Flickernde Jugend – rauschende Bilder
Birgit Richard ist Professorin für Neue Medien am Institut für Kunstpädagogik d...
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Flickernde Jugend – rauschende Bilder
Birgit Richard ist Professorin für Neue Medien am Institut für Kunstpädagogik der Universität Frankfurt. Marcus Recht und Jan Grünwald sind dort wissenschaftliche Mitarbeiter bei den Neuen Medien, Nina Metz ist Doktorandin.
Birgit Richard, Jan Grünwald, Marcus Recht, Nina Metz
Flickernde Jugend – rauschende Bilder Netzkulturen im Web 2.0
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39305-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2010 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Campus Verlag, Frankfurt am Main Umschlagmotiv: © iStockPhoto.com/tombaky Druck und Bindung: Beltz Druckpartner, Hemsbach Gedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC). Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
Vorwort....................................................................................................................9 Einleitung...............................................................................................................11 1 Einführung in Felder sozialer Netzwerke ..................................................16 1.1 Problemfelder ........................................................................................16 1.2 Privacy Management und Privacy Awareness..................................26 2 Jugendbildforschung: Analyse-Instrumentarien für jugendliche Medien, Bilder, Netzwerke ...........................................................................38 2.1 Netzscan.................................................................................................38 2.2 Shifting Image, Bildcluster und Schlüsselbild: bildtheoretische Überlegungen...........................................................39 2.3 Eigenschaften der Bild-Netze im Web 2.0 als Ausgangspunkt für eine Jugendbildforschung.................................47 2.3.1 Das »typische« Profilbild .........................................................48 2.3.2 Bildsorte, Bildsuche und Bildprinzip ....................................50 3 Soziale Netzwerke: medien- und bildstrukturelle Spezifika ....................54 3.1 YouTube: Universum der Bewegt-Bilder .........................................55 3.1.1 Video-Hoster.............................................................................55 3.1.2 Clip-Typologie ..........................................................................59 3.2 Flickr: visueller Hypertext ...................................................................69 3.2.1 Photo-Sharing-Plattformen ....................................................70 3.2.2 Analyse der Plattform Flickr...................................................76 3.3 Facebook: Timeflux = Echtzeit-Sharing ..........................................85 3.4 MySpace: von Musik-Promo zu Profil-Customizing......................93
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4 Inhaltliche Felder der jugendlichen Bild-Netzwerke............................. 100 4.1 Posen der Selbstdarstellung bei YouTube und Flickr ................. 100 4.1.1 Das Leben und die Liebe: Exkurs Online-Dating ........... 101 4.1.2 Besonderheiten jugendlicher Bild-Egos ............................ 105 4.1.3 Poser und Casting auf YouTube......................................... 107 4.1.4 Rausch als visuelles Phänomen der Selbstinszenierung ................................................................. 113 4.2 Fashion Victims: Jugendliche Mode-Bilder................................... 125 4.2.1 Modische Selbst-Bilder bei Flickr....................................... 125 4.2.2 Bildpolitik des Sexuellen bei Flickr..................................... 127 4.2.3 Jugendliche Körper- und Modebilder bei Flickr.............. 143 4.2.4 Jugendliche Selbstdarstellung bei Flickr ............................ 145 4.3 Das Böse, die Gewalt und der Tod................................................. 147 4.3.1 Die Achsen des Bösen im Web 2.0! ................................... 147 4.3.2 »Happy Slapping« und visuelles Mobbing......................... 162 4.3.3 Jugendliche Gewalt- und Todesdarstellung bei YouTube........................................................................... 175 4.3.4 Jugendliche Performances des Todes bei Flickr .............. 185 4.4 Kreativ-okkupative Musikkulturen ................................................. 192 4.4.1 »Mashup« my Music! Shred, Songsmith und Misheard Lyrics...................................................................... 195 4.4.2 Musik und Bild als digitale Rohstoffe ................................ 202 4.5 Jugend-Bilder im Web 2.0 als mimetische Selbstdarstellung...... 205 5 Babes in Toyland – Widerständige Geschlechterbilder im Web 2.0 ......................................................................................................... 210 5.1 Problematisierung des Begriffs der Widerständigkeit.................. 210 5.2 Stached Women: Der Bart als Motiv abweichender Inszenierung von Weiblichkeit auf Flickr...................................... 213 5.2.1 Bärtige Frau-Bleibungen....................................................... 215 5.2.2 Spaß-Inszenierung von bärtiger Männlichkeit.................. 217 5.2.3 Bärtige Mann-Werdungen.................................................... 219
INHALT
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5.3 Dimensionen der Abweichung........................................................ 222 5.3.1 Aggressiv: Der weibliche Protestkörper ............................ 223 5.3.2 Der postsexuelle Körper ...................................................... 233 5.3.3 Indifferent: Das Widerstehen der Bilder und Off-Kilter-Ästhetik ............................................................... 236 6 Jugend und Kunst im visuellen Online-Medium................................... 250 6.1 Neue Formen von Kunst im Web 2.0............................................ 252 6.2 Klassiker der neuen Kunst auf YouTube ...................................... 254 6.3 Medienadäquate Strategien von Online-Videokunst ................... 257 6.4 Online-Video: »Mashup« und Bastard-Kunst von Medienmeistern.................................................................................. 259 7 Sinnlosigkeit, Künstlichkeit, Pathos und Bastardbilder in asozialen Netzwerken als zentrale Schwerpunkte der Jugendbildforschung................................................................................... 263 7.1 »Identität« als Illusion: Das verdoppelte Spiegelstadium in asozialen Netzwerken........................................................................ 269 7.2 Durch das asoziale »shifting image« zum visuellen Wissen ........ 271 8 Literatur ........................................................................................................ 275
Vorwort und Dank
Ganz selbstverständlich sind immer mehr Menschen im Netz unterwegs, organisieren private Kontakte, pflegen Freundschaften per E-Mail, Webcam, Chat, gehen an vernetzten Rechnern der Arbeit und privaten Interessen nach, fotografieren digital, machen Videoaufnahmen und hören Musik mit MP3-Playern, die auch immer häufiger in Mobiltelefone integriert werden. Neben persönlichen Kontakten in körperlich erfahrbaren Räumen, Erlebnissen und Aktivitäten vor Ort tritt die virtuelle Welt mit neuen und alten Möglichkeiten. Das Web 2.0 erweitert den Erfahrungshorizont und beeinflusst auch das Handeln in der realen Welt, wirkt in diese hinein. Auf andere Qualitäten zielen Produkte in Gestalt weitgehend eigenständiger Formate, die mittels neuer Medien realisierbar werden. Auf kollektiven Web 2.0-Plattformen werden Gestaltungsfreiräume erprobt, die sich über den Austausch via Internet eröffnen und als Inspirationsquelle für ästhetisch-gestalterische Experimente genutzt werden, die keiner Verwertungslogik folgen. Basis des hier vorliegenden Buches ist die mehrjährige Grundlagenforschung (seit 2006) der Frankfurter Arbeitsgruppe Web 2.0/Netzkulturen mit Prof. Dr. Birgit Richard, Jan Grünwald, Dr. Jutta Zaremba, Dr. Alexander Ruhl, Dr. des. Marcus Recht und Nina Metz (Schwerpunkte sind hier YouTube, Flickr, MySpace, Facebook, studiVZ, lastfm). Alle analysierten Online-Videos und -Fotos sind Teil des Jugendkulturarchivs an der Goethe Universität Frankfurt (Leiterin: Prof. Dr. Birgit Richard) mit den Abteilungen:
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1. Materielle Kultur: Mode, Energydrinks, Flyer, Zeitschriften (circa 1.000 Objekte) und 2. Mediale und Visuelle Kulturen = Medienarchiv a. Dokumentationen von Events (Mayday, WGT, Loveparade, Juicy Beats, Castle Rock) b. Sammlung von Online-Medien von Jugendlichen (Fotos, Videos); Schlüsselwerke der jugendlichen Online Kunst; YouTube Select: Online-Video Sammlung und Best of Flickr: Online-Foto-Sammlung c. Musikkulturen: Musikvideos d. Dokumentation von Ausstellungsprojekten (aktuell inter-cool 3.0. Jugend – Bild – Medien) Das Buch verdankt seine Entstehung der Mitwirkung zahlreicher engagierter MitarbeiterInnen; wichtige Teile zu der Veröffentlichung steuerten vor allem Frank-Peter Brück, Katrin Mair und Carolin Simon bei. Frankfurt im Juni 2010, Birgit Richard, Jan Grünwald, Marcus Recht und Nina Metz
Einleitung
Die neuen Plattformen des Internets eröffnen, Marotzki zufolge,1 einen neuen Kulturraum für diverse Netzkulturen2 durch die Möglichkeiten einer Kommunikation über sogenannte Netz-Bilder. Erstmals werden in diesem Band Social Networking Sites im Web 2.03, die kollektiven Bildpraktiken von friends und Community und der Austausch von jugendlichen Bildprodukten umfassend analysiert, um eine neuartige social webculture und Netzästhetik aufzuzeigen und zu charakterisieren. Auf den Bild-Plattformen teilen sich die Jugendlichen mit ihren Bildern kreativ und visuell mit. Ihre speziellen jugendzentrierten Bild-Themen werden in den Blick genommen, um ein Bild der gegenwärtig, visuell dominierten Adoleszenz zu entwerfen. Als theoretische Vorannahme kann gesagt werden, dass das private Bild an sich im jugendlichen Internet-Universum nicht existiert. Bilder werden mit Gleichgesinnten und peers in den sozialen Netzwerken geteilt, sind also Peer- und Netzbilder. Hier wird weder von der Existenz einer autonomen, noch einer komplett manipulierten Selbstdarstellung der Jugendlichen ausgegangen. Mit dem Web 2.0 wird deutlich: ein neuartiges hybrides, jugendliches Bastardbild wird aus me und I komponiert.4 Es ist durch und durch medial infiltriert, ohne dabei komplett abhängig oder kopiert zu sein. Daher ist
—————— 1 Marotzki, Winfried (2003), Online-Ethnographie – Wege und Ergebnisse zur Forschung im Kulturraum Internet, in: Bachmair, B. (Hg.), Jahrbuch Medienpädagogik.3, Opladen, S. 149–165. 2 Arns, Inke (2002), Netzkulturen, Hamburg. 3 O’Reilly, Tim (2005), What is Web 2.0. Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software, Oreillynet, online unter: http://www.oreillynet.com/pub/a/oreilly /tim/news/2005/09/30/what-isweb-20.html 4 Die Begrifflichkeiten me and I drehen sich um Identität und das Selbst, also um die innerpsychische Wirklichkeit und den damit verbundenen Umgang von Individuen mit der Gesellschaft und ihrer Kultur als relevantes soziales Umfeld. Vgl. Mead, George Herbert (1973), Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt, S. 216.
