahrungen Menschen Übereinstimmungen von Lebensqualitäten auf, welche für das Alltagsbewusstsein paradox sind. So werden das ganzheitliche Erleben von Freiheit und das Wesen der Liebe ineins vernehmbar in der Anteilhabe am Mysterium höchster Freiheitsverwirklichung einer gänzlichen Hingabe seiner Selbst und Ahnungen desselben. In ihm ereignet sich unverlierbar und überpersönlich-persönlich erfahrbar erfülltes Leben – und sei es in einem Nu (vgl. Kellermann 2005: 123 ff.). So wirkt im lebendigen Glauben an den Christus, an die Menschwerdung Gottes der Frieden auf Erden. Er wächst als je individuelles Bewusstsein der Menschen für den gemeinsamen Urquell der Gabe ihres Lebens und der ihnen geschenkten Schöpferkraft in ihrem Sehnen nach Gemeinschaft. Die Politische Ideengeschichte Europas kann im Abglanz dessen gelesen werden als eine fortlaufende Chiffre für die Sehnsucht der Menschen nach einer gesellschaftlichen Realität, die durch eine universelle Idee des Friedens verbürgt werden könne. In dieser Hinsicht kann die Wirkmächtigkeit politischen Denkens in Europa wahrgenommen werden als die Dialektik von mehr oder weniger authentischen Versuchen, entweder dieser Idee zu entsprechen oder aber die Herkunft dieser Sehnsucht zu unterdrücken beziehungsweise sie mit trügerischen Ersatzleistungen zu befriedigen und vergessen zu machen. Letzteres spiegelt sich in dem Phänomen totalitärer Verkehrungen menschlicher Friedenshoffnungen wider, etwa in innenpolitisch erzwungenen Doktrinen von „Ruhe und Ordnung“ wie sie in Deutschland landläufig mit dem Gewaltregiment Hitlers konnotiert worden sind. In einer Synopse der letzten 2000 Jahre der Kulturgeschichte Europas wird deutlich, dass jedwedes Ringen um eine politische Vernunftbegründung einer Idee des universalen Friedens als einer übereinstimmenden Willensgemeinschaft von Freien in der einen oder anderen Weise anstößt an der Unverfügbarkeit ihrer spirituellen Ermöglichungsdimension. Sie ist der eigentliche Brennpunkt der Dialogik und Dramatik von Orient und Okzident. In multiversaler Wechselwirksamkeit haben sich Heilsverheißungen und Unheilsprojektionen in religionsstiftenden und religionssubstituierenden Phänomenen manifestiert, vornehmlich auf spirituellen, gnostischen, philosophischen und politischen Ebenen.
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So zeitigt sich die Beharrlichkeit und Virulenz des Christusbewusstseins insbesondere im Rahmen Politischer Ideengeschichte nicht selten darin, dass an Ihm fürchterlich Anstoß genommen wird. Aus religiös-existentieller Sicht haben bekanntlich Kierkegaard und Dostojewskij das „Ärgernis“ der ursprünglichchristlichen Freiheitsforderung und die zahlreichen Empörungen wider sie versucht in genialisch psychologischer Tiefenschärfe zu durchdringen (vgl. Žižek 2002). Es scheint, dass das Empörende die unerhörte Radikalität des Anrufs einer elementaren Befreiung zur Freiheit ist, welche nichts anderes als die Liebe zu leben fordert. Sie ist allzumal in den letzten drei Jahrhunderten Moderne unter dem Signum der Selbstbehauptungen einer extrem-emanzipativen Herrschaftsrationalität zu einem äußerst unbequemen Spiegel für das geworden, was eben auch, oder eigentlich menschenmöglich ist. Angesichts der Egozentrik in den Konsumentendemokratien unserer Tage kann es kaum verwundern, dass von friedliebenden Freiheitsqualitäten – wenn überhaupt – zumeist nur noch eine verblasste oder vollkommen verzerrte Ahnung besteht. Das gilt für Christen, Atheisten und Andersgläubige im weitesten Sinne, unabhängig von der Tatsache, ob und inwieweit sie sich in oder außerhalb institutioneller Organisationsformen bewegen: Wann und wie oft sind wir so frei, Unrecht zu vergeben, Fehler zu verzeihen, auf Rache, Vorherrschaft und Kontrolle oder auf Gewinn zu Lasten anderer zu verzichten, überflüssige Besitzstände – auch im Denken, Fühlen und Begehren – zu verlassen, uns allem Angsteinflößenden gegenüber zu verweigern und das Befremdende verstehen zu wollen ? Albert Schweitzer gehört zu denen, welche zu den vergleichgültigenden Tendenzen der „Neueren Zeit“ klar und zahlreich Stellung bezogen haben, ohne dabei je anklagend, richterlich oder rechthaberisch aufzutreten: „Dieses Preisgeben der ethischen Eschatologie rächt sich. Statt für den Triumph des sittlichen Gottesgeistes zu kämpfen, bei dem der einzelne, die Völker und die Konfessionen von einer sie aufrechterhaltenden Begeisterung getragen wären, ist unsere Menschheit im Begriff, die Welt an die Herrschaft der Geister der Gedankenlosigkeit auszuliefern, sich mit dem Stillstand und dem Rückschritt der Kultur abzufinden und darauf zu verzichten, alles, was Mensch heißt, auf die Höhe wahrer Humanität zu heben“ (Schweitzer 1984: 625).
Durch unser Verfangen-Sein in Selbstwidersprüche können wir uns zweifelsohne unerträglich werden. Wer ernsthaft nach Frieden und Unfrieden in der Welt fragt, sollte folgerichtig selbstverständlich bereit sein, eine Antwort zuallererst in seinem eigenen Vermögen und Unvermögen zu einem heilsamen Lebenswandel zu sehen: Können wir ohne Selbstzerstörung leben? Können wir die unterschiedlichsten Ausprägungen von Sucht- und Fluchtverhalten, von Aggressionen und Autoaggressionen, in denen sie oftmals wie maskiert zu Tage tritt, erkennen? Wenn wir es können, was hindert uns, es zu tun? Können Komplizenschaften
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und Symbiosen der Gewalt in Politik und Religion durchbrochen werden und kann darin Pervertiertes wieder in einer ursprünglichen Lebenskraft aufstrahlen? Es sind gerade die einfältigen Fragen, welche uns häufig unmissverständlich offenbaren, wie wenig wir einzeln und gesellschaftlich in aller Konsequenz schon wissen, was wir tun: Wem und wozu dient Politik, wem und wozu dient Religion? Wer oder was ist der Staat, wer oder was ist die Kirche eigentlich? 3. Vom Erwachen Kirche sind wir oder wir sind es nicht. Wir können dem Ursprung des Wortes nach streng genommen weder der Kirche noch irgendeiner Kirche angehören, wie wir gemeinhin zu sagen pflegen. Denn die griechische Wortwurzel (kyriakós) sowie alt- und mittelhochdeutsche Entlehnungen derselben sagen bereits unmissverständlich aus, welche Zugehörigkeit hier ganz und gar bestimmend ist: die Zugehörigkeit zum Herrn (Wahrig 1997: 626, 729; Kluge 2002). Die vorgängige Ursprungssemantik des Herrlichen wiederum verweist – geschlechtsunabhängig – auf das Erste, auf die Frühe, auf das Eherne der Frühe: auf die Morgenröte des Lebens selbst in seiner lichten Ursprungskraft (Bibliographisches Institut Mannheim 1963: 183). Die Symbolwirklichkeit der Sonne als lebensspendendes Licht findet sich in der christlichen Spiritualität auch in der Spiritualie des Antlitzes der Christussonne der Gerechtigkeit. Vor ihr ist unhaltbar, was Nicht-Liebe ist, denn was unter dieser Sonne sprießt, wächst und gedeiht, ist die reine Liebe als höchste Weise der Lebendigkeit, als göttliche Wirklichkeit des Alllebendigen. Im göttlichen Antlitz offenbart sich – so der Ursprungssinn des Apokalyptischen – das wahre Wesen der Welt und das wahre Sein des Menschen (Kehl 1997: 232 f.). Im Lichte der Wahrheit sehen wir unmissverständlich (Needleman 1997: 297), inwieweit wir lauter in, mit und durch die Liebe aller unser Leben durchlichtet haben, oder aber wir werden uns – wie Petrus mit dem Hahnenschrei (Mt. 26 74f.; Mk. 14,72; Lk. 22,61; Joh 18,27) – schmerzlich all unserer zum Teil abgründigen Unvollkommenheiten bewusst. Der eschatologisch-präsentische, also existentielle Charakter christlicher Erfahrungen des Apokalyptischen (Kellermann 2005: 36 ff.) ist im pneumatisch geheißenen Johannes-Evangelium ganz gegenwärtig. Dessen weitgehend bekannte Stelle aus dem Prolog sei zur Erinnerung zitiert: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch Ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh. 1, 9 ff.).
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Das Verkennen und Zurückweisen dessen, der von sich sagt: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh. 8, 12; 12, 46) bringt das Eigentümliche der Situation des menschlichen Erdenlebens zur Sprache. Die Worte bezeugen die paradoxe Seinsverfasstheit aller Menschen in ihrer phänomenalen Spannweite zwischen Himmel und Erde: Kinder der aufgehenden Sonne, Kinder des Lichtes zu sein, Licht von Seinem Lichte, ist ihre intime Wesensbestimmung – von der sie kaum eine Ahnung haben oder nichts wissen wollen, die sie nicht oder noch nicht erkennen können oder vergessen oder verdrängt haben. Ein hintergründiger Sinn der Redewendung, ein herrliches Leben zu führen, bedeutet vor diesem Hintergrund aus dem Schlaf oder der Betäubung des Geistes zu erwachen zum Vollbewusstsein der Möglichkeit, aus der Urlebendigkeit des Lichtes heraus leben zu können. Hienieden Anteil zu haben an der Herrlichkeit des Herrn, wie es zu einem christlichen Topos geworden ist, heißt im alleralltäglichsten Tun und Lassen fortwährend aus dem Bewusstsein der Gotteskindschaft heraus geistig-seelisch-leiblich zur individuellen Aufgabe des Lebens zu erwachsen, die darin geborgen liegt. In sozialer und politischer Hinsicht herrschaftlich sich zu gebären kann in onto-phänomenologischer Tiefendeutung demnach ausgelegt werden als das subjektive Gefangensein in der Illusion, es könne ein herrliches Leben geben, ohne erwachsen werden zu müssen, ohne sein Leben in Gemeinschaft zu verantworten. Jedes schleichende Sich-Einrichten in der unverbindlichen Anonymität herrschaftsrationaler Funktionsrealitäten im Verlaufe von dreihundert Jahren Moderne erschließt sich von hierher als eine Lebensgrundhaltung der Selbstverweigerung. Dem Anspruch, eigenverantwortlich dem Eigentümlichen des Wesens zu entsprechen, die Schattenbereiche des eigenen Lebens an das Licht zu bringen, wird darin widersprochen. Ein zum Bleibenden und Durchtragenden hin durchdringender Lebenswandel bedarf jedoch notwendig der Erhellung und der Durchlichtung der menschlichen Existenz in ihrer Abgründigkeit, in ihrem Hang zum Fall, zum Abfall von der Herrlichkeit und fassungslosen Schönheit der eigenen Seele. Er versucht dem Sehnen der Seele in den Realisierungen und Gestaltungen des Lebens gerecht zu werden. Das Drama einer absolutistisch sich gebärdenden Freiheit liegt hingegen nicht zuletzt darin, dass wir erstreiten wollen oder glauben, in einem „Außen“ uns erkämpfen zu müssen, was uns schon längst im Innersten der Seele zu eigen gegeben ist: Göttlichkeit (Joh. 10, 34; Ps. 82, 6). Der Macht des Herrlichen als Aufscheinen der erfüllenden Heiligkeit des Einen Lebens und all seiner Gestalten und Gestaltungen steht ein Herrschaftliches als Anschein von Macht im Glauben an die Herstellbarkeit eines erlösten Lebens gegenüber. In beiden Erscheinungsqualitäten spiegeln sich geschichtshermeneutisch Verheißungen und Verkehrungen einer aufstrahlenden oder über-
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blendenden Menschlichkeit, die sich de facto in ihren kulturellen und zivilisatorischen Manifestationen zum Teil bis zur Unkenntlichkeit ineinander verwoben und verstrickt haben. Doch hat es immer wieder unbezweifelbare menschliche Größe gegeben in finsteren Zeiten: Widerstehende, Ausdauernde und Aufrichtige, die bezeugt haben, einzig aus der täglich dankbaren Annahme des Lebens als eines göttlich gewirkten Gnadengeschenkes heraus ihre besondere Strahlkraft und ihren Mut zur Schicksalüberwindung entwickelt zu haben. Eine solch ausstrahlende Präsenz und Evidenz eines freiwilligen Mitschöpfertums, welches das Streben nach dem Besten für alle im Sinn hat, kann auch Nelson Mandela zugesprochen werden. Wenige prägnante Worte aus seiner Antrittsrede als erster schwarzer Präsident Südafrikas am 10. Mai 1994 machen deutlich, welch Geistes Kind hier spricht: „We understand it still that there is no easy road to freedom. We know it well that none of us acting alone can achieve success. (…) Let each know that for each the body, the mind and the soul have been freed to fulfill themselves“ (Mandela 1994). Ein gesundes Selbstwertgefühl gebiert sich aus einer Freiheit heraus, die sich verdankt weiß (vgl. Kellermann 2006). Maßlosigkeiten jeder Art – Überheblichkeiten ebenso wie Minderwertigkeiten – stellen hingegen geradezu archetypische und zumeist folgenschwere Übel dar, nicht zuletzt im Sinne der Selbstvereitelung menschlicher Freiheitsverwirklichungen. Sie fußen vornehmlich auf dem Undank, auf dem Sich-Vergessen, auf dem Vergessen-Haben oder VergessenWollen, dass wir nicht aus uns heraus die Kraft haben, uns im Leben zu halten. Wie häufig können wir es wagen, von uns zu sagen, wir hätten eine unumstößliche Klarheit über eine Sache gewonnen und könnten ganz bewusst Entscheidungen treffen, wahres Sein und bloßen Schein erkennen? Wer weiß Vertrauen und Entschlossenheit eines hingabebereiten Lebenswillens vom Aberglauben und Siegerpathos eines lebensverachtenden Opferwillens zu unterscheiden? Wie häufig können wir es wagen, von uns zu sagen, dass wir wirklich aus freien Stücken gehandelt haben? Wann sind wir tatsächlich befreit von prinzipiell lebensfeindlichen Denk-, Glaubens- und Verhaltensmustern, wann vor allem handeln wir losgelöst von Illusionen, Angst und Hass? Wer wollte von sich behaupten, er oder sie bedürfe einer Befreiung zur Freiheit für ein friedliebenderes Gemeinschaftsleben nicht? 4. Von der Morgenröte des Ich bin Wesensverbindliche geistig-seelische und kulturelle Beziehungswirklichkeiten sind niemals herstellbar oder verwaltbar, schon gar nicht über Befehls- und Ge-
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horsamsstrukturen. Zugehörigkeiten ergeben sich intrinsisch vom Sein und von der Sache her über lebendige Begegnungen und wahrhaftige Mitteilungen. Diese kommunikativen Grundvoraussetzungen für die Bildung eines integrativen, friedensfähigen Selbstwertgefühles entziehen sich gänzlich unserer Verfügungsgewalt. Wenn sie real werden, dann als ein Geschenk, das auf die Bereitschaft antwortet, sich zu öffnen für alles, was lebt, für alles, was anders lebt. Verbindliche Erfahrungswerte gewinnen wir nur dort, wo wir Natur, Mitmensch und GOTT zulassen, uns bereiten für das gänzlich unverfügliche Sein immerwährender Ursprünglichkeit und Schöpferkraft. Im weltweit zart anwachsenden spirituellen Verständnis der unterschiedlichsten Religionen voneinander und füreinander ist dies heute besonders spürbar. Für uns Europäer und Europäerinnen ist eine geistig rückhaltige und praktisch wertvermittelnde Teilnahme am Dialog der Religionen allerdings kein leichtes Unterfangen. Denn es sind einer großen Zahl nicht nur im Besonderen die „im Abendland“ historisch gewachsenen religiösen Traditionen und sakramentalen Erfahrungsschätze des Christlichen längst völlig fremd geworden. Ganz allgemein scheinen dem zuvor und darüber hinaus nahezu alle geistig-spirituellen, existential-mythischen und mystischen Grundlagen der eigenen Kultur vielen längst zu einem Buch mit sieben Siegeln geworden zu sein. Zu ihnen zählen beispielsweise matriarchal verwurzelte Lebenserfahrungen und Spiritualität ebenso wie keltisch-germanische Gemeinschaftsformen und Brauchtum oder etwa die bedeutenden Einflüsse orientalischer Lebensweisen und -weisheiten sowie Wissenschaften. Was bedeutet das für die Suche nach neuen Formen für eine bewusst weltwandelnde Spiritualität jenseits von Fundamentalismen und fernab einer imitierenden Rückkehr zu erstarrten Traditionen? Wie können wir einerseits der Gefahr esoterischer Welt- und Selbstfluchten entgehen, ohne andererseits uns in intellektualistischen Gnostizismen als verkappten Formen einer Selbstsucht zu gefallen? Hieße das nicht doch für manchen von uns naheliegend: „die eigene Stimme wieder zu üben, also unsere christliche Tradition von verzerrendem Beiwerk zu befreien, ihren ursprünglichen Ton und ihre wertvollen Besonderheiten wiederzuentdecken“ (Breidenstein 1996: 294 f.)? Wir stehen vor der alltäglichen Herausforderung, herauszutreten aus allen Abhängigkeiten leblosen Verstandes- und Standesdünkels, aus allen Obsessionen des Obsiegen-Wollens und des vermeintlichen Obsiegen-Müssens. Angesichts dessen können ursprüngliche christliche Spiritualia eine unausschöpfliche Quelle für eine religiös-existentielle Lebensgrundhaltung sein, die im Sinne einer individuellen Sinnträgerschaft auf friedliebende Freiheitsverwirklichungen in Gemeinschaft zielt.
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In dieser Entscheidungssituation erinnert die jesuanische Wirklichkeit des göttlichen Daseins im Menschen in vollkommener und allumfassender Gegenwärtigkeit, wie sie sich im Johannes-Evangelium eröffnet, an eine uneingeschränkt zum Leben ermutigende Heilsgewissheit: an das Bewusstsein, dass prinzipiell jedem Menschen möglich ist, was einem Menschen möglich ist. Das im Johannes Evangelium überlieferte Jesu-Wort: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6) verheißt uns einen bleibenden Weg, auf dem wir zu höchster Lebendigkeit im Geist und in der Wahrheit erwachsen können. „Das habe ich euch gesagt“ – lautet es an anderer Stelle im Zusammenhang Seiner Selbstoffenbarungen – „damit ihr keinen Anstoß nehmt“ (Joh. 16,1). Aus diesen Worten sprechen Ermahnung und Wunsch gleichermaßen, dass durch Anfechtungen hindurch und in Situationen äußerster Nöte im Hinblick auf das irdische Ende, auf Sein Sterben und auf unser Sterben wir Menschen uns die Tür zur Transzendenz, zur Gnade eines erneuerten Lebens nicht selbst verschließen. Hermeneutisch kann diese wie alle anderen Ich-bin-Offenbarungen nach Johannes als lebendiger Zuspruch göttlicher Geistesgegenwart begriffen werden. Es ist nicht zuletzt ein Wort, das dem Menschen eine unermessliche Würde verleiht und in diesem Sinne auch die Glaubenssubstanz des Evangeliums. Dieser frohen Botschaft der Rede Jesu einen herrschaftlichen Absolutheitsund Exklusivitätsanspruch zu unterlegen oder zu unterstellen, wie er sich in lebensverächtlichen Ausformungen des Christentums durchgesetzt hat, wäre absurd. Zumal es hieße, den evokativen und provokativen, gesellschaftliche Grenzen sprengenden Impetus christlicher Prophetie nicht wahrzunehmen. In der Formulierung Elisabeth Schüssler-Fiorenzas: „Keine/Keiner ist ausgenommen. Jede/Jeder ist eingeladen. (…) Nicht die Heiligkeit der Auserwählten, sondern das Heilsein aller ist die zentrale Vision Jesu“ (Schüssler-Fiorenzas 1988: 165). Ich erwähne dies ausdrücklich, weil die Forderung nach Bildungsmöglichkeiten zur Friedfertigkeit in ihren gesellschaftlichen Verwirklichungschancen überhaupt nur dann sinnvoll ist, wenn es einen anthropologisch fundierten Ausgangsund visionären Zielpunkt des ganzen Menschen als einer Heilsverheißung in der vollen Vergewisserung und Entfaltung seiner persönlichen Würde tatsächlich gibt. Denken wir nur an die herausragende Bedeutung der Paideia-Traditionen für das Sozialleben des Geistes in Europa, nach denen die Weckung der Tugenden einer umfassenden Sorge um das wahre Selbst entspringt (vgl. Kellermann 2005: 244 ff.). Für Platon, der eine Unterscheidung zwischen theoretisch und praktisch in einem neuzeitlichen Gebrauchssinne gar nicht kennt, ist in diesem Kontext jeder philosophische Erkenntnisweg ein praktisches anamnetisches Bewusstsein
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von der Idee des Guten (vgl. Platon 1977; Nitschke 1995). Von hierher erklärt sich beispielsweise auch seine hohe Wertschätzung der Musik und der Gymnastik, weil in ihnen harmonikale Gesetzmäßigkeiten, geistig-seelische und seelischleibliche Vergegenwärtigungen einer grundsätzlichen Stimmigkeit des Menschlichen im Kosmos erfahrbar werden können. Qualitative Freiheitsverwirklichungen einzulösen, heißt deshalb implizit, sich im Tun und im Lassen der Idee des universellen Friedens anzunähern. Gegen den Strich gelesen bedeutet es, dass die Entmachtung von „Übermächten“ und von „Übermächtigen“ auf Erden, wie sie in Politik und Religion in den letzten zwei Jahrtausenden geschaffen worden sind und noch werden, nur im Inneren der Menschen, als Wegbeschreitungen in die Eigenverantwortung, beginnen kann (vgl. Gruen 2002). Das Aufsuchen einer transpersonal-personalen Lebensmitte entspricht dem wahrhaftigen Interesse, bejahend inmitten allen Lebens sein zu können. Umgekehrt werden Menschen aus solcher Innerlichkeit heraus vermögend, ein Denken und Vorstellen, das sich im Scheinbaren verfängt und sich im substanzlosen Wunschdenken verliert, aufzudecken. Wir können deshalb in keinem noch so geringen Versuch zur gelingenden Umsetzung von begründeten Friedenshoffnungen auf die Liebe als elementarer Kategorie der Befähigungen im Rahmen einer politischen vita activa et contemplativa verzichten. Diese Fürsprache gilt insbesondere, weil wir die Kräfte der Liebe erst als solche (wieder) zu entdecken haben. Hinsichtlich der Transformation kritischer bis pathologischer Verfassungen der Gesellschaft bringt Friedrich von Hardenberg in seiner Schrift Glaube und Liebe von 1798 die potenzielle Vollvermögendheit sympathetischer Daseinsweisen auf den Punkt: „Jede Verbesserung unvollkommener Konstitutionen läuft darauf hinaus, daß man sie der Liebe fähiger macht“ (Novalis 1966: 500). 5. Von der Nachfolge Es geht also um die heilsamen, leidgeprüften Qualitäten eines im personalen Kern überpersönlich liebenden Freiheitsbewusstseins und seiner Wertverwirklichungen. Hierzu seien drei Beispiele angeführt: (1) Zunächst sei versucht mit wenigen Worten eine Frau zu porträtieren (vgl. Wimmer 1995), die es in äußerster Konsequenz in der Praxis vermocht hat, ihre Erkenntnisarbeiten, etwa eine sehr eigentümlich an Marx anschließende Gesellschaftskritik, auch unmittelbar in Fleisch und Blut zu vergegenwärtigen und sie in eine gelebte Solidarität münden zu lassen. Die Rede ist von der französischen Jüdin Simone Weil (1909-1943), Kultfigur von Generationen, die den anarchisti-
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schen Syndikalisten in Frankreich ebenso nahe stand wie der christlichen Mystik (Rullmann 1995: 232). Immer wieder hat sie es sich zum Lebensprogramm gemacht, tief einzutauchen in das Massenzeitalter mit all seinen Zerrissenheiten und dessen Trennungsrealitäten am eigenen Leib spürbar werden zu lassen. Die mathematisch hochbegabte wie altsprachlich gebildete Philosophin nahm in einer teilweise unmenschlich anmutenden Selbstdisziplinierung zur Wahrhaftigkeit ihres Lebens zahlreich freiwillig Härten auf sich. Diese brachten sie mit ihrer gesundheitlich geschwächten Konstitution zum Teil über Monate täglich an den Rand der Erschöpfung – sei es etwa in auszehrend-monotoner Fabrikarbeit (1934-1935) oder an der katalonischen Front (1936). Es geht hier nicht darum, ihr gegen sich selbst unerbittliches Tun moralisch zu bewerten, noch soll in irgendeiner Weise einem an Masochismus grenzenden Heroismus das Wort geredet werden. Bemerkenswert ist vielmehr die Unabhängigkeit, und damit auch Einsamkeit ihrer durch und durch selbst verantworteten Entscheidungen, die sie aus tiefstem Mitgefühl für Leidende und Unterdrückte heraus traf, unabhängig von den einschneidenden Auswirkungen, die sie selbst betrafen. Dies ist der eigentliche Grund, von dem her das Leben Simone Weils Wirkkreise gezogen hat. Sie hat durch ihre Aufopferungen ein Zeichen setzen wollen mit dem sie hoffte die Einwurzelung (L'Enracinement)1 menschlichen gesellschaftlichen Lebens in expliziter und impliziter Gottesliebe gegen die Entwurzelungs- und Entfremdungstendenzen der kapitalistischen Verhältnisse fordern und fördern zu können. Dieser Glaube hat sie in der Tat unkorrumpierbar solidarisch sein lassen mit ihren Mitmenschen und deren Geschick: „(…) wenn ich daran denke, daß die großen bolschewistischen Führer eine freie Arbeiterklasse zu schaffen behaupteten und daß wahrscheinlich keiner von ihnen (…) je den Fuß in eine Fabrik setzte und folglich nicht die leiseste Ahnung von den wirklichen Bedingungen hatte, die Knechtschaft oder Freiheit der Arbeit bestimmen, dann erscheint mir die Politik als ein übler Witz“ (Weil 1978: 25).
Eine feinsinnige Charakterisierung ihrer Persönlichkeit, findet sich in dem Frankfurter Blatt Die Gegenwart, die zur deutschen Ersterscheinung ihres Buches Schwerkraft und Gnade erschien: „Selten ist ein Buch so sehr gelebt: Ausdruck von Erkenntnissen, die von der Schreiberin mit äußerster Unerbittlichkeit gegen sich selbst (…) existierend vollzogen wurde. [Sie] hat das Postulat Kierkegaards wahr gemacht und sich stets auf der Spitze der Entscheidung gehalten. Sie hat in
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Diese Schrift aus ihrem Nachlass, die auch als ihr politisches Testament begriffen werden kann, war von ihr als Beitrag zur Erneuerung des wieder befreiten Frankreichs gedacht, also für die Zeit nach der Besatzung, die sie nicht mehr erlebte.
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Kerstin Kellermann ihren Aufzeichnungen Subtilstes an theologischen und philosophischen Einsichten, nicht als System, als „vorläufige Bausteine“ hinterlassen. Dem Leser wird in jedem Wort die absolute Ehrlichkeit dieser Frau bewußt, ihr ungewöhnlicher Geist, ihr ebenso ungewöhnliches, unruhiges Herz. Er spürt in seinem Alltag, über alle trennenden Distanzen hinweg, daß hier ein Mensch war, einer der immer ganz wenigen, der das stets unvertraute Beispiel des Unbedingten aufstellte“ (Die Gegenwart 1952).
(2) Ob es wirklich immer nur wenige sind? Von den meisten Zeugnissen unbedarfter Freigiebigkeit und authentischer Friedfertigkeit, ohne die ein Überleben zu Hunderttausenden gerade in den überzüchteten Leistungsgesellschaften unserer Tage gar nicht möglich wäre, erfahren wir wohl nur nicht. Oder kennen Sie – um ein Beispiel zu nennen – Jean Vanier? Der 1929 geborene, ehemalige Pariser Philosophiedozent gründete 1964 in der Weltmetropole eine kleine Gemeinschaft, in der Behinderte und Nicht-Behinderte gemeinsam den Lebensalltag meistern. So geistreich wie anschaulich beschreibt er es in seinen autobiografischen Schriften als das größte Abenteuer seines Lebens, zu versuchen, seinen Nächsten in der Tat zu lieben wie sich selbst (Vanier 1999, 2001). Unmissverständlich macht er in seinen Erfahrungsberichten wiederholt deutlich, dass ein persönliches „Ja“ zu einem Leben in einer spirituellen Solidargemeinschaft, welche sich nicht primär über die Blutsverwandtschaft begründet, einen harten Kampf zur Konsequenz hat. Es bedeutet beständig zu Ringen mit Widersachendem in uns selbst und in den winzigsten Gebrauchsdingen, die wir mit anderen teilen wollen, dürfen oder müssen. Doch ist das, was ihn mittlerweile ein Vierteljahrhundert lang dieser Lebensweise treu bleiben ließ, immer größer gewesen: Das stille Fest der alltäglichen Freude, nicht für sich allein und nicht aus sich allein heraus zu leben. In Isolation verkümmert alles Menschliche. Die Einförmigkeit von Funktions- und Konsumwelten unterdrückt die verzehrende Sehnsucht von Menschen nach einer Zugehörigkeit, in der sie sich und den anderen in seinem Anderssein einfach sein lassen können. Hierzu gehört natürlich auch, ihn angstfrei zu seiner eigentlichen Größe heranreifen lassen zu können, ja ihm/ihr in der weitestgehenden Entfaltung seiner/ihrer selbst hilfreich zur Seite zu stehen. Jean Vanier hat auf diesem ersten Kreis, in dem Menschen mit geistigen Behinderungen und ihre Betreuerinnen und Betreuer einander ein Zuhause geben, ein weltweites Netzwerk von Gemeinschaften aufgebaut, das er „Arche“ genannt hat.2 Das Zusammenleben in den Gruppen gründet sich in spiritueller und ethisch-praktischer Hinsicht ganz darauf, fruchtbar sichtbar werden zu lassen, dass wir Menschen trotz aller Begrenztheit Eine ungeteilte Natur, Ein zeit2
Um Verwechslungen zu vermeiden sei erwähnt, dass ein Netzwerk gleichen Namens von Lanza del Vasto existiert, dass sich an von Mahatma Ghandi entwickelten gemeinschaftsstiftenden Prinzipien orientiert, vgl: Eurotopia (2000): 328 f.
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und raumübergreifendes Wesen miteinander teilen. Mittlerweile gibt es auf allen Kontinenten der Erde über 100 Arche-Gemeinschaften. (3) Schließlich sei mit der Beendigung des Alptraums Apartheid in Südafrika ein Hoffnung spendendes Beispiel genannt für ein friedensstiftendes Tun und Lassen, das mehr oder weniger von einer ganzen Nation weltweit ausstrahlte (Kellermann 2005: 268 ff.). Die Südafrikanerinnen und Südafrikaner haben in abgründig zerrissenen Verhältnissen ihre Willensenergien auf das kaum mehr zu Hoffende, auf das Unglaubliche und auf das Menschen scheinbar Unmögliche gerichtet. Und es hat sich ereignet. Die gewaltsame Rassentrennung zwischen weißer und farbiger Bevölkerung über die Jahrzehnte hinweg und der leidvolle und steinerne Befreiungskampf der Farbigen hatte die Staatenwelt – wie sie es „gewohnt“ ist – Rache und Vergeltungsakte erwarten lassen. Sie blieben aus dem einen schier unfasslichen Grund aus, dass hunderttausende Menschen Mut und Kraft zur Vergebung fanden. Wenn inmitten aller anhaltenden Anstrengungen um innere und äußere Freiheitsund Entfaltungsräume für alle SüdafrikanerInnen auch Ernüchterungen und Rückfälle im Zeichen des „Ewiggestrigen“ zu verzeichnen sind, ändert es doch nichts an dem Wundersamen, das geschehen ist (vgl. Wüstenberg 2004). Es sei im Folgenden eine Rede wiedergegeben, in welcher der anglikanische Erzbischof Südafrikas, Desmond Tutu, in der Universität von Toronto im Jahr 2000 eindringlich die realpolitische Wirkmächtigkeit spiritueller Tugenden bezeugt: des Loslassens von Isolationen, Privilegien, Vorurteilen, Hass und Misstrauen, des Verzeihen-Könnens und eines Trostes gemeinsamer Trauer- und Freudenfeiern, der alles Tun und Lassen neu verwesentlicht. In diesem Sinne haben 1995 Tutu und Nelson Mandela die Wahrheits- und Versöhnungskonferenz ausgerufen, um Gewalteskalationen und Lynchjustizen verhindern zu können. Durch das öffentliche Bekenntnis ihrer Schuld oder durch die Schilderung ihrer tiefen geistig-seelischen und physischen Verletzungen haben Menschen, die aneinander in teilweise horrender Weise schuldig geworden waren, die Bitternis ihrer Vergangenheit wandeln wollen. Sie haben sich im Zeichen der Versöhnung angehört und erhört. Täterinnen und Tätern wurde Straffreiheit garantiert, wenn sie der biblisch entlehnten Spielregel Glauben schenken konnten: „Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien (u. a. Joh. 8, 32): „Unser Land ging nicht den Weg von Nürnberg, es stellte diejenigen, die diese Verbrechen begangen hatten, nicht vor Gericht. Die Alliierten hatten die Deutschen besiegt und konnten nach dem Zweiten Weltkrieg das sogenannte „Siegerrecht“ anwenden. In unserem Fall hatte weder die Apartheidsregierung noch die Befreiungsbewegung ihren Gegner besiegt. (…) Unser Land lehnte auch das andere Extrem einer Pauschalamnestie wie in Chile zu Zeiten Augusto Pinochets ab. Durch sie bestrafte man die Opfer zum zweiten Mal und versuchte, eine Vergangenheit ruhen zu lassen, die tatsächlich niemals ruhen kann. Ganz sicher weiß General
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Kerstin Kellermann Pinochet heute, daß man niemals vollständig außerhalb jeglicher Rechtsprechung agieren kann. Dieses ist ein moralisches Universum. Unser Land wählte den Mittelweg einer individuellen Amnestie im Austausch für Wahrheit. Einige werden sagen, was hat das mit Gerechtigkeit zu tun? Und wir sagen, vergeltende Gerechtigkeit ist nicht die einzige Form von Gerechtigkeit. Es gibt auch eine wiederherstellende Gerechtigkeit, weil wir an Ubuntu glauben – an die Essenz dessen, was es heißt, ein menschliches Wesen zu sein, an die Idee, daß wir alle in einem sensiblen Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeit gefangen sind. (…) Wir haben erfahren, daß Menschen Heilung erfahren, indem sie ihre Geschichte erzählen. Der Prozeß öffnete Wunden, die am Schwären waren. Wir reinigten sie, salbten sie und wußten, daß sie heilen würden. Ein junger Mann, der durch einen Polizeieinsatz in seinem Township erblindete, kam, um uns die Geschichte seines Einsatzes zu erzählen. Als er geendet hatte, fragte man ihn, wie er sich nun fühle und er sagte: „Ihr habt mir meine Augen wiedergegeben“ (Tutu 2000).
6. Einige vorläufige Schlussfolgerungen 1. Vernünftige Selbstvergewisserungen im Zeichen einer unvoreingenommenen Friedenswilligkeit haben instrumentell-technische Verrechnungs- und Versicherungslogiken längst hinter sich gelassen und konsequent hinter sich zu lassen. Es sind letztlich introspektive Fähigkeiten, die uns erkennen lassen, wie sehr der Friede die höchste Verwirklichung einer Seinsgerechtigkeit ist, welche sich in allen Dimensionen des Lebens dem freien Wirken der Liebe verdankt. Vor diesem Hintergrund kommt einem ontologischen Gerechtigkeitsbegriff für ein Verständnis der zentralen Aufgaben Politischer Philosophie und gesellschaftlichen Ordnungsdenkens eine schlüsselhafte Bedeutung zu. Eric Voegelin hat sie als einer der wenigen politischen Denker stets hervorgehoben. In Die Politischen Religionen heißt es: „Das Leben der Menschen in politischen Gemeinschaften kann nicht als ein profaner Bezirk abgegrenzt werden, in dem wir es nur mit Fragen der Rechts- und Machtorganisation zu tun haben. (…) In der Politischen Gemeinschaft lebt der Mensch mit allen Zügen seines Wesens“ (Voegelin 1938: 63).
2. Eine Religion ohne Spiritualität, eine Kirche ohne Glauben, eine Politik ohne Gerechtigkeit und ein Staat ohne Verantwortung können bestenfalls im Sinne eines Un-Geistes des Funktionalismus Leben verwalten, aber nicht mehr schützen und befördern. Im Zuge von expansiven Modernisierungsprozessen in gesellschaftlichen Denk-, Deutungs- und Handlungsstrukturen, von Rationalismen, Szientismen, Utilitarismen, Militarismen etc. sind sinnvermittelnde Potentiale von einer korrumpierten politischen Praxis größtenteils aus dem Bereich des Politischen ausgeschieden worden. Die herrschende Politik in der Moderne stellt sich unablässig selbst zur Schau als eine ideologische Spiegelfechterei aller Parteien und Partei-
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ungen. Ihr geteiltes Agens tritt als ein Machtanspruch des Egozentrischen und seiner Weltentwürfe zu Tage. Die menschliche Verweigerung mit der Gnade zu wirken kommt einer Selbstverweigerung gleich. 3. Wir haben uns meines Erachtens radikal von der Illusion zu verabschieden, es gäbe Sinnvolles im Politischen ohne Ethik oder Sinnvolles im Ethischen ohne Religiosität oder Sinnvolles in einer Religion ohne Spiritualität. Die zahlreichen Entmetaphysierungs- und Remetaphysierungsdialektiken der Politischen Ideengeschichte und Staatsentwicklung der Prämoderne und Moderne haben tendenziell gleichermaßen zu einer Entspiritualisierung der Gesellschaft wie zur Entpersönlichung des Politischen beigetragen. Diese Tatsache besteht unabhängig davon, wie sehr die basalen Sprachcodes und logischen Strukturen politischer Theorie und Praxis seit jeher den traditionellen heilsgeschichtlichen Kategorien entnommen oder angeglichen worden sind. Der Sozialphilosoph und Kommunitarier Charles Taylor ist eine jener öffentlichen Stimmen, welche die produktiv-kritische Auseinandersetzung mit neuen und alten Formen spiritueller Lebensführung als unumgänglich für die Erneuerung der Politischen Kulturen im Westen ansieht. In Anlehnung an den berühmten Klassiker von William James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, nimmt er eine aktuelle Einschätzung der „Seelenverfassungen“ westlichspätmoderner Gesellschaften vor und betrachtet ihre zunehmend ungebundenen Suchbewegungen heute. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „in einem gewissen Sinne (…) die religiöse Erfahrung so entscheidend wie nie zuvor“ sei und James dies mit „großer Hellsichtigkeit erkannte und mit besonderer Eindringlichkeit formulieren konnte“. Dies mache den Klassiker „in unserer Gegenwart weiterhin höchst lebendig“ (Taylor 2002: 101 f.). 4. Authentisches Fühlen, Glauben und Wollen, Denken, Entscheiden und Handeln ist in allen persönlichen und gesellschaftlichen Belangen zur Überlebensfrage geworden. Was nicht fragend, sich befragend, aus einer aufrichtigen Haltung kommt oder daraufhin im Sinne eines Überganges und eines Transformationsgeschehens wächst, disqualifiziert sich als ein möglicher Beitrag zur Ausbildung von politisch-kulturellen Friedfertigkeiten von vorneherein selbst. Wenn wir ernst nehmen, dass Unversöhnlichkeit im weitesten Sinne immer einhergeht mit Graden von Geist- und Empfindungslosigkeit, wird sofort offenbar, wie absurd es ist, kriegstreibende Missstände und gesellschaftliche Unbefriedetheit „bekämpfen“ zu wollen. Damit träten Akteure nur ein in die Hamsterradlogik unaufhörlicher Negationsschleifen. Denn ein geist-leib-seelischer Mangel kann nicht bekämpft werden – vergleichbar mit der viel gewollten oder unbedacht dahergeredeten „Bekämpfung“ der Arbeitslosigkeit, der Konjunkturschwäche, der Krankheit, der Kindersterblichkeit. Ein Mangel kann nur als solcher erkannt und sinnvoll beantwortet: also erfüllt werden. Der Mangel an Spiri-
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tualität will als eine große Bedürftigkeit an existentiellen Vermögen zur transpersonalen und dialogischen Vergegenwärtigung von grenzüberschreitenden Sinnbezügen gestillt werden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn wir verstärkt, aber behutsam, die selbstbeobachtenden, kontemplativen, meditativen und mystischen Tiefendimensionen unserer Menschlichkeit wieder in unser Leben einholen. Wo die Menschheit Christi in uns den Sieg davonträgt, strahlt das Menschenmögliche herrlich im Lichte der Wahrheit auf. Gibt es einen vernünftigen Grund an diesen Worten Anstoß zu nehmen? Die menschliche Würde geht im christlichen Glauben natürlich einher mit der Gabe des Lebens selbst, das uns Menschen unaufhörliche Aufgabe ist: Dass ein jeder sein/dass eine jede ihr wahres Selbst als höchstes Lebensgut verwahre wider alle Zerreißproben einer im Inneren und im Äußeren undankbaren und unbefriedeten Welt. Ein wirklich friedfertiges, also freiwillig und tatkräftig im Geist und in der Liebe ringendes, in Erkenntnis und Anerkenntnis sich verbindendes Bewusst-Sein, dient immer dem Einen Leben: dem eigenen wie dem Leben anderer. Es ist ein Sich-bereiten, der Würde voll: für die Ankunft des Friedens in uns. Literatur Bibliographisches Institut Mannheim (1963): Duden – Etymologie. Mannheim. Breidenstein, Gerhard (1996): Gemeinschaftsleben und Spiritualität. In: Kollektiv KommuneBuch (Hrsg.), Das Kommunebuch. Alltag zwischen Widerstand, Anpassung und gelebter Utopie. Göttingen: 290-300. Die Gegenwart (1952). Frankfurt a. M. Eurotopia (2000): Verzeichnis europäischer Gemeinschaften und Ökodörfer. Groß Chüden. Gruen, Arno (112002): Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. München. Hense, Elisabeth (1997): Im Spiegel der Seele. Die Quellen der Mystik. Freiburg i.Br. Institut für Spiritualität Münster (2000): Öffne deine Augen, neige dein Ohr, löse deine Zunge und erschließe dein Herz. Grundkurs Spiritualität. Stuttgart. James, William (31920): Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens. Leipzig. Kehl, Medard (1997): „Siehe, ich komme bald!“ Zur christlichen Deutung der Apokalyptik. In: Hans Gasper/Friederike Valentin (Hrsg.), Endzeitfieber. Apokalyptiker, Untergangspropheten, Endzeitsekten. Freiburg/Basel/Wien: 218-238. Kellermann, Kerstin (2004): Wie sich mit dem Unbewältigbaren versöhnen? Zur deutschen und russischen Vergangenheit. In: Natalja Daniliouk u. a. (Hrsg.), Russland – Deutschland – Europa. Ost-West-Wissenschaftsforum. Münster: 151-167. Kellermann, Kerstin (2005): Politik und Spiritualität: Auf der Suche nach einer friedliebenden Freiheit. Stuttgart. Kellermann, Kerstin (2005): Danken und Hören – Initiationswege in die Eigenverantwortung? In: Kurt Weis (Hrsg.), Übergangsrituale und Reifungsprozesse: Lässt uns die Gesellschaft noch erwachsen werden? [im Erscheinen].
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Über das Befriedungspotential der Religion in den „postsäkularen Gesellschaften“ Mark Arenhövel
„Der ehrliche religiöse Denker ist wie ein Seiltänzer. Er geht, dem Anschein nach, nur auf der Luft. Sein Boden ist der schmalste, der sich denken lässt. Und doch lässt sich auf ihm wirklich gehen“. Ludwig Wittgenstein
1. Über die „Wiederkehr der Religion“ und die Rede von der „postsäkularen Gesellschaft“ Am Anfang steht, wie so oft, eine Frage: Wie werden zukünftige Historiker, Gesellschaftstheoretiker und politische Philosophen auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückschauen, und wie werden sie unsere zögernden Versuche interpretieren, der Vielzahl von „Postismen“ positive Bestimmungen entgegenzusetzen? Den Beschreibungen des Nicht-mehr, des Überwundenen und Überkommenen, die wir in unscharfen Begriffen des Postmodernen, Postpolitischen, Postsozialistischen, Postgenomischen – mit gänzlich unklaren Konsequenzen nun auch – des Postsäkularen zu fassen suchen, entsprechen nur verschwommene Konturen eines Jetzt, das sich nur schwerlich in und mit seiner Gegenwart identifiziert. Während das 20. Jahrhundert in den späten 1980er Jahren mit dem abrupten Ende der Blockkonfrontation einen frühen Abschluss fand, fällt die Bestimmung dessen, was dann begann, sehr viel schwerer. Die Signatur des 21. Jahrhunderts ist noch zu unbestimmt: Zwar verweisen die Prozesse der Globalisierung einerseits auf die Universalisierung der Werte, der Gesellschaftsentwürfe, Konsumwünsche, Lebensstile und -gewohnheiten, doch gleichsam sind sie durchzogen von neuen Partikularisierungen, Re-Ethnisierungen und ReFundamentalisierungen, kurz: einer neuen Welt-Unordnung, die sich vor allem durch ihre Alternativlosigkeit auszeichnet. In einem solchen Weltzustand ist die „Wiederkehr der Religion“ vermehrt konstatiert worden und der Begriff der postsäkularen Gesellschaft, der hier zu Lande im öffentlichen Diskurs nach den Anschlägen des 11. September 2001 aufkam, zeigte vor allem seine Wirkung in
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einem Klima, in dem von einem restlosen Aufgehen des religiösen Bewusstseins in der Säkularisierung als einem „quasiautomatischen Bestandteil der Modernisierung“ (Hans Joas) nicht länger fraglos ausgegangen werden konnte. Vordergründig muss dabei zunächst das neu erwachte Interesse an der Religion überraschen und mit einigem Recht ließe sich bezweifeln, ob überhaupt von einer Wiederkehr der Religion gesprochen werden kann, oder anders gewendet, zu welchem Zeitpunkt im Verlauf der Aufklärung konnte jemals von einer Abwesenheit der Religion die Rede sein? Jenseits der tradierten Dichotomie von Mythos und Aufklärung war die Religion immer präsent, wenn sich auch die Kontexte ihrer Thematisierung, ihre öffentliche Sichtbarkeit und ihre Gestalt wandelten. Nun lässt sich von der Zunahme eines wie auch immer gearteten religiösen Interesses im kulturellen Klima der meisten modernen Gesellschaften in Form eines schlichten „mehr oder weniger“ kaum in einem streng empirischen Sinne sprechen, wenngleich auch diese vage Intuition eines verstärkten Interesses an religiösen Phänomenen nicht leichtfertig gering geschätzt werden sollte. Verändert haben sich viel mehr vor allem die öffentliche Wahrnehmung und Sichtbarkeit religiöser Phänomene oder Fragen in den modernen Gesellschaften, wobei die Rede von den modernen Gesellschaften – so viel sei schon zu Beginn bemerkt – hinsichtlich religiöser Phänomene insofern missverständlich ist, als von einem einheitlichen Muster im Umgang mit der Religion, mit Religiosität und Säkularisierung kaum gesprochen werden kann. So spielte und spielt die Religion beispielsweise in den USA bekanntlich eine weit größere Rolle im öffentlichen Leben als in Europa. Wenn also Gianni Vattimo zwei Konstellationen, Motivlagen oder Spuren benennt, die auf den Grund neuerlicher Reflexionen über die Religion verweisen sollen und beglaubigen, dass – entgegen dem Prinzip der Aufklärung – moderne Gesellschaften und Religion durchaus in einem zuträglichen Verhältnis stehen können, so tut er dies ohne unterschiedliche, von einander abweichende „Säkularisierungstypen“ in Rechnung zu stellen und ohne die eigene (italienische) Perspektive zu reflektieren: So sieht Vattimo die neuerliche Hinwendung zur Religion/Religiosität motiviert durch die Angst vor drohenden, globalen, unvorstellbaren, in der Geschichte der Menschheit noch nie da gewesenen Risiken. Die Kehrseite der Risikogesellschaft, der Zweifel an den Früchten der Modernisierung, ein Unbehagen an der Moderne, dies alles wäre so gesehen ein Grund für eine Vergegenwärtigung religiöser Erfahrungen, wie auch angesichts der neuen Möglichkeiten der Genmanipulation alte Fragen nach Leben und Tod, Schöpfung und Natur neu gestellt werden (vgl. Vattimo 2001: 107124). Vattimo versäumt hier, auf die weltweiten Migrationsströme hinzuweisen, die ebenfalls zu einer stärkeren Präsenz der Religion im öffentlichen Raum beigetragen haben dürften. Als einen weiteren, auf der Ebene der Individuen angesiedelten Grund nennt Vattimo eine um sich greifende subjektiv empfundene
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Leere, einen Verlust an Sinn, die „Zerstörung der wahren Wurzeln der Existenz“ (109), an jenen „ontologischen Graben“ also, der unauflöslich mit der Kehrseite der Modernisierung verbunden bleibt und nicht auf die Angst vor körperlicher Auslöschung durch globale Katastrophen oder den existentiellen Einschnitt in die menschliche Gattung abhebt, sondern auf die rein individuelle Erfahrung der Sinn- und Heillosigkeit in einer fragmentierten Welt. Neben dieser Perzeptions- und Reflexionsebene der Individuen im fragilen Weltzustand moderner Gesellschaften lässt sich Vattimos Spurensuche auch auf der Ebene der theoretischen Reflexion nachvollziehen. Hier formuliert er die Annahme, dass mit der schleichenden Entwertung zweier mit der Religion um ein universales Deutungsmonopol konkurrierenden „Glaubenssysteme“, des positivistischen Szientismus als Form des radikalsten weltlichen Denkens und der bis auf Weiteres unumkehrbaren realpolitischen Widerlegung der marxistischen Geschichtsphilosophie, gleich zwei Konkurrenten holistischer Welterklärung, die beide die Religion radikal ausschlossen, nunmehr – vorsichtig formuliert – auf Dauer an Reputation und Anziehungskraft verloren haben. Politisch, philosophisch und erkenntnistheoretisch ist damit der Atheismus wiederum ebenso erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig wie der Glaube an Gott. Man mag die These wagen, dass angesichts einer postmodernen Konstellation, in der die ontologische Gewissheit verloren gegangen ist und die Basisdichotomie zwischen real und irreal zunehmend verschwimmt – oder einfach nur an Brisanz verliert – an Gott zu glauben gleichberechtigt als Option neben die Wahl tritt, an Gott nicht zu glauben: Nach dem modernen Projekt der Entzauberung tritt die Postmoderne mit dem Gestus auf, die Entzauberung ihrerseits zu entzaubern, ohne jedoch eine Wiederverzauberung in Aussicht zu stellen. Dies alles mag zu einer „neu erwachten Empfänglichkeit für das Religiöse“ (Vattimo) geführt haben, doch sollten Begriffe wie Rückkehr oder Wiederkehr nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es gegenwärtig durchaus mit neuen Formen religiöser Wiederaneignungen zu tun haben könnten, die gleichsam eine Verkehrung des Religiösen implizieren. Ein weiteres erklärungsbedürftiges Element der Rede von der Wiederkehr der Religion liegt im Gebrauch des Singulars (die Religion), ganz so als ließe sich, wie Derrida bemerkt hat, „ohne Furcht und Zittern in der Einzahl von der Religion“ sprechen (Derrida 2001: 9). Die Vielzahl der religiösen Bedürfnisse, Erfahrungen, Praxen und institutionellen Manifestationen müssten sich auf gemeinsame Muster und Funktionen zurückführen lassen, folglich müsste sich das Religiöse und seine Begrenzungen definitorisch eindeutig fassen lassen, wollte man ohne Schamlosigkeit „den Anspruch (...) erheben, daß es hierbei um einen wiedererkennbaren und gleichzeitig neuartigen Gegenstand geht“ (ebd.). Es spricht einiges dafür, mit Luckmann (2002) das gemeinsame Muster vielfältiger religiö-
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ser Erscheinungen damit zu erklären, dass die Religion ein universales Merkmal der conditio humana zur Verarbeitung von Transzendenz, und damit eben keine vorübergehende Phase in der Evolution der Menschheit ist. Alltägliche wie außeralltägliche Erfahrungen und Wirklichkeiten müssen dergestalt in Sprache, Vorstellung, bildlichen Abbildungen usw. vermittelt werden, dass Individuen sie in kommunikativen Interaktionen mit sozial objektivierten Weltansichten, den kollektiven religiösen Repräsentationen, überformen können, damit sie als sinnvolle Ganzheiten erfahren werden können und damit die Alltagswelt zu ihnen in Beziehung gesetzt werden kann. „Leben und Tod, Himmel und Erde, Ordnung und Chaos, das Triviale und Sublime werden auf eine besondere Weise miteinander verbunden“ (Luckmann 2002: 286). Allerdings neigt eine solche Sichtweise dazu, die Rolle und Notwendigkeit der Religion in jeder Gesellschaft als gleich und gegeben anzusehen und lediglich die Formen des Religiösen als wandelbare Funktion der jeweiligen Gesellschaft zu betrachten. Die – zumindest theoretisch zu erörternde – Möglichkeit, dass Religion in einem bestimmten gesellschaftlichen Stadium obsolet werden könnte, wird qua anthropologischer Konstante oder ontologischer Setzung von vornherein ausgeschlossen. Das Schillernde an der Rede von der postsäkularen Gesellschaft könnte gerade darin liegen, dass sie unterschiedlichste Inhalte, Bedeutungsgehalte, Diskurse und Konnotationen in sich aufzunehmen in der Lage ist, damit auf eine anhaltende Deutungskrise reagiert, die sich im Zentrum einiger der wohlhabenden westlichen Gesellschaften ausbreitet. Postsäkular wäre dann eine Gesellschaft, die sich über den Zustand der eigenen Entchristlichung oder Desakralisierung immer wieder selbst vergewissert, ohne dabei endgültig die Verbindung zum Christentum und zum Sakralen kappen zu wollen. Galt Säkularisation modernisierungstheoretisch ausbuchstabiert als synonym für eine „technik- und geschäftsmächtige Gesellschaft“, die sich ein für alle mal freigemacht hat von allen „Denkweisen, die auf Axiomen von Passivität und Untertänigkeit aufgebaut waren“ (Sloterdijk 1997: 12) und in der sämtliche Legitimationsgrundlagen restlos verweltlicht waren, wodurch religiöse Weltauslegungen und Sinnzumutungen durch eine radikale Selbstaufklärung als obsolet erschienen, so gerät das Verhältnis von Modernität und Säkularisierung wie auch die allgemeine Thematisierung von Religion nicht zuletzt durch Globalisierungsprozesse in ein ganz neues Licht. Bestach das liberale Denken durch seine überzeugende Grenzziehung zwischen einer öffentlichen Vernunft und privater Religiosität und ließ die nachmetaphysische Radikalverweltlichung eine Gegenüberstellung von Gott und Welt bzw. Seele und Welt unsinnig erscheinen, so eröffnet die neue Unschärfe dieser Grenzziehung die Möglichkeit, neu über Religion und religiöse Weltwahrnehmung, -erfahrung und -beschreibung aus einer globalen Perspektive nachzudenken. In diesem Sinne bemerkt auch Robertson:
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Mark Arenhövel „Studying religion globally brings into sharp relief the problem of what we mean by the term ›religion‹. It encourages study of the diffusion of religion as a category in the ordering of modern societies. Specifically, it requires – in the Nietzschean sense – us to do work on the comparative genealogy of religion and categories of family resemblance. (…) Studying religion globally moves us away from preoccupation with the secularization issue, in that it makes us look with scepticism on much of the Weberian concern with the differences between the major religious traditions in their main civilizational settings relative to what Weber himself called ,universal history‘ – mainly because globalization largely dissolves the West-centredness of that Germanic notion“ (Robertson 2001: 18).
Allerdings stellt sich dennoch die Frage: Was kann dann, wenn man Säkularisierung zunächst so betrachtet, mit postsäkular gemeint sein? Wird der Prozess, der ja zunächst als juristischer Terminus im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Deutungsformel neuer, moderner „Weltverhältnisse“ wurde, verabschiedet und durch ein ganz anderes Ordnungsprinzip der klassischen Dreifaltigkeit von Welt, Seele und Mensch ersetzt? Macht die Postsäkularisierung mit der Säkularisierung ebenso kurzen Prozess wie die Postmoderne mit dem Projekt der Moderne? Oder markiert sie die Entzauberung der Entzauberung und befasst sich auf neue Art mit dem „religiösen Appetit“ des Menschen, um mit William James zu reden,1 mit neuen Platzhaltern des Absoluten. Ist dann vielleicht die Post-Säkularisierungsformel die Beschreibung für einen neuen religious turn bzw. return? Und wie wäre eine Gesellschaft nach der Säkularisierung zu denken? Transportiert der Begriff „postsäkular“ tatsächlich einen Deutungsüberschuss, der seine Verwendung über den Tag hinaus rechtfertigt und befruchtet er die Diskussionen über einen möglichen „Dialog der Religionen“? Ich will bereits zu Beginn meiner Ausführungen deutlich machen, dass ich hier meine Zweifel habe und eher annehme, dass die Popularisierung dieser Formel einer spezifischen kulturellen Diskursformation geschuldet ist und gerade nicht der Prägnanz und analytischen Schärfe des Begriffs selbst. Im Folgenden soll zunächst geklärt werden, worauf die Rede von der postsäkularen Gesellschaft abzielt. Hier sind verschiedene Dimensionen oder auch Versionen des Postsäkularen bzw. Diskursarten über das Postsäkulare herauszuarbeiten, da es durchaus differente Lesarten gibt, die jeweils auf ganz unterschiedliche Phänomene abzielen und nach dem Gehalt ihrer normativen Ansprüche und ihren gesellschaftstheoretischen Implikationen sortiert werden können. Anschließend soll hinterfragt werden, wie man sich in den postsäkularen Gesellschaften den Umgang mit einem religiösen Pluralismus vorzustellen hätte. Würde man eine postsäkulare Konstellation unterstellen, müsste zumindest in 1
„Der religiöse Appetit des Menschen und seine Befriedigung durch die Philosophie“, so lautete der ursprüngliche Titel des religionsphilosophischen Hauptwerkes von William James, welches schließlich 1902 unter dem Titel „The Varieties of Religious Experience“ (Die Vielfalt religiöser Erfahrung) erschien.
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Ansätzen eine Antwort auf die Frage gegeben werden können, wie postsäkulare Gesellschaften mit noch nicht säkularisierten Gesellschaften in politischen, weltanschaulichen und auch religiösen Fragen kommunizieren können. Die Leitfrage lautet also immer, ob in einer postsäkularen Gesellschaft von einem Befriedungspotenzial der Religionen ausgegangen werden kann. 2. Post-Säkularisierung als radikalste Pluralisierung des Religiösen Eine deutliche Ablehnung des „postsäkularen Denkens“ findet sich bei Slavoj Žižek, der in der Einleitung zu „Das fragile Absolute“ mit der Überschrift „PostSäkulares Denken? Nein Danke!“ bemerkt: „Einer der beklagenswertesten Aspekte des postmodernen Zeitalters und seines sogenannten ,Denkens‘ ist die Wiederkehr der religiösen Dimension in all ihren Verkleidungen, vom christlichen Fundamentalismus und anderen Fundamentalismen über eine Fülle von New-Age-Spiritualismen bis hin zur wachsenden religiösen Sensibilität innerhalb des Dekonstruktivismus selbst“ (Žižek 2000: 5). Žižek geißelt die „gewaltige Offensive des Obskurantismus“, um das „wahre christliche Erbe gegen die Welle neuer Spiritualismen“ zu verteidigen (6). Dabei wendet er sich vehement gegen Tendenzen, die Peter Sloterdijk in einem wesentlich freundlicheren Licht erscheinen lässt. Sloterdijk zeichnet das Bild einer – wenn man so will – überschießenden Säkularisierung, in deren Folge die Welt ort-, ziel- und urheberlos geworden ist. Wussten die Theologen noch die Welt als Institut eines verfassungsgebenden Gottes auszulegen, so müssen die Denker und Interpreten der Moderne die Welt als ein sich selbst verfassendes Ganzes in den Blick nehmen. „Dabei zeigt sich, daß jeder Schein von Ordnung in der Welt einem endlosen Experimentieren der Welt mit sich selbst entspringt; durch alle Experimente scheint eine Grundschicht von Unordnung und Unverfaßtheit hindurch“ (Sloterdijk 1997: 20), einer Unverfasstheit, der Sloterdijk den Begriff des Ungeheuren gibt. „Dies ist“, so fährt er fort, „der notwendige Name für ein außenloses, nur sich selbst transzendierendes Weltganzes. Folglich darf man sagen, daß der Prozeß der Säkularisation, radikal verstanden, nichts anderes sein kann als die in Erfolgen und Katastrophen vorangehende Offenbarung jenes Ungeheuren, das uns ausstattet und verbraucht. Authentische Philosophie der Moderne ist die Hermeneutik des Ungeheuren als Theorie der alleinigen Welt“ (20, Hervorhebung hinzugefügt). Konnten Forschung, Wissenschaft und Technik für eine gewisse Zeit als Religionsersatz gelten, so stehen wir heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts doch relativ ernüchtert vor einer durch die Vernunft von Gott entblößten und damit letztlich heillosen Welt. Das Postsäkulare nun ist bei Sloterdijk eine Form der Resakralisierung, wenn auch mit anderen Mitteln. Er beschreibt es
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als eine „Amerikanisierung des Religiösen, in der – in bester do-it-yourself Manier – geglaubt wird, was dem Individuum hilft. Der radikalste Gestaltwandel des Religiösen koppelt Glauben und Erfolg und führt direkt ins New Age. Ein jeder bedient sich so gut er kann aus den postmodernen Religions-Supermärkten: Ob Religionen oder Vitamine: beide bedienen dieselbe Meta-Überzeugung, daß jedes Individuum die Überzeugungen und Spurenelemente, die bei ihm am besten wirken, herausfinden und regelmäßig zu sich nehmen solle“ (29). Das Ziel dieser Bemühungen ist die sofortige Einlösung der Verheißung im Jenseits: also die totale Verdiesseitigung. Anlässlich einer solchen Schilderung ist jedoch zuerst zu fragen, ob hier Phänomene beschrieben werden, die moderne Gesellschaften tatsächlich in ihrer Totalität richtig erfassen, oder ob es sich lediglich um die Spiritualisierung einzelner gesellschaftlicher Gruppen handelt, die – zumal in Europa – einem ganz bestimmten Lebensstilsegment zuzurechnen sind. Ob die Diagnose einer „Amerikanisierung des Religiösen“ in diesem Sinne zu stellen ist, erweist sich doch immerhin als recht fragwürdig, wenn man einen Blick auf die europäischen Gesellschaften richtet. Sicherlich lässt sich ein Trend zur Zerschlagung religiöser Oligopole zugunsten einer eher horizontalen, sektenförmigen Koexistenz unterschiedlichster Religionsgemeinschaften ausmachen (vgl. Leggewie 2001: 23), doch sind gerade diese Entwicklungen weit weniger durch eine marktförmige Erlebnisreligiosität induziert als etwa durch den migrationsbedingten Zustrom von Muslimen nach Europa. Hier geht es jedoch gerade um die „Rekonstruktion und Wiederbelebung partikularer, in Sonderheit religiöser Wir-Gefühle“ (21 f.), also um die Stabilisierung von Gruppenidentitäten in der Fremde, und nicht um existenzielle Selbstfindungsrituale übersättigter Wohlstandsbürger. Was gerade bei der Beschreibung des Postsäkularen durch Sloterdijk auffällt, ist das Fehlen des Gemeinschaftsaspektes. Die religiösen Monaden flanieren bei Sloterdijk auf der Grenze zwischen Solipsismus und spontanen, beliebigen, punktuellen Gemeinschaftserlebnissen, die kaum noch verbinden. Die postsäkulare Gesellschaft ist hier ein Sammelbegriff für eine Gesellschaft aus Individuen, für die ihre Individualität das einzige religiöse Heilsversprechen liefert und die sich eklektizistisch im Religions-Supermarkt bedienen und gerade durch die Freisetzung von sozialen Bindungen in diese Gesellschaft integriert werden, wenn sie gemeinsam als Einzelne der spirituell gestützten innerweltlichen Erfolgsgier nachgeben. Fragt man nach den Konfliktregelungspotentialen einer solchen postsäkularen Gesellschaft – oder besser: Mentalität –, so gibt diese Version des radikal verdiesseitigten post-säkularen Zustands nicht viel her; höchstens könnte man vermuten, dass aus einem solchen Zustand wegen der Beliebigkeit des Religiösen kaum noch Konfliktgründe entspringen. Von einer gesellschaftlichen Integrationskraft religiöser Glaubensinhalte wäre allerdings auch nur wenig zu erwar-
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ten. Wenden wir uns also einer normativ gehaltvolleren und öffentlich wirkungsmächtigeren Version des Postsäkularismus zu. 3. Glauben und Wissen bei Habermas Es war kein geringerer als Jürgen Habermas, der den Begriff einer postsäkularen Gesellschaft im deutschen Sprachraum bekannt gemacht hat. Mit der ihm eigenen zeitdiagnostischen Schärfe stellte Jürgen Habermas in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Herbst 2001, die noch ganz unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September stand, Überlegungen zum Verhältnis von Politik, Religion und Vernunft in modernen Gesellschaften an, die sich als säkularisiert wähnen, ohne sich des religiösen Gehalts ihrer Tradition, Ideen und Sprache bewusst zu sein. Wie sehr Jürgen Habermas mit seinen Ausführungen, die er unter den Titel „Glauben und Wissen“ stellte, den Nerv der Zeit traf, zeigten die öffentlichen Reaktionen auf seine Rede, die einhellig als Sensation wahrgenommen wurde. Nach dem Urteil von Hans Joas glichen die Reaktionen vieler Zuhörer in der Paulskirche und am Fernsehschirm einem „religiösen Erweckungserlebnis“ (Joas 2002). Jürgen Habermas entwickelt den Gedanken einer unabgeschlossenen Dialektik des eigenen abendländischen Säkularisierungsprozesses, die zu dem Schluss führt, dass es zum Kern einer postsäkularen Gesellschaft gehört, sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften und die Persistenz religiöser Bekenntnisse in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einzustellen. Glauben und Wissen gelangen so – mit Habermas – zu einem modus vivendi, indem (1) das religiöse Bewusstsein die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeitet und in der „selbstbewussten“ Anwendung des Toleranzprinzips die Möglichkeit radikal verschiedener Weltsichten und Heilsbotschaften annimmt. Weiterhin muss (2) das religiöse Bewusstsein die mit wissenschaftlichen Argumenten vertretenen Einsichten mit seinen religiösen Anschauungen dergestalt in Einklang bringen, dass es ein gesellschaftliches Monopol an Weltwissen bei den Wissenschaften belässt, ohne dass dies in Konflikt mit seinen individuellen religiösen Einstellungen zu geraten hätte. Schließlich muss sich (3) das religiöse Bewusstsein an den grundlegenden Prämissen des Verfassungsstaates orientieren, zu denen es keine Alternative gibt. Ein Verfassungskonflikt zwischen profanen und religiösen Moralbegründungen ist damit prozedural zugunsten einer profanen Moral vorentschieden (vgl. Ha-
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bermas 2001: 14)2, was soviel bedeutet, als dass jede „Lebenswelt folglich in modernen Gesellschaften den ,Säkularisierungstest‘ bestehen [muss]. Dieser Test besteht darin, zu überprüfen, ob eine besondere lebensweltlich imprägnierte Identität die zivilen Bande mit anderen, besonderen Identitäten zumindest nicht zerbricht“ (Eder 2002: 337). Die von Habermas genannten drei Punkte sind insofern anspruchsvoll, als er damit etwas einfordert, was sich in Europa (im Gegensatz zu anderen Weltregionen) seit dem 18. Jahrhundert stets als problematisch gestaltet hat: Nämlich authentische Religiosität mit wissenschaftlichem, technischem und ökonomischem Fortschritt harmonisch miteinander zu verbinden (vgl. Lehmann 2004: 27). Bei einer flüchtigen Lesart dieser Konzeption könnte nun der Anschein entstehen, die Beweislast zur konfliktfreien Ehe von Glauben und Wissen läge ausschließlich bei den Individuen oder Gemeinschaften, die dem Phänomen eines religiösen Lebens oder Bewusstseins noch nicht abgeschworen haben, während die weltliche – durch und durch säkularisierte – Öffentlichkeit lediglich Toleranz zu üben hätte, sofern sich die Gläubigen der Vorherrschaft des Wissens unterordnen. Doch Habermas’ Idee des Postsäkularismus ist komplizierter. „Im Streit zwischen Wissens- und Glaubensansprüchen“, so bemerkt er, „präjudiziert nämlich der weltanschaulich neutrale Staat politische Entscheidungen keineswegs zugunsten einer Seite“ (Habermas 2001: 15). Die pluralisierte Vernunft des Staatsbürgerpublikums ist hier insofern säkularisiert, als sie in strikte Äquidistanz geht zu Traditionen, Wertaussagen, Ideologien und Interessen, und postsäkular ist sie insofern, als sie sich – mit Habermas – osmotisch hin nach beiden Seiten, zum Glauben und zum Wissen, verhält. Diese Idee der Osmose nun ist das Neue, das die post-säkulare Gesellschaft kennzeichnende Prinzip. Hatte bislang der liberale Verfassungsstaat die Gläubigen genötigt, ihre Identität in öffentliche und private Anteile aufzuspalten, mit der Konsequenz, dass die religiösen Überzeugungen, um überhaupt kommunizierbar zu sein, in eine säkulare Sprache übersetzt werden mussten, so zielt Habermas’ osmotisches Verhältnis darauf, dass auch die säkulare Sprache „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt oder wieder entdeckt“. Dies aber bedeutet, dass die Gläubigen wie die Nichtgläubigen auch als Mitglieder moderner Gesellschaften das Artikulationsniveau der eigenen Entstehungsgeschichte präsent halten und mit-bedenken, und nicht nur die Sprache des Rechts oder des Marktes im vielstimmigen Chor der Gesellschaft gelten lassen. Habermas hierzu: „Säkulare 2
Der Hinweis auf die prozedurale Vorentschiedenheit zugunsten einer profanen Moral soll andeuten, dass eine inhaltliche Festlegung im Streit zwischen Glaubens- und Wissensansprüchen nicht von vornherein feststeht, dass aber die Bedingungen einer kommunikativen Anschlussfähigkeit divergierender Meinungen und Grundpositionen als Modus einer zivilen Verständigung nicht im Namen eines religiösen Weltbildes aufgekündigt werden können.
