Gillian Cross
Flucht nach
Nebraska
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Gillian Cross
Flucht nach
Nebraska
Dieser Band ist auf 100% Recyclingpapier gedruckt. Bei der Herstellung des Papiers wird keine Chlorbleiche verwendet. Die Autorin: Gillian Cross, gebürtige Londonerin, studierte in Oxford und
Sussex
Anglistik.
Neben
ihrer
Tätigkeit
als
Grundschullehrerin, Dozentin an der Universität und der Ausübung verschiedener anderer Berufe, schreibt sie seit mehr als 20 Jahren für Kinder und Jugendliche. Inzwischen
hat
sie
fast
ein
Dutzend
Romane
veröffentlicht. Für ›Flucht nach Nebraska‹ erhielt die bekannte Autorin in Großbritannien den Smarties-Preis und den Whitbread-Preis, zwei der vier wichtigsten Jugendbuchauszeichnungen. Das Buch: Pennsylvania, 1881: Als ein Schausteller mit seinem Elefanten in der tristen Stadt Markle auftaucht, wird für den 15-jährigen Waisen Tad alles anders. Er, dem niemand etwas zutraut, wird Elefantenpfleger! Doch dann ruft der plötzliche Tod des Schaustellers Erpresser auf den 2
Plan, die den Dickhäuter für sich beanspruchen. Tad und Cissie, die Schaustellertochter, setzen alles daran, das Tier im fernen Nebraska in Sicherheit zu bringen. So beginnt eine abenteuerliche Verfolgungsjagd quer durch Amerika, die Ganoven immer dicht auf den Fersen..
3
Gillian Cross Flucht nach Nebraska Aus dem Englischen von Anne Braun
Deutscher Taschenbuch Verlag
4
Titel der englischen Originalausgabe: ›The great Elephant Chase‹, erschienen 1992 bei Oxford University Press Von Gillian Cross ist außerdem bei dtv junior lieferbar: Das Haus des Schweigens, Band 70278 Ungekürzte Ausgabe, bearbeitet nach den Regeln der Rechtschreibreform, Stand 1996 April 1997 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1992 Gillian Cross © der deutschsprachigen Ausgabe: 1993, Loewes Verlag, Bindlach ISBN 3-7855-2571-0 Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Peter Knorr Gesetzt aus der Garamond Monotype 11/13 (Diacos, Misomex 5040) Gesamtherstellung: Ebner Ulm Printed in Germany • ISBN 3-423-70431-4 5
Es war der erste April. Tad blickte aus dem Fenster im oberen Stock. Er sah nicht oft hinaus. Markle war eine schmutzige, langweilige Stadt; seit fünfzehn Jahren derselbe trostlose Anblick. Eine verrußte Flußlandschaft; endlose Reihen von Häuschen, die bis an den Pferdekopfberg hochkrochen und in denen die Grubenarbeiter wohnten; der große Kohlenbrecher
des
Tamaquon-Tals
und
der
East-
Pennsylvania-Kohlengesellschaft - ein hundert Fuß hoher hölzerner Turm, der knirschend Kohle förderte und schwarzen Staub über das ganze Tal ausspuckte. An diesem Morgen jedoch, als er mit Mr. Levingtons schmutzigem Frühstückstablett am Fenster vorbeiging, ließ ihn etwas hinausblicken. Er blieb oben an der Treppe stehen. Der Berg war voller Menschen, Minenarbeiter und ihre Familien, die alle den Abhang hinuntereilten, so rasch sie konnten. Ihre leuchtenden Halstücher, grellen Schals und schreiend bunten Hüte hatten Tads Blicke angezogen. Wohin liefen sie? Tad war zu weit entfernt um etwas hören zu können, aber er sah, dass sie einander zuwinkten und -lachten. Er
starrte
noch
immer
hinaus, 6
als
Esther,
das
Dienstmädchen, mit schleppendem Gang aus dem zweiten Hinterzimmer kam, in dem Mr. Jackson wohnte. Als sie Tad entdeckte, zuckte sie zusammen, und ihre Augen verengten sich. »Was machst du da?«
»Ich schaue bloß.«
»Du hast nicht hinauszuschauen!«
»Aber da ist etwas Merkwürdiges im Gange ...«
»Etwas Merkwürdiges?«
Neugierig schob Esther ihn zur Seite und schaute selbst
hinaus. Als sie die Menschenmenge sah, ging sie noch einen Schritt näher an das Fenster. »Was ist los?«, fragte Tad, wobei er völlig vergaß, dass er sich vor ihr in Acht nehmen musste. »Ist heute ein wichtiger Tag?« »Geht dich nichts an«, sagte Esther schnippisch, während sie weiter aus dem Fenster blickte. »Geh lieber runter und hilf deiner Tante beim Frühstück!« »Das ist deine Aufgabe!« Er hätte es wissen sollen. Verärgert schürzte Esther die Lippen, als sie auch schon herumwirbelte und ihm einen gemeinen Stoß versetzte. 7
Tad war zwar größer als sie, aber er war nicht darauf gefasst und hatte außerdem das Tablett in der Hand. Er stolperte, blieb mit dem Fuß am Teppich hängen und purzelte die Treppe hinunter, wobei das Besteck, Brotreste und das Gedeck mit dem Rosenmuster um ihn herumwirbelten. Tante Adah kam gerade mit dem Frühstück der anderen Pensionsgäste aus der Küche. Er prallte mit ihr zusammen, woraufhin auch von ihrem Tablett Schinken, Eier und warme Brötchen durch die Luft flogen und auf dem Brüsseler Teppich landeten. Ein weiteres Gedeck mit dem Rosenmuster ging zu Bruch. »Thaddeus Hawkins!« Tante Adah rettete sich mit einem Schritt rückwärts aus dem größten Chaos und verfärbte sich dunkelrot. Tad rappelte sich auf. »Ich bin nicht ...« Doch
er
wurde
von
einer
wütenden
Stimme
unterbrochen. »Sie wissen ja, wie er ist, Miss Hawkins!« Esther kam die Treppe herunter und tappte vorsichtig über die Scherben. »Er guckte wieder einmal nicht, wohin er ging. Oben an der Treppe ist er dann einfach gestolpert.« Angesichts ihrer Unverfrorenheit verschlug es Tad 8
zunächst die Sprache. Gerade als er den Mund aufmachen wollte um sich zu verteidigen, tauchte ein dunkler Schatten hinter Esther auf. Mr. Jackson war aus seinem Zimmer gekommen. Mit langsamen, schweren Schritten kam er die Treppe herab. »Der Bengel kann von Glück sagen, dass er sich nicht das Genick gebrochen hat«, sagte er mit seiner heiseren Stimme, die Tad immer eine Gänsehaut einjagte. »Meiner Meinung nach ist er nicht ganz richtig im Kopf.« Seine blutunterlaufenen Augen blickten einschüchternd auf Tad herab und Tante Adah warf vor Verzweiflung die Hände in die Luft. »Fünfzehn Jahre ist er jetzt alt, aber er hat noch immer kein bisschen mehr Verstand im Hirn als an dem Tag, an dem er geboren wurde. Als ob er nicht schon genug Schaden angerichtet hätte!« Die anderen vier Pensionsgäste hatten sich neugierig an der Tür des Speisesaals versammelt. Als sie Adahs leidgeprüfte Miene sahen, schnalzten sie mitleidig mit der Zunge und bedachten Tad mit missbilligenden Blicken. Betreten blickte er zu Boden. »Tut mir Leid, Ma’am. Wegen des Teppichs. Und des Frühstücks. Und des 9
Geschirrs. Und ...« Er musste sich immerfort entschuldigen. Ständig gab es Dinge, die er zerbrach, fallen ließ oder verschüttete, und obschon er sich immer für alles entschuldigte, konnte er damit seine Missgeschicke nicht wieder rückgängig machen. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er schon immer alles verkehrt gemacht. Tante Adah verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Worte machen es auch nicht ungeschehen! Es bleibt dir nichts anderes übrig, als dich auf die Knie zu begeben und alles wieder aufzuwischen.« »Jawohl, Ma’am«, sagte Tad. Damit hatte er gerechnet. Esther wollte sich hilfsbereit zeigen. Sobald Tante Adah ausgesprochen
hatte,
sagte
sie
übereifrig:
»Das
Ammonium ist ausgegangen, Ma’am. Ich gehe gleich welches besorgen.« »O nein, das wirst du nicht tun!«, bellte Tante Adah. »Schließlich müssen wir das ganze Frühstück von neuem zubereiten. Tad wird selber in den Laden gehen müssen.« »Aber er wird doch nur ...« »Ich sagte, Tad wird gehen!« Ein eisiges Schweigen folgte. Esther warf den Kopf in 10
den Nacken und wurde feuerrot, aber Tante Adah ignorierte
es.
»Du
musst
drei
Liter
Ammonium
verlangen«, erklärte sie Tad. »Sag dem Händler, wir bezahlen Ende der Woche, und gib Acht, wenn du es herträgst.« Tad nickte und seine Tante eilte wieder in die Küche, während die Pensionsgäste an den Frühstückstisch zurückkehrten. Esther schaffte es, Tad im Vorübergehen noch schnell vors Schienbein zu treten. »Dafür, dass du bei deiner Tante immer lieb Kind spielst! Du willst ja bloß hinausgehen um zu erfahren, was in der Stadt los ist, nicht wahr?«, zischte sie. »Natürlich nicht. Tante Adah hat ...« »Tja,
mich
wird
sie
herumkommandieren«,
nicht
flüsterte
mehr sie
allzu
lange
mit
einem
überheblichen Grinsen, ehe auch sie in der Küche verschwand. Mr.
Jackson
war
mittlerweile
ganz
die
Treppe
heruntergeschritten. Mit einem seltsamen, dünnen Lächeln blickte
er
Esther
nach
und
ging
dann
in
den
Frühstücksraum. Als er an Tad vorbeiging, legte er ihm seine plumpe, 11
feuchtkalte Hand auf den Arm. »Du wirst es im Leben zu nichts bringen«, sagte er mit seiner ekligen Stimme. Diese Vorstellung schien ihn zu erheitern. »Du kannst nicht auf dich aufpassen. Wenn du dir nicht nimmst, was du haben möchtest, gibt es dir auch kein anderer. Nimm dir ein Beispiel an Esther!« Tad schauderte. Er war machtlos dagegen. Mr. Jacksons klebrige Finger, die seinen Ellbogen umklammerten, kamen ihm vor wie die Klauen eines widerlichen Reptils. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen ließ Mr. Jackson ihn endlich wieder los und schob sich an ihm vorbei in den Frühstücksraum. Erleichtert öffnete Tad die Haustür. Die Menschenmenge, die sich vom Berg herabwälzte, hatte er inzwischen vergessen, doch sobald er auf die Straße trat, fiel sie ihm wieder ein. Aus der Hauptstraße drang ein Stimmengewirr herüber. Rasch lief er die Gasse entlang. Aber es war keine normale Menschenmenge, es war ein riesiger Menschenauflauf. Hunderte von Menschen drängten in eine bestimmte Richtung. Tad erkannte die alte Mrs. Bobb, die Pritchard 12
Kinder, Mrs. Keyser, die ganze Familie Rinehimer, die sich fröhlich unterhielt, und Mr. Garringer, der gerade mit seinem Notizblock das Büro des Tamaquon-Talboten verließ. Es schien, als sei die ganze Stadt auf den Beinen, um zum Bahnhof zu eilen. Und sie redeten alle über dasselbe. Geflüstert, gekichert oder gerufen hörte Tad dieses eine Wort von allen Seiten: Elefant. »... den Elefanten sehen ... soll ein riesiges Tier sein ... ob es auch tatsächlich ein richtiger Elefant ist? ...« Tad erblickte Dolly Preston und packte sie am Arm. »Was ist los? Wohin geht ihr alle?« Dolly blickte ihn von oben herab an, ehe sie sich zu einer Antwort herabließ. »Am Bahnhof ist ein Mann mit einem Elefanten. Man soll auf ihm reiten können.« »Ein richtiger Elefant?« Doch Dolly hatte sich bereits losgemacht und war weitergegangen. Tad blickte die Hauptstraße hinunter, wo der Laden war, zu dem Tante Adah ihn geschickt hatte. Dann blickte er wieder hinauf, in Richtung Bahnhof. Ein Elefant Er hatte noch nie einen Elefanten gesehen. Und was hatte 13
Mr. Jackson zu ihm gesagt? Wenn du dir nicht nimmst, was du haben möchtest, gibt es dir auch kein anderer. Wieder blickte er die Straße hinauf. Bis zum Bahnhof stauten sich die Menschen und Tad hatte keine Zeit sich hinten anzustellen. Aber vielleicht schaffte er es, wenn er die Abkürzung hinter den Häusern nahm. Tad tauchte in der gegenüberliegenden Gasse unter, zwischen dem Haus der Sivelys und Masons Laden, und rannte an der Rückseite der Grundstücke auf den Bahnhof zu. Doch selbst von dort aus kam er nicht bis zu den Gleisen. Etwa acht bis zehn Menschen standen in einer Reihe bis zur Tür des Bahnhofsgebäudes. Es war unmöglich über ihre Köpfe hinweg etwas zu erkennen und Tad versuchte sich durchzuschlängeln. Sobald sich eine kleine Lücke bildete, schlüpfte er hinein und drängte sich vorwärts. Sein Fuß blieb an einem Spazierstock hängen. Er geriet ins Stolpern und prallte gegen jemanden in der Reihe vor ihm. Noch ehe er sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte, hatte die alte Mrs. Bobb ihn von hinten gepackt und ihm auf den Kopf gehauen. »Thaddeus Hawkins! Du solltest dich schämen!« 14
»Ich ... ich ...«, Tad versuchte sich in Sicherheit zu bringen, »‘tschuldigung, Ma’am.« »Du musst dich nicht bei mir entschuldigen!« Mrs. Bobb schlug erneut zu. »Sollen die Leute etwa annehmen, es gäbe in Markle nur Wilde? Barbaren, die hilflose Krüppel über den Haufen rennen, hm?« Verwundert blickte Tad sich um und sah das Mädchen, das er angerempelt hatte. Sie war vielleicht dreizehn oder vierzehn, aber noch ziemlich klein, hatte ein schmales Gesicht und helle, schimmernde Löckchen. Alles an ihr war hübsch und gepflegt, angefangen von ihrem blauen Kleid bis zu ihren polierten Schnürstiefeln. Abgesehen von den hässlichen Krücken, auf die sie sich stützte. Sie war umgefallen und die junge Frau neben ihr, die dem Alter nach kaum ihre Mutter sein konnte, half ihr gerade wieder auf die Beine. Mrs. Bobb schnalzte missbilligend mit der Zunge und die Umstehenden starrten Tad kopfschüttelnd an. »Es ist Adah Hawkins’ Neffe«, erklärte Mrs. Rinehimer. »Stößt einfach ein behindertes Mädchen um!« Mr. Garringer schüttelte den Kopf. »Dieser Flegel! Sorgt ständig für Probleme!« 15
Vor Verlegenheit hatte es Tad fast die Sprache verschlagen. »Tut mir Leid«, murmelte er mit rauher Stimme. »Habe ich dir wehgetan?« Die Mutter schien wütend zu sein, doch das Mädchen schenkte Tad ein süßes, engelhaftes Lächeln. »Keine Sorge. Es tat nicht weh. Ich kann nicht viel fühlen.« Mrs. Rinehimer seufzte mitfühlend. Tad scharrte mit den Füßen und kam sich groß, plump und unbeholfen vor. Das Mädchen lächelte ihn noch immer freundlich an, aber sie war die Einzige. Dann plötzlich ging, vom Bahnhofsgebäude aus, ein Raunen durch die Menge. Alle Blicke gingen nach rechts und die Leute begannen wieder zu drängeln und sich die Hälse zu verrenken. Auch Tad wandte den Kopf, doch außer einem Meer von Köpfen konnte er zunächst nichts erkennen. Doch dann sah er den Elefanten. Gemächlich schritt er zwischen dem Hauptgleis und dem Rangiergleis
an
der
Menschenmenge
entlang.
Außergewöhnlich behutsam setzte er seine dicken Füße zwischen den unebenen Steinen auf und von seinem 16
Rücken herab winkte nervös ein Grubenarbeiter. »Lächerliche zwanzig Cents für ein unvergessliches Erlebnis!«, dröhnte eine Stimme wie ein Trompetenstoß. »Reiten Sie auf diesem Elefanten und erfahren Sie am eigenen Leib, wie der Mensch das größte aller Lebewesen der Welt beherrschen kann!« Der Elefant war fast bei Tad angelangt, bis er sehen konnte, wem die Stimme gehörte: einem kleinen, auffallenden Mann mit einem hohen Hut und einem mit weinroter Seide gefütterten Jackett. Mit einer Hand winkte er theatralisch in die Menge, während er mit der anderen den Elefanten an einem kurzen, verschlissenen Seil führte. Der Elefant. Er war Tad nun sehr nahe, keine fünf Schritte entfernt. Von der Seite sah er aus wie eine Felswand mit Abertausenden von Rillen. Aus diesem Fels sprossen ein paar spärliche Härchen, wie Flechten an einer alten Klippe, und ein schwerer, fettiger Geruch erfüllte die Luft. Tad war fasziniert. Wenn Mrs. Bobb ihm mit einem Holzhammer auf den Kopf geschlagen hätte, hätte er es vermutlich nicht bemerkt. Hätte das Mädchen mit den Krücken ein Lied angestimmt, er hätte es nicht gehört. Er 17
konnte den Blick nicht von dem großen, schwerfälligen Körper des Elefanten lösen. Etwa zwanzig Meter weiter blieb der Elefant stehen um seinen Reiter absteigen zu lassen. Als der Elefant sich dann umwandte und wieder auf Tad zukam, sah dieser in sein Gesicht, in sein kleines, tiefliegendes Auge, das in dem Gespinst von Falten kaum sichtbar war. »... ein unglaublich treues und intelligentes Tier!«, bellte der Mann mit dem Zylinder fast direkt in Tads Ohren. »Es versteht eine Vielzahl von Befehlen ...« Tads Blick wanderte über den gewölbten Kopf, den langen Rüssel entlang und dann zu den massigen Beinen. Ein einzelnes Bein war dicker als Tads Körper und hatte schwielige gelbe Zehennägel, mindestens so groß wie Tads Faust. Der mächtige Fuß machte einen weiteren Schritt und die Stimme des Mannes mit dem Zylinder schwoll plötzlich an. »Aber das Interessanteste über Khush habe ich Ihnen noch gar nicht verraten ...« Er machte eine Pause, um die Spannung zu steigern. Während des nun folgenden gespannten Schweigens löste Tad seine Augen von dem Elefanten und sah sich kurz um. 18
Plötzlich bewegte sich der Elefant. Der lange graue Rüssel schlängelte sich herab - so nah, dass er Tads Wange streifte - und wickelte sich um das Mädchen mit den Krücken. Und noch ehe jemand reagieren konnte, hatte er es hoch gehoben.
19
Ein Raunen ging durch die Menge, gefolgt von einem angstvollen, versteinerten Schweigen. Atemlos starrte die Menge auf das Mädchen, das bewusstlos im Rüssel des Elefanten hing. Das Haar hing ihr ins Gesicht, ihr Rock war hochgerutscht und man sah die scharlachroten Rüschen ihrer ansonsten weißen langen Unterhose. Ich hätte es verhindern müssen, dachte Tad. Er starrte zu dem
Elefanten
hinauf,
doch
dessen
Gesicht
war
ausdruckslos. Einfach unbegreiflich. Alle warteten auf eine Reaktion des Mannes mit dem Zylinder, doch auch er schien wie gelähmt. Es war die Mutter des Mädchens, die das Schweigen durchbrach. »Holen Sie sie herunter!« Ihr Flüstern war schlimmer als jeder Schrei. »Sie hat ein schwaches Herz. Holen Sie sie herunter!« Mrs.
Bobb
keuchte
und
die
Menge
murmelte
zustimmend. Der Schausteller machte einen Schritt auf die entsetzte Mutter zu. »Beruhigen Sie sich, werte Dame. Ihre Tochter ist nicht in Gefahr.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich kann sie herunterholen, aber dafür brauche ich absolute Stille.« Er wandte sich an die Umstehenden und rief mit lauter Stimme. »Absolute Ruhe, 20
wenn ich bitten darf!« Unglaublich rasch wurde es still. Auf mindestens hundert Meter Länge standen die Menschen schweigend links und rechts der Gleise. Außer dem schleifenden Geräusch des Kohlenbrechers hoch oben auf dem Pferdekopfberg war nichts zu hören. Der Schausteller trat wieder einen Schritt zurück und deutete mit seinem Stock, dessen dünne Spitze in der Morgensonne schimmerte, auf den Elefanten. »Khush! Lass ab!« Der Elefant rollte zwar mit den Augen, doch er rührte sich nicht. Der Mann schlug mit dem Stock auf den Boden und wiederholte mit schärferer Stimme: »Khush! Nein!« Die Umstehenden hielten gespannt die Luft an und Tads Brust verengte sich vor Angst. Dann, ganz langsam, entrollte sich der dicke Rüssel. Der Elefant ließ das Mädchen behutsam herab und der Schausteller nahm sie in seine Arme. Ihr Kopf sackte nach hinten und ihre Augen waren noch immer geschlossen. »Ist sie ... tot?« Die junge Mutter streckte einen zittrigen Arm aus. 21
»Nicht tot, Ma’am.« Die Stimme des Schaustellers schwoll
erneut
an.
»Infolge
des
Schocks
ihres
Nervensystems ist sie in einen Starrkrampf verfallen. Aber das kann ich heilen, wenn Sie gestatten.« »Sie lassen doch nicht zu, dass er sie berührt, oder?«, murmelte Mrs. Bobb. »Tun Sie alles!« Die Mutter klammerte sich an den Arm des Schaustellers. »Alles, was sie wieder zu sich bringt!« Er lächelte sie zuversichtlich an. »Wären Sie so freundlich mir meine Tasche aus dem Wagen zu bringen?« Wie betäubt schritt die junge Frau die Gleise entlang, während Mrs. Bobb den Elefanten mit missbilligenden Blicken bedachte. »Man sollte das Kind nicht in der Nähe des Untiers lassen.« Wieder gab es ein zustimmendes Gemurmel, das jedoch schnell erstarb, als die Mutter mit einer abgenutzten Ledertasche zurückkam. Sie wollte sie dem Schausteller reichen, doch dieser nickte nur zufrieden. »Unten muss eine Flasche sein. Sehen Sie die?« Die Frau zog eine kleine, verkorkte Flasche aus hellem Glas hervor und hielt sie in die Luft, damit jedermann sie sah. Der Schausteller kniete sich herab, legte das 22
bewusstlose Mädchen auf seinen Schoß und holte einen kleinen silbernen Löffel aus seiner Tasche. »Füllen Sie diesen Löffel! Danke, Ma’am. Und jetzt öffnen Sie bitte ihren Mund. Danke!« Langsam, damit jeder der Umstehenden es genau beobachten konnte, flößte er dem Mädchen die grüne Flüssigkeit ein. »Ich glaube nicht, dass er sie damit wieder auf die Beine bekommt«, murmelte Mr. Garringer. »Er kann von Glück sagen, wenn sie nicht daran erstickt.« Aber sie erstickte nicht. Sie schluckte zweimal, noch immer mit geschlossenen Augen, und bewegte sich leicht. Ihre Mutter beugte sich herab. »Nein!«, rief der Schausteller energisch. »Diese Tinktur ist ungefährlich, aber sie ist sehr stark. Sie dürfen sie jetzt nicht anfassen.« Noch während er sprach, versteifte sich das schlaff in seinen Armen liegende Mädchen mit einem Mal. Der Körper
bog
sich
nach
hinten
durch,
die
zuvor
ausgestreckten Hände verkrampften sich zu Fäusten. Und das Mädchen bleckte die Zähne, als litte es Höllenqualen. »Sie hat einen Anfall!«, jammerte Mrs. Rinehimer. 23
»Zurückbleiben!«, brüllte der Schausteller. »Niemand darf sie berühren!« Der Krampf dauerte mindestens eine Minute. Dann sackte das Mädchen wieder in sich zusammen und öffnete langsam die Augenlider. »Mama? Was ...?« »Es ist alles in Ordnung, Cissie«, sagte die junge Frau. »Es ist alles wieder gut. Der freundliche Herr hat dich vor dem Elefanten gerettet.« »Freundlich?«, zischte Mr. Rinehimer. »Schließlich war sein Elefant an allem schuld!« »Das Tier gehört erschossen«, erklärte Mrs. Pritchard. »Es ist zu groß, um ungefährlich zu sein.« Wieder murmelte die Menschenmenge zustimmend und der Schausteller erhob sich, Cissie noch immer in seinen Armen. »Ich kann Ihnen versichern, dass dieser Elefant nicht gefährlich ist. Er weiß, dass er etwas Unrechtes getan hat. Sehen Sie nur, wie er den Kopf hängen lässt!« Das stimmte. Noch während er sprach, ließ der Elefant den massigen Kopf sinken und scharrte mit den Füßen. Der Mann blickte Cissie fragend an. »Wärst du so lieb und gehst zu Khush um ihn zu streicheln? Dann weiß er, dass 24
du ihm verziehen hast. Ich verspreche dir, dass er dir nichts tun wird.« Cissies Mund zuckte, aber sie nickte. Ihr bleiches Gesicht war sehr ernst. Der Schausteller stellte sie ab und sie ging langsam auf den Elefanten zu. Sie hob die Hand und tätschelte einen der riesigen Vorderfüße. »Das liebe Kind«, murmelte Mrs. Pritchard. Mrs. Keyser nickte. »Sie hat wirklich den Mut eines Löwen!« Alle nickten zustimmend - bis Mrs. Bobb plötzlich einen spitzen Schrei ausstieß. »Sie geht! Eben brauchte sie noch ihre Krücken - und jetzt kann sie gehen!« Sie bückte sich, hob eine der Krücken auf, die neben Tad lagen, und winkte damit der Menge zu. Verwundert blickte Cissie zuerst auf ihre Füße, dann fassungslos in die Menge, während die junge Mutter noch lauter aufschrie als Mrs. Bobb. »Seit fünf Jahren konnte sie keinen Schritt mehr alleine gehen! Seit sie damals dieses Fieber hatte!« Da kam Leben in die Menschenmenge. Die Leute boxten sich nach vorne durch, um die Krücken in Augenschein zu nehmen, Cissie gehen zu sehen und um einen Blick auf die magische grüne Tinktur zu werfen. Tad wurde von der 25
aufgeregten Menge, die brüllte und drängelte, über die Gleise gestoßen. »Das müsste der Junge von Cousine Amy probieren!« »Sally Helmslow, die vom Scheunendach fiel, als sie zwölf war ...« »... mein Vater ...« Der Mann mit dem Zylinder versuchte sich Gehör zu verschaffen. »... ein altes Heilmittel aus Indien. Ich stelle es in größeren Mengen für meinen Elefanten her. Es enthält gespeicherte elektrische Impulse ..., wirkt direkt auf das Nervensystem ...« Tad stellte sich auf die Zehenspitzen um zu sehen, was vor sich ging, als sein Blick auf Esther fiel. Keine zehn Meter von ihm entfernt, stand sie an Mr. Jacksons Arm in der Menge. Er beugte sich gerade herab um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, wobei seine fleischigen Lippen dicht an ihrem Haar waren. Ihr hochrotes Gesicht blickte triumphierend drein. Tad wusste nicht, was sie hier zusammen zu suchen hatten, aber ihm war klar, dass es Ärger für ihn bringen würde, wenn sie ihn hier sähen. Beide wussten, dass er 26
eigentlich im Laden sein sollte. Und beide würden Tante Adah mit der größten Genugtuung erzählen, dass sie ihn hier beim Elefanten gesichtet hätten ... Tad versuchte sich ungesehen aus dem Staub zu machen und schlich auf den großen Eisenbahnwaggon zu, der auf dem Nebengleis stand. Er war leuchtend rot, seine Seitenwände bestanden aus hohen Latten, auf denen über die ganze Breite in goldenen Lettern geschrieben stand: MICHAEL KEENANS GROSSE ELEFANTENSCHAU! Weil er sich hinter dem Waggon verstecken wollte, schlich Tad an der heruntergelassenen Rampe vorbei und starrte neugierig auf den Haufen Rüben und die Heuballen im Inneren. Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln, dass Esther in seine Richtung kam. Ohne zu überlegen, schoss er die Rampe hinauf und war mit einem Satz im Waggon. Seine Füße dröhnten auf dem Holzboden, doch sein Herz dröhnte noch lauter. Verzweifelt nach Deckung Ausschau haltend, drückte er sich hinter die Heuballen im hinteren 27
Teil des Waggons. Er befürchtete Esther jeden Moment im Türrahmen mit dem Zeigefinger auf ihn zeigen zu sehen, Mr. Jackson mit einem fetten Grinsen im Gesicht hinter ihr. Aber sie tauchten nicht auf. Die Menschenmenge schloss ihn ein. Mit einem Mal kamen nämlich alle vom Bahnhof auf den Waggon zu. Tads Versteck, zuvor abseits, war plötzlich von unzähligen Menschen umgeben, und der Schausteller - Michael Keenan - versuchte sie zu beruhigen. »Habt Geduld, Leute! Ich werde Ihnen etwas von meiner Elefantentinktur verkaufen. Aber zuerst muss ich meinen Elefanten versorgen.« Ein schwerer Fuß wurde auf die Rampe gesetzt. Als Tad zwischen dem Heu durchspähte, sah er eine massige dunkle Gestalt im Türrahmen stehen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, bevor sie zögernd stehen blieb und mit den Ohren wackelte. »Beweg dich, Khush!«, rief Michael Keenan ungeduldig. Tad sah den Umriss seines kurzen, spitzen Stocks. »Beweg dich!« Der Elefant zögerte jedoch noch immer, woraufhin sich 28
der Stock in seine massige Flanke bohrte. Mit einem unwilligen Knurren trampelte Khush die Rampe hinauf und betrat den Waggon. Schon im nächsten Moment wurde die Rampe rasselnd zugeschlagen und es wurde fast stockdunkel. Tad hörte, dass abgeschlossen wurde und dass
die
Menge
wieder
zum
Bahnhofsgebäude
zurückschlurfte. Er war mit einem Elefanten eingeschlossen! Tad nahm einen scharfen Geruch wahr und hörte, dass der Elefant sich im Heu bewegte. Wie würde das Tier reagieren, wenn er um Hilfe rufen würde? Tad kauerte sich ins Heu und traute sich kaum noch zu atmen. Doch der Elefant zupfte bereits an den Heuballen, und sein Rüssel schlängelte sich in Tads Richtung. Er konnte es zwar nicht sehen, aber er hörte das Rascheln im Heu. Als habe er es mit einem nervösen Pferd zu tun, begann Tad plötzlich wie von selbst zu murmeln. »Ruhig, ganz ruhig, Khush!« Anstelle einer Antwort schlängelte sich der Rüssel um den Heuballen neben ihm und fand Tads Kopf. Die zarte Spitze des Rüssels tastete langsam über sein Gesicht, von oben nach unten und von rechts nach links, fuhr die Form 29
seiner Nase und die Linie seines Mundes nach. Sie war feucht und zart. Zarter als jede menschliche Hand, an die Tad sich erinnern konnte. Sie tastete seine geschlossenen Augenlider ab und ein seltsames Rumpeln drang aus dem Bauch des Elefanten, leise und beruhigend, wie das Schnurren einer Katze. Tad hielt ganz still. Eine Sekunde später wandte Khush sich ab und begann wieder am Heu zu zupfen und es sich ins Maul zu stopfen. Der Elefant war eine riesige Mauer zwischen Tad und der rettenden Tür, unüberwindbar, bis Michael Keenan zurückkommen würde. Vielleicht war es das Beste, darauf zu warten. Tad kauerte sich in die Ecke und versuchte seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Doch Michael Keenan ließ lange auf sich warten. Das Gesumme
der
Stimmen
in
der
Nähe
des
Bahnhofsgebäudes schien ewig anzudauern und die Luft im Waggon wurde immer heißer und stickiger. Eingelullt vom gleichmäßigen Kauen des Elefanten, fielen Tads Augenlider zu. Als der Schausteller schließlich zurückkam, war Tad, ins Heu gekuschelt, fest eingeschlafen. Und es gab kein Geräusch an der Tür, das ihn hätte wecken können. 30
Michael Keenan öffnete sie gar nicht. Er spähte nur durch die Ritzen und rief seinem Elefanten etwas zu. »Ruhig, Khush. Wir sind bald wieder unterwegs. Ganz ruhig, mein Junge.« Erst das klirrende Geräusch von Metall, das beim Ankoppeln des Waggons an einen Güterzug entstand, weckte Tad. Doch da war es bereits zu spät. Khush scharrte, stampfte und trompetete, als der Waggon vom Nebengleis gezogen wurde, und niemand konnte Tad im Inneren rufen und klopfen hören. Es gab einen durchdringenden Pfiff und einen Ruck und schon zog die Lokomotive den Waggon aus dem Bahnhof und durch das Tamaquon-Tal. Nachdem er fünfzehn Jahre lang ständig beobachtet, gepiesackt und ausgeschimpft worden war, verließ Tad Hawkins Markle nun so heimlich, dass außer einem Elefanten lange Zeit niemand bemerkte, dass er überhaupt fort war. Ginder Falls und Tamaquon-Tal-Eisenbahn 1. April 1881
31
An Frau Kerstin Svensson Albery, Nebraska Liebste Ketty, verzeih meine verwackelte Handschrift. Sie liegt teilweise am Schaukeln des Zuges, aber mehr noch - viel mehr noch - an der übergroßen Erleichterung, dass wir Markle in Pennsylvania sicher hinter uns gelassen haben. Auch heute hat Pa wieder einmal die übliche Schau abgezogen. Siehst du, was passiert, wenn du nicht hier bist? Es ist noch keine achtzehn Monate her, dass er dir bei deiner Hochzeit versprach damit aufzuhören. Aber heute Morgen hing ich wieder in der Luft und alle Welt konnte die Bänder an meiner langen Unterhose sehen. Und ich hatte grässliche
Angst,
dass
eines
der
Klatschmäuler
dahinterkommen könnte, was vor sich ging. Zum Glück war das nicht der Fall. Keiner in der Menge der Holländer und Grubenarbeiter hat den leisesten Verdacht geschöpft. Ich hatte sie schon auf meiner Seite, noch ehe Khush in meine Nähe kam. Als ich in der Menschenmenge stand, kam ein großer, grober Flegel (mindestens doppelt so groß 32
wie ich), der sich nach vorne durchdrängeln wollte, und rannte mich über den Haufen. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er über mich »armen Krüppel« gestolpert ist. Er war fix und fertig. Und ich - das süße, arme, zierliche Ding - war von diesem Augenblick an der Liebling aller älteren Damen. Als Ergebnis verkaufte Pa vierhundert Flaschen seiner wertvollen Tinktur und stolzierte in den Zug, als sei er der neu
gewählte
Präsident.
Er
wurde
mit
Applaus
verabschiedet. Die Leute klatschten auch mir und Olivia Beifall, als wir vom Bahnhof abfuhren. (Natürlich saßen wir in verschiedenen Abteilen und taten so, als würden wir Pa kaum kennen.) Ich habe auch geklatscht und gelacht und gewunken. Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen. Ich weiß, es ist gemein von Pa diese armen Leute hereinzulegen und ihnen ihr sauer verdientes Geld abzuknöpfen. Aber sie sind ja so dumm, Ketty! Wie der Junge, der mich über den Haufen gerannt hat. Ich glaube, sie haben nicht so viel Grips im Kopf wie wir zum Beispiel. Wie dem auch sei, jedenfalls sind wir in Sicherheit. Und wir verlassen endlich dieses schreckliche, schmutzige 33
Tamaquon-Tal und fahren Richtung Gebirge - und außerdem gen Westen! Natürlich nicht ganz so weit westlich wie du. Pa würde vor Kummer krank werden, wenn er keinen anständigen Schneider in der Nähe hätte, und er will einfach nicht glauben, dass es auch westlich des Mississippi noch menschliches Leben gibt. Aber wir überqueren zumindest die Alleghenies, um unser Glück in Pittsburgh zu versuchen. Wir werden die heutige und morgige Nacht in Ginder Falls verbringen (natürlich in verschiedenen Hotels!) und dann nach Harrisburg fahren, wo wir den Zug nehmen, der uns über das Gebirge bringt. Oh, wenn wir doch nur bis nach Nebraska fahren würden! Liebe Ketty, ohne dich ist es einfach nicht dasselbe! Niemand bürstet mein Haar richtig oder backt mir einen anständigen Apfelstrudel. Ich finde es gemein von Hjalmar, dass er dich dort daußen in der Prärie festhält, wo wir dich hier doch so sehr brauchen. Pa hat niemanden mehr, der ihn auf seinen Höhenflügen bremst, und Olivia wird immer unerträglicher. Da sie jetzt meine Mama spielen darf, bildet sie sich ein, mehr als nur meine ältere Schwester zu sein, und kommandiert mich sogar herum, wenn wir unter uns sind. Das würde sie nicht 34
wagen, wenn du hier wärst! Und das soll sie nicht tun, selbst jetzt, wo du weg bist! Ich werde mit Pa darüber reden, noch heute Abend. Er befahl uns, von ihm fernzubleiben, bis wir über die Alleghenies sind, falls jemand von Markle uns sieht. Aber sobald wir in Ginder Falls sind, werde ich zu ihm gehen. Ich werde darauf bestehen, dass er Olivia in ihre Schranken verweist. Und dann werde ich weiterschreiben und dir mitteilen, was er gesagt hat.
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Tad gab es schließlich auf um Hilfe zu rufen und schlief wieder ein. Als er das nächste Mal aufwachte, hatten sie offenbar bereits eine größere Strecke zurückgelegt. Khushs
Futterhaufen
war
auf
die
Hälfte
zusammengeschrumpft und das Sägemehl auf dem Boden war feucht und stank. Tad setzte sich auf und lauschte auf die Bewegung des Elefanten, während er durch die Schlitze des Waggons auf das vorbeirasende Tal blickte. Wie kam er wieder nach Hause? Wenn es vor Ginder Falls keinen Halt mehr gab, müsste er den Rückweg durch das ganze Tal zu Fuß zurücklegen. Oder sollte er sich dort zuerst nach einer Arbeit umsehen um das Geld für die Rückfahrkarte zusammenzusparen? Vielleicht würde ihm aber auch Mr. Keenan helfen. Aber daraus wurde nichts! Kaum in Ginder Falls angekommen, koppelte Michael Keenan den Waggon ab. Er ließ die Rampe herunter, sah Tad kleinlaut neben Khush stehen - und explodierte. Mit drei großen Schritten war er bei Tad, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn hin und her. »Wenn du meinem Elefanten auch nur ein Haar gekrümmt hast, verspeise ich dich zum Frühstück, so 36
wahr mir Gott helfe! Hackfleisch mache ich aus dir! Ich werde ...« Tad schnappte nach Luft und rang nach Worten, aber er brachte keinen Ton heraus. »Dieser Elefant, du elender Bursche, ist fünftausend Dollar wert! Wurde auf einem großen Segelschiff von Indien hierhergebracht! Von einem Sikh gezähmt! Liebevoll gepflegt und ernährt von mir ...« Seine Stimme drohte überzuschnappen. Was vor dem Bahnhofsgebäude in Markle elegant und überzeugend gewirkt
hatte,
war
in
diesem
engen
Waggon
ohrenbetäubend. Selbst nachdem sich der harte Griff gelockert hatte, wagte Tad nicht den Mund aufzumachen. Aber das machte es nur noch schlimmer. Michael Keenan schnaubte vor Wut und begann ihn erneut zu schütteln. Tads Kopf flog hin und her, seine Zähne klapperten. »Findest du kein Wort der Erklärung? Du hinterhältiger, mieser kleiner Schnüffler ...« Plötzlich bewegte sich der Elefant. Sein Rüssel schoss nach vorne, packte Michael Keenans Hut und hielt ihn hoch in die Luft. Mit einer schwungvollen Gebärde pflanzte er den Hut auf Tads Kopf. 37
Das schreckliche Schütteln hörte mit einem Mal auf. »Da sieh sich einer das an!« Michael Keenan trat einen Schritt zurück und starrte zuerst Khush, dann Tad an. »So hat sich das Tier noch nie benommen. Hast du gesehen, wie er mich plötzlich behandelt? Was hast du Ihm eingeredet?« »Ich hab ihm nichts ...« Tad reichte ihm den Hut. »Es war ein Versehen. Ich wurde eingeschlossen ...« Michael Keenan grinste, fuhr mit dem Hut durch die Luft und setzte ihn sich wieder auf. »Hätte der letzte Fehler deines Lebens sein können, Junge. Normalerweise mag Khush keine Reisebegleiter. Aber Ende gut, alles gut. Da kannst du deinen Enkelkindern später ja eine schöne Geschichte erzählen!« Er legte Tad eine Hand auf den Rücken und schob ihn auf die Tür zu. In diesem Moment kam jemand die Rampe hochgerannt. »Bist du da drin, Pa?« Tad konnte nur einen dunklen Schatten sehen, aber die Stimme kam ihm bekannt vor. Die Stimme eines Mädchens. Doch noch ehe er sehen konnte, wer es war, hatte Michael Keenan ihn ins Innere des Waggons zurückgestoßen. »Verschwinde!«, zischte er der Gestalt 38
auf der Rampe zu. »Aber ich möchte dich fragen ...« »Raus!« Sie machte einen Schritt rückwärts und stand im Tageslicht. Tad spähte über Michael Keenans Schulter und sah ein schmales, zartes, von goldenen Löckchen umrahmtes Gesicht. Unverkennbar das Gesicht des behinderten Mädchens von Markle. Er war verblüfft. »Pa?« »Halt die Klappe!« Michael Keenan stieß ihn beiseite, in eine Ecke. Drohend kam sein Gesicht Tad näher. »Falls du es herumschwätzen möchtest...« »Das nützt doch nichts, Pa«, sagte Cissie abfällig. Sie betrat den Waggon, wobei sie sorgfältig um das schmutzige Stroh herumging. »Erinnerst du dich an den Jungen bei Harpers Ferry? Er hat sämtliche Eide geschworen, dass er den Mund halten würde, aber schließlich mussten wir seinetwegen dann doch die Stadt verlassen.« »Zu schade, dass du deinen Mund nicht halten konntest«, knurrte Michael Keenan. »Ich habe dir in aller Deutlichkeit gesagt, dass du mir fernbleiben solltest!« 39
»Ich kann Olivias Herumkommandiererei nicht länger ertragen.« Cissies Fäuste waren geballt und ihre Löckchen bebten, als sie ihrem Vater entschlossen ins Gesicht blickte. Tad begriff, dass er sich jetzt, wo sie stritten, am besten an ihnen vorbeidrücken könnte, aber er zögerte zu lange. Noch ehe er den ersten Schritt gemacht hatte, wandten sich die beiden wieder zornfunkelnd ihm zu. »Er wird quatschen«, sagte Cissie. »Es sei denn, wir verschnüren ihn zu einem Paket und nehmen ihn mit uns.« »Ich werde nicht reden«, versicherte Tad in vollem Ernst. »Ich verspreche ...« »Seid ruhig!«, bellte Michael Keenan. »Ich muss überlegen!« Er musterte Tad von Kopf bis Fuß und seine Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz. »Nicht als Paket, aber vielleicht ...« Cissie stöhnte auf. »Pa! Das ist wirklich nicht der Moment für einen deiner verrückten Einfälle!« Ihr Vater winkte abfällig ab, ohne seinen Blick von Tad zu lösen. »Geh wieder zu Olivia. Ich begreife gar nicht, was sie sich dabei denkt, dich alleine hier herumspazieren zu lassen!« »Aber ich kann dich doch nicht ...« 40
»Verschwinde!« Cissie schmollte, aber sie ging. Das Geschrei hatte Khush durcheinander gebracht. Er stampfte nervös und trommelte mit dem Rüssel gegen die Wand des Waggons. Michael Keenan legte Tad einen Arm um die Schulter und führte ihn die Rampe hinunter. »Am besten, wir geben dem Tier Zeit sich wieder zu beruhigen, und unterhalten uns derweil in aller Ruhe.« Er lächelte zuvorkommend. »Bei wem lebst du, Junge? Bei Mutter und Vater? Bestimmt suchen sie bereits die ganze Gegend nach dir ab!« »Sie sind tot«, erklärte Tad. »Ich lebe bei meiner Tante in Markle.« Michael Keenan strahlte. »Und du bist ihr Augapfel, nicht wahr? Ihre Stütze im Alter?« »Sie ist sehr gut zu mir.« Tad wollte bescheiden und dankbar klingen, aber die Worte kamen wie Eiswürfel aus seinem Mund. Michael Keenan lachte dröhnend und schlug ihm auf den Rücken. »Ich kenne diese Art von Frauen. Erweisen einem einen Gefallen und wollen dann tausendmal Dankeschön hören.« Er freute sich über Tads unfreiwilliges Grinsen. 41
»Du bist genau der Junge, den ich seit langem suche. Ich brauche jemanden, der mit Khush reist und die gröberen Arbeiten erledigt.« »Reisen ...« In Tads Kopf drehte sich alles. »Ich habe keine Ahnung von Elefanten.« »Die bekommst du, wenn du mit mir kommst! Ich mache aus dir den besten Elefantenjungen weit und breit.« »Ich ...« Tad wusste nicht, was er von diesem Angebot halten sollte. Er hatte noch nie daran gedacht, Markle zu verlassen, etwas anderes zu tun, als die von Tante Adah aufgetragenen ungeliebten Arbeiten zu verrichten und dafür ausgescholten zu werden. Doch Michael Keenan erwartete keine Antwort. Er schritt auf und ab und sein Jackett öffnete sich und enthüllte dessen weinrotes Futter. »Wir könnten mit zwei Elefanten arbeiten. Oder gar drei! Das wäre eine Sensation! Wir könnten durch das ganze Land reisen, von hier bis an den Mississippi.« Tad wusste kaum, was der Mississippi war, ganz zu schweigen, wo er war. Und er wusste auch nicht, ob er Michael Keenan trauen konnte. Vorsichtig machte er einige Schritte rückwärts. »Ich glaube nicht, dass ich der 42
Richtige dafür wäre.« Michael Keenan wirbelte herum und schenkte ihm ein breites, offenes Lächeln. »Und warum nicht? Hast du Angst, ich könnte dir eines Tages ein Messer in den Rücken bohren? Oder dich im nächsten Bach ertränken, damit meine Geheimnisse gewahrt bleiben?« Er kicherte, als Tad betreten auf seine Füße blickte. »Was würde dein Freund, der Elefant, dazu sagen? Er würde das Blut an meinen Händen riechen.« Das hörte sich nicht sehr überzeugend an. Tad wich noch einige Schritte zurück und Michael Keenan bedachte ihn mit einem charmanten Lächeln. Charmant, aber zugleich auch eiskalt und entschlossen. »Du hast nichts zu befürchten. Aber ich kann dich nicht nach Hause gehen und meine Geheimnisse ausplaudern lassen. Und wie mir scheint, hast du auch keinen Grund nach Hause zu gehen. Wir täten gut daran uns zusammenzutun, mein Junge.« Tad sah keine Möglichkeit abzulehnen. Zwanzig Minuten später stand er bereits auf dem Bahnhofsgelände und lernte, wie man einen Elefanten abschrubbt. »Ich möchte, dass es täglich gemacht wird«, erklärte 43
Michael Keenan kurz angebunden. »Sonst haben wir bald ein krankes, verwahrlostes Tier. Du kannst jetzt anfangen.« Tad blickte auf die Bürste in seiner Hand. Dann blickte er hoch, auf die große graue Fläche, die Khushs Flanke war. »Vielleicht sollten Sie mir erst zeigen ...« »Da gibt es nichts zu zeigen, Junge. Behalte das Tier im Auge und ruf mich, wenn du fertig bist.« Mit einem zufriedenen Kopfnicken ging Michael Keenan davon und Tad war mit dem Elefanten und der Bürste allein. Er schluckte. Tante Adah ließ ihn nicht einmal ihr gutes Geschirr abspülen. Und nun plötzlich war er für einen Elefanten verantwortlich, der gute fünftausend Dollar wert war. Er könnte ihn verletzen oder dieser ihn. Oder der Elefant konnte seine Kette zerreißen und davonstürmen. Oder ... Aber er musste etwas tun. Eine Kinderschar hatte sich um ihn versammelt und Khush blickte ihn erwartungsvoll an. Langsam tauchte Tad die Bürste in den Wassereimer. Vielleicht wäre es weniger angsteinflößend, wenn er sich vorstellte, dass diese riesigen, runzligen Flanken einfach nur Steinplatten waren, wie die in Tante Adahs 44
Waschküche. Nervös machte er sich an die Arbeit und die Bürste fühlte sich sehr vertraut an. Schrubben konnte er schließlich. Hatte er weiß Gott schon oft gemacht. Tad verfiel schließlich in den vertrauten Rhythmus und begann, ohne dass er es bemerkte, vor sich hin zu pfeifen. Eine halbe Stunde später, unter den Augen der Umstehenden, legte er die Bürste beiseite. Als er sich umdrehte, entdeckte er Michael Keenan, der hinter ihm gestanden war. Zufrieden kam er auf ihn zu. »Gut gemacht!« »Ich hoffe, er ist sauber genug ...« »Könnte nicht sauberer sein! Ich habe dich die ganze Zeit über beobachtet und ich habe noch nie gesehen, dass ein Elefant besser abgeschrubbt worden wäre. Gute Arbeit!« Die Worte hingen in der Luft und Tad musste tief Luft holen um gegen ein Schwindelgefühl anzukämpfen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er dafür gelobt wurde, etwas richtig gemacht zu haben.
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Später fragte sich Tad, warum er in jener ersten Woche nicht davongelaufen war. Es wäre ein Leichtes gewesen. Etwas hielt ihn jedoch bei Michael Keenan - selbst dann noch, als sie in sicherer Entfernung von Markle waren und Keenan den Krüppeltrick erneut anwandte. Dass er von Michael Keenan so oft gelobt wurde, war sicherlich einer der Gründe, die Tad zum Bleiben veranlassten. In dieser ersten Woche wurde er häufiger gelobt als zuvor in seinem ganzen Leben. Jeden Tag schrubbte er Khush, reinigte den Waggon und brachte dem Elefanten frisches Futter und Wasser. Und jeden Tag belohnte ihn Michael Keenan mit überschwänglichen Worten des Lobes. »Man muss dir nichts zweimal sagen! Und du verstehst dich auf Khush. Man könnte meinen, du seist ein ausgebildeter Elefantenboy!« Tad grinste bei diesen Worten und stellte sich vor, was Tante Adah dazu sagen würde, aber es stimmte. Mit Scheuerbürsten und Putzwasser kannte er sich schließlich aus. Und er hatte sich rasch an den Elefanten gewöhnt. Für Khush zu sorgen war kein bisschen schlimmer, als in Markle gegen den Kohlenstaub anzukämpfen. 46
Der andere Grund für sein Bleiben war die Hoffnung auf eine Entlohnung. Von Geld war zwar nie die Rede gewesen, aber Tad hoffte, seine Rückfahrkarte nach Markle zu verdienen. Ob Michael Keenan sich das leisten konnte? Schwer zu sagen. Sie arbeiteten sich so schnell wie möglich nach Harrisburg durch. Nach diesem zweiten Auftritt waren Cissies Krücken im Waggon verstaut worden, zusammen mit der wunderbaren grünen Tinktur. Bis sie nicht jenseits des Gebirges waren, wo noch kein Mensch von ihnen gehört hatte, würde es keine Zauberheilung mehr geben. Doch auch die Ritte auf Khushs Rücken brachten jeden Tag Geld ein. Cissie und Olivia übernachteten in jeder Stadt im besten Hotel und immer, wenn Tad sie sah, trugen sie schöne, modische Kleider. In Michael Keenans Taschen klimperte das Geld. Jeden Abend, wo immer sie auch waren, ging er zum Kartenspielen und kehrte erst weit nach Mitternacht zurück. Das Geld für Khushs Futter aufzutreiben schien weitaus schwieriger zu sein und von einem Lohn für Tad war nie 47
die Rede. In Harrisburg angekommen, beschloss er Michael Keenan darauf anzusprechen. Wenn sie erst auf der anderen Seite des Gebirges waren, würde er vielleicht nicht mehr gebraucht werden. Dann säße er ohne einen Penny auf der Straße. Neben den Gleisen wartete er darauf, dass Michael Keenan Khush zurückbrachte und legte sich seine Worte zurecht. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, aber er wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte. Als er Schritte hinter sich hörte, schoss er nervös herum. Aber es war nicht Mr. Keenan. Ein Mann und eine Frau kamen über den Hof. Ein breiter, behäbiger Mann, bei dem sich eine dünne Frau untergehakt hatte. Tad wollte gerade wieder wegsehen, als die Frau einen überraschten Schrei ausstieß: »Tad? Bist du das, Tad? Was machst du denn hier?« Die schrille Stimme kam ihm vertraut vor. Vor Schreck ließ Tad beinahe die Mistgabel fallen. Das war doch nicht möglich! Der Mann schüttelte seinen Arm frei und kam rasch näher. Als er vor Tad stand, nickte er anerkennend. »Dass du so weit kommen würdest, hätte ich dir nicht 48
zugetraut!« Die dicke, schmierige Stimme jagte Tad kalte Schauer über den Rücken. »Mr. Jackson?« Ein Irrtum war ausgeschlossen. Tad warf einen Blick auf die Frau, die über die Gleise trippelte. Das volantbesetzte Kleid und die weinroten Hutfedern waren ihm zwar fremd, aber er wusste jetzt, wer es war. Nur Esther warf ihren Kopf so überheblich zurück! Aber was machte sie hier in Harrisburg? Zusammen mit Mr. Jackson? Sie gab keine Erklärungen ab. Sobald sie vor Tad stand, verzog sie abfällig das Gesicht. »Was um alles in der Welt hast du angestellt? Du stinkst, als hättest du einen ganzen Kuhstall ausgemistet.« »Einen Elefantenwaggon«, erklärte Tad steif. Esther rümpfte die Nase. »Dich würde ich nicht in die Nähe eines Waggons lassen, der mir gehört. In der Nähe von überhaupt nichts, was mir gehört.« Achselzuckend wollte Tad sich abwenden, doch dabei stolperte er über den Stiel der Mistgabel, die er noch immer in den Händen hielt. Sie fiel auf den schlammigen Boden und bespritzte Esthers Volants. »Typisch!« Verärgert schüttelte sie ihre Volants. »Du 49
willst doch nicht etwa behaupten, Mr. Keenan habe dich angestellt?« »Komm schon, lass den Jungen in Ruhe!« Mr. Jackson legte seinen Arm um ihre Taille und drückte sie neckisch, aber das schien ihr auch nicht zu gefallen. Sie schüttelte den Arm ab und fuhr Tad an. »Bilde dir ja nichts Falsches ein, nur weil wir zusammen hier sind. Mr. Jackson und ich sind Geschäftspartner.« »In der Tat«, bestätigte Mr. Jackson. Er umfasste erneut Esthers
Taille
und
drückte
zu,
wobei
er
Tad
herausfordernd anblickte, »Wir folgen deinem Mr. Keenan. Behalten ihn im Auge. Und wir glauben, es wäre endlich an der Zeit, dass er sich in Ruhe mit uns unterhält. Ist er in der Nähe?« »Ich ... er ...«, stotterte Tad verlegen und versuchte vergeblich nicht hinzuschauen, als Mr. Jacksons Finger durch Esthers Haare fuhren und sie zärtlich am Ohrläppchen zupften. »Der Junge ist ein Einfaltspinsel!« Esther schüttelte Jacksons Hand ab und zeigte in die Ferne. »Da ist er ja, er bringt gerade den Elefanten zurück.« Es war Tads Aufgabe, Khush in Empfang zu nehmen, 50
und normalerweise wäre er ihm entgegengelaufen. Aber er zögerte. Es schien ihm unmöglich dem Elefanten in Esthers Beisein Kommandos zu geben. Oder vor Mr. Jackson. Es war Mr. Jackson, der mit ausgestreckter Hand über den Hof ging. Als er bei Michael Keenan angekommen war, war er zwar außer Hörweite, aber Tad sah, wie er die Hand des Schaustellers ergriff und energisch schüttelte. Als auch Esther auf die beiden zuging, fuhr Tad damit fort, Heu in den Waggon zu schaffen. Wenn es um geschäftliche Dinge ging, war es besser nicht zu stören. Er hatte erst wenige Gabeln mit Heu hochgewuchtet, als er einen lauten, wütenden Ruf hörte. »Tad! Wo steckst du bloß? Ich bezahle dich nicht fürs Herumstehen!« Sie bezahlen mich überhaupt nicht, dachte Tad, aber das war wohl kaum der richtige Moment Michael Keenan daran zu erinnern. Er lief auf die kleine Gruppe zu. Esther stand mit brav gefalteten Händen neben den beiden Männern. Michael Keenan schien sehr aufgebracht; sein Zylinder war nach hinten verrutscht und sein Gesicht war gerötet, aber Mr. Jackson war die Ruhe selbst. »Ich kann Ihnen nur raten, sich die Sache nochmals zu 51
überlegen«, sagte Jackson gerade, als Tad dazukam. Seine Stimme klang katzenfreundlich, aber doch drohend. »Ich biete Ihnen einen fairen Preis.« »Das nennen Sie einen fairen Preis?«, bellte Michael Keenan. »Fünfhundert Dollar? Das ist eine Beleidigung, dass Sie es nur wissen!« »Wir bieten schließlich nicht nur Geld«, sagte Esther listig, »sondern auch unser Schweigen. Sie können es sich nicht leisten, unser Angebot auszuschlagen.« »Eine Erpressung kann ich jederzeit ausschlagen!« »Das ist keine Art, mit einer Lady zu sprechen!« Mr. Jackson packte Michael Keenan am Rockaufschlag. Zum ersten Mal begriff Tad, welche Kraft in diesen fetten, klebrigen Fingern steckte. »Entschuldigen Sie sich auf der Stelle!« »Na schön ...« Khush gefiel die Streiterei offenbar nicht. Irritiert begann er zu knurren, was Keenan zu einem weiteren Wutschrei veranlasste. »Tad? Wieso dauert das so lange? Führ dieses Tier hier weg!« »Ich ... ‘tschuldigung.« »Und hör endlich auf, dich ständig zu entschuldigen, 52
sonst klebe ich dir ein Pflaster auf den Mund!« Tad griff nach dem Elefantentreiber, ließ ihn fallen und hob ihn ungeschickt wieder auf. Dann murmelte er das Kommando: »Beweg dich, Khush!« »Glaubst du etwa, davon nähme er Notiz?« Theatralisch verdrehte Michael Keenan die Augen. »Sag es genau so, wie du es meinst!« Tad sah Esthers hämisches Grinsen und stammelte das Kommando erneut. »Be... beweg dich.« Es hörte sich kein bisschen besser an, doch Khush setzte sich brav in Bewegung. Als Tad ihm zum Waggon folgte, hörte er wieder Mr. Jacksons Summe. »Wir akzeptieren Ihr Nein nicht. Ich habe gehört, dass Sie morgen früh nach Pittsburgh fahren. Gut, Miss Lanigan und ich werden auch im Zug sein.« Dann war Tad zu weit entfernt um noch mehr mitzubekommen. Doch als er hinter Khush herging, überlegte er sich, was Mr. Jackson bloß wollte. Und warum Mr. Keenan ihn nicht zum Teufel jagte. Die Andeutung einer Antwort erhielt er etwa eine halbe Stunde später, als Mr. Keenan in den Waggon gepoltert kam. »Mach alles fertig, Junge. Wir fahren noch heute 53
Abend.« »Ich dachte, erst morgen.« »So war es ursprünglich geplant. Doch da wir nun diese beiden Typen am Hals haben, muss ich umdisponieren. In unserem Geschäft kann man sich keine Stammkunden leisten. Die wissen zu viel. Wir machen uns heute Abend schon auf die Socken, dann sind wir sie los.« Das hörte sich sehr sicher an und Tad fragte sich, warum. Wenn Mr. Jackson nur einen Funken Verstand hatte, würde er den Güterbahnhof sorgsam im Auge behalten. Und selbst im Dunkeln wäre es ein Leichtes zu sehen, ob sich der große rote Elefantenwaggon von der Stelle bewegte. Vorsicht lag jedoch nicht in Michael Keenans Natur. Als sei der Elefantenwaggon an sich nicht schon auffällig genug, kam er höchstpersönlich um zu sehen, wie er an der Lok befestigt wurde. Bis zum allerletzten Moment stand er dicht daneben und flüsterte Tad durch die Schlitze Anweisungen zu. »Ich komme mit dem nächsten Zug in einer halben Stunde nach, zusammen mit Olivia und Cissie. Öffne die Waggontür in Pittsburgh, wenn du frische Luft brauchst, aber lass das Tier auf jeden Fall 54
drin, bis ich komme.« Tad war sicher, auch bei geschlossener Tür genügend frische Luft zu bekommen. Ein strenger, kalter Wind war aufgekommen und pfiff durch die Schlitze um Tads Ohren. Aber er nickte gehorsam. Dann legte er ein Auge an einen Spalt und beobachtete, wie sie aus dem Bahnhof glitten. Die Hände auf die Hüften gestützt und mit zurückgeworfenem Kopf sah Michael Keenan ihnen nach. Sein Zylinder schimmerte im Licht der Laternen und das Futter seines Jacketts, das der Wind aufwehte, glitzerte strahlend rot. Tad sollte Michael Keenan nie mehr wieder sehen. Pittsburgh in der Obhut von Mrs. P. Alexander 10. April Oh, Ketty, ich sagte, ich würde weiterschreiben, sobald ich mit Pa gesprochen habe, aber er ließ mich nicht in seine Nähe. Und jetzt ... Liebste Ketty, ich hoffe nur, dass du bereits eine Zeitung aus dem Osten gelesen hast, ehe du dieses Schreiben 55
erhältst, damit ich nicht die Erste bin, die dir die schreckliche Nachricht überbringt. Wenn du nicht weißt, wovon ich rede, versuche ganz stark zu sein, wenn du weiterliest. Mein lieber Vater und meine liebe Schwester Olivia wurden gestern bei einem Zugunglück getötet, das zwei der Waggons völlig zerstörte. Ein umstürzender Baum brachte den Zug zum Entgleisen und als dann die Öfen in den Waggons umkippten und Feuer fingen, gab es für Pa, Olivia und viele andere keine Rettung mehr. Dass ich überlebt habe, habe ich nur der Tatsache zu verdanken, dass ich direkt am Fenster saß. Ich flog hinaus und bekam nur ein paar Schrammen und blaue Flecken ab. Ein Mann von der Eisenbahngesellschaft brachte mich hierher. Mrs. Alexander erklärte sich bereit mich so lange bei sich aufzunehmen, bis meine Verwandten kommen und mich abholen. Aber ich habe keine Verwandten mehr. (Selbst wenn ich meine Mutter wieder sähe, würde ich sie nach all den Jahren nicht mehr wieder erkennen.) Alles, was ich auf der Welt noch besitze, ist der Elefant. Wenn niemand mich abholt, wird er verkauft werden, und das Geld geht an 56
Mrs. Alexander oder sonst jemand, der mich so lange bei sich wohnen lässt, bis ich einen Beruf erlernt habe. Liebe Ketty, bitte lass es nicht zu, dass ich hier Putzmacherin oder Wäscherin werden muss. Wenn Hjalmar es erlaubt, dass ich bei euch wohne, werde ich Khush verkaufen und euch das Geld geben. Ihr könnt alles haben, wenn ich nur zu euch kommen darf..
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Der Güterzug kam planmäßig an, früh am Morgen. Von dem Moment an, als er in den Bahnhof einlief, war Khush gereizt, stampfte und warf mit Heu um sich. Eine Weile versuchte Tad ihm gut zuzureden, aber seine Worte blieben ohne Erfolg, und von dem stundenlangen Sitzen im zugigen Wagen war er steif und fror. Er ließ die Rampe hinunter und blickte hinaus. Es nieselte und dicke Rauchwolken stiegen in den schmutzig grauen Himmel über Pittsburgh und hüllten die Häuser ein. Pittsburgh! hatte Michael Keenan begeistert gesagt. Der Ort, an dem der Allegheny und der Monogahela zusammenfließen! Das Tor zum Ohio! Aber Tad sah keine Flüsse, nur Dächer und Gleise. Er packte den Eimer und kletterte hinaus. »Ruhig, Khush«, murmelte er. »Zeit für frisches Wasser.« Den Eimer schwenkend, ging er auf die nächstgelegene Bahnhofshalle zu. Als er noch etwa fünfzig Meter davon entfernt war, spürte er, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Mit ernsten Gesichtern stand ein halbes Dutzend Männer eng beieinander und als er näher kam, hörte er, was sie 58
sagten. »... über fünfzig Tote ... auch der Lokführer ... das Feuer soll noch immer nicht gelöscht sein ...« Tad packte den Henkel des Eimers fester. »Der ... der Zug aus Harrisburg?« Erst als die Männer sich umwandten, begriff Tad, dass er laut gesprochen hatte. Als er ihre Gesichter sah, brauchte er keine Antwort mehr. Er umklammerte den Henkel. »Ich ... ich warte auf Mr. Keenan. Der ... der Elefant ...« Fassungslos deutete er auf den roten Wagen mit den Goldlettern. Eigentlich wollte er nach Einzelheiten fragen. Um zu erfahren, was genau passiert war. Aber sobald er das Wort Elefant ausgesprochen hatte, schoben die Männer ihn rückwärts zum Waggon. »... kümmere dich gut um das Tier ...« »Wir versuchen herauszubekommen, was wir können ...« »Brauchst du Wasser? Heu?« »... wir schicken dir jemanden ...« Wie betäubt stolperte Tad über die Gleise und kletterte wieder in den Wagen. Was sollte er tun? Er zermarterte sich das Gehirn, und hektische Bilder tanzten vor seinen 59
Augen.
Michael
Keenan,
mit
seinem
weinroten
Leinenfutter, Olivia, groß und schlank in ihrem braunen Tuchkleid. Und Cissie ... Er versuchte verzweifelt nicht an Cissie zu denken. Etwas Feuchtes und Zartes zwickte ihn ins Ohrläppchen. Er blickte auf und sah, dass es sich um Khushs Rüssel handelte. Er fuhr mit der Hand über die dicke, rauhe Haut. Dann griff er zur Bürste und löste Khushs Ketten um ihn ins Freie zu führen. »Beweg dich! Kein Grund im Dreck zu ersticken.« Etwas ungeschickt zuerst, mit mehr Gespritze als sonst, begann er mit der vertrauten Routine des Schrubbens. Nach zehn Minuten konnte er wieder etwas klarer denken und
ordnete
seine
Gedanken
im
Rhythmus
der
Bürstenstriche. Michael Keenan musste nicht unbedingt tot sein. Fünfzig Menschen waren umgekommen, aber schließlich mussten Dutzende, vielleicht gar Hunderte, überlebt haben. Das Unglück hatte sicher eine heillose Verwirrung gestiftet, aber sobald alles geklärt wäre, wurde Michael Keenan hierher eilen und munter und vergnügt auf den Bahnhof spazieren, seinen Hut in den Nacken geschoben und mit 60
wehenden Rockschößen. Bestimmt. Tad wartete. Der Nieselregen wurde dichter und der wütende Wind flaute im Laufe des Tages ab, doch es gab keine Neuigkeiten. Die Leute, die vorbeikamen um Khush zu bestaunen, konnten Tad nichts Neues berichten. Und er wagte es nicht wegzugehen und sich zu informieren, denn Khush war nervös und schlecht gelaunt und starrte durch die Holzritzen, als warte er auf jemanden. Tad führte ihn über den Hof um ihm etwas Bewegung zu verschaffen, doch als die Sonne unterging, wurde es sehr kühl.
Er
musste
Khush
wieder
in
den
Wagen
zurückbringen und ihn anketten. Gerade als er überlegte, ob er die Rampe hochziehen und verriegeln sollte, hörte er in der Ferne jemanden rufen. »Hey! Junge! Hier ist ein Mann, der nach seinem Elefanten fragt!« Tads Herz machte einen Freudensprung und er lief los. Mit einem Lächeln im Gesicht stolperte er über die Schwellen und stieß im Dunkeln gegen riesige Räder, als er über die Gleise in Richtung der Stimme lief. 61
»Ich wusste es!«, stieß er atemlos hervor. »Ich wusste gleich, dass Ihnen nichts passiert ist ...« Doch dann erkannte er, wer im Schein einer Laterne vor ihm stand. Ein bulliger Mann mittleren Alters mit blutunterlaufenen Augen, an dessen Arm eine junge Frau mit scharfkantigen Gesichtszügen hing. Der Bahnhofsangestellte grinste zufrieden. »Kannst du die beiden zu ihm bringen, mein Junge?« »Aber ... aber er ist nicht ... sie sind nicht ...« »Nicht was?«, fragte Mr. Jackson süffisant. Im Schein der Laterne sah sein Gesicht wie eine riesige Felsplatte aus, die von tiefen Rillen zerfurcht war. »Nicht die Besitzer?« Er lächelte träge, ohne dass die Rillen sich verschoben hätten. »Da bist du falsch informiert, Tad. Ich habe den Elefanten gestern Abend gekauft.« Tad starrte ihn an. »Aber Sie können doch nicht ...« »Um Himmels willen!« Esthers Finger bebten vor Ungeduld auf Mr. Jacksons Arm. »Zeig ihm den Vertrag, Hannibal. Es ist zu kalt, um lange herumzudiskutieren.« Mr. Jackson nahm ein zusammengefaltetes Papier aus seiner Tasche und faltete es auseinander. »Im Zug hatten Mr. Keenan und ich ein langes, ausführliches Gespräch. Er 62
sah schließlich ein, dass er mein Angebot annehmen musste, und unterzeichnete dieses Papier, noch ehe wir die Alleghenies überquerten.« Er hielt das Papier ins Licht und fuhr mit seinen fleischigen Fingern über die Zeilen. Die Worte sprangen Tad ins Gesicht. Es war eine Quittung über fünfhundert Dollar, ausgezahlt an Mr. Michael Keenan, der Mr. Hannibal Jackson im Gegenzug
sämtliche
Rechte
an
dem
indischen
Elefantenbullen namens Khush übertrug sowie den Reisewagen und alle Utensilien, die zur Pflege des besagten Elefanten dienten. Fünfhundert Dollar? Tad las den Text erneut und blickte dann auf. »Aber ich kann Ihnen das Tier doch nicht einfach so übergeben ... Wo ist Mr. Keenan?« Mr. Jackson faltete den Vertrag wieder fein säuberlich zusammen. »Miss Lanigan und ich verließen ihn, nachdem er im vordersten Waggon das Papier unterzeichnet hatte. Wir gingen zurück in unser Abteil im hinteren Teil des Zugs - und das war unser Glück. Bei dem Zusammenstoß gingen die ersten beiden Waggons in Flammen auf.« Er sprach völlig emotionslos, ohne aufzublicken. In Tads 63
Kopf herrschte eine unerträgliche Leere. »Und Mr. Keenan?« Esther schnaubte. »Du erwartest doch wohl nicht, dass wir dir einen Job anbieten? Vergiss nicht, ich weiß alles über dich. Wir brauchen dich nur für die nächsten Tage.« »Es wird nicht lange dauern, bis ich mich an das Tier gewöhnt habe«, sagte Mr. Jackson selbstgefällig. »Aber ich muss die richtigen Kommandos lernen. Ich habe einen Mietstall ausfindig gemacht, wo er unterkommen kann, und du kannst auch dort schlafen.« Das hörte sich alles etwas überstürzt, sonderbar und vage an. Tad blickte zuerst auf den Elefantenwaggon, dann wieder auf Mr. Jackson. »Ich weiß nicht, ob ich ...« »Mach dir nur keine unnötigen Gedanken!« Mr. Jackson nahm dem Bahnangestellten die Laterne aus der Hand und vergrub seine Finger in Tads Arm. »Der Elefant gehört mir. Und falls jemand versucht mich um mein rechtmäßiges Eigentum zu betrügen, bekommt er es mit dem Gesetz zu tun.« Er hielt die Laterne hoch. Eine Sekunde lang standen er und Tad sich im Lichtkreis gegenüber und Tad blickte in die kalten Augen des Mannes. Ihn schauderte. 64
Plötzlich trat Esther an seine Seite, so dicht, dass ihre Hutfedern Tads Gesicht streiften. »Hannibal bekommt immer, was er möchte«, sagte sie triumphierend. »Er wollte diesen Elefanten von dem Moment an, als er ihn zum ersten Mal sah, und nun hat er ihn bekommen - und wir werden steinreich!« Die beiden führten Tad zum Waggon zurück. Dort angekommen, hielt Mr. Jackson die Laterne hoch und starrte auf den Schatten im Inneren. »Für den Osten hier ist dieses Tier viel zu schade«, sagte er mit Besitzerstolz in der Stimme. »Die Leute sind schon zu verwöhnt in Sachen Unterhaltung. Aber drüben, im Westen, da wissen die Rancher und Minenarbeiter gar nicht, wie sie ihr Geld loswerden sollen. Ich kann den Elefanten vorführen, lasse sie auf ihm reiten, nehme Wetten an - dort werden alle möglichen Wetten abgeschlossen, aus reiner Langeweile!« Er holte tief Luft und schwenkte die Laterne hin und her. »Bring ihn heraus, Junge. Schauen wir uns das Prachtexemplar einmal an!« Tad kletterte hinein und löste Khushs Ketten, wobei seine Finger an dem kalten Metall abrutschten. Dann führte er den Elefanten heraus. »Beweg dich. Hier entlang, Khush!« 65
Gehorsam trampelte Khush die Rampe hinunter und Esther rümpfte die Nase. »Wenn er Tad gehorcht, dürfte es nicht länger als ein paar Tage dauern, bis wir ihn ebenfalls herumkommandieren können.« Mr. Jackson nickte, ohne sie anzublicken. Er starrte Khush an. »Eine wahre Goldmine auf vier Beinen«, murmelte er. »Mit einem Tier wie diesem hat ein Mann sein Glück gepachtet!« Esther ließ ihre Hand unter seinen Arm gleiten und drückte ihn zufrieden. Tad jedoch wandte den Kopf, um sein gieriges, hämisches Grinsen nicht länger mit ansehen zu müssen.
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Es war schon fast dunkel, als sie am Mietstall ankamen. Der Besitzer stellte Khush einen armseligen Platz im Hinterhof, hinter den Hauptgebäuden, zur Verfügung. »Ich möchte ihn hier draußen haben«, sagte er, während er Mr. Jacksons Geld einstrich. »Angekettet. Sonst verschreckt er mir die Pferde.« »Hast du gehört?« Esther kniff Tad in den Arm. »Er kommt mir nicht von der Kette.« Während sie sich über die Hutfedern strich, schenkte sie dem Stallbesitzer ein kokettes Lächeln. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Presswood. Tad kümmert sich um ihn.« Der Mann knurrte. »Der Junge kann in dem Schuppen dort schlafen.« Er zeigte auf eine Hütte am Rand des Hofs. »Ich übernehme keinerlei Verantwortung. Jemand muss die ganze Zeit über bei dem Tier sein.« Er schlurfte davon und Esther kniff Tad erneut. »Hast du begriffen? Trau dich ja nicht von hier weg. Wir wollen keinen Ärger.« »In Ordnung«, murmelte Tad. Esther warf ihren Kopf in den Nacken. »In Ordnung, was?«
67
Tad starrte sie an. Er schluckte. »In Ordnung, Ma’am.« Mr. Jackson lächelte und Esther hakte ihn wieder unter. Dann stolzierten sie von dannen, während Tad die Aufgabe hatte, es Khush so bequem wie möglich zu machen. Das war nicht einfach. Der Boden war hart und feucht und es gab nicht einmal einen Unterschlupf, der für einen Elefanten groß genug gewesen wäre. In der baufälligen Mauer, die den Hof an drei Seiten umgab, entdeckte Tad einen verrosteten Ring, an dem er Khushs Fußkette befestigte. Dann holte er Wasser für den rissigen, schlammverschmierten Trog und trug alles Stroh herbei, das er auftreiben konnte, um Khush eine weiche Unterlage zu bereiten. Die
kleinen,
beobachteten
geduldigen Tad,
während
Äuglein er
mit
des der
Elefanten Laterne
herumhastete. Hinter Khush, zuerst auf der einen, dann auf der anderen Seite, tanzte sein riesiger Schatten, der in dem schmutzigen Hinterhof anwuchs und wieder schrumpfte. Für die Pferde konnte Tad allerdings nichts tun. Sobald sie den Geruch des Elefanten erst einmal gewittert hatten, wurden sie unruhig. Die ganze Nacht lang war die Luft 68
von stampfenden Hufen und nervösem Wiehern erfüllt. Die Hunde zerrten an ihren Ketten und kläfften durch das Tor, das von den Ställen in den Hinterhof führte. Als Mr. Jackson am nächsten Morgen ankam, schien er besorgt. »Der Elefant kann nicht länger hier bleiben. Am besten bringst du mir gleich heute alle Kommandos bei. Dann kann ich schon morgen weiterziehen.« Tad zog die Augenbrauen hoch. »Ich war nur eine Woche bei Mr. Keenan. Ich kann Ihnen eigentlich nicht viel beibringen.« »Tu dein Bestes.« Mr. Jackson musterte Khush. »Tiere sind schließlich alle gleich einfältig.« »Ich denke nicht ...« »Niemand verlangt von dir, dass du denkst. Womit fängt man an?« Tad zeigte ihm, wie man den Elefanten abschrubbte. Es dauerte dreimal so lange wie üblich, weil Khush gereizt und nervös war. Jedes Mal, wenn sich Schritte dem Tor näherten, wandte er den Kopf um zu sehen, wer kam, und als schließlich Mr. Jackson die Bürste nahm um weiterzuschrubben, packte Khush sie mit dem Rüssel und schleuderte sie über den Hof. 69
Mr. Jacksons Augen verengten sich. »Ich glaube, er braucht eine Lektion. Womit hält man ihn unter Kontrolle?
Gib mir diesen Stock.« Er hob den
Elefantentreiber vom Boden auf und hielt ihn vor Khushs Gesicht. »Geben Sie ihm noch eine Chance«, rief Tad. »Er weiß nicht, was passiert ist. Er wartet auf ...« »Auf einen Toten kann man lange warten. Jetzt bin ich sein Besitzer und er muss mir gehorchen. Sag mir, wie man ihn zum Gehen bringt.« Tad erklärte ihm ein paar einfache Kommandos. Mr. Jackson probierte sie aus, indem er jedes mit einem Stoß des Elefantentreibers unterstrich. Als schließlich Esther erschien, stapfte Khush schmollend los, sobald Mr. Jackson es von ihm verlangte. Esther strahlte. »Du hast ihn schon im Griff. Ich habe dir ja gesagt, dass es nicht schwer sein würde. Wir brauchen Tad nicht mehr.« Tad überlegte, wer von den beiden jeden Tag den Wagen ausfegen und kübelweise Wasser anschleppen würde. Aber er fragte nur: »Ich kann also gehen?« »Gehen?«, meinte Mr. Jackson erstaunt. 70
»Ich muss zu Mr. Keenans Tochter. Der Elefant ist mir anvertraut worden. Es ist nicht richtig, dass ich ihn hergebe, ohne es ihr zu sagen.« Eine kleine Pause entstand. Dann nickte Mr. Jackson. »Aber sei heute Abend zurück, um über Nacht bei dem Elefanten zu sein. Und morgen hilfst du mir ihn in den Waggon zu bringen. Wenn du dich nützlich machst, erhältst du zur Belohnung einen Dollar.« »Ich werde kommen«, versprach Tad. Als Tad sich anschickte zugehen, hielt Mr. Jackson ihn zurück und streckte die Hand aus. »Den Schlüssel«, sagte er. Widerwillig händigte Tad ihm den Schlüssel für die Fußketten aus. Dann ging er zum hinteren Tor. Khushs Augen folgten ihm. Die Hand bereits auf der Klinke, wandte Tad sich noch einmal um. »Ruhe, Khush! Ich bin bald zurück.« Khush knurrte protestierend. Tad musste gegen ein aufsteigendes Schuldgefühl ankämpfen, als er über den schmalen Weg ging. Aber er konnte nicht anders. Cissie musste erfahren, was passiert war. 71
Pittsburgh war weitaus größer als Markle. Größer als Tad es sich vorgestellt hatte. Der Mietstall lag am östlichen Stadtrand und auf dem Weg zum Bahnhof verlief er sich dreimal. Wann immer er um eine Ecke bog, stieß er auf einen Kanal. Ohne fremde Hilfe hätte er das Haus, in dem Cissie untergebracht war, niemals gefunden, aber die Männer im Eisenbahnbüro waren sehr nett. »Das arme kleine Ding mit den großen Augen? Sie wird sich bestimmt über einen Besuch freuen. Wenn du zehn Minuten wartest, kann Pat dich ein Stück begleiten.« Doch Pat tat noch mehr als das. Er brachte Tad direkt bis ans Ziel und stellte ihn der misstrauisch dreinblickenden Frau vor, welche die Tür öffnete. »Entschuldigen Sie den Zustand seiner Kleidung, Mrs. Alexander. Es ist wegen des Elefanten.« Mrs. Alexanders Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass nichts auf der Welt den Zustand von Tads Kleidung entschuldigen konnte, aber sie ließ ihn zumindest eintreten und brachte ihn zur Wohnzimmertür. »Meiner Meinung nach«, sagte sie säuerlich, »gehört dieser Elefant verkauft. Das Mädchen besitzt keinen Cent 72
und ich kann sie nicht ewig durchfüttern.« Naserümpfend schritt sie über den Korridor davon und Tad klopfte an die Tür. »Cissie?« Womit musste er rechnen? Mit Tränen? Mit hysterischem Weinen? Er wusste, dass Frauen zu Gefühlsausbrüchen neigen. Besonders junge Mädchen. Aber Cissie war weder in Tränen aufgelöst, noch jammerte sie. Sie saß in einer Ecke an einem Schreibtisch und war ins Schreiben vertieft. Als Tad eintrat, sprang sie auf und steckte das Blatt Papier in die Tasche. »Du bist’s! Ist mit Khush alles in Ordnung? Weißt du schon, was passiert ist?« Tad nickte verlegen. Sie wirkte noch kleiner, als er sie in Erinnerung hatte, und sah sehr bleich und verstört aus. »Tut mir Leid ...« »Sprechen wir lieber nicht darüber. Falls es dir nichts ausmacht.« Cissie vergrub ihre Hände in den Ärmeln und begann nervös auf und ab zu schreiten, drei Schritte in die eine Richtung, dann drei in die andere. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich hoffe, dass ich zu meiner Freundin gehen kann.« 73
»Zu deiner Freundin?« Das kam unerwartet. Tad hatte geglaubt, sie wäre völlig auf sich allein gestellt. Cissie blieb stehen und begann den Zierrat auf dem Kaminsims umzustellen und an den Plüschfransen zu zupfen, die an seiner Vorderseite herunterhingen. »Meine Freundin Kerstin Gilstring - Kerstin Svensson. Sie ist früher mit uns gereist - bis sie geheiratet hat.« »Wird sie dich aufnehmen?« »Natürlich wird sie! Sie war wie eine Mutter zu mir. Sie wird mich einladen, sobald sie meinen Brief erhält.« Cissie deutete auf die Tasche, in die sie das Papier gesteckt hatte. Dann schritt sie wieder rastlos durchs Zimmer und zupfte die Falten des Vorhangs zurecht. Dann war ja alles in Ordnung. Tad fiel ein Zentnerstein vom Herzen. Wenn Cissie bei ihrer verheirateten Freundin leben konnte, brauchte sie keinen Elefanten. »Dann ist ja alles bestens geregelt, ich meine - mit Khush.« »Geregelt?« Stirnrunzelnd wirbelte Cissie herum. »Du könntest ihn sowieso nicht mitnehmen. Nicht zu deiner Freundin. Dein Pa hat ihn zum richtigen Zeitpunkt verkauft.« »Verkauft?« Cissies Gesicht wurde aschfahl. »Was 74
erzählst du da? Pa hat Khush nicht verkauft!« »Doch, im Zug.« Tad blickte sie nervös an. »Er hat ihn an Mr. Jackson verkauft.« »Unsinn!« »Ich habe den Kaufvertrag gesehen.« Cissie stand reglos da und starrte ihn ungläubig an. »Khush verkauft?« »Samt Wagen, Cissie. Und mit allem Zubehör. Abgesehen
von
den
Fläschchen
mit
der
Tinktur
vielleicht.« »Na, großartig!« Cissies Mundwinkel zuckten abfällig. »Mein ganzes Vermögen besteht aus zehn Dutzend Fläschchen der grünen Tinktur?« Erneut stapfte sie schweigend im Zimmer auf und ab. Dann begann sie Tad mit Fragen zu überschütten. »Wie viel Geld bekam Pa für Khush? Wie lautete der genaue Wortlaut des Vertrags? Was ist mit der Unterschrift?« Tad antwortete ihr, so gut es ihm möglich war, und sie schnaubte abfällig. »Fünfhundert Dollar? Dass ich nicht lache! Pa hat mindestens ein Dutzend Mal gesagt, dass Khush fünftausend
wert
ist.
Und 75
mit
schwarzer
Tinte
unterzeichnet? Pa schrieb immer mit blauer. Er sagte, schwarz sei der Beweis für eine materielle Einstellung.« »Aber ...« Cissies Gesicht glühte. Sie packte Tads Arm und schüttelte ihn. »Begreifst du denn nicht? Es ist doch sonnenklar: Das Papier ist eine Fälschung!« »Eine Fälschung?« »Natürlich! Sie wussten, dass Pa tot ist und nichts mehr abstreiten kann. Deshalb haben sie seine Unterschrift gefälscht. Um meinen Elefanten zu stehlen!« »Aber ich glaube nicht ...« Cissie schüttelte seinen Arm erneut. »Glaubst du etwa im Ernst, mein Vater hätte das Einzige, was er besitzt, für eine derart lächerliche Summe hergegeben?« »Er hat Mr. Jacksons Angebot schon einmal abgelehnt«, sagte Tad langsam. »Sagte, es wäre Erpressung, und fünfhundert Dollar wären eine Beleidigung, weil der Elefant mindestens fünftausend wert sei.« »Na, siehst du?« Cissie nickte triumphierend, doch Tad holte tief Luft und schien geknickt. »Du musst es so sehen, Cissie. Mr. Jackson hat einen 76
Vertrag, der völlig legal und in Ordnung zu sein scheint. Er trägt die Unterschrift deines Vaters und Esther - Miss Lanigan - ist Zeugin ...« »Esther?« Cissie ließ seinen Arm los und blickte ihn eindringlich an. »Du kennst diese Leute?« »Mr. Jackson war ein Pensionsgast meiner Tante«, erklärte
Tad,
noch
zerknirschter.
»Esther
ihr
Dienstmädchen. Aber ich bin nicht ...« Cissies Gesicht verschloss sich, wurde ausdruckslos vor Misstrauen, und Tad sprach hastig weiter, um ihr alles zu erklären. »Ich wusste nicht, was sie im Schilde führten. Ich schwöre es! Wie könnte ich gewollt haben, dass Khush verkauft wird, wenn ich dadurch meinen Job verliere?« Cissie ballte die Fäuste. »Du erwartest doch nicht, dass ich dir glaube?« »Aber es stimmt!« »Dann beweise es! Hilf mir, das zurückzubekommen, was mir gehört! Ich werde nicht tatenlos herumsitzen und mit ansehen, wie Mr. Jackson meinen Elefanten stiehlt!« Sie
sah
sehr
entschlossen
aus,
als
sie
mit
zurückgeworfenem Kopf vor Tad stand, aber Tad konnte 77
sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es ihr Ernst damit war. »Willst du ihnen Khush wieder wegnehmen?« »O ja! Und du wirst mir dabei helfen!« Hätte sie ihn darum gebeten, hätte er abgelehnt. Aber sie hatte es befohlen und so nickte er nur gehorsam. »Gut«, sagte Cissie. »Und nun sag mir, wohin sie ihn gebracht haben.« noch immer am 10. April Ich kann von Glück sagen, dass ich unterbrochen wurde, ehe ich diesen Brief zur Post bringen konnte. Allerdings habe ich jetzt nur Zeit für ein paar kurze Zeilen. Ich muss von hier weg. Ich weiß noch nicht, wo ich morgen Abend sein werde, aber ich werde Khush bei mir haben. Böse Menschen versuchen mich um mein rechtmäßiges Erbe zu betrügen, aber mach dir keine Sorgen. Es wird ihnen nicht gelingen! Ich werde heute Nacht aufbrechen und Khush an einen Ort bringen, wo die elenden Diebe ihn nicht finden 78
werden. Sobald wir in Sicherheit sind, schreibe ich dir, wo wir sind, und dann musst du mich zu dir kommen lassen. Ich werde mir Khush nicht wegnehmen lassen und du bekommst jeden Cent, den er wert ist!
79
Auf dem Gelände des Mietstalls hatte Tad sich in seinem windschiefen Schuppen zusammengekauert. Draußen in der Dunkelheit bellten die Hunde und die Pferde stampften und wieherten. Er wusste, er sollte längst schlafen, aber seine Augen wollten einfach nicht zufallen. Cissies Anweisungen schwirrten ihm durch den Kopf. Dann, um Mitternacht, öffnete er die Tür um nachzusehen, ob mit Khush alles in Ordnung war und sah - nichts! Nicht einmal Khush, obwohl er ihn ganz in der Nähe schmatzen hörte. Auch der Hof war mit einem Mal unsichtbar. Dichter Nebel hatte sich über Pittsburgh gelegt, sich in alle Gassen und engen Hinterhöfe gewunden
und
die
Luft
mit
einem
trockenen
Kohlenstaubgeruch erfüllt. Tad schloss die Augen und lehnte sich gegen den Türpfosten. Erst jetzt begriff er, welche Angst Cissies Plan ihm
eingejagt
hatte.
Doch
der
Nebel
hatte
die
Durchführung unmöglich gemacht. Er ging in seinen Schuppen zurück, kroch unter sein Häuflein staubigen Strohs und fiel in einen tiefen Schlaf. Etwa zwei Stunden später weckte Cissie ihn auf. Sie hatte sich neben seinen Kopf gekauert und hielt die 80
Laterne über ihn, während sie ihn an der Schulter schüttelte. »Wieso schläfst du? Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich bereit halten!« »Wie bist du überhaupt ...?« Tad blinzelte sie an. »Ist der Nebel weg?« »Nein. Ich bin immer an den Kanälen entlang, um dich zu finden. Dabei bin ich im Dunkeln um den ganzen Point gelaufen.« Tad wusste zwar nicht, was sie meinte, aber er bemerkte, dass sie fror. Sie packte seine Stiefel und warf sie ihm zu. »Zieh dich an! Wir müssen los!« »Aber der Nebel ...« »Der Nebel kommt uns wie gerufen! Etwas Besseres hätte uns gar nicht passieren können! Mach schon!« Sie stellte die Laterne ab und versuchte ihm die Stiefel über die Füße zu ziehen. »Aber ...« »Jetzt ist wirklich nicht die Zeit für lange Diskussionen!« Tad zog sich die Stiefel an und kroch ihr nach, hinaus ins Freie. Sie legte ihren Schal über die Laterne und sie tasteten sich an der Wand entlang bis zu der Stelle, wo 81
Khush angekettet war. Sein Gestampfe war schon von weitem zu hören. Tad ertastete als Erster den eisernen Ring. Durch ihn lief die Kette, deren beide Enden an der Fußfessel aus Metall befestigt waren, die um Khushs Hinterbein geschlungen war. Die Glieder der Kette fühlten sich in Tads Fingern kalt und feucht an. Und Mr. Jackson hatte den Schlüssel. Cissies Hand streifte Tads Hand, ehe sie sich auf der anderen Seite an der Kette entlangtastete. Cissie seufzte erleichtert auf. »Nur ein Bein angekettet! Gut! Pack den Ring ganz fest und lass ihn ja nicht fallen, wenn er sich aus der Wand löst.« Die Hunde im Hauptstall hörten das schwache Flüstern in der Ferne und brachen in ein lautes Kläffen aus. Khush jedoch knurrte zufrieden und scharrte mit dem Fuß über die Pflastersteine. »Ruhe«, säuselte Cissie, als sie sich an der Kette entlang zu Khush vortastete. »Nicht jetzt.« Er knurrte erneut, als sie bei ihm angekommen war und sie murmelte so leise, dass Tad es kaum verstehen konnte. »Beweg dich! Beweg dich, Khush!« 82
Die Kette spannte sich, als Khush für eine Sekunde anzog. Dann wurde sie wieder locker. »Beweg dich, Khush!«, zischte Cissie etwas energischer. Dieses Mal stand er ganz still und schnaubte nur verwundert. »Ich muss ihn zum Gehen bringen«, flüsterte Cissie. »Wo ist der Elefantentreiber?« Tad kroch zurück zum Schuppen und tastete nach dem kurzen, dicken Stock mit der stählernen Spitze. Cissie riss ihm diesen aus der Hand und beorderte ihn an den Ring zurück. »Lass ihn nicht fallen. Und nimm dich in Acht. Es wird ihm nicht gefallen.« Undeutlich sah Tad im Dunkeln, wie sie den Stock schwang und dann zustieß, während sie ihren Befehl zum dritten Mal wiederholte. »Beweg dich, Khush!« Khush stieß einen Wutschrei aus, der die Hunde zum Rasen brachte, doch dann zog er so kräftig, dass Tad spürte, wie der Eisenring sich bewegte. Cissie stieß erneut zu. »Beweg dich!« Dieses Mal war der Lärm ohrenbetäubend. Khush zog mit aller Kraft, und mit einem Kratzen, das sich in Tads 83
Ohren wie ein Donnerhall anhörte, glitt der Ring aus der Mauer. Mit einem Sprung war Tad bei Cissie und hielt ihr den Eisenring unter die Nase. Sofort begann sie, Khush zu beruhigen. »Ruhig jetzt. Gut gemacht. Ganz ruhig!« Aber der Heidenlärm konnte nicht ungehört bleiben. Die Hunde sprangen am Tor hoch und bellten wie wahnsinnig. Die verschlafenen Stalljungen versuchten vergeblich sie zu beruhigen. Schließlich brachte einer von ihnen sie mit Fußtritten zur Ruhe und kam dann über den Hof geschlurft. Quietschend öffnete sich das Tor. »Was ist los? Wo ist Mr. Jacksons Junge?« Tad hielt die Luft an. Cissie boxte ihm in die Seite, aber sie konnte ihm nicht mehr zuflüstern, wie er reagieren sollte. »Ja?«, rief Tad schließlich mit schwacher Stimme. »Was ist mit deinem Elefanten los?« »Er ist - hm -, er ist nervös. Ihm fehlt Mr. Keenan.« Der Stalljunge schnaubte verächtlich. »Dann gib ihm etwas von der Medizin, die Mr. Jackson uns andrehen wollte. Soll gegen alles helfen!« »Ich ... ich werd’s versuchen ...« 84
Tad hoffte, der Stalljunge würde ihn nun in Ruhe lassen und weggehen. Doch Cissie, von einem stillen Zorn geschüttelt, ballte plötzlich die Fäuste, was Khush erneut in Aufregung versetzte, sodass er trompetete und mit seiner Kette rasselte. »Bist du sicher, dass mit dem Elefanten alles in Ordnung ist?«, fragte der Junge misstrauisch. »Vielleicht sollte ich besser rüberkommen und ihn mir ansehen.« »Mach dir keine Umstände«, rief Tad rasch. »Er ist bloß etwas ...« Aber da hörte er den Stalljungen auch schon leise schimpfend näher kommen. »Wo bist du, du Mistvieh? Du kannst nicht sehr ... aah!« Das letzte Wort ging in einem Schrei des Entsetzens unter, gefolgt vom Getrampel davoneilender Schritte. Der Flüchtende prallte gegen das Tor, das er gleich darauf hastig hinter sich zuschlug. Tad hörte die anderen schadenfroh lachen, als er ihnen keuchend sein Erlebnis berichtete. »Die Bestie hat mir ihren Rüssel um den Kopf geschlagen! Das ist ein wildes Tier! Seht ihr nach ihm, wenn ihr Lust habt, ich halte mich da raus. Ich werde 85
schließlich dafür bezahlt, mich um die Pferde zu kümmern, nicht um wilde Tiere!« Er erntete dröhnendes Gelächter und noch mehr Gebell. Im Schutz dieses Lärms packte Cissie Tads Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ihr war nicht zum Lachen zu Mute. »Hast du gehört? Der Kerl hat sogar versucht meine Tinktur zu klauen! Nun, die lassen wir ihm auch nicht hier. Ist sie in deinem Schuppen?« »Die Tinkturen können wir nicht mitnehmen!«, rief Tad besorgt. Die Fläschchen waren in zwei großen Holzkisten verpackt, die aneinander geschnürt waren, damit sie über Khushs Rücken gehängt werden konnten. »Sie gehören mir! Hol sie!« Als Tad in den Schuppen kroch, wurde sein Gesicht vom Nebel verschluckt. Er schlang sich die Seile über die Schultern und schwankte mit den Kisten wieder ins Freie. Im ersten Moment konnte er nicht erkennen, wo Cissie war. Doch dann hörte er ihre Stimme von Khushs Rücken herab. »Ich bin hier oben! Reich mir die Kisten herauf!« Tad stemmte die erste Kiste so weit hinauf, dass Cissie 86
sie zu fassen bekam. Sie wuchtete sie über Khushs Nacken und zerrte so lange daran herum, bis schließlich beide Kisten richtig saßen. »Jetzt komm!«, flüsterte sie. »Trag die Kette!« Den verrosteten Eisenring in der Hand, trottete Tad hinter Khush über die feuchten Pflastersteine und am wackeligen Tor an der Hinterseite des Hofs vorbei. Er hatte weder eine Ahnung, wohin sie gingen, noch was Cissie vorhatte. Er folgte ihr blind. »Wir bleiben dicht am Fluss«, flüsterte sie von oben. »Dann sind wir sicher, dass wir aus der Stadt kommen und nicht versehentlich wieder zurückgehen.« Das hörte sich an wie ein Befehlsplan, aus dem Nebel heraus geboren. Tad fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, aber jetzt mit ihr herumzustreiten hätte zu viel Lärm verursacht. Bestimmt hätte sie dann jemand gehört. Selbst Khushs leise, vorsichtige Schritte kamen ihm schrecklich laut vor. Er beschloss seine Bedenken für sich zu behalten und trottete schweigend weiter. Auf einer schmalen Straße gingen sie zum Fluss. Ein kühler, schlammiger Geruch kam ihnen entgegen, vermischt mit Kohlegestank - genau wie am Tamaquon, 87
dem Fluss am Stadtrand von Markle. Tad vernahm das vertraute Geplätscher fließenden Wassers, das an hohen Gewächsen vorbeirauschte. Immer einen Fuß vor den anderen setzend, ohne zu sehen, wohin sie gingen, verließen sie Pittsburgh. Tad versuchte sich vorzustellen was passieren würde, wenn es Tag werden und der Nebel sich verziehen würde. Mr. Jackson würde sich auf der Stelle auf die Suche nach ihnen machen. Es wäre sicher nicht schwer, ihren Spuren zu folgen. Ein abgerichteter Hund würde ihrer Fährte mühelos folgen können. Er wandte sich an den undeutlichen Schatten auf Khushs Rücken. »Wohin gehen wir?« Selbst im Nebel konnte er sehen, wie ungeduldig seine Frage Cissie machte. »Wohin? Flussaufwärts natürlich! Der Fluss muss aus den Bergen kommen. Wenn wir ihm folgen, kommen wir dorthin.« »Aber bald wird es hell werden.« »Dann finden wir sicher eine Scheune, in der wir uns verstecken können.« Eine Scheune? Tad kannte viele Scheunen, aber nicht eine Einzige, in der man unbemerkt einen Elefanten 88
verstecken konnte. Und außerdem - wollte sie etwa in die Berge? »Na und?«, rief Cissie schnippisch. »Hast du vielleicht eine bessere Idee?« »Ich ...«, stotterte Tad und verstummte. Wie sollte ausgerechnet er eine bessere Idee haben? Er konnte nicht einmal durch einen Raum gehen, ohne etwas falsch zu machen. Für ihn war es zweifellos ratsamer zu schweigen und zu tun, was ihm gesagt wurde. Aber Cissies Frage war lauter gewesen als beabsichtigt. Zu ihrer Linken flackerte ein Licht auf und wenig später ertönte eine Stimme. »Was ist hier los?« Cissie warf den Schal über ihre Laterne und sie und Tad erstarrten. Khush wandte den Kopf in Richtung der fremden Stimme und wackelte mit den Ohren, aber er machte keinen Mucks. Der Mann rief erneut. »Ich bin heute Nacht schon dreimal aufgeweckt worden. Das reicht! Soll das ein Witz sein?« Er schien wütend zu sein. Der Lichtschein seiner Laterne kam näher. Tads Gedanken überschlugen sich, aber er konnte nichts 89
machen. Sie konnten sich nur ganz still verhalten und hoffen, dass der alte Mann sie im Nebel verfehlte. Schon die geringste Bewegung würde sie verraten. Der Lichtkegel der Laterne verharrte, glitt seitlich und kam dann erneut auf sie zu. Und plötzlich stand er da. Ein großer, hagerer alter Mann, der sie aus etwa zwei Meter Entfernung finster anblickte. Langes, graues Haar umrahmte sein Gesicht und sein schmutziges, schäbiges Hemd hing aus der Hose. Er hielt die Laterne hoch und starrte Khush ungläubig an. »Großer Gott!«, keuchte er. »Großer Gott im Himmel!«
90
Cissie reagierte, während Tad noch immer die Luft anhielt. »Bitte!«, sagte sie. »Sie müssen uns helfen!« Sie schwang ihr Bein über Khushs Nacken und rutschte zwei Meter nach unten, wobei sie direkt in dem Lichtkegel vor Tad landete. Der alte Mann reichte ihr seine Hand um ihr auf die Beine zu helfen und sie klammerte sich mit beiden Händen daran fest. »Bitte, verstecken Sie uns! Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber Sie haben ein freundliches Gesicht. Wir werden verfolgt von Leuten, die meinen Elefanten stehlen möchten, und wir haben niemanden, der uns helfen könnte.« Am Ende ihrer flehenden Ansprache lag sie auf den Knien und blickte bittend zu dem alten Mann hoch. Die Nebelschwaden tanzten um sie herum und der gelbe Lichtschein fiel auf ihr zerzaustes Haar und ihr kleines, verzweifeltes Gesichtchen. Der alte Mann schien verwirrt. »Jetzt lebe ich seit über dreißig Jahren hier - aber ein Kind mit einem Elefanten habe ich noch nie gesehen!« »Der Elefant gehört mir, glauben Sie mir!«, versicherte 91
Cissie. »Er ist das Einzige auf der Welt, das ich besitze!« »Das stimmt«, bestätigte Tad. »Ist auch ein Junge hier?« Der alte Mann starrte in den Nebel. »Komm her, mein Junge!« Ängstlich kam Tad in den Lichtkegel. »Näher!« Der alte Mann befreite sich aus Cissies Griff und winkte ihn näher. Sobald Tad vor ihm stand, packte er ihn am Kinn und zog seinen Kopf hoch, sodass Tad gezwungen war ihm direkt in die Augen zu blicken. »Was erzählt sie mir da? Jemand will euch den Elefanten stehlen?« »Ja«, begann Tad überstürzt zu erklären. »Ein Mann behauptet, er habe Cissies Vater den Elefanten abgekauft direkt vor dem Zugunglück -, aber der Betrag war eine einzige Beleidigung und die Unterschrift auf dem Vertrag hat die falsche Farbe und ...« Seine
Worte
kamen
ihm
selbst
so
wenig
zusammenhängend, so lächerlich vor, dass er abrupt verstummte. Die wässerig grauen Augen des Mannes tasteten sein Gesicht ab. »Ich nehme an, das Beste wird sein, wenn ihr 92
das Tier erst einmal in meine Scheune bringt. Dann reden wir weiter.« »Oh, vielen Dank! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!« Cissie sprang auf und klatschte vor Freude in die Hände. »Ich wusste, dass Sie ein guter Mensch sind. Komm schon, Tad. Wir sind in Sicherheit!« In Sicherheit? Tad dachte an Spürhunde und zögerte. »Stimmt etwas nicht?«, fragte der alte Mann. Er musterte Tad eindringlich. »Traust du mir nicht?« »Doch, natürlich. Aber ...« »Kein Aber!«, rief Cissie tadelnd. »Verlieren wir keine Zeit, Tad. Sobald es hell wird, werden sie uns suchen.« Der alte Mann hob die Hand. »Ich möchte hören, was der Junge zu sagen hat. Worüber machst du dir Sorgen?« »Nun ...«, stammelte Tad. Er wollte Cissie nicht in den Rücken fallen, aber er musste seine Bedenken aus sprechen. »Wenn sie uns verfolgen, dann vielleicht mit Spürhunden. Und die würden bemerken, dass die Spur hier plötzlich aufhört. Und dann ...« Der alte Mann nickte bedächtig. »Sehr vernünftig. Ich mag vernünftige Jungen. Geh mit dem Elefanten noch ein Stück weiter flussaufwärts und komm dann wieder zurück. 93
Wir warten hier.« Cissie drückte Tad ihre Laterne in die Hand. »Geh schon! Ich bleibe hier und erkläre ihm alles.« Tad hatte nicht damit gerechnet allein gehen zu müssen, aber er hatte keine Lust, sich noch einmal mit Cissie anzulegen. Er hob die Laterne, um Khushs Kopf sehen zu können. »Beweg dich! Gehen wir!« Seine Stimme, schwach und unsicher, verlor sich im Nebel. Khush wandte den Kopf zu Cissie und wedelte mit den Ohren. »Beweg dich!«, sagte Tad, dieses Mal mit fester Stimme. Ein riesiger Vorderfuß hob sich. Gemächlich marschierte Khush los und rupfte im Vorübergehen ein paar Wasserpflanzen ab. Sie hatten sich noch keine zwanzig Meter entfernt, als die Laterne des alten Mannes schon nicht mehr zu sehen war. Nach ein paar weiteren Schritten hörte er Cissies Stimme, die sich hob und senkte, als sie mit ihren Erklärungen begann; doch bald verlor sich auch das. Es gab nichts mehr als das Rauschen des Flusses und Khushs undeutliche
Umrisse,
der 94
gemächlich
am
Ufer
entlangtrottete. Seine Füße glucksten im nassen Schlamm. Ein paar Mal flimmerte in großer Entfernung ein Licht auf. Am Fluss lebende Tiere tauchten aus dem Unterholz auf und brachten sich im Wasser in Sicherheit. Etwa eine halbe Meile lang starrte Tad angestrengt in den Nebel und spitzte die Ohren um sich kein Geräusch entgehen zu lassen. Es war eine leere Welt, durch welche die beiden aneinander gekettet gingen. Als Tad das nächste Kommando gab, tat er es ohne lange zu überlegen, so als spräche er mit einem Menschen. »Stillgestanden. Bleib stehen, Khush!« Wieder war seine Stimme piepsig und dünn, aber Khush gehorchte auf der Stelle. Tad lächelte. »Und nun legen wir Mr. Jackson herein.« Erschrocken fragte er sich, was er da tat. Er unterhielt sich mit einem einfältigen Tier! Aber hier draußen, im Nebel, schien es die normalste Sache der Welt zu sein. Khush senkte den Kopf und seine kleinen Äuglein schimmerten im Licht der Laterne. »Zurück gehen wir im Wasser, damit wir keine Fußspuren hinterlassen. Los, komm schon!« 95
Khushs Rüssel kitzelte ihn hinter dem Ohr.
»Hör auf herumzuspielen. Beweg dich!«
Der Rüssel kitzelte ihn nun hinter dem anderen Ohr und
er wünschte sich beinahe, er hätte den Elefantentreiber bei sich. Was würde geschehen, wenn er die Kontrolle verlor? »Khush!« Unbeirrt streckte Khush seinen Rüssel in den Fluss, zog ihn heraus und spritzte Wasser auf den Boden, direkt vor Tads Füße. »Hey!«, schimpfte Tad und machte einen Satz rückwärts. Doch Khush tauchte den Rüssel erneut in den Fluss und spritzte in Tads Richtung, wobei er ihn wieder um ein Haar verfehlte. Instinktiv sprang Tad zurück. Wieder platschte Wasser auf die Stelle, von der er soeben geflüchtet war. Khush spielte mit ihm, ganz ohne Zweifel. Während er Schritt um Schritt zurückwich, spritzte Khush immer wieder, ohne je Tads Füße zu treffen, aber doch nah genug um ihn zum Zurückweichen zu veranlassen. Wenn Tad früher in der Schule gehänselt worden war, dann immer in böser Absicht. Und Tante Adah hatte nie etwas anderes als ihre Arbeit im Sinn gehabt. Dieses Spiel 96
hier aber war freundschaftlich und gut gemeint und für einen Moment lang war Tad völlig verblüfft. Dann plötzlich stellte er sich vor, was für ein Bild sie beide abgeben mussten. Ein Junge und ein Elefant, die mutterseelenallein im Nebel standen und mit Wasser spielten! Bei diesem Gedanken vergaß er mit einem Mal alles andere und brach in ein herzhaftes Lachen aus. Als hätte er gerade darauf gewartet, stürmte Khush plötzlich nach links und warf sich in den Fluss. Dieser war wesentlich tiefer, als Tad erwartet hatte. Eine gewaltige Welle schlug ans Ufer und etwa eine Sekunde lang war Khush mitsamt den Holzkisten auf dem Rücken vollständig im dunklen Wasser verschwunden. Doch dann tauchte er wieder auf wie eine kleine Insel und unzählige Wassertropfen rieselten von seinem Rücken. »Hier lang! Komm, Khush! Beweg dich!« Während er rückwärts am Ufer entlangging, lockte Tad ihn leise, und Khush stapfte ihm schwerfällig nach. Er pflügte sich durch das Wasser und Tad hielt die Laterne hoch, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er endlich eine weitere Laterne sah und Cissie rufen hörte. 97
»Bist du’s, Tad? Komm an den Steg!« Eine merkwürdige gepflasterte Rampe führte aus dem Fluss. Sie sah aus wie eine Art Helling, ein Ablaufplatz für Schiffe. Tad konnte sich zwar nicht vorstellen, wofür sie diente, aber er war froh, dass sie es Khush ermöglichte, aus dem Wasser zu gehen, ohne am Ufer Spuren zu hinterlassen. »Ich habe ihm alles erklärt«, sagte Cissie aufgeregt. »Und Mr. Nagel hat gesagt, Khush könne bis morgen Abend in seiner Scheune bleiben.« Tad blickte über ihre Schulter auf den alten Mann. »Vielen herzlichen Dank!« Erst jetzt spürte er, wie erschöpft er war und wie sehr er fror. »Hierher, Khush! Komm in die Scheune!« Khush hievte sich aus dem Wasser, riesig und tropfnass. Brav marschierte er die Rampe hinauf. Seine Kette scheuerte über die Steine. Tad angelte nach einem angeschwemmten Ast, der sich im Riedgras verfangen hatte, und verwischte sorgfältig Khushs Fußspuren, während er dem Elefanten folgte. »Ein gescheiter Junge«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Mr. Nagel beobachtete ihn mit einem seltsam 98
traurigen Lächeln auf den Lippen. »Miss Keenan kann froh sein, dass sie einen solchen Freund hat.« Es machte Tad verlegen, Cissies Freund genannt zu werden. Hastig wandte er sich wieder seinem Ast zu um auch die letzte Fußspur zu verwischen. Dann drehte er sich um und betrat die Scheune. Es war ein großes, massives Gebäude, in sicherer Entfernung vom Fluss. Doch das Tor hing schief in den Angeln, und im Inneren roch es modrig. In der einen Ecke hingen alte, verfaulende Säcke übereinander und über einem Haufen vertrockneter Wurzeln hingen kraftlos einige vermoderte Pferdegeschirre an Haken. Tads Blicke wanderten durch das Innere der Scheune und blieben schließlich an etwas Seltsamem hängen. An der Decke
hing
eine
lange,
hölzerne,
rundum
mit
Seitenwinden versehene Plattform, die an vier kräftigen Seilen aufgehängt war. Tad ging ein paar Schritte näher, blickte stirnrunzelnd nach oben und hörte Mr. Nagel heiser kichern. »Du hast keine Ahnung, was das ist, hm?« »Eine Art Kornbehälter?« »Ja, dafür benutze ich es jetzt. Siehst du die Ringe an den 99
Seilen? Sie hindern die Ratten am Hochklettern. Aber ursprünglich - nein, ursprünglich war es für etwas ganz anderes gedacht.« Schmerzlich verzog sich Mr. Nagels Gesicht. »Sieht
aus
wie
ein
Riesenkasten«,
sagte
Cissie
leichtfertig. »Hat es auch einen Deckel?« Mr. Nagel blickte zuerst sie, dann Tad prüfend an. Dann marschierte er durch die Scheune und begann eines der Seile abzuwickeln. »Ich werde es euch zeigen.« Eine seltsame Bitterkeit lag in seiner Stimme, und Cissie drückte sich an Tad. »Meinst du, er ... hat nicht alle Tassen im Schrank?« Tad beobachtete Mr. Nagel, der eine Ecke der seltsamen Plattform
mittlerweile
losgebunden
hatte
und
vor
Anstrengung schnaufte, als er sich auch das zweite Seil vornahm. »Ich glaube nicht, dass er uns etwas antut«, flüsterte er zurück. »Und wohin sollten wir denn sonst gehen?« Der alte Mann hatte nun auch das zweite Seil gelöst. Die eine Seite des hölzernen Kastens glitt herab und schlug donnernd auf dem Boden auf. Khush hob den Rüssel und knurrte missbilligend. 100
»Na, Junge?«, sagte Mr. Nagel erwartungsvoll und vor Anstrengung keuchend. Er trat einen Schritt zurück und blickte Tad herausfordernd an. »Was für ein Kornbehälter ist das?« Tad schritt langsam durch die Scheune, bis er vor dem herabgelassenen Ende der Plattform stand. Wie Cissie gesagt hatte, handelte es sich eher um einen Kasten. Einen flachen Holzkasten, etwa zwanzig Fuß lang und zehn Fuß breit. In der Mitte befand sich eine schindelgedeckte Hütte mit einem einzigen Fenster und einem abgeschrägten Dach. »Sieht aus wie ...« Er zögerte. Nein, das kam ihm doch zu absurd vor. »Ich kann deine Gedanken erraten«, sagte Mr. Nagel enttäuscht. »Genau wie meine Nachbarn denkst du, ich sei ein alter Narr, der statt Kühen ein Boot in seiner Scheune hat.« Tad scharrte verlegen mit den Füßen. Die fahlen Augen des alten Mannes fixierten Tad, als erwarte er eine Reaktion. »Warum sollten Sie kein Boot haben?«, warf Cissie ein. »Sie leben schließlich am Fluss. Warum sollten Sie also 101
nicht ab und zu hinausrudern, nicht wahr, Tad?« Tad betrachtete die Holzkonstruktion. Er hatte bereits ähnliche Flachboote auf dem Tamaquon gesehen und er wusste, wozu sie dienten. Für einen Ruderausflug, auf den Cissie angespielt hatte, waren sie nicht geeignet. Sie konnten nur flussabwärts schwimmen, mit der Strömung. Nicht in die Gegenrichtung. Mr. Nagel fixierte ihn noch immer. Schließlich wagte es Tad, seine Vermutung auszusprechen. »Sie ... Sie wollen in den Westen? Haben Sie es dafür gebaut?« »In den Westen?« Der alte Mann sprach dieses Wort so bitter aus, als habe er gerade in eine Zitrone gebissen. »Was bedeutet der Westen schon für einen Mann ohne Söhne? Damals, als ich noch zwei Söhne hatte wie dich, damals wollte ich dorthin. Mit Franz und Heinrich - und Greta.« Er seufzte. »Tut mir Leid«, sagte Tad. »Sind Sie ...« Cissie wollte ihn stirnrunzelnd zum Schweigen bringen. Mr. Nagels Gesicht war leichenblass geworden, seine Bartstoppeln standen dunkel und ungepflegt ab. Doch er sprach weiter, sobald er dazu wieder in der Lage war. 102
»Nach der Choleraepidemie riet man mir, ich solle doch wieder heiraten. Eine neue Frau, neue Söhne. Als ob ... als ob man die Vergangenheit so einfach vergessen könnte!« Mit vor Schreck geweiteten Augen schmiegte sich Cissie erneut an Tad, doch Mr. Nagel bemerkte es nicht. Was immer er auch gerade vor sich sah, es waren mit Sicherheit nicht sie beide. Auch nicht Khush, der gerade damit beschäftigt war, verschrumpelte Steckrüben aus einem Sack zu stibitzen. Der alte Mann raufte sich seine ausgefransten grauen Haare und betrachtete wehmütig sein Flachboot. »Ein Mann mit zwei Söhnen hat ein Ziel im Leben. Er kann solch ein Boot bauen. Er kann alles nehmen, was er besitzt - Kühe, Hühner und Schweine - und sich voller Tatendrang auf den Weg machen. Aber ein Witwer? Ein Mann ohne Kinder?« Wehmütig starrte er Tad an, als suche er nach etwas, das nicht mehr da war. »Es tut mir sehr Leid ...«, stammelte Tad. Mr. Nagel schüttelte den Kopf. »Ich habe es bereits gesagt, ich bin ein alter Narr. Aber es macht mir immer Freude, meine Geschichte zu erzählen und mein 103
armseliges, kleines Boot zu zeigen, das nun nie den Fluss befahren wird.« Er hob eines der schlaff herabhängenden Seile auf und zog daran um den Kahn wieder nach oben zu hieven. Tad machte sich daran ihm zu helfen. Als das herabhängende Ende des Kahns sich langsam vom Fußboden hob, kam Khush heran, streckte seinen Rüssel ins Innere und fischte gelangweilt ein paar Halme Stroh heraus. In diesem Moment, als Khush am Kahn stand und Mr. Nagel und Tad am Seil zogen, stieß Cissie einen lauten Schrei aus. »Halt! Zieht ihn nicht hoch!« »Was?« Tad wandte den Kopf zu ihr. »Was ist los, Cissie?« Sie würdigte ihn keines Blickes. Stattdessen lief sie herbei und packte den alten Mann am Ärmel. »Haben Sie nicht gesagt, dass man auf diesen Booten Tiere transportieren kann? Kühe? Und Pferde?« Mr. Nagel blinzelte, überrascht über ihren plötzlichen Eifer. »Natürlich. Hab ich schon oft gesehen.« »Dann ist es kein armseliges, kleines Boot!«, rief Cissie triumphierend. Sie legte eine Hand an die Seitenwand. »Es 104
kann in den Westen schwimmen. Geben Sie es uns!« »In den Westen?« In Tads Kopf ging alles drunter und drüber. »Aber wir wollten doch nach Osten, Cissie, über die Berge!« »Nicht
mehr!«
Cissie
sprühte
vor
Begeisterung.
Liebevoll fuhr ihre Hand über das Holz. »Begreifst du denn nicht? Wir könnten Khush aufladen und flussabwärts verschwinden.« »Du meinst ...« Das Ganze hörte sich verrückt an. Tad konnte nicht glauben, dass es ihr Ernst damit war. Aber es war ihr voller Ernst. Sie packte ihn an der Schulter und zog ihn herum, damit er Khush und den Kahn gleichzeitig sehen konnte. Ihre Stimme klang sehr entschlossen. »Wir fahren nach Nebraska!« Vor den Toren von Pittsburgh 11.April Oh, Ketty!
Erinnerst du dich daran, dass Pa oft sagte: »Es ist Gottes
105
Wille«? Wenn er eine Idee hatte, begannen seine Augen zu leuchten und nichts auf der Welt konnte ihn davon abbringen. Weißt du noch? Jetzt ist mir endlich klar, wie er sich gefühlt haben muss. Es ist Gottes Witte, dass wir direkt zu dir kommen! Es hätte nicht besser laufen können. Gestern brachte ich Khush vor den Gaunern in Sicherheit, die ihn schon an sich gerissen hatten, und floh mit ihm und dem Elefantenjungen, den Pa in Ginder Falls eingestellt hatte. Mein einziger Gedanke war es, wieder in den Osten zu gehen. In Philadelphia wollte ich mir eine Unterkunft suchen und dort warten, bis du mir schreibst, dass ich zu dir kommen könnte. Aber der liebe Gott hat mir einen Kahn gesandt. Einen, der sogar Khush tragen kann! Und, als sei das noch nicht wundersam genug, ist es zufällig ein Kahn, der nur nach Westen schwimmen kann. Mit der Aprilflut werde ich also auf dem Ohio zu dir kommen. Tad (der Junge, den Pa eingestellt hat) wird mir helfen und mich beschützen. Er ist zwar nicht gerade der Hellste, aber er ist willig und sehr groß und stark. Heute Abend, gleich nach Einbruch der Dunkelheit, 106
werden wir die Segel setzen. Ich glaube, es hat jetzt keinen Sinn mehr, diesen langen Brief mit der Post zu schicken, weil wir sowieso sehr bald bei dir sein werden! Ich werde aber weiterhin alle Abenteuer niederschreiben, damit ich sie mit dir teilen kann, aber ich werde mein eigener Briefträger sein!
107
»Aber der Ohio fließt doch nicht nach Nebraska«, sagte Tad. »Du hast Mr. Nagel gehört. Sein Kahn kann uns nur bis Cairo bringen. Das liegt im südlichen Illinois. Dann müssten wir zuerst den Mississippi und später den Missouri hochfahren.« »Aber
Flachboote
können
bekanntlich
nicht
stromaufwärts schwimmen.« »Keine Widerrede!«, erwiderte Cissie schnippisch. »Wir gehen!« Seufzend feilte Tad weiter an Khushs Kette. Sie hatten seit einer Stunde nur herumdiskutiert. Cissie war blass vor Erschöpfung, aber sie hatte sich nicht von ihrem Plan abbringen lassen. Hocherhobenen Hauptes und dickköpfig stand sie vor ihm und erteilte ihm Befehle. Verrückte Befehle. Tad hatte versucht ihr klarzumachen, dass er nicht mitkommen würde, aber Cissie hatte gar nicht darauf geachtet. »Du musst mitkommen. Mr. Nagel gibt uns den Kahn sonst nicht. Du erinnerst ihn schließlich an einen seiner Söhne.« 108
»Und wenn ich Nein sage ...« »Dann gehe ich trotzdem. Ob du mitkommst oder nicht! Und wenn ich westlich des Mississippi skalpiert werde, ist es allein deine Schuld!« »Aber wenn er dir den Kahn nicht gibt ...« »Ich bekomme ihn! Wenn Mr. Nagel ihn mir nicht gibt, schleppen Khush und ich ihn allein zum Fluss. Im Dunkeln. Ich werde nach Nebraska gehen! Und Khush kommt mit mir!« Khush blickte von den Rüben auf, die er gerade mampfte und blickte die beiden Streithähne besorgt an. »Der Ohio fließt nicht nach Nebraska!«, beharrte Tad. »Na, siehst du! Ich würde mich garantiert verlaufen, wenn du nicht mitkämst!« Es war unmöglich, vernünftig mit ihr zu reden. Sie war wie besessen von ihrer Idee. So wie sie es darstellte, hätte man meinen können, es wäre überhaupt kein Problem, den Ohio hinabzufahren - immerhin gute tausend Meilen von Pittsburgh nach Cairo -, und das in zwei oder drei sonnigen Tagen. Und danach irgendwie den Mississippi und den Missouri hinauf. Wobei Khush sich die ganze Zeit über schön brav und still verhalten würde. 109
Und das auf einem Fluss! Über Flüsse wusste Tad Bescheid. Mit Tante Adahs Pensionsgästen war er manchmal in kleinen Booten hinausgerudert. Mindestens fünfmal war er dabei in den Tamaquon gefallen und zweimal beinahe ertrunken. Cissies Plan war einfach lächerlich. Aber kein Mensch hörte auf ihn. Cissie ignorierte seine Worte geflissentlich und Mr. Nagel hörte gar nicht erst zu. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, zwischen dem Haus und der Scheune hin- und herzulaufen und alle möglichen Vorräte neben den Kisten mit den Medizinflaschen aufzustapeln. Alte graue Decken. Einen Sack mit getrockneten Apfelringen. Scharfe Messer und Blechbüchsen und einen halben Sack Mehl. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen glänzten. »Ich habe auch eine Landkarte für euch. Und einen Eimer und eine Sichel, damit ihr am Ufer das Futter für den Elefanten schneiden könnt. Außerdem eine Schaufel. Mit einem Tier an Bord, das ständig am Fressen ist, wird es nicht einfach sein den Kahn sauber zu halten ...« Tad, der sein ganzes Leben lang getan hatte, was ihm 110
befohlen wurde, konnte irgendwann keine Einwände mehr vorbringen. Außerdem hatten Cissie und Mr. Nagel auf alles eine Antwort parat. »Über Geld brauchst du dir keine Sorgen zu machen! Wir haben Khush. Mit ihm können wir Geld verdienen, wann immer wir möchten ...« »... und der Zeitpunkt ist ideal!«, unterbrach Mr. Nagel sie triumphierend. »Der Fluss hat Hochwasser. Er bedeckt bereits die Felsen, bis hinab nach ...« »Aber ...« Selbst Khush ließ sich von der allgemeinen Aufregung anstecken. Immer wieder schlenderte er zu den Vorräten, kniff in die Decken und steckte heimlich den Rüssel in den Sack mit den getrockneten Apfelringen. Irgendwann ließ auch Tad sich vom allgemeinen Reisefieber anstecken. Doch dann tauchte Mr. Jackson auf. Kurz vor Mittag, als die angehäuften Vorräte in der Scheune ungefähr Cissies Körpergröße erreicht hatten, kam Mr. Nagel plötzlich mit leeren Händen in die Scheune gestürzt. »Ich habe Reiter gesehen! Und Hunde! Sorgt dafür, dass der Elefant sich ruhig verhält! Ich mache derweil ein 111
Feuer,
damit
die
Hunde
seine
Witterung
nicht
aufnehmen.« Er packte einen Armvoll der vermodernden Säcke aus der Ecke, rannte damit hinaus und kehrte gleich darauf zurück um einen weiteren Armvoll hinauszuschleppen. An der Böschung zwischen der Scheune und dem Fluss lagen bereits eine Menge Kisten und alte Zeitungen und er warf die alten Säcke darauf. Als Tad das Scheunentor zumachte, sah er, wie Mr. Nagel
den
Haufen
mit
Petroleum
übergoss.
Ein
brennendes Streichholz genügte und schon ging alles in hellen Flammen auf. Knisternd stieg eine dicke, träge Rauchsäule in den Himmel. Khush schnaubte beunruhigt, als der Gestank bis in die Scheune drang. »Ruhe, Khush! Ganz ruhig!« Tad lief auf ihn zu, redete auf ihn ein und Cissie streichelte seinen Hals und murmelte leise: »Sei brav, Khush! Ganz ruhig!« Doch Khush war bereits zu aufgeregt und begann mit den Füßen zu scharren und sich auf das Tor zuzubewegen. Cissie packte den Elefantentreiber und schwenkte ihn drohend vor seinem Kopf. »Leg dich hin, Khush! Leg dich 112
hin!« Khush stieß einen seufzerähnlichen Laut aus und ließ sich auf die Knie nieder. Dann kippte er seitwärts und streckte sich auf dem Boden der Scheune aus. »Brav, Khush! Brav!« Cissie kauerte sich neben seinen Kopf und deutete auf das Scheunentor. »Sieh nach, was los ist, Tad!« Leise schlich Tad zu dem Tor, das auf der einen Seite schief in den Angeln hing, und spähte durch einen Spalt. Der Rauch hing noch in der Luft, aber das Feuer war bereits am Erlöschen. Tad sah, wie ihre Verfolger sich mit Mr. Nagel unterhielten. Es war etwa ein halbes Dutzend Leute. Esther saß noch im Sattel und bewegte ruckartig die dunkelroten Federn ihres Hutes, während Mr. Jackson und die Männer vom Reitstall abgestiegen waren. Einer von ihnen hielt zwei wütend kläffende Hunde an der Leine. Diese hielten sich vom Feuer fern und zogen wie wild in die Nähe des Flusses. Trotz des Höllenlärms, den sie veranstalteten, konnte Tad mit einiger Mühe verstehen, was Mr. Nagel sagte. »Nein, ich habe keinen Elefanten gesehen. Auch keine 113
Giraffe, kein Nilpferd oder sonst ein wildes Tier. Ich habe einen tiefen Schlaf und keinen Hund.« Mr. Jackson durchbohrte ihn mit Blicken. »Wir wissen aber, dass das Tier hier vorbeigekommen ist.« Mr. Nagel zuckte mit den Schultern. »Ich habe keinen Elefanten gesehen.« »Wir müssen ihn finden!« Esther beugte sich zu ihm herab und trotz des Rauchs konnte Tad ihr zuckersüßes, falsches Lächeln sehen. »Sie sind doch auf unserer Seite, nicht wahr, Mr. Nagel? Diese Kinder dürfen uns nicht entwischen!« Die Rauchschwaden stiegen ihr in die Lunge und sie begann zu husten. Geistesabwesend strich Mr. Jackson ihr mit dem Finger über den Knöchel. »Die Hunde drängen weiter. Lassen wir sie der Fährte folgen; vielleicht haben wir sie in einer Stunde oder so eingeholt. Wenn nicht ...« Er wandte sich wieder an Mr. Nagel und sein Gesicht sprach Bände. Selbst von seinem Posten aus konnte Tad die eiskalte Drohung spüren, die in seiner Stimme lag. »Ich hoffe, Sie lassen es mich wissen, wenn Sie einen Jungen und ein Mädchen mit einem Elefanten sehen. Ich 114
habe dieses Tier rechtmäßig erworben und werde es mir zurückholen! Und wenn ich diese Kinder von hier bis nach Philadelphia verfolgen muss! Das Gesetz ist auf meiner Seite und wer sich gegen mich stellt, wird sein blaues Wunder erleben!« Esther
betupfte
sich
die
Lippen
mit
einem
Spitzentüchlein. »Reg dich nicht auf, Hannibal. Sie kommen keine zehn Meilen weit. Wie könnten sie einen Elefanten verstecken, wenn alle Welt nach ihnen Ausschau hält? Mr. Nagel wird es uns bestimmt mitteilen, wenn sie hier vorbeikommen. Nicht wahr, Mr. Nagel?« Mit den Wimpern klimpernd, lächelte sie auf ihn herab. Dann ritt sie auf den Fluss zu, die Hunde im Schlepptau. Als Mr. Nagel in die Scheune zurückkam, schnaubte er vor Wut. »In diesem Ton mit mir zu sprechen! Und dieses Weib! Lächelt mich mit ihrem bemalten Gesicht an und macht mir schöne Augen! Und das, während ihr Mann zuschaut!« Cissie erhob sich und ließ auch Khush wieder aufstehen. »Ich glaube nicht, dass er ihr Mann ist.« Mr. Nagels Mundwinkel zuckten. »Dass so ein 115
Frauenzimmer lebt! Während meine Greta ...« Wütend kramte er eine Schere aus dem Haufen hervor und blickte Cissie mit zusammengekniffenen Augen an. »Komm her!« »Was?« »Komm her!« Er fuchtelte mit der Schere. »Diese schreckliche Frau sucht nach einem Jungen und einem Mädchen mit einem Elefanten? Na schön, der Elefant wird versteckt und ihr beide seid einfach zwei Jungen, die den Fluss hinabfahren.« Cissie zögerte einen Augenblick, doch dann kam sie auf Mr. Nagel zu. »Gut, fangen Sie an!« Er packte eine Handvoll ihrer blonden Locken und setzte die Schere an. »Aber Sie können doch nicht ...«, versuchte Tad zu protestieren. »Natürlich kann er! Sei nicht albern!« Doch auch Khush war Tads Meinung. Er klappte die Ohren zurück und schritt auf Mr. Nagel zu. Mit einer schnellen Bewegung seines Rüssels schlug er ihm die Schere aus der Hand und schmetterte sie gegen die Wand. Cissie stampfte mit dem Fuß. »Kannst du ihn nicht in 116
Schach halten, Tad? Er glaubt, Mr. Nagel würde mich angreifen. Sprich mit ihm!« »Aber ...« »Nun mach schon!« Zögernd begann Tad zu murmeln. »Ruhe, Khush. Er ist ein Freund. Er schneidet Cissies Haare, damit wir nach Nebraska fahren können. Zu ... zu ...« »Zu Ketty!«, rief Cissie barsch, als sie die Schere wieder aufhob. »Erzähl ihm von ihr. Er mag Ketty.« Gehorsam murmelte Tad die Worte. »Wir fahren zu Ketty. Du kennst sie, Khush. Wir fahren zu Ketty, nach Nebraska ...« Das schien zu helfen. Langsam ließ Khush seinen Rüssel sinken und schlenderte zu seinen Rüben zurück. Cissie gab Mr. Nagel die Schere zurück und er konnte mit dem Schneiden beginnen. Eine Locke nach der anderen fiel ins schmutzige Stroh. Kurzhaarig sah Cissies Gesicht viel knochiger aus. Irgendwie nackt. Als auch die letzte Locke gefallen war, trat Mr. Nagel einen Schritt zurück um sein Werk zu begutachten. Cissie stellte sich breitbeinig vor ihn, warf den Kopf in den Nacken und blickte ihn erwartungsvoll an. 117
»Na, sehe ich aus wie ein Junge?« Sie fummelte an ihrem Rockbund. »Na ja, wenn ich das Zeugs hier ausziehe, vielleicht ...« Rock und Petticoat fielen raschelnd zu Boden und noch ehe Tad begriffen hatte, was sie vorhatte, stand sie auch schon in ihrer gekräuselten langen Unterhose mit den schockierenden scharlachroten Bändern vor ihm. Sie grinste ihn frech an und schritt, ohne das geringste Gefühl für Sitte und Anstand, breitbeinig auf und ab. »Bin ich gut? Kann man mich für einen Jungen halten?« Verlegen wandte Tad den Kopf ab, doch Mr. Nagel lächelte. »Du bist sehr gut. Ich gebe dir Franz’ alte Sachen. Dann können meine beiden Jungen zusammen in den Westen fahren.«
118
Für den Rest des Tages arbeiteten sie an dem Flachboot. Nun, da Mr. Nagel wütend war, hatte er den Kopf voller Pläne. »Die Kajüte habe ich für meine Familie gebaut. Für vier Personen. Aber schon für einen einzigen Elefanten ist sie zu klein. Wir müssen sie abreißen und einen Unterstand bauen.« Er drückte Tad einige Werkzeuge in die Hand. »Brich die Kajüte ab. Ich gehe Bäume fällen.« Die Axt geschultert, ging er davon, während Tad ratlos auf die schindelgedeckten Seitenwände der Kajüte starrte. »Nun mach schon!«, sagte Cissie ungeduldig. »Worauf wartest du? Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Sie packte einen Hammer und schlug so kräftig auf die Holzwände der Kajüte ein, dass die Splitter davonstoben. Tad schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es wäre besser ...« »Dann mach es so, wie du es für richtig hältst!« Sie stand auf der anderen Seite, die Hände auf die Hüften gestützt, und sah ihm kritisch bei der Arbeit zu. Eine Arbeit, die Tad lag, die er ihrer Meinung nach jedoch zu langsam und methodisch ausführte. Sie stand neben ihm und wartete ungeduldig darauf, dass sie das Ende des nächsten Bretts packen und herausreißen konnte. 119
Tad wollte sie davon abhalten. »Das ist nichts für Mädchen!« »Oh, sei nicht so albern!« Cissie zerrte erneut, bekam einen Splitter in die Hand und blickte Tad herausfordernd an, als sie ihn herauszog. »Wenn wir schnell fertig werden wollen, muss jeder mithelfen.« Tad begriff, dass sie Recht hatte. Er zeigte ihr, wie man die langen Nägel und Holzpflöcke herausschlug. Als Mr. Nagel zurückkam, arbeitete jeder von ihnen friedlich auf einer anderen Seite des Kahns. »Wie
zwei
liebe
Brüder,
die
einander
helfen«,
konstatierte Mr. Nagel strahlend. »Jetzt werdet ihr sehen, wie man einen Elefantenunterstand baut. Holt die Baumstämme. Die Luft ist rein.« Er hatte vier hohe, geschmeidige, junge Bäume gefällt und ihre Äste abgeschlagen. Tad und Cissie schleppten sie in die Scheune, spannten sie bogenförmig über das Boot und befestigten die Enden auf jeder Seite, sodass sich vier lange Rippen über den Mittelteil des Boots wölbten. Cissie war begeistert. »Darunter ist massenhaft Platz für Khush. Jetzt brauchen wir nur noch eine Abdeckung.« »Ich habe drei oder vier Zeltplanen und jede Menge 120
Decken. Wenn wir auch vorne und hinten Decken aufhängen, ist der Elefant vor neugierigen Blicken geschützt.« Mr. Nagel war offensichtlich zufrieden mit dem Unterstand, aber Tad hatte seine Bedenken. Er fragte sich, wie lange Khush sich auf so kleinem Raum ruhig verhalten würde. Doch ohne ein Wort zu sagen, holte er die Zeltplanen und hängte die Decken auf. Es war fast Mitternacht, bis endlich alles fertig war. Sie spannten Khush vor den Kahn und Mr. Nagel riss erwartungsvoll das Scheunentor auf. Dieses Mal war kein ihnen wohlgesonnener Nebel aufgezogen. Nur tief hängende Wolken und schwerer Regen. Doch zum Glück blieben sie ungestört, als sie einige Säcke auf der gepflasterten Helling ausbreiteten. Mr. Nagel blickte Tad an. »Ich hatte zwei Söhne, eine Frau und ein Pferd, die mir beim Ziehen geholfen hätten. Meinst du wirklich, euer Elefant schafft es ganz allein?« »Natürlich schafft er es!«, rief Cissie an Tads Stelle. »Beweg dich, Khush! Es ist Zeit zum Gehen!« Khush bedachte sie mit einem langen, verwunderten Blick. Dann legte er sich in das Geschirr aus Seilen, das ihm umgebunden worden war, und begann zu ziehen. Der 121
Kahn ächzte und bebte. Mit einem lauten Knirschen glitt er dann langsam aus der Scheune. Sobald er am abschüssigen Flussufer angekommen war, brauchte der Kahn nicht mehr gezogen zu werden. Er rutschte nach vorne, gegen Khushs Hinterbeine, die das ganze Gewicht abfangen mussten. »Stillgestanden!«, rief Cissie warnend. Sie hielt Khush den Elefantentreiber vor den Rüssel. »Und nun weiter, ganz langsam!« Schritt für Schritt ging Khush weiter, das Boot direkt hinter sich, bis es schließlich am äußersten Ende der Helling zum Stillstand kam, halb im Wasser, halb an Land. »Jetzt können wir das Boot beladen«, erklärte Mr. Nagel. Sie schleppten die Vorräte herbei und verstauten sie unter Zeltplanen vorne und hinten im Kahn, während Khush sie aufmerksam beobachtete. Lebensmittel und Stroh, Decken und Zündhölzer, Messer und einen Eimer, sowie ein paar in ein Stück Leinwand eingewickelte Werkzeuge. Cissie rollte die Ärmel von Franz Nagels Hemd sowie ihre Hosenbeine hoch, um barfuß durch das Wasser zu waten. »Beeil dich, Tad, wir müssen noch im Dunkeln 122
los!« Tad war einmal nachts auf dem Tamaquon gewesen. Er hatte sich damals schrecklich gefürchtet, aber das behielt er lieber für sich. Er tat, wie ihm geheißen, schleppte die Vorräte heran und auch das lange, schwere Ruder, das am Heck angebracht wurde um das Boot zu steuern. Am Ende, als alles aufgeladen war, ging Cissie mit Khush nochmals in die Scheune und brachte ihn mit den Medizinkisten beladen zurück. Tad riss die Augen auf. »Du willst dieses Zeug doch nicht etwa auch mitschleppen?« »O doch!« Cissie warf den Kopf in den Nacken. »Glaubst du, ich lasse sie hier zurück, damit Mr. Jackson sie findet?« Mit einem Blick auf Mr. Nagel stieß Tad sie leicht mit dem Ellbogen an. Er wollte ihr damit nur zu verstehen geben, dass sie taktlos war, aber sie verstand ihn falsch. Mit einem zuvorkommenden Lächeln wandte sie sich an den alten Mann. »Leider kann ich Sie in keiner Weise für all Ihre Mühe entschädigen. Es sei denn, Sie nehmen ein paar Fläschchen unserer Tinktur. Das Rezept stammt aus Indien 123
...« »Und hilft gegen alle Krankheiten?« Mr. Nagel schien amüsiert. »Ich habe schon von solchen Heilmitteln gehört. Darf ich mal sehen?« Cissie zog ein Fläschchen heraus und reichte es ihm. Im Schein der Laterne funkelte der Inhalt geheimnisvoll grün. Vorsichtig nahm Mr. Nagel das Fläschchen entgegen und betrachtete es. »Ich werde die Medizin nicht einnehmen, aber das Fläschchen behalten. Immer, wenn ich die grüne Flüssigkeit sehe, werde ich an euch denken, daran, wie ihr auf meinem Kahn nach Westen fahrt. Vielleicht heilt das die Krankheit, an der ich leide.« Er streckte die Hand aus. »Wir müssen uns noch voneinander verabschieden, bevor ihr an Bord geht.« Tad nahm seine Hand und schüttelte sie. Mr. Nagel hatte einen kräftigen Griff, aber die Haut seiner Hand war schlaff und von Leberflecken übersät. Er war schon sehr alt. Seine Augen flackerten, als er Tad eindringlich anblickte. »Werdet ihr gut aufpassen? Und in den Westen kommen?« »Natürlich werden wir!«, versicherte ihm Cissie. »Auf Wiedersehen. Und vielen Dank.« 124
»Vielen, herzlichen Dank«, sagte Tad mit bewegter Stimme. Mr. Nagel hielt noch immer seine Hand. Erst jetzt öffnete er die Finger und ließ sie los. »Ihr müsst den Elefanten an Bord bringen.« »Sie haben Recht!« Cissie deutete auf das Flachboot. »Komm, Khush. Beweg dich!« Fragend hob Khush den Kopf. »Nun komm schon! Sei kein Kindskopf! Dieses Ende des Boots ist noch an Land. Beweg dich!« Sie
holte
den
Elefantentreiber
aus
dem
Boot.
Aufmerksam glitt Khushs Blick über den kurzen, geraden Griff bis zur gekrümmten Metallspitze am Ende. Dann, ganz langsam und bedächtig, machte er einen Schritt rückwärts, vom Boot weg. Wütend kam Cissie mit dem Elefantentreiber auf Khush zu. »So nicht«, murmelte Tad. Es wäre Wahnsinn, mit einem verärgerten, aufgebrachten Elefanten an Bord abzulegen. Sie würden alle ertrinken. Er sprang auf das Boot und streckte die Arme aus. »Komm, Khush! Komm her!« Mit einem gewaltigen Seufzer, der seinen ganzen Körper 125
erschütterte, stieß Khush die Luft aus seinen Lungen. Er machte einen Schritt vorwärts, blieb dann aber wieder stehen und sah auf Cissie. »Komm an Bord, Cissie«, rief Tad. »Er muss wissen, dass du auch mitkommst.« Er sah sie nicht an, denn er konzentrierte sich auf Khush, aber er hörte, wie sie nach Luft schnappte. Dann kam sie auf das Boot. Mr. Nagel kicherte vor sich hin. »Genauso war es mit Franz und Heinrich ...« Tad wiederholte den Befehl, sanft aber bestimmt. »Komm her, Khush!« Khush hob seine mächtigen Füße, einen nach dem anderen, und stapfte auf das Boot, wobei er sich so vorsichtig bewegte, dass er nirgends anstieß. Sofort übernahm Cissie das Kommando. »Geh ans Ruder, Tad. Ich führe ihn nach vorne, damit das Boot ablegen kann.« Tad ergriff das lange Ruder und hielt es so, dass er den Kahn genau dann abstoßen konnte, wenn das hintere Ende entlastet wurde. Das Flachboot tauchte vorne tief ins Wasser; das noch an Land befindliche Ende glitt kratzend 126
durch den Schlamm, als Tad sich gegen das Ruder lehnte und mit aller Kraft drückte. Für einige Sekunden waren sie weder im Wasser noch an Land. Dann schwang das Heck des Kahns herum, sodass sie sich vom Ufer wegbewegten. Sie waren auf dem Fluss. Mit einem Elefanten an Bord. Tad stieß sich ein letztes Mal ab um den Kahn in tieferes Wasser zu bringen. Mit hoch erhobener Laterne stand Mr. Nagel in einem winzigen Lichtkreis am Ufer. Er winkte nicht, er blickte ihnen nur nach. Der Kahn, den er vor über zwanzig Jahren gebaut hatte, glitt langsam davon - endlich in Richtung Westen. Tad brachte das lange Ruder in die richtige Position und versuchte zu steuern, aber er konnte nicht viel manövrieren. Er musste sich darauf beschränken, das Boot einigermaßen in der Mitte des Flusses zu halten, in sicherer Entfernung vom Ufer. Cissie hatte sich neben Khush gekauert und band seine Füße mit einem Seil achterförmig zusammen. Nach wenigen Minuten tauchten an beiden Ufern die Umrisse der Häuser von Pittsburgh auf. Hier und da glühte ein Feuer, drangen Stimmen vom Ufer herüber, doch rund 127
um das Boot blieb der Fluss dunkel und leer. In der Nähe des Point, wo der Allegheny und der Monogahela zusammenflossen, wurde der Fluss turbulent. Eine Zeit lang musste sich Tad voll darauf konzentrieren, das Boot im Gleichgewicht zu halten, während das Wasser gegen die Bordwände klatschte. Das Ruder war schwer zu handhaben und einige Male gerieten sie beängstigend ins Schlingern. Dann endlich hatten sie den Point hinter sich gebracht und waren auf dem Hauptfluss. Das Wasser wurde wieder ruhiger und die Strömung des Ohio nahm sich ihrer an. Mitten auf dem Ohio! 12. April Wir haben es geschafft! Auf dem Wasserweg rasen wir dem Mississippi entgegen. Khush ist garantiert der erste Elefant, der diese Reise unternimmt. Es ist kaum zu glauben, wie ruhig er unter seiner Plane steht und mampft. Ich wusste von Anfang an, dass ich Recht hatte, aber ich musste mich stundenlang mit Tad herumstreiten, ehe er schließlich einwilligte. Ich fürchte, dass er im Grunde 128
seines Herzens ein Feigling ist, denn er hat jede Menge unwichtiger Einwände vorgebracht. Sobald ich den einen widerlegt hatte, fiel ihm schon der Nächste ein. Die fantastische Einfachheit meines Plans war einfach zu hoch für ihn! Aber ich wusste, dass er, wenn ich hart bleiben würde, letzten Endes gehorchen würde, wie Pa es ihm beigebracht hat. Und so war es auch. Vielleicht ist es ab jetzt etwas schwerer, mit ihm auszukommen, denn ich habe eine neue Identität. Meine Petticoats und Löckchen sind verschwunden! Ich bin Franz Nagel, der jüngere Sohn des guten Mannes, dem wir unser Boot verdanken. In der gefährlichen Situation, in der wir uns befinden, ist es ja eine gute Verkleidung, aber es wird bestimmt schwieriger werden, Tad in Schach zu halten. Als wir das Boot bestiegen, versuchte er doch tatsächlich für einen Moment, mir Befehle zu erteilen! Aber ich werde hart bleiben. Ich habe das einzig Richtige getan und bin mir sicher, dass sich die ganze Mühe lohnen wird.
129
Tad lehnte sich gegen das lange Heckruder und versuchte das Flachboot einigermaßen auf geradem Kurs zu halten. Er wünschte, er hätte sich nie auf dieses Abenteuer eingelassen. Inzwischen war es hell geworden. Khush war von Anfang an nervös gewesen und versuchte nun, sich an den Seitenwänden seines Unterstandes zu reiben, während er das schmutzige Stroh zu seinen Füßen zu einem stinkenden Brei zertrampelte. Der Fluss belebte sich allmählich. Andere Boote fuhren von Pittsburgh stromabwärts und die Besatzungen blickten neugierig auf das hin und her tanzende Flachboot. Männer lehnten
sich
aus
ihren
Schleppern
und
kleinen
Heckraddampfern und riefen Tad etwas zu. Er murmelte Entschuldigungen und versuchte vergebens sich
dichter
am
Ufer
zu
halten.
Ein
riesiger
Kohlenschlepperverband überholte sie - ein Dampfer, der fünfzehn
lange,
flache
Schleppkähne
schob.
Ihr
Kielwasser brachte Tads Kahn zum Schlingern und Wasser schwappte herein. Khush, in seinem Unterstand, knurrte unwillig und schaukelte hin und her. 130
»Kannst du ihn nicht beruhigen?«, rief Tad. Er hatte gar nicht bemerkt, wie scharf sein Ton war, doch Cissie warf ihm einen finsteren Blick zu, als sie das Papier weglegte, auf das sie gerade geschrieben hatte. In einem beruhigenden Singsang redete sie auf Khush ein. »Ruhe, Khush! Nicht bewegen! Wir fahren zu Ketty nach Nebraska. Sie wird uns einen Apfelkuchen und Maisbrot backen und mich ihr wunderschönes langes Haar kämmen lassen ...« Khush prustete, schaukelte aber zumindest nicht mehr so wild wie zuvor. »Sie wird in ihrem Garten sitzen und uns etwas vorsingen«, fuhr Cissie fort. »Wenn wir erst bei ihr sind, wird alles wieder gut sein ...« An sein Ruder gelehnt, ließ Tad ein Bild in seinem Kopf aufsteigen. Ein weißes Fachwerkhaus mit einer Veranda und großen Fenstern. Hell und einladend. In dem es nach den köstlichsten Kuchen duftete. »... erinnerst du dich, Khush«, säuselte Cissie weiter, »dass alle ihre Kleider mit zarten Spitzen besetzt waren? Und ihre Schuhe waren so klein, dass sie außer mir niemandem passten. Wenn sie abends ihr Haar bürstete, 131
sprühte es Funken ...« Tad schloss die Augen fast ganz und stellte sich eine zierliche Gestalt mit winzigen Füßen und langem, fließendem Haar vor. Eine Frau, die neben ihrem weißen Haus in einem kühlen, grünen Garten stand. Khush steckte seinen Rüssel in den Eimer und schlürfte laut und vernehmlich. Es gelang Cissie, ihn bis zum Abend ruhig zu halten. Doch dann hatte er sein Futter und sein Wasser verschlungen und sein enger Unterschlupf war verdreckt. In der Abenddämmerung steuerten sie das Ufer neben der Mündung eines ruhigen Baches an und Tad machte sich daran das dreckige Stroh herauszuschaufeln, damit er die Planken schrubben konnte. Etwa zehn Minuten lang stand Cissie da und beobachtete ihn. Zum ersten Mal fragte sich Tad, warum sie nur Befehle erteilte, während er die ganze Arbeit erledigen musste. Verbissen arbeitete er weiter. »Sieht so aus, als könntest du etwas Hilfe gebrauchen«, sagte Cissie. Mit einem überraschten Grinsen wandte Tad den Kopf. »Falls du mir anbietest, dass du ...« 132
»Ich?« »Ich dachte, du sprichst von dir«, gestand er errötend. »Ich sprach natürlich von Khush! Ich könnte ihm ein neues Kommando beibringen. Komm, Khush! Mach klar Schiff!« Khush schlenderte in einiger Entfernung zwischen den Bäumen herum, als Cissie ihn zu sich beorderte. Sie begann ihm beizubringen, das Stroh aufzuheben, das Tad zusammengerecht hatte, und drohte jedes Mal mit dem Elefantentreiber, wenn er sich wieder davonmachen wollte. Nach einer Weile hatte er begriffen, was von ihm erwartet wurde, und die Arbeit ging rascher vonstatten. Doch selbst mit Khushs Hilfe dauerte es Stunden, bis das Boot sauber war. Anschließend musste auch noch sein Futter für den nächsten Tag geschnitten werden. Tad begriff, dass er es nicht schaffen würde, zumindest nicht allein. Er lehnte sich auf die Schaufel und blickte Cissie vielsagend an. »Das wird noch tagelang so weitergehen«, begann er vorsichtig. »Und irgendwann sollte ich auch schlafen.« Cissie erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann tätschelte sie Khushs Schulter und sagte: 133
»Geh spielen, Khush!« Der Elefant schlenderte davon um zu fressen und Cissie holte die Sichel aus dem Boot. »Ich schneide das Futter und du bringst es dann an Bord.« Das war eindeutig ein Befehl, keine Bitte, aber Tad war viel zu müde um sich darüber zu ärgern. Er folgte ihr zu den Bäumen, wo er das Gras auflas, das sie geschnitten hatte. Sie konnten sogar noch ein paar Stunden schlafen, ehe es Tag wurde. Es gelang ihnen schließlich mit einiger Mühe Khush wieder auf das Boot zu locken, indem sie so taten als wollten sie ohne ihn abfahren. Cissie löste die Seile und Tad nahm das Ruder und stieß das Boot aus dem Schlamm heraus. In diesem Moment kam Khush so stürmisch an Bord gerannt, dass das Boot um ein Haar gekentert wäre. Aber er war schlecht gelaunt. Er ließ sich von Cissie zwar den Haltestrick anlegen, aber als sie nach dem Seil griff um seine Füße zusammenzubinden, machte er einen Schritt zur Seite und trommelte verärgert mit dem Rüssel gegen die Bretter. Cissie gab es auf. Sie ließ die Decken herabfallen, damit 134
er verborgen war, und schimpfte dabei mit ihm. »Ketty wäre entsetzt! Sie war immer so stolz darauf, wie gut erzogen und folgsam du bist!« Doch das ließ Khush völlig unbeeindruckt. Er war wesentlich nervöser als am Vortag, brachte den Kahn immer wieder zum Schaukeln und gab Laute des Missfallens von sich. Tad hatte seine liebe Mühe, das Boot einigermaßen in der Fahrrinne zu halten, und stellte sich vor, was zu tun wäre, wenn sie kenterten, während Cissie Khush ununterbrochen von Ketty vorschwärmte. Aber es half überhaupt nichts. Als sie auf Wheeling zutrieben, griff Khush plötzlich mit dem Rüssel nach der Decke, die vor ihm hing, und riss sie mit
einem Ruck
ab.
Mit
einem triumphierenden
Trompeten ließ er sie fallen und schlängelte seinen Rüssel zu den Baumstämmen, die sich über seinem Kopf wölbten. »Nein, Khush!«, brüllte Cissie. Khush ignorierte ihre Schreie. Wütend riss er die Stämme aus ihrer Verankerung und warf sie im hohen Bogen in den Fluss. Nun stand er exponiert und weithin sichtbar da. Und das ausgerechnet im ungünstigsten Moment! Sie waren mittlerweile in der Nähe von Wheeling, wo sowohl 135
das Wasser als auch das Ufer sehr belebt waren, und die Leute schrien überrascht auf. »Schaut, ein Elefant!« »Da soll mich doch!« »Schaut euch das an!« Schlepper und Ruderboote, Kähne und Kanus kamen herbeigefahren, um sich das seltsame Tier näher zu betrachten. Leute am Kai schwenkten ihre Hüte oder kratzten sich verblüfft am Kopf, während Kinder mit den Fingern zeigten und aufgeregt brüllten. »Wo habt ihr den her?« »Seid ihr ohne eure Eltern unterwegs?« »Gehört ihr zu einem Zirkus?« Khush war entzückt. Er winkte mit dem Rüssel, trompetete
und
warf
mit
Stroh
um
sich.
Die
Menschenmenge lachte und er reagierte damit, die ankommenden Boote mit Wasser zu bespritzen und die Brotstücke aufzufangen, die ihm zugeworfen wurden. Es waren die Passagiere eines flussaufwärts fahrenden Dampfers, die als Erste mit Geldstücken warfen. Ein Betrunkener warf einen Dollar herüber, den Khush gekonnt mit dem Rüssel auffing. 136
Es gab riesigen Beifall. Cents und Zehncentstücke - sogar noch ein weiterer Dollar - hagelten auf das Boot, zehn oder fünfzehn Minuten lang. Jedes Mal, wenn Khush etwas auffing, gab es anerkennendes Gelächter und es regnete noch mehr Geldstücke. Cissie lächelte und winkte zurück, doch Tad hielt den Kopf gesenkt und steuerte unbeirrt weiter. Er wollte möglichst schnell dieser Menschenmenge entkommen, aber das war nicht einfach. Die Leute aus Wheeling folgten ihnen stromabwärts und entgegenkommende Boote wendeten und fuhren wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Als das Gedränge endlich nachgelassen hatte, kniete Cissie nieder um die Geldstücke einzusammeln. »Stell dir vor, Tad: zwanzig Dollar und siebzehn Cent! Und drei Hosenknöpfe und einen britischen Penny. Schau dir das nur an! Wenn das in jeder Stadt so geht, können wir mit der Eisenbahn fahren, wenn wir erst hinter dem Mississippi sind. Und sogar einen Spezialwagen für Khush mieten.« Als Tad nicht antwortete, blickte sie auf. »Was ist los? Was starrst du mich so an?« 137
»Ich ... was?« Er hatte sich gerade vorgestellt um wie viel besser es gewesen wäre, wenn Khush nicht gesehen worden wäre. Hatte sein Gesichtsausdruck ihn verraten? Cissie schleuderte die Geldstücke wieder auf den Boden und funkelte ihn wütend an. »Du siehst mich an, als hätte ich etwas Unrechtes getan! Als ob ich ... Es steht dir nicht zu, mich zu kritisieren!« »Habe ich doch nicht! Ich habe keinen Ton gesagt!« Tad war bestürzt. Er hatte keine Ahnung, was sie so verärgert hatte, aber einen Grund musste es geben. »Kümmere dich lieber um deine Angelegenheiten!« Sie wandte sich ab und hob die Geldstücke wieder auf. Tad schluckte die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, hinunter. Insgeheim aber machte er sich Sorgen. Die Leute auf dem großen Dampfer würden bald in Pittsburgh sein. Innerhalb kürzester Zeit würde sich die Geschichte
von
dem
Elefanten
auf
einem
Boot
herumsprechen. Und es würde nicht lange dauern, bis auch Mr. Jackson davon erfuhr. Es sollte jedoch länger dauern, als Tad angenommen hatte. Weitere drei Tage fuhren sie unbehelligt den Ohio hinunter. Nachts rasteten sie um das Boot zu säubern und 138
neues Futter zu schneiden. Auf dem Boot wurde es allmählich ungemütlich, denn es gab keinen Unterschlupf mehr, der sie vor Regen geschützt hätte. Sie mussten ihr ganzes Hab und Gut möglichst hoch übereinander stapeln um es vor dem Unrat zu schützen, der um ihre Knöchel schwappte. Cissie wollte jedoch nichts davon hören, das Boot aufzugeben. Sie wurde jedes Mal fuchsteufelswild, wenn Tad andeutete, dass sie auf dem Landweg besser vorwärts kämen. »Du hast doch keine Ahnung! Wir müssen auf dem Fluss bleiben, sonst dauert es Monate, bis wir bei Ketty sind!« Und so fuhren sie also weiter. Und jeden Tag trafen sie neue Boote und weitere Neugierige, die Khush anstarrten, als sei er das achte Weltwunder. Am dritten Tag, bei Sonnenuntergang, fuhren sie unter einer großen Brücke an Parkersburg vorbei. Der Himmel leuchtete wie reinstes Gold, aber das Wasser, das gegen ihr Boot klatschte, war kühl und schwarz. Tad hoffte inständig, sie könnten unbemerkt vorbeiziehen, aber offensichtlich hielt man bereits nach Khush Ausschau. Sobald sie in Sicht waren, verließ eine Schar von Booten 139
den Hafen. In Erwartung weiterer Geldstücke winkte Cissie ihnen lächelnd zu. Doch dieses Mal sollte es anders kommen. Als die Boote auf sie zukamen, rief ihnen jemand aus dem vordersten Flussdampfer etwas zu. »Ruder einziehen! Wir nehmen euch in Schlepptau und bringen euch ans Ufer!« Es war ein untersetzter, rotbäckiger Mann in einem eleganten Mantel und mit Hut. Er schien nicht damit zu rechnen, dass man seine Befehle missachten könnte. Cissie kletterte auf die Medizinkisten, damit sie besser zu sehen war. »Danke, aber wir möchten nicht an Land!« Der rotbäckige Mann riss vor Entsetzen den Mund auf, und im Boot hinter ihm wurde hämisch gelacht. Cissie grinste, weil sie das Lachen für Beifall hielt, aber Tad lächelte nicht. Der Mann hob die Stimme. »Wir haben die telegrafische Anweisung erhalten, einen Jungen und ein Mädchen, die mit einem Elefanten auf dem Fluss unterwegs sind, zu stoppen. Der Elefant soll gestohlen sein.« »Ist er nicht!«, rief Cissie. »Er gehört mir!« Doch der Mann schenkte ihr keine Beachtung. Ein 140
anderer Mann, klein und mit Brille, zupfte ihn am Ärmel. »Mr. Worthington. Wir sollten in Betracht ziehen ...« Er flüsterte geschäftig und der rotbackige Mann seufzte. »Um Himmels willen, Crisman, was hat es schon zu bedeuten, dass kein Mädchen an Bord ist! Glauben Sie etwa, auf diesem Fluss schwimmt noch ein anderer Elefant herum? Es handelt sich mit Sicherheit um das gestohlene Tier. Der Eigentümer ist bereits mit den Dokumenten auf dem Weg hierher!« »Ein gefälschter Kaufvertrag!«, rief Cissie heftig. »Alles erlogen!« Mr. Worthington runzelte die Stirn. »Das kann gerichtlich geklärt werden, sobald wir an Land sind.« Tad gefiel das Wort gerichtlich gar nicht. Mr. Jacksons
Kaufvertrag hatte sehr legal ausgesehen. Wesentlich
legaler als alles, was er und Cissie vorweisen konnten. Er
beugte sich zu ihr.
»Wir dürfen auf gar keinen Fall an Land!«
»Wenn ihr nicht freiwillig mitkommt«, bellte Mr.
Worthington, »werden wir Gewalt anwenden müssen!«
Cissie war außer sich vor Wut. »Dann versuchen Sie es!«
Einer der Bootsleute warf ein Seil herüber, doch sie
141
kickte es ins Wasser. Dann bückte sie sich, um Khushs Seile zu lösen. »Komm, Khush!«, rief sie. »Mach klar Schiff!« Sie packte eine Handvoll schmutzigen Strohs und schleuderte es auf den Flussdampfer. Ohne Schaden anzurichten, plumpste das Geschoss zwischen den beiden Booten ins Wasser und verschwand in der Dunkelheit. Khush hatte interessiert zugeschaut. Er packte ein Bündel Stroh und blickte rüsselschwingend auf den Flussdampfer. »Klar Schiff!«, brüllte Cissie. Khushs Treffsicherheit war wesentlich besser als ihre. Sein Geschoss traf Mr. Worthington mitten ins Gesicht. Dieses verfärbte sich dunkelrot, während der arme Mann das dreckige Stroh ausspuckte. »Packt dieses Vieh!«, schäumte er. »Weiter, Khush!«, rief Cissie fröhlich. »Klar Schiff!« Stinkendes altes Stroh flog durch die Luft und landete auf sämtlichen Booten in der Nähe. Verzweifelt versuchte Mr. Worthington seine Mannschaft anzufeuern. »Es sind doch nur zwei Kinder! Jemand muss endlich an Bord gehen!« 142
Die Männer wichen zurück. »Die Kinder sind kein Problem, Sir. Aber die Bestie ...« »Wäre doch Wahnsinn sich mit ‘nem Vieh wie dem einzulassen!« »Geh’n Sie doch selbst, wenn Sie so ‘n großen Wert drauflegen!« Es
wurde
zunehmend
dunkler.
Die
Sonne
war
untergegangen und auch andere Boote kamen näher um zu sehen, was los war. Zwei oder drei Leute feuerten Cissie und Tad an. »Wir können es nicht zulassen, dass die Leute sich über das Gesetz lustig machen!«, rief Mr. Worthington hochtrabend. »Jemand muss dieses Boot endlich in Schlepptau nehmen!« Sein suchender Blick fiel auf den kleinen Mann mit Brille, der ihm anfangs etwas zugeflüstert hatte. »Und zwar Sie, Crisman!« »Ich, Mr. Worthington?« »Jawohl, Sie, Crisman!« Cissie riss Tad das Ruder aus der Hand und schwenkte es über dem Wasser. »Falls jemand versucht an Bord zu kommen, werfe ich ihn in den Fluss!«@ Mr. Worthington ignorierte ihre Warnung. Gebieterisch 143
befahl er, den Flussdampfer näher an Cissies Boot zu manövrieren. »Jetzt, Crisman!« Tad glaubte zu sehen, wie er den kleinen Mann tatsächlich anstieß, aber er hätte es nicht beschwören können. Alles geschah viel zu rasch. Cissie schwang das Ruder, aber es war bereits zu spät. Mr. Crisman war auf sie gesprungen und hatte sie umgerissen. Sie kugelte in Richtung des Hecks. Es war ein Unfall, aber Khush röhrte vor Wut und stürzte sich auf den Eindringling. Tad bekam Mr. Crisman als Erster zu fassen, aber das konnte Khush auch nicht mehr bremsen. Er hatte gesehen, dass Cissie angegriffen worden war, und wollte ihr helfen. Das Flachboot schlingerte heftig. Cissie hielt sich an der Bordwand fest, aber Tad und Mr. Crisman, die noch ineinander verstrickt waren, flogen kopfüber ins Wasser, inmitten eines Hagels von Kisten und Bündeln. Gerade als Tad prustend wieder auftauchte, hörte er einen weiteren, noch lauteren Platscher und kurz darauf Cissies klägliche Stimme. 144
»Da seht ihr, was ihr angerichtet habt! Ihr habt meinen Elefanten ertränkt!«
145
Im
Wasser
herrschte
ein
unbeschreibliches
Durcheinander. Mr. Crisman schlug wild um sich und versuchte den rettenden Dampfer zu erreichen, wobei er Tad am Kopf erwischte. Khush strampelte und prustete verzweifelt, während er langsam, aber sicher unter der Wasseroberfläche verschwand. Der Fluss war zu einem brodelnden Kessel geworden, auf dem die Boote nur hilflos schaukeln konnten. Nichts wie weg von hier! Tad holte so tief Luft, dass seine Lungen zu bersten drohten und ihm schwindlig wurde, tauchte dann unter das Flachboot und schwamm darunter hinweg. Am anderen Ende, etwa zwanzig Fuß von Cissie entfernt, kam er wieder hoch. Cissie war noch an Bord und schöpfte mit dem Eimer Wasser heraus. Als sie sah, wie Mr. Crisman mit vereinten Kräften an Bord des Dampfers gezogen wurde, stieß sie einen wütenden Schrei aus. »Warum kümmert man sich nur um ihn? Was ist mit meinem Elefanten? Und mit meinem ... Bruder?« »Die werden schon wieder auftauchen«, rief Mr. Worthington gleichgültig. »Sind wahrscheinlich direkt auf Grund gegangen.« 146
»Auf Grund? Was glauben Sie, was ein Elefant ist? Ein Fisch? Und was ist mit Tad?« Ich bin hier. Diese Worte lagen Tad auf der Zunge, und er hatte die Hand bereits ausgestreckt um sich am Boot festzuhalten. In weniger als einer Minute hätte er es geschafft sich hochzuziehen, aber gerade als er Cissie etwas zurufen wollte, erspähte er etwas. Etwa fünfzig Meter flussabwärts sah er etwas Großes, das von ihm weg durch das dunkle Wasser trieb. Zuerst dachte er, es sei eine der Medizinkisten. Doch es trieb nicht dahin. Mit eigenwilligen, unkontrollierten Bewegungen arbeitete es sich vorwärts, wurde mal schneller, dann wieder langsamer. Außer dem Schreien und Platschen hinter sich konnte Tad zwar nichts hören, aber er erkannte deutlich, welche Kraft in diesen Bewegungen lag. Tad kehrte den Booten den Rücken und schwamm in die Dunkelheit, auf den seltsamen Gegenstand zu. Es war schwierig ihn in der Dunkelheit nicht aus den Augen zu verlieren, aber er schwamm, so rasch er konnte, und holte schnell auf. Als er nur noch etwa zehn Meter entfernt war, konnte er 147
ihn deutlich erkennen. Vor ihm war Khush, doch nur sein Kopf war sichtbar. Aber er wurde keineswegs hilflos vom Strom abgetrieben. Er schwamm. Es dauerte noch ein paar Minuten, bis Tad ihn eingeholt hatte. Bis dahin hatten sie Parkersburg längst hinter sich gelassen. Tad schwamm auf gleiche Höhe und rief mit leiser Stimme: »Hallo, Khush!« Khush hob den Kopf und quietschte leise und erfreut auf. Dann wandte er sich nach links, dem Ufer von West Virginia zu. »Nein!«, zischte Tad. Dort gab es keinen ausreichenden Schutz. »Nein, Khush! Komm hierher!« Ihm war zu kalt und er war auch zu erschöpft um sich einen großartigen Plan auszudenken, aber ihm war klar, dass sie sich verstecken mussten. »Beweg dich, Khush!« Der große Kopf wandte sich ihm in der Dunkelheit zu und wendete bereitwillig nach rechts. Khushs Haut berührte für einen Moment sein Bein. Ihre Rauheit fühlte sich sehr vertraut und beruhigend an und Tad schwamm mit kräftigeren Zügen auf eine Baumgruppe am anderen Ufer zu, dem Ufer von Ohio. Es war noch gut eine Viertelmeile von ihm entfernt und 148
lief in einer ins Wasser ragenden Sandbank aus. Tad wusste, dass er und Khush es erreichen mussten. Er war unterkühlt und zunehmend erschöpft, doch zum Glück war Khush in der Nähe, an den er sich klammern konnte. Seine Augen auf die Bäume gerichtet, schwamm er auf diese zu. In einer Biegung der Sandbank hatte sich eine kleine Bucht gebildet, in der sich Äste und anderes Treibgut verfangen hatten. Unsagbar müde schleppte Tad sich den Kiesstrand hinauf, wobei er über jedes sich bietende Hindernis stolperte. Mit einem riesigen Platscher hievte auch Khush sich aus dem Wasser und folgte Tad ans Ufer. Dieses war nur etwa zehn oder fünfzehn Meter breit, aber die umstehenden Bäume und Büsche waren dicht genug, um sich dahinter verbergen zu können. Hier konnten sie sich während der Nacht ausruhen und den Fluss beobachten. Tad wusste, dass er eigentlich nach Parkersburg zurückgehen sollte um Cissie zu suchen. Aber sie waren jetzt am anderen Ufer des Flusses und er war dermaßen erschöpft, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Selbst Khush schleppte sich nur mühsam bis zu den Bäumen und ließ sich erschöpft zu Boden fallen, sobald Tad »Stop!« 149
gesagt hatte. Tad entledigte sich seiner nassen Kleidung, wrang sie aus und hängte sie zum Trocknen über einen Busch. Dann kroch er ganz nah an Khush und schmiegte sich an dessen warmen Körper. Der lange graue Rüssel streckte sich und legte sich um seine Schultern. Im ersten Moment dachte Tad, Khush wolle ihn wegschieben, doch das tat er nicht. Stattdessen begann er, die trockenen Blätter zusammenzuscharren, die unter dem Gebüsch lagen, und Tad damit zuzudecken, bis außer seinem Kopf nichts mehr zu sehen war. Tad war zu müde um sich lange darüber zu wundern. Unter der dicken Blätterschicht war es schön warm. Er fiel in einen tiefen Schlaf. Im dünnen Licht des Morgens wurde er von einem sanften Zupfen am Ohrläppchen geweckt. Als er langsam die Augen öffnete, starrte er zuerst verwundert auf das Ästegewirr über seinem Kopf und die kratzigen Blätter auf seiner nackten Haut. Der Rüssel, der ihn am Ohr gezupft hatte, klopfte ihm nun auffordernd auf die Schulter. Tad sprang auf. Als er noch schlaftrunken blinzelte, schob Khush ihn vorwärts, 150
wie eine Mutter ihr dummes Kind. Schau, dort! Tad blinzelte zweimal, war dann einigermaßen wach und sah genauer hin. Aus der Richtung von Parkersburg, allein auf dem weiten Fluss, kam das Flachboot geschwommen. Die Decken waren zum Trocknen aufgehängt worden und am Heck stand Cissie und kämpfte mit dem Ruder. Der Kahn war viel zu groß für sie. Er trieb steuerlos hin und her, manchmal im Zickzack und manchmal seitlich zur Strömung, aber Cissie kämpfte entschlossen, ihre Augen unentwegt auf den Fluss vor ihr gerichtet. Nackt wie er war, rannte Tad ans Ufer. Er winkte, sprang aufgeregt auf und ab und rief: »Cissie! Cissie, hier sind wir!« Sie erstarrte, ließ vor Schreck das Ruder fallen und konnte es gerade noch rechtzeitig wieder auffangen, bevor es ins Wasser fiel. Dann versuchte sie zu wenden, um das Boot aus der Strömung und in Richtung Ufer zu manövrieren. Tad sah, dass sie es nicht schaffen würde. Selbst er hatte immer große Mühe gehabt, das Boot abends ans Ufer zu 151
lenken. Es war verrückt von Cissie, es überhaupt zu versuchen. Aber schließlich war sie ja verrückt. Sie fuhr mutterseelenallein den Ohio hinunter, auf einem Kahn, den sie nicht unter Kontrolle hatte. Tad stürzte sich ins Wasser und schwamm auf das Boot zu. Nach wenigen Minuten hatte er sich an Bord gezogen, nass und glitschig wie ein Fisch. Er riss eine der herumhängenden Decken an sich, wickelte sich darin ein und rannte zu Cissie. »Komm, ich helfe dir!« Sie bewegte sich nicht. Sie starrte ihn nur offenen Mundes an. Tad vergeudete keine Zeit mit langen Reden. Er stemmte sich gegen das Ruder um den Kahn zu wenden. Dann steuerte er auf das Ufer zu. Kurz bevor sie es erreichten, warf er das Ruder herum, um das Boot an die flache Stelle der Sandbank zu staken. Als er das Boot sicher ans Ufer gelenkt hatte, drehte er sich strahlend zu Cissie um. Von der Anstrengung war sein Körper warm und lebendig geworden. »Wir haben es geschafft! Wir sind ihnen entwischt! Und wir sind wieder alle zusammen!« 152
Cissie gab ihm keine Antwort. Sie starrte ihn nur fassungslos an, ihre großen Augen weit aufgerissen und ihr Gesicht starr und ausdruckslos. »Cissie, alles ist in bester Ordnung!«, sagte Tad. Er hob den Kopf und rief in Richtung der Baumgruppe: »Komm her!« Gemächlich kam Khush aus dem Unterholz geschlendert. Rüsselschwenkend und quietschend kam er dann auf Cissie zu. Tad grinste zufrieden. »Na, siehst du? Wir sind alle in Sicherheit!« Cissie jedoch schien das Lachen vergangen zu sein. Ihre Lippen bebten. »Wie konntest du nur?« »Wie meinst du das?« Bestürzt wickelte sich Tad die Decke enger um seinen Körper. »Was habe ich angestellt?« »Wie konntest du ... wie konntest du mich glauben lassen ...« Doch sie konnte den Satz nicht zu Ende führen. Nach Luft ringend, verstummte sie. »Ich habe dich was glauben lassen?« Tad begriff nicht, warum sie keinen Freudentanz aufführte. Cissie ballte die Fäuste. »Du hast mich glauben lassen, 153
du wärst tot. Es war meine Schuld, dass du über Bord gingst und dann bist du einfach verschwunden. Als hätte ich nicht schon genug ...« »Aber ich wollte doch nicht...« »Ich dachte, ich hätte ... ich wäre auch an deinem Tod schuld!« »Auch?« Für einen Augenblick hingen die Worte zwischen ihnen in der Luft. Dann wandte sich Cissie abrupt ab und ging die Sandbank hinauf, auf die Bäume zu. Irgendwo im Staate Ohio 17. April Ich weiß gar nicht, wie ich dir beschreiben soll, was gestern passiert ist. Meine Hände zittern noch so sehr, dass es mir sogar schwer fällt das Blatt ruhig zu halten. Gestern wollte uns die Besatzung eines Bootes aus Parkersburg
am
Weiterfahren
hindern.
Bei
der
Auseinandersetzung mit ihnen wären wir fast gekentert. Tad und Khush gingen über Bord und verschwanden im Wasser und ich stand plötzlich ganz allein inmitten der vielen fremden Boote. 154
Es war nicht meine Schuld, Ketty, ich schwöre es! Aber du kannst dir vielleicht vorstellen, wie ich mich fühle. Einmal gerettet zu werden ist schon hart, aber Zweimal ... Ich war nahe daran, meine ganze Pläne aufzugeben. Ich hätte ohne weiteres in Parkersburg bleiben können. Drei Männer - die mich für einen nützlichen, zähen Burschen hielten - boten mir eine Arbeit an und vier großherzige Frauen versprachen mir Unterkunft und Logis, solange ich es wollte. Ich blieb auf dem Boot sitzen, bis es ganz dunkel war, wartete darauf, dass die armen, ertrunkenen Körper auftauchten und überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Liebe Ketty, hättest du mich auch ohne Khush aufgenommen? Wenn ich als mittelloses Waisenkind bei dir aufgetaucht wäre, hättest du dich meiner erbarmt? Bis zu jener verhängnisvollen Zugfahrt hätte ich mit der Antwort nicht gezögert. Aber jetzt ... Da ich mich weigerte, das Boot zu verlassen, haben die anderen mich ans Ufer abgeschleppt und mein Boot dort vertäut. Sie versprachen früh am nächsten Morgen wiederzukommen und die Suche fortzusetzen. Kurz vor Tagesanbruch bin ich heimlich davongefahren. 155
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich wusste, dass ich meine Freiheit behalten wollte. Die Strömung trug mich in die Flussmitte und in Richtung Westen. Nach wenigen Minuten kam ich zu der Sandbank, von der aus ich dir schreibe. Und stell dir vor: Hier warteten Tad und Khush auf mich! Trotz ihres Tauchbades hatten sie kein bisschen Schaden erlitten! Es hätte ein fröhliches Wiedersehen werden können. Nicht nur, dass wir alle drei überlebt hatten; nein, wir waren auch den Leuten von Parkersburg entkommen. Wären wir einfach geflohen, hätten sie uns sicher verfolgt. Aber so wie die Dinge nun stehen, müssen sie annehmen, Tad und Khush seien ertrunken, und das gibt uns die Chance, unsere Reise unbemerkt fortzusetzen. Aber meine Hände zittern und ich kann an nichts anderes denken als an den Zug, in dem Pa und Olivia umgekommen sind.
156
Eingehüllt in die Decke stand Tad lange da und starrte auf den Kahn. Dann schlenderte er langsam zu den Bäumen um seine Behelfskleidung auszuziehen. Cissie saß in der kleinen Flusssenke, in der er und Khush geschlafen hatten. Sie war über ein Stück Papier gebeugt und sah nicht auf, als Tad näher kam. Sie deckte das Papier nur mit der Hand ab und schrieb weiter. Tad
sammelte
seine
noch
immer
feuchten
Kleidungsstücke zusammen und ging hinter einen Baum um sich anzukleiden. Als er wiederkam, wandte er sich an Cissie. »Cissie.«
Sie nahm keine Notiz von ihm.
»Hm, Cissie?«
Äußerst widerwillig hob sie den Kopf und blickte ihn an.
»Ja?« »Was ...?« Was sollen wir jetzt machen? Das hatte er fragen wollen. Doch stattdessen sagte er nur: »Warum legst du dich nicht schlafen? Du bist bestimmt müde.« »Mach dir keine Sorgen. Ich fühle mich bestens.« Irritiert über ihren Ton, begann Khush zu knurren und Tad streckte die Hand aus, um ihm sein Hinterbein zu 157
tätscheln. Khush jedoch wich der Berührung aus und wackelte mit den Ohren. »Khush?« Tad vergaß Cissie für einen Moment. Er registrierte, dass Khush etwas unbeholfen dastand und sein Gewicht von dem Bein weg verlagerte, das Tad hatte berühren wollen. Plötzlich erinnerte sich Tad an Michael Keenans Worte. Er muss jeden Tag abgewaschen werden, denk daran. Sonst haben wir ein krankes, verwahrlostes Tier. Seit sie Pittsburgh verlassen hatten, hatte er keine Zeit mehr gehabt, zur Bürste zu greifen, außer um die Planken des Boots zu schrubben. Nach dem Bad im Fluss war Khush nun zwar sauber, aber die Innenseiten seiner Beine waren entzündet. Seine Füße mussten ebenfalls wund sein, denn er wich erneut als, als Tad sie inspizieren wollte. Bestimmt vom langen Herumstehen im feuchten, verdreckten Stroh! Cissie hatte sich wieder ihrem Blatt Papier zugewandt. Tad sah auf ihr gebeugtes Haupt. »Ich glaube ...« »Was?«, fragte sie geistesabwesend. »Wir sollten für einen Tag oder so hier bleiben. Khush braucht Zeit, damit seine Wunden verheilen.« 158
»Mach dich nicht lächerlich!« Cissie rollte ihre Zettel zusammen und stopfte sie in ihre Hosentasche. »Wir werden
garantiert
geschnappt,
wenn
wir
hier
herumlungern.« »Aber doch nicht, wenn wir im Schutz der Bäume bleiben.« »Wir müssen nach Nebraska. Und das schaffen wir nie, wenn wir uns nicht beeilen.« Ihre hohe Stimme klang entschlossen. Tad wollte schon klein beigeben, doch dann sah er, dass Khush leicht humpelte. Er musste sich etwas einfallen lassen. Nachdenklich betrachtete er das Flachboot. »Wenn wir heute hier bleiben, kann ich einen neuen Unterstand bauen, so ähnlich wie der von Mr. Nagel. Wenn die Leute Khush dann nicht mehr sehen, glauben sie vielleicht, er wäre letzte Nacht ertrunken.« Zugegeben, kein sehr großartiger Plan. Khush würde den neuen Unterstand vermutlich genauso schnell niederreißen wie den letzten. Aber zumindest würde er damit etwas Zeit schinden. Khush könnte dann einen Tag lang frei herumlaufen und hätte frische, trockene Luft um seine Beine. 159
Cissie überlegte. »Nun ja, vielleicht lohnt es sich«, sagte sie missmutig. »Gehen wir nachsehen, ob es hier in der Nähe ein paar passende Bäume gibt.« Sie schleppten das Flachboot die Sandbank hinauf und arbeiteten den ganzen Tag, ohne viele Worte zu verlieren. Den ganzen Vormittag waren sie damit beschäftigt, Bäume zu fällen und Äste abzuschlagen. Bei Dutzenden von Bäumen testete Tad ihre Länge und Biegsamkeit und Cissie seufzte ungeduldig. »Was machst du nur für ein Theater! Warum können wir nicht einfach anfangen?« »Es müssen die richtigen sein.« Allerdings besaß Tad offenbar nicht Mr. Nagels Erfahrung. Zwei der jungen Bäume, die sie gefällt hatten, waren zu kurz und ein anderer brach, als sie versuchten ihn in die richtige Form zu biegen. Gegen Mittag war Cissie sauer und schmollte. Sie nahm sich etwas Brot und ein paar getrocknete Apfelringe und setzte sich abseits. Und noch ehe auch Tad fertig gegessen hatte, war sie schon wieder auf dem Boot und machte Khush klar, dass er die Baumstämme an die Sandbank schleppen sollte. Die Arbeit dauerte den ganzen 160
Tag. Sie bogen die Stämme, genau wie Mr. Nagel es getan hatte, aber eine der Zeltplanen war im Wasser gelandet, als Tad und Khush bei Parkersburg über Bord gegangen waren. Tad ging ans Ufer um das Treibgut zu durchstöbern, das die Aprilflut angetrieben hatte. Er fand jedoch nur wenig von dem, was ihnen abhanden gekommen war. Nur einen Blechkrug und eine einzelne Flasche von Michael Keenans Elefantentinktur, deren milchiges Grün zwischen den angeschwemmten Zweigen und den schaumbedeckten Blättern glitzerte. Tad wischte das Fläschchen sauber, starrte es einen Moment lang an und steckte es dann in seine Tasche. Er spülte auch den Blechkrug aus und nahm ihn mit aufs Boot zurück. Die verloren gegangene Zeltplane ersetzte er durch mehrere zerfetzte Decken, die er an Ort und Stelle festnagelte. Als er schließlich den letzten Nagel einschlug, war es schon so dunkel, dass man kaum noch die Hand vor den Augen sah. Erschöpft ließ er den Hammer sinken und trat einen Schritt zurück. »Geschafft!« 161
»Endlich!«, sagte Cissie. »Und jetzt schnell wieder auf den Fluss!« »Jetzt?« Tad starrte sie entsetzt an. Er hatte sich auf eine kleine Stärkung und ein paar Stunden erholsamen Schlafs gefreut. »Natürlich jetzt«, antwortete Cissie ungeduldig. »Wir haben schließlich einen ganzen Tag verloren.« »Aber ...«, Tad schluckte. »Wir können nicht nachts aufbrechen!« »Red keinen Unsinn. Wir sind auch bei Nacht losgefahren.« »Aber das war, als wir durch Pittsburgh fuhren. Dort ist der Fluss ungefährlich, aber hier ...« Tad blickte auf den dunklen Ohio, der mit seinen unsichtbaren vorbeirauschte.
Geheimnissen Felsen
unter
flüsternd der
an
ihnen
Wasseroberfläche.
Sandbänke. Baumstämme unter Wasser. Dampfer, die ihr Boot nicht sehen würden. Kohlenschlepper. Wie konnte er es ihr nur begreiflich machen? »Es ist zu gefährlich.« »Gefahren lauern überall!«, sagte Cissie geringschätzig. »Wenn es Gottes Wille ist, dass wir nach Nebraska 162
kommen, dann kommen wir auch hin. Wenn nicht, hilft uns alle Feigheit der Welt nicht weiter.« »Aber ... wir haben doch fast nichts mehr zu essen. Kein Futter für Khush. Und geschlafen haben wir auch nicht.« Cissie ignorierte ihn einfach. Sie marschierte einfach los und seine Stimme verhallte im Wind. Als sie zurückkam, führte sie Khush mit sich und sie begann ihn herumzukommandieren, ohne Tad auch nur anzublicken. »Komm hierher, Khush! Hinter das Boot. Und jetzt – schieb!« Khush senkte den Kopf und lehnte sich mit seiner ganzen Kraft gegen den Kahn. Langsam glitt dieser ins Wasser. »Cissie!«, rief Tad. Nur Khush blickte hoch, was ihm einen Tadel von Cissie eintrug. »Schieben, habe ich gesagt!« Das Boot glitt über den feuchten Schlamm. »Cissie! Wirst du mir endlich zuhören!« »Schieb!« »Hör zu! Warum diese Eile? Kein Mensch sucht nach uns. Sie glauben, Khush sei ertrunken!« »Schieb!« Das Boot war schon halb im Wasser. Cissie gab Khush 163
zu verstehen, er solle stehen bleiben, und wandte sich dann an Tad. »Ich dachte, Mr. Jackson sei wild entschlossen, Khush in die Finger zu bekommen. Glaubst du, er gibt jetzt auf, nur weil er vielleicht erfährt, Khush sei ertrunken?« »Er ...« Tad fiel ein, was Mr. Jackson zu Mr. Nagel gesagt hatte. Ich habe das Tier rechtmäßig erworben und ich werde es mir zurückholen ... das Geset ist auf meiner Seite ... Er erinnerte sich noch ganz genau an den Tonfall seiner Stimme, an sein kaltes, drohendes Gesicht. Er schauderte. »Vielleicht hast du Recht.« »Natürlich habe ich Recht! Er wird herkommen um nach Khushs Kadaver zu suchen.« »Aber doch nicht heute Nacht!« »Du meinst also, wir sollen hier herumsitzen und auf ihn warten?« Verächtlich wandte Cissie sich ab und griff nach der Sichel. »Ich schneide etwas Futter für Khush!« Entschlossen, nicht nachzugeben, lief Tad ihr nach. Aber noch ehe er ein weiteres Wort gesagt hatte, begriff er, dass es sinnlos war. Wenn er dagegen wäre, würde Cissie einfach ohne ihn abfahren. Sie würde das Futter einladen, Khush an Bord führen, auf den Ohio hinausfahren und ihn 164
hier zurücklassen. Und sie würde ertrinken, weil sie für das schwere Ruder zu schwach war. Wütend begann er damit, das Gras zusammenzutragen, das sie geschnitten hatte, und es an Bord zu tragen. Aber er sagte kein Wort. Nicht in diesem Moment. Nicht, als Cissie Khush dazu überredete, an Bord in seinen neuen Unterstand zu gehen. Nicht, während er das Boot von der Sandbank weg und auf den Fluss lenkte. Er schwieg, bis sie in der Flussmitte waren und er das Ruder
herumgedreht
hatte,
sodass
sie
sich
nun
gegenüberstanden. Erst da murmelte er halblaut: »Ich begreife nicht, warum wir unbedingt noch heute Nacht losfahren mussten.« Cissie blickte von ihrem Lager inmitten des frisch geschnittenen Grases auf. »Ich muss nach Nebraska«, knurrte sie. »Ich brauche Ketty.« Sie wandte ihm den Rücken zu und starrte flussabwärts in die dunklen, mondlosen, ausgedehnten Flächen des schwarzen Himmels und schwarzen Wassers. Drei Tage lang reisten sie, den Staat Ohio zur Rechten und West Virginia und später Kentucky zur Linken. Aber die Staatsgrenzen waren ohne Bedeutung. Auch Tag und 165
Nacht waren ohne Bedeutung. Das Einzige, was wichtig war, war das dunkle, sich manchmal überschlagende, tückische Wasser. Tad versuchte sich auszuruhen, solange es hell war, denn irgendwann musste er es tun. Dann übergab er Cissie das Ruder, in der Hoffnung, dass sie es schaffen würde den Kahn auf Kurs zu halten und er ermahnte sie ihn beim ersten Anzeichen von Gefahr zu wecken. Aber er fand keinen Schlaf. Seine Sinne, sein Gehirn - sein ganzer Körper - standen unter
ständiger
Anspannung.
Beobachteten
das
aufgewühlte Wasser. Registrierten, welche Fahrrinne die anderen Boote befuhren. Mieden die Flussdampfer und anderen Gefährte, die ständig vorbeizogen. Warteten darauf, bis Khush ausbrechen würde. Bei jedem Signal eines anderen Bootes begann Khush mit den Füßen zu scharren und in seinem Tunnel von Decken zu rumoren. Cissie säuselte ihm den ganzen Tag lang zärtliche Worte ins Ohr und nachts, wenn sie schlief, übernahm Tad diese Aufgabe. Er lehnte an seinem Ruder, seine Augen tasteten die dunkle Wasseroberfläche ab und dabei erzählte er alles, was immer ihm gerade in den Sinn 166
kam. »... ein großes, weißes Haus, mit einer kühlen Veranda für die Mittagszeit, wenn es heiß ist. Und ein Garten, Khush. Kettys Garten. Hohe Bäume, in deren Schatten weiße Blumen blühen ...« Dieses Bild tanzte in der Dunkelheit vor seinen Augen. Geheimnisvolle, Strudel bildende Muster in Grün. Khush knurrte, während er geräuschvoll kaute und das Boot zum Schaukeln brachte. Es wurde zunehmend anstrengender, ihn in seinem Unterstand
ruhig
zu
halten,
was
natürlich
nicht
verwunderlich war. Gegen Ende des zweiten Tages roch es faulig und die Futtervorräte waren fast zu Ende. Von einem Halt wollte Cissie jedoch nichts hören. »Noch nicht! Erst wenn wir unterhalb von Cincinnati sind. Dann haben wir die Hälfte des Wegs zum Mississippi hinter uns gebracht und können nach einem Rastplatz Ausschau halten.« »Aber Khush kann nicht ...« »Es sind nur noch etwa achtzig Meilen. Es wird ihn schon nicht umbringen, wenn er einmal einen Tag fasten muss!« 167
»Aber ...« »Versuchst du etwa, mir Vorschriften zu machen?« So endeten alle ihre Gespräche. Tad verkniff sich die bissigen Bemerkungen, die ihm auf der Zunge lagen, und konzentrierte sich auf den Fluss, während er Khush aus den Augenwinkeln heraus beobachtete. Am dritten Tag begann es zu regnen. Vom frühen Morgen an fiel dichter Regen, der das Boot und alles, was sich darauf befand, durchnässte. Tad versuchte das Boot - so gut, wie die Umstände es erlaubten - sauber zu halten, während sie weiterfuhren. Aber der Platz, an dem Khush stand, war mit schmutzigem Stroh verkrustet. Stroh und Mist rutschten um ihre Füße, bis
in
die
Ecke,
in
der
sie
ihre
verbliebenen
Lebensmittelvorräte gelagert hatten. Cissie
kämpfte
bis
zum
Äußersten,
aber
gegen
Nachmittag wurde die Situation unerträglich. Alle drei froren, waren durchnässt und hungrig und Tad konnte sehen,
dass
Khush
unmittelbar
vor
einem
Ausbruchsversuch stand. Sie mussten ans Ufer. Möglichst rasch. Gegen Ende dieses Tages näherte sich ihnen von hinten 168
ein großer Kohlenschlepper. Cissie hatte sich auf einem Haufen nasser, kahler Äste zusammengerollt, ermattet vom Wasserschöpfen. Als Tad bemerkte, dass ihre Augen geschlossen waren, fasste er einen Entschluss. Er manövrierte sich so nahe an den Kohlenschlepper, der sie gerade überholte, wie er es wagen konnte. Als dessen Kielwasser seinen Kahn traf, drehte er ihn plötzlich nach Backbord und steuerte das Ufer von Kentucky an. Die hohe Welle des Kielwassers trieb ihn aus der Strömung in ruhigeres Gewässer. Mit größter Vorsicht um Cissie nicht aufzuwecken stakte Tad das Boot am Ufer entlang und auf eine kleine bewaldete Bucht zu. Wenn sie dort anlegen würden, könnten sie sich bis zum nächsten Morgen verstecken und sich endlich ausruhen. Cissie döste vor sich hin. Erst als sie die Bucht fast erreicht hatten, bemerkte sie, was Tad tat. Entsetzt sprang sie auf und entriss ihm das Ruder. »Du lässt uns auflaufen!« »Genau das war meine Absicht!« Tad riss ihr das Ruder wieder aus der Hand, stieß es erneut ins Wasser und setzte das Boot im Schlamm auf Grund. »Siehst du denn nicht, in welchem Zustand Khush ist?« 169
Als Khush die leichte Erschütterung beim Anlegen spürte, trompetete er laut und zerrte an seinen Fesseln. Sein Kopf tauchte unter den Decken auf der anderen Seite des Unterstands auf. »Schau ihn dir an!«, rief Tad. »Wenn er nicht bald festen Boden unter die Füße bekommt, dreht er durch.« Cissie wollte gerade zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, doch plötzlich blickte sie an Tad vorbei, die kleine Anhöhe hoch. Verwundert wandte Tad den Kopf. Zwei kleine Mädchen in braunen Kleidern und mit blauen Kittelschürzen waren aus dem Schutz der Bäume getreten. Schweigend standen sie da und betrachteten Khush. Das kleinere Mädchen öffnete als Erste den Mund, und ihre Stimme drang unerwartet schrill durch die Stille. »Hannah! Der Elefant ist hier!« Das andere Mädchen nickte bedächtig und kam langsam auf das Boot zu. »Wir haben euch erwartet«, sagte sie. »Willkommen an unserem Irdischen Aufenthaltsort.«
170
Eine Falle«, schrie Cissie entsetzt auf. »Du hast uns in eine Falle gelenkt!« Tad musterte die beiden Mädchen. Sie trugen seltsame, altmodische weiße Leinenhäubchen und schwere Schuhe mit Holzsohlen. »Wo sind wir?«, fragte er. »Man nennt es Eastcotes Anlegeplatz«, erklärte das Mädchen namens Hannah. »Aber für uns Fremdlinge heißt er Irdischer Aufenthaltsort.« »Ihr habt uns erwartet?« Aufgeregt erklärte ihm das kleinere Mädchen: »Alle hier am Fluss wissen, dass ihr kommt. Ein Mann und eine Frau aus Cincinnati kamen auf Pferden hier vorbei.« »Eliza! Du hättest besser geschwiegen!« Das größere Mädchen runzelte die Stirn. »Es war des Abrahams Begehr, es ihnen persönlich mitzuteilen.« Sie faltete die Hände und blickte wieder auf Tad und Cissie. »Wir werden euch zu ihm geleiten.« »Interessant!« Herausfordernd warf Cissie ihren kurz geschorenen Kopf in den Nacken. »Doch wer sagt euch, dass wir euren Abraham sehen wollen?« Die beiden Mädchen schienen entsetzt. Sie steckten die 171
Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. »Wir werden mit ihnen gehen müssen«, murmelte Tad. »Wenn wir uns jetzt heimlich aus dem Staube machen, schicken sie uns ein Boot hinterher.« Cissie bedachte ihn mit einem strafenden Blick. »Du hättest tun sollen, was ich befohlen habe. Wenn du nicht einfach an Land gegangen wärst ...« »Wenn ich nicht an Land gegangen wäre, wärst du in wenigen Stunden ertrunken«, erklärte Tad unbeeindruckt. »Khush war im Begriff, das Boot zu zertrampeln.« Cissies Unterkiefer fiel herab. Sie schwieg und trat einen Schritt zurück, damit Tad Khush losbinden und ihm die Fußfesseln abnehmen konnte. Kaum waren Khushs Beine frei, stürmte er auch schon vom Boot und stapfte steifbeinig ans Ufer. Die beiden fremden Mädchen bestaunten ihn andächtig, aber er nahm keine Notiz von ihnen. Sein ganzes Interesse galt dem hohen, frischen Gras und den zarten Sprösslingen an den Büschen. Tad ging ebenfalls von Bord. Als seine Füße festen Boden berührten, beugte sich Hannah herab um Eliza etwas zuzuflüstern, worauf diese schnell davonlief. 172
»Die Falle springt zu«, sagte Cissie sarkastisch. Doch dann kam auch sie vom Boot herunter und wartete etwa zwanzig Minuten lang nervös neben Khush, der sich mit Gras voll stopfte. Hannah sagte kein Wort. Sie wartete mit gefalteten Händen und gesenkten Augen, wobei sie jedoch immer wieder auf Khush schielte, der mit seinem langen Rüssel an den Büschen zupfte. Es war Cissie, die das Schweigen brach. »Wenn wir gehen müssen, dann gehen wir am besten gleich!« Sie gab Khush einen Klaps ans Bein. »Beweg dich, alter Junge! Wir müssen einen gewissen Abraham aufsuchen.« Mit Tad sprach sie kein Wort, als sie hinter Hannah den Weg
hinaufschritten.
Mindestens
eine
Meile
lang
schlängelte dieser sich durch Wälder und um kleine Hügel herum, doch Cissie würdigte die Landschaft keines Blickes. Tad jedoch blickte sich neugierig um zu begreifen, wo sie waren. Er sah, dass die Wälder gepflegt waren. In regelmäßigen Abständen waren gefällte Baumstämme sehr ordentlich aufgeschichtet. Die Bäume waren planmäßig gefällt worden, um jungem Unterholz Platz zum 173
Nachwachsen zu geben. Aber sie kamen an keinem einzigen Haus vorbei und es war auch nicht zu erkennen, wo die eine Farm aufhörte und die nächste begann. Das vor ihnen liegende Dorf blieb bis zum letzten Augenblick verborgen. Die letzte Biegung des Weges brachte sie um eine kleine Anhöhe herum und plötzlich standen sie vor einer Ansammlung von Häusern. Cissie blieb stehen, Khush neben ihr ebenfalls. »Das ist das komischste Dorf, das ich je gesehen habe!« Tad nickte. Er hatte höchstens ein paar Holzhäuschen erwartet, eventuell noch einen kleinen Laden. Was er jedoch sah, waren schöne, gepflegte zweistöckige Fachwerkhäuser, ausbreiteten.
die
sich
Mittelpunkt
in
der
einem
weiten
Ansiedlung
war
Tal ein
Kräutergarten, in ordentlichen, rechteckigen Beeten angelegt, und dahinter erkannte man zwei große Scheunen und eine Vielzahl kleiner, heckengesäumter Felder. Auf dem Weg, der zum Kräutergarten führte, standen in Zweierreihen Männer und Frauen in schlichten, dunklen Gewändern. Etwa fünfzig oder sechzig Leute, die mit gefalteten Händen reglos verharrten. Als Hannah mit den Neuankömmlingen näher kam, teilten sich die Reihen, 174
sodass ein schmaler Weg in die Mitte frei wurde. »Das ganze Dorf hat sich versammelt, um uns in Augenschein zu nehmen«, flüsterte Tad. »Nicht um uns in Augenschein zu nehmen«, zischte Cissie zurück, »sondern um uns gefangen zu nehmen.« Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Tad die gespenstische Vorstellung, nach Markle zurückversetzt zu sein. Auch dort war alles zusammengelaufen um den Elefanten zu sehen. Aber damals hatten Frohsinn und Ausgelassenheit geherrscht. Hier dagegen hörte man nur das Geräusch der eigenen Schritte auf den Holzbrettern zwischen den Beeten. Ganz am anderen Ende des Vierecks stand ein alter Mann, der sich mit beiden Händen auf einen Stock stützte. Infolge seines gebeugten Rückens war er nicht größer als Cissie, doch ihm wandten sich alle zu, als Khush auftauchte. Der alte Mann schritt langsam in die Mitte des Gartens und man spürte, dass seinen hellen Augen nichts entging. Er machte eine Kopfbewegung zu Tad und Cissie. »Guten Abend. Ich bin Francis Eastcote, der Abraham dieses Irdischen Aufenthaltsortes. Ich muss euch sagen, dass ihr 175
hier nicht willkommen seid. Wir haben viele Gebete zum Himmel geschickt, mit der Bitte, dass ihr nicht bei uns anlegen möget.« »Nun, wir sind auch nicht sehr gerne hier.« Hoch aufgerichtet stand Cissie vor ihm und blickte ihn mit flammenden Augen an. »Am besten, wir gehen gleich wieder!« Tad
hörte
das
missbilligende
Gemurmel
der
Umstehenden. Das Gesicht des alten Mannes jedoch blieb reglos. »Ihr könnt Gottes Hand nicht entkommen. Er hat seine Gründe gehabt euch hierher zu führen und wenn ihr versuchen solltet zu fliehen, werdet ihr gefangen genommen. Von hier bis nach Cincinnati hält der ganze Fluss Ausschau nach dem Elefanten.« Cissie ballte die Fäuste. »Mr. Jackson hat ganze Arbeit geleistet«, murmelte sie Tad zu. »Ich wusste, er würde nicht aufgeben!« Der alte Mann lächelte etwas gequält. »Ich glaube, aufzugeben liegt nicht in Mr. Jacksons Natur. Er kam hierher mit einer Urkunde, die beweist, dass der Elefant ihm gehört und er war ... sehr aufgebracht.« »Ich habe gleich gesagt, dass es so kommen würde!«, 176
zischte Cissie. »Er muss sofort den nächsten Zug genommen haben, als er von dem Vorfall in Parkersburg hörte.« Sie wandte sich an Mr. Eastcote. »Diese Urkunde ist gefälscht! Der Elefant gehört mir! Mein Vater hätte ihn niemals für diese lächerliche Summe verkauft. Fragen Sie Tad!« Mr. Eastcotes Augen wanderten zu Tad. Sie waren groß und zwingend und von einer seltsamen hellbraunen Farbe. »Du bist Tad?« Tad starrte betreten auf seine Hände. »Es hat keinen Sinn, Ihnen etwas erklären zu wollen«, sagte er langsam. »Wenn Sie Mr. Jacksons Geschichte gehört haben, werden Sie sich bereits Ihr Urteil gebildet haben. Sie werden uns nicht glauben, selbst wenn wir die Wahrheit sagen.« Cissie knurrte ungeduldig, aber Mr. Eastcotes Blick blieb fest. »Die Gesetze dieses Ortes sind dir nicht bekannt, junger Mann! Wir pflegen nicht unserem kümmerlichen menschlichen Verstand zu gehorchen. Wir nehmen alles zur Kenntnis, was geschieht, legen die Entscheidung darüber jedoch in die Hand Gottes. Er führt und leitet uns, so wie er unsere Väter an diesen Ort geleitet hat.« 177
»Halleluja«, murmelten die Umstehenden. »Halleluja«,
antwortete
Mr.
Eastcote
etwas
geistesabwesend. Er machte einen Schritt zurück und deutete auf das Gebäude hinter sich. »Noch heute Abend werden wir euch die Entscheidung Gottes mitteilen. Ihr könnt heute Nacht hier bleiben.« Cissies Augen verengten sich. »Woher sollen wir wissen, ob Sie nicht nach Mr. Jackson rufen, während wir schlafen?« Diese Frage rief bei den Umstehenden eine weitere Welle der Entrüstung hervor, aber das war Cissie gleichgültig. Herausfordernd blickte sie Mr. Eastcote an. Er erwiderte ihren Blick ungerührt, bis ein plötzliches Lächeln sein faltiges Gesicht überzog. »Wenn ich nach Mr. Jackson schicken wollte, könnte ich es ohne weiteres auch sofort tun.« »Und was werden Sie tun?«, fragte Cissie misstrauisch. »Wir werden euch anhören«, erwiderte Mr. Eastcote. »Ihr könnt den Elefanten in die alte Scheune bringen. Was benötigt ihr für ihn?« Tad ließ Cissie gar nicht erst zu Worte kommen. »Eine Unmenge Futter, falls Sie welches erübrigen können. Heu, 178
Wurzeln und Gras. Und Wasser. Und falls Sie Öl haben ...« »Einer der Brüder wird euch alles Nötige bringen.« Mr. Eastcote blickte Cissie eindringlich an. Dann winkte er die beiden Mädchen herbei, von denen sie unten am Ufer entdeckt worden waren. »Hannah. Eliza. Geleitet unseren Gast ins Kinderhaus. Ich werde ihr ein paar anständige Kleider bringen lassen.« Die beiden Mädchen tauschten verwunderte Blicke aus. Dann begriffen sie. Sie rissen die Münder auf und ein paar der anderen Mädchen kicherten verstohlen hinter der Hand. Cissies Gesicht verfärbte sich knallrot. »Ich möchte mich nicht umziehen. Mir gefällt meine Kleidung.« »Es ist hier nicht Brauch, dass Mädchen Hosen tragen«, erklärte Mr. Eastcote gelassen. »Unsere Schwestern kleiden sich sittsam, getreu dem Wort Gottes.« Er gab Hannah und Eliza ein weiteres Zeichen und sie nahmen Cissies Arme und führten sie zu dem großen Gebäude zur Linken. Khush machte Anstalten ihr zu folgen. »Nein, Khush!« Tad legte eine Hand an seine Flanke. »Bleib hier!« Er fühlte, wie Khushs Rüssel sich um seine 179
Schulter legte und er legte die Wange gegen die grauen Falten. »Eli wird dir die Scheune zeigen«, sagte Mr. Eastcote. Ein anderer alter Mann trat aus der Reihe der Umstehenden und Tad folgte ihm langsam in den Schatten der großen Holzscheune. Es bedurfte keiner Kommandos. Khush folgte ihm ungefragt, den Rüssel noch immer sachte um Tads Nacken gelegt. Eastcote’s Landing (alias Irdischer Aufenthaltsort) 20. April Zur Zeit sind wir nicht mehr auf dem Fluss, sondern an dem seltsamsten Ort, an dem ich je war. Du kannst dir nicht vorstellen, wie merkwürdig hier alles ist, liebe Ketty. Wir sind unter die Fremdlinge geraten. Sie gehören einer Sekte an, die - soweit ich das bisher beurteilen kann getreu dem Prinzip lebt, dass Gott uns auf die Erde geschickt hat, damit wir uns in Sanftmut üben und in grobe Wollstoffe hüllen. Alle Erwachsenen - Männer wie Frauen - gehorchen 180
blindlings einem verschrumpelten alten Mann, der wie ein Affe aussieht und den sie ihren »Abraham« nennen. (Allerdings behandeln sie ihn eher, als sei er noch weitaus bedeutender.) Der göttliche Vorfahre dieses Alten scheint vor mehreren hundert Jahren eine Bande von Dieben um sich geschart, sie zu hausgestrickter Rechtschaffenheit bekehrt und aus dem alten England in dieses gepriesene Tal in Kentucky geführt zu haben. Er versprach ihnen Reichtum und Freiheit, was sie - wie ihre Nachkommen glauben - nun in vollem Ausmaß genießen. Dass dem so sein kann, wo sie doch in Holzhütten leben und bedingungslos gehorchen müssen, übersteigt meinen Horizont. Die höchste Weisheit dieser affenähnlichen Kreaturen besteht darin, dass Stolz, Gier und Diebstahl - und alle anderen Sünden - vom Privateigentum herrühren. Folglich gehört alles bei den Fremdlingen der Gemeinschaft; jeder arbeitet für das Allgemeinwohl und alle ihre Taten stehen in jeder Hinsicht unter der direkten Führung Gottes. So haben es mir zumindest die beiden Mädchen geschildert, die zu meinen persönlichen Kammerzofen ernannt wurden. 181
In meinem Fall lautet der direkte Befehl Gottes, dass ich keine Hosen tragen darf. Aus diesem Grund musste ich meine Jungenkleidung ablegen und eine Schwester der Fremdlinge werden, gekleidet in ein braunes Gewand und mit einer Leinenhaube auf dem Kopf. Ich fühle bereits eine erstaunliche Sanftheit in mir erwachen und einen unwiderstehlichen Zwang meine Stimme zu senken und meine Augen niederzuschlagen. Morgen muss ich um mein Recht kämpfen, zu dir Weiterreisen zu dürfen, anstatt dem nicht bekehrten Dieb übergeben zu werden, der uns seit Pittsburgh verfolgt um das, was er als sein rechtmäßiges Eigentum deklariert, zurückzubekommen. Ich werde bis zum Äußersten kämpfen, keine Angst! Nichts liegt mir ferner, als länger als nötig an diesem Ort zu bleiben, an dem ständig von Sünde, Schuld und Vergeltung die Rede ist. Ich möchte zu dir kommen natürlich mit Khush - und einen ganz neuen Anfang machen.
182
Als Tad Cissie das nächste Mal sah, erkannte er sie zunächst nicht wieder. Mit vier anderen Mädchen kam sie zum Abendessen, genau wie diese mit einem schlichten, schweren Gewand und einer dunkelblauen Kittelschürze bekleidet. Die Sohlen ihrer Holzpantoffeln klapperten, als sie mit ihren Begleiterinnen durch den Raum an den Kindertisch schritt. Mit der Kleidung der Fremdlinge schien sie zugleich auch ein anderes Verhalten angenommen zu haben. Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie Hannah und Eliza etwas zuflüsterte. Ihr kurz geschorenes Haar war unter einer weißen Leinenhaube verborgen, deren Schatten über ihr Gesicht fiel. Tad fühlte sich sehr allein und unwohl, als er sich neben zwei kleine Jungen setzte. Er hatte sich vor dem Essen zwar gewaschen, aber seine Kleidung - die Einzige, die er besaß - hatte Flecken, die von Schmutzwasser, Öl und natürlich auch von Khush herrührten. Er wollte sich für seinen Zustand entschuldigen, aber irgendwie schaffte er es nicht. Das Mahl wurde schweigend eingenommen. Selbst die Jungen, die bei Tad am Tisch saßen, sagten kein Wort, 183
sondern blickten ihn immer nur neugierig an. Er spürte, dass sie ihm gerne tausend Fragen über Khush gestellt hätten, aber keiner machte den Mund auf. Tad hatte seinen Bohneneintopf und das Brot kaum aufgegessen, als Mr. Eastcote sich erhob und zu dem Kindertisch hinübernickte. Das war offenbar ein Signal. Die Kinder der Fremdlinge sprangen auf und begannen, die Teller und Schüsseln abzuräumen. Cissie wollte mithelfen, aber Mr. Eastcote hielt sie mit einer Handbewegung davon ab. »Du nicht, Schwester. Du musst bleiben, um unserer Versammlung beizuwohnen.« Ein erwartungsvolles Rascheln war im Raum zu hören. Zuerst dachte Tad, die Fremdlinge wollten hören, was er und Cissie zu sagen hätten, aber niemand beachtete sie. Die allgemeine Spannung galt der Versammlung. Sobald das Geschirr am anderen Ende des Raums aufgestapelt worden war, gingen die Kinder leise hinaus. Die Türen wurden geschlossen und die Fremdlinge trugen ihre Stühle in die Mitte, wo sie einen großen Kreis bildeten. Mr. Eastcote setzte sich als Erster, genau gegenüber der Tür. Er wartete, bis alle Platz genommen hatten, und gab 184
dann Tad und Cissie ein Zeichen. »Ihr dürft nun sprechen. Und
seid
versichert,
dass
wir
euch
mit
aller
Aufmerksamkeit zuhören werden.« Mehr als hundert Augen ruhten auf Tad, als er durch den Kreis schritt und sich neben Mr. Eastcotes Stuhl stellte. Cissie kam von der Gegenseite, wobei sie mit ungewohnt kleinen Schritten ging. Mr. Eastcote erhob sich und sofort war es im Raum mucksmäuschenstill. »Brüder und Schwestern«, begann er. »Wir sind Gottes Versammlung und weilen nur als Fremdlinge und Pilger auf dieser Erde. Mögen wir mit Seinen Ohren hören und Seinem Willen Ausdruck verleihen.« Die Fremdlinge antworteten im Chor: »Möge Er dir die Weisheit verleihen, Seinen Willen zu verstehen, o Abraham.« Vermutlich sagten sie das immer, aber es war keine mechanische Antwort. Ein jeder sprach mit einem besonderen, inbrünstigen Eifer und die Spannung im Raum war förmlich zu spüren. Mr. Eastcote setzte sich wieder. »Beginnt!« Die vibrierende Atmosphäre lastete auf Tad, der kaum zu 185
atmen wagte. Unter äußerster Anstrengung brachte er gerade ein Wort heraus. »Cissie ...« Cissie war bereit. Sie hielt den Kopf zwar gesenkt, aber ihre Worte kamen klar und bestimmt unter der weißen Haube hervor. »Ihr glaubt, wir seien Diebe. Aber das stimmt nicht. Tad und ich haben zwar beide Vater und Mutter verloren, aber unsere verstorbenen Eltern haben uns immer zu größter Aufrichtigkeit erzogen.« Ihre Worte fielen in die Stille wie Felsbrocken auf einen ruhigen See. Niemand bewegte sich, aber Tad spürte, wie die kleinen Wellen sich im Raum ausbreiteten. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, aber er war gespannt, was sie wohl als Nächstes sagen würde. Sie blickte kurz auf, richtete ihren Blick jedoch gleich darauf wieder zu Boden. »Es passiert leider nur allzu leicht, dass Dinge in einem falschen Licht erscheinen. Und wenn jemand erst als Dieb gebrandmarkt ist, hört niemand ihm mehr vorurteilslos zu.« Mr. Eastcote bedachte sie mit einem durchdringenden Blick. »Man hört euch hier vorurteilslos zu«, sagte er mit einer Spur von Verärgerung in der Stimme. »Ihr müsst nur die Wahrheit sagen.« 186
Cissie richtete sich auf und sagte dann etwas lebhafter: »Khush - der Elefant - gehörte meinem Vater. Mein Vater, meine Schwester und ich bereisten die Ostküste und führten den Elefanten vor. Davon lebten wir, bis ...«, sie ballte die Fäuste, doch ihre Stimme zitterte nicht, »... bis Pa
und
Olivia
vor
wenigen
Tagen
bei
dem
Eisenbahnunglück kurz vor Pittsburgh getötet wurden. Dank der Gnade Gottes ...«, ihre Fäuste lockerten sich und sie rang die Hände, bis sie sich rot und weiß verfärbt hatten. Aber sie fuhr fort. »... wurde ich aus dem Fenster geschleudert und habe überlebt. Aber mit Pa ist auch sein ganzes Geld verbrannt. Mir ist nichts geblieben als Khush. Und dann tauchte dieser Mr. Jackson auf ...« Dieses Mal geriet sie ins Stocken. Ihre Stimme versagte, und sie blickte betreten zu Boden und holte tief Luft. Eine der Schwestern half ihr weiter. »Du wusstest nicht, dass dein Vater den Elefanten verkauft hat?« »Er hat ihn nicht verkauft!« Cissie warf den Kopf zurück, so heftig, dass die Leinenhaube verrutschte. Ihr Gesicht stand in Flammen. »Mr. Jacksons Kaufvertrag ist gefälscht! Pa hätte keinen Grund gehabt, Khush für ... für fast nichts herzugeben. Und außerdem schrieb er nie mit 187
schwarzer Tinte!« Für einen kurzen unangenehmen Moment fiel Tad ein, dass sie den Vertrag nie gesehen hatte. Doch dann wurde er, wie alle anderen im Saal, wieder von Cissies Eifer in den Bann gezogen. Wie fast alle anderen. Mr. Eastcotes Gesichtsausdruck blieb unbewegt. »Vielleicht ist das die Wahrheit«, sagte er trocken. »Aber wir haben nur dein Wort gegen das von Mr. Jackson.« »Fragen Sie Tad!« Alle Augen wanderten zu Tad, der verlegen schluckte und errötete. »Ich weiß nicht viel darüber«, murmelte er schüchtern. »Nur dass Mr. Jackson zuvor schon einmal fünfhundert Dollar geboten hatte und dass Mr. Keenan sagte, das wäre eine Beleidigung. Und ... und ...«Der Rest des Satzes schoss plötzlich wie ein Wasserfall aus ihm hervor. »Es kommt mir sehr seltsam vor, dass Mr. Keenan sich zu seinen Lebzeiten stets geweigert hat, den Elefanten zu verkaufen, und kaum ist er tot, kommt jemand mit einem Papier daher, auf dem steht, dass er es doch getan haben soll ...« Einige der Fremdlinge nickten und blickten einander 188
zustimmend an, doch Mr. Eastcotes Gesichtsausdruck blieb hart. »Seltsam, aber nicht illegal«, sagte er. »Mit diesem Vertrag hat Mr. Jackson das Recht auf seiner Seite, es sei denn, es kann bewiesen werden, dass er gefälscht ist. Er ist ein Mann, der jede Waffe einsetzt, die er besitzt, und wir Fremdlinge sollten uns vor Streitigkeiten um Besitztümer hüten. Gerade weil wir keine Schätze für uns selbst anhäufen wollen, verdächtigen uns die Leute, die ihrigen stehlen zu wollen.« Cissie verschränkte ihre Arme und starrte störrisch in den Raum. »Ihr werdet mir meinen einzigen Schatz stehlen, wenn ihr Mr. Jackson meinen Khush gebt.« »Was sagt dein Freund dazu?« Mr. Eastcotes Augen hefteten sich plötzlich auf Tad und alle anderen Augen im Raum taten desgleichen. Er fühlte sich von allen Seiten von Blicken durchbohrt. »Ich glaube ... mir scheint, der Elefant müsste Miss Cissie gehören«, stammelte er. »Aber?« Die hellbraunen Augen durchdrangen ihn. Tad trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, und er spürte, dass auch Cissie ihn anblickte, aber er musste Mr. 189
Eastcotes Blick standhalten. Ein lähmender Blick. Plötzlich musste er an Khush denken. So intensiv, dass er mit einem Mal das Gefühl hatte, der Elefant wäre mitten unter ihnen. »Irgendwie begreife ich es nicht«, sagte er langsam. »Wie kann ein Elefant wie Khush jemandem gehören? Niemand von uns wäre in der Lage ihn aufzuhalten, wenn er plötzlich ausreißen würde. Cissie und ich könnten ihn nicht gegen seinen Willen gefangen halten. Während wir den Fluss herabfuhren, hätte er sich tausendmal aus dem Staub machen können. Aber er ... er ...« Tad suchte nach Worten. Und plötzlich hörte er sich Worte sagen, die er nie zuvor gedacht hatte. »Er reist zwar mit uns, aber er gehört nur sich selbst.« Als er den Klang seiner eigenen Stimme hörte, errötete Tad vor Verlegenheit bis zu den Haarwurzeln. Wie konnte ein Tier sich selbst gehören? Lächerlich! Doch Cissie griff diesen Gedanken begeistert auf. »Das ist die Lösung unseres Problems! Soll Khush doch entscheiden! Ich gehe auf das Boot, ohne ihm ein Kommando zu geben. Folgt er mir freiwillig, gehört er mir.
Wenn
nicht,
können 190
Sie
Mr.
Jackson
benachrichtigen.« Es folgte ein langes Schweigen, währenddessen die Fremdlinge nur leise in Gruppen miteinander flüsterten. Dann erhob sich Mr. Eastcote. »Brüder und Schwestern, legen wir die Entscheidung in die Hände Gottes. Bemühen wir
uns
gewissenhaft
darum,
Seinen
Willen
zu
erforschen!« Er erhob sich und schritt in die Mitte des Saales, während die anderen Fremdlinge ebenfalls aufstanden und einen Ring um ihn bildeten. Sie verschlangen die Arme und schlossen die Augen. Einen Augenblick lang waren sie völlig ruhig. Doch dann, als Tad und Cissie sich gerade verwunderte Blicke zuwarfen und sich fragten, was nun passieren würde, begann das Summen. Anfangs war es ein ruhiges, hohes Summen, das in einem einzigen, ungebrochenen Ton aus dem Kreis drang. Allmählich aber bekam es einen pochenden Rhythmus, pulsierte lauter und weicher, genau im Takt zum menschlichen Herzen. Und der Kreis begann sich in diesem Takt zu bewegen. Mindestens zehn Minuten lang schwangen sich die Menschen hin und her. Dann steigerte sich der Rhythmus 191
und der Kreis begann sich in langsamen Seitenschritten zu drehen. Die Schritte wurden schneller. Und schneller und schneller. Das Summen und die Schritte steigerten sich gemeinsam bis zu einem unerbittlichen, unnachgiebigen Crescendo. Nur Mr. Eastcote, als Zentrum des Kreises, blieb unbeweglich. Um ihn herum bewegte sich der Kreis unglaublich
schnell
und
Alt
und
Jung
wirbelten
durcheinander, bis Tad schließlich glaubte, dass sie kurz davorstehen müssten ihr Gleichgewicht zu verlieren und im wilden Durcheinander auf den Fußboden zu stürzen. Er und Cissie wichen zurück bis zu den Tischen und starrten fasziniert und offenen Mundes auf das Schauspiel, das sich ihnen bot. Dann brach die Kette auseinander. Die Menschen lösten sich voneinander und drehten sich einzeln weiter oder sie fielen auf ihre Knie und begruben ihr Gesicht in den Händen. Und noch immer dröhnte das Summen weiter, übertönte alle anderen Geräusche und machte jedes klare Denken unmöglich. Zumindest kam es Tad so vor. Doch dann, inmitten des 192
Summens,
hörte
er
Worte.
Zuerst
waren
sie
unverständlich, aber sie wurden immer und immer wieder gesprochen,
aus
verschiedenen
Richtungen,
und
allmählich konnte er sie verstehen. »Lasst den Elefanten entscheiden.« Diese Worte wiederholten sich, bis sie in ihrem eigenen Rhythmus hämmerten und übertönten allmählich das Summen. »Lasst den Elefanten entscheiden.« Cissie blickte zu Tad, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. Die Worte und das Summen prallten aufeinander, bis schließlich
der
ganze
Saal
vom
Rhythmus
und
Gegenrhythmus widerhallte. Einer nach dem anderen fielen die erschöpften Fremdlinge auf die Knie. Dann, ganz allmählich, lösten die Worte sich wieder in Summen auf und das Summen schrumpfte nach und nach zu einem immer dünner werdenden Ton. Irgendwann schließlich erstarb es ganz, bis nichts mehr zu hören war außer dem schweren Atem Dutzender von Menschen, die im ganzen Raum verstreut auf dem Boden knieten. Die nächsten zehn oder fünfzehn Minuten rührte sich 193
niemand. Dann ging Mr. Eastcote wieder zu seinem Stuhl zurück. Er setzte sich, faltete die Hände, und die anderen Fremdlinge folgten ihm nach und nach, einzeln oder zu zweit. Es sollte aber noch eine weitere halbe Stunde dauern, ehe sich der Letzte vom Boden erhoben hatte. Als schließlich alle wieder im Kreis saßen, wanderte Mr. Eastcotes Blick über die Runde. »Brüder und Schwestern, wir haben den Willen des Herrn gehört.« »Wir preisen Ihn für Seinen Rat!«, erwiderten die Fremdlinge im Chor. Alle lächelten. Triumphierend. Tad blickte von einem zum anderen, gefangen von ihren strahlenden Gesichtern, Cissie jedoch brannte darauf zu sprechen. Sobald wieder völlige Ruhe herrschte, machte sie triumphierend einen Schritt nach vorne. »Gebt mir meine Kleider, und wir werden gehen. Dann ist euer Problem gelöst.« Zu einfach, dachte Tad und blickte prüfend in Mr. Eastcotes Gesicht. Die hellbraunen Augen blickten durchdringend. »Würdet ihr jetzt gehen, gerieten wir in noch größere Schwierigkeiten«, erklärte er. »Gleich im nächsten Ort würde man euch anhalten. Denkt daran, dass ihr einen hartnäckigen Gegner habt. Er wird es euch 194
heimzahlen, und den Fremdlingen desgleichen!« »Aber ich dachte, ihr hättet beschlossen ...« »Das haben wir auch.« Mr. Eastcote war sehr gelassen. »Die Brüder und Schwestern haben den Willen Gottes erkundet. Aber es steht dem Abraham dieser Gemeinde zu, zu entscheiden, wie Sein Wille in die Tat umgesetzt wird.« »Aber ...« »Setz dich, Schwester, und höre mir zu.« Tad packte Cissie am Arm und zog sie zu einem Stuhl. Mr. Eastcote faltete erneut die Hände. »Gott wird uns eingeben, auf welchem Weg ihr am besten weiterkommt«, sagte er mit schwerer Stimme. »Ihr müsst auf einem Boot reisen, auf dem ihr euch sicher verstecken könnt. Und wir brauchen ein Boot mit einem Kapitän, dem wir vertrauen können.« Im ganzen Raum wurde ein einziges Wort geflüstert. »Jedediah.« Das war alles. Aber die Brüder und Schwestern saßen plötzlich aufrechter, und Mr. Eastcote nickte. »Vielleicht.« Er blickte auf Cissie und Tad. »Wartet noch ein paar Tage. Wir werden euch verstecken. Dann, wenn alles gut geht, sorgen wir dafür, dass ihr stromabwärts fahren könnt. Bis 195
nach Cairo, wenn ihr wollt.« »Und Khush?«, fragte Cissie besorgt. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Mr. Eastcote, und einige der Fremdlinge warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Doch nur Tad hatte es bemerkt, denn Cissie war viel zu sehr auf ihre nächste Frage konzentriert »Wird Khush auf diesem Boot, von dem Sie sprechen, mitfahren können?« Mr. Eastcote hob den Kopf und blickte sie viel sagend an. »Wenn der Elefant mit euch kommen möchte, wird auch für ihn Platz sein.«
196
Eine Woche warteten sie in Eastcote’s Landing, ohne zu wissen, worauf. Cissie verbrachte die meiste Zeit in der Waschküche, rührte in riesigen Kupferkesseln mit kochendem Wasser oder hängte auf dem Speicher Tücher an lange Wäscheleinen. Tad sah Cissie nur bei den Mahlzeiten, wenn sie zwischen Hannah und Eliza im Gänsemarsch hereinkam. Sie saß zwar in seiner Nähe, mit ihrer weißen Haube und nach Seife riechend, aber er hatte nie die Gelegenheit mit ihr zu sprechen. Tad war meist in der alten Scheune beschäftigt. Er schleppte Futter und Wasser für Khush heran, schrubbte ihn und ölte seine Haut ein. Vor allem aber sorgte er dafür, dass Khush in der Scheune blieb, vor den Augen der Besucher verborgen. Es gab ständig Besucher in Eastcote’s Landing. Regelmäßig vorbeifahrende Bootsleute kamen zum Essen, Nachbarn bestellten lederne Pferdegeschirre oder die zarten, bestickten Babysachen, welche die Schwestern herstellten. Auch Passagiere von Flussdampfern, die neugierig darauf waren zu sehen, wie die Fremdlinge lebten, kamen gelegentlich vorbei. Immer, wenn Besucher 197
da waren, saß Tad in der Scheune und musste dafür sorgen, dass Khush ruhig blieb. »Jetzt dauert es nicht mehr lange. Wenn wir erst in Nebraska sind, hast du die ganze endlose Prärie nur für dich. Und Ketty wird dort sein ...« Während er so in der düsteren Scheune saß, umgeben von süßem, staubigem Heu, träumte er von Kettys Sommergarten. Von Bäumen, deren Zweige sich über weißen Lilien ausstreckten, vom schweren Duft ineinander verschlungener Gesprenkel
Rosen von
und
dem
mindestens
unregelmäßigen hundert
grünen
Schattenbildern ... Er zog das Fläschchen mit der Tinktur aus der Tasche und hielt es ins Licht. Die Flüssigkeit funkelte geheimnisvoll, ließ Dinge erahnen, die weit außerhalb seiner Vorstellungswelt lagen. Selbst wenn Khush den Kopf senkte und ruhig vor sich hin fraß, leierte Tads Stimme wie von selbst weiter, während er in die Tiefen der unregelmäßigen grünen Schatten starrte. Am siebten Tag kam der Kohlenschlepper. Gleich nach dem Aufwachen, als Tad aus der Scheune trat, spürte er, dass etwas Außergewöhnliches in der Luft 198
lag. Es war zwar nicht lauter als sonst, aber überall an den Fenstern zeigten sich Gesichter und einige der Schwestern überquerten den zentralen Platz noch vor Mittag ein gutes Dutzend Mal. Der Tag neigte sich schon seinem Ende zu, als die jungen Männer ankamen. Sie kamen vom Ufer her, gerade als das Abendessen fertig war. Groß gewachsene, braunhäutige Männer, deren Äußeres sich nicht von dem der anderen Besatzungen eines Kohlenschleppers unterschied, die sich jedoch mit dem ruhigen Gleichmut der Fremdlinge bewegten. Tad stand unter dem Scheunentor und beobachtete ihr Eintreffen. Jeder wurde von jemandem empfangen und Tad sah die Ähnlichkeiten in den Gesichtern. Mutter und Sohn. Vater und Sohn. Schwester und Bruder. Aber er war überrascht, als Mr. Eastcote ihn heranwinkte und ihm einen der Neuankömmlinge vorstellte. »Das ist der Mann, auf den ihr warten musstet, Tad. Mein Sohn Jedediah.« »Guten Tag«, sagte Jedediah. Nicht die geringste Ähnlichkeit. Jedediah war sehr groß und kräftig gebaut, sein Haar mindestens so schwarz wie 199
Mr. Eastcotes Haar weiß. Nur in seinen Augen lag etwas von derselben Ausstrahlung. »Nicht alle jungen Männer entscheiden sich dafür, an unserem Irdischen Aufenthaltsort zu bleiben«, erklärte Mr. Eastcote ruhig. »In ihrem Herzen bleiben jedoch auch sie Fremdlinge. Ich habe Jedediah gebeten euch zu helfen.« Ernst blickte Jedediah zu Tad herunter. »Ich habe gehört, du hast eine ungewöhnliche Fracht zu verschiffen. Kann ich sie sehen?« Sie wandten sich zur alten Scheune. Mit einem kurzen Blick versammelte Jedediah seine Mannschaft um sich. Bis Tad den schweren Holzbalken des Scheunentors zurückgeschoben hatte, standen schon alle Männer hinter ihm. Er öffnete das Tor. Im ersten Moment waren im Inneren der Scheune nur verschwommene Schatten zu erkennen. Doch dann, als ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sahen sie, wie Khush den Kopf hob. »Wir preisen Ihn für seine wundersamen Werke«, sagte Jedediah mit sanfter Stimme. Mit einem Lächeln erstaunten Entzückens starrte er auf Khush wie ein Kind, dem ein lang ersehnter Traum in Erfüllung geht. 200
Dann, unter lautem Klappern ihrer Holzsohlen, kam Cissie aus der Wäscherei gerannt. Sie rannte geradewegs auf Jedediah zu. »Oh, Sie sind es! Hannah hat es mir gesagt! Nehmen Sie uns bis Cairo mit?« Jedediah blickte lächelnd in ihre großen Augen und auf ihr schmales Gesicht herab, das von der Leinenhaube halb verdeckt wurde. »Du siehst aus, als wärst du hier zu Hause, Schwester. Was treibt dich an einen Ort wie Cairo?« »Ich
muss
in
den
Westen«,
erklärte
Cissie
hocherhobenen Hauptes. »Mit meinem Elefanten.« »Deinem Elefanten?«, erwiderte Jedediah mit einem freundlichen, aber zugleich auch spöttischen Lächeln. »Kann eine kleine Schwester wie du ein so großes Tier wie dieses besitzen?« Cissie gab ihm keine direkte Antwort. Sie ging nur in die Scheune hinein, bis sie direkt vor Khush stand. Dann sagte sie ohne jegliche Erklärung: »Aber das Faszinierendste über Khush habe ich Ihnen noch gar nicht verraten ...« Es war Michael Keenans Stimme, nur eine Oktave höher. Derselbe
geschwollene,
dramatische
Schaustellers. Wann hatte er ...? 201
Ton
des
Tads Gedächtnis arbeitete nicht schnell genug. Genau wie alle Umstehenden rang er nach Luft, als Khush seinen Rüssel ausstreckte, Cissie packte und hoch in die Luft hob. Doch dieses Mal musste sie weder Krücken fallen lassen noch
sich
ohnmächtig
stellen.
Sie
blickte
nur
triumphierend in die Runde und schlug, in dem plötzlichen Durcheinander von weißen Rüschen und scharlachroten Bändern, mit den Beinen. »Es ist mein Elefant! Und wenn ich weggehe, wird er mir folgen!« Die Mannschaft lachte, doch Jedediah blickte fragend zu seinem Vater. »Gottes Wille wird sich kundtun«, sagte Mr. Eastcote überzeugt. »Wir warten in festem Vertrauen ab.« Unmittelbar nach dem Abendessen gingen die Brüder der Fremdlinge mit Jedediahs Mannschaft zur Bucht hinunter. Niemand verriet Tad und Cissie, was sie dort vorhatten. Ihnen wurde lediglich gesagt, sie sollten ihre Sachen zusammenpacken. »Und danach geht schlafen«, sagte Mr. Eastcote. »Ich werde euch wecken, wenn wir bereit sind.« Sie schnürten die Dinge zusammen, die noch auf ihrem 202
Flachboot waren, und stapelten sie in der Scheune auf. Danach machten sie sich auf Futtersuche für Khush. Die Schwestern der Fremdlinge gaben ihnen Brot und Schinken,
sogar
Cissies
alte
Jungenkleidung,
die
gewaschen und geflickt worden war. Sie lachten, als Cissie ihnen Geld anbot. »Du hast bereits bezahlt«, sagte eine von ihnen. Sie griff nach Cissies Hand und fuhr mit ihrem Finger über die vom vielen Waschen runzelig gewordenen Fingerspitzen. »Das hat uns gereicht.« Als Mr. Eastcote wiederkam, hatten sie bereits alles zusammengepackt. Er stieß das Scheunentor auf und stand mit hoch gehaltener Laterne draußen in der Dunkelheit. Cissie hob zwei der zusammengeschnürten Bündel hoch um sie über Khushs Hals zu werfen. »Nein.« Abwehrend hob Mr. Eastcote die Hand. »Ihm steht die Möglichkeit offen, nicht mit euch zu gehen. Ihr müsst euer Gepäck schon selbst tragen.« Mit einem Schulterzucken schwang Cissie die Bündel um die Schultern und wartete darauf, bis auch Tad so viel zusammengerafft hatte, wie er tragen konnte. »Ich gehe jetzt«, sagte sie ohne Khush anzublicken. 203
Das war keines der üblichen Kommandos, aber Tad sah, dass Khush begriffen hatte. Er hob den Kopf, blickte von Tad zu Cissie und dann auf die restlichen Bündel. Als sie schweigend aus der Scheune gingen, folgte ihnen Khush. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen blickte Cissie auf Mr. Eastcote, aber Tad befürchtete, dass es nicht so einfach werden würde. Irgendeine Art von Test würde bestimmt noch folgen. Sie gingen nicht den Pfad zu der Bucht, an der sie damals angelegt hatten, sondern etwas weiter stromabwärts, wo die Landungsbrücke der Fremdlinge lag. Der Kohlenschlepperverband war ganz am anderen Ende vertäut. Im Dunkeln sah er aus wie eine riesige schattige Insel, die kaum über die Wasseroberfläche ragte. Es handelte
sich
um
mehrere
große
Lastkähne,
die
miteinander vertäut waren und eine mehr als fünfhundert Fuß lange Plattform bildeten. Dahinter befand sich ein großer Schleppdampfer, dessen Kessel bereits angeheizt worden war und dessen Schlot wütende Funken gegen den dunklen Nachthimmel spie. Er schien bereit zum Ablegen. Tad erstarrte. Wie konnte Khush heimlich auf einem Kohlenschlepper
transportiert 204
werden?
Auf
einem
Lastkahn wäre er meilenweit sichtbar. Und falls auf dem Dampfer Platz für ihn wäre, dann nur auf dem Deck, wo alle Vorüberfahrenden ihn mühelos sehen konnten. Als sie die Mole entlangschritten, hallten ihre Schritte auf den Planken wider. Bei den Lastkähnen angekommen, hielt Mr. Eastcote seine Laterne hoch. »Hiermit werdet ihr reisen. Darin seid ihr bestens vor fremden Blicken geschützt.« Cissie schnappte nach Luft. »Khush passt niemals hinein!« Tads Blick folgte Mr. Eastcotes ausgestrecktem Arm, der in eine tiefe, dunkle Öffnung zeigte. Einer der Lastkähne war mit Hilfe von seitlichen Abstützungen so präpariert worden, dass in der Mitte seiner Kohlenladung ein großer, rechteckiger Freiraum entstanden war. Er war selbst für Khush groß genug. Zwanzig mal acht Fuß und zehn Fuß tief und mit einem Gestank, bei dem Tad sich geradewegs nach Markle zurückversetzt fühlte, wo der Kohlenstaub sich auf seine Haare gelegt, ihn in der Nase gekitzelt hatte und zwischen seine Zähne gekrochen war. Der Gestank der Verzweiflung. Skeptisch blickte er auf die Öffnung. »Wie sollte Khush 205
da hineinkommen? Er kann doch nicht einfach wie eine Katze hinunterspringen! Und wenn er es täte, würde der Boden des Kahns einbrechen.« »Wenn er es will, wird er es schaffen«, erklärte Mr. Eastcote gelassen. »Wir bauen eine Rampe. Die Brüder holen die Reste des Holzes eures Flachboots.« »Aber ... Khush wird nicht hineingehen!« Cissie ballte die Fäuste. »Ihr habt uns hereingelegt!« Jedediah blickte auf seinen Vater, doch dessen Augen verharrten auf Cissies Gesicht. »Wir haben euer Schicksal in die Hände Gottes gelegt. Ihm ist alles möglich. Wenn es Sein Wille ist, dass der Elefant mit euch kommt, wird er ihn ins Innere dieses Kohlenschleppers bringen. Genau wie einst Jonas in den Bauch des Wals. Ihr werdet doch nicht etwa an seiner Allmacht zweifeln?« »Aber es ist unfair!«, zischte Cissie wütend. Flehentlich blickte sie auf Jedediah. »Sie finden das doch sicher auch nicht fair, oder?« Für einen Sekundenbruchteil zögerte Jedediah. Als Mr. Eastcote ihn jedoch mit einem strengen Blick bedachte, schüttelte er traurig den Kopf. »Mein Vater ist der Abraham dieser Gemeinde. Er allein darf bestimmen, wie 206
etwas gemacht wird.« »Aber ...« Cissies Gesicht war hochrot angelaufen und sie schien zu allem bereit. Tad zog sie rasch beiseite, ehe sie etwas Unbedachtes sagen würde. »Wir haben kein Recht, uns zu beschweren«, zischte er ihr zu. »Wir haben uns auf dieses Spiel eingelassen.« »Nein, haben wir nicht«, murmelte sie störrisch. Dann kehrte sie Mr. Eastcote den Rücken zu und beobachtete schweigend, wie einige der Brüder lange Bretter herantrugen,
während
andere
Säcke
mit
Wurzeln
heranschleppten und sie in das Versteck warfen. Tad stand sehr dicht bei Khush. Er streckte die Hand aus und strich im Dunkeln über die weiche Haut, streichelte sie immer wieder im gleichen Rhythmus. Als die Rampe fertig war und Khushs Futtervorräte ordentlich verstaut waren, winkte Mr. Eastcote Tad und Cissie herbei. »Ihr müsst ohne ein Wort an Bord gehen. Wenn ihr dem Elefanten Befehle erteilt, ist er nicht frei in seiner Entscheidung.« Cissie runzelte die Stirn. Tad wusste, dass sie nach einem Weg suchte, den Alten zu überlisten, aber ohne zu 207
sprechen, konnte sie Khush kein Kommando geben. Sie packte ihre Bündel und ging auf den Kahn. Mit einem Seitenblick auf Khush folgte ihr Tad. Selbst im kärglichen Laternenschein sah er die seltsamen Umrisse des Elefantenkopfs. Khush schien verwirrt und sein Rüssel zuckte nervös, weil auch er Kohlengeruch hasste. Tad und Cissie kletterten über die Kohlen und gingen dann die Rampe hinunter in das Versteck. Nach den ersten paar Schritten sahen sie nichts mehr außer dem schwarzen Himmel über sich und den Planken zu ihren Füßen, die sie von der Kohle trennten. Sie konnten hören, wie Khush den Rüssel schwang und mit den Füßen scharrte, aber sie konnten ihn nicht sehen. Es dauerte zwei oder drei Minuten, bis jemand sprach. Es war Mr. Eastcote. »Ich glaube nicht, dass der Elefant mit euch kommen möchte. Er hat noch keinen Schritt auf den Kahn zugemacht.« »Das ist nicht fair!«, rief Cissie erzürnt. »Sie haben uns hereingelegt!« »Du hast den Test vorgeschlagen.« Mr. Eastcotes Stimme war kühl. »Er hätte euch folgen können. Aber er tat es 208
nicht.« »Aber ...« Cissie schluckte und Tad begriff, dass ihnen keine Zeit mehr blieb. Noch eine Minute und sie hätten Khush verloren. Laut drang seine Stimme aus der Vertiefung. Er sagte das Einzige, was ihm einfiel, und er sagte es sehr langsam und laut, damit Khush begriff, was los war. »Sie müssen ihm zeigen, dass wir gehen. Er hat uns noch nie zuvor auf diesem Boot wegfahren sehen. Er muss es begreifen.« »Was sollen wir tun?«, fragte Jedediah rasch. Seine Stimme klang hilfsbereit. Es war eine riskante Sache, aber Tad fiel keine Alternative ein. Er holte tief Luft. »Löst die Haltetaue. Und haltet die Laterne so hoch, dass Khush es sehen kann.« »Nein!«, zischte Cissie entsetzt. Doch nur Tad konnte sie hören. Sie packte seinen Arm und stand mucksmäuschenstill da, als Jedediah den Befehl gab. Der Kahn war an vier Seilen vertäut. Die Schatten im Inneren der Vertiefung wanderten, als das erste Haltetau 209
mit der Laterne angeleuchtet wurde. Tad hörte, wie das Seil entknotet wurde und mit einem leichten Schlag auf einem der Schleppkähne landete. Nummer eins.
Und von Khush kein Mucks.
Die Laterne wanderte nun zum zweiten Seil. Man hörte
ein Schlurfen auf der Mole und knarrende Bretter, aber niemand sagte ein Wort. Ein weiteres Seil klatschte auf das Boot auf. Nummer zwei. Cissies Finger gruben sich in Tads Arm, als auch das dritte Seil gelöst wurde. Noch ehe es an Bord geworfen wurde, spürten sie, dass die große Insel der Schleppkähne im Gleichklang mit dem Fluss schwankte. Nummer drei.
»Nun das Letzte«, sagte Jedediah sehr sanft.
Die Laterne wanderte seitlich - und plötzlich hörte man
ein
lautes,
abruptes
Geräusch.
Ein
erschrockenes,
protestierendes Trompeten. Das Wasser schlug heftig gegen den Kahn, als seine zur Mole gerichtete Seite tief ins Wasser getaucht wurde. »Khush!« 210
Cissie und Tad stürzten die Rampe hinauf, bis ihre Köpfe aus der Vertiefung auftauchten. Khush war gekommen. Achtsam, jeden Fuß anhebend und sorgfältig aufsetzend, kam er langsam auf sie zu. Jedediah war unmittelbar hinter ihm. »Versucht ihn zu beruhigen«, sagte er. »Sonst landet die Hälfte der Kohle im Fluss.« Tad kam überhaupt nicht auf die Idee, dies Cissie zu überlassen. Mit der beruhigenden Stimme, die er sich die letzte Woche über angewöhnt hatte, begann er, auf Khush einzureden. »Komm her, Khush. Ganz ruhig. Komm her!« Zentimeter um Zentimeter bewegte sich Khush über den Kohlenhaufen
auf
sie
zu.
Oben
an
der
Rampe
angekommen, zögerte er nur einen Moment. Als Jedediah mit der Laterne die Rampe beleuchtete, betrat er sie und prüfte die Bretter vorsichtig, bevor er sein ganzes Gewicht darauf aufsetzte. Jedediah leuchtete mit der Laterne, bis sie alle sicher unten angekommen waren. Dann sagte er: »Wir haben den Willen des Herrn gesehen, halleluja!« In seiner Stimme lag ein Anflug von Triumph, doch Mr. 211
Eastcote zeigte sich dem gewachsen. Laut und sicher kam seine Stimme von der Mole. »Ihm ist alles möglich, halleluja!« Einen Augenblick lang stand Jedediah im Lichtkreis über der Vertiefung und grinste auf Tad und Cissie herab. Dann begann er Bretter über das Versteck zu schieben. Diese Bretter wurden dann mit Zeltplanen und anschließend mit Kohle zugedeckt. Nachdem das Prasseln der Kohlestücke aufgehört hatte, wurde Tad klar, dass ihr Kahn nun genauso wie alle anderen aussehen musste. Sie waren rundum von Kohle eingeschlossen, mit nur ein paar schmalen Schlitzen zwischen den Zeltplanen. Als der Schein der Laterne entschwand, saßen sie in völliger Dunkelheit. Tad lehnte seinen Kopf gegen Khushs starke Schulter. Wie wäre es wohl gewesen, wenn er hätte mit anhören müssen, wie auch das vierte Seil auf den Kahn geworfen worden wäre? Wenn die Boote in den Fluss hinausgetrieben wären und Khush noch auf der Mole gestanden hätte? Er spürte einen dicken Knoten im Hals und bekam kaum noch Luft. 212
Im Dunkeln, von nichts als Kohle umgeben 27. April Pa hat Olivia und mich gerne mit Schauergeschichten über alte Sklavenschiffe erschreckt. Er saß dabei am Feuer, im Dunkeln, und erzählte von überfüllten Decks und unmenschlicher Behandlung, bis wir das Gefühl hatten, selbst in ein dunkles Loch eingesperrt und von Tausenden von Körpern eingezwängt zu sein. Nun,
inzwischen
weiß
ich,
was
er
bei
seinen
Schilderungen stets außer Acht gelassen hat: den Gestank. Ich bin in ein enges Versteck in den Tiefen eines Kohlenschleppers eingepfercht, das ich mit einem großen, flegelhaften Jungen und einem Elefanten teile. Die Enge und das Gefühl, nie allein sein zu können, sind zwar genau so, wie Pa sie beschrieben hat, aber der Gestank ist noch viel schlimmer als das. Schon jetzt, nach nur wenigen Stunden, ist er unerträglich. Es fällt mir nicht schwer mir vorzustellen, wie es in einigen Tagen hier stinken wird. Es gibt keine Möglichkeit den engen Raum sauber zu halten, egal wie sehr wir es auch versuchen, und kein 213
Entrinnen vor diesem Gestank. Die einzige Luftzufuhr ist ein schmaler Spalt zwischen den Zeltplanen, neben dem ich kauere, um dir in dem bisschen Licht, das er hereinlässt, zu schreiben. Glaubst du, dass Gott uns unsere Sünden verzeiht, wenn wir hier auf Erden leiden?
214
Tad wusste, dass sie schon seit Stunden unterwegs sein mussten, da er bereits heiser war. Seit sie abgelegt hatten, saß er neben Khush und redete auf ihn ein um ihn zu beruhigen. »Du wirst unvorstellbar viel Platz haben um dich zu bewegen, draußen, auf der Prärie. So viel du willst. Und hohes, frisches Gras ...« Diese Vorstellungen halfen ihm mindestens genauso wie Khush. »... und Ketty wird im Garten sitzen, im Schatten vieler Apfelbäume. Überall ist es grün ...« Er hörte, wie Khush von dem Futter fraß, das die Fremdlinge in einer Ecke für ihn angehäuft hatten. Wie er fraß, kaute und von einem Fuß auf den anderen trat. Gelegentlich stieß er gegen den Eimer und manchmal hob er den Rüssel und blies Tad zärtlich ins Gesicht. Die meiste Zeit aber kaute er friedlich vor sich hin. Cissie kauerte oben an der Rampe und kritzelte wieder vor sich hin. Sie versperrte den schmalen Lichtspalt, den Jedediah ihnen gelassen hatte, aber Tad wollte sie nicht bitten sich woandershin zu setzen. Er schloss die Augen um die Dunkelheit zu vergessen und konzentrierte sich auf 215
die Bilder in seinem Kopf. »... reiches, weites Farmland, das für alle ausreicht, die kommen. Ein neuer Anfang, in einem neuen Staat ...« Aber er konnte nicht endlos weiterreden. Seine Kehle begann zu schmerzen, seine Stimme wurde immer rauher, und er begann zu husten. »Sei still!« Das Dunkel verlagerte sich, als Cissie sich ihm zuwandte. »Wir sind bald in Cincinnati. Du kannst jetzt nicht husten!« Tad hielt die Luft an, bis er fast erstickte, doch dann überwältigte ihn ein neuer Hustenanfall. »Ich kann nicht ruhig ... sein, ... jemand muss mit Khush reden.« Cissie seufzte, doch dann stopfte sie ihre Papiere in die Hosentasche und kletterte die Rampe herunter. »Na schön, ich übernehme es für eine Weile. Geh du nach oben um etwas frische Luft zu schnappen. Aber huste nicht!« Khush knurrte unruhig, weil Tads leiser Redefluss verstummt war. Als Cissie sich neben ihm niederließ, zupfte er sie spielerisch an den Haaren, doch sie schob seinen Rüssel beiseite. »Benimm dich anständig! Soll ich Ketty etwa erzählen müssen, wie ungehorsam du warst? Sie mag liebe, brave Elefanten ...« 216
Nun begann sie mit ihrem Singsang, woraufhin Khush sich rasch wieder beruhigte und weiterfraß. Tad kletterte die Rampe empor. Oben angekommen, schlug ihm die frische Luft wie kaltes Wasser ins Gesicht, und die Strahlen der frühen Morgensonne fielen durch den Spalt in der Zeltplane. Er versuchte hinauszuspähen. Der Kohlenschlepperverband erstreckte sich weithin wie eine riesige Ebene, die mit großen, schwarzen Felsen bespickt war. Dahinter lag, weit entfernt und winzig klein, die Küste von Cincinnati. Hohe,
vornehm
wirkende
Schornsteine
von
Flussdampfern waren an einem Hafen aufgereiht, halb verborgen im morgendlichen Nebel. Dahinter erkannte man viele, in eine Hügellandschaft eingebettete Häuser. Den Flussnebel unter und den rauchigen Himmel über sich, erinnerten sie an ein Königreich aus der Welt der Märchen. Beim Näherkommen drangen aus dem Nebel Geräusche eines regen Treibens über das Wasser. Rufe, Klappern von Pferdehufen
und
das
hastige
Plätschern
kleinerer
Hafenboote rund um die großen Flussdampfer. Die Kohlenschlepper hielten sich in der Flussmitte und 217
glitten gleichmäßig stromabwärts, zuerst unter der einen, dann unter der nächsten Brücke hindurch. Tad blinzelte vor Anstrengung, während er alles in sich aufzunehmen versuchte. Das Ruderboot jedoch hatte er übersehen. Es war plötzlich aus dem Nebel aufgetaucht, genau auf der anderen Seite des Schleppkahns. Er sah es nur ganz kurz, bevor es gleich wieder aus seinem Sichtfeld verschwand. Doch in diesem kurzen Moment hatte er einen Hut mit purpurroten Federn erspäht. Und es war Mr. Jacksons Stimme, die plötzlich herüberdrang. »Guten Morgen! Haben Sie unterwegs zufällig einen Elefanten gesehen?« Tad klammerte sich entsetzt an die Zeltplane. Sie waren da! Er und Cissie waren Hunderte von Meilen gereist und es hatte doch alles nichts genützt. Mr. Jackson und Esther waren ihnen noch immer auf den Fersen. Seine Hände zitterten. Ich habe diesen Elefanten rechtmäßig erworben, und ich werde ihn wiederbekommen ... das Gesetz ist auf meiner Seite. Sie würden den beiden nie entwischen können. Wie sollten sie unerkannt an ihnen vorbeikommen, wenn ihr 218
Ruderboot so nah war, dass er es fast mit der Hand hätte berühren können? Jedediahs Mannschaft jedoch reagierte gelassen und Tad atmete beim Klang ihrer Stimmen erleichtert auf. »Haben Sie etwa einen Elefanten verloren?« »Ich hab schon mal ein Nilpferd gesehen, drüben in Philadelphia.« »Vielleicht ist er von Krokodilen gefressen worden!« Ein lautes, genervtes Ächzen kam aus dem Ruderboot. Tad konnte sich genauestens vorstellen, wie Esther in diesem Augenblick dreinschaute. »Wenn ich mir diese verdammten Witze noch länger anhören muss, platze ich vor Wut!« Das pflegte sie oft zu sagen. Wenn ich noch eine weitere Scherbe des von dir zerdepperten Geschirrs aufheben muss, Tad Hawkins ..., wenn ich es dir noch einmal erklären muss ..., wenn ich dir noch einmal sagen muss den Fußboden sauber aufwischen ... platze ich vor Wut! Während er im Dunkeln auf der Rampe kauerte und den Kohlenstaub einatmete, fühlte sich Tad für einen Augenblick, als sei er wieder nach Markle zurückversetzt. Er erschauerte und rieb seine Fingerknöchel aneinander. 219
Jedediah blieb jedoch völlig gelassen. »Wir haben keinen Elefanten auf einem der vorbeifahrenden Boote gesehen. Ma’am. Auch sonst kein seltsames Tier am Ufer des Flusses entlangspazieren ...« Das war die reine, nackte Wahrheit. Tad kam es so vor, als würde die zurückgehaltene Seite dieser Information förmlich ins Auge springen und er duckte sich noch tiefer unter der Zeltplane, als ob er jeden Moment damit rechnete, Esther aufschreien und Mr. Jacksons schwere Schritte auf sich zukommen zu hören. Doch nichts geschah. Jackson und Esther glaubten offenbar die ganze Wahrheit gehört zu haben. Als ihre Ruder wieder ins Wasser tauchten, wehte Esthers wütende Stimme bruchstückhaft an Tads Ohren. »... ich hab’s dir ja gleich gesagt ... vergeuden unsere Zeit ... ertrunken ...« Mr. Jacksons erboste Antwort kam laut und deutlich. »Wenn du aufgeben möchtest, dann geh doch wieder zu deiner Miss Adah zurück. Ich werde dich nicht davon abhalten. Aber glaube bloß nicht, dass ich dich begleite. Dieser Elefant gehört mir und ich bleibe so lange in Cincinnati, bis ich ihn gefunden habe - tot oder lebendig!« »Falls es dir je gelingen wird«, zischte Esther. 220
»Wenn er ertrunken ist, findet man seinen Kadaver früher oder später. Falls nicht, wird man ihn irgendwann aufspüren! Ich werde nicht aufgeben!« Natürlich werden Sie nicht aufgeben, dachte Tad betrübt. Er konnte den schweren, entschlossenen Mund und die harten blauen Augen des Mannes förmlich vor sich sehen. Unermüdlich. Unentrinnbar. Das Ruderboot entfernte sich und Tad schloss die Augen und versuchte sich auf Cissies sanftes Gemurmel zu konzentrieren. »... Haare mit Wellen wie ein See im Sonnenuntergang. Und weiche Hände, die dich zärtlich streicheln. Die alles wieder in Ordnung bringen ...« Doch die Bilder in seinem Kopf wollten nicht wiederkehren. Der Kohlengestank von Markle stach in seine Nase, und Esthers scharfe, hysterische Stimme dröhnte ihm in den Ohren. Nichts hatte sich verändert. Er war noch immer der alte Tad Hawkins, der alles verpatzte und alles verkehrt machte. Tad Hawkins, der seit dem Tag seiner Geburt ständig zu Recht kritisiert wurde.
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Esthers Nähe hatte ihm die Stimme verschlagen. Als er wieder bei Khush war, kamen die Worte anders aus seinem Mund - zögernd und unsicher. Er konnte nicht mehr mit derselben Ungezwungenheit von Ketty und Nebraska erzählen, weil er die Hoffnung, jemals dort anzukommen, aufgegeben hatte. Esther kannte sein wahres Gesicht. Khush bemerkte den Unterschied. Statt gleichmäßig weiterzufressen, wurde er unruhig und begann sich an den Abstützbrettern zu reiben, die sie von der umgebenden Kohle trennten. »Um Himmels willen!«, sagte Cissie. »Was ist nur mit dir los, Tad? Kannst du ihn denn nicht eine Minute ruhig halten?« Sie stieß ihn beiseite. »Ich rede mit ihm. Mach du derweil ein bisschen sauber.« Khush schien es zuerst nicht zu behagen, aber er beruhigte sich rasch, als Cissie auf ihn einredete. Tad nahm Eimer und Schaufel und arbeitete sich mühsam durch den kleinen Raum. Sobald kein anderes Boot in der Nähe war, schob er die Zeltplane etwas zur Seite und kippte einen Eimer voll dreckigen Strohs ins Wasser. Während er schaufelte und auskippte, lauschte er auf 222
Cissies Worte, die wahre Wunderdinge von dem herrlichen Ort erzählte, der ihr Ziel war, aber es ließ ihn gleichgültig. Nebraska und auch Ketty waren in unerreichbare Ferne gerückt. Aber auch Cissie konnte nicht endlos reden. Am dritten Tag hatte auch sie ihre Stimme fast verloren. Und Khush die Geduld. Statt ruhig zu fressen, warf er mit Heu um sich und trampelte so lange auf dem Stroh herum, bis es zu einem aufgeweichten Pfannkuchen geworden war. Er knurrte und schnaubte und zweimal trompetete er sogar laut, ausgerechnet in einem Moment, als Flussdampfer vorbeifuhren. Die Köpfe der Männer auf den Achterdecks schossen so ruckartig herum, dass einem von ihnen der Hut ins Wasser fiel. Dann, kurz nach Mittag, begann das Schaukeln. An seinem Haltestrick ziehend, legte Khush sein ganzes Gewicht zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite, wie ein Kind auf einer Schaukel. Ihr Schleppkahn begann sich zu senken und zu heben, als hätten sie starken Seegang mitten auf dem Meer. Als Tad durch den Schlitz der Zeltplane spähte, sah er, dass auch 223
die angrenzenden Schleppkähne von der Bewegung mitgerissen wurden. Zweimal an diesem Nachmittag kamen Männer vom Schlepper herüber und riefen zu ihnen herunter. »Der Käpten sagt, ihr sollt das Tier ruhig halten. Sonst verlieren wir Fracht.« »Könnt ihr ihn nicht von diesem Schaukeln abhalten?« Beim dritten Mal kam Jedediah selbst. Sie hörten das Knirschen der Kohle, als er die Zeltplane beiseite schob und auf sie herabblickte. »Ich kann euch nicht länger mitnehmen. Nicht, wenn wir dabei Ladung verlieren. Ich muss euch an Land bringen.« Er sprach zu beiden von ihnen, aber es war Cissie, die zu ihm eilte um mit ihm zu sprechen. »Sie haben es versprochen! Sie haben uns versprochen, uns bis Cairo mitzunehmen!« Jedediah blinzelte erstaunt, ließ sich aber nicht beirren. »Nein, Schwester, ich sagte, ich würde euch mitnehmen, wenn Gott es will. Wenn du eben bei mir gestanden und gesehen hättest, wie das Boot auf und ab schaukelt, hättest du begriffen, dass Er das Tier nicht länger an Bord wünscht. Es sei denn, es läge in Seiner Absicht uns alle 224
ertrinken zu lassen.« Cissie zog einen Schmollmund. »Und was haben Sie jetzt vor?« »Hinter der nächsten Biegung ist ein Anlegeplatz.« Jedediah zeigte stromabwärts. »Er wird nur selten benutzt. Wenn ihr die Kreatur noch für eine halbe Stunde ruhig halten könnt, kann ich euch alle drei dort absetzen. Den Rest des Weges bis Cairo könnt ihr zu Fuß gehen. Es wird nur ein paar Tage dauern.« »Ein paar Tage?« Mitleid heischend rollte Cissie mit den Augen und streckte die Hände von sich, aber das schien Jedediah wenig zu beeindrucken. Er kehrte wieder auf seinen Schlepper zurück, wobei er sich mit einer Selbstverständlichkeit über die Kohlehaufen bewegte, als sei er an Land. Tad blickte auf. »Sollen wir alles zusammenpacken?« »Bleibt uns wohl nichts anderes übrig.« Mutlos rutschte Cissie die Rampe herunter ohne die Zeltplane wieder zurechtzurücken. Sie und Tad begannen die Bündel zusammenzusammeln, die sie überall aufgehängt hatten um sie vor Khushs Füßen zu retten. Khush beobachtete sie aufmerksam. Ein paar Mal griff er 225
mit dem Rüssel nach einem Bündel, ehe Cissie es erreichen konnte, und hielt es spielerisch über ihren Kopf, aber meistens stand er mit erhobenem Rüssel da und atmete die frische Luft ein, die hereinwehte. Der Schlepperverband glitt langsam an der Biegung vorbei, verließ dann die Fahrrinne und schwenkte nach steuerbord. Tad und Cissie blieb keine Zeit, sich Sorgen oder gar neue Pläne zu machen. Als der Schlepperverband am Ufer anlegte, lagen vier andere Schlepper zwischen ihnen und dem hölzernen Anlegesteg. Jedediah rief sofort: »Passagiere an Land!« Alle Mann starrten gebannt auf Khush, als er langsam aus seinem dunklen Loch kletterte. Jedediah schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln. »Es wird schon klappen. Wenn ihr in Cairo seid, fragt nach Abel Manzoni, dem Kapitän der Mary Sullivan. Sagt ihm, ich hätte euch geschickt.« »Vielleicht badet ihr aber zuerst«, murmelte der Steuermann hinter Jedediah. Der Rest der Mannschaft grölte vor Lachen, als Tad und Cissie den Elefanten an Land führten. Kaum dort angekommen, legten die Kohlenschlepper wieder ab und 226
fuhren davon. Auch Khush setzte sich in Bewegung. Und zwar so rasch, dass Tad und Cissie ihre Bündel fallen lassen mussten um ihn wieder einzuholen. Er stürmte auf einen Platz zu, an dem das Ufer sanft ins Wasser abfiel. Dort angekommen, stürzte er sich sofort in die Fluten, pumpte den Rüssel mit Wasser voll und spritzte es sich über den Rücken. Tad beobachtete ihn nachdenklich. »Sollten wir vielleicht auch machen.« »Uns waschen? Im Fluss?« Cissie schien entsetzt. Sie hörte sich sehr vornehm und hochnäsig an, wie eine junge Lady aus dem Osten mit goldenen Löckchen und feinen Kleidern. Aber sie sah ganz und gar nicht so aus. Sie sah abscheulich aus. Ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht verdreckt und bis weit über die Knie war ihre Hose mit Elefantenmist und altem Stroh verkrustet. »Vielleicht schaust du dich mal genauer an!« Tad deutete auf den Fluss vor ihnen. Die Oberfläche war spiegelglatt. »So wie wir jetzt aussehen, nimmt uns kein Mensch an Bord.« Cissie rümpfte die Nase. »Willst du etwa behaupten, ich sähe aus wie du?« 227
»Ich weiß nicht, wie ...« Tad blickte an sich hinunter. »Hm, ich nehme an, ja.« »Igitt!« Sie machte einen großen Schritt nach vorne und warf sich entsetzt in den Fluss. Tad wollte Cissie noch warnen, dass der Fluss bestimmt tief war, aber es war bereits zu spät. Vergeblich wartete er darauf, dass sie wieder auftauchte. Nur Luftblasen stiegen auf. Der Fluss musste noch tiefer sein, als er vermutet hatte. Er riss sich die Schuhe von den Füßen und stürzte ihr nach. Es war kein Problem sie zu finden, denn sie erwischte eines seiner Beine und klammerte sich verzweifelt daran fest. »Lass los!«, keuchte Tad. »Ich kann nicht ...« Er schlug nach ihr, damit sie ihren Griff lockerte, und schleppte sie dann an die seichtere Stelle, an der Khush stand. Sobald sie wieder einigermaßen festen Boden unter den Füßen hatte, begann sie wie eine Wahnsinnige zu schreien, während sie im Schlamm einen Halt suchte. »Ich hasse dich! Ich hasse dich! Wenn du nicht wärst, wären wir immer noch auf dem Kahn! Und ich wäre nicht beinahe 228
ertrunken! Und ...« Im ersten Moment war Tad geneigt ihr zu glauben. Sein ganzes Leben lang hatte er ähnliche Sachen gehört und sie stets
geglaubt.
Er
öffnete
den
Mund
zu
einer
Entschuldigung. Da traf ihn ein Wasserstrahl mitten ins Gesicht. Khush hatte beschlossen mit ihnen zu spielen. Der nächste Strahl traf Cissie und warf sie aus dem Gleichgewicht, sodass sie erneut taumelte und ins Wasser plumpste. »Nein, Khush!«, rief Tad streng. Er half Cissie wieder auf die Beine und als er ihre schmalen Schultern spürte, konnte er plötzlich wieder klar denken. Sie war weder Esther noch Tante Adah. Sie war jünger als er. Und sie zitterte vor Kälte, war müde und litt unter einem Schock. »Du kannst nicht jemanden hassen«, sagte er mit Entschiedenheit, »der dir gerade das Leben gerettet hat! Was du brauchst, ist etwas zu essen und eine Mütze voll Schlaf, und ich werde dafür sorgen, dass du beides bekommst.« Er befürchtete, sie würde wieder lange mit ihm 229
herumstreiten, aber das tat sie nicht. Sie ließ sich in seine Arme fallen, so abrupt, dass er sie fast nicht auffangen konnte. »Das wäre schön«, sagte sie müde. »Tut mir Leid. Ich weiß nicht, warum ...« Mitten im Satz verstummte sie. Ihr Mund öffnete sich, und sie deutete über Tads Schulter hinweg. Er wirbelte herum. Auf seinem Weg nach Cincinnati war gerade ein Flussdampfer um die Biegung gekommen. Und alle Mann an Bord hingen über der Reling und starrten auf Khush. Irgendwo in Ohio 30. April Schon wieder wurde mir das Leben gerettet! Dieses Mal von Tad. Er zog mich gestern in letzter Minute aus dem Fluss, in den ich mich in einem verzweifelten Versuch mich zu waschen leichtsinnigerweise gestürzt hatte. Ich befürchte - oder besser gesagt, ich hoffe -, dass du mich nicht erkennen würdest, wenn du mich jetzt sähest. Ich bin zerlumpt und schmutzig und rieche (selbst nach meinem unbedachten Bad) noch immer etwas unfein. Ich 230
habe mich gerade schlafen gelegt, irgendwo am Ufer des Ohio. Khushs schändliches Verhalten an Bord zwang uns den Schlepperverband zu verlassen und wir haben, wie es im Moment aussieht, den Sündenfall der Menschheit in umgekehrter Reihenfolge erlebt. Nachdem wir aus der Hölle vertrieben wurden, befinden wir uns nun in einem grünen Paradies, auf dem Weg nach Cairo. Ich komme mir fast vor wie eine Wilde, aber natürlich eine edle. Oder wie der Forscher, der diesen Weg entlang dem gewaltigen Fluss zum ersten Mal erkundet hat. Doch selbst in diesem friedlichen Eden machen uns unsere Füße zu schaffen. Wir marschieren bei Nacht und verstecken uns tagsüber, aber auch das hat uns nicht vor Blasen bewahrt. Ich werde gottfroh sein, wenn wir erst in Cairo sind, denn ich glaube, über eine noch längere Strecke halte ich das nicht aus. Tad hat die Landkarten studiert, die Mr. Nagel uns mitgegeben hat, und meinte, wir müssten morgen in Cairo sein. Ich wünschte, wir wären bereits dort ...
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Sie konnten nicht mehr lange weitermarschieren. Tad hatte bemerkt, dass Cissie zunehmend erschöpfter und bleicher war und auch, dass Khush seine Beine immer mehr nachzog. Er hatte auch die Männer nicht vergessen, die von dem Dampfer herübergestarrt hatten. Die Nachricht, dass ein Elefant am Ufer gesichtet worden war, hatte sich inzwischen sicher längst flussauf- und -abwärts verbreitet. Er musste sich einen Plan zurechtlegen, ehe sie Cairo erreichten. Jede Nacht grübelte er darüber nach, während sie langsam am Ufer entlangwanderten. Er wusste, dass er mit Cissie reden musste, aber er verschob es bis zum letzten Moment, dem Tag, an dem sie kurz vor Cairo waren. Als sie sich frühmorgens zu ihrer Rast niederließen und ihr kärgliches Mahl zu sich nahmen begann er hastig zu sprechen. »Du solltest mit Khush besser hier bleiben. Wir können nicht gemeinsam in Cairo eintreffen. Vielleicht tappen wir dort in eine Falle.« Cissie starrte ihn an und legte ihr Brot zur Seite. »Und was wird aus mir, falls du nicht zurückkommst?« »Wenn ich alleine bin, besteht keine Gefahr. Ich gehe zu Kapitän Manzoni und sobald ich mit ihm gesprochen 232
habe, komme ich zurück. Khush kann sich derweil erholen.« »Erholen?«, fragte Cissie verwundert. »Wir sind doch erst ein kurzes Stück zu Fuß gegangen. Seit wir Pittsburgh verlassen haben, hat er doch die meiste Zeit still gestanden.« »Genau deswegen humpelt er.« Tad fragte sich, ob sie es tatsächlich noch nicht bemerkt hatte. »Du weißt, dass seine Füße wund sind. Schau!« Ihr das zu beweisen war kein leichtes Unterfangen. Tad musste einige Kraft und Überredungskunst aufbringen, ehe Khush schließlich widerwillig sein linkes Hinterbein hob. An der Ferse befand sich ein kleiner Riss und als Tad ihn berührte, zog Khush energisch sein Bein weg und humpelte zu den nächsten Bäumen hinüber. Tad richtete sich auf. »Er braucht eine Ruhepause. Wenn sein Fuß trocken bleibt und er ihn wenig belastet, müsste er rasch abheilen.« »Aber er kann sich nicht ausruhen«, widersprach Cissie heftig. »Wir müssen nach Nebraska!« »Wir verlieren nicht viel Zeit, wenn ich vorausgehe. Es sind höchstens noch zwanzig Meilen bis Cairo. Das 233
müsste ich in einem Tag schaffen. Außerdem gehe ich bei Tag, solange ihr schlaft.« Cissie ballte die Fäuste. »Ich lasse es nicht zu, dass du mich alleine hier sitzen lässt! Darüber brauchen wir gar nicht lange zu diskutieren. Ich komme mit und Khush auch!« Sie warf den Kopf in den Nacken und steckte sich einen getrockneten Apfelring in den Mund. Tad blickte auf Khush, der durch das Unterholz streifte. Drei gleichmäßige Schritte, dann ein Nachziehen beim vierten. Jedes Mal. Tad schloss die Augen. »Du musst hier bleiben, damit er sich ausruhen kann«, erklärte er halsstarrig. »Wenn nicht, begleite ich dich nicht länger!« »Was?« Cissie schnappte nach Luft. »Wenn du es darauf anlegst, dass er lahm wird, werde ich dir nicht mehr helfen.« Tad öffnete die Augen wieder. »Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe wieder flussaufwärts.« Er hätte nicht sagen können, ob Cissie wütend wurde oder nur verblüfft war. Hochrot im Gesicht starrte sie ihn an und suchte nach Worten. Aber es gab nichts mehr zu 234
sagen. Tad ging näher ans Wasser und setzte sich nieder, um weiterzuessen. Cissie ließ ihn zehn Minuten lang dort sitzen. Er spürte, wie sie ihn beobachtete und darauf wartete, dass er sich umdrehen und entschuldigen würde. Doch er blieb demonstrativ sitzen und aß zu Ende, während er über das graue Wasser auf das Ufer von Kentucky blickte. Schließlich gab Cissie nach. Sie kam und setzte sich neben ihn. »Ist es dir ernst?« Tad zuckte mit den Schultern. »Muss es wohl. Mit einem toten Elefanten möchte ich nicht nach Nebraska.« »Tot?« »Ich weiß nicht viel über Elefanten. Nur das, was mir dein Pa beigebracht hat. Aber er achtete immer sehr auf Khushs Haut. Risse bedeuten Infektionen, sagte er. Und der Riss in Khushs Ferse hat sich in letzter Zeit vergrößert.« Cissie zögerte. Tad wartete auf Widerspruch, doch dieser kam nicht. Stattdessen pflückte Cissie ein Blatt von einem nahen Strauch und ließ es durch ihre Finger gleiten. »Ich glaube nicht, dass ich es aushalte, hier allein gelassen zu werden.« 235
Ihr ängstlicher Unterton überraschte Tad. Etwas verlegen versuchte er sie zu trösten. »Du bist doch nicht allein. Du hast Khush.« »Aber er ist doch kein ...«Cissie blickte auf. »Wirst du auch ganz bestimmt zurückkommen? Du wirst dich nicht heimlich aus dem Staub machen?« Erstaunt riss Tad die Augen auf. Er hatte sich innerlich auf eine längere Auseinandersetzung gefasst gemacht, doch Cissie wich seinem Blick aus und starrte auf das Blatt in ihrer Hand. »Natürlich komme ich zurück. Gleich nachdem ich Kapitän Manzoni gefunden habe. Warum sollte ich dich im Stich lassen?« »Oh, ich weiß nicht.« Cissie begann das Blatt zu zerrupfen. »Du könntest es satt haben von mir herumkommandiert zu werden. Oder keine großen Stücke auf mich halten ...« Tad beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er sah die ausgefransten Teile des Blattes aus ihren Händen fallen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte er leise. »Hier bleiben, da ist doch nichts dabei. Nach all dem, was du bisher durchgemacht hast.« 236
»Ich bin nicht der Typ, der tatenlos herumsitzt«, murmelte sie. »Oder einfach auf etwas warten kann.« Nachdem sie den Rest des Blattes auf einmal losgelassen hatte und die grünen Fetzchen auf den Boden wirbelten, ballte sie ihre Hände. Ihre Fäuste sahen sehr klein aus. Aber Tad wusste, dass er nicht nachgeben durfte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, wiederholte er. »Bleib einfach mit Khush hier. Und seid abmarschbereit, wenn ich von Cairo zurückkomme.« »Aber ...« Cissie hob den Kopf und er sah, dass ihre Unterlippe zitterte. Er streckte seine Hand aus und kniff sie zärtlich ins Ohr. »Ich bin nicht lange weg.« Dann sprang er auf, holte ein Stück Brot aus dem Vorratsbeutel und machte sich auf den Weg nach Cairo. Es war weiter, als er erwartet hatte. Als er Mound City erreichte und die Boote im Hafen liegen sah, glaubte er, in Cairo zu sein. Eine halbe Stunde lang fragte er nach Kapitän Manzoni, bis ihn schließlich jemand darüber aufklärte, dass er in der falschen Stadt war. Fehler Nummer eins, dachte er missmutig, als er seinen Weg fortsetzte. Hoffentlich würde es keinen zweiten 237
geben. Aber er machte den zweiten fast unmittelbar nach seiner Ankunft in Cairo. Er erreichte die Stadt aus Nordosten und er wusste aus Mr. Nagels Landkarte, dass die Stadt zwischen dem Ohio und dem Mississippi ein Dreieck bildete. Er hätte das Dreieck durchqueren müssen um direkt an den Kai zu kommen, an dem die Mississippidampfer anlegten. Aber es war schon fast dunkel. Cairo war von mächtigen Dämmen umgeben, die Schutz vor Hochwasser boten. Sobald Tad in das Häusermeer eingetaucht war, sah er keinen der Flüsse mehr. Er hatte gar nicht mehr das Gefühl, in einer Stadt zu sein, die zwischen zwei riesige Flüsse eingebettet war. Keine Menschenseele war unterwegs, die ihm den Weg zum Kai hätte zeigen können. Die Läden waren leer und niemand stand plaudernd am Straßenrand. Doch aus dem ersten Hotel, an dem er vorbeiging, kam ein Licht, das sich wie ein heller, warmer Streifen diagonal über seinen Weg legte. Es war dieses Licht, das ihn in die Irre führte. Seine Füße schmerzten, seine Beine waren müde. Das Licht des 238
Hotels bedeutete für ihn ein warmes, ruhiges Plätzchen, an dem er sich niedersetzen und informieren konnte. Einen Moment lang zögerte er, doch dann ging er entschlossen auf die Tür des Hotels zu. Im selben Augenblick stieß jemand die Tür von innen auf und trat heraus. Selbst da wäre noch alles gut gegangen, wenn Tad so geistesgegenwärtig gewesen wäre, rasch zur Seite zu springen. Wäre er rechtzeitig wieder im Halbdunkel verschwunden, hätte man ihn nicht erkannt. Doch als die Tür sich öffnete, bemerkte er, dass eine Frau heraustrat. Tante Adah hatte ihm, seit er laufen konnte, immer wieder eingebleut einer Dame die Tür aufzuhalten. Und das tat er jetzt fast automatisch, wobei er deutlich sichtbar im Licht stand. Die Frau hastete eiligen Schrittes an ihm vorbei. Für Tad hatte sie kein Wort des Dankes, doch als sie sich nach links wandte um die Straße hinaufzugehen, streifte ihn ihr Blick. Ihre Augen wurden tellergroß. Sie erkannten sich im selben Augenblick, doch die Frau reagierte schneller. Noch ehe Tad sich versah, hatte sie ihn am
Ärmel
gepackt.
»Keine 239
Bewegung,
Thaddeus
Hawkins!« Tad erstarrte. Ihre Stimme, ihre kalten Augen und der Griff ihrer scharfen Finger hypnotisierten ihn durch ihre verhasste Vertrautheit. Er gehorchte ihr aus Gewohnheit.
240
Tad hielt nur kurz still. Aber das ermöglichte es Esther, kräftiger zuzupacken und sie ließ ihn nicht mehr los. Bei dem Versuch sich loszureißen, stolperte Tad über einen Besen, der an der Außenwand des Hotels lehnte. Er taumelte zur Seite und warf einen Eimer um, der neben dem Besen stand. Schmutzwasser schoss heraus und ergoss sich auch über Esthers Rocksaum. »Du hast dich kein bisschen verändert, wie ich sehe!« Verächtlich blickte sie auf ihren nassen Saum hinunter, aber sie rührte sich nicht. Auch ihren Griff lockerte sie nicht. Ihre Finger tief in Tads Schultern vergraben, rief sie in Richtung des Hotels. »Hannibal! Schau nur, wen wir hier haben!« Tad machte einen letzten Versuch sich ihrem Griff zu entwinden, aber es war vergeblich. Mr. Jackson kam bereits aus der Tür und packte Tad am anderen Arm. »Sieh mal einer an!«, sagte er selbstzufrieden. Esther tätschelte Tads Wange, wobei sie ihn mit ihren langen Nägeln kratzte. »Ich glaube nicht, dass er unsere Gesellschaft zu schätzen weiß«, murmelte sie. »Vielleicht gehen wir besser irgendwohin, wo wir ungestört sind.« Mr. Jackson nickte und seine Augen wanderten zu dem 241
schmalen Weg neben dem Hotel. »Wir nehmen ihn mit auf unser Zimmer. Durch den Hintereingang.« »Untersteh dich auch nur einen Mucks zu machen!«, zischte Esther Tad ins Ohr. »Sonst behaupte ich, du hättest meine Tasche klauen wollen.« Wie versteinert ließ Tad sich von den beiden hinter das Hotel und durch die Hintertür ziehen. Niemand sah, wie sie schweigend die Treppe hinaufgingen und die Tür zu einem schäbigen Zimmer öffneten. Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, gab Mr. Jackson Tad einen unsanften Stoß, woraufhin dieser quer durchs Zimmer stolperte und auf dem Bett landete. Er spürte den Druck des Medizinfläschchens an seiner Hüfte. Dann lag er da und starrte zu Mr. Jackson hinauf. Er ahnte, welche Muskelkraft in diesem massigen Körper steckte. Mr. Jackson ließ ihm Zeit. Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund, ganz als könnte er Tads Gedanken lesen. Dann kam er einen Schritt näher und lehnte sich über das Bett. »Wo ist mein Elefant?« Das war keine Drohung. Eine Drohung war gar nicht nötig. Seine ölige, barsche Stimme reichte vollkommen aus. Tad erschauderte und wich seinem Blick aus. Doch 242
nun sah er Esther, die mit dem Rücken an der Tür lehnte. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ihre dünnen Lippen waren zusammengepresst. »Du entkommst uns nicht.« Mr. Jackson bohrte seinen Zeigefinger in Tads Brust. »Du wirst es uns sagen müssen.« Nicht ein Wort, dachte Tad in einem Anflug von Verzweiflung. Beide beobachteten ihn genau. Wenn er den Mund aufmachte, würde er garantiert etwas Falsches sagen, ungewollt einen Hinweis auf Khushs und Cissies Aufenthaltsort geben. Er musste unbedingt schweigen. Er lag reglos da und starrte trotzig zur Decke. »Ist es dir lieber, wenn ich den Sheriff hole?«, fragte Mr. Jackson und sein Zeigefinger bohrte sich tiefer. Tad stellte sich vor, wie es im Gefängnis sein würde. Aber er sagte nichts. Selbst dort würde er schweigen. Und er spürte, dass Esther es wusste. Nervös warf sie den Kopf zurück und ihre Locken schaukelten. »Aber vielleicht gibt es noch einen schnelleren Weg ...« Mr. Jacksons Hand glitt drohend unter sein Jackett. Tad hatte das kleine Schulterhalfter schon einmal gesehen, an der Zimmertür bei Tante Adah. Er wusste, wie 243
der Revolver aussah. Er lag ganz still, als Mr. Jacksons Hand unter dem Stoff danach tastete. Aber Esther schüttelte unwillig den Kopf. »Vielleicht brauchen wir das gar nicht. Lass mich mit ihm reden.« Zuerst schien Mr. Jackson verblüfft, so als habe er nicht erwartet, dass sie sich einmischen würde. Doch dann zog er seine Hand wieder zurück, leer, und setzte sich auf den zerfledderten Korbstuhl am Fenster. Esther blickte Tad mit glänzenden Augen an. »Ich hätte nie gedacht, dass du so weit kommen würdest. Du bist mindestens tausend Meilen von Markle weg und erstaunlicherweise noch immer gesund und munter.« Gleich würde sie gemein werden. Tad kannte diesen Blick, diesen falschen, gespielt heiteren Ton. Er ballte seine Hände zu Fäusten und wartete. »Aber wohin wollt ihr denn gehen?« Esther lächelte und zeigte ihre Zähne. »Ihr könnt doch nicht ewig nach Westen gehen. Nicht mit einem Elefanten!« Sie verstummte und musterte Tad von Kopf bis Fuß. Tad versuchte, möglichst gleichgültig dreinzublicken. Er wollte nicht verraten, wohin er und Cissie gingen, aber er hatte das Gefühl, als sei ihm Nebraska mitten auf die Stirn 244
geschrieben. »Westlich des Mississippi kommt ihr niemals weiter«, sagte Esther leise. Ihre Worte schlängelten sich in seine Ohren und sickerten langsam zu seinem Gehirn durch. Sie hatte nicht vergessen, wie sie ihm das Gefühl geben konnte, tolpatschig und dumm zu sein. Der Topfdeckel gehört nicht in diesen Schrank ... fahre noch mal über den Marmor, mit einem trockenen Tuch ... geh sofort in den Laden zurück und lass dir die Sachen richtig abwiegen ... Tad presste die Lippen zusammen. Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte, aber er wusste, dass er auf jeden Fall schweigen musste. Esther zog eine Grimasse. »Hast du noch nie von der großen amerikanischen Wüste gehört? Dort kommt ihr hin, wenn ihr weiter nach Westen zieht. Im Winter liegt dort meterhoher Schnee, im Sommer gibt es keinen Tropfen Wasser und die Sonne dörrt alle Pflanzen aus. Und dazwischen gibt es Invasionen von Heuschrecken, die jeden grünen Halm abfressen ...« Hör nicht zu. Tad versuchte in seinem Kopf das Bild einer großen, grünen Prärie heraufzubeschwören, eines 245
Holzhauses, eines schattigen Gartens und einer lächelnden Frau auf der Veranda. Doch das Grün verblasste, noch ehe er es richtig vor sich sah. Die Schatten spendenden Bäume verdorrten und die Gestalt auf der Veranda hatte Esthers höhnische Züge und ihre drohende Stimme, die gnadenlos jeden Traum vertrieb. »Dieser Elefant wird im Winter erfrieren, wenn ihr ihn in den Westen mitnehmt. Falls er nicht schon vorher verhungert oder verdurstet.« Tad rollte den Kopf von einer Seite zur anderen um ihren Worten zu entkommen. Esther lächelte. »Du weißt, wo sie sind, nicht wahr? Es wäre besser, wenn du es uns sagtest.« Ihre Hand, in dem blassen, glatten Handschuh, fuhr langsam an der schäbigen Tür auf und ab. Der Handschuh war von einer zarten rehbraunen Farbe und ein länglicher Schmutzfleck lief an einem Finger entlang. »Cissie Keenan ist doch fast noch ein Kind. Sie wird dich ins Verderben führen, wenn du auf sie hörst.« Hör nicht zu, mahnte sich Tad. Sie wissen gar nichts, und sie können dich nicht zwingen, es ihnen zu verraten. 246
Esthers Augen verengten sich. »Oder ist Cissie etwa doch kein Kind mehr? Dafür ist sie eigentlich schon zu alt. Auf jeden Fall zu alt, um ohne Aufsicht mit einem Jungen wie dir durch die Weltgeschichte zu reisen.« Langsam glitten ihre Augen durch den Raum, bis sie schließlich auf der Kommode ruhten. Auf ihrer eigenen Haarbürste mit dem silbernen Griff, die neben Mr. Jacksons Kamm lag. Auf ihren langen, gebogenen Haarklammern,
die
achtlos
auf
einem
seiner
Taschentücher lagen. Tad wurde rot und wand sich. Esthers Augen ruhten für eine Weile auf seinem Gesicht. Dann machte sie einen Schritt nach vorne. »Du brauchst Zeit zum Überlegen, Tad. Dir wird klar werden, wie jung du noch bist. Wie leichtsinnig du dich in dein Unglück stürzt.« Sie hängte sich bei Mr. Jackson ein, der mittlerweile zu ihr getreten war, und blickte zu ihm hoch. »Sollen wir einen kleinen Spaziergang machen, damit Tad in aller Ruhe zur Besinnung kommen kann?« Mit fragend erhobenen Augenbrauen blickte er zu ihr herunter. Sie zog ihn am Arm. »Ich kenne Tad«, sagte sie leise. Ein kleines, boshaftes Lächeln umspielte Mr. Jacksons 247
Lippen. Nach einem letzten, prüfenden Blick auf Tad führte er Esther hinaus, schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel herum. Tad setzte sich auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Bruchstücke von Esthers Sätzen wirbelten ihm noch immer durch den Kopf. ... stürzt dich in dein Unglück ... zu alt um ohne Aufsicht mit einem Jungen wie dir durch die Weltgeschichte zu reisen ... die große amerikanische Wüste ... Und da war noch der Revolver. Und der drohende Arm des Gesetzes. Und Mr. Jacksons kalte, brutale Augen. ... stürzt dich in dein Unglück ... Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber Esther hatte ihn so weit gebracht, sich wieder wie damals als Hausdiener in Tante Adahs Pension zu fühlen. Als tölpelhafter, ungeschickter Dummkopf, der ständig mit einem schlechten Gewissen herumlief. Je länger Esther auf ihn einreden würde, desto dümmer würde er sich vorkommen. Und im Unrecht. Er musste von hier verschwinden, ehe sie ihn so weit hatte, dass er seinem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr traute. Er musste fliehen. 248
Kurz vor Cairo 3.Mai Ich bin hier mit Khush allein, während Tad schon nach Cairo vorausgegangen ist, und es ist unerträglich! Wie ist es dir nur gelungen, dein Leben so abrupt zu ändern, Ketty? Als du noch Kerstin Gilstring hießt, warst du ständig auf Reisen, bist mit uns von Stadt zu Stadt und von einer Aufregung zur nächsten gezogen. Wie hältst du es aus, einfach nur noch Frau Svensson zu sein und in Nebraska einen Lehmboden aufzuwischen? Wie verbringst du all die leeren Stunden? Wenn dir tausend Gedanken durch den Kopf gehen? Seit dem Zugunglück ist es für mich eine Qual, alleine zu sein. Tad ist so groß und kräftig, dass er eine Mauer zwischen mir und meinen Gedanken aufbaut. Wenn er jedoch nicht bei mir ist, quälen sie mich mehr als alle Moskitos zusammen. Und nun bin ich wie eingesperrt mit ihnen, abgeschlossen vom wirklichen Leben. Ich brauche es, mittendrin zu sein, dort, wo die Dinge geschehen und beschlossen werden. 249
Ich brauche einen Platz am Fenster ... Ich muss weiter! Ich habe es versucht, aber ich kann nicht länger hier bleiben. Lieber mit Tad Ärger bekommen, als noch länger mit meinen quälenden Gedanken hier herumzusitzen. Sobald es dunkel wird, nehme ich Khush und gehe nach Cairo.
250
Das Fenster war klein und vergittert, die Tür war verschlossen. Tad tat zehn Minuten nichts anderes, als hilflos von einem zum anderen zu blicken, fest davon überzeugt, dass es keinen Ausweg gab. Aber er musste hinaus. Er öffnete das Fenster und fuhr mit den Fingern über jeden einzelnen Gitterstab, in der Hoffnung, einer könnte eine Schwachstelle aufweisen. Doch die Gitterstäbe waren stabil und fest im Mauerwerk verankert. Vielleicht die Tür. Er rüttelte und zog an der Klinke, aber nichts bewegte sich. Das Schloss gab nicht nach. Wütend warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Sie erbebte. Von draußen, aus dem Korridor, kam ein leises Geräusch. Ein hohes, metallisches Klicken. Es war der Schlüssel, der aus dem Schloss gefallen war. Tad warf sich auf den Fußboden und spähte unter der Tür hindurch. Da war er! Ein großer, grauer Schlüssel, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Seine Hand passte leider nicht durch den Spalt unter der Tür, aber es musste etwas in diesem Zimmer geben, mit dem er den Schlüssel erreichen konnte. Es musste etwas geben! 251
Und da war es auch! Esther selbst hatte es ihm gezeigt! Aufgeregt sprang Tad auf und rannte zur Frisierkommode. Dort lagen fünf lange, braune Haarnadeln und er nahm drei davon. Es dauerte keine Minute. Er steckte die Haarnadeln so aneinander, dass sie einen langen, starken Haken bildeten, der mühelos unter der Tür hindurchpasste. Nach einigem Hin und Her schaffte er es, mit diesem Haken den Schlüssel zu erreichen und ihn ins Zimmer zu ziehen. Er konnte es kaum glauben, dass Esther so dumm gewesen war, aber darüber wollte er sich nicht lange den Kopf zerbrechen. Rasch steckte er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Die Tür öffnete sich. Leise verließ er den Raum und schlich über den Korridor. Es war unmöglich, dabei kein Geräusch zu machen. Die Dielenbretter knarrten, dann die Treppe, und schließlich quietschte auch noch die Hintertür in ihren Angeln. Aber so unglaublich es auch war - niemand kam. Auf der Straße war es inzwischen völlig dunkel. Tad zögerte einen Moment. Er hätte zum Kai laufen können um Kapitän Manzoni zu suchen, aber dort würde man ihn vermutlich am ehesten suchen. 252
Es war besser, wenn er zu Cissie zurückkehrte. Vielleicht mussten sie nun, da Mr. Jackson ihn aufgespürt hatte, ihre Pläne völlig ändern. Er musste unbedingt mit ihr reden. Möglichst unauffällig schlich er an den Hauswänden entlang, bis er Cairo endlich wieder hinter sich gelassen hatte. Er war sehr müde und jedes Mal, wenn er Schritte hörte, klopfte ihm das Herz bis zum Hals, aber er wagte es nicht sich umzuschauen. Er zwang sich langsam zu gehen um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Sobald er die Stadt hinter sich gelassen hatte, schlug er den ebenen, ausgetretenen Pfad ein, der am Fluss entlangführte. Zuerst rannte er, fiel dann aber in einen gleichmäßigen, raschen Gang. Die Sichel des Mondes erhellte seinen Weg nur spärlich und er musste aufpassen nicht vom Weg abzukommen. Anfangs blieb er jedes Mal stehen, wenn er hinter sich ein Geräusch hörte. Es kam ihm so vor, als wären es wesentlich mehr Geräusche als auf dem Hinweg. Zweige knackten, Blätter raschelten, und im Unterholz knirschte es. Doch wenn er sich umdrehte, erkannte er, dass es nur bedeutungslose, wirre Schatten waren. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass es die üblichen Geräusche der Nacht 253
waren, aufgebauscht durch seine Nervosität. Es war besser, gar nicht auf sie zu achten, sondern nur so rasch wie möglich weiterzugehen. Es würde bestimmt nicht lange dauern, bis Esther und Mr. Jackson in ihr Hotelzimmer zurückkehrten und sich auf die Suche nach ihm machten. Er konnte es sich nicht leisten dauernd nach irgendwelchen Schatten Ausschau zu halten. Bis Mound City kam er gut voran. Dort aber war die Dunkelheit voller Menschen. Vor einem der Hotels war offenbar ein Streit entbrannt. Die Leute hatten zwei Parteien gebildet und warfen einander wüste Drohungen an den Kopf. Zögernd blieb Tad einen Moment lang stehen. Dann fiel ihm ein, dass er ja alleine war. Mit Khush hätte er einen Weg außerhalb der Stadt wählen müssen, aber schließlich war er jetzt ein ganz gewöhnlicher Junge, an dem nichts Auffälliges war. Es war sicher ratsamer unbekümmert weiterzugehen, als das Risiko einzugehen sich zu verlaufen. Es dauerte nicht lange, bis er an dem Menschenauflauf vorbei war und die Stadt wieder verlassen hatte. Er ging 254
weiter, wie automatisch einen müden Fuß vor den anderen setzend. Er wusste nicht, wie weit das kleine Wäldchen, in dem er Cissie und Khush zurückgelassen hatte, noch entfernt war, aber er konnte es kaum erwarten sie wieder zu sehen. Sie mussten unbedingt sofort weiterziehen, falls sie von jemandem gesehen worden waren. Als er das Wäldchen schließlich erreichte, begann es bereits zu tagen. Es musste ungefähr vier oder fünf Uhr sein. Noch zu früh für das Morgengezwitscher der Vögel, aber doch schon hell genug um Khushs riesige, dunkle Gestalt erkennen zu können. Angestrengt blickte er sich um. Er sehnte sich nach Khushs Anblick. Er wollte zu ihm gehen und seinen Kopf an die riesige, weiche Flanke legen. Doch Khush war nirgendwo zu sehen. Auch mitten in dem Wäldchen war von Khush weit und breit keine Spur. Vielleicht hatte er sich hingelegt. Nach weiteren zehn Metern begriff Tad, dass er in diesem Gestrüpp keinen Elefanten mehr finden würde. Auch kein Mädchen mehr. Nur noch ein Waldstück mit zertrampelten Büschen. An einem Ast flatterte ein Zettel. Er griff danach und versuchte ihn zu entziffern, aber es 255
war noch zu dunkel. Selbst als er aus dem Schutz der Bäume ins Freie trat, konnte er die Worte noch nicht lesen. Hätte er doch nur eine Laterne ... Als sei sein Wunsch erhört worden, flammte plötzlich ein Streichholz auf. Für eine Sekunde starrte Tad auf die hübschen, zierlichen Buchstaben. Wenn du das liest, ist etwas schiefgelaufen, denn ich wollte dich an der Mary Sullivan treffen. Ich werde dort auf dich warten. Bitte sei mir nicht böse - C. Dann riss Mr. Jackson ihm das Papier aus der Hand. »So nah«, sagte er süffisant, »und doch so fern.« Er starrte einen Moment auf das Papier, ehe er es zerknüllte und auf den Boden warf. Tad schloss die Augen. »Sie haben den Schlüssel absichtlich stecken lassen«, sagte er stockend. »Sie wollten, dass ich fliehe und Sie hierher führe.« »Es war Esthers Idee.« Mr. Jackson grinste. »Das Mädchen hat mehr Verstand, als ich ihr zugetraut hätte, aber sie konnte nicht mit dir Schritt halten. Ich musste sie unterwegs zurücklassen. In Mound City.« Mound City! Tads Gedanken überschlugen sich. Dort musste er Cissie und Khush verpasst haben! Cissie hatte 256
sich mit dem Elefanten bestimmt nicht durch die Stadt getraut, sondern war außen herum gegangen. Und inzwischen war sie sicher schon fast in Cairo. Mr. Jackson packte seinen Arm und drehte ihn brutal auf seinen Rücken. »Dann gehen wir am besten gleich los. Es ist ein langer Weg bis zurück nach Cairo!« »Aber ...« Tad konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Er war völlig erschöpft und er wusste, dass Mr. Jackson es sehen konnte. Aber er hatte keine andere Wahl. Mr. Jackson drehte Tads schmerzenden Arm noch ein Stück weiter. »Ich weiß, wo die Mary Sullivan festgemacht hat. Ich habe sie gestern gesehen. Wir müssen dort sein, ehe sie ablegt.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hielt Jackson Tad für den Bruchteil einer Sekunde seinen kleinen Revolver unter die Nase. Dann gab er ihm einen kräftigen Stoß und Tad blieb nichts anderes übrig als sich auf den Weg zu machen. Es schien unmöglich. Tad war hungrig und müde und er hatte in den letzten Stunden bereits mehr als zwanzig Meilen zurückgelegt. Doch Mr. Jackson drohte ihm und 257
trieb ihn unerbittlich an und irgendwie trugen ihn seine Füße vorwärts. Als sie in Mound City ankamen, war es bereits heller Tag und Esther erwartete sie. Mr. Jackson lieh sich zwei Pferde und Tad legte den letzten Teil der Strecke hinter Esthers Rücken zurück, wobei er krampfhaft versuchte nicht einzuschlafen. Unter Hufgeklapper trafen sie in Cairo ein. Er und Esther blieben etwas zurück, während Mr. Jackson voraustrabte, direkt zum Kai. Als sie ihn eingeholt hatten, war er bereits abgestiegen und sprach mit einem alten Mann, der auf einem Poller saß. »Sie haben sie nur knapp verpasst«, erklärte der alte Mann vergnügt. »So einen Anblick bekommt man weiß Gott nicht alle Tage geboten. Ganz Cairo war hier, um den Elefanten zu bewundern. Ein riesiger Elefant! Mitten auf dem Deck!« Bewundernd schüttelte er den Kopf und zeigte auf eine hohe Rauchwolke, die hinter den Bäumen im Hintergrund aufstieg. »Da fährt sie dahin, die Mary Sullivan. Mit einem Elefanten an Bord!« Er spuckte Mr. Jackson seinen Kautabak vor die Füße und nickte vielsagend. »Tja, ich hab in meinem Leben schon vieles 258
den Mississippi hinauffahren sehen, aber mit so was hätte ich nie gerechnet. Ein wahrhaftiger, riesiger Elefant!«
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»Du kleiner Teufelsbraten!« Esther rutschte aus dem Sattel und zog Tad mit sich. »Es war ein Komplott, nicht wahr? Das Mädchen schickte dich nach Cairo um uns abzulenken.« »Nein!« Tad prallte gegen das Pferd, das einen nervösen Satz zur Seite machte. »Ich dachte ... sie sollte im Wald auf mich warten ...« Hatte sie aber nicht. Sie war fortgegangen und hatte ihn sitzen lassen. Er starrte auf die Rauchsäule hinter den Bäumen und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Esther schüttelte ihn wütend. »Sie hat das Ganze geplant, nicht wahr? Du bist nämlich zu dumm um dir so etwas auszudenken! Du tust immer nur das, was sie dir sagt ...« »Nein!« Die anderen Leute am Kai blickten verwundert herüber. Mr. Jackson kam näher und legte Esther warnend die Hand auf den Arm. »Schüttel nicht den letzten Rest von Verstand aus ihm heraus. Vielleicht brauchen wir ihn noch.« Esther schnaubte. »Welchen Rest?« Aber sie ließ ihn zumindest los, machte einen Schritt rückwärts und strich sich über ihren zerbeulten Hut. 260
Mr. Jackson grinste Tad hasserfüllt an. »Nun, sie hat dich ausgetrickst, genau wie uns. Verschwindet einfach mit dem Elefanten und lässt dich hier sitzen. Sie ist eine miese kleine Betrügerin, genau wie ihr Vater.« Tad blickte zu Boden. Michael Keenan. Cissie. Für einen Moment verschwammen ihre Bilder vor seinem geistigen Auge und wurden zu einem einzigen Zerrbild. Esther beobachtete ihn. Als sie dann sprach, war ihre Stimme ungewohnt weich. »Willst du dich nicht dafür rächen, Tad? Das ist ganz leicht. Du brauchst uns nur zu sagen, wohin sie gehen will.« Langsam und träge, wie eine Schnecke, die an einer Hauswand hochkriecht, drangen ihre Worte in sein Gehirn. »Will sie etwa nach St. Louis?«, fragte Esther katzenfreundlich. »Falls ja, könnten wir mühelos vor ihr dort sein. Wir nehmen einfach die Eisenbahn. Und wenn wir sie erwischen, kannst du dich an ihr rächen.« An ihr rächen. Nun hatte sie schon zum zweiten Mal diesen aufhetzenden Ausdruck gebraucht und er tat Tad weh.
Versonnen
blickte
er
der
Rauchwolke nach und dachte an Khush. 261
verschwindenden
Mr. Jackson legte ihm seine dicke Hand auf die Schulter. »Es wird sich für dich lohnen. Sag mir nur, wohin sie mit meinem Elefanten gehen will.« Meinem Elefanten. Dabei hatte Mr. Jackson Khush abgeschrubbt, als sei er ein lebloser Felsblock. Tad erinnerte sich daran, wie Khush geknurrt und ihm die Bürste aus der Hand geschlagen hatte. »Na, wie wär’s?« Mr. Jackson blickte ihn eindringlich an. »Ich bezahle dir auch die Fahrkarte bis nach Hause, wenn du möchtest.« »Ich ...« Tad tat so, als sei er eingeschnappt. Aber während seine Füße langsam durch den Staub schlurften, arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren. Cissie war auf dem Weg nach St. Louis. Dort würde sie nach einem Boot suchen, das den Missouri hinauffuhr. Wenn Mr. Jackson den Zug nehmen würde, wäre er tatsächlich vor ihr dort und würde sie abfangen. Wenn er ihr aber auf dem Fluss folgen würde ... »Oh, vergiss den Tölpel!«, sagte Esther abfällig. »Er hat doch keine Ahnung.« »Ich weiß nicht genau«, murmelte Tad, den Blick noch immer auf den Boden gerichtet. »Aber ich könnte mir 262
denken ...« Mr. Jackson zog eine Handvoll Münzen aus der Tasche und hielt sie Tad unter die Nase. »Was könntest du dir denken?« Tad senkte die Stimme zu einem dramatischen Flüstern. »Sie sagte, es wäre irgendwo am Mississippi.« Mr. Jacksons Finger schlossen sich wieder um die Münzen. »Was heißt: irgendwo am Mississippi?« »Ihre Tante. Zu ihr will sie. Tante Eliza wohnt in einem Ort vor St. Louis. Das hat sie gesagt. Ich sollte dort einen Job
bekommen.«
Tad
spürte
zwei
misstrauische
Augenpaare auf sich ruhen. Er klammerte sich an Mr. Jacksons Ärmel. »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Nehmen Sie mich mit! Bitte!« »Dich mitnehmen?«, meinte Esther verächtlich. »Du nützt uns nichts mehr. Lass Mr. Jacksons Ärmel los. Du zerknitterst ihn.« Tad klammerte sich noch fester und wimmerte mit flehentlichem Blick: »Bitte!« Einen schrecklichen Moment lang sah es aus, als würde Mr. Jackson tatsächlich einwilligen. »Der Junge könnte uns noch von Nutzen sein«, sagte er nachdenklich. 263
»Unsinn!« Esther schlug mit ihrem Handschuh nach Tads Arm. »Wir können unsere Zeit nicht mit ihm vergeuden. Wir müssen ein Schiff finden, das uns den Mississippi hinaufbringt.« »Ein langer Fluss«, gab Mr. Jackson trocken zu bedenken. »Wir müssen einfach nur an jedem Anlegeplatz nach ihnen fragen.« Esther warf ihren Kopf zurück. »Wenn irgendwo ein Elefant an Bord ist, erfahren wir es bestimmt. Und irgendwann werden wir sie einholen.« Tad, der noch immer zwischen den beiden stand, hörte ihrer Diskussion nur mit halbem Ohr zu. Geht doch endlich, dachte er. Geht endlich auf euren Flussdampfer und haltet an jeder Anlegestelle an. Wenn sie das taten, würde Cissie garantiert vor ihnen in St. Louis sein. Und wenn sie dann gleich an Bord des ersten Flussdampfers gehen würde, der den Missouri hinauffuhr, hätte sie auch weiterhin einen beträchtlichen Vorsprung. Aber woher sollte sie wissen, dass sie das tun musste? Sie musste unbedingt erfahren, dass sie verfolgt wurde. Sonst würde sie sich womöglich unnötig lange in St. Louis aufhalten. Er musste vor ihr dort sein und sie warnen. 264
Tad blickte auf Esther und Mr. Jackson. Sie beachteten ihn zwar nicht, aber sie würden bestimmt misstrauisch werden, wenn er sich einfach aus dem Staub machen würde. Er brauchte einen Vorwand. Einer plötzlichen Eingebung
folgend,
klammerte
er
sich
wie
ein
Ertrinkender an Esthers Kleid und begann zu jammern. »Bitte, Esther, lasst mich nicht alleine hier! Ich bin verloren! Was soll ich nur tun? Ich habe Angst ...« Im ersten Moment befürchtete er, alles vermasselt zu haben, weil er sich nicht überzeugend genug verstellt hatte. Aber Esther hatte den Köder geschluckt. Sie riss Mr. Jackson die Münzen aus der Hand und stopfte sie verächtlich in Tads Tasche. »Geh endlich!«, kreischte sie genervt. »Lass uns in Ruhe! Wenn ich dich noch länger in meiner Nähe ertragen muss, wird mir übel! Verschwinde!« Mr. Jackson flüsterte ihr etwas ins Ohr und einige der umstehenden Frauen schüttelten tadelnd den Kopf, doch Tad ergriff die ihm gebotene Chance. Mit hängenden Schultern schlurfte er davon. Es kostete ihn große Überwindung, langsam zu gehen, bis er außer Sicht war, aber er schaffte es. Und es funktionierte! Noch ehe er um die nächste Straßenecke gebogen war, 265
hatten Esther und Mr. Jackson alles Interesse an ihm verloren. Er sah, dass sie schon damit begonnen hatten, sich nach einem Dampfer nach St. Louis zu erkundigen. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht bog Tad um die Ecke und begann durch die Straßen von Cairo zu rennen. Sobald er in sicherer Entfernung vom Fluss war, verlangsamte er sein Tempo und hielt nach jemandem Ausschau, der in offensichtlicher Eile war. Es dauerte nicht lange. Eine Frau mit vier kleinen Kindern im Schlepptau kam geschäftig aus einem der Häuser. Tad ging auf sie zu. »Entschuldigen Sie, Ma’am, könnten Sie mir bitte sagen, wie ich zum Bahnhof komme?« Sie blickte nicht einmal auf. »Welchem?« »Ich möchte nach St. Louis.« Sie deutete in eine Richtung. »Diese Straße entlang, dann links, und ab da kann man den Gleisen folgen.« Inzwischen waren die Kinder längst um die nächste Ecke gebogen und die Frau eilte ihnen nach, ohne Tad überhaupt angeblickt zu haben. Er grinste erneut. Sie würde bestimmt niemandem sagen können, wohin er gegangen war. 266
Fünf Minuten später betrat er die Bahnhofshalle. Der Schalterbeamte war in eine Zeitung vertieft und blickte kaum auf. »Ja?« Tad holte Mr. Jacksons Geld aus seiner Tasche. »Ich möchte nach St. Louis, bitte.« An Bord der Mary Sullivan 3.Mai Ich habe Tad verloren. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. In Cairo kann niemand verloren gehen. Es ist nichts als ein armseliges, sumpfiges, dreieckiges Stück Land, an dem der Ohio in den Mississippi mündet. Cairo ist von zwei Seiten durch diese Flüsse begrenzt und wird von riesigen Schutzwällen gegen Hochwasser geschützt. Ich hielt es für besser, Khush an Bord dieses Schiffes zu bringen. Jeder in Cairo wusste, wer ich bin, und ich war mir sicher, dass Tad mich finden würde. Aber er kam nicht. Er hatte sich auf die Suche nach Kapitän Manzoni und diesem Schiff, der Mary Sullivan, gemacht. Das ist an sich 267
kein Problem. Ich selbst habe es innerhalb von fünfzehn Minuten nach meiner Ankunft in Cairo gefunden. Ich kam kurz vor Tagesanbruch an, doch sofort tauchten sieben Leute auf, um Khush in Augenschein zu nehmen. Innerhalb von zehn Minuten waren es bereits dreißig und sie führten mich zur Mary Sullivan, schon aus reiner, hilfsbereiter Neugier. Kapitän Manzoni war gerade erst aufgestanden und rasierte sich. Nachdem ich ihn aufgespürt hatte, schien es vernünftig ihm zu sagen, weshalb ich gekommen war. Und es dauerte nur zwanzig Minuten, bis wir ein Geschäft der Art geschlossen hatten, wie Pa sie gerne machte. Ich ging an Bord der Mary Sullivan, während sie noch vertäut am Steg lag, und führte Khush den interessierten Zuschauern für fünfzig Cents pro Person vor (der Verdienst wurde natürlich mit dem guten Kapitän geteilt). Und ich überzeugte sechs Passagiere, bereits heute statt erst morgen abzufahren, denn dann würden sie ihre Freunde und Verwandten für den Rest ihres Lebens mit der aufregenden Geschichte »Wie ich damals mit einem Elefanten den Mississippi befuhr« langweilen können. (Dadurch hat sich der Fahrpreis für Khush und mich 268
halbiert.) Ich habe keine Sekunde lang daran gedacht, dass ich damit in eine Falle tappen könnte, denn ich war mir sicher, dass Tad mich bald finden würde. Ganz Cairo wusste schließlich, wo ich war! Aber Tad kam nicht. Und der Kapitän wollte ablegen. Das Auslaufen des Boots war für neun Uhr vorgesehen. Länger als bis zehn konnte ich es nicht hinauszögern. Und ich konnte auch nicht mehr an Land zurückgehen. Ich hatte mit Kapitän Manzoni ein Geschäft abgeschlossen und er bestand darauf, dass ich mein Versprechen hielt. Fünf nach zehn legten wir ab. Ich starrte über die Reling, bis Cairo außer Sicht war, und hoffte bis zuletzt, dass Tad keuchend
zum
Kai
gelaufen
käme,
mit
diesem
entschuldigenden Lächeln im Gesicht, das er immer hat (und das einen fälschlicherweise glauben machen könnte, er sei etwas unbeholfen). Aber er kam nicht. Deshalb bin ich nun allein. Ein Objekt der Neugier für jedermann an Bord. Elegante Damen halten mich für einen armen gottlosen Jungen und drücken mir
Heiligenbildchen
in
die
Hand.
Spielernaturen
versammeln sich um Khush und schließen Wetten über 269
jede seiner nächsten Bewegungen ab. Ein sogenannter Forscher traktiert mich mit allen möglichen Fragen über das Leben der Elefanten (einige davon so direkt, dass er vor Scham bestimmt tot umfallen würde, wenn er wüsste, dass ich ein Mädchen bin). Und eine Dame mit künstlerischen Neigungen ist so erpicht darauf, »diese mächtige Kreatur« lebensecht nachzuzeichnen, dass sie mit ihrer Staffelei ständig allen im Weg steht. Ich hoffe, Tad wird nach St. Louis nachkommen. Ich weiß allerdings nicht, warum er das tun sollte, schließlich muss er das Gefühl haben, ich hätte ihn im Stich gelassen. Aber er ist eine treue Seele. Ich bete zu Gott, dass er einmal entschlossen mich nach Nebraska zu begleiten diesen Vorsatz auch wahr machen wird. Er muss kommen!
270
In Marys River hatte der Zug eine Panne. In die Ecke seines Sitzes versunken, hatte Tad tief und fest geschlafen, und als er aufwachte, war er zuerst völlig verwirrt. Er dachte, er wäre bereits in St. Louis. Doch die Frau, die auf der anderen Seite des Abteils saß, klärte ihn auf. »Dort kommen wir heute Nacht nicht mehr an. Sie haben die Lokomotive abgekoppelt, um sie zu reparieren.« Es war eine dünne, knochige Frau, nicht mehr allzu jung, in einem abgetragenen braunen Mantel. Ihr glanzloses Haar lag in dichten, unregelmäßigen Wellen um ihr Gesicht und sie saß steif da und umklammerte ihre Reisetasche. »Die Lokomotive abgekoppelt?« Tads Magen drehte sich um. »Aber ich muss unbedingt nach St. Louis.« »Wir müssen alle nach St. Louis«, erwiderte die Frau gelassen. Ein eigenartiges Lächeln umspielte ihren Mund. »Aber wir werden eben bis morgen warten müssen.« »Aber ...« Wenn es ihm nicht gelänge, vor Mr. Jackson und Esther in St. Louis zu sein, wäre sein ganzer Plan hinfällig. Er schluckte und biss die Zähne zusammen. Die Frau musterte ihn neugierig. Dann öffnete sie ihre Reisetasche und nahm ein kleines Päckchen heraus. »Sieht 271
so aus, als könntest du das brauchen.« Tad zögerte sichtlich, doch sie schüttelte das Päckchen. »Komm schon, nimm es!« Er ging über den Gang und setzte sich neben die Frau. Sie ließ das Päckchen in seinen Schoß fallen. Ein flaches, feuchtes, in ein Tuch eingewickeltes Bündel. Als er das Tuch abschälte, kam ein dickes Stück Nusskuchen zum Vorschein. Nach den vielen Tagen mit nichts als trockenem Brot und Käse roch der Kuchen sehr verlockend. Tad schluckte. »Aber ... ist das nicht Ihr Proviant, Ma’am?« Sie schüttelte den Kopf und ihre Locken hüpften auf und ab. »Hab keinen Appetit. Du kannst es gerne haben.« »Ich ... vielen Dank!« Er konnte nicht weitersprechen. Nicht beim verlockenden Duft dieses Kuchens. Er schloss die Augen und biss hinein. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass die Frau seine schäbige Kleidung und zerlumpten Schuhe betrachtete. »Sieht so aus, als könntest du dir kein Essen leisten. Woher hattest du nur das Geld für die Fahrkarte?« »Ich ... ich ...« Tads Mund war voller Kuchen und in seinem Kopf herrschte eine völlige Leere. Verzweifelt 272
versuchte er sich eine Geschichte auszudenken, welche die Frau zufrieden stellen würde. Doch noch bevor er etwas sagen
konnte,
ließ
sie
ihre
Reisetasche
wieder
zuschnappen und ihr hageres Gesicht wurde rot. »Entschuldige bitte. Ich bin eine neugierige alte Jungfer und habe nichts Besseres zu tun, als meine Nase in die Angelegenheiten meiner Mitmenschen zu stecken.« »Ist schon gut«, sagte Tad unsicher. »Wenn es Sie interessiert ...« Ihr Gesicht wurde noch röter. »Ich wollte nicht aufdringlich sein, sondern nur wissen, ob alles in Ordnung ist. Du hast es auffallend eilig, nach St. Louis zu kommen.« »Ich treffe dort jemanden«, murmelte Tad. »Wir wollen in den Westen.« »In den Westen?« Die Frau spielte am Verschluss ihrer Tasche herum. »Wohin genau?« »Nach Nebraska, Ma’am.« »Nebraska ...« Sie beobachtete, wie er den Kuchen verspeiste. Als er verlegen wegblickte, ertappte sich Tad dabei, dass er auf ihre Hände starrte. Sie umklammerten den Verschluss der Reisetasche. Bis er schließlich die 273
letzten Kuchenbrösel verschlungen hatte, waren sie so verkrampft, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. »In welches Gebiet von Nebraska?«, fragte sie. »Es ist ...« Tad zögerte. Doch warum sollte er es ihr nicht sagen? »In die Gegend des Looking Glass Creek, Ma’am.« »Looking Glass Creek!« Ihre Stimme zitterte leicht. »Wo genau?« »Ich ...« Er wusste es nicht. Nicht genau. »Ich muss ab St. Louis einen Dampfer nehmen. Den Missouri hinauf.« Die Frau schloss die Augen. Tad sah, dass sie die Hände wand. »Ich fahre auch den Missouri hinauf«, sagte sie verlegen. »Vielleicht könnten wir einander Gesellschaft leisten?« »Sie fahren nach Nebraska?« Tad konnte seine Überraschung nicht verbergen. Diese Frau entsprach ganz und gar nicht seinen Vorstellungen von einer Pionierin. »Ich ...« Mit einer schnellen, zwanghaften Bewegung griff die Frau in ihre Reisetasche und zog einen Umschlag heraus. »Hier!«, sagte sie und wurde wieder rot. »Lies das. Du kannst es ruhig wissen.« Etwas ungeschickt holte Tad den Brief aus dem Umschlag und breitete ihn aus. Es war ein kurzes 274
Schreiben
und
stammte
von
einer
verkrampften,
ungeübten Hand. Liebe Miss Whitwell, ich habe Ihr Schreiben auf meine Anzeige hin erhalten. Eigentlich wollte ich lieber eine Jüngere, aber 51 ist nicht so schlimm, solange Sie gesund sind. Vielleicht passen wir ja zusammen. Aber das finden wir nur heraus, wenn wir einen Versuch wagen. Wenn Sie kommen möchten, schreiben Sie mir, wann und wo ich Sie in Omaha abholen soll. Hochachtungsvoll Ihr William Ellicott Tad begriff nicht. »Treten Sie dort eine Stelle an?« »So könnte man es auch nennen«, sagte Miss Whitwell, ehe sie mit herausforderndem Blick fortfuhr: »Ich werde Mr. Ellicott heiraten.« »Heiraten?« Tad war wie vor den Kopf geschlagen. »Er hat inseriert, dass er eine Frau sucht?« »Hört sich lächerlich an, nicht wahr?« Miss Whitwell lachte kurz und bitter auf. »Gehe zu einem völlig 275
Fremden, den ich heiraten werde! In meinem Alter!« Tad starrte auf ihre im Schoß gefalteten Hände und wusste nicht, was er sagen sollte. »Schon mal von jemandem gehört, der in den Westen geht um zu heiraten?« Ihre Stimme klang spröde und ihr Gesicht war wieder feuerrot. »Hab’s noch keiner Menschenseele erzählt. Nur dir!« »Nur mir?« Tad blickte erstaunt hoch und als er ihr gerötetes Gesicht und ihre ihm ausweichenden Augen sah, begriff er. Sie hatte niemanden. Niemanden, mit dem sie lachen, scherzen oder plaudern konnte. Sie brauchte jemanden, der ihr sagte, dass sie nicht übergeschnappt war, aber die einzige Person, die sie zu fragen wagte, war ein zerlumpter Junge im Zug. Tad blickte auf das leere Vespertuch in seinem Schoß. »Es gibt wesentlich verrücktere Gründe um in den Westen zu gehen«, sagte er langsam. »Nehmen Sie mich zum Beispiel. Ich jage einem Elefanten nach.« »Einem Elefanten?« Miss Whitwell nahm ihm das leere Tuch vom Schoß und faltete es fein säuberlich zusammen. Aber sie hörte aufmerksam zu. »Wenn ich nicht vor morgen in St. Louis bin, wird der 276
Elefant wahrscheinlich gefangen, und dann war alles umsonst ...« Tads Stimme bebte. Er schluckte kurz um sie wieder unter Kontrolle zu haben, während Miss Whitwell ihm aufmunternd zulächelte. »Sieht ganz so aus, als hätten wir beide unsere Problemchen. Ich habe dir meine schon erzählt. Jetzt bist du an der Reihe!« »Ich ...« »Es wird dir gut tun. Und wer weiß - vielleicht kann ich dir helfen.« Das glaubte er zwar nicht. Aber er wusste, dass sie ihn nicht auslachen würde. Und ihn auch nicht verraten würde. Mit einem Mal kam es ihm so vor, als sei es das einzig Vernünftige. Er holte tief Luft und begann.
277
»Das also ist die magische Tinktur?« Miss Whitwell hielt Tads kleine Flasche schräg in die Höhe, sodass ihr grünlicher Inhalt in der Sonne funkelte. »Die einzige Flasche, die noch übrig ist, Ma’am.« »Und der Elefant hob sie einfach so in die Luft?« Tad nickte. »Hoch über unsere Köpfe. Und sie hing wie ohnmächtig in seinem Rüssel.« Die zarte, zerbrechliche Cissie! Die aussah, als könne sie kein Wässerchen trüben. Mit
ihrem
seitlich
geneigten
Kopf
und
ihrem
hochgerutschten Rock. »Es ist kriminell«, erklärte Miss Whitwell streng, »rechtschaffene Leute um ihre hart verdienten Dollars zu betrügen.« Plötzlich huschte wieder das unerwartete Schulmädchenlächeln über ihr Gesicht. »Aber ich finde, sie haben sich das Geld redlich verdient. Eine derartige Sensation bekommt man schließlich nicht alle Tage geboten!« Sie hatte sich von Tad alles erzählen lassen, vom ersten Zusammentreffen mit Cissie an, und sie hatte interessiert zugehört, alle Details in sich aufgesogen und jede Menge präziser, scharfsinniger Fragen gestellt. Sie entschuldigte sich auch nicht mehr für ihre Neugier. 278
Nun blickte sie fast verträumt in die geheimnisvolle grüne Flüssigkeit. »Würde mich glücklich schätzen, wenn ich diesen Elefanten zu Gesicht bekommen würde.« »Ich mich auch«, seufzte Tad. Er fragte sich, wann sie endlich in St. Louis sein würden und ob Khush dort auf ihn warten würde. Miss Whitwell überlegte. »Also ich an deiner Stelle würde dem Mädchen trauen. Nach dem, was du von ihr berichtet hast, ist sie offensichtlich nicht auf den Kopf gefallen. Sie wird nicht lange unnötig in St. Louis warten.« Diese Aussage trug nicht dazu bei, Tad aufzuheitern. »Sie meinen, sie wird den Missouri hinauffahren? Ohne auf mich zu warten?« »Ja, wenn sie clever ist. Nützt doch nichts, wenn sie in St. Louis auf dich wartet und dann geschnappt wird. Sie sucht sich bestimmt ein anderes Boot, sobald sie dort ist.« »Aber ich weiß doch gar nicht, wohin sie geht.« »Ich habe gesagt, du sollst ihr vertrauen!« Miss Whitwell tätschelte ihm das Knie. »Sie wird dich nicht im Stich lassen. Nicht, wenn sie so ist, wie ich sie mir vorstelle. Sie weiß genau, dass sie dich braucht.« 279
»Mich braucht?« Fast hätte Tad laut aufgelacht. Miss Whitwell nickte überzeugt. »Wart’s ab. Warte ab, bis wir in St. Louis sind!« Als der Zug in St. Louis ankam, packte sie Tad am Arm und führte ihn aus dem Bahnhof. »Wir müssen sofort zum Kai um herauszufinden, was los ist.« Sie ging sehr schnell, mit langen, entschlossenen Schritten und sie wusste genau, was sie wollte. Sobald sie am Kai angekommen waren, schaute sie sich prüfend um. »Wäre eine Zeitvergeudung, diese Männer zu fragen. Wir brauchen einen vernünftigen Jungen. Etwa in deinem Alter. Jungen wissen über alles Bescheid.« Und so marschierte sie entschlossen auf einen Jungen zu, der in etwa ihren Vorstellungen entsprach, und stellte ihm eine Frage. Sobald er das Wort Elefant hörte, begann sein Gesicht zu strahlen. »Und ob ich einen Elefanten gesehen habe! Er wurde in aller Herrgottsfrühe auf die Sarah Dewar verladen. Das hätten Sie sehen sollen! Marschierte wie unsereins die Schiffsplanken hoch und auf das Kesseldeck. Doch dann haben sie so viele Kisten und Ballen um ihn rumgestellt, dass man nur noch seinen Rüssel sehen konnte.« 280
Tad konnte sich nicht satt hören. »Und, ist das Schiff noch da?« »Noch da?« Der Junge starrte ihn an. »Wieso sollte es noch da sein? Dann könnten wir die Wette ja nie gewinnen?« »Eine Wette?« Miss Whitwell blickte Tad fragend an. »Was für eine Wette?« Der Junge grinste aufreizend überheblich. »Na ja, ein Wettrennen.« Welches Wettrennen, wollte Tad gerade fragen, aber Miss Whitwell hielt ihm schnell den Mund zu und blickte den fremden Jungen streng an. »Wenn es dir nichts ausmacht, uns näher zu informieren, hören wir dir gerne zu. Für lange Spielchen haben wir aber keine Zeit.« »Sie interessieren sich ja mächtig für diesen Elefanten«, konstatierte der Junge. »Haben Sie etwas mit den Leuten zu tun, die hinter ihm her sind und die das Telegramm aus Cairo geschickt haben?« Natürlich! Mr. Jackson hatte telegrafiert! Das hätte er sich gleich denken können! Tad stöhnte, konnte aber nichts sagen, weil Miss Whitwells Hand noch immer fest auf seinen Mund gepresst war. 281
»Kann
sein«,
sagte
sie
gelassen.
»Fanden
sie
Unterstützung?« »Klar doch, Ma’am«, grinste der Junge mit leuchtenden Augen. »Halb St. Louis hat darauf gewettet, dass sie den Elefanten kriegen. Und der Käpten der City of Omaha stoppt sie, sobald er sie eingeholt hat. Für ihn stehen immerhin fünfhundert Dollar auf dem Spiel.« Tad entwand sich Miss Whitwells Hand. »Aber die Sarah Dewar hat doch einen Vorsprung, oder?« »Höchstens vier Stunden.« Der Junge bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. »Außerdem ist sie ein alter Kahn und der Elefant an Bord verlangsamt das Tempo zusätzlich. Ich habe auf die Omaha gesetzt!« »Aber ...« Tad wollte noch mehr fragen, aber Miss Whitwell zog ihn bereits mit sich fort. »Wir müssen an Bord der City of Omaha«, zischte sie ihm zu. »Hört sich so an, als sei Jackson auch dort.« »Aber, Ma’am ...« Tad riss sich los. »Ich kann nicht.« »Du kannst nicht? Wieso denn das?«, fragte Miss Whitwell. »Ich kann mir kein Ticket kaufen. Ich habe kein Geld mehr.« 282
Miss Whitwell schüttelte ungläubig den Kopf und ihr gewelltes Haar tanzte auf und ab. »Unsinn! Ich kaufe dir dein Ticket.« Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. Es war nicht mehr die verlegene, fahle Röte aus dem Zug, sondern ein lebhaftes Dunkelrot. »Ich kann Sie doch nicht mein Ticket bezahlen lassen«, protestierte Tad. »Warum nicht? Findest du, ich sollte mein Geld lieber für Mr. Ellicott aufheben?« »Ich ...« Lächelnd tippte sie ihm mit dem Finger auf die Nase. »Erzähl mir nicht, was ich tun und lassen darf! Bleib du hier stehen und halte nach Jackson und dieser Frau Ausschau. Ich kümmere mich um die Tickets.« Noch ehe Tad weitere Einwände vorbringen konnte, war sie auch schon davongeeilt. Ratlos schritt er auf und ab und rechnete jeden Augenblick damit, Mr. Jacksons bellende Stimme zu hören oder eine purpurrote Hutfeder daherschweben zu sehen. Bestimmt würden sie ihn sofort entdecken! Aber sie kamen nicht. Und als Miss Whitwell zurückkam, strahlte sie über das ganze Gesicht. In der 283
einen Hand hielt sie die Tickets, in der anderen schwenkte sie einen kleinen weißen Umschlag. »Ich habe dir gesagt, dass das Mädchen dich nicht vergessen hat!« Tad starrte auf den Umschlag. Auf der Vorderseite stand sein Name, geschrieben in Cissies kleiner, kratziger Schrift. »Wo haben Sie das her?« »Ein Kinderspiel!«, grinste Miss Whitwell schelmisch. »Sie hinterlegte es natürlich am Schalter, an dem ich die Tickets für die Omaha kaufte. Ich ging einfach hin und fragte, ob sie eine Nachricht für Mr. Tad Hawkins hätten.« Ungeduldig schwenkte sie den Umschlag. »Nun mach schon! Schau nach, was sie schreibt.« Tad steckte den Finger unter den Verschluss und riss den Umschlag auf. Darin befand sich ein kleiner Zettel. Nur vier Worte standen darauf. Achte auf die Bänder Miss Whitwell hatte ihm über die Schulter geblickt. »Welche Bänder?« Tad runzelte die Stirn. »Nun sag schon, Junge. Was soll das bedeuten?« 284
»Sie hatte keine Bänder«, sagte Tad langsam. »Nur ...« Nur die Zierbänder an ihrer Pumphose. Die damals über seinem
Kopf
gehangen
hatten,
in
leuchtendem
Scharlachrot, damals als Khush sie durch die Luft geschwenkt hatte. Die auch in Mr. Nagels Scheune schamlos vor ihm aufgeblitzt waren. Aber das konnte er doch nicht sagen. Nicht zu einer Lady wie Miss Whitwell. Verlegen wandte er den Kopf. »Ich weiß nicht, was sie meint.« »Hmmm.« Miss Whitwell musterte ihn scharf, aber sie stellte keine weiteren Fragen mehr. Sie machte sich auf die Suche nach der City of Omaha. »Wir müssen sofort an Bord gehen«, erklärte sie. »Jackson soll gerade auf einem Boot namens Karydid einlaufen und Dutzende von Leuten warten bereits auf ihn, um ihn umgehend zur Omaha zu bringen. Hört sich so an, als habe sich die ganze Stadt an dieser Wette beteiligt.« Die City of Omaha war einer der letzten Flussdampfer in der langen, eleganten Reihe im Hafen. Es war ein großes, neues Schiff, dessen Messingbeschläge blinkten und auf dem ein Heer von Heizern vor den riesigen Kesseln schwitzte. Miss Whitwell blickte zufrieden auf das 285
Kesseldeck. »Das ist der richtige Platz für dich. Sie dürfen dich schließlich nicht sehen. Und falls Esther tatsächlich so ist, wie du sie beschrieben hast, wird sie sich niemals in der Nähe von Maschinen blicken lassen.« Sie zerrte Tad an Bord und suchte ihm ein Plätzchen neben den Heizkesseln. Ein warmes Eckchen, zwischen zwei Stapeln von Kisten verborgen. Genau der richtige Ort, den sich ein Junge aussuchen würde, wenn er selbst viel sehen, aber nicht gesehen werden möchte. »Hier müsstest du sicher sein.« Tad blickte in ihr Gesicht. Ihre gewellten Haare hingen schlaff herab, aber ihr ganzes Gesicht schien irgendwie lebendiger geworden zu sein. »Vielen Dank, Ma’am.« »Unsinn! Macht mir einen Heidenspaß! Aber gib mir sofort Bescheid, wenn die beiden Elefantenjäger an Bord kommen. Ich möchte wissen, mit wem wir es zu tun haben.« Es sollte noch eine halbe Stunde dauern, bis die Karydid in St. Louis einlief. Tad hatte das Schiff zwar noch nie gesehen, aber er erkannte es sofort. Jeder, der auf die Omaha gesetzt hatte, lief in seine Richtung, um Esther und Mr. Jackson in Empfang zu nehmen. 286
Sie tauchten inmitten einer großen Menschenmenge auf, die sie in aller Eile am Kai entlangführte. Miss Whitwell betrachtete die Szene schweigend, während sie steif und aufrecht neben Tad stand. Als sie näher kamen, drangen einzelne Wortfetzen bis auf das Kesseldeck. »Aber es waren keine zwei Jungen dabei. Nur einer ...« »Ein kleines Kerlchen. Mit einer piepsigen Stimme.« Esthers Hutfedern wogten inmitten der Menschenmenge und ihre Stimme durchschnitt das allgemeine Gemurmel. »Ich habe dir gesagt, dass du Tad vergessen kannst! Er hat nicht genug Grips um alleine hierher zu finden.« Tad achtete kaum darauf. Er kannte Esther. Doch neben ihm erklang ein unterdrücktes Schnauben und als Tad den Kopf wandte, sah er, dass Miss Whitwell diese Bemerkung mit zusammengekniffenen Augen registriert hatte. Schon im nächsten Moment wurde die Landungsbrücke eingezogen und eine dicke Rauchwolke schoss in die Luft. Mit einem Dröhnen am Kai und Jubelschreien von jedem Deck begann die City of Omaha ihre Verfolgungsfahrt auf dem Missouri. Von St. Louis bis Kansas City waren es fast vierhundert 287
Meilen. Zweieinhalb Tage, während denen das wilde, braune Wasser unentwegt gegen die Schiffsplanken peitschte. Tad kauerte in seinem Versteck und suchte das Ufer nach Bändern ab. Miss Whitwell patrouillierte auf dem Boot und wanderte von Deck zu Deck, wobei ihre Schuhe auf den nassen Planken dröhnten und ihre Röcke ihr um die Fesseln wirbelten. Wenn Tad am wenigsten damit rechnete, tauchte sie plötzlich vor ihm auf und brachte ihm etwas zu essen oder einen Becher des dickflüssigen Missouriwassers. Und sie wusste immer ganz genau, was auf dem Schiff vor sich ging. »Du kannst jetzt ein bisschen herumgehen. Jackson ist auf der Kommandobrücke und langweilt den Käpten und das grässliche Weib amüsiert sich bei einem Kartenspielchen.« »Ich weiß nicht, ob ...« »Nun geh schon, Junge! Du brauchst etwas Bewegung. Ich halte für dich Ausschau.« Mit einem Grinsen im Gesicht marschierte Tad dann im Schiff auf und ab. Aber auch in solchen Momenten ließ er das Ufer nicht aus den Augen. 288
Von Kansas City nach St. Joseph waren es noch einmal hundert Meilen. Weitere fünfzehn Stunden, in denen die Omaha ständig aufholte. Sie wussten immer, wie sie im Rennen lagen. Jedes Boot, das ihnen entgegenkam, wusste Neues von der Sarah Dewar zu berichten. Diese Informationen verbreiteten sich innerhalb von Minuten und Miss Whitwell kam dann immer sofort zu Tad um ihm ausführlich Bericht zu erstatten. Es hörte sich nie besonders gut an. Der Vorsprung der Sarah Dewar verringerte sich zuerst auf drei, später dann auf zweieinhalb Stunden. Miss Whitwell blickte zunehmend grimmiger drein und ein paar Mal hörte Tad Esther auf einem der Oberdecks fröhlich krähen. Sie kamen weiterhin gut voran, Iowa zur Rechten und Kansas zur Linken. Die City of Omaha verschlang Unmengen von Holz und Tad sah schweigend den Heizern zu. Er dachte an Khush, der auf dem Kesseldeck des anderen Schiffes stand. Wie würde er die Fahrt vertragen? Würde Cissie daran denken, ihn regelmäßig zu schrubben und sich um seine Füße zu kümmern? 289
Gegen Mitternacht passierten sie Rulo und endlich waren sie in Nebraska, das nun am linken Ufer lag. Tad starrte hinaus in die Dunkelheit, die vor seinen Augen jedoch undurchdringliche Strudel bildete. Er saß da, das Kinn auf die Knie gestützt, und dachte an Ketty im Schatten eines Apfelbaums. Hinter ihr breiteten sich endlose Kornfelder aus und das Wasser des nahen Bachs war so klar, dass man bis auf den Grund blicken konnte. Er dachte an alles, was ihm gerade einfiel. An alles, außer an das, was er dort draußen in der Dunkelheit am Ufer von Nebraska gerade übersehen könnte. Ein paar Meilen vor Plattsmouth 7. Mai Schau nur, wo ich bin, Ketty - an Land in Nebraska! Eigentlich wollte ich in St. Louis bleiben um auf Tad zu warten. Wenn nötig, auch wochenlang. Aber da wusste ich noch nicht, dass ich verfolgt wurde. Mr. Jackson (der Kerl, der mir Khush wegnehmen will) war mir dicht auf den Fersen und er hatte bereits ein Telegramm vorausgeschickt. Als Khush und ich in St. 290
Louis ankamen, wurden wir bereits erwartet. Es sah so aus, als sollten wir festgehalten werden, bis Mr. Jackson ankam um dann alles zu klären. Mir war natürlich klar, wie diese »Klärung« ausgesehen hätte. Khush wäre mir für immer weggenommen worden - und womöglich auch meine Freiheit. Selbst Tads Eintreffen hätte mir da nicht viel geholfen. In meiner Verzweiflung kam mir plötzlich die rettende Idee. Erinnerst du dich daran, was Pa getan hat, als wir damals in Maryland in der Klemme saßen? Er begann ein Streitgespräch darüber, wie schnell Khush rennen konnte, und begann dann Wetten anzunehmen. Wenn die Leute erst einmal anfangen zu wetten, pflegte er zu sagen, ist immer jemand auf deiner Seite. Und das war dann auch der Fall und wir sind ganz knapp entkommen. Nun, in St. Louis hat das auch geklappt. Jemand war so hilfsbereit zu behaupten, ich käme mit dem Elefanten sowieso nicht weit. »O doch«, behauptete ich kühn. »Wenn Khush und ich das nächste Schiff nach Omaha nehmen, werden wir vor Mr. Jackson ankommen.« (Ich wählte meine Worte mit Sorgfalt, wie du noch sehen 291
wirst.) Die Situation war mit einem Mal eine ganz andere! Das nächste Schiff, das nach Omaha auslaufen sollte, war ein behäbiger, klappriger Kahn - die Sarah Dewar, aber ihr Kapitän war ganz wild darauf auf ihre Schnelligkeit zu wetten. Es gab genügend Leute, die anderer Meinung waren. Sie überredeten den Kapitän der City of Omaha (des schnellsten
Schiffs
im
ganzen
Hafen)
die
Wette
anzunehmen, und er erklärte sich bereit, auf Mr. Jackson zu warten. Und er war zudem überglücklich, ebenfalls zu wetten, obwohl er keine Ahnung hatte, wie viel später er starten würde. Er behauptete, die Sarah Dewar käme überhaupt nie in Omaha an, wenn sie einen Elefanten an Bord hätte. Das Ende vom Lied war, dass auch die beiden Kapitäne eine Wette abschlossen. Danach begannen die Steuermänner. Dann die Leute am Kai. Selbst Mütter mit ihren Babys im Arm riskierten ein paar Cents auf das eine oder das andere Schiff. Und
Pa
hatte
Recht!
Sobald
sämtliche
Wetten
abgeschlossen waren, hatte ich plötzlich genügend 292
Freunde. Dutzende von Leuten drängten mich, endlich an Bord der Sarah Dewar zu gehen. Einige von ihnen schifften sich sogar gleich mit mir ein. Nur wenige Stunden nach unserer Ankunft in St. Louis waren Khush und ich auf dem Missouri und fuhren unter den anfeuernden Rufen der Wettlustigen am Kai davon. Aber ich hatte meine Wette sehr sorgfältig formuliert. Ich legte zwar auf der Sarah Dewar ab, aber ich hatte nie die Absicht bis Omaha zu fahren. Ich wollte in aller Stille wieder von Bord gehen, sobald wir in Nebraska angekommen sein würden, und Mr. Jackson würde der Sarah Dewar ganz umsonst bis nach Omaha nachjagen. Außerdem habe ich für Tad eine Nachricht hinterlassen, wie er mich finden würde - schlau formuliert, sodass nur er sie verstehen würde. Als ich dies dem Kapitän und den Passagieren, die auf mich gesetzt hatten, erklärt hatte, waren sie geradezu begeistert. Nicht nur dass sie so mehrere Tonnen Ladung loswerden würden (und somit wieder schneller fahren konnten), sondern sie wurden auch Khush wieder los, der ohne Tad einfach nicht auskommen kann! Ich wurde an Land gebracht, mit Lebensmitteln, 293
Anweisungen und guten Ratschlägen überhäuft, und hier sitze ich nun und verstecke mich in einem kleinen Wäldchen am Ufer, direkt an einem Bach. Aber ich darf mich nicht von der Stelle rühren. Sonst würde ich Tad für immer verlieren. Ich muss mich hier verstecken und hoffen, dass er meine Nachricht erhalten hat und mir gefolgt ist. Ich habe ein geheimes Zeichen am höchsten Baum hier aufgehängt und habe gebetet (laut, Ketty! Der arme Khush starrte mich höchst verwundert an!), dass Tad es nicht etwa irrtümlicherweise für das intime Wäschestück einer braven Hausfrau aus Nebraska hält. Und jetzt kann ich nichts mehr tun als warten.
294
Nachdem Tad an Bord der City of Omaha vier Tage lang vergebens Ausschau gehalten hatte, ging plötzlich alles ganz schnell. Das Schiff schleppte sich gerade um den Glenwood, ein paar Meilen unterhalb von Plattsmouth, und glitt in einem weiten Bogen nahe an das Ufer des Staates Nebraska. Und irgendwo in weiter Ferne stromaufwärts konnte man eine schwarze Rauchwolke sehen. Sofort herrschte große Aufregung auf dem Schiff. Selbst Tad, in seinem Versteck, konnte einzelne Wortfetzen verstehen. »... wird doch nicht etwa die Sarah Dewar sein ... Pazifikkurve ... St.-Marys-Kurve ... höchstens noch zwei Stunden entfernt ... wir können doch nicht schon so viel aufgeholt haben ...?« Hektische »Trimmt das Schiff«-Rufe kamen von der Brücke, als die Passagiere zum Bug stürmten um besser sehen zu können. Doch gerade als auch Tad sich aus seinem Versteck schleichen wollte, stand Miss Whitwell vor ihm. »Vergeude deine Zeit nicht mit der Rauchwolke da vorne!« Sie packte ihn am Arm und drehte ihn seitlich dem Ufer Nebraskas zu. »Kann das hier etwas mit den Bändern zu tun haben?« 295
Tad blickte ans Ufer. Genau gegenüber dem Schiff floss durch ein paar Bäume ein kleiner Bach herab. Und dort, an einem der höchsten Bäume, flatterte unverkennbar eine lange Damenunterhose. Er war zwar zu weit weg um die scharlachroten Bänder zu sehen, aber Tad begriff sofort, dass sie dort flattern mussten. Niemand außer Cissie konnte ein derartiges Signal gehisst haben. Miss Whitwells Lippen näherten sich seinem Ohr. »Kannst du schwimmen?« Als er nickte, schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Dann ist ja alles in Ordnung. Während alle auf die Rauchwolke starren, springst du hier über Bord.« Tad warf einen besorgten Blick auf die Heizer, doch sie grinste nur. »Um die kümmere ich mich. Ich gehe einfach auf die andere Seite des Schiffs und ... falle in Ohnmacht.« Verschmitzt lächelnd, schüttelte sie ihr gewelltes Haar. Tad begriff, dass sie es zweifellos tun würde. Sie würde keinen Moment zögern, sich lächerlich zu machen, wenn sie ihm damit helfen konnte. »Sie sind zu gut zu mir, Ma’am. Ich weiß nicht, wie ...« Errötend zog Miss Whitwell den Kopf ein um seinem Dank zu entgehen. »Unsinn! Ohne dich wäre ich auf 296
dieser Reise vor Langeweile gestorben. Ich hätte die ganze Zeit
still
in
einer
Ecke
gesessen
und
darüber
nachgegrübelt, ob William Ellicott wohl Gefallen an mir finden wird.« »Wenn er das nicht tut, ist er ein Narr!«, sagte Tad im Brustton der Überzeugung. »Aber falls er Ihnen nicht gefällt, machen Sie auf der Stelle kehrt und lassen Sie ihn stehen. Sie haben nur das Beste verdient!« Einem plötzlichen Impuls folgend, beugte er sich vor und drückte einen Kuss auf ihre dünne, trockene Wange. Erschrocken presste sie die Hand auf diese Stelle und stammelte etwas, und Tad befürchtete sie verletzt zu haben. Doch da lächelte sie. Nicht ihr verlegenes Schulmädchenlächeln, sondern ein offenes, glückliches Lächeln. Mit einem Finger fuhr sie über Tads Kinn, ehe sie ihn auf die Nasenspitze tippte. Ohne ein weiteres Wort marschierte
sie
dann
über
das
Deck
zur
gegenüberliegenden Reling hinüber. So unauffällig wie möglich streifte Tad seine Schuhe ab und band die Schnürsenkel zusammen. Dann blickte er sich prüfend um. Miss Whitwell wartete, bis eine weitere dicke Rauchwolke in der Ferne auftauchte und der Lärm 297
vom Bug lauter wurde. Dann brach sie mit einem leisen Aufschrei zusammen und plumpste wenig damenhaft zu Boden. Die Heizer wandten sich ihr zu und zwei von ihnen liefen sogar herbei um ihr zu helfen, während die anderen nur schadenfroh kicherten. Tad schlang sich die Schuhe um den Hals, rutschte leise über Bord und schwamm auf das Ufer von Nebraska zu. Er war noch mehrere Meter vom Ufer entfernt, als er ein seltsames Quietschen hörte. Vertraut und unverkennbar. Khush kam aus den Bäumen auf ihn zugestürmt und stürzte sich Hals über Kopf in den Fluss. Besorgt blickte Tad sich um, doch die Omaha war schon fast hinter der Biegung verschwunden und alle Mann an Bord starrten gespannt nach vorne, auf den Rauch der Sarah Dewar. Niemand war Zeuge, als Tad und Khush einander wieder sahen, im tiefen Wasser, von Angesicht zu Angesicht. Tad warf seine Arme um den riesigen Kopf und spürte, wie Khushs Rüssel sich um seinen Leib wickelte. Sie hatten es geschafft. Sie waren wieder zusammen. Als er sein Gesicht gegen den Rüssel lehnte, begriff Tad, dass er niemals wirklich damit gerechnet hatte. Er hatte geglaubt 298
diese herrliche raue Haut niemals wieder spüren zu können. Khush schleppte ihn mit sich ans Ufer. Nachdem er ihn aus dem Wasser geschoben hatte, lag Tad reglos da und beobachtete, wie Khush aus dem Wasser stapfte. Beobachtete einfach nur, wie Khushs massiger Körper sich bewegte, und betrachtete die wunderschönen, vertrauten, runzligen Muster seiner Haut. »Hallo?«, kam da plötzlich ein unsicheres Stimmchen aus den Bäumen. Tad wandte den Kopf zu den Schatten. Er konnte sie nicht sehen, aber er roch den Rauch eines Feuers. »Cissie?« Und dann war sie bei ihm. Sie stolperte und rutschte den Abhang herab und warf sich in seine Arme. »Oh, da bist du ja! Du bist da! Ich kann es noch nicht glauben! Ich habe nie geglaubt, dass du ... es tut mir ja so Leid, dass ich nicht getan habe, was du gesagt hast! Tut mir Leid, dass ich nicht auf dich gewartet habe ...« »Ich ...« Tad war überwältigt. Zärtlich blickte er auf den kurz geschorenen Kopf, der an seiner Brust lag. »Du wirst nass!« 299
»Was macht schon ein bisschen Wasser?« Sie drückte sich noch einmal an ihn und zog ihn dann hinter sich her den Abhang hinauf, zu ihrem Feuer. Nahe am Bach wuchsen die Bäume spärlicher. Dort hatte Cissie auf ein paar Steinen ein kleines Feuer entfacht. Es glühte noch leuchtend rot, war aber fast schon heruntergebrannt. »Sie haben mir etwas Maismehl mitgegeben, als ich die Sarah Dewar verließ. Und ein Stück Schinken. Ich habe in Asche gebackene Maisküchlein zubereitet.« Sie begann, das Feuer auseinander zu scharren. Unter der glühenden Asche lagen vier flache, in versengte Blätter eingewickelte Fladen. Mit zwei Stöckchen holte sie die heraus und legte sie auf einen Stein vor Tad. »Hier, ich habe noch ein paar für dich aufgehoben. Ich war mir sicher, dass du kommen würdest.« Vor kurzem hatte sie zwar noch etwas ganz anderes gesagt, aber damit wollte sie im Grunde dasselbe ausdrücken. Sie war überglücklich, dass er da war. Tad hockte sich neben sie und schob die Blätter beiseite, wobei er sich die Finger leckte um sich nicht zu verbrennen. Im Inneren befanden sich vier kleine Maisküchlein. Er brach 300
ein Stückchen vom Ersten ab, pustete und steckte es in den Mund. »Schmeckt gut.« »Na ja, nicht gerade was für vornehme Leute«, sagte Cissie. Tad kaute genüsslich. Die Küchlein konnten sich zwar nicht mit Miss Whitwells Nusskuchen messen, aber sie waren warm und bekömmlich. »Wo hast du gelernt, wie man Aschekuchen backt?« »Als ich fünf war, reisten wir mit einem Zirkus. Pa, Ketty, Olivia und ich. Dort hat Pa Khush gekauft. Jedenfalls gab es in diesem Zirkus auch ein Halbblut, das sich immer wie ein Cherokee-Indianer kleidete und mit einer Pfeilnummer auftrat.« Sie grinste, als Tad sich ein weiteres Stück in den Mund schob, und fuhr dann fort. »Johnny wusste noch ein paar Dinge, die seine Mutter ihm beigebracht hatte, ehe sein Pa ihn in den Osten mitgenommen hat, um aus ihm einen Weißen zu machen. Er konnte prima Ascheküchlein backen, aber niemand wollte sie essen. Nur ich ... und Olivia.« Nachdenklich starrte sie in die Glut und für einen kurzen Moment erahnte Tad Bilder ihres ungewöhnlichen Wanderlebens. Er konnte die beiden kleinen Mädchen, mit dem Zirkusindianer vor einem anderen Feuer sitzend, fast 301
vor sich sehen. Orte waren für Cissie nie eine Heimat gewesen. Nur Menschen. Und nun war Olivia tot. Auch Michael Keenan war tot. Und Cissie saß nun an einem anderen Feuer, irgendwo
in
Nebraska,
und
hatte
keine
anderen
Angehörigen mehr als eine schwedische Farmersfrau. Und einen Waisenjungen aus Markle, der immer alles falsch machte. Tad schluckte. »Cissie ...« Er wusste nicht, was er sagen sollte. Was er nicht sagen sollte. Doch Cissie hörte ihn gar nicht. Sie starrte noch immer ins Feuer. »Wir könnten Johnny jetzt gut brauchen! Um zu Ketty zu kommen. Ich weiß nicht, ob wir es alleine schaffen.« Erstaunt riss Tad die Augen auf. »Ich dachte, wir wären fast dort?« »Ich auch. Ich dachte, ich schaffe es, ehe Mr. Jackson die Sarah Dewar einholt. Aber auf dem Schiff sprach ich mit einem Mann, der ein großes Stück Land in Nebraska besaß, bevor seine Frau gestorben ist.« »Und?« 302
Mit der hohlen Hand schöpfte Cissie etwas Wasser aus dem Bach und schüttete es in die zischende Glut. »Es sind noch einmal zweihundert Meilen. Und die können wir nur auf dem Landweg zurücklegen.« Sie blickte plötzlich auf und Tad bemerkte, wie dünn ihr Gesicht geworden war. Es war kein Kindergesicht mehr. Esthers Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Ihr werdet es nie schaffen, westlich des Mississippi ... der Elefant wird umkommen ... Cissie ist schon zu groß, um mit einem Jungen wie dir durch die Weltgeschichte zu reisen ... Das nur
allzu
vertraute
Gefühl
seiner
hoffnungslosen
Dummheit stieg wieder in ihm auf und brachte ihn fast an den Rand der Verzweiflung. Denkt daran, wie jung ihr seid ... wie leicht ihr in euer Unglück rennt ... Aber Cissie starrte ihn an und wartete auf seine Reaktion. Verzweiflung war jetzt nicht angebracht. Wenn er die Hoffnung aufgäbe, würde auch sie es tun. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er mit fester Stimme. »Wir schaffen es. Und wenn wir zu Fuß gehen müssen, gehen wir eben zu Fuß.« Sie ergriff seine Hand und drückte sie. »Meinst du wirklich?« 303
»Ja. Wir werden Ketty finden.« Tad nahm ihre Hand und legte sie in ihren Schoß zurück. Dann sagte er es noch einmal, so als ob er ein Versprechen ablegte. »Wir werden Ketty finden.«
304
Sobald es dunkel genug war, marschierten sie los, auf einem unebenen Trampelpfad und nur mit einer Laterne, um den Boden zumindest notdürftig zu beleuchten. Nach etwa
einer
Stunde
konnten
sie
auf
Plattsmouth
hinunterblicken. Tad blieb stehen, um das geradlinige Straßennetz und die oben am Hang verstreut liegenden Gebäude zu betrachten. Die Straßen waren zwar dunkel, aber aus vielen Fenstern fiel noch Licht, besonders unten am Fluss. »Schauen wir mal auf der Karte nach.« Der Mann von der Sarah Dewar hatte für Cissie eine Skizze ihres Weges auf die Rückseite eines zerknüllten Zettels gezeichnet. Tad versuchte ihn zu glätten und hielt ihn ins Licht um ihn eingehend studieren zu können. »Wir müssen an Plattsmouth vorbei, damit wir diesen Fluss, die Platte, überqueren können. Das müssten wir noch vor Tagesanbruch schaffen.« Cissie streckte den Kopf vor um die Karte besser sehen zu können. »Der Mann hat gesagt, wir sollen den Gleisen am Fluss entlang folgen. Sie führen direkt zur Brücke.« »Wenn wir jetzt am Fluss entlanggehen, werden wir gesehen.« Stirnrunzelnd blickte Tad auf die Lichter von 305
Plattsmouth. »Vielleicht sollten wir lieber außen um die Stadt herumgehen.« »Ich kann nicht!« Cissie schnappte sich den Zettel und faltete ihn zusammen. Im Schatten des Laternenscheins sahen ihre Handgelenke dünn und zerbrechlich aus und die Knöchel standen vor wie kleine Höcker. Tad musterte sie. Dann musterte er Khush. Seine sackartig herunterhängende Haut und die Art, wie er es vermied, das eine Hinterbein zu belasten. »Na schön«, sagte er. »Wir nehmen den kürzeren Weg. Aber wir müssen warten, bis dort unten die Lichter ausgehen.« Sie machten es sich gemütlich und blickten auf Plattsmouth hinunter. Cissie kauerte sich auf den Boden, schlang die Arme um ihre Beine und legte den Kopf auf die Knie. Tad saß neben ihr und schwieg, während Khush missmutig um sie herumstolperte, Tad gelegentlich mit dem Rüssel anstieß und sich dann wieder dem frischen Gras zuwandte. Nach und nach erloschen immer mehr der Lichter unter ihnen. Es musste zwei oder drei Uhr früh gewesen sein, als endlich das letzte Licht erlosch. Cissie war bereits 306
eingenickt und auch Khush schlief, flach auf dem Boden ausgestreckt. Tad kniete sich neben seinen Kopf um ihm ins Ohr zu flüstern. »Aufstehen, Khush.« Der riesige, schlaffe Körper bewegte sich. Langsam öffnete sich ein Auge und blickte ihn verschlafen an. »Zeit zum Aufbruch«, sagte Tad. Mit einem Satz war Khush auf den Beinen, wedelte mit den Ohren und blickte sich argwöhnisch um. Tad rüttelte Cissie an der Schulter. »Zeit zu gehen.« »Was? Ich ...« Sie blinzelte, streckte sich und stand dann auf. »Können wir jetzt los?« »Wir müssen mucksmäuschenstill sein. Bestimmt ist in der Nähe des Bahnhofs irgendein Wächter.« Cissie nickte und boxte Khush in die Seite. »Komm, wir gehen!« Die Gleise führten an einem Steilufer entlang, direkt an der Stadt vorbei. Als sie in der Nähe der dunklen Gebäude waren, flüsterte Cissie Khush etwas zu. »Schleichen, Khush, schleichen!« Und schon begann Khush, seine schwarzen Füße zu heben und absolut geräuschlos aufzusetzen, ohne gegen einen Stein zu stolpern oder einen Ast zu zertreten. Es sah 307
lächerlich aus - eine Zirkusnummer ohne Publikum -, aber es brachte sie tatsächlich ungehört an den Gleisen entlang. Khush glitt an Plattsmouth vorbei wie ein riesiger dunkler Schatten, dem zwei kleinere Schatten folgten. Der Wind kam aus Westen, von den Hügeln, und er trug ihren Geruch von der Stadt weg zum Fluss. Kein Hund bellte. Kein Fenster wurde hell. Niemand würde Mr. Jackson erzählen können, dass ein Elefant vorbeigezogen war. Es dauerte eine Stunde, bis sie die Stadt endgültig hinter sich
gelassen,
und
zwei
weitere,
bis
sie
die
Eisenbahnbrücke erreicht hatten. Als sie dort ankamen, begann der Himmel bereits sich allmählich aufzuhellen. Stumm blickten sie auf die ausgedehnte Wasserfläche der Platte, auf der Nebelschwaden tanzten. Die Brücke sah sehr lang aus und war eventuellen Blicken aus allen Himmelsrichtungen ausgesetzt. »Müssen wir es jetzt gleich hinter uns bringen?«, fragte Cissie. »Ja, sofort«, sagte Tad. Es wurde ihm gar nicht bewusst, dass er das Kommando übernommen hatte. Er dachte nur daran, dass sie so rasch wie möglich über diese Brücke und somit außer Sichtweite kommen mussten. Khush 308
versuchte sich zum Wasser davonzuschleichen. »Nein!«, zischte Cissie. Aber ihre Stimme hörte sich sehr erschöpft an. »Lass ihn«, sagte Tad. »Er wird nachkommen, sobald er uns gehen sieht.« Cissie warf einen unsicheren Blick zur Brücke. »Ein langer Weg.« »Aber wenn wir auf der anderen Seite sind, sind wir ein gutes Stück näher bei Ketty. Komm schon!« Tad zog sie mit sich auf die Brücke. Ihre Füße rutschten auf den feuchten Brettern ab und Cissie blieb ein paar Mal im Schotter stecken und plumpste nach vorne, auf ihre Knie. Doch sie rappelte sich jedes Mal wieder hoch und ging wie mechanisch weiter, wobei sie ab und zu einen ängstlichen Blick zu Khush zurückwarf. Er kam ihnen nach, als sie etwa die Hälfte der Brücke hinter sich hatten, genau wie Tad es vorausgesagt hatte. Sie hörten den dumpfen Aufschlag seiner schweren Füße und als sie am anderen Ufer ankamen, hatte er sie bereits eingeholt. Er ging dicht hinter Tad, ganz als habe er Angst ihn erneut zu verlieren. »Nur noch ein paar Meilen heute Nacht«, sagte Tad 309
betont fröhlich. »Wenn wir noch ein Stück an der Platte entlanggehen, finden wir bestimmt ein geeignetes Versteck, wo wir schlafen können.« »Fein.« Cissie wandte sich nach links und marschierte, stolpernd und torkelnd, das Ufer entlang. Tad folgte ihr. Es war nicht nötig Khush Anweisungen zu geben. Er stapfte dicht hinter ihnen her und streckte ab und zu den Rüssel aus, um Tad mit der Spitze zu berühren. Als die Sonne aufging, kamen sie an ein kleines, bewaldetes Tal, durch das ein Bach floss, der in die Platte mündete. Etwa eine Meile bachaufwärts stand ein Haus dort, wo das Tal allmählich in die offene Prärie überging, aber es gab noch genügend Bäume, in deren Schutz sie sich verstecken konnten um ein paar Stunden zu schlafen. »Hier«, sagte Cissie. Sie ließ das Bündel von ihrem Rücken gleiten, rollte sich in eine der Decken und schlief auf der Stelle im Schütze zweier Büsche ein. Tad betrachtete sie eine Weile nachdenklich. In die Decke eingekuschelt, das Gesicht von ihren Stoppelhaaren umrahmt, sah sie aus wie ein kleiner, schmuddeliger Junge, der im Schlaf schmollte. Er blickte auf Khush. »Du 310
bleibst hier! Pass auf Cissie auf.« Ein Rumpeln kam aus Khushs Bauch. »Alles in Ordnung«, sagte Tad beruhigend. »Ich komme bald zurück.« Der Bauch rumpelte erneut. Doch dann wandte Khush sich dem frischen Gras zu. Tad grinste und machte sich auf den Weg. Er umging das Farmhaus, ohne gesehen zu werden und kletterte weiter, bis er den Waldrand erreichte. Dort hielt er inne und blickte hinaus auf die beginnende Prärie. Später fragte er sich, was er eigentlich erwartet hatte. Ein Mischmasch von Dingen, die er gehört hatte, schwirrte ihm im Kopf herum. Die Prärie ist wie ein Meer ... riesige Büffelherden ... Farmland für alle ... die große amerikanische Wüste ... Er hatte sie sich einfach wie die Flussniederungen bei Markle vorgestellt, natürlich in einem größeren Maßstab: ordentlich angelegte Felder und hier und da ein Häuschen. Büffel, die wie Kühe auf saftigen, grünen Wiesen grasten. Wie wenig er doch begriffen hatte! So weit das Auge reichte, sah er nichts als eine grenzenlose Ebene, völlig unberührt von den Spuren, die eine menschliche Hand hinterlassen könnte. Häuser, Felder oder Vieh - das alles war unbedeutend angesichts 311
der Weite dieser Landschaft. Sie war größer als alles, was er sich jemals hätte vorstellen können, und erstreckte sich endlos gen Westen. Keine Bäume. Kein Unterschlupf. Nichts, wo man sich hätte verstecken können. Tad stand reglos am Rand und starrte mit Herzklopfen in die Ferne. Er wusste nicht, ob er aufgeregt oder ängstlich sein sollte. Dorthin würden sie also gehen. Und irgendwo, inmitten dieser riesigen Weite, stand Kettys Haus. Er steckte eine Hand in die Tasche und spürte die glatte Oberfläche der kleinen Glasflasche, die er einen so langen Weg mit sich getragen hatte. Maple Creek 13. Mai Wir sind schon fast bei dir! Aber du darfst nicht glauben, dass es einfach war. Wir haben die Platte überquert und uns nach Nordwesten durchgeschlagen, durch das Elkhorn Valley und am Maple Creek entlang - auf unseren eigenen Füßen, weil Tad sich um Khushs wunde Füße zu große Sorgen macht, als dass er uns reiten ließe. Tad schätzt (nachdem er sich 312
ausführlich mit jedem Farmer unterhalten hat, den wir unterwegs trafen), dass wir bereits über hundert Meilen über die Prärie zurückgelegt haben. Ihm ist es zu verdanken, dass wir überhaupt so weit gekommen sind. Immer, wenn ich aufgeben will, überzeugt er mich davon, dass wir weitergehen müssen, und wenn ich törichterweise weiterziehen möchte, zwingt er mich Ruhepausen einzulegen. Und er sagt nichts, was meine Laune dämpfen könnte. Ich weiß, dass er befürchtet, dass wir wieder verfolgt werden, denn er blickt immer wieder hinter sich. Aber er behält seine Befürchtung für sich. Manchmal wünschte ich, er wäre etwas mitteilsamer, denn sein Schweigen errichtet eine Art Mauer zwischen uns, aber es würde nichts nützen ihn darauf anzusprechen. Er spricht nie über seine Gefühle. Jedenfalls glaube ich nicht, dass Mr. Jackson uns jetzt noch aufspüren wird. Wir haben absichtlich nicht den Hauptweg durch das Plattetal genommen, sondern gehen etwas nördlicher auf Nebenwegen, durch eine wildere und dünner besiedelte Gegend. Bei derartigen Entfernungen können
sich
Neuigkeiten 313
bestimmt
nicht
schnell
verbreiten, oder? Ich glaube, die Leute hier wissen nicht einmal, wie der Präsident der Vereinigten Staaten heißt! Wenn wir vorbeiziehen, stürzen sie aus ihren Häusern und starren Khush mit großen ungläubigen Augen an. Die Kinder gehen barfuß. Die Frauen haben zerfurchte Gesichter und eine braune Haut. Die Männer sind schweigsame Wesen aus aller Herren Länder - die meisten sind
Deutsche,
Holländer
oder
Schweden
-,
die
schmutzverkrustet von ihren Feldern kommen und mit Tad ein paar Worte wechseln. Von Khush sind sie völlig fasziniert, aber hauptsächlich weil sie in ihm ein Tier sehen, das ihnen ihre Arbeit in der Prärie erleichtern könnte. Ich werde meistens gar nicht beachtet, weil ich in ihren Augen der jüngere Bruder bin, der nichts zu sagen hat. Zwei oder drei Frauen haben vielleicht bemerkt, dass ich nicht das bin, was ich zu sein scheine, aber ihre Gastfreundschaft (und genügend eigene Probleme) halten sie davon ab, neugierige Fragen zu stellen. Und welche Gastfreundschaft! Jedes Mal, wenn wir mit Khush auftauchen, wird uns das Beste vorgesetzt, was das Haus zu bieten hat. Maissuppe und Bohneneintopf. 314
Auflauf und Essigpastete. Und als Dank dafür wird nur erwartet, dass wir die Kinder auf dem Elefanten reiten lassen oder er für sie ein paar Baumstämme transportiert. (Und Khush tut alles, was Tad ihn heißt.) An Orten wie diesen kommt es einem so vor, als sei Baltimore fernstes Ausland, aber ich beginne allmählich, trotzdem mit Sehnsucht daran zu denken. Ich könnte hier leben und glücklich sein, Ketty. Wenn du mich nur bei dir haben möchtest. Sobald ich Khush verkauft habe, kann ich auch meinen Lebensunterhalt bestreiten. Und den von Tad vielleicht auch. Oh, sag mir, dass ich bei dir bleiben darf, liebste Ketty! Lass mich bei dir wohnen und ein ganz neues Leben beginnen! Dann wird es mir möglich sein, das schreckliche Erlebnis im Zug zu vergessen.
315
Am siebten Tag passierte das, was Tad insgeheim seit langem befürchtet hatte. Sie befanden sich nördlich vom Maple Creek und hofften noch vor Sonnenuntergang eine Farm zu erreichen. Am Morgen waren sie noch recht gut vorwärts gekommen, doch während der zweiten Tageshälfte hatten sie ihre liebe Mühe mit Khush, der hungrig war und immer stärker hinkte. Tad erblickte das Farmhaus, als sie noch etliche Meilen entfernt waren. Es stand auf einer leichten Anhöhe; ein schmuckes, großes Haus, das aus Backsteinen erbaut war, die aus dem hier reichlich vorhandenen Lehm gebrannt worden waren. Als sie sich näherten, legte er sich die Worte zurecht, die er bei ihrer Ankunft sagen würde: Guten Abend. Wir ziehen mit unserem Elefanten in den Westen ... Aber es bedurfte keiner Worte. Als sie noch mindestens eine halbe Meile entfernt waren, sahen sie eine zierliche Gestalt aus dem Haus kommen, die ihnen mit auf die Hüften aufgestützten Händen entgegenblickte. Gleich darauf stieß sie einen so lauten Schrei aus, dass er selbst über die große Entfernung 316
hinweg zu hören war. »E-li-jah! Sie sind da!« Dann lief sie ihnen in einer Staubwolke entgegen. Ein kleiner schwarzer Hund rannte vorweg und sprang hysterisch bellend um Khush herum. »Sei still, Puck!«, befahl das Mädchen, sobald es sie erreicht hatte. Sie packte den Hund im Genick und zog ihn weg. »Dummes Tier! Dir platzt noch eine Ader, wenn du so weiterbellst!« Sie war kaum älter als Tad, höchstens sechzehn, hatte sich aber die Haare im Nacken zu einem Knoten geflochten um etwas erwachsener zu wirken. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung, als sie nun vor ihnen stand und den Hund festhielt. »Mein Mann hatte Recht. Er sagte, ihr würdet noch vor Sonnenuntergang
hier
eintreffen.
Seid
herzlich
willkommen, alle drei.« Tad rang sich ein höfliches Lächeln ab. »Ihr ... Ihr Mann wusste, dass wir kommen?« Das Mädchen ließ den Hund los und wischte sich die Hände ab. »Natürlich. Kam gestern von Columbus zurück, mit den ganzen Vorräten, und sprach von nichts anderem 317
als davon, dass ein Elefant durch die Prärie zieht, und alle waren davon überzeugt, dass er den Maple Creek entlangzieht.« Sie drehte den Kopf und brüllte erneut. »Eli-jah!« Ein
hochgewachsener
Mann
tauchte
hinter
dem
Farmhaus auf. Das Mädchen winkte ihn ungeduldig herbei. »Verflixt! Er braucht für alles schrecklich viel Zeit. Selbst in einem Fall wie diesem!« Bewundernd blickte sie zu Khush hinauf, der sich ungerührt Grasbüschel ins Maul stopfte. »Gehen wir ihm entgegen!« Sie gab dem Hund einen Klaps aufs Hinterteil, worauf er zum Farmer rannte und aufgeregt an dessen Beinen hochsprang. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Der ungezogenste Hund, den ich je sah. Elijah hat keine Ahnung, wie man einen Hund dressiert.« Flotten Schrittes ging auch sie wieder auf das Haus zu und Tad schnitt hinter ihrem Rücken eine Grimasse. »Sie haben schon von uns gehört«, flüsterte er Cissie zu. »Mittlerweile scheint das ganze Tal Bescheid zu wissen. Mr. Jackson garantiert auch.« Cissie zuckte mit den Schultern. »Und was können wir 318
dagegen tun? Wir können nur weiterziehen und hoffen, dass wir bei Ketty ankommen, ehe er uns einholt.« »Aber ...« Aber was für einen Unterschied würde das machen? Tad behielt diesen Gedanken lieber für sich. Er ließ Cissie zum Farmhaus vorausgehen und folgte ihr mit Khush. Die Frau war nun bei ihrem Ehemann angelangt, hängte sich an seinen Arm und redete auf ihn ein, während sie auf Khush deutete. Sie war aufgeregt und der Hund nicht minder. Selbst die Hühner, die um ihre Füße streiften, schienen aufgeregt zu sein. Der Mann jedoch blieb ruhig. Er war wesentlich älter als sie - mindestens zwanzig Jahre - und schmunzelte. Als Tad bei ihnen ankam, trat die junge Frau einen Schritt hinter ihren Mann und schüttelte mit einem gequälten Lächeln den Kopf. »Willst du ihn dir nicht genau ansehen? Elijah Davenport, du bist wirklich der unmöglichste Mensch, den ich kenne!« Elijah lachte auf und wandte sich dann an Tad. »Herzlich willkommen. Ihr beide und der Elefant. Ich glaube, ich muss mir dieses Tier auf der Stelle genau betrachten, sonst 319
beißt Amy mir noch die Nase ab.« Er blickte über Tads Schulter auf Khush, der schwerfällig die letzten Meter herankam, seine Augen starr auf Tad gerichtet. Der kleine Hund begann wieder zu kläffen, doch sobald
Elijah
ihm
einen
finsteren
Blick
zuwarf,
verstummte er, setzte sich auf sein Hinterteil und winselte nur noch kläglich. »Er ist ein lieber Hund«, erklärte Elijah beiläufig. »Aber er hat noch nie einen Elefanten gesehen. Einen so großen wie euren habe ich allerdings auch noch nie gesehen. Aber so habe ich ihn mir vorgestellt, nach allem, was ich in Columbus gehört habe. Ein großer indischer Elefant. Der in den Westen zieht - mit zwei Jungen.« Er warf einen kurzen Blick auf Cissie und Tad begriff, dass er auch schon gehört haben musste, dass sie kein Junge war. Aber Amy hatte er offensichtlich nichts davon gesagt.
Nach
einem
prüfenden
Blick
auf
die
Neuankömmlinge zeigte sie auf das Haus. »Zwei hungrige Jungen, wie ich annehme. Warum unterbrecht ihr eure Unterhaltung nicht kurz und bindet das Tier an? Dann könnt ihr mit hineinkommen und etwas essen.« 320
Elijah blickte auf Khush. »Es wird ihm doch wohl nichts ausmachen, oder?« »Wovor hast du Angst? Vor Wölfen oder Adlern?«, schnaubte Amy. »Die würden sich nicht an ihn heranwagen. Bindet ihn irgendwo hier draußen fest. Ich gehe schon einmal vor und kümmere mich ums Essen.« Elijah zögerte. »Ich dachte an die Kälte ...« Amy warf den Kopf in den Nacken und streckte die Hand aus. Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf. »Nein, heute Nacht wird es keinen Frost geben. An der hinteren Hauswand wird er sich wohl fühlen.« Sie schnappte sich den Hund und zerrte ihn ins Innere, während sie es Elijah überließ, sich um Khush zu kümmern. Er stand da und sah zu, wie Tad und Cissie Khush versorgten, und zeigte ihnen, wo sie Wasser holen konnten. »Trinkt ‘ne ganze Menge, hm?«, kommentierte er nach dem sechsten Eimer. »Könnte ihm hier draußen noch zu schaffen machen. Nicht alle Bäche führen das ganze Jahr über Wasser wie unserer hier.« Tad spürte einen Schauer im Nacken, aber er sagte nur: »Wir haben keinen sehr weiten Weg mehr vor uns. Wir 321
hatten gehofft, Sie könnten uns weiterhelfen. Wir möchten an den Looking Glass Creek.« »Es hat wenig Sinn mich zu fragen«, grinste Elijah. »Ich bin erst seit ein paar Jahren hier. Wendet euch lieber an Amy.« Cissie riss verwundert die Augen auf. »Tatsächlich?« Elijah nickte. »Sie wurde hier geboren. Hat schon die Heuschreckeninvasion von 1874 miterlebt und sozusagen das Prärieleben schon mit der Muttermilch eingesogen. Sie zu heiraten war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.« Mit seinem breiten Lächeln blickte er auf Khush. »Ist er jetzt versorgt?« »Ich muss ihm nur noch sagen, wohin wir gehen.« Tad legte
eine
Hand
auf
Khushs
Flanke
um
seine
Aufmerksamkeit zu erlangen, und zeigte dann auf das Farmhaus. »Wir gehen dort hinein. Du bleibst hier, bis wir wiederkommen.« »Glaubst du wirklich, das begreift er? Ein dummes Tier?«, meinte Cissie kopfschüttelnd. Aber offenbar verstand Khush. Er wackelte mit den Ohren, während er das Farmhaus eingehend betrachtete. Dann beugte er sich wieder über das frische Gras, das sie 322
ihm geschnitten hatten, und als sie sich entfernten, blickte er nicht einmal mehr auf. Tad sah, dass Elijah still vor sich hin lächelte. Als sie schließlich das Haus betraten, hatte Amy bereits ein leckeres Essen auf den Tisch gestellt. Einen großen Topf mit Bohnen und Schweinemagen und eine Schüssel mit Löwenzahnsalat, der mit ausgelassenem Bratenfett angemacht worden war. »Ihr könnt euch dort drüben waschen«, sagte sie. »Aber beeilt euch, damit wir uns setzen können. Wäre schade, das gute Essen kalt werden zu lassen.« Sie wartete, bis alle um den Tisch standen, und blickte Elijah dann erwartungsvoll an. »Herr unser Gott«, begann Elijah mit ruhiger Stimme. »Blick gnädig auf dieses unser Mahl. Du weißt, dass wir es hart erarbeitet haben. Wir danken Dir, dass unsere Arbeit Früchte getragen hat und dass wir unseren Gästen ein Mahl vorsetzen können. Wir bitten Dich, unser Mahl und alle, die es zu sich nehmen zu segnen. Amen.« »Amen«, sagte Amy und noch ehe sie dieses Wort ganz ausgesprochen hatte, hatte sie auch schon damit begonnen die Bohnen zu schöpfen. 323
Elijah setzte sich als Erster. »Die Jungen hier wollen in den Westen, an den Looking Glass Creek. Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich da am besten an dich wenden.« Mit einem breiten Lächeln sah Amy ihn an. »Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, ich kenne jeden Millimeter von Nebraska. Dabei war ich noch nie so weit westlich wie am Looking Glass Creek.« »Aber du kennst den Weg dorthin.« Elijah nahm ein Stück Fleisch von seinem Teller und reichte es, trotz Amys missbilligendem Blick, Puck. »Du kannst ihnen zumindest die richtige Richtung zeigen.« »Na schön, ich kenne den Weg, aber das ist auch schon alles. Pa ging in dieser Gegend immer auf Jagd. Er sagte es sei leicht zu finden. Ihr müsst den Beaver Creek überqueren, wenn ihr so weit in den Westen wollt. Aber ihr müsst viel Wasser mitnehmen.« »Gibt es dort keine Bäche?«, fragte Tad besorgt. »Doch, aber auf die paar kleinen Rinnsale könnt ihr euch nicht verlassen.« »Aber Khush ...« Tad dachte an die vielen Eimer, die er für Khush erst vor kurzem angeschleppt hatte. »Es wird Khush schon nicht umbringen, wenn er mal ein 324
paar Stunden dürstet«, unterbrach Cissie ihn unhöflich. Sie holte ihren zerknüllten Plan aus der Tasche und breitete ihn auf dem Tisch aus. »Würden Sie uns den Weg bitte hier einzeichnen?« Sie und Amy beugten sich über das Papier. Tad sah, wie Amy die Stirn runzelte und etwas vor sich hin murmelte, während sie den Weg einzeichnete. Auch ohne die Gefahr, von Mr. Jackson verfolgt zu werden, würde es kein einfaches Unterfangen werden. Cissies Gesicht hatte einen störrischen Ausdruck. Sie tippte mit dem Finger auf die Karte, als ob sie eisern auf etwas Bestimmtem beharrte. Trotz allem, was sie bereits durchgemacht hat, besteht sie darauf, dass noch immer alles nach ihrem Kopf geht, dachte Tad grinsend. Dann blickte er auf und sah, dass Elijah ihn beobachtete. Beobachtet hatte, wie er Cissie angeschaut hatte. Tad stopfte sich das letzte Fleischstückchen in den Mund. Ketty, dachte er sehnsüchtig. Alle Probleme werden gelöst sein, wenn wir erst bei Ketty sind. Und die kühlen grünen Schatten tanzten in seinem Kopf wie unerfüllbare Wünsche.
325
Am nächsten Morgen zogen sie weiter. Zum Dank für Kost und Logis ging Tad mit Khush noch zum Bach, um für Elijah Holzstämme zu transportieren, während Cissie vor dem Haus Holz hackte. »Amy hatte gehofft, dass ihr mir helfen würdet«, sagte Elijah mit seiner langsamen, amüsierten Stimme, als er mit Tad hinter Khush herging. »Sobald sie hörte, dass ihr auf dem Weg hierher seid, fielen ihr tausend Sachen ein, bei denen ihr uns helfen könntet, falls ihr dazu bereit wäret.« Tad grinste und legte eine Hand an die Seile um Khushs Schultern. »Scheint, als seien Elefanten hier draußen sehr begehrt.« »Wir brauchten eine spezielle Art«, erklärte Elijah und schnitt eine Grimasse. »Eine, die eiskalte Winter erträgt, aber auch monatelange Dürre und die gleißende Hitze im Sommer. Glaubst du, eurer ist dem gewachsen?« Tad
grinste
schulterzuckend,
aber
diese
Frage
beschäftigte ihn noch lange. Er grübelte darüber nach, als er mit Khush das restliche Holz transportierte, und selbst als sie bereits kurz vor dem Weggehen waren, spukte sie ihm noch im Kopf herum. Es war bereits nach Mittag, als sie aufbrachen. Amy hatte 326
zum Mittagessen noch eine Pfanne mit Hootsla gekocht und zu den gerösteten Brotwürfeln ein Dutzend Eier aufgeschlagen. Nach dem Essen legte sie ihre Schürze ab und hängte sie fein säuberlich hinter die Küchentür. Dann holte sie zwei zerbeulte Kanister vom Speicher. »Die nehmt ihr am besten mit. Ihr könnt sie immer wieder nachfüllen, falls ihr auf einen Bach stoßt. Ihr müsst noch etwa fünfzig Meilen zurücklegen und es kann recht heiß werden.« Cissie füllte die Kanister mit Wasser und hängte sie Khush hinter den noch verbliebenen, spärlichen Vorräten um den Hals. Amy nickte ihnen aufmunternd zu. »Gehen wir. Ich begleite euch bis zum Anfang des Weges.« Nachdem Elijah ihnen zum Abschied die Hand geschüttelt und viel Glück gewünscht hatte, machten sie sich auf den Weg in Richtung Nordwesten, bis sie auf den besagten Weg stießen. Ohne Amy hätten sie ihn nie gefunden. Sie blieb plötzlich stehen, mitten in der offenen Prärie, und deutete nach Westen. »Seht ihr ihn? Pa sagte, er sei auf der ganzen Strecke gut begehbar, ihr dürftet also keine Probleme bekommen. 327
Denkt aber daran, vor Einbruch der Nacht immer einen Halt zu machen, solange ihr ihn noch etwas sehen könnt, sonst verlauft ihr euch.« Vor ihnen lag nichts außer einer dunklen Graslinie, etwas kürzer gehalten als der Rest, die sich bis an den Horizont ausdehnte. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Cissie auf Tad. Amy sah es. »Macht euch keine Sorgen. Sammelt unterwegs Kuhfladen. Mit denen könnt ihr dann nachts ein Feuer machen. Das dürfte die Wölfe fern halten.« Cissie schnitt eine Grimasse, woraufhin Tad sie heimlich anstieß. Er streckte die Hand aus. »Wir danken Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Gastfreundschaft. Dürften wir Sie aber noch um einen kleinen Gefallen bitten?« »Klar«, sagte Amy unbekümmert. »Allerdings gibt es nicht viel, was wir für andere tun könnten.« »Es ist nicht viel. Es ist nur ...«, Tad zögerte. »Würden Sie bitte niemandem erzählen, wohin wir gegangen sind?« Amy musterte ihn prüfend. Aber sie stellte keine Fragen, sondern nickte Khush zu. »Er hat mehr Arbeit geleistet als ein Pferd in drei Tagen. Ich glaube, wir sind euch einen Gefallen schuldig.« 328
»Vielen Dank, Ma’am.« »Gern geschehen. Auf Wiedersehen.« Sie betrachtete Khush ein letztes Mal, ganz als wolle sie sein Bild für immer in ihr Gedächtnis einprägen. Dann nickte sie Tad und Cissie zu, drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. Tad und Cissie blickten ihr lange nach. Eine kleine, zähe Person, die mit langen Schritten über das Präriegras schritt. »Ich mag sie«, sagte Cissie plötzlich. »Und sie wohnt nicht sehr weit von Ketty weg.« Die Zukunft tat sich plötzlich wie ein großer schwarzer Abgrund vor Tads innerem Auge auf. Bisher war ihm ihre Reise immer endlos erschienen, so als würden sie niemals irgendwo ankommen, sondern immer nur reisen. So als könnten er, Cissie und Khush für den Rest ihres Lebens einfach immer nur nach Westen ziehen. Nun aber war es fast vorüber. In zwei oder drei Tagen würden sie bei Ketty sein. Und was dann? Eine schreckliche Leere breitete sich in ihm aus. »Gehen wir!«, sagte er mit rauer Stimme. »Wir sollten noch zehn oder zwölf Meilen hinter uns bringen, ehe es 329
dunkel wird. Beweg dich, Khush!« Den ganzen Tag und auch den folgenden marschierten sie bis zur Erschöpfung. Sie rasteten in der offenen Prärie und machten aus unterwegs gesammelten Kuh- und Büffelfladen ein kleines, schwelendes Feuer. Abends buk er ein paar Aschenküchlein und überredete Cissie dazu, etwas zu essen. Dann beobachtete er, wie sie sich neben dem Feuer in ihre Decke einwickelte. Sie schlief auf der Stelle ein, den Kopf auf ihren Arm gelegt und die Decke über die Schultern gezogen, aber sie sah alles andere als friedlich aus. Tad sah, wie sie im Schlaf die Stirn runzelte und mit den Zähnen knirschte, als würde sie von bösen Träumen gequält. Ihr schmales, müdes Gesichtchen zuckte nervös, doch ihre Augen blieben geschlossen. Alles wird gut, wenn wir erst bei Ketty sind. Tad bemühte sich verzweifelt ebenfalls daran zu glauben. Aber selbst jetzt, da sie ihrem Ziel so nahe waren, war er sich noch nicht sicher, ob sie es schaffen würden. Sie zogen durch eine flache, endlose Einöde, in der viele Farmen bereits wieder aufgegeben worden waren, aber dennoch gab es genügend Leute, die sie sahen. 330
Am ersten Tag war es ein Mann, der in der Ferne mit seinem Einspänner vorbeifuhr. Später, als sie den Shell Creek überquerten, sprachen sie mit zwei Frauen. Und gegen Ende des zweiten Tages stießen sie auf eine Gruppe von Farmern, die gerade eine neue Scheune bauten. All diese Leute hatten Khush gesehen und dieses Ereignis würden sie natürlich nicht für sich behalten können. In ganz Nebraska redeten die Leute bestimmt über nichts anderes als über den Elefanten, der durch die Prärie zog. Früher oder später würde es auch Mr. Jackson erfahren. Tad lag da, starrte in den weiten, offenen Nachthimmel und versuchte in die Zukunft zu blicken. In seiner Nähe war Khush, der entweder ruhelos umherstreifte, etwas fraß oder sich manchmal auch zum Schlafen niederlegte. Wenn er Tad zu nahe kam, war sein riesiger Körper wie eine Wand, die den Blick auf die Sterne verdeckte. Wenn er sich aber bewegte, gab es keinen Schutz. Nichts, das Tad vor den schwarzen, unendlichen Dimensionen des Universums hätte abschirmen können. Gegen Ende der zweiten Nacht war Tad vor Müdigkeit wie benommen. Cissie musste ihn mühsam auf die Beine 331
ziehen. »Nun komm schon! Wenn wir bis Mittag am Looking Glass Creek sind, dürften wir noch heute ankommen. Iss schnell noch etwas, dann können wir aufbrechen!« Das
»Etwas«
war
ein
kaltes,
ausgedörrtes
Aschenküchlein, das vom Vorabend übrig geblieben war. Tad würgte es hinunter und griff dann nach einem der nach Kerosin stinkenden Kanister, den sie am letzten Bach aufgefüllt hatten. Aber Khush war schneller. Er entriss ihm den Kanister und schwenkte ihn triumphierend durch die Luft. »Nein!«, rief Tad entsetzt. Khush war offenbar sehr durstig. Seit Maple Creek hatte er keine volle Wasserration mehr erhalten. Er ließ den Kanister zu Boden fallen und zerquetschte ihn mit einem Fuß. Dann, noch ehe der herausspritzende Wasserstrahl im trockenen Boden versickern konnte, saugte er ihn auf und spritzte ihn in sein Maul. »Khush!«, rief Cissie zornig. Aber der Elefant war noch nicht fertig. Er stieß Cissie beiseite und machte sich über den zweiten Kanister her. Es gab keine Möglichkeit ihn zu stoppen. Jeder Versuch 332
wäre töricht gewesen. Er überragte sie bei weitem, als er den Kanister durch die Luft wirbelte. Dann schmetterte er ihn zu Boden, direkt vor Tads Füße, und saugte gierig das Wasser auf. Fassungslos starrte Tad auf den feuchten Grasfleck, während in seinem Kopf - unwiderstehlich - Kettys Bild auftauchte, die auf der Veranda ihres weißen Holzhauses saß. Die Blumen im Garten wogten unter den grünen Blättern der großen Bäume und ein frisches, angenehmes Lüftlein wehte. So frisch wie das Geräusch des Wassers, das im Tamaquon-Tal über die Steine plätscherte. »Kommt«, murmelte Tad mit trockener Kehle. »Wir müssen sehen, wie weit wir noch kommen. Beweg dich, Khush!« Langsam setzten sich die drei in Marsch. Sie gingen mittlerweile alle etwas steifbeinig und Khush zog die Beine nach, während er ab und zu schuldbewusst auf Tad blickte. Aber Tad hatte gar nicht mehr genug Kraft um böse zu sein. Er konzentrierte sich nur noch darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. In der Nacht hatte es einen leichten Frost gegeben und jeder einzelne Grashalm war nun von einer weißen Schicht 333
überzogen. Sie schleppten sich darüber hinweg, eine breite, feuchte Spur hinter sich lassend. Nun, da Tad sich an die gleichmäßige, konturenlose Ausdehnung der Prärie gewöhnt hatte, ragte der Pfad wie ein gerader Pfeil vor ihnen in die Landschaft und zeigte deutlich, welchen Weg sie bisher zurückgelegt hatten. Bis Mittag kamen sie relativ gut voran, doch dann fiel Khush immer mehr zurück, weil er wegen der Schmerzen in den Füßen stark humpelte. Bis sie schließlich den Bach erreichten, hatten Tad und Cissie fast eine halbe Meile Vorsprung. Khush wollte sich nicht mehr vom Bach trennen. Breitbeinig stand er mitten im flachen Wasser, saugte sich den Rüssel voll, trank und trank und hörte auf kein Kommando mehr. Cissie stampfte mit dem Fuß. »Idiot! Blöder Elefant! Begreifst du denn nicht, dass wir fast am Ziel sind? Es dauert höchstens noch ein paar Stunden. Dann sind wir bei Ketty!« Khush hob nicht einmal den Kopf. Cissie blickte auf ihr spärliches Gepäck. »Da gibt es nur eins: Wo haben wir den Elefantentreiber?« 334
Tad dachte an Khushs Wutausbruch am frühen Morgen.
Er war genauso müde und gereizt wie sie, bereit, jeden
Augenblick zu explodieren. Tad packte Cissie an der
Schulter und hielt sie zurück.
»Nicht den Elefantentreiber! Das könnte gefährlich
werden. Er folgt uns bestimmt, wenn wir weggehen.«
»Aber wir können ihn doch nicht einfach hier lassen ...«
»Komm schon!« Tad zog sie die Uferböschung hinauf,
bis sie oben in der Prärie standen und in das kleine
Flussbett hinunterblickten. »Wir gehen jetzt, Khush.
Komm her!«
Khush hob den Kopf und starrte sie an.
»Komm!«, wiederholte Tad.
Er griff nach Cissies Hand und zog sie mit sich.
»Aber was ist, wenn er nicht ...«, keuchte sie. »Ich kann
nicht ...«
Tad blickte zurück. Sie waren zwar noch nicht weit
gelaufen, konnten aber Khush unten im Flussbett bereits
nicht
mehr
sehen.
Der
Abstand
zwischen
ihnen
vergrößerte sich mit jeder Sekunde.
»Lauf weiter!«, mahnte er.
»Aber ... ich brauche Khush ... du verstehst das nicht ...
335
ich kann nicht ohne ihn ...« »Cissie, du musst mitkommen!« Er zog sie weiter und nach einer Weile liefen sie Hand in Hand, in völligem Gleichschritt, nebeneinander her. Die Distanz zu Khush vergrößerte sich schließlich auf hundert Meter, dann eine Viertelmeile. Als sie etwa eine halbe Meile vom Bach entfernt waren und Tad erneut zurückblickte, sah er Khushs Kopf. Der Elefant war gerade so weit die Böschung hinaufgeklettert, dass er sie sehen konnte. »Weiter!«, keuchte er. »Es klappt!« Hinter Khushs Kopf, in weiter Ferne, hatte er etwas am Horizont entdeckt. Es bewegte sich. Etwas, das nicht in die große, ausgedehnte Fläche der Prärie passte. Aber er hatte Besseres zu tun, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was es sein könnte. Sie mussten weiter. Als er das nächste Mal zurückblickte, war Khush bereits vollständig zu sehen. Aber er stand noch still, unglaublich klein vor dem Hintergrund der endlosen Ebene, die ihn umgab. Die undeutlichen Figuren hinter ihm, die Tad bereits zuvor vage wahrgenommen hatte, bewegten sich schneller. Es waren zwei Pferde mit Reitern, die zuvor 336
getrabt waren, nun aber galoppierten. »Tad!«, schrie Cissie auf. »Schau nur! Wir müssen ...« Sie zerrte an seiner Hand, wollte unbedingt wieder zu Khush zurück, doch in diesem Moment setzte der Elefant sich in Bewegung. Er schien sich plötzlich eines anderen besonnen zu haben und kam nun mit Volldampf auf sie zugestürmt. Eine schreckliche Sekunde lang dachte Tad an das gewaltige Gewicht, das auf die armen, geschundenen Füße niederdonnerte. Dann jedoch rannte er weiter, Cissie hinter sich herziehend. »Weiter!« »Aber die Pferde ...« »Wenn wir stehen bleiben, bleibt Khush auch stehen. Wenn er aber weiterrennt, könnten wir ...« Sie waren nun fast bei Ketty. Zweitausend Meilen hatten sie zurückgelegt, hatten sich ständig verstecken müssen und nun waren sie fast am Ziel. Aber Tad wusste natürlich, was diese Pferde bedeuteten. Sie waren noch immer winzig und unscharf, aber Tad sah Esthers purpurrote Hutfeder und Mr. Jackson, der vierschrötig im Sattel saß, förmlich vor sich. Niemand anderer als die beiden konnten die Reiter sein. Als Khushs Kopf aus dem 337
Bachbett aufgetaucht war, waren die Pferde sofort in einen Galopp gefallen. Sollte alles umsonst gewesen sein? Tad und Cissie rannten über die Prärie, Khush holte immer mehr auf, die winzigen Gestalten hinter ihnen allerdings auch. Cissie japste nach Luft und Tad hatte das Gefühl, seine Lungen würden gleich platzen, aber sie schafften es, ihr Tempo beizubehalten. Es dauerte einige Zeit, bis Tad begriff, was er vor sich sah. Näher als der Horizont. Ein langes schwarzes Ofenrohr, aus dem ein feiner Rauchstreifen aufstieg, ragte aus dem Boden. Ein Kamin? Auch Cissie sah das Rohr und noch ehe Tad begriffen hatte, worum es sich handelte, rief sie aus Leibeskräften und nach Luft ringend: »Hilfe! Ist da jemand?« Als sich etwas rührte, rief sie erneut: »Zu Hilfe!« Hinter dem Kamin tauchte plötzlich, wie aus dem Boden geschossen,
eine
hochgewachsene
Frau
in
einem
verblichenen Kleid auf. Sie starrte ihnen zuerst nur entgegen und kam dann auf sie zu. Mit einem Mal begann die ganze Prärie sich um Tad zu drehen. Zu keinem Gedanken mehr fähig, rannte er weiter, 338
Cissie neben sich. Khush war mittlerweile so nahe, dass man seine trampelnden Schritte auf dem harten Boden hören konnte. Vor sich sah Tad die rennende Frau, hinter sich wusste er die beiden Reiter. Benommen
vor
Hunger,
Durst
und
Müdigkeit,
befürchtete er einen Moment lang, sie alle würden in einem
einzigen
aufgehen.
großen
Zusammenprall
Gegeneinander
prallen
und
ineinander zu
Staub
explodieren, der durch die ganze Prärie wehen würde. Cissie, noch immer an seiner Seite, stieß plötzlich einen spitzen Schrei aus. »Ketty!« Sie entriss Tad ihre Hand und stürzte sich geradewegs in die
Arme
der
fremden
Frau
mit
dem
faltigen,
braunhäutigen Gesicht. Ketty? Tads Gedanken überstürzten sich. Er hatte zweitausend Meilen zurückgelegt. War den Ohio hinunter, dann erst den Mississippi und später den Missouri hinaufgefahren und hatte die Platte überquert. Auf der Suche nach einer wunderschönen jungen Frau in einem schattigen grünen Garten. Hier jedoch gab es gar nichts. Nur eine einfache, 339
dunkelhäutige Frau in einem zerschlissenen Kattunkleid, die wie eine x-beliebige Farmersfrau aussah. Kein goldenes Haar. Kein weißes Holzhaus. Und keinen kühlen grünen Garten. Soweit er es beurteilen konnte, war Ketty aus einem Loch im Boden gekrochen. Sie waren inmitten eines Nichts, ihre Feinde dicht auf den Fersen - und es gab keinen Ort, an den sie sich hätten flüchten können. Erst jetzt begriff Tad, welch törichtem, kindischem Traum er nachgehangen hatte. Bis zu dem Moment, als er atemlos und torkelnd mitten in der Prärie zum Stehen kam und darauf wartete, dass Mr. Jackson und Esther sie endlich eingeholt haben würden. Cissie jedoch hing an Kettys Hals, als wäre diese die gute Fee aus dem Märchen. Umklammerte sie, als ginge es um ihr Leben, und stammelte keuchend unsinnige Worte. »Oh, Ketty ... du musst ... oh, es ist so schwer zu erklären ...« Ängstlich blickte sie über die Schulter und zuckte erschreckt zusammen, als sie sah, dass die galoppierenden Pferde nur noch wenige hundert Meter entfernt waren. »Es ist einfach zu viel ... ich kann nicht ...« Sie zog ein Bündel zerfledderter Zettel aus ihrer Hosentasche. Tad sah, dass es die Zettel waren, auf die sie 340
unterwegs die ganze Zeit über geschrieben hatte. Rasch drückte sie die Ketty in die Hand. Dann, zum ersten Mal, seit Tad sie kannte, brach sie in Tränen aus. Ketty umklammerte die Papiere mit der einen Hand, während sie den anderen Arm um Cissies Schultern legte. Als sie auf Cissie herabblickte, lag auf einmal eine solche Mischung aus Staunen und Zärtlichkeit auf ihrem wettergegerbten Gesicht, dass Tad diesen Anblick nicht ertragen konnte. Er wandte den Blick ab und sah die beiden herangaloppierenden Reiter, die ihre Pferde gerade zum Stehen brachten. Khush legte seinen Rüssel um Tads Schultern und zwickte ihn zärtlich ins Ohrläppchen.
341
Ketty ließ niemanden zu Wort kommen, ehe sie nicht Cissies Briefe gelesen hatte. Tad konnte ihr Gesicht dabei nicht beobachten, denn sie ging beim Lesen mit gesenktem Kopf auf und ab. Esther und Mr. Jackson waren mittlerweile abgestiegen, blickten einander fragend an, warteten aber schweigend, bis Ketty fertig war. Einmal blieb sie stehen und verharrte für einen Moment mit geschlossenen Augen. Dann warf sie einen Blick auf Cissie. Diese jedoch schüttelte fast verärgert den Kopf. »Nicht jetzt!« Ketty nickte und las weiter. Zweimal öffnete Mr. Jackson den Mund um sie zu unterbrechen, aber sie brachte ihn mit einem scharfen Blick und einer gereizten Handbewegung wieder zum Schweigen. Es war nur eine winzige Geste, aber er gehorchte. Da standen sie nun alle inmitten der endlosen Prärie und betrachteten eine dünne, schäbig gekleidete Frau, die ein paar zerknüllte Zettel las. Schließlich faltete sie die Zettel wieder zusammen und rief etwas über ihre Schulter, in Richtung des Ofenrohrs. »Hjalmar!« 342
Neben dem Rohr tauchte ein blonder Kopf auf und nach und nach kam ein großer Mann zum Vorschein. Ketty lächelte ihn an. »Här är Cissie och Khush«, sagte sie. Dann wandte sie sich an die anderen Anwesenden. »Sollten wir nicht besser ins Haus gehen?« Mr. Jackson runzelte die Stirn. »Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, Ma’am, aber das ist Nebensache. Alles, was ich möchte, ist mein Elefant. Er gehört mir und ich habe auch Papiere, die es belegen.« »Das stimmt nicht!«, rief Cissie. »Pa hätte Khush niemals verkauft! Er gehört mir!« Ketty legte ihr einen Arm um die Schultern. »Nicht alles, was man glaubt, entspricht auch der Wahrheit, Cissie. Wir müssen uns darüber unterhalten.« »Aber ...« »Komm bitte mit hinein. Dein Freund Tad auch. Und natürlich auch die Dame und der Herr hier.« Sie deutete auf das Kaminrohr. Es war eine einladende, zugleich
aber
auch
bestimmte
Geste,
die
keinen
Widerspruch duldete. »Sie meinen, wir sollen unter die Erde gehen?«, rief 343
Esther entsetzt. Mr. Jackson schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht von gestern. Ich lasse diesen Elefanten nicht mehr aus den Augen, Ma’am, nachdem ich ihn nun endlich ausfindig gemacht habe.« »Wir können Khush anbinden«, erklärte Ketty gelassen. »Nach dieser langen Reise wird er froh sein, sich etwas ausruhen zu können. Dann können wir alle unbesorgt hineingehen.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Lät oss gä in.« Er nickte und war im gleichen Moment auch schon im Erdboden verschwunden. Mr. Jackson lächelte etwas gequält. »Aus welchem Grund sollten wir Ihnen trauen?« Ketty blickte ihn nur an, sonst nichts. Tad sah, dass Mr. Jackson ihrem Blick auswich und einen Schritt rückwärts machte. »Ich hatte nicht die Absicht Sie zu beleidigen, Mrs. ...« »Svensson«, erklärte Ketty kühl. »Mrs. Svensson. Wir nehmen Ihre Gastfreundschaft natürlich gerne an. Sobald der Elefant angebunden ist.« Ketty nickte ihm frostig zu. Dann wandte sie sich wieder 344
an Tad und lächelte. »Du kannst Khush an den Bach dort unten bringen.« Mr. Jackson und Esther folgten ihm misstrauisch, als Tad Khush am Ofenrohr vorbei und den Abhang hinunter zum Bach führte. Sie sahen ihm zu, als er zwei Pfähle in den Boden rammte und Khush daran anband, wobei er ihm genügend Spielraum ließ, damit er in den Bach waten konnte. Als er damit fertig war, hob Tad den Kopf und murmelte: »Ich gehe zu Ketty. Du bleibst hier, Khush.« Er wandte sich der Erdwohnung zu. Vom Bach aus sah sie schon mehr wie ein Haus aus, hatte eine Vorderseite aus Lehmziegeln und ein einziges kleines Fenster, das aus vier kleinen Glasscheiben bestand. Es war direkt an den Abhang gebaut, sodass das Dach mit der Böschungsoberkante auf gleicher Höhe lag. Dort ragte, umgeben von Löwenzahnblättern, das Kaminrohr heraus. Kettys Garten, dachte Tad bitter, als er den Kopf einzog und ins Haus trat. Im Inneren war es ziemlich düster. Die Wände waren glatt geschliffen und weiß gestrichen und der Lehmboden war sorgfältig fest gestampft, aber es roch feucht, wie in 345
einem alten Keller. Ketty wartete, bis alle an dem massiven Tisch Platz genommen hatten. Sie blickte Mr. Jackson prüfend an. »Sie sind im Besitz von Papieren, die Sie mir zeigen wollen?« »Ich glaube, das würde die Sache klären.« Mr. Jackson zückte seine Brieftasche und entnahm ihr ein arg mitgenommenes
Schriftstück.
»Alles
ging
seinen
rechtmäßigen Gang.« Ketty nahm das Papier entgegen und breitete es auf dem Tisch aus. Tad reckte den Hals, um über ihre Schulter hinweg mitlesen zu können. Ich erkläre feierlich, am heutigen Tag von Hannibal Henry Jackson die Summe von fünfhundert Dollar erhalten zu haben, wofür ich ihm als Gegenleistung meine sämtlichen Rechte an dem indischen Elefantenbullen namens Khush überlasse, sowie das Gefährt des besagten Elefanten und sämtliches Zubehör, das zur Pflege und Behandlung des besagten Elefanten gehört. (gezeichnet) Michael Keenan 346
(Zeugin) Esther Lanigan Nervös rieb Cissie die Hände. »Es ist eine Fälschung, nicht wahr, Ketty? Pa hätte Khush niemals für fünfhundert Dollar verkauft. Und außerdem schrieb er nie mit schwarzer Tinte.« »Ich habe diese Tinte extra gekauft«, warf Esther schnippisch ein. »In Ginder Falls. Und er war froh, dass er überhaupt fünfhundert Dollar bekam. Schließlich wussten wir alles über ihn.« Plötzlich herrschte ein betretenes Schweigen. Cissie starrte Esther an, als sei ihr plötzlich ein ganz neuer und äußerst unangenehmer Gedanke gekommen. Auch Tad hatte mit einem Mal das Gefühl, als hätten sich unvermittelt alle Puzzleteile zu einem kompletten Bild zusammengefügt. »Mr. Keenan hat erwähnt, es sei Erpressung«, sagte er langsam. »Und das war es auch. Sie wussten von dem Krüppeltrick, nicht wahr? Sie sahen ihn zweimal!« Jede Antwort wäre überflüssig gewesen. Er konnte in ihren Gesichtern lesen, dass er Recht hatte. Nur Ketty blickte einen Moment lang fragend drein. 347
»Krüppeltrick?« Tad holte die kleine Medizinflasche aus seiner Tasche und stellte sie auf den Tisch. Sie begriff sofort und nickte traurig. »Er konnte von Glück sagen, dass wir so verständnisvoll waren.« Esther warf den Kopf in den Nacken. »Wir hätten ihn genauso gut anzeigen können. Und wenn man ihn nach Markle zurückgebracht hätte, wäre er gelyncht worden. Stattdessen gaben wir ihm fünfhundert Dollar.« Nachdenklich fuhr Ketty mit einem Finger über das Fläschchen. »Ja, so war Michael«, sagte sie mit wehmütiger Stimme. »Er liebte das Risiko. Doch wenn es dann brenzlig wurde, handelte er ... nicht immer klug.« Cissie explodierte beinahe. »Sie haben ihn erpresst! Das verstößt gegen das Gesetz!« »Er verstieß gegen das Gesetz«, erklärte Mr. Jackson unbeeindruckt. »Außerdem liegen keine Beweise vor, außer dass der Elefant mir gehört. Michael Keenans Unterschrift beweist es eindeutig.« Ketty nahm seinen Vertrag in die Hand und ging damit zur Tür ihrer Erdwohnung, wo sie ihn schräg gegen das Licht hielt. Ihre Gestalt versperrte das Licht, während die 348
anderen wartend im Dunkeln saßen. Schließlich kam sie wieder an den Tisch zurück, setzte sich und schob Mr. Jackson das Papier wieder zu. »Ich kenne Mr. Keenans Handschrift sehr genau. Und ich bin davon überzeugt, dass er dies geschrieben hat.« »Ketty! Wie kannst du so etwas sagen ...« Cissie sprang auf, doch Ketty legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie wieder auf ihren Stuhl. »Ich muss es sagen, Cissie - weil es wahr ist. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es nicht gut ist, wenn man sich selbst belügt? Wenn du den Vertrag genau betrachtest, wirst auch du zugeben müssen, dass es die Unterschrift deines Vaters ist.« Zufrieden steckte Mr. Jackson seinen Vertrag wieder ein und Esther erhob sich. »Dann ist ja alles geklärt. Wir nehmen unser Eigentum an uns und verlieren kein Wort über die Schwierigkeiten, die uns bereitet wurden.« Ketty blickte sie ruhig an. »Es wäre besser, Miss Lanigan, wenn Sie sich wieder setzten und mir zuhörten.« »Es gibt nichts mehr zu sagen«, sagte Esther mit finsterem Blick. »Sie gaben uns Recht! Sie sagten, es sei tatsächlich Michael Keenans Unterschrift!« 349
Lautlos murmelte Cissie etwas und auf Kettys Gesicht lag plötzlich der Anflug eines Lächelns. »Ja, ich glaube, dass es Michael Keenans Unterschrift ist. Und dass der Vertrag Mr. Jackson sämtliche Rechte Michael Keenans an Khush überträgt.« »Na also ...« »Ich glaube ...«, Kettys Blick wanderte zu Mr. Jackson. »Ich glaube aber auch, dass Sie Michael Keenan nicht so gut kannten wie ich seine Unterschrift. Er war kein ... sehr aufrichtiger Mensch.« Mr. Jackson wurde plötzlich sehr, sehr still. »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen, dass Sie wesentlich mehr bezahlt haben, als Michael Keenans Rechte an Khush wert waren.« »Drücken Sie sich bitte etwas deutlicher aus.« Seine Augen waren starr auf Kettys Gesicht geheftet. Esther sank gegen ihre Stuhllehne. Ketty zog die Schublade des Tisches auf und holte eine kleine Schachtel heraus. Sie lächelte. »Sie sind nicht der Einzige, der einen Vertrag hat, Mr. Jackson. Ich habe nämlich auch einen. Und ich glaube, den sollten Sie sich 350
ansehen.« Sie öffnete den Deckel und wühlte in den darin befindlichen Papieren, bis sie das Gesuchte gefunden hatte. Keine hingekritzelten Sätze wie auf Mr. Jacksons Papier, sondern es handelte sich um ein richtiges offizielles Dokument, von einem Notar ausgestellt. Als sie das knisternde Papier entfaltet hatte, überflog Tad schnell den Text. Beim ersten Vertrag handelte es sich um den Erwerb des indischen Elefantenbullen namens Khush vom PuddifootsZirkus durch Miss Kerstin Gilstring. Der zweite war eine Vereinbarung zwischen Mrs. Kerstin Svensson (geborene Gilstring) und Mr. Michael Keenan. Er übertrug Michael Keenan das Recht auf alle Gelder, die er bei Vorführungen mit Khush einnahm, wofür er als Gegenleistung verpflichtet war gut für den Elefanten zu sorgen. Es war ihm jedoch ausdrücklich untersagt den Elefanten zu verkaufen, einzutauschen oder ihn zur Regelung eventueller Spielschulden einzusetzen. »Michael Keenan war mein Geschäftspartner«, sagte Ketty. »Ich kannte ihn sehr gut.« Sie schob Mr. Jackson ihre Papiere zu, aber er machte 351
sich nicht einmal die Mühe sie zu lesen. Er starrte sie nur fassungslos an. »Was sollen diese Papiere? Was haben sie zu bedeuten?« Ketty faltete die Hände. »Sie bedeuten, Mr. Jackson, dass Sie Khush gar nicht von Michael Keenan kaufen konnten. Weil er niemals Michael Keenan gehört hat. Er gehört mir.« Esther pfiff durch die Zähne. Eine unerträgliche Spannung lag in der Luft. Tad beobachtete Mr. Jacksons Gesicht und wartete auf eine Explosion. Aber es war Cissie, die aufsprang. Cissie, die einen entsetzten Schrei ausstieß. »Aber das ist ja schrecklich! Das gibt es nicht! Jetzt ist alles ruiniert!« Sie wandte sich um und taumelte gegen den Türrahmen, als sie wie von Furien gehetzt aus der Erdwohnung rannte.
352
»Lauf doch nicht weg! Ist doch alles in Ordnung!« Während alle anderen noch sprachlos dasaßen, sprang Tad auf und rannte Cissie nach. Er sah sie zum Bach laufen. »Es ist doch alles in Ordnung«, rief er erneut, während er ihr nachlief. »Das macht doch keinen Unterschied.« Cissie wandte ihm den Kopf zu. »Wovon sprichst du?« Ihre Stimme hörte sich zornig an, aber Tad sah, dass sie weinte. »Es ist doch egal«, sagte Tad, »dass Khush nicht dir gehört. Er ist, er ist ...« Er warf einen Blick auf Khush, der den Kopf gehoben hatte und sie beide mit seinen kleinen, ruhigen Äuglein beobachtete. Es war unmöglich auch nur annähernd zu beschreiben, was Khush für ihn bedeutete. »Er muss doch nicht unbedingt dir gehören«, fuhr Tad fort. »Er wird trotzdem hier bei dir sein. Das ist doch das Wichtigste!« Schniefend wischte sich Cissie mit dem Ärmel über das Gesicht. »Darum geht es doch gar nicht. Ich möchte ihn gar nicht hier haben.« »Aber ich dachte ...« Tad packte sie an der Schulter und zwang sie ihn anzublicken. »Ich dachte, darum ginge es 353
dir. Khush hierher zu bringen. Deshalb habe ich mich tagelang auf einem Schleppkahn herumgedrückt, mich auf dem Kesseldeck eines Dampfers versteckt und bin durch den Missouri geschwommen - damit du Khush behalten kannst! Ich dachte, du hängst an ihm, genau wie ...« Er verkniff sich das letzte Wort, das ihm auf der Zunge lag, und entfernte sich ein paar Schritte. Als er Khushs Blick spürte, ging er zu ihm in das knöcheltiefe Wasser und legte seinen Kopf an die weiche, stabile Flanke. Khush hob den Rüssel und blies sehr sanft über Tads Gesicht. Mit funkelnden Augen stand Cissie oben an der Böschung. »Ich wollte Khush nie behalten. Ich brauchte ihn. Ich wollte ihn verkaufen um Ketty das Geld zu geben, damit sie mich bei sich wohnen lässt.« »Ihn verkaufen?« »Klar. Aber ich kann nicht, weil ...«, Cissies Stimme schnappte fast über, »... weil er ihr bereits gehört. Ich besitze nichts, was ich ihr geben könnte!« Mutlos ließ sie sich auf den Boden fallen und legte den Kopf auf die Knie. Tad runzelte die Stirn. »Warum glaubst du, ihr unbedingt etwas geben zu müssen? Sie möchte kein Geld von dir. Ich dachte ...« 354
»Was dachtest du?«, murmelte Cissie. Er hatte geglaubt, das Verhältnis zwischen Cissie und Ketty zu kennen. Sie war wie eine Mutter zu mir, hatte Cissie gesagt. Und ihre erste Umarmung, dort in der Prärie, war wirklich wie die zwischen Mutter und Tochter gewesen. Wie konnte Cissie nur an Geld, ans Bezahlen denken? Wofür wollte sie bezahlen? Diese Frage war Tad plötzlich durch den Kopf geschossen, so brennend, dass sie ihm fast den Atem nahm. »Das würde nichts helfen«, sagte er mit weicher Stimme. »Egal, wie viel du auch bezahlen könntest. Es wird nie reichen.« Cissie blinzelte zu ihm hoch. »Reichen, wofür?« »Um das wieder gutzumachen, was du getan hast.« Tad schloss die Augen und begriff, dass er es unbewusst schon immer gewusst hatte. »Meine Tante nahm mich auf, als ich noch ein Baby war. Sorgte für mich wie eine Mutter, wie alle sagten. Ich arbeitete und arbeitete für sie, aber es reichte nie, um das wieder gutzumachen, was ich getan hatte.« Cissie zog hörbar die Luft ein. »Und was hattest du 355
getan?« »Meine Mutter hätte nie ein Baby bekommen dürfen.« Tad
schluckte.
»Sie
starb
bei
meiner
Geburt.
Meinetwegen. Aber alles, was ich je getan habe, konnte den Tod von Linnie Hawkins nicht ungeschehen machen.« »Das war doch nicht deine Schuld!«, rief Cissie. »Deine Tante kann dich nicht geliebt haben. Sonst hätte sie dich das nie glauben gemacht!« Die Worte polterten in Tads Kopf wie die letzten Teile eines Puzzles. Sie passten aber nicht in sein eigenes Puzzle, deshalb spielte er sie wieder Cissie zu. »Und wenn Ketty dich liebt ...« »Du verstehst das nicht!« Cissies Blick wich ihm aus. »Ich ...« Einen Moment lang glaubte Tad, sie würde es darauf beruhen lassen. Doch sie holte nur kurz Luft, ehe die Worte aus ihrem Mund purzelten. »Ich habe Olivia überredet mir den Fensterplatz zu überlassen. Eigentlich war sie an der Reihe, aber ich ließ ihr keine Ruhe. Und als es zu dem Unfall kam, flog ich durch das Fenster und sie ...« Sie ballte die Fäuste und blickte Tad flehentlich an. »Ich wollte es nicht! Es war nicht meine Schuld!« Aber was nützten diese Worte? Tad hatte es selbst immer 356
wieder versucht. In schlaflosen Nächten, wenn er an die dunkle Decke gestarrt hatte. Es war nicht meine Schuld, es war nicht meine Schuld. Aber nie hatte es etwas geholfen. Doch plötzlich fiel ihm etwas ein, das helfen würde. »Du musst es Ketty erzählen. Sie wird nicht zulassen, dass du denkst, es sei deine Schuld gewesen.« Cissie erschauerte. »Aber ich kann ihr doch gar nichts geben!« »Macht nichts. Hab Vertrauen zu ihr!« »Aber ...«, Cissie knetete ihre Hände und blickte auf die Fingerknöchel. Dann sprach sie mit einer steifen, festen Stimme, so als müsse sie die Worte aussprechen um nicht daran zu ersticken. »Und was ist mit dir, Tad? Glaubst du, es war meine Schuld? Glaubst du, ich bin schuld an Olivias Tod?« »Was ich denke, ist doch egal«, wehrte Tad ab. Cissie gab keine Antwort. Sie starrte nur weiter auf ihre Fingerknöchel. Sie saß sehr gerade, und ihre Wangen waren von einer flammenden Röte überzogen. Ist das, was ich denke, wirklich egal? Die Sicherheiten und Überzeugungen in Tads Kopf begannen sich wie riesige Felsblöcke zu verlagern und umzuschichten. Die 357
Luft zwischen ihnen knisterte und Tad hatte Angst davor etwas zu sagen. Aber er konnte nicht länger schweigen. »Du hast niemanden getötet«, sagte er langsam. »Es war ein Unfall. Genau wie der Tod meiner Mutter.« Cissies Blick war wieder auf den Boden geheftet. »Glaubst du das wirklich?« »Ja natürlich.« Plötzlich war alles ganz leicht. Tad watete durch den Bach zurück, bis er vor ihr stand. Er legte ihr eine Hand unter das Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sie ihn anblicken musste. »Alles ist in Ordnung, Cissie. Du hast überlebt und du hast Olivia nicht getötet und du bist hier bei Ketty.« Er spürte, wie sie sich entspannte, nur leicht, als sie ihm in die Augen blickte. »Und Ketty wird einverstanden sein, dass ich bei ihr bleibe?« Tad grinste. »Versuch mal wegzulaufen!« Ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf Cissies Gesicht aus. Doch noch ehe sie etwas sagen konnte, ertönte unter der Haustür der Erdwohnung ein lautes, verärgertes Geräusch. Mr. Jackson stolperte heraus und zog Hjalmar hinter sich her. Er schäumte vor Wut. Seine dicken Finger hatten 358
Hjalmars Handgelenk gepackt und er zerrte ihn die Böschung hinunter zum Bach. Dahinter kam Esther zum Vorschein, die geziert durch den Staub stolzierte, dann Ketty, das kleine Medizinfläschchen in der Hand. »So!«, sagte Mr. Jackson. Seine Stimme klang wie gehärteter Stahl. »Wir wollen doch mal ganz sicher sein, dass Ihr Mann begreift, was Sie da eben abgelehnt haben, Mrs. Svensson. Auch wenn er kein Englisch versteht, so wird er doch zumindest verstehen, was er da vor sich sieht. Und es liegt auf der Hand, dass er fünfhundert Dollar gut gebrauchen könnte!« Er holte das Geld aus seiner Tasche und zeigte Hjalmar die Scheine. Dann hielt er sie Ketty hin. »Ich habe diese Summe zwar schon einmal bezahlt, aber ich bin bereit, sie nochmals zu zahlen. Das ist für Sie, Mrs. Svensson.« Er zeigte auf die Scheine, dann auf Ketty, während er Hjalmar anstarrte, damit dieser auch wirklich begriff. »Ich möchte den Elefanten kaufen.« Er deutete zuerst auf den Elefanten, dann auf sich. Er fuchtelte mit dem Geld herum und wartete. Ketty betrachtete die Scheine. Voller Entschlossenheit 359
legte sie dann die Hände auf den Rücken. »Mein Elefant ist unverkäuflich, Mr. Jackson.« Niemand konnte das falsch auslegen. Triumphierend blickte Mr. Jackson Hjalmar an. »Sehen Sie, was sie tut? Das werden Sie doch nicht zulassen. Der Elefant nützt Ihnen nichts, aber das Geld hier würde Ihnen sehr viel nützen.« Breitbeinig und siegessicher stand er da, das Geld in der ausgestreckten Hand haltend. Er war sich sicher, Hjalmar auf seiner Seite zu haben, nachdem dieser begriffen haben musste, worum es ging. Hjalmars Blick wanderte von dem Geld zu Khush und schließlich
wieder
zu
Mr.
Jackson.
Mit
einer
hochgezogenen Augenbraue sah er dann auf Ketty, um sicherzugehen, dass er richtig verstanden hatte. Dann trat er einen Schritt vor und streckte Mr. Jackson mit einem harten Schlag mitten auf das Kinn nieder. »Du får lov att gå nu«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. Esther stieß einen spitzen Schrei aus und wich ein paar Schritte zurück, während Mr. Jackson wie benommen liegen blieb und wütend knurrte: »Was soll das heißen?« Kettys Mundwinkel zuckten verräterisch. »Ich glaube, 360
mein Mann wollte damit zum Ausdruck bringen, dass Sie mich nicht länger belästigen sollen.« Mr. Jackson hatte seinen massigen Körper mittlerweile wieder hochgestemmt und machte drohend einen Schritt auf sie zu. »Begreifen Sie denn nicht, welche Chance Sie sich entgehen lassen ...« Weiter kam er nicht. Khush hatte seinen Rüssel erhoben und spritzte Mr. Jackson mitten ins Gesicht. Aber das war noch nicht alles. Er tauchte seinen Rüssel erneut ins Wasser und wählte als neue Zielscheibe Esthers Hut. Wassertropfen rieselten ihr über das Gesicht. Sie raffte ihre Röcke zusammen und kreischte entsetzt: »Ich bleibe keine Sekunde länger an diesem schrecklichen Ort!« Mr. Jackson packte sie am Arm. »Warte. Ich pflege nicht so leicht aufzugeben ...« Der nächste Wasserstrahl traf ihn in der Bauchgegend und durchnässte seine ganze Kleidung. Ketty lächelte vielsagend. »Ich glaube, Sie werden aufgeben müssen, Mr. Jackson. Selbst wenn ich Ihnen Khush verkaufen würde, hätten Sie nichts davon. Er würde Sie nicht als neuen Besitzer akzeptieren.« Als habe er diese Worte verstanden, stapfte Khush mit 361
einem Mal aus dem Wasser und auf Esther zu. Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen raffte sie ihre Röcke hoch, rannte auf ihr Pferd zu und flehte Mr. Jackson an ihr zu folgen. Dieser jedoch hatte sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Er richtete sich zu voller Lebensgröße auf, ohne zu bedenken, dass seine tropfnasse Kleidung sein selbstherrliches Gebaren wenig würdevoll erscheinen ließ, und funkelte Ketty erbost an. »Was immer Sie heute auch sagen, Ma’am, Sie werden über kurz oder lang gezwungen sein, den Elefanten zu verkaufen. Diese ... diese Kinder haben vielleicht keine Ahnung, wie ungeeignet das Prärieleben für einen Elefanten ist, aber Sie wissen es sehr wohl. Ich ziehe mein Angebot hiermit zurück, aber glauben Sie mir, Sie werden es noch bereuen!« Zweifelnd hob Ketty die Augenbrauen. »Das glaube ich nicht. Khush gehört mir und ich werde entscheiden, was ich mit ihm tue. Aber das hier gehört Ihnen, soweit ich weiß.« Sie streckte ihm die kleine Medizinflasche zu. »Sie haben mit Ihrem Vertrag das erworben, was Michael Keenan zur Pflege des Elefanten besaß. Und das ist alles, was davon übrig ist.« 362
Mr. Jackson schnaubte verächtlich und warf die Flasche achtlos ins Gras. »Ich lasse mich von Ihnen nicht länger lächerlich machen ...« Mit diesen Worten stampfte er zu Esther hinüber. Die beiden bestiegen ihre Pferde und ritten davon. Die Zurückbleibenden schwiegen, bis die beiden Reiter zu winzigen Figuren zusammengeschrumpft waren, die am Horizont verschwanden. Da erst blickte Cissie auf das kleine Fläschchen. Es war umgekippt und die letzten Strahlen der Sonne spiegelten sich in seinem jadegrün funkelnden Inhalt. »Ketty ...« Ketty hatte sie beobachtet. »Es ist an der Zeit, dass wir uns unterhalten«, sagte sie ruhig. »Vielleicht auch in Hjalmars Gegenwart. Tad, entschuldigst du uns bitte?« Tad nickte, woraufhin die drei wieder die Böschung hinaufstiegen. An der Haustür angekommen, warf Cissie einen Blick zurück. Für einen kurzen Augenblick sah Tad ihr Gesicht, das sich bleich gegen den dunklen Türrahmen abzeichnete. Dann legte Ketty ihr einen Arm um die Schulter und führte sie hinein. Plötzlich lag eine seltsame Stille über der Prärie. Niemand sprach. Nichts bewegte sich. Tad war nur mehr ein kleines Staubkörnchen auf einer endlos großen, weiten 363
Fläche. Er starrte auf die geschlossene Haustür und die Löwenzahnblätter auf dem Dach darüber. Dann wackelte Khush mit den Ohren und Tad drehte sich zu ihm um. »Schau mich nicht so an! Ich kann nicht bei dir bleiben! Und ich kann dich auch nicht mitnehmen ...« Die Worte kamen ihm wie die trostlosesten der Welt vor, und nun, da sie ausgesprochen waren, gab es nichts mehr hinzuzufügen. Tad ging am Bach entlang, bis er zu der Stelle kam, an der sie bei ihrer Ankunft achtlos ihre Habseligkeiten abgestellt hatten, und holte die alte, steife Bürste heraus, mit der er Khush immer abgeschrubbt hatte. Dann band er Khush los und führte ihn aus dem Wasser. »Beweg dich! Beweg dich, hierher!« Khush stapfte brav hinter ihm her und stand dann reglos da, denn er wusste, was kam. Tad fand auch den Eimer und füllte ihn mit Wasser aus dem Bach. Dann begann er zu schrubben. Er begann, sehr sorgfältig, mit Khushs Kopf, ließ die Bürste langsam über den breiten, starken Schädel und hinab über den massiven Rücken mit den vereinzelten struppigen Haaren gleiten. Danach bearbeitete er die weiche, zerfurchte Haut der 364
Flanken und fuhr anschließend noch mit der Hand darüber, um zu prüfen, ob sie auch wirklich sauber war. Schließlich kamen der Schwanz, der Rumpf und die dicken, stämmigen Beine an die Reihe. Er schrubbte jeden Millimeter und versuchte dabei sich ins Gedächtnis einzubrennen, wie Khush sich anfühlte, wie er roch und welches Geräusch es machte, wenn die Bürste über seine Haut glitt. Denn dies war das letzte Mal. Er würde heute Nacht noch bei Khush hier am Bach schlafen. Und morgen früh würde er weggehen, sehr früh, solange er das Gefühl, mutterseelenallein über die weite Prärie zu marschieren, noch ertragen konnte. Er schrubbte, bis es schließlich nichts mehr zu schrubben gab. Dann ließ er die Bürste fallen und seinen Kopf nach vorne sinken und lehnte sich gegen Khushs Rüssel, der sich um ihn wickelte, um ihn zu stützen. Es war fast dunkel, als Ketty schließlich nach ihm schaute. Sie war allein gekommen und blieb ein paar Schritte
vor
ihm
stehen
um
Tad
in
seiner
Zurückgezogenheit nicht zu stören. »Du hast gute Arbeit geleistet«, sagte sie leise, »um Cissie sicher hierher zu bringen.« 365
»War mir ein Vergnügen«, murmelte Tad. »Das meiste hat sie selbst gemacht.« Ketty lachte auf. Dann bückte sie sich und hob etwas aus dem Gras auf. »Es ist wunderbar, nicht wahr? Cissie und diese kleine Flasche - sie sind beide so zerbrechlich, und dennoch
haben
sie
die
weite
Reise
unbeschadet
überstanden.« Sie kam die Böschung zu Tad herunter und Khush knurrte leise und streckte ihr seinen Rüssel entgegen. »Wie schön dich wieder zu sehen, mein lieber Khush.« Sie legte ihm eine Hand an die Seite. »Aber du kannst leider nicht hier bleiben. Das ist kein Platz für einen Elefanten.« Tad hielt die Luft an und sie musterte ihn rasch. »Das verstehst du doch, nicht wahr?« »Ich ... ja, Ma’am.« Er traute sich kaum zu sprechen. Nachdenklich drehte sie das Medizinfläschchen in ihrer Hand. »Khush muss reisen. Ich sollte ihn an jemanden verkaufen, der mit ihm von Stadt zu Stadt zieht, irgendwo, wo es warm ist und wo er für die Leute eine Attraktion ist. Dieses Land ist so groß und weit, dass man sein ganzes Leben lang herumreisen kann, ohne je überall gewesen zu sein.« 366
Groß und weit. In Tads Kopf drehte sich alles. Sie hatten zweitausend Meilen zurückgelegt und doch gab es immer noch unendlich viele Gebiete, die er noch nicht bereist hatte. Angefangen von den Goldminen Kaliforniens bis zu den sumpfigen Flussgebieten Floridas. Von dem eleganten New Orleans bis zu den Indianerwigwams in Dakota. In seinem Kopf sah er eine riesige Landkarte, auf der Khush behutsam von einem Staat zum anderen stapfte. Und ich werde nie wissen, wo er gerade ist, schoss es ihm durch den Kopf. Er wünschte, Ketty würde endlich damit aufhören und ihn wieder allein lassen. Aber das tat sie nicht. Sie kam noch näher. So nahe, dass er den frischen Geruch ihrer Kleidung in der ruhigen Abendluft riechen konnte. Behutsam legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber wer soll ihn kaufen?« »Ich nehme an ...« Tads Stimme krächzte, und die Worte kamen nur heiser aus seiner Kehle. »Jemand mit viel Geld, Ma’am.« Trotz der Dunkelheit sah er, dass sie lächelte. »Khush kann sein Geld selbst verdienen. Vielleicht sollte ich ihn jemandem anvertrauen, der mit ihm herumreist und mir 367
jeden Monat einen Teil der Einnahmen schickt. Was hältst du davon?« »Ich ...« Tad schluckte. Ketty wartete und kippte das Medizinfläschchen hin und her. Es war zu dunkel um viel zu erkennen. Für einen Moment lang hörte Tad das Rascheln großer Bäume über sich. Konnte den schweren Geruch verblühter weißer Rosen riechen, die Umrisse des weißen Holzhauses erkennen, verdeckt im grünen Schatten des erträumten Gartens. Ketty gluckste leise. »Glaubst du, ich habe diese Möglichkeit? Den Elefanten an irgendjemanden zu verkaufen, der mir passt?« »Ma’am?« »Ich glaube, du solltest jetzt gehen. Ohne Khush.« Tad starrte sie fassungslos an und sie lachte leise auf. Dann zog sie den Korken aus der Medizinflasche. Er hörte das leise Floppen, als er heraus sprang. Und dann ein langes, träges Tröpfeln, als die Flüssigkeit im Boden versicherte. »Ende der Medizinshow«, sagte sie mit ruhiger und etwas wehmütiger Stimme. »Keine Tricks mehr. Es ist an der Zeit zur Wahrheit zu stehen.« Sie gab Tad einen 368
kleinen Stoß. »Geh schon! Geh dorthin, in die Prärie!« Wie ein Schlafwandler setzte Tad einen Fuß vor den anderen. Er watete durch den Bach und erklomm die gegenüberliegende Böschung und marschierte in die unbekannte Weite dahinter, im Westen, in die Dunkelheit hinein. Und jeder Schritt führte ihn weiter von Khush weg. Wie ein riesiges Kuppeldach mit Abertausenden von Sternen breitete sich der grenzenlose Himmel der Prärie über seinem Kopf aus und er ging weiter und weiter, mitten in den endlosen Raum und die schreckliche Leere hinein. Er hatte mehr Angst als je zuvor. Wenn jetzt etwas schief ging, könnte er nie mehr zurückkehren. Er würde einfach weiter und weiter durch die Prärie wandern, bis er schließlich ohnmächtig zusammenbrach. Aber er kam nicht weiter als zweihundert Meter. Hinter ihm war plötzlich das Gedonner schwerer Füße und ein lautes Trompeten zu hören. Mit ausgestrecktem Rüssel kam Khush die Böschung heraufgestampft, den Mund weit geöffnet und offenbar sehr wütend, weil er zurückgelassen werden sollte. Noch ehe Tad ganz stehen geblieben war, hatte Khush ihn bereits eingeholt und hoch in die Luft gehoben. Einen 369
Moment lang schwebte Tad hilflos in der Luft, hoch über dem Boden, und nichts außer Khushs starkem grauem Rüssel konnte ihn vor dem Herunterfallen bewahren. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so beschützt gefühlt. Dann schwang Khush ihn ein Stück nach hinten und Tad kletterte auf seinen Rücken und tastete nach einem sicheren Platz für seine Knie und Hände. Von der anderen Seite des Baches erklang Kettys Stimme. »Siehst du, Tad? Siehst du, wie es sein muss?« Von einer Stelle weiter oben am Abhang kam ein lauter, triumphierender Schrei. Tad blickte über die Schulter zurück und sah eine kleine, resolute Gestalt, die ihm mit beiden Armen zuwinkte, auf dem Dach der Erdwohnung stehen. »Alles ist in Ordnung, Tad! Wir haben es bis hierher geschafft! Du hast Khush! Alles wird wunderbar werden!« Tad wollte etwas zurückrufen, aber er brachte kein Wort heraus. Ein unaussprechliches Glücksgefühl hatte sich seiner bemächtigt und staute sich nun in seiner Kehle. Er öffnete den Mund und ließ es heraus und ein einziges Wort entrang sich gellend seiner Kehle und hallte über die 370
Prärie: »Khush!« Die großen grauen Ohren vor ihm wedelten und von hinten wehte ein warmer, frischer Wind gegen seine Schultern. Ein Wind, der gen Westen blies.
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