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auch der gerne verwendete Begriff der Authentizität hier, sowie generell für Bilder, nicht zielführend. Für die jugendlichen Netz-Bilder soll der Authentiztäts-Begriff durch Mimesis bzw. mimetische Selbstdarstellung ersetzt werden. Nützlich ist auch die Orientierung an Begrifflichkeiten, welche die Jugendlichen selbst benutzen: real und true stehen immer für extrem artifizielle, konstruierte und artistische Formen. Neue mediale Strukturen erfordern eine Neuentwicklung von Forschungsmethoden für die neuartigen jugendlichen Netzbilder und -kulturen. Die jugendlichen Bildformen wie Online-Fotografie und -Video im Netzwerk sind mit alten Video- und Fotokategorien weder zu erfassen noch zu verstehen. Nur medienadäquate Analysemethoden für Flickr, YouTube und MySpace (ergänzend studiVZ und Facebook) führen in dieser Grundlagenforschung zu Ergebnissen, die Aufschluss über die allgemeinen medienstrukturellen Eigenschaften von Online-Video und Fotosharing und zugleich repräsentativ Auskunft über die zentralen Themen jugendlicher Selbstdarstellung geben. Das Web 2.0 ist Raum der Selbstdarstellung und Spiegelinstanz. Im Zentrum einer solchen Inszenierung steht nicht selten das später noch zu erläuternde Genre des Ego-Clips, bei dem Jugendliche sich als Teil von jugendkulturellen Stilen (Inklusion) darstellen, jedoch gleichzeitig eine Abweichung gegenüber der »allgemeinen« Bezugskultur der Erwachsenen und die ihrer »normalen« Mitschüler (Exklusion) vermitteln. Dabei werden die Web 2.0-Plattformen unter den Stichworten »winning space« und »virtuelle Straßenecken« diskutiert. So werden die neuen medienstrukturellen Formate für die bestehenden Diskurse zu Jugendkulturen anschlussfähig gemacht, nicht jedoch ohne die Unterschiede zwischen materiellen und virtuellen Ausformungen jugendkultureller Bilder klar herauszuarbeiten. Durch die Meta-Kommunikation des Stils beinhaltet schon die »klassische« Jugendkultur an der »Straßenecke« einen Charakter der Vermitteltheit, der Medialität. Der von William F. Whyte bereits im Jahr 1943 im Rahmen der wegweisenden »Gangstudien« der Chicago School für jugendkulturelle Vergemeinschaftungsformen geprägte Begriff der Street Corner Society5 beeinflusste die historisch nachfolgende Jugendforschung stark. Die Beobachtung Whytes, der die Straßenecken als Versammlungs- und Treffpunkte Jugendlicher aus sozial marginalisierten Milieus ausmachte
—————— 5 Whyte, William Foote (1996), Die Street Corner Society: Die Sozialstruktur eines Italienerviertels, Berlin/New York.
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und dies auf den Mangel an Alternativen, den Mangel an Möglichkeiten räumlicher Repräsentation rückbezieht, wird im Zuge der späteren Jugendstudien der britischen Cultural Studies aufgegriffen. Die britischen Arbeiter-Jugendlichen, die im Fokus des Forschungsinteresses stehen, finden sich ebenfalls auf den Straßen und an öffentlichen Plätzen zusammen. Dem beobachteten Fehlen an Alternativen und Orten, die auf die jugendlichen Bedürfnisse zugeschnitten und für diese zugänglich sind, gesellt sich hier in der Perspektivnahme der Forschenden ein weiteres Motiv hinzu: Unter dem Begriff des »winning space« als charakteristische jugendkulturelle Praxis wird dabei nicht nur die »Aneignung« der Straße als öffentlicher und territorialer Raum begriffen. Es handele sich dabei ebenfalls um das Aneignen eines kulturellen Raumes, der sich somit als Ort der Sichtbarkeit und damit als Provokationsraum gestaltet. Cohen6 beobachtet in diesem Zusammenhang die Ablösung der individuellen face-to-faceInteraktion zwischen Jugendlichen und den Vertretern der erwachsenen Bezugskulturen, durch die Abstraktion derselben, die sich nun auf der symbolischen Ebene des jugendlichen Stils artikuliere. Diese symbolische Interaktion des Stils versteht Cohen als »magische Lösung«7 der Alltagskonflikte. Die Straßenecken würden so zu Schauplätzen alternativer Kulturalität, die sich entlang spezifischer Ausdrucksmöglichkeiten und jugendkultureller Rituale gestaltet. In den auf die genannten Studien folgenden Jahrzehnten entstanden Institutionen jugendlicher Vergemeinschaftung, wie sie Jugendklubs, auf jugendliche Präferenzen zugeschnittene Szenetreffpunkte und Musikfestivals etc. darstellen. Dabei handelt es sich um eine Entwicklung, die nicht zuletzt angesichts eines mit den Jahrzehnten gestiegenen Marktwertes von jugendlichen Stillinien sowie einer spezifischen öffentlichen Aufmerksamkeit für jugendkulturelle Phänomene einhergeht. Dies basiert ebenso auf einem gestiegenen Forschungsinteresse im Zuge der 80er und 90er Jahre. Neben diesen Orten jugendlicher Interaktion, bietet heute vor allem das Internet insbesondere in seiner Form als Social Web 2.0 einen Raum, der sich nicht zuletzt als jugendkulturell angeeigneter darstellt und so die Rede von der Street Corner Society oder zeitgenössischer von den unter street styles
—————— 6 Cohen, Phil (1972), Subcultural Conflict and Working Class Community, in: Working Papers in Cultural Studies 2. 7 im Rückgriff auf den Begriffsapparat Levi-Strauss. Vgl. Levi-Strauss, Claude (1968), The Savage Mind. Nature of Human Society, Chicago.
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zusammengefassten Stilgemeinschaften kontrastiert. Dem Mangel an Repräsentationsräumen, den Whyte in Bezug auf die damals beobachteten jugendlichen Gruppen ausmacht, steht hier, mit dem Internet, ein scheinbar unbegrenzter Raum zu Verfügung, der sich, angesichts der Medienkompetenz der Jugendlichen, als ein leicht zu erobernder darstellt. Gleichzeitig ist das virtuelle Netz qualitativ vergleichbar mit der ursprünglichen Straßenecke, denn das Web 2.0 garantiert Sichtbarkeit und bietet als Ort der zwei- und mehrgleisigen Interaktion das Potential zum Provokationsraum. So bildet Provokation im jugendkulturellen Rahmen bis heute die Bedingung für die Mechanismen von Inklusion und Exklusion, an denen entlang Stil und damit letztlich Gemeinschaft entsteht. Das Web 2.0 ist damit die virtuelle Straßenecke, die die Sichtbarkeit als Teil und Nicht-Teil von Gruppen gewährleistet. Mit Webcam, digitaler oder Handykamera aufgezeichnete Videos und Fotos werden zum medialen Stein des Anstoßes. Sie gestalten sich gleichzeitig als (teilweise spektakuläre) Inszenierung der eigenen Person auf ein nicht genauer bestimmtes Publikum hin. So kann Selbstdarstellung explorative Züge aufweisen, indem sie nicht zuletzt mit Geschlechteridentitätenspielt. Neben dieser Ebene des Gesehen-Werdens und Sich-Zeigens übernehmen die Clips jedoch eine weitere Funktion: Sie gestalten sich, so soll hier argumentiert werden, als eine virtuelle Spiegelinstanz, die es, im Gegensatz zu den »analogen Straßenecken« der Vorgänger-Generationen, ermöglicht, selbst Zuschauer der eigenen Selbstdarstellung zu werden und diese, durch die medial erwirkte Distanz, zu beurteilen. Entscheidend und neu daran ist der Prozess: der Produzent oder die Produzentin will sich auch selbst sehen! Diese prozessuale Ambivalenz haben bisher alle anderen Forschungen ausgespart. Sie gehen immer von der Darstellung für ein Außen, für die anderen aus, die permanente visuelle Formung des Selbst nach Vorgaben anderer Instanzen steht hierbei zentral im Mittelpunkt. Dieser Band zeigt in seinen Beispielen auf, dass die Selbstdarstellung nie eine ist, die sich ausschließlich an ein unbekanntes Publikum richtet, sondern immer auch eine ist, deren Publikum nicht zuletzt die eigene Person des sich Darstellenden bildet. Das Web 2.0 wird also von der virtuellen Straßenecke zum Ort der Äußerung Jugendlicher zu einer speakers corner. Es bietet dabei die Möglichkeit des Thematisierens existentieller Fragen um Leben, Tod und Gewalt oder die Aussicht der Verarbeitung von Trauer um geliebte und häufig gleichaltrige (allerdings auch nicht selten wohl eher fiktive) Personen. Die Fragen
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nach einem Leben nach dem Tod, nach der Kraft von Liebe und Versöhnung und somit letztlich nach der Dimension von Schuld, bilden in diesen Auseinandersetzungen, die Jugendliche vor der eigenen Webcam in ihren Jugendzimmern in die Welt schicken, ein dominantes Thema, das sich formal in selbst geschriebenen Gedichten, Trauervideos aber auch medial aufgezeichneten und hochstilisierten Selbstmordphantasien entfaltet. Anders als beim Beispiel speakers corner, gestaltet sich diese jedoch für Jugendliche selten als eingleisige Kommunikation. Über diverse Möglichkeiten der Verlinkung und des Kommentars führt die eigene Selbstdarstellung fast immer zu Reaktionen. Auf den Profilseiten werden thematische Schwerpunkte aufgegriffen, Einstimmung signalisiert, Themen weitergeführt oder auch die Inhalte (nicht selten haarsträubend) kritisiert. Das Web 2.0 übernimmt so für viele Jugendliche die Funktion einer Plattform der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, mit weltanschaulichen Fragen, mit Mode, Liebe, Sexualität, Gewalt und Tod, wobei hier Position bezogen und Reaktion eingefordert wird. Hier wird diskutiert, ironisch agiert, nicht jede ironische Wendung immer angemessen eingeordnet, persifliert oder auch einfach nur gehasst. Dieser Band soll auf empirischer Grundlage dazu beitragen, dass mediale Vorurteile über die gegenwärtige Jugend überdacht und revidiert werden.
1 Einführung in Felder sozialer Netzwerke
»Wie die bisher vorliegenden Daten zeigen, gehören Heranwachsende, d. h. Personen bis etwa Mitte 20, zu den stärksten Nutzern von Weblogs, Videoplattformen oder »Social Network Sites« wie studiVZ. Allerdings gibt es bislang wenig darüber hinausgehende Erkenntnisse zu den Nutzungspraktiken in dieser Altersgruppe sowie ihren Konsequenzen, z. B. im Hinblick auf die Verschiebung von Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, auf die Einstellungen zu Datenschutz oder zum Umgang mit politisch oder anderweitig extremen Inhalten.«8
1.1 Problemfelder Im sozialen Web 2.0 kann die neue Mischung von Öffentlichem und Privatem und dem neuartigen Paradox einer persönlichen Öffentlichkeit Probleme aufwerfen. Mit diesen soll begonnen werden, um dann vor allem in den nächsten Kapiteln die ästhetischen Möglichkeiten und Potentiale der neuen sozialen Webbilder und Webkulturen herauszuarbeiten. Alle Studien zeigen, es gibt auch Negatives im social web, wie zum Beispiel Mobbing, jedoch überwiegen die positiven Erfahrungen mit den neuen ästhetischen und kommunikativen Möglichkeiten. Das soziale Web 2.0 steht nicht außerhalb der etablierten Medienlandschaft, so die Studien, weshalb Muster des Umgangs mit Medien der öffentlichen Kommunikation für das social web angenommen werden.9
—————— 8 http://www.hans-bredow-institut.de/de/forschung/jugendliche-web-20 9 Hasebrink, Uwe/Paus-Hasebrink, Ingrid/Schmidt, Jan-Henrik (2009), Heranwachsen mit dem Social Web.(Studie im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW & dem Hans-Bredow-Institut), Hamburg/Salzburg. PowerPoint Präsentation Folie Nr. 52: Konfligierende Erwartungen. Online unter: http://www.slideshare.net/JanSchmidt/heranwachsen- mitdem-social-web
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Hier genau zeichnet sich das methodische Problem der Forschungen zum Medium Web 2.0 ab: es ist medienstrukturell anders als die umgebenen Medien wie etwa TV, und es bietet ganz andere gestalterische und ästhetische Möglichkeiten, das heißt vor allem ganz neuartige Bildformate, die hier untersucht werden sollen. Das soziale Netz hat einen hohen Stellenwert im Medienrepertoire jugendlicher Lebenswelten und wird zur Selbstdarstellung, Partizipation, Vernetzung und Beziehungspflege benutzt. Die intensive Nutzung und vor allem die investierte Zeit im Onlinenetzwerk zur digitalen Beziehungspflege anhand von technisch medial bestimmten Kommunikationsformen für interpersonale Kommunikation hat also erwiesenermaßen große Bedeutung für Jugendliche. Die Studien stellen jedoch ebenso fest, dass das Ideal das persönliche Treffen bleibt. Es waren also keine Verschiebungen ins Netz festzustellen, jedoch zeigt die Studie, dass Häufigkeit und Intensität der Begegnungen im Netz die personelle Kommunikation übertreffen und damit auch dessen Bedeutung für soziale Beziehungen eine wichtige ist.10 Es kann allerdings auch zu Fehleinschätzungen bezüglich der Reichweite, Dynamik und des Risikos der Nutzung des Angebots kommen, so die Studien, da man sich in geschlossenen und privaten Communities wähnt und Publikum sowie Folgen des Handelns nicht bedacht werden,11 zum Beispiel bei einem vermeintlich lustigen Foto. Die Nachhaltigkeit eventuell virtueller Jugendsünden wird unterschätzt, da Personalabteilungen, Eltern und Lehrer im Netz recherchieren. Zu Recht wird immer wieder vor der Situation einiger Arbeitssuchender gewarnt, die bei Vorstellungsgesprächen mit privaten Fotos ihrer Online-Portale konfrontiert wurden.12 Der Blick in die Communities wird zunehmend auch von Arbeitgebern genutzt, um Informationen über mögliche Bewerber einzuholen. Dadurch haben sie die Möglichkeit, mehr von den Interessen des Bewerbers zu erfahren, einen Eindruck von dessen sozialen Kompetenzen zu bekommen, jedoch auch gleichzeitig von potentiellen Verfehlungen zu erfahren.
—————— 10 Ebd. Folie Nr. 52. 11 Schmidt, Jan-Henrik; Paus-Hasebrink, Ingrid; Hasebrink, Uwe; Lampert, Claudia (2009), Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0 – Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Kurzfassung des Endberichts für die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), S. 19. 12 Vgl. z.B. http://www.bewerbungs-check.org/studivz-jobkiller/
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Die Halbwertszeit der eingestellten Daten sowie die existierenden Dateninseln zur eigenen Person werden nicht reflektiert, und die Eigendynamik der Interaktionen (schnelle Verbreitung von Botschaften über Plattformen, ungewollte Verlinkung durch Andere) wird unterschätzt.13 Jugendlichen NutzerInnen wird also eine widersprüchliche Wahrnehmung des Webs nachgesagt: Sie sehen es einmal als eigenen, selbstbestimmten Raum, andererseits kennen sie die Diskussionen der Erwachsenen um den sogenannten Datenexhibitionismus.14 Das wäre der Extremfall, wo die intimsten Informationen der Community preisgegeben werden.15 Auch die Datensammlung durch Dritte gilt als Risiko.16 Jugendliche haben zudem eine genaue Kenntnis vom medialen Diskurs, was dort erlaubt ist und was vermieden werden sollte: Hier spielt der Faktor der sozialen Erwünschtheit eine große Rolle. Vor allem beim Umgang mit vielen visuellen Erzeugnissen wissen Jugendliche, was sie sagen können und was sie am besten verschweigen.17 Die Studien sehen als Problem, wenn die Teilnahme ein Maß an Offenheit und »Authentizität« verlangt; wobei hier davon ausgegangen wird, dass es so etwas wie das »wahre Selbst« in den Selbstdarstellungen von Jugendlichen nicht gibt; es handelt sich immer um ein Konstrukt, wie insbesondere im Kapitel 4.1.3 über »Posing true und real« nachzulesen ist. Die Studie JIMplus von 2008 stellt fest, dass 34 Prozent der Jugendlichen ihre kompletten persönlichen Daten im Internet zeigen, 61 Prozent zeigen sich nur den »Freunden«. Dieser Begriff ist allerdings mehr als weit gefasst, im Schnitt sind das mehr als 70 Freunde, also eher Bekannte, die
—————— 13 Hasebrink, Uwe/Paus-Hasebrink, Ingrid/Schmidt, Jan-Henrik (2009), Heranwachsen mit dem Social Web.(Studie im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW & dem Hans-Bredow-Institut), Hamburg/Salzburg. PowerPoint Präsentation Folie Nr. 60–62. Online unter: http://www.slideshare.net/JanSchmidt/heranwachsen-mit-dem-social-web 14 Schmidt, Jan-Henrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe/Lampert, Claudia (2009), Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0 – Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Kurzfassung des Endberichts für die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), S. 11. 15 Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle –Transparenz, Symposium 2007, Düsseldorf. 16 Schmidt, Jan-Henrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe/Lampert, Claudia (2009), Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0 – Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Kurzfassung des Endberichts für die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), S. 20. 17 Ebd., S. 18.
EINFÜHRUNG IN FELDER SOZIALER NETZWERKE
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meist aber auch außerhalb des Netzes bekannt sind. Mit wachsendem Alter werden immer mehr persönliche Informationen bewusst eingestellt.18 Dreiviertel aller NutzerInnen stellen persönliche Daten, wie zum Beispiel Vorlieben und Hobbies, aber vor allem Fotos ins Internet (Selbst 60 Prozent und Freunde/Familie 46 Prozent). Sichtbar werden meist E-Mail-Adresse und Messenger-Nummer, aber keine Telefonnummern. Die JIM-Studie fragte den Umgang mit den eigenen persönlichen Daten ab und kam zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent der NutzerInnen schon fotografisch ohne ihre Zustimmung online gestellt wurden, was eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte darstellt.19 Die JIM-Studie 2008 zeigte auch, dass insbesondere die drahtlosen Übertragungsmöglichkeiten von Bildern neue Problemfelder mit sich bringen können: Bluetooth ermöglicht auch den Versand von »problematischen Inhalten«: 30 Prozent der befragten UserInnen bekamen bereits auf diesem Übermittlungsweg pornographische oder gewaltverherrlichende Inhalte zugeschickt.20 Hier gilt es die Frage zu stellen, ob dies unfreiwillig geschah: Jugendliche stellen sich hier natürlich Erwachsenen gegenüber eher als Opfer dar: Wer gibt schon zu, sich über die zugesandten Pornos gefreut zu haben. Die Konfrontation mit problematischen Inhalten (hier werden auch zum Beispiel selbstschädigende Praktiken, extremistische Videos benannt)21 kann dazu benutzt werden, sich auf autonome Art und Weise mit solchen Themen auseinanderzusetzen und diese unter Gleichaltrigen zu diskutieren. Das sogenannte »Cyberbullying« und »Online-Mobbing« läuft primär über die Communities ab, nicht über das Handy.22 Auch »Happy Slapping«23 stellt ein Problem dar: 28 Prozent der Befragten wissen mit dem Begriff etwas anzufangen. Es bleibt offen, ob sie selbst Zeugen waren oder ob sie durch die Medien über das Thema informiert wurden.
—————— 18 JIM-Studie (2008), Jugend, Information, (Multi-)Media: Basisuntersuchung zum Medienumgang 12bis 19-Jähriger. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK), S. 58. 19 Ebd., S. 56. 20 Ebd., S. 64. 21 Hasebrink, Uwe/Paus-Hasebrink, Ingrid/Schmidt, Jan-Henrik (2009), Heranwachsen mit dem Social Web.(Studie im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW & dem Hans-Bredow-Institut), Hamburg/Salzburg 2009. PowerPoint Präsentation Folie Nr. 61. Online unter: http://www.slideshare.net/JanSchmidt/heranwachsen-mit-dem-social-web 22 JIM-Studie (2008), S. 65. 23 Genauere Erläuterungen zu »Happy Slapping« siehe Kapitel 4.3.2.
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Als Erfahrung mit »Online-Mobbing« werden als Beispiele Schüler- und Lehrerhassgruppen benannt, was jedoch kein genuin neues alarmierendes Phänomen darstellt; bereits im Web 1.0 existierten sogenannte »Flamewars«, die nicht minder destruktiv waren. Als Beispiel für »Online-Mobbing« werden von den Studien24 unter anderem »peinliche oder blöde Fotos« benannt. Hier gilt es nachzuforschen, was das genau heißt, weil das, was als peinlich beschrieben wird, ein weites Feld abdeckt. Es scheint, dass die Studien zur Überdramatisierung neigen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen »peinlichen und blöden« Fotos und den beschriebenen Phänomenen, Mobbing oder »Happy Slapping«, bei denen es sich um tatsächlich gewalttätige und sexuelle Übergriffe, die dann im Bild festgehalten werden, handelt. Hier muss differenziert werden. In einem Spiegelmedium25 ist es dem Rezipienten generell kaum möglich, die eigene Fotografie nicht als entfremdet zu empfinden. Dieser Band wird durch die Analyse von Bildprodukten versuchen, diese Behauptungen an konkreten Beispielen zu untersuchen (siehe zum Beispiel Kapitel 4.1.4 »Bilder-rausch/Rausch-bilder« oder 4.3.2 »Happy Slapping« und visuelles Mobbing). Interessant wäre hier zu fragen, ob nicht durch die doppelte Zielsetzung der Bilderstellung für die anderen und als Spiegelinstanz eine andere Umgangsweise mit dem hier durch die Kamera gespiegelten Bild erfolgt. Aufgrund von digitaler Diskriminierung thematisieren viele reale und virtuelle Anlaufstellen und Beratungsinstitute neben den bekannten MobbingFormen auch das Phänomen des »Cyberbullying«.26 »›Datenexhibitionismus, Seelenstriptease und Cyberbullying‹ […] insbesondere das ›Cyberbullying‹ ist unter Schülern weit verbreitet. Diese neue Art von Mobbing ist angesichts populärer Medien wie Handy und Computer in kürzester Zeit umsetzbar und sehr effektiv. Beleidigende Videos, heimlich aufgenommene Fotos oder gefälschte Profile in Communities zeigen ihre Wirkung.«27
—————— 24 Z.B. ebd., S. 17. 25 Vgl. hierzu auch Lacans Spiegelstadium, z.B. in: Lacan, Jacques (1986), Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: Schriften I, Weinheim/Berlin, S. 61–70. 26 Z.B. die Kampagne »watch your web« auf: http://jugendinfo.de/themen.php/484/ 47193/watch-your-web.html 27 Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle –Transparenz. Symposium 2007, Düsseldorf, S. 99; vgl. auch z.B. die Website: www.seitenstark.de, eine Arbeitsgemeinschaft vernetzter Kinderseiten.
EINFÜHRUNG IN FELDER SOZIALER NETZWERKE
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Werden im Fall des »Cyberbullying« vor allem durch Bekannte und Kollegen die persönlichen Daten zur gezielten Diskriminierung eingesetzt, so können Fremde vor allem für Kinder und Jugendliche zu einer Gefahr im Netz werden. Der von vielen Erwachsenen als »unbedarft« bezeichnete Umgang mit persönlichen Daten scheint große Gefahren und Risiken in sich zu bergen, da sich Fremde, die den persönlichen Kontakt suchen, leicht Zugang zu »social networks« verschaffen können und durch die körperliche Anonymität des Internets geschützt sind. Die verschiedensten Medien scheinen gerade diese Gefahr nahezu heraufzubeschwören, wie die zahlreichen Beträge zu diesem Thema belegen.28 Ob nicht auch gerade die älteren Nutzer ahnungslos und unsensibel für mögliche Gefahren des Internets sind, ist nicht untersucht. Auch nicht analysiert ist, ob die Teilnahme an Gruppen und Sub-Gemeinschaften in den Social-Networks den Zugang für Jugendliche zu gefährlichen Inhalten, wie zum Beispiel zu pornografischen Themen oder auch zu autoaggressiven (Selbsthass-Blogs) Kontakten, erleichtern können oder eher der Verarbeitung persönlicher Probleme dienen. »Die KJM ist in ihrer Prüfpraxis zunehmend mit neuen Problemfeldern konfrontiert, zum Beispiel mit jugendaffinen Online-Foren, in denen Ess-Störungen, Alkoholmissbrauch, Selbstverletzungen oder Selbstmord positiv dargestellt werden und die Nutzer sich gegenseitig in ihrem Verhalten bestärken.«29
Eine solche psychische Bestärkung von Symptomen durch Mitmenschen ist der Psychoanalyse als »Sekundärer Krankheitsgewinn«30 bekannt. Von einer ganz anderen Form von Datenmissbrauch kann jedoch gesprochen werden, wenn die persönlichen Informationen von anderen Leuten verändert werden. Beim digitalen Vandalismus wird die eigene Homepage »zugespammt«, die persönlichen Daten »gehackt« und verändert oder durch
—————— 28 Hinzu gehören natürlich auch alle leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalte wie Sex und Gewalt. Siehe hierzu z.B.: http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuel les/a_Haeufige_Probleme/s_1124.html; siehe auch die Initiative NetKids: http://www. kindersindtabu.de/index1.html 29 Monninger, Maria/Wörner-Schappert, Michael (2008), Von Magersucht-Foren bis zu Rechtsextremismus: Beispiele aus der Jugendschutz-Prüfpraxis. Anleitungen zum (Selbst-)Hass im Netz, in: Tendenz, Ausgabe 4/2008. Beispiele aus der JugendschutzPrüfpraxis. Anleitungen zum (Selbst-)Hass im Netz, in: Tendenz, Ausgabe 4/2008, S. 16. 30 Mentzos, Stavros (1992), Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuerer Perspektiven, Frankfurt, Seite 86f.
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einen Virus gestört. Daher spielt hier der präventive Schutz persönlicher Daten eine wichtige Rolle. Ebenso oft erfolgt eine Veröffentlichung privater Inhalte auch ohne das Wissen des im Internet Surfenden, nämlich durch Spyware:31 »Spyware analysiert gezielt das Surfverhalten im Internet. Die so gewonnenen Daten werden kommerziell genutzt, um gezielt Werbebanner und Popups einzusetzen, die genau ihren Interessen entsprechen. […] Sowohl Spyware als auch Trojaner können beispielsweise durch Downloads, E-Mails oder externe Datenträger auf den Computer gelangen. Web-Bugs (auch Web-Spione genannt) haben die Aufgabe, persönliche Daten des Internetnutzers an den Betreiber einer Internetseite zu übermitteln. […]Die Quelle dahinter ist […] ein Script, das Informationen wie IP-Adresse, verwendetes Betriebssystem und Informationen über das jeweilige Surfverhalten versendet. Daraus lassen sich leicht ganze Nutzerprofile erstellen, die insbesondere von Firmen für Marketingstrategien und Werbemaßnahmen ausgewertet werden.«32
Jugendliche, die häufig die Online-Plattformen zur Selbstdarstellung nutzen, sind in aller Regel auch mehrmals täglich auf den Seiten, um ihre Profile auf den neusten Stand zu bringen. Problematisch kann dieser Umgang mit intimen Daten nicht nur für die jeweiligen User werden, die sie Online stellen. Durch das Hochladen von Bildern mit mehreren Personen werden oft auch Persönlichkeitsrechte der anderen dargestellten Subjekte berührt, zum Beispiel wenn diese nichts von der Veröffentlichung der Bilder wissen. Neben den oft verwendeten Daten wie Fotos, Telefonnummern, EMail-Adressen und der Angabe des Wohnorts werden seit einiger Zeit auch zunehmend geografische Daten und die Funktion des Trackens oder Geotagging von Personen über geografisch lokalisierbare Geräte wichtiger. Da bereits die meisten Handys mit GPS ausgestattet sind, wird das Orten von Personen jederzeit und überall eine Leichtigkeit; selbst Geräte ohne GPS-Hardware machen ein etwas ungenaueres Lokalisieren über Funkmasten-Triangulierung möglich. Einige Dienste haben sich neben den bekannten Kontaktoptionen darauf ausgerichtet, den aktuellen Standort der Person der Community mitzuteilen.33 Die exhibitionistischen Tendenzen einiger Nutzer werden dadurch noch einmal durch die Komponente
—————— 31 Stadik, Michael (2008), Die Illusion der Intimität, Tendenz, Ausgabe 04/2008, S. 1. 32 Privatsphäre im Internet. Spuren im weltweiten Datennetz, Ratgeber des FraunhoferInstituts, http://www.sit.fraunhofer.de/pressedownloads/artikel/index.jsp, S. 2. 33 Vgl. Dienste wie http://www.gypsii.com/; http://brightkite.com/; http://www.citysen se.com/home.php; http://plazes.com/; http://whrrl.com/
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der aktiven Verfolgung erweitert.34 Man kann sich für Andere dauerhaft sichtbar machen und wirklich jederzeit erreichbar und lokalisierbar sein. Auch wenn noch nicht die Mehrzahl der Jugendlichen diese Form des personal trackings verwendet, so werden Community-Portale doch zunehmend zur Organisation und Verwaltung der Freizeit und zur Organisation des Freundeskreises genutzt. Sie sind in den meisten Fällen sehr leicht zugänglich und sind ein Phänomen moderner Kommunikationskultur.35 Geotagging findet sich auch in Bildverwaltungs-Software, wie zum Beispiel Googles kostenlosem Programm »Picasa«, ab der Version 3.5.36 Diese neue Version37 beherrscht auch Gesichtserkennung in Form von Biometrie, was sich natürlich als praktisch erweist, wenn man sich alle Fotos von einer bestimmen fotografierten Person anzeigen möchte, deren Gesicht man zuvor definiert hat. Die immense Problematik, die sich aus Biometrie und Geotagging ergibt, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Software auch den Dienst der kostenlosen Picassa-Web-Alben unterstützt, mit deren Hilfe man ganze Fotoarchive online und für jeden zugänglich machen kann. So können Bilder einer bestimmten Person im Netz gesucht, deren Beziehung zu anderen getaggten Personen ermittelt und noch deren GPS-genauer Aufenthaltsort bestimmt werden. Die Gefahr der Verletzung von Persönlichkeitsrechten wird jedoch generell durch die Möglichkeit vieler Communities, Bilder zu verlinken und mit Text zu versehen, verstärkt. Viele User wurden bereits einmal unwissentlich und bisweilen ohne es zu wollen auf Bildern verlinkt. Richtig unangenehm und gerade für Nutzer, die viele Informationen zu ihrer Person online gestellt haben gefährlich, sind sogenannte Online-Stalker. Das Problem hierbei ist oft, dass die persönlichen Daten und Angaben detailliert genug sind, um die reale Person mit Wohnort und Telefonnummer zu
—————— 34 Vgl. zu den exhibitionistischen Tendenzen: Livingstone, Sonia (2008), Taking risky opportunities in youthful content creation: teenagers’ use of social networking sites for intimacy, privacy and selfexpression, new media & society, Ausgabe 10/2008, S. 394. 35 Jörissen, Benjamin (2008), Jugend und Web 2.0. Neue Partizipationskulturen und der »participatory divide«, in: Völlig losgelöst? Jugend, Medien, Kultur. Dokumentation der ajs Jahrestagung 2007, Ausgabe 1/2008, S. 27. 36 http://picasa.google.de/ 37 Betriebssystem-Unabhängigkeit wird mittels der Kompatibilitätsschicht Wine umgesetzt und erfährt dadurch umfangreiche Unterstützung in Form von Hunderten von Patches durch Google. Wine ist dabei kein Emulator, sondern stellt lediglich eine Portierung der Funktionen der Windows-API auf GNU/Linux und andere Unix-ähnliche Betriebssysteme dar.
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orten. Es finden sich bereits einige Online-Anlaufstellen zum Cyber-Stalking, die auf Gefahren und Verhaltensweisen aufmerksam machen.38 Eine Förderung der Privacy Awareness kann dann ein eigenverantwortlicheres Privacy Management zur Folge haben. Dass durch die Preisgabe eigener Daten Gefahren für die eigene Sicherheit und den Schutz der Intimsphäre entstehen können, zeigen die Befürchtungen der Datenschützer, die vor global scoring und data mining warnen. Der gläserne Mensch ist für sie schon lange keine utopische Vorstellung mehr.39 Neben dem regelmäßigen »updaten« des Systems und einem aktuellen Schutz gegen Spyware, bietet zum Beispiel die Verschleierung der IP-Adresse oder die Zwischenschaltung eines Proxy-Servers einen gewissen Schutz vor data-tracking.40 Teilweise bleiben Daten, die man veröffentlicht auch noch nach dem Löschen des Accounts im Netz (zum Beispiel auf Community-Seiten wie Facebook oder MySpace): »Auch die politische Orientierung oder der Familienstatus ließ sich trotz Sperrung der Daten ermitteln, und selbst nach Aufgabe der Mitgliedschaft blieben bei einer Plattform die persönlichen Gästebuch- und Foreneinträge bestehen.«41
Die Gefahr einer illegalen Nutzung privater Daten bleibt damit auch nach dem eigentlichen Aufenthalt im Internet für lange Zeit erhalten. Somit kann es passieren, dass man bei der normalen Bildersuche einer Suchmaschine auf die persönlichen Fotos trifft, auch wenn das Konto schon lange gelöscht wurde. Es soll hier nicht vernachlässigt werden, dass man nicht einmal ein Konto bei einer Community benötigt, damit Daten gesammelt werden, und so ist auch Facebook oftmals über Nichtmitglieder sehr gut informiert.42 Dies merkt man bereits bei der Anmeldung zu dieser Web 2.0 Plattform, bei der man eine Vorschlagsliste mit Facebook-Mitgliedern an-
—————— 38 Vgl. z.B. die Tipps für Kinder: http://www.kidpower.org/ARTICLES/stalking.html; vgl. auch http://www.spiesonline.net/cyberstalkers.shtml 39 Als Beispiel sei hier ein Vorfall der Telekom zitiert, die gezielt das Privatleben von Bewerbern mit Hilfe ihrer persönlichen Daten durchleuchtet hat, vgl. http://de.biz. yahoo. com/20052009/299/telekom-telefondaten-konten-sex.html 40 Privatsphäre im Internet. Spuren im weltweiten Datennetz, Ratgeber des FraunhoferInstituts. Online unter: http://www.sit.fraunhofer.de/pressedownloads/artikel/index. jsp, S. 3f. 41 http://www.sit.fraunhofer.de/pressedownloads/pressemitteilungen/20080925Studie SozialeNetzwerke.jsp 42 Vgl. Klopp, Tina (2010), Facebook. Gegen Freunde ist man machtlos, Zeit-online vom 10.2.2010. Online unter: http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2010-02/facebooksammelt-emailadressen
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geboten bekommt, die man fast alle kennt; zu einigen der Kontakte ist nicht einmal durch eine Web-Recherche eine Verknüpfung herzustellen. Dies wird dadurch bewerkstelligt, dass es die Möglichkeit gibt, seinen MailAccount von Facebook durchsuchen zu lassen, womit bereits einige Verknüpfungen auch zu Nicht-Mitgliedern hergestellt werden können; hinzu kommen die Fragen nach dem Schul-Namen und Ort, auch Studium oder Firmen-Namen, wodurch sich eine breite Palette an Vorschlägen ergibt. Wenn das eigene Mail-Adressbuch für Facebook freigegeben wurde, werden die Daten von der Web 2.0-Plattform gespeichert: Im Nachhinein kann dem Sammeln dieser Daten nur auf einer gut versteckten Seite widersprochen werden.43 Bei einem Test des Fraunhofer Institutes von bekannten Plattformen ergab sich ein sehr gemischtes Bild, wobei keine der Communities komplett überzeugen konnte.44 Oft sind Eigennamen sogar Pflichtangaben, ohne welche der Account erst nicht erstellt werden kann. Einige lassen keine »Nicknames« zu und verfügen über eine mangelhafte Verschlüsselung. Oft fehlt es der Nutzeroberfläche auch an eindeutigen und verständlichen Optionen, um die verschiedenen Schutzmechanismen zu aktivieren. Auch das Abmelden und Löschen des Accounts gestaltet sich mitunter schwierig, was auch die Beseitigung der bisher veröffentlichten Daten betrifft. Die Betreiber der Plattformen haben selbst ein Interesse an der Preisgabe der Nutzerdaten für Research- und Marketingzwecke. Durch suggestive Formulierungen wird versucht, die Nutzer zu verunsichern, wenn sie versuchen, den Account zu löschen oder wenn sich noch keine Freunde in deren Kontaktliste befinden.45 Im Zentrum der zukünftigen Bemühungen um einen sicheren Datenverkehr im Netz werden sich auch die OnlinePlattformen um neue Möglichkeiten zur Sicherung persönlicher Daten bemühen müssen; vor allem, da sich der Trend in Richtung eines sicher-
—————— 43 http://www.facebook.com/contact_importer/remove_uploads.php 44 Vgl. Privatsphärenschutz in Private-Netzwerke-Plattformen, Studie des FraunhoferInstituts für Sichere Informationstechnologie SIT, Planung und Durchführung durch Andreas Poller, download bei: http://www.sit.fraunhofer.de/pressedownloads/artikel/ index.jsp, S. 118. 45 Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle – Transparenz. Symposium 2007, Düsseldorf, S. 102.
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heitsbewussten Umgangs mit Informationen bewegt.46 In welcher Weise die Jugendlichen ihre persönlichen Daten genau verwalten und welche Funktionen sie nutzen, kann vor allem an der Akzeptanz und Popularität der jeweiligen Dienste abgelesen werden. So gehen im Allgemeinen die Dienste der ersten Netzgeneration wie Chat und E-Mail zurück, dafür boomen weiterhin SMS und Instant Messaging.47 Die Furcht vor Missbrauch der eigenen Daten durch fremde Personen wird von Jugendlichen als weniger akut wahrgenommen als die Möglichkeit, dass vertraute Personen, wie Familie und Freunde, Zugriff auf private Informationen haben.48 »You don’t mind [other] people reading it, but it’s your parents, you don’t really want your parents seeing it, because I don’t really like my parents sort of looking through my room and stuff, because that’s, like, my private space.«49
1.2 Privacy Management und Privacy Awareness50 Der Begriff des Privacy Management vereint die beiden Wortfelder von »Privatheit« und »Management« miteinander und beschreibt in erster Linie den Umgang von Personen mit persönlichen, vertraulichen Daten in verschiedenen öffentlichen Räumen.51 Neben dem Begriff des Privacy Managements52 ist auch von Identity Management und Content Management die Rede. Der Begriff des Identity Management fokussiert den Umgang mit
—————— 46 Vgl.: Urs Gasser zum Umgang der »Generation Internet« mit Information und Kommunikation, Interview mit Urs Gasser, in: Tendenz, Ausgabe 4, 2008, S. 2. 47 Die klassische E-Mail wurde bereits 2008 weniger genutzt als die Online-Portale, vgl.: http://mediamarc.de/online-communities-wichtiger-als-e-mail/ 48 Livingstone nennt diese Gruppe »known but inappropriate others«, also zum Beispiel Eltern oder Lehrer, vgl.: Livingstone, Sonia (2008), Taking risky opportunities in youthful content creation: teenagers’ use of social networking sites for intimacy, privacy and selfexpression, new media & society, Ausgabe 10/2008, S. 405. 49 Ebd., S. 405. 50 Dem Kapitel zu Privacy liegt die Materialrecherche von 2009 angefertigt von Frank-Peter Brück zugrunde. 51 Der Begriff wird auch ganz allgemein im Zusammenhang mit der Debatte um Datenschutz und Identitätsschutz gebraucht. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Internetnutzung und Veröffentlichung von Daten, wird das Privacy Management zu einem Schlagwort für verantwortungsbewussten Informationsaustausch. 52 Moorstedt, Tobias (2006), New Blogs On The Kids. Neun Thesen zur Blogosphäre. Süddeutsche Zeitung Nr. 279 S. 33, 4./23. 12. 2006, http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/349449
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Inhalten im Allgemeinen und wird meist weniger zum Beschreiben des Verwaltens von individuellen Daten und die damit verbundenen Voraussetzungen beim User gebraucht.53 Die Beschäftigung mit der Darstellung der eigenen Person und der Verwaltung einer fiktiven oder realen Identität wird vor allem beim Identity Management betont.54 Beim Privacy Management geht es um den Umgang und die Organisation von persönlichen Inhalten, aber auch um die Frage nach den Voraussetzungen des Users und der Definition von privaten Räumen und Inhalten. Das Privacy Management verbindet daher beide Bereiche des Contentund Identity Management und stellt sich der Frage nach der Organisation und Verwaltung von Informationen, die, vor allem bezogen auf persönliche und private Inhalte, maßgeblich für den Aufbau und die Repräsentation von Identitäten und Persönlichkeitsprofilen verantwortlich sind. Darüber hinaus wird der Umgang mit Daten nicht nur von der individuellen Kompetenz des Users im Gebrauch mit privaten Informationen bestimmt, sondern auch durch die Konventionen, Beziehungen (zum Beispiel bei sozialen Netzwerken) und das Interface der Webseite. Nicht zuletzt wird auch die Frage nach der Kompetenz der User im Zusammenhang mit privaten Inhalten aufgeworfen. Diese persönlichen Voraussetzungen und Erfahrungen im Umgang mit privaten Daten können unter dem Begriff der »Privacy Awareness« zusammengefasst werden.55 Sich über Wert und Bedeutung von Inhalten bewusst zu sein, meint, ihren wahren Informationsgehalt zu ermessen und damit verantwortungsvoll umzugehen. Als eine grundlegende Fähigkeit ist Privacy Awareness ein zentraler Bestandteil der Medienpädagogik und der geforderten Medienkompetenz.56 Es gibt die unterschiedlichsten Bereiche, in denen Jugendliche mit vertrauten Daten im Internet umgehen, sei es beim Chatten, in Blogs, in Beiträgen auf Foren und vor allem bei der Anmeldung auf diversen Community-Portalen. Als virtuelle Gemeinschaft kann ein Netzwerk aus ausgewählten Bekannt-
—————— 53 Vgl.: http://www.contentmanager.de/magazin/artikel_921_content_management_dms _wcms_ecms_cms.html 54 Vgl. Schmidt, Jan-Henrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe/Lampert, Claudia (2009), Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0 – Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Kurzfassung des Endberichts für die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), April 2009, S. 14. 55 Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle – Transparenz, Symposium 2007, Düsseldorf, S. 106. 56 Zur Medienkompetenz vgl.: ebd., S. 79.
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schaften gelten, die untereinander mehr oder weniger starken Zugriff auf persönliche Daten haben, sich gegenseitig mit neuesten Informationen updaten, und bei denen es, vor allem bei den »Instant Messaging«-Funktionen und Micro-Blogs wie MSN, Skype oder auch Twitter, zu einem permanenten connection-flow kommt.57 Dieser »Konnektivitäts-Fluss« gleicht einem Strom an nie endenden Informationen, die durch ihre Aktualität und Unmittelbarkeit einen lebendigen persönlichen Kontakt ermöglichen.58 Das Privacy Management der Jugendlichen richtet sich gerade bei solchen Gemeinschaften nach den eigenen Verhaltensweisen, zum Beispiel Extraversion,59 Hang zur Selbstdarstellung, dem Verhalten der peer-group und den Möglichkeiten der Webseite. Dabei kann die Motivation zur Teilnahme an einer solchen Gemeinschaft bei den Jugendlichen sehr unterschiedlich sein. Einer der wesentlichen Punkte einer Auseinandersetzung mit dem Thema des Datenschutzes und der Sicherheit privater Informationen ist die Beschäftigung mit den Begriffen von Privatheit und Öffentlichkeit. Vor allem der älteren Generation erscheint der Umgang von Jugendlichen mit vertraulichen Informationen und die Nutzung des eigenen Körpers zur Repräsentation ideeller/affektiver/persönlicher Lebenskonzepte befremdlich und oft unüberlegt.60 Dies mag auch an der Leichtigkeit, mit der Jugendliche die Neuen Medien in ihr Leben und den Alltag integrieren, in Zusammenhang stehen.61 Es scheint jedoch, als würde gerade auf Online-Portalen
—————— 57 Zum Begriff der Virtuellen Gemeinschaft vgl.: Luhmann, Maike (2008), Heute schon gegruschelt? Nutzertypen des StudiVZ, Marburg, S. 27; vgl. auch Meißner, Klaus; Engelien, Martin (2008, Hg.), Virtuelle Organisation und Neue Medien, Workshop GeNeMe 2008 Gemeinschaften in Neuen Medien. TU Dresden, S. 43; vgl. auch: http://fresh zweinull.de/2009/02/wochenendgezwitscher-twitter-wo-liegt-der-reiz/ 58 Vgl.: Livingstone, Sonia (2008), Taking risky opportunities in youthful content creation: teenagers’ use of social networking sites for intimacy, privacy and selfexpression, new media & society, Ausgabe 10/2008, S. 404. 59 Der Begriff der Extraversion wird hauptsächlich in der differentiellen Psychologie verwendet, um die nach außen gewandte Haltung eines Menschen mit der Umwelt zu charakterisieren. Typische Eigenschaften eines solchen Charakters sind Gesprächigkeit, aktive Bestimmtheit, energisches und dominantes Auftreten. 60 Vgl. z.B. den Online-Artikel: http://www.tagesschau.de/inland/sozialenetzwerke104. html; vgl. auch: http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/article1433751.ece 61 Diese Leichtigkeit der Integration wird von Erwachsenen schnell als »Naivität« beurteilt. Vgl.: Vogelgesang, Waldemar (2008), Die eigenwillige Mediennutzung von Jugendlichen. Facetten-Kompetenzen-Szenen, in: Völlig losgelöst? Jugend, Medien, Kultur. Dokumentation der ajs-Jahrestagung 2007, Ausgabe 1/2008, S. 5.
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und Community-Seiten eine ganz eigene Einteilung von Privatheit und Öffentlichkeit gelten.62 Man kann in diesem Zusammenhang auch von »kontextuellen Integritäten« und einer Privatheit im sozialen Netz sprechen, welche die Jugendlichen zu schützen versuchen und deren persönlichen Wert sie gerade in ihrer Exklusivität erkennen.63 Bei einer näheren Betrachtung der Möglichkeiten und Risiken sogenannter privater Öffentlichkeiten wird die Bedeutung der Privacy Awareness im Zusammenhang mit dem Begriff der Medienkompetenz eine wichtige Rolle spielen. Die Online-Communities können daher als kulturvermittelnde Plattformen angesehen werden, um Inhalte gleichen Interesses miteinander auszutauschen und kontextuell im medialen Dialog zu vertiefen. »Twitter« ist hier vielleicht das aktuellste Beispiel. Die kurzen Messages und die permanente Mitteilung von Information, egal welchen Inhalts, hat manche bereits zu einer weiteren Auseinandersetzung verleitet.64 Gerade durch den Aspekt der Partizipation an den kommunikativen Möglichkeiten der Dienste und der Integration in Freundeskreise entsteht das Bedürfnis, persönliche Daten in diesen »intimen Öffentlichkeiten« preiszugeben. Ohne die aktive Teilnahme oder das Vorenthalten interessanter Daten (Fotos, Angaben, etc.) droht Ausgrenzung und Isolation durch andere User.65 Somit ist die Teilnahme an solchen Netzwerken mit gewissen bewussten und unbewussten Gratifikationen verbunden. Die Communities können hierbei als soziale Ressource dienen und sowohl Sicherheit, Zugehörigkeit als auch eine Plattform zur Hilfestellung sein: »›The appeal of these sites lies in the crucial part of the adolescent socialisation process which we all go through[…]finding your identity, voice, place and status –
—————— 62 Livingstone, Sonia (2008), Taking risky opportunities in youthful content creation: teenagers’ use of social networking sites for intimacy, privacy and selfexpression, new media & society, Ausgabe 10/2008, S. 404f. 63 Vgl. Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle – Transparenz. Symposium 2007, Düsseldorf, S. 104; vgl. auch: http://social.semanticweb.at/index. php/Privacy_im_Social_Semantic_Web. Der Begriff der kontextuellen Integrität wurde geprägt durch Helen Nissenbaum. 64 Siehe z.B. Twitter Ruined My Life!http://www.youtube.com/watch?v=NlZcHwsa 6CU&feature=fvw 65 Vgl.: Luhmann, Maike (2008), Heute schon gegruschelt? Nutzertypen des StudiVZ, Marburg, S. 22.
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the tribe with which you most identify,‹ says Jo Twist, senior research fellow at the Institute for Public Policy Research.«66
Einige sprechen sogar von einer starken positiven Wirkung der OnlineGemeinschaften auf die kommunikativen, kreativen und sozialen Kompetenzen der Teilnehmer. So scheinen zum Beispiel beim »Messaging« und »Chatten« wichtige kommunikative Fähigkeiten erworben zu werden, wie auch bei der Teilnahme und Organisation von Treffen und Online-Meetings.67 Die Entwicklung von Nutzertypen68 führt nicht wirklich an die Inhalte und im Speziellen an die Bildproduktionen der Jugendlichen heran. Das immense Wachstum der verwobenen Kontakte untereinander macht das »social-networking« dieser Communities auch für wirtschaftliche Interessen und das Marketing höchst interessant. So werden neue Möglichkeiten gesucht, um mit dem User in Kontakt zu treten, wie zum Beispiel durch »C2C-Marketingmodelle« und umfassende viral Marketing-Kampagnen.69 Auch hierbei sind es vor allem die persönlichen Angaben der Nutzer, die den Betreibern genaue Nutzerprofile liefern. Durch das Interface
—————— 66 Soziale Kontrolle auf Communities am Beispiel »LizzyNet«: Tillmann, Angela (2008), Identitätsspielraum Internet. Lernprozesse und Selbstbildungspraktiken von Mädchen und jungen Frauen in der virtuellen Welt. Weinheim und München, S. 160 u. S. 207; vgl. auch: http:// news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/magazine/4782118.stm 67 Jörissen, Benjamin (2008), Jugend und Web 2.0. Neue Partizipationskulturen und der »participatory divide«, in: Völlig losgelöst? Jugend, Medien, Kultur. Dokumentation der ajs Jahrestagung 2007, Ausgabe 1/2008. 68 Eine mögliche Unterscheidung der Nutzertypen: •»Nicht-Nutzer« (11% der Stichprobe): Personen, die nie Netzwerkplattformen besuchen. •»Rand-Nutzer ohne eigenes Profil« (13%): Personen, die zwar ab und zu Netzwerkplattformen besuchen, aber kein eigenes Profil erstellt haben. • »Routinierte Kontaktpfleger« (23%): Hohes Interesse an Kontakten, geringes Interesse an Selbstdarstellung. • »Außenorientierte Selbstdarsteller« (16%): Im Vordergrund stehen die Selbstdarstellung und der Wunsch, im Internet einen guten Eindruck zu machen. • »Wenig interessierte Routinenutzer« (10%): Mittelgroßes Kontaktnetzwerk, das aber wenig ambitioniert gepflegt wird. • »Zurückhaltende Freundschaftsorientierte« (9%): Kleines und offenbar auf engere Freunde konzentriertes Kontaktnetzwerk. • »Intensive Netzwerker« (9%): Häufigste und intensivste Nutzung der Plattformen, oft auch Profile auf mehreren Plattformen, extrem großes Kontaktnetzwerk. • »Reflektierte Gelegenheitsnutzer« (6%): Sehr seltene Profilaufrufe und kleines Kontaktnetzwerk, hohes Bewusstsein dafür, dass auf Communities private Daten öffentlich gemacht werden. • »Experimentierende Selbstdarsteller« (3%): Stark ausgeprägte Experimentierfreude und hohes Interesse an Selbstdarstellung. Die Stichpunkte wurden entnommen aus: Schmidt, JanHinrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe/Lampert, Claudia: a.a.O., S. 7f. 69 Luhmann, Maike (2008), Heute schon gegruschelt? Nutzertypen des StudiVZ, Marburg, S. 13, 21.
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der Plattformen versuchen die Anbieter, ein eigenes Profil zu erlangen und über Werbebanner dem Nutzer nicht nur Bedienungskomfort, sondern auch Angebote von Werbepartnern näher zu bringen. Die persönlichen Angaben und Daten der Nutzer können hier einem gezielten, aggressiven Marketing dienen.70 Für die befragten Jugendlichen entsteht hier ein gewisses Dilemma: Sie müssen persönliche Informationen preisgeben, um soziale Beziehungen in den onlinebasierten Räumen pflegen zu können, gleichzeitig aber die Kontrolle über das Offenlegen behalten. Zwei Probleme stehen einem erfolgreichem Privacy Management entgegen: Sie sind auf die Gestaltung des Interface zurückzuführen, genauer gesagt auf dessen gleichzeitige Unter- und Überkomplexität. Optionale Sicherheitseinstellungen für die Möglichkeit eines geschützten Privacy Managements bleiben dann völlig ungenutzt. Unterkomplexe Designs (wie etwa bei WKW) verzichten oft ganz auf bestimmte Funktionen und ermöglichen zum Beispiel keine Differenzierung zwischen Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten mit je unterschiedlichen Rechten und Möglichkeiten, auf die eigenen Daten zuzugreifen. »Teenagers face another problem in managing their privacy online, which concerns the relation between their internet literacy and the interface design of social networking sites and settings. When asked, a fair proportion of those interviewed hesitated to show how to change their privacy settings, often clicking on the wrong options before managing this task, and showing some nervousness about the unintended consequences of changing settings (both the risk of ›stranger danger‹ and parental approbation were referred to here, although they also told stories of viruses, crashed computers, unwanted advertising and unpleasant chain messages).«71
Obwohl man vermehrt bei älteren, wenig technisch-affinen Menschen von digital immigrants spricht,72 gehören auch viele Jugendliche von ihrem technischen Wissenstand zu dieser Personengruppe. Obwohl sie mit den Neuen Medien aufwachsen und als digital natives bezeichnet werden, kön-
—————— 70 Dabei sollten die Betreiber der Social Networks jedoch auf die passenden Werbebannerachten, vgl: Göldi, Andreas (2008), Werbung auf Social Networks: Sand im Getriebe? Online unter: http://netzwertig.com/2008/04/22/werbung-auf-social-networks-sand-im-getrie be/ 71 Livingstone, Sonia (2008), Taking risky opportunities in youthful content creation: teenagers’ use of social networking sites for intimacy, privacy and selfexpression, new media & society, Ausgabe 10/ 2008, S. 406. 72 Da sie zwar in großer Zahl das technische Gerät verwenden, aber nicht die nötigen Kenntnisse besitzen.
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nen nicht alle die technische Versiertheit aufweisen, um diesem Begriff gerechnet zu werden.73 Viele setzen zum Beispiel Fotos und Videos auf ihr Profil, wollen sie vor fremden Zugriffen schützen, wissen aber nicht, wo sie diese Einstellungen vornehmen können. Auch existieren unterschiedliche Datenschutzrichtlinien der verschiedenen Online-Plattformen.74 Obwohl ein Trend zu mehr Sicherheit für den User zu erkennen ist, so sind doch viele Anbieter nicht dazu verpflichtet bei einem Verlust von Daten die betreffenden Personen zu informieren.75 Selbst bei erhöhtem Problembewusstsein bleiben teilweise Schwachstellen in den Strukturen der jeweiligen Plattform, wie beispielsweise bei Fotos auf Facebook, auf denen ein User getagged wurde. Freunde eines Users, der von einem anderen User auf einem Bild verlinkt wurde, können das Fotoalbum dieses Fremd-Users einsehen, ohne mit ihm/ihr befreundet zu sein. Normalerweise lässt sich, ohne mit einem User befreundet zu sein, das Profil nicht einsehen (nur Name und Profilfoto). Auch das Aufzeichnen und Speichern von persönlichen Präferenzen und die Bereitstellung von individualisierten Angeboten ebnen den Weg zu personalisierter Werbung und Marketing. Gerade die Community-Plattformen eignen sich hierzu besonders gut, da man durch die vielen freiwillig gemachten Angaben der Nutzer sehr gute, individuelle Profile erstellen kann.76 Durch die Möglichkeiten, die das »social programming« der Online-Umgebungen bietet, nämlich eine Superdistribution von persönlichen Daten und Inhalten zwischen Usern, wird die Frage nach Datenschutzrichtlinien verstärkt.77 Die Speicherung persönlicher Daten (data Warehousing/data Mining) wird von vielen Firmen vorgenommen und ermöglicht die genaue Identifikation von Personen bzw. das Aufzeichnen ihres Kaufverhaltens. Dadurch wird nicht nur personalisierte Werbung ermöglicht, vielmehr können gezielte Personenprofile erstellt und gespei-
—————— 73 Interview mit Urs Gasser zum Umgang der »Generation Internet« mit Information und Kommunikation, in: Tendenz, Ausgabe 4, 2008, S. 12. 74 Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle –Transparenz, Düsseldorf, S. 103. 75 Meißner, Klaus/Engelien, Martin (2008, Hg.), Virtuelle Organisation und Neue Medien, Workshop GeNeMe 2008 Gemeinschaften in Neuen Medien. TU Dresden, S. 78. 76 Schon durch Cookies werden persönliche Daten gespeichert, die unter Umständen ein Sicherheitsrisiko werden können. Schon bei so populären Diensten wie YouTube werden die gesehenen Inhalte gespeichert und dem Nutzer passende, ähnliche Videos angeboten. Vgl. zur Datensicherheit: http://anonymsurfen.net/grundlagen/7-cookies/ 77 Meißner, Klaus/Engelien, Martin (2008, Hg.), Virtuelle Organisation und Neue Medien, TU Dresden, S. 45, 72, 73.
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chert werden, die dann auf unterschiedliche Weise von Interesse sein können.78 Ein weiterer vorstellbarer Schritt wäre dann ein scoring der einzelnen Personen auf Grundlage ihrer persönlichen Daten. Diese Bewertung wäre dann dem User selbst nicht zugänglich, er würde dann nur noch die Folgen eines schlechten Rankings erleben.79 Allgemein zeigt sich bei jüngeren Nutzern ein eher verspielter Umgang mit dem eigenen Profil und der Kommunikation zu anderen. Sie nutzen die Möglichkeit der »scheinbaren« Anonymität und erstellen fake-Seiten mit falschen Angaben, um mit der eigenen Identität zu spielen. Ältere wenden sich tendenziell von messy- zu clean-sites, die durch eine klare Struktur und Optik seriöser wirken. Je älter die Jugendlichen werden, umso mehr verändert sich auch ihre Nutzung der Online-Communities.80 Die meisten User-Profile zeigen vor allem Inhalte, die im Einklang mit den geltenden Schönheitsnormen/Ästhetiken stehen und die unter der Berücksichtigung der peer-group als angemessen empfunden werden. Unabhängig vom Alter der Personen wird die Teilnahme an solchen Seiten schließlich vor allem durch das Knüpfen von Beziehungen und Freundschaften zu einem zentralen Punkt im sozialen Leben der User. Zum »weben« sogenannter weak- und strong-ties wird ein gewisses Maß an intimer Information und persönlicher Mitteilung vorausgesetzt.81 Für die Jugendlichen ist dieses Knüpfen von schwachen und festen Verbindungen sehr wichtig, der Online-Kontakt dient jedoch in den seltensten Fällen einem Ersatz von Freundschaften im real life.82 Jugendliche sind bereit, umso mehr intime Details und Informationen zu tauschen, je emotionaler sie die Bindung zum Kommunikationspartner empfinden.83 In diesem Zustand wird eine Entfaltung der eigenen Person bei gleichzeitiger Integration in eine formal genormte Gemeinschaft ermöglicht.
—————— 78 Kurz, Constanze (2008), Die Geister, die ich rief… Deine Spuren im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle –Transparenz, Düsseldorf, S. 5, 7. 79 Ebd., S. 7. 80 Vgl. Livingstone, Sonia (2008), Taking risky opportunities in youthful content creation: teenagers’ use of social networking sites for intimacy, privacy and selfexpression, new media & society, Ausgabe 10/2008, S. 401. 81 Tillmann, Angela (2008), Identitätsspielraum Internet. Lernprozesse und Selbstbildungspraktiken von Mädchen und jungen Frauen in der virtuellen Welt, Weinheim und München, S. 156. 82 Livingstone, Sonia (2008), Taking risky opportunities in youthful content creation: teenagers’ use of social networking sites for intimacy, privacy and selfexpression, new media & society, Ausgabe 10/2008, S. 396. 83 Tillmann, Angela (2008), Identitätsspielraum Internet. Lernprozesse und Selbstbildungspraktiken von Mädchen und jungen Frauen in der virtuellen Welt. Weinheim und München, S. 157−158.
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Neben dieser am häufigsten genutzten Form der Verwaltung privater Daten, nämlich der persönlichen Überwachung des Profils, gibt es auch Formen der Mehrfachnutzung eines Profils durch viele Personen. Einer der neueren Trends ist das kurze Versenden von Informationen zur konstanten Übermittlung des Alltags. So wird die Community über den ganzen Tag in regelmäßigen Abständen über die persönlichen Aktivitäten informiert. Anwendungen wie Twitter, aber auch Facebook, studiVZ und Co. ermöglichen eine fast nahtlose Teilhabe am Alltag der Anderen.84 Seit 2009 kann man auch visuelles twittern, also Videos verschicken, das heißt dann tweeten. Die permanente Mitteilung der eigenen Situation entsteht oft ohne konkreten Wunsch, auf jede Mitteilung eine response zu erhalten. In diesen Fällen wird der private Raum in starker Weise mit der Community geteilt und erhält einen »live«-Charakter. Es zeigt sich gerade im Bereich der permanenten Datenvermittlung ein steigendes Interesse der Nutzer. Prinzipiell hängt der Inhalt von persönlichen Daten, der online gestellt wird, vor allem von dem Profil der Community, als auch von dem persönlichen Charakter des Nutzers ab. Dabei sind die drei wesentlichen Gratifikationen von virtuellen Gemeinschaften »[…] Information, Unterhaltung und soziale Integration.«85 Es wäre interessant zu untersuchen, ob verschiedene Kategorien von Nutzern in Bezug zu ihren veröffentlichten Inhalten erstellt werden können.86 »Even if two users know each other, their social relationship often does not imply that they have the same privacy preferences. The average number of friends of MySpace users is 115 friends, which indicates that the friend relationship is being stretched to cover a wide range of intimacy level [21]. Consequently, users who share content may have different privacy preferences, and as a consequence their privacy preferences on some data content they share, may be conflicting.«87
In den »Mobile Communities« laufen die Freunde mit: Die visionäre Vorstellung von der Vernetzung des menschlichen Körpers mit der Maschine,
—————— 84 Vgl. Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle –Transparenz, Düsseldorf, S. 101. 85 Luhmann, Maike (2008), Heute schon gegruschelt? Nutzertypen des StudiVZ, Marburg, S. 25. 86 Man könnte verschiedene Gruppen unterteilen (z.B. Spaß-Normaden, Global-Explorer etc.) und mit verschiedenen präferierten Inhalten in Verbindung bringen (Spaß-Fotos, Reise- und Sportaufnahmen…). Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede? 87 Squicciarini, Anna C./Paci, Federica/Shehab, Mohamed (2009), Collective Privacy Management in Social Networks, in: www 2009, April 20–24, Madrid, S. 522.
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wie sie in vielen Science-Fiction-Vorstellungen existiert, ist, zumindest was die emotionale Bindung und Abhängigkeit vom Computer und Internet angeht, bereits bei vielen Internetnutzern zu beobachten.88 Dabei ersetzt das Internet keine face-to-face-Kontakte, sondern fungiert vor allem als Organisationsplattform, über die der Freundeskreis sehr schnell aufrechterhalten werden kann. Durch diese große Akzeptanz der virtuellen Gemeinschaften in der Gesellschaft wird gerade für Jugendliche, die eine Hauptnutzergruppe dieser Medien sind, eine Auseinandersetzung mit Fragen des privaten Datenmanagements immer bedeutender.89 Die Vereinfachung der technischen Zugangskompetenzen bei gleichzeitiger Öffnung der Medien von ursprünglich geschlossener Hard- und Software, wie Spielkonsolen über UMTS- oder HSDPA-fähige Mobiltelefone bis hin zu neuen Fernsehern mit Internetfunktionalität, ist allseits zu beobachten. Jüngst hat Microsoft den Zugang seiner aktuellen Spielekonsole (Xbox360) zu den Social-network-Portalen wie Facebook und Twitter bekannt gegeben.90 Auch Sonys Playstation 3 öffnet mit seiner eigenen virtuellen Umgebung die Möglichkeiten des Social-networking und ermöglicht die Chance, persönliche Daten online zu stellen.91 Gerade durch die aufkommende neue Generation von invisible controls und der Tendenz zu mehr intuitiven Spieldesign und emotivem Spielerlebnis werden neue Möglichkeiten für innovative Kommunikationsformen geschaffen.92 So könnten in Zukunft zum Beispiel eigene Gegenstände über die Konsole eingescannt und dann mit den Freunden über die Online-Communities geteilt werden.93
—————— 88 Kurz, Constanze (2008), Die Geister, die ich rief… Deine Spuren im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle – Transparenz, Düsseldorf, S. 11−12. 89 Ebd., S. 89. 90 Vgl.: http://www.shortnews.de/start.cfm?id=767777 91 Vgl.: http://www.techdigest.tv/2007/07/e3_ps3s_home_vi.html 92 Die auf der Electronic Entertainment Expo (E3) vorgestellten neuen Motion Controller aller drei großen Hersteller versprechen für die Zukunft mehr intuitive Spiel- und Kommunikationsmöglichkeiten, vgl.: http://www.nowgamer.com/news/678/who-wo n-e3smotion-control-war 93 Viele technische Neuerungen zeigen sich in der Games-Branche zuerst, da sie zu den early adopters gehört. In Zukunft wird das 3D-gaming und das emotional/personal gaming eine größere Rolle spielen. Mit dem »Natal«-System von Microsoft soll es in Zukunft z.B. möglich sein persönliche Gegenstände in das Spiel zu »scannen« und dann als virtuelle Kopie z.B. in einem Spiel zu nutzten. Obgleich es einige kritische Stimmen zu den vorgestellten Technologien gibt (vgl. z.B.: http://www.i4u.com/article25161.html), ist die Tendenz zu innovativen Spielerlebnissen unbestreitbar.
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Privacy Management ist ein Schlagwort mit dem ein sehr weites Feld eröffnet wird. Eine allgemeine Form dieser Verhaltensweisen wird in der Regel durch die Zustimmung zu den AGBs gegeben. Der Umgang mit persönlichen Daten hängt nicht nur von den Anlagen und dem Charakter jedes einzelnen ab. Vielmehr spielt auch das Umfeld (eventuell die Clique, Freunde), die Online-Umgebung und das Verhalten in öffentlichen und privaten Bereichen eine wichtige Rolle. »Of course, teenagers are not seeking primarily to maintain their privacy from strangers (or else they could simply turn off the computer). Rather, they are seeking to share their private experiences, to create spaces of intimacy, to be themselves in and through their connection with their friends.«94
Doch zwischen notwendiger Teilnahme am digitalen Leben und einer leichtfertigen Preisgabe persönlicher Daten liegen große Unterschiede. »It seems that for many, creating and networking online content is becoming an integral means of managing one’s identity, lifestyle and social relations.«95
Es existiert jedoch neben den produzierenden, mitteilenden Producern gleichzeitig auch die große Masse an »nichtpartizipierenden«, konsumierend-passiven Teilnehmern der Online-Welten. Diese Ungleichheit wird mit zunehmender Komplexität der digitalen Medien immer größer und wird auch mit dem Begriff des participatory divide beschrieben. Dieser unterschiedliche Umgang mit den neuen Anwendungen und Möglichkeiten der Neuen Medien könnte letztlich dazu führen, dass die passiv bleibende Mehrheit der rein konsumierenden Massen die Chance verpasst, selbst die Inhalte und damit die Substanz der Mediendienste mitzugestalten.96 »Die online verbrachte Zeit ist für junge Menschen essenziell, um soziale und technische Kompetenzen zu erwerben, die kompetente Bürger in der digitalen Ära besitzen müssen.«97
—————— 94 Livingstone, Sonia (2008), Taking risky opportunities in youthful content creation: teenagers’ use of social networking sites for intimacy, privacy and selfexpression, new media & society, Ausgabe 10/2008, S. 405–406. 95 Ebd, S. 394. 96 Jörissen, Benjamin (2008), Jugend und Web 2.0. Neue Partizipationskulturen und der »participatory divide«, in: Völlig losgelöst? Jugend, Medien, Kultur, Ausgabe 1/2008, S. 27. Vgl. auch: Fisch, Martin & Gscheidle, Christoph (2008), Mitmachnetz Web 2.0: Rege Beteiligung nur in Communitys, in: Media Perspektiven, Ausgabe 7, S. 356. 97 Stadik, Michael (2008), Die Illusion der Intimität, Tendenz, Ausgabe 04/2008, S. 2.
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Die Preisgabe persönlicher Daten ist in diesem Fall unvermeidbar, sollte jedoch kontrolliert und überlegt erfolgen. Eine Idee wäre zum Beispiel, Fotos mit einem Verfallsdatum zu versehen, nach dessen Ablauf sie sich selbst löschen.98 »Having considered the evidence I believe we need to move from a discussion about the media ›causing‹ harm to one which focuses on children and young people, what they bring to technology and how we can use our understanding of how they develop to empower them to manage risks and make the digital world safer.«99
—————— 98 Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle – Transparenz. Symposium 2007, Düsseldorf, S. 107. 99 http://www.hans-bredow-institut.de/webzweinull/2008/03/29/britische-studie-zu-ju gendschutz-im-social-web/
2 Jugendbildforschung: Analyse-Instrumentarien für jugendliche Medien, Bilder, Netzwerke
2.1 Netzscan Auf der Basis von breit angelegten allgemeinen Netzscans, das heißt der intensiven repräsentativen Erhebung, Archivierung und Sortierung von Bildern jugendlicher Selbstdarstellung im Internet, zunächst ohne Konzentration auf die Plattformen des Web 2.0, werden exemplarisch Schlüsselbilder untersucht,100 welche die Bildstrategien in unterschiedlichen historischen und medialen Bildsorten präsentieren. In einem weiteren Schritt kommt es zur Entwicklung von formalen Clustern, die visuelle Analogien im massenmedialen Kontext aufzeigen und kommentieren, um diese in kontextuellen Bildnachbarschaften zusammenzufassen. Die Erforschung möglicher Parameter für die gezielte Suche von Bildern im Netz findet über das dafür entwickelte Verfahren des sogenannten Netzscans statt. Das Internet wird zunächst auf der Suche nach den häufigsten Bildakkumulationen jugendlicher Selbstdarstellung auf verschiedene Arten durchgescannt. Eine allgemeine Abfrage erfolgt mit der Suchmaschine Google mit der Bildsuche über Schlagwörter. Aus diesem quantitativen Verfahren entsteht eine Bilddatenbank für den auszuwertenden Bildfundus. Dieser stellt die repräsentative Vollerhebung des vorkommenden Bildmaterials im Netz dar. Im nächsten Schritt werden in mehrstufigen Abfrageeinheiten »Bildmotive« gesammelt. Dies geschieht unter Beachtung von Kriterien wie: Häufung, Wiederholung und Bildähnlichkeit. Die Sortierung der Suchergebnisse erfolgt dabei so lange, bis eine Sättigung eintritt, das heißt, bis in diesem Falle eine Wiederholung von Bildsorten und Themen festzustellen ist.101 Eine kategoriengeleitete Aus-
—————— 100 Richard, Birgit (2003), 9-11. World Trade Center Image Complex + »shifting image«, in: Ebd./Sven Drühl (Hg.): Kunstforum International: Das Magische, Band 164, S. 36–73. 101 Geertz, Clifford (1983), Dichte Beschreibung, Frankfurt am Main.
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wertung und die erste Bildung von Typologien, aus denen weitere Abfragebegriffe generiert werden, folgen. Parallel zur Erhebung des gesamten Bildmaterials zum Thema und seiner Speicherung in einer Bilddatenbank wird eine qualitative Erhebung von Bildmaterial nach dem Prinzip des Hypertextes, also nicht linear, sondern an Links entlang, vorgenommen. Beide Verfahren der Suche führten am Ende zu Überschneidungen und ähnlichen Bildclustern, sodass eine Überprüfung der qualitativ erhobenen Bilder auf ihre herausgehobene Position als repräsentativer Fall bestätigt werden kann. Diese führt im Abgleich mit der umfangreichen Gesamterhebung von Bildern jugendlicher Selbstdarstellung im Netz zur Auswahl der Schlüsselbilder. Diese Bilder sind jeweils als Kulminationspunkte von sich abzeichnenden Bildclustern zu spezifischen Themenkernen zu betrachten. Hierbei wird auch der jeweilige Bildkontext berücksichtigt: Damit ist die Einbeziehung des virtuellen umgebenden Raumes außerhalb des Bildes gemeint (der Kontext der Website sowie der Kontext des gesamten Internets, das wird dann bei den Plattformen MySpace und Facebook relevant). Aus den Clustern erfolgt die Rückbindung in thematische Bildnachbarschaften nach sich herausbildenden Strukturprinzipien. Die Interpretation der Schlüsselbilder folgt nach werkimmanenten Methoden, der Ikonografie Panofskys, dem Konzept von Sedlmayrs »anschaulicher Charakter«, daneben das »shifting image« und »Bildcluster«-Konzept von Richard.102
2.2 Shifting Image, Bildcluster und Schlüsselbild: bildtheoretische Überlegungen Schlüsselbilder sind mit starker ästhetischer Ausstrahlung ausgestattete Einzelbilder. Ihre epidemische oder auch virale Struktur bedingt ihre Ausbreitung, sie führt zur »Ansteckung« und Bildung neuer Bildcluster bzw. -nachbarschaften. Jedes sichtbare und unsichtbare Bild, das in der Nachbarschaft der Schlüsselbilder liegt, wird in der Struktur neu positioniert. Das Einzelbild ist aber zunächst einmal in seiner singulären Erscheinung zu analysieren, um es dann im nächsten Schritt in Relation zu vorangegan-
—————— 102 Richard, Birgit (2003), 9−11. World Trade Center Image Complex + »shifting image«, in: Ebd., Sven Drühl (Hg.), Kunstforum International: Das Magische, Band 164, S. 36–73.
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genen, schon gesehenen Bildern zu betrachten und die Konstitution von neuen Bildclustern zu beobachten. Der Begriff Cluster erfasst die technisch mediale Anordnung der Bilder und fokussiert die Relation der formierten Bilder. Die erfolgreiche Suche potentieller Nachbarbilder erlaubt die Rekonstruktion des Bildkreislaufs, die auch die Entstehung »sozialer Zwischenbilder«, das heißt abgelagerter, immaterieller Vorstellungs-Bilder, mitberücksichtigt. Es gilt dabei zu beachten, dass Bilder prinzipiell zusammengesetzt sind und keine feste Ordnung haben. Das Internet ist zunächst der Bild-Speicher – die endgültige Verbreitung bestimmter Schlüsselbilder erfolgt jedoch über die klassischen Wege, nämlich über die Print- und TV-Medien, die nach der Auswahl ein geordnetes Archiv an das Internet zurückgeben. Die Selektion der Bilder bestimmt, welche sich weltweit verbreiten und zu Schlüsselbildern für ein Ereignis werden dürfen; TV und Printmedien wählen die potentiellen »Ikonen«, die vermarktbaren Bilder aus diesem Fundus. Besonders das Internet erweitert die wenigen ausgewählten offiziellen Bildperspektiven. Gleichzeitig generiert die große ungeordnete Anzahl von Bildern im Internet eine Hypervisualität, die ohne Ordnungskriterien und Selektion nicht zu bewältigen ist: Bilder werden durch einen visuellen information-overload verschüttet, um Fragen nach anderen Bildern zu ersticken. Alles wird gezeigt, aber die aufdringlichen Bilder sind gekennzeichnet durch die Undurchlässigkeit ihrer Oberfläche, die kein Erklärungsmodell anbietet. Diese Opazität ist ein grundlegendes Paradigma der gegenwärtigen visuellen Kultur. Eine Zielsetzung bei der folgenden Analyse der Schlüsselbilder, die als sogenannte »shifting images« zu bezeichnen sind, sich somit ständig in Bewegung gehalten werden und in immer neue Relationen zu anderen Bildern gesetzt werden, ist, die Politik der Sichtbarkeit zu beobachten und zu dekodieren. Ein quasi archäologischer Prozess legt die verdeckten Bilder frei, die dann benutzt werden können, um eine Multiperspektivität zu konstruieren. Ein Bild ist keine autonome Instanz, keine Erscheinung an sich, es bedarf eines Mediums als Träger. Die jeweilige mediale Struktur bestimmt die Bedeutung und Verfasstheit der Bilder. Die unterschiedliche Medienstruktur impliziert andere Formen von Bildern, selbst wenn der sichtbare Inhalt konstant bleibt. Daher kann es nicht sein, dass Bilder durch die Medien hindurch wirken und Medien weder Bilder bestärken noch schwächen. Durch die Verschiebung von Bildern zwischen verschiedenen Bildsystemen resultiert die Notwendigkeit einer Erweiterung der
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Begriffsdefinition von Bild und die Konzentration auf die Betrachtung von Relationen innerhalb vernetzter medialer Bildsysteme, die Erweiterung um ein Denken in Bildordnungen. Diese Bildsysteme sind durch eine nichtlineare, nicht hierarchische Struktur verknüpft. Eine bruchlose Genealogie medialer Bildsysteme, die in der allumfassenden Digitalität kulminiert und den Algorithmus als kleinste Einheit definiert, existiert nicht. Die Beziehung von Einzelbildern in verschiedenen medialen Systemen ist durch Brüche und Sprünge gekennzeichnet, nicht durch Kontinuitäten in der Überführung von einem Bildsystem ins andere. Jedes Einzelbild ist daher als »shifting image« zu bezeichnen, da es niemals an einem Platz verharren kann, sondern ständig neu in Beziehung zu anderen Bildern gesetzt wird. Es heißt auch deshalb »shifting image«, weil es sich zwischen verschiedenen medialen Bildsystemen wie TV, Film, Printmedium und Internet bewegt. Die gegenwärtige Gesellschaft ist bestimmt durch Bilder, deren Bedeutung nicht wirklich erfasst wird, da unsere sprachlich geprägte Kultur die eingehende Beschäftigung damit nicht als wichtig erachtet. Im akademischen Denken nach dem »Linguistic turn«103 werden alle Gegenstände wissenschaftlicher Forschung in Analogie zur Sprache aufgefasst. »[…] Dass Bilder in der Gesellschaft vorwiegend wegen ihres Unterhaltungswertes geschätzt, aber bezüglich ihres Informationswertes und ihres Beeinflussungspotentials absolut unterschätzt werden. Unsere Gesellschaft vermittelt primär Kulturtechniken im Umgang mit dem sprachlichen Symbolsystem […] und vernachlässigt sträflich die visual literacy.«104
Dies ist die Hauptursache der sozialen Unwissenheit gegenüber den Bildern. Die Werbung macht sich diese Unwissenheit für die Übermittlung ihrer Werbebotschaften zunutze, zum Beispiel im sogenannten »Picture Superiority Effect«, demzufolge das menschliche Bildgedächtnis Tausende von Bilder fehlerfrei wieder erkennen und behalten kann.105 Sprach- und Lesekompetenz werden gefördert, die Bildkompetenz wird vergessen. Die in den Schulen vermittelte Medienkompetenz ist häufig technischer Natur und beschäftigt sich nicht mit dem Inhalt, wie Bildern. Einer der großen Unterschiede zwischen Bild und Text ist, dass die Information auf einem Bild simultan vorhanden ist, während sie im Text und
—————— 103 Rorty, Richard (1992), The Linguistic turn: Essays in philosophical method, Chicago. 104 Schierl, Thomas (2005), Werbungsforschung, in: Sachs-Hombach, Klaus. Bildwissenschaft, Frankfurt am Main, S. 309–319, S. 309. 105 Ebd, S. 316.
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in der Sprache linear und sukzessiv verläuft.106 Auf dem Bild herrscht der Zustand der Gleichzeitigkeit. Wir können einige der Verhältnisse und Verbindungen sofort ermessen, wenn wir das Bild »sehen« können. In der Sprache verbinden sich die Dinge nur hintereinander. Die Ordnung ist ganz anders: auf dem Bild kommt sie aus diesen Verbindungen, in der Sprache aus der Linearität, in welcher die Wörter, die Sätze, die Gedanken aufeinander folgen.107 Bilder sind also jenseits von Sprache, was das hier folgende Vorhaben jedoch nicht davon abhalten kann, Bilder zu analysieren, zu deuten und mittels Sprache zu beschreiben. Die hier zu betrachtenden Medienbilder sind zunächst technische Bilder, die als von der Realität abgeschlossene Monaden im Adornoschen Sinne in dem Moment einen ihrer Struktur unangemessenen magischen Charakter bekommen, wenn der Mensch vergisst, dass er diese Bilder selbst erzeugt hat. Er kann sie nicht in Relation zu anderen Bildern stellen und entwickelt ihnen gegenüber ein magisch-rituelles Verhalten. Die Frage »Was verbirgt sich hinter den technischen Bildern?« wird durch ihre mediale Struktur obsolet. Bilder verdecken keine wie auch immer geartete Wahrheit, sie sind im Sinne von Flussers Definition des technischen Bildes pure Oberflächen. Mit Flusser wäre die Rezeptionshaltung, die nach der verborgenen symbolisch verschlüsselten Wahrheit sucht, eine Manifestation der magischen Einstellung gegenüber den Bildern, da der kulturell tief verwurzelte Glaube an das Realitätsversprechen des apparatisch erzeugten Bildes zum Vorschein kommt. Um dieses magisch fundierte Sprechen über die Bilder hinweg zu verhindern, muss der »anschauliche Charakter« des »shifting image« berücksichtigt werden. Dies gilt besonders für die Bilder im Web 2.0. Die beschriebenen medialen Übersprünge und intermedialen Wechsel zeigen an, dass ein mediales Bild als »shifting image« nicht nur permanent seine Bedeutung ändert, weil es in andere Bildnachbarschaften gestellt wird, sondern auch, weil es als numerisches Bild nicht mehr in einer Form (still-bewegt oder materiell-immateriell) gefangen bleibt. Jedes Bild ist dabei ein Kompositbild und Bildbastard. Diese hybride Form wird im Web 2.0 vor allem durch das übergeordnete Prinzip des »Mashup« bestimmt. Deutlich wird dies auch im virtuellen Nebeneinanderlegen zum Vergleich der formalen Ähnlichkeiten von Bildern. Bilder sind immaterielle
—————— 106 Vgl. Kapitel Bildanalyse in: Recht, Marcus (2010), Die Figur des »sympathischen Vampirs« als Gender-Ikone in der TV-Serie Buffy, unveröffentlichte Diss., erscheint 2010. 107 Vgl. ebd.
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Palimpseste, die keine Tiefe haben, sondern eine mediale flächige Breite vorstellen. Diese Oberflächen breiten sich durch die Relationen zwischen den Bildern aus. Keine Tiefe zu haben bedeutet, dass sich niemals aus einem Bild eine Wahrheit extrahieren lässt. »[…] von Bildern erwartet wird, dass sie eine äußere Realität unmittelbar wiedergeben […] Es ist aber ein falscher Schluss zu glauben, dass Bilder Realität unmittelbar illustrieren.[…] Bilder illustrieren nie, selbst Fotografien illustrieren nicht, sondern sie geben das, was sie darstellen, eigentätig wieder…«108
Die visuellen Relationen zwischen Bildern unterschiedlichster gesellschaftlicher Systeme, die die Bilder zu sozialen Bedeutungsträgern werden lassen, sind hier also von Interesse. Außerdem soll ein Beitrag zur Entwicklung einer Kultur des Sehens geleistet werden, der dem Bild seine besondere Erkenntnisfunktion zugesteht und das Bild als eine genuine Form der Generierung von Wissen ansieht. Analysetableau für Schlüsselbilder (bewegtes Bild Off- und Online/Bild als Bild) Entscheidungs-/Interpretationsschritte zur Generierung der Schlüsselbilder – anhand einer bestimmten Fragestellung (Deduktiv) oder anhand des Materials (Induktiