Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 10
Flucht nach VARXODON von Arndt Ellmer
Atlan, der unsterbliche Arkonide...
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 10
Flucht nach VARXODON von Arndt Ellmer
Atlan, der unsterbliche Arkonide, macht sich im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) zusammen mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen, die von den geheimnisvollen »Lordrichtern von Garb« bedroht werden. Doch ehe sie sich nach Gruelfin begeben können, müssen sie den Lordrichtern in der heimatlichen Milchstraße die Stirn bieten: Diese versuchen varganische Psi-Quellen für bislang unbekannte Zwecke zu missbrauchen. Um diese Umtriebe zu stoppen, beschließen Atlan und Kythara, sich einen »Kardenmogher« zu beschaffen, eine alte varganische Waffe. Auf Parkasthon können sie sich sogar in den Besitz eines dieser alten Artefakte bringen, ohne es indes bislang wirklich beherrschen zu können. Ihnen bleibt aber nicht viel mehr als die FLUCHT NACH VARXODON …
Flucht nach VARXODON
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide erblickt zum ersten Mal VARXODON. Kythara - Die Varganin befiehlt den Flugin die Dunkelwolke. Gorgh-12 - Der Daorghor macht Maske. Sorgaron - Ein Helfer aus höchster Not.
1. Ich hasste es, nicht eingreifen zu können. Der Gedanke, einer Maschine auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, machte mich innerlich fast rasend, noch dazu einer völlig fremdartigen Maschine. Dass ich ähnliche Situationen in meinem Leben schon oft erlebt hatte, änderte nichts daran. Verflixtes Ding! Den Kardenmogher kümmerte es nicht. Die Hologramme zeigten ständig wechselnde Werte an. Wenig später fiel die 60 Meter lange Röhre in den Normalraum zurück. »Positionsbestimmung!«, sagte ich. Das Fahrzeug ignorierte die Aufforderung auch, als ich sie mehrmals wiederholte. Dem Kardenmogher war es egal, dass ich der einzige handlungsfähige Passagier war: Kythara war ohnmächtig, das Saqsurmaa schlief noch immer, und Gorgh-12 kauerte apathisch neben dem Wurm am Boden der Hohlblase. Es war zum Verzweifeln, und das Einzige, was mir einigermaßen tröstlich vorkam, war der Umstand, dass uns zumindest von außerhalb keine direkte Gefahr drohte, war unser »Gefährt« doch ein Machtmittel, an dem sich ganze Flotten die Geschütze wund geschossen hätten. Wenn es funktionierte. Das eben war der Pferdefuß an der ganzen Angelegenheit … Von meinen drei Begleitern schien mir lediglich das Saqsurmaa außer Gefahr zu sein: Soweit ich das beurteilen konnte, war es schlicht müde und voll gefressen und würde beizeiten wieder erwachen. Gorgh-12, der Daorghor-Wissenschaftler, machte mir hingegen Kopfzerbrechen: Er wirkte, als habe er mit dem Leben abgeschlossen. Keine Fühlerspitze an seinem Körper bewegte sich. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er noch
lebte. Allerdings würde er noch warten müssen, ehe ich mich mit seiner Insektenpsyche oder seinem körperlichen Wohlbefinden befassen konnte. Eine andere ging vor, weil sie die Einzige war, die der Kardenmogher als zugriffsberechtigt anerkannte. »Kythara!« Ich beugte mich über die Varganin und tastete nach ihrem Puls. Sehr schwach, aber spürbar. Ansonsten: keine Reaktion. Um uns herum glühten die verschiedenfarbigen Kontrollhologramme in stetigem Licht. Bei den Sternengöttern! Es musste doch etwas geben, was ich tun konnte! Ich versuchte es Kythara nachzumachen und griff in die Hologramme, um Schaltflächen zu bedienen, Vektorgrafiken zu verschieben, Nuancenregler zu bedienen … aber meine Finger stießen einfach durch die Holoprojektionen hindurch, ohne etwas zu bewirken. »Atlan an Kardenmogher! Statusmeldung!« Wieder erhielt ich keine Antwort. Die Hologramme um uns herum blieben unverändert. Du bist nicht zugrifsberechtigt!, meldete sich mein Extrasinn. Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen, antwortete ich. Dann wäre dein Leben vor wenigen Minuten zu Ende gewesen, denn da hast du zuletzt daran gedacht. Aber angesichts deiner operativen Hektik schien es mir nachhaltig sinnvoll, dich nochmal daran zu erinnern. Der staubtrockene Tonfall, den der Logiksektor bei seiner mentalen Ansprache mitklingen ließ, verriet nicht, dass er sehr wohl wusste, was Sarkasmus war, obwohl er es darin mitunter zu wahrer Meisterschaft brachte. Danke! Gern geschehen. Und wenn du noch einen Rat brauchst: Warte ab.
4 Ich tätschelte Kytharas Wange. Die Varganin sog hörbar die Luft ein, erwachte aber noch immer nicht. Wahrscheinlich hatte der Logiksektor Recht. Was machten schon ein paar Minuten mehr oder weniger … Irgendwo hoch über uns entstanden Geräusche, schrill und ungleichmäßig. Ich zuckte zusammen. Was …? Auch Gorgh gab ein Lebenszeichen von sich. Er wimmerte kurz auf und riss das obere Armpaar hoch, um damit seinen birnenförmig aufgewölbten Hinterkopf und die empfindliche Nackenpartie zu schützen. Ich stemmte mich hoch und ging zu ihm hinüber. »Keine Angst. Das gilt nicht uns.« Die Mandibeln am spitzen vorderen Kopfende klackten unschlüssig. »Du hast Recht«, gab ich zu. »Mit Bestimmtheit kann ich es nicht sagen.« Die Geräusche kamen von außerhalb der undurchsichtigen Hohlblase mit ihren zwölf Metern Durchmesser. Irgendetwas passierte dort. Aber so sehr ich die Galerie aus holografischen Bildschirmen auch anstarrte, keiner zeigte ein Bild des Vorgangs. Wenigstens funktionierte die Außenbeobachtung. Der Murloth-Nebel lag hinter uns. Ich schätzte die zurückgelegte Entfernung auf maximal eine Lichtwoche, nicht gerade viel, wenn man die überlegene Technik der Varganen berücksichtigte. Nach einem zielgerichteten Flug sah das nicht aus. Schön, dass du dich in solchen Angelegenheiten auf mich verlässt, meinte der Extrasinn. Seine Worte troffen vor Sarkasmus. Der Kardenmogher wartet! So schlau war ich auch. Noch hatte das varganische Konstrukt uns nicht vollständig als Berechtigte anerkannt. Offenbar waren die Programme der Steuerpositronik mit den Jahrtausenden durcheinander geraten. Es lag an uns, besser gesagt an der Varganin, die Fehler zu finden und zu beseitigen. »Kythara?« Ihr Brustkorb hob und senkte sich deutlicher, ihr Atem ging lauter. Aber noch erwachte sie nicht.
Arndt Ellmer Stattdessen klackten die Mandibeln des Daorghors in hektischem Stakkato. Der Chefwissenschaftler von Maran'Thor richtete sich im Zeitlupentempo auf. »Dieser Flug ins Ungewisse darf überallhin führen, nur nicht auf eine Welt der Lordrichter.« Er spielte darauf an, dass wir mit dem Kardenmogher gegen die Psi-Quelle kämpfen wollten. »Keine Sorge, Gorgh. Vielleicht steuern wir zunächst unser ursprüngliches Ziel an, die Sternenstadt VARXODON.« Sie lag in einem Dunkelnebel, wo nicht einmal Magantilliken, der Henker, die varganischen Rebellen hatte aufspüren können. Die Mandibeln hielten in ihrer Bewegung inne. Ich hatte keine Ahnung, ob das nun Zustimmung oder Zweifel signalisierte. Eines stand jedenfalls fest: Wenn Gorgh je wieder einem Erzherzog oder Lordrichter über den Weg lief, bedeutete das seinen Tod. In den Reihen des Schwerts der Ordnung gab es keinen Platz für Abtrünnige. Infolgedessen war er dazu verdammt, uns zu begleiten. »Flieg endlich weiter, du viel gepriesenes Wunderwerk varganischer Ingenieurskunst!«, fauchte ich deprimiert. Als überlichtfähiges Raumschiff ließ es sich wenigstens eingeschränkt nutzen. Aber als Waffe …?
* Manchmal dehnen sich Sekunden schier endlos, kommen einem Minuten wie Ewigkeiten vor. Mir erging es angesichts der reglos liegenden Varganin so. Die hüftlange Goldlockenmähne umhüllte den Oberkörper wie eine Decke. Das schmale Gesicht mit der bronzefarbenen Haut war entspannt, ganz im Gegensatz zu meinem eigenen. Uns lief die Zeit davon. Was immer mit dir los ist, wach endlich auf! »Kardenmogher!«, versuchte ich es an der anderen Front meiner Bemühungen. »Es
Flucht nach VARXODON wird nicht lange dauern, bis die Verfolger hier sind. Du solltest deinen Flug endlich fortsetzen.« Ich erhielt keine Antwort – was erwartete ich auch. Dafür entdeckte ich auf Kytharas Gesicht einen Anflug von Überraschung, gefolgt von einem kaum wahrnehmbaren Flattern der Nasenflügel. Endlich! Sie schlug die Augen auf, sah mich verwundert an. Die rechte Hand fuhr zur Stirn, strich ein paar Locken aus dem Gesicht – Kythara sprang mit einem Satz auf. »Atlan, was …« »Ich weiß es nicht. Du hattest das Bewusstsein verloren.« »Die Kopfschmerzen … Dieses dumme Ding!« Sie fuhr herum, starrte in Richtung der holografischen Hauptkonsole. »Kardenmogher, wo sind wir?« »Ungefähr eine Lichtwoche von Parkasthon entfernt«, sagte ich an Stelle der Positronik. Sie beachtete es nicht, wandte mir den Rücken zu, murmelte halblaut vor sich hin. »Ich brauche eine einigermaßen genaue Positionsbestimmung. Wo ist nur dieser Aktivierungsknopf?« Ein Blinken zeigte an, dass der Kardenmogher ihr Unterstützung gewährte. Sie brauchte keinen Sensor zu berühren. Aus einem der sie jetzt umschwirrenden Hologramme wuchs ihr ein dreidimensionaler Datenblock entgegen. Kythara musterte ihn kurz. »Einen Augenblick, hier haben wir es gleich.« Sie fischte nach einem anderen Hologramm. Ihre Fingerspitzen versanken in der dunkelblauen Oberfläche, das Gebilde aus Licht hielt an. Wie ein Klavierspieler bewegte Kythara die Finger. Dabei schloss sie die Augen. »Sieben Lichttage und achteinhalb Lichtstunden. Noch haben wir unsere Spur nicht verwischt«, sagte sie zu der Positronik. »Das will aber nichts heißen. Auf Vassantor lauert der Gegner ebenfalls.«
5 Vassantor – die Welt des in Ungnade gefallenen Sehers Vrentizianex. Da war ich schon einmal gewesen. Ursprünglich ein bewohnter Mond eines Riesenplaneten, war Vassantor schon vor Jahrhunderttausenden aus seiner Bahn gerissen worden. Als Irrläufer bewegte sich der atmosphärelose Himmelskörper seither in einer stark elliptischen Bahn um seine namenlose weiße Sonne. »Dabei brauche ich jede Unterstützung, die ich kriegen kann«, fuhr die Varganin fort. »Wir sollten so schnell wie möglich miteinander vertraut werden. Wo ist der Programmrechner für das Hyperraumaggregat?« Ich beobachtete, wie sie blitzschnell die Finger aus dem Hologramm zog. Unschlüssig begann sie vor der Galerie der stationären Holoprojektionen entlangzugehen. Mehrmals blieb sie stehen, dachte angestrengt nach und schüttelte dann den Kopf. »Das hier muss er sein.« Ein Brummen erfüllte übergangslos die golden schimmernde Hohlkugel. An mehreren Stellen drang das blaue Leuchten des Kardenmoghers durch, das inzwischen das Innere des Schiffes erhellte. »Nur wenn wir uns vollständig aufeinander verlassen können, haben wir eine Chance. Würdest du bitte einen Komplettscan durchführen?« Aus dem Nichts entstand blassrosafarbenes Licht und hüllte die Varganin ein. Sie verlor den Boden unter den Stiefeln, schwebte ein Stück empor, bis sie etwa einen Meter über dem Boden zur Ruhe kam. Das Licht um sie herum waberte und versickerte allmählich in Kytharas Körper. Sie ließ die Prozedur mit weit geöffneten Augen und völlig reglos über sich ergehen. Nach einer Weile kehrte das blassrosa Licht zurück. Es zog sich zu einer Spindel zusammen, die rasend schnell zu rotieren begann. Augenblicke später verschwand das Licht so schnell, wie es entstanden war. »Du bist als Varganin und damit als Kommandantin akzeptiert!«
6 Die Mitteilung des Kardenmoghers war knapp, und sie klang nüchtern, wie Positroniken es so an sich haben. Nichts in ihr verriet, ob das Rechengehirn während der jahrtausendelangen Wartezeit Schäden davongetragen hatte – ob es »übergeschnappt war«, wie mein alter Freund Reginald Bull es ausdrücken würde. »Danke. Meine drei Begleiter sind als Freunde zu behandeln.« »Selbstverständlich, Kythara.« Ich sah ihr zu, wie sie die nächste Hyperraumetappe programmierte. »Drei Lichtjahre in Richtung Westside der Galaxis«, bestätigte die Positronik ihre Eingaben. »Das Programm wird umgehend ausgeführt.« »Danke.« Die Varganin wandte sich um und sah zu Gorgh und dem Saqsurmaa hinüber. »Ich bin froh, dass wir bereits ein so eingespieltes Team sind. Das ist eine gute Grundlage für gegenseitiges Vertrauen.« Ich rätselte, was sie damit meinte. Eine Positronik stellte im Allgemeinen keine emotionalen Anforderungen. »Kardenmogher, ich werde dich jetzt einer kompletten Analyse unterziehen, um deinen Zustand zu optimieren«, fuhr sie fort. Wir brauchten einen genauen Überblick über die Leistungsfähigkeit und die Einsatzmöglichkeiten des Schiffes, das gleichzeitig eine Waffe war. Kytharas seltsames Verhalten gegenüber der Positronik – hatte es mit ihrer Ohnmacht zu tun? Oder handelte es sich um eine Art mentale Rückkopplung zwischen den Systemen des Kardenmoghers und dem Bewusstsein der Varganin? Der Gedanke, dass der mögliche Wahnsinn des Fahrzeugs schleichend auf Kythara überging, bereitete mir Sorgen. Andererseits war ich ratlos, was ich dagegen unternehmen konnte. Diese emotionale Öffnung gegenüber der Positronik … Narr! Wo hast du nur deine Gedanken? Der Extrasinn sparte nicht an Spott in seiner mentalen Stimme. Ich zog die Augenbrauen hoch. Jetzt fing
Arndt Ellmer das Produkt der ARK SUMMIA auch schon an. Hättest du die Freundlichkeit, deine Bemerkung zu erläutern?, dachte ich. Sie hat die ganze Zeit dich gemeint, nicht den Kardenmogher. Du hast es nur nicht gemerkt!
* Der zweieinhalb Meter lange und dreißig Zentimeter dicke Wurm schlief noch immer. Er hatte sich als meinen Diener bezeichnet, weil meine Aura ihm verriet, dass ich wie Litrak war. Das Saqsurmaa mit dem Namen Emion hatte einen Teil seines Ichs verloren. Ihm fehlte die Erinnerung an sein Vorleben. Es wusste nichts mehr über seinen ehemaligen Herrn außer dem Namen und der Aura. Emion wusste aber auch nichts mehr über seine Fähigkeiten, die ihn einst qualifiziert hatten, für Litrak tätig zu sein. Das Saqsurmaa vermutete lediglich, dass sie noch vorhanden waren. Er konnte sie nicht abrufen, weil er nicht wusste, worum es sich handelte. Emion hatte lange Zeit transformiert in diesem Würfel zugebracht, einer Art Überlebenskammer. Als das rätselhafte Geschöpf erwacht war, hatte es unter anderem einen Stuhl aufgefressen oder besser: absorbiert, weil es Hunger gehabt hatte. Der Gedanke, es könnte sich bei seinem überhasteten Appetit über wichtige Aggregate des Kardenmoghers hermachen, verursachte mir ein flaues Gefühl im Magen. Gab es einen tieferen Sinn hinter unserem »Fund« des Saqsurmaa? War Emion noch eine Rolle zugedacht in dem Geschehen, in das wir uns verstrickten, oder war er nicht mehr als eine merkwürdige kleine Nebenepisode, eine »Altlast« meiner Abenteuer auf den Obsidianwelten? Während ich noch über Emions Geheimnisse spekulierte, wandte sich auch die Positronik dem Saqsurmaa zu. Durch die golden schimmernde Wand der 12-Meter-Blase diffundierte ein etwa fünfzig Zentimeter durchmessender und zwanzig Zentimeter
Flucht nach VARXODON hoher Diskus. Aus kurzen Röhren hingen zwei Meter lange Tentakel schlaff herab. Die Maschine schwebte in Augenhöhe auf Emion zu. Gorgh sprang vorsichtshalber auf und räumte den Platz neben dem Saqsurmaa. Über dem schlafenden Wurm hielt der Diskus an. Seine Oberfläche klappte hoch, aus den Rundungen wurden Kanten. Schneller, als das Arkonidenauge schauen konnte, verwandelte sich der Diskus in einen Würfel mit zwei kegelförmigen Aufsätzen, einer unten, einer oben. Die Tentakel blieben. Auf Grund der veränderten Positionen der Röhrchen pendelten sie hin und her. Nach und nach kamen sie zur Ruhe, reihten sich links und rechts über dem Wurm auf. Ohne das Saqsurmaa zu berühren, untersuchten sie seinen Körper. »Dieses Wesen schläft«, erläuterte die nüchterne Stimme der Positronik, diesmal aus einem winzigen Lautsprecher an der Unterseite des Würfels. »Gleichzeitig ist es auch tot. In seinem Innern finden keinerlei Stoffwechselvorgänge statt.« Langsam kristallisierte sich die Tragweite der Beschädigungen des Kardenmoghers heraus. »Es hat fürstlich gegessen«, sagte ich. »Seither schläft es. Wenn du keine Vorgänge in seinem Körper erkennen kannst, arbeiten deine Sensoren vermutlich fehlerhaft.« »Sensoren fehlerhaft …« Der Würfel verwandelte sich in einen Diskus zurück und »floh«. Deutlich schneller, als er gekommen war, raste er zur goldenen Wandung und durchschlug sie. »Atlan!« Ich hörte leisen Tadel aus der Stimme der Varganin. »Der Kardenmogher hat Probleme genug.« »Willst du damit andeuten, dass er so etwas wie ein eigenes Empfinden besitzt?« Ich dachte an die Posbis, die positronischbiologischen Roboter von der Hundertsonnenwelt mit ihren Bioplasmazusätzen. Sie gab keine Antwort, wollte es mir nicht sagen. Oder sie war mit ihrer Aufmerksamkeit schon längst irgendwo anders. Der kur-
7 ze Blick, den sie mir zugeworfen hatte, war durch mich hindurchgegangen. Ich wandte mich dem Daorghor zu. »Je nachdem, wohin wir schlussendlich fliegen, überlassen wir es dir, ob du mitkommst oder nicht. Wir setzen dich gern auf einer von Torghan, Daorghor oder einem der anderen Völker bewohnten Welt ab.« »Nein, nein. Die Lordrichter würden es schnell erfahren. Alle von unseren Völkern bewohnten Planeten stehen im Dienst des Schwerts der Ordnung.« Wie der Name schon sagte, duldeten die Lordrichter von Garb in diesem Verbund keinerlei Unordnung. »Es kann gern eine andere Welt sein«, bot ich ihm an. »Natürlich kannst du auch bei uns bleiben. Wir wollen dich auf keinen Fall in Gefahr bringen.« Interessenkonflikte waren vorprogrammiert. Unser Weg führte uns früher oder später wieder mit den Insektoiden zusammen. Gorgh bewegte lautlos die Mandibeln, vermutlich ein Zeichen der Hilflosigkeit. Ich überlegte, womit wir ihn beschäftigen konnten, damit er auf andere Gedanken kam. Als Chefwissenschaftler von Maran'Thor hätte er durchaus Interesse an der Technik des Kardenmoghers zeigen können. Aber er machte keine Anstalten, sondern zog es vor, an seinen Platz neben dem schlafenden Saqsurmaa zurückzukehren. Dort blieb er reglos stehen, eine Chitinstatue, die über den Schlaf des Wurms wachte.
2. Innerhalb weniger Tage hatte sich das Bild abgerundet, das wir uns über die PsiQuellen und ihre Bedeutung machten. Die Worte des sterbenden Cappins auf der Stahlwelt ergaben dadurch einen Sinn. Carscann hatte von einer tödlichen Gefahr für seine Heimatgalaxis Gruelfin gesprochen, von schrecklichen Kriegen und davon, dass das »Schwert der Ordnung« darauf wartete, die Ernte einfahren zu können. Wenn die Lord-
8 richter von Garb erst einmal erschienen, wären alle Cappins verloren. Die »Quelle« solle pervertiert werden. Von Kythara wusste ich, dass die Varganen einst fünf Psi-Stationen im Leerraum rings um die Milchstraße errichtet hatten, um die kosmischen Kräfte anzuzapfen und zu speichern. Von den fünf varganischen Stationen schienen drei durch die gehorteten psionischen Ballungen mit der Zeit ein Eigenbewusstsein entwickelt zu haben. Sie strahlten seither im Psi-Teil des UHFSHF-Bereichs und waren zu Psi-Quellen geworden. Mir drängten sich sofort Gedanken an das Psionische Netz auf, das unser Universum durchzog und mit dessen Essenz selbst verbunden zu sein schien. Welche Gefahren Manipulationen daran heraufbeschworen, hatte ich bereits erleben müssen. Selbst wenn die Psi-Quellen nicht das Netz selbst anzapften, war es meines Erachtens doch kaum mehr als eine Zeitfrage, bis das Netz auf solche psionischen Leuchtfeuer reagieren würde – doch wann und in welcher Form, das entzog sich meiner Kenntnis. Einst hatte ich mit einer entarteten PsiQuelle zu tun gehabt, Skanmanyon, und damals war ich auf mich gestellt gewesen. Es gab keinen Grund zu der Annahme, diesmal könne es anders sein. Wir konnten nicht darauf hoffen, dass die Regelungsmechanismen des Kosmos das Problem in den Griff bekommen würden, denn es konnte sehr gut sein, dass die Lordrichter bis dahin Gruelfin und womöglich auch die Milchstraße mit Hilfe der Psi-Quellen erobert hatten. Allerdings hatten wir eine Chance, die uns ausgerechnet diese Quellen eröffneten, denn obwohl sie wohl mehr oder weniger vom Schwert der Ordnung übernommen waren, handelte es sich um varganische Konstrukte – und konnten zumindest eingeschränkt von Varganen benutzt werden. Über die PsiStationen konnte man etliche der Versunkenen Welten der Varganen direkt erreichen. Umgekehrt gelangte man über die Transmitter dieser Welten in die Psi-Stationen. Ungeheuer wichtig für die Beurteilung der Lage
Arndt Ellmer und die Größe der Gefahr war der Umstand, dass Kythara die fünf ursprünglichen Standorte der Psi-Stationen kannte. Und jede Information, die wir weiterhin sammelten, würde uns helfen können, die vage gehaltene Katastrophenmeldung des Cappins besser zu verstehen. Seit unserem Aufbruch hatten wir mehrerlei festgestellt: Zumindest die Psi-Quelle des Murloth-Nebels war von ihrem ursprünglichen Standort aus dorthin versetzt worden. Was mit den anderen war, wussten wir noch nicht. Wir hatten die Invasoren kennen gelernt, Insektoide aus den Völkern der Shiruh, Ur'orgh, Daorghor und Torghan. Kythara und ich waren einem Eishaarfeld begegnet, der semimateriellen Erscheinungsform eines Lordrichters von Garb, und dessen Verhalten hatte gewirkt, als ob er uns – oder zumindest mich – kenne. Was ich im Gegenzug nicht behaupten konnte. Die Androidenproduktion auf Narukku war zur Schaffung und Optimierung von Kriegern einer riesigen Armee gedacht gewesen, ein in die Milliarden gehendes, am Fließband produziertes Heer nach Belieben programmierbarer Kämpfer, die durch PsiImplantate möglicherweise über Parakräfte des gesamten Psi-Spektrums verfügt hätten. In welchem Konflikt sie hätten eingesetzt werden sollen … ich wusste es nicht. Noch nicht. Doch dass ein solcher Einsatz hinter ihrer Erschaffung gestanden hatte, war kaum zu bezweifeln. Angesichts des Machtpotenzials solcher Psi-Konzentrationen verstand es sich von selbst, dass wir einen Missbrauch nicht zulassen würden. Gegen Milliarden Androiden und Insektoiden richteten wir zu zweit nichts aus. Es galt, den Lordrichtern von Garb die Grundlage für ihr Vorhaben zu entziehen. Eine Abschaltung der Psi-Quelle also oder im Notfall deren Vernichtung, wobei ich Letzteres erst einmal ausschloss. Welche verheerenden Auswirkungen eine Zerstörung auf eine ganze Galaxis wie die Milchstraße oder Gruelfin hatte, war mir ebenso klar wie der Varganin. Mit dem Kardenmogher hatten wir ein In-
Flucht nach VARXODON strument gefunden, um gegen die Psi-Quelle vorzugehen. Nach Kytharas Worten handelte es sich bei diesem Schiff um eine fast ultimative Waffe, mit der ganze Planeten entvölkert werden konnten. Gleichzeitig stellte das Schiff aber auch ein multifunktional einsetzbares Allzweckgerät dar, das zum Beispiel in kürzester Zeit ganze Städte aus dem Boden stampfte. Es ersetzte Kriegsflotten, Transportsysteme und Verwaltungen, konnte sich in Einzelmodule aufspalten, formenergetisch projizierte Zusatzteile erstellen und seinen immensen Energiebedarf unter anderem durch Sonnenzapfung sicherstellen. Kytharas eigenes Schiff AMENSOON wirkte im Vergleich mit einem Kardenmogher vermutlich wie ein Spielzeug. Bisher hatten wir nicht besonders viel mit ihm anfangen können, solange die Positronik Kythara noch nicht als Berechtigte anerkannt hatte. Jetzt allerdings besaß sie die uneingeschränkte Kommandogewalt über das Schiff, in dessen Innern es immer wieder schabte und rauschte. Außerhalb der goldenen Blase spielten sich vermutlich ähnliche Vorgänge ab. Der Kardenmogher fuhr alle beweglichen Teile aus, prüfte sie auf ihre Funktionstüchtigkeit, führte Reparaturroutinen aus und vieles mehr. Das war auch – wie Kythara uns erklärte – der Grund für die schrillen Geräusche gewesen, die Gorgh und mich so … überrascht hatten. Drei Stunden hörten wir zu. Gorgh war wieder in seinen fast katatonischen Zustand gefallen, und Emion schlief weiter. Ich ging unruhig auf und ab, während Kythara abwechselnd in verschiedenen Hologrammprojektionen steckte, meist umschwirrt von einem Dutzend Steuerterminals. »Dieser Ezellikator war ein Genie«, bekräftigte sie zum wiederholten Mal, während sie zu uns herab auf den Boden sank. »Es ist schade, dass er im Wahnsinn endete.« Welches Genie endet nicht so?, dachte ich. »Irgendwelche Schäden?«, fragte ich die Varganin. »Etliche. Der Kardenmogher hatte im Lauf der Jahrtausende einige Ausfälle zu
9 verzeichnen. Die automechanischen Systeme arbeiten im Akkord an der Wiederherstellung.« Über den Zeitraum für die Reparaturen machte sie keine Angaben. »Da ist aber noch etwas. Dieser Kardenmogher ist aus mir nicht bekannten Gründen unvollständig.« »Hauptsache, er genügt unseren Ansprüchen für den Einsatz.« »Das ist es ja. Der Hegnudger fehlt. Ohne dieses Zusatzaggregat brauchen wir erst gar nicht gegen die Psi-Quelle anzutreten.« »Der … Heg … nud … ger«, wiederholte ich schleppend. Was war denn das nun wieder? Kythara schien die plötzliche Finsternis in meinem Gesicht zu bemerken. Sie streckte mir abwehrend ihre Arme entgegen. »Es konnte wirklich niemand ahnen, Atlan.« »Heg … nud … ger.« Ich räusperte mich. »Könnte er den Lordrichtern in die Hände gefallen sein?« »Unwahrscheinlich. Auf Parkasthon waren sie jedenfalls noch nicht aktiv. Er wurde wohl vor langer Zeit ausgebaut, damit das wertvolle Gerät nicht in fremde Hände fällt.« »Hmm. Und wohin könnte man die gesammelten ausgebauten Hegnudger aller Kardenmogher zur Sicherheitsverwahrung gebracht haben?« Kythara dachte kurz nach. »Mir fallen eigentlich nur zwei Orte ein: die Versunkene Welt Vassantor oder die Sternenstadt, unser ursprüngliches Flugziel. VARXODON ist eine der größten und wunderbarsten Errungenschaften meines Volkes. Man muss diese Stadt einfach gesehen haben, ihre überwältigende Architektur, dieses Wahrzeichen mitten im All. Wenn es so etwas wie universale Wunder gäbe, VARXODON zählte gewiss dazu.« Kythara geriet richtig ins Schwärmen. Auf ihrem Gesicht erschien ein verträumter Zug, vermischt mit Sehnsucht und Zuneigung. »Du bist nicht etwa in VARXODON ge-
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Arndt Ellmer
boren?«, fragte ich. »Nein. Aber wer die Sternenstadt einmal gesehen hat, der sehnt sich für den Rest seines Lebens nach ihr zurück.« »Dann möchte ich dort leben«, zirpte es hinter meinem Rücken. Der Daorghor bewegte sich nach Stunden der Erstarrung. Er trat zu uns, wedelte mit den beiden oberen Paaren seiner Gliedmaßen und deutete auffordernd zu den Hologrammen hinüber. »Können wir Bilder sehen?« »Es tut mir Leid«, meldete sich die Positronik. »Aus Sicherheitsgründen sind im Kardenmogher keine Daten oder Bilder über die Sternenstadt gespeichert. Bitte versteht das.« »Man kann es sowieso nur dann richtig genießen, wenn man es selbst erlebt.« Die Varganin wandte sich von Gorgh zu mir. »Nach VARXODON ist es nur ungefähr halb so weit wie nach Vassantor.« Damit war die Entscheidung so gut wie gefallen. »Wir fliegen zur Sternenstadt!«
* Der Kardenmogher trieb seit Stunden durch den Leerraum. Die Positronik wendete ihre gesamte Kapazität für die Selbstreparatur des Schiffes auf. Verfolger ließen sich keine blicken. Wir widmeten uns einigermaßen beruhigt unserem Flugziel. Kythara bezifferte die Entfernung von Parkasthon nach VARXODON auf 27.808 Lichtjahre, die Strecke nach Vassantor auf 49.502 Lichtjahre. Als Handikap sah ich an, dass wir auf dem Weg zur Sternenstadt um das galaktische Zentrum herumfliegen mussten. Der direkte Weg hätte uns durch einen Sektor mit extrem hoher Sternendichte und gefährlichen Hyperstürmen geführt. »Wir fliegen zunächst schräg unter die galaktische Hauptebene«, sagte ich. »Von dort legen wir einen möglichst kurzen Kurs. Er führt uns am Rand des Milchstraßenzentrums vorbei zu unserem Ziel. Kardenmogher, wie lang ist die errechnete Strecke?«
Dieses Mal musste ich nicht auf eine Antwort warten. »Es sind rund 33.000 Lichtjahre.« Wenn wir VARXODON erreichten, betrug der Abstand zum galaktischen Zentrumskern gerade noch 10.598 Lichtjahre. In unmittelbarer Nähe zur Zentrumspest!, rief ich mir in Erinnerung. Dabei handelte es sich um eine Krankheit, die man vor allem bei Raumschiffsbesatzungen beobachtete, die sich für längere Zeit in den intensiven Strahlungsbereichen des galaktischen Zentrums aufhielten. Äußerlich zeigten die Erkrankten keinerlei Spuren des Verfalls oder einer Schwäche. Die Krankheit wirkte sich viel heimtückischer aus, und zwar direkt in der Atomstruktur jedes einzelnen Moleküls. Die Atome wandelten sich um, fingen an, kristalline Cluster von eigenartiger Strahlungsfrequenz zu bilden. Im letzten Stadium brachte die Zentrumspest einen organischen Körper zum Erstarren, wenn man nicht vorher geeignete Gegenmaßnahmen ergriff. »Kardenmogher, beschränke den Überlichtfaktor des Kyri-Triebwerks auf einen Wert von dreißig Millionen«, sagte ich. »Eine gute Idee, Atlan!« Kythara lächelte mich beinahe spitzbübisch an. »Schiff, wie lang ist die Flugdauer?« »Bei gleich bleibendem ÜL-Wert lege ich in einer Sekunde 0,9514 Lichtjahre zurück. Bis ans Ziel benötigen wir folglich rund neun Stunden reine Flugzeit. Mit den Stopps würde ich zwölf bis vierzehn Stunden veranschlagen.« Die Varganin streckte blitzschnell den linken Arm aus. Sie berührte eines der sie umkreisenden Hologramme, das übergangslos anhielt. Ich sah, wie sie mehrere »Schaltungen« vornahm. »Die aktuelle Speicherkapazität beträgt 65 Prozent«, stellte sie fest. »Das ist mir zu viel Risiko.« Ich stimmte ihr zu. »Eineinhalb Lichtjahre entfernt zieht ein Stück abseits unserer Route ein Blauer Riese seine Bahn. Er bietet uns ausreichend Deckung vor den Tastern feindlicher Schiffe.«
Flucht nach VARXODON Mit vollen Speichern konnten wir die zur Verfügung stehenden Systeme des Kardenmoghers besser nutzen. Im Ernstfall konnte das über Sieg oder Niederlage entscheiden. Zudem wussten wir nicht genau, was uns am Ziel erwartete. Klar, VARXODON, die Sternenstadt. Aber was war aus ihr geworden? Empfingen uns die Automaten der Varganen mit wütendem Beschuss? Oder vertrauten sie den Insassen eines Kardenmoghers blind? Das Schiff vollführte eine kurze Hyperraumetappe. Hundert Millionen Kilometer vom Blauen Riesen entfernt tauchte es auf und bremste mit mittleren Werten ab. Eine halbe Stunde später ging es in einen engen Orbit um den Stern. Augenblicke später baute sich ein blassblauer Zapfstrahl auf, der mit zunehmender Energiedichte dunkler wurde. »Die voraussichtliche Zapfzeit beträgt fünf Standardstunden«, verkündete die Positronik. Gleichzeitig rauschte und zischte es hoch über unseren Köpfen. Ein Zittern durchlief die sechzig Meter lange und fünfzehn Meter durchmessende Röhre. Ein dauerhaftes Rütteln folgte. »Wenn du schon dabei bist, Kardenmogher, könntest du es uns in der Blase ein wenig gemütlicher machen«, schlug ich vor. »Die Kommandantin hat bereits entsprechende Maßnahmen ergriffen, Atlan.«
* Die Hologramme rückten näher zusammen. Gleichzeitig ging mit der zwölf Meter durchmessenden Goldblase eine seltsame Verwandlung vor sich. Die Innenseite bildete Dellen, erhielt an anderen Stellen Beulen bis zu ein, zwei Metern Höhe. Gorgh rückte hastig in die Mitte und suchte sich eine Position zwischen mir und Kythara. Ich spürte, wie der Boden unter uns wich. Der Daorghor stieß ein lautes Zirpen aus. Er ruderte mit allen sechs Gliedmaßen, merkte aber bald, dass es nicht nötig war. Traktor-
11 felder hielten uns an der Stelle, während sich um uns herum alles veränderte. Aus dem Nichts entstanden über und unter uns Wände – ganze Arrangements aus viereckigen und dreieckigen Räumen bildeten sich. Mit ein wenig Verzögerung erhielten sie Decken und Fußböden. Dazwischen entstanden kleine, runde Plattformen, die kurz aufleuchteten, sich dann rasend schnell ausdehnten, bis sie die noch existierenden Teile der Blase erreichten. An diesen Stellen löste sich die Blase umgehend auf. Ich erkannte fünf dicke Plattformen, die sich zwischen die einzelnen Baugruppen schoben. An einer Stelle besaßen sie ein Loch, aus dem blitzschnell ein Rohr bis hinab zur nächsten Plattform wuchs. Fünf Böden, vier Decks, dachte ich. Der Kardenmogher nimmt es ganz genau. Ob wir sie mitsamt den sechs, sieben Räumen pro Deck brauchten, stand auf einem anderen Blatt. »Wir nehmen die zweite Etage von unten als Steuerebene«, schlug ich vor. »Die drei übrigen teilen wir unter uns auf.« »Wir sind zu viert!«, erinnerte mich Gorgh. »Das Saqsurmaa ist mein Diener. Es schläft selbstverständlich auf meiner Ebene.« Ich warf Emion einen prüfenden Blick zu. Der Wurm schwebte noch immer dort in der Luft, wo er zuvor auf dem Boden gelegen hatte. Sein Körper zeigte keinerlei Veränderung. Dieses Wesen schlief tief und fest, als habe es zuvor Jahrtausende wach in dem winzigen Würfel verbracht. Ich sah zu, wie der Kardenmogher zwanzig Meter über uns ganze Aggregatblöcke verschob, Teile der Maschinenräume auflöste und an anderer Stelle fast gleichzeitig wieder auferstehen ließ. Formenergie-Auswüchse zuckten in unsere Richtung. Halb materielle Speere stießen von oben herab, während gleichzeitig spitze Dornen von unten heranrasten. Der Daorghor klapperte heftig mit den Mandibeln. »Keine Sorge«, verstand ich ihn undeut-
12 lich. »Ich habe keine Angst. Es ist nur – so etwas Grandioses habe ich noch nie gesehen.« Gleichzeitig versuchte er den imaginären Speeren auszuweichen, ein Reflex, den selbst ich nicht vollständig zu unterdrücken vermochte. Dornen und Speere überkreuzten sich mit anderen Auswüchsen, zerflossen zu unregelmäßig proportionierten Flächen. Sie festigten sich, nahmen Formen an, die immer mehr an Möbelstücke erinnerten. Ich sah ein Bett, das einem Haluter gut gepasst hätte. Ich wäre darin wohl eher untergegangen. Glücklicherweise erhielt es in dieser Größe lediglich seine Rohform, schrumpfte anschließend auf schätzungsweise zwei Meter zwanzig Länge und zwei Meter Breite zusammen. Das Gestell erhielt einen eleganten Stahlrohrrahmen in Bogenkonstruktion. Ist das mein Bett?, dachte ich verblüfft. Es ist ein Doppelbett!, gab mir der Extrasinn amüsiert zu verstehen. Gibt es zufällig einen Winkel im Universum, in dem man dich nicht kennt? Einsamer der Zeit …! Du würdest auch dann nicht mit deinen Anspielungen aufhören, wenn ich mich selbst bewusstlos schlage?, versuchte ich zu kontern. Versuch's doch. Aber vielleicht entgeht dir dann etwas. Schließlich hat sie das Bett eigens für dich konstruiert, schwadronierte der Extrasinn. Wir sind lediglich Freunde!, gab ich zurück, diesmal so energisch, dass keine weitere Bemerkung mehr folgte. Es hatte Situationen gegeben, in denen Kythara und ich uns näher gekommen waren, aber niemals so nah. Manchmal war das Leben ungerecht. Inzwischen waren die letzten Reste der goldenen Blase verschwunden. Die Wände, Decken und Böden hatten sich wie von Geisterhand zusammengefügt, sie waren miteinander verwachsen, verschmolzen oder wie man es nennen wollte. Die Möbel sanken ebenso gespenstisch zu Boden und setzten mit einem leisen Klacken auf. Die Antigrav-
Arndt Ellmer röhre schloss sich als Letzte. Wir hingen in ihr, jeder vor dem Ausstieg zu seiner persönlichen Etage. Von oben näherte sich das Saqsurmaa. Es schwebte an mir vorbei in den Vorraum, wo der Traktorstrahl es sanft absetzte. »Wir sollten die Zeit nutzen und uns ausruhen«, sagte ich. »Die Positronik soll uns wecken, sobald sie den Zapfvorgang beendet hat.«
3. Ein nervtötendes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. »Alarm!« Kythara stürmte herein. Das Prallfeld griff nach ihr, schon bevor sie ihren Kontursessel erreichte. Es riss sie vorwärts, drehte sie und presste sie tief in die Polster. »Kardenmogher, was ist los?«, fragte ich. »Die Energiedichte der Gleitschicht beginnt zu schwanken.« Die Positronik sprach von dem dünnen Film, den wir in der terranischen Raumfahrt als Grigoroffschicht bezeichneten. Er verhinderte, dass der Hyperraum den Fremdkörper Raumschiff abstieß oder ihn für alle Zeiten verschlang. Schwankungen in der künstlich aufrechterhaltenen Schicht bedeuteten in jedem Fall Gefahr für das Schiff und seine Insassen. Kythara bearbeitete mit ihren Fingern das Holopaneel ihrer Konsole. »Energiefluss konstant«, stieß sie hervor. »Keine Abweichungen in den Umformern.« Ich hatte es schon vermutet. Die Störung kam von außen. Wir waren inzwischen sechs Stunden unterwegs und flogen in der vierten Hyperraumetappe. Der winzige Leuchtpunkt im Kurshologramm zeigte unsere Position an jener Stelle, wo unsere Flugbahn die Zentrumsballung der Galaxis tangential berührte. Wechselwirkungen mit hyperphysikalischen Eruptionen oder Gravitationsballungen musste jedes Schiff einkalkulieren, das sich in diesen Bereich wagte. »Etappe abbrechen!«, sagte ich. Noch war es nicht zu spät. Die Schwankungen in der
Flucht nach VARXODON Gleitschicht nahmen zu, erreichten aber noch keine kritischen Werte. »Abbruch wird eingeleitet«, bestätigte die Positronik. Ein greller Blitz zuckte über die Schirme der Außenbeobachtung. Die rosaroten bis dunkelroten Schlieren verschwanden von einem Augenblick auf den anderen. Grelles, farbloses Licht drang auf uns ein. Wir wären sofort erblindet, hätte der Kardenmogher nicht alle Filter eingeschaltet. Trotzdem tat es in den Augen weh. Irgendwo knallte etwas kurz und trocken. Es hörte sich nicht nach einer Explosion an, eher nach dem Öffnen einer Champagnerflasche. Eine unsichtbare Titanenfaust packte den Kardenmogher, schüttelte ihn hin und her. Die Wände unserer Steuerzentrale knirschten. Gorgh gab schrille, pfeifende Laute von sich. Seit seiner Flucht hatte er nicht zu seinem seelischen Gleichgewicht zurückgefunden. »Wir hängen fest!« Die Aussage der Positronik wirkte in ihrer Nüchternheit fast schon irrational. Mein Datenholo zeigte das Hyperraumtriebwerk im Leerlauf. Die Belastungsanzeigen der Energiespeicher sanken in gewohntem Tempo nach unten. Die GleitschichtProjektoren waren abgeschaltet. Die Schicht hätte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen auflösen müssen mit der Folge, dass wir an irgendeinem Ort dieses Universums in den Normalraum zurückstürzten. Nichts geschah. Die Schicht existierte noch, aber sie rieb an der Schirmstaffel des Kardenmoghers. Grelle Leuchterscheinungen erhellten das übergeordnete Kontinuum. Ein schmutziges Gelb wallte draußen, eine Farbe, mit der mein fotografisches Gedächtnis nichts anfangen konnte. Trotz der Prallfelder zerrten übergangslos gewaltige Kräfte an meinem Körper. Der Kontursessel knackste, der Standfuß erhitzte und verbog sich. Undeutlich erkannte ich seltsam verwachsene Gestalten, die als gerade noch zu erahnende Schemen durch die Zentrale wanderten.
13 Realitätsverlust! Die beiden Wirklichkeiten überschnitten sich, ein untrügliches Zeichen, dass sich die Schirmstaffel langsam auflöste. »Was sind das für Zugkräfte?«, stieß ich hervor. »Gravitationswellenmuster sind erkennbar.« »Nicht abschirmen, solange unsere Körper es verkraften!« »Verstanden!« Ein Schlag wie von einer Titanenfaust traf das Schiff. Kythara stöhnte auf. Sie verrenkte sich fast den Hals, um Blickkontakt zu mir zu bekommen. »Die Kraft kommt von außen«, sagte ich. »Mit etwas Glück …« Der Kardenmogher ächzte. Tief unter uns zerfetzte Metall wie dünnes Papier. Das schmutzige Gelb auf der Außenbeobachtung verschwand, als würde es von einem unsichtbaren Staubsauger aufgesogen. Zurück blieb Dunkelheit, nicht die Schwärze des Weltalls, mehr eine absolute Lichtlosigkeit wie im Zentrum eines Schwarzen Loches. Ich klammerte mich an den Sessellehnen fest. Die Kraft, die an mir zog, erreichte die Grenze dessen, was mein Körper aushalten konnte. Im nächsten Augenblick drückte mich etwas mit voller Wucht in die Polster. Das Schiff schoss vorwärts. Atlan! Schmerzhaft drang der Gedanke in mein Bewusstsein. Ich drehte mühsam den Kopf zur Seite, starrte zur Varganin hinüber. Kythara strampelte mit Armen und Beinen. Ich sah ihre Zungenspitze. Sie erstickt! Im nächsten Augenblick entspannte sich ihr Körper wieder. »Alles in Ordnung?« »Ja!«, krächzte sie. »Es geht!« Ein erneuter, kurzer Knall – gefolgt von einer Lichtflut, die der Kardenmogher mit einer sofortigen Meldung quittierte. »Galaktische Zentrumsballung an Steuerbord!« Hinter uns verwehten Reste des schmutzigen Gelbs im Weltall, während der Karden-
14 mogher mit nur noch dreißig Prozent Lichtgeschwindigkeit scheinbar gemächlich dahindümpelte. Der Kardenmogher gab erneut Alarm. In Flugrichtung zeichneten sich starke Gravitationsverwerfungen ab. Die gegenseitig aneinander zerrenden Kräfte besaßen eine derartige Feldstärke, dass sich Risse im Kontinuum bildeten. »Kardenmogher, wir sind zu langsam für eine erneute Hyperraumetappe. Ändere den Kurs!« »Tut mir Leid, die Anziehungskräfte sind zu groß. Wir kommen nicht weg.« Bei den Sternengöttern! Es durfte nicht wahr sein. Vor uns entstand ein gewaltiger Gravitationswirbel, der das Schiff unaufhörlich näher zog. Vermutlich war er dafür verantwortlich, dass wir überhaupt aus dem Hyperraum zurück in den Normalraum gelangt waren. Jetzt zogen uns dieselben Kräfte zu einem Fokus in knapp zweihundert Millionen Kilometern Entfernung. Dort bildete sich zu allem Überfluss der stärkste Riss in der ganzen Turbulenzzone aus. Keiner von uns hatte Lust, in den Hyperraum gezogen zu werden, schon gar nicht unter diesen irregulären Bedingungen und ohne den vorherigen Aufbau einer homogenen Gleitschicht. »Kardenmogher, volle Beschleunigung in Flugrichtung!« Kythara sah mich erst entsetzt, dann erleichtert an. »Bei fünfzig Prozent führst du ein Hyperraummanöver von wenigen Lichttagen aus. Das müsste reichen.« Fünfzig Prozent Licht bildeten zumindest für galaktische Technik das Geschwindigkeitsminimum bei dem Übertritt in den Hyperraum, die Schallmauer, die magische Grenze, unter der jeder Versuch lebensgefährlich war. Die Triebwerke brüllten auf. Ein Ruck ging durch die Röhre, als sie mit maximalen Werten in Flugrichtung beschleunigte. Gleichzeitig wuchs der Riss im Kontinuum, erreichte eine Länge von mindestens tausend
Arndt Ellmer Kilometern. Verglichen mit den gewaltigen Gravitationskräften war das wenig, aber es reichte, alles im Umkreis von ein paar Lichttagen anzuziehen und buchstäblich ins Jenseits zu schleudern. Die Beschleunigungsanzeige stieg beharrlich, erreichte bald vierzig Prozent. Bei fünfundvierzig Prozent stöhnte Kythara auf. »Wir schaffen es nicht. Da!« Der Riss klaffte auseinander. Wir sahen die Ränder, an denen unzählige winzige Blitze wie ein unheilvolles Feuer glühten. Je näher wir kamen, desto weiter riss der Moloch seinen Rachen auf. Der Varganin entging es, ich sah es auf den Anzeigen der Holoprojektion. Je weiter der Riss sich dehnte, umso schwächer wurden die auf den Kardenmogher wirkenden Anziehungskräfte. Siebenundvierzig Prozent! Die Positronik meldete die Einsatzbereitschaft des KyriTriebwerks und aller zur Verfügung stehenden Energiespeicher und Umformer. Achtundvierzig Prozent! Der Riss klaffte weit auseinander. Die Entfernung schrumpfte schnell unter eine Million Kilometer. Bis zum Sturz in den Hyperraum blieben noch Sekunden. Ein schneller Seitenblick nach links zeigte mir Gorgh. Er bekam nicht viel von den Vorgängen mit. Die Greifklauen seines oberen Armpaars lagen über den Facettenaugen. Mit zusammengekrümmtem Körper wartete er auf das Ende. Neunundvierzig Prozent! »Nichts wie weg!«, seufzte Kythara. »Nein, erst bei fünfzig Prozent!« Der Riss klaffte unmittelbar vor dem Schiff. Die Flammenzungen befanden sich weit seitlich des Kardenmoghers und außerhalb unserer derzeitigen optischen Wahrnehmung. »Jetzt!« Das Schiff erreichte fünfzig Prozent Lichtgeschwindigkeit. Der Abstand zur flirrenden Trennschicht betrug nicht einmal mehr tausend Kilometer. Einen Sekundenbruchteil später mussten wir in den Hyperraum stürzen. Stattdessen wechselte das Bild, zeigte für
Flucht nach VARXODON ein paar Augenblicke die gewohnten Schlieren, danach sofort wieder die Lichtflut des galaktischen Zentrums. »Etappe über vier Lichttage beendet«, meldete die Positronik. »Wir befinden uns in der Randzone des gravitationalen Einflusses.« Kythara warf mir einen erleichterten Blick zu. »Wir sollten zusehen, dass wir ganz aus seiner Reichweite kommen.« Ich nickte. »Kardenmogher, du hast es gehört.«
* Aus den Funkempfängern drang ein Flüstern, geheimnisvoll, fast beschwörend, einzelne Stimmen erst, dann immer mehr, die sich zu einem Chor zusammenfanden und gleichzeitig in verschiedenen Sprachen durcheinander redeten. »Wir dringen in eine der galaktischen Echozonen ein.« Kythara lauschte den Stimmen mit leicht gesenktem Kopf. »In der terranischen Raumfahrt werden sie Babylon-Sektoren genannt nach jener biblischen Überlieferung, in der Gott die Sprachen der sündigen Menschen durcheinander brachte, sodass sie einander nicht mehr verstanden«, sagte ich. »Von dieser Echozone sind es bis zum letzten Haltepunkt noch zwanzig Lichtjahre. Aus Sicherheitsgründen fliegen Varganen die Sternenstadt nicht direkt an, sondern suchen einen von zehn Koordinatenpunkten auf. Für die Orter am Rand der Dunkelwolke ist es ein Signal, ob sich Freund oder Feind nähert.« Das Flüstern in den akustischen Projektionsfeldern nahm zu. Immer mehr Funksprüche, sowohl im Normal- als auch im Hyperbereich, fanden sich zusammen. Niemand machte sich die Mühe, sie zu sammeln und zu sichten. Seit Jahrhunderten, manchmal auch Jahrtausenden eilten sie durch die Milchstraße, irrten ziellos umher. Die meisten erreichten nie ihr Ziel. Physikalische Einflüsse lenkten sie ab oder spiegelten sie
15 in eine andere Richtung. Kreuz und quer bewegten sie sich durch das Sternenmeer, bis die außergewöhnlichen gravitationsmechanischen und elektromagnetischen Verhältnisse im Milchstraßenzentrum sie in einer dieser Zonen einfingen. Millionen und Milliarden waren es, von der Natur zu einer vorübergehenden Unsterblichkeit verdammt. Mit jeder Richtungsänderung, jedem Fremdeinfluss und jedem Lichtjahr Wegstrecke verloren sie ein Quäntchen ihrer Energie. Ein leises Wispern blieb zuletzt, das von anderen, kräftigeren Stimmen übertönt wurde. Schließlich verhallten sie im Nichts. »Um die letzten Geheimnisse unserer Galaxis zu enträtseln, die letzten raumfahrenden Völker der vergangenen zehntausend Jahre zu finden und uns ein genaues Bild über die Milchstraße als Ganzes machen zu können, müssten wir Hunderttausende von Wissenschaftlern für ungefähr zweihundert Jahre in die Babylon-Sektoren schicken, damit sie alle diese Funksprüche analysieren«, hatte Perry Rhodan einmal gesagt. »Würden wir das tatsächlich tun, wären wir vermutlich das bestinformierte Volk aller Zeiten.« Die Terraner hatten es nicht getan. In ihrem heftigen Drang nach den Sternen und der beachtlich schnellen Ausdehnung des Solaren Imperiums der damaligen Zeit hatten sie keine Zeit und keine Wissenschaftler gehabt, um so etwas durchzuführen. Hinzu kamen die negativen Erfahrungen mit der Zentrumspest, die Forscher in diesen Zonen der Galaxis bedrohte. Kythara musterte mich eindringlich. »Du willst es versuchen?« »Ich möchte die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Kardenmogher, wie viel Zeit steht uns zur Verfügung?« »Nur wenige Minuten. Der Countdown für die nächste Etappe läuft schon.« Ich zog das Terminal zu mir heran und machte mich an die Arbeit. Aus dem gewaltigen Funksalat isolierte ich besonders schwache Impulsfolgen, schickte sie durch den Verstärker und überließ sie anschlie-
16 ßend dem Sprachmodul zur Auswertung. Viel kam nicht dabei heraus. Kein einziger Funkspruch war in einer Sprache gehalten, die ich kannte. Der Kardenmogher verfügte leider nicht über eine sprachwissenschaftliche Basisstation. Sonst hätten sich die Sprachen vielleicht bestimmten Gruppen zuordnen lassen. »Es ist erstaunlich«, wandte ich mich an die Varganin und den Daorghor. »Es ist kein einziger Funkspruch in Interkosmo darunter.« »Vielleicht stammen sie alle aus einer Zeit, als es noch kein Interkosmo gab«, vermutete Gorgh. Ich hielt es für ziemlich wahrscheinlich. In den Zentrumsbereichen der Galaxis verloren sich die Funksprüche nicht nur, sie bewegten sich auch in Zonen hoher energetischer Aufladung, die sie am Leben erhielten. »In einer fernen Galaxis namens Golgatnur existierte vor langer Zeit die Zivilisation der Soberer«, sinnierte ich. »Als sie nach Millionen Jahren zu Ende ging, packten die Soberer im Angesicht der globalen Vernichtung ihr gesammeltes Archivwissen in eine so genannte Priorwelle und strahlten diese ins Universum aus. Die Welle – ein tiotronischer Hyperimpuls – wurde mit höchstmöglicher Sendeleistung in den Hyperraum abgestrahlt, wurde aber nach dem Durchqueren einer kurzen Strecke programmgemäß instabil und kehrte in den Normalraum zurück. Dort breitete sie sich kaskadenartig aus, wobei sich die Restenergie langsam aufzehrte. In dieser Zeit war sie über viele Lichtjahre hinweg zu erkennen und zu empfangen. Wurde die Welle wesentlich langsamer als das Licht, wurde sie abgestoßen und wieder in den Hyperraum geschleudert. Dort lud sie sich mit neuer Energie auf, fiel wieder zurück und so weiter. Trotz dieser Perfektion blieb sie ein Fehlschlag. Ihr Ziel, das Wissen möglichst vielen Völkern im Universum zugänglich zu machen, erreichte sie nicht. Bis heute ist lediglich ein einziger Kontakt nachgewiesen. Die
Arndt Ellmer Priorwelle berührte einen kosmischen Urnebel, aus dem ein Planetensystem mit einer Superintelligenz entstand. Die Kaiserin von Therm war geboren, die später mit ihrem Widersacher BARDIOC zur positiven Superintelligenz THERMIOC verschmolz.« Der Daorghor und die Varganin hatten meinen Worten aufmerksam gelauscht. Für sie waren diese Erkenntnisse neu. Die Völker des »Schwerts der Ordnung« besaßen keinen Zugang zu solchem Wissen, und Kythara hatte die letzten 21.000 Jahre in der Obsidian-Kluft zugebracht, abgeschnitten vom Rest der Milchstraße. »Und was genau hat das mit unserer Reise zu tun?«, erkundigte sich der Daorghor nun neugierig. »Nichts«, gab ich freimütig zu, und Kythara ergänzte: »So sind wir älteren Leute eben.« Wir sahen einander an und lachten. »Faszinierend«, sagte Gorgh-12 und klackte mit seinen Beißzangen.
* »Das ist die Wolke!« Ich hörte ein wenig Stolz aus den Worten der Varganin. Ihre Augen leuchteten, während sie mit ausgestrecktem Arm auf die optische Darstellung deutete. »Wirklich beachtlich. Ich wusste gar nicht, dass es ein so auffälliges Objekt in der Milchstraße überhaupt gibt.« Aus 90 Lichtjahren Entfernung bot die Varxodon-Dunkelwolke einen imposanten Anblick. Sie besaß die Form einer achtfingrigen Hand mit einem Gesamtdurchmesser von 14 Lichtjahren. Der mit der Handfläche identische Kernbereich durchmaß rund sechs Lichtjahre bei einer Dicke von etwa drei Lichtjahren. Die Finger erreichten Längen zwischen vier und acht Lichtjahren, wobei die Reihenfolge nicht einer menschlichen Hand entsprach. Sie wechselten sich ab, ein kurzer, ein langer, ein kurzer, zwei lange in der Mitte, dann wieder ein kurzer, ein langer und ein kurzer. Ihre Dicke schwankte zwi-
Flucht nach VARXODON schen eineinhalb und zwei Lichtjahren. In Relation zum mathematischen Zentrum der Galaxis stand die Hand schräg, zeigte abwehrend in östliche Richtung mit einer leichten Neigung der Handfläche nach oben. »Eine erhobene Hand kann viel bedeuten«, sagte ich. »Einen Gruß, aber auch eine Warnung.« »Es ist beides, Atlan.« Angesichts der ortungstechnischen Turbulenzen in diesem Gebiet lag die Assoziation zu einer Warnung am nächsten. In die Dunkelwolke eingebettet ließen sich eine ganze Reihe von Globulen erkennen, kugelähnliche Ballungen mit bis zu 0,8 Lichtjahren Durchmesser und bis zu 15 Sonnenmassen. Die Ortung lieferte insgesamt 17 junge Sterne in den Staub- und Gasformationen, meist vom sehr heißen Typ O, B oder A. In Ansammlungen dichter interstellarer Materie entdeckte ich Protosterne beziehungsweise die Vorstufen dazu. Die Varxodon-Dunkelwolke war eine Geburtsstätte von Sternen. Entsprechend gewaltig stellten sich die Materieströme dar, entsprechend hart lauerte die Strahlung der jungen Sterne auf Neugierige, verband sich mit heftigen Emissionen und auch Eruptionen im hyperphysikalischen Bereich. Die Dunkelwolke brannte ein wahres Feuerwerk ab, in dem eine einwandfreie Ortung unmöglich war. Ein herkömmliches Schiff hätte hier keinerlei Chance durchzukommen gehabt. »Langsam verstehe ich, warum die Rebellen deines Volkes hier nie entdeckt worden sind.« »Genau das ist der Grund, warum wir die Sternenstadt im Innern der Wolke stationiert haben, in einer annähernd staubfreien Hohlblase, ungefähr 2,85 Lichtjahre tief im Kern der Dunkelwolke. Du wirst es selbst sehen, wenn wir uns im direkten Anflug befinden: VARXODON ist von außen nicht anzumessen. Wer nichts von ihr weiß oder ihre genaue Position nicht kennt, findet sie nicht. Kein Lebewesen dieser Galaxis käme auf den Gedanken, dass sich in ihrem Innern
17 eine Stadt befindet.« Der Kardenmogher meldete, dass die Detailortung abgeschlossen war. Kythara gab die vorletzte Hyperetappe frei. Sie führte das Schiff zu einem Roten Riesen, 3,2 Lichtjahre von der Dunkelwolke entfernt. Jetzt ragte sie als gewaltige schwarze Mauer vor dem grellen Sternenhintergrund des Milchstraßenzentrums auf, die Konturen leicht zerfasert, besonders an den Fingern. Aus der Ferne war das noch nicht aufgefallen. »Wir halten uns an die Sicherheitsvorschriften, wie sie seit jeher gelten«, kommentierte Kythara den Stopp. »Erst wenn jeder Kubikmeter Raum abgetastet ist, leite ich den direkten Anflug ein.« Der Kardenmogher ließ sich dazu über eine Stunde Zeit. Ich nutzte sie und kümmerte mich um das Saqsurmaa. Es lag im Vorraum meiner Etage und schlief noch immer. Das Überwachungsholo an der Wand zeigte die Lebensfunktionen des Wurms. Die Werte wichen nicht von denen der vergangenen Stunden ab. »Wenn du mich hören kannst, gib mir ein Zeichen, Emion«, flüsterte ich. »Lass deinen Puls oder deinen Atem sich beschleunigen.« Die Anzeigen im Hologramm veränderten sich nicht. Emion nahm nichts um sich herum wahr. Er schlief tief und fest. Man hätte ihn wegtragen können. Der Extrasinn erweiterte diese Einschätzung um einen wichtigen Punkt. Im Fall eines Angrifs ist das Saqsurmaa stark gefährdet! Ach was? Wir übrigens auch, weißt du? Ich ging hinüber in das Schlafzimmer, legte mich auf das Doppelbett und dachte nach. Die Krieger des »Schwerts der Ordnung« hatten etliche der Versunkenen Welten der Varganen okkupiert und nutzten sie zur Vorbereitung eines gewaltigen Militärschlags. Auf Narukku hatten sie versucht, ein Heer an Androidenkämpfern zu produzieren. Wenn sie dies auch an anderen Orten versuchten und damit Erfolg hatten, gab es kein Heer und keine Macht in der Milchstraße, die sich ihnen widersetzen konnte. Die
18 Lordrichter von Garb benötigten keine Kardenmogher, um Planeten zu entvölkern und Welten zu zerstören. Sie würden es die Androiden für sich machen lassen. Ich rechnete im Geiste hoch, wie lange diese Herrscher brauchten, um eine Milliarde Androiden zu produzieren und sie über die Milchstraße zu verteilen. Mit Hilfe des Transmittersystems der Versunkenen Welten sowie anderer solcher Einrichtungen schafften sie es in ein paar Monaten. Aber was wollten sie, jenseits der profanen Eroberungsgelüste, die man zuallererst unterstellte? Gegen wen bereiteten sie derart schlagkräftige Truppen vor? Wer war der Feind der Lordrichter, der wahre Feind – und damit aller Wahrscheinlichkeit nach unser Verbündeter? »Darf ich kurz hereinkommen?«, hörte ich Kytharas Stimme von draußen. Ich befahl dem Kardenmogher zu öffnen und ging ihr entgegen. Mit Rücksicht auf das Saqsurmaa tauschten wir unsere Gedanken flüsternd aus. »Es muss etwas Großes sein, ein gewaltiges Unterfangen, das sich die Lordrichter in den Kopf gesetzt haben. Die Eroberung von M 13 oder kleiner Reiche könnten sie auch ohne einen solchen Aufwand durchführen. Eher sieht es danach aus, als wollten sie die komplette Milchstraße überschwemmen und alle raumfahrenden Nationen unterjochen.« Die Varganin senkte zustimmend den Kopf. »Was ist mit Gorgh? Er weiß nichts. Aber vielleicht enthält sein Gehirn wichtige Informationen, über die er jetzt nur noch nicht verfügen darf.« »Er ist Wissenschaftler und somit kein Mitwisser globaler Pläne. Ich bin überzeugt, nicht einmal die Erzherzöge wissen, worum es im Endeffekt geht. Sie kennen bloß einen Teil der Vorbereitungen.« »Ich glaube nicht, dass es um die Milchstraße als Ganzes geht«, griff Kythara den anfänglichen Gedanken wieder auf. »Was immer die Lordrichter vorhaben, irgendwann erreichen sie eine Mauer, die sie nicht beseitigen können. VARXODON …«
Arndt Ellmer Sie unterbrach sich. Die Positronik meldete, dass die Sicherheitsvorschriften vollständig eingehalten waren und dem Weiterflug nichts im Wege stand. »Gehen wir nach unten, Atlan.« Wir traten hinaus in die Antigravröhre und sanken abwärts. »Du wolltest etwas zu VARXODON sagen«, erinnerte ich die Varganin. »Die Sternenstadt wiegt allein schon eine ganze Armada an Raumschiffen auf. Durch ihre Schirme kommen nicht einmal Millionen von Mutanten.« »Wie viele Artgenossen und wie viele Androiden benötigst du, um die Stadt flottzumachen, sie ins All zu bringen und in eine Kampfmaschine zu verwandeln?« »Ich weiß es nicht. Um das zu erfahren, müssten wir ins Innerste der Stadt vordringen, wo Beodurn wacht. Ich kann nicht einmal sagen, ob es mir möglich wäre, allein zu ihm vorzudringen.« Wir betraten die Zentrale und suchten unsere Sessel auf. Prallfelder bauten sich auf, Augenblicke später trat der Kardenmogher die letzte Hyperetappe an. Knapp dreieinhalb Sekunden dauerte es bis dicht vor die Dunkelwolke. Die Positronik rechnete, suchte kurz Funkkontakt zu einer der Bojen, die, rund um die Wolke verteilt, den Weltraum beobachteten. Sie steckten ein paar Lichtminuten tief in den Gas- und Staubmassen, wo sie nicht geortet werden konnten. »In zehn Sekunden erreichen wir die äußeren Schichten des Mantels«, sagte Kythara. »Von da an existieren wir für den Rest der Welt nicht mehr.« Sie setzte sich in ihrem Sessel zurecht. Das Schiff verzögerte mit mittleren Werten. Die Fremdemissionen und Störungen der Umgebung waren so groß, dass es selbst einem superempfindlichen Taster nicht aufgefallen wäre. In dieser Phase änderte der Kardenmogher mehrfach den Kurs. Kurz darauf verschwand die Lichtflut des Milchstraßenzentrums nach und nach hinter Schleiern, und schließlich zog irgendjemand einen dunklen Vorhang vor. Der Blick nach
Flucht nach VARXODON draußen war nun endgültig versperrt.
* An der Art des Einflugs erkannte ich einmal mehr die Bedeutung der Sternenstadt. Der Kardenmogher verzögerte immer weiter, je dichter die Staub- und Gasmassen wurden. Für die sechs Lichtminuten bis zur ersten Schwelle nahm sich Kythara mehr als vier Stunden Zeit. Die Schwelle selbst, ein unsichtbarer, nur im Koordinatensystem des Schiffes vorhandener Ort, umkreiste sie mehrmals, bis sie ganz sicher war. Der Kardenmogher beschleunigte mit wahnwitzigen Werten und vollführte eine Hyperraumetappe von 1,2 Lichtjahren. Wieder ging es im Normalraum weiter, diesmal zwei Lichtminuten oder eine Stunde bis zur zweiten Schwelle. Danach legte das Schiff exakt 1,649 Lichtjahre zurück. Die Varganin saß vornübergebeugt und mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel. »Die Staubwolken in diesem Gebiet sind in starker Bewegung, viel stärker, als wir es gewohnt sind«, sagte sie leise. »Es muss einen Grund haben. Ich versuchte etwas zu erkennen, aber da ist nichts. Wir müssen näher heran.« »Wie nah?«, erkundigte sich die Positronik. »Bis auf fünf Lichtminuten. Wir wagen es und suchen Voltan-Vier auf.« Auf dem Holoschirm meines Terminals wechselte die Darstellung. Bei Voltan-Vier handelte es sich um einen Zwerg-Globuli, feinen, extrem heißen Staub, aus dem in ferner Zukunft vielleicht ein Stern oder ein Planet entstehen würde. Der Aufenthalt in solchen Globulen war mit Risiken verbunden. Ab und zu bildeten sich übergangslos Zonen extrem hoher Gravitationskräfte, gewissermaßen Schwerkraftkrämpfe, die mehr als neunzig Prozent der Energie des Globuli in sich konzentrierten. Meist gaben sie diese über Tage oder Wochen verteilt gleichmäßig nach allen Richtungen ab. Manchmal gesch-
19 ah es aber auch plötzlich, in einem einzigen explosionsartigen Vorgang. Was immer sich dann innerhalb des Globuli befand, wurde zu Staub zermahlen oder verdampft. »Noch immer nichts«, hauchte Kythara. »Sprung!« Ein letztes Mal wechselte der Kardenmogher in den Hyperraum, für einen Sekundenbruchteil nur. Optisch war der Vorgang nicht zu erkennen. Erst nach und nach kristallisierte sich aus dem Staubnebel das kugelförmige Gebilde heraus. Die Staubkonzentration lag hier um ein Tausendfaches höher als in der Umgebung. Entsprechend lieferte die Temperaturanzeige statt der bisherigen zweitausend Grad zwölftausend Grad. Die Schirmstaffel des Kardenmoghers »schwitzte«. Die Hitze trieb den Staub dagegen, und der erzeugte hohe Reibungswärme und Licht. Wir wurden Zeugen eines völlig verrückten Phänomens. Die Konzentration des Staubs war so hoch, dass mehr gegen die Schirmstaffel trieb, als diese in Energie umsetzen konnte. Gleichzeitig bildete die Gravitation im Globuli eine Art Druckverband. Die Schirmstaffel des Kardenmoghers versandete nach und nach. Es bildeten sich immer mehr geschlossene Flächen, durch die kaum noch eine Ortung möglich war. »Kein Grund zur Besorgnis«, sagte die Positronik. »Bevor es zu einem Hitzestau innerhalb der Schirmstaffel kommt, haben wir die Staubkugel hinter uns gelassen.« Sie behielt Recht. In dem Augenblick, da sich die Druckverhältnisse änderten, flog der zusammengebackene Sand in großen Fladen davon, verschwand hinter schwarzen Gasvorhängen oder löste sich sofort in Körnchen auf. »Zwei Lichtminuten noch.« Kythara bewegte sich ungeduldig hin und her. Sie schien es kaum erwarten zu können, uns die Sternenstadt zu zeigen. Ich stellte bei einem Blick auf die Flugdaten fest, dass der Kardenmogher den Aufenthalt im Globuli dazu benutzt hatte, das Schiff stark abzubremsen. Die Positronik
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Arndt Ellmer
setzte den Vorgang fort. Kurz vor dem Ende der Strecke kam die blaue Röhre fast vollständig zur Ruhe. Die Gasschwaden wurden dünner, sie wichen nach und nach zur Seite. »Anhalten!« Kytharas Gesicht war aufs Äußerste angespannt. »Gut so. Triebwerke aus! Energielevel auf Minimum zurückfahren!« Die Varganin übernahm die Steuerung jetzt von Hand. Sie aktivierte Gasdüsen an der Außenseite der Röhre. Einen Meter pro Sekunde schoben sie das Schiff vorwärts. Im Zeitlupentempo schob sich der Kardenmogher aus der Dunkelwolke in die Hohlblase. Die Staub- und Gasdichte war hier deutlich geringer. Mein Terminal zeigte den Durchmesser mit rund zwei Milliarden Kilometern an. Kythara zeigte plötzlich eine ziemliche Hast. Sie kehrte die Düsen um, aktivierte sie erneut. Langsam und fast unmerklich schob sich der Kardenmogher zurück in den schützenden Staub. »Ich habe es befürchtet«, hauchte sie. »Die ganze Zeit schon.« Auf ihrem Gesicht zeigte sich nur noch Betroffenheit. »Aber wie ist es ihnen gelungen?«
* Angesichts des Schocks fiel es uns schwer, das prachtvolle Gebilde zu bestaunen, das Kythara uns voller Stolz hatte vorzeigen wollen. Das also war VARXODON, die prächtige Sternenstadt, ein flugfähiges Juwel in unserer Galaxis. Im Zentrum des Gebildes stand ein vermutlich weitgehend ausgehöhlter Mond von 3000 Kilometern Durchmesser. 3500 Kilometer über seiner Oberfläche zog sich ein gigantischer Ring in der Art einer Dyson-Sphäre entlang, 1500 Kilometer breit und 500 dick. Das Gebilde war durch vier Speichen von jeweils 160 Kilometern Dicke mit dem Mond verbunden. Auf der leicht gewölbten Innenseite des Rings existierte eine Ökozone, die deutliche Anzeichen der Bewohnbarkeit aufwies, Gebäude, Grünanla-
gen, Fabriken. Mond und Dyson-Sphäre rotierten gemächlich um das eigene Schwerkraftzentrum. Aber da waren auch noch die vielen anderen Eindrücke, die nicht nur Kythara einen Schock versetzten. Auch ich hatte nicht damit gerechnet. Und wenn, dann nicht in diesem Maße. Gorgh reagierte auf den Anblick mit einem verzweifelten Strampeln der beiden unteren Gliedmaßenpaare. Annähernd 8000 Raumschiffe schirmten die Sternenstadt nach außen hin ab. Die Positronik projizierte uns die Ergebnisse der Ortung und die Aufnahmen der Optiksysteme auf die Bildschirme. Inzwischen überprüfte die Varganin im Eiltempo das Antiortungssystem des Schiffes sowie das zusätzlich aktive Tarnfeld. »Mindestens 5000 der vorhandenen Einheiten sind Tropfenschiffe, wie die Torghan, Daorghor und Ur'ogh sie benutzen«, meldete die Positronik. »Zwei weitere Schiffstypen sind vorhanden, bisher aber nicht bekannt.« Wir wandten fast synchron den Kopf und sahen Gorgh an. »Diese Schiffe, die mich an Käfer erinnern«, sagte ich, »wem gehören sie denn?« »Es sind Schlachtschiffe der Shiruh«, zirpte es leise und unmelodisch aus dem hornigen Mund. »Die Kugelschiffe mit den regelmäßigen Kuhlen gehören den humanoiden Zaqoor. Sie dienen den Lordrichtern als Leibgarde.« Wären die tausend Einheiten von weißer Farbe gewesen, hätte ich sie für überdimensionale Golfbälle gehalten. Die verbleibenden 500 Einheiten verteilten sich auf unterschiedliche Typen von Frachtern, Tendern und sonstigen Transportern. Schlimmer noch als diese Ansammlung von Flottenverbänden wirkte die Ausschnittvergrößerung des Raumhafens auf der Außenseite des Rings. Neben Hunderten anderer Raumer lagen dort zwei der fast fünf Kilometer durchmessenden Seesternschiffe,
Flucht nach VARXODON deren Aussehen nicht nur ich als bedrohlich empfand. Wir hatten ein solches Fahrzeug schon im Mar-System gesehen. Diese Modelle gehörten den Lordrichtern von Garb. »Wie haben sie nur hergefunden?« Kytharas Stimme bebte vor Wut und Enttäuschung. »Wer hat es ihnen verraten?« »Es gibt viele Möglichkeiten«, versuchte ich sie zu beschwichtigen. »Sie haben irgendwo einen Kardenmogher gefunden, in dem die Position gespeichert war.« »Das wäre ein Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen, Atlan. Die Positionsdaten sind nirgends gespeichert. So dumm kann kein Vargane sein.« »Wenn du meinst …« Hätten Blicke töten können, wäre ich jetzt auf der Stelle leblos umgefallen. »Ich will niemanden beleidigen oder kränken, Kythara. Ich versuche nur, alle Möglichkeiten im Auge zu behalten.« Ich widmete mich wieder den Aufzeichnungen. Hunderte von Einzelschiffen und Dutzende Pulks waren in dem Hohlraum unterwegs. Sie strebten bestimmten Koordinaten der umgebenden Dunkelwolke zu und drangen in sie ein. An anderen Stellen kehrten Fahrzeuge zurück. Es herrschte ein permanentes Kommen und Gehen. Ob es sich um reine Patrouillenflüge handelte oder die Flugbewegungen zu den von den Lordrichtern befohlenen Geheimaktivitäten zählten, ließ sich nicht erkennen. Eines war schon nach kurzer Zeit klar: Für den Kardenmogher gab es trotz Tarnfeld und Antiortungssystem kein Durchkommen. Die 8000 Schiffe in der Hohlblase standen zudem so geschickt um die Sternenstadt verteilt, dass ein Schleichflug in jedem Fall zu mehreren so genannten Beinahebegegnungen führen musste. Im Abstand von ein paar tausend Kilometern nützte das Tarnfeld vielleicht, aber es erzeugte zusammen mit dem Antrieb genug Emissionen, die selbst kleinen Messgeräten auf die kurze Distanz auffielen. Gorgh-12 kletterte umständlich aus seinem Sessel. »Der ganze Flug war umsonst.
21 Wir kehren unverrichteter Dinge nach Maran'Thor zurück.« »Es gibt keine Rückkehr dorthin«, sagte Kythara. »Das haben wir dir versprochen. Außerdem gehe ich ohne den Hegnudger nicht von hier fort.« »Du hast gesagt, auf Vassantor finden wir auch einen.« Vassantor erschien auch mir die elegantere Lösung. Die Versunkenen Welten boten mehr Möglichkeiten, ungesehen zu landen und in eine der varganischen Stationen einzudringen. VARXODON hingegen hatten die Lordrichter in eine Festung verwandelt. Noch bemerkenswerter, aber auch beängstigender schien mir die Tatsache, dass die Lordrichter von Garb in großem Stil ein gewaltiges militärisches Potenzial aufbauten, und das völlig unbemerkt von den Völkern der Milchstraße. »Lass uns abfliegen!«, fuhr Gorgh fort. »Nichts hält uns noch hier. Die Sternenstadt ist für uns verloren.« »Nein!« Kythara fuhr zu ihm herum. Ihre Haare umflatterten den Körper. Mit blitzenden Augen und energischem Gesicht stand sie vor dem Daorghor. »Sie ist nicht verloren. Ich gebe VARXODON nicht auf und werde nicht eher ruhen, bis der letzte Eindringling vernichtet ist!« »Das wirst du nicht schaffen, glaube mir. Die Macht der Lordrichter ist nahezu unbegrenzt. Wenn sie wollten, könnte ich mich an keinem Ort dieser Galaxis sicher fühlen.« Ich war anderer Ansicht als der Daorghor. Ich dachte an die vielen tausend Einsätze, die ich schon hinter mich gebracht hatte. Oft genug war ich mit solchen oder ähnlichen Situationen konfrontiert gewesen. »Ich habe da eine Idee«, wandte ich mich an die beiden. »Aber sie funktioniert nur, wenn Gorgh mitmacht.« Ich setzte ihnen auseinander, wie ich mir den Ablauf des Einsatzes vorstellte. »Nein, nein.« Der Daorghor wehrte sich mit allen Händen und Füßen, die er gerade nicht zum Stehen brauchte. »Ohne mich! Ich bin nicht mit euch geflohen, um mich dann
22 freiwillig in Gefahr zu begeben. Wenn man mich gefangen nimmt, habe ich keine Überlebenschance.« Ich schüttelte den Kopf. »Die haben wir auch nicht.« Er widersprach. »Wie war das mit dem Eishaarfeld des Lordrichters, über das Kythara und du gesprochen haben? Du warst dem Lordrichter kein Unbekannter. Er kannte dein Volk und deinen Namen. Und er machte dir begreiflich, dass der Kampf eröffnet sei.« »Das ist richtig, Gorgh.« »Siehst du. Er akzeptiert dich als gleichwertigen Gegner, während ich nur ein unbrauchbarer Wissenschaftler bin.« »Du bist alles andere als unbrauchbar«, sagte Kythara. »Außerdem solltest du nicht nur an dich denken, sondern auch an dein Volk. Die Lordrichter von Garb werden kaum auf es Rücksicht nehmen. Wenn es nötig ist, werden sie alle Daorghor in den Kampf schicken, bis keiner übrig bleibt. Willst du das?« Das Insektenwesen drehte sich wieselflink im Kreis. Mit dem oberen Armpaar ruderte es zur Beschleunigung, das mittlere benutzte es zur Balance, und das Beinpaar hielt es an den Füßen eng zusammen. Auf diese Weise rotierte es minutenlang in hohem Tempo auf der Stelle. Kythara wollte etwas sagen, aber ich gab ihr einen Wink, jetzt ruhig zu sein. Wir verlieren Zeit!, schickte sie mir eine Gedankenbotschaft. Nicht viel! Ich ahnte, wie das Ergebnis der inneren Befragung aussehen würde, die Gorgh zweifellos durchführte. Der Daorghor rotierte sehr geschickt und gleichmäßig. Durch die schnelle Bewegung verloren seine Sinne den Bezug zur Umgebung, sie nahmen keine Umweltreize mehr auf. Auch so konnte ein Lebewesen Zwiesprache mit sich selbst halten. Schließlich kam der ehemalige Chefwissenschaftler wieder zur Ruhe. Sein Körper zeigte keinerlei Anzeichen von Schwindel, wie es einem Humanoiden wie mir etwa er-
Arndt Ellmer gangen wäre. Der Extrasinn zog die logische Schlussfolgerung: Sein Gleichgewichtssinn sitzt nicht im Innenohr! Wo dann? Er blieb mir die Antwort schuldig. Dafür hatte der Daorghor umso mehr zu sagen. »Als ich spontan den Entschluss fasste, mit euch zu fliehen, konnte ich die Konsequenzen meiner Entscheidung noch nicht absehen. Aber ich wusste, dass unsere Wege für einige Zeit dieselben sein würden. In der jetzigen Situation besitze ich keine Möglichkeit, einen eigenen Weg einzuschlagen, es sei denn, ich gehe an Bord eines dieser Schiffe. Dieser Weg führt in den Tod. Andererseits sehe ich das Risiko, zusammen mit euch in Gefahr zu geraten. Ich kann tun und lassen, was ich will. Das Ergebnis ist für mich dasselbe.« Kythara atmete erleichtert durch. »Du machst also mit. Wir danken dir.«
4. Der Kardenmogher legte sich 40 Lichtjahre entfernt auf die Lauer. In der Nähe führte eine jener Routen vorbei, auf denen die Vasallenvölker der Lordrichter zur Dunkelwolke flogen. Drei solcher Korridore hatten wir bisher ausfindig gemacht, wir entschieden uns für den, der am weitesten von VARXODON entfernt lag. Im Schutz der gleißenden Sternenballungen des galaktischen Zentrums fiel die Anwesenheit eines einzelnen Schiffes nicht auf. Der Kardenmogher flog ohne Tarnfeld, nur in seine Schirmstaffel gehüllt. Ein halbes Dutzend Schiffe hatten wir schon passieren lassen. Für unsere Zwecke waren sie zu groß und zu schlecht zu kontrollieren. Bis zum Abend mussten wir warten, bis ein weiteres Tropfenschiff auftauchte. Dem Vektor seiner Flugbahn nach kam es aus der Eastside, aber das wollte nichts heißen. Die Schiffe des »Schwerts der Ordnung« änderten unter Garantie mehrmals im Laufe eines Fluges die Richtung, um ihre Spur zu verwischen.
Flucht nach VARXODON »Zweihundert Meter Durchmesser«, sagte die Positronik. »Die Bewaffnung entspricht den äußeren Anzeichen nach dem Standardtyp.« Ich wandte mich an Gorgh. »Wie viele Besatzungsmitglieder hat das Schiff?« »In Normalfall hundert bis hundertfünfzig. Es ist ein Laborschiff, wie man an der Anordnung der Antennen und Flansche erkennt.« »Dann passt es ja. Kardenmogher, wir entern!« Von einem echten Angriff konnte keine Rede sein. Während die Röhre aus der ortungstechnischen Deckung heraus beschleunigte, aktivierte sie ihr Tarnfeld und das zusätzliche Antiortungssystem. Eine Gefahr zufälliger Entdeckung bestand in diesem Fall höchstens durch Interferenzen zwischen den extrem starken Emissionen des stellaren Umfelds und der eigenen Feldstrahlung. Die Positronik justierte zwar ständig nach, aber sie schaffte es nicht, in jedem Sekundenbruchteil das Optimum herauszuholen. Immer wieder gab es Interferenzen, die sich auf der eigenen Ortung als störende Ausschläge und Peaks darstellten. Das Tropfenschiff flog mit fünfzig Prozent Lichtgeschwindigkeit in Richtung der mahnend erhobenen Hand. Gebannt saßen wir in unseren Sesseln und starrten auf die Anzeigen. Der Kardenmogher verschwand im Hyperraum und tauchte zwei Minuten später in der Nähe des Zielobjekts auf. »Da!«, stieß Kythara hervor. Für einen kurzen Augenblick stachen Tasterstrahlen in unsere Richtung, trafen aber auf kein Hindernis. Das Antiortungssystem lenkte sie hundertprozentig um die Röhre herum und ließ sie in ihrer ursprünglichen Richtung weiterlaufen. Meine Nackenhärchen richteten sich auf – nicht wegen der Entdeckungsgefahr, sondern wegen der Sekunden, die verrannen. Jeden Augenblick konnte der Tropfen wieder in den Hyperraum wechseln. Aber wir hatten Glück, ein klein wenig Glück nach der Enttäuschung in der Dunkel-
23 wolke. Unbemerkt hinter seinem Tarnfeld klappte der Kardenmogher verschiedene Module seiner Außenhülle auf. Die schlichte blaue Röhre verwandelte sich in ein gefährliches Monster mit mehreren Dutzend Klauen, Greifern und Tentakeln. Im Innern erklang ein Brummen gewaltiger Aggregate. Die Positronik leitete große Energiemengen in die Traktorstrahlprojektoren. Unsichtbare Hände griffen nach dem Tropfen, klammerten sich an ihn, hielten ihn fest. Allein die zusätzliche Masse reichte aus, um die Geschwindigkeit des Tropfens konstant abzusenken. 49 Prozent, 48 Prozent … Die Besatzung des Schiffes reagierte nicht. In den Schrecksekunden, die sie überwinden musste, nahmen die großen Paralysatoren des Kardenmoghers ihre Arbeit auf. Endlich reagierte die Automatik des Tropfens. Geschützluken öffneten sich, Spindeln von Energiekanonen fuhren ins Freie. »Neutralisieren!«, sagte Kythara. »Nichts an dem Schiff darf auf einen gewaltsamen Eingriff hinweisen. Gorgh, sobald die Kanonen außer Gefecht gesetzt sind, setzt du dich mit dem Automaten in Verbindung. Der Kardenmogher verhindert, dass er einen Notruf aussendet.« Noch immer arbeiteten die Paralysatoren. Inzwischen hatte sich der Kardenmogher dem Tropfen bis auf zehn Kilometer genähert. Die letzte Feinjustierung bei der Geschwindigkeitsanpassung brachte ihn dicht an das schmale Heck heran. Ich sah die Greifklauen, die sich ausstreckten, auf der glatten Oberfläche nach der optimalen Auflage suchten und sich dann mit starken Magneten festhielten. Insgesamt sechs Greifer verankerten sich so an dem Tropfen. Dort öffnete sich die erste Schleuse. Wir sahen mehrere Daorghor, die im Schutz ihrer Individualschirme ins Freie kletterten und sich umsahen. Sie wussten, dass irgendwo ein unsichtbarer Gegner steckte, konnten sich aber mit ihren kleinen Tasterkästchen am Körper kein genaues Bild machen, wo er stecken mochte.
24 »Warte, bis sie in die Schleuse zurückkehren!«, wies ich den Kardenmogher an. »Dann paralysiere sie!« Ich wollte keine unnötigen Opfer und tat Gorgh damit sicherlich einen Gefallen. Rätselhaft blieb, wieso die Insektoiden nicht auf die Paralysestrahlen reagierten. Die Positronik meldete, dass sie die Intensität der Lähmwaffen verstärkt hatte. Es kamen keine weiteren Daorghor oder Angehörige der anderen Völker nach. Dafür kehrten die Wesen auf der Außenhülle fluchtartig in ihr Schiff zurück. Die Schleuse schloss sich, das Problem hatte sich damit wohl erledigt. Blitze zuckten über die Oberfläche des Tropfens. Wir sahen, wie sich die Abstrahlspindeln der Geschütze dunkel färbten, danach in ein glühendes Rot übergingen und schließlich wegschmolzen. Wenn die Automatik zuverlässig arbeitete, musste sie jetzt die Energiezufuhr unterbinden. Andernfalls gab es in Kürze mehrere Explosionen, wenn die Speicher durchgingen. Es geschah nichts. Kythara nickte Gorgh zu. Der Chefwissenschaftler setzte sich zurecht. Er wusste, was er zu tun hatte. »Chefwissenschaftler Gaorghan an Tropfenschiff, identifiziere dich!« Der Automat reagierte umgehend. »Verweigert. Gaorghan unbekannt.« »Geheimprojekt Psi-Schleife, Chefwissenschaftler Gaorghan. Du bist Teil eines Experiments. Identifiziere dich!« Der Steuerautomat des Tropfens hatte vermutlich noch nie von einem solchen Experiment gehört, besaß aber vermutlich Informationen über allgemeine Belange solcher Versuche, wie sie auf den Versunkenen Welten durchgeführt wurden. »Schiff CHLACHLAN unter Kommandant Deodor. Die Besatzung ist größtenteils paralysiert. Erbitten Anweisung.« »Ich komme persönlich an Bord, um die Auswirkungen des Experiments zu begutachten. Öffne die Seitenschleuse, durch die die Techniker ausgestiegen sind.« »CHLACHLAN an Gaorghan. Erbitte Identifizierungskode. Ansonsten wird der
Arndt Ellmer Zutritt verweigert.« »Gaorghan an CHLACHLAN. Bin auf dem Weg zur Schleuse.« »Tut mir Leid, ich kann keine Bewegung auf der Oberfläche des Schiffes erkennen.« »Sehr gut!« Der Daorghor unterbrach die Funkverbindung. »Sie sind paralysiert oder noch in Bewegung. Aber alle sind am Leben!« Bisher lief es so, wie ich es erwartet hatte. »Kardenmogher, wir setzen über.«
* Für Gorgh stellte es kein Problem dar, den Mechanismus der Schleuse auszutricksen. Mit einem Funkkode schaltete er die Automatik ab. Neben dem Schott öffnete sich eine Klappe in der Wand. Die Druckknöpfe waren plump und für die Klauen der Daorghor ausgelegt. Der Steuerautomat des Schiffes stutzte zum ersten Mal. »Soeben wurde ein gängiger Kode verwendet. Wer hat ihn eingegeben?« »Chefwissenschaftler Gaorghan.« »Ich sehe dich nicht. Benutzt du einen Umlenkschirm?« Unsere varganischen Tarnschirme funktionierten vom Prinzip her wie terranische Deflektoren. Sie lenkten jede Strahlung um, so dass weder ein Auge noch ein Messgerät das Vorhandensein eines Körpers wahrnahmen. Selbst die vorhandene Restwärme wurde weggefiltert beziehungsweise der Umgebungstemperatur angeglichen. Untereinander konnten wir uns sehen, und davon machten wir nach dieser Aussage des Automaten ausgiebig Gebrauch. »Wir kommen jetzt hinein«, sagte Gorgh. »Du hast dich noch immer nicht legitimiert.« »Das ist Bestandteil des Experiments.« Wir schwebten in die Schleuse. Gorgh arbeitete mit allen vier Armen gleichzeitig. Während sich das Außenschott schloss, öffnete er bereits das Innenschott. Es entwich ein wenig Luft, aber das stellte für uns keine
Flucht nach VARXODON Gefahr dar. Wir trugen die goldenen Schutzanzüge der Varganen. Die Daorghor empfingen uns mit Sperrfeuer. Was unsere technischen Möglichkeiten anging, machten sie sich offenbar keine Illusionen, denn sie begnügten sich mit der bewährten Rückwärtsverteidigung. Während sie uns mit wütendem Blastergeknatter eindeckten, zogen sie sich immer weiter ins Schiff zurück. Sie wussten, dass wir da waren, konnten aber unseren Standort nicht genau bestimmen. Also brachten sie Wände und Decke des Korridors zum Schmelzen in dem Bemühen, unser Eindringen zu erschweren. Flüssiges Plastik tropfte herab, bildete Pfützen auf dem Boden oder hing als klebrige Fäden von der Decke. Nach drei, vier Minuten stellten sie die Gegenwehr ein. Wir nutzten die Gelegenheit und rückten vor. Die Paralysatoren auf Dauerfeuer gestellt, bestrichen wir den Korridor und den sich anschließenden Schacht gleichmäßig mit Lähmstrahlen. Diesmal wirkte die Paralyse. Einer nach dem anderen sanken die Daorghor zu Boden. Ihre dürren Glieder und die dreigeteilten Insektenrümpfe streckten sich. Irgendein Automat dimmte das Licht im Korridor. »Das machen sie, weil unsere Facettenaugen im Zustand der Paralyse sehr schnell austrocknen und durch zu grelles Licht Schäden an der Netzhaut entstehen können«, klärte Gorgh uns auf. »Wir sollten Tücher besorgen und ihnen die Köpfe abdecken.« Wir überließen ihm das, während Kythara und ich Schulter an Schulter vorrückten. Der Schacht war leer, das Antigravsystem abgeschaltet. Der Automat wollte verhindern, dass wir schnell bis zur Steuerzentrale vorstießen. Über das draußen vor der Schleuse angeflanschte Relais empfingen wir eine Nachricht des Kardenmoghers. Bisher hielten alle Abschirmungen. Das Tropfenschiff versuchte ständig, einen Notruf abzustrahlen, aber es kam nicht durch. »Gaorghan an Zentrale. Das Hyperfunk-
25 gerät ist zu desaktivieren«, meldete sich der Chefwissenschaftler unter seinem falschen Namen. »Ich verlange zum letzten Mal eine Legitimation, da mir über das Projekt keine Informationen vorliegen. Komm her und gib deinen persönlichen Kode ein!« »Ich komme sofort, wenn du mich lässt.« »Die Gegenwehr wird hiermit eingestellt. Wer sind deine Begleiter?« »Sie sind das zu testende Personal. Wie du unschwer erkennen kannst, geht es unter anderem um neue Tarnschirme im Einsatz.« »Verstanden!« Wir warteten, bis Gorgh seine Tätigkeit als Augenschützer beendet hatte. Er machte sich auf den Weg zur Zentrale, während wir die einzelnen Räume durchsuchten. Vereinzelt fanden wir Daorghor, allesamt bewaffnet, aber untätig. Sie schienen zu wissen, was sie erwartete, kannten wohl auch die vermutlichen Hintergründe. Ihr Schicksal nahmen sie ergeben an. Viele hatten sich schon hingelegt, damit sie sich bei einem Sturz nicht verletzten. »Gaorghan an Einsatzteam«, meldete sich der Chefwissenschaftler. »Der Weg zur Zentrale ist frei. Ich bin jetzt dort. Die Legitimationskodes wurden akzeptiert. Ich verschaffe mir gerade einen Überblick über die Anzahl der noch wachen Artgenossen.« »Wir kommen.« Gemeinsam deckten Kythara und ich die Augenfacetten der paralysierten Daorghor zu. Raum um Raum arbeiteten wir uns an die Zentrale heran, wo wir nach einer Viertelstunde schwersten Akkords eintrafen. »Eile ist angesagt«, empfing uns Gorgh. »Das Zeitlimit für den letzten Zwischenstopp ist bereits überschritten.« Wir würden eine Erklärung abgeben, sobald wir am Ziel waren. »Die Roboter sollen die Geschützspindeln reparieren und alle Spuren der Auseinandersetzung tilgen«, antwortete ich. »Die Bewusstlosen im Korridor sind zu entfernen und in ihre Kabinen zu bringen.« Gorgh wusste ansonsten, was er zu tun
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Arndt Ellmer
hatte. Er würde das gesamte Programm durchforsten und kritische Teile ausklammern. Anschließend würde er den Präferenzkode austauschen, den es in Schiffen des »Schwerts der Ordnung« unter Garantie gab. Kythara und ich wollten uns inzwischen die Laderäume und den Beiboothangar ansehen.
* Unter dem grellen Licht von Zehntausenden Sternen und mehr heizten sich die goldenen Anzüge ziemlich schnell auf. Die Kühlaggregate schalteten sich ein, während wir am offenen Fronthangar herumturnten. Gorgh hatte diesen Teil des Schiffes vom Automatikverbund abgekoppelt. Für den Rechner existierte er nicht mehr. Der ehemalige Chefwissenschaftler von Maran'Thor sorgte dafür, dass der Automat sich auch nicht an die Vorgänge im Zusammenhang mit der Kaperung erinnerte. Wir hatten also freie Bahn. Zweihundert Meter entfernt hing die blaue Röhre. Nur Kythara und ich konnten den Kardenmogher auf diese Distanz sehen. Das Schiff hatte sich vom Heck des Tropfens gelöst, seine Greifarme und Magnetkoppler eingeklappt und war längsseits gegangen. Kythara nahm das Kästchen vom Gürtel, das sie mitgebracht hatte. Es enthielt ein Dutzend Vertiefungen, aus denen sich nach und nach kleine Hologrammfelder ausklappten. Ihre Finger huschten über die halb materiellen Sensorfelder, berührten sie mit den Fingerspitzen der Handschuhe. Die minimale Wärmeübertragung aktivierte die Felder. Der Kardenmogher begann sich zu bewegen – nicht hin und her oder zur Seite. Die Bewegung kam aus seinem Innern. In den ersten Augenblicken sah es aus, als sei er ein Lebewesen ähnlich dem Wurm. Dann erkannte ich, wie sich an der Oberfläche und in den Rillen der Röhre Spalten bildeten. Ein unregelmäßiges Muster entstand. Die Spalten verbreiterten sich zu Gräben und schließ-
lich zu Schluchten, die durch das ganze Schiff reichten. Ein wenig erinnerte mich das Ganze an unser einstiges Fernraumschiff BASIS, das aus 100.000 Einzelteilen bestanden hatte. Beim Kardenmogher wurden es 28, weil die Teile in dieser Größe am besten in den Hangar passten. Die Einzelteile des 3D-Puzzles trieben voneinander weg, reihten sich hintereinander auf und schwebten heran. Majestätisch zogen sie vorbei, beschrieben einen Bogen durch den Hangar und zwischen den tropfenförmigen Beibooten entlang und kamen an den vorgesehenen Positionen zur Ruhe. Nach wie vor waren sie unsichtbar, nur wir konnten sie sehen, da wir unsere Antiflexoptiken aktiviert hatten. Für einen Daorghor oder ein anderes Wesen sah der Hangar genauso aus wie vorher, mit sechs TropfenBeibooten, ein paar Gleitern von ziemlich stumpfer Ei-Form sowie einer Ladung Antigravplattformen, die hochkant in dafür konstruierten Ständern ruhten. Den ersten Teil unseres Plans hatten wir geschafft und dazu nicht einmal eine halbe Stunde benötigt. Der zweite stand uns noch bevor. Mit daorghorischer Technik kannten wir uns nicht besonders aus. Gorgh musste helfen. Zu dritt durchstreiften wir die Maschinenräume des Schiffes auf der Suche nach den passenden Aggregaten. Mit der Hilfe des Daorghors präparierten wir das Überlichttriebwerk so, dass es gerade noch für ein oder zwei Hyperraumetappen hielt. Die erste flogen wir selbst, ein lebensgefährliches Unterfangen. Wenn wir uns in der Dosis der Beschädigungen verschätzt hatten oder Gorgh ein Gedankenfehler unterlaufen war, wurde es dieses Mal wirklich unsere letzte Reise. Wir schafften es auch aufgrund der Tatsache, dass der Daorghor die Etappe vorzeitig abbrach. Mit qualmenden Aggregaten und aktivierten Löschgeräten brach die CHLACHLAN aus dem Hyperraum ins Einsteinsche Kontinuum, schlingerte mit fünfzig Prozent Lichtgeschwindigkeit auf einer
Flucht nach VARXODON selbstmörderischen Flugbahn vorwärts, wobei sie knapp die Hälfte ihres Tempos verlor. Aus den Mannschaftskabinen trafen besorgte Anrufe ein. Kythara und ich kümmerten uns darum. Wir paralysierten die Daorghor, bugsierten sie zurück auf ihre Schlafmulden, wo sie am besten aufgehoben waren. Kabine um Kabine kämmten wir durch, frischten in den meisten Fällen die Paralyse auf. In der Zwischenzeit hatten die Automaten alle Brände gelöscht. Roboter kümmerten sich um die Beseitigung des Schrotts. Ein paar Aggregate ließen sich durch Bestände aus dem Ersatzteillager erneuern. Wichtige Maschinen und Umformerblöcke waren jedoch zerstört. Wir kehrten in die Zentrale zurück, wo Gorgh inzwischen den Platz des Kommandanten eingenommen hatte. »Aus Chefwissenschaftler Gaorghan wird hiermit Kommandant Deodor«, empfing er uns. »Und der tatsächliche Kommandant?«, fragte ich. »Was ist, wenn er erwacht?« »Wir müssen nur dafür sorgen, dass er es erst tut, wenn wir über alle Berge sind. Ich habe in seiner Kabine einen Mechanismus eingebaut, der ihn regelmäßig paralysiert und ihm zusätzlich ein Schlafmittel verabreicht, das jeweils zwanzig Stunden anhält. Außerdem wird, wenn ich über eine Bildfunkleitung kommuniziere, nicht mein Abbild gesendet, sondern eine Schablone Deodors, deren Bewegungen mein Körper steuert.« Er deutete auf eine ganze Reihe matt schimmernder Echopunkte, die er auf seinen Körper geklebt hatte. Kythara und ich sahen uns an. »Alle Punkte auf meiner Liste sind abgearbeitet. Mir fällt kein Versäumnis ein«, stellte sie fest. »Gorgh, du kannst den Notruf abstrahlen!«
5. Wir gingen ein hohes Risiko ein. Unter anderen Umständen hätten wir darauf ver-
27 zichtet und wären sofort weiter nach Vassantor geflogen. Doch der Umstand, dass die Lordrichter hier mit gewaltiger Streitmacht vor Ort waren, hatte uns bewogen, ein bisschen länger in der Nähe von VARXODON zu verweilen. Möglicherweise bekamen wir auf diese Weise mehr Informationen über unsere geheimnisvollen Gegner, wurden uns über deren Ziele und Beweggründe klarer – und wir erfuhren etwas über die Varganen, die hier einst gelebt hatten. Waren sie fortgezogen, ausgelöscht worden oder wurden sie als Gefangene hier gehalten? Du vergisst zwei Möglichkeiten, mischte sich der Extrasinn ein. Es ist durchaus denkbar – wenn auch aufgrund der Vorgehensweise wenig wahrscheinlich –, dass die Lordrichter Ziele verfolgen, die jenen von ES, von den Kosmokraten, von Perry Rhodan oder von dir ähneln und ihr nur durch die Warnung des Cappins in Opposition zueinander steht. So etwas konnte nur kalter, emotionsloser Logik entspringen. Ich würde niemals mit den Lordrichtern auf einer Stufe stehen. Niemals! Nur von der Bezeichnung »Schwert der Ordnung« auf Beauftragte der Ordnenden Kräfte zu schließen, ist leichtfertig. Ebenso gut könnte ich behaupten, bei »Garb« handele es sich um eine Abkürzung von »Garbesch«. Nein, das ist ausgeschlossen. Und die zweite Möglichkeit? Hast du schon einmal daran gedacht, dass es sich bei den Lordrichtern auch um Varganen handeln könnte? Deine letzten Erfahrungen mit diesem Volk sind eine halbe Ewigkeit her. Wer kann sagen, wie sie sich seit dem Ende des Henkers entwickelt haben? Das einzig Beständige im Universum ist die Veränderung. Dadurch, dass du unverhältnismäßig oft mit dem Erbe alter Kulturen oder mit Langzeitplänen der Hohen Mächte konfrontiert wurdest, vergisst du das so manches Mal. Du glaubst doch nicht ernsthaft, sie würden so etwas tun?, fragte ich so lautlos wie ungläubig. Ihr eigenes Volk benutzen und ihre eigenen Schöpfungen pervertieren?
28 Der Extrasinn antwortete mit einer Art mentalem Hüsteln, das deutlich tadelnd klang. Wer sonst weiß so gut über varganische Schöpfungen Bescheid? Und vergiss nicht: Sowohl bei den Androiden von Narukku als auch bei den Psi-Quellen handelt es sich um Produkte der Varganen. Sie könnten entschieden haben, ihren Verwendungszweck zu ändern. Allerdings … Für gewöhnlich hasste ich es, wenn er absichtlich zögerte, um künstlich Spannung aufzubauen und meinen weniger logisch denkenden Bewusstseinsteil zum Nachdenken anzuregen. Diesmal war ich ihm aber ein Stück voraus, hatte die Schwachstelle dieser Hypothese erkannt. Allerdings, setzte ich fort, spricht der Umstand, dass die Truppen der Lordrichter bei der Verwendung varganischer Erbstücke nicht nur Schwierigkeiten haben, sondern auch von Kytharas Varganenstatus übertrumpft werden können, dagegen. Wenn es sich um Varganen handelte, hätten Kythara und ich keine Chance. Der Extrasinn schwieg einen Moment, als grüble er nach. So sieht es zumindest aus, gestand er ein, wenn wir auch nie direkt mit einem Lordrichter zu tun hatten. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, von ihren Hilfsvölkern auf sie selbst zu schließen. Daher plädiere ich dafür, alle Möglichkeiten offen zu halten. Ich gab dem Logiksektor Recht, auch wenn einige unserer Hypothesen sich als ein wenig abseitig herausstellen würden. Vielleicht halfen uns die Informationen, die wir hier zu gewinnen hofften, einige unserer Gedankengänge zu stärken und andere zu eliminieren. Ich wollte endlich wissen, mit wem wir es hier zu tun hatten. »Wozu haben sie hier eine derartige Flotte versammelt?«, murmelte Kythara. »Wollen sie VARXODON sichern? Aber gegen wen? Oder handelt es sich um ein Truppenaufmarschgebiet?« »Zumindest ist kein einziges VarganenRaumschiff in unmittelbarer Nähe«, versuchte ich mich an einer Antwort. »Dein Volk ist also nicht unmittelbar bedroht.«
Arndt Ellmer Wenn sie nicht tot oder die Lordrichter sind, erinnerte mich der Extrasinn. »Hast du einmal daran gedacht, dass es nur deswegen keine varganischen Raumschiffe hier gibt, weil die Lordrichter sie alle vernichtet haben?«, fuhr mich Kythara mit Tränen in den Augen an. »Hast du das?« Ich ließ mich auf keinen Streit ein, den sie offenbar gerade provozieren wollte, um sich abzureagieren. »Sie könnten VARXODON evakuiert haben, als die Lordrichter kamen. Oder sie mussten die Sternenstadt schon lange vorher aufgeben, weshalb auch immer. Es gibt keine Hinweise darauf, dass hier eine große Schlacht stattgefunden hat, nicht wahr?« »Ich darf darauf hinweisen«, klackte Gorgh-12, »dass ihr euch gerade in einem emotional stark aufgeladenen Zustand befindet beziehungsweise darauf hinsteuert. Bitte richtet eure Aufmerksamkeit auf die Anordnung der Schiffe im Verhältnis zu VARXODON. Nur wenige sind gelandet, und nach Standardverfahren müsste das bei einer besetzten Station anders sein, um unseren Truppen beste Möglichkeiten zur Inbesitznahme zu geben. Zudem deutet die Anwesenheit gleich zweier Lordrichter darauf hin, dass dort Kritisches geschieht.« Kythara und ich sahen uns an. Siehst du? Logisches Denken!, frohlockte der Extrasinn. Ich überdachte die Situation. Wir hatten uns von der Präsenz der Lordrichtertruppen und der ausbleibenden Gegenwehr der Sternenstadt dazu verleiten lassen, anzunehmen, sie befände sich bereits im Besitz des »Schwerts der Ordnung«. Dafür war allerdings die Anzahl auffällig übertrieben. Eine solche Bindung von Material war nur sinnvoll, wenn man mit einem gegnerischen Angriff rechnen musste – sei es einer von außerhalb oder von VARXODON selbst ausgehend. Da die Abwehrforts und andere Verteidigungsmechanismen der Station derzeit weder in Aktion noch zerstört waren, blieb uns die einzige Schlussfolgerung: Die Flotte und die beiden anwesenden Lordrich-
Flucht nach VARXODON ter von Garb besaßen noch keine Kontrolle über VARXODON. Das »Schwert der Ordnung« war vermutlich erst vor kurzem hier aufgetaucht, vor Monaten, nicht aber vor ein, zwei Jahren. Und genau da lag der Ansatzpunkt. Kythara kannte sich in der Sternenstadt aus wie im Kardenmogher. Mit ihrer Ortskenntnis musste es möglich sein, die Kontrolle über die Stadt zu gewinnen. In VARXODON lagerten eine ganze Reihe Kardenmogher, und vermutlich verfügte jeder von ihnen über einen Hegnudger. Damit standen uns ultimate Waffensysteme gegen die Eindringlinge zur Verfügung, vielleicht sogar gegen die Eishaarfelder der Lordrichter. Mit anderen Worten, wenn wir erst einmal die Stadt beherrschten, standen wir auf der sicheren Seite. Dann mussten die Schergen der Usurpatoren schon VARXODON zerstören, um an uns heranzukommen. Und dieses Risiko gingen sie wohl kaum ein. Ihr ganzes Handeln zielte schließlich darauf ab, aus den varganischen Hinterlassenschaften das Optimum an Nutzen zu ziehen. Und die Sternenstadt war das technisch hochwertigste Produkt, das Varganen jemals gebaut hatten. »Sie kommen!« Gorgh warf uns einen kurzen Blick aus seinen unergründlichen Facettenaugen zu. »Ihr solltet euch zurückziehen.« »Bis bald! Wir bleiben in deiner Nähe.« Wir machten uns auf den Weg zum Bughangar. »Wo, sagtest du, hält sich das Saqsurmaa auf?«, fragte ich Kythara. Sie sah mich verwundert an. »Ich habe gar nichts gesagt. Einen Moment.« Sie hantierte an ihrem Kästchen. »Im Modul 17.« »Gut, dort beziehen wir Stellung.« Mit Hilfe des Traktorstrahlprojektors holte ich den schlafenden, zusammengerollten Wurm ins Freie. Wir bezogen in einem Nebenraum mit drei Ausgängen Posten, wo man uns zwischen den langen Stapeln von Schränken mit Raumanzügen kaum suchen würde. Wir nahmen Emion in die Mitte, aktivierten die Tarnschirme und warteten ab.
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* »Sie sind da!«, flüsterte Kythara. Sie saß mit geschlossenen Augen neben dem Wurm, konzentrierte sich ganz auf ihre mentalen Fähigkeiten. »Wie viele?« »Warte!« Nach einer Weile fuhr sie fort: »Drei Tropfenschiffe – Fünfhunderter. Im Hintergrund wartet ein Schlachtschiff der Shiruh!« »Bei den Lordrichtern herrscht Panikstimmung«, flüsterte ich. »Sie haben die PsiQuelle noch immer nicht unter Kontrolle.« »Ja …« Wieder schwieg sie eine Weile. »Die Torghan unterhalten sich über genau diesen Aspekt. Er muss Bestandteil ihrer Anweisungen sein. Deine Anwesenheit ist es, durch die die Lordrichter erschreckt wurden, nicht so sehr durch die Psi-Quelle. Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen dem Auftauchen der Vergessenen Positronik und dir.« Das Eishaarfeld des Lordrichters hatte auf Maran'Thor eine entsprechende Andeutung gemacht. Ich verstand den Zusammenhang nur undeutlich. Bei der Vergessenen Positronik oder Vergessenen Plattform handelte es sich den Überlieferungen nach um das Erbe eines kosmischen Urvolks, das einst spurlos verschwunden war. Seither erschien der schwarze Quader mal auf dieser Seite der Galaxis, mal auf jener. Ich kannte das Objekt aus meiner Jugendzeit und war schon einmal dort gewesen. Der Lordrichter auf Maran'Thor hatte genau diesen Zusammenhang hergestellt. Vielleicht hatte er diese Informationen aus einem arkonidischen Historienspeicher entnommen, oder er besaß Daten aus der Vergessenen Positronik. Die Schlussfolgerung, mein Auftauchen und das des Quaders gehörten zusammen, erschien mir ziemlich dubios. Die Plattform war kein Hund, der mir ständig an den Fersen klebte. Du umgekehrt auch nicht, oder? Es ist wirklich der falsche Zeitpunkt für
30 Witze, antwortete ich dem Extrasinn. Du solltest dich stärker auf deine Funktion als Logiksektor konzentrieren! War das nicht logisch? »Wir befinden uns jetzt im Schlepptau«, fuhr Kythara fort. »Es geht auf schnellstem Weg zur Sternenstadt. Die Soldaten der Torghan haben Bedenken, es könnten Schiffe auftauchen und den Transport in die Dunkelwolke beobachten. Deshalb beeilen sie sich.« Es wunderte mich nicht. Die Organisation »Schwert der Ordnung« war streng hierarchisch organisiert. Ein solcher Zwischenfall erregte mehr Misstrauen als bloßes Aufsehen. In jedem Schiff konnte ein bösartiger Gegner stecken. »Sie werden an Bord kommen und alles durchsuchen«, sagte ich. »Dann werden sie auch die paralysierten Daorghor finden.« »Gorghs Geschichte ist plausibel.« »Bis auf das Gesicht. Bei einer Bildfunkverbindung sehen sie das Gesicht Deodors. Wenn sie die Zentrale betreten, passt das Gesicht nicht zu Deodors Stimme. Spätestens dann werden sie misstrauisch.« »Dem Daorghor wird etwas einfallen.« Zunächst aber gab er seine Geschichte zum Besten, wie wir sie besprochen hatten. Piraten hätten sein Schiff überfallen und geentert. Sie verfügten über technische Machtmittel, die es in der Milchstraße so nicht gab. Sie schienen etwas zu suchen und paralysierten die gesamte Mannschaft. Nur er selbst hätte sich rechtzeitig verstecken können und anschließend die Position des Kommandanten eingenommen, bis dieser erwachte. Es klang überzeugend, solange niemand die drei blinden Passagiere entdeckte. Vielleicht konnte sich Gorgh damit herausreden, dass die angeblichen Piraten vielleicht diese drei Personen gesucht hatten. Dann aber stellte sich die Frage, woher sie das wussten, wenn selbst die Besatzung der CHLACHLAN bisher nicht über sie gestolpert war. »Wir sind jetzt im Hyperraum, Atlan.« Die Maschinen der CHLACHLAN
Arndt Ellmer schwiegen. Gorgh alias Deodor verhielt sich umsichtig. Er kümmerte sich um die Artgenossen in den Kabinen, erneuerte die Paralyse für alle. Jetzt konnten wir sicher sein, dass keiner in den nächsten Stunden erwachte. Es würde knapp, aber wir konnten es schaffen. Die Hyperetappe endete unmittelbar vor der Varxodon-Dunkelwolke. Im Schutz der Gas- und Staubmassen konnten die Schiffe nicht mehr von Fremden angemessen und verfolgt werden. Der Pulk glich seine Geschwindigkeit den Erfordernissen der Umgebung an. »Sie kommen jetzt an Bord«, sagte Kythara leise. »Wenn ich Gorghs Gedanken richtig deute, sind es Torghan und Ur'ogh. Zaqoor führen sie an. Sie sind bewaffnet.« Ich spürte leichte Nervosität in mir aufsteigen. Der Lordrichter auf Maran'Thor hatte geklungen, als wüsste er genau, wovon er sprach. Es wunderte mich nicht, wenn er in Sachen Vergessene Positronik und Ereignisse der Vergangenheit besser Bescheid wusste als ich. Sind die Lordrichter Unsterbliche? Wenn nicht, wie lange können Lebewesen existieren, die von sich semimaterielle Abbilder erstellen? Handelt es sich bei dem Eishaarfeld etwa um eine mentale Projektion? Fragen über Fragen, auf die wir in naher Zukunft wohl keine Antwort erhalten würden. »Es sind zweihundert Soldaten!« Zweihundert! Das sieht aus, als wollten sie das Schif bis in den hintersten Winkel durchsuchen! Sie werden auch dort suchen, wo es nichts zu sehen und zu suchen gibt! Eure Stunden an Bord dieses Schifes sind gezählt! Diesmal stimmte ich dem Extrasinn uneingeschränkt zu.
* Sie sammelten sich in der Mitte des Tropfenschiffs. Von dort aus verteilten sie sich in
Flucht nach VARXODON alle Richtungen. Wir konnten uns ungefähr ausrechnen, wann sie beim Bughangar eintrafen. »Was ist mit Gorgh-12?«, fragte ich. Kythara zögerte. »Seine Gedanken werden schwächer, als ob man ihn aus dem Schiff brächte.« Ich glaubte es nicht. Das hätten sie vorher erledigt oder nachher, aber nicht ausgerechnet während des Durchflugs durch die Dunkelwolke. Angesichts der physikalischen Gegebenheiten draußen war das ganz einfach zu umständlich. »Eher könnte es ein parapsychisches Abschirmfeld sein«, vermutete ich. »Warum sollten sie so etwas einsetzen?« »Weil sie varganische Fähigkeiten kennen und jederzeit mit dem Auftauchen vereinzelter Varganen rechnen.« »Damit könntest du Recht haben, Atlan.« »Da ist noch ein anderer Aspekt, Kythara. Die Lordrichter in der Sternenstadt dürften von ihrem Kollegen auf Maran'Thor informiert worden sein. Sie wissen, dass sich eine Varganin und der unsterbliche Arkonide Atlan auf den Vergessenen Welten herumtreiben. Sie rechnen damit, dass wir auch in VARXODON auftauchen.« Es hätte erklärt, warum sie derart umständlich mit dem »Notfall CHLACHLAN« verfuhren. »Jetzt sind Gorghs Gedanken ganz weg. Vielleicht haben sie ihn eingeschläfert, oder sie entleeren sein Gehirn, um an alle Informationen zu gelangen.« »Es passt nicht, warum sie damit nicht bis zur Sternenstadt warten. In einem Schiff der Lordrichter lässt sich eine solche Prozedur bestimmt effizienter durchführen als hier.« Wir hörten von weitem Lärm. Die Soldaten vom »Schwert der Ordnung« machten aus ihrer Anwesenheit kein Geheimnis. Sie sind wie Treiber: machen Lärm und scheuchen das Wild damit aus seinem Versteck, dachte ich. Zu Kythara sagte ich leise: »Wir versuchen, sie so lange wie möglich an der Nase herumzuführen. Vielleicht verlieren sie irgendwann die Lust.«
31 Das Gesicht der Varganin wurde ungewöhnlich ernst. »Wir sind die Lockvögel, vergiss das nicht. Wir müssen sie vom Hangar mit den Modulen ablenken. Auf keinen Fall darf ein Kardenmogher in ihre Hände fallen. Weder dieser noch solche von VARXODON.« Ich vermutete, dass seine Systeme in zerlegtem Zustand deutlich schneller entschlüsselt werden konnten. So, wie er im Bughangar lag, hatte er vermutlich vor der Endmontage ausgesehen, als der varganische Wissenschaftler Ezellikator die letzten Vorbereitungen getroffen hatte. »Kythara, du bist die Einzige, die die Sicherheitskodes kennt. Sie dürfen jeden von uns in ihre Zangen bekommen, aber dich nicht.« »Es gibt Mittel und Wege.« Sie deutete auf ihren Kopf, sprach offenbar von einer Gedächtnislöschung. »Uns wird etwas anderes einfallen.« An der gegenüberliegenden Wand erschien ein Hologramm. Es zeigte den Grundriss der vorderen Schiffshälfte. Rote Punkte bewegten sich aus verschiedenen Richtungen und in verschiedenen Etagen zum Bug. Das musste Gorgh sein. Er hatte unseren Aufenthaltsort ermittelt und gab uns Hinweise. Ich sprang auf. »Da und da! Wir können uns daran orientieren. Es gibt mehrere Wege, wie wir in ihren Rücken gelangen können.« »Atlan, sie dürfen nicht in diesen Hangar gelangen. Die Tarnfelder arbeiten optimal, aber die Module liegen da, wo sie liegen. Wenn nur eines dieser Wesen gegen ein unsichtbares Hindernis läuft …« »Gorgh beobachtet sie. Ihm fällt etwas ein, wie er es verhindern kann.« Ich fragte mich allerdings, ob ich dem Wissenschaftler da nicht zu viele Kenntnisse in Taktik und Kriegslist zutraute. Er kannte sich in hyperphysikalischen Zusammenhängen besser aus als in den Methoden der Kriegführung. »Hier!« Ich deutete auf drei Kolonnen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen vor-
32 wärts bewegten. Im vorderen Bereich des Tropfens existierten vier Antigravröhren, die alle Etagen miteinander verbanden. An diesen Stellen würden sich die Soldaten auf die verschiedenen Korridore und Stockwerke aufteilen. Wenn wir ihnen ausweichen wollten, mussten wir ihnen so weit wie möglich entgegenkommen. Ich wuchtete den Wurm wie eine Boa um meine Schultern und stapfte los. Kythara folgte mir erst zögernd, dann entschlossen. Im Schutz unserer Tarnschirme marschierten wir zur linken hinteren Antigravröhre. In einem Lagerraum für Kleinroboter warteten wir. Gorgh war noch immer bei der Sache. Er war nicht allein in der Zentrale, davon ging ich aus. Ein paar Soldaten blieben garantiert bei ihm. Dennoch schaffte er es, erneut ein Hologramm zu projizieren. »Mist!« Eine der Kolonnen war abgebogen. Sie nahm den rechten Antigrav und schwebte zwei Stockwerke in die Tiefe. Dort setzte sie ihren Weg fort. »Sie bewegen sich in unsere Richtung.« Wir zogen uns ein Stück zurück, umgingen einen der Labortrakte und wandten uns in die Richtung des Schachts, den die Kolonne verlassen hatte. Auf halbem Weg betraten wir einen Kontrollraum. Alle Terminals waren aktiv. Auf dem vordersten prangte die grafische Darstellung der Truppenbewegungen. Die Kolonne änderte erneut ihren Kurs. Das Licht teilte sich zudem. Ein Teil der Soldaten ging den bisherigen Weg weiter, der andere kehrte zum rechten Schacht zurück, um uns den Weg abzuschneiden. Irgendetwas war faul. Entweder orientierten sich die Soldaten an derselben Projektion, allerdings mit dem Unterschied, dass dort unsere Bewegungen zu erkennen waren, oder sie besaßen andere Möglichkeiten, sich über unseren jeweiligen Aufenthaltsort zu informieren. »So kommen wir nicht weiter!« Kythara deutete hinaus in den Korridor. »Zurück in den Hangar!«
Arndt Ellmer »Wir versuchen es ohne unsere Tarnschirme«, schlug ich vor. »Möglicherweise besitzen sie ein Gerät, mit dem sie sie lokalisieren können.« Es brachte nichts. Auch jetzt reagierten sie auf jeden unserer Ortswechsel. Ich startete einen letzten Versuch. Wir rannten einen Korridor entlang, der auf der linken Seite in Richtung Schiffszentrum führte. Sofort schickten sie uns vom dortigen Kontingent Soldaten entgegen. Jetzt war es endgültig. Wir brauchten uns nicht zu verstecken. Sie wussten in jeder Sekunde über unseren Aufenthaltsort Bescheid. Wir schalteten die Tarnschirme wieder ein. So konnten sie uns wenigstens optisch nicht ausmachen, wenn sie uns gefunden hatten. Wir kehrten in den Raum beim Hangar zurück. Ich warf der Varganin einen fragenden Blick zu. »Mach einen Vorschlag!« »Jetzt gehen wir so vor, wie wir es ursprünglich geplant hatten.«
* Auf dem Hologramm verfolgten wir, wie die Soldaten sich weiter verteilten, bis sie jeden Korridor jeder Etage besetzt hatten. Raum für Raum kämmten sie den Bugteil des Tropfenschiffs durch. Sie wollten offenbar besonders gründlich sein und auch solche Dinge entdecken, die ihnen nicht so deutlich erkennbar waren wie Kythara und ich. Ich rechnete mit einer guten Viertelstunde, bis sie vor der Tür standen. Ich näherte meinen Mund dem Ohr der Varganin. »Zur Schleuse!« Ich sprach es so leise, dass bestimmt kein Abhörgerät es wahrnahm. Kythara nickte. Wieder schulterte ich das zusammengerollte Saqsurmaa. Wir machten uns auf den Weg. Diesmal rannten wir, so schnell wir konnten. Den Weg kannten wir genau. Keine drei Minuten dauerte es, bis wir die Kontrolllichter vor uns sahen.
Flucht nach VARXODON Kythara betätigte den Öffnungsmechanismus. Die beiden Hälften des Innenschotts glitten auseinander. Wir starrten in die trompetenähnlichen Mündungen großkalibriger Strahler, an deren hinterem Ende Ur'ogh standen. Es waren acht Insektoide, die uns erwarteten. Ihre Kopffühler schwenkten in einem Winkel von hundertachtzig Grad hin und her wie Antennen einer Radaranlage. Sie verhielten sich, als ob sie uns sehen könnten. Sie zeigten keine Überraschung, keine Unsicherheit – nichts. Wir hatten keine Chance mehr. »Schaltet die Tarnschirme ab und ergebt euch!«, klang es abgehackt in schnellem Stakkato aus dem Mund des vordersten Soldaten. »Weigert ihr euch, zerstören wir eure Körper.« Kythara trug es mit Fassung. Ihre einzige Sorge galt dem Kardenmogher. Wenn die Soldaten uns mal gefangen hatten, würden sie nicht weiter suchen. Von Anfang an waren sie zielgerichtet vorgegangen, als wüssten sie genau, mit wem sie es zu tun hatten. »Schaltet die Tarn …« Ich sah, wie Kythara zum Gürtel griff, und folgte ihrem Beispiel. Anschließend nahm ich vorsichtig den Wurm herunter und setzte ihn auf den Boden. Mit diesem seltsamen Wesen schienen sie nicht gerechnet zu haben. »Was ist das für ein Tier?« »Kein Tier. Es ist mein Diener Emion. Er schläft.« »Mitkommen!« Sie nahmen uns in ihre Mitte, schoben uns in den Korridor zurück und brachten uns in die Zentrale. Gorgh war da, unverletzt, wie es schien. Eine Gruppe aus zehn Torghan umringte ihn. Keinem der Soldaten schien bisher das Holo im Hintergrund zwischen zwei hohen Schränken aufzufallen, auf dem die Truppenbewegungen innerhalb des Schiffes dargestellt waren. Der Bughangar war frei von Markierungen. Die Suchkolonnen kehrten bereits ins
33 Zentrum des Tropfens zurück. Sie haben den … nicht bemerkt! Ich hütete mich selbst in meinen Gedanken, das Schiff konkret zu benennen. »Danke, Gorgh«, sagte ich. »Aber es war umsonst.« »Keine Ursache, Atlan. Ich habe ziemlich schnell gemerkt, dass sie genau wussten, wonach sie suchen.« Den Anzeigen der Ortung entnahm ich, dass die CHLACHLAN ihre letzte Hyperetappe hinter sich gebracht hatte und soeben in die Hohlblase einflog. Ihr Ziel war nicht schwer zu erraten, die Sternenstadt. Dort würden wir vermutlich bald einem der Lordrichter gegenüberstehen. Nach dem, was wir soeben erlebt hatten, wurde ich den Gedanken nicht los, dass wir diese Wesen noch immer unterschätzten. Über welche Fähigkeiten sie offenbar verfügten, hatten wir in der CHLACHLAN gerade erlebt. Der Gedanke, dass sie Kytharas Fähigkeit angemessen und daher über unseren jeweiligen Aufenthaltsort Bescheid gewusst hatten, drängte sich mir auf. Wenn wir uns ein bisschen geschickt verhielten, würden wir es bald erfahren.
6. Die Torghan behandelten uns nicht gerade zimperlich. Zwischen den harten Chitinleibern eingekeilt, mussten wir Püffe und Stöße ertragen, die einen ausgewachsenen Mann wie mich zu Boden geworfen hätten – wären da nicht die Bewacher vor uns gewesen, gegen die wir fielen. Wir durchquerten eine Schleuse. Dahinter erstreckte sich ein langer Tunnel. Von dort ging es durch einen Gang über eine Hochbrücke. Die Straßenschluchten schienen bis hinaus ins Weltall zu reichen. Der Blick in die Weite blieb uns verwehrt. Zwischen wuchtigen Bauten tauchten für einen kurzen Augenblick Türme mit spitzen Zinnenkränzen auf. Dann ging es in den nächsten Gang, in einem schier endlosen Schacht abwärts und
34 schließlich durch mehrere Schleusen in einen kreisrunden Saal mit mehreren Dutzend Türen. »Willkommen im Gefängnis«, zischte Kythara. Unsere Bewacher beachteten es nicht. Sie schubsten uns durch eine der offenen Türen. Ehe wir uns richtig umsahen, knallte sie auch schon hinter uns zu. Gorgh, der inzwischen das Saqsurmaa trug, legte den Wurm vorsichtig auf dem Boden ab. Emion zeigte noch immer keine Anzeichen des Erwachens. Kythara stemmte die Fäuste in die Hüften. »Da wären wir also. Das ist VAR III, eine der vier Hauptstädte.« Wir hatten unser Ziel erreicht, wenn auch anders, als wir uns das vorgestellt hatten. Ich lauschte nach draußen. Das Klacken horniger Fußklauen auf dem Metallplastboden war verklungen. Wir waren allein. Ich sah die Gefährten an. »Ich kümmere mich als Erstes um die Tür.« Kythara lachte. »Da gibt es nichts zu tun. Du kannst sie jederzeit öffnen. Gegenüber befinden sich Duschräume für Humanoiden. Das Essen kommt über eine Rohrbahn.« Ich hatte nicht vor, die Annehmlichkeiten dieser Gastfreundschaft zu genießen. Entschlossen betätigte ich den Türöffner und ging hinaus in den Saal. Die Eingangstür war verschlossen, wie ich es erwartet hatte. Ein schwach energetisches Feld lag darüber. Vermutlich löste es ein Signal aus und zeigte unseren Wächtern in der Überwachungszentrale, dass sich jemand an der Tür zu schaffen machte. Kythara kam mir hinterher. »Gib dir keine Mühe. Es existieren unsichtbare Kameras und Abhöranlagen. Die Torghan und wie sie alle heißen, sind damit inzwischen sicher längst vertraut.« Da es uns in der »Zelle« gemütlicher erschien, kehrten wir dorthin zurück. »Ich vermute, sie hören uns auch telepathisch ab«, behauptete ich. »Wie anders hätten sie uns im Schiff verfolgen können?« Kythara nickte. »Es wäre denkbar. Zu-
Arndt Ellmer mindest für die Lordrichter selbst. Die Materialisation des Eishaarfelds zeugt von einer starken parapsychischen Kraft, ebenso die bedrückende Ausstrahlung von Macht, die von diesem Feld ausgeht.« Ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass die Lordrichter in der Sternenstadt mit unserer Ankunft gerechnet und sich entsprechend vorbereitet hatten. »Aber eines können sie wahrscheinlich nicht«, vermutete ich und holte aus meiner Kombination eine handtellergroße Folie und einen Ministift hervor. »Wir wissen noch viel zu wenig über sie«, schrieb ich darauf. »Das ist unser größtes Handikap. Wir sollten es schleunigst ändern. Du kennst die Stadt. Gibt es Fluchtwege in Form von Notausgängen oder Rettungsstollen? Wie kommt man hier raus, ohne die Tür zu benutzen?« Ich hielt ihr die Folie in der gekrümmten Hand so hin, dass keine Beobachtungskamera Einblick erhielt, es sei denn, sie setzte sich unmittelbar vor das Gesicht der Varganin. Sie las die Fragen und nickte zweimal. Dann schüttelte sie den Kopf. Es gab folglich Notausgänge und Rettungsstollen, aber keinen Geheimgang aus dem Gefängnis. Wieder einmal bedauerte ich, dass wir unsere heimlichen Helfer, die beiden VargKugelroboter, hatten opfern müssen, um von Maran'Thor zu entkommen. Als Spähtrupp hätten sie uns jetzt wertvolle Dienste erweisen können. Dennoch verlor ich meine Zuversicht nicht. Wir hatten mit Gorgh einen wichtigen Helfer, der sich in den Gewohnheiten und Gepflogenheiten der erzherzoglichen Truppen auskannte. Und mit dem Saqsurmaa besaßen wir möglicherweise einen Joker, dessen Wert wir nur noch nicht kannten. »Ich bekomme langsam Hunger«, sagte ich nach drei Stunden schweigenden Wartens. »Wann genau kommt hier das Essen, sagtest du?« »Es ist nicht gesagt, dass wir überhaupt etwas erhalten«, antwortete Kythara.
Flucht nach VARXODON »Vermutlich dient unsere Anwesenheit allein dem Zweck, alles aus unseren Gehirnen herauszuquetschen, was die Lordrichter wissen wollen.« Ich lachte. »Welche Geheimnisse der Varganen könnte ein arkonidischer Weltenbummler schon kennen? Und welche eine varganische Rebellin, die seit Ewigkeiten in einer Raum-Zeit-Falte steckte, ohne jeden Kontakt zu ihrem Volk oder der Milchstraße?« Das musste unseren heimlichen Mithörern zu denken geben. Gleichzeitig hoffte ich, dass die Information über unsere Harmlosigkeit sie ein wenig nachlässig machte. Gorgh würden sie erst recht kaum beachten. Er war Angehöriger eines Volkes, das zum »Schwert der Ordnung« gehörte. Ihn würden sie allenfalls als Verräter oder Kollaborateur abstempeln und ihm den Todesimpuls nachreichen, der aus unbekannten Gründen bei ihm nicht funktioniert hatte – wahrscheinlich nicht länger per Funk, sondern auf traditionelle Art, und sei es, dass sie ihm kurzerhand mit einer Machete den Kopf abschlugen. Und das Saqsurmaa? Wenn es nicht bald erwachte, würde es nicht einmal etwas von seinem Tod mitbekommen. Obwohl – irgendwie war ich mir sicher, dass es rechtzeitig vorher erwachte. Irgendeinen Selbstschutzmechanismus besaß jedes Lebewesen. Sogar im Schlaf. Zudem wäre es bitterer Hohn gewesen, Emion nur erwachen zu lassen, um ihn danach zum Tode zu befördern. Und das mit einem Stuhl als Henkersmahlzeit. Nicht sehr pietätvoll.
* Ein Poltern und Rumpeln riss uns aus dem Halbschlaf. Laute Kommandos erschallten in abgehackter Sprechweise. Ich hörte das Klirren von Metall. Sie kamen uns holen. Mit demselben Lärm wie bei unserer Ankunft flog die Tür auf. Ur'ogh warteten draußen, sie hielten Netze in ihren Klauen. Als wir keine Anstalten machten, unseren Raum
35 zu verlassen, staksten sie durch den Saal auf uns zu. »Mitkommen!« Ich ging als Erster hinaus, machte einen Bogen um die Kerle und trat hinaus in den Korridor. Aufgeregtes Zirpen schallte hinter mir her. Bloß nicht darum kümmern, sagte ich mir. Wenn sie dich im Netz fangen wollen, müssen sie dich erst kriegen. Kythara und Gorgh folgten mir, ebenfalls ohne Netz. Die Soldaten verzichteten darauf, sie uns überzuwerfen, und im Augenblick war es mir egal, ob aus Respekt vor uns oder weil sie sich ohnedies ihrer überlegenen Machtstellung sicher waren. Sie setzten sich vor und hinter uns, dann ging es den Korridor entlang und den Antigravschacht nach oben in die Straßenschlucht, durch die wir gekommen waren. Ein Gleiter wartete, der uns hinauf in ein tropfenförmiges Beiboot brachte, das über den Bauten hing. Keine zehn Kilometer entfernt ragte eine dicke Säule in den Himmel. »Die vier Hauptstädte sind ringförmig um die Sockel der vier Speichen gebaut«, sagte Kythara. Mit den Händen beschrieb sie eine Röhre, stach mit einem Finger ein Loch hinein und fuhr dann entlang der imaginären Röhre nach oben. Das Ganze tat sie im Schutz der Rückenlehne eines Sitzes, in die uns die Ur'ogh gestoßen hatten. Die Varganin wollte mir damit zu verstehen geben, dass wir in eine der Speichen mussten, wenn wir fliehen wollten. Oder dass uns die Flucht ganz sicher gelang, wenn wir auf die Anlagen in den Speichen zurückgreifen konnten. Ich senkte unauffällig den Kopf zum Zeichen, dass ich sie verstanden hatte. Der Gleiter erreichte das Beiboot und dockte an einer Rampe an. Durch einen Tunnel mit Käfiggittern führten die Ur'ogh uns in einen Saal mit mehreren Abteilungen. Roboter bewachten die Ausgänge, an ein Entkommen war unter diesen Umständen kaum zu denken. An den Zugängen zu den einzelnen Abtei-
36 lungen erwarteten uns humanoide Wesen in silbernen Rüstungen. »Zaqoor!«, zirpte Gorgh leise. Die Leibwächter der Lordrichter waren bis zu zweieinhalb Meter groß. In ihren voluminösen Armen trugen sie riesige, großkalibrige Waffen, die ich als Impulsstrahler identifizierte. Die Dinger mussten verdammt schwer sein. Ich traute mir nicht zu, einen davon hochzuheben. Einmal waren wir ihnen ganz knapp entkommen – auf Maran'Thor –, aber jetzt … Hinter den geschlossenen Visieren leuchteten blaue Augen, mehr war von den Gesichtern nicht zu erkennen. Folterknechte! Mein Instinkt trog mich nicht. Weiter hinten entdeckte ich eines dieser Wesen mit einer Elektropeitsche. »Die Stunde der Wahrheit ist gekommen!«, grollte eine hallende, nicht menschlich klingende Stimme. »Ihr werdet froh sein, wenn sie vorüber ist.« »Ihr auch«, gab ich zur Antwort und schielte heimlich nach dem Kragen der Rüstungen, wo der Helm vermutlich locker auf dem Brustteil lag. Wenn die Kerle nicht gerade aus Stahl und nicht nur optisch, sondern auch organisch von annähernd menschlicher Beschaffenheit waren, musste es möglich sein, an einen ihrer Dagorpunkte zu kommen. Die Ur'ogh verteilten uns auf drei Abteilungen. Im Hintergrund meiner »Folterkabine« stand ein weiterer Zaqoor, die glühende Schere schon in den stählernen Handschuhen. Täuschte ich mich, oder fing das Marterinstrument leicht an zu zittern? Vermutlich ein Eleve, der das zum ersten Mal macht. Ich wandte mich an den Riesen hinter meinem Rücken. »Du weißt sicher, wer ich bin. Atlan da Gonozal, Kristallprinz von Arkon. An deiner Stelle würde ich mir genau überlegen, was ich tue.« Das hellblaue Licht hinter den Sehschlitzen nahm an Intensität zu. Der Zaqoor ging in die Knie, bis seine Augen auf derselben Höhe waren wie meine.
Arndt Ellmer »In wenigen Stunden bin ich der Kristallprinz«, grollte es aus dem Visier. »Deshalb sehe ich mir dich genau an, bevor ich dir dein Gesicht verbrenne.« Er wandte sich um. Für einen kurzen Augenblick sah ich den winzigen Spalt zwischen Helm und Rüstung, der sich am Nacken auftat. Er reichte, um zwei Finger dazwischen zu stecken. »Philex!«, donnerte der Zaqoor. »Ich brauche dich!« Der Riese mit der Neuropeitsche tauchte auf. »Bring diesem Kerl Manieren bei, Philex. Er wird renitent!« Blitzschnell nahm ich Maß. Rechts neben mir stand die Folterbank mit der silberfarbenen Liegefläche. Hinter mir hatte ich den Kerl mit der Schere, der sich noch immer nicht vom Fleck rührte. Vor mir tauchte der Zaqoor mit der Neuropeitsche auf. Er verdeckte den Schreihals und blockierte dessen Schussbahn. »Die Waffe! Hinter dir!« Mein Schreckensruf und das verzerrte Gesicht wirkten Wunder. Der Zaqoor fuhr herum. Gleichzeitig schoss mein rechter Arm vor. Mit gestrecktem Zeige- und Mittelfinger zielte ich nach der Lücke am Hals, die sich auftat. Den Bruchteil einer Sekunde brauchte ich für den Griff. Die beiden Finger stießen gegen den Hals oder das, was ich für den Hals hielt. Ich spürte, wie sie an dem dicken Sehnenstrang abglitten und tief ins Fleisch drückten. Ich schickte einen Stoßseufzer zu den Sternengöttern. In dieser Stunde waren sie mir milde gestimmt. Ich erwischte einen Dagorpunkt. Blitzartig unterbrach der Schlag die Nervenverbindungen zwischen der rechten Körperseite und dem Gehirn. Gleichzeitig raste der neuronale Schock mit Lichtgeschwindigkeit über die Synapsen im Kopf auf die andere Seite des Körpers und rief dort identische Symptome hervor. Der Zaqoor stand ein paar Sekunden starr wie eine Steinfigur. Dann fiel er nach vorn, dem Bewaffneten in die Arme.
Flucht nach VARXODON Ich wartete nicht. Noch während er stand, rollte ich mich ab, unter der Folterbank hindurch auf die andere Seite, völlig verdutzt, weil mir der Riese hinter meinem Rücken nicht die glühende Schere in den Körper gerammt hatte. Er stand aber auch nicht mehr an seinem Platz, wie ich flüchtig mitbekam. Ich kam neben der Folterbank auf die Beine, schnellte mich geduckt nach vorn in Richtung Ausgang. Die Schere steckte in den Schlitzen des Visiers meines Wächters. Der Eleve entriss ihm soeben den Megastrahler. Ein Donnern erklang, als sich die Waffe entlud und dem Kerl den halben Oberkörper zerschnitt. Unter der Rüstung blubberte und dampfte es. »Warte hier!« Der Eleve stampfte davon. Viermal brüllte die Impulswaffe auf, der Kanonenhall brach sich vielfach an den Wänden des Saals. Der Zaqoor kehrte zurück. Die Waffe hielt er gesenkt. Hinter ihm tauchten Kythara und Gorgh auf, zum Glück unverletzt. Von den Ur'ogh war weit und breit nichts mehr zu sehen. »Schnell, kommt mit! Noch sind die Lordrichter von Garb nicht in der Warteschleife!« Obwohl er sich Mühe gab leise zu sprechen, dröhnte seine Stimme in unseren Ohren. Er stampfte hinaus, zurück in den Gleiter. Den Piloten setzte er mit einem leichten Schlag der Waffe außer Gefecht, warf ihn dann in den Tunnel. Die Tür schloss sich, der Gleiter legte ab. Wir starrten den Zaqoor fassungslos und gleichzeitig fragend an. Er reagierte nicht. Mit ein paar wenigen Befehlen übernahm er die Kontrolle über das Fahrzeug, das wie ein Stein in die Tiefe sank, später in eine Schleife überging und dicht über dem Straßenniveau in ein Parkdeck einschwenkte. »Fragt später«, knurrte der Zaqoor. »Erst müssen wir hier weg!« »Wir gehen nicht ohne das Saqsurmaa«, sagte ich. »Ein Roboter holt es gerade aus dem Ge-
37 fängnis und bringt es zu euch.« Wir stiegen aus, rannten hinter dem Hünen zu einem Antigravschacht, fuhren zehn Stockwerke nach unten, wechselten dort den Schacht. Kurz darauf standen wir vor einem Reparaturschott für Großroboter. Es maß zehn mal acht Meter. Hinein und in einen Transportzylinder, der davonschoss und ebenso abrupt hielt. Eine Rampe schloss sich an, darunter ragte ein seltsam glitzerndes Tor auf. »Das ist einer der Eingänge in die Unterwelt«, kommentierte Kythara es. »Ich ahne, was er vorhat. Aber wir wollen in die andere Richtung.« Sie wollte das. Ich war der Ansicht, dass wir zum Kardenmogher zurückkehren sollten, der unsere derzeit einzige Waffe gegen die Lordrichter darstellte. Nur mit dem Schiff kamen wir von hier weg. Der Zaqoor öffnete das Tor mit Hilfe einer Fernbedienung. Dahinter erstreckten sich mehrere Laufbänder, eine Bahn für Magnetschwebefahrzeuge sowie Zugänge zu Antigravschächten. Er entschied sich für eines der Fahrzeuge mit durchsichtigem Schutzverdeck. Wir stiegen ein. Während sich die Automatikgurte schlossen, nahm der zigarrenförmige Torpedo Fahrt auf. »Sollte man uns unterwegs stoppen, werdet ihr sofort die Tarnschirme einschalten!«, befahl der Zaqoor. Er drehte den wuchtigen Pilotensessel, in dem er saß. Das Visier zeigte in meine Richtung. »Ich kenne dich, Kristallprinz«, sagte er. Respekt und … Verehrung klangen in seiner Stimme mit. »Ich kenne dich aus den alten Aufzeichnungen. Du bist der, von dem der Ewige Ganjo sprach. Nicht nur ich, mein ganzes Volk verdankt dir so viel mehr, als ich hier abzuleisten im Stande bin.« »Ewiger Ganjo?«, echote Kythara. »Ist das …?« »Ein Cappin«, bestätigte ich. Cappins waren Pedotransferer, das heißt, sie konnten ihr Bewusstsein in den Körper eines anderen Wesens projizieren und dann dessen Geist übernehmen. Und genau das musste hier ge-
38 schehen sein. »Mein Name lautet Sorgaron vom Volk der Ganjasen, Atlan da Gonozal. Vergiss ihn nicht, so wird er weiterleben, wenn mein Volk und ich längst Geschichte sind, Unsterblicher von Arkon.« »Wie lange bist du schon … hier?«, erkundigte sich Kythara, doch Sorgaron antwortete nicht. Er sprach weiter zu mir. »Wir Ganjasen verdanken dir und Perry Rhodan so viel. Es ist mir eine Ehre, dir einen Teil unseres Dankes zurückzugeben.« »Du bist nach Carscann der zweite Cappin, den wir im Zusammenhang mit den Lordrichtern von Garb treffen«, sagte ich. »Ich vermute, wir verfolgen gemeinsame Interessen.« »Das ist ziemlich wahrscheinlich. Genau wissen wirst du es erst, wenn du unseren Feind erkennst. Dann wirst du auch sein Feind sein, und der Feind unseres Feindes ist unser Freund. Wir haben nicht viel Zeit. Ich bringe euch zu dem Schiff zurück, mit dem ihr gekommen seid. Dort suchen sie euch am wenigsten.« Der Torpedo wand sich in einer spiralförmigen Bahn abwärts, die um eine ungefähr dreißig Meter dicke Säule führte. An den Kontrollen des Fahrzeugs blinkten immer wieder Lichter, die Sorgaron mit raschen Griffen zum Erlöschen brachte. Zehn Minuten ungefähr bewegten wir uns in die Tiefe, bis das Fahrzeug langsamer wurde. »Dort!« Kythara deutete auf ein zweites Fahrzeug an einer Säule in Sichtweite. Hinter dem durchsichtigen Verdeck erkannten wir einen Roboter und den Wurm. Am unteren Ende der Säulen kamen die beiden Fahrzeuge zur Ruhe. Wir stiegen aus. Gorgh übernahm das Saqsurmaa. Als Daorghor mit seinem Chitinkörper machte ihm der Transport des schweren Wurms am wenigsten aus. Der Zaqoor blieb vor einer Schleuse stehen. Er schien zu überlegen. »Soeben wird Alarm gegeben«, sagte er. »Man hat die Toten entdeckt. Es kann nicht mehr lange dauern, bis man auch mein Ver-
Arndt Ellmer schwinden bemerkt. Die Jagd ist eröffnet.« Einen fast identischen Satz hatte ich vor kurzem auf Maran'Thor schon gehört. »Der Kampf ist eröffnet«, hatte das Eishaarfeld des Lordrichters verkündet.
* Ein wenig erinnerten wir an Tramps, die sich durch die Wüste schleppten auf der Suche nach dem verheißenen Eldorado. Mit etwas Fantasie konnte man das Saqsurmaa auf Gorgh für einen überdimensionalen Sattel halten. Sorgaron begann zu laufen. Wir mussten rennen, um mit dem Riesen Schritt halten zu können. Inzwischen wussten die Lordrichter mit Sicherheit von unserer Flucht. Was es für sie bedeutete, konnten wir uns lebhaft vorstellen. Die Sternenstadt in der Hand einer Varganin, das mussten sie auf alle Fälle verhindern. Entsprechend heftig und rücksichtslos würde die Verfolgung ausfallen. Ich schloss zu Kythara auf, die leichtfüßig vor mir herrannte. »Du wolltest unbedingt in die Speiche, um zum Mond zu gelangen«, keuchte ich. »Vermutlich gibt es dort Transmitter und ähnliche Anlagen. Auch die Kardenmogher und der Hegnudger dürften dort zu finden sein. Die Lordrichter wissen das vermutlich oder können es sich denken. Sie werden ihre Suche auf die Speichen konzentrieren.« »Ich denke, du hast Recht. Hier unten sind wir besser aufgehoben.« »Nicht lange«, dröhnte Sorgaron. »In den Tiefen des Ringes existieren gewaltige technische Anlagen. Manche dienen der Projektion des Gravitationsfelds, andere erzeugen die Lufthülle auf der Innen- und Außenseite. Ein Großteil der Anlagen dient jedoch einem mir unbekannten Zweck. Sie werden bewacht. Die besten Wissenschaftler des Schwerts der Ordnung versuchen, hinter die Funktionsprinzipien der Maschinen zu kommen.« »Sie sollen es besser bleiben lassen.« Kythara warf dem Zaqoor einen wütenden
Flucht nach VARXODON Blick zu. »Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Sternenstadt zerstören, ist größer als alles andere.« »Das sehe ich auch so«, entgegnete der Cappin im Zaqoorkörper. »Aber ich kann es nicht ändern. Ihr Befehl lautet, nichts zu tun, was VARXODON schadet. Sie werden entsprechend vorsichtig sein.« Ging die Bedeutung der Sternenstadt für die Lordrichter über das hinaus, was wir wussten? Beherbergte VARXODON Geheimnisse oder Anlagen, die unsere Vorstellungskraft überstiegen? Zugetraut hätte ich den Varganen so etwas. Garantiert hatten die Angehörigen dieses Volkes bei ihrer Rückkehr in den »Mikrokosmos« einige Geheimnisse mit sich genommen, Wissen über Dinge, die den Rebellen von damals unbekannt waren. Nur wenige waren im Standarduniversum zurückgeblieben, weil sie es mittlerweile als ihre Heimat ansahen. »Schneller!« Sorgaron drängelte. Ich versuchte so gut mitzuhalten, wie es ging. Kythara und Gorgh mit Emion fielen langsam zurück. Wahrscheinlich trägt der Zaqoor einen Mikrogravitator, vermutete ich. »Nicht so schnell«, rief ich. »Wir sollten zusammenbleiben.« An einer ovalen Verteilerstelle wartete er auf uns. »Gleich sind wir an den Personalschächten.« Sie lagen im Zentrum der Verteilerstelle, hinter einer Einfassung. Nach kurzer Prüfung schwangen wir uns hinein. Die Antischwerkraftfelder trugen uns zügig abwärts. Nach zehn Kilometern endeten sie. Wir wechselten durch einen Verbindungskorridor zum nächsten Schacht, mit dem wir zwanzig Kilometer schafften. Dann war erst einmal Endstation mit dem flotten Abstieg. Sorgaron fragte sein Funkgerät ab. »Sie sind jetzt in der Speiche, besser gesagt in den öffentlichen Teilen davon.« Für unsere Flucht wollte das nichts heißen. Von den 500 Kilometern bis zur Außenseite des Rings hatten wir knapp 40 hin-
39 ter uns gebracht. »Wir benutzen am besten einen Schweber, wie ihn Techniker verwenden«, schlug Kythara vor. »Dann fallen wir am wenigsten auf. Gleich hinter der nächsten Biegung müsste ein Depot sein.« »Ein Fahrzeug war unmittelbar unter der Oberfläche in Ordnung. Hier nicht mehr«, widersprach der Cappin im Körper des Zaqoors. »Die Lordrichter sind nicht dumm. Sie behalten selbstverständlich auch den Ring im Auge. Über das zusätzliche Gewicht der Schweber können sie feststellen, wer hier fliegt.« »Dann ändern wir unsere Pläne. Folgt mir!« Kythara wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Sie führte uns durch mehrere Freizeithallen hindurch, an die sich industrielle Anlagen anschlossen. Über Treppen, von denen das »Schwert der Ordnung« und seine Schergen bisher nichts wussten, führte einer der unzähligen Wege in die Tiefe bis zu einem hermetisch abgeriegelten Bereich. Kythara kannte die Kodes, die uns alle Sicherheitsschotten öffneten und die Abwehrsysteme ausschalteten. Wir erreichten ein Waffenlager. Hinter einer transparenten Wand entdeckte ich die typischen Aufbauten und Metallbögen eines Transmittersystems. Die Vorsicht riet uns, es nicht zu benutzen. Hätten wir es getan, wäre spätestens in einer halben Stunde die Leibgarde aufgetaucht. Wir bewaffneten uns mit Handstrahlern, zusätzlichen Antigravgürteln und Energiemagazinen. Ein paar Schmelzbomben, Räucherkerzen und Phantomprojektoren für das Gürtelhalfter ergänzten die Systeme unserer Einsatzanzüge. Die Insektoiden hatten sie uns bei der Verhaftung nicht einmal abgenommen. Vermutlich hatten sie darauf spekuliert, dass wir irgendwann in der Sternenstadt einen Ausbruch versuchen würden. Ziemlich schlau, diese Lordrichter. Sie hofften, uns verfolgen zu können und dadurch in Bereiche VARXODONS vorzustoßen, zu denen sie bisher keinen Zugang hat-
40 ten. Mit einem Verräter aus den eigenen Reihen hatten sie nicht gerechnet. Und jetzt war es zu spät. Sie hatten unsere Spur verloren. Wir verließen das Lager durch ein zweites Schott. Hinter einer Sicherheitsschleuse existierte ein Lastenantigrav mit einem über fünfzig Meter durchmessenden Schacht. Er gehörte zu den geschützten Anlagen der Sternenstadt und war abgeschaltet. »Schaltet eure eigenen Aggregate ein!«, forderte Kythara uns auf. »Warte!« Ich hielt sie zurück. »In der Sicherheitszone des Ringes existieren garantiert Hauptpositroniken, von denen aus das gesamte System der Stadt gesteuert werden kann, die Rotationsgeschwindigkeit, die Schirmfelder … Wir könnten VARXODON in ein Schutzfeld hüllen, das zunächst auf der Außenseite des Ringes anliegt und sich dann immer weiter ausdehnt. Es würde die Schiffe der Okkupatoren hinaus ins All drücken und verhindern, dass weitere landen. Den Rest innerhalb der Stadt könnten Roboter erledigen.« »Unser Sicherheitssystem lässt das nicht zu. Es geht nur, wenn auch im Zentrum des Mondes eine berechtigte Person mit den Alpha-Kodes sitzt und jede dieser Maßnahmen bestätigt. Umgekehrt muss der Inhaber der Alpha-Kodes im Ring jede solche Maßnahme bestätigen, die aus dem Zentrum heraus getätigt wird.« »Manchmal kann Sicherheitsdenken auch zur Falle werden«, murmelte ich, aber Kythara hatte es sehr wohl registriert. Ohne ein weiteres Wort warf sie sich in den Schacht, legte zwanzig Meter im freien Fall zurück und aktivierte dann ihren Antigrav. Wir folgten ihr. Eine halbe Stunde schwebten wir abwärts, der Schacht nahm immer noch kein Ende. Fast eine ganze Stunde dauerte unser Sinkflug. Der Schacht mündete in der Decke einer Halle, in der es Dutzende von Sitzecken und Lounges für Hunderte von Menschen gab. »Die Zweihundert-Kilometer-Marke«, teilte Kythara uns mit. »Wir dringen in den Sektor mit den
Arndt Ellmer Maschinenanlagen vor.« »Es wird auch höchste Zeit«, sagte Sorgaron. »Sarkahan und Yyrputna schicken Zehntausende Soldaten hinter uns her. Ganze Divisionen regnen auf der Außenseite des Ringes ab, um uns in Empfang zu nehmen.« Sie hatten also gemerkt, dass wir uns nicht in der Speiche aufhielten, oder sie wollten auf Nummer Sicher gehen. »Sarkahan und Yyrputna?«, erkundigte sich Gorgh. »Die beiden Lordrichter, deren Schiffe auf dem Raumhafen stehen.«
* Kilometerlange und ebenso hohe Maschinenblöcke erstreckten sich bis weit hinter den Horizont. Wir bewegten uns durch Hallen, deren Länge und Breite Kythara mit fünfzig bis hundert Kilometern bezifferte. Aus statischen Gründen ragten in regelmäßigen Abständen Stützpfeiler auf, in denen man ohne Probleme ein paar Dutzend arkonidische Trichterbauten hätte unterbringen können. Unsere Anzüge orteten pausenlos. Außer den typischen Emissionslawinen solcher Anlagen gab es nichts, was uns verdächtig erschienen wäre. Es wollte nicht heißen. Wir konnten die Zaqoor, Daorghor und wie sie alle hießen, ebenso wenig ortungstechnisch erfassen, wie ihnen das mit uns gelang. Kytharas Nervosität stieg. Sie hoffte nur, konnte es aber nicht mit Bestimmtheit sagen, dass die Anlagen noch nicht erobert waren. Wir beschlossen, einen Umweg zu einer der Hauptpositroniken zu machen. Die Varganin identifizierte sich und fragte die Informationen ab. Alle wichtigen Daten über Sicherheitsschotten, Angreifer und mögliche Fallensysteme der Lordrichter übertrug sie in die Mikropositronik ihres Anzugs. Damit standen sie auch Gorgh und mir zur Verfügung. Sorgaron lehnte eine Überspielung ab. »Ich habe meine Steuerpositronik abgeschal-
Flucht nach VARXODON tet«, informierte er uns. »Es steht zu befürchten, dass man über sie meinen Standort anpeilen kann.« Wenn wir ihm bisher noch misstraut hätten, wäre uns spätestens jetzt klar geworden, dass wir uns absolut auf ihn verlassen konnten. Drei Ebenen und achtzehn Kilometer tiefer erreichten wir ein Schnellbahnsystem. Es verband alle wichtigen Anlagen miteinander und reichte bis in eine Tiefe von vierhundert Kilometern. Zwei Stunden brauchten wir, um das Ende des Maschinensektors zu erreichen. Den Schergen der Lordrichter genügte diese Zeit, den Ring außen und innen dichtzumachen. Jetzt gab es kein Durchkommen mehr. Kythara führte uns zu einer Sicherheitsschleuse. Mit Hilfe der Positronik beobachtete sie die Umgebung auf der anderen Seite. Alles war ruhig. Die automatischen Aufzeichnungen zeigten keine Vorkommnisse, seit die Lordrichter in die Dunkelwolke gekommen waren. Auf dem Schleusenschott prangte ein Halbkreis mit einem Pfeil am oberen Kreisbogenende. Daneben gab es ein wellenähnliches Symbol. Was ein Terraner wohl für den Hinweis auf ein Hallenbad gehalten hätte, symbolisierte hier den Wechsel des Schwerkraftvektors. Erfahrungsgemäß fand der Richtungswechsel innerhalb der Schleuse statt. Wir checkten ein letztes Mal unsere Systeme. Ich schaute nach dem Saqsurmaa auf Gorghs Schultern. Das Wesen schlief noch immer. Wahrscheinlich hatte es bereits mehrere Millionen Jahre verpennt. Und auch jetzt gingen wichtige Ereignisse in der Milchstraße an ihm vorbei. Einen schönen selbst ernannten »Diener« hatte ich da! »Wenn es dir zu schwer wird, sage es, Gorgh.« Der Daorghor verneinte. »Es ist mir keine Last.« Wir schalteten die Tarnschirme ein.
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7. Ab sofort ging es aufwärts. Hundert Kilometer trennten uns noch von der Oberfläche. Wir wussten, dass es die schwerste Strecke des ganzen Ringes würde. Die Truppen kamen uns entgegen. Sie schwärmten in die unterirdischen Anlagen aus. Wir hatten es eilig, konnten uns keine Umwege zu einer der anderen Speichen des Sphärenrads erlauben. Je länger wir benötigten, desto weniger Durchschlupfe blieben uns in den oberen Stockwerken des Ringes, die den Truppen des »Schwerts der Ordnung« frei zugänglich waren. Und an der Oberfläche erst … Am besten machte ich mir keine Gedanken darüber. Inzwischen bereuten wir es, nach VARXODON geflogen zu sein. Wir hätten es auf Vassantor versuchen sollen, ungeachtet der Tatsache, dass dort eine ähnliche Situation herrschte wie auf Narukku und Maran'Thor. Andererseits hielten wir es für ungeheuer wichtig, von der Anwesenheit der Lordrichter in der Sternenstadt erfahren zu haben. Auf eine uns noch unbekannte Weise waren sie in den Besitz ihrer Koordinaten gekommen – und des Wissens, wie man ungefährdet in die Wolke einflog. Eine freiwillige Preisgabe von wichtigen Koordinaten, etwa einer Versunkenen Welt oder der Sternenstadt, konnte sich Kythara nicht vorstellen. Was also dann? Zufall? Darüber können wir nachdenken, sobald wir mehr Informationen und Muße haben, schalt mich der Extrasinn. Meistens erwächst aus der Kenntnis der Vergangenheit das Wissen für die Bewältigung der Zukunft, aber das hilft nur, wenn man auch in der Gegenwart lebt. Voran, alter Häuptling, voran! Darauf gab ich keine Antwort mehr. Es gibt Schwätzer in diesem Universum, die grundsätzlich das letzte Wort behalten wollen. Sogar, wenn sie trotz arkonidischer Herkunft dafür terranische Worte benutzen mussten.
42 Wir vertrauten uns einem Entlüftungsschacht an, der mit einer Neigung von dreißig Grad aus der Senkrechten nach oben führte. Die Temperaturanzeige meldete satte siebzig Grad. Wir hielten es mit unseren vollklimatisierten Anzügen aus, und der Daorghor war aufgrund seiner Konstitution unempfindlich dagegen. Und was das Saqsurmaa anging – auf seiner Oberfläche bildete sich nach kurzer Zeit ein dünner, schleimiger Film. »Torghan und Ur'ogh kontrollieren inzwischen die ersten zwei Kilometer unterhalb des Raumhafens auf einer Länge von mehreren hundert Kilometern sowie über die gesamte Breite des Ringes«, sagte Sorgaron. Er hörte noch immer den Flottenfunk seiner Einsatzzentrale mit. Im Passivmodus, wie er sagte. Sein Empfänger arbeitete. Den Sender hatte er abgekoppelt, um die Möglichkeit einer Peilung auszuschließen. Dennoch trugen wir zwei Handikaps mit uns herum, die wir nicht loswurden. Der Zaqoor mit dem Bewusstsein eines Cappins verfügte als Einziger unserer Gruppe über keinen Deflektor. Das andere Handikap hatten wir in der CHLACHLAN schon erlebt. Die Soldaten waren in der Lage gewesen, unsere Positionsveränderungen nachzuvollziehen. Da wir nicht wussten, wie sie das bewerkstelligten, konnten wir es nicht in unser weiteres Vorhaben einbeziehen und mussten darauf hoffen, es möge funktionieren. »Wir sollten uns einen ungefähren Zeitplan zurechtlegen«, schlug ich vor, während wir bei inzwischen achtzig Grad Umgebungstemperatur aufwärts schwebten. Auf diese Weise, so hoffte ich, erreichten wir das Tropfenschiff mit dem zerlegten Kardenmogher in möglichst kurzer Zeit. Der Abluftschacht endete nach vier Kilometern. Er mündete in ein Sammelbecken, das die Luft in eine riesige Filteranlage von zweihundert Metern Durchmesser leitete. Sie wurde gereinigt, die Feuchtigkeit in einem Kondensatorbecken entzogen, die frische Luft anschließend über ein System von
Arndt Ellmer zwei Meter dicken Röhren in den Kreislauf zurückgeblasen. Wenn man alle diese Anlagen auf den gesamten Ring hochrechnete, erschloss sich einem zumindest teilweise die Dimension der Sternenstadt. »Hier könnte man Wochen und Monate zubringen und würde immer noch etwas Neues entdecken«, sagte ich zu Kythara. »Wie lange hat dein Volk an VARXODON gebaut?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es das genialste Bauwerk ist, das Varganen jemals errichtet haben.« Vielleicht sogar das genialste, das jemals in der Milchstraße konstruiert wurde, überlegte ich. Es war schade, dass wir so wenig über die Technologie der Varganen wussten. Ihr so genannter Mikrokosmos war uns gänzlich unbekannt. Wir konnten lediglich spekulieren, worum es sich handelte. Vermutlich um eine Art Raum-Zeit-Falte, ein vom Standarduniversum abgetrennter Teil oder eine Blase im Hyperraum mit einem oder mehreren Zugängen. Der Zaqoor blieb stehen. Es kostete immer wieder Überwindung, in ihm nicht den gefährlichen Gegner und Folterknecht zu sehen, der sein eigentliches Ich tatsächlich war. Ich hatte kein Mitleid mit ihm. Sein Bewusstsein war gelähmt, in einen winzigen Winkel des Gehirns verbannt, wo es vor sich hin dämmerte. Von den ethischen Prinzipien des Ganjasen konnte es nur lernen. Andererseits wünschte ich keinem Lebewesen, von einem Pedotransferer heimgesucht zu werden. Viele der einst auf Terra und in der Milchstraße davon Betroffenen waren für den Rest ihres Lebens nicht darüber hinweggekommen – Raumsoldaten, auch Zivilangestellte, die in ihrem ganzen Leben keiner Fliege etwas zu Leid getan hatten. Sorgaron blieb stehen. »Sie schicken uns Roboter entgegen. Ich habe die Koordinaten in meinem Speicher und kann sie aufruf … Verflixt! Jetzt versiegen die Funknach-
Flucht nach VARXODON richten. Sie haben mich abgehängt.« Ich sah zu, wie er an seinem Gerät hantierte, nacheinander die eingestellten Frequenzen absuchte und schließlich einen Suchdurchlauf über das gesamte Band startete. Es half nichts. Die Kommandanten des Gegners hatten andere Geräte in Betrieb genommen und ihre vorrückenden Truppen damit ausgestattet. Sie funkten jetzt mit einer Abschirmung, für die Sorgarons kleiner Kasten nicht ausgelegt war. Von jetzt an waren wir allein auf die Orter unserer Anzüge angewiesen. Weiter ging es aufwärts. Die Antigravschächte in diesem Bereich besaßen Durchmesser zwischen zwanzig und fünfzig Metern. Sie waren für den Transport von Lasten eingerichtet und stammten vermutlich noch aus der Zeit, als die Stadt gebaut worden war. Bei sechzig Kilometern unter der Oberfläche stießen wir auf die ersten Sprengfallen. Unsere Anzüge warnten uns rechtzeitig. Wir brauchten eine halbe Stunde, um die Fallen zu entschärfen, dann konnte es endlich weitergehen. Bei vierzig Kilometern gab es schon deutlichere Anzeichen, dass die Lordrichter von Garb die Dyson-Sphäre langsam für ihre Zwecke umstrukturierten. Es existierten zusätzliche Schleusen, die den Zugang zu manchen Hallen und Sektoren erschwerten. Wir fanden Baustellen, an denen bis vor kurzem gearbeitet worden war. Ich sah Kythara an. Sie schüttelte den Kopf. Niemand war in der Nähe. Techniker und Ingenieure aus den Völkern der Lordrichter hatten sich zurückgezogen, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. »Weiter!« Die Zahl der Antigravschächte nahm zu. Dafür reichten sie teilweise nur über zehn Stockwerke, und wir mussten Korridore und Hallen bis zum nächsten Schacht durchqueren. Wir erreichten die ersten Maschinensektionen. Sie gehörten zu den Anlagen des Raumhafens, erzeugten Luft und Energie für Raumschiffe. Bei zwanzig Kilometern er-
43 reichten wir die magische Grenze. Als wir die Kraftwerkssektion durch eine Dachluke verließen, kamen wir in eine andere Welt. Die Böden der Korridore waren mit einem rauen Belag beschichtet, der an Schmirgelpapier erinnerte. Gorgh zeigte uns, wie gut ein Wesen wie er darauf laufen und vor allem spurten konnte. An unseren Stiefeln klebte er eher und machte das Vorankommen zu einer mühsamen Angelegenheit. »Wir haben die Wahl«, wandte ich mich an Kythara, Gorgh und Sorgaron. »Bleiben wir hier kleben, oder setzen wir die Flugaggregate unserer Anzüge ein?«
* Wir entschieden uns fürs Fliegen. Je schneller wir die CHLACHLAN erreichten, desto besser war es für uns. Die Soldaten der Lordrichter konnten die Emissionen unserer Aggregate erst auf kurze Distanz wahrnehmen, ein Vorteil für uns, den wir nutzen wollten. Noch trafen wir auf keinen nennenswerten Widerstand. Irgendwo über uns mussten die Roboter sein. Dass sie uns entgegenkamen, wussten wir. Aber noch hatten wir sie nicht auf der Ortung, und ein Einsatz der Taster verbot sich von selbst. Bei zehn Kilometern unter der Oberfläche hielten wir an. »Die Roboter sind irgendwo in der Nähe«, sagte Sorgaron. Ich ließ die Mikropositronik des Anzugs rechnen. Nach den Daten, die wir aufgefangen hatten, hätten sie längst hier unten sein müssen. Ich rechnete die Anzahl hoch und die Sektionen, über die sie sich verteilt haben konnten. Anschließend projizierte ich das Ganze vor uns in die Luft. »Sie werden uns nicht angreifen«, erklärte ich. »Sie haben den Auftrag, uns den Rückweg abzuschneiden.« Egal, mit wie vielen Divisionen sie uns oben empfingen, an eine Rückkehr in den Ring oder gar nach VAR III dachten wir sowieso nicht. Unser Ziel hieß CHLACHLAN.
44 Wenn die Lordrichter schlau waren, brachten sie das Schiff im All vor uns in Sicherheit. Wir durchquerten eine Servicestation für Raumschiffe. Ersatzteile aller Art lagerten hier, vom Kontursessel bis zum Sensorfeld einer Tür. Zwischen den hohen Regalen nahm ich eine Bewegung wahr. »Feind von links!« Wir drei flogen weiter. Sorgaron bog ab, schwebte dicht am Boden zwischen den Regalen bis zum nächsten Gang. Augenblicke später hörten wir ein Poltern. »Alles klar«, sagte er. »Die machen uns keine Schwierigkeiten mehr. Und einen Notruf konnten sie auch nicht absenden.« Im Vorbeifliegen sahen wir vier Daorghor. Sie lagen bewusstlos am Boden. Bis sie erwachten, waren wir längst über alle Berge. In den obersten zehn Ebenen des Ringes kannte Sorgaron sich aus. Er beschrieb uns die Verteilung der einzelnen Sektionen, die Verbindungsschächte und Gänge, die Straßen für große Transporte und die Lage der großen Hangarschotten. »Wir gehen in die Offensive«, sagte ich. »Als Erstes lassen wir die Roboter glauben, dass wir weiter nach oben vorgedrungen sind. Sorgaron wird das erledigen. Gleichzeitig sollten wir unseren Ausstieg vorbereiten.« Wir statteten ihn mit ausreichend Schmelzbomben und Räucherkerzen aus. Dann trennten wir uns. Gorgh ging mit ihm. Sie suchten sich ein Versteck, in dem der Daorghor blieb. Sorgaron machte sich allein auf den Weg. Auch wir suchten einen Unterschlupf, in dem die Maschinen uns selbst mit empfindlichen Tastern nicht orten konnten. »Ganz in der Nähe befindet sich eine Halle mit Kühlaggregaten«, sagte Kythara. »Nichts wie hin!« Wir fanden sie und zwängten uns zwischen die Aggregatblöcke. Der Zaqoor meldete sich mit einem ultrakurzen Funkimpuls, den er als Rauschen getarnt hatte. »Ich kann sie sehen. Sie sind
Arndt Ellmer jetzt auf gleicher Höhe mit uns!« »Verstanden!«, flüsterte ich. »Wir warten, bis sie die Schleusen zur zehnten Etage passiert haben.« Ich schaltete das Funkgerät aus. Energetisch existierte ich nicht mehr mit Ausnahme der Wärme, die mein Körper produzierte. Zwischen den Kühlaggregaten fiel sie nicht auf, da diese selbst genug Abwärme produzierten. Ich lauschte in den Korridor hinaus. In der Ferne hörte ich das leise Klacken von metallenen Schuhen. Es näherte sich bis auf die Höhe der Korridorkreuzung, wandte sich dann zum Antigravschacht. Die Wärmespuren, die Sorgaron mit den Räucherkerzen gelegt hatte, erzeugten eine deutliche Fährte. Dass die Kerzen anschließend herabgefallen und aufgelesen worden waren, ließ sich höchstens mit etwas Fantasie herausfinden. Und genau das war es, worüber die uns in so vielen Belangen überlegenen Roboter nicht verfügten. Eine leichte Berührung am Stiefel ließ mich herumfahren. Es war Kythara. Sie legte eine Hand auf den Mund, machte mit der anderen eine beruhigende Geste. Es hatte geklappt. Die Roboter waren uns auf den Leim gegangen. Jetzt mussten wir nur noch zum vereinbarten Treffpunkt vorrücken. Wir nahmen uns zehn Minuten Zeit bis zum Aufbruch. »Der Zaqoor wird sich inzwischen Sorgen machen«, hauchte Kythara, als wir die Deckung der Kühlaggregate verließen. »Beeilen wir uns!« »Sorgaron weiß die Situation besser einzuschätzen als Gorgh. Der Zaqoor ist Soldat. Wissenschaftler neigen schon eher zu Ungeduld.« Und sie hatten meist keine militärische Ausbildung. Wir fanden den Daorghor mit dem Saqsurmaa allein und ohne Tarnfeld vor. Sorgaron hatte sich auf den Weg gemacht. Er war den Robotern hinterher. Während wir müh-
Flucht nach VARXODON sam und fast im Schneckentempo die mittlerweile wohl gut dreitausendste Stufe emporkrochen, stellte ich mir vor, wie der Ganjase im durchtrainierten Körper des Zaqoors ausgeruht und mit federnden Schritten hinter den Robotern hereilte. »Er will uns in der vierten Etage treffen, weiß allerdings noch nicht, ob an dieser oder einer anderen Treppe«, sagte der ehemalige Chefwissenschaftler von Maran'Thor. Noch wussten wir nicht, ob das Tropfenschiff auf der Oberfläche stand oder ins All geflogen war. Die Einsatzleiter schwankten mit Sicherheit zwischen dem Gedanken, es als Köder stehen zu lassen, und dem, die CHLACHLAN in Sicherheit zu bringen. Wenn sie den Kardenmogher inzwischen entdeckt haben, wählen sie die zweite Möglichkeit! Ich gab dem Extrasinn Recht. Aber noch blieb uns die Hoffnung, dass die Lordrichter dem Bericht der Soldaten trauten und keine Informationen von Parkasthon über das Verschwinden des geheimnisvollen Turms des Denmogh erhalten hatten. Sie brauchten den Begriff »Denmogh« nur in ihre Positroniken einzugeben und nach allen ähnlichen Wörtern suchen zu lassen. Dann stießen sie automatisch auf Kardenmogher. Nicht so schlimm war, wenn sie die getarnten Module im Bughangar entdeckten. Natürlich lag auf der Hand, dass es sich um extrem wichtige Bauteile handelte, die heimlich in die Sternenstadt gebracht werden sollten. In der fünften Etage kam der Zaqoor uns entgegen. Er gab Gorgh den Projektor zurück. Ich stellte fest, dass er die Phantomprojektoren und die Schmelzbomben nicht mehr bei sich trug. »Die Roboter sind inzwischen oben. Man merkt es daran, dass die Soldaten begonnen haben, nach verborgenen Ausgängen aus dem Ring zu suchen. Die Roboter sind überzeugt davon, wir hielten uns nicht mehr hier unten auf.« Es war typisch für Maschinen. Sie dachten nicht in Eventualitäten, und selbst wenn
45 man ihnen ein Dutzend zu berücksichtigender Möglichkeiten eingespeist hatte, schlossen sie die dreizehnte aus, da nicht programmkonform. Die hier kannten nur ihren Auftrag, hinter uns zu bleiben. Den hatten sie nach bestem Wissen erfüllt. Sorgaron schwenkte seinen Megastrahler. »Der Weg bis zur Oberfläche ist frei. Das Schiff ist noch da. Die Soldaten suchen nach uns, ich habe ihnen ein paar Spuren gelegt. Mir nach!« Er führte uns zu einem der Verbindungskorridore. Wir gelangten auf eine breite Straße für Transportfahrzeuge. Hier wurden große Lasten bis unter das jeweilige Schiff bewegt. Hangars existierten unter dem Raumhafen keine. Die Defensivmöglichkeiten der Sternenstadt waren nach Kytharas Aussage so groß, dass man sich eine derart komplizierte Konstruktion wohl gespart hatte. Außerdem konnten sich Schiffe auf der Oberfläche schneller in Sicherheit bringen, da sie nicht zuerst ausschleusen mussten. Eine Viertelstunde verbrachten wir im Laufschritt, wechselten mehrmals die Richtung und kletterten durch Schächte und über Nottreppen nach oben. Überall fanden wir Anzeichen, dass sich in diesen Bereichen der Dyson-Sphäre die Soldaten der Lordrichter niedergelassen hatten. Hornschuppen lagen herum, manchmal ein abgebrochenes Stück Chitin. Wir entdeckten leere Magazine von Energiestrahlern und ab und zu kleinere Populationen an Ungeziefer. Zumindest empfanden wir es so. Für die Insektoiden waren es eher Symbionten, wie uns leise Kommentare von Gorgh-12 verrieten. Sorgaron begleitete uns bis zur letzten Treppe. »Hier hinauf kommt ihr zu einem Reparaturschott. Er wurde von mir mit einem Zeitschloss versehen. Es öffnet sich exakt in einer Viertelstunde.« Er huschte auf Zehenspitzen davon, um seine Schritte zu dämpfen. Wir machten uns an den Aufstieg. Ich ging zuerst, sicherte das Treppenhaus nach oben. Kythara bildete den Abschluss. In der Mitte ging Gorgh mit sei-
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Arndt Ellmer
ner Last. Ein Knall ließ uns zusammenzucken. »Das war an der Oberfläche«, sagte Kythara. »Vermutlich eine unserer Schmelzbomben, die der Zaqoor deponiert hat.« Wir lauschten nach Geräuschen über oder unter uns. Es blieb alles still. Wir stiegen weiter aufwärts, bis wir nach zehn Minuten das Schott erreichten. In der Ferne hörten wir Schreie, gefolgt von einer weiteren Detonation. »Das ist die zweite Bombe«, sagte Kythara. »Wie viele hat er mitgenommen?« »Vier!«
* Ich zog ein erstes Fazit. Wir hatten den Ring durchquert, fünfhundert Kilometer Luftlinie und etwa siebenhundert Kilometer tatsächliche Strecke bewältigt. Die Truppen der Lordrichter hatten uns in dieser Zeit nicht angegriffen. Sie hatten sich nicht einmal ernsthaft Mühe gegeben, uns zu finden. Sie waren uns von der Außenseite des Ringes entgegengekommen, hatten die Roboter nach unten geschickt, um uns den Rückweg abzuschneiden. Damit wir es uns ja nicht anders überlegten! Von Anfang an hatten sie nicht vorgehabt, uns innerhalb des Ringes anzugreifen. Sie fürchteten sich vor Beschädigungen der Sternenstadt. Es zeigte den Respekt, aber auch die Erwartungen, die sie mit VARXODON verknüpften. Sorgaron hatte das von Anfang an vermutet, deshalb war er vorausgeeilt, um entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Ich ging davon aus, dass er sich schon an der Oberfläche befand und die Soldaten ablenkte. Vielleicht mischte er sich unter sie, ohne dass sie ihn als Verräter erkannten. »Noch zwei Minuten«, stellte Gorgh fest. In meinen Augen bildete sich salziges Sekret. Hastig wischte ich es mit dem Handrücken weg. »Überprüft eure Projektoren und die
Energiemagazine! Und schließt die Helme!« Ein leises Knacken wies uns darauf hin, dass die Zeituhr die Sperre gelöst hatte. Jetzt musste alles schnell gehen. So geräuschlos wie möglich schob ich das Schott zur Seite und spähte ins Freie. Hundert Meter entfernt standen Gleiter. In der Luft hingen automatische Feuerlöschgeräte. Weiter hinten sah ich ein paar Hundertschaften Soldaten, die das Gelände um den Raumhafen durchkämmten. Ich winkte meinen Gefährten. Wir kletterten ins Freie und rannten los. Rechter Hand ragten die ersten Schiffe auf, gewaltige Gebirge aus Stahl. Dazwischen lag ein weites Areal mit Gleiterparkplätzen, zwanzig, dreißig Reihen zählte ich, alle dicht besetzt. Noch bemerkte niemand das Loch im Boden. Alle orientierten sich am Rauch der Bomben. Dennoch kam es mir merkwürdig vor. Zwar patrouillierten drüben hinter den Raumschiffen ganze Hundertschaften, und hoch über dem Ring flogen Mannschaftsgleiter. Das Areal zwischen uns und den Schiffen blieb jedoch leer. Unsere Funkgeräte aktivierten sich selbsttätig. »Nehmt den sechsten Gleiter in der vordersten Reihe«, hörten wir Sorgarons Stimme. »Er bringt euch zur CHLACHLAN. Wir treffen uns dort!« Plötzlich war es da, dieses Misstrauen, aus jahrtausendelangen Erfahrungen geboren. Es konnte eine Falle sein, in die wir tappten. Bis jetzt hast du dem Cappin vertraut!, mahnte der Extrasinn. Ich nahm es als Aufforderung, es auch weiter zu tun. Wir hielten auf die Gleiter zu. Eine dritte Schmelzbombe ging hoch, diesmal weiter links von unserem Standort aus. Sofort raste ein Löschgleiter los. Selbst an der Außenfläche des Ringes taten die Schergen der Lordrichter alles, um möglichst keine Beschädigungen entstehen zu lassen. Wir erreichten die erste Reihe und rannten an ihr entlang. Nummer sechs! Gemeinsam schoben wir Gorgh und das Saqsurmaa hinein. Da setzte
Flucht nach VARXODON sich der Gleiter auch schon in Bewegung und mit ihm die neun anderen. Jetzt wurden die Torghan, Ur'ogh und Daorghor aufmerksam. Sofort schwenkten die Gleiter drüben ab, strebten dem neuen Ziel zu. Die vierte Schmelzbombe zündete, diesmal an einer der Maschinen. In dem entstehenden Durcheinander blieb die Verfolgung erst einmal auf der Strecke. »Dort hinten!« Kythara deutete zwischen zwei Käferraumern auf den Tropfen, der zwanzig Meter über dem Boden schwebte. »Gorgh, gib Vollgas!« Der Daorghor raste los. Gleichzeitig beschleunigten auch unsere Begleitfahrzeuge. Sie suchten sich andere Wege zwischen den Schiffen, um ans Ziel zu gelangen. »Schön am Käfer dranbleiben«, sagte ich. »Wenn die Kerle so pfleglich mit der Stadt umgehen, schießen sie vielleicht auch nicht auf ihre eigenen Schiffe.« Die CHLACHLAN tauchte in voller Größe vor uns auf, keine dreihundert Meter entfernt. Jetzt sahen wir auch, warum es vor dem Landefeld so ruhig gewesen war. Sie warteten zwischen den Schiffen auf uns. Ich zählte ein halbes Dutzend Fahrzeuge, die nur darauf lauerten, dass wir kamen. Die Vielzahl der Gleiter irritierte sie. Sie stießen nach unten, wollten den zehn Objekten den Weg zur CHLACHLAN abschneiden. Es erwies sich als Ablenkungsmanöver. Plötzlich waren die Kampfgleiter da! Sie tauchten über den Käferschiffen auf und eröffneten das Feuer. Kythara stieß eine Verwünschung aus. Ich trat neben Gorgh. »Nimm die nächstbeste Schleuse. Wenn es nicht anders geht, rammen wir das Schiff!« »Vorsi …!«, keuchte die Varganin. Unsere Anzüge projizierten Prallfelder, gleichzeitig traf ein Schlag den Gleiter. Er neigte sich zur Seite, prallte gegen die Außenhülle des Tropfens und schmierte ab. Gorgh jagte das Triebwerk hoch. Es gelang ihm nur teilweise, den Flug zu stabilisieren.
47 Um uns herum tobte übergangslos die Hölle. Der Bodenbelag des Raumhafens kochte, die Schirme der Schiffe glühten unter Fehlschüssen auf. Zwei Gleiter aus unserer Reihe stürzten wie Steine vom Himmel, bohrten sich in den Boden. Ein dritter raste mit voller Wucht gegen das Schirmfeld eines Käfers und explodierte. Wir sackten mit dem Heck durch. Das Staustrahltriebwerk in Kombination mit dem Gravopulsbeschleuniger versagte den Dienst. Der Boden wackelte, dann erfolgte der Aufprall. »Raus!« Mit der Faust hieb ich auf den Notknopf. Die Tür platzte nach außen weg. Kythara und ich sprangen ins Freie, gaben Gorgh Feuerschutz, der mit dem Saqsurmaa dreifache Last zu tragen hatte. Niemand sah uns. Die Soldaten in den Kampfgleitern sahen überall nur leere Gleiter. Die vordere Boden-Seitenschleuse des Tropfens stand offen, von uns keine hundert Meter entfernt. Dort lag unser Ziel. »Lauft!« Die Donnerstimme war Sorgaron. »Ich gebe euch Feuerschutz!« Ich konnte seinen Standort nicht ausmachen, hörte aber das Tosen seines Megastrahlers. Es hörte sich an wie ein Wasserfall, bei dem im Sekundentakt der Ton abgeschaltet wurde. Siehst du, wie dämlich dein unvermitteltes Misstrauen sein kann? Das – wie ich nebenbei wieder einmal anmerken möchte – deinen unzuverlässigen Emotionen entsprang. Das hatten wir alles schon mehrmals!, gab ich zurück, schon während ich seitlich wegrannte, aus den Schussbahnen der Gleiter, die direkt zur Schleuse führten. Wenn sie uns dort vermuteten, würden sie blind schießen. Irgendwie schienen die Kerle in den Kampfgleitern dieselben Gedanken wie ich zu haben. Sie beschossen die Schleuse und schnitten uns den Weg dorthin ab. Sorgaron reagierte. Er holte zwei der schweren Maschinen vom Himmel. Es ver-
48 schaffte uns eine Feuerpause. Wir rannten weiter, verschwanden unter dem Tropfen und änderten erst die Richtung, als wir auf der Höhe der Schleuse waren. Ich warf mich als Erster hinein, den Strahler im Anschlag. Drinnen blieb es ruhig. Kythara, die als Letzte kam, schüttelte den Kopf. »Es ist keiner da!« »Gorgh, gib mir Emion!« Ich nahm ihm das Saqsurmaa ab. Der Daorghor rannte in die Zentrale und leitete den Alarmstart ein. »Lass die Schleuse offen!«, rief ich über Funk. »Sorgaron muss jeden Moment hier sein!« Dicht hinter Kythara rannte ich zum Bughangar. Die Module waren noch da, und sie schienen dem ersten Eindruck nach unversehrt. An den Eingängen lagen tote Daorghor und Torghan. Ihre Körper wiesen teilweise großflächige Schmauchspuren auf. »Sie haben den Kardenmogher also doch noch entdeckt.« Kythara starrte voller Abscheu auf die Toten in ihrer teils ekstatischen Körperhaltung. »Die Positronik hat sich mit starken Elektroschocks verteidigt.« Mehrere schwere Schläge erschütterten die CHLACHLAN. »Ich kann nicht länger warten«, meldete sich Gorgh. »Starte! Wir können Sorgaron immer noch mit einem Traktorstrahl an Bord holen.« Ich ließ Kythara beim Kardenmogher und suchte die Zentrale auf. Das Tropfenschiff gewann an Höhe. Der Daorghor flog es geschickt in seitlicher Richtung zum höchstens zwanzig Kilometer entfernten Rand der Oberfläche. »Ich fürchte, es wäre sinnlos, ihn jetzt noch an Bord zu holen«, empfing mich Gorgh. Er deutete auf den Hauptschirm. Zwischen den Trümmern der abgestürzten Gleiter sah ich den Zaqoor in seiner Rüstung. Ein Schuss hatte seinen Brustkorb weggebrannt. Der Helm mit dem Kopf darin lag ein paar Meter entfernt. Ich schluckte schwer. Sorgaron war tot … Du närrischer Narr! Der Zaqoor ist tot,
Arndt Ellmer aber Sorgaron ist ein Cappin. Es müsste schon ziemliches Pech im Spiel sein, wenn er ebenfalls draufgegangen sein sollte! Du wirst viel zu emotional und damit fehlbar. Kythara stand wie erstarrt neben mir. »Ist er …?« »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ich sie mit matter Stimme. »Sorgaron lebt noch. Ganz bestimmt. Und mit ein wenig Glück werden wir ihn wieder treffen und uns bei ihm revanchieren können.« Ich wünschte dem Ganjasen, dass er seinen Körper irgendwo in der Nähe hatte, vielleicht in einer der Speichen oder im Mond. Dann war sein Geist jetzt sicher dorthin zurückgekehrt. Wieder schlugen zwei Treffer in die Schirme der CHLACHLAN ein. Gorgh drückte das Schiff tiefer an den Boden. Sekunden später sank es hinter den Rand des Ringes und beschleunigte. Der Daorghor lenkte den Tropfen an der fünfhundert Kilometer hohen Kante entlang auf die Innenseite, beschleunigte auf einem schrägen Kurs entlang der Wölbung und hielt dann auf den Mond zu. Als wir ihn passierten, hatte das Schiff schon fast zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht. Am Mond vorbei rasten wir der gegenüberliegenden Innenseite entgegen, schossen knapp an ihr vorbei in den freien Raum hinaus. Wie hingezaubert waren die Verfolger da, allerdings nur zwei Schiffe, die sich in diesem Raumsektor aufgehalten hatten. Die Zielautomatik des Tropfens hielt sie auf Distanz. Gorghs Manipulationen am Programm waren weiter gehend, als ich bisher vermutet hatte. Immerhin schoss ein Tropfenschiff auf zwei andere. »Keine Angst«, meinte der Daorghor. »Wenn sie uns nicht verfolgen, hat das einen Grund. Sie erwarten uns in der Dunkelwolke.«
* »Zehn Minuten müssen ausreichen!« »Das ist zu knapp, Atlan.«
Flucht nach VARXODON »Wenn du schon anfängst, bevor das Schiff in den Normalraum zurückkehrt, müsste es gehen. Gorgh wird den Hangar eben frühzeitig öffnen.« Die Varganin murmelte undeutlich etwas, das ich nicht verstand. Zum wiederholten Mal erschütterte ein Treffer das Tropfenschiff. Wenn wir von den Schießkünsten ausgingen, saßen an Bord der Verfolger Stümper an den Kontrollen, und die Automaten hatte vermutlich der Rost zerfressen. Den Lordrichtern traute ich derart schlechte Schiffe freilich nicht zu. Demzufolge zielten sie absichtlich daneben. Und damit ergab sich für uns eine völlig neue Situation. Wir mussten nicht um unser Leben fürchten, sondern konnten uns auf die Flucht mit dem Kardenmogher konzentrieren. »Dreißig Prozent Lichtgeschwindigkeit«, meldete Gorgh. »Beschleunigung stabil.« »Fassen wir zusammen«, sagte ich. »Man lässt uns den Ring durchqueren und bis zur CHLACHLAN gelangen. Dort zieht man eine Schau ab mit dem einen Zweck, den Verräter zu töten. Uns lässt man entkommen und wird vermutlich nichts Ernsthaftes dagegen unternehmen, dass wir die Dunkelwolke verlassen und uns einem neuen Ziel zuwenden. Das heißt nichts anderes …« »… als dass die CHLACHLAN präpariert worden ist«, setzte Kythara den Gedanken fort. »Man hat den Kardenmogher gefunden und will uns auf der Spur bleiben. Vielleicht wollte man erst die Module präparieren, aber das haben sie nicht zugelassen. Also muss man sich anders behelfen. Jetzt gilt es nur, dafür zu sorgen, dass wir auch im Tropfenschiff bleiben und es uns nicht anders überlegen.« »Deshalb muss es verdammt schnell gehen.« Die beiden Verfolger blieben uns auf den Fersen. Sie versuchten es mit einem Traktorstrahl, aber ich vermutete, dass sie damit lediglich den Kontakt zu ein paar heimlich installierten Signalgebern herstellen wollten. Vielleicht um zu prüfen, ob diese noch funk-
49 tionierten. Wir taten ihnen den Gefallen und schenkten den winzigen Strukturlücken und Signalwechseln im Millionstel-Sekunden-Bereich keine Aufmerksamkeit. Die Verfolger holten ein wenig auf, aber inzwischen lag unsere Beschleunigung über der Vierzig-Prozent-Marke der Lichtgeschwindigkeit. Der Tropfen raste den Gasmassen der Dunkelwolke entgegen. »Wie groß ist der Abstand zur Wolke bei fünfzig Prozent Licht?«, fragte ich Gorgh. »Keine fünf Milliarden Kilometer.« Das reichte nicht. Wir mussten beim ursprünglichen Plan bleiben. »Versuche, die Gleitschicht so weit auszudehnen, dass für den Kardenmogher Platz ist.« Der Daorghor rechnete es durch. »Völlig unmöglich. Wir verlieren ihn im Hyperraum und uns selbst auch.« »Dann brauchen wir einen Kurs, der uns möglichst durch eine Gegend führt, um die jeder sonst einen Bogen macht. Kythara?« »Ich komme.« Die Varganin kannte die VarxodonDunkelwolke besser als jeder Zaqoor und jeder Lordrichter. Mit fliegenden Fingern errechnete sie einen Kurs, der uns für eine Viertelstunde in ein unwegsames Gebiet voller Eruptionen und Staubwällen brachte. »Voraussetzung für ein Gelingen ist, dass die CHLACHLAN nach ihrer Rückkehr mit permanentem Schub fliegt und die Geschwindigkeit nicht unter fünfzig Prozent Licht sinkt«, schärfte Kythara dem Daorghor ein. Je nach Situation und Gasdichte würde das schwierig werden, aber das Tropfenschiff würden wir sowieso zurücklassen. Es spielte keine Rolle, wenn wir alle seine Energievorräte verbrauchten. »Noch dreißig Sekunden«, sagte Gorgh. Eine Kurzetappe führte uns erst geradeaus. Sekunden später folgte eine Richtungsänderung mit erneuter Etappe an das vorgesehene Ziel. Kythara befand sich schon wieder auf
50 dem Weg in den Bughangar. »Wir machen es wie beim letzten Mal. Wenn du nicht rechtzeitig im Hangar bist, nimm eine der Seitenschleusen. Wir holen dich mit einem Traktorstrahl.« Die CHLACHLAN wechselte für vierzig Sekunden in den Hyperraum, orientierte sich anschließend fünf Sekunden und trat ihre zweite Hyperraumetappe an. Von den Verfolgern war zu diesem Zeitpunkt nichts zu sehen. Ich spurtete aus der Zentrale nach vorn in den Bughangar. Auf halbem Weg meldete der Daorghor den Austritt. Ein Ruck ging durch das Schiff, als Gorgh die Impulstriebwerke zündete. »Hangar ist offen«, sagte er. »Schirmstaffel erweitert.« »Gut«, kam die Antwort von Kythara. »Zwei Module sind schon draußen.« Ich half ihr bei der Steuerung. Dank der präzisen Technik der Varganen blieb es bei leichten Streifern am Hangartor. Die Module schleusten in umgekehrter Reihenfolge aus. Im Unterschied zur Zerlegung koppelten sie sich sofort aneinander, sobald sie ihre Position unter der erweiterten Schirmstaffel eingenommen hatten. Die Prozedur nahm dennoch mehr Zeit in Anspruch, als ich gerechnet hatte. Nach zehn Minuten hatte gerade erst die Hälfte der Module ausgeschleust. Der Platz im Hangar reichte inzwischen aber aus, um die Module in exakte Position zu bringen und sie beim Verlassen des Hangars gleich zusammenzufügen. »Gorgh, es wird Zeit!« »Ich komme!«, gab er mir zur Antwort. Er tauchte auf, als sich die beiden montierten Stücke an der Position Zwölf zusammenfügten. Augenblicke später meldete der Kardenmogher Bereitschaft. Ich trug Emion an seinen Platz zurück und legte ihn sanft auf den Boden. Wir schwebten in die Zentrale und sanken in unsere Sessel. »Prallfelder ein! Alarmstart!« Die Positronik bestätigte, aber gleichzei-
Arndt Ellmer tig heulte der Alarm auf. Ein Schlag traf die Röhre und schleuderte sie aus der Bahn. Himmel!, durchzuckte es mich. Wir hatten zu lange gebraucht. Unbemerkt hatten sie sich angeschlichen. Jetzt, da wir die CHLACHLAN zurückließen, kannten die Lordrichter keine Gnade mehr. »Volltreffer!«, schepperte es aus den Lautsprechern. Gleichzeitig ging das Schiff in eine unkontrollierte Notetappe.
8. Es wurden drei Notetappen daraus. In fünfhundert Lichtjahren Entfernung machten wir im Ortungsschutz einer gelben Sonne Bestandsaufnahme. Der Kardenmogher war beschädigt. Er meldete Ausfälle in den Antriebs- und Steuersystemen. Unsere Weiterreise würde sich zumindest zeitweise zu einer Schleichfahrt entwickeln. »Auf Vassantor könnte der Kardenmogher repariert werden«, sagte Kythara. »Aber das hat Zeit.« »Was hast du vor?« Ich wollte nicht glauben, was ich ahnte. »Die Lordrichter und das Schwert der Ordnung haben vermutlich alle Versunkenen Welten der Varganen entdeckt und irgendwo in einem geheimen Speicher die Koordinaten der Sternenstadt gefunden«, stieß sie hervor. »Die Lordrichter sind überall. Deshalb darf VARXODON keine Stunde länger in der Hand des Feindes bleiben.« »Du willst zurück?« »Jetzt, sofort. Wir kehren um!« »Unsinn! Du kannst nichts ausrichten. Wir schaffen es nicht einmal in eine der Speichen, geschweige denn zum Mond. Außerdem brauchst du einen Artgenossen, wenn du die volle Befehlsgewalt über VARXODON besitzen willst! Nimm Vernunft an! Die Psi-Quelle ist die aktuelle Bedrohung, um die es geht. Wenn es uns gelingt, sie auszuschalten, fügen wir den Lordrichtern eine schwere Schlappe zu. Wenn wir ihnen VARXODON wegnehmen, erreichen
Flucht nach VARXODON
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wir gar nichts.« Fast eine Viertelstunde saß die Varganin in ihrem Sessel und rang um eine Entscheidung zwischen der Vernunft und ihrem Gefühl. Wäre sie wie du, hätte ich kaum einen Zweifel daran, dass wir zurückfliegen, weil sich immer häufiger deine Emotionen durchsetzen, bemerkte der Extrasinn spöttisch.
Als ich schon mit keiner Antwort mehr rechnete, sprang Kythara auf. »Also gut. Wir nehmen Kurs auf Vassantor!« ENDE
ENDE
Mond der Visionen von Hans Kneifel Ausgerechnet VARXODON, das Juwel des varganischen Reiches, wird derzeit von den Lordrichtern Schritt für Schritt erobert! Und so hart es ist, das unermessliche Arsenal der Sternenstadt ohne zusätzlichen Schutz zurückzulassen, gelten derzeit alle Bemühungen Atlans der primären Gefahr: die pervertierte Psi-Quelle zu neutralisieren. Nach Kytharas Wissen gibt es aber nur an einem Ort den dazu benötigten Hegnudger. Sie müssen nach Vassantor, dem MOND DER VISIONEN