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Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren“ (24). Die postsäkulare Gesellschaft, so lässt es sich hier auf den Begriff bringen, vollbringt an der Religion, was diese am Mythos vollbracht hat. Sie wirkt „im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegen“ und übersetzt, was nicht mehr für alle, und schon längst nicht mehr für alle verbindlich, als moralische Empfindung und Intuition formuliert werden kann, in ein modernes, allgemein verständliches Idiom. Die Habermas’sche Aufhebung der Gegensätze zwischen einer rein säkularen Weltsicht, der wissenschaftlichen Erkenntnis und der religiösen Deutungen in einer nunmehr so bezeichneten postsäkularen Gesellschaft verdankt ihre Überzeugungskraft der Eleganz, mit der Habermas scheinbar inkommensurable Diskurse unter dem hegenden Schutz des liberalen Verfassungsstaats zusammenführt. Habermas will beides: Er hält am aufklärerischen Gestus fest, den politisch-rechtlichen Bereich konsequent zu desakralisieren und die Wissenschaft einzig auf die Vernunft zu gründen und gleichzeitig will er das umfassende Erbe des Christentums – oder besser: der Religion – bewahren und die religiöse Erfahrung oder Sprache als Interpretationshilfe für eine heillos gewordene Welt anschlussfähig halten. Habermas variiert hier ein Thema, das Vattimo in seinem bemerkenswerten Text „Glauben – Philosophieren“ anschlägt. Vattimo bemerkt: „Daß unsere Kultur sich nicht mehr ausdrücklich zum Christentum bekennt und sich vielmehr im Gegenteil als eine laizistische, entchristianisierte, nachchristliche Kultur versteht; und daß sie dennoch in ihren Wurzeln zutiefst durch dieses Erbe geformt ist – dies ist der Grund, von ,positiver‘ Säkularisierung als Merkmal der Moderne zu sprechen“ (Vattimo 1997: 39).
Was bei Vattimo als „positive“ Säkularisierung daherkommt, gerät bei Habermas zur postsäkularen Gesellschaft. Die begriffliche Unterscheidung signalisiert eine leichte Akzentverschiebung: Während Vattimo den christlichen – oder religiösen – Urtext von Kultur und Gesellschaft als ein Erbe betrachtet, welches erinnert werden muss, will Habermas, wenn ich recht sehe, dieses Erbe zur Sprache bringen. Dennoch scheint die Rede von der postsäkularen Gesellschaft auch in der von Habermas vertretenen Version mindestens ebenso viele Fragen aufzuwerfen, wie sie zu lösen vorgibt. Fraglich bleibt es eben, wie es dem Individuum gelingt, religiöse Welterklärung und alltagspraktische Rationalität zu verbinden, insbesondere in einer Welt, in der – wie eine vernunft-kritische philosophische Richtung nicht müde wird zu betonen – eine unreflektierte Wissenschaftlichkeit dem Mythos kaum ferner steht als die Religion. Die Dominanz der zur höchsten Autorität erhobenen Wissenschaft kann hier durchaus zum Problem werden: Die als
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richtig anerkannte wissenschaftliche Erkenntnis, der a priori absolute Priorität eingeräumt wird (oder werden soll), trifft quasi von außen auf den Einzelnen, dessen wissenschaftlicher Inkompetenz eine Kompetenz des Handhabens und Manipulierens gegenübersteht, die ihn eher als Bedienenden denn als Verstehenden auszeichnet. Wissenschaft existiert unabhängig von ihm, ja mehr noch, sie schließt ihn aus dem Erkenntnisprozess aus. Dies aber führt – natürlich gegen die Intention von Habermas – zu einer neuen metaphysischen Situation zurück, nämlich nun zur metaphysischen Weltsetzung, die unabhängig da ist, also zur reinen Objektivität, die vom wissenschaftlichen Funktionsbegriff her entworfen ist. Das osmotische Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Welterkenntnis und religiöser Weltdeutung, von dem Habermas spricht, scheint – so gesehen – ein verzweifelter Versuch, das Untrennbare zu trennen. Beides, Denken und Glauben, bedient sich, worauf schon Derrida hingewiesen hat, derselben Ressourcen (vgl. Derrida 2001: 95). Damit die Wissenschaft ihre Priorität einklagen kann, muss sie auf die wahrhaft wirkliche Welterkenntnis verweisen, die sie nur selbst herstellen kann in einem irrationalen Glauben an ein Absolutes, welches wiederum nichts anderes ist als eine moderne Form metaphysischen Denkens. In der Überwindung der äternisierenden Kraft der Religion setzt sich so der Glaube an die Macht der Erkenntnis an die von Göttern und Gott leergefegte Stelle. Hier zeigt sich eine andere Dialektik der Aufklärung: „Die Metaphysik läßt sich nicht wie eine Ansicht abtun. Man kann sie keineswegs als eine nicht mehr geglaubte und vertretene Lehre hinter sich bringen“ (Heidegger 1954: 68). Wenn der Gläubige aber dennoch eine solche Dominanz der wissenschaftlichen Welterklärung anerkennt, aus welchen Gründen sollte sein religiöses Bekenntnis dann noch von irgendeiner Relevanz für ihn sein, geschweige denn eine existenzielle Verpflichtung beinhalten. Und welche Rolle sollte sie in seinen Alltagspraktiken spielen? Hier scheint Habermas – jedenfalls der Habermas von Glauben und Wissen – einen neuen – quasi-religiösen – Vernunftbegriff einführen zu wollen: Jenseits der reinen kommunikativen Vernunft tut sich ein Reich auf, das unabhängig von der allgemein anerkannten Anerkennungswürdigkeit Bestand hat. Religiöse Weltauslegungen könnten für sich beanspruchen, „rechtfertigungstranszendent“ zu sein. Damit allerdings gelangen wir in einen Zirkel, denn wenn der Gläubige seine religiösen Vorstellungen als rechtfertigungstranszendent ansieht, warum sollte er dann ein Wissensmonopol anderer Quellen akzeptieren, und wären dann noch die Verfahrensregeln des Verfassungsstaates umstandslos anerkennungswürdig? Die „Osmose“ als neues Bild zur Beschreibung der neuen Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen, die Habermas einführen möchte, scheint hier noch interpretationsbedürftig. Lässt sich bei Habermas die Grenze zwischen Wissen und Glauben als eine Membran denken, wodurch beide Bereiche – wissenschaftliche Welterkenntnis
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und religiöse Weltdeutung – zwar von einander unterscheidbar bleiben, jedoch für gegenseitige Stimulationen sensibel bleiben, so werden in jüngerer Zeit mit einem neuen religiös wiedererstarkten Selbstverständnis gänzlich anders zu lesende Deutungen des Postsäkularismus präsentiert, welche die Säkularisierung ohne Umstände als Fehlentwicklung und Verlust zu entlarven suchen und die Religion wieder in ihre ursprüngliche Funktion einzusetzen gedenken. Es sind dies Positionen, die einer religiösen Befreiung der Wissenschaft das Wort reden. Am prononciertesten auf den Begriff gebracht findet sich dieses Motiv in einem kleinen Text von Gesine Schwan, der zuerst in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienen ist und auf einen Vortrag vor dem „Forum Hochschule und Kirche“ zurückgeht. Eine genauere Durchsicht verdient dieser Text mit dem Titel Das zerstörte Tabu. Die Wissenschaft braucht Religion zu ihrer Befreiung (Schwan 2003) schon allein deshalb, weil sich in ihm in nuce die Motive einer neu erwachten Empfänglichkeit für das Religiöse finden, welche einerseits einem Glauben an die ausschließliche Wahrheit der experimentellen Naturwissenschaft nicht (länger) anzuhängen vermag, andererseits aber auch die Entzauberung der Idee der Entzauberung schmerzhaft zu spüren vorgibt. In dem Moment, wo das Ideal der Liquidierung der Mythen selbst als Mythos erkannt wird, liegt der Sprung in den Mythos nicht gar so fern. Oder anders gewendet: In dem Moment, in dem die Nebenwirkungen einer Befreiung der Wissenschaft von der Religion offenkundig werden, wird der Ruf laut, die gegenwärtige Wissenschaft brauche die Religion zu ihrer Befreiung. Nun ist es nicht so sehr der Ruf nach der Religion und einem religiösen Fundament, der hier irritiert, vielmehr ist es seine Begründung. Über die Partialisierung von Wissenschaft in Gestalt des Spezialistentums ließe sich sicherlich fruchtbar streiten, ebenso wie über die Abhängigkeit der Wissenschaft von ökonomischer Rentabilität, doch höchst problematisch erscheint dann doch, wenn behauptet wird, dass die Unterwerfung der Wissenschaft zugunsten wirtschaftlicher Interessen und unter partikularistische Gesichtspunkte begünstigt werde „durch das Fehlen eines übergeordneten Tabus und einer umgreifenden Wahrheitsverpflichtung. Denn nur dieses Tabu böte einer Wissenschaftsentwicklung Einhalt, welche sich Partikularinteressen unterwirft“. Ein Tabu also – frei nach Luhmann eine Kommunikationsverhinderungskommunikation – soll der Wissenschaft Orientierung und ein rechtes Selbstverständnis zurückbringen. Nicht auf einen konsentierten (durch wen denn auch?) Moralcode vertraut die Autorin dieses Vorschlags, sondern auf ein Kommunikationsverbot, legitimiert durch die drei Offenbarungsreligionen. Mit anderen Worten: Wenn sich die Wissenschaft – wie andere gesellschaftliche Subsysteme auch – der Logik des wirtschaftlichen Erfolgs und der Verwertungslogik des Marktes unterwirft, helfen nicht mehr die Mittel der Aufklärung, sprich: Kritik, vielmehr soll das Versagen wissenschaftlicher Selbstaufklärung durch den tabuisierten
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Einschluss des Ausschließens korrigiert werden. Die schlichte Parole lautet nunmehr: Mit dem Wahrheitsgebot gegen das Wachstumsgebot. Schwan fährt fort: „Wenn der zentrale Grund für die Unfreiheit gegenwärtiger Wissenschaft im sozial bedingten mentalen Verlust der Verpflichtung auf eine verbindliche und umfassende Wahrheit liegt, dann wäre der Beitrag von Religion, soll sie zur Befreiung von Wissenschaft verhelfen, in einer Rückbindung an die Wahrheitsverpflichtung zu suchen. (...) Wenn Wissenschaft ihre Verpflichtung auf Wahrheit erhalten will, muss sie sich auf eine wissenschaftstranszendierende, die Endlichkeit überschreitende Legitimation und Verpflichtung beziehen“ (Schwan 2003).
Wie eine solche Legitimation aussehen sollte, sagt die Autorin leider nicht. Überdies wirft ein solcher Vorschlag die Frage auf – will nicht jeder nach seiner „grundlegenden Sicht der Religionsbestimmung“ mehr oder weniger subjektiv urteilen – unter welche Observanz bestellter Glaubenshüter zukünftig die Freiheit der Wissenschaft gestellt werden sollte. Eine Wissenschaft transzendierende Legitimation und Verpflichtung ließe sich aus demokratischen Verfahren und Institutionen, die über den Sinn, das Wohl und Wehe von Wissenschaft deliberieren und entscheiden, sehr wohl vorstellen. Doch wie um alles in der Welt könnte eine solche Legitimation „die Endlichkeit überschreiten“? Was hier vor sich geht, ist die Ersetzung von Wissenschaft (und Politik) durch Religion. Schwan weiter: „Vor diesem Horizont [der Situierung des westlichen Wissenschaftsverständnisses in der klassischen Antike und im Kern der drei Offenbarungsreligionen] ist Wissenschaft gottgewollt und sinnstiftend. In solchem ganzheitlichen Wahrheitsverständnis ist sie auch Quelle der Freude und des Lebens, weil sich alle Erkenntnis der Welt letztlich auf Gott richtet“.
Hatten wir es oben bei Habermas noch mit dem schwierigen Problem der Unterwerfung unserer religiösen Bekenntnisse und Weltbilder unter die Autorität der Wissenschaft zu tun, so wird hier das Verhältnis schlichtweg umgedreht. Sprach Habermas noch von den nichthintergehbaren semantischen Gehalten einer religiösen Sprache, für die wir auch unter den Bedingungen einer postsäkularen Gesellschaft offen bleiben müssen, so werden bei Schwan diese Semantiken selbst zur letzten Bestimmung legitimierter wissenschaftlicher Forschung: „Wissenschaft, die die Endlichkeit der Menschen, damit auch ihre Fehl- und Korrumpierbarkeit aus dem Blick verliert, gerät in Schuld“ (Schwan 2003, Hervorhebung hinzugefügt). Der Einsicht, die Wissenschaft habe aus sich selbst heraus keinen normativen Wegweiser, keine Orientierung am ganzheitlichen Horizont der Wahrheit, wie Schwan bemerkt, wird auch derjenige zustimmen können, der nicht die Flucht nach hinten in die von Religion legitimierte Wissenschaft antreten will, doch gerade aus dieser Einsicht in die Kontingenz entspringt die Frei-
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heit kreativen menschlichen Handelns. Für die Wissenschaft gilt das gleiche wie für alle anderen Aspekte menschlicher Tätigkeit auch, dass wir weder über einen moralischen Supercode verfügen, der allzeit die richtigen Wertmaßstäbe bereithielte, wie eben auch religiöse Letztbegründungen nicht verfangen. Es gehört zu den eingestandenen Errungenschaften des (politischen) Liberalismus, die – wie Rawls sagen würde – Bürden des Urteilens zu akzeptieren und jenseits einer umfassenden Konzeption des Guten und Richtigen jene gesellschaftliche Integration zu erlangen, von der Schwan behauptet, dazu bedürfe es des religiösen Kitts. Damit rekurriert Schwan auf die klassische These Durkheims einer solidaritätsstiftenden, moralisch integrierenden Funktion der Religion, während seit geraumer Zeit die Religionssoziologie darauf hinweist, dass der Religion in hochgradig fragmentierten Gesellschaften eher die Rolle eines organisierten „pars“ neben dem Parteiensystem und zwar als Milieurepräsentant im Rahmen einer heterogenen, komplexen Gesellschaft zukommt. Luhmann äußert gar den Verdacht, eine einheitliche Religion könne sich nur in einer bereits integrierten Gesellschaft herausbilden. Die Crux einer jeden funktionalen Herangehensweise liegt in dem Umstand, dass sie die Erfüllung einmal gefundener Funktionen auf Ewigkeit stellt und auf diese Weise gesellschaftliche Wandlungsprozesse unterschätzt oder übersieht (vgl. Pollack 2001). Wird dennoch die Notwendigkeit jenes gesellschaftlichen Vertrauens unterstellt, das Schwan anspricht, so muss es rein innerweltlich generiert werden, ebenso, wie man hinzufügen möchte, wie ein gesundes demokratisches Misstrauen. Absurd wird schließlich der Versuch, die Deflationierung von Wahrheitsansprüchen, also die Einsicht in die Fallibilität menschlichen Wissens und die Unvollkommenheit von Erkenntnis an das Eingeständnis menschlicher Beschränktheit vor dem Wirken und Wissen Gottes zu koppeln. Hier klingt der Anspruch, die Wissenschaft zu befreien, nur noch nach Versatzstücken des New Age: Die Schöpfung, „die zum Guten angelegt und von Gott in die partnerschaftliche Mitverantwortung der Menschen gegeben ist“ (Schwan 2003) wird hier zum Tao der Wissenschaft. Die Brisanz der Rede von den postsäkularen Gesellschaften, die mit dem Anspruch daher kommt, einen Epochenwandel zu signalisieren, wird hier offenkundig, und es ist kaum zu sehen, wie aus dem Versuch, neuerliche Tabus zu errichten, ein Konfliktschlichtungspotential der Religion abzuleiten sein sollte. Eine mit Absolutheit vorgetragene Orientierung am Gedanken der Schöpfung und „die Bindung an einen religiösen, absolut verpflichtenden und umfassenden Wahrheitsbegriff“ (Schwan 2003) beendet eher jedes Gespräch, als dass sie jene „verblendende Enge“ (Schwan) vertreiben könnte, welche die Blicke aufs Wesentliche verstellt. Dies zu betonen wird Richard Rorty nicht müde. In einem 1994 verfassten Artikel, in dem er sich – vor Habermas „postsäkularer“ Wende – noch ganz an der Seite des aufklärerischen Projekts des späten Erben
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der Frankfurter Schule sieht, schrieb Rorty: „The main reason religion needs to be privatized is that, in political discussions with those outside the relevant religious community, it is a conversation-stopper“ (Rorty 1999: 171). Rorty paraphrasiert den oben genannten Säkularisierungstest, wenn er – und das könnte als abschließende Antwort auf jeglichen Versuch verstanden werden, neue Tabus zur Orientierung zu errichten – bemerkt: „(T)he epistemology suitable for a democracy is one in which the only test of a political proposal is its ability to gain assent from people who retain radically diverse ideas about the point and meaning of human life, about the path to private perfection“ (173). 4. Ein Lösungsvorschlag von Hilary Putnam Angesichts dieser Fragen und Probleme mag ein Blick auf Hilary Putnams Religionsphilosophie helfen. Gerade ein wie Putnam „analytisch sozialisierter Philosoph“ (Ludwig Nagl), der seine Abkehr vom Szientismus reflektiert, kann vielleicht für Aufklärung sorgen, wie die Habermas’sche Osmose zwischen Wissen und Glauben zu denken ist und was daraus für postsäkulare Gesellschaften folgen könnte. Im Anschluss an Wittgenstein geht Putnam davon aus, dass keine Kontinuität zwischen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen besteht. Beide werden in ganz unterschiedlichen Vokabularen formuliert, und religiöse Überzeugungen lassen sich nicht „wissenschaftlich“ beweisen oder widerlegen. Gegen Habermas könnte aus dieser Position eingewendet werden, dass bei der Übersetzung aus einer religiösen Sprache in eine säkulare immer etwas verloren gehen muss, Irritationen nicht verhindert werden können, weil es sich um verschiedene Sprachspiele handelt. Dennoch glaubt Putnam, in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus drei Prinzipien aufstellen zu können, die für wissenschaftliche und religiöse Behauptungen gleichermaßen gelten sollen: Wissenschaftliche wie religiöse Behauptungen und Weltkonstruktionen müssen sich (1) in der praktischen Lebensgestaltung bewähren, beide unterliegen (2) dem strikten Fallibilismus-Vorbehalt und beide müssen (3) für andere kommunizierbar sein bzw. sich vor öffentlichen Foren diskutieren lassen. Für das Subjekt bedeutet dies nun, dass es unter Beachtung dieser Prinzipien seine religiösen wie nicht-religiösen Überzeugungen testen und in Einklang miteinander bringen soll: Das Individuum muss hier nicht – wie im Habermas’schen Modell – seine religiösen Vorstellungen vor einem mit letztem Weltwissen ausgestatteten naturwissenschaftlichen Weltbild rechtfertigen, allerdings müssen die religiösen Inhalte, etwa in der Form von Wertfragen, auf dem gleichen Fundament aufbau-
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en, wie die naturwissenschaftlichen Kenntnisse. Das bedeutet, die Rechtfertigung des Religiösen liegt bei Putnam darin, dass „das Festhalten an oder das Verwerfen einer religiösen Einstellung zu der Weise gehört, in der ein Mensch versucht, seine Individualität auszudrücken und ein gutes Leben, für sich und seine Gemeinschaft, zu ermöglichen“ (Quante 2002: 352). Die Vereinbarkeit religiöser Inhalte und weltlicher, wissenschaftlich-rationaler Erkenntnisse zeigt sich in der Möglichkeit der praktischen Lebensgestaltung der Individuen, beide in ihrer Identität und Alltagspraxis zu vereinbaren. In dieser Konzeption liegt ein gehaltvoller Vermittlungsvorschlag zur Position von Gesine Schwan. In der Zielsetzung einig, kann Putnam jedoch auf den Absolutheits- und Verallgemeinerungsanspruch letzter Glaubensinhalte, die bei Schwan mitschwingen, verzichten. Das Postsäkulare dieser Konzeption beweist sich vor allem in der Art, wie es den Umgang verschiedener Religionen untereinander ermöglicht. Der strikte Fallibilismus-Vorbehalt, der die Existenz eines Wahrheitsmonopols bei keiner Religion vermutet, muss den irreduziblen Pluralismus religiöser Bekenntnisse unterstellen und anerkennen, wie auch das Kommunikationsgebot zur Offenlegung religiöser Inhalte drängt. Dieser Prozess der Reflexion bzw. Selbstdistanzierung und Selbstinfragestellung der religiösen Weltdeutung beinhaltet mehr als das klassische Toleranzgebot, fordert er doch immer auch, einen Restzweifel an den eigenen Überzeugungen zu bewahren. Dies aber führt zu einem neuen Problem: Am schwierigsten ist wahrscheinlich die oben bereits aufgeworfene Frage zu beantworten, wie es vor dem von Putnam entworfenen Hintergrund einem Subjekt in Anbetracht anderer, als mehr oder weniger gleichwertig anerkannter Glaubenslehren und der im modernen Denken tief verwurzelten Bedeutung des wissenschaftlichen Diskurses gelingen kann, zu seinen religiösen Inhalten zu stehen und Wissen und Glauben miteinander in Einklang zu bringen.3 Es ist hier eine offene Frage, ob der Glaubende eine Distanz zu seinen eigenen Glaubensinhalten, also zu den existentiellen Fragen der eigenen Identität, aufbauen kann, oder ob er gar zu einer ironischen, relativierenden Haltung in der Lage sein wird, denn dann wären die religiösen Überzeugungen wahrscheinlich nicht mehr wirklich bindend und verpflichtend. In der großen Toleranzstudie von Rainer Forst findet sich als eine mögliche Antwort immerhin die Version einer „Selbstrelativierung ohne Relativismus“ (Forst 2003: 531), die das Festhalten am eigenen Wahrheitsanspruch mit dem Vorrang der Toleranz verbindet, indem sie einsehbare Gründe für eine milde Selbstbegrenzung liefert und so einen Identitätskern aus Überzeugungen, Wertsetzungen und möglicherweise religiösen Weltdeutungen angesichts eines nicht hintergehbaren Pluralismus möglich macht. Wenn Rorty bemerkt, „[d]ie Einsicht, daß die Geltung der eigenen Überzeugungen nur 3
Diese Frage behandelt auch Quante (2002), allerdings kommt er zu anderen Schlüssen.
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relativ ist, und dennoch unerschrocken für sie einzustehen, unterscheidet den zivilisierten Menschen vom Barbaren“ (Rorty 1997: 87)4, so stellt sich im Sinne des Postsäkularismus die Frage, ob das, was hier über den zivilisierten Menschen gesagt wird, auch dezidiert für den gläubigen Menschen gelten kann. 5. Leben wir in einer postsäkularen Konstellation? Abschließend soll der Versuch gewagt werden, aus diesen sehr unterschiedlichen und recht ungewissen theoretischen Zugängen einige Schlüsse über das Konfliktlösungspotential der Religionen angesichts postsäkularer Beschreibungen zu ziehen. Der Begriff „post-säkular“ – jedenfalls in der Wendung, die Habermas ihm gegeben hat – soll ein Deutungsmuster beschreiben, welches das Verhältnis von Modernisierung, Religion, Vernunft und Politik in der Weise fasst, dass zum einen Säkularisierung nicht als „Nullsummenspiel“ betrachtet wird, in dem die Gewinne der einen Seite zu Lasten der anderen gehen. Zum anderen soll er der nach wie vor auch in modernen Gesellschaften existierenden Persistenz religiöser Imprägnierungen unterschiedlichster Deutungen, Wertungen und Erfahrung Rechnung tragen, die gerade in unserer Zeit wieder vermehrt in die Öffentlichkeit drängen. Die „Kopräsenz des religiösen Anderen“ (Klaus Eder) lässt sich kaum länger leugnen – bis in die Alltagspraxis sind wir konfrontiert mit religiösen Handlungen und Symbolen, bis hin zur Rechtfertigung terroristischer Gewalt durch religiöse Motive. Die „unsichtbare Religion“, von der Luckmann gesprochen hat, wird damit allzu sichtbar, wenn auch nicht immer verstehbar. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob der Begriff einer postsäkularen Gesellschaft die Idee eines solchen Deutungsmusters tatsächlich angemessen transportieren könnte. Eher schon könnte mit einiger Berechtigung von einer in Ansätzen vorhandenen „postsäkularen Mentalität“ oder Kultur innerhalb einiger westlicher Gesellschaften gesprochen werden. In einem ähnlichen Sinn argumentiert Casey Haskins: „We now in some sense inhabit a ›post-secular‹ culture. (…) We inhabit a post-Enlightenment culture that is in different ways preoccupied with, haunted by, and confused about, religion – a concept and field of practice that resists definition no less than do the concept and practice of art, and for many of the same reasons. (…) Religion today, in short, emerges as a phenomenon of 4
Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich bei Putnam (1990: 178), der Rorty, wie er selbst sagt, von ganzem Herzen zustimmen kann. Putnam schreibt: „[We should] accept the position we are fated to occupy in any case, the position of beings who cannot have a view of the world that does not reflect our interests and values, but who are, for all that, committed to regarding some views of the world – and for that matter, some interests and values – as better than others“ (zit. in Rorty 1998: 43).
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ironies, negations, and paradoxical reversals that seems sooner or later to be ›about‹ just about everything that it at first seemed to exclude – a phenomenon wherein, as if in some postmodern Blakean prophecy, the low becomes the high, and the profane becomes the sacred, or something like the sacred“ (Haskins 2003: 283 ff.).
Allerdings sollte deutlich geworden sein, dass zwischen der postsäkularen Deutung, wie sie hier Haskins vornimmt, und der von Habermas Welten liegen. Die normative Aufladung, die das „Postsäkulare“ bei Habermas erfährt, findet kaum ein empirisches Korrelat angesichts der Vielzahl unterschiedlichster Formationen von Säkularisierungsprozessen weltweit. Statt schlicht anzuerkennen, dass die Überzeugungskraft der Säkularisierungsthese, wie sie seit Max Weber immer wieder aufgestellt worden ist, im letzten Jahrzehnt stark nachgelassen hat und selbst innerhalb der westlichen Welt, wie Lehmann betont, „die Annahme von der progressiven Säkularisierung aller Lebensbereiche auf unsicherem Fundament steht“ (Lehmann 2004: 145) und an Stelle darauf mit verstärkter Aufmerksamkeit für die recht unterschiedlichen Beziehungsgeflechte von Religion, Wissenschaft und Politik zu reagieren, gibt die Rede von der postsäkularen Gesellschaft vor, einen neuen Begriff für ein neues Verhältnis zwischen Glauben und Wissen zu haben. Auf der Ebene der Gesellschaft lässt sich jedoch keinesfalls von postsäkular reden, höchstens auf der Mikro-Ebene der Individuen in einigen europäischen Gesellschaften. Statt des wegen seiner nicht eindeutigen Konnotationen ungeeigneten Begriffs „postsäkular“ würde ich, wäre der Begriff nicht etwas schwammig und abgeschmackt, anstelle von postsäkular lieber von einer reflexiven Säkularisierung sprechen. Eine Gesellschaft im Stadium der reflexiven Säkularisierung wäre offen für die Behauptung, dass man in unseren westlichen modernen Gesellschaften vom christlichen Erbe in einem viel umfassenderen Sinne sprechen müsse, nämlich in dem Sinne, dass die Geschichte der christlichen Religion nicht nur zur Geschichte des Abendlandes gehöre, sondern einen Leitfaden durch sie hindurch bilde. Dies etwa ist die Ansicht von Gianni Vattimo, der emphatisch von Säkularisierung als einer „dem Christentum inhärenten Gegebenheit“ spricht und der den positiven Sinn der Säkularisierung darin sieht, „dass die laizistische Moderne sich auch und vor allem als Fortführung und entsakralisierende Interpretation der biblischen Botschaft konstituiert“ (Vattimo 1997: 36 f.). Wenn Vattimo immer wieder vom christlichen Erbe spricht, das unsere Kultur geprägt hat, selbst wenn sie sich nicht mehr ausdrücklich zum Christentum bekennt, so erinnert dies an das bekannte Wort des französischen Dichters, Schriftstellers, Heideggerfreunds (und Resistance-Kämpfers) René Char, der schrieb: „Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.“ Hannah Arendt hat dieses Wort – wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang – kommentiert. Sie bemerkt: „Das Testament, das dem Erben sagt, was rechtmäßig sein eigen ist, verfügt über vergangenen Besitz für eine Zukunft.
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Ohne Testament oder, um die Metapher aufzulösen, ohne Tradition – die auswählt und benennt, die übergibt und bewahrt, die anzeigt, wo die Schätze sind und was ihr Wert ist – scheint es keine gewollte zeitliche Kontinuität zu geben“ (Arendt 1994: 9). Das, so scheint mir, ist eine gute Beschreibung jener Dialektik der Säkularisierung in den nun so genannten postsäkularen Gesellschaften: Gerungen wird um die Deutung und Bedeutung der religiösen Erbschaften (im Plural) und um den Versuch gesellschaftlicher Sinngebungen. Dabei scheint der Globalisierungsprozess – entgegen der ursprünglichen Annahme der Modernisierungstheorie (vgl. Eder 2002: 332) – die Zahl der Religionen und damit der Traditionsbestände und Erbteile weiter zu erhöhen. Angesichts von 9 900 eigenständigen Religionen, die es heute geben soll – allein das Christentum kennt 33 000 Konfessionen – vermag man sich den vielstimmigen Chor religiöser Interpretationen kaum vorzustellen. Der von Putnam vorgeschlagene Fallibilismus-Vorbehalt, die Nötigung zur öffentlichen Diskussion und die Anbindung von Glaubensinhalten an lebbare gesellschaftliche Praktiken scheint mir hier ein ganz brauchbarer Kompass zu sein. Das Befriedungspotential des Reflexivwerdens religiöser Imprägnierungen liegt also, so der nicht allzu optimistische Schluss, in der Sichtbarmachung, das heißt in der öffentlichen Inszenierung von Konflikten, die sich aus den in die Öffentlichkeit drängenden religiösen Bekenntnissen und Symbolen ergeben. Europa, das ist schon vielfach bemerkt worden, ist hier ein Schlüsselfall für die Logik und Dynamik des Verhältnisses von Säkularisierung und reflexiv werdender Säkularisierung. Wir leben auf einem Kontinent, der sich als säkular versteht im Sinne einer Kultur, in der im Selbstverständnis dieser Gesellschaften rational einklagbare Geltungsansprüche argumentativer Rede den Primat vor anderen Formen von sprachlicher Kommunikation übernommen haben (vgl. Eder 2002: 335). Gleichzeit jedoch erzwingt die Rückkehr der Religion in die Öffentlichkeit, den Interpretationshintergrund der eigenen Gesellschaft wieder neu auszuloten. Ob Kopftuchverbot, die Anrufung Gottes in einer Europäischen Verfassung, die Bestimmung der menschlichen Würde oder der Umgang mit religiösen Fundamentalismen, immer zeigen sich die höchst konfliktiven, religiös imprägnierten Gemengelagen, die im inneren einer Person, einer Gesellschaft oder gar weltweit virulent sind. Die liberale Privatisierungsthese, darauf wurde bereits hingewiesen, vermag hier keine Antworten zu geben. Kulturell-religiös imprägnierte Lebenswelten sind – mehr als wir lange zuzugeben bereit waren – an Sinnhorizonte gebunden, die sich radikal post-metaphysisch nicht restlos erschließen lassen. Dies erfordert jedoch die Bereitschaft zur Relativierung säkular-laizistischer Grundüberzeugungen (Eder) und zur Anerkennung religiöser Sprachspiele. Die reflexiv-
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säkulare Antwort auf die Frage nach dem Wert der Religionen könnte also mit Wilfrid Cantwell Smith wie folgt lauten: „Ich sage nicht, dass alle Religionen gleichermaßen gut sind. Ich glaube nicht einmal, dass eine Religion gleich gut ist“ (zit. nach Putnam 2003: 57). Eine postsäkulare Mentalität zeichnet sich damit durch die Einsicht aus, dass keine Religion ein Monopol auf religiöse Werte und Weltdeutungen hat und dass es durchaus voneinander abweichende Werte und Tugenden gibt, die von den einzelnen Religionen vertreten werden. Dies liegt daran, dass religiöse Glaubensvorstellungen und spirituelle Erfahrungen von Begriffen und Praktiken abhängen, die wiederum nicht von bestimmten Lebensformen getrennt werden können. Die öffentliche Kommunikation hierüber wird die Konfliktmatrix der so genannten post-säkularen Gesellschaften auf Weiteres bestimmen, in Europa und auch anderswo. Literatur Arendt, Hannah (1994): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München. Derrida, Jacques/Vattimo, Gianni (Hrsg.) (2001): Die Religion. Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (2001): Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der „Religion“ an den Grenzen der bloßen Vernunft. In: ders./Vattimo 2001: 9-106. Eder, Klaus (2002): Europäische Säkularisierung – ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft? Eine theoretische Anmerkung. In: Berliner Journal für Soziologie 3: 331-343. Forst, Rainer (2003): Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a. M. Habermas, Jürgen (2001): Glauben und Wissen. Frankfurt a. M. Haskins, Casey (2003): Aesthetics and Negative Theology. In: Nagl 2003: 283-300. Heidegger, Martin (1954): Überwindung der Metaphysik. In: ders.: Vorträge und Aufsätze, Bd.1. Pfullingen James, William (1997): Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Frankfurt a. M./Leipzig. Joas, Hans (2002): Eine Rose im Kreuz der Vernunft. In: Die Zeit, Nr. 7, 7. Februar: 32. Leggewie, Claus (2001): Römisches Minarett und deutscher Islam. Bad Homburg. Lehmann, Hartmut (2004): Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen. Luckmann, Thomas (2002): Veränderungen von Religion und Moral im modernen Europa. In: Berliner Journal für Soziologie 3: 285-293. Nagl, Ludwig (Hrsg.) (2003): Religion nach der Religionskritik. Wien. Oehler, Klaus (2002): Hilary Putnams Religionsphilosophie. In: Raters/Wilaschek 2002: 325-343. Pollack, Detlef (2001): Probleme der funktionalen Religionstheorie Niklas Luhmanns. In: Soziale Systeme 7/1: 5-22. Putnam, Hilary (1990): Realism with a Human Face. Cambridge, Mass. Putnam, Hilary (1992): Renewing Philosophy. Cambridge, Mass. Putnam, Hilary (2003): Plädoyer für die Verabschiedung des Begriffs ,Idolatrie‘. In: Nagl 2003: 49-59. Quante, Michael (2002): Existentielle Verpflichtung und Toleranz. Anfragen an den religiösen Philosophen Hilary Putnam. In: Raters/Wilaschek 2002: 344-362.
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Merkmale gewaltresistenter Glaubensgemeinschaften – Überlegungen zum Schutz religiöser Überlieferung vor politischer Vereinnahmung Andreas Hasenclever
In den letzten Jahren häufen sich die Nachrufe auf die Säkularisierungsthese. Peter Berger (1999: 18), der einst mit allem akademischen Nachdruck den politischen Niedergang von Religionen und Glaubensgemeinschaften vorausgesagt hatte, räumt prognostische Fehler ein. Für Rodney Stark (1999) ist Säkularisierung ein veraltetes theoretisches Konstrukt, das sich an den empirischen Befunden zu Modernisierungsprozessen nicht bewähren konnte. Und Martin Riesebrodt stellt lakonisch fest, dass „die Säkularisierungserwartung westlicher Intellektueller“ gründlich enttäuscht worden sei (Riesebrodt 1998: 67). Vielmehr erleben die großen Glaubensgemeinschaften wie der Buddhismus, das Christentum, der Hinduismus, das Judentum und der Islam gegenwärtig in weiten Teilen der Welt eine beeindruckende Renaissance (vgl. Barrett et al. 2001; Dark 2000; Moghadam 2003). Die Zahl ihrer bekennenden Mitglieder wächst, sie organisieren sich in Kirchen, Tempeln und Bewegungen, und sie beginnen politische Forderungen zu stellen: Sei es nach mehr Respekt vor ihren Traditionen, sei es nach mehr Mitsprache bei der Verteilung von Geld und Macht, oder sei es nach einer grundlegenden Reform korrupter Regime. Nicht zuletzt auf der Grundlage dieser Beobachtungen halten es Ulrich Willems und Michael Minkenberg (2003: 16) in einem PVS-Sonderheft zu „Politik und Religion“ für angebracht, von einem Politikfeld „Religionspolitik“ zu sprechen, um das herum sich ein eigenständiger wissenschaftlicher Diskurs etablieren sollte. Die Renaissance der Religionen wird in der Forschung als Folge von Globalisierungsprozessen und Modernisierungskrisen interpretiert (Keddie 1998; Riesebrodt 2000; Senghaas 1998). Enttäuschte Zukunftserwartungen, zunehmende Verteilungskonflikte und die Auflösung traditioneller Sozialstrukturen erzeugen in den betroffenen Gesellschaften ein Klima der Unsicherheit und Angst. Unter solchen Bedingungen haben Glaubensgemeinschaften als Institutionen der Kontingenzbewältigung regelmäßig Zulauf. Sie organisieren ein Minimum an sozialer Sicherheit und sie bieten einen Orientierungsrahmen, der von seinem über-
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zeitlichen Anspruch her unabhängig von gesellschaftlichen Verfallserscheinungen ist, individuelles Leid erträglich macht und Auswege aus der sozialen Krise weist. So berichtet beispielsweise Der Spiegel (Nr. 31, 26. Juli 2004: 17) von einer Studie zu religiösen Einstellungen von Türken in Nordrhein-Westfalen. Demnach bezeichneten sich im Jahr 2003 71 Prozent der befragten Türken als „religiös“ oder „sehr religiös“ – 14 Prozent mehr als noch im Jahr 2000. Im gleichen Zeitraum stieg auch die Zahl derer, die ihre wirtschaftliche Situation als schlecht einstuften und sich als gesellschaftlich diskriminiert erlebten. Und mit Blick auf das Erstarken fundamentalistischer Bewegungen schreibt Martin Riesebrodt (1998: 87), dass sie „spezifische Reaktionen vor allem auf die sozialen und kulturellen Risiken und Bedrohungen der Moderne dar[stellen], wie Proletarisierung, soziale Marginalisierung, enttäuschte Aufstiegserwartungen oder Zerfall bzw. Transformation der Familienstruktur und -moral.“ Selbst wenn sich diese materialistischen Interpretationen religiöser Renaissance wie die geheime Rache einer nach wie vor säkular orientierten Sozialwissenschaft lesen, die an ihrem Gegenstand verzweifelt, so bleibt doch klar, dass Religionen und Glaubensgemeinschaften prägende Faktoren des gesellschaftlichen Zusammenlebens waren und sind. Von hier aus liegt dann die bange Frage nahe, ob auch Krieg und Gewalt mit Religionen und Glaubensgemeinschaften in Beziehung gesetzt werden müssen. Dabei mehren sich gerade in jüngster Zeit die Stimmen derjenigen, die meinen, dass religiöse Renaissance vor allem in islamischen Ländern oftmals mit einer Zunahme blutiger Auseinandersetzungen zwischen Andersgläubigen einhergehe (Hall 2003; Huntington 1996). Die Gegenposition wird von denjenigen vertreten, die politische Gewalt nach wie vor als ein säkulares Phänomen begreifen. Für sie haben sowohl die Renaissance der Religionen als auch kriegerische Konflikte ähnliche materielle Ursachen – eben Modernisierungs- und Entwicklungskrisen (Senghaas 1998). Aus dieser Perspektive wird dann zwar eingeräumt, dass religiöser Dialog und Toleranz lobenswerte Bemühungen seien (Fearon/Laitin 2003: 88). Aber sie könnten am globalen Gewaltniveau wenig ändern, weil dieses durch wirtschaftliche und politische Faktoren wie Wachstum und staatliche Leistungsfähigkeit bestimmt werde. In meinen Beitrag will ich mich zunächst mit der Frage nach dem Zusammenhang von Religion und kriegerischen Konflikten auseinandersetzen. Ich werde die These vertreten, dass religiöse Überlieferungen in kriegerischen Auseinandersetzungen nur selten primärer Konfliktgegenstand sind. Vielmehr werden Kriege in aller Regel aus politischen und ökonomischen Gründen geführt. Gleichwohl gibt es Hinweise darauf, dass Religionen den Verlauf politischer Konflikte nachhaltig beeinflussen können. In diesem Zusammenhang werde ich die zweite These aufstellen, dass religiöse Überlieferungen politische Konflikte
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sowohl verschärfen als auch entspannen können, und zwar je nach dem, ob es gewaltbereiten Eliten gelingt, religiöse Überlieferungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Wenn aber Religionen einmal eskalierend und einmal deeskalierend wirken, dann müssen wir der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen sie den Einsatz von Gewalt eher fördern und unter welchen Bedingungen sie ihn eher verhindern. In diesem Zusammenhang werde ich die dritte These vertreten, dass religiöse Überlieferungen in politischen Konflikten dann eine gewalthemmende Wirkung entfalten, wenn es der Glaubensgemeinschaft gelingt, die Binnenkomplexität ihrer Überlieferungen zu schützen und sie vor Instrumentalisierung durch gewaltbereite Eliten zu bewahren. Schließlich besagt meine vierte – und sicherlich problematischste – These, dass Glaubensgemeinschaften die Binnenkomplexität ihrer Überlieferungen gegen Instrumentalisierungsversuche um so besser schützen können, je höher die religiöse Bildung ihrer Mitglieder ist, je autonomer eine Glaubensgemeinschaft gegenüber Staat und Gesellschaft ist und je besser sie transnational vernetzt ist. 1. Die säkularen Ursachen von Kriegen In der Friedens- und Konfliktforschung werden gemeinhin zwischenstaatliche und innerstaatliche Kriege unterschieden.1 Für beide Kriegstypen sind in jüngster Zeit eine Fülle quantitativer Studien erschienen, die der Frage nach dem Einfluss religiöser Differenzen auf die Gewaltanfälligkeit politischer Konflikte nachgehen. Dabei orientieren sich diese Studien in aller Regel an den düsteren Erwartungen Samuel Huntingtons (1996), der Mitte der 1990er Jahre ein Zeitalter blutiger Religionskriege prognostiziert hatte. Laut Huntington wird die Zahl ideologischer Auseinandersetzungen, die wir aus den Zeiten des Kalten Krieges kennen, dramatisch zurückgehen und entsprechend wird der Anteil interreligiöser Konflikte am globalen Kriegsvorkommen zunehmen. Solche interreligiösen Gewaltkonflikte erwartet Huntington besonders zwischen christlichen, muslimischen und asiatischen Staatenbünden, wobei Asien als Zivilisation durch einen sehr speziellen Mix aus buddhistischer, hinduistischer und taoistischer Kultur
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Informationen und Überblicke zu kriegerischen Auseinandersetzungen bieten unter anderem das „Konfliktbarometer“ des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung [http://www.hiik.de/de/index_d.htm], die Hamburger Arbeitsstelle Kriegsursachenforschung [http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/index.htm], das Integrated Network for Social Conflict Research an der University of Maryland [http://www.cidcm.umd.edu/inscr/], das Correlates War Project [http://cow2.la.psu.edu/] und das Uppsala Conflict Data Project [http://www.pcr.uu.se/database/index.php], welches im Journal of Peace Research jährlich einen Entwicklungsbericht zu gewaltsamen Konflikten in der Welt publiziert.
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definiert wird, deren Gemeinsamkeit sich primär aus der Ablehnung christlicher oder muslimischer Dominanzansprüche ergibt.2 Mit Blick auf die internationale Politik wurden die Erwartungen Huntingtons gewogen und für zu leicht befunden (Chiozza 2002; Russett/Oneal 2001: 239269; Henderson/Tucker 2001; Tusicisny 2004). Unabhängig davon, ob Daten aus dem Correlates of War Project, aus dem COSIMO-Projekt oder aus dem Uppsala Conflict Data Project benutzt wurden, immer wieder zeigt sich, dass das Kriegsrisiko zwischen Staaten aus unterschiedlichen Religionskreisen nicht signifikant höher ist als das Kriegsrisiko zwischen Staaten aus ein und demselben Religionskreis. Außerdem lässt sich seit dem Ende des Kalten Krieges keine Zunahme interreligiöser Konflikte feststellen. Ganz im Gegenteil: Der Anteil so genannter „Zivilisationskonflikte“ am globalen Konfliktvorkommen ist für den Zeitraum von 1989 bis 2001 deutlich geringer als für den Zeitraum von 1945 bis 1989. Deshalb lassen sich internationale Gewaltkonflikte nach wie vor plausibel als Macht- und Interessenrivalitäten interpretieren, die mit religiösen Differenzen einher gehen können, es aber nicht müssen (Müller 1998; Russett/Oneal 2001). Ob sich an diesem Befund im Zuge des jüngsten Irakkrieges etwas ändern wird, ist noch nicht absehbar. Allerdings lassen sich in der internationalen Politik bislang noch keine Allianz- und Blockbildungsprozesse nach Maßgabe religiöser Gemeinsamkeiten beobachten, die einem „Clash of Civilizations“ im Huntington’schen Verständnis vorangehen müssten. Außenpolitik bleibt auch nach dem Kalten Krieg im Großen und Ganzen opportunistisch. Ein ähnliches Bild zeigt die Analyse von Bürgerkriegen (Collier/Hoeffler 2001; Fearon/Laitin 2003; Fox 2001). Zwar gab und gibt es viele blutige Auseinandersetzungen, in denen sich Andersgläubige gegenüberstanden und -stehen. Denken wir nur an die Ausschreitungen in Thailand, Indonesien oder auf den Philippinen, an Nigeria, die Elfenbeinküste oder auch an den Kosovo und Tschetschenien. Aber es lassen sich weltweit etwa gleich viele Gewaltkonflikte ohne religiöse Konnotationen identifizieren. So wurde beispielsweise 1994 im christlichen Ruanda ein Völkermord an den im Land lebenden Tutsi ins Werk gesetzt, der mit primitivsten Mitteln und äußerster Grausamkeit verübt wurde. Im sunnitischen Somalia befehdeten sich seit Anfang der neunziger Jahre verfeindete Clans mit einer Rücksichtslosigkeit und Härte, dass die USA intervenierten, um das Elend der Zivilbevölkerung zu beenden. Und im Nordwesten des Sudan morden und vertreiben arabische Muslime afrikanische Muslime. Weitere Bei2
Huntington (1996: 57) unterscheidet im einzelnen den chinesischen, den japanischen, den indischen, den islamischen, den westlichen, den lateinamerikanischen, den orthodoxen, und (möglicherweise) den afrikanischen Kulturkreis. Zwischen diesen acht großen Zivilisationen würden in Zukunft die Hauptkonfliktlinien der Weltpolitik verlaufen, während die Kulturkreise nach innen durch relativ niedrige Gewaltniveaus gekennzeichnet seien.
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spiele für Länder, in denen blutige Bürgerkriege ohne religiöse Konnotationen ausgefochten wurden oder werden, sind Angola, Mozambique, Kongo, Westsahara in Afrika, Kolumbien, El Salvador oder Nicaragua in Lateinamerika, oder auch Burma, Kambodscha, Nepal oder der indische Bundesstaat Assam. Die schiere Zahl von Bürgerkriegen zwischen Angehörigen ein und derselben Religion hat zur Folge, dass Glaubensunterschiede in quantitativen Untersuchungen bedeutungslos werden. So stellt Ted Robert Gurr (2000: 232) trocken fest, dass religiöse Variablen keinen signifikanten Einfluss auf das innerstaatliche Gewaltvorkommen haben. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die aufwändigen Untersuchungen von Jonathan Fox (2001), Errol Henderson und David Singer (2000) oder James Fearon und David Laitin (2003): Offenkundig können sich Gesellschaften auch ganz ohne Glaubensunterschiede zu Grunde richten. Was sich in statistischen Studien allerdings immer wieder zeigt, ist die große Bedeutung ökonomischer und politischer Faktoren für die nationale Gewaltanfälligkeit (vgl. Blomberg/Hess 2002; Collier 2003; Senghaas 1998). So wächst das Bürgerkriegsrisiko eines Landes in direkter Abhängigkeit von Wirtschaftskrise und Staatsverfall. Anhaltende Knappheit führt regelmäßig zu massiven Verteilungskonflikten zwischen konkurrierenden Eliten, welche weltweit die zentralen Gewaltakteure sind. Dabei gilt, dass Konflikte von der herrschenden Elite solange unterdrückt werden können, wie der staatliche Repressionsappart funktioniert. Aber in dem Maße, in dem das nationale Einkommen abnimmt, schwindet die staatliche Kontrollfähigkeit und entsprechend steigen die Anreize zur Bildung bewaffneter Oppositionsbewegungen durch Gegeneliten, was wiederum eine deutliche Erhöhung der Bürgerkriegsanfälligkeit eines Landes zur Folge hat. Es ist deshalb kein Zufall, dass bewaffnete Feindseligkeiten vor allem in krisengeschüttelten Regionen des Südens zu beobachten sind, während sie in den reichen Demokratien des Nordens außergewöhnlich selten bleiben. Was deshalb quantitative Studien zu Bürgerkriegen immer wieder betonen, ist die Notwendigkeit ökonomischer und politischer Reformen als Friedensstrategien, welche die Anreize für Gewaltstrategien bei organisationsfähigen Eliten senken sollen. 2. Grenzen der statistischen Befunde Auch wenn Gewaltkonflikte unstrittig von politischen und wirtschaftlichen Ursachen dominiert werden, dürfen die referierten Befunde nicht so verstanden werden, als ob religiöse Überzeugungen und die Haltung von Glaubensgemeinschaften für Konfliktverläufe unbedeutend seien. Derartig weitreichende Schlüsse lassen die vorliegenden Studien aus vier Gründen nicht zu.
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2.1 Keine Differenzierung nach Kriegstypen Den meisten quantitativen Studien liegen undifferenzierte Listen innenpolitischer Gewaltkonflikte seit 1945 zugrunde. Eine Typologisierung findet nicht statt. Es wird vorausgesetzt, dass die erfassten Auseinandersetzungen hinreichend ähnlich sind, um nach gemeinsamen Ursachen zu fahnden. Es sprechen aber gute Gründe dafür, dass Religionen und Glaubensgemeinschaften in manchen Konflikten eine größere Rolle spielen als in anderen. So legen Untersuchungen zu den „neuen Kriegen“ (Kaldor 1999; Münkler 2002) nahe, dass Religionen und Glaubensgemeinschaften den Konfliktverlauf nur beeinflussen können, wenn die Antagonisten auf Massenloyalität angewiesen sind. Sobald kleine und brutale Machtcliquen in der Lage sind, mit kleinen und gut bewaffneten Verbänden ganze Landstriche zu terrorisieren, werden Religionen und Glaubensgemeinschaften für das Kampfgeschehen irrelevant (Fearon/Laitin 2003). Und in dem Maße, wie dieser Kriegstyp zunimmt, müssen – statistisch gesehen – Religionen und Glaubensgemeinschaften in der globalen Konfliktanalyse an Gewicht verlieren, auch wenn sie in einer ganzen Reihe von Einzelfällen durchaus kausale Bedeutung haben. Einen ersten Hinweis auf die Nützlichkeit, zunächst Typen von Bürgerkriegen zu identifizieren, um sie dann getrennt zu analysieren, bieten Untersuchungen von Marta Reynal-Querol (2002) und Andrej Tusicisny (2004). Marta ReynalQuerol unterscheidet auf der Grundlage der Daten des Minority-at-Risk Projekts ethnische von revolutionären Bürgerkriegen. Überspitzt formuliert kämpft eine Regierung in ethnischen Bürgerkriegen gegen eine politische Minderheit und in revolutionären Bürgerkriegen gegen eine politische Klasse (Reynal-Querol 2002: 37). Während bei letzteren vor allem ökonomische Variablen zur Erklärung des Kriegsvorkommens einschlägig sind, zeigt sich bei ethnischen Bürgerkriegen ein signifikanter Zusammenhang zwischen der religiösen Polarisierung einer Gesellschaft und ihrer Gewaltanfälligkeit. Allerdings ist ihr Ergebnis (noch) nicht robust, was mit ihrer Kategorisierung von Religionen zu tun haben kann, die auch nach animistischen Kulten differenziert (Fearon/Laitin 2003: 84). Andrej Tusicisny schlägt in seiner Studie die Kategorie „core intercivilizational conflicts“ vor. Hierunter versteht er blutige Territorialkonflikte sowohl innerhalb als auch zwischen Staaten, bei denen die Konfliktparteien unterschiedlichen Zivilisationen im Sinne Huntingtons angehören. Es zeigt sich, dass diese Art von Auseinandersetzungen nach dem Ende des Kalten Krieges zugenommen hat. Allerdings ist der Zusammenhang nur schwach ausgeprägt. Außerdem werden Entkolonialisierungskriege ohne theoretische Begründung von der Untersuchung ausgeschlossen. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob sich die Typologie von Tusicisny in weiteren Untersuchungen bewähren wird.
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2.2 Homogene Weltreligionen ohne interne Differenzierungen Wie gesagt, orientieren sich die einschlägigen quantitativen Studien zur Bedeutung religiöser Differenzen für Gewaltkonflikte an den Vorgaben Huntingtons (1996: 57), der acht große Kultur- und Religionskreise unterscheidet und behauptet, dass zwischen ihnen die meisten Kriege des 21. Jahrhunderts stattfinden werden. Diese These ist leicht zu widerlegen. Aber für die Bestimmung der Rolle von Religionen in Gewaltkonflikten ist damit nicht viel gewonnen. Denn die Kategorien Huntingtons führen dazu, dass Glaubensdifferenzen innerhalb der acht Kultur- und Religionskreise vernachlässigt werden. So werden die Konflikte zwischen Regierung und militanten Islamisten in Ägypten, Afghanistan, Algerien, Iran oder Syrien als Auseinandersetzungen ohne religiöse Dimension gezählt, weil die Protagonisten alle dem Islam zuzurechnen sind. Genauso bleiben Gewaltkonflikte zwischen Schiiten und Sunniten wie in Pakistan und im Irak oder auch die zwischen Hindu-Nationalisten und Sikhs in Indien unberücksichtigt. Solange aber all diese Auseinandersetzungen für die Statistik nicht als religiöse Konflikte gezählt werden, verwundert es nicht, wenn religiöse Differenzen die Gewaltanfälligkeit von Staaten unberührt lassen. Ob freilich differenziertere Kategorien tatsächlich eindeutigere Ergebnisse produzieren, bleibt abzuwarten. 2.3 Uneinheitliche Eskalationsverläufe Auch wenn sich (noch) kein signifikanter Unterschied in der Kriegsanfälligkeit religiös-homogener und religiös-heterogener Beziehungen nachweisen lässt, so kann es doch sein, dass Konflikte in der einen Beziehungsgruppe ein höheres Eskalationspotential haben als Konflikte in der anderen Beziehungsgruppe. Und in der Tat konnte Andrej Tusicisny (2004: 494-495) auf der Grundlage des Uppsala Conflict Data Projects zeigen, dass die Eskalationswahrscheinlichkeit für Konflikte zwischen Andersgläubigen deutlich höher ist als für Gleichgläubige. Während sich nach 1989 nur 24 Prozent der Konflikte zwischen Gleichgläubigen zu Kriegen entwickelten, waren dies 54 Prozent aller Auseinandersetzungen zwischen Andersgläubigen. Religionen wirken mithin nicht als Brandursache, sondern als Brandbeschleuniger. Sie legen das Feuer nicht, an deren Ausbreitung sie oftmals beteiligt sind. Damit ergänzt und bestätigt die Studie von Andrej Tuscisny eine in der qualitativen Forschung gut belegte Vermutung: Konflikte eskalieren heftiger, wenn es gewaltbereiten Eliten gelingt, religiöse Überlieferungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren (Appleby 2000; Juergensmeyer 2000; Krech 2002). So gingen in den 1990er Jahren Nationalismus und Religion in Serbien eine unheilige Allianz ein (Calic 1998; Sells 1996). Das Milosevic-Regime setzte
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religiöse Überlieferungen gezielt ein, um die serbische Gewaltpolitik in Bosnien vor der Bevölkerung zu rechtfertigen, und die orthodoxe Kirche des Landes ließ die Vereinnahmung religiöser Symbole widerstandslos zu. Sie duldete die öffentliche Gleichsetzung des bosnischen Unabhängigkeitsstrebens mit Judas’ Verrat und die Verklärung der serbischen Geschichte zur permanenten Passion. Selbst die Waffen der übelsten Banden wurden von orthodoxen Priestern gesegnet. Auch wenn Glaubensunterschiede sicherlich nicht an der Wurzel des Konflikts auf dem Balkan lagen, so wurden sie doch von der serbischen Staatsführung propagandistisch ausgenutzt, und nach Meinung von R. Scott Appleby (2000: 64-78) wurde deren brutale Kriegsführung auf diese Weise überhaupt erst möglich. Ein ähnlicher Fall politischer Instrumentalisierung religiöser Differenzen lässt sich in Nigeria beobachten (Bergstresser 2002; Harnischfeger 2002). Hier greifen muslimische Eliten des Nordens zum Islam als Waffe im Kampf um Macht und Wohlstand. Sie radikalisieren ihre Anhänger durch gezielte Christenpogrome und versuchen, vom rohstoffreichen Süden des Landes, der überwiegend von Christen besiedelt ist, politische und materielle Zugeständnisse zu erpressen. Wie Johannes Harnischfeger (2002: 78) zeigt, spielen die Nordeliten dabei mit dem Feuer. Es ist fraglich, ob sie eine religiöse Massenbewegung noch kontrollieren können, wenn sie einmal in Fahrt geraten ist. Jedenfalls sind in Nigeria mit dem politischen Machtkampf, der ökonomischen Krise, der grassierenden Korruption und der religiösen Bigotterie alle Ingredienzen für einen grausamen Bürgerkrieg gegeben. Die Konflikte auf dem Balkan und in Nigeria sind keine Einzelfälle. Ob wir den Blick auf Irland, Indien, Indonesien, Pakistan, die Philippinen oder den Sudan lenken, immer wieder zeigt sich, dass hinter der religiösen Fassade materielle Interessenkonflikte konkurrierender Eliten stehen, die religiöse Differenzen zur Mobilisierung ihrer Gefolgschaft einsetzen (vgl. Eckert 2003; Elwert 1995, 1998; Seybolt 2001; Tetzlaff 2003). Denn die gezielte Verknüpfung von Religion und Politik kann ungeheure Energien freisetzen. Sie führt nur zu oft zu einer kosmischen Überhöhung der eigenen Konfliktziele, zur Verteufelung des Gegners, zur Steigerung der Opferbereitschaft, und zur Kompromissunfähigkeit, da im Kampf mit dem „Bösen“ nur Sieg und Niederlage zählen. Unter solchen Bedingungen erscheint Gewalt nicht nur als legitimes Mittel, sondern geradezu als geboten, um die letzten und höchsten Werte einer Gemeinschaft zu verteidigen. Auf diese Weise tragen Religionen und Glaubensgemeinschaften immer wieder dazu bei, dass soziale Gewaltschwellen übersprungen werden und Konfliktparteien alle Hemmungen im Umgang mit anderen Menschen verlieren.
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2.4 Ambivalente Wirkungen von Religionen und Glaubensgemeinschaften Schließlich konzentrieren sich die vorliegenden quantitativen Studien auf den Zusammenhang von Religion und Gewalt. Damit übersehen sie, dass Religionen und Glaubensgemeinschaften Konflikte nicht nur eskalieren, sondern dem Einsatz von Gewalt auch entgegenwirken oder Konflikte de-eskalieren können. Während die eskalierende Wirkung von Religionen auf Konfliktverläufe auch quantitativ dokumentierbar ist, fehlt für ihre Friedenswirkung noch die statistische Evidenz. Und das ist nicht verwunderlich, denn bislang gibt es keine quantifizierbaren Indikatoren für religiöses Engagement in politischen Konflikten. „Religiöse Heterogenität“ jedenfalls hilft nicht weiter, denn es kommt oftmals gerade auf das friedensstiftende Engagement religiöser Akteure innerhalb von Glaubensgemeinschaften an. Dass es solches Engagement gibt, und dass es Wirkungen hat, zeigen eine Reihe von Fallstudien. Demnach bildeten sich aus der Mitte der großen Glaubensgemeinschaften immer wieder politische Bewegungen, die auf der Grundlage ihrer Traditionen mit gewaltfreien Mitteln gegen Unrecht und Unterdrückung ankämpften. So entstanden zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft in Indien der Nationalkongress unter der Führung von Mahatma Gandhi und die so genannten Diener Gottes im Nordwesten des Subkontinents unter der Leitung von Khan Abdul Gaffar Khan (vgl. Banerjee 2000; Gandhi 2004; Johansen 1997; Steger 2000). Während Gandhi seine Ablehnung von Gewalt vor allem mit dem hinduistischen Ahimsa-Konzept begründete, baute Khan, der auch Franziskus der Muslime genannt wird, seine politische Philosophie des zivilen Ungehorsams auf den Koran auf. Er wurde damit zu einem wichtigen Bezugspunkt all jener Muslime, die sich in ihren Ländern für gewaltfreie Reformen einsetzen. Weitere Beispiele für friedliche Reformbemühungen von Religionsgemeinschaften sind der Einsatz der katholischen Kirche gegen Diktatur und Staatsterrorismus auf den Philippinen und der Kampf der protestantischen Kirchen Südafrikas um die Aufhebung des Apartheidsregimes. So entwickelte sich die Kirche auf den Philippinen seit Ende der siebziger Jahre zu einer veritablen Oppositionsbewegung, die zunächst demokratische Wahlen und soziale Reformen forderte und schließlich zum gewaltfreien Widerstand gegen die Marcos-Diktatur aufrief (vgl. Wooster 1994; Youngblood 1990). Während der „Peoples Power Revolution“ im Frühjahr 1986 organisierte Kardinal Jaine Sin, der Erzbischof von Manila, Massenproteste, in deren Folge Marcos das Land fluchtartig verlassen musste und die Regierungsgewalt an die Opposition um Corazon Aquino überging. In Südafrika kämpfte der South African Council of Churches unter der Leitung des Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu jahrzehntelang gegen die Apartheid (vgl. Graybill 1995; Johnston 1994). Dass die weiße Regierung Ende
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der achtziger Jahre einlenkte und den Weg für einen Machtwechsel öffnete, ist auch das Verdienst dieses christlichen Engagements für einen friedlichen Wandel. Nicht zuletzt spielen Glaubensgemeinschaften bei der Beendigung blutiger Auseinandersetzungen und in der Phase der Friedenskonsolidierung immer wieder eine wichtige Rolle, indem sie beispielsweise die Vertrauensbildung zwischen den Konfliktparteien auf der Grundlage gemeinsamer Werte fördern, indem sie ein neutrales Verhandlungsforum bieten und ein entspanntes Verhandlungsklima schaffen, oder indem sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Präsenz die unparteiische Überwachung von Vereinbarungen anbieten können (Überblick bei Sampson 1997). Dadurch ermöglichen sie selbst in kritischen Situationen eine kooperative Bearbeitung von Konflikten und wirken dem fatalen Trend einer Verengung des Spektrums möglichen Konfliktverhaltens auf Gewalt entgegen. So hat die katholische Laienorganisation Sant’ Egidio als aufrichtiger Vermittler zwischen den Rebellen und der Regierung maßgeblich zur Beendigung des Bürgerkriegs in Mozambique 1990 beigetragen. Der Lutherische Weltbund übernahm eine ähnliche Rolle in Guatemala, und in Kambodscha organisierten buddhistische Mönche in den neunziger Jahren zahlreiche Friedensmärsche quer durch das Land, forderten die Bevölkerung zur Teilnahme an Wahlen auf und setzten sich für die De-Militarisierung der Gesellschaft ein. Damit haben sie nach Meinung von Peter van Dijk, dem Leiter des Entwaffnungsprogramms der EU in Kambodscha, eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Stabilisierung des Landes gespielt. 3. Religiöse Unterschiede als intervenierende Variablen Wenn Religionen und Glaubensgemeinschaften unter sonst ähnlichen politischen und ökonomischen Bedingungen manchmal eskalierend und manchmal stabilisierend oder de-eskalierend auf Konflikte wirken, dann stellt sich die Frage, wie diese Unterschiede zu erklären sind. Bislang wurden hierzu keine systematischen Untersuchungen durchgeführt. Als relativ unstrittig gelten allerdings drei Beobachtungen: Zunächst zeigt sich in der Forschung immer wieder, dass Glaubensüberlieferungen vor allem dann eskalierend wirken, wenn sie von politischen Eliten für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. Zum Zweiten variieren sowohl die Erfolgsrate politischer Akteure bei der Instrumentalisierung religiöser Traditionen als auch die Leistungsfähigkeit von Glaubensgemeinschaften bei der Entschärfung von Konflikten in allen Weltreligionen. Es gibt also keine Weltreligion, die von ihrem Wesen her besonders gewalttätig oder besonders friedensförderlich wäre (vgl. Cox 1994; Rapoport 1993). Deshalb kann die festgestellte
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Varianz nicht auf inhaltliche Merkmale zurückgeführt werden, sondern muss etwas mit formalen Merkmalen von Glaubensgemeinschaften zu tun haben, die es gewaltbereiten Eliten entweder erleichtern oder erschweren, religiöse Überlieferungen für ihre Zwecke auszunutzen. Schließlich zeigt sich in den Arbeiten zum Zusammenhang von Religion und Gewalt regelmäßig, dass Glaubensüberlieferungen vor allem dann eskalierend wirken, wenn sie selektiv interpretiert werden (Almond/Sivan/Appleby 2003: 90116; Little 1996: 81-83; Rapoport 1993: 448). Während diejenigen Traditionen von militanten Bewegungen betont werden, die Gewalt im endzeitlichen Kampf mit aggressiven Frevlern als angemessen erscheinen lassen und möglicherweise sogar fordern, werden gegenläufige Überlieferungen, welche die fundamentale Würde aller Menschen hervorheben oder die den Gläubigen Wege des friedlichen Wandels nahe legen, unterdrückt. Dieser Mechanismus lässt sich beispielsweise an der Taliban-Bewegung in Afghanistan studieren, die maßgeblich von Abgängern pakistanischer Koranschulen getragen wurde (Esposito 2002: 16). Sie zeigten keinerlei Verständnis für die differenzierte islamische Tradition zum Recht auf kollektive Selbstverteidigung in Notwehrsituationen und pflegten ein manichäisches Textverständnis, welches in seinem dogmatischen Kern darauf hinauslief, eine kurzsichtige Eroberungs- und Zerstörungspolitik zu legitimieren. In ähnlicher Weise erkennen Julia Eckert (2003) und Nikki R. Keddie (1998) bei der hindu-nationalen Bewegung in Indien einen äußerst einseitigen Umgang mit den komplexen Überlieferungen des Subkontinents. Sie werden vor allem in den Schulen des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) so aufbereitet, dass sie die gewaltsame Ausgrenzung von Christen und Muslimen aus der indischen Politik fordern und rechtfertigen. Traditionen des friedlichen Miteinanders, welche nicht zuletzt von Mahatma Gandhi in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gepredigt wurden, werden demgegenüber aus dem Kanon relevanter Überlieferungen ausgeschlossen oder marginalisiert. Schließlich hängt die Begründung des militanten Anspruchs der radikal-zionistischen Siedler in Palästina an einem einzigen der 613 Mizwot. Mizwot sind religiöse Kerngebote der Thora, so wie sie von Maimonides zusammengestellt worden sind. Die radikalen Siedler berufen sich auf Numeri 33, 53: „Und sollt das Land einnehmen und darin wohnen, denn ich habe das Land gegeben, daß ihr’s in Besitz nehmt“. Dieses eine Gebot machen sie zum Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubensverständnisses und alle anderen Gebote werden diesem Dreh- und Angelpunkt untergeordnet, was in der Konsequenz heißt, dass sie sich berechtigt fühlen, ihre Siedlungen bis zum Letzten zu verteidigen – und zwar auch gegen andere Juden, wenn diese vom wahren Glauben abgefallen sind und die Aufgabe heiligen Landes fordern. Auf der Grundlage der drei Beobachtungen ist es für den Zusammenhang von Religion und Gewalt also von zentraler Bedeutung, ob es gewaltbereiten Eliten
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gelingt, Interpretationshoheit und Selektionskompetenz über Glaubenstraditionen zu gewinnen, mit deren Hilfe sie Anhänger für militante Auseinandersetzungen mobilisieren können (Hasenclever/Rittberger 2000). Umgekehrt dürfte die Instrumentalisierung religiöser Überlieferungen für Gewaltstrategien um so schwerer sein, je besser Glaubensgemeinschaften die Binnenkomplexität ihrer Überlieferungen schützen und vor dem strategischen Zugriff gewaltbereiter Eliten bewahren können. Im Folgenden sollen in dieser Hinsicht drei formale Merkmale von Glaubensgemeinschaften diskutiert und illustriert werden, welche die Instrumentalisierbarkeit von Traditionen in der einen oder anderen Weise beeinflussen können. 4. Formale Merkmale gewaltresistenter Glaubensgemeinschaften So fällt auf, dass Glaubensüberlieferungen immer wieder dann von gewaltbereiten Eliten instrumentalisiert werden, (a) wenn die religiöse Bildung der Gläubigen gering ist, (b) wenn die Autonomie der Glaubensgemeinschaft gegenüber Staat und Gesellschaft schwach ist und (c) wenn der Grad ihrer transnationalen Vernetzung unterentwickelt ist. Denn unter solchen Bedingungen ist der Widerstand gegen radikale Vereinfachungen religiöser Überlieferungen und gegen ihre strategische Zuspitzung auf machtpolitische Ziele am geringsten. Umgekehrt gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Widerstandsfähigkeit von Religionen und Glaubensgemeinschaften gegen machtpolitische Vereinnahmung in dem Maße steigt, in dem (a) die religiöse Bildung der Gläubigen zunimmt, (b) die Glaubensgemeinschaft institutionelle Autonomie genießt und (c) die Glaubensgemeinschaft transnational vernetzt ist. Zwar dürfen diese drei Merkmale in ihrer Wirksamkeit nicht überbewertet werden. Auch ist anzunehmen, dass es noch andere relevante Faktoren gibt. Aber die drei Merkmale bieten einen ersten Ansatzpunkt für die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen religionsgestützter Friedfertigkeit in und zwischen Staaten. Außerdem weisen sie auf mögliche politische Strategien hin, die darauf angelegt sind, das zivilisierende Potential von Religionen zu unterstützen. Denn im Kern ginge es darum, eine Politik der gezielten Wahrung der inneren Komplexität religiöser Überlieferungen ins Werk zu setzen. 4.1 Mit der Abnahme religiöser Bildung wächst das Instrumentalisierungsrisiko Nach R. Scott Appleby (2000: 64-78) fällt die Instrumentalisierung religiöser Differenzen als Mobilisierungsressourcen um so leichter, je geringer die religiöse Bildung von Klerus und Gemeinde ist. Unter religiöser Bildung versteht er nicht
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nur die Kenntnis der grundlegenden Glaubensdokumente und -inhalte, sondern auch ein Bewusstsein um die Komplexität und Vielschichtigkeit der Überlieferungen, die sich von ihrem Wesen her gegen jeden strategischen Zugriff versperren. Demnach konnten die serbische und die kroatische Regierung ihre Eroberungspolitik im Bosnienkrieg nur deshalb mit religiösen Argumenten rechtfertigen, weil Tito die Kirchen über Jahrzehnte hinweg gesellschaftlich marginalisiert hatte und die Bürger und Bürgerinnen zu „religiösen Analphabeten“ (Appleby 2000: 69) geworden waren. Die meisten von ihnen verfügten nicht über die notwendige Kompetenz, um den Missbrauch ihrer Traditionen zu erkennen und sich deren grotesken Deutungen zu entziehen. Für den brutalen Bürgerkrieg auf Sri Lanka stellt Eva K. Neumaier (2004: 75-81) fest, dass die buddhistische Bevölkerung durch die britische Kolonialpolitik systematisch von ihren Traditionen abgeschnitten worden ist, und dass die Briten die Verbreitung eines künstlichen „protestantischen Buddhismus“ gefördert hatten, der sich als äußerst anfällig für nationalistische Agitation und militante Hetze gegen Tamilen erwies. In Nigeria beobachtet Heinrich Bergstresser (2002: 2), dass die teilweise haarsträubende Rechtsprechung durch Sharia-Gerichte in den nördlichen Bundesstaaten erst verständlich wird, wenn die rudimentären Islamkenntnisse der Bevölkerung berücksichtigt werden. Vor allem „die menschenverachtenden Steinigungsurteile“ würden keiner ernsthaften theologischen Prüfung standhalten. Und auch die Christen in Nigeria sind seit Jahrzehnten einer massiven Missionierungskampagne evangelikaler Prediger aus den USA und Europa ausgesetzt, die mit viel Geld eine extrem simplizistische Kulturkampftheorie zwischen Christentum und Islam predigen (Kamphausen 1998: 64-70). Dadurch heizen sie die ohnehin schon sehr gespannte Lage zwischen Nord- und Südnigeria weiter an und erschweren den mühsamen Dialog zwischen gemäßigten Christen und Muslimen. Schließlich kommt eine Studie zur Southern Baptist Convention, einem nationalen Zusammenschluss evangelikaler Gemeinden in den USA mit etwa 16 Millionen Mitgliedern, zu dem Schluss, dass vor allem diejenigen Geistlichen und Gläubigen eine fundamentalistische Interpretation ihres Glaubens vertreten, die über keine theologische Ausbildung verfügen und einen vergleichsweise niedrigen Bildungsstand aufweisen (vgl. Almond/Appleby/Sivan 2003: 127 f.). Dieser Befund findet seine Entsprechung in Untersuchungen zu militanten Bewegungen im Islam, deren Führer und Mitglieder mehrheitlich theologische Laien sind und die den Koran höchst einseitig auslegen (Endres/Jung 1998; Esposito 2002). Umgekehrt war für die skizzierten religiösen Friedensbewegungen in aller Regel ein komplexes Verständnis ihrer jeweiligen Traditionen kennzeichnend, welches sie breitenwirksam zu vermitteln suchten. Sowohl Khan Abdul Ghaffar Khan als auch Mahatma Gandhi mussten ihre Interpretationen gegen Kritiker aus der eigenen Glaubensgemeinschaft verteidigen, die entweder für einen religiösen
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Quietismus oder für revolutionäre Gewalt eintraten (Banerjee 2000: 47-53; Steger 2000: 168 f.). In diesem Zusammenhang bauten beide Religionsführer Bildungszentren und Schulen auf, in denen die Vielschichtigkeit ihrer Überlieferungen diskutiert und die Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen betont wurden. Ähnliches galt für Desmond Tutu, der in seinen Predigten zur Apartheid zwar signalisierte, dass sich die politische Unterdrückung in Südafrika einem Punkt nähere, an dem aus christlicher Sicht die Kriterien eines gerechten Krieges erfüllt seien. Gleichwohl trat er in seinen Predigten unbeirrt für Versöhnung und Gewaltfreiheit „in Gottes Namen“ ein und begründete seine Position konsequent biblisch, indem er das christliche Friedensgebot betonte und selbst entschiedene Befürworter der Apartheid als „Kinder Gottes“ anerkannte und respektierte. Schließlich lässt sich die erfolgreiche „Peoples Power Revolution“ auf den Philippinen nicht ohne das Engagement von Ordensleuten und Laien auf lokaler Ebene verstehen. Hier entwickelte sich im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil ein neues Verständnis des katholischen Glaubens, welches stärker als bisher von Fragen sozialer Gerechtigkeit geprägt war und das die „Option für die Armen“ als biblischen Auftrag begriff (Youngblood 1990: 66-71; Hulsman 1992: 171 f.). Die alte Kirchenpraxis, durch Hoffnung auf persönliche Erlösung im Jenseits das massenhafte Elend im Diesseits erträglich zu machen, wurde als unchristliche Ideologie gebrandmarkt, die einzig und allein der Legitimation staatlicher Unterdrückung zum Wohle einer korrupten Minderheit diene. Vielmehr gelte es den politischen Auftrag des Evangeliums ernstzunehmen und gemeinsam mit den Armen umzusetzen. Die entstehende Basiskirchenbewegung auf den Philippinen war für den Positionswechsel der Bischofskonferenz ausschlaggebend, die sich im Laufe der siebziger Jahre von einer Säule des Regimes zu einer seiner schärfsten Kritikerinnen wandelte. Die Notwendigkeit differenzierter religiöser Bildungsarbeit als Gegengewicht zu militanten Interpretationen heiliger Überlieferungen wird mittlerweile auch in der politischen Praxis gesehen. So entstanden beispielsweise in Jakarta ein „Centre for Pesantren and Democracy Studies“ und das „Network Liberal Islam“ (vgl. DIE ZEIT, 14. 8. 2003: 7; DIE ZEIT, 7. 8. 2003: 62). Beides sind potente NGOs, die in der Öffentlichkeit und den islamischen Internaten des Landes für Toleranz und Gleichberechtigung als Grundprinzipien des Islam werben. In Pakistan richtet die muslimische „Citizen Foundation“ Schulen in Armutsvierteln ein, um fundamentalistischen Madrasas das Wasser abzugraben (Financial Times, 30. 12. 2003: 10). Außerdem hat die pakistanische Regierung versprochen, die über 10 000 Koranschulen des Landes registrieren zu lassen und ihnen verbindliche Lehrpläne vorzuschreiben. Die so genannten „Universitäten des Jihad“ sollen geschlossen werden (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 4. 2004: 6). Ob dies allerdings gelingen wird, hängt zu einem großen Teil von der Bereit-
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schaft westlicher Geberländer ab, den Ausbau des staatlichen Schulsystems in Pakistan zu unterstützen. Und sogar in der laizistischen Türkei wird ernsthaft darüber nachgedacht, Korankurse in öffentlichen Einrichtungen anzubieten, um den vielen privaten Kursen der fundamentalistischen Hizbullah etwas entgegenzusetzen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 12. 2003: 5). Denn wie der Theologe Hüseyin Atay ausführt, muss der militante Islamismus im Land auch als Folge staatlicher Ignoranz in Glaubensfragen begriffen werden (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 4. 2002: 14). In guter kemalistischer Tradition habe sich die Religionsbehörde Diyanet Isleri Baskanligi jahrzehntelang darauf beschränkt, den Islam aus dem öffentlichen Leben abzudrängen und die Staatstreue der Geistlichen zu kontrollieren. Die Folgen seien ein unzureichendes religiöses Bildungsangebot und ein anachronistisches Glaubensverständnis gewesen, welches weite Teile der Bevölkerung überhaupt erst für islamistische Parolen empfänglich gemacht habe. Die Bedeutung religiöser Bildungsarbeit als Gegengewicht zur militanten Ausbeutung von Traditionen wird nicht nur in der islamischen Welt gesehen. So hat die Evangelische Kirche in Deutschland (2002: 42) die Erfahrung gemacht, dass „der Beitrag lokaler Kirchen zu Frieden und Entwicklung entscheidend von den Kenntnissen und Einstellungen, der theologischen Bildung (...) der Personen abhängt, die diese Kirchen und Christenräte leiten.“ Entsprechend werden theologische Programme für Kirchen in der Dritten Welt gefördert. Und in Indien kämpfen die überregionalen Medien, Lehrerverbände und Wissenschaftler gegen den Versuch hindu-nationaler Organisationen, in den Lehrplänen für die Grundund weiterführenden Schulen die Überlegenheit der indisch-hinduistischen Tradition gegenüber den Buchreligionen festzuschreiben. Demgegenüber wird ein religionskundlicher Unterricht gefordert, welcher der staatlichen Neutralität gegenüber den Glaubensgemeinschaften verpflichtet ist und ausgewogen über ihre Dogmen und Praktiken informiert (Luce 2002; Reifeld 2001: 59-66). 4.2 Mit der Abnahme religiöser Autonomie wächst das Instrumentalisierungsrisiko Zweitens zeigt sich regelmäßig, dass Religionen um so leichter als Mobilisierungsressourcen missbraucht werden können, je geringer die Autonomie von Glaubensgemeinschaften gegenüber Staat und Gesellschaft ist und je schwächer sie ihre Selbstreflexion organisieren (Almond/Sivan/Appleby 1995: 431 f.; Appleby 2000: 74-78). Vor allem jede enge personelle, institutionelle und finanzielle Verflechtung mit Staatsapparaten erhöht die Instrumentalisierungsanfälligkeit religiöser Überlieferungen. Denn die Abhängigkeit von staatlicher Autorität führt oft dazu, dass sich religiöse Eliten mit ihrem Wissen in den Dienst der
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politisch Mächtigen stellen und damit die Pflege der Überlieferungen verraten. Dass dies ein Problem ist, wird dabei von Geistlichen in der Regel auch wahrgenommen. So antwortet beispielsweise der Vorsitzende der lateinamerikanischen Bischofskonferenz, Kardinal Francisco Javier Errázuriz Ossa, auf die Frage, warum seine Kirche über Jahrzehnte hinweg schreiende Ungerechtigkeiten legitimiert und das Evangelium der Armen unterdrückt habe: „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 12. 2003: 5).3 Und auch mit Blick auf den arabischen Raum wird regelmäßig die enge Verbindung von Staat und Religion als Ausverkauf des Islam beklagt (vgl. United States Institute of Peace 2002). Darüber hinaus führt jede enge Verbindung von Staat und Religion zu Glaubwürdigkeitsverlusten in der Bevölkerung, was wiederum die Instrumentalisierung von Überlieferungen durch politische Oppositionsbewegungen erleichtert. So hat schon Alexis de Tocqueville erkannt, dass jede Gemeinde, die sich in allzu große Nähe zum Staat begibt, als Herrschaftsinstitution wahrgenommen wird (Haynes 2003: 494 f.; Pollack 2003: 452). Die „Armen und Unterdrückten“ sehen sie nicht mehr als Vertreterin ihrer Interessen. Und das hat wiederum zur Folge, dass sie für radikale Bewegungen offener werden, was in islamischen, aber auch in einer ganzen Reihe lateinamerikanischer Ländern zu beobachten ist. Im Gegensatz dazu zeigen die Beispiele, dass die Instrumentalisierung von religiösen Überlieferungen und ihre strategische Interpretation durch die Autonomie von Glaubensgemeinschaften erschwert werden kann (vgl. auch Pollack 2003: 452). So war für die konsequente Anti-Apartheidspolitik der meisten südafrikanischen Kirchen ihre Organisation im South African Council of Churches (SACC) und die Verfügbarkeit eigenständiger theologischer Ausbildungsstätten wie das Christian Institute in Johannesburg von entscheidender Bedeutung (Johnston 1994: 190-199). In Kenia wurde der nationale Kirchenrat zu einem Motor der Demokratisierung des Landes (EKD 2002: 49). Und das Zweite Vatikanische Konzil führte nicht zuletzt deswegen die Institution nationaler Bischofskonferenzen ein, um die Unabhängigkeit der Landeskirchen von weltlichen Mächten zu stärken (United States Institute of Peace 2001: 5). Auch wenn diese Konferenzen keine Garantie für eine kritische Distanz der Kirche zu Staat und Gewalt sind – denken wir nur an die starke Identifizierung des kroatischen Klerus mit der kroatischen Nation –, so zeigt sich immer wieder, dass die Bischofskonferenzen in politischen Auseinandersetzungen durchaus eine eigenständige und zivilisierende Rolle spielen können. Dies gilt beispielsweise für den 3
Auch das Beispiel Nigeria macht deutlich, dass die Personalunion von religiösen und politischen Führern letztere immer wieder in die starke Versuchung führt, ihr Deutungsmonopol für materielle Interessen einzusetzen, weil sie gerade gegenüber einer in religiösen Dingen einfältigen Bevölkerung keinen kompetenten Widerstand fürchten müssen (Harnischfeger 2002).
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Einsatz der polnischen Bischofskonferenz gegen das kommunistische Einparteienregime, für lateinamerikanische Bischofskonferenzen in ihrem späten Kampf gegen massive Menschenrechtsverletzungen durch Militärdiktaturen, für die philippinische Bischofskonferenz in ihrem Engagement für politische Reformen oder auch für die Bemühungen der Bischofskonferenz im ehemaligen Rhodesien, die seit den frühen sechziger Jahren nachhaltig die Abschaffung der Apartheid und ein Ende des Bürgerkrieges forderte. Ein wesentliches Element des Erfolges der Bischofskonferenzen war dabei zum einen die Kontinuität des kirchlichen Engagements, die sich beispielsweise in regelmäßigen Hirtenbriefen zeigte, und zum anderen der Aufbau oder die Nutzung handlungsfähiger Apparate zur Verfolgung der kirchlichen Friedenspolitik wie beispielsweise das Vikariat der Solidarität in Chile oder das Engagement der päpstlichen Kommission Justitia et Pax im ehemaligen Rhodesien. 4.3 Mit Zunahme transnationaler Vernetzung sinkt das Instrumentalisierungsrisiko Drittens sinkt die Gefahr der politischen Vereinnahmung von Religionen in dem Maße, in dem sich Glaubensgemeinschaften transnational vernetzen und öffentlich unterstützen. Dass eine enge Verzahnung von Religion und Nation fatal sein kann, wurde eben diskutiert und hat sich nicht zuletzt in der Parteinahme der serbisch-orthodoxen Kirche für das Milosevic-Regime gezeigt. In gleicher Weise ist auch der Völkermord in Ruanda nur zu verstehen, wenn die unseligen Verbindungen der anglikanischen und katholischen Landeskirchen mit dem Habyarimana-Regime berücksichtigt werden. Solche riskanten Formen nationalreligiöser Symbiosen können durch transnationale Netzwerke verhindert oder aufgelockert werden, und es gibt gute Gründe für die Empfehlung der Evangelischen Kirche in Deutschland (2002: 42-44), die Zusammenarbeit mit Kirchen in Kriegs- und Krisengebieten zu einem Schwerpunkt der ökumenischen Arbeit zu machen. Dabei spielen für die Evangelischen Kirche in Deutschland ihre Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Weltkriege eine zentrale Rolle. Diese dunkle Zeit habe gelehrt, „wie schwer die Leitung der Kirche in einem Kontext von Krieg und Gewalt ist und wie leicht Kirche mitschuldig werden kann an Staatsterror, Mord und Krieg“. Deshalb sei es notwendig und hilfreich, Kirchen und Kirchenleitung in Kriegs- und Krisengebieten zu unterstützen, um sie vor nationaler Parteilichkeit und staatlicher Vereinnahmung zu bewahren. Diesen Schluss legen auch die Erfahrungen kirchlicher Friedenspolitik in Südafrika und das Engagement der interreligiösen World Conference of Religions for Peace (WCRP) in Sierra Leone nahe. Wie Douglas Johnston (1994) zeigt, haben in Südafrika sowohl die Verurteilung der Apartheid als auch die
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korrespondierende Unterstützung gewaltfreier Protestbewegungen durch den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und die World Alliance of Reformed Churches (WARC) den Wandel der großen Mehrheit der südafrikanischen Kirchen von Befürwortern der Rassendiskriminierung zu ihren schärfsten Kritikern nachhaltig beeinflusst. Diese transnationale Einbindung ermöglichte den christlichen Gemeinden in dem zerrissenen Land einen so empathischen wie kritischen Blick auf die eigenen Überlieferungen und ihre politische Verantwortung, der schließlich dazu führte, dass sie mehrheitlich dem Regime in Pretoria ihre Unterstützung entzogen und sich für einen möglichst gewaltfreien Wandel in Südafrika einsetzten. Im bürgerkriegsgeschüttelten Sierra Leone gelang es Mitte der neunziger Jahre dem WCPR einen Interreligiösen Rat einzurichten und aufrechtzuerhalten, dem hochrangige Mitglieder aller nationalen Glaubensgemeinschaften angehörten. Der Rat entwickelte sich schnell zum Knotenpunkt gesellschaftlicher Friedensinitiativen und er spielt bis heute unter größten persönlichen Opfern eine entscheidende Vermittlerrolle zwischen den politischen und militärischen Kräften des Landes. 5. Schlussbemerkungen Kriege werden in aller Regel aus politischen oder ökonomischen Gründen geführt. Dies gilt sowohl für zwischen- wie für innerstaatliche Konflikte. Allerdings ist gerade bei Bürgerkriegen oft zu beobachten, dass religiöse Unterschiede von konkurrierenden Eliten zur Rechtfertigung gewaltsamer Strategien benutzt werden, und dass in der Bevölkerung ein Resonanzboden für diese Rechtfertigungsmuster besteht. Wäre es anders, dann dürften Fragen des richtigen Bekenntnisses in vielen Krisengebieten keine so prominente Rolle spielen. Dabei geht die erfolgreiche Instrumentalisierung religiöser Überlieferungen meist mit ihrer selektiven Auslegung einher. Umgekehrt gibt es Hinweise darauf, dass die Ausbeutung von Überlieferung durch gewaltbereite Eliten schwerer fällt, wenn es den Glaubensgemeinschaften gelingt, die Binnenkomplexität ihrer Traditionen zu wahren und in den Gemeinden ein Bewusstsein um diese Binnenkomplexität zu schaffen. Zwar gibt es in allen großen Religionen Rechtfertigungsmuster für die Anwendung militärischer Mittel als letztes Mittel im Kampf gegen massives Unrecht – wie beispielsweise die Lehre vom Gerechten Krieg in der katholischen Dogmatik oder Reflexionen über den Jihad im Islam zeigen. Aber die Kriterien und Auslegungsregeln, die in solchen Fällen einschlägig sind, entziehen die Legitimation von Gewalt dem einfachen Zugriff durch politische Eliten. Vielmehr spielen jetzt etablierte religiöse Führer eine zentrale Rolle.
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Hieraus folgt die friedensorientierte Empfehlung, die Instrumentalisierung religiöser Traditionen in politischen Auseinandersetzungen dadurch zu erschweren, dass die religiöse Bildung der Gläubigen verbessert wird, dass die Autonomie der Glaubensgemeinschaften von Staat und Gesellschaft erhöht wird und dass ihre transnationale Vernetzung gefördert wird. Religionen müssen gestärkt werden, damit sie dem Frieden dienen können. Dabei steht und fällt die Wirksamkeit dieser Friedensstrategie mit dem Erfolg religiöser Bildung – oder vielleicht besser – religiöser Aufklärung. Denn schließlich geht es immer um den Zusammenhang von Eigenmächtigkeit und Auslegungsbedürftigkeit religiöser Überlieferungen, aus dem heraus ihre Vielschichtigkeit und Sperrigkeit gegen strategische Vereinnahmung überhaupt erst verständlich wird. Nur wenn diese Eigenlogik des Religiösen hinreichend bewusst ist, können die Autonomiesteigerung von Glaubensgemeinschaften und ihre transnationale Vernetzung die Instrumentalisierung von Religionen behindern. Denn für sich genommen bleiben beide Strategien ambivalent, da sie auch von militanten religiösen Bewegungen zur Steigerung ihrer Handlungsfähigkeit eingesetzt werden können. Von der zentralen Bedeutung religiöser Aufklärung für den Schutz von Überlieferungen fällt ein neues Licht auf die Notwendigkeit von Religionsdialogen sowohl innerhalb als auch zwischen den großen Glaubensgemeinschaften. Zum einen stärkt die Form des Dialogs, in dem es um die argumentative Auseinandersetzung über Glaubensfragen geht, das Bewusstsein um die Endlichkeit von Interpretationen und die Vielschichtigkeit der Traditionen. Zum anderen können Dialoge konkrete Kontroll- und Leitfunktionen übernehmen, wenn sie mit staatlichen und kirchlichen Hilfsprojekten verbunden werden. In ihnen wird es dann nicht nur darum gehen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede religiöser Bekenntnisse diskursiv zu erheben, sondern eine Einigung auf geteilte Werte und die Verpflichtung auf zivile Formen der Konfliktbearbeitung voranzutreiben (Küng 1990, 2003). Auf der Grundlage dieser Wertegemeinsamkeiten und des Willens zur Gewaltfreiheit können dann konkrete Arbeits- und Unterstützungsnetzwerke gebildet und gesteuert werden. Um dabei jede Form unkritischer Solidarität mit lokalen Glaubensgemeinschaften zu vermeiden, verpflichten sich die Empfänger über ihre Organisation, ihre Ziele und die Verwendung von Hilfsmitteln regelmäßig Rechenschaft abzulegen. Weil Kriegen in aller Regel Macht- und Wirtschaftsinteressen zugrunde liegen, darf die Wirksamkeit von religiöser Aufklärung, Autonomiesteigerung und transnationaler Vernetzung nicht überschätzt werden. Viele Konflikte werden auch dann eskalieren, wenn politischen Eliten religiöse Legitimationsressourcen entzogen werden. Gleichwohl hat es aus friedenspolitischer Perspektive unbestreitbare Vorteile, wenn sich die großen Glaubensgemeinschaften aus kriegerischen Auseinandersetzungen heraushalten und Parteilichkeit – soweit es ihre
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Traditionen zulassen – vermeiden. Denn in Krisen- und Kriegsgebieten sind organisierte Gruppen wichtig, die nicht in das Gewaltgeschehen verwickelt sind. Sie können die humanitäre Versorgung der Zivilbevölkerung übernehmen, den Konfliktparteien bei der Suche nach einem Ausweg aus der Kriegslogik helfen und den gesellschaftlichen Wiederaufbau nach einem Friedensschluss vorantreiben. Gerade Religionsgemeinschaften sind hierzu aufgrund ihrer gesellschaftlichen Präsenz und ihrer institutionellen Ressourcen hervorragend geeignet. Dabei zeigen die Beispiele des Engagements der Quäker im nigerianischen Biafrakrieg, des ökumenischen Rats der Kirchen im Sudan, oder auch von Sant’ Egidio in Algerien und an der Elfenbeinküste, dass sie nur dann Erfolg haben, wenn sie wegen ihrer Religiosität als neutrale Akteure wahrgenommen werden, deren einziges Interesse es ist, Frieden zu stiften. Religion kann also zum politischen Trumpf werden, der zumindest manchmal verfeindete Parteien einander näher bringt und ein Ende der Kämpfe möglich werden lässt. Literatur Almond, Gabriel A./Sivan, Emmanuel/Appleby, R. Scott (1995): Fundamentalism: Genus and Species. In: Martin E. Marty/R. Scott Appleby (Hrsg.): Fundamentalism Comprehended. Chicago: 399-424. Almond, Gabriel/Appleby, R. Scott/Sivan, Emmanuel (2003): Strong Religion. The Rise of Fundamentalism around the World. Chicago/London. Appleby, R. Scott (2000): The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence, and Reconciliation. Lanham. Banerjee, Mukulika (2000): The Pathan Unarmed. Opposition and Memory in the North West Frontier. Krachi/New Dehli. Barrett, David B./Kurian, George T./Johnson, Todd M. (Hrsg.) (22001): World Christian Encyclopaedia – A Comparative Survey of Churches and Religions in the Modern World. Oxford. Berger, Peter L. (1999): The Desecularization of the World: A Global Overview. In: ders. (Hrsg.): The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics. Grand Rapids, Mich.: 1-14. Bergstresser, Heinrich (2002): Politische Turbulenzen in Nigeria: Scharia und Impeachment. In: Friederich-Ebert Stiftung: Kurzberichte aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit – Afrika. Oktober 2002: 1-4. Bielefeldt, Heiner/Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus. Frankfurt a. M. Blomberg, Brock S./Hess, Gregory D. (2002): The Temporal Link between Conflict and Economic Activity. In: Journal of Conflict Resolution 46/1: 74-90. Calic, Marie-Janine (1998): Religion und Nationalismus im jugoslawischen Krieg. In: Bielefeldt/ Heitmeyer 1998: 337-359. Chiozza, Giacomo (2002): Is There a Clash of Civilizations? Evidence from Patterns of International Conflict Involvement, 1946-1997. In: Journal of Peace Research 39/6: 711-734. Collier, Paul (2003): The Market for Civil War. In: Foreign Policy, 136 (May-June): 136: 38-45. Collier, Paul/Hoeffler, Anke (2001): Greed and Grievance in Civil War. World Bank Policy Research Working Paper 2355. Washington D.C.
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III. Empirische Fallbeispiele
Friedensgedanken zwischen Tradition und Aufbruch im Katholizismus des frühen 20. Jahrhunderts. Krieg und Frieden aus der Sicht des Moraltheologen Joseph Mausbach und in der Zeitschrift „Die Schildgenossen“ Henrique Otten
1. Einleitende Bemerkung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich anhand eines deutschen Beispiels mit der Frage, inwieweit religiös fundierte Positionen in bellizistisch aufgeheizten politischen Debatten Begründungen für mäßigende oder sogar kriegskritische Haltungen liefern können. Im Folgenden werde ich insofern einen Blick auf katholische Einschätzungen der Friedensfrage im frühen 20. Jahrhundert werfen. Meine Absicht dabei ist, diejenigen Elemente katholischer Weltsicht, die Kriegsapologien stützen, von jenen zu unterscheiden, die der Akzeptanz gewaltsamer Auseinandersetzung von Kollektiven entgegenwirken könnten. Im zweiten Abschnitt skizziere ich einige Argumentationsfiguren, die geradezu konträr zu pazifistischen Tendenzen stehen. Anhand der Stellungnahmen des Moraltheologen Joseph Mausbach präsentiert der dritte Teil dessen Versuch, aus der damals theologisch dominierenden neuscholastischen Sicht eine moderate Position zu entwickeln, die Friedensbemühungen fördern will und sich gegen eine Ideologie des „Kampfs ums Dasein“ richtet. Am Beispiel der Quickbornbewegung und ihrer Zeitschrift „Die Schildgenossen“ wird viertens eine stärker laientheologisch geprägte Debatte untersucht, an der ein breites Spektrum von Positionen zur Friedensfrage abzulesen ist, das von einem jugendbewegten Fundamentalpazifismus bis zum nationalkonservativen Aufruf zur völkischen Wehrhaftigkeit reicht. Der Schlussabschnitt nimmt anhand des Topos vom „Opfer“ eine Einschätzung dessen vor, in welchen Motiven friedensgefährdende Potentiale stecken und wo die Chancen dafür liegen, aus religiösen Positionen heraus friedensunterstützend zu wirken.
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2. Der Opfergedanke in katholischen Kriegsapologien Müssen christliche Gläubige den Weltfrieden anstreben, sind demnach Christen aus katholischer Sicht zum „Pazifismus“ verpflichtet? Ein prominenter katholischer Autor, der zu den Beiträgern der „Schildgenossen“ gehörte, Carl Schmitt, hat dagegen lebenslang Einspruch erhoben. Bereits in der frühen Schrift über die Nordlicht-Dichtung seines Freundes Theodor Däubler fasst Schmitt unter die in seinen Augen entsetzlichen Wertverfälschungen einer gottblinden, sich skeptisch dünkenden Welt jene Verflachung, die das Christentum zu einer „pazifistischen Organisation“ mache (vgl. Schmitt 1916: 65). An dieser Stelle des Textes tritt der „Antichrist“ auf. Sein Lockmittel besteht in dem Versprechen, die Welt in einen Platz der sicheren, komfortablen Lebensführung zu verwandeln und das „Zeitalter der Sekurität“ anbrechen zu lassen. Freilich wissen die noch nicht Verführten, wie Schmitt später in seinem Tagebuch notieren wird, dass „plena securitas in hac vita non expectanda“ (Schmitt 1991: 94). Der Wunsch nach „Frieden“ wird hier mit dem philiströsen Bestreben verknüpft, das eigene Behagen zu sichern und jeden Einsatz für höhere Ziele zu vermeiden, der mit einer Einschränkung des eigenen Lebensgenusses verbunden wäre. So betrachtet hat Religion mit Krieg zumindest eins gemeinsam: die Forderung nach Selbsttranszendenz, nach Hingabe und Verzicht auf eigene Ansprüche zugunsten der Forderungen einer höheren Instanz. Der „Ewige Frieden“ enthüllt sich aus dieser Perspektive als widerchristliche Utopie. Nur die Gläubigen erkennen, dass sich hinter den Verheißungen der technisch-ökonomischen Maschinerie der „Antichrist“ verbirgt. Schmitt deutet in diesem Zusammenhang das – bei ihm nur umschriebene – Verdikt der „katholischen Inferiorität“ im Deutschen Kaiserreich positiv wertend um (vgl. zu diesem Begriff etwa Nell-Breuning 1980: 32-35; Baumeister 1987). Was vielen als „Rückständigkeit“ der katholischen Bevölkerung erscheinen mag, eine Fremdheit gegenüber der Welt von Handel, Industrie und Wissenschaft, lässt sich aus dieser Sicht als Widerstand gegen die Rechenhaftigkeit und „Geistlosigkeit“ der Moderne begreifen. Für Schmitt erweist sich somit eine „spezifisch katholische Angst“ (Schmitt 1923: 31), ein „eschatologisches Entsetzen“ vor der apparativen Sachlogik von Mittelsystemen, die sich für beliebige Zwecke einsetzen lassen, als Ausdruck einer noch unverdorbenen Empfindungsfähigkeit für die Hybris menschlicher Machterweiterung. Der technisch optimierten Wahl organisatorischer Mittel würde demnach eine glaubensentfremdete Zivilisation das Ziel dauerhafter Friedensstiftung anvertrauen. Gelänge diese, so wäre der Zustand des „Friedens“ nur ein weiterer scheinbarer Beleg für die Möglichkeit einer „rein“ menschlichen, transzendenzfreien Eliminierung vormals überwältigender, schicksalhafter Herausforderungen. Das Programm, das Glücksverlangen leibli-
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cher Selbstgenügsamkeit zur letzten Orientierungsgröße zu erheben, inkliniert für Schmitt in einer welthistorischen Dekadenzbewegung auf die Herrschaft des „Leibhaftigen“ hin, der jeder gläubige Mensch sich mit heiligem Ernst entgegenstemmen und die um jeden Preis aufgehalten werden muss (vgl. Meuter 1994: 452 f. und Meuter/Otten 1999a: 144 ff. und 178 ff.). Den Standpunkt des Glaubens scheinen mithin eher jene Autoren einzunehmen, welche die aufrüttelnde Gewalt des Krieges als jenes außerordentliche Geschehen beschreiben, das göttlicher Ursache und gewissermaßen von der Art des Heiligen, in der Terminologie Rudolf Ottos ein „Mysterium tremendum“ sei (vgl. Otto 1991: 13-37). Der nicht nur von Schmitt, sondern auch von anderen konservativ gesonnenen katholischen Zeitgenossen hoch geschätzte Vertreter der französischen Gegenrevolution, Joseph de Maistre, hatte schlichtweg behauptet: „Der Krieg ist göttlich“ (Maistre 1979: 26). Für de Maistre ruft der Krieg nämlich die ekstatische Hingabe an ein Geschehen hervor, das sich menschlicher Berechnung entzieht und die moralische Kraft der an ihm Teilnehmenden auf das Äußerste prüft. Max Scheler, im Ersten Weltkrieg einer der führenden Intellektuellen des deutschen Katholizismus, preist den Krieg als das „Gottesgericht“, das Reines und Unreines, Echtes und Unechtes scheidet, so dass zu Tage tritt, was der „konstitutive Pharisäismus alles Friedenszustandes“ versteckt, sowohl das Große, Höhere als auch das Kleine, Niedrige des Menschen (vgl. Scheler 1915: 132-136). Das Kriegserlebnis enthält Scheler zufolge eine religiöse Dimension, der Krieg sei deshalb „Führer zu Gott“, weil er in einem unbegreiflichen Maße die Bereitschaft zum Opfer wachsen lasse und so den Blick auf die Quelle dieser Seelenkraft richte (vgl. 150 f.). Der Frieden hingegen steht bei Scheler unter dem Verdacht, Egoismus, Geschäftsgeist, moralischen Verfall und die Abwendung von Gott zu befördern, zumindest wenn nicht zuweilen ein Krieg die „Größe und Tiefe der sittlichen Opferkraft des Volkes oder der Nation“ (149), also in letzter Instanz die Fülle gegenseitiger Liebe unter ihren Gliedern, auf die Probe stelle.1 Bei diesen Opferapologien lassen sich eher „kalte“ von eher „warmen“ Varianten unterscheiden: Maistre stilisiert mit kalter Leidenschaft, die zustimmend das Einzelschicksal dem Weltgesetz der Vernichtung unterworfen sieht, die Erde zum Altar eines unablässigen Blutopfers, das einem strengen, rachsüchtigen Gott von Menschen dargebracht wird, die dem Krieg als gehorsames Werkzeug dienen. Scheler hingegen merkt man die Affinität zu jenem romantisch grundierten Organizismus an, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts das katholische Staatsdenken prägt (vgl. Uertz 2005: 289-311, insbes. 309 ff.). Ihn hatte Adam Müller in beispielhafter Weise gestaltet, noch weit mehr als de Maistre ein Autor, der in 1
Zu Facetten und Wandlungen der von Scheler zu Krieg, Militarismus und Pazifismus eingenommenen Positionen, die hier nicht behandelt werden können, vgl. Flasch 2000: 103-146 und Hoeres 2004, dort insbes. 248-262.
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den 1920er Jahren im deutschen Katholizismus erneut als Vordenker der katholischen Staatsphilosophie diskutiert und rezipiert wurde. In Müllers Unterfangen, den Staat als Lebenserscheinung in seiner permanenten Bewegung zu zeigen, bilden die Wechselwirkungen und innigen Verbindungen der ineinander spielenden und miteinander wetteifernden tätigen Elemente der Ideen wie der Vollzüge und Ordnungen des Lebens ein bewegtes, wachsendes Ganzes, das in seiner Würde weit über den isoliert aufgefassten Interessen des Individuums steht. Dieses ist „frei“ und zugleich Bürge des Ganzen, indem es in sein Streben die „liebevolle Hingebung an das Ganze“ nicht nur der gegenwärtig mitlebenden Zeitgenossen, sondern auch der „Raumgenossen“, d. h. der früheren und künftigen Generationen in sich aufgenommen hat (vgl. Müller 1922: 152 f.). Die Hingabe gipfelt in der „uneingeschränktesten Aufopferung“ für den Staat, der Bereitschaft, für ihn alles, auch das eigene Leben einzusetzen. Was es damit auf sich hat, den Wert des Ganzen, die Kraft, die den Einzelnen mit ihm verbindet, erweist sich erst im Sturm des Krieges, in den „Bewegungen insonderheit, unter denen das politische Leben sich selbst erkennen und fühlen lernt, unter denen der Staat sich seiner abgesonderten Natur bewußt wird, das Ganze seine Kräfte vornehmlich erprüft, weil es sich selbst einem andern solchen Ganzen gegenüber sieht“ (80). Müller kontrastiert die Lebendigkeit eines solchen Kräftemessens, der Wechselbezüglichkeit und des beständigen Wechselblicks auf andere MitStaaten mit jenen vermeintlich toten, mechanistischen Vorstellungen der „Welteinheit“ eines abstrakten Kosmopolitismus. Historisch sei den Versuchen universaler Herrschaft höchstens der gute Sinn abzugewinnen, den ihr unterliegenden Völkern erst recht ihre unterdrückte „Eigentümlichkeit“ zu Bewusstsein zu bringen, um so ihren Kampf um deren Geltendmachung und um die Befreiung aus ihrer unwürdigen Lage anzustacheln. Dem Verdikt, weder durchführbar noch überhaupt wünschenswert zu sein, verfallen damit auch alle aufklärerischen Ideen vom „Ewigen Frieden“, sei es in Form einer Universalherrschaft, sei es im Sinne der Einrichtung eines permanenten Völkerkongresses.2 Kühler gehalten konzipiert Carl Schmitt, der einer der vehementesten Kritiker des „politischen Romantikers“ Müller war, das Opferverlangen als legitime Forderung an den Einzelnen, an deren Berechtigung die besondere Hoheitsstellung des Staates abzulesen ist. Dieser bindet die Befugnis des jus belli, über 2
Freilich lässt Müllers schillernde Rhetorik es gleichzeitig zu, die christliche Religion als friedensstiftende Kraft und „Idee der Weltordnung selbst“ zu demonstrieren, das Vaterland zum „Vermittler“ zwischen dem Individuum und der „ewigen Natur der Menschheit“ zu erklären und in diesem Zusammenhang den „Föderalismus europäischer Völker“, gar „die Idee einer Universal-Föderation unter den Völkern der Erde“ zu verkünden, solange diese nichts mit „Weltbürgertum“, „Weltverbesserungen“ und dem „seichten Begriffe eines ewigen Friedens“ zu tun hat (vgl. Müller 1923: 60, 70-73, 113).
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menschliches Leben zu disponieren, an die Souveränität, in der sich höchste Macht und höchstes Recht zusammenfinden (vgl. Schmitt 1963: 39 f., 43, 45 f., 70; Schmitt 1978: 25). Der Opfergedanke scheint hier der emotionalen Aufladung zu entbehren und sich auf ein Pflichtmoment zu reduzieren. Jedoch unterwirft der Anspruch an das Individuum auf gehorsamen Einsatz des eigenen und Zerstörung des fremden Lebens den Einzelnen gleichfalls der höchsten Macht als seinem Opferherrn. Wie bereits Schmitts frühe Staatsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen deutlich macht, wird damit nicht lediglich ein empirisches Faktum vorhandener Erzwingungsmacht benannt, vielmehr wird – in Parallele zu einem ethischen Gottesbezug – der Staat zum obersten Errichter und Schützer der Rechtsordnung, von der ausgesagt werden kann, dass sie sein soll, dass Recht werden soll in einer historischen Konkretion innerweltlicher Lebensgestaltung, einer geordneten, räumlich bestimmten Verbindung von Menschen (vgl. Schmitt 1914: 33, 52-55). Was der Staat in seinem Ethos darstellt, erschließt sich analog zu religiösen Denkformen: Die Rede ist von jener Erhebung, die erst aus gläubiger Unterordnung resultieren soll. Der Einzelne gewinnt, sofern er dient und opferbereit ist, überhaupt erst den Wert, den nur die Hingabe an die Weisung der höchsten Gewalt verleihen kann, er erhält eine Bedeutung, die dem selbstsüchtigen Genussmenschen abgeht. Soweit nicht gar die providentielle Aufladung der „existenziellen“ Feindschaft den Krieg heiligt, indem sie ihn in die heilsgeschichtliche Perspektive des Kampfes einer Partei des Glaubens gegen die des Unglaubens rückt, bleibt er zumindest als der entscheidende Fall gerechtfertigt, dessen mögliches Eintreten bereits das problemlose Dahinleben der Menschen verhindert und die menschliche Existenz mit dem Ernst auflädt, der sich aus der Möglichkeit künftiger kollektiver Opfergänge speist (vgl. Otten 2001: 197 f., 204 ff.). Jedenfalls stellte es sich aus der Warte jeder der geschilderten Positionen als schlechthin absurd dar, den Krieg aus der Welt verbannen und durch Konfliktregelungen, internationale Organisationen und Schiedssprüche ersetzen zu wollen. Es mag also nach diesem ersten Befund durchaus tief liegende Widerstände gegen eine Verbindung von Christentum und Pazifismus geben. 3. Krieg und Frieden bei Joseph Mausbach Wie ist es dann aber zu erklären, dass zur selben Zeit namhafte katholische Autoren eine „sittliche Pflicht zur Zusammenarbeit und Schaffung einer wirklichen Ordnung des zwischenstaatlichen Lebens“ (Dempf 1929: 9) proklamieren, „die Friedenseinigung der Völker als das pflichtmäßig von allen geistigen und politischen Mächten anzustrebende Ziel“ (Mausbach 1918: 115) ansehen oder die Kirche auf der Seite aller (!) Bestrebungen verorten, „die eine Ächtung des
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Krieges herbeiführen und an seine Stelle Rechtsmittel zur friedlichen Beilegung von internationalen Streitigkeiten setzen wollen“ (Ebers 1929b: 160)? Anhand der Schriften des Münsteraner Theologen Joseph Mausbachs (1861-1931), auf katholischer Seite einer der Väter der Weimarer Reichsverfassung und ein Gelehrter mit großem Einfluss, zudem Verfasser eines einschlägigen moraltheologischen Lehrbuchs, lassen sich die Situationsakkommodationen ebenso wie die sich durchhaltenden Grundlinien des Kriegs- und Friedensthemas bei einem prominenten Vertreter neuscholastischen Denkens in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg studieren. Auch Prälat Mausbach stimmt 1914/1915 in den Chor der theologischen Kriegsapologetik ein, der die kollektive Gefühlsaufwallung des „Augusterlebnisses“ 1914 begleitet.3 In seiner Kriegsschrift von 1915 tritt das Bemühen hervor, dem Weltkrieg eine Deutung zu geben, in der die Hoffnung auf dessen sittlich hebende Wirkung den Ton angibt.4 Wenn der Kriegsausbruch einen „großen Tag“, einen „Tag des Herrn“ darstellt, so hat dies eine zweifache Bedeutung: Es ist erstens der Tag seines Gerichts, an dem er dem „Rechte“, das der Autor auf der Seite der Mittelmächte sieht, beistehen wird (vgl. Mausbach 1915: 1).5 Die Gewalt des Krieges ist daher nicht schlechthin als unsittlich abzulehnen, der Krieg, so hält Mausbach noch 1918 fest, „kann als Kampf um Recht und Ehre in den Dienst der sittlichen Ordnung treten, er kann als eine Art Gottesgericht die Mächte des Guten und den Bestand der echten Kultur schirmen“ (Mausbach 1918: 130). Freilich bewahrt der Lehrer der Moral und Apologetik eine Reserve gegenüber der Vereinnahmung des Krieges zu einer gottgewollten deutschen Sendung, die sich bei einigen katholischen Predigern in ein als magisch zu bezeichnendes Erfolgsdenken steigert, welches in allen Kriegswirren die Hand eines Gottes am Werke sieht, den es von einem universalen zum Kriegsgott der eigenen Partei regredieren lässt (vgl. Missalla 1968: 72 ff.). Genau vor solcher zu 3 4
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Zur „geschichtlichen Fremdheit“ solcher Texte aus der überbordenden intellektuellen Produktion an Gelegenheitsschriften zu Kriegsbeginn für diejenigen, die sie heute lesen, sowie zu den Bearbeitungsproblemen aus Sicht des Philosophiehistorikers vgl. Flasch 2000: 62-76. Der erste Teil der Schrift (Mausbach 1915) besteht aus der umgearbeiteten Fassung eines 1914 publizierten Kriegsvortrags (vgl. Mausbach 1914/15). Ergänzend zu der hier gegebenen Darstellung verweise ich auf Baadte 1993 mit biographischen Angaben zu Mausbach und Ausführungen zu dessen zeitgeschichtlicher Rolle im Ersten Weltkrieg, unter anderem in der Auseinandersetzung mit den französischen Katholiken; vgl. auch Flasch 2000: 355-365. Ein besonders dunkler Punkt dieses Kriegstextes, den Mausbach auch später nicht zurücknimmt, ist die Verteidigung des deutschen Einmarsches in Belgien. In welchem Maße sich die deutschen „Bildungsschichten“ in der Geschlossenheit deutschnational vereinseitigter Wahrnehmung verpanzert hatten und an den irreführenden Darlegungen amtlicher Stellen über Kriegsbeginn, Kriegsverlauf und Kriegsverbrechen keinerlei Zweifel zuließen, beschreibt als Zeitgenosse Foerster 1920: 146-152, 168-190. Zur einhelligen Rechtfertigung des Krieges im katholischen Deutschland bis Ende 1916 vgl. Fuchs 2004: 76-88.
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enger Verbindung der spiritualia mit den Wechselfällen weltlicher Machtentfaltung warnt Mausbach, denn die Hoffnung auf Gottes Beistand sei nicht zu verwechseln mit einer Garantie des glücklichen Ausgangs, die Differenz von ethischer Würde und handgreiflicher Wirksamkeit, von gerechtem Anspruch und faktischem Geschehen darf demnach nicht eingezogen werden. Die überzeitliche Geltung der Glaubensbotschaft, des Strebens nach innerlicher Heiligkeit ist der Unsicherheit historischen Volksschicksals zu entrücken. Der politisierende Theologe fordert von sich selbst die Fähigkeit zum Blickwechsel: Sub specie aeternitatis zählt nur das ewige Leben als sittliches Endziel, „nicht das irdische Lebensglück, nicht die Macht und Größe der Nation“ (Mausbach 1915: 29). Zugleich jedoch sieht er sich als Schicksalsgenosse des eigenen Volkes einem realpolitischen Zutrauen in die Tüchtigkeit der Deutschen, in den bevorstehenden Ausbau ihrer „Machtstellung“ verpflichtet. Damit sind Kern und Rand, Festes und Situationsangepasstes seiner Stellungnahmen benannt. Einen „Tag des Herrn“ bildet der Kriegsbeginn allerdings noch aus einem zweiten Grund: Auch für Mausbach wird aus dem bei vielen Zeitgenossen halbverschütteten Rinnsal eines von materialistischer Dürre und Verflachung bedrohten Glaubens der anschwellende Strom eines neuerweckten Drängens zu Gott. Dass „Not beten lehrt“, wie seine „zeitgemäßen Gedanken“ es behaupten (22), ist für diese Kriegszeit keine bloße Wunschfigur, sondern durch Zeugnisse bestätigt.6 Der Glaubensverkündigung bietet sich das Kriegsgeschehen mit seiner gewissermaßen loslösenden Kraft als Verbündeter an, soweit nämlich die erlösungsreligiöse Mobilisierung der christlichen Heilsbotschaft eben dazu auffordert, sich aus der Verhaftung an irdische Verlockungen zu befreien und den Blick auf die überirdischen Güter zu richten. Zuvorderst zwingt sich hier das bloße Moment des „tremendum“ auf, wie es zwar nicht nur dem Krieg, aber ihm ganz besonders zukommt, die Erschütterung eines großen, die Alltagswelt umwälzenden Geschehens, das alle bürgerlichen Sicherheiten umwirft und mit der Gewalt eines Erdbebens die Vergänglichkeit menschlichen Bauens aufzeigt. Dem modernen Menschen, stolz auf die Selbstentfaltung seiner vermeintlich autonomen Persönlichkeit, werde drastisch vor Augen geführt, wie sehr er überragenden Gewalten, in diesem Falle dem blinden Zusammenstoß blutig miteinander kämpfender Mächte ausgeliefert bleibt (vgl. 32 f.). Das Gefühl der völligen Ohnmacht, der eigenen Nichtigkeit, wird somit Quelle der Demut, die sich als erneuerte Unterwerfung unter Gottes Willen ausdrückt. Nach dem Nieder6
„‚Jetzt sind wir ordentlich fromm geworden‘. ‚Wir haben wieder unseren Herrgott gefunden‘. ‚Wir haben wieder beten gelernt – nach x Jahren!‘“ notiert der Feldgeistliche Berg am 26. Januar 1915 über die „gute Stimmung bei den Soldaten“; vgl. Berg 1998: 127. Die Hoffnung auf religiöse Erneuerung schwindet allerdings bald und weicht einer Ernüchterung, die ab dem Jahr 1916 allgemein geteilt wird; vgl. Fuchs 2004: 220-226.
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bruch des Menschenstolzes, der Loslösung aus dem Befangensein in eitler Ichbezogenheit wird Sicherheit im Höchsten gesucht. Zudem wirkt diese Aufrüttelung der Gemeinschaft im moralischen Sinne formierend und damit reinigend: In der Sammlung aller Kräfte, welche die Not fordert, verböten sich Luxus, Zerstreuung, leichtfertiges Sich-gehen-Lassen, aus dieser Sicht wird die Zurückdrängung hedonistischer Neigungen zur Kräftigung sittlicher Haltung, die sich im steten Kampf mit dem Triebleben zu bewähren hat. Über die bloße Erschütterung durch Not und Leiden hinaus wecke der Krieg Tugenden des Opfermutes, Bereitschaft zur Hingabe des Lebens im Dienst an der Gemeinschaft, die als sittliche Kräfte den einzelnen Menschen dazu bestimmen, von sich selbst und dem eigenen irdischen Wohlergehen abzusehen. Eine solche „befreiende, begeisternde Höhenlage des sittlichen Bewußtseins“ (14) scheine die Menschen näher zu Gott zu bringen. Ihr kollektiver Aufbruch widerlege zugleich mit der Wirkmächtigkeit von Vorstellungen wie „Ehre“ die Anbindung des Denkens ans Utilitäre – denn das „Ideale“ zeige sich als das „Reale“, das Übernützliche erweise sich als notwendig zum Gelingen – und zeuge damit gegen platten „Realismus“ und „Materialismus“. Nun sind, nach Sichtung zentraler Elemente, die in Mausbachs Äußerungen eine affirmative Deutung des Krieges stützen, allerdings auch die Gegengewichte zu benennen. Zunächst fällt im Verhältnis zu etlichen anderen Kriegspredigten – und beispielsweise im Unterschied zu Scheler (vgl. etwa Scheler 1915: 143149, 385-443) – auf, dass Mausbach die Kriegsgegner nicht moralisch abqualifiziert, sondern auf eine Bewertung der anderen Völker gänzlich verzichtet. Der Autor versteigt sich sogar zu dem Wunsch, der Aufenthalt von Kriegsgefangenen auf beiden Seiten möge, entgegen den „Schlagworten nationaler Eitelkeiten“, den „Blick für das Echte und Allgemein-Menschliche auch bei fremden Völkern“ öffnen (vgl. Mausbach 1915: 72 f.). Der Krieg als Sühne trifft die Menschen in ihrer Sündhaftigkeit, deren sie als Einzelne eingedenk sein sollen, keinesfalls ganze Nationen. Die Mahnung gegen die Verlockungen des Großstadtlebens und die Lockerung sittlicher Bindung gilt Tendenzen der Moderne als übernationalem Phänomen. Im Kern bleibt der Gottesbezug individuell und dem Konflikt der irdischen Kollektive enthoben. Aufgrund seiner Bürgerschaft in einer anderen, unsichtbaren Welt ist der Mensch „in seinem Innersten, in dem, was die wahre Würde der Persönlichkeit ausmacht, frei und nur Gott verantwortlich“ (Mausbach 1921e: 308). Dieser Gott tritt entsprechend nicht als Nationalund Rachegott auf, sondern eher wie ein Heiler, der „die tief eingefressenen Sünden der Zeit mit scharfem Messer beschneidet“ (Mausbach 1915: 64) und den Krieg als „Zuchtrute“ einer strengen Pädagogik und Erwecker heiligen Ernstes einsetzt. Dabei finden sich bei Mausbach im Motiv der „Prüfung“ durch die Kriegsleiden nicht jene ausufernden Strafphantasien, in denen andere „Feuer und
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Schwefel über das Sodom und Gomorrha“ regnen sehen (vgl. exemplarisch Dederichs 1914: 20). Der abgedämpfte Klang der Mausbach’schen Besinnungen im Kriege verdankt sich nämlich nicht zum wenigsten der verhaltenen Stellung zur Sündennatur des Menschen, welcher der Vernichtungsfuror einer Hasspredigt gegen die Bösen einer verworfenen Erdenwelt komplett abgeht: „Alle Menschen, auch die Bösen, müssen wir lieben; alle Kräfte unseres Wesens, auch die sinnlichen, müssen wir hochschätzen und pflegen“ (Mausbach 1915: 95). Darin drückt sich ein katholischer Harmoniegedanke aus, der in der Tradition des christlichen Naturrechts die innerweltlichen Ordnungen bestehen lässt, aber zugleich zu dem Bemühen aufruft, sie von innen heraus zu ethisieren (vgl. Troeltsch 1994: 299 f.). Vorsichtig deutet Mausbach die Unangemessenheit des antik-heidnischen Opfergedankens gegenüber der christlichen Vorstellung eines durch den Glauben veredelten, „geweihten“ Lebens, die jeder Art von Todeskult widerspreche, an (vgl. Mausbach 1915: 62). Das blutige Gefecht begegnet als Stärkung des Gemüts in Treue, Ritterlichkeit, Tapferkeit und Opferbereitschaft, folgend dem „Ideal einer sittlich gebändigten, religiös verklärten Kampflust“ (6). Die Vorstellung des Kampfes wird rhetorisch immer wieder aus dem Gewalthandeln abgezogen und entwirklicht zum Appell sittlicher Selbstüberwindung und Tugendübung, die das Leiden freiwillig und liebend auf sich nimmt. An dem Ausmaß, in dem sie die reale Brutalität verschleiert, verbunden mit dem Zugeständnis, der weltlichen Ordnung sei eben zu geben, was ihr zukomme, erweist sich der Kompromisscharakter solcher Predigt. Andererseits wird man die auf solche Weise formulierte Haltung zumindest als mäßigend bezeichnen können. Im wachen Bewusstsein der gnostischen Gefahr, wie sie von katholischer Warte aus stets droht, muss die Spaltung der göttlichen Einheit in ein gutes und ein böses Prinzip vermieden werden. Die pastorale Führung erstrebt die friedliche Verbindung der Gegensätze, die miteinander ringen, aber stets sich dem Ganzen der Ordnung einfügen und der Entfaltung in ihm schlummernder Kräfte dienen sollen. Daher wird „der Kampf der notwendige Durchgang zum Frieden“ (106). Nicht Ausmerzung des Widerstrebenden, sondern „Verklärung“ der innermenschlichen wie der zwischenmenschlichen Kräfte unter Leitung der kirchlichen Autorität ist somit das „katholische“ Programm. Dass Gutes und Böses auf Erden gemischt auftreten, sei hinzunehmen, ohne am Richtigen irre zu werden. „Verklärung“ ließe sich in einem Doppelsinne verstehen: einerseits Legitimation des Bestehenden, andererseits seine Läuterung, dadurch, dass es sich geistlicher Wegweisung unterwirft. Solche „Weihe“ bildet die andere Seite der Loslösung vom Bösen, nämlich alles Handeln „an das Heilige und Göttliche“ (62) zu binden, und zwar so, wie es von den Klerikern als der religiösen Elite interpretiert wird. Deren Modus in der Handhabung der
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menschlichen Dinge ist die Moderation der Gegensätze mit dem Anspruch mildernder geistiger Formgebung, die freilich auf die stets latent drohende Strenge überweltlicher Vergeltung nicht verzichten will. Als Konstante sowohl der Vorkriegs-, der Kriegs- als auch der Nachkriegsschriften macht sich bei Mausbach die Distanz zu allen Formen einer Verherrlichung des Kampfes bemerkbar, die mit diesem und in diesem die „Selbstsucht“ der Starken preisen möchte. Gleich ob in Popularisierungen Darwin’scher Auffassungen über einen „Kampf ums Dasein“ oder in zeitgenössischen NietzscheLesarten, insbesondere jedoch in der „Moral der rücksichtslosen Lebens- und Kraftentfaltung bei den Anhängern der Rassentheorie und des Nationalismus“ (Mausbach 1921b: 303), wird die Verdrängung zivilisierender Humanität aus dem öffentlichen Leben erkannt. So legt Mausbach denn auch Wert darauf, selbst den Kriegsausbruch „versittlichend“ umzudeuten, den Krieg nicht als Teil „skrupelloser Realpolitik“, sondern als Dienst an „der sittlichen Idee der Gerechtigkeit“ zu verstehen (Mausbach 1915: 10 f.). Die Suprematie der Morallehre über die „nationalen Interessen“ soll so gewahrt bleiben, selbst wenn sie nur in rhetorischer Abstandnahme von allzu dröhnendem Hurrapatriotismus bei gleichzeitigem Waffendienst mit dem Worte beschworen werden kann. In der hier geübten flexiblen Interpretationskunst liegt allerdings ein nicht gering zu schätzender Vorbehalt gegen „die Macht, die sich an die Stelle des Rechtes setzt“, darin vergleichbar mit Kants Diktum, alle Politik müsse ihre Knie vor dem Rechte beugen (vgl. Kant 1983: 244). Solcher katholischer Sicht widerstrebt die nationalistische Überhebung ebenso wie die exaltierte Verherrlichung des „Helden“, die im überwältigenden Teil des deutschen Weltkriegsschrifttums ihre Blüten treibt (vgl. etwa Sombart 1915). Das Hybris-Motiv zeigt sich hier also von einer anderen, ja geradezu entgegen gesetzten Seite: Wird in den durch und durch apologetisch gesonnenen Kriegspredigten mit ihrer religiös fundierten Gewaltrechtfertigung die Züchtigung des selbstsüchtigen und gottvergessenen Menschentums gefeiert, der Krieg daher als das Remedium gegen dessen Überhebung, so verdächtigt Mausbach umgekehrt die kriegsfixierte „Realpolitik“ nichts anderes zu sein als skrupelloses Nutzendenken. In ihr fände sich, auf die nationale Ebene transponiert, das Prinzip rücksichtsloser Selbstbehauptung und damit die Erhebung der zügellosen und hybrid machtbesessenen Eigenliebe zum Programm. Dagegen trifft sich Mausbach im Appell an die „Pflicht“, an die Unterordnung des Willens unter das Gesetz, welche erst in einem ethischen Sinne tugendhaft genannt werden kann, mit dem Aufklärer Kant (vgl. Mausbach 1921b: 305 f., 309).7 Explizit wird der 7
Wie wenig selbstverständlich solch eine Berufung auf Kant war, zeigt allein schon der Umstand, dass die Kritik der reinen Vernunft seit 1827 auf dem Index Librorum Prohibitorum stand und sich in Debatten immer wieder heftige anti-kantische Reflexe äußerten, vgl. Fischer 2005b.
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Kantische Prüfstein jeder praktischen Maxime, ob sie nämlich einer Verallgemeinerung standhalte, gegen den Standpunkt einer angeblich „gesunden Selbstsucht“, den Machtwillen des National-Egoismus gesetzt (vgl. Mausbach 1921d: 421).8 Solche Übereinstimmung stellt sich her auf der Grundlage einer analogen Dichotomie: Wie Kant gegen die „Heteronomie der Natur“, die Bestimmung des Willens durch Begierden und Neigungen, an die Selbstgesetzgebung des autonomen Individuums appelliert (vgl. Kant 1965: 79 f.), so will Mausbach „das Triebhafte der Rassen- und Stammesgemeinschaft“ zügeln durch „diejenigen universalen, d. h. allgemeingültigen Ziele und Normen, die jede gesunde Vernunft aus der Natur des Menschen und der Menschheit, aus dem Wesen der Kultur und des Staates ableitet“ (vgl. Mausbach 1921d: 427 f.). Freilich zeigt sich in der Ausdrucksweise des Theologen der umfassende Anspruch eines wohlgeordneten Weltganzen auf Anerkennung durch den Recht-Denkenden – anderes Denken kann nur eine Aberration, eine Verrückung fort von dem Einklang mit der wirklichen Ordnung sein. Sofern es zum Guten gehört, mit den Wesensforderungen des ordo übereinzustimmen, wäre das Anderssein als Schwächung des angelegten Guten und Wahren, als Abweichen von der eigentlichen Bestimmung schlechthin „böse“ zu nennen. Die systematische Demonstration sinnhafter Ganzheit dient der autoritativen Vergewisserung dessen, was aus der „Natur der Dinge“ heraus immer schon feststeht. Die „Natur des Menschen“, auf die Mausbach zurückverweist, ist auf Gemeinschaft angelegt. Der aristotelisch-thomistische Topos des „animal sociale“ schlägt sich katholischerseits in einem Beziehungsdenken nieder, das die staatliche Souveränität relativiert an der gewissermaßen seinsbefohlenen Reziprozität, die alle menschlichen Verhältnisse auch im zwischenstaatlichen Bereich ebenso gestaltet, wie die einzelne Persönlichkeit ihrer „natürliche[n] Bezogenheit auf andere“ (Mausbach 1918: 102) nicht entraten kann. Mausbachs Konzept des „Völkerrechts“ will diesem Umstand, dass nämlich die Staaten „einem größeren Menschheitsganzen eingeordnet sind“ (102; Hervorhebung hinzugefügt), Rechnung tragen. Aus ihm ergeben sich Forderungen an das Verhalten gegen andere, nämlich neben der Behauptung der eigenen Freiheit die „gleiche Achtung fremder Rechte“ (107) aufzubringen. Die zentrale völkerrechtliche Frage, worauf denn die Vertragstreue souveräner Staaten beruhe, wird zum Argument für eine kommunitäre Konzeption und gegen geläufige positivistische Lehren von der Staatssouveränität gewendet. Eine – aus deren Warte – autonom verfügte Selbstbindung oder eine summative Willenseinigung der Staaten als Vertragspartner 8
Mausbach setzt sich in seinem Aufsatz Nationalismus und christlicher Universalismus (1912) mit Meineckes Buch Weltbürgertum und Nationalstaat auseinander, bezieht damit aber auch Position gegen Bismarcks Politikauffassung; vgl. Mausbach 1921d: 421 f., 425-430; vgl. insbes. Meinecke 1969: 270-277.
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schützen nicht vor Willensänderungen und rücksichtslosem Durchsetzungshandeln, mit denen die Einigung wieder aufgekündigt werden könnte, sie liefern als punktuelle Interessensbekundung oder als äußerliche Koordinierung der Willensakte Gleichgestellter keinen Grund für eine dauernde Verpflichtung. Naturrechtlich gesehen ist hingegen ein solches solipsistisches Souveränitätsverständnis falsch, vielmehr „bleiben auch die Staaten trotz ihrer Souveränität relative, zur Gegenseitigkeit und Gemeinschaft berufene Rechtsverbände“ (103; Hervorhebung hinzugefügt). Bemerkenswert an Mausbachs Formulierungen ist einerseits, dass sie in einer Epoche exzessiv aufgeladener Nationalchauvinismen dazu aufrufen, den Anderen, Fremden zu achten und die durch die modernen Verkehrsverhältnisse immer weiter zunehmende Vernetzung der Kollektive, die vermehrte Angewiesenheit aufeinander als Aufforderung zu wechselseitiger Rücksichtnahme zu interpretieren. Auf der anderen Seite bleibt allerdings diese reziproke Achtung, die in einer Art von Horizontale wirksam wird, der vertikalen Verpflichtung gegenüber einer höheren Instanz untergeordnet. Was definitiv Frieden stiftet, ist der Respekt vor einer überwölbenden Seinshierarchie, deren Gebote bindend sind, weil sie aus einem höheren, nicht von Menschen gemachten Gesetz fließen. Dieses wird als vernünftig einsehbar behauptet, sein „richtiges“ Verständnis wird aber faktisch erst durch theologisch konstruierende Deutung gesichert. Damit zeichnen sich die Züge eines spezifisch katholischen Versöhnungsdenkens ab, unter denen vor allem dessen Universalismus hervorsticht. Es fällt auf, dass Mausbach, übereinstimmend mit pazifistischen Strömungen (vgl. dazu Quidde 1977: 141), sich mit den Angehörigen derjenigen Völker gemeinschaftlich verbunden sieht, deren Armut und Bedrückung die Parteigänger kolonialistischen Hochmuts und rassistischen Dünkels gleichgültig lässt. Vor dem weltumfassenden religiösen Anspruch des Katholizismus ist die Einheit der menschlichen Gattung das Wesentliche, die Unterschiede der Völker hingegen sind nur akzidentell, insbesondere mit Blick auf „die große Einheit der Gesamtkultur, ein geistiges Gut, das die spezifisch nationalen Talente und Charakterzüge bei weitem an Wert übertrifft“ (Mausbach 1921d: 433). Von der Höhe solcher Kultur kann allerdings aus der Sicht eines selbstbewussten Katholiken wie Mausbach überhaupt nur aufgrund der Zivilisierungstätigkeit christlicher Mission seit der Antike die Rede sein. Erst das Christentum habe „neue sittliche Kräfte ins natürliche Leben der Völker“ eingeführt, „Ideale und Gesetze unmittelbar selbstloser, allgemeiner, versöhnender Art“ (vgl. Mausbach 1921b: 315). Dem triumphierenden Machtgebaren des Starken, der Konzentration auf das „Eigene“, wird das Alternativprinzip einer unterschiedslosen Fürsorgeverpflichtung entgegengestellt, die auch „die Liebe des Fernsten und Fremdesten gelehrt“ und damit die „natürlichen“ Grenzen der Kollektive überwunden habe:
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„Gerade dadurch hat die katholische Kirche das Rechts- und Gesellschaftsleben der Völker in besonderem Maße veredelt und vertieft, daß sie die absolute [!] Schonung und Schätzung jedes Menschenlebens, auch des schwächsten und verlassensten, geboten und durchgesetzt [!] hat“ (Mausbach 1921b: 314 f.).
Zwar ist eine imperialistische Rangabstufung zwischen „hochstehenden“ und eher „rohen und tiefstehenden“ Gemeinschaften „im Sinne christlicher Kultur“ mitgedacht, die der völkerpädagogischen Aufgabe der Weltkirche die Grundlage liefert; sie beansprucht damit jedoch zumindest den kritischen Maßstab versittlichender „Humanität“ gegenüber dem „runden, nackten Egoismus“ (Mausbach 1921d: 425; vgl. Meinecke 1969: 276) der je eigenen Nation. Als Auftrag der Religion wird ebenfalls wahrgenommen, den sozialen „Kastengeist“ zu überwinden und die sozial Bessergestellten zur Achtung vor den anderen Schichten zu ermahnen. Mausbach vermutet hier eine Wechselwirkung, wonach die Rücksichtslosigkeit in der internationalen Politik eine Haltung befördere, die auch im heimischen wirtschaftlichen Geschehen den Schwächeren gegenüber gnadenlos und unbarmherzig den eigenen Vorteil suche. Demnach wäre es ein tatsächlich zeitgemäßer Irrtum, Unfrieden nach außen mit einer kollektiv-egoistischen „Solidarität“ der Gemeinschaft des eigenen Volkes verbinden zu wollen. Alle Grenzziehungen und Unterscheidungen verlieren jedoch ihre Selbstbezüglichkeit und ihr Übermaß an Wichtigkeit vor der umfassenden Ordnung, deren „Gesamtzweck“ die Ehre Gottes darstellt (vgl. Mausbach 1921c: 363; Mausbach 1918: 62). Die Gotteskindschaft aller Erdenbewohner „verurteilt im voraus jede menschliche und völkische Selbstbehauptung und Abschließung aus natürlichen Trieben, die sich nicht der höheren Einheit der Gottesfamilie einordnen will“ (Mausbach 1921d: 445), mit ihnen jede Art stolzer Überhebung aufgrund dem Ich oder dem Wir zugeschriebener Vorzüge. Die verbindende Gottebenbildlichkeit aller Menschen lässt für Mausbach Feindschaft, auch diejenige der großen Kollektive, als Unheil erscheinen, ohne ihr Auftreten auszuschließen. Mit der betonten Gemeinsamkeit der einen „großen Menschheitsfamilie“ werden die politischen Konflikte zumindest relativiert. Die Verschiedenheiten der Völker sollen – so zitiert Mausbach unter Ausblendung ihres eschatologischen Hintergrunds die Civitas Dei des Augustinus – durch die sammelnde und vereinigende Kraft des „himmlischen Staates“ „auf den einen und gemeinsamen Zweck des irdischen Friedens“ ausgerichtet werden, freilich mit dem Vorbehalt des Kirchenlehrers, „soweit es ohne Schaden für Frömmigkeit und Religion möglich ist“, d. h. „wenn es nur die Religion des einen, höchsten und wahren Gottes nicht hindert“ (Mausbach 1921d: 405). Dies bezeichnet eine Apperzeption des Politischen, welche durch die scholastische Gestaltung der ursprünglich augustinischen Dichotomie bestimmt wird: Auf der einen Seite gibt es den kon-
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tingenten Bereich des Politischen, in welchem Kämpfe ausgetragen, Machtstellungen erobert und verloren, aber auch Grenzziehungen zwischen Kollektiven mit ihrer unvermeidlichen Willkür vorgenommen werden. Auf der anderen Seite erhebt sich der Bereich unwandelbarer Gesetze, welche auch Wesen und Zweck des weltlichen Staates vorgeben, nämlich machtvolle Rechtsordnung zu sein und der allgemeinen Wohlfahrt zu dienen: „Und diese höchsten Gesetze und Güter sind nicht nach Ländergrenzen beschränkt, sondern ihrer Natur nach kosmopolitisch, in etwa überweltlich. Je mehr sie die Seele der Menschen und der Völker erfüllen, umso deutlicher tritt dann auch das menschliche Allgemeinwohl, der Friede und die Einheit der Völker als ein besonderes Ideal ins Bewußtsein“ (Mausbach 1921d: 434; Hervorhebung hinzugefügt). Das bonum commune ist der „natürlichen Vernunft“ aller Menschen zugänglich, in diesem Sinne einigend und einigungsfähig – Mausbach schließt sich im Übrigen der Auffassung Thomas von Aquins an, dass der Staat als „vollkommenste natürliche Gesellschaft“ vom „Naturgesetz“ entsprechend „dem natürlichen Bedürfnisse der Menschheit“ gefordert wird und „auch ohne den Sündenfall ins Leben getreten wäre“ (vgl. Mausbach 1920: 23, 26; Mausbach 1921e: 318). Der Äquilibrismus solcher Ordnungstheologie drückt sich in einer doppelten Höchstwertung aus: Einmal wird der Eigenwert der „societas perfecta“ des Staates mit seinen besonderen Vorrechten, mit seinen Ansprüchen auf Patriotismus und opferbereitem Gehorsam festgehalten, was sich insbesondere im Kriegsfall zeigt, in dem „der höhere Wert und Zweck des Staates gegenüber dem Einzelleben“ hervortritt und mit dem Waffendienst auch das Opfer des Lebens verlangen kann (vgl. Mausbach 1920: 31, 60). Der einzelne Mensch ist als soziales Wesen dem staatlichen „Organismus“ eingefügt, dessen übergeordneter Zweck für ihn verbindlich ist (zur Kritik vgl. Uertz 2005: 308). Auf der anderen Seite ist der Einzelne jedoch niemals bloßes „Mittel“, sondern „als Person mit unantastbaren Rechten und Pflichten begabt und unmittelbar auf Gott hingeordnet; in diesem Ewigkeitsziel ist er von jeder menschlichen Macht und Willkür unabhängig, ist er dem Ganzen der Welt in etwa ebenbürtig“ (Mausbach 1921c: 364). In dieser „Zweigipfligkeit“ der Ethik, beruhend auf der Doppelmitgliedschaft des Menschen in der weltlichen und der überirdischen Ordnung, spiegelt sich ein spezifisches Arrangement zwischen staatlichen und kirchlich-religiösen Führungsansprüchen. Eine entsprechende Diskussion gilt etwa der päpstlichen Weisungsmacht, die Mausbach als „potestas directa“ zwar verneint, als „potestas indirecta“ bzw. „potestas directiva“ in Hinsicht eines in besonderen Fällen gegebenen kirchlichen Einspruchsrechts gegen staatliche Vorschriften aber verteidigt (vgl. Mausbach 1920: 330-335). Der Herrschaft des Schwertes, soweit sie sich an der ständigen Möglichkeit des Kampfes orientiert, wie auch dem Durchsetzungseifer des Erwerbslebens möchte der Autor Lebensformen einmütigen geistigen
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Wachstums in der Familie, in Gemeinschaften wissenschaftlich oder künstlerisch Tätiger, nicht zuletzt im Mönchtum als Träger des „religiösen Friedensideals“ an die Seite stellen (vgl. Mausbach 1915: 142 ff.). Den politischen Kämpfen kommt keinerlei heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Gerade hierin liegt die irenische Note dieser Form des an Thomas orientierten Rationalismus. Umgekehrt wirft der katholische Apologetiker den idealistischen Philosophen Fichte, Schelling und ganz besonders Hegel vor, dass sie „den Urquell des geistigen und natürlichen Seins, die Gottheit, in den zeitlichen Fluß der Welt hineinzogen“ und so „die geistige und sittliche Erhabenheit des Gottesbegriffs und damit den realen Urgrund aller bleibenden Wahrheit verdunkelten“ (vgl. Mausbach 1918: 7 f.). Wenn Gott in der Geschichte untergeht und zugleich die jeweiligen historischen Formen als Manifestationen des präsenten Gottes gelten, dann sind somit dem Rechts- und Moralpositivismus der Normativität qua Durchsetzungsgewalt alle Tore geöffnet. Mausbach beharrt also darauf, die politische Geschichte in den Bereich des Kontingenten zu verweisen, das für die Orientierung im Reich der sittlichen Ideen, d. h. aber stets: an der werthaften Ordnung, wie sie die philosophia perennis demonstriert, nicht leitend sein kann. Aber war nicht, wie anfangs angeführt, der Krieg von ihm immerhin der Möglichkeit nach als „Gottesgericht“ apostrophiert worden? Läge nicht darin doch eine geschichtstheologische Aufladung faktischer Kämpfe? Aus der Argumentationsstruktur der Moraltheologie Mausbachs wird deutlich, dass dies nicht beabsichtigt ist. Soweit der Krieg legitimiert werden kann, liegt dies für Mausbach ausschließlich im Rechtsgedanken und in der derzeitigen Unvollkommenheit der weltlichen Rechtseinrichtungen begründet. Der Krieg als das „Gewaltmittel im Dienste des Rechtes“ (Mausbach 1915: 58) sei nur dort gestattet, wo keine höhere Instanz den Streit mehr entscheiden kann. Moraltheologisch sind „Notwehr“ und „Selbsthilfe“ zur „Wahrung der internationalen Gerechtigkeit“ die passenden Kategorien, aus denen sich aber immer nur eine eingegrenzte Erlaubnis ableiten lasse (vgl. Mausbach 1920: 59). Vor allem „gewisse Normen und Schranken der Kriegserklärung und Kriegführung gehören [...] zum naturrechtlichen Kernbestande des Völkerrechts“: Ein Krieg dürfe nicht geführt werden zu „willkürlichen Eroberungen, nicht aus Religions- und Rassenhaß, nicht aus wirtschaftlicher Eifersucht und Mißgunst“ (vgl. Mausbach 1918: 115). Entsprechend seien „das bloße Bedürfnis territorialer Abrundung, das Nationalitätsprinzip [!], die steigende Macht des Nachbarstaates“ (Mausbach 1920: 61) als nicht ausreichende Gründe zu beurteilen. Außerdem seien bestimmte „Kriegsgreuel“, die eine „absichtliche, systematische Grausamkeit an Kämpfenden und Nichtkämpfenden“ darstellen, auch unabhängig von der Kodifizierung der Haager Konferenzen verboten (vgl. Mausbach 1918: 116).
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Die Lehre vom „gerechten Krieg“ zeigt, wie beansprucht wird, selbst den kollektiven Gewaltexzess neuscholastisch systematisierend erfassen zu können. Bei den Einschränkungen, die sich auf die Art der Kriegsführung beziehen, werden die Veränderungen der modernen Kriegsmittel und die Entwicklungen des Völkerrechts ergänzend zu den naturrechtlichen Grundsätzen einbezogen. Besonders heikel wirken die grundlegenden Bestimmungen, dass der Krieg nur als „ultima ratio, als letztes Hilfsmittel der Selbstbehauptung“ und „durch eine gerechte Ursache von höchster Wichtigkeit“ erlaubt sei (vgl. Mausbach 1920: 61 f.). Welche Anstrengungen müssen zur Abwendung des Krieges vorher unternommen worden sein und vor allem: Was ist wichtig genug, um als Kriegsgrund auszureichen? Beim Verteidigungskrieg genügt der Angriff des Gegners, der jedoch „ungerecht“ sein muss. Beim zulässigen Angriffskrieg findet sich die (schwere) „Beleidigung des Staates und seiner Vertreter“ ebenso auf der Liste der Kriegsbegründungen wie die „Verletzung des Handels und anderer wichtiger Volksinteressen“ oder die „Schädigung einer verbündeten Macht usw. [!]“ (61). Mausbach konzediert immerhin die Schwierigkeit, die sich in der Ausgestaltung des Rechts zum Angriffskrieg durch die theologische Tradition ergibt. Die Unklarheiten wachsen nämlich in dem Maße, wie nicht mehr eine klar feststellbare, zu sühnende Schuld angenommen wird, die auf der Seite einer der kriegsbeteiligten Parteien liegen und dieser bewusst sein müsste. Mit dem Eindringen interessenbezogener Kriegsgründe in die als zulässig angesehenen Argumentationen wird jedoch immer weniger plausibel, dass nicht subjektiv guter Glaube auf beiden Seiten vorhanden ist, „dabei legt sich noch mehr die Möglichkeit eines beiderseits gerechten Krieges nahe, freilich auch die große Gefahr, die rechtliche Basis des Krieges ins Wanken [!] zu bringen“ (61). Dem Wehrpflichtigen wird auferlegt, auch im Zweifelsfalle der Obrigkeit zu gehorchen. Die Erkenntnis, dass durch eine solche Aufweichung der Lehre vom „gerechten Krieg“ einer uferlosen und völlig unkritischen Kriegslegitimation Vorschub geleistet wird, hat freilich, viel schärfer als in Mausbachs vorsichtigen Bedenken formuliert, der in der Friedensbewegung aktive Dominikanerpater Franziskus Stratmann für die zeitgenössische Diskussion sehr deutlich dargelegt (vgl. Stratmann 1924: 8689).9 Diese Lehre liefert demnach ein sehr flexibles Instrumentarium, das grundsätzlich beides: sowohl kritische Distanzierung als auch situationsangepasste 9
Auch Stratmann argumentiert augustinisch-thomistisch, jedoch in der Absicht, die Lehre vom „gerechten Krieg“ so auszugestalten, dass Kriege in der Praxis nicht mehr gerechtfertigt werden können. In einem Brief an Kardinal Faulhaber hat sich Stratmann 1929 über die Dehnbarkeit dieser Lehre nach der aus seiner Sicht rückständigen Auslegung der damaligen Moraltheologie beklagt, vgl. Posset 1978: 313 f. Zur Bedeutungslosigkeit einer Doktrin, von der angesichts der Gehorsamsverpflichtung des Einzelnen nur eine Mahnung an das Gewissen der Staatsführung übrig bleibt, vgl. Leugers 1986: 57 ff., dort bezogen auf die Zeit bis 1914.
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Legitimierung ermöglicht und in jedem Fall ein kasuistisch rationalisierbares Fundament für eine eigene normative Deutungshoheit der Religionsverantwortlichen gegenüber staatlichem Machtgebrauch auch in den Fragen von Krieg und Frieden zur Verfügung stellt. Mit dem Topos von der „ultima ratio“ geht Mausbach jedoch noch einen Schritt über die Lehre vom „gerechten Krieg“ hinaus. Es sei eben nicht so, dass man sich mit dem Krieg als Institution auf alle Zeiten abfinden müsse. Schließlich stellt der Krieg stets ein Skandalon der Inhumanität dar, und dies insbesondere für eine Theologie, welche das wesenseigentümliche Wachstum und die Entfaltung aller Glieder in einem Reich zusammengeordneter Zwecke vorsieht. Der Frieden erhält daher seinen „wesenhaften sittlichen Vorzug […] vor dem Kriege […] aus der tiefsten Natur alles Seienden“ (Mausbach 1918: 131). Kriegerische Verwicklungen verursachen stets einen Bruch in der irdischen Gemeinschaft, eine Störung der Ordnung, die nur als traurige Ausnahme von der Regel anzusehen ist. Der Krieg könne nur bedauerliches, äußerstes „Mittel zum Zweck“ in einem unvollkommenen Weltzustand sein, der Frieden hingegen sei Selbstzweck, „ein Zustand beruhigten Wollens, gesättigten Strebens; ‚Zufriedenheit‘ in der Harmonie des eigenen oder sozialen Daseins […] in sich verständlich und wertvoll; […] ist Einheit, Verbindung lebendiger Kräfte zur fruchtbaren Gemeinschaft“ (Mausbach 1915: 114). Kurzum: Der Frieden ist für Mausbach ein erstrebenswertes Gut, der Krieg ein von der Not erzwungenes Übel: „Denn der Krieg zerstört und zertritt Werke der Natur und Kultur, wertvolle Menschenleben, segensvolle Arbeit, Familienglück, soziale Werte und Beziehungen, religiöse Schöpfungen, die natürliche und christliche Einheit der Menschheitsfamilie; der Friede aber ist der tragende und nährende Boden für alle diese Werke und Güter. Da das Sein dem Nichts, das Leben dem Tode, die Einheit der Zerrissenheit vorzuziehen ist, so kann jenes Zerstörungswerk, mag es auch zu großen Erscheinungen Anlaß geben, nur als Ausnahme und Übergang, nur als schmerzliche Notwendigkeit, als ultima ratio, sittlich gerechtfertigt sein“ (Mausbach 1915: 7 f.).
Dies gilt ohnehin in Anbetracht der „sittlichen Gefahr“ allgemeiner Verrohung und der Exaltierung nationaler Leidenschaften, der Aufhetzung und Unehrlichkeit als Begleiterscheinungen des Krieges, erst recht aber angesichts der Technisierung der Destruktion im „Zeitalter der Maschine“ (vgl. Mausbach 1915: 55). Dazu erschreckt Mausbach die sich ungeheuer auswirkende Kontingenz des Geschehens, es „entscheidet nicht nur Recht und Verdienst, sondern oft genug die brutale Übermacht, die Furchtbarkeit der Waffen, das Kriegsglück“; „wir sprechen von den ‚eisernen Würfeln‘, die auf dem Schlachtfelde rollen“ (Mausbach 1915: 100) – so weit ist der Autor auch in seiner Kriegsschrift von einem naiven Glauben an die Koinzidenz von „guter Sache“ und Erfolg entfernt. Der Krieg als „letzter Ausweg“ der Rechtswahrung sei nur dann erlaubt, wenn nicht andere, ihm vorzuziehende Methoden zur Herstellung der Gerechtig-
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keit vorhanden sind. Das bedeutet jedoch auch, dass die Legitimation des Krieges hinfällig wird, wenn das internationale Recht geeignete Mittel zur Behebung von Streitigkeiten bereitstellt. In diesem Vorbehalt erkennt Mausbach den „Hebel einer Fortschrittsbewegung im Sinne der Friedensidee. Denn, was von dem einzelnen Kriegsfall und dem einzelnen Volke gilt, das muß suo modo auch von der ganzen Einrichtung des Krieges und der Pflicht der ganzen Menschheit gelten“ (Mausbach 1918: 130). Es sei also eine Menschheitspflicht, angesichts der bereits erzielten Fortschritte der innerstaatlichen Rechtssicherung und gemäß dem Stand der gegenwärtigen Kenntnisse und Einsichten nach friedlichen Wegen des Konfliktaustrags zu suchen. Selbst in seiner Kriegsschrift von 1915 gibt Mausbach darin der Friedensbewegung ausdrücklich Recht, dass es sich verbiete, „die Notwendigkeit des Krieges darum als Dogma hinzunehmen, weil er stets geherrscht und sich bis heute als unvermeidlich erwiesen hat“ (Mausbach 1915: 49). Bei aller Skepsis, die Mausbach gegenüber der Vorstellung einer überstaatlichen Zwangsordnung hegt, fordert er doch dazu auf, die internationale Verständigung organisiert auszubauen und dem Völkerrecht eine weitaus größere Bedeutung als bisher zu verleihen. Als Unterstützung seiner Auffassung hat Mausbach die Friedensbotschaft Benedikts XV. vom 1. August 1917 (vgl. Steglich 1970: 160 ff.) empfunden und in der Zeitschrift „Hochland“ gegen eine Kritik des Berliner Rechtsphilosophen Joseph Kohler verteidigt. In fast überschwänglicher Begeisterung verlangt der Theologe im Anschluss an die Äußerungen Benedikts nach einem kommenden „Weltfriedensschluß“, der auf wechselseitigem Ausgleich, Verzicht auf Sonderforderungen und Entgegenkommen der Kriegsparteien beruhen müsse, um „dafür aber das herrliche Geschenk einer organischen Rechtgemeinschaft [sic] aller Nationen [zu] empfangen“ (Mausbach 1917/18: 95). Mausbach erinnert an die Jahrhunderte alte Praxis päpstlicher Vermittlungen und Schiedssprüche und zieht einen gedanklichen Bogen von dieser Tradition über Kants Friedensschrift zur Friedensbewegung des späten 19. Jahrhunderts.10 Das technisch hoch gesteigerte Grauen des Vernichtungskrieges könne nunmehr in einer erhabenen Ironie der Weltgeschichte das „Morgenrot eines dauernden Friedenstages der Menschheit“ heraufziehen lassen, als „die einzig würdige Lösung des furchtbarsten Welträt10
Zur Vorbildfunktion päpstlicher Vermittlungsdienste für völkerrechtliche Schiedsverfahren, zu den realpolitischen Bedingungen und Leitvorstellungen für das Handeln der Päpste in der internationalen Politik vgl. den Überblick bei Hürten 2004. Dieser weist darauf hin, dass das Christentum von Beginn an den Soldatendienst nicht prinzipiell ablehnte, ungeachtet theologischer Friedensforderungen. Während die Errichtung der eigenen päpstlichen Landesherrschaft den Papst zeitweise selbst zur kriegführenden Partei werden ließ, erleichterte andererseits das Ende des Kirchenstaates 1870 mit dem Verlust der weltlichen Macht den Weg zu einem Programm strikter Neutralität und zur Formulierung des Anspruchs, ein internationales Friedensamt auszuüben.
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sels“ (97), nämlich der Verheerung des Lebens durch Kriegszerstörung. Dieser Linie folgen in den Nachkriegsjahren Aufrufe zur Ausbildung einer der internationalen Friedenstiftung verpflichteten deutschen geistigen Führungselite (vgl. Becker 1993). Eine Wirkung dieser Appelle ist allerdings nicht festzustellen.11 Mausbachs Vertrauen in die Vernunft und das harmonische Zusammenwirken der menschlichen Eigentätigkeiten trägt Züge jenes Katholizismus der vorletzten Jahrhundertwende, der versucht, den katholischen Glauben mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft und den Wissenschaften auszusöhnen. Darin ist der Theologe ein Sohn des späten 19. Jahrhunderts, dessen optimistische Erwartung weiteren „Kulturfortschritts“ in der beginnenden 40-jährigen Weltkriegsphase kaum noch Anhänger findet. Am Beispiel des Münsteraner Apologetikers ist jedoch zu erkennen, wie die ganz „orthodoxe“ Ausgestaltung der katholischen Glaubenslehre in eine vorsichtige Distanzierung vom Krieg als angeblich „ewiger“ Welteinrichtung und in ein dem extremen Nationalismus gegenüber ablehnend eingestelltes Verständigungsdenken münden konnte. 4. Der „ganze Mensch“ und der Frieden in der Debatte der „Schildgenossen“ Lassen sich neben der Position Mausbachs noch weitere andersgeartete Ansätze für friedenfördernde Interpretationen des katholischen Glaubens finden? Hierzu wird im Folgenden die katholische Jugendbewegung der 1920er Jahre in den Blick genommen, genauer die Zeitschrift der Quickbornbewegung „Die Schildgenossen“. Begründet 1920 als Organ der „Älteren“, d. h. der über zwanzig Jahre alten Quickborner, ist sie deswegen besonders interessant, weil sie sich zu einer Kulturzeitschrift entwickelte, in der intellektuell bedeutende Autoren mit sehr unterschiedlichen Standpunkten publizierten. Sie diente als Forum für eine Diskussion, die in großer Offenheit geführt wurde. Zugleich äußern sich auch weniger bekannte Mitglieder des Quickborn. Man kann daran bereits ein Spezifikum der Auseinandersetzung innerhalb des Sondermilieus der katholischen Jugendbewegung erkennen: Der Bewegungscharakter mit der Geste des Aufbruchs zu „neuen Formen“ legt es nahe, unkonventionelle Positionen zu Wort kommen zu lassen. Zugleich trägt das Zusammengehörigkeitsgefühl im katholischen Milieu dazu bei, dass ein gemeinsames Forum genutzt wird und scharfe Gegensätze zumindest den Respekt vor der Person des anderen nicht zerstören. Dabei kann auch diese Debatte nur ausschnitthaft besprochen werden, nämlich im Hinblick 11
Eine Beteiligung Mausbachs an der kleinen katholischen Friedensbewegung ist mir nicht bekannt. Zum mindestens bis 1930 äußerst reservierten Verhalten des deutschen Episkopats gegenüber dem „Friedensbund Deutscher Katholiken“ vgl. Riesenberger 1976: 54-59.
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auf die Weisen, in der mögliche Zugänge zum Friedensproblem im Zusammenhang religiöser Selbstverortung stehen.12 Eine Reihe von Beiträgen in den frühen Jahrgängen der „Schildgenossen“ kreist um Fragen des Selbstverständnisses: Was ist „Jugendbewegung“? Was muss insbesondere „katholische Jugendbewegung“ sein, anders gesagt: Was bedeutet deren Katholisch-Sein? Im Einklang mit einer Zeitstimmung, die über das Spektrum der Jugendbewegung weit hinausreicht, werden die Erscheinungsformen des Humanen nach Kriterien der Vitalität gewichtet. Alles muss sich ausweisen am Maßstab der Lebenssteigerung. Solche Erhebung kann nur in der Sammlung der eigenen, im Lebenskern des Einzelnen wie der jeweiligen Gesellungsformen wohnenden Kräfte gelingen, im „authentischen“, freigewollten Handeln: „Wir wollen in allem die Natur stark, gesund und ursprünglich erhalten, uns befreien von allem Gekünstelten, Gemachten, Unwahrhaftigen“ (KleineNatrop 1920/21: 101). Lebensreformerischer Elan spricht aus dem Vorhaben, einer „überfeinerten Zeit“ einen schlichten, „reinen“ und wahrhaftigen Lebensstil aufzuzeigen, der aber verbunden sein soll mit Sinn für einfache Schönheit, d. h. der ohne puritanischen Rigorismus auskomme (vgl. Liedl 1920/21: 14). Im Ausgang vom Aufbruch der Jugend soll sich die Gesellschaft erneuern (vgl. auch Schaetz 1920/21: 26 f.). „Bürgerlich“ und damit unecht, das heißt aber zugleich: Vitalitätsschwach ist es, im Konventionellen, in bloßer Regelkonformität und im Besitzstandsdenken zu verharren. Überzeugen kann nur, was sich im Einklang mit elementaren Lebensenergien zeigt: „Der glaubhafte Mensch fehlt unserer Zeit!“ (Pfister 1921/22: 19). Die Forderung nach innerer Wahrhaftigkeit und die Suche nach einer neuen, aus „wesenhaften“ Kräften geschöpften Lebenseinheit, nach einem Ganzsein, das die Zersplitterung des Empfindens und Tuns in die atomisierend-analytische Handlungsrationalität von Spezialisten und „Stückmenschen“ und die bloß zufällige, äußerliche Vergesellschaftung der Menschen überwindet, ist typisch für die Gestimmtheit in allen Gruppen der Jugendbewegung (vgl. Außem 1923/24: 3, 5; Schamoni 1921/22: 12; Schultz-Hencke 1920/ 21: 214 ff.). Insgesamt lässt sich über die Jugendbewegung in summarischer Vergröberung, was ihren Verlauf bis zur Vereinnahmung im Dritten Reich angeht, zweierlei aussagen: Zum einen ist unleugbar der emanzipatorische Impuls, sich in der Distanzierung von den Sozialisationsinstanzen der bürgerlichen Gesellschaft neue Verhaltensspielräume zu erschließen und in selbstgewählten Gruppen eigene kulturelle Ausdrucksformen zu entwickeln. Zum anderen spiegelte das Gedankengut jedoch nur eine Vielfalt von Ideologemen der deutschen Gesellschaft 12
Der Schwerpunkt liegt auf den Jahrgängen 1-4 (1920/21-1923/24), in denen sich die Debatten zu diesem Thema zum ganz überwiegenden Teil abspielen.
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wider, die von extrem völkisch-antisemitischen bis zu kommunistischen und anarchistischen Positionierungen reichte, wobei das Schwergewicht auf einem antimodernen harmonistischen Gemeinschaftskult lag (vgl. Mogge 1982: 94 ff.). Die katholischen Zirkel der Jugendbewegung, die erst nach dem Ersten Weltkrieg größere Bedeutung gewinnen, befinden sich in einer Position, welche durch die besondere Problematik geprägt ist, die dem Widerspruch zwischen jugendbewegter Autonomieforderung auf der einen Seite und einer für die eigene Identität zentralen Haltung der Kirchentreue auf der anderen entspringt. Der Verdacht der Heteronomie, der entmündigenden Außenlenkung durch eine fremde Instanz, war im Kaiserreich wiederholt gegen katholische Wissenschaftler und Politiker erhoben worden (vgl. etwa die Fallbeschreibung bei Horstmann 1976: 114-137); er kehrt in den Diskussionen zwischen den Richtungen der Jugendbewegung wieder. Wird also hiermit aus Sicht der Freideutschen die „katholische Jugendbewegung“ zu einer contradictio in adjecto, so besteht ein Rechtfertigungszwang für das Katholisch-Sein jugendbewegter Gruppen. Andererseits breitet sich in der ersten Nachkriegszeit im deutschen Katholizismus die triumphierende Erwartung aus, nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung des wilhelminischen Reiches die protestantisch-nationalliberale kulturelle Vorherrschaft beenden und der verunsicherten Gesellschaft mit Erfolg ein intakt gebliebenes katholisches Wertesystem als neue Leitorientierung anbieten zu können (vgl. dazu die Beiträge in Hoeber 1926, dort allerdings bereits mit vielen skeptischen Tönen). In den vielfältigen Suchbewegungen nach spirituellem Halt sollen die kirchlichen Traditionsbestände den festen Anker religiöser Besinnung bilden. Als distanzierter Beobachter konstatiert Siegfried Kracauer in seinen Zeitdiagnosen einen „horror vacui“, welcher die Menschen in ihrem Streben nach „Rekonstruktion der zertrümmerten Welt von einem geglaubten hohen Sinn aus“ der Religion zutreibe, woraus „auch dem Katholizismus neues Leben zuströmt“ (vgl. Kracauer 1977: 109, 112). Diese Stimmung begünstige „Unternehmungen, die auf die Wiedererweckung der Menschheitslehren abzielen und Beseitigung des Vakuums etwa von dem Eingehen in die positiven Religionen erhoffen, deren Wahrheitsgehalt es nun aufs neue heraufzuholen gilt. Wer, aus der Zone relativistischer Bedingtheit kommend, ihnen sich nähert, stößt auf Bekenntnis und Kulturgemeinschaft, auf Zwang des Absoluten, der die Vereinzelung tilgt, auf gläubiges Wissen, das von ungläubigem Schweifen befreit. Dem Wanderer gleich, der nach vielen Irrfahrten die schützende Heimstätte zu erspähen meint, so geht es allen denen, die heute von außen mit neuen Augen, mit Augen der Sehnsucht, das Gehäuse der Religionen erblicken. Diese wundersamen lebendigen Gebilde, die unbekümmert durch die Zeit gewachsen sind und ihr getrotzt haben, umschließen eine andere Wirklichkeit, als die es ist, in der sich physikalische Vorgänge und ökonomische Prozesse in chaotischer Mannigfaltigkeit entrollen. Sie verbürgen den Gläubigen die Einung des Ichs mit Gott und dem Du und versetzen, auch dank der Tradition, in der sie sich verkörpern und durch die sie dauern, aus der Sphäre sinnlosen Wandels in die der sinndurchdrungenen Ewigkeit“ (Kracauer 1977: 111 f.).
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Jungen Katholiken war es in dieser Lage also durchaus möglich, gerade aus der selbstverständlichen Bindung an die Institution der Kirche ein Überlegenheitsgefühl zu empfinden, das das alte „Inferioritäts“-Gefühl der katholischen Minderheit im Kaiserreich zumindest für kurze Zeit zu überdecken vermochte. Im Bewusstsein eines Wahrheitsbesitzes, der durch die Autorität der Heilsanstalt verbürgt wird, erscheint alles, was sich an der Jugendbewegung als suchender Subjektivismus darstellt, verfehlt und noch Teil der abgelebten liberal-individualistischen Zeit zu sein. Ziel muss es sein, den lebensphilosophischen Redefiguren einen genuin katholischen Sinn zu verleihen, die Wendung ins Innerste wieder zur Gottesbesinnung zu machen, damit „das Leben Gefäß für das Ewige werde“ (Platz 1920/21: 31) und die Sehnsucht nach neuer Lebendigkeit sich nicht in den Äußerlichkeiten der Welt verliert. Von Beginn an kulminiert diese Rückwendung in einer neukonservativen Kritik der modernen „Kulturentartung“, die fordert, „in diesem wogenden Meer von Sehnsucht, Triebunsicherheit und Zielumdunkelung das Ewige, das Absolute zur Geltung zu bringen, damit dieses herrsche über uns und unsere Kinder und nicht der Fortschritt, den die Modernen erfunden haben, um die Menschen zu narren. Und nicht das Geld, daß [sic] sie in den Mittelpunkt gezerrt haben, um damit Betäubung zu kaufen. Und nicht die Wissenschaft und nicht die Kunst, und keine von den andern Idealen, die sie sich aufgerichtet haben, sondern Gott allein, der Gott der Christen, der da ist von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Platz 1920/21: 32).
Ähnlich äußert sich in den „Schildgenossen“ der frühen zwanziger Jahre als immer wiederkehrendes Motiv die Kritik der gierigen, entgotteten, der „Mammonsherrschaft“ des Materialismus verfallenen Welt, die sich aus katholischem Geiste erneuern soll (vgl. Ammann 1921/22: 22 f.). Gegen die Korruptheit des Alten soll freilich nicht politischer Umsturz helfen, sondern ein moralischer Wandel, getragen von gläubigen Menschen, die einen neuen, katholischen Geist in die alten Formen einpflanzen und sie dadurch zum Guten verändern. Dazu dienen die mönchischen Bewegungen als Vorbild, insbesondere ein franziskanisches Ethos demütiger, bescheidener Liebestätigkeit. Keineswegs also wird eine Rebellion gegen gesellschaftliche Zwänge verkündet, sondern umgekehrt die Einordnung und Unterordnung in die als „Aufgabe“ und „Auftrag“ gewerteten Rollenanforderungen dekretiert, aber in einer Weise, welche die Integrität des Glaubensfundaments nach außen sichtbar macht. Die auch hier sich gelegentlich äußernden „bewegten“ Aufwallungen liebeskommunitären Überschwangs werden immer wieder gezügelt durch die Forderung, jede und jeder müsse „an seinem Platz“ die Probe der Alltagstauglichkeit des eigenen Bekenntnisses erweisen. Ein gewisses Maß an Askese und Selbstüberwindung zeigt sich im übrigen auch in der Forderung nach Enthaltsamkeit von Genussgiften – der Quickborn war vor dem Krieg aus alkoholabstinenten wandernden Schülerzirkeln entstan-
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den (vgl. Guardini 1922: 5 f. sowie den Überblick bei Mogge 1974), aber dies wird bereits als zu wenig weit reichende Selbstverständlichkeit angesehen. Tugendhaftigkeit soll nicht bloß in der Befolgung solcher selbst auferlegter Regeln bestehen, nicht nur in der gegenseitigen – auch wirtschaftlichen – Solidarität und Hilfe, sondern in der Konsequenz einer Haltung der Welt gegenüber, die eine geradlinige, in sich intakte Moralität im Handeln bewahrt: „Hauptziel ist kein anderes, als den neuen Menschen, in sich geschlossene, ganze katholische Persönlichkeiten zu bilden und zu erwecken“ (Pfister 1921/22: 17). Von dieser Ausgangslage her kann im Folgenden das Spektrum der verschiedenen Stellungnahmen zur Berechtigung einer Politik, die das nationale Interesse auch mit Gewaltmitteln durchsetzen will, skizziert werden. Fragen, die in der Debatte der „Schildgenossen“ aufgeworfen werden, richten sich vor allem gegen die als unerträgliche Gewissensspaltung empfundene Zumutung, als Staatsbürger eine Politik rücksichtsloser Selbstbehauptung des Staatsganzen nach außen mittragen zu sollen. Heißt nicht Ganz-Sein im katholischen Sinne, dass die zehn Gebote Gottes immer und überall gelten müssen? Ist dann eine Doppelmoral von privatem Anstand einerseits und dem Machiavellismus einer von Habgier und Gewalt geprägten Politik andererseits nicht widerchristlich? Ist es daher nicht geboten, dem Kult des Krieges und der Machtstaatlichkeit abzuschwören? Der „rettende Mensch“ lasse sich hier nicht auf Kompromisse ein, mache von der Forderung nach Wahrheit und Liebe keine Ausnahme für Politik und Geschäft, wie es die „Ja-Aber-Menschen“ für richtig hielten (vgl. Frank 1920/21: 182). Der Widerwille gegen den „Mammon“, welcher der „Opfergesinnung“ dieser katholischen Christen eingewurzelt ist, wendet sich gegen einen „Raubstandpunkt“, der als bloße Übertragung egoistischen Interessenkampfes, der brutalen Suche nach wirtschaftlichen Vorteilen und Wohlstandsmaximierung von der Ebene des Privatgeschäfts auf das Verhältnis der Nationen begriffen wird (vgl. Pfister 1920/21: 173). Die spirituelle Erneuerung müsse auch Politik und Wirtschaft mit den dort herrschenden Handlungsmaximen umfassen. Gegen den nationalliberalen Protestantismus gewendet, wird eine Haltung abgelehnt, die den Glauben in bloßer Innerlichkeit zu leben trachtet und ansonsten diese Gebiete ihrer „Eigengesetzlichkeit“ überlässt: „Weil alle Wirklichkeit in Gottes Herrschaftsbereich steht, gibt es keine profanen, von der Beziehung zu Gott abgelösten Lebensgebiete“ (Hoffmann 1923/24: 157). Einige Stimmen deuten die Niederlage Deutschlands als Gelegenheit zur Sühne, als Zeichen zur Umkehr, nicht etwa – wie bei der nationalistischen Rechten – als Aufforderung, durch die gleichen Mittel der Gewaltpolitik die Nation wieder zu neuer Größe auferstehen zu lassen. In der Person Romano Guardinis nimmt seit 1920 ein Geistlicher am Quickborn Anteil, der aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten und seiner charisma-
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tischen Begabung, verbunden mit persönlicher Bescheidenheit, schnell zur geistigen Leitfigur der Bewegung wird und als Autor der „Schildgenossen“ richtungweisende Beiträge liefert (vgl. zu Guardini und seiner Rolle im Quickborn: Bröckling 1993: 38-55; Gerl-Falkovitz 1995: 166-224; Ruster 1994: 183-197; dazu auch Kurth 1998). Guardini versucht vor allem, schwärmerische Appelle zur Umwandlung des „ganzen Menschen“ in eine Weltsicht einzuordnen, die mit der Lehre der katholischen Kirche übereinstimmt, aber die Ansprüche an eine vom Glauben getragene Lebenserneuerung aufrechterhält. Auch seine Überlegungen zu Krieg und Frieden zeigen dieses Bemühen. In seinem Text Rettung des Politischen konfrontiert Guardini diejenigen, die moralische bzw. religiöse Gesichtspunkte auf das Gebiet des Politischen anwenden wollen, mit der Frage nach den Voraussetzungen eines solchen Vorhabens. Es müsse, wer sich in dieses Feld begebe, auch politischen Sinn und politische Haltung aufbringen, dies verlange jedoch, sich über das Wesen politischen Handelns Klarheit zu verschaffen. Guardini will dies leisten, ausgehend vom „Sinn“ des Staates. Nicht Begriffsdistinktionen scheinen hier am Platze, vielmehr vermittelt der Text im Stil persönlicher Ansprache Antworten auf subjektive Sinnbedürfnisse. Der Staat findet nach Guardini seinen Sinn darin, dass er „Hoheit“ ist. „Zweckfreie Verkörperung von Majestät“ (Guardini 1923/24a: 114). Bemerkenswert ist, was in dieser Bestimmung fehlt, nämlich jeder Bezug auf das in traditionellen katholischen Staatslehren unvermeidliche „Gemeinwohl“. Der Staat ist keine Anstalt zur Verfolgung von Wohlfahrts- und Kulturzwecken, sondern wird in scharfer Absetzung von solchen gewissermaßen „bürgerlichen“ Kategorien aus seiner Aufgabe verstanden, Gottes Majestät in der zeitlichen Ordnung der Dinge darzustellen. In Anlehnung an Carl Schmitts oben zitierte Staatsschrift sieht Guardini den Staat als diejenige Instanz, die das Recht „als natürliche Offenbarung göttlicher Hoheit“ (114) in der Welt zur Geltung bringt. Zugleich verteidigt der Staat sein eigenes Recht nach außen gegen andere Staaten. Mit diesen Aussagen scheint eine emphatische Engführung politischen Handelns bereits vorgezeichnet. Politisch handelt das im Staat zum Subjekt gewordene Volk. An dessen Handeln sei „eigentlich politisch […]: Daß es handle, um sein gottgegebenes Wesen zu verwirklichen. Um das ihm ins Wesen gegebene Wort zu sprechen. Um auf seinem Platz in der Welt zu stehen. Daß es handle, um zu sein. Ohne jeden Zweck. Aber ein Sein in Freiheit. Und ein Sein in Ehre“ (115). Der Staat gewinnt hier die expressive Qualität, nicht bloß „Gehäuse“, sondern die äußere Gestalt der inneren Kräfte des Staatsvolks zu sein, die in ihm ihren gesammelten Ausdruck finden. Insofern aber nicht Zwecke sein Handeln leiten, sondern die Selbstverwirklichung seines „Wesens“ in der Geschichte, kommt Guardini mit dieser Darstellung des Politischen nationalistischer Selbstbezüglichkeit und einer Verherrlichung ungezügelten Machtstrebens gefährlich
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nahe. Damit rückt auch der Krieg in die Reihe wirklichkeitsgestaltender Handlungen, die an der Dignität des Politischen teilhaben und nicht nur in einer Nebenrolle, sondern als äußerste Probe auf die innere Kraft und die Opferbereitschaft des Einzelnen und der Gemeinschaft in ihrem Willen zur Selbstbehauptung der staatlichen Existenz. Das Politische erscheint als Dimension einer Lebendigkeit eigener Art, als die Weise, in der die Menschen der Geschichte begegnen und aktiv an ihr teilhaben. Diese Seite des Humanen zu verkennen oder aufgrund ihrer Gewaltsamkeit schlechthin abzulehnen, würde demnach die Fülle des Lebendigen verstümmeln und die Menschen einer Sphäre eigenen Werts, einer Möglichkeit persönlichen Wachstums im Dienst an einer höheren Sache berauben. „In mir ist etwas, das kann nicht leben, wenn nicht Staat ist“ (116). Weil – und solange – der „Staat“ jedoch mehr als eine international eingebettete Organisationseinheit gesicherten Zusammenlebens darstellt, ist er demnach gehalten, sich im Kampf um die Anerkennung seines Herrschaftsanspruchs und seiner Eigenwürde gegen andere Machtgebilde zu behaupten. Wer den Krieg um jeden Preis vermeiden wolle, müsse demnach etwa folgende Fragen beantworten: „Worin liegt dann der geistige Sinn des Staates und Volkes, ja des Gesellschaftslebens überhaupt? Wo die Gewähr, daß wir nicht träge und feige werden und dem Geld verfallen? Worin jenes letzte Einstehen und Ernstmachen, was bisher der Krieg für die Gesinnung – nicht des Geldmenschen und Gerissenen, sondern des mit Ehre und Gewissen zum Volk und Staat Stehenden war?“ (121).
Guardini räumt selbst ein, dass seinen Überlegungen eine unchristliche Volksoder Staatsvergötzung vorgeworfen werden könnte. Selbstverständlich, so betont er dagegen die Kehrseite seiner Staatsauffassung, sei dessen Autorität immer nur abgeleitet, stehe die Idee der Gerechtigkeit, stünden die Forderungen, die das Gewissen an mich stellt, über ihm, sei der Wert des Staates nicht der höchste aller Werte. Der Staat müsse Bereiche respektieren, die seiner Einwirkung entzogen sind. Wachsamkeit sei ihm gegenüber geboten, damit er die ihm gezogenen Schranken nicht übergehe. Der Staat dürfe nicht vergöttlicht werden, lautet Guardinis zentraler Vorbehalt. Gegen die radikalen Forderungen, von der Machtpolitik grundsätzlich abzukehren, macht Guardini einen Wirklichkeitssinn geltend, der die Eigenart menschlicher Handlungsgebiete wahrnimmt. Wiederum verbindet er vitalistische Vorstellungsgehalte und eine Programmatik des Authentisch-Seins mit seiner Neuformulierung katholischer Tradition als derjenigen Weltanschauung, die Antworten auf die Fragen des modernen Menschen geben soll. Die Lebensbereiche, von denen etwa Wissenschaft, Kunst, Technik oder Wirtschaft ähnliche Ansprüche wie das Politische auf Anerkennung der ihnen eigenen Gesichtspunk-
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te erheben könnten, dürften einerseits zwar nicht einfach einer bereichsspezifisch völlig autonomen und insofern glaubenslosen Handlungslogik überlassen werden. Sie dürften andererseits aber auch nicht durch „ethizistische Demagogie“ ihres Eigensinns beraubt und abstrakten Grundsätzen unterstellt werden, die ohne Teilnahme an der Arbeit und dem Kräftespiel des jeweiligen Bereichs lediglich aus der Außenperspektive oder aus kenntnisloser Betroffenheit postuliert würden. Gültig werde eine Stellungnahme nicht durch ihren Bezug auf allgemeine Normen und Prinzipien, sondern aufgrund ihrer Beglaubigung durch eine Persönlichkeit, deren innere Beteiligung am Geschehen und deren Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten, unter denen das menschliche Handeln steht, sich den anderen, zu denen gesprochen wird, mitteilen. Die spezifisch „katholische“ Haltung soll dabei geprägt sein von dem Dienst an Lebenswirklichkeiten, die nicht als unverbundenes Nebeneinander fragmentierter Sachabläufe, sondern als Aspekte eines Ganzen empfunden werden, in der Weise, „daß alles Seiende in letzter Übereinstimmung steht, weil alles auf Gott bezogen ist“ (Guardini 1920/21a: 39). Im Widerstreit zwischen Kriegsbereitschaft und Friedenspostulat fällt Guardini keine Entscheidung, sondern gibt die Frage zurück mit einer Aufforderung zur Prüfung und Selbstprüfung auf die Ernsthaftigkeit hin, mit der über das Problem geredet wird. Die Art der Antwort Guardinis verweist auf ein tiefer liegendes Motiv, das nicht nur mit der Friedensfrage, sondern im Kern mit dem von ihm artikulierten Selbstverständnis der katholischen Jugendbewegung verbunden ist. Wenn er den Katholiken als Menschen des „Vertrauens“ charakterisiert, so kommt darin die Auffassung zum Ausdruck, „daß Gott auch in der menschlichen Gewalt ist“ (39). In der grundlegenden Spannung zwischen religiösen und weltlichen Ansprüchen an den Einzelnen besteht die katholische Lösung darin, sich vorab auf die Geltung des Wirklichen zu verlassen und der tätigen Mitarbeit des Christen an den Lebensordnungen, an der gewissermaßen „getauften“ Macht, eine ethisierende Kraft zuzutrauen. Vehement wehrt sich Guardini gegen einen kantischen Kritizismus, den er auch den Freiheits- und Autonomieformeln der nicht-katholischen Jugendbewegung zugrunde liegen sieht. Nicht ein sich reservierendes Misstrauen rational isolierter kritischer Prüfung jeder Handlung und jedes einzelnen Befehls sei angebracht, sondern Ehrfurcht gegenüber jenen Verkörperungen des Gebotenen, die als Autorität gegeben sind. Einer Einstellung, die sich nur auf sich und das eigene Urteil stellt, hält Guardini als das „Naturgemäße“ den vertrauenden Gehorsam entgegen, den Willen, „sich in das Ganze einzuordnen und aus ihm heraus zu leben“ (Guardini 1920/21c: 120). Dabei will Guardini keine schrankenlose und gänzlich blinde Folgebereitschaft proklamieren, bleibt doch die Möglichkeit der Kritik vom Gewissensstandpunkt aus erhalten und die Pflicht, sich befohlenem Unrecht im äußersten Fall zu verweigern. Ähnlich wie Maus-
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bach, aber sprachlich an romantische „Polaritäten“ erinnernd, spricht Guardini in diesem Zusammenhang von den zwei „Polen“, desjenigen des Individuums und desjenigen der Gemeinschaft, auf denen das Leben stehe (118) und ruft die Quickborner dazu auf, angesichts von Gewalt und selbstsüchtigem Verhalten ihrer Umgebung die Gewissensfreiheit und die Unantastbarkeit der Persönlichkeit entschlossen zu verteidigen (vgl. Guardini 1920/21b: 78). Modern mutet die Argumentation Guardinis insofern an, als der Gehorsam eine Form authentischer Selbstartikulation darstellen soll und nicht in einer Sprache autoritärer Zwangsausübung gefordert, sondern als Weg sinnhaft vertiefter Lebensführung nahegelegt wird. Gehorsam soll demnach „schöpferisch“ sein, also – von innerer Zustimmung getragen – Kräfte mitgestaltenden, erneuernden Handelns in einen freigewollten, nicht äußerlich erzwungenen Dienst einbringen. Was die vermehrte Eigenverantwortung des Einzelnen angeht, der zugleich für das „Ganze“ leben und denken soll, finden sich Parallelen dazu in bildungsreformerischen, aber auch militärtaktischen Tendenzen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzen, obrigkeitsstaatlichen „Kadavergehorsam“ durch eine größere Selbständigkeit in der Erfüllung von Aufgaben zu ersetzen, sowie in den Weltkriegsdebatten um die „deutsche Freiheit“ (vgl. Otten 1999: 101 f.; Rotte 2001: 59 ff.). Die „katholische Freiheit“ wäre im Sinne einer „wesenhaften“ Entscheidung zu sich selbst und der eigenen zentralen Lebensbestimmung zu verstehen, welche Gehorsam und Verzicht einschließt, darum aber nicht „Heteronomie“ bedeutet, sondern dem jugendbewegten Autonomiedrang erst seine wahre Richtung verleiht. Man könnte das Bekenntnis zum „Katholisch-Sein“ im Sinne einer „starken Wertung“ auffassen, die durchaus einsichtige Abwertungen anderer, weniger wichtiger und kollidierender Bedürfnisse nach sich ziehen oder vorab bereits enthalten kann (vgl. Taylor 1999: 140 ff.). Die Position Guardinis kann aus heutiger Sicht jedoch insbesondere deshalb nicht überzeugen, weil sie die Selbstbestimmung im Akt der gläubigen Hingabe konzentriert und zugleich terminiert. Wenn zur Autonomie gehört, dass im biographischen Ablauf erfahrene eigene Bedürfnisse und der sich ergebende Widerspruch gegen institutionelle Restriktionen jeweils angstfrei geäußert werden können (vgl. Honneth 2000: 247), so wirkt die Verteidigung der „katholischen Freiheit“ wie eine umdeutende Verinnerlichung äußerer Zwänge, deren affirmative Übernahme als Probe auf persönliche Stärke und Opferbereitschaft hin heroisiert wird. Mit dem „vertrauenden Gehorsam“ ist zugleich der besonders problematische Punkt bedingungsloser Erfüllung von Anordnungen staatlicher Gewalt angesprochen. Hält man entsprechende Stellungnahmen, die sich in den „Schildgenossen“ finden, gegen Guardinis complexio aus Gehorsamsapologie und Gewissensvorbehalt – mit eindeutigem Primat des Gehorsams –, so zeichnet sich der vergröbernde, aber dennoch leicht vollziehbare Übergang deutlich ab. Andere Autoren
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der „Schildgenossen“ verlangen dezidiert, dass der religiöse Aufbruch der katholischen Jugendbewegung vor allem der deutschen „Volksgemeinschaft“ dienen solle. Religion soll sich als diejenige Kraft erweisen, die, stärker als alles andere Streben, Gemeinschaft und Verantwortung für diese erzeuge: „Die katholische Jugendgemeinschaft muß vor allem den Gedanken der Disziplin in militärischem Sinne wieder zu Ehren bringen, der unbedingten Unterordnung des eigenen Willens unter einen fremden Willen“ (Kemmer 1922/23: 36 f.). Die religiöse Hingabe an eine höhere, aus eigenem Recht gebietende Wirklichkeit wird im Sinne „heldischer“ Männlichkeit gedeutet und als „Geist der Selbstaufopferung“ auf die Haltung zur weltlichen Machtordnung übertragen. Um das „völkische Verantwortungsgefühl“ religiös zu „unterbauen“, firmiert der Dienst am Vaterland als „Gottesdienst“. Die Gehorsamsgesinnung wäre somit das Antidot einer erneuerten Wehrhaftigkeit gegen die pazifistische Erweichung der Jugendbewegung. Bei dem zitierten Autor und weiteren Beiträgern der Zeitschrift werden die Opfer- und Selbstüberwindungsmotive nicht nur mit einer Emphase der Unterwerfung unter den Befehl legitimer Autorität verbunden. Vielmehr knüpfen sich daran Polemiken gegen Aufklärung, Liberalismus, Materialismus und sittliche Auflösung, die sich zu anti-westlichen Feinderklärungen steigern (vgl. Spahn 1923/24; van Leewen 1927). Noch in dem zurückhaltend formulierten Beitrag Carl Schmitts ist die Verbindung religiöser und politischer Topoi ersichtlich: Der Westen habe ein anonymes Kontrollregime über Deutschland errichtet, das den christlichen Begriff der „Obrigkeit“ aushöhle – und damit die Grundlage aller öffentlichen Ehrlichkeit und Rechtlichkeit (vgl. Schmitt 1924/25). In diesem Diskussionskontext amalgamieren sich Elemente konservativer Kulturkritik an den „zersetzenden“ Zügen der Moderne mit Appellen gegen die Hinnahme nationaler Kränkungen zu einer Mischung, die revanche-nationalistische Strömungen aus religiöser Quelle speist (vgl. Otten 1999: 110 f.). Angesichts solcher Motivverkettungen lassen sich die Erwägungen Guardinis auch im Hinblick auf seine Absicht lesen, aus nationalistischen Verengungen, bei aller Nähe zum Pathos des Dienstes an Volksgemeinschaft und Nation, hinauszugelangen und Zugänge zum Friedensproblem aufzudecken, die zwar nicht pazifistisch genannt werden können, aber doch die bisherige Nationalpolitik in Frage stellen. Die zunehmende Verflechtung der Staaten, die auf der internationalen Ebene von wirtschaftlichen Organisationen, von kulturellen, wissenschaftlichen und sozialen Regelungen und Verbandsbildungen durchdrungen werden, lässt die Aussicht auf die Zukunft eines Politischen, das als unabhängig handelnde Verfügung des Kollektivsubjekts „Nationalstaat“ über Optionen der Machtausübung gegen andere ähnlich strukturierte Akteure verstanden wird, ungewiss werden. Die Stärke des katholischen Standpunkts, die Guardini zur Geltung bringen will, liegt darin, sich hier nicht auf das Nationale als höchsten Wertbe-
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zug fixieren zu müssen. Das Politische als Aufgabe, eine geschichtliche Wirklichkeit zu gestalten, kann einen neuen Sinn erhalten. In einem Tagungsbericht der „Schildgenossen“ wird Guardini mit den Sätzen zitiert, das „Volk als abgeschlossene Welt“ gebe es nicht mehr, ein Volk wachse und falle heute mit dem andern (Außem 1923/24: 192). Ein neues „übervölkisches“ Gefühl des Zusammenhangs sei entstanden und „Europa“ als lebendige Wirklichkeit aufgetaucht. Bildet gar die gesamte, „übersehbar“ gewordene Erde eine „neue Oikumene“, so stehen über der Nationalstaatlichkeit „die höheren politischen Felder mit ihren Problemen, Kulturkreis und Menschheit“ (vgl. Guardini 1923/24a: 118 ff.). Der Staat rückt damit in eine neue Perspektive, imponiert nicht mehr als einzige letzte Größe weltlicher Würde und Ehre, von der jeder andere politische Anspruch abgeleitet wäre, darf nicht als „Obrigkeitsstaat“ bevormundend und rücksichtslos über die einzelne Persönlichkeit hinweg schreiten, sondern zeigt sich – in romantisch klingender Sprache – nach Art eines „lebendig spielenden Organismus zwischen eigentätige Persönlichkeit und Menschheit“ gesetzt (119 f.). Noch deutlicher wird der Ansatz zu möglichen Alternativen in Guardinis Aufsatz über Gandhi. Auch hier ist weder von Naturrecht noch von abstraktem Moralismus die Rede, vielmehr erkennt Guardini in der Lehre und in den Aktionen Gandhis eine „neue politische Wirklichkeit“, die gegenüber der „furchtbaren Armseligkeit und Grobheit unserer ‚Realpolitik‘“ erweise, dass der Geist, der sich mit tätiger Opferbereitschaft verbindet, eine starke politische Energie darstelle (Guardini 1923/24b: 448, 451 f.). Der indische Asket sei ein Mensch der Gegenwart, der sich gerade dadurch auszeichne, dass er „ganz auf dem Boden des wirklichen Staates“ (450) stehe und von der jetzt vorhandenen geschichtlichen Lage ausgehe. Immer noch will Guardini nichts „predigen“, und glaubt nicht, dass ganz ohne Gewalt und Schläue erfolgreich politisch gehandelt werden könne. Gandhi hat jedoch, so Guardini, einen Hinweis darauf gegeben, wie das politische Problem von Krieg und Frieden von einer anderen Seite anzugehen wäre, nämlich durch „lebendige Menschenbildung […] in Wachwerden, Sammlung, Zucht und Opferbereitschaft“ (452), die neue, geistige Kräfte in die politische Arena führen könnte. Hier liegt gewissermaßen der äußerste Punkt der Debattenbeiträge Guardinis, den er nicht weiter vertiefen wird. Charakteristisch ist für seinen Stil, dass seine Überlegungen bei den historischen Vorgängen und Kräften bleiben wollen und auch in diesem Fall jede heilsgeschichtliche Spekulation vermeiden. Die zulässigen und gebotenen Mittel politischen Kampfes sind immer wieder zu überdenken. Das Politische wird aus dem Anspruch, mittels religiöser Kasuistik stets fertige Antworten geben zu können, entlassen in einen Raum offener Fragen. Die prononciertesten Positionen des „Friedenslagers“ in der Diskussion der „Schildgenossen“ finden sich schließlich bei Ernst Michel und dem jungen Wal-
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ter Dirks (vgl. Bröckling 1993; Ruster 1994; Riesenberger 1976; zu Dirks auch: Seiterich-Kreuzkamp 1986, bes. 29-45). Auch diese beiden Autoren lehnen einen abstrakt-überzeitlich formulierten Gesinnungspazifismus der strikten Gewaltverneinung ab und erwarten sich von naturrechtlichen Prinzipien keine Hilfe. Gott zeigt sich nicht in einer harmonischen Ordnung, auch nicht in den Anordnungen legitimer Autorität, sondern in Geschichtszeichen, die auf das entstehende Neue voraus weisen. „Gott spricht durch die Situation!“ (Dirks 1922/23: 173). Ernst Michel deutet die Kriegsniederlage Deutschlands mit ihren Folgen, der Entwaffnung und den Auflagen des Versailler Vertrages, als Auftrag an das deutsche Volk, sich von dem überkommenen Konzept des souveränen Nationalstaats abzukehren. Die erzwungene Wehrlosigkeit der Deutschen solle als Opfer für einen künftigen Weltzustand angenommen werden, der über den europäischen Gedanken hinaus den „Weltvölkerbund“ verwirklichen werde. Michels Appell aktualisiert die scholastische Vorstellung der universellen Völkerfamilie im Rahmen eines geschichtlichen Übergangs zu einer „werdenden übernationalen Ordnung“ (Michel 1923/24: 151). Im Unterschied zu Guardini sieht Michel den Völkerbund nicht nur als möglicherweise wichtigen Kampfplatz politischer Ansprüche, erst recht nicht, wie Carl Schmitt, als gefährliches Instrument der Siegermächte zur Niederhaltung Deutschlands, sondern als Verheißung einer neuen Gemeinschaft. Den real existierenden Völkerbund nur an den machtstaatlichen Interessen seiner Mitgliedstaaten zu messen, hieße demnach, zu verkennen, dass diese – gewissermaßen der List der Geschichte unterworfen – Schrittmacherdienste an der Idee einer höheren Einheit, an der Entstehung eines weltumfassenden „Bundesvolkes“ leisten. Wie Heinrich von Getzeny in einer Rezension von Publikationen Ernst Michels gleichfalls in den „Schildgenossen“ anmerkt, entbehrt solche Sicht nicht der chiliastischen Züge (vgl. von Getzeny 1927: 344 f.). In dessen Vorstellung einer epochalen Zeitenwende gewinnt der Topos der „Entscheidung“, die der christliche Mensch im Angesicht der Schicksalsstunde treffen muss, eine expressionistisch aufgeladene Dramatik und enthält die Gefahr, die Maßstäbe des Handelns ganz dem angeblichen Gebot der historischen Situation auszuliefern (vgl. Michel 1923b: 282-286, 297 f.). Charakteristisch für seine selbstbewusste Laientheologie ist die Rolle, die Michel der Kirche zudenkt. Diese steht in einer „polaren“ Spannung zur Welt und repräsentiert die „erlöste Menschheit“, das Reich der Gnade (vgl. Michel 1924: 16 f.; Michel 1926: 31). Weder ist es ihre Aufgabe, Politik zu treiben, noch soll sie moralisch erziehen, geschweige denn das Christentum kanonisieren und „vergesetzlichen“ oder gar Formen weltlichen Glanzes „vergotten“. Den Gliedern der Kirche hingegen, mit dem irdischen Leben verbunden, kommt die Aufgabe zu, aus dem „jenseitigen Hebelpunkt“ des Glaubens ansetzend, „im personalen Kern gläubig verbunden dem Ur-Quell der Liebe“ (Michel 1924: 39), die richtige Lösung
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sittlicher Konflikte aus dem Bewusstsein der wirkenden geschichtlichen Kräfte zu finden. Dabei dürfe der Zustand der Welt weder einfach hingenommen und gerechtfertigt, noch als vollends sündhaft verdammt werden, sondern der christliche Mensch müsse durch einen zu vollziehenden „Ausstand aus der Welt“ (Michel 1924: 21) das Bestehende radikal relativieren und seine existenziell neue Bejahung aus dem individuell zu ergreifenden Gottesbezug finden. Ernst Michel steht damit prototypisch für einen modernen Katholizismus, der den Glauben vor allem als engagiertes Handeln nach dem frei und der aktuellen Lage entsprechend interpretierten Liebesgebot versteht und die Amtskirche nur noch als Sakramentshüterin, nicht mehr als bestimmende Autorität in ethischen oder politischen Fragen sieht (vgl. Ruster 1994: 234 f.). Die Argumentation Walter Dirks’ behandelt die Frage von Krieg und Frieden mit größerer Betonung der eigenen Sachlichkeit des Politischen. Religion kann auch nach seiner Auffassung keine politischen Weisungen geben, wohl aber die Basis einer Liebesgesinnung darstellen, die jeder Einschätzung der politischen Konstellation zu Grunde liegen soll. Wie jedoch konfligierende Ansprüche und Grundsätze im Lichte einer historischen Situation zu bewerten sind, sei Angelegenheit des politischen Urteils, damit vor allem der rationalen Abwägung und gewissenhaften Prüfung. Auch Dirks hält „die Überwindung des Krieges für eine Aufgabe unserer Zeit“ (Dirks 1922/23: 173), in dem Sinne eines politischen Vorhabens, über das Rechenschaft in Kategorien der geschichtlichen Realisierbarkeit abzulegen ist. Die betonte Verantwortung des einzelnen erhält aber auch bei Dirks den Beiklang einer existenziellen Entscheidung – für den Kampf gegen den Krieg – und eine heroische, männlichkeitsbetonte, den Aspekt der Opferbereitschaft unterstreichende Note. Die Forderung nach Askese, Verzicht und Disziplinierung der eigenen Emotionen zeigt erneut ihre Ambivalenz in der Friedensfrage. Aus der gleichen Zeit, in der Dirks sich zur „wahren Überwindung des Krieges“ äußert, stammt auch sein Beitrag „Ruhrnot – Was sollen wir tun?“ in der Zeitschrift „Quickborn“ anlässlich der Ruhrbesetzung durch französische Truppen. Die Selbstzügelung und Abstandnahme, die der Autor anmahnt, gilt in diesem Zusammenhang einer aus seiner Sicht drohenden nationalistischen Psychose. Die katholische Jugendbewegung dürfe das unabhängige Denken, die nüchterne Analyse der beteiligten Interessen, die Suche nach der Wahrheit über die Ereignisse jenseits der „Wahrheiten“ der kämpfenden Parteien nicht aufgeben, sich „nicht kritiklos in die Reihe der deutschen Abwehrfront stellen“ (Dirks 1991: 44). Jedes Urteil über die Besatzung an der Ruhr müsse das Leid der anderen, den mit dem Einmarsch in Belgien verschuldeten deutschen Völkerrechtsbruch, die dort verübte Gewalt, die Verheerungen im okkupierten Frankreich, kurz: die Schuldverstrickung der eigenen Seite ehrlich bekennen und versuchen, die Welt mit den Augen der anderen zu sehen. Auch deren Wut und Rachsucht,
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ihre Ängste und Unnachgiebigkeit seien verstehbar. Die Weite des katholischen Blicks soll verhindern, dass auch die Quickborner dem Pathos der Empörung verfallen und sich von dem eskalierenden Gewaltgeschehen aus zugefügtem Leid, Hass und erneutem Unrecht mitreißen lassen. Angesichts des deutschfranzösischen Konflikts dürfe die katholische Jugendbewegung nicht in einer Parteinahme aufgehen, sie werde mitleiden, aber sie müsse „neben“ den Streitenden stehen, sie dürfe „innerlich im letzten nicht beteiligt“ (50) sein. Religion würde so für die Friedensfrage bedeutsam in einer indirekten Weise: Entsagung als Moment religiöser Weltdistanzierung wird hier nicht als Bereitschaft zur Hingabe des eigenen Lebens für das Kollektiv gedeutet, um das von weltlichen Mächten befohlene Opfer spirituell zu überhöhen und die kollektive Mobilisierung für den Waffengang zu begleiten. Vielmehr soll umgekehrt die Distanzierung von vorgebahnten politischen Abläufen wechselseitiger Verletzung, nahegelegt durch eine religiös fundierte Haltung des Racheverzichts, den „grauenvollen Takt des Hasses“ (50) unterbrechen und Versöhnungsanstrengungen befördern. 5. Ergebnisse und Schlussfolgerungen Als Ausgangspunkt für eine Bewertung dessen, was die ideengeschichtliche Lektüre im Fallbeispiel ergeben hat, sollen einige Bemerkungen Micha Brumliks dienen (vgl. Brumlik 2003). Demnach stehe im Zentrum der Religion das „Opfer“. Kern des religiösen Gefühls sei die Hingabe an ein Höheres, die mit der Bereitschaft zur Opferung des eigenen Lebens ein gefährliches Intoleranzpotential enthalte. Diese Motivation sei Quelle einer Gewaltbereitschaft, die nach der säkular-religiösen Aufladung des Nationalgedankens Kriegen Vorschub leiste, die von den Religionen – in diesem Falle bezieht sich Brumlik auf die biblischen Religionen, vor allem das Christentum – der nationalen Erregung folgend, in gewissermaßen mental verwandter Weise gestützt würden. Der Autor sieht die christlichen Konfessionen charakterisiert durch die widersprüchliche Trias aus Hingabebereitschaft, einem zentralen Opfermythos und zugleich den ursprünglichen Impulsen eines moralischen Radikalpazifismus. Brumlik kommt, was die Entschärfung des mit Religion verbundenen Intoleranzrisikos angeht, zu dem skeptischen Fazit, dies sei dann möglich, wenn die Bereitschaft zu einem offenen Dialog auch die jeweiligen Zentralmythen entmachte, führe damit aber in eine Art postmoderner Selbstaufgabe religiös fundierter Identitäten. Gegen eine solche Lösung, die nur das in ihnen gebundene „Hingabepotential“ anderen ideologischen Mächten abtreten würde, plädiert Brumlik für die „bürgerliche“ Variante einer konfessionell eingehegten und privatisierten Religion, um die Verwirkli-
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chung von Gerechtigkeits- und Freiheitspostulaten einer verantwortungsethisch reflektierten Politik zu überlassen. Zu der von Brumlik so betonten Zentralstellung des religiösen Opfers wären einige Bedenken anzumelden, die sich zum einen auf die Festschreibung eines – wie der Autor den Studien Walter Burkerts folgend annimmt – phylogenetisch verankerten und scheinbar vorgegebenen „Hingabepotentials“ richten müssten. Weiter wäre in Rechnung zu stellen, dass die ursprünglich kultische Bedeutung des Opferbegriffs im Sprachgebrauch bereits lange verblasst ist und inzwischen, nachdem sich die imitatio Christi zunächst auf Askesepraktiken richtete, schließlich zur bloßen Metapher für „Verzicht“, verbindbar mit beliebig einzusetzenden gesellschaftlichen Legitimationen, geworden ist (vgl. Stegemann 2000). An Adam Müllers Ausführungen (vgl. oben, Abschnitt 2) ist zu erkennen, inwieweit das Motiv des „Opfers“ längst säkularisiert ist. Der „Staat“ gilt als „lebendige“ kollektive Einheit, die im opfervollen Krieg des „Wesentlichen“ ihrer Existenz gewahr wird. Der ursprüngliche Kontext einer dankenden oder sühnenden Transaktion, die sich an eine Gottheit wendet (vgl. Malina 2000), ist ersetzt durch eine Hingabe- und Verzichtsrhetorik, die auf das (männliche) Individuum der bürgerlichen Gesellschaft zielt. Nunmehr dient der Opferbegriff dazu, Staat und Nation mit außeralltäglicher, rituell zelebrierter Würde und Attributen innerweltlicher Transzendenz auszustatten, also in diesem Sinne das politische Kollektiv als imaginierten Gesamtkörper zu „sakralisieren“ (vgl. Berghoff 1997; Berghoff 2001). Die Rede von der schrecklichen, schauervollen und zugleich faszinierenden, „heiligen“ Größe des Krieges seit dem frühen 19. Jahrhundert ist im deutschen Kontext von den Diskursen der Empfindsamkeit und Romantik geprägt und den Eindrücken eines scheinbar übermächtigen „ganz Anderen“ verbunden, die mit dem Begriff des „Erhabenen“ belegt werden können, also eher in Termini des Ästhetischen als in jenen der religiösen Selbstauslegung zu fassen sind (vgl. Colpe 1994: 14-22, 74 ff.). Zu beachten ist insbesondere der Umstand, dass in der Moderne „Religion“ gegenüber naturalistischen Weltauffassungen eine Position markiert, die ein Ziel und eine Verpflichtung „jenseits“ des selbstgenügsam verstandenen menschlichen Lebens und seiner Entfaltung behauptet. Nimmt man etwa die ebenfalls im zweiten Abschnitt zitierten Ausführungen Max Schelers über die klärenden und erhebenden Momente des Krieges ebenso wie Guardinis Besorgnis gegenüber dem moralischen Risiko seiner Abschaffung, aber auch dessen Interesse für Gandhis gewaltlosen und zugleich opferbereiten Kampf in Abschnitt 4, so bleibt als Gemeinsamkeit dieser und anderer Stellungnahmen die Forderung nach einer Bereitschaft zur Selbsttranszendenz im Dienst an einer „höheren“ Sache übrig, die selbst noch in Walter Dirks’ Forderung nach selbstdiszipliniertem Einsatz für den Frieden steckt. Der Gottesglaube bildet jene starke „Moralquelle“ (vgl. Tay-
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lor 1996: 880-895), die sehr unterschiedliche Einsätze und Verzichtsleistungen motivieren kann, die jedoch mit der Metapher des „Opfers“, weit entfernt von Darbringungspraktiken in einer rituellen Interaktionsbeziehung, eher sprachsymbolisch überhöht und in ihrer aktuellen Bedeutung verschleiert werden, in Bezug vor allem auf die Frage, wer wen für wen und was „opfert“. Das Misstrauen gegenüber der „Introversion des Opfers“ (Horkheimer/Adorno 1997: 73) und den Folgen zugemuteter Entsagung unbenommen, lohnt dennoch die Frage, welches Handeln in der Frage von Krieg und Frieden aus religiös engagierter Perspektive nahe gelegt wird und inwiefern sich friedensgeneigte Positionen auf religiöse, in diesem Fall auf Argumente katholischer Provenienz stützen können. Der zentrale Befund, der anhand der vorgelegten Beispiele zu erheben ist, weist darauf hin, dass Motive religiöser Askese säkularisiert und in die Forderung nach Töten und Getötetwerden im Krieg hin umgemünzt werden können, dass aber auch die Ausdeutung gegen machtpolitisches Handeln möglich ist. Als Bindeglied zwischen „Opferbereitschaft“ und Krieg kann eine quasireligiöse Vergöttlichung des politischen Kollektivs fungieren, die eine religiös vorgeprägte Bereitschaft zum Verzicht auf eigene Lebenswünsche für weltliche Ziele mobilisiert und nutzt. Freilich muss dieser Schritt aus Sicht der Religionsgemeinschaft nicht zwingend mitvollzogen werden. Die Geschichte der katholischen Minderheit im Deutschen Reich bietet hier einen interessanten Fall, der von den Friktionen des „Kulturkampfs“ bis zu dem Bemühen, vor dem und im Ersten Weltkrieg patriotische Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen, reichhaltiges Material für einige Arten von „Halbdistanz“ bis hin zur fast völligen Anpassung an die öffentliche Stimmung eines extrem aufgeheizten Nationalismus zur Verfügung stellt.13 Die Moraltheologie Mausbachs zeigt trotz vieler Akkommodationen die grundsätzliche Möglichkeit auf, aus einem katholischen Universalismus heraus den Gedanken der Menschheitsfamilie sowie die Übertragung päpstlicher Moderations- und Vermittlungstätigkeit auf das Konzept einer friedensstiftenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen gegen nationalistische Borniertheiten zur Geltung zu bringen. Freilich äußert sich dies eher in Form eines Vorbehalts, der es der religiösen Elite erlaubt, aus der von ihr beanspruchten Interpretationskompetenz heraus ihre Zusammenarbeit mit den politischen Machteliten zu formulieren und eigenen Kriterien zu unterwerfen, als in einer grundsätzlichen Opposition. Auffällig – und als Hinweis für die stärker 13
Die heutige Einschätzung aus Sicht der historischen Forschung lässt sich recht gut mit dem Wort Thomas Nipperdeys wiedergeben, wonach „die Geschichte des Katholizismus in Deutschland zwischen 1871 und 1914 auch eine Geschichte seiner Nationalisierung“ sei (Nipperdey 1988: 49); vgl. zur Ambivalenz der katholischen Haltung gegenüber dem „offiziellen“ Nationalismus protestantisch-nationalliberaler Prägung und zur fortschreitenden „Nationalisierung der Katholiken“: Walkenhorst 1996: 524 ff. (mit weiteren Hinweisen) sowie Hürten 1992: 29, 159.
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bellizistische oder eher nicht-bellizistische Qualität religiöser Positionsnahmen signifikant – ist, was Mausbach nicht tut: Der individuelle Gottesbezug wird auch in den Kriegsschriften herausgehoben und nicht dem Kollektivgeschehen untergeordnet, der Gedanke der Sündenstrafen wird mahnend, aber nicht in frohlockender Ereiferung eingesetzt, die Feinde werden nicht abgewertet, insbesondere wird der Krieg nicht geschichtstheologisch überhöht, vielmehr richtet sich gegen die kriegsfixierte „Realpolitik“ der Verdacht einer amoralischen Verherrlichung des „Rechts des Stärkeren“ und einer kollektiv-egoistischen Blickverengung. Die gleichwohl auch von Mausbach unternommene Sinnstiftung des Krieges deutet diesen als moralische Prüfung und Läuterung. Freilich wird der Aspekt des mit dem Krieg verbundenen Leidens nicht unterschlagen, dessen karitative Linderung, und wenn möglich, auch dessen Vermeidung christliche Aufgabe sei. Die Beiträge in der Zeitschrift „Die Schildgenossen“ weisen durchaus Ähnlichkeiten mit aktuellen religiösen Revitalisierungsbewegungen auf, insbesondere im Rückgang auf ursprungsreligiöse Gemeinschaftsgedanken, verbunden mit einer Kulturkritik der Moderne. Solche Kombinationen sind nicht typisch für bestimmte, etwa islamische Traditionen, sondern charakteristisch für Auseinandersetzungen innerhalb moderner Gesellschaften. Die jugendbewegten Katholiken verweigern sich jeder Form eines dogmatisch ausgestalteten Systemrationalismus. Vielfach besteht die Neigung, die Welt am Maßstab „authentisch“ gelebter moralischer Haltung zu messen und die „Doppelmoral“ von Gewaltpolitik einerseits und bürgerlicher Zivilität andererseits zu verwerfen. Nach gängigen Maßstäben spräche einiges dafür, die „Quickborner“ der 1920er Jahre als „fundamentalistisch“ zu bezeichnen: ihr dezidierter Antiliberalismus, die antimoderne Kulturkritik, die Neubelebung der eigenen Tradition aus „ursprünglichen“ Impulsen und die Neigung, umstandslos religiöse Forderungen auf die eigene Zeit zu übertragen und eine von Glaubenserfahrungen durchdrungene, „ganzheitliche“ Lebensweise zu entwickeln, die kompromisslos die religiös geprägte Haltung zum Ausdruck bringen sollte (vgl. Hildebrandt 2005: 22 f.). Freilich fehlt ihnen die Selbstverortung in einem weltgeschichtlichen Krieg zwischen Gut und Böse, ebenso wie ein solcher Manichäismus bei Mausbach nicht anzutreffen ist. Darüber hinaus unterscheiden gerade die Modernisierungsimpulse erneuerter Spiritualität, der egalitäre gruppencharismatische Charakter und der lebensreformerische Schwung, die eher an „Neue Soziale Bewegungen“ erinnern, die „Quickborner“ von aktuellen katholischen „fundamentalistischen“ Strömungen, die sich – vorwiegend traditionalistisch orientiert – ganz dem Kampf gegen die vermeintlich ubiquitäre, nicht zuletzt in liberalen Glaubensdeutungen lauernde Bedrohung der Heilswahrheit widmen (vgl. etwa Ebertz 1998: 235-259; siehe auch den instruktiven Vergleich der Bewegung „Comunione e Liberazione“ mit dem „Opus Dei“ bei Kallscheuer 1998).
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Dieser Befund ergänzt sich mit dem, was aus Untersuchungen zu Formen christlichen Militarismus’ im protestantischen Kontext bekannt ist. Diese demonstrieren einen engen Zusammenhang zwischen der Vorstellung eines zornigen Gottes, der auf der Seite der Guten steht und die Bösen züchtigt, also einer autoritär-punitiven Haltung einerseits und der Billigung von strengen Strafen und Krieg andererseits. Auf der anderen Seite verbinden sich das Konzept einer unbedingten Liebe Gottes zu allen Menschen sowie eine stärkere Betonung der innerlichen geistigen Gottesbeziehung, bei zugleich verminderter Bedeutung äußerlicher Autoritäten, mit pazifistischen Religionsformen (vgl. Heitmeyer/ Hofmann/Huber 2006: 306 f.; Russell 1974: 79-103). Die bloße Rückkehr zu den „Wurzeln“ muss sich also auch dann, wenn sie teilweise regressiv anmutet und modernefeindlich daherkommt, nicht gleichzeitig gewaltaffin gestalten, sondern kann, eher unkriegerisch oder gar pazifistisch gesonnen, beispielsweise kommunitären Lebensformen eines anti-bürgerlichen Liebesradikalismus verpflichtet sein, läuft damit aber auch Gefahr, den Kontakt zum politischen Geschehen zu verlieren. Erneut zeigt sich die friedenspolitische Ambivalenz des Opfertopos – auch Friedensaktivismus kann asketische Strenge enthalten. Problematischer als das „Opfer“ wirkt die häufig geäußerte Betonung des disziplinierten „Gehorsams“ als katholischer Haltung, dessen herrschaftsfromme Logik der Unterwerfung unter die Befehle der Autorität – bei Guardini noch balanciert durch den Primat des Gewissens – der Vereinnahmung durch völkisch-nationalistische Parolen offen steht. Deren Aggressivität wächst, wie oben festzustellen war, in dem Maße, in dem das Gefühl, durch fremde Mächte in Fragen nationaler Ehre und Selbstbestimmung gekränkt und verletzt worden zu sein, mobilisiert und mit Schuldzuweisungen an andere Großkollektive, in diesem Fall mit anti-westlichen Frontstellungen, verbunden wird. Die Stellungnahmen von Guardini, Dirks und Michel versuchen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, zu starke Vereinfachungen zu vermeiden und die sachliche Herausforderung politischen Handelns innerhalb einer historischen Situation zur Geltung zu bringen. Dies kann, am deutlichsten bei Dirks, auf ein verantwortungsethisches Handeln herauslaufen, dem eine Haltung zugrunde liegt, die friedensstiftenden Grundimpulsen der christlichen Religion verpflichtet ist, das jedoch religiöse Gesichtspunkte nicht mehr unmittelbar in das politische Urteil einmischen will. Bei allen drei Autoren zeigt sich, wo eine – historisch oft nur geringe – Chance der Friedensförderung von religiösen Positionen her liegen könnte: in einer Ausgestaltung des weltdistanzierenden Moments von Religion, nicht zur „überweltlichen“ Verdopplung und Überhöhung politischer FreundFeind-Konstellationen und scheinbar „realpolitisch“ gesonnener, nationalistischer Stimmungen, sondern zur Abstandnahme von kollektiven Blickverengungen und zur Entwicklung anderer Umgangsweisen mit den Nicht-Zugehörigen.
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Irritationen des Friedens. Die nordirischen Kirchen auf der Suche nach ihrer Rolle als Friedensstifter1 Bernhard Moltmann
1. Der Nordirland-Konflikt: Vom Frieden her denken 1.1 Konflikt und Friedensvorstellungen Die politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Nordirland haben eine lange Geschichte. Die einen rechnen in Jahrhunderten, die anderen in Jahrzehnten, und vermutlich haben beide Recht. Doch je länger Geschichte und Geschichten memoriert werden, desto mehr prägen sie die Wahrnehmung des Gegenwärtigen und Vermutungen über das Zukünftige. So ist es gerade die Rede von der Konfliktträchtigkeit der nordirischen Konstellation, die auch das Verständnis eines zu erreichenden Friedens anleitet. Politische Praxis, publizistische Begleitung und wissenschaftliche Reflexion ermitteln sorgfältig jede Veränderung bei den Konfliktakteuren; sie befassen sich mit den Modalitäten der Konflikttransformation. Dabei beschreiben sie das Ziel selbstgenügsam als Konfliktaustrag mit gewaltfreien Mitteln. Mit der Formel vom Friedensprozess werden Einstellungsänderungen bei den politisch-gesellschaftlichen Akteuren, der Wandel in den öffentlichen Manifestationen von Gruppen oder Kollektiven, institutionelle Neuordnungen der politischen Machtverhältnisse auf einer Zeitachse verortet. Deren Beginn mag zwar diffus sein, an deren Ende soll aber eindeutig ein Zustand stehen, der als Frieden ausgewiesen ist (Moltmann 2004: 62 f.). Die überkommene Konfliktkonstellation erweist sich als so wirkmächtig, dass sie auch noch die Vorstellung vom Frieden bestimmt. 1
Ich danke Claudia Baumgart und Thorsten Gromes für ihre Kommentierung eines ersten Entwurfs. Der Aufsatz knüpft an Ausführungen an, die ich 2005 veröffentlicht habe. Dort finden sich ausführliche Informationen zur Geschichte der Kirchen und zu den politisch begründeten Ansätzen einer Verregelung des Nordirland-Konflikts (vgl. Moltmann 2005). Zum letzten siehe auch den Überblick in Hauswedell 2004.
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Die Fixierung auf den Konflikt und seine Dynamik übersieht jedoch, dass sich der Frieden durchaus andere Wege bahnen kann und sie auch findet, als es sich die Väter (und Mütter) des Friedensprozesses vorstellen. Folgt man der generellen Vermutung, dass sich Frieden in Verringerung von materieller Not, dem Rückgang von Gewalt und dem Schwinden von Unfreiheit manifestiert (Picht 1995), kann man sich mit der Situation konfrontiert sehen, dass sein Gesicht und seine Strukturen Charakteristika aufweisen, die nicht mit unterschwellig gehegten Assoziationen von Harmonie, Verträglichkeit oder Ausgleich einher gehen. Im Gegenteil, gemessen an solchen Vorstellungen zeigt sich eher ein Bild, das aus einem prekären Mischungsverhältnis von Licht- und Schattenseiten besteht und doch das Attribut „Frieden“ für sich reklamieren kann. Der gegenwärtig in Nordirland zu diagnostizierende Zustand weist genau solche Ambivalenzen auf. 1.2 Frieden: Licht- und Schattenseiten in Nordirland Zu den positiven Aspekten gehört gewiss, dass die nordirische Bevölkerung zwischen 1998 und 2004 siebenmal zu den Urnen gerufen worden ist und politische Partizipation wie Meinungsfreiheit ausschöpfen kann. Die wirtschaftliche Entwicklung hat seit 1998 Anschluss an die jährlichen Wachstumsraten zwischen vier und fünf Prozent im übrigen Vereinigten Königreich gefunden; die Arbeitslosigkeit ist inzwischen von acht auf fünf Prozent gesunken. Ähnlich wie die Republik Irland zieht der Norden ausländische, vor allem US-amerikanische Investoren an, die hier mit modernen Gewerbezweigen der Informationstechnologie, Pharmaherstellung und Dienstleistung den europäischen Markt erschließen. Polizei- und Justizwesen sind von ihrer früheren unionistischen Dominanz befreit worden. Die von einer international besetzten Kommission konzipierte Polizeireform ist weitgehend umgesetzt. Im Blick auf gesellschaftliche Verankerung und Unabhängigkeit der Kontrollinstanzen preist die Polizeiführung ihre Truppe gar als die modernste in Europa. Neu eingestellte Polizisten rekrutieren sich zu gleichen Teilen aus dem katholischen wie dem protestantischen Bevölkerungsteil. Ebenso hat das Justizwesen seine Reform erlebt und eine Menschenrechtskommission ihre Arbeit aufgenommen. Von der sich bessernden Situation des öffentlichen Lebens profitieren vor allem die Ober- und die sich vergrößernde Mittelschicht. Spuren einer Pauperisierung mit allen Potenzialen gesellschaftlicher Unruhe zeigen sich dagegen in Quartieren der alten Industriemetropole Belfast, was darauf verweist, dass Nordirland zusätzlich zu seinem politischgesellschaftlichen Konflikt immer noch Folgen einer Deindustrialisierung zu bewältigen hat. Die Friedensdividende, wie sie das Belfast-Abkommen einst verheißen hatte, ist (noch) nicht überall angekommen.
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Negativ schlägt zu Buche, dass alle britisch-irischen Bemühungen nicht gefruchtet haben, das vom Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 vorgegebene Institutionengefüge einer Konkordanzdemokratie mit Leben zu füllen. Die inzwischen zweimal (1998, 2003) für die Parlamentarische Versammlung gewählten Abgeordneten haben die wenigste Zeit ihr Mandat wahrgenommen. Die britische Regierung sah sich fortlaufend genötigt, die Selbstverwaltung durch demokratisch legitimierte Institutionen und Politiker zu suspendieren, weil sich die politischen Parteien nicht auf eine Kooperation verständigen konnten. Mit der vergleichsweise hohen Zahl an Wahlgängen erstarkten jeweils die radikalen Flügel der beiden Lager und rieben moderate Parteien auf. So verwandelt sich Nordirland mehr und mehr in einen Zwei-Parteien/Lager-Staat. Dies reflektiert die zunehmende Polarisierung zwischen den beiden „communities“. Ob die britisch-irischen Sachwalter des Belfast-Abkommens von 1998 sich auch um Kompromissformeln bemühen, die mittlerweile schon dessen Profil aufweichen, so kommen sie doch nicht gegen die Beharrungstendenzen der nordirischen Kontrahenten an. Zudem ist weder den paramilitärischen Organisationen ein Ende bereitet, noch die Gewaltökonomie eliminiert. Die politisch motivierten Gewalthandlungen gehen zwar in ihrer Intensität, aber nicht in der Zahl zurück: Die Zahl der politisch begründeten Morde liegt mit zwischen zehn und zwanzig Fällen jährlich auf einem niedrigeren Stand als vor 1998; gleichzeitig haben jedoch andere politische Gewaltakte einen neuen Höhepunkt erreicht: Zwischen 1991 und 1994 waren 663 Gewalthandlungen, verursacht von paramilitärischen Organisationen, registriert worden; zwischen 1998 und 2002 ist diese Zahl auf einen Stand von 1.119 gestiegen. Davon werden 721 loyalistischen Organisationen angelastet und 398 republikanischen. Ursachen für die Gewalthandlungen liegen in der Rivalität um die Kontrolle von Territorien und in der Ausbreitung krimineller Aktivitäten. Heute operieren in Nordirland über 230 kriminelle Vereinigungen, von denen etwa 150 Verbindungen zu paramilitärischen Organisationen haben. Ihre Haupttätigkeitsfelder sind Drogenhandel, Produktfälschung, bewaffnete Überfälle, Schutzgelderpressung und der Schmuggel von Treibstoffen. Solche Aktivitäten stützen sich auf die Gewöhnung der „communities“ an partikularisierte Legitimitäten und ein fehlendes staatliches Gewaltmonopol (vgl. The Irish Times, 11. 5. 2004; Belfast Telegraph, 18. 6. 2004). Die paramilitärischen Organisationen der Republikaner und der Loyalisten haben sich nicht zu einer Entwaffnung und Demobilisierung bereit gefunden. Vor allem die republikanische Partei Sinn Feín tut sich schwer, sich von ihrem bewaffneten Arm, der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), loszusagen und die Polizei als Inhaber des innerstaatlichen Gewaltmonopols zu akzeptieren. So lebt Nordirland mit dem Paradox, Modell für Friedensprozesse zu sein und mit dem Karfreitagsabkommen ein weltweit renommiertes Friedensabkom-
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men zu haben, auch wenn dessen Realisierung noch aussteht. Doch haben materielle Not, Gewalt und Unfreiheit in großem Umfang abgenommen. Die qualitativen Verbesserungen gegenüber zurückliegenden Phasen des wirtschaftlichen Niedergangs und der Eruptionen von Gewalt sind offensichtlich. Demgegenüber scheinen die politischen Kontroversen und der daraus resultierende Stillstand eher als „Konflikt de luxe“, der viele Menschen in Nordirland nicht mehr umtreibt. Es herrscht ein Frieden, dem das politische Format fehlt. 1.3 Die Fragestellung Der Befund, dass sich der Frieden in Nordirland in einer Mischung von Lichtund Schattenseiten präsentiert und in der Summe so gar nicht den Vorstellungen eines „schönen“ Friedens entspricht, wirft die Frage nach Position und Perspektiven der Kirchen auf. Sie sind in doppelter Weise herausgefordert: Einerseits sind sie als gewichtige soziale Formation Teil von Geschichte wie Gegenwart eines Konflikts, der vielfach als religiös-national bezeichnet wird (English 2004: 46). Andererseits sehen sie sich als Sachwalter der christlichen Religion, die den Frieden in den Mittelpunkt stellt, mit der Erwartung konfrontiert, Promotoren der Friedensstiftung zu sein. Deshalb ist im Folgenden aufzuzeigen, wie sich die Kirchen gegenüber einer Entwicklung verhalten, die wenig mit ihrer Vorstellung von Frieden, bei allen konfessionellen Unterschieden, gemein hat, und wie sie Chancen nutzen oder Fehlschläge hinnehmen, den Gang der Dinge in ihrem Sinne zu beeinflussen. 2. Die Kirchen in Nordirland – vom Frieden überrascht 2.1 Religion und Kirchen in einer gespaltenen Gesellschaft Im Vergleich zu anderen europäischen Konfliktgesellschaften (Gromes/Moltmann, Schoch 2004: 32 f.). weist Nordirland eigentümliche Spannungen bzw. Spaltungen auf, deren Virulenz unmittelbar auf den gesellschaftlichen Alltag durchschlägt. Dies beginnt bereits mit dem politisch-rechtlichen Status als Bestandteil des Vereinigten Königreichs. Gemäß des allseits akzeptierten „principle of consent“ ist relativ gewiss, dass die Mehrheit der Bevölkerung dies in absehbarer Zeit nicht ändern will. Dem steht die von nationalistisch-republikanischer Seite hochgehaltene Option entgegen, die im Jahr 1920 vollzogene Teilung der irischen Insel aufzuheben. Dieser Wunsch bezieht sich auf die sozialen und kulturellen Bindungen zu dem südlichen Teil, der heute die Republik Irland bildet. Dessen wirtschaftliche Dynamik, verstärkt durch die Imperative der europäi-
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schen Integration, gibt ihm zusätzlich Auftrieb. Die kirchlichen Diözesangrenzen nehmen auf die staatlichen Grenzziehungen ohnehin keine Rücksicht; die Kirchen in Nordirland präsentieren sich als die großen gesamtirischen Institutionen, die alle Divergenzen zwischen Nord und Süd überdauert haben. Auf nordirischem Gebiet selbst halten der Streit um Territorien, die Konkurrenz zwischen einer relativ kleinen Mehrheit und einer relativ großen Minderheit um politischen Einfluss und die Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über die Geschichte an. Es fehlt an gesellschaftlich-politischen Arenen zum Konfliktaustrag, der ergebnisoffen wäre und den Kontrahenten Erwartungssicherheit böte, dass Diskurs und Recht auch für Gerechtigkeit sorgten. Angesichts des politischen Vakuums in Nordirland hatten und haben Kirchen als intermediäre Institutionen eine herausragende Bedeutung (Bruce 2004: 30 f.). In ihrer Funktion als Sachwalter des Religiösen bieten sie ein Angebot, soziale Identität zu bilden und zu erhalten. Mit ihrem Anspruch auf Überzeitlichkeit stellen sie in den Phasen der Ungewissheit Orte, Rituale und Symbole zur Verfügung, um sich Geschichtsbilder anzueignen und zu bewahren. Öffentliche kirchliche Handlungen bieten Gelegenheit, sich der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu vergewissern und sich von anderen Gruppen abzugrenzen. Abzulesen ist dies am hohen Stellenwert, den Beerdigungen und Gedenkfeiern einnehmen: Beerdigungen verleihen dem Tod des Einzelnen, sei er Opfer einer Gewalttat, sei er selbst Täter gewesen, Sinn im Kontext einer Erlösungsgeschichte, wie es gerade die katholische Seite herausstellt; Gedenkfeiern an die Opfer, die nordirische Männer in den Reihen britischer Truppen gebracht haben, dienen den Protestanten, ihre Bindungen an das Vereinigte Königreich zu unterstreichen und Respekt für frühere Leistungen einzufordern (O’Doherty 2004: 12; Jordan 2001: 114). Darüber hinaus präsentieren sich die Kirchen als „strategische, konfliktfähige Gruppen“ (in Anlehnung an Elwert 2004: 34), von deren Verhalten es abhängt, ob auf Frieden gerichtete Entwicklungen ihr Ziel erreichen oder scheitern. Ihr Stellenwert stützt sich außerdem auf praktische Leistungen für den Zusammenhalt und das Wohlergehen ihrer Klientel. Dies schließt karitative Aktivitäten ebenso ein wie Bildungsinitiativen oder soziale Dienste. Das Maß, in dem die Kirchen in die nordirische Konfliktgeschichte eingeschrieben sind und die Spaltung der Gesellschaft reflektieren, zeigt sich anhand der jüngsten Volkszählung von 2001. Demnach bezeichnen sich neun von zehn Nordiren als Anhänger einer christlichen Kirche oder Gemeinschaft. Den Protestanten wird aufgerundet ein Anteil von 53,1 Prozent der Gesamtbevölkerung und den Katholiken einer von 43,8 Prozent zugerechnet (Angaben und Kritik an den Berechnungsverfahren bei Hadden 2003: 6). Dabei reproduzieren sich die politischen Divergenzen: Die Mehrheit der Katholiken (63 Prozent) bekennt sich zu nationalistisch-republikanischen Positionen; die Mehrheit der Protestanten (74
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Prozent) nimmt eine unionistische Haltung ein (Bacon 2004: 21). Die Konfessionszugehörigkeit markiert also auch die rivalisierenden politischen Lager. Allerdings überhöht die binäre Kodierung der Konfliktkonstellation den Grad an Kohärenz der beiden Gruppierungen, denn das Protestantische stellt sich in Wirklichkeit als heterogen dar: Es setzt sich aus Presbyterianern (20,6 Prozent), Anglikanern (Church of Ireland, 15,3 Prozent), Methodisten (3,5 Prozent) und weiteren Gruppen (6,1 Prozent) zusammen (vgl. Stevens 2004: 19; Mitchel 2003: 127). Jenseits der konfessionellen Zuordnung zeigen empirische Untersuchungen eine ausgeprägte Tendenz in allen protestantischen Glaubensgemeinschaften zu evangelikalen Positionen. Ihnen wird eine Anhängerschaft von mehr als 50 Prozent zugeordnet, während die anderen 50 Prozent in die Gruppe der LiberalKonservativen und Liberalen zerfällt (Mitchel 2003: 129). Die Kirchen in ihrer Sozialgestalt sind Bestandteil der nordirischen Konfliktkonstellation. In ihr sind sie gewachsen, und mit ihr haben sie ihr Profil entfaltet. Gleichwohl wird quer durch alle Lager den Kirchen attestiert, im Verlauf der gewaltsamen Auseinandersetzungen in den zurückliegenden Jahrzehnten eine moderierende Funktion ausgeübt zu haben. Zahllos sind die Fälle, in denen Kirchenleute, um das Wohl ihrer Anhänger besorgt, zur Mäßigung aufgerufen, lokale Spannungen gemildert und Menschen angesichts von Tod und Verletzung getröstet haben. Nach den Worten eines unionistischen Politikers haben gerade die Kirchen verhindert, dass Nordirland den blutigen Weg von Bosnien und Herzegowina oder des Kosovo gegangen ist. Auch aus der Ikonographie des Konflikts sind Kirchen und ihre Protagonisten nicht wegzudenken: das anglikanische Kirchlein in Drumcree, das mit britischen Flaggen geschmückt jährlich das Ziel eines kontroversen Umzugs des protestantischen Oranierordens durch katholische Wohngebiete ist; der katholische Priester und spätere Bischof von Derry, Edward Daly, der am 30. Januar 1972, dem Bloody Sunday, einem Sterbenden auf offener Straße die letzten Weihen spendete, nachdem britische Fallschirmjäger das Feuer auf eine Bürgerrechtsdemonstration eröffnet hatten; die Beerdigungen, bei denen Geistliche die Trauerzüge anführen. Die Bilder verblassen jedoch, je mehr sich eine Situation durchsetzt, die einen Frieden spiegelt, auch wenn es ein „kalter Frieden“ ist (Moltmann 2002: 5). Die These, die im Folgenden zu illustrieren ist, lautet, dass dieser Frieden die Kirchen auf dem falschen Fuß erwischt hat. Sie, die der Hoffnung auf einen Frieden immer wieder das Wort geredet haben, sehen sich nun mit der Aufgabe konfrontiert, sich, ihre Anhänger und damit die nordirische Gesellschaft in ungewohnte Verhältnisse zu begleiten. Für die Kirchen selbst heißt dies, sich von ihrer tradierten Rolle als Akteur in der Konfliktkonstellation zu befreien und sich gleichzeitig den Folgen zu stellen, die die Vergesellschaftung durch den Konflikt hinterlassen hat. Beides ist ein schwieriges Unterfangen, gilt es doch, sich unter
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den Bedingungen eines Friedens zu behaupten, der zwar gegenüber der vorangegangenen Zeit ein Optimum darstellt, aber vom Maximum weit entfernt ist. Der Primas der Church of Ireland und Erzbischof von Armagh, Robin Eames, hat dies exemplarisch in folgende Worte gefasst: „Es kommt jetzt darauf an, den Christen eine Leitung zu geben, die sich nicht mehr an tribalen Attributen orientiert. Der Friedensprozess stellt Forderungen, die manche als zu streng empfinden. Die Kosten scheinen angesichts des Gewichts der Erinnerungen zu groß. Gleichwohl bleibt das zu gewinnende Vertrauen der höchste Lohn. Vertrauen ist den zurückliegenden Auseinandersetzungen über weite Strecken hinweg zum Opfer gefallen, und wir müssen es wieder finden“ (zitiert bei McGarry 2004: 73).
Das Stichwort „tribalistisch“ (englisch: tribal) im obigen Zitat von Erzbischof Eames verweist auf ein gewichtiges Legat der zurückliegenden Auseinandersetzungen in Nordirland, aber darüber hinaus der gesamten Geschichte des nordirischen Staatswesens seit 1920. Von der Wortbedeutung her steht „Tribalismus“ für eine vorrangige Orientierung des kulturellen, politischen und sozialen Bewusstseins am eigenen Stamm. Bezogen auf Nordirland sind damit im Wesentlichen zwei Gruppen gemeint, die sich in ihrem Herkommen, ihrer religiösen Orientierung und in politischen Optionen voneinander unterscheiden. Deshalb ist es eigentlich nicht angezeigt, von einer nordirischen Gesellschaft zu sprechen. Vielmehr ist von Parallelstrukturen unterhalb der politisch-administrativen Einheit auszugehen, die sich im Wohnen, im Bildungswesen und in der religiösen Praxis niederschlagen. Hier kommt die den verschiedenen Bekenntnissen geschuldete Unterscheidung zwischen Protestanten und Katholiken ins Spiel. Namen, besuchte Schulen und Wohngegend geben Auskunft darüber, woher Menschen stammen und wohin sie gehören. Wenn Nordiren selbst diese Phänomene als „tribalistisch“ bezeichnen, sagt dies weniger über ethnisch qualifizierte Zuordnungen aus als vielmehr über das Ausmaß an Distanz, das den Alltag bestimmt. Dass eine derartige Spaltung der Gesellschaft nicht nur historisch, sondern auch ökonomisch bedingt ist, machen sozialwissenschaftliche Untersuchungen deutlich. Sie verweisen darauf, dass wirtschaftliche Deprivation und Extremformen gesellschaftlicher Spaltung miteinander zusammenhängen. Dies gilt vor allem für jene Landesteile, die am stärksten unter den anhaltenden Folgen der Deindustrialisierung zu leiden haben. Hier ist die Neigung zu gewaltsamen Konfrontationen zwischen den Gruppen am größten (Smyth/Hamilton 2003: 31). Dort, wo sich wirtschaftliches Wohlergehen niederschlägt, sinkt die Virulenz der Spaltung. Ähnliches gilt für Universitäten und höhere Bildungseinrichtungen; dort verwischen sich die Unterschiede des Herkommens und der religiösen Bindung.
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2.2 Phänomene des „sectarianism“ Eines der sichtbarsten Momente tribalistischer Strukturen in Nordirland sind die Erscheinungsformen des „sectarianism“. Ursprünglich bezeichnete der Ausdruck die Teilung eines Körpers in zwei gleiche Hälften. Aber wenn eine solche Teilung auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen und dazu genutzt wird, die Vorherrschaft einer Gruppe über andere zu rechtfertigen, wandelt sie sich zum Kennzeichen von Diskriminierung und zur Quelle andauernden Hasses (Taylor 1998/99: 36). Das englische Wort „sectarianism“ ließe sich mit einem Mangel an Toleranz gegenüber jenen übersetzen, die außerhalb des eigenen Lebenskreises, der eigenen Gruppe und Klasse stehen (Liechty/Clegg 2001: 102 f.). In gespaltenen Gesellschaften wird der „sectarianism“ dann virulent, wenn Gemeinschaften oder Gruppen nicht mit allgemein gesichertem Schutz rechnen können, sondern sich berufen sehen, selbst dafür zu sorgen. Normative, aber auch räumliche Grenzen sind immer wieder neu zu markieren. Alltägliche Spannungen schlagen in Gewalthandlungen um, wenn Minderheiten so groß sind, dass eine vergleichsweise kleine Mehrheit sie als Bedrohung ihres Status empfindet (English 2004: 47). Das diffuse Gefühl von Bedrohung nimmt in Konstellationen zu, in denen die Identität von Gruppen aus einem Amalgam von Glauben, Politik und postulierter Ethnizität besteht. Sie neigen dazu, dem Bedroher ihrer Identität nicht weniger komplexe Eigenschaften zuzuschreiben. Oft fühlen sie sich ihm unterlegen, weil sie ihm zudem die Fähigkeit zur Konspiration, der Bildung verdeckter Koalitionen und, vor allem, der Lüge oder mehrdeutigen Rede unterstellen. Illustrieren lässt sich dies am Spektrum von Bedrohungen, das Protestanten in Nordirland empfinden (nach Jordan 2001: 108-115): Es beinhaltet den drohenden Verlust des übergeordneten Status des Protestantismus/Unionismus durch die anstehende Machtteilung mit der nationalistisch-republikanischen Seite. Dieser wird noch von dem vermeintlichen Verrat der unionistischen Sache durch die britische Regierung gefördert, die nicht mehr eindeutig für den Erhalt der Bindungen Nordirlands an das Vereinigte Königreich eintrete, sondern der republikanischen Seite Zugeständnisse über Zugeständnisse mache. Die Gesetze zur Gleichstellung der Bevölkerungsgruppen bei der Beschäftigung, die gewährte Förderung der irischen Sprache, die Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte und der internationale Einfluss auf die Geschicke Nordirlands gelten als Indikatoren, den Status der Protestanten als Garanten der „Britishness“ auszuhöhlen. Als weiterer Bedrohungsfaktor gilt den Protestanten die römischkatholische Kirche, der sie die Hauptverantwortung für die Auseinandersetzungen der zurückliegenden Jahrzehnte zuschreiben. Dem katholischen Klerus unterstellt man Affinitäten, wenn nicht Partnerschaften, mit den republikanischen
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Paramilitärs. Außerdem folge der Katholizismus einer internationalistischen Agenda, die nicht auf die nordirischen Verhältnisse zugeschnitten sei. Die Behauptung, die katholische Bevölkerung vermehre sich rascher und könne den protestantischen Anteil in wenigen Jahren überflügeln, lebt fort, auch wenn der Bevölkerungszensus von 2001 dies klar widerlegt. Gleichzeitig schmäht man eigene Kirchenführer ob ihres Engagements für den Friedensprozess. Sie hätten es zugelassen, dass die Anliegen der protestantischen Bevölkerung vernachlässigt würden. Schmerzlich empfinden Protestanten zudem, dass ihre Kirchen und Glaubensgemeinschaften untereinander im Streit liegen, während die katholische Seite sich als Einheit präsentiert. Schließlich empfinden die Protestanten die sich ausbreitende Säkularisierung als aktuelle Bedrohung. Das Plädoyer für eine Gleichstellung der Geschlechter und das vermeintliche Vordringen der Homosexuellen in Kirchen und Gesellschaften gelten als Anzeichen für das Aufweichen von Glaubensgrundsätzen, die gerade dem evangelikalen Flügel der Protestanten lieb und teuer sind. In der Summe sehen sich die Protestanten als Opfer des nordirischen Friedensprozesses und die Katholiken als die großen Gewinner. Wenn dem tatsächlich so wäre, hätte eine Umkehr der Rolle als Opfer zwischen Protestanten und Katholiken stattgefunden. Ursprünglich war dies die Domäne der katholischen Seite, die ihrerseits nur eine Rehabilitation für zurückliegende Diskriminierung fordert. Aus ihrer Sicht ließe sich eine ähnliche Liste von Bedrohungen formulieren, unterfüttert mit Belegen aus der Geschichte der nordirischen Auseinandersetzungen. Vor allem das Misstrauen in die Neutralität des Staates und seiner Organe der öffentlichen Sicherheit, des Rechts und der Fürsorge ist fest in ihrem kollektiven Bewusstsein verankert (Elliott 2000: 439 f.). Jüngst aufgedeckte Verbindungen staatlicher Autoritäten mit loyalistischen Mörderbanden, denen Vorkämpfer der katholischen Sache zum Opfer gefallen waren, halten solche Stimmung wach. Der „sectarianism“ zeigt im nordirischen Alltag an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten sein hässliches Gesicht: Übergriffe auf Leib, Leben und Eigentum von Familien der anderen Seite sind ebenso an der Tagesordnung wie Vertreibungen aus Wohngebieten. In vielen nahezu konfessionell homogenen Wohngebieten – 90 Prozent aller Nordiren leben in Gegenden, in denen jeweils die Dominanz der Katholiken oder Protestanten unbestritten ist – haben sich Gewaltakteure etabliert. Sie bestreiten das staatliche Gewaltmonopol und reklamieren für sich die Pflicht, für Recht und Ordnung zu sorgen und den Schutz ihrer Gemeinschaft zu gewährleisten. Bereits bei Kleinkindern und Kindern im Grundschulalter ist ein klares Wissen darüber vorhanden, welche Symbole, Farben und Fahnen und Musikklänge oder Instrumente und Rhythmen jeweiligen Gemeinschaften zuzuordnen sind (Connolly/Healy 2003: 50). Die Sozialisation in der gespaltenen Gesellschaft setzt sich im segregierten Schulwesen fort: We-
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niger als fünf Prozent aller nordirischen Kinder besuchen integrierte Schulen, der größte Teil jedoch staatliche Schulen unter protestantischer Ägide oder Bildungseinrichtungen in katholischer Trägerschaft. Alle Versuche von staatlicher und gesellschaftlicher Seite, dem „sectarianism“ entgegenzuwirken, haben darüber hinaus nicht verhindert, dass Nordirland inzwischen zum prominenten Schauplatz von rassistisch oder homophob motivierten Übergriffen gegen die kleine Zahl von Einwohnern ausländischer Herkunft (1,2 Prozent der Gesamtbevölkerung) oder auf sexuelle Minderheiten geworden ist. Nach Angaben der Polizei haben im Jahr 2004 rassistische Attacken um 40 Prozent und Angriffe auf sexuelle Minderheiten um 50 Prozent zugenommen (The Irish Times, 17. 1. 2005). Die Abneigung gegen das Fremde, die sich zunächst gegen die Angehörigen der anderen Gemeinschaft richtete, greift auf alles über, was als andersartig empfunden wird. Das Gefühl wachsender Verunsicherung hat im zurückliegenden Jahrzehnt zugenommen. Menschen klagen inzwischen darüber, dass die heutige Situation schlimmer sei als vor 1994, als die großen paramilitärischen Organisationen auf der republikanischen wie loyalistischen Seite ihre Waffenstillstände ausgerufen hatten (vgl. The Irish Times, 26. 4. 2004; The Observer, 1. 5. 2004). Die Virulenz der gesellschaftlichen Spaltung entlang konfessioneller Trennlinien und den Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden geht jedoch Hand in Hand mit einer neuen Normalität. Diese stabilisiert sich angesichts des Anwachsens des Wohlstands oder von Zugewinnen banalerer Art wie Vergnügungsmöglichkeiten oder Auslandsreisen, ungeachtet des Stillstandes aller Bemühungen, ein tragfähiges politisches Arrangement der Kontrahenten auf die Beine zu bringen. Die Kirchen hatten bereits auf dem Höhepunkt der gewaltsamen Auseinandersetzungen in den 1970er und 1980er Jahren erkannt, welche Herausforderung die gesellschaftliche Spaltung mit den Erscheinungsformen des „sectarianism“ für das Zusammenleben von Menschen und Gruppen in Nordirland darstellt. In einer Reihe von konfessionsübergreifenden Dokumenten haben sie zudem ihre eigene Verstrickung und ihre Verantwortung für deren Überwindung benannt (Grant 2004: 267). Dazu gehört die Einsicht, wie sehr die Gegenwart das Werk der Vergangenheit ist und wie stark gerade konfessionelle Gruppen dazu neigen, im Stil einer „comfortable apartheid“ unter sich bleiben zu wollen (Bacon 2004: 21). Um dem alltäglichen Erleben des „sectarianism“ entgegentreten und angemessen auf die Veränderungen der letzten Jahre reagieren zu können, hat als eine der größeren christlichen Kirchen die Church of Ireland unter dem Titel „The Hard Gospel“ eine umfangreiche Recherche über die Einstellungen ihres Klerus und ihrer Anhänger in Nordirland und in der Republik Irland durchgeführt (vgl.
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The Hard Gospel 2003).2 Sie zeigt auf, in welch großem Maße Elemente des „sectarianism“ die kirchliche Praxis bestimmen und das Verhältnis zu anderen christlichen Denominationen beeinflussen. Daraus abgeleitet werden Umrisse eines Erziehungsprogramms. Es unterscheidet unterschiedliche Adressaten innerund außerhalb kirchlicher Strukturen; es benennt neuralgische Punkte, in denen die Glaubwürdigkeit der Kirche auf dem Spiel steht (für die Church of Ireland im Blick auf die jährlichen Umzüge des Oranierordens zu der Kirche in Drumcree); es zeigt Wege auf, Abgrenzungen zu durchbrechen und Isolationstendenzen entgegenzutreten. Das Dokument scheut auch nicht den Rat an die Kirche, die historischen Verbindungen zum Oranierorden zu beenden. Dieser hatte sich in früheren Zeiten als respektiertes Sammelbecken aller protestantischen Strömungen präsentiert. Im letzten Jahrzehnt ist er jedoch zur Speerspitze derjenigen geworden, die mit öffentlichen Aktionen bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Polizei, Armee und katholischen Bewohnern ihre traditionellen Ansprüche behaupten. Im Blick auf die gesamtirische Lage verhehlen die Untersuchungsergebnisse nicht, dass der „sectarianism“ zwar oft als Kennzeichen nordirischer Verhältnisse wahrgenommen wird, aber in verdeckter Form auch im Süden anzutreffen ist. Allerdings manifestiert er sich in der Republik Irland unter umgekehrten Vorzeichen: Nach der Teilung der Insel und dem nachfolgenden zweijährigen Bürgerkrieg im Süden ab 1922 sahen sich die Protestanten hier als Verfolgte, die um ihr Leben, ihr Hab und Gut sowie den Bestand ihrer Glaubensgemeinschaft in dem katholisch dominierten Staatswesen fürchten mussten, während im Norden die katholische Bevölkerung unter der protestantischen Dominanz zu leiden hatte. Selbst wenn die Zeiten sich gewandelt haben, bestimmen die Erinnerungen, wie die Studie zeigt, das Verhalten gegenüber Herausforderungen, wie sie der kalte Frieden in Nordirland mit sich bringt. Auch wenn über die Resultate des Bildungsprogramms der Church of Ireland noch keine Auskünfte vorliegen, fällt es in eine Zeit, in der Kirchen eher mit anderen Meldungen Schlagzeilen machen, die ebenfalls mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu tun haben. Sie betreffen die sexuellen Misshandlungen durch katholische Amtsträger und in katholischen Erziehungseinrichtungen und die Schwierigkeiten, denen sich die anglikanische Weltkirche und damit auch die Church of Ireland mit der Ordination von bekennenden Homosexuellen gegenübersehen. Diese Koinzidenz weckt die Vermutung, dass nachlassende politische Konfrontationen und einkehrende Normalität Raum geben, andere ungeklärte und strittige Themen im kirchlichen Umfeld an die Oberfläche zu spülen. Solche Effekte einer Friedensdynamik haben bisher wenig Beachtung gefunden, wären aber den Schattenseiten eines Friedens zuzurechnen. 2
Ich danke Rev. Ian Jonas (Church of Ireland), Clonakilty, Co. Cork, für diesen Hinweis.
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3. Kirchen als Teilbetrieb zur Reparatur des Sozialen 3.1 Kirche und Zivilgesellschaft(en) Für das aktuelle Nordirland gilt, dass der erreichte Friedenszustand nicht alle in einen Frieden zu setzenden Erwartungen erfüllt. Da die politische Ebene ausfällt, die vorhandenen Defizite zu beseitigen, rücken gesellschaftliche Akteure bei den fälligen Reparaturen in den Vordergrund. Es schlägt gleichsam die Stunde der Zivilgesellschaft. Ihr Engagement artikuliert allgemeine Interessen, sorgt sich um gesellschaftlichen Zusammenhalt und will Verbesserungen im Zusammenleben auf den Weg bringen (Huber 1998: 270-275). Dabei machen friedensbezogene Aktivitäten einen großen Anteil aus. So zählt die Dachorganisation Northern Ireland for Voluntary Action über 1 300 Gruppen zu ihren Mitgliedern (vgl. www.NICVA.org), und der Community Relations Council (www.communityrelations.org.uk), der sich dem Frieden und der Versöhnung verschrieben hat, erfasst circa 130 Organisationen. Beide Träger wirken vor allem durch die Verteilung von Finanzmitteln, die die britische Regierung und die Europäische Union zur Verfügung stellen. So konnte der Community Relations Council im Haushaltsjahr 2003/2004 Projekte der Gemeinwesenarbeit und der Opferbetreuung in Höhe von £ 3 508 532 und aus dem European Peace and Reconciliation Programme (Peace II) im Umfang von £ 8 747 089 fördern (Community Relations Council, Jahresbericht 2004). Von dem Geldsegen fließen erhebliche Summen an kirchliche Gruppen und Träger (McMaster 1998a; Church Advisory Committee 1999). Die größten Empfänger sind ECONI (Evangelical Contribution in Northern Ireland, eine Organisation, die sich von ihrem evangelikalen Hintergrund aus bemüht, eine Öffnung ihrer Klientel für den religiösen und gesellschaftlichen Wandel zu erreichen; vgl. McMaster 1998b: 309), die Gemeinschaft von Corrymeela (ein überkonfessionelles Zentrum mit dem Ziel der Versöhnungsarbeit; vgl. Morrow 2003: 53-75) und die Irish School of Ecumenics (eine gesamtirische Ausbildungs- und Forschungsstätte). Jenseits dieser überregional operierenden Träger findet sich eine Vielzahl von kirchlichen Gruppen unterschiedlicher konfessioneller Provenienz, die sich um das Gemeinwohl kümmern. Ihr Einsatz erstreckt sich darauf, die äußeren Umstände der Lebensverhältnisse der Menschen in ihrem Einzugsbereich zu verbessern, die Gesundheit zu fördern, soziale Aktivitäten zu unterstützen sowie Aus- und Weiterbildungsprogramme zu betreiben (Bacon 2004: 122). Die friedenspraktischen Aktivitäten in Nordirland, einschließlich derer in kirchlicher Trägerschaft, weisen eine doppelte Eigentümlichkeit auf: Einerseits profitieren sie vom britischen Konzept der Gemeinwesenarbeit, andererseits spiegeln sie die binäre Codierung der Verhältnisse. In der Tradition der Ge-
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meinwesenarbeit unterstellt die leitende Vorstellung der „Gemeinschaften“ (communities) eine Verbindung zwischen lokalen Bezügen und den Interessen der Menschen, die zusammen wohnen. In solcher Perspektive sind die Gemeinschaften die ideale Einheit, die groß genug ist, Einfluss auszuüben, und klein genug, die Nöte ihrer Angehörigen für diese nachvollziehbar zu befriedigen. Die Gemeinwesenarbeit will die Lebenssituation der Menschen verbessern und ihnen die Kompetenz an die Hand geben, ihren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Anliegen Gestalt zu verleihen. Gelingt dies, entstehen Solidarität und Nachbarschaft, die realitätsgerechter sind als der Wunsch, einem Abstraktum wie „Gesellschaft“ nachzujagen (Coulshed/Orme 1998: 209). Übertragen auf Nordirland richtet sich die Gemeinwesenarbeit allerdings vornehmlich auf Gemeinschaften, die sich durch Werte definieren, „die aus einem Amalgam von gemeinsam geteilten historischen Erfahrungen, Einstellungen zu sich selbst und der Gegenseite hervorgegangen sind und sich in unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Strukturen, Religion, Brauchtum und Ethnizität abbilden“ (Maurice Haynes, zit. nach Burgess 2002: 127). Was konzeptionell einmal als Reparaturinstrument lokaler Missstände angelegt war, dient dazu, beide konkurrierenden Gemeinschaften zu stärken und damit die Spaltung der Gesellschaft zu verfestigen. So gibt es hier nicht eine Zivilgesellschaft, sondern derer mindestens zwei. Vor allem die protestantische Seite ist genötigt, Gegensätze zwischen ländlichen und städtischen Angehörigen, die konfessionellen Rivalitäten, die Spannungen zwischen alter und neuer Elite und vor allem die immer wieder gewaltförmig aufbrechenden Gegensätze im protestantischen Teil von Belfast dem Interesse der „unionistischen Familie“ unterzuordnen. Demgegenüber nutzt die katholisch-nationalistische Seite alle Möglichkeiten, ihr Anliegen auf rechtliche Gleichstellung, kulturelle Autonomie und politische Partizipation durchzusetzen. Mit dem Siegeszug der Vorstellung von den beiden „communities“ ist die Dichotomie zwischen der homogenen, gut vernetzten und optimistischen katholisch-nationalistischen Gemeinschaft und der zersplitterten, schrumpfenden und zum Fatalismus neigenden protestantisch-unionistischen noch gewachsen. In der Logik dieser Entwicklung zielen auch friedensbezogene Aktivitäten vor allem darauf, das Selbstbewusstsein in beiden Gemeinschaften zu stärken, der Konkurrenz ihre Aggressivität zu nehmen und zumindest zu einem verträglichen Miteinander beizutragen. Man bearbeitet die Symptome des Konflikts, wagt aber nur selten, sich dessen Ursachen zuzuwenden (Cochrane/Dunn 2002: 145 ff.). Dementsprechend äußern Befragte zu kirchlichen Aktivitäten auch ihre Enttäuschung darüber, dass der Aspekt der „cross community relations“ zu kurz komme. Hier könnten und sollten die Kirchen mehr tun (Bacon 2003: 129). Stattdessen sehen sie sich als Teil der gegebenen Verhältnisse, denen sie nicht entkommen können.
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Sie leisten das Ihrige an den Reparaturarbeiten, ohne den Schaden wirklich zu beheben. Angesichts der Dominanz konkurrierender Gemeinschaften tritt der Stellenwert anderer Gliederungsmuster von Gesellschaften in den Hintergrund. Die Polarisierung der nordirischen Verhältnisse entlang der Trennlinie zwischen dem protestantisch-unionistischen und dem katholisch-nationalistischen Lager überlagert Klassenunterschiede, aber auch auffällige Angleichung von Einstellungen in beiden gesellschaftlichen Segmenten (Greeley 1999: 147). Dem fällt auch die Wahrnehmung von Veränderungen während der zurückliegenden Jahrzehnte zum Opfer, wie zum Beispiel die Tatsache, dass der katholische Anteil an der wachsenden Mittel- und Oberschicht relativ stark zugenommen hat, zurückzuführen auf ökonomische postindustrielle Impulse und den Bedeutungsanstieg des tertiären Sektors. Dazu hat die britische Gesetzgebung (1976/1989) beigetragen, die für eine gleichberechtigte Beschäftigungssituation gesorgt hat. Infolgedessen ist das frühere System des „orange clientelism“ verschwunden (Tonge 2004: 201). Der damit einher gehende Verlust an Status und Prestige trifft gerade die Anhängerschaft der protestantischen Kirchen stark und fordert diese heraus, sich in Für- und Seelsorge zu bewähren. 3.2 Der Streit um Versöhnung Es gehört zum Grundbestand allen Wissens über Gesellschaften, die durch lang anhaltende innere Gewaltkonflikte geprägt worden sind, dass es Schritte der Versöhnung bedarf, wenn eine friedliche gemeinsame Zukunft erreicht werden soll. Versöhnung steht als Chiffre für ein Geschehen (Reuter 2002: 31), das im Blick auf die Vergangenheit die Wahrheit über zurückliegende Unrechtshandlungen, oft genug staatlich legitimiert, aufdeckt, die Opfer rehabilitiert und die Schuldigen benennt; für die Gegenwart stellt es wechselseitige Anerkennungsverhältnisse zwischen gleichen Rechtspersonen her und verhindert durch gesichertes Recht, dass sich Unrechtshandlungen wiederholen und die politische Kultur bestimmen; für die Zukunft ist jeder Person, jeder sozialen Gruppe und jeder politischen Partei Vertrauensvorschuss und Legitimität zuzubilligen. Dies ist Kennzeichen eines öffentlichen Vertrauens, das die Voraussetzung für jedes funktionsfähige demokratische Herrschaftssystem liefert und Machtmissbrauch, Willkür und Diskriminierung unterbindet. In den zurückliegenden zwanzig Jahren haben sich weltweit Gesellschaften und politische Systeme der Aufgabe der Versöhnung gestellt. Das gilt für das südliche Afrika ebenso wie für Lateinamerika oder das mittelöstliche Europa. Abgesehen von den postsozialistischen Gesellschaften haben sich diese Entwicklungen in Kontexten vollzogen, in denen die Integrität von Kirchen und christli-
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chen Gruppen hoch im Kurs steht. Mit den hier beheimateten Vorstellungen von Versöhnung waren Konzepte zur Hand, die Wunden, hervorgerufen von zurückliegenden Unrechtsregimen, zu heilen und einer friedlichen Zukunft den Weg zu weisen. Begonnen haben solche Ansätze stets mit dem Unterfangen, die Wahrheit über Handlungen und Verantwortlichkeiten ans Tageslicht zu bringen, die den Unrechtscharakter politischer Machtausübung und staatlicher Gewaltakte zum herausragenden Merkmal politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse hatten werden lassen (Fuchs/Nolte 2004). Der Erforschung der Wahrheit folgen unterschiedliche Formen des Täter-Opfer-Ausgleichs und die Etablierung einer neuen Rechtsstaatlichkeit. Während dies in der Mehrzahl der Fälle oft mehr schlecht als recht gelungen ist, so mangelt es doch oft noch an jenem, für die Zukunft relevanten Maß an wechselseitigem Zu- und Vertrauen unter den verfeindeten Gruppen. Aus einstigen Feinden sind auch unter neuen Vorzeichen beileibe noch nicht Gegner geworden, die trotz konkurrierender Interessen respektvoll miteinander umgehen. So bleibt das Programm der Versöhnung auf der Agenda von Nachbürgerkriegsgesellschaften. Stellt man die Bedingungen gesellschaftlichen Wandels in Rechnung, wird man ohnehin mit Zeiträumen von Generationen rechnen müssen, bis ein Urteil über das Gelingen oder Scheitern von Versöhnung gefällt werden kann. Frieden und Versöhnung, oft in einem Atemzug genannt, gehen in der Realität durchaus nicht Hand in Hand. Angesichts der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen dem Friedensprozess in Nordirland und in anderen Teilen der Welt, vor allem in Südafrika, wundert es nicht, dass das Stichwort der Versöhnung auch hier Eingang in den politischen Diskurs gefunden hat. Schon das Karfreitagsabkommen konstatierte in dem Kapitel „Rights, Safeguards and Equality of Opportunity“ den Bedarf an Versöhnung und die Notwendigkeit, den Opfern der Auseinandersetzungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es appelliert an gesellschaftliche Initiativen, Versöhnung zu betreiben, wechselseitiges Verständnis und Achtung zwischen den beiden Gemeinschaften in Nordirland, aber auch zwischen Norden und Süden auf der irischen Insel insgesamt zu fördern und auf diese Weise die Friedensbemühungen der Regierungen zu unterstützen. Diese sagen finanzielle Mittel für solche Vorhaben zu. Als essentieller Aspekt von Versöhnung gilt eine Kultur der Toleranz auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, konkretisiert in der Förderung integrierter Erziehung und gemischter Wohnverhältnisse (vgl. The Agreement 1998: 12). Die Spitzen der britischen und irischen Regierung kamen im Jahr 1999 in ihrer Hillsborough-Erklärung vom 1. April noch einmal auf das Thema zurück, als sich andere politische Optionen, den Friedensprozess in Gang zu halten, wieder einmal erschöpft hatten (vgl. The Irish Times, 2. 4. 1999). Dies Mal dachten sie an einen öffentlichen Akt, bei dem gleichzeitig Waffen vernichtet und der
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Opfer gedacht werden sollte. Doch dieser Vorschlag geriet schnell in die Mühlen der politischen Kontroverse. Die Democratic Unionist Party des Reverend Ian Paisley lehnte ihn sofort ab. Ja, man scheute sich nicht, darin eine Verhöhnung der Opfer paramilitärischer Anschläge zu sehen, und zog sogar eine Parallele zu den NS-Kriegsverbrechern, wenn dadurch die Täter rehabilitiert würden (The Irish Times, 9. 4. 1999). Auch das britische Militär und die nordirische Polizei zeigten sich von der Idee nicht begeistert. Sie fürchteten, dass ein solcher Akt der Versöhnung eine unangemessene Aufwertung illegaler paramilitärischer Organisationen mit sich bringen und das Ansehen staatlich legitimierter Autoritäten unterminieren würde. Kirchenführer begrüßten dagegen einhellig den Vorschlag. So erklärte der katholische Primas von Irland, Erzbischof Seán Brady, in seiner Osterbotschaft des Jahres 1999, er habe die Hoffnung, die Akte der Versöhnung und der kollektiven Erinnerung könnten die Wunden der Vergangenheit heilen. Ebenso unterstützte der damalige Moderator der Presbyterianischen Kirche, Dr. John Dixon, den Aufruf zur Versöhnung. Gleichzeitig bekannte er, dass es für die Kirchen beschämend sei, dass die Initiative von politischer Seite ausgegangen sei. Offenkundig hätten die Kirchen selbst zu wenig für die Versöhnung getan. Im gleichen Sinne äußerte sich auch der anglikanische Erzbischof von Dublin, Dr. Walton Empey. Seitdem ist das Stichwort der Versöhnung nicht aus dem öffentlichen Leben Nordirlands verschwunden. Gruppen haben begonnen, Orte und Gelegenheiten des Erzählens und Hörens von persönlichen Erlebnissen aus der Zeit der gewaltsamen Auseinandersetzungen zu schaffen. Ihr Tun steht unter der programmatischen Überschrift „Reconciling Memories“ (Falconer/Liechty 1998). Gleichzeitig nahm das „Bloody Sunday Inquiry“ in Derry seine Untersuchung der Übergriffe des britischen Militärs auf einen Demonstrationszug am 30. Januar 1972 auf. Dabei hatten dreizehn Menschen ihr Leben verloren und waren 27 Menschen verletzt worden. Eine kurz darauf erfolgte Überprüfung der Vorgänge hatte das britische Militär von jeder Schuld freigesprochen und Provokateure der IRA für den Zwischenfall verantwortlich gemacht. Mit einer Anhörung von über 900 Zeugen will das Tribunal zu einer angemesseneren Bewertung der Ereignisse und der wechselseitigen Schuldvorwürfe kommen. Aber der Aufwand an Zeit und an Geld (insgesamt belaufen sich die Kosten für das Tribunal bereits auf £ 154 Millionen) macht es zweifelhaft, ob dies ein Muster für weitere Verfahren der Feststellung von Wahrheit sein kann. Ähnliche Skepsis wird auch laut, je mehr Verquickungen britischer Sicherheitsorgane mit paramilitärischen Tötungskommandos ans Tageslicht kommen, die die Glaubwürdigkeit staatlicher Autoritäten und die Achtung rechtstaatlicher Normen in Frage stellen. Dies gilt ebenfalls für den Anspruch von Politikern aus dem republikanischen Lager, demokratische Rechte in Anspruch zu nehmen, wenn dies nicht mit einer Absage
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an Gewalt und Anerkennung der Rechtsstaatlichkeit einhergeht. So lautet eine berechtigte Frage: Wie sollen Instanzen und Personen, die heute im Verdacht stehen, einst Unrechtshandlungen begangen oder verantwortet zu haben, gleichzeitig Aufklärung und Wahrheitsfindung leisten? Darauf haben britische Politiker ebenso wenig eine befriedigende Antwort gefunden wie die Protagonisten der nordirischen Konfliktparteien, die selbst in die strittige Vergangenheit verstrickt und jeweils nur interessiert sind, die Seite der Wahrheit aufzudecken, die ihnen behagt. Für das nationalistisch-republikanische Lager sind dies gesetzeswidrige Übergriffe der Sicherheitsorgane und Fälle von Rechtsbeugung – für das unionistische die Gewalttaten republikanischer Paramilitärs, deren Ausweitung in Sphären krimineller Aktivität oder die Verbindungen mit dem internationalen Terrorismus. Die Kirchen haben sich nur zögerlich in die Debatte um Versöhnung in Nordirland eingeschaltet. Zwar leugnen sie nicht deren Bedarf, halten aber angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung und des politischen Stillstands den Moment noch nicht für gekommen. Die nordirische Gesellschaft scheint ihnen nicht reif dafür und der Wille, sich den Risiken eines Versöhnungsprozesses zu stellen, in den jeweiligen Gemeinschaften nicht groß genug. Deutlich wird dieses Zögern in zwei Grundsatzreden, die der katholische und der anglikanische Primas von Irland, Erzbischof Seán Brady und Erzbischof Robin Eames, im Mai 2004 gehalten haben. Dabei war der Ort dieser Kundgebungen durchaus sinngebend. Sie fanden in St. Ethelburga’s, einer der ältesten Kirchen Londons, statt. Das Gotteshaus war 1993 durch einen IRA-Anschlag nahezu vollständig zerstört worden und anschließend als ein Friedens- und Versöhnungszentrum restauriert worden (Wortlaut der Reden: www.stethelburgas.org). Beide Kirchenleute nutzten ihren Auftritt vor allem, um die Mühen jeglichen Versöhnungsgeschehens in Nordirland zu beschreiben und die aktuellen politischen Widrigkeiten zu kommentieren; sie verzichteten aber auf weiterreichende Visionen. Von der Rede des katholischen Erzbischofs blieb vor allem die Aufforderung an beide Gemeinschaften in Erinnerung, jede habe eine weitere Meile zusätzlich zu gehen: Für die Katholiken hieße das, ihre unterschwellige Unterstützung für gewaltbereite Gruppen in ihrer Mitte aufzugeben und sich zu einer Unterstützung der Polizei als legitimer Trägerin eines staatlichen Gewaltmonopols durchzuringen. Für die Protestanten sah Brady die Notwendigkeit, die zurückliegenden Diskriminierungen der Katholiken in Nordirland anzuerkennen und an deren Beseitigung mitzuwirken. Erzbischof Eames nahm das Stichwort der weiteren Meile auf, indem er forderte, die Katholiken hätten die Ängste, die die politisch-gesellschaftlichen Veränderungen des Friedensprozesses für die Protestanten mit sich brächten, anzuerkennen. Das Modell der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission sei auf Nordirland nicht übertragbar. Es fehle hier vor allem an einer hinreichen-
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den Klärung des zukünftigen Status der Täter. Eames befürchtet vor allem, dass jegliche Schritte der Versöhnung mehr Wunden aufreißen als heilen könnten – eine Position, die er auch bei anderen Gelegenheiten immer wieder vertreten hat (McCreary 2004: 127). Beide Erzbischöfe stimmten darin überein, dass das Karfreitagsabkommen immer noch die Richtschnur für eine verträgliche Lösung vorgebe. Seine Implementierung könne nur gelingen, wenn es hinreichend Vertrauen zwischen den beiden Gemeinschaften und ihren Repräsentanten gäbe. Dessen ungeachtet hat der Gedanke, dem nordirischen Friedensprozess Impulse durch eine Bearbeitung der belastenden Probleme der Vergangenheit zu verleihen, beim britischen Nordirland-Ministerium gerade angesichts des anhaltenden Stillstandes auf politischer Ebene neuen Auftrieb erfahren. Der zuständige Minister Paul Murphy sieht den Bedarf, die Streitigkeiten über ein zukünftiges Machtarrangement zwischen Unionisten und Nationalisten-Republikanern von dem Druck des Streits um die Vergangenheit zu befreien. Zudem sei es ein Defizit der bisherigen Friedensbemühungen gewesen, sich zu wenig um das Leid gekümmert zu haben, das die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit ihren über 3 600 Toten und mehr als 40 000 Verletzten verursacht hat (vgl. The Irish Times, 9. 4. 2004; The Guardian, 27. 5. 2004). Murphy hat inzwischen eine Erkundungsreise nach Südafrika gemacht und einen umfangreichen Konsultationsprozess begonnen, um ein tragfähiges Konzept der Wahrheitsfindung für die nordirischen Verhältnisse zu eruieren. Unterstützung erhielt diesmal eine solche Initiative von ungewohnter Seite: Hugh Orde, der Chief Constable des Police Service in Northern Ireland (PSNI), plädierte ebenfalls in diesem Sinne (vgl. The Irish Times, 23. 10. 2004). Ihn sorgt die Belastung der alltäglichen Polizeiarbeit durch die über 1 500 unaufgeklärten Gewalttaten aus den zurückliegenden dreißig Jahren. Seine ohnehin knappen Polizeikräfte reichen nicht aus, diese gerichtsverwertbar zu bearbeiten. Deshalb seien unkonventionelle Schritte notwendig, um sich der gewaltsamen Vergangenheit zu entledigen. Umso mehr begrüßt der oberste Polizeichef Nordirlands alle Aktivitäten, die Zuständigkeiten dafür in andere Hände, und sei es eine Wahrheitskommission, zu legen. Wie schon in den Vorjahren blieb es nicht aus, dass auch der Vorstoß des Jahres 2004 in die öffentliche Kritik geriet. Die unionistische Seite fürchtet, dass die Grundsätze von Recht und Ordnung dem Gedanken der Versöhnung zum Opfer fallen und die britische Regierung bereit sei, ehemaligen Gesetzesbrechern Amnestie zu gewähren – die nationalistisch-republikanische Seite wiederum warnt davor, die Verantwortung für einen Versöhnungsprozess in Händen der britischen Regierung zu belassen, der sie weiterhin mit Misstrauen begegnen; sie fordert einen unabhängigen und international gesteuerten Ansatz. Die Kirchen wiederum erleben, dass ihr ureigenstes Thema, die Versöhnung, gleichsam von der Politik gekapert wird. Ihnen bereitet Unbehagen, dass dieses Feld zum Lü-
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ckenbüßer in einem defekten Friedensprozess mutiert. In Sorge um die Belange ihrer Klientel fürchten sie mehr Schaden als Gewinn. Dementsprechend operieren sie nicht an der Front der Initiative, sondern agieren eher als Bedenkenträger. Sie favorisieren begrenze, lokale Aktivitäten gegenüber großen Lösungen. Hier sei der Reparaturbedarf dringender als auf politischer Ebene. 4. Fazit Nordirland glich über lange Zeit hinweg einem Labor, wo unter günstigen Umständen, verglichen mit anderen Bürgerkriegsgesellschaften, zu testen war, ob und wie es gelingen könnte, sozial, kulturell und politisch konnotierte Interessenkonkurrenzen so zu verregeln, dass ihnen ihre Gewaltträchtigkeit genommen würde. Seit 1998 hat sich nun ein Zustand eingestellt, der zwar die Maximalerwartungen an einen Frieden nicht erfüllt, aber in vielerlei Hinsicht als besser, gemessen am Vorangegangenen, wahrgenommen wird. Eine Minderung an Not, Gewalt und Unfreiheit ist unübersehbar. Dieser Frieden entspricht mit seiner Mischung von positiven wie negativen Erscheinungsformen jedoch kaum den Vorstellungen, die unterschiedliche Akteure hatten oder immer noch vertreten. Dementsprechend groß sind die Irritationen, sich hier zurecht zu finden, die ursprünglichen Positionen zu behaupten und die eigene Zukunft bzw. die der jeweiligen Anhängerschaft zu sichern. Davon sind auch die Kirchen nicht frei. Gerade sie, die in den religiös markierten Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle der Identitätsbildung, aber auch der Mäßigung von Einstellungen wie Verhaltensweisen und als Fürsprecher der Hoffnung auf ein besseres Morgen gespielt haben, sehen sich nun Veränderungen gegenüber, deren Konkretion sie unvorbereitet trifft. Wenn der Titel des Aufsatzes von der Suche der Kirchen nach ihrer Rolle als Friedensstifter spricht, signalisiert dies immerhin, dass hier ein Moment der Bewegung zu vermuten ist. Zusammenfassend lassen sich zwei Bestimmungsfaktoren für diese Rolle benennen: der Umgang mit den Hinterlassenschaften des Konflikts und die Frage nach der Zukunftsorientierung der Kirchen. 4.1 Hinterlassenschaften des Konflikts Die Erbschaften des Nordirland-Konflikts wiegen noch immer schwer. Dies zeigt sich nicht nur an dem schwindenden Glanz des Karfreitagsabkommens, je länger dessen Implementierung in der Schwebe bleibt. Der Friedensprozess verläuft zäh und löst die einstmals gehegten Erwartungen nicht ein. Angesichts dessen sehen sich die Kirchen berufen, sich der Nöte ihrer Anhänger angesichts
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eines Wandels anzunehmen, der vor allem auf protestantischer Seite nicht gewollt ist. Als intermediäre Institutionen dienen die Kirchen vorrangig dem Zusammenhalt ihrer eigenen Gemeinschaft. Der in Nordirland weiterhin verdeckt oder offen ausgetragene Streit um den Opferstatus, sei er zugeschrieben, sei er selbst angenommen, ist keine tragfähige Grundlage für einen dauerhaften Frieden. Zudem impliziert er, dass keiner die Verantwortung als Täter übernehmen will. Vor allem aber ist die gesellschaftliche Segregation überall manifest. Der „sectarianism“ als Kennzeichen eines gruppenbezogenen Hasses schlägt sich zunehmend in einer „wohlmeinenden Apartheid“, aber auch in Rassismus und Ablehnung alles Fremden nieder. Die Gewaltakte haben zwar ihren politischen Anstrich weitgehend verloren, werden aber weiterhin von Teilen der konkurrierenden Gemeinschaften geduldet. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass der heutige Frieden in Nordirland noch viel von den zurückliegenden Auseinandersetzungen erzählt und die Kirchen daran ihren Anteil haben. 4.2 Zukunftsoptionen Die Kirchen in Nordirland präsentieren sich derzeit nicht als Orte der Visionen und der Zuversicht. Vielmehr erlaubt der nachlassende Druck der gewaltförmigen Konfrontation zwischen den beiden Gemeinschaften, dass in den Kirchen innere Dissonanzen aufbrechen, denen sich ohnehin erschöpft wirkende Führungspersonen widmen müssen. Die Erwartung, dass Kirchen sich auch den eigenen Verstrickungen in die Gewaltaspekte der Vergangenheit stellen, findet kein positives Echo. Wenn Kirchen den Ruf nach Versöhnung aufnehmen, dann vor allem unter dem Gesichtspunkt der Bewältigung der Konfliktgeschichte für die Opfer. Von den Tätern ist dagegen weniger die Rede. Dem damit verbundenen Appell an Vertrauenszuwachs fehlt der Hinweis auf dazu nötige praktische Zwischenschritte. Kirchenübergreifende Zusammenarbeit, abgesehen von den Spitzen, bleibt rar, und Ökumene ist unter protestantischen Glaubensgemeinschaften wie für die katholische Kirche immer noch ein Reizwort. Als Reverend Kenn Newell, der gegenwärtige Moderator der Presbyterianischen Kirche, im Juni 2004 zu seiner Amtseinführung den katholischen Primas einlud, fand dies ebenso viel Aufmerksamkeit wie die Proteste dagegen, angeführt von Reverend Ian Paisley in seiner Funktion als Präsident der von ihm gegründeten Free Presbyterian Church. Im Jahr 2005 verzichteten die Presbyterianer auf eine erneute Einladung. Das alles zeugt von wenig Bereitschaft bei den Kirchen, im Vorgriff auf neue politische und gesellschaftliche Verhältnisse eine eigene, friedensbezogene Positionsbestimmung vorzunehmen und gegebene Verwerfungen mutig zu überbrücken.
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4.3 Sich mit dem Frieden arrangieren Das gegenwärtige Bild Nordirlands zeigt die Kirchen vor allem damit beschäftigt, sich mit dem eingekehrten Zustand des „kalten Friedens“ zu arrangieren. Insgesamt tragen sie schwer daran, die Spannung zwischen der sozialen und politischen Realität und der anstößigen Provokation ihrer Friedensbotschaft auszuhalten. Wie der Streit um die für die Nachbürgerkriegsgesellschaft unabdingbare Versöhnung zeigt, wäre es gerade an den Kirchen, die Komplexität eines solchen Geschehens zu verdeutlichen. Dies erstreckt sich über eine Zeitspanne jenseits der Rhythmen von Amtzeiten, Wahlperioden und politischer Opportunität, verschränkt aber auch individuelle und kollektive Perspektiven. In der Summe setzt Versöhnung den Wandel von Einstellungen voraus, die später ihren institutionellen Niederschlag finden. Beides ist mit Anstrengung wie Schmerz verbunden, sich von Überkommenem zu verabschieden und sich auf neue, oft vorab nicht kalkulierbare Risiken von Beziehungsmustern und Machtarrangements einzulassen. Gerade in Nordirland, wo Traditionen und konkurrierende Narrative so hoch gehalten und wichtige Instrumente kollektiver Identitäten bilden, hätten die Kirchen nicht nur helfender Begleiter der Transformation zu sein. Vielmehr kommt auf sie zu, die Bereitschaft zu fördern, sich auf die Risiken der Versöhnung einzulassen. An beidem hapert es in Nordirland noch, bedingt durch die verbreitete Angst, bewährte Ankertaue der Identitäten zu kappen und Feindschaften hinter sich zu lassen, die die Gemeinschaften jeweils stark gemacht haben. Die Rolle als Friedensstifter zu übernehmen, hieße hier für Christen, ihre Kirchen und Glaubensgemeinschaften zudem, sich den Imperativen der Säkularisierung ebenso zu stellen wie der Pluralität der Akteure. Im Verhältnis dazu war und ist die Dichotomie der beiden konkurrierenden Gemeinschaften in Nordirland noch überschaubar. Gelänge dies, wandelte sich Nordirland erneut zu einem Labor, in dem die Wandlungsfähigkeit der Kirchen bei anhaltender Kontinuität ihres Friedenszeugnisses erprobt werden könnte. Literatur Agreement reached in the multi-party negotiations, 10. April 1998. Belfast. Bacon, Derek (2003): Communities, Churches and Social Capital in Northern Ireland. Coleraine: University of Ulster. Centre for Voluntary Action. Bruce, Steve (2004): Religion and Violence. Paisley and Ulster Evangelicals. In: Kennedy 2004: 3044. Burgess, Paul Thomas (2002): Community Relations, Community Identity and Social Policy in Northern Ireland. Lewinston u. a. Church Advisory Committee (1999): Directory of Cross-Community Church Groups in Northern Ireland. Belfast: Community Relations Council.
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Die Rolle der Kirchen bei der Konfliktregulierung in Zentralamerika – Modell für andere Regionen? Sabine Kurtenbach
Allen großen Weltreligionen ist der Friedensgedanke vertraut, auch wenn es zu verschiedenen historischen Zeitpunkten immer wieder die Gewalt legitimierende Lesarten einiger Religionen gab und gibt, wie die aktuelle Diskussion um den Dschihad zeigt. Auch die christlichen Kirchen blicken bei ihrem Verhältnis zu Gewalt und Frieden auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Während Kirchenvertreter beim Genozid in Ruanda offensichtlich zur Gewalteskalation beigetragen haben, haben Bischöfe und Laien in anderen Kriegen1 und Konflikten maßgeblich zu deren friedlichen Beilegung beigetragen. Dies gilt für die Beendigung der Apartheid in Südafrika ebenso wie für die Unabhängigkeit Ost-Timors und die Beendigung des Kriegs in Mosambik. Auch in Zentralamerika haben die christlichen Kirchen einen wesentlichen Beitrag zur Beendigung der internen Kriege in El Salvador, Guatemala und in Nicaragua geleistet. Zwar standen bei der Unterzeichnung der Friedensverträge UN-Vertreter im Rampenlicht und auch der Friedensnobelpreis wurde 1987 an den costaricanischen Präsidenten Oscar Arías verliehen, ohne dass die langjährige Arbeit der Kirchen gewürdigt worden wäre, ohne die das Abkommen nicht möglich gewesen wäre. Aus den Erfahrungen in Zentralamerika lassen sich einige Schlussfolgerungen für die Möglichkeiten und Grenzen des Engagements der Kirchen bei der Befriedung entwickeln. Hierzu ist es zunächst notwendig die Rolle der Kirche in den zentralamerikanischen Gesellschaften zu analysieren, weil erst vor diesem Hintergrund die konkreten Handlungsoptionen sichtbar werden, die sich für die Kirchen bei der Konfliktregulierung ergeben (Abschnitt 1). Darüber hinaus ist es wichtig zwischen verschiedenen Phasen von Konflikt und Krieg zu unterscheiden. So gilt es 1
Im Folgenden wird die Bezeichnung Krieg im Sinne der Definition der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) der Universität Hamburg zugrunde gelegt, wonach ein Krieg ein bewaffneter Massenkonflikt ist, an dem auf mindestens einer Seite staatliche Kräfte beteiligt sind und der ein Mindestmaß an Kontinuität und Organisation der Konfliktparteien aufweist (vgl. Gantzel/ Schwinghammer 1995: 31 ff.).
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die Rolle der Kirchen in Bezug auf die zentralen Kriegsursachen ebenso zu analysieren wie ihr Verhältnis zu den Kriegsparteien und Opfern (Abschnitt 2), ihre Aktivitäten zur Beendigung der Kriege (Abschnitt 3) und ihre Rolle in der Nachkriegszeit (Abschnitt 4). Abschließend gilt es dann zu beurteilen, welche Erfahrungen über den spezifischen Kontext hinaus verallgemeinerbar sind. 1. Die Kirchen in der zentralamerikanischen Gesellschaft Die zentralamerikanische Bevölkerung ist seit der Kolonialzeit bis in die 1960er Jahre überwiegend katholisch.2 Eine Ausnahme ist die Atlantikküste Nicaraguas, wo aufgrund des britischen Einflusses die Monravische Kirche dominiert. Die katholische Kirche war eine der tragenden Säulen des traditionellen Systems, das auf Großgrundbesitz sowie dem Export von agrarischen und mineralischen Rohstoffen beruhte und durch autoritäre Herrschaftsformen geprägt war. Zwar war der Katholizismus wie in ganz Lateinamerika bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1964) einer der wichtigsten Faktoren sozialer Stabilität; er blieb aber nicht in Orthodoxie verhaftet, sondern ist durch zwei nur scheinbar widersprüchliche Elemente gekennzeichnet: Exklusivismus und Anpassungsfähigkeit. Exklusiv war der Katholizismus, weil er praktisch stets ein Monopol innehatte und es im Gegensatz zu Europa bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts kaum religiöse Nonkonformität oder Spaltung gab. Gleichzeitig zeichnete sich der Katholizismus in ganz Lateinamerika aber durch ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit an die Gegebenheiten vor Ort aus. Er verdrängte die Religionen der Indígenas (vor allem in Guatemala wichtig) und die Kulte der Nachfahren afrikanischer Sklaven (an der Karibikküste) nicht in starrer Dogmatik, sondern nahm einzelne ihrer Elemente auf und interpretierte sie für den Katholizismus um.3 Dies trug zu seiner Verankerung in allen Bevölkerungsschichten bei. In der traditionalen Gesellschaft4 war die katholische Kirche Teil der Oligarchie; sie gehörte zu den reichsten Großgrundbesitzern und legitimierte die Aufrechterhaltung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung als gottgewollt. Die Geistlichen spielten eine bedeutende Rolle im Erziehungssystem, in der Verwaltung und dem Bereich der Wohlfahrt. Die Kirche war neben dem Militär die einzige Institution, die mehr oder weniger „national“ präsent war, wenn sie ihre Schwerpunkte auch in den Städten hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfasste der gesellschaftliche Wandel, der durch soziale Differenzierung, Urbanisierung 2 3 4
Aus diesem Grund beziehen sich die folgenden Ausführungen vor allem auf die katholische Kirche. Zur Rolle der Kirche in Lateinamerika siehe Levine 1986, Veliz 1980, Stoll 1990, Löwy 1996. Zum Konzept der traditionalen Gesellschaft in Lateinamerika vgl. Kurtenbach 1991: 25-35.
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und Landflucht charakterisiert ist, auch die Rolle der katholischen Kirche selbst. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Bischofskonferenz in Medellín 1968 akzeptierte die katholische Kirche gesellschaftlichen Wandel als normalen Prozess. Gleichzeitig erfolgte eine Neubewertung der Rolle von Gewalt in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Gewalt wurde nicht mehr nur in ihrer direkten physischen Form wahrgenommen, sondern auch Formen der strukturellen Gewalt, d. h. der sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, wurden explizit in die Definition einbezogen (vgl. Levine 1986a: 8 ff.). Vor diesem Hintergrund entstand die Befreiungstheologie (vgl. Löwy 1996: 32), die allerdings zu keinem Zeitpunkt in der lateinamerikanischen Kirche dominant war, allerdings ein hohes Maß an internationaler Beachtung erfuhr. Die Befreiungstheologen interpretierten nicht nur die Bibel, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse neu, was sowohl eine Reaktion auf die Auflösung traditionaler Zusammenhänge war, wie auch ein Faktor, der diese Auflösung dynamisierte und durch die Infragestellung der bestehenden Herrschafts- und Besitzstrukturen vorantrieb. Für die mit dem sozialen Wandel in der gesamten Region einhergehenden Konflikte war die Befreiungstheologie insofern von Bedeutung, als sie horizontale Formen der Organisation und Solidarität förderte, die nicht nur der vertikalen Hierarchie der weitgehend autoritären Regime sondern auch der Amtskirche zuwiderlief. In den Basisgemeinden wurden die traditionellen Hierarchien abgebaut, oft bildeten sich dann, ausgehend vom Bibelstudium, gemeinsame Aktionsformen für andere gesellschaftliche Bereiche, beispielsweise die Gründung von Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen, heraus. Die Auseinandersetzung um die Befreiungstheologie und deren „Option für die Armen“ führte schon aus diesen Gründen innerhalb der katholischen Kirche zu einer grundlegenden Spaltung des Klerus. In Zentralamerika – und hier vor allem in Guatemala – begünstigte der Verfall der traditionellen Ordnung gleichzeitig aber auch das Vordringen protestantischer Religionsgruppen vor allem aus den USA (vgl. Rohr 1990). Insbesondere deren stärkere Betonung individueller Initiative wurde von vielen Menschen angesichts der Krisensituation als Möglichkeit zur Reorganisation ihres Lebens betrachtet. Während die Befreiungstheologie auf die Veränderung der gesamten Gesellschaft setzte, war der Ansatzpunkt insbesondere vieler fundamentalistischer Sekten die Veränderung des persönlichen Lebens als Voraussetzung für einen Neuanfang. Statt der Organisation der Bevölkerung in Gewerkschaften oder anderen sozialen Gruppen standen puritanische Werte wie Arbeitseifer und Enthaltsamkeit, aber auch Gehorsam und Unterordnung im Mittelpunkt der Botschaft (vgl. Stoll 1990: 305 ff.). Damit wurden die Sekten in vielen Ländern zu neuen Verbündeten der herrschenden Oligarchie, die den Reformbestrebungen in der katholischen Kirche misstrauisch gegenüberstand. Die katholische Amtskir-
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che sah ihre zentrale gesellschaftliche Stellung mithin sowohl durch innere Konflikte wie von außen durch die Konkurrenz der Sekten bedroht. 2. Kirchen, Konfliktursachen und Krieg Bei aller Unterschiedlichkeit in der konkreten Form des Konfliktaustrags sind den drei Kriegen in Zentralamerika (Nicaragua, El Salvador und Guatemala)5 die zentralen strukturellen Konfliktursachen gemeinsam. Seit den 1950er Jahren befand sich Zentralamerika in einem Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Umwälzung, was der immer noch weit verbreiteten Subsistenzwirtschaft nach und nach die Grundlage entzog. Der ökonomischen Modernisierung stand der Versuch gegenüber, die traditionellen politischen Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Die zentralamerikanischen Ökonomien konnten in den 1950er und 1960er Jahren zwar beträchtliche Wachstumsraten aufweisen, gleichzeitig wurde die Bevölkerungsmehrheit aber sozial entwurzelt und wirtschaftlich marginalisiert. Die modernen kapitalistischen Sektoren der Wirtschaft waren nicht einmal ansatzweise in der Lage, denjenigen eine Existenzbasis zu geben, die durch die Zerstörung der traditionellen Agrarstrukturen vom Land verdrängt wurden (vgl. Bulmer Thomas 1994; Dunkerley 1988). In den 1970er Jahren gingen ökonomische und politische Polarisierung Hand in Hand. Die Organisation der Bevölkerung in Kooperativen, Gewerkschaften oder anderen Gruppierungen wurde von den herrschenden autoritären Regimen mit Repression beantwortet. Ende der 1970er Jahre nahm der Widerstand in allen drei Ländern militante Formen an, formierten sich Bündnisse zwischen den erstarkenden Guerillagruppen und der zivilen Opposition. Der unterschiedliche Verlauf der Kriege in Nicaragua, El Salvador und Guatemala lässt sich zum Großteil durch die historisch bedingten Spezifika der nationalen Entwicklungen in den einzelnen Ländern erklären. Die Kleptokratie des Somoza-Clans bot ein wesentlich klareres Feindbild für eine breite Oppositionsbewegung als die nicht so sehr an einzelnen Personen hängende Koalition aus Oligarchie und Militär in Guatemala oder in El Salvador. Gleichzeitig wirkten die Entwicklungen in einem Land auf die Ereignisse in den anderen zurück. Der Sieg der nicaraguanischen Revolution im Juli 1979 5
In Nicaragua führte ein relativ kurzer Krieg (1977-1979) zum Sturz des Somozaregimes, ab 1981 kämpfte die so genannte „Contra“ gegen die sandinistische Revolutionsregierung. In El Salvador dauerte der Krieg von 1981 bis 1992, in Guatemala mit wechselnder Intensität von den 1960er Jahren bis 1996. In Honduras und Costa Rica eskalierten die durchaus vergleichbaren Problemlagen aus unterschiedlichen Gründen nicht zum Krieg. In Costa Rica hatte sich bereits 1948 ebenfalls mit Waffengewalt ein reformorientiertes Regime durchgesetzt, in Honduras führte die Militärregierung in den 1970er Jahren zumindest partielle Reformen durch. Zur anderen Entwicklung in Costa Rica vgl. Kurtenbach 2000, zu Honduras Sieder 1995.
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hatte vor allem zwei Konsequenzen für die Auseinandersetzungen in El Salvador und Guatemala: Erstens erhielten die Guerillabewegungen neuen Auftrieb. Neben der Hoffnung, auch im eigenen Land den Umsturz schnell erreichen zu können, hatten sie nun ein Vorbild und einen politischen Verbündeten. Zweitens ergriffen die herrschenden Eliten Gegenmaßnahmen: Repression und Militarisierung der Gesellschaften wurden verstärkt. Die Militärausgaben aller zentralamerikanischen Länder erhöhten sich zwischen 1979 und 1983 real um 50 Prozent, die Stärke der paramilitärischen Kräfte von 1978 bis 1983 um 180 Prozent (Goldblatt/Millán 1984: 521). Die Entwicklung in Nicaragua war außerdem ein wesentlicher Faktor bei der Internationalisierung der Konflikte in Zentralamerika (vgl. zur US-Politik LaFeber 1984; Dunkerley 1988). Die Reagan-Administration interpretierte die Kriege im Rahmen des Ost-West-Konflikts; sie sah deren Ursachen nicht in den internen und sozialen Problemen der Länder, sondern in der Aktion sowjetisch gesteuerter Gruppen. Ziel der USA war letztlich die Rückkehr zum Status quo ante 1979. In der Praxis sollte die sandinistische Regierung in Nicaragua international und regional isoliert und dann durch die von den USA unterstützten Contratruppen gestürzt werden. El Salvador wurde dagegen zum Modellfall einer kontrollierten Entwicklung aufgebaut und erhielt mit etwa 50 Prozent den Löwenanteil der regionalen Wirtschafts- und Militärhilfe. Den zentralamerikanischen Oligarchien kam diese Vorgehensweise durchaus entgegen, machte sie doch grundlegende Strukturveränderungen unnötig und sicherte beträchtliche finanzielle Ressourcen. Die regionale Lage eskalierte zu Beginn der 1980er Jahre vor allem an der Grenze zwischen Nicaragua und Honduras, von wo aus die von den USA unterstützten Contratruppen operierten. Guatemala nahm insofern eine Sonderrolle ein, als das guatemaltekische Militär keine Militärhilfe von den USA erhielt und deshalb relativ immun gegen Druck war. Dies schränkte die Aktionsmöglichkeiten der unbewaffneten Opposition stark ein. Die katholische und die lutherische Kirche waren von diesen Entwicklungen in mehrfacher Hinsicht betroffen. Zum einen richtete sich die staatliche Repression vor allem in El Salvador und Guatemala seit den 1970er Jahren zunehmend auch gegen Laienprediger und Geistliche, so dass die Kirche selbst viele Opfer zu beklagen hatte. Nicht umsonst war im Falle El Salvadors die Ermordung von Erzbischof Romero im März 1980 ein zentraler Bezugspunkt für die bewaffnete Opposition. Dieser Gewaltakt machte weiten Kreisen der Bevölkerung deutlich, dass friedlicher Wandel nicht möglich war und dass der von der Reformjunta im Oktober 1979 eingeleitete Öffnungsprozess gescheitert war. Zum anderen gefährdeten sowohl der revolutionäre Wandel in Nicaragua wie auch der ausbleibende Wandel in den anderen Ländern die Einheit der katholischen Kirche, die angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen tief gespalten war. In Nicaragua
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wurden die Risse, die durch die katholische Kirche gingen, nach dem Sieg der sandinistischen Revolution 1979 besonders deutlich. Namhafte Vertreter der Befreiungstheologie wie Ernesto Cardenal wurden Regierungsmitglieder, der Erzbischof von Managua Kardinal Obando y Bravo gehörte dagegen zu den schärfsten Kritikern der Sandinisten. Schon während der Phase der Konflikteskalation unterstützten die Kirchen vielfach die Forderungen der zivilen Opposition nach politischen Verhandlungen zwischen allen gesellschaftlichen Kräften. Außerdem unterstützten sie in allen Ländern die Opfer von Gewalt und Repression. Aus dieser Arbeit entwickelte sich dann eine aktive Tätigkeit für die Beendigung der Kriege am Verhandlungstisch. 4. Kirchen und Vermittlung Die Initiativen zur Beendigung von Kriegen am Verhandlungstisch können auf zwei Ebenen des internationalen Systems erfolgen, der staatlichen und der nichtstaatlichen. Die staatliche Ebene der klassischen Diplomatie umfasst die so genannten Guten Dienste, Untersuchungskommissionen, Verhandlungen, Vermittlung und die Schiedsgerichtsbarkeit. Die internationale Öffentlichkeit nimmt vorzugsweise diese Ebene wahr – die Aktivitäten der UNO, der verschiedenen Regionalorganisationen oder von Regierungen. Die nicht-staatliche Ebene umfasst die Aktivitäten von gesellschaftlichen und zivilen Akteuren wie beispielsweise Nicht-Regierungsorganisationen, Kirchen oder Einzelpersönlichkeiten, die in der Regel ein wesentlich geringeres Maß an Beachtung finden. Dies liegt zum einen in der Natur der Sache, weil gerade in der Vorbereitung und Anfangsphase von Gesprächen Vertraulichkeit und nicht Öffentlichkeit wichtig sind. Darüber hinaus wurde aber auch lange Zeit postuliert, dass ein Vermittler neutral und unabhängig zu sein habe. Zahlreiche Untersuchungen haben mittlerweile aber gezeigt, dass die Akzeptanz und der Erfolg eines Vermittlers meist von anderen Faktoren abhängig sind – etwa dessen Ressourcen oder seinem eigenen Interesse an einer Kriegsbeendigung. Der Vermittler muss keine äquidistante Stellung zwischen den Konfliktparteien einnehmen, sondern nur insoweit unbeteiligt sein, als er keiner Seite zum Sieg verhelfen will (vgl. Lederach 1997; Wehr/Lederach 1991; Kriesberg 1992). Dieses Mindestkriterium können auch interne Akteure erfüllen, obwohl sie natürlich in irgendeiner Form in das Geschehen involviert sind. Die Vermittlung durch „beteiligte Insider“ (vgl. Wehr/Lederach 1991; Kriesberg 1992) bietet vor allem in traditionell geprägten Gesellschaften eine Reihe von Vorteilen. Oft besteht bereits ein persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Vermittlern und
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Konfliktparteien. Außerdem kann sich ein interner Vermittler nach Abschluss eines Friedensabkommens nicht davonstehlen, sondern muss mit dem Ergebnis seiner Bemühungen leben, weshalb er an deren Stabilität und Nachhaltigkeit unter Umständen ein wesentlich größeres Interesse hat als externe Akteure. Darüber hinaus kennen diese internen Akteure das Konfliktumfeld sehr genau, was ihnen das Erkennen und Nutzen des richtigen Zeitpunkts für Vermittlungsversuche erleichtert. Im Gegensatz zu internationalen Akteuren werden sie deshalb meist schon vor spektakulären Ereignissen aktiv. Dies und die geringere Beachtung durch die Weltöffentlichkeit bieten ihnen den Vorteil, nicht so stark unter Zeitdruck handeln zu müssen, sondern auf stetige, beharrliche Einflussnahme setzen zu können. Allerdings können die Kirchen nicht in jedem Konflikt als beteiligte Insider agieren, wie etwa die Beispiele Ruanda und Kambodscha zeigen. In Zentralamerika war es der katholischen Kirche6 aus zwei Gründen möglich, für die Konfliktregulierung aktiv zu werden. Erstens besaß sie aufgrund ihrer soliden Verankerung in der Gesellschaft Kontakte zu allen Beteiligten, sowohl zur Regierung wie auch zur Opposition. Die katholische Kirche war nicht nur wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung als Vermittler für alle Konfliktparteien akzeptabel, sondern auch weil es in ihrer Mitte Verfechter der unterschiedlichen Positionen gab. Angesichts der immer noch starken Verankerung der katholischen Kirche auch in traditionalen und reformfeindlichen Kreisen, konnten Erklärungen der Bischofskonferenzen, die beispielsweise Repression und soziales Unrecht anprangerten, nicht ohne weiteres in die „subversive Ecke“ gestellt werden. Zweitens war der Einsatz für den Frieden in El Salvador und Guatemala eine Möglichkeit, die eigene Spaltung zu überwinden bzw. ähnliche interne Konflikte wie in Nicaragua zu verhindern. Es handelte sich also praktisch um einen Minimalkonsens, der die institutionelle Einheit sicherte. Am deutlichsten wird dies am Beispiel El Salvadors. 4.1 Die Aktivitäten der salvadorianischen Kirche Im Jahre 1977 erreichte dort die Repressionswelle gegen die Opposition mit der Ermordung von zehn Priestern auch die katholische Kirche. Die salvadorianische Bischofskonferenz war zwar einig in der Ablehnung der staatlichen und parastaatlichen Gewalt, nicht aber in der Analyse von deren Ursachen. Die konservative Mehrheit sah in der Politisierung der Kirche einen Hauptgrund für die zunehmenden Spannungen in der Gesellschaft und insbesondere zwischen Kirche 6
Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf die katholische Kirche, auch wenn diese beispielsweise in Guatemala eng mit dem Lutherischen Weltbund kooperierte.
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und Regierung. Der Erzbischof von San Salvador – sowohl Mons. Romero wie auch sein direkter Nachfolger Mons. Rivera – ergriff dagegen Partei für die arme und unterdrückte Bevölkerungsmehrheit und trat dabei stets für eine Versöhnung in der Gesellschaft ein. Bereits vor Ausbruch des Bürgerkrieges vermittelte Mons. Romero bei zahlreichen Konflikten zwischen Arbeitern und Unternehmern, aber auch bei Entführungsfällen und Botschaftsbesetzungen (vgl. hierzu sehr eindrucksvoll sein Tagebuch: Romero 1993). Seine Ermordung am 10. März 1980 machte die steigende Gewalt und Repression einer breiten nationalen und internationalen Öffentlichkeit deutlich. Im Januar 1981 eskalierte der Konflikt mit der Offensive des FMLN (Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional) zum Krieg. Die katholische Kirche forderte weiterhin alle Konfliktparteien stets zum Gespräch und zur Versöhnung auf und unterstützte die verschiedenen regionalen Friedensinitiativen wie die von Mexiko und Frankreich 1981 und die Arbeit der so genannten Contadora-Gruppe (Mexiko, Panama, Kolumbien und Venezuela) ab 1983. Sie war außerdem im humanitären Bereich aktiv, beispielsweise beim Austausch von Gefangenen und Verwundeten, bei der Einhaltung eines Waffenstillstands über Weihnachten oder um die Kinder im ganzen Land impfen zu lassen. Sie bot vielen Flüchtlingen in den Priesterseminaren Schutz und Unterkunft und rief eine von den Konfliktparteien unabhängige Menschenrechts- und Rechtshilfeorganisation ins Leben, die die Angehörigen von Verschwundenen und Vermissten unterstützte. Schließlich waren die Sonntagspredigten in der Kathedrale der Hauptstadt eine wichtige Informationsquelle über die Realität des Landes, die nicht nur außerhalb El Salvadors durch die internationale Presse große Bedeutung erlangte, sondern durch die Übertragung im kirchlichen Radiosender auch im Land selbst. Aber auch bei den ersten direkten Gesprächsversuchen zwischen den Kriegsparteien war die katholische Kirche beteiligt. Ende 1984 lud der salvadorianische Präsident José Napoleón Duarte anlässlich einer Rede vor der UN-Generalversammlung die Guerilla zu einem Treffen ein und bat die Bischofskonferenz Zeuge dieses Treffens zu sein. Die Bischofskonferenz entsandte Mons. Rivera, dessen Rolle in der Folge zum „Moderator“ aufgewertet wurde und der weitere Zusammenkünfte organisieren und vorbereiten sollte. Die Kirche setzte ihre Arbeit für den Frieden auch nach dem Scheitern der Gespräche fort. Die vielen informellen Kontakte und persönlichen Gespräche mit maßgeblich am Geschehen Beteiligten trugen wesentlich zur Wiederaufnahme der Gespräche im September 1989 bei. Zwar wollte die Regierung Cristiani keine Beteiligung der Kirche, mangels anderer Kommunikationskanäle musste sie aber dennoch auf deren Gute Dienste zur Vorbereitung des Treffens mit der Guerilla in Mexiko zurückgreifen. Die Zusammenkunft war insofern ein Erfolg, als sich beide Par-
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teien darauf einigten, den Krieg am Verhandlungstisch zu beenden, womit ein entscheidender Schritt auf eine verhandelte Kriegsbeendigung hin getan war. Dennoch eskalierte die Auseinandersetzung im November 1989 zunächst abermals. Die Guerilla drang im Rahmen einer militärischen Offensive in die wohlhabenden Viertel der Hauptstadt San Salvador vor, die staatlichen Streitkräfte ermordeten sechs Jesuiten der Zentralamerikanischen Universität, deren Haushälterin und ihre Tochter. Damit wurden wichtige Kirchenrepräsentanten abermals Opfer des Krieges, die Grenzen der kirchlichen Vermittlung waren erreicht. Regierung und FMLN baten den UNO-Generalsekretär im Dezember 1989 um Hilfe bei der Beendigung des Krieges. Am 4. April 1990 wurden die Gespräche in Genf wieder aufgenommen, am 16. Januar 1992 das Friedensabkommen in Mexiko unterzeichnet. Die katholische Kirche war in dieser Schlussphase zwar nicht mehr offiziell am Dialog beteiligt, wirkte aber durch informelle Gespräche und Kontakte weiter mit. Die Aktivitäten der Kirche waren für das Zustandekommen des Dialogs maßgeblich, konnten aber angesichts der polarisierten Situation und der begrenzten Ressourcen der Kirche alleine keine Einigung erzwingen. 4.2 Das Abkommen von Esquipulas und die zentralamerikanischen Kirchen In allen zentralamerikanischen Ländern übernahmen die Kirchen nach der Unterzeichnung des regionalen Friedensabkommens im August 1987 eine wichtige Rolle. Auf der Basis der Vermittlungstätigkeit der Contadora-Gruppe hatten die zentralamerikanischen Präsidenten im August 1987 ein regionales Abkommen zur Deeskalation unterzeichnet (vgl. Kurtenbach 1987; Dunkerley 1994). Daraufhin verlagerte sich die Vermittlungstätigkeit von der regionalen Ebene, auf der die Contadora-Gruppe zwischen den zentralamerikanischen Regierungen agiert hatte, auf die nationale Ebene zurück. In allen Ländern – auch in Costa Rica und Honduras – wurden Nationale Versöhnungskommissionen gegründet, die eine wichtige Rolle für das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung des Dialogs spielten7 und in denen die Vertreter der katholischen Kirche eine herausragende Stellung einnahmen. Ein wichtiger unterstützender Faktor bei den Friedensaktivitäten der Kirchen war die Unterstützung der nationalen Kirchen von außen. Der doppelte Status der christlichen Kirchen als nationaler wie als internationaler Akteur erwies sich 7
In Nicaragua gab es zwei nationale Versöhnungskommissionen, eine an der Atlantikküste, bei deren Arbeit der Konflikt zwischen sandinistischer Regierung und den Miskitu-Indianern im Vordergrund stand. Hier nahm die Monravische Kirche eine zentrale Position ein. Die zweite hatte den Konflikt zwischen der sandinistischen Regierung und der so genannten „Contra“ zum Gegenstand, wobei Kardinal Obando y Bravo den Vorsitz innehatte.
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vor allem für die Überwindung von Blockadesituationen als vorteilhaft. Im Fall El Salvadors spielten Bischof Stehle und andere Vertreter der katholischen Kirche eine bedeutende Rolle, im Falle Guatemalas war dies der Lutherische Weltbund. Beide Prozesse wurden vom Dialogprogramm der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung begleitet, in dessen Rahmen zahlreiche vertrauliche Treffen zwischen den verschiedenen Akteuren organisiert wurden.8 Die Aktivitäten der Kirche waren in den drei Kriegsländern für das Zustandekommen der direkten Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien maßgeblich, konnten eine Einigung aber nicht alleine erreichen, weil die Möglichkeiten der Kirche als Vermittler zu fungieren auch Grenzen haben. Sowohl in El Salvador wie auch in Guatemala war es immer wieder nötig auf die jeweiligen Regierungen und die Streitkräfte Druck auszuüben. Dazu verfügten die Kirchen jenseits moralischen Drucks und Appellen nicht über die notwendigen Ressourcen. Gleichzeitig waren Kirchenvertreter selber immer wieder Opfer der Repression, was ihre Handlungsoptionen ebenfalls einschränkte. Die entscheidende Rolle der Kirchen lag mithin bei der Vorbereitung und Begleitung der Arbeit der Vereinten Nationen und anderer internationaler Akteure – wie der „Gruppe der Freunde“ der Friedensprozesse. Auch wenn die Unterzeichnung der Friedensverträge erst nach den Aktivitäten der UNO erfolgte, wären diese ohne die Vorarbeiten der Kirchen nicht möglich geworden. 5. Kirchen in der Nachkriegszeit Auch nach der Beendigung der Kriege haben die Kirchen in Zentralamerika weiterhin eine wichtige Rolle sowohl bei der Überwachung der Einhaltung der Abkommen wie auch bei der Arbeit mit den Opfern und der Versöhnung geleistet. Auch wenn die Überwachung formell den UN-Missionen (ONUSAL in El Salvador und MINUGUA in Guatemala) bzw. der OAS (OEA-CIAV) in Nicaragua oblag, so spielten die Kirchen doch weiterhin als interne und von den Konfliktparteien unabhängige Informationsquelle eine wichtige Rolle. Vor allem die Kommissionen der Vergangenheitspolitik, die die gravierenden Menschenrechtsverletzungen aufklären sollten, waren hierbei ein wichtiges Instrument. Die Kirchen und die unabhängigen Menschenrechtsorganisationen trieben die Diskussion um die Vergangenheit wesentlich voran. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat dabei verschiedene Funktionen. Zum einen zwingt sie die ehemaligen Konfliktgegner dazu, sich mit der 8
Zum Beispiel zwischen der guatemaltekischen Guerilla und Vertretern der politischen Parteien, der Kirchen oder Unternehmern. Vgl. hierzu auch GKKE (1995).
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Recht- oder Unrechtmäßigkeit ihres Handelns auseinander zusetzen. Zum anderen ist sie aber auch ein wichtiges Instrument der Prävention und eine Voraussetzung für die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer. Hierzu muss die Vergangenheitspolitik vier Schritte umfassen: 1. die Dokumentation der Ereignisse, d. h. die Klärung der Frage: „was ist geschehen?“; 2. die Beantwortung der Frage nach der Verantwortlichkeit: „wer waren die Täter?“; 3. die Bestrafung der Täter und die Entschädigung der Opfer; 4. die Versöhnung zwischen Opfern und Tätern sowie die gemeinsame Erinnerung zur Vermeidung der Wiederholung. Die Kirchen in El Salvador und Guatemala haben sich sehr für eine umfassende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eingesetzt. Dies war allerdings sehr schwierig und hat abermals zu Gewalt geführt. So haben die Regierungen in allen Ländern Zentralamerikas in Folge des Esquipulas-Abkommens 1987 Amnestien für politische Gewaltakte erlassen, die dazu führten, dass der überwiegende Teil der Straftaten nicht geahndet wurde. Die Wahrheitskommission in El Salvador sollte schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung untersuchen, die zwischen 1980 und 1991 begangenen wurden, und die dafür Verantwortlichen benennen. Strafrechtlich verwertbar waren diese Erkenntnisse aber nicht. In Guatemala verhinderte das Militär selbst diese reine Dokumentation der Ereignisse und setzte durch, dass in der „Aufklärungskommission“ individuelle Schuldzuweisungen unterblieben. Um dieses Defizit zu überwinden, rief das Menschenrechtsbüro des Erzbistums in Guatemala ein eigenes Projekt zur „Wiedergewinnung der historischen Erinnerung“ ins Leben.9 Tage nach der Veröffentlichung der Ergebnisse wurde der zuständige Weihbischof Mons. Gerardi in der Garage seines Hauses erschlagen, Militär und Regierung versuchten alles, um das Verbrechen der „normalen“ Kriminalität zuzuordnen. In Nicaragua unterblieb die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vollständig. Aufgabe der 1992 ins Leben gerufenen Drei-Parteien-Kommission aus Vertretern der Regierung, der katholischen Kirche und der Verifikationskommission der OAS (CIAV-OEA) war die Untersuchung von Gewaltakten gegen ehemalige Kämpfer, d. h. die Arbeit bezog sich auf die Zeit nach Beendigung des Konfliktes und nicht auf die Kriegszeit.
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Die Berichte aus El Salvador (De la Locura a la esperanza, 1993) und Guatemala wurden veröffentlicht: Comisión de Esclarecimiento Histórico: Memorias del silencio. Guatemala 1999 sowie: ODHAG: Guatemala: Nunca más, Guatemala 1998. Deutsche Zusammenfassung: Misereor, Guatemala Nie wieder – nunca más. Bericht des Interdiözesanen Projekts zur Wiedergewinnung der geschichtlichen Wahrheit, Aachen 1998.
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6. Erfahrungen über den spezifischen Kontext hinaus Die Erfahrungen mit der Beteiligung der Kirchen an der Kriegsbeendigung in Zentralamerika lassen sich wie folgt zusammenfassen. Die Kirchen verfügten dort insbesondere im Vergleich zu anderen Akteuren als Vermittler über eine Reihe von Vorzügen: Sie waren im gesamten Konfliktgebiet präsent und besaßen eine eigene, unabhängige Informationsstruktur. Ihr klares Wertekonzept ließ sie in erster Linie für die Opfer der Kriege Partei ergreifen, das Verhältnis zur Bevölkerung zeichnete sich durch besonderes Vertrauen aus, das auf Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und – nicht zuletzt – Verschwiegenheit beruht, und für Vermittlung absolut notwendig ist. Als „beteiligte Insider“ mussten die Kirchen nicht nur mit dem Ergebnis ihrer Aktivitäten leben, sondern begleiteten auch die Umsetzung der Abkommen kritisch. Internationale Verflechtungen erlaubten ihnen, wenn nötig, die Einbeziehung und Koordinierung der Aktivitäten weiterer Akteure. Als Spiegelbild gesellschaftlicher Konflikte konnten die Kirchen durch Überwindung interner Differenzen mit eigenen Vorschlägen einen positiven Beitrag zur Konfliktregulierung leisten. Das ständige Gespräch in den eigenen Reihen kam praktisch einer „Supervision“ des Vermittlers gleich, eine Rückkoppelung, die anderen Vermittlern oftmals fehlt. Die Rolle als Vermittler hatte gleichzeitig für die Kirchen eine Reihe von Vorteilen: Sie wurden nicht zur direkten Parteinahme gezwungen, was sie vielfach aufgrund interner Differenzen gar nicht hätten leisten können. In Zeiten allgemeiner Zurückdrängung des Religiösen aus dem Lebensalltag konnten sie sich als wichtiger – ziviler – Akteur erweisen und behaupten. Die Rolle des Vermittlers gab ihr Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Ausgang von Konflikten und damit das künftige gesellschaftliche Kräfteverhältnis und die „Spielregeln“. Die Grenzen kirchlicher Vermittlung lagen vor allem in mangelnden Ressourcen und fehlenden Sanktionsmöglichkeiten. So konnten sie in Blockadesituationen außer Überzeugungsarbeit, der Mobilisierung der öffentlichen Meinung und moralischen Appellen nichts einsetzen, was die Konfliktparteien zum Sinneswandel bewogen hätte. Auch die Vermittlungsaktivitäten internationaler Organisationen haben hier ähnliche Grenzen. Im Falle Zentralamerikas wurden die UN-Vermittler allerdings durch die US-Regierung unterstützt, die sowohl der salvadorianischen wie auch der guatemaltekischen Regierung mit dem Entzug von Wirtschafts- und Militärhilfe drohte, sollten sie am Verhandlungstisch nicht kooperieren. Lassen sich diese Erfahrungen verallgemeinern? In anderen lateinamerikanischen Ländern haben die christlichen Kirchen in ihrem Umgang mit Gewaltphänomenen auf durchaus vergleichbare Weise agiert. So hat die kolumbianische
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Bischofskonferenz 1995 eine Nationale Versöhnungskonferenz gegründet, die für eine Verhandlungslösung im ältesten Krieg Lateinamerikas eintritt. Auch in Chiapas hat die mexikanische Bischofskonferenz versucht, zwischen mexikanischer Regierung und Zapatisten zu vermitteln. Am Beispiel Mexikos werden allerdings wiederum die Grenzen kirchlicher Arbeit deutlich. Da das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im nachrevolutionären Mexiko sehr distanziert war und sich die Beziehungen erst Anfang der 1990er Jahre verbesserten, gab es innerhalb der Bischofskonferenz schwere Konflikte zwischen denjenigen, die wie Bischof Samuel Ruíz zumindest das politische Anliegen der Aufständischen für legitim hielten und denjenigen, die am Status quo festhalten wollten. Nicht zufällig sind die gesellschaftlichen Verhältnisse in Chiapas denen in Zentralamerika sehr ähnlich. Auch außerhalb Lateinamerikas gibt es zahlreiche Beispiele für die Friedensarbeit der christlichen Kirchen. Am bekanntesten ist hierbei sicherlich die Arbeit der Laiengemeinde Sant’ Egidio in Italien, die unter anderem in Mosambik an der Kriegsbeendigung beteiligt war. In Südafrika hat die Anglikanische Kirche eine bedeutsame Rolle bei der Beendigung der Apartheid und dem Aufbau einer neuen gesellschaftlichen Basis gespielt (Botman 2004). Auch in anderen Weltregionen haben Kirchen und religiöse Gemeinschaften in Kriegs- und Nachkriegszeiten zur Gewaltreduzierung beigetragen. Zwar konnten die buddhistischen Mönche in Kambodscha weder den Völkermord der Roten Khmer noch die vietnamesische Besatzung verhindern; 1993 organisierten sie im Vorfeld der ersten freien Wahlen aber einen Friedensmarsch durchs ganze Land. Dies war ein wichtiger Beitrag zur Vertrauensbildung in die neuen politischen Verhältnisse. Ähnlich wie in der traditionellen zentralamerikanischen Gesellschaft ist der Buddhismus in Kambodscha die einzige Institution, die die sozialen und politischen Grenzen überschreitet (Morris 2004: 195). Hierauf beruht einerseits die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, gleichzeitig versuchen politische Kräfte aber auch, die buddhistischen Mönche zu funktionalisieren. Die konkreten Möglichkeiten und Grenzen der Kirchen, auf die Befriedung der jeweiligen Gesellschaften Einfluss zu nehmen, hängen anscheinend im Wesentlichen von drei Faktoren ab: 1. Ihrer sozialen Verankerung über die Grenzen zwischen den Konfliktparteien hinaus. Das bedeutet zum einen, dass sie zu beiden oder allen wesentlichen Konfliktparteien vertrauensbasierte Beziehungen haben müssen, um ihren Einfluss geltend machen zu können. Zum anderen dürfen sie selbst nicht Konfliktpartei sein oder sich mit einer der Konfliktparteien identifizieren, d. h. sie müssen ein gewisses Maß an Neutralität haben, was aber nicht eine Beliebigkeit an Werten und Normen für den zwischenmenschlichen Umgang bedeutet. 2. Einem gewissen Maß an Autonomie gegenüber den Konfliktparteien, die den Handlungsspielraum bestimmt, in dem die Kirchen im stark
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polarisierten Kontext von Gewalt und Krieg agieren können. 3. Dem Willen, Verankerung und Autonomie für die Beendigung der Gewalt und die Befriedung der Gesellschaft auch einzusetzen, selbst wenn dies unter Umständen mit Repression oder politischen Kosten verbunden ist. Vergleichende Arbeiten über einzelne Regionen und Religionen hinaus könnten nicht nur Aufschluss über die Möglichkeiten und Grenzen kirchlicher Friedensarbeit geben, sondern auch als Basis für die Entwicklung konkreter Strategien für diese Arbeit dienen. Literatur Botman, H. Russel (2004): Truth and Reconciliation. The South Africa Case. In: Coward/Smith 2004: 243-260. Bulmer Thomas, Victor (31994): The Political Economy of Central America since 1920. Cambridge. Coward, Harold/ Smith, Gordon S. (Hrsg.) (2004): Religion and Peacebuilding. Albany, N. Y. Dunkerley, James (1988): Power in the Isthmus: A Political History of Modern Central America. London. Dunkerley, James (1994): The Pacification of Central America. London: Institute of Latin American Studies. Gantzel, Klaus Jürgen/Schwinghammer, Thorsten (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945-1992. Daten und Tendenzen. Hamburg/Münster. GKKE (1995). Konfliktschlichtung und Friedenskonsolidierung. Dokumentation der Internationalen Fachtagung über Konfliktschlichtung und Friedenskonsolidierung (31. 3.-4. 4. 1995). Erfahrungen aus Mesoamerika, Horn von Afrika und Mosambik. Bonn. Materialien zum Dialogprogramm D 13. Goldblatt, Jozef/Millán, Victor (1984): The Honduras-Nicaragua Conflict and Prospects for Arms Control in Central America. In: SIPRI Yearbook 1984. Kriesberg, Louis (1992): International Conflict Resolution. New Haven. Kurtenbach, Sabine (1987): Friedenssuche in Zentralamerika. Von der Contadora-Initiative über den Arias-Plan zum Abkommen von Guatemala. Lateinamerika Analysen-Daten Dokumentation. Beiheft Nr. 3. Hamburg. Institut für Iberoamerika-Kunde. Kurtenbach, Sabine (1991): Staatliche Organisation und Krieg in Lateinamerika. Ein historischstruktureller Vergleich der Entwicklungen in Kolumbien und Chile. Hamburg, Münster. Kurtenbach, Sabine (2000): Costa Rica – intelligentes Konfliktmanagement als Basis friedlicher Entwicklung. In: Friedenswarte 75/3-4: 371-387. LaFeber, Walter (1984): Inevitable Revolutions. The United States in Central America. New York/ London. Lederach, John Paul (1997): Building Peace. Sustainable Reconciliation in Divided Societies. Washington D.C: United States Institute of Peace. Levine, Daniel H. (Hrsg.) (1986): Religion and Political Conflict in Latin America. Chapel Hill/London. Levine, Daniel H. (1986a): Religion, the Poor, and Politics in Latin America Today. In: ders. 1986: 3-23. Löwy, Michael (1996): The War of Gods. Religion and Politics in Latin America. London/New York. Morris, Catherine (2004): Case Studies in Religion and Peacebuilding: Cambodia. In: Coward/Smith 2004: 191-212.
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Dialog und Dialog, Frieden und Frieden: Zur Ambivalenz von interreligiösem Dialog und Friedensarbeit im Nahen Osten Thomas Scheffler
Dass transnationale Religionsverbände als „indirekte Mächte“ in staatspolitische Belange hineinregieren können, ist spätestens seit Thomas Hobbes (1588-1679) ein klassisches Problem westlicher Staatstheorien. Ebenso bedeutsam ist allerdings auch die (Selbst-) Instrumentalisierung religiöser Akteure für die Politik von Staaten, nationalistischen Bewegungen und ethnischen Gemeinschaften. Gegenstand der folgenden Ausführungen ist das Zusammenspiel zweier Ebenen dieser Problematik im Nahen Osten, nämlich des „interreligiösen Dialogs“ zwischen Christen, Muslimen und Juden sowie den Bemühungen um Frieden im Nahen Osten. Der Nahe Osten ist nicht nur einer der zentralen Krisenherde der Weltpolitik. Er stellt aufgrund seiner Zentralität für die drei monotheistischen Weltreligionen auch ein zentrales Laboratorium für die Schwierigkeiten und Chancen des interreligiösen Dialogs dar. „Dialog“ (hiwar) ist auch im Nahen Osten seit Anfang der 1990er Jahre eine viel benutzte Vokabel des öffentlichen Lebens geworden. Aber es würde zu Missverständnissen führen, Vorstellungen vom interreligiösen Dialog, wie sie in Europa gepflegt werden, unbesehen auf den Nahen Osten zu übertragen. Und noch missverständlicher wäre die Erwartung, dort durch einen interreligiösen Dialog westlichen Zuschnitts zum Frieden beitragen zu können. 1. Frieden und Frieden „Kein Weltfriede ohne Religionsfriede“ lautet eines der suggestivsten Axiome des Küng’schen „Projekt Weltethos“ (Küng/Kuschel 1993). Man wird der Friedensleistung monotheistischer Religionen allerdings nur dann gerecht, wenn man sie nicht an überzogenen Maßstäben misst. Der Wolf werde beim Lamm wohnen, Kuh und Bärin sich anfreunden, der Löwe Stroh fressen wie das Rind, der Säugling vor dem Schlupfloch der Natter spielen – diese Prophezeiung des bibli-
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schen Buchs Jesaja (11: 6-8) gehört zum Grundbestand jener Bibelzitate, die von Friedensbewegungen verschiedenster Ausrichtung immer wieder dazu benutzt werden, ihre Anhänger mit messianischem Schwung zu versehen. So veröffentlichte z. B. einer der Islamberater Papst Benedikts XVI, der arabische Jesuitenpater Samir Khalil Samir (*1938) nach dem israelisch-libanesischen 33-Tage Krieg des Sommers 2006 einen Zehnpunkteplan für Frieden im Nahen Osten, in dem er die genannte Jesaja-Passage im Wortlaut zitierte, um dann fortzufahren: „Dieses Utopia, dieses Land Nirgendwo, könnte es tatsächlich hier und jetzt geben, wenn Palästinenser und Israelis, Libanesen und Syrer, Juden und Muslime glauben, dass die unmögliche Vision möglich ist. (…) Das ‚Gelobte Land‘ wird nicht vom Himmel fallen, sondern mit den Armen und Herzen derer aufgebaut werden, die Frieden suchen und bauen. Entweder existiert das ‚Himmlische Jerusalem‘ der Apokalypse auf dieser Erde oder es existiert nicht“ (Samir 2006).
Allerdings zeigt schon die paradoxe, allen Wahrscheinlichkeiten der „natürlichen“ Ordnung zuwiderlaufende Metaphorik der zitierten Jesaja-Passage, dass ein derart paradiesischer Friedenszustand nach Meinung des Propheten nur durch Gott bzw. einen von Ihm gesandten Retter bewirkt werden kann, aber nicht durch normale Menschen. Ein ums andre mal verdeutlich die Schöpfungsgeschichte des biblischen Buches Genesis, dass Mangel, Zwietracht, Ungerechtigkeit, Mord und Verbrechen Teil der natürlichen Existenzweise des Menschen nach dem Sündenfall seien. Jesaja selbst stellt denn auch fest, dass das Reich, in dem die Völker ihre „Schwerter zu Pflugscharen“ schmieden (2: 4), erst „am Ende der Tage“ zu erwarten sei (Jesaja 2: 2). Der Prophet artikuliert, mit anderen Worten, eine eschatologische Hoffnung, die erst vor dem Hintergrund der resignierten Einsicht Gewicht erlangt, dass Menschen aus eigener Kraft in dieser Welt keinen wirklichen Frieden bewerkstelligen können. Darüber hinaus ist das Verhältnis von Religion und Frieden weit weniger eindeutig als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Nicht Friede, sondern „Erlösung von dem Übel“ ist das letzte Ziel der monotheistischen Religionen – und dies schließt den Kampf gegen das „Böse“ ein, solange es besteht und was immer darunter im Einzelnen verstanden wird. Da das „Böse“, die „Sünde“ bzw. die „Schwäche“ und begrenzte Einsicht („Unwissenheit“) des Menschen aber tief in seiner weltlichen Existenz verwurzelt sind, müssen mindestens zwei Arten von Frieden grundsätzlich unterschieden werden: Die erste ist der erhoffte Friede Gottes: Er beinhaltet die vollständige Auslöschung des Bösen in dieser Welt und kann daher nur durch direkte Intervention Gottes in die menschliche Geschichte erreicht werden. Die zweite ist der irdische Friede des Menschen: Bei ihm geht es im Wesentlichen darum, „kleinere Übel“ gegen größere Übel abzuwägen. Der irdische Frieden wird von Menschen gemacht und muss daher auf Mittel zurückgreifen, die nicht eindeutig gut sein
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können, u. a. auf Gewalt und moralisch fragwürdige Kompromisse mit den herrschenden Mächten. Der Friede Gottes ist vollkommen, der des Menschen unvollkommen. Der Gottesfriede ist dauerhaft, der Menschenfrieden kaum mehr als ein längerer Waffenstillstand. Der Gottesfriede umfasst die Welt, der Menschenfriede ist territorial begrenzt. Der Friede Gottes verwandelt Konflikt in Harmonie, der des Menschen bereitet nur neue Konflikte vor. Mehr noch: Dort, wo der Menschenfrieden, strikt pazifistisch, primär durch Gewaltverzicht definiert wird, entspricht er nicht einmal den Interessen aller Menschen. Denn unter den Bedingungen einer zutiefst ungleichen Weltordnung sichert ein universeller Verzicht auf Gewalt vor allem die Interessen derer, die sich friedlich der Vorteile des Status quo, so wie er ist, erfreuen wollen, d. h. der kriegsmüden Teile der Reichen und Mächtigen. Für jene hingegen, die unter Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung leiden, stellt ein solcher „Frieden“ kaum mehr als eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln dar. Es dürfte kaum Zufall sein, dass die meisten religiösen Initiativen für weltweiten Frieden derzeit der westlichen Welt entstammen, also jenem Teil der Welt, der am meisten von der gegenwärtigen Weltordnung profitiert (Schwager 2002), während in der muslimischen Welt der Ruf nach Gerechtigkeit weit lauter ist als der nach Frieden. 2. Dialog und Dialog Auch die Erwartung, durch interreligiösen Dialog dem Frieden näher zu kommen, kann trügen. Robert Spaemann hat darauf hingewiesen, dass zum Beispiel dem Dreißigjährigen Krieg „endlose Religionsdialoge“ vorausgingen, ohne dass damit eine friedliche Koexistenz von Katholizismus und Protestantismus bewirkt worden wäre (Spaemann 1996: 897). Der „Dialog“ im sokratisch-platonischen Sinn ist zwar im Prinzip gewaltlos, aber nichtsdestotrotz eine Form des Kampfes um intellektuelle Superiorität, in dem es darum geht, Schwachstellen im Diskurs des Gegners offenzulegen und Schwachstellen im eigenen Argumentationsrepertoire schnellstmöglich zu schließen. Weit entfernt, die Konsensbildung zu fördern, können solche Auseinandersetzungen zur Entdeckung neuer, vorher noch unbekannter Streitthemen führen und zum anderen die Verhärtung der geistigen Fronten fördern, indem die zuvor flüssigen Grenzen zwischen den lernenden Kampfparteien im Verlauf der Kontroverse „wasserdichter“ gemacht und gegen „synkretistische“ Aufweichungsversuche befestigt werden. Ob und in welchem Sinn Religionsdialoge „erfolgreich“ zum „Frieden“ beitragen, lässt sich nur vor dem Hintergrund der Absichten und Erwartungen bewerten, die mit ihnen verbunden werden. Gerade hier existieren jedoch erhebli-
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che Unterschiede zwischen den Gesellschaften Westeuropas und denen des Nahen Ostens: In Westeuropa dominiert ein intuitives Vorverständnis für interreligiösen Dialog, das durch den Streit zwischen Protestantismus und Katholizismus vorgeprägt ist. Gemessen an den Religionsspaltungen im Vorderen Orient ist dieser Streit relativ „jung“ und muss zudem vor dem Hintergrund von fast 1500 Jahre vorreformatorischer Kircheneinheit in Westeuropa gesehen werden. Trotz der Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts und den daraus folgenden Auseinandersetzungen hat sich bei den Kontrahenten ein Bewusstsein der einen, übergreifenden Kirche bewahrt. Religiöse Verschiedenheit wird vor diesem Hintergrund als zu überwindende Anomalität empfunden – und entsprechend kreist der interreligiöse Dialog um die Überwindung theologischer Differenzen, die Möglichkeit gemeinsamer liturgischer Rituale und die Herstellung eines neuen „großen Konsenses“. Unterstützt von einer säkularistisch-kirchenkritischen Grundstimmung in weiten Teilen der Öffentlichkeit hat sich daraus inzwischen eine Kultur des interbzw. transreligiösen Gesprächs entwickelt, in dem theologische Tabus kaum noch respektiert und mit größter Selbstverständlichkeit zur öffentlichen Diskussion gestellt werden können. Kaum zufällig sind es in Deutschland vor allem individuelle Autoritäten wie Hans Küng oder Eugen Drewermann, die in diesen Fragen den Ton angeben – Außenseiter, die zwar ‚ihre‘ Kirche nicht repräsentieren, aber durch Veröffentlichungen und Fernsehauftritte großen intellektuellen Einfluss auf deren Anhänger ausüben. Im Nahen Osten hingegen existiert ein Vorverständnis für interreligiösen Dialog, das durch die weit ältere und theologisch tiefere Konfrontation von drei monotheistischen Religionsfamilien – Judentum, Christentum und Islam – geprägt ist und sich darüber hinaus durch eine engere Verbindung von Religion und Ethnizität auszeichnet. Das historische und theologische Grundmodell dieser ethno-religiösen Verknüpfung ist die einflussreiche, in der Hebräischen Bibel vorformulierte Idee vom auserwählten „Volk Gottes“. Aber nicht nur im Judentum, auch in den christlichen Kirchen des Orients sind nationalkirchliche Tendenzen bis heute stark geblieben (Aucagne 1997): Die armenische, koptische, westsyrische (jakobitische), ostsyrische (assyrische) und maronitische Kirche sind zwar jeweils aus theologisch-christologischen Kontroversen mit universalem Anspruch hervorgegangen, haben sich aber durch ihre Beschränkung auf bestimmte Gebiete und Völker de facto zu ethnischen Kirchen entwickelt. Im Islam wiederum hat die Tatsache, dass der Koran in arabischer Sprache einem Araber offenbart wurde, einen besonders engen Zusammenhang zwischen Religion und Arabismus gestiftet. Doch auch verschiedene kleinere Religionsgemeinschaften innerhalb des Islam wie die Drusen, die Nusairier (Alawiten) oder die Ahl-e Haqq haben sich durch räumliche Konzentration und religiös motivier-
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te Binnenheirat im Laufe der Jahrhunderte de facto in ethnische Gemeinschaften verwandelt. Der interreligiöse Dialog ist im Nahen Osten daher in hohem Maße ein interkommunaler – und da theologische Differenzen in diesem Kontext Teil der kollektiven ethnischen Identität sind, können sie auch nicht leicht zur Disposition gestellt werden. Theologische Kontroversen innerhalb der eigenen Gemeinschaft werden folglich eher entmutigt. Geistliche und Intellektuelle, die sich trotzdem darauf einlassen, laufen Gefahr, nicht nur als Häretiker, sondern auch als Sachwalter gegnerischer Gemeinschaften ausgegrenzt zu werden. Vor diesem Hintergrund kann es beim interreligiösen „Dialog“ nicht darum gehen, theologische Unterschiede einzuebnen, sondern ungeachtet der vorhandenen theologischen und liturgischen Differenzen in praktischen, z. B. sozialen und politischen Fragen zusammenzuarbeiten. „Dialog“ bedeutet unter diesen Umständen kein intellektuelles Ringen um letzte ‚Wahrheiten‘, sondern eine Demonstration der Versöhnung und Kooperationsfähigkeit im Hier und Jetzt. Es handelt sich um einen Weg, öffentlich zu demonstrieren, dass verschiedene Glaubensgemeinschaften, ungeachtet aller theologischen Unterschiede, in einund demselben Lande koexistieren und sogar eine gemeinsame ‚nationale Sache‘ unterstützen können. Der interreligiöse Dialog ist, mit anderen Worten, primär ein öffentliches Ritual zur Stabilisierung eines kulturellen Mosaiks und insofern eher auf der oben angesprochenen Ebene des irdischen Menschenfriedens angesiedelt. Das Ansprechen heikler theologischer Differenzpunkte kann in diesem Kontext eher kontraproduktiv, nämlich als politischer Angriff auf eine andere Konfessionsnation, wirken. Die demonstrative Zurschaustellung der eigenen kollektiven Besonderheiten hingegen – ausgedrückt etwa im unterschiedlichen Ornat der jeweiligen Geistlichen – wird nicht als hinderlich gesehen. Sie dient vielmehr dem Nachweis, dass man – im vollen Wissen um die gegenseitigen Unterschiede – bereit ist, miteinander zusammenzuarbeiten. Entsprechend werden religiöse Führer in der Öffentlichkeit nicht nur als Führer einer Kirche wahrgenommen, sondern auch als Führer einer weltlichen Gemeinschaft. Das bedeutet, dass sie Konflikte mit Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft oder der Regierung ihres Landes riskieren, wenn sie diesem weltlichen Erwartungsdruck nicht nachkommen. Im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) gerieten z. B. gemäßigte christliche Geistliche unter Druck aus ihren sich zunehmend radikalisierenden Gemeinden: Der griechisch-katholische Bischof Grégoire Haddad, ein Exponent des christlich-muslimischen und christlich-marxistischen Dialogs, wurde schon im August 1975 gezwungen, seine Diözese abzugeben (Kuderna 1983: 70). Mehrere muslimische Würdenträger, die sich bei einigen Sponsoren des Bürgerkriegs
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unbeliebt gemacht hatten, wurden ermordet, unter ihnen der schiitische Imam Musa al-Sadr, der 1978 spurlos in Libyen verschwand und der sunnitische Mufti der Republik, Hasan Khaled, der 1989 einem Bombenanschlag zum Opfer fiel. Und als der maronitische Patriarch, Mar Nasrallah Butrus Sfeir, 1989 öffentlich das Taef-Abkommen unterstützte, wurde sein Amtssitz in Bkirki von Anhängern des maronitischen Generals Michel Aoun verwüstet, die den Patriarchen vor die Demonstranten zerrten und öffentlich demütigten, indem sie ihn zwangen, ein Bild des Generals zu küssen und in die bereit gehaltenen Megaphone ein Bekenntnis zu Aoun zu sprechen (Alamuddin 1993: 245-246; Scheffler 1999: 172173). In Ägypten ließ Präsident Sadat im September 1981 acht Bischöfe und 24 Priester der koptischen Kirche verhaften und verbannte das Oberhaupt der Kirche, Papst Shenuda III, in ein abgelegenes Kloster, aus dem er erst am 2. Januar 1985, gut drei Jahre nach der Ermordung Sadats, zurückkehren durfte. Wesentlich härter war der Druck auf einflussreiche Geistliche im Irak. Saddam Hussein ließ im April 1980 einen der führenden Vordenker der irakischen Schia, Muhammad Baqir al-Sadr, hinrichten und stellte nach den Schiitenunruhen von 1991 selbst den quietistischen Großayatollah Abu al-Qasim al-Musawi al-Khoi bis zu dessen Tod unter Hausarrest. Nach der amerikanischen Invasion Iraks im Frühjahr 2003 wuchs der Druck auf gemäßigte Schiitenführer: Khois Sohn, Abd al-Majid al-Khoi, wurde am 10. April 2003 im Mausoleum Imam Alis in Najaf erstochen; der Führer des „Hohen Rats der islamischen Revolution im Irak“, Ayatollah Muhammad Baqir al-Hakim, der ein Ende der US-Besatzung mit friedlichen Mitteln angestrebt hatte, fiel nach dem Freitagsgebet am 29. August 2003 einer Autobombe zum Opfer. Großayatollah Khois Nachfolger, Ali Husayn al-Sistani, überlebte mehrere Attentate und kündigte unter dem Druck seines militanten Rivalen Muqtada al-Sadr Anfang September 2006 schließlich an, er werde sich künftig politischer Äußerungen enthalten und sich ganz auf seine spirituellen Aufgaben konzentrieren (Moubayed 2006; Khalaji 2006). Es ist kaum verwunderlich, dass eine Atmosphäre derartigen politischen Drucks auf religiöse Würdenträger auch auf den interreligiösen Dialog durchschlagen kann. Ein prominentes Beispiel ist die Geschichte der Erklärung Nostra Aetate des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965). Diese Erklärung „Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ gilt heute als Meilenstein des interreligiösen Dialogs. Ursprünglich war sie allerdings nur als Erklärung zum Verhältnis von Christen und Juden gedacht gewesen, die die früheren Lehrmeinungen der Kirche zum Judentum revidieren sollte, nicht zuletzt den alten Vorwurf, die Juden seien des „Gottesmords“ schuldig. Die damaligen arabischen Regierungen befürchteten, dass eine pro-jüdische Erklärung des Konzils den Staat Israel aufwerten könne. Die orientalischen christlichen Kirchen, die
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ihrerseits negative Rückwirkungen eines solchen Dokuments auf die Lage der Christen in der muslimischen Welt befürchteten, machten entsprechend massiv gegen die ersten Entwürfe der Erklärung Front. Ergebnis der Kontroverse war ein Kompromiss: Das Dokument, das Papst Paul VI schließlich am 28. Oktober 1965 verkündete, behandelte auch das Verhältnis der Kirche zum Hinduismus, Buddhismus und Islam, ging auf das Judentum erst im vierten Kapitel ein und vermied es, den Zionismus und den Staat Israel zu erwähnen (vgl. Irani 1986: 13-18; Koltermann 2001: 96-144). Umgekehrt ging der interreligiöse Dialog besonders dort gut voran, wo sich auch muslimische Regierungen oder führende muslimische Politiker, aus welchen Interessen auch immer, dafür interessierten: Beim ersten IslamischChristlichen Kongress von Cordoba (10.-15. September 1974) spielte der damalige ägyptische Vizepräsident und Minister für religiöse Angelegenheiten, Dr. Abd al-Aziz Kamil, eine beherrschende Rolle (Epalza 1974: 108). Das erste muslimisch-christliche Dialogtreffen, das direkt von einem Staat und einer Kirche, nämlich Libyen und dem Heiligen Stuhl, organisiert worden war, fand hingegen vom 1.-6. Februar 1976 in Tripoli statt (Dupré la Tour/Nashabé 1997: 121-36) und wurde von Libyen dazu benutzt, den Vatikan öffentlich als Parteigänger der arabischen Seite im Palästinakonflikt erscheinen zu lassen (Patry 1981). Dass die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 4. November 1998 das Jahr 2001 zum Jahr des Dialogs zwischen den Zivilisationen ausrief, geht auf eine Initiative der damaligen iranischen Reformregierung unter Sayyid Muhammad Khatami zurück, die damit die diplomatische Isolation Irans in der westlichen Welt durchbrechen wollte. Und in auffälliger zeitlicher Nähe zu den Bemühungen Muammar al-Gaddafis um Normalisierung der Beziehungen Libyens zur westlichen Welt veranstaltete der von Libyen kontrollierte Weltrat der Islamischen Missionsgemeinschaft (al-majlis al-‘alami lil-da‘wah al-islamiyyah) vom 20.-23. September 2003 in Tripoli einen internationalen Kongress, der sich unter dem koranischen Motto „li-ta‘arafu“ (arabisch: „damit ihr einander kennen lernt“, Koran 49: 13) der Herausarbeitung der koranischen Grundlagen des interreligiösen Dialogs widmete. Starke Abhängigkeiten des Dialogs von weltlichen politischen Instanzen traten auch im Januar 2002 zutage, als siebzehn jüdische, muslimische und christliche Würdenträger unter Schirmherrschaft des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury, Dr. George Carey, und des Scheichs der Kairoer Azhar-Universität, Sayyid Muhammad al-Tantawi, in Alexandria eine gemeinsame Siebenpunkteerklärung zum Frieden im Heiligen Land verabschiedeten: Die palästinensischen Geistlichen hatten den Text zunächst dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde und PLO-Vorsitzenden Yasser Arafat zur Zustimmung übermittelt, bevor sie ihn selber unterzeichneten – und vor Ort saßen auf beiden
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Seiten Regierungsvertreter mit am Tisch: auf jüdischer Seite der stellvertretende Außenminister, Rabbi David Melchior, auf palästinensischer Seite Staatsminister Scheich Tal El Sider (Keinon 2002). Nirgendwo kommt die Identifikation der Orientkirchen mit ihren lokalen Gemeinschaften und ihrem politischen Umfeld allerdings so deutlich zum Ausdruck wie in ihrem Verhältnis zur Gewalt. Als das Zentralkomitee des Ökumenischen Kirchenrats am 29. Januar 2001 in Potsdam seine „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ einläutete, setzte der armenisch-orthodoxe Katholikos von Kilikien, Aram I, so manchen pazifistischen Kirchenvertreter in Erstaunen, als er in seiner Eröffnungsrede mit Blick auf die Palästinafrage bemerkte, Gewalt sei zwar „böse“, bleibe aber für manche, die unter Ungerechtigkeit und Unterdrückung litten und alle Möglichkeiten gewaltloser Aktion ausgeschöpft hätten, „eine unvermeidliche Alternative, ein letztes Mittel“ (World Council of Churches 2001). Selbst eine so zentrale Figur des interreligiösen Dialogs im Libanon wie der griechisch-orthodoxe Metropolit Georges Khodr (*1923) würdigte die kommunistische Heroine Suha Bishara, die 1988 als junges Mädchen versucht hatte, den (christlichen) Kommandeur der pro-israelischen „Südlibanesischen Befreiungsarmee“, Antoine Lahd, zu erschießen, nachträglich mit den Worten, er, Khodr, sei gewiss, „dass Suha Bishara, als sie die Kugel auf Lahd abfeuerte, lebende Liebe war. (…) Sie wollte uns alle vom Verrat reinigen“ (al-Nahar, 10. Juni 2000, zit. nach Sabra 2006: 47f.). Auch die Erklärung von Alexandria vom 21. Januar 2002 verdammte als Minimalkonsens der drei monotheistischen Religionen lediglich die Tötung „Unschuldiger“ – eine dehnbare Kategorie, die nicht einmal alle Zivilisten schützte, denn nach Vorstellung radikaler islamischer Geistlicher sind israelische Zivilisten keineswegs „unschuldig“, sondern an der gewaltsamen Landnahme muslimischen Bodens beteiligt (Alexandria Declaration 2002). Manche Geistliche haben es in der Gewaltfrage überdies nicht nur bei Worten belassen. So wurde der Griechisch-Katholische Erzbischof von Jerusalem, Hilarion Capucci, in Israel am 9. Dezember 1974 wegen Waffenschmuggel für die PLO zu zwölf Jahren Haft verurteilt (Irani 1986: 50-54). Im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) unterstützte der Maronitische Mönchsorden die christlichen Milizen, und der Obere des Ordens, Pater Charbel Kassis, nahm – gemeinsam mit militanten christlichen Politikern wie Pierre Gemayel, Camille Chamoun und Suleiman Frangieh – Sitz in der Führung der 1976 gegründeten „Libanesischen Front“ (Kuderna 1983: 96-97, 149-152).
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3. Interreligiöser Dialog und internationale Politik Zu den besonderen Schwierigkeiten des Religionsdialogs im Nahen Osten zählt das Problem, dass in dieser Region Transzendenz und Territorialpolitik ungewöhnlich eng miteinander verzahnt sind: Der Nahe Osten ist, erstens, nicht nur die historische Wiege der drei monotheistischen Weltreligionen, sondern auch der zentrale Ort ihrer identitätsstiftenden Gedächtnislandschaften. Hier befinden sich die heiligsten Stätten der drei Religionsfamilien, Orte der Erinnerung, geistigen Orientierung und Pilgerschaft. Der Nahe Osten ist, zweitens, Ort göttlicher Zukunftsverheißungen, die sowohl die konkrete Landverteilung, als auch die Endzeit der gesamten Menschheit betreffen. Und er ist, drittens, Wohnstätte der dort lebenden Religionsgemeinschaften. Über viele Jahrhunderte ging es im Verhältnis dieser Religionsgemeinschaften nicht um Dialog, sondern um Supremat oder Autonomie. Dort, wo die Asymmetrien der lokalen Kräfteverhältnisse es zuließen, war man bestrebt, den Supremat der eigenen Religion durchzusetzen oder, wo dies nicht möglich war, sich so weit wie möglich, bis hin zur Autonomie oder Eigenstaatlichkeit, von der Mehrheitsbevölkerung abzuschotten. Heute ist auch im Nahen Osten viel von „Dialog“ (hiwar) die Rede. Auf den ersten Blick scheint dies zumindest auf theologischer und politischer Ebene ein Fortschritt zu sein, weil das Wort eine gewisse Gleichberechtigung, vielleicht sogar eine gewisse Verständigungsbereitschaft zwischen den Gesprächspartnern impliziert. Auf der Ebene des realen Lebens spiegelt der Aufstieg der Vokabel „Dialog“ allerdings auch die Tatsache wider, dass das Zusammenleben von Menschen verschiedener Religion heute weniger problemlos und selbstverständlich ist als vor fünfzig Jahren. Das Wort „Dialog“ verweist stets auf einen „Anderen“, ein „Nicht-Ich“ oder „Nicht-Wir“. Im Nahen Osten verdeutlicht der Aufstieg des Worts „Dialog“ seit den 1970er und 1980er Jahren vor allem die Gräben, die zwischen den Bewohnern der Region aufgebrochen sind, seit der säkularistische Nationalismus allmählich dem militanten Islamismus Platz zu machen begann. Global hat der interreligiöse Dialog im 20. Jahrhundert seine zentralen Impulse vor allem von weltweit tätigen Akteuren empfangen: anfangs von kleineren Netzwerken engagierter Laien und Theologen wie dem Parliament of the World’s Religions, dem World Congress of Faiths, oder der World Conference of Religions for Peace (Braybrooke 1992), später dem Weltkirchenrat (Sperber 2000) oder – nach dem II. Vatikanischen Konzil – der Römisch-Katholischen Kirche (Troll 2000; Fitzgerald/Borelli 2006). Die positive Bedeutung solcher Anstöße zur Ermutigung dialogwilliger lokaler Minderheiten, zum Abbau von gegenseitigen Berührungsängsten und zur
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weltweiten Entwicklung dialogbezogenen Fachwissens ist nicht zu bestreiten. In den Gesellschaften des Nahen Ostens sind allzu offensichtliche internationale Impulse allerdings ein zweischneidiges Schwert, weil sie unter Umständen auch als unwillkommene ausländische Einmischung gedeutet werden können. Vor allem im 18. und 19. Jahrhundert haben europäische Mächte, drapiert als Schutzmächte christlicher und jüdischer Minderheiten im Nahen Osten, religiöse Interessen zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches genutzt. Deklarationen über die apolitische und rein spirituelle bzw. humanitäre Mission des Christentums treffen daher im Nahen Osten auf tiefes Misstrauen. Religiöse Initiativen, die verdächtigt werden, Transmissionsriemen westlicher Politik zu sein, laufen Gefahr, zu scheitern. Ein gutes Beispiel für diese Problematik ist die „First Muslim-Christian Convocation“, die vom 22.-27. April 1954 in Bhamdoun, Libanon, stattfand und in der Forschung bisweilen als Beginn des organisierten christlich-muslimischen Dialogs dargestellt wird (Haddad 1997; Dupré la Tour/Nashabé 1997). Protokoll und Besucherliste der Tagung zeigen, dass das Projekt keineswegs organisch aus interreligiösen Gesprächen vor Ort hervorgegangen war. Nach Angaben eines der Veranstalter, Dr. Garland Evans Hopkins, eines methodistischen Kirchenmannes und Vizepräsidenten der American Friends of the Middle East, war die Idee dazu Anfang 1952 während eines Gesprächs mit dem König von Libyen, eines engen Verbündeten der Briten und Amerikaner, entstanden (Convocation 1955: 29-30). Kaum überraschend geriet die „Convocation“ vor Ort in Verdacht, anglo-amerikanischen Interessen zu dienen. Kein einziger prominenter Geistlicher des Libanon nahm an der Konferenz teil – und nach der Suezkrise von 1956 schlief das Vorhaben ein (Haddad 1997: 32). Interreligiöse Dialogarbeit ist im Nahen Osten vor allem dort erfolgreich gewesen, wo es gelang, primär ihre lokalen, nationalen oder regionalen Dimensionen zu akzentuieren. So wurde z. B. im Libanon 1993 das Nationale Christlich-Muslimische Dialog-Komitee (al-lajnah al-wataniyyah al-islamiyyah almasihiyyah li-l-hiwar) gebildet. In ihm sind die geistlichen Führer der sieben wichtigsten Religionsgemeinschaften des Landes mit je einem Delegierten vertreten: auf christlicher Seite die der Maroniten, Griechisch-Orthodoxen, Griechisch-Katholiken und Armenisch-Orthodoxen, auf muslimischer Seite die der Sunniten, Schiiten und Drusen. Der Vorsitz wird von je einem maronitischen und einem sunnitischen Delegierten gleichberechtigt ausgeübt. Das Komitee gibt Erklärungen zu vielen Fragen des öffentlichen Lebens ab und scheint in vielem die Aktivitäten des projektierten „Senats“ (majlis li-l-shuyukh) vorwegzunehmen, der gemäß Artikel 22 der revidierten libanesischen Verfassung vom 21. September 1990 dereinst „alle spirituellen Familien“ des Landes repräsentieren soll, sobald die religiöse Quotenbildung im Parlament einmal wegfällt.
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In Jordanien wurde 1994 unter Schirmherrschaft des damaligen Kronprinzen, al-Hasan bin Talal, das Royal Institute for Interfaith Studies (al-ma‘had al-maliki li-l-dirasat al-diniyyah) gegründet. Der Zeitpunkt der Gründung nach der Madrider Konferenz von 1991 und dem Osloabkommen von 1993 deutet darauf hin, dass das Institut dazu beitragen sollte, Jordanien und das Herrscherhaus der Haschemiten im anlaufenden arabisch-israelischen Friedensprozess auch als Angelpunkt des spirituellen Gesprächs zwischen Muslimen, Christen und Juden zu profilieren. Als Abkömmlinge des Propheten und frühere Wächter der heiligen Stätten von Mekka und Medina könnten die Haschemiten in diesem Bereich sogar latente religiöse Autorität beanspruchen. Als Gründungsdirektor des Instituts wurde ein arabischer Protestant eingesetzt, der angesehene libanesische Historiker Kamal Salibi (Direktor bis 2003), der seit 1985 mit einer Reihe kontroverser Bücher hervorgetreten war, die den Ursprung des Christentums, ja, der Bibel, in den Hijaz und ‘Asir verlagerten, d. h. in Gebiete im Westen der Arabischen Halbinsel, die jahrhundertelang der Oberhoheit der haschemitischen Scherifen von Mekka unterstanden hatten (Salibi 1985, 1988, 1998). Auch auf regionaler Ebene haben die Kirchen des Orients inzwischen eigene Konsultations- und Kooperationsstrukturen entwickelt. Schon 1974 war der Mittelöstliche Kirchenrat (MECC, Middle East Council of Churches, Majlis kana’is al-sharq al-awsat) gegründet worden, dem anfangs nur die orthodoxen, protestantischen und anglikanischen Kirchen der Region angehörten. Auf katholischer Seite wurde 1990 der gemeinsame Kanon der katholischen Kirchen des Orients, der Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, verabschiedet, und im gleichen Jahr traten die sieben katholischen Kirchen des Orients ebenfalls dem Mittelöstlichen Kirchenrat bei. 1991 folgte die Gründung des Rats der katholischen Patriarchen des Orients und 1999 tagte der erste Kongress der katholischen Patriarchen und Bischöfe des Orients. In der lokalen Presse finden solche Gipfeltreffen regelmäßig große Aufmerksamkeit und so ist es kein Wunder, dass seit 1998 auch die Patriarchen der orthodoxen orientalischen Kirchen (Kopten, Armenier, Assyrer) dazu übergegangen sind, eigene Gipfeltreffen durchzuführen. In ihren öffentlichen Stellungnahmen sind die christlichen Kirchenführer im Nahen Osten in den letzten Jahrzehnten zumeist als Kräfte der politischen Mäßigung und des Ausgleichs aufgetreten und um Einklang mit den lokalen Regierungen bemüht. Als Vertreter kleiner, großenteils schrumpfender Minderheiten sind sie gut beraten, so zu handeln. Im Falle einer substantiellen Verschlechterung des Verhältnisses von Christen und Muslimen wären sie wohl die Hauptverlierer. Im Unterschied zu den nationalchristlichen Unabhängigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts auf dem Balkan sind entsprechende Bewegungen in Vorderasien nie dauerhaft erfolgreich gewesen. Unvergessen sind die, von der internationalen Völkergemeinschaft ungeahndeten Massaker an den Armeniern in
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Kleinasien (1895-1896, 1915-1916) und den Assyrern im Irak (1933) sowie der geringe internationale Rückhalt für die Miliz der Forces Libanaises im libanesischen Bürgerkrieg von 1975-1990. Die hohen Wachstumsraten der christlichen Bevölkerung, die die nationalchristlichen Unabhängigkeitsbestrebungen im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts demographisch stützten, sind heute nicht mehr gegeben (Courbage/Fargues 1997: 61-90). Niedrige Geburten- und hohe Emigrationsraten der Christen sowie die nachholende demographische Revolution in der muslimischen Bevölkerung haben den Anteil der Christen an der Bevölkerung des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert immer weiter zurückgehen lassen. Nur in wenigen Fällen, etwa in einigen Gebieten des Libanon und im Südsudan, ist die räumliche Siedlungsdichte christlicher Minderheiten heute noch so kompakt, dass eine territoriale Autonomie theoretisch denkbar wäre. Wie die Bürgerkriege im Libanon und im Sudan zeigen, wäre der Preis dafür allerdings extrem hoch. Solange die religiösen Freiheiten der Minderheiten nicht beschnitten und ihre Mitglieder auch in weltlichen Belangen nicht allzu krass benachteiligt werden, dürften ihre religiösen Führer im Zweifelsfall dazu neigen, den Ausgleich mit der muslimischen Mehrheitsbevölkerung zu suchen und bei jeder passenden Gelegenheit ihre Loyalität zur Regierung und zur Einheit der Nation zu betonen. 4. Feindwechsel – die nächste Chance des Dialogs? Es bleibt abzuwarten, ob diese Versuche, den interreligiösen Dialog in lokale Kontexte einzubetten, dem Druck der internationalen Krisenprozesse der Gegenwart standhalten können: Mit dem Zusammenbruch des atheistischen Kommunismus in den 1990er Jahren haben die Weltreligionen ihr wichtigstes integrierendes Feindbild verloren – und dies in einer Zeit, in der Bevölkerungswachstum, Armut und Unterdrückung in den Ländern des globalen „Südens“ den Aufstieg radikalerer und konservativerer Varianten des Islams und des Christentums fördern (Jenkins 2002). Im Nahen Osten untergraben der Niedergang des säkularistischen arabischen Nationalismus und der Aufstieg des radikalen Islamismus die innergesellschaftliche Akzeptanz muslimisch-christlicher Gleichheit. Der Optimismus der 1990er Jahre, als die Oslo Abkommen von 1993 auf ein baldiges Ende des Arabisch-Israelischen Konflikts hoffen ließen, ist verflogen. Die palästinensische Nationalbewegung, einst ein Aushängeschild anti-kolonialer muslimisch-christlicher Zusammenarbeit, wurde durch den Aufstieg der Hamas zunehmend islamisiert. Der Schock des 11. September 2001, die Invasion Afghanistans (2001), die Besetzung Iraks (2003), Menschenrechtsverletzungen im Kielwasser des amerikanischen „war on terror“ sowie die Schwierigkeiten der
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Gesellschaften des Westens, in Zeiten wirtschaftlicher Rezession Millionen muslimischer Einwanderer nachhaltig zu integrieren, vertiefen die globalen Verwerfungslinien zwischen Christen, Juden und Muslimen. Unter friedenspolitischen Gesichtspunkten kann daher nicht genug betont werden, wie wichtig es war, dass sich die meisten christlichen Kirchen und vor allem der weltweit sichtbarste religiöse Führer der Christenheit, der Papst der Römisch-Katholischen Kirche, 2003 deutlich gegen die anglo-amerikanische Militärinvasion im Irak aussprachen (Johnstone 2003). Den Krieg haben diese Initiativen nicht verhindern können. Aber sie haben dem Eindruck entgegengewirkt, das Christentum sei der verlängerte Arm oder gar die treibende Kraft hinter der amerikanischen Politik. Und sie haben mit der moralischen Gegenüberstellung von „Empire“ und „Kirche“ die Kluft unterstrichen, die den Monotheismus von den irdischen Mächten und ihren weltimmanenten Kriegskalkülen trennt. Ob dies ausreicht, kommenden Krisen im Verhältnis von Christen und Muslimen vorzubeugen, steht dahin. Die heftigen Reaktionen, mit denen in der muslimischen Welt Papst Benedikts XVI. Regensburger Rede vom 12. September 2006 beantwortet wurde, zeigt, dass dort die Erinnerung an die friedenspolitischen Stellungnahmen des Vatikan schon nach kurzem verblasst ist, während die Bereitschaft, Christen Kreuzzugsmentalität zu unterstellen, nahezu reflexartig abrufbar bleibt. Der interreligiöse Dialog scheint schweren Zeiten entgegenzugehen. Ist seine Hochkonjunktur zu Ende? Konservative in allen religiösen Lagern mögen das hoffen, aber es ist schwer, sich vorzustellen, dass die Probleme des Nahen Ostens (oder irgend einer anderen Region dieser Welt) durch eine Politik des NichtDialogs und des gewaltsamen Unilateralismus gelöst werden können. Und möglicherweise dämmern am Horizont auch schon zwei neue integrierende Feindbilder herauf, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Atheismus das Auseinandertreiben der Weltreligionen aufhalten könnten: Zum einen zeigt die Leichtigkeit, mit der Usama bin Ladin „Fatwas“ unterschreiben oder George W. Bush im Namen „Gottes“ amerikanische Außenpolitik machen konnte, dass sowohl im Islam als auch im Christentum die Deutungshoheit des etablierten Klerus in Fragen der Religion durch den Aufstieg gewaltorientierter Laien gefährdet ist. Und zum anderen dürfte sich der globale Kapitalismus mit seiner Erosion spiritueller Werte langfristig als ein weit größerer Feind monotheistischer Religiosität entpuppen als die politische Heilsreligion des Kommunismus es je war. 1952, in der heißesten Phase des Kalten Kriegs, wies der libanesische Philosoph und Diplomat Charles Malik (1906-1987) darauf hin, dass der obsessive Blick des Westens auf die kommunistische Gefahr ihn vergessen lasse, dass der Kommunismus nur ein vorübergehender Ausdruck einer weit
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tieferen Krise sei, die auch den Westen selbst erfasst habe und in ihm fortbestehen werde, auch wenn der Kommunismus längst vergangen sei: Dies sei der Verlust der Dimension der Transzendenz, ein Verlust, von dem sich der Westen nur dann erholen könne, wenn er sich auf das spirituelle Erbe des Nahen Ostens zurückbesinne (Malik 1952: 264). Dort, wo der Kapitalismus selbst zur Religion geworden ist (Benjamin 1985; Palaver 2001) und der personale, transzendente Gott der monotheistischen Offenbarung durch den allgegenwärtigen weltimmanenten Kult des anonymen ‚Götzen Mammon‘ marginalisiert wird – dort wird das Geschäft eines ‚kalten‘, unbewussten und strukturellen Gottesmords betrieben, der Nietzsches glühendes „Gott ist tot“ in den Schatten stellt. Dem Deizid aber ist, wie Eric Voegelin (1999: 98) einst festhielt, in der Geschichte der Neuzeit noch immer der Homizid gefolgt. Literatur Alamuddin, Najib (1993): Turmoil – The Druzes, Lebanon and the Arab-Israeli Conflict. London. Alexandria Declaration (2002): First Alexandria Declaration of the Religious Leaders of the Holy Land (http://www.wcrp.org/RforP/Press%20Releases/AlexandriaDeclaration.html). Aucagne, Jean (1997): L’Église et les nations. In: Travaux et Jours (Beirut), Nr. 59: 7-30. Benjamin, Walter (1985): Kapitalismus als Religion. In: Benjamin (1985a): 100-103. Benjamin, Walter (1985a): Gesammelte Schriften. Bd. 6. Frankfurt a. M. Braybrooke, Marcus (1992): Pilgrimage of Hope: One Hundred Years of Global Interfaith Dialogue. London. Convocation (1955): The Minutes of the First Muslim-Christian Convocation, Bhamdoun, Lebanon, April 22-27, 1954. New York: Continuing Committee on Muslim-Christian Cooperation. Courbage, Youssef/Fargues, Philippe (1997): Christians and Jews under Islam. London. Duprée la Tour, Augustin, S. J./Nashabé, Hisham (Hrsg.) (1997): Déclarations communes islamochrétiennes 1954-1995 c./1373-1415h. Textes originaux et traductions françaises. Beyrouth. Epalza, Mikel de (1974): Cordoba islamo-chrétienne: un congrès et une prière commune. In: Travaux et Jours (Beirut), Nr. 53: 105-114. Fitzgerald, Michael L./Borelli, John (2006): Interfaith Dialogue: A Catholic View. London. Haddad, Juliette Nasri (1997): Trente cinq années de rencontres musulmans-chrétiens. In: Travaux et Jours (Beirut), Nr. 59: 31-47. Hannoyer, Jean (Hrsg.) (1999): Guerres civiles: Economies de la violence, dimensions de la civilité. Paris/Beyrouth. Irani, George Emile (1986): The Papacy and the Middle East: The Role of the Holy See in the ArabIsraeli Conflict, 1962-1984. Notre Dame, Ind. Jenkins, Philip (2002): The Next Christendom: The Coming of Global Christianity. Oxford. Johnstone, Brian V. (2003): Pope John Paul II and the War in Iraq. In: Studia Moralia 41, 2: 309-330. Keinon, Herb (2002): Religious Parley in Egypt Decries Killing of Innocents. In: Jerusalem Post, 22. Januar. Khalaji, Mehdi (2006): The Last Marja: Sistani and the End of Traditional Religious Authority in Shiism. Washington DC: The Washington Institute for Near East Policy (= Policy Focus, Nr. 59, September).
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Das Friedenspotential von Religionen in politischen Konflikten. Beispiele erfolgreicher religionsbasierter Konfliktintervention Markus A. Weingardt
1. Einführung Nicht erst seit Samuel Huntingtons Clash of Civilizations ist in Deutschland eine umfassende Diskussion über einen interkulturellen und interreligiösen Dialog im Gange. Vertreter von Politik, Wissenschaft, Religionen, Nichtregierungsorganisationen fordern diesen Dialog in Kindergarten und Hochschule, Sportvereinen und Parlamenten. In diesem Dialog wie in der Debatte über den Dialog ist eine zunehmende Wahrnehmung und Einbeziehung religiöser Aspekte feststellbar. Ereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September 2001, der „Kopftuchstreit“, die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, der Mord an dem holländischen Filmemacher Theo van Gogh (im November 2004) und die darauf folgenden Brandanschläge auf Moscheen verstärken diese Entwicklung. Der Wissenschaft – in Sonderheit auch der Politikwissenschaft – kommt dabei die wichtige und schwierige Aufgabe zu, die öffentliche Diskussion durch differenzierte, fundierte und konstruktive Beiträge zu unterstützen: Warum und wozu soll ein Dialog geführt werden – und wie kann oder soll er gestaltet sein? Und speziell: Welche Rolle spielen dabei Religionen, welche Bedeutung für einen solchen Dialog und dessen politische Konsequenzen kann ihnen zukommen? Ein Blick auf wissenschaftliche Publikationen, Tagungen und Symposien zum Verhältnis von Religionen und Frieden zeigt aber eine irritierende Einseitigkeit in zwei Punkten: Zum einen wagen sich nur wenige Autoren oder Veranstalter auf das freie Feld der Praxis, sondern verharren auf dem „sicheren“ Terrain des theoretisch-theologischen Friedenspotentials von Religionen und der guten Ratschläge. Zum anderen kreisen die Themenstellungen fast ausschließlich um Negativbeispiele, d. h. Fälle, in denen Religionen destruktiv – weil eskalierend, den Konflikt verschärfend – auf Konflikte Einfluss genommen haben. Aus diesen Fallbeispielen wird dann ein ums andere Mal die erstaunliche Erkenntnis gewonnen, wie gefährlich Religionen sein können und dass ein Dialog zwischen
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denselben freilich wichtig wäre, dass er wohl einen hilfreichen Beitrag zu einer friedlichen Konfliktbearbeitung leisten könnte. Also finden sich zahllose Publikationen über die Unheil stiftende Rolle von Religionen in politischen Konflikten, und ebenso zahlreiche Werke über die friedlichen Aspekte, die den Glaubenslehren aller großen Religionen innewohnen. Es gibt aber kaum Berichte oder wissenschaftliche Untersuchungen über konkrete, praktische Beispiele gewaltförmiger politischer Konflikte, in denen explizit religiöse bzw. religionsbasierte Akteure zur Nicht-Eskalation oder gar Deeskalation von Konflikten und deren Befriedung beitrugen, in denen Religion also nicht Unheil, sondern Frieden stiftete.1 Treffend bringt Andreas Hasenclever diese „merkwürdige Engführung der Debatte“ um die Rolle von Religionen in der Politik und Politikwissenschaft auf den Punkt: „Mit der Wiederentdeckung der Religion als politischer Faktor verbindet sich nämlich die Sorge, dass der Welt ein neues Zeitalter blutiger Glaubenskriege dämmere. Dabei gerät vollkommen aus dem Blick, dass allen Weltreligionen wirkmächtige Friedensvisionen innewohnen, die es politisch fruchtbar zu machen gilt“ (Hasenclever 2004).
Indem auch die Berichterstattung der Massenmedien diese einseitige NegativAuswahl pflegt, wird den Menschen ein Zerrbild von Religionen vermittelt: Erstens werden Religionen vorwiegend konfliktverschärfend, mithin als ursächlich für gewaltsame Auseinandersetzungen präsentiert, und zweitens als unfähig oder unwillens, Konflikte beizulegen, also ihren Friedensanspruch in praktische politische Einflussnahme umzusetzen. Wer diese Zerrbilder bewusst oder unbewusst übernimmt, für den muss jeder interreligiöse Dialog unnütz und überflüssig erscheinen. Aber es gibt eben auch eine andere Wirklichkeit von Religionen. Es finden sich nicht nur einzelne, sondern zahlreiche Beispiele erfolgreicher konstruktiver Konfliktinterventionen von religionsbasierten Akteuren – und zwar nicht nur in politisch „harmlosen Nachbarschaftsstreitigkeiten“, sondern ebenso in gewaltförmigen Konflikten auf nationaler und internationaler Ebene, um die es hier gehen soll. Diese Erfahrungen heben die destruktive Komponente religiöser 1
Als religionsbasierte Akteure gelten hier a) Religionsgemeinschaften/Konfessionen, Institutionen, interreligiöse Initiativen (und deren jeweiligen offiziellen Vertreter) innerhalb der Weltreligionen Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus; b) darüber hinaus auch Institutionen, Initiativen, Bewegungen, Gruppen oder Einzelpersonen, die institutionell, personell, materiell oder finanziell gänzlich unabhängig von anderen religiösen Institutionen sein können, deren Friedensarbeit bzw. Konfliktbearbeitungsbeiträge jedoch ausdrücklich und umfassend auf den Lehren, Überlieferungen und Traditionen der Weltreligionen basieren und notwendig aus ihren jeweiligen Glaubensüberzeugungen resultieren. Der Begriff des „religionsbasierten Akteurs“ spezifiziert damit den undifferenzierten Begriff des „religiösen Akteurs“, der dennoch in diesem Beitrag gleichbedeutend verwendet wird.
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Politikbeeinflussung selbstverständlich nicht auf, sind ihr aber als ebenso reale Tatsache zur Seite zu stellen. Dabei ist es nicht in erster Linie wichtig, wie „groß“ oder entscheidend diese Beiträge zur Konfliktdeeskalation waren, und auch nicht, ob die Beiträge religiöser Akteure nur unter ganz bestimmten Bedingungen geleistet werden konnten oder ebenso von säkularen Akteuren zu erbringen gewesen wären. Maßgeblich ist zuerst wahrzunehmen, dass Religionen auch positiv auf konkrete Konflikte eingewirkt haben – und dass dies folglich auch in Gegenwart und Zukunft prinzipiell möglich ist. Diese eigentlich banale, dennoch zumeist unterschlagene, gar bestrittene Tatsache in Erinnerung zu rufen, soll im Folgenden anhand einiger weniger Fallbeispiele geschehen. Der nächste Schritt muss dann freilich sein, die religionsbasierten konstruktiven Konfliktinterventionen dahingehend zu untersuchen, ob aus ihnen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen zu gewinnen sind, die sich auf andere Konflikte und andere (nicht nur) religiöse Akteure der Friedensarbeit übertragen lassen. Dann können interreligiöse Dialoge über ein „Gut-dass-wir-darüber-gesprochen-haben“ hinaus echte gesellschaftliche und politische Relevanz entfalten und einen tatsächlichen, konkreten Beitrag zu Frieden und Gewaltvermeidung leisten. 2. Philippinen: Die „Rosenkranzrevolution“ von 1986 Seit 1965 herrschte auf den Philippinen Staatspräsident Ferdinand Marcos. Ursprünglich als Sozialreformer angetreten, entwickelte sich seine Herrschaft rasch zu einer faktischen Diktatur. Das Regime war, je länger, je mehr gekennzeichnet von Korruption, Günstlingswirtschaft, Unterdrückung, Überwachung, Gewalt, Folter, sozialen Missständen und wirtschaftlichem Niedergang für die Masse der Bevölkerung. Die Säulen der Herrschaft waren in besonderer Weise die USA und ausländische Großunternehmen, das philippinische Militär, aber auch der hohe Klerus der katholischen Kirche (der über 80 % der Filipinos angehören), d. h. die philippinische Bischofskonferenz. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) breitete sich die Idee der christlichen Basisgemeinden aus und es entwickelte sich eine spezifisch philippinische „Theologie des Kampfes“ (ähnlich der lateinamerikanischen „Befreiungstheologie“).2 Vorangetrieben wurde beides in erster Linie vom kirchlichen „Mittelbau“ (Priester, Diakone und andere kirchliche Mitarbeiter) und von Ordensgemeinschaften. Auf der Ebene der Kirchenleitung war es zunächst nur Bischof Claver, der sich seit den 1970er Jahren bei seinen Mitbischöfen bemüh2
Das Zweite Vatikanische Konzil vertiefte u. a. den Ansatz, dass Anstrengungen gegen sozioökonomische Ungerechtigkeit als integrale Bestandteile des Evangeliums zu verstehen seien (vgl. Wooster 1994: 164 f.). Ausführlicher dazu Battung u. a. 1989.
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te, Aufmerksamkeit für das Schicksal der Bevölkerung und Solidarität mit den Unterdrückten zu wecken – mit allerdings mäßigem Erfolg: Um 1980 war die Mehrheit der damals ca. 80 Bischöfe auf den Philippinen mit dem Regime persönlich oder wirtschaftlich verwoben und sorgte sich neben dem eigenen Wohl vorwiegend um die Macht und Stabilität der Kirche als Institution. Ein anderer großer Teil der Bischofskonferenz war zwar kritischer, sah aber die Aufgabe der Kirche weniger in politischen Aktivitäten und Stellungnahmen als vielmehr in Seelsorge und sozialer Hilfeleistung. Nur eine Minderheit der Bischöfe – jene aus ärmeren, von der Unterdrückung besonders betroffenen Bistümern –, aber ein Großteil des Mittelbaus solidarisierte sich (zum Verdruss des Vatikans) in Wort und Tat mit der kirchlichen Basis, forderte eine andere Regierungspolitik und stellte gar die Legitimität des Regimes in Frage. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mündete seit Anfang der 1970er Jahre zunehmend in (vorzugsweise kommunistische) gewaltbereite Widerstandsgruppen. Als im Jahr 1983 der ehemalige Senator und schärfste Rivale von Marcos, Benigno „Ninoy“ Aquino, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil durch Scharfschützen im Auftrag von führenden Militärs ermordet wurde, standen auch viele bis dahin friedliche Oppositionelle und Widerstandsgruppen am Scheideweg: entweder der Gang in den gewaltsamen Widerstand, oder – Resignation? Es schien keine Erfolg versprechende Alternative zu geben. Die „Theologie des Kampfes“ bezeichnete zwar nicht den gewaltförmigen Kampf, schloss ihn aber als letztes Mittel auch nicht aus. Andere Gruppen rüsteten schon zum Kampf, die Waffen standen bereit, ein Bürgerkrieg stand unmittelbar zu befürchten. Auf Initiative von Ordensleuten trafen sich in dieser Situation Führer einiger wichtiger Oppositionsbewegungen (darunter z. B. der Bruder des ermordeten Ninoy Aquino), um über den weiteren Weg des Widerstandes Klarheit zu gewinnen. Mit dabei waren Vertreter des Internationalen Versöhnungsbundes, die eindringlich für einen gewaltlosen Kampf gegen Marcos plädierten und warben.3 Nach sorgfältigen Situations- und Konfliktanalysen, aber auch nach Gottesdiensten, Gebeten und einem zehntägigen Fasten aller Teilnehmer entschieden sich die Oppositionellen tatsächlich für den gewaltlosen Widerstand. Daraufhin begann eine rege Informations- und Schulungstätigkeit, die vor allem wiederum vom kirchlichen Mittelbau und den Ordensgemeinschaften organisiert und durchgeführt wurde. Die landesweite kirchliche Infrastruktur, die innerkirchlichen Kontakte und Netzwerke, besonders kirchliche Medien waren hier unent3
Die Vertreter des Versöhnungsbundes waren das Ehepaar Jean Goss und Hildegard Goss-Mayr, die seit dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen Ländern Friedens- und Versöhnungsarbeit mit Mitteln der Gewaltlosigkeit leisteten und als Berater begleiteten (vgl. Goss-Mayr 1999: 123144).
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behrlich. Hier ist vor allem der einzige nichtstaatliche landesweite Rundfunksender Radio Veritas zu erwähnen, über den im ganzen Staat über den Widerstand informiert, aufgeklärt, geschult, organisiert und koordiniert wurde; besonders in der späteren „heißen Phase“ des Konfliktes war dies von entscheidender Bedeutung für den Erfolg des Widerstandes. Mit diesen und vielen anderen Maßnahmen wurden vielen Menschen frühzeitig und systematisch Kompetenzen in gewaltlosem Widerstand und konstruktiver Konfliktbearbeitung vermittelt, aber auch politische Aufklärung betrieben und Pläne für einen Regimewechsel bzw. die anschließende gesellschaftliche Erneuerung ausgearbeitet. Die Idee des gewaltlosen Widerstandes fiel bei den Filipinos auf fruchtbaren Boden, was insbesondere drei Gründe hatte: a) Die Menschen waren der Gewalt müde und sehnten sich nach Frieden und Sicherheit statt Kampf und Krieg; b) die schlichte und tiefe Frömmigkeit der Bevölkerung schuf eine Offenheit für die Idee der Gewaltlosigkeit, wie sie von Jesu Wirken, der Bergpredigt, Martin Luther King oder auch Gandhi ausgingen; c) sehr viele Priester und Ordensleute genossen bei den „einfachen“ Menschen nicht nur Autorität, sondern vielmehr auch Glaub- und Vertrauenswürdigkeit: Sie lebten ihre religiösen Überzeugungen in der Verbundenheit mit den Armen und Unterdrückten, sie teilten ihr Hab und Gut wie ihre Probleme und Entbehrungen, sie litten ebenso unter den sozialen Missständen und den staatlichen Repressionen – wenn sie den gewaltlosen Widerstand für richtig und sinnvoll hielten, dann konnte man darauf vertrauen. Dass sie, die Vertreter der hoch angesehenen katholischen Kirche, den Widerstand aktiv unterstützten, ermutigte viele Filipinos, ihre Angst zu überwinden und sich ihnen anzuschließen. Ein wichtiges Instrument des Widerstandes war es, ausländische Medien auf das Unrechtssystem sowie den gewaltlosen Widerstand aufmerksam zu machen. Besonders die Ordensgemeinschaften nutzten ihre weltweiten Kontakte, um eine internationale Öffentlichkeit zu schaffen und damit sowohl Marcos als auch die USA als dessen Schutzmacht und nicht zuletzt den Papst und konservative Mitglieder der philippinischen Bischofskonferenz unter Druck zu setzen. Infolge dieses internationalen Drucks hielt Ferdinand Marcos im Februar 1986 vorgezogene Neuwahlen ab, um aller Welt die Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft zu beweisen. Mit großer institutioneller und personeller Unterstützung von Teilen der Kirche versuchten mehrere nichtstaatliche Organisationen, durch Wahlbeobachtung und Schutz von Wahllokalen bzw. -urnen die sich abzeichnenden Wahlmanipulationen zu vereiteln. Damit konnten sie zwar nicht verhindern, dass Marcos erwartungsgemäß als glorreicher Sieger hervorging, doch gelang es ihnen – nicht zuletzt mit Hilfe der über 1000 ausländischen Medienvertreter –, den Wahlbetrug nachzuweisen. Daraufhin stellte sich die Bischofskonferenz unter Leitung von Kardinal Sin nunmehr gegen Marcos und hinter die Gegen-
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kandidatin Corazon Aquino (Witwe des ermordeten Benigno Aquino). Gegen den ausdrücklichen Willen des Vatikans riefen die Bischöfe in einer öffentlichen Erklärung zum gewaltlosen Widerstand gegen die unrechtmäßige Regierung als einer Pflicht (!) aller Christen auf (vgl. Wooster 1994: 161; Nimsdorf 1988: 99). Nun erkennen auch die USA, dass sich das Blatt wendet und ihr treuer Vasall nicht länger zu halten sein wird; nachdem sie die „angebliche Wahlfälschung“ zunächst verharmlost hatten, sprechen sie Marcos den Sieg jetzt plötzlich wieder ab. Davon ermutigt desertierten wenige Tage später Verteidigungsminister Enrile und Vize-Generalstabschef Ramos und verschanzten sich mit einigen Getreuen in zwei benachbarten Militärcamps am Rande der Hauptstadt Manila. Nun stellte sich Kardinal Sin an die Spitze der Oppositionsbewegung und rief – eine militärische Niederschlagung der Desertion und des gesamten Widerstandes befürchtend – über Radio Veritas die Bevölkerung dazu auf, einen menschlichen Schutzwall um die Militärcamps zu bilden. Innerhalb weniger Stunden strömten ca. zwei bis drei Millionen Filipinos auf die Hauptzufahrtsstraße zu den Camps und stellten sich dem anrückenden Militär entgegen.4 Mehr als zwei Tage lang verharrten die Millionen auf engstem Raum, in brütender Hitze, bei schlechter Versorgung mit Lebensmitteln, unter völlig unzureichenden medizinischen oder hygienischen Zuständen, stets der Angst und dem psychischen Druck ausgesetzt, dass das Militär zu jeder Tages- oder Nachtzeit zuschlagen könnte, oder dass ein einziger Teilnehmer (oder ein Agent der Regierung) durch sein Fehlverhalten der Regierung Anlass zur gewaltsamen Niederschlagung geben könnte. Diese Konstellation führte die Demonstranten an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung. In dieser Situation waren es wiederum besonders Kirchen- und Ordensleute, die nicht nur in der ersten Reihe demonstrierten, sondern auch inmitten der Massen Gottesdienste zelebrierten, Schweigemeditationen abhielten, Kirchen- oder Volkslieder anstimmten, Heiligenstatuen beibrachten und anderes mehr. All diese religiösen Elemente des Widerstandes gaben, wie vielfach beschrieben wurde, den Menschen Orientierung und Halt; sie gaben Kraft, durchzuhalten, die Spannung auszuhalten, an der Gewaltlosigkeit festzuhalten und sich nicht von der Armee provozieren zu lassen. Darüber hinaus waren es wiederum vielfach Kirchenleute, die den Protest organisierten, die Versorgung der Millionen koordinierten, und natürlich mit Vertretern der Regierung, des Militärs und der Opposition verhandelten bzw. zwischen ihnen vermittelten – bis nach zwei Tagen schließlich weitere Teile der Armee überliefen, der Widerstand folglich auch mit militärischer Gewalt nicht 4
Nach den Initialen dieser Straße – Epifania dos Santos Avenue – wird daher auch von der „EDSA-Revolution“ gesprochen.
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mehr gebrochen werden konnte. Da Marcos die Situation völlig verkannte und an seiner Macht festhielt, wurde er von amerikanischen Hubschraubern kurzerhand außer Landes gebracht. Die „Rosenkranzrevolution“ oder „People Power Revolution“ hatte gesiegt. Ohne die Mitwirkung und Unterstützung der Kirche – anfangs in erster Linie des Mittelbaus und der Ordensgemeinschaften, erst gegen Ende (aber nicht minder wichtig) auch seitens der Bischofskonferenz und namentlich von Kardinal Sin – ohne deren (gerade noch) rechtzeitige Initiative zu bzw. systematische Organisation und Durchführung von Maßnahmen des gewaltlosen Widerstandes, ohne kirchliche Infrastruktur und Medien, hier besonders Radio Veritas – hätte das Regime Marcos nicht ohne Blutvergießen gestürzt werden können. Voraussetzung für dieses kirchliche Engagement war wiederum die persönliche religiöse Überzeugung der Priester und Ordensleute als Grundlage und Motivation ihres Handelns und ihrer Solidarität mit der Bevölkerung. Und diese Umsetzung des Glaubens in die Tat begründete wiederum ihre große Vertrauenswürdigkeit, die viele Menschen zur Unterstützung und Teilnahme am Widerstand ermutigte und zum Festhalten am Prinzip der Gewaltlosigkeit bewog. 3. Mosambik 1992: Laien machen Frieden In der ehemaligen portugiesischen Kolonie Mosambik tobte seit der Unabhängigkeit im Jahr 1975 ein erbitterter Bürgerkrieg zwischen der Regierungspartei Frelimo und den Rebellen der Renamo.5 Die im Unabhängigkeitskampf siegreiche Frelimo hatte ein Einparteiensystem nach sozialistischem Vorbild errichtet, und wurde vor allem von der Sowjetunion unterstützt. Die Rebellen hingegen erhielten Geld und Waffen von den Apartheids-Regimen im damaligen Rhodesien (bis zu dessen Unabhängigkeit 1980) und in Südafrika. Besonders letzteres rüstete die Renamo in großem Umfang militärisch auf und versuchte auf diese Weise, „die marxistisch orientierten Mehrheitsregierungen der Nachbarländer zu destabilisieren“ (Fandrych 2000: 67 f.). Das Land war zerrissen und vollkommen zerstört, und der Konflikt galt nach mehreren erfolglosen Versuchen nationaler und internationaler Akteure als nicht vermittelbar. Durch den Politikwechsel in Südafrika und der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre wurden die Ausgangsbedingungen natürlich wesentlich verändert. Doch obschon beiden Seiten die militärische, finanzielle und politische Unterstützung entzogen wurde, verfügten die Konfliktparteien immer noch über ein ausreichendes Waffenarsenal und Potential für viele weitere Jahre Bürger5
Frelimo = Frente de Libertação de Moçambique; Renamo = Resistência Nacional Moçambicana.
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krieg. Allerdings war auf beiden Seiten auch die militärische Patt-Situation erkannt worden. Es ging nicht mehr darum, den Krieg zu gewinnen, sondern nur noch darum, den eigenen Herrschaftsbereich zu verteidigen und jenen des Gegners so weit wie möglich zu vernichten. Entsprechend war Mosambik nach 15 Jahren grausamen Bürgerkrieges eines der ärmsten Länder der Erde. Eine Million Menschen waren getötet worden, etwa sechs (von damals insgesamt etwa 14) Millionen Mosambikaner waren geflüchtet. Die gesamte Infrastruktur, Energieoder Wasserversorgung, Industrieanlagen und Verkehrswege waren zerstört, landwirtschaftliche Nutzfläche durch Landminen unbrauchbar gemacht. Die Bevölkerung musste folglich unter immer schwierigeren Bedingungen um die eigene Existenz kämpfen und gleichzeitig jene der Machthaber und ihrer Armeen sichern, was nicht ohne brutale Unterdrückung und Ausbeutung möglich war. In dieser Situation unternahm Bischof Gonçalves von Beira (Mosambik) 1989 einmal mehr einen Vermittlungsversuch. Alleine und unbewaffnet wagte er es als erster Vermittler, die Renamo-Führung in deren Hauptquartier aufzusuchen und damit deren jahrelange Isolation endlich zu durchbrechen – ein Schritt, der ihm bei den Rebellen große Achtung eintrug. Obschon auf beiden Seiten hoch angesehen, erkannten Bischof Gonçalves und andere involvierte Kirchenvertreter dennoch bald die Notwendigkeit externer, gänzlich neutraler Unterstützung der Verhandlungen, die er bei der katholischen Laienbewegung Sant’ Egidio suchte und fand. Die Laien-Gemeinschaft Sant’ Egidio war 1968 in Rom gegründet worden, wo sich auch heute noch ihr Sitz befindet. Kein Ordensschwur verbindet ihre Mitglieder, sondern der Wunsch, den christlichen Glauben durch gemeinsames Gebet und konkretes (ehrenamtliches) Handeln zum Ausdruck zu bringen.6 Das Hauptanliegen der dezidiert christlich-katholischen Bewegung war und ist die humanitäre Hilfe für die Ärmsten der Armen, zuerst in Rom, doch bald schon weit darüber hinaus und heute in aller Welt; damit verband sich der Einsatz für interkonfessionellen und interreligiösen Dialog. So waren einheimische Mitarbeiter von Sant’ Egidio nach mehreren punktuellen Aktionen seit Mitte der achtziger Jahre dauerhaft auch in Mosambik tätig und verteilten Hilfsgüter und leisteten humanitäre Hilfe für Bedürftige auf beiden Seiten des Konfliktes. Daneben vermittelte die Laiengemeinschaft Kontakte zwischen Renamo bzw. Frelimo zu einflussreichen Personen oder potentiellen Vermittlern (etwa zum genannten Bischof Gonçalves, zur kenianischen Regierung, zum Papst oder zum Vorsitzenden der italienischen Kommunistischen Partei, Berlinguer). Allerdings setzte der Krieg ihren Bemühungen deutliche Grenzen oder machte sie alsbald wieder zunichte. 6
Nach eigenen Angaben hat die Gemeinschaft Sant’ Egidio heute ca. 50 000 Mitglieder in über 70 Ländern (vgl. www.santegidio.org).
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Aufgrund ihres nicht- bzw. allparteilichen humanitären und diplomatischen Wirkens im Dienste aller Mosambikaner – ungeachtet der politischen Lager oder des religiösen Bekenntnisses – genoss die Gemeinschaft Sant’ Egidio auf beiden Seiten des Konfliktes großen Respekt. Sie galten als glaubwürdige Gesprächspartner, denen man vertraute, dass sie keine ökonomischen oder politischen, ja überhaupt keine eigenen noch fremden Interessen verfolgten, außer dem einen: der Sorge um die Menschen, um den Frieden, um die Beendigung der Gewalt (vgl. Morozzo della Rocca 1997: 9). Nach einigen Vorgesprächen unter Beteiligung verschiedener kirchlicher und externer politischer Vertreter gelang es, die Konfliktparteien von der Notwendigkeit direkter Gespräche zu überzeugen. Als neutralen Verhandlungsort bot Sant’ Egidio ihren Sitz in Rom an, wo im Juni 1990 die erste Rundes des „Prozesses von Rom“ stattfand. Bereits bei der zweiten Runde baten beide Konfliktparteien überraschend die beiden Vertreter der Gemeinschaft Sant’ Egidio, Andrea Riccardi und Matteo Zuppi, zusammen mit Bischof Gonçalves und dem Abgeordneten Mario Raffaelli (als Vertreter der italienischen Regierung) die Federführung der Verhandlungen zu übernehmen. Bei den Beobachtern von UNO und verschiedenen Regierungen löste es erhebliche Skepsis aus, ob ein Kirchenhistoriker (Riccardi) und zwei Geistliche (Zuppi, Gonçalves) in der Lage wären, einen derart komplexen Konflikt von zudem solcher humanitärer und politischer Dimension zu regeln. Die Bedenken schienen sich zu bestätigen, da die Vermittler entschlossen waren, im Sinne einer Mediation keine Lösungen vorzuschlagen und keinerlei zeitlichen, inhaltlichen oder materiellen Druck auszuüben bzw. Anreize in Aussicht zu stellen, sondern die Streitenden selbst die Abkommen erarbeiten zu lassen, die sie später gemeinsam umzusetzen hatten. Der Dialog, das gegenseitige Verstehen stand im Mittelpunkt dieser Strategie, erforderte jedoch Einfühlungsvermögen und (von allen Beteiligten und Betroffenen) viel Geduld, da sich die Verhandlungen scheinbar ergebnislos in die Länge zogen. Doch nach zwei Jahren ebenso langmütiger wie beharrlicher Vermittlung – unter wohldosierter Einbeziehung externer Regierungs- und UNO-Vertreter – gelang 1992 schließlich der Durchbruch. Wenige Monate später, am 4. Oktober 1992, unterzeichneten die Konfliktparteien in Rom einen umfassenden Friedensvertrag. Trotz mancher notwendiger Nachbesserungen (nunmehr unter UNO-Regie) stellte dieses Abkommen eine gute Grundlage für die zukünftige und „weithin gelungene Friedenskonsolidierung“ (Matthies 1996: 17) dar. Selbstverständlich ist die Entwicklung und Demokratisierung des Landes längst noch nicht abgeschlossen, leidet das Land noch immer unter den Folgen von zehn Jahren Unabhängigkeitskampf und 17 Jahren Bürgerkrieg. Jedoch hat Mosambik gegenüber früheren Zeiten in allen Bereichen der Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Rechtsprechung und Zivilgesellschaft sehr aufgeholt und schneidet im innerafrikanischen Vergleich sehr gut ab. Der Beitrag von
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Sant’ Egidio zum Zustandekommen des Friedensabkommens – als Fazilitator wie Mediator – wird dabei von allen mosambikanischen und internationalen Beteiligten enorm hoch, ja entscheidend eingeschätzt. Der damalige UNOGeneralsekretär schrieb den Erfolg vor allem der von Riccardi und Zuppi wesentlich mitverantworteten und damals „in ihrer Art einzigartige[n] Mischung friedensstiftender Arbeit von Regierungs- und Nichtregierungsseite“ (BoutrosGhali, zit. nach Morozzo della Rocca 1997: 21) zu. Diese „Formel von Rom“ wurde zum Vorbild ähnlicher Vermittlungsbemühungen in anderen Konflikten – sowohl durch Sant’ Egidio (beispielsweise in Burundi, Sudan, Elfenbeinküste, Serbien, Kosovo, Guatemala oder Algerien) als auch durch andere Institutionen der konstruktiven Konfliktbearbeitung. 4. Britisch Ost-Indien: Khan Abdul Ghaffar Khan und die „Diener Gottes“ Khan Abdul Ghaffar Khan wurde 1890 geboren und gehörte dem Volk der Paschtunen (Pathanen) an. Diese lebten in der Nordwest-Provinz der damaligen Kolonie Britisch Ost-Indien und standen im Ruf einer traditionell äußerst gewalttätigen, brutalen Gesellschaft. Als frommer Moslem – Gandhi bezeichnete ihn einmal als „wirkliche[n] Fakir“ (zit. nach Berndt 1998: 76), d. h. Mystiker und Asket – entschied sich Ghaffar Khan schon in jungen Jahren und sehr bewusst, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen, was für ihn hieß: den Dienst an seinen Mitmenschen, den Paschtunen und allen Indern. Sein Tätigkeitsschwerpunkt lag zunächst auf Bildung und Verbesserung der Lebensbedingungen: Er zog durch das Land und gründete Schulen (bereits ab 1910), betrieb politische Aufklärung, vermittelte neue Erkenntnisse aus der Landwirtschaft, half aber auch ganz praktisch beim Bau von Brunnen oder Latrinen. Aus diesem Engagement entwickelten sich zunehmend politische Forderungen nach Sozialreformen, Wirtschaftsreformen, größerer Selbstbestimmung für die Paschtunen in der Nordwest-Grenzregion und für Indien als Ganzes. Um diesem Anliegen mehr Kraft zu geben gründete Ghaffar Khan 1930 die gewaltlose Armee der „Diener Gottes“. Sie war ganz nach dem Vorbild einer regulären Armee aufgebaut – mit Einheitskleidung, straffer Disziplin, Rängen und Abzeichen etc. –, allerdings strengen religiösen Grundsätzen verpflichtet: Religiösen Prinzipien, wie Ghaffar Khan sie aus seiner eigenen Frömmigkeit ableitete, wie er die heiligen Schriften interpretierte. Neben den expliziten islamischen Geboten wie Gebet, Almosen, Fasten etc. waren dies vor allem: a) Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersglaubenden, weshalb die „Diener Gottes“ für ein einheitliches, multireligiöses Indien kämpften und nicht – wie andere moslemi-
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sche Gruppen – für ein unabhängiges, rein islamisches Pakistan; b) Gleichberechtigung von Frauen und Männern, was zu dieser Zeit, in der ausgesprochen patriarchalen islamisch-paschtunischen Gesellschaft revolutionär war; c) Hilfe für andere ohne Entlohnung dafür anzunehmen (vorgeschrieben waren rund vier Stunden täglich); d) Die Bereitschaft, Leben und Besitz im „Kampf“ einzusetzen und wenn nötig zu opfern; e) vor allem aber: strikte Gewaltlosigkeit! Dabei begriff Ghaffar Khan Gewaltlosigkeit nicht (wie etwa die indische Kongresspartei) als bloße Methode im Unabhängigkeitskampf, sondern als prinzipielle und allgemeingültige Lebenshaltung, die zuallererst im privaten und gesellschaftlichen Umfeld zur Geltung kommen musste. Mit ihren oppositionellen Anliegen und Aktivitäten – wie z. B. dem Boykott englischer Einrichtungen und Waren, dem Aufbau eines eigenen Rechts- und Steuersystems oder eigener Verwaltungsstrukturen, aber auch dem Aufbau von weiteren Schulen, landwirtschaftlichen Genossenschaften etc. – gerieten Abdul Ghaffar Khan und die „Soldaten Gottes“ nicht nur in Konflikt mit den britischen Kolonialherren, sondern ebenso mit dem moslemischen Establishment, den mächtigen und reichen Großgrundbesitzern. Diese wollten weder eine Änderung der Bildungssituation oder der sozio-ökonomischen Verhältnisse, noch wünschten sie ein multireligiöses Indien, sondern ein unabhängiges, moslemisches Pakistan. Die Briten versuchten die gewaltlosen „Diener Gottes“ mit großer Brutalität zu unterdrücken und zu zerschlagen, mit Verfolgung und Vertreibung, Folter und Mord, Zerstörung von Häusern oder Ernten und dergleichen mehr. Zeitweise wurde die gesamte paschtunische Nordwest-Provinz von der Außenwelt abgeriegelt, damit das Wüten der Armee nicht bekannt würde. Statt einer Schwächung erlebten die Diener Gottes jedoch großen Zulauf: In den 1930er Jahren hatten 100 000 Menschen den Eid der Diener Gottes abgelegt (andere Quellen sprechen von bis zu 300 000; vgl. Johansen 1997: 70 Anm. 17). Sie verbreiteten in der legendär-gewaltgeneigten paschtunischen Gesellschaft ein Klima der Gewaltlosigkeit, das von Gandhi und anderen ungläubig staunend als „modernes Märchen“ bezeichnet wurde. So leisteten die „Diener Gottes“ – neben der Bildungs- und Sozialarbeit – einen wesentlichen Beitrag zur Gewaltlosigkeit der indischen Unabhängigkeitsbewegung, gerade in dieser Nordwest-Grenzregion, in der Gandhi oder seine Mitstreiter von der Kongresspartei gar nicht oder nur selten zugegen waren (weshalb Abdul Ghaffar Khan häufig auch als „Grenz-Gandhi“ bezeichnet wird). Die „Diener Gottes“ leisteten überdies einen wesentlichen Beitrag, dass die schließliche Abspaltung der Nordwestregion von Indien und ihre Einverleibung in ein unabhängiges, moslemisches Pakistan weitgehend gewaltlos verlief – obschon gegen ihren ausdrücklichen Willen. Die moslemische Regierung Pakistans vollendete dann allerdings, was die Briten vergeblich versucht hatten: Mit
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nicht geringerer Brutalität ließ sie die „Diener Gottes“ verfolgen und vernichten. Zehntausende wurden eingekerkert, gefoltert und ermordet. Abdul Ghaffar Khan, der tief religiöse Moslem, wurde wegen „Zusammenarbeit mit Hindus und Indern“ angeklagt und verurteilt. Nach insgesamt 15 Jahren in britischer Haft verbrachte er nun weitere 15 Jahre in pakistanischer Haft. Nach seiner Entlassung erlangte er, gezeichnet von den harten Haftbedingungen, nicht mehr die frühere Schaffenskraft und Bekanntheit und starb am 21. Januar 1988. 5. Kambodscha: Maha Ghosananda und die Restauration des Buddhismus Konfliktbearbeitung ganz anderer Art machte und macht der buddhistische Mönch Maha Ghosananda in Kambodscha. Von 1975-1979 hatten die „Roten Khmer“ unter Pol Pot innerhalb von nicht einmal vier Jahren bis zu 2 Millionen Kambodschaner – etwa ein Viertel der Bevölkerung – umgebracht und das Land in eine wirtschaftliche Katastrophe geführt. Pol Pot wollte damals das Land seinen ultra-kommunistischen Idealen gemäß in einen reinen Agrarstaat umwandeln. Unmittelbar nach seiner Eroberung der Hauptstadt Phnom Penh wurde die gesamte Stadtbevölkerung zu Märschen auf das Land gezwungen. Wer sich weigerte oder nicht dazu fähig war, wurde umgebracht. Doch auch jene, die den Marsch überstanden, waren das ländliche Leben und die harte Arbeit nicht gewohnt, von landwirtschaftlichen Kenntnissen ganz abgesehen. Die Prämisse der Roten Khmer lautete: „Wer arbeitet, bekommt auch zu essen“. Umgekehrt hieß das: Wer wegen Schwäche, Erschöpfung oder Krankheit nicht arbeiten konnte, bekam auch keine Lebensmittel – oder wurde unmittelbar auf den Feldern erschossen und begraben, was den Begriff der „Killing Fields“ prägte, der zum Synonym des Terrors der Roten Khmer wurde. Pol Pots besonderer Ehrgeiz war überdies, die Intelligentsia und den buddhistischen Klerus in Kambodscha vollständig auszurotten. Erstere – „erkennbar“ etwa an nicht-bäuerlichen Dialekten oder dem Tragen einer Brille – galten als Vertreter modern-westlicher Werte, letztere als Träger traditioneller kultureller und natürlich religiöser Werte. Beides lehnte Pol Pot als mit seinen gesellschaftlichen Vorstellungen unvereinbar ab. Er ließ Tausende von Tempeln und Klöstern zerstören oder durch säkulare Nutzung (als Gefängnisse, Schweineställe, Folterstätten, Lagerräume etc.) entweihen, und der gesamte greifbare Klerus wurde umgebracht oder zwangsweise relaiziert.7 Dieser in vieler Hinsicht bei7
Die genauen Opferzahlen sind nicht mehr festzustellen. Von den Kambodschanern mit höherer Bildung überlebten Schätzungen zufolge nur 5-10 Prozent (vgl. Will 2003: 169). Die Angaben über ermordete Mönche variieren zwischen ‚sehr wenigen‘ bzw. 500 und 3.000 von ursprünglich 50.000 bis 100.000 männlichen Angehörigen des buddhistischen Klerus; über buddhistische
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spiellose Terror geschah unter den Augen der Weltöffentlichkeit, doch war es schließlich das benachbarte (ebenfalls kommunistische!) Vietnam, das in Kambodscha einmarschierte, Pol Pot zurück in die Wälder trieb und der brutalen Schreckensherrschaft ein Ende machte. Doch auch nach dieser Invasion und ebenso nach deren Beendigung im Jahr 1989 war das Land keineswegs befriedet, sondern weiterhin politisch zersplittert und von (im Wesentlichen vier) verschiedenen kambodschanischen Konfliktparteien militärisch umkämpft. Die Gegnerschaft der Großmächte USA, Sowjetunion und China verhinderte zudem eine gemeinsame Strategie der Konfliktbeilegung in Kambodscha. Erst nach dem Ende des „Kalten Krieges“ und der sowjetisch-chinesischen Annäherung gelang es der UNO, 1992 ein Friedensabkommen zu vermitteln. Trotz der darauf folgenden, personell und finanziell bis dahin größten UN-Friedensmission dauerte es noch einige Jahre, bis sich der demokratische Wettstreit anstelle gewaltförmiger Macht- und Parteienkämpfe einigermaßen durchgesetzt hatte. Nach der Absetzung Pol Pots Anfang des Jahres 1979 verließ der buddhistische Mönch Maha Ghosananda sein langjähriges „Waldkloster“ und kehrte aus Thailand in seine Heimat Kambodscha zurück. Geboren in den 1920er Jahren, hatte Ghosananda eine umfassende religiöse und philosophische Ausbildung bei verschiedenen buddhistischen Meistern genossen. Er war damit einer der wenigen hochrangigen kambodschanischen Mönche, die die Schreckensherrschaft der Roten Khmer überlebt hatten. Überzeugt davon, dass die bloße Präsenz der Religion eine Frieden stiftende, versöhnende Kraft darstelle, war sein erstes Anliegen der Wiederaufbau des Buddhismus in Kambodscha. Das hieß: der Wiederaufbau von Tempeln und Klöstern, die Wiederaufnahme von Mönchen, von buddhistischer Lehre und Meditationsangeboten, aber auch von karitativer Hilfe in den Klöstern. Durch die Religion wollte Maha Ghosananda einen Beitrag zu Frieden und Versöhnung im Land leisten, suchte zugleich aber auch den direkten Kontakt zu den Führern der verschiedenen Konfliktparteien. Begonnen hatte er seine Arbeit bereits in den Flüchtlingslagern im thailändischen Grenzgebiet, nun setzte er sie in Kambodscha fort. Durch zahlreiche Auslandsreisen zu kambodschanischen Exilgemeinden insbesondere in Nordamerika, wo er auf das Schicksal des Heimatlandes aufmerksam machen wollte (und überdies zahlreiche Tempel weihte), machte sich Ghosananda bald auch international einen Namen und wurde zum Vertreter der Exil-Kambodschaner bei den Vereinten Nationen ernannt. 1988 wurde er überdies zum Höchsten Patriarchen Kambodschas gewählt, dem insbesondere die schwierige Aufgabe des Wiederaufbaus des zerschlagenen, zerstrittenen und führungslosen buddhistischen Klerus zukam. In dieser Funktion Nonnen (die nicht ordiniert wurden und darum statistisch überhaupt nicht erfasst waren) liegen keinerlei Zahlen vor (vgl. Mahoney/Philip 1997: 25; Khemacaro 1998; Morris 2004: 193, 197; Payer 1996; Sampson 1997: 198 f.).
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führte er auch eine Delegation buddhistischer Mönche an, die an den Friedensgesprächen der 1990er Jahre teilnahmen. Sein Ansehen und seine Bedeutung als moralische Instanz in der kambodschanischen Gesellschaft wuchsen insbesondere durch den jährlichen „Dhammayietra“ – eine Tradition, die auf Buddha selbst zurückgeführt wird. Dieser etwa dreiwöchige „Pilger- oder Friedensmarsch“ quer durch das Land, vorzugsweise durch besonders krisen- oder konfliktreiche Regionen, wird seit 1992 von Maha Ghosananda angeführt. Anfangs noch skeptisch beäugt, entwickelte sich der Marsch bald zu einem Großereignis, das bis zu 100 000 Menschen erreichte. Was ursprünglich als einmalige Aktion einiger buddhistischer Mönche und Nonnen geplant war, wurde also bald zu einer festen Institution, die enorme Unterstützung und Aufmerksamkeit bei Bevölkerung und Medien erfährt. Zentrale Bestandteile des Friedensmarsches (und der landesweiten Vorbereitungskurse) sind religiöse und politische Bildung und Aufklärung, Schulungen in gewaltloser Konfliktbearbeitung und Versöhnungsarbeit, Meditationen, der Besuch religiöser Stätten, aber auch politische Demonstrationen etwa gegen Landminen (die noch zu Hunderttausenden in Kambodscha vergraben sind), gegen die enorme häusliche und gesellschaftliche Gewalt oder die ökologisch wie ökonomisch verheerende Abholzung der kambodschanischen Wälder. Allerdings achten Maha Ghosananda und die Veranstalter des Friedensmarsches sehr darauf, keine parteipolitischen Stellungnahmen abzugeben. Diese strikte Neutralität – nicht zu verwechseln mit politischer Indifferenz – ermöglichte es ihm von Anfang an, von allen Konfliktparteien zumindest toleriert zu werden und seine Arbeit relativ ungestört verrichten zu können. Aufgrund seines Ansehens in der Bevölkerung suchen mittlerweile Politiker jeder Couleur Maha Ghosanandas Nähe, unterstützen demonstrativ den Friedensmarsch, und bekennen sich in der Öffentlichkeit zu Ghosanandas Anliegen wie Frieden, Versöhnung, Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit. Bei allem selbstverständlich dahinter steckenden PR-Kalkül der Politiker bleibt dennoch das Signal, dass religiöse Prinzipien als Werte, gar als Maßstab für menschliches Zusammenleben und politisches Handeln öffentlich akzeptiert werden. Und eine inzwischen wieder breit gefächerte, sehr aufmerksam-kritische Medienlandschaft in Kambodscha registriert und diskutiert nicht nur diese Signale, diese Werte – sie misst auch die Politiker an diesen Bekenntnissen, erinnert und kontrolliert sie. Gemessen an den äußerlichen Indikatoren ist Maha Ghosanandas Hauptanliegen, der Wiederaufbau des Buddhismus, voll erreicht worden. Buddhistische Traditionen und Einrichtungen sind heute wieder fest und breit in der kambodschanischen Kultur und Gesellschaft verankert. Darüber hinaus ist aber auch sein indirektes Anliegen, einen Beitrag zu Frieden und Versöhnung zu leisten, von einigem Erfolg gekrönt. Insbesondere im Zusammenhang mit dem jährlichen Friedensmarsch hat sich in Kambodscha eine – religiös motivierte und
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basierte – Friedensbewegung herausgebildet, die seit einigen Jahren eine äußerst wichtige zivilgesellschaftliche Kraft darstellt. 6. Chile / Argentinien: Vatikan beendet Jahrhundertstreit Im Jahr 1978 standen Argentinien und Chile am Rande einer militärischen Auseinandersetzung. Ursache war der Streit um den Besitz von drei kleinen Inseln und den Grenzverlauf im Beagle-Kanal, einer Meeresverbindung im äußersten Süden des Kontinents. Formal stritt man um politische Hoheit und Seerechte, doch die relativ kleine politische und wirtschaftliche Bedeutung der Inseln stand in keinem Verhältnis zu einem möglichen Krieg um dieselben. Tatsächlich ging es vor allem um nationale Ehre und Stolz. Für die Regierungen beider Länder ging es überdies darum, sich außen- wie innenpolitisch keine Blöße zu geben, sondern Stärke und Souveränität zu demonstrieren. Rund hundert Jahre schon stritten sich die beiden Staaten um diese Inseln, zumeist schwelend, gelegentlich aufflammend. Je länger der Konflikt dauerte, desto unmöglicher wurden Zugeständnisse, weil diese als Schwäche oder mangelnder Patriotismus interpretiert werden konnten. Trotz zahlreicher Vermittlungs- und Schlichtungsversuche verschiedener internationaler Akteure – beispielsweise der USA, der britischen Krone und zuletzt eines Gremiums aus Richtern des Internationalen Gerichtshofs (vgl. Wagner 1992: 81-168) – war nie eine dauerhafte Beilegung gelungen. Als im Dezember 1978 ganz akut eine militärische Eskalation drohte – die argentinische Militärjunta hatte bereits den Befehl zur Invasion auf den Kanalinseln erteilt (vgl. Laudy 2000: 302) –, bot der frisch gewählte Papst Johannes Paul II. in buchstäblich letzter Sekunde seine Vermittlung an. Chile akzeptierte sofort, da es militärisch schwächer war und kein Interesse an einer kriegerischen Auseinandersetzung hatte. Die Regierung in Buenos Aires akzeptierte nur widerwillig, konnte aber eine Intervention des Papstes nicht ignorieren, ohne bei der eigenen Bevölkerung, aber auch im Ausland erheblichen Imageschaden zu riskieren. Allerdings waren mit einer Vermittlung des Vatikans auch keine großen Gefahren verbunden, denn er konnte die Parteien nicht durch politischen, wirtschaftlichen oder gar militärischen Druck zu einem Abkommen zwingen. Die Chancen hingegen lagen in der enormen moralischen Autorität des Papstes begründet: Als Oberhaupt der katholischen Kirche genoss er bei der zu 90 Prozent streng katholischen Bevölkerung Chiles wie Argentiniens höchstes Ansehen und Vertrauen als moralische, aber auch politische Instanz. Darin lag der entscheidende Umstand, der ihn von allen anderen potentiellen (und bisherigen) Vermittlern unterschied. Und wie der Papst selbst höchstes Vertrauen genoss, so würde auch eine päpstlich vermittelte Vereinbarung hohes Vertrauen genießen und große Zu-
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stimmung bei der Bevölkerung erfahren. Eine Verständigung mit dem jeweiligen Nachbarstaat wäre also nicht nur ein Erfolg für die Regierung, sondern zugleich eine Schwächung der innenpolitischen Opposition. Deren Vorwurf der Feigheit und des „Ausverkaufs nationaler Interessen“ würde im Fall eines päpstlichen Vermittlungsvorschlages kaum gesellschaftlichen Widerhall finden, während die Machthaber innen- wie außenpolitisch ihr Gesicht wahren konnten. Diese Aussicht konnte auch den Spielraum für eventuelle Kompromisse erweitern – eine Hoffnung, die sich zunächst allerdings nicht erfüllte. In der ersten Phase war es dem päpstlichen Gesandten, Kardinal Samoré, gelungen, einen Waffenstillstand, Truppenrückzug und friedlichen Konfliktaustrag durch Verhandlungen zu vereinbaren. In der anschließenden Mediationsphase versuchte Samoré von den starren Positionen zu den ihnen zugrunde liegenden Interessen zu gelangen. Lange Zeit kam es zu keinen nennenswerten Annäherungen der Delegationen, allerdings fand Samoré den Schlüssel für den späteren inhaltlichen Durchbruch, indem er eine Trennung von Landbesitz und (üblicherweise damit verbundenen) Seerechten vorschlug. Die argentinische Regierung wies den Vorschlag jedoch nach langer Bedenkzeit zurück; zwischenstaatliche Spannungen und Provokationen nahmen wieder zu, eine Eskalation drohte. Von 1981 bis 1983 waren die Vertreter des Vatikans weitgehend damit beschäftigt, den Gesprächsfaden nicht ganz abreißen zu lassen und die Chance auf eine friedliche Beilegung zu wahren. Substanzielle Fortschritte gab es erst wieder nach dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien im Dezember 1983. Auf der Grundlage der bisherigen Vorarbeiten gelang nunmehr eine ziemlich unproblematische Einigung, so dass im November 1984 endlich ein „Vertrag über Frieden und Freundschaft“ unterzeichnet werden konnte, der den hundertjährigen Konflikt um den Beagle-Kanal stabil und bis heute ohne weitere Spannungen beilegte.8 Ohne die akute Krisenprävention des Heiligen Stuhls und seine langjährige Beharrlichkeit auch in scheinbar aussichtslosen Situationen wäre der Konflikt längst militärisch ausgetragen worden; der ebenso simple wie intelligente „Coup“, Land- und Wasserrechte zu separieren, hatte die inhaltliche Stagnation aufgebrochen. Nicht aus Eigennutz, sondern um des Friedens willen und im Bewusstsein einer Position in diesem Konflikt, die niemand sonst einnehmen konnte, hatte sich der Heilige Stuhl in Südamerika mit großer Ausdauer engagiert. Durch bewussten Einsatz der geistlichen Autorität des Papstes wurde ein Krieg vermieden, und mehr noch: nachhaltiger Frieden zwischen den südamerikanischen Nachbarstaaten gestiftet. 8
Bei einem (verfassungsrechtlich unverbindlichen) Referendum in Argentinien stimmten rund 80 Prozent der Bevölkerung dem Abkommen zu (bei 73 Prozent Wahlbeteiligung). Am seidenen Faden hing jedoch die Zustimmung der 46 Senatoren, die schließlich mit 23 zu 22 Stimmen (bei einer Enthaltung) denkbar knapp ausfiel; vgl. Hernekamp 1985: 561; Wagner 1992: 184.
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7. DDR: Die Evangelische Kirche und die „friedliche Revolution“ von 1989 Der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ in der DDR Ende der achtziger Jahre hat verschiedene Ursachen und Auslöser: Der sowjetische Politikwechsel unter Gorbatschow („Perestroika“ und „Glasnost“), das Kollabieren der ersten kommunistischen Systeme in Nachbarstaaten und die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ (an der ungarisch-österreichischen Grenze im Sommer 1989), der Bankrott des Wirtschaftssystems in der DDR und anderen Ostblockstaaten, Erosionsprozesse bei der Legitimation des politischen Systems, die Herausbildung von Gegenkulturen und anderes mehr. Diese Rahmenbedingungen für die Überwindung der SED-Herrschaft im Jahr 1989 und die darauf folgende deutsche Wiedervereinigung wurden nicht von der evangelischen Kirche in der DDR geschaffen.9 Dass die ersten Trümmer des zerbrechenden Systems aber bei der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fielen, dass zahlreiche Menschen und Gruppen während des Zusammenbruchs bereits eine neue Gesellschaft und Politik entwarfen, vor allem jedoch dass diese umwälzenden Veränderungen friedlich verliefen, dass eine Diktatur ohne Blutvergießen überwunden und abgeschafft werden konnte, dazu hat die evangelische Kirche in der DDR sowohl als Institution wie auch in Gestalt vieler ihrer Vertreter und Mitglieder in erheblichem Maße beigetragen. Die Evangelische Kirche übernahm insbesondere seit Anfang der achtziger Jahre, vor allem aber in den Jahren 1989/90 im Wesentlichen zwei „Funktionen“ im Rahmen des Widerstandes: Zum einen war sie Plattform und Dach für eine Vielzahl von „alternativen“ oder oppositionellen Menschen und Gruppen; zum anderen war sie selbst als Akteur am Geschehen beteiligt. Die Funktion eines Daches für allerlei kirchliche, kirchenferne und auch ausdrücklich nicht-kirchliche Gruppen war innerhalb der Kirche selbst keineswegs unumstritten. Der Weg des „Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR“ (BEK) zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Opportunismus und Opposition bzw. als „Kirche im Sozialismus“10 war von Beginn an eine Grat9 10
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren ca. 82 Prozent der Bevölkerung der SBZ bzw. DDR evangelisch, weshalb sich die Untersuchung auf die Rolle der evangelischen Kirche konzentriert; die Bedeutung der katholischen Kirche war vergleichsweise marginal; vgl. Büscher 1982: 423. „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Sozialismus sein“. Bericht der KKL vor der BEK-Synode in Eisenach im Juli 1971, zit. nach BEK 1981: 185. Als Begriffsschöpfer gilt der Thüringer Landesbischof Moritz Mitzenheim, der die Formel schon 1968 verwendet hat (vgl. Zillmann 2004, III, Kap. 3.3.2). Der große Interpretationsspielraum dieser Formel war einerseits Anlass intensiver innerkirchlicher Diskussionen, andererseits ermöglichte er lange Zeit einen breiten Konsens über das offizielle Selbstverständnis des BEK: „Dieser allgemein formulierte Begriff fungierte als eine die verschiedenen Strömungen in der Kirche vereinigende Formel. Seine größte Tugend war seine Unbestimmtheit, die allen, auch dem Staat, er-
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wanderung – innerhalb der Kirche wie im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. In der „heißen Phase“ des Widerstandes hatte sich schließlich jene kirchliche Fraktion durchgesetzt, die Kirche im Sinne Dietrich Bonhoeffers als „Kirche für andere“ verstand.11 Die evangelische Kirche genoss als einzige gesellschaftliche Großinstitution einen gewissen rechtlichen, organisatorischen und eben ideologischen Freiraum. Nur sie konnte den zahlreichen neuen Protestgruppen ein Dach und einen Ort bieten, sie zusammenfassen und ihre Kraft bündeln. Die Vertreter dieses Bonhoeffer’schen Kirchenverständnisses boten ihre Kirchen darum bewusst als Plattform an, öffneten sich inhaltlich und institutionell sehr weit, luden Andersdenkende und Andersglaubende ein. So fanden Umwelt-, Friedens-, Menschenrechts-, Frauen-, Wehrdienstverweigerungs-, Dritte-Welt-, Homosexuellenund andere Gruppen in der Kirche einen Ort, an dem Gleichgesinnte oder Interessierte zusammenkommen, diskutieren, Feste feiern, Programme entwerfen oder Organisationen ins Leben rufen konnten. Ebenso diente die Kirche als Veranstaltungsort für Künstler und Kulturschaffende aller Art, vorzugsweise solche, denen ein staatliches Auftrittsverbot auferlegt war, und die in kirchlichen Räumen – und nur dort – einen gewissen Schutz vor staatlichem Zugriff genossen. Die Kirche war „die einzige Institution, die sich auf die Gruppen und die von ihnen vertretenen Anliegen einließ“ und übernahm damit eine Art „gesellschaftliche Stellvertreterrolle“ (Findeis 1994: 253) – mit dem Unterschied gegenüber der SED-Diktatur, dass im Umgang der Menschen und Gruppen demokratische Spielregeln galten und geübt werden konnten. Für diese „Dach-Funktion“ eignete sich Kirche gerade aufgrund jener Eigenschaften oder Besonderheiten, die sie sich zum Teil mühsam bewahrt bzw. erkämpft hatte, um ihren ureigenen biblischen Auftrag, den „Dienst am Evangelium“ und an den Menschen, so gut wie (unter den gegebenen Umständen) möglich zu verrichten – Eigenschaften zugleich, die die große Bevölkerungsmehrheit übrigens jahrzehntelang abgelehnt, belächelt oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatte: Die demokratische Verfasstheit in sozialistischem Umfeld, volkskirchliche (der Realität längst unangemessene)12 Strukturen und landesweite Netzwerke, eigene Ausbildungsstätten und Veranstaltungsräume, eigene Medien bzw. der Besitz von Vervielfältigungsmaschinen für Druckerzeugnisse (die zur Herstellung einer größeren „zweiten“ Öffentlichkeit unschätzbar wichtig waren), Kontakte zu staatlichen
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möglichte, den Begriff für eigene Zwecke zu nutzen“ (Goeckel 1993: 160). Ausführlich zur Auseinandersetzung um die Formel vgl. Falcke 1993. „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“ (Bonhoeffer 1955: 261). Ende der achtziger Jahre waren weniger als 30 Prozent der Bevölkerung (vor allem auf dem Lande) Kirchenmitglieder, nur vier bis fünf Prozent besuchten wenigstens ein Mal monatlich einen Gottesdienst; vgl. http://www.ekd.de/EKD-Texte/glauben/glauben1.html (Zugriff 24. Nov. 2004); http://fachpublikation.de/dokumente/01/26/01008.html#R_42_ (Zugriff 24. Nov. 2004).
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Organen wie auch zu Kulturschaffenden aller Art, die Offenheit für Andersdenkende, für gesellschaftlich Randständige und für verschiedenste Formen von Religiosität (oder Nicht-Religiosität), und nicht zuletzt die Tatsache, dass sich Kirchenleute in der Regel von Jugend an durch Mut und Standhaftigkeit gegen die Ablehnung der gesellschaftlichen Mehrheit sowie gegen staatliche Repressionen behaupten mussten, mithin oftmals glaubwürdige, respektierte Persönlichkeiten darstellten. Diese Faktoren machten es möglich, dass die Kirche die Funktion eines schützenden, integrierenden, institutionell-organisatorischen aber auch inhaltlichen Daches übernehmen konnte, wie es keine andere Institution vermocht hätte. Dieses Dach war für die regimekritischen Menschen und Gruppen außerordentlich wichtig, weil es sowohl den individuellen und lokalen als auch den großflächigen, organisierten Widerstand ermöglichte und/oder dazu ermutigte. Die andere wesentliche Aufgabe der Evangelischen Kirche war das eigenständige Handeln im Sinne einer konstruktiven, gewaltlosen Konfliktbearbeitung. Kirchenleute waren es, die oftmals – als vertrauenswürdige und politisch unbelastete Persönlichkeiten – führende Rollen in den Oppositionsgruppen, in den Dachorganisationen, später an den zahlreichen „Runden Tischen“ und schließlich in der Regierungs-Politik übernahmen. Sie brachten oppositionelle Gruppen und Menschen zusammen, übernahmen Koordination, Organisation und Durchführung von Veranstaltungen und vieles mehr, so dass mitunter gespöttelt wurde, es scheine „aus der sozialistischen DDR eine ‚Pfaffenrepublik‘ zu werden“ (Neubert 1991: 21).13 Pfarrer wie Wolfgang Ullmann, Markus Meckel oder Rainer Eppelmann, Kirchen-Laien wie Lothar de Maizière oder Wolfgang Thierse (Katholik) und andere sind weithin bekannt und stehen für viele weitere, die ebenso aktiv waren, aber im wiedervereinigten Deutschland keine politische und damit öffentliche Bekanntheit erlangten. Die Kirche nutzte für diese Arbeit nun ihre spezifischen Möglichkeiten, um zu einem friedlichen, gewaltlosen Wandel der Verhältnisse beizutragen: Durch Aufrufe bzw. Mahnungen in den Gottesdiensten oder in kirchlichen Publikationen, durch Friedensgebete, durch Einbeziehung gleichgesinnter, populärer Künstler und Kulturschaffender etc. Erinnert sei insbesondere an das Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche, das Ausgangspunkt der anschließenden „Montagsdemonstrationen“ war. Am 9. Oktober 1989 waren es der Schauspieler Bernd-Lutz Lange, der Gewandhauskapellmeister Kurt Masur und der Pfarrer Dr. Peter Zimmermann, die zusammen mit drei 13
So betrug alleine der Anteil der Pastoren (also ungeachtet anderer kirchlicher Mitarbeiter), die nach der „Wende“ politische Funktionen übernahmen, je nach Landeskirche zwischen 15 und 42 Prozent. Der im März 1990 gewählten Volkskammer gehörten 19 ordinierte Pfarrer an, im Kabinett von Ministerpräsident (und ehemaligem Vize-Präses der BEK-Synode) de Maizière saßen wiederum vier Pastoren (vgl. Zillmann 2004, IV, Kap. 4.1.6 und Anm. 47).
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Sekretären der SED-Bezirksleitung eine gemeinsame Erklärung verfassten, in der sie einerseits die Leipziger Montagsdemonstranten zu Gewaltlosigkeit aufriefen und zugleich versprachen, sich bei den staatlichen Organen für eine friedliche Lösung einzusetzen (Vgl. Neues Forum Leipzig 1989: 82, 288 ff.). Dieser Aufruf, in Windeseile in Kirchen und Rundfunk verlesen, gilt – neben der Zurückhaltung der sowjetischen Soldaten in der DDR – als entscheidend, dass die höchst angespannte Situation an diesem Tag nicht eskalierte. Damit verbuchte der gesamte Widerstand einen wichtigen Etappensieg mit landesweiter Signalwirkung. Wie in diesem und vielen anderen Fällen nutzten Kirchenleute schließlich auch ihre (immer umstrittenen) Kontakte zu Politikern und Parteifunktionären, um auf sie im Sinne, wenn nicht der Oppositionsbewegung, so zumindest eines gewaltlosen Konfliktaustrags einzuwirken. Vieles, was sich nach der Wende alsbald und immer mehr außerhalb der Kirche abspielte, war doch innerhalb der Institution Kirche oder von derselben vorbereitet worden. Ohne andere Faktoren des Systemwandels zu vernachlässigen, auch ohne Probleme innerhalb der Kirche oder im Verhältnis zwischen Kirche und Staat bzw. Kirche und Opposition zu negieren, ist es doch schwer vorstellbar, dass die Überwindung der SED-Diktatur 1989/1990 ohne das schützende Dach der Kirche und ohne die vielfältigen Aktivitäten zahlreicher Kirchenleute so friedlich, gewaltlos und vergleichsweise schnell gelungen wäre. 8. Weitere Fallbeispiele in Kürze Die „World Conference of Religions for Peace“ (WCRP) hat es sich zur Aufgabe gemacht, in Krisen- und Kriegsregionen nationale (zum Teil auch Staaten übergreifende) interreligiöse Räte zu initiieren und diese dabei zu unterstützen, in ihren Ländern Beiträge zum Frieden und zur Beendigung von Gewalt zu leisten. Beachtlichen Erfolg hatte beispielsweise die entsprechende WCRP-Initiative in Sierra Leone, wo der nationale Interreligiöse Rat einen entscheidenden Beitrag zur Beendigung des Bürgerkrieges leistete. Auf langfristige Versöhnung und Verständigung ist hingegen die Arbeit des Interreligiösen Rates von BosnienHerzegowina ausgerichtet, 1996 ebenfalls auf WCRP-Initiative gegründet. Er fördert religiöse, politische und ethnische Aufklärung, Bildung und Annäherung beispielsweise durch Publikationen, Rundfunk- und Fernsehprogramme oder Seminare für Multiplikatoren aus Politik, Verwaltung, Nichtregierungsorganisationen und natürlich den Religionsgemeinschaften, aber auch für die Allgemeinheit – zumal die Seminare immer auch der interreligiösen und interethnischen Begegnung und Kontaktarbeit dienen. Besondere Erwähnung verdient die Aus-
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arbeitung eines gemeinsamen Gesetzentwurfes über Religionsfreiheit und das Verhältnis von Staat und Religion, der offenbar so gelungen und überzeugend war, dass er 2004 von allen drei – ansonsten selten konsensfähigen – Ethnien bzw. Teilstaaten in Bosnien-Herzegowina mit einhelliger Zustimmung als Gesetz verabschiedet wurde. Ähnlich der WCRP sind auch der „Ökumenische Rat der Kirchen“ (ÖRK bzw. WCC – World Council of Churches) sowie der „Lutherische Weltbund“ (LWB) initiativ oder beratend an vielen Friedensaktivitäten und Konfliktvermittlungsbemühungen rund um die Welt beteiligt (u. a. Guatemala, El Salvador, Sudan). Dieses Engagement erfolgt zumeist aber in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen oder Organisationen (z. B. UNO, NGOs oder anderen religiösen Gemeinschaften), darum sind die Erfolge selten einem Akteur so eindeutig zuzuordnen wie etwa bei der Vermittlung des Friedensabkommens (durch den WCC) für den Sudan im Jahr 1972, das immerhin über zehn Jahre Bestand hatte. Mitunter wird die Mitwirkung religiöser Akteure auch ganz bewusst vor der Öffentlichkeit verborgen, um den Erfolg der Konfliktvermittlung nicht zu gefährden; in diesen Fällen ist natürlich kaum Substantielles über die Rolle und Bedeutung der religionsbasierten Interventionen festzustellen. Im August 2004 war es der schiitische Großayatollah Ali al-Sistani (geboren 1930), der im Irak seine geistliche Autorität dazu nutzte, den Kampf um die Pilgerstadt Nadschaf zu beenden. Dort lieferten sich Anhänger des radikalen Schiitenführers Muktada al-Sadr und US-Soldaten wochenlange heftige Gefechte. Al-Sistani rief zu einem Friedensmarsch auf Nadschaf auf, dem über 100 000 Iraker folgten. Während eines nur 24-stündigen Waffenstillstandes gelingt es ihm, eine Vereinbarung zu vermitteln und die Kämpfe zu beenden. Betrachtet man das Leben und Wirken al-Sistanis in den vergangenen Jahrzehnten, auch seine mutige Haltung unter dem Regime von Saddam Hussein, so kann man durchaus davon ausgehen, dass es in erster Linie religiöse Motive waren, die ihn zu seinem Einsatz gegen das Blutvergießen und die Zerstörung heiliger Stätten bewogen haben. Trotz klarer, zumeist gemäßigter politischer Stellungnahmen hatte er nie persönliches Machtstreben oder eigene politische Ambitionen erkennen lassen. In einigen Ländern Lateinamerikas war es die katholische Kirche – in Sonderheit die nationalen Bischofskonferenzen –, die lange Zeit Unrechtssysteme und Menschenrechtsverletzungen deckte oder unterstützte. Katholische Geistliche waren es aber auch, die sich vor allem seit den 1980er Jahren auf die Seite des Volkes stellten, Widerstand unterstützten, Öffentlichkeit schufen, in Konflikten vermittelten und dergleichen mehr. Sie leisteten damit enorm wichtige Beiträge und gaben oftmals den Anstoß zur Überwindung dieser Regime, was sie nicht selten mit dem Leben bezahlen mussten. Wie auf den Philippinen ging
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auch in Lateinamerika der kirchliche Widerstand vor allem von Priestern, Orden und Basisgemeinden aus. Bischöfe stellten sich nur vereinzelt, sehr spät oder halbherzig an die Seite des Volkes – oder übernahmen die Rolle von Vermittlern. Während beispielsweise die klare „Option für die Armen und Unterdrückten“ von Erzbischof Oscar Romero von El Salvador (der 1980 ermordet wurde) dem dortigen Widerstand große Aufmerksamkeit und Schwung verlieh und die Regierung erheblich unter Druck setzte, war es sein Nachfolger, Erzbischof Rivera, der daraufhin zwischen Volk bzw. Oppositionsgruppen und Regierung vermittelte. 9. Zusammenfassung Die allgemeine wie wissenschaftliche Betrachtung von Religionen in Konflikten weist eine seltsame Diskrepanz auf: „Lichtgestalten“ wie Gandhi, der gegenwärtige Dalai Lama, Martin Luther King oder der südafrikanische Bischof Desmond Tutu sind weltweit bekannt und geachtet, umfassend beschrieben und beforscht. Sie werden als unerreichbare, geradezu übermenschliche Vorbilder für Frieden und Gewaltlosigkeit gepriesen. Abgesehen von diesen wenigen Persönlichkeiten wird Religion aber weitgehend als destruktiver Eskalations-Faktor in politischen Konflikten wahrgenommen. Gandhi oder Martin Luther King werden nicht als die herausragende „Spitze des Eisberges“ der gewaltlosen religionsbasierten Friedensakteure betrachtet, sondern als absolute Ausnahmen und atypische Einzelfälle. Die oben erläuterten Beispiele machen aber deutlich, dass allen Religionen ein nicht nur theoretisch-theologisches, sondern auch und vor allem politisch relevantes, in der Praxis erwiesenes Friedenspotential innewohnt. Dieses Friedenspotential kann sich als Beitrag zur Nicht-Eskalation von Konflikten auswirken, indem sich Religionsgemeinschaften eben nicht politisch instrumentalisieren lassen und nicht einem gewaltsamem Konfliktaustrag das Wort reden.14 Darüber hinaus kann sich dieses Friedenspotential aber auch in Beiträgen zur aktiven De-Eskalation erweisen, d. h. zur Beendigung oder Unterbrechung von physischer Gewalt und zur Entschärfung von Konflikten bzw. deren Ursachen (struktureller Gewalt).15 Schließlich können religionsbasierte Akteure Wesentliches zur 14 15
Vgl. den Beitrag von Andreas Hasenclever in diesem Band. Strittig ist die Definition von „Eskalation“ (dementsprechend auch von „Deeskalation“). Wenn sie durch die Anwendung von Gewalt gekennzeichnet ist: Welcher Art von Gewalt? Ab welchem Ausmaß? Wird der Aufmarsch von Truppen (wie im Falle des Beagle-Kanal-Konflikts) als Gewalt betrachtet, gar als Eskalation – oder erst der Ausbruch von Gefechten? Ist die Verhinderung dieser Gefechte demnach als Nicht-Eskalation oder De-Eskalation zu betrachten? Da die Begriffsdiskussion an dieser Stelle nachrangig ist, sei auf eine weiterreichende Erörterung verzichtet.
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„Konflikt-Nachsorge“ bzw. Friedenskonsolidierung als Teil einer nachhaltigen konstruktiven Konfliktbearbeitung beitragen.16 Die Strategien der konstruktiven Konfliktbearbeitung reichen dabei von gewaltlosem Widerstand gegen ein herrschendes Regime (Philippinen, m. E. DDR, Indien) über Fazilitation und Vermittlung (Mosambik, Argentinien/Chile, m. E. DDR) bis zu „empowerment“ in Nachkriegsgesellschaften (Kambodscha, WCRP in Bosnien-Herzegowina). Ebenso sind die Instrumente äußerst vielfältig: ziviler Ungehorsam und gesellschaftlich-administrative Parallelstrukturen, Schulungen in Gewaltlosigkeit und konstruktiver Konfliktbearbeitung, „Gute Dienste“ und Mediation, Kontaktarbeit (Vernetzung) und Kontaktvermittlung, politische und religiöse Aufklärung und Bildung, humanitäre Hilfe und Entwicklungsprojekte, Politikberatung oder eigene politische Arbeit, die Weckung bzw. Aufrechterhaltung nationaler und internationaler Aufmerksamkeit, die Erarbeitung greifbarer Friedensabkommen oder langfristig angelegte und darum schwer messbare Integrations- und Versöhnungsarbeit, nicht zuletzt interreligiöser Dialog und Kooperation, um nur einige zu nennen. Selbstverständlich sind die Strategien zumeist in Mischformen zu beobachten. Auch wenn sich einzelne Maßnahmen unter bestimmten Gegebenheiten als mehr oder weniger geeignet erwiesen haben, ist doch ihre „Mischung“ keinesfalls zu verallgemeinern. Sie hängt von verschiedenen Konfliktmerkmalen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Art und den Akteuren des Konfliktes sowie seinem Reifegrad zum Zeitpunkt der Intervention – und natürlich dem Verhältnis des religiösen Akteurs zum Konflikt als unmittelbar Betroffener (Maha Ghosananda), gar Beteiligter in einem Konflikt (beispielsweise die Kirche auf den Philippinen, „Diener Gottes“ in Indien) oder als neutrale, vielleicht externe Drittpartei (Vatikan im Beagle-Konflikt), als mächtige Vermittlungsinstanz (z. B. Vatikan) oder mittellose Laienbewegung (wie die Gemeinschaft Sant’ Egidio). Auf der Suche nach den Gründen, weshalb bestimmte religionsbasierte Institutionen oder Personen in bestimmten politischen Konflikten als Akteure konstruktiver Konfliktbearbeitung geeignet und von beiden Konfliktparteien akzeptiert sind, lassen sich zunächst vier übereinstimmende Faktoren identifizieren: a) Die religiösen Akteure gelten als neutral bzw. allparteilich; es wird vermutet, dass sie keine eigenen oder fremden Interessen verfolgen, die mit den eventuellen Inhalten einer Konfliktregelung zusammenhängen. b) Die religiösen Akteure genießen eine hohe moralische Autorität; diese kann auf dem Charakter der Person (oder Institution), ihren Lehren und ihrer Lebensweise oder ihrem religiösen Rang beruhen. c) Die Konfliktparteien empfinden eine große Nähe zu den religi16
Nur erwähnt und hier nicht weiter thematisiert sei der eher seltene Fall, dass allerdings auch die Wahl gewaltloser Mittel die gegnerische Partei herausfordern und damit (vorübergehend?) zur Konfliktverschärfung beitragen kann, wie etwa das Beispiel Abdul Ghaffar Khans zeigt.
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onsbasierten Akteuren; ihnen wird Kenntnis der Menschen und ihrer Probleme sowie ernsthafte Anteilnahme an ihrem Schicksal unterstellt, woraus auch die Kompetenz zur Konfliktbearbeitung geschlossen wird. Zusammengefasst heißt das: Geeigneten und akzeptierten religiösen Akteuren wird eine hohe Glaub- und Vertrauenswürdigkeit zugesprochen – sowohl als Person wie als religiös und politisch Handelnde. Diese Glaubwürdigkeit ist das Fundament ihrer Eignung, die Vertrauenswürdigkeit begründet ihre allseitige Akzeptanz als Mitwirkende an der Konfliktregelung. Materielle oder politische Mittel und Kontakte stellen hierfür keine Voraussetzung dar; sie können eine nachhaltig erfolgreiche Intervention erleichtern, aber auch die Uneigennützigkeit und Basisnähe und damit die Vertrauenswürdigkeit in Frage stellen und eine Akzeptanz verhindern (vgl. die unterschiedliche Rolle des Vatikans im Beagle-Konflikt und auf den Philippinen). Zweifellos ist es mitunter schwierig, einen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen dem Wirken religionsbasierter Akteure und bestimmten politischen Entwicklungen, zwischen religiösen Elementen oder Lehren und einem konkreten politischen oder zwischenmenschlichen Verhalten, zwischen Spiritualität und Tat nachzuweisen. In ähnlicher Weise gilt dies jedoch auch für säkulare Initiativen konstruktiver Konfliktbearbeitung, die nicht auf Abkommen und Verträge, sondern einen allmählich wachsenden gesellschaftlichen Bewusstseinswandel ausgerichtet sind. Das sollte aber keineswegs dazu führen, das Wirken religiöser Akteure leichthin beiseite zu schieben oder als einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht würdig zu erachten. Politikwissenschaft, respektive Friedens- und Konfliktforschung, schadet sich selbst, wenn sie in streng „szientistische[r] Ausrichtung (…) philosophisch und historisch angegangene Themen an eine Art folkloristischen Rand zu drängen sucht. Aussagenbündel, die sich nicht der methodischen und methodologischen Trennschärfe eines modernen analytischen Wissenschaftsverständnisses bedienen können, sind nach solchen Überzeugungen vorwissenschaftlich. (…) Doch ist eine Politikwissenschaft rational und ihrem Gegenstand adäquat, bei der die res gerendae ausgeblendet wird?“ (Mols 2004: 918).17
Das Konfliktpotential von Religionen ist täglich präsent, ihr Friedenspotential hingegen wird von Medien und Forschung, von Politik und nicht zuletzt den 17
Interessanterweise – auch dies eine seltsame Diskrepanz – wird ein kausaler Zusammenhang zwischen religiöser Lehre und Konfliktverhalten im negativen Fall sehr viel leichter, ja geradezu selbstverständlich angenommen: Dass etwa ein islamischer Selbstmordattentäter aus religiöser Überzeugung handelt gilt als kaum bestreitbar und auch nicht weiter zu beweisen; verweigert ein frommer Moslem aber Gewaltanwendung, tritt er gar vehement für Frieden und Verständigung ein, so wird eher angenommen, dass er – persönlich oder in der Interpretation des Koran – westlich-aufgeklärte Werte „adaptiert“ habe als dass er einer dezidiert religiösen Motivation folgt.
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Religionen selbst vernachlässigt. Erst allmählich scheint sich die Erkenntnis breit zu machen, dass Religionen einen Beitrag zum Frieden leisten können, der weit über den viel geforderten und geförderten „Dialog“ im Sinne eines MiteinanderRedens hinausgeht. Doch nur wenn der Dialog die Frage seiner politischen und gesellschaftlichen Relevanz in den Mittelpunkt stellt, kann er auch einen effektiven Beitrag zur Vermeidung oder Beilegung von Konflikten leisten – seien diese nun religiös „aufgeladen“ oder nicht. Es steht außer Frage, dass in bestimmten Konflikten bzw. Konfliktkonstellationen (bestimmte) religiöse Akteure nicht fähig bzw. nicht geeignet sind, vermittelnd und deeskalierend zu intervenieren – oder allenfalls die Arbeit anderer Konfliktvermittler flankierend unterstützen können, die in jenen Konflikten besser geeignet sein mögen (beispielsweise UNO oder säkulare NGOs). Es steht aber ebenso außer Frage, und die Beispiele unterstreichen dies, dass religiöse Gemeinschaften oder Personen – ob nun als zivilgesellschaftliche oder spezifisch religiöse Akteure – prinzipiell über ein Potential erfolgreicher konstruktiver Konfliktbearbeitung verfügen. Dieses Potential muss von Medien und Politik, Wissenschaft und Friedensforschung weiter entdeckt, freigelegt und schließlich aktiviert werden, denn es ist ein Gebot der Menschlichkeit wie auch politischer Vernunft, alle eventuell hilfreichen Kräfte in die Friedensarbeit einzubeziehen. Doch nicht zuletzt sind, wie erwähnt, auch die Religionen selbst in der Pflicht, sich ihres tatsächlichen, politisch relevanten Friedenspotentials bewusst zu werden, es noch viel mehr zu erkunden, zu erforschen und zu dokumentieren, weiter zu entwickeln, in Konflikten anzubieten und in Friedensbemühungen, wo immer geeignet, einzubringen. Dies gebietet ihrer aller Selbstverständnis und theologischer Anspruch, im Kern wie in der Tat eine Religion des Friedens zu sein. Literatur Appleby, R. Scott (2000): Ambivalence of the Sacred: Religion, Violence and Reconciliation. Lanham. Appleby, R. Scott (2003): Retrieving the Missing Dimension of Statecraft: Religious Faith in the Service of Peacebuilding. In: Johnston 2003: 231-258. Banerjee, Mukulika (2000): The Pathan unarmed. Opposition and Memory in the North West Frontier. Oxford. Battung, Mary R. u. a. (Hrsg.) (1989): Theologie des Kampfes. Christliche Nachfolgepraxis in den Philippinen. Münster. BEK – Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (1981): Kirche als Lerngemeinschaft. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR. Berlin (Ost). Bercovitch, Jacob (1997): Mediation in International Conflict: An Overview of Theory, A Review of Practice. In: Zartman/Rasmussen 1997: 125-153. Berndt, Hagen (1998): Gewaltfreiheit in den Weltreligionen. Vision und Wirklichkeit. Gütersloh.
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Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Mark Arenhövel Biographie: PD Dr. rer. soc.; geb. 1959; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Publizistik in Münster; Promotion und Habilitation im Fach Politikwissenschaft in Gießen. Seit 2005 DAAD Gastprofessor an der St. Kliment Ohridski Universität in Sofia und Akademischer Direktor des dortigen Zentrums für Deutschand- und Europastudien, zugleich Privatdozent an der Universität Gießen. Forschungsgebiete: Transformationstheorie, Politische Theorie, Erinnerungspolitik und Internationale Beziehungen. Veröffentlichungen u. a.: Globales Regieren. Neubeschreibungen der Demokratie in der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. 2003. Demokratie und Erinnerung. Der Blick zurück auf Diktatur und Menschenrechtsverbrechen. Frankfurt a. M. 2000. Manfred Brocker Biographie: Prof. Dr. Dr.; geb. 1959; Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Aachen, Oxford und Köln. Seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Forschungsgebiete: Politische Theorie und Philosophie, Politik und Religion, das politische System der USA. Veröffentlichungen u. a.: Arbeit und Eigentum, Darmstadt 1992; Ethnozentrismus (Hrsg. zus. mit Heino Nau), Darmstadt 1997; Protest – Anpassung – Etablierung. Die Christliche Rechte im Politischen System der USA, Frankfurt a. M. 2004; „God bless America“ – Politik und Religion in den USA (Hrsg.), Darmstadt 2005; Geschichte des politischen Denkens (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2007. Thomas Fuchs Biographie: PD Dr. phil.; geb. 1964; Studium der Geschichte und evangelischen Theologie in Heidelberg, München und Regensburg; seit 2006 Abteilungsleiter Druckschriften an der Forschungsbibliothek Gotha; Privatdozent an der Universität Potsdam. Forschungsgebiete: Ideen- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit.
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Veröffentlichungen u. a.: Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit, Köln/Weimar/Wien 1995; Traditionsstiftung und Erinnerungspolitik. Geschichtsschreibung in Hessen in der Frühen Neuzeit, Kassel 2002; Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500-1850 (Hrsg. zus. mit Sven Trakulhun), Berlin 2003. Andreas Hasenclever Biographie: Prof. Dr.; geb. 1962; Studium der Katholischen Theologie und Politikwissenschaft in Tübingen, München und Paris. Seit 2004 Professor für internationale Politik und Friedensforschung an der Universität Tübingen. Forschungsgebiete: Internationale Institutionen, Demokratischer Frieden, Religion und politische Gewalt, Kriegsursachenforschung. Veröffentlichungen u. a.: Theories of International Regimes (zus. mit Peter Mayer und Volker Rittberger), Cambridge 1997; Die Macht der Moral in der internationalen Politik. Militärische Interventionen westlicher Staaten in Somalia, Ruanda und Bosnien, Frankfurt a. M. 2001; International Institutions are the Key. A New Perspective on the Democratic Peace (zus. mit Britta Weiffen), in: Review of International Studies 32, 2006. Mathias Hildebrandt Biographie: PD Dr. phil.; geb. 1962; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte und Soziologie; seit 1995 wissenschaftlicher Assistent/Oberassistent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg; 2003 bis 2004 und 2006 Vertretungen an den Universitäten Augsburg und Erfurt. Forschungsgebiete: Politische Philosophie und Theorie, Ideengeschichte, Politik und Religion. Veröffentlichungen u. a.: Politische Kultur und Zivilreligion, Würzburg 1996; Im Schatten des Terrorismus (Hrsg. zus. mit Petra Bendel), Wiesbaden 2002; Unfriedliche Religionen? (Hrsg. zus. mit Manfred Brocker), Wiesbaden 2005; Multikulturalismus und Political Correctness in den USA, Wiesbaden 2005; Integration von Muslimen (Hrsg. zus. mit Petra Bendel), München 2006. Kerstin Kellermann Biographie: Dr. phil.; geb. 1970; Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Publizistik in Münster; dort langjährige Leiterin der Forschungsgruppe „Politische Identitäts- und Kulturforschung“ der Arbeitsstelle für Interdisziplinäre Deutschland- und Europaforschung und des Instituts für Politikwissenschaft.
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Forschungsgebiete: Politische Ideengeschichte, Frieden, Gesundheitsförderung. Veröffentlichungen u. a.: Zur Natur des Föderalen (Hrsg. zus. mit Peter Nitschke), Münster 1997; Aktivierender Staat und aktive Bürger. Plädoyer für eine integrative Gesundheitspolitik (Hrsg. zus. mit Norbert Konegen/Florian Staeck), Frankfurt a. M. 2001; Fragen an Deutschlands Zukunft und seine Stellung in Europa (Hrsg. zus. mit Karl Hahn/Karsten Roesler), Münster 2001; Politik und Spiritualität, Stuttgart 2005. Peter Koslowski Biographie: Prof. Dr. phil., Dr. h. c.; geb. 1951; Studium der Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Tübingen, München und Virginia. 1987-2001 Gründungsdirektor des Forschungsinstituts für Philosophie, Hannover. Seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie, insbesondere Philosophie des Managements und der Organisationen an der Vrije Universiteit Amsterdam. Forschungsgebiete: Metaphysik, Religionsphilosophie, Ethik, Wirtschaftsethik. Veröffentlichungen u. a.: Die postmoderne Kultur, München 21988; Prinzipien der Ethischen Ökonomie, Tübingen 21994; Ethik des Kapitalismus, mit einem Kommentar von James M. Buchanan, Tübingen 61996; Philosophien der Offenbarung: Antiker Gnostizismus – Franz von Baader – Schelling, Paderborn 2001. Sabine Kurtenbach Biographie: Dr. phil.; geb. 1961; Studium der Politischen Wissenschaft und Romanistik in Madrid, Erlangen, Sevilla und Hamburg. Seit 1993 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg sowie freie entwicklungspolitische Gutachterin. Forschungsgebiete: Friedensprozesse und Nachkriegsgesellschaften. Veröffentlichungen u. a.: Staatliche Organisation und Krieg in Lateinamerika, Hamburg/Münster 1991; Gewalteindämmendes Engagement externer Akteure in Kolumbien, Hamburg 2004; Kriege als (Über-) Lebenswelten. Schattenglobalisierung, Kriegsökonomien und Inseln der Zivilität (zus. mit Peter Lock), Bonn 2004; Colombia – Caminos para salir de la violencia (Hrsg. zus. mit Linda Helfrich), Madrid 2006. Bernhard Moltmann Biographie: Dr. phil.; geb. 1945; Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Berlin und Rio de Janeiro; seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt a. M.
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Forschungsgebiete: Versöhnung in Nachbürgerkriegsgesellschaften, NordirlandKonflikt, Rüstungsexportpolitik. Veröffentlichen u. a.: „Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben ...“. Nordirland und sein kalter Frieden, Frankfurt a. M. 2002; Demokratie-Experimente in Nachbürgerkriegsgesellschaften (zus. mit Thorsten Gromes und Bruno Schoch), Frankfurt a. M. 2004; Versöhnung – Gratwanderung zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit (zus. mit Susanne Buckley-Zistel), in: Reinhard Mutz u. a. (Hrsg.), Friedensgutachten 2006, S. 168-176. Henrique Ricardo Otten Biographie: Dr. phil.; geb. 1958; Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Soziologie an der RWTH Aachen. Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen und an der Katholischen Fachhochschule, Aachen. Zur Zeit Leiter eines Projekts gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie tätig im Arbeitsbereich Migration für den Kreis Aachen. Forschungsgebiete: Politische Theorie und Ideengeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Vordenker der Neuen Rechten (zus. mit Kurt Lenk und Günter Meuter), Frankfurt a. M. 1997; Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert (Hrsg. zus. mit Günter Meuter), Würzburg 1999; Demokratie, Recht und Legitimität im 21. Jahrhundert (Hrsg. zus. mit Mandana Biegi/Jürgen Förster/Thomas Philipp), Wiesbaden 2007. Thomas Scheffler Biographie: Dr. phil.; geb. 1950; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte und Psychologie an der Freien Universität Berlin; seit 2005 Dozent für Geschichte, Politik und Gesellschaft des modernen Nahen Ostens am Carsten Niebuhr Institut der Universität Kopenhagen. Forschungsgebiete: Religion und Gewalt, ethnische Konflikte im Nahen Osten, deutsche Nahostpolitik. Veröffentlichungen u. a.: Ethnisch-religiöse Konflikte und gesellschaftliche Integration im Vorderen und Mittleren Orient, Berlin 1985; Ethnizität und Gewalt (Hrsg.), Hamburg 1991; Die SPD und der Algerienkrieg 1954-1962, Berlin 1995; Religion between Violence and Reconciliation (Hrsg.), Beirut/Würzburg 2002. Rolf Schieder Biographie: Prof. Dr.; geb. 1953; Studium der Evangelischen Theologie in Neuendettelsau, Göttingen und München; 1994-2002 Professor für Religionspädago-
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gik und Religionsdidaktik an der Universität Koblenz-Landau; seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsgebiete: Religionspädagogik, Bildungsstandards und Qualitätssicherung im Religionsunterricht, Religion und Politik. Veröffentlichungen u. a.: Civil Religion. Die religiöse Dimension politischer Kultur, Gütersloh 1987; Religion im Radio. Protestantische Rundfunkarbeit in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Stuttgart 1995; Einführung in das Studium der Evangelischen Theologie, Stuttgart 1999; Wieviel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt a. M. 2001. Reinhard W. Sonnenschmidt Biographie: PD Dr. phil.; geb. 1958; Studium der Sozialwissenschaften, Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum; seit 1990 in unterschiedlichen Positionen (Lehrbeauftragter; wiss. Mitarbeiter; Professurvertreter) an der Universität Duisburg tätig. Forschungsgebiete: Politische Philosophie, neue religiöse Bewegungen, Religionspolitologie, Ethnologie. Veröffentlichungen u. a.: Mythos, Trauma und Gewalt in archaischen Gesellschaften, Gräfelfing 1994; Politische Gnosis. Entfremdungsglaube und Unsterblichkeitsillusion in spätantiker Religion und politischer Philosophie, München 2001; „Wer Religion verkennt, erkennt Politik nicht“. Perspektiven der Religionspolitologie (Hrsg. zus. mit Claus-E. Bärsch und Peter Berghoff), Würzburg 2005. Uwe Voigt Biographie: Dr. phil.; geb. 1965; Studium der Philosophie, Psychologie und Katholischen Theologie an den Universitäten Bamberg und Innsbruck; seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent am Lehrstuhl Philosophie I der Universität Bamberg. Forschungsgebiete: Friedens- und Geschichtskonzeptionen in der frühen Neuzeit; antike und mittelalterliche Philosophie; interkulturelle Philosophie; Philosophie des Geistes und der Psychologie. Veröffentlichungen u. a.: Das Geschichtsverständnis des Johann Amos Comenius in „Via lucis“ als Syntheseleistung. Vom Konflikt der Extreme zur Kooperation der Kulturen, Frankfurt a. M. 1996; Johann Amos Comenius, Der Weg des Lichtes/Via lucis (Hrsg.), Hamburg 1997; Die Menschenrechte im interkulturellen Dialog (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1998.
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Markus A. Weingardt Biographie: Dr. rer. soc.; geb. 1969; Studium der Politik- und Verwaltungswissenschaften an den Universitäten Konstanz und Jerusalem; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST e. V. (Heidelberg) und der Stiftung Weltethos (Tübingen); 2004-2005 Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen. Forschungsgebiete: Deutsche Israel- und Nahostpolitik; Religion und Konflikt/ Frieden. Veröffentlichungen u. a.: Deutsch-Israelische Beziehungen: Zur Genese bilateraler Verträge 1949-1996, Konstanz 1997; Deutsche Israel- und Nahostpolitik: Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949, Frankfurt a. M. 2002; Das Friedenspotential von Religionen (erscheint 2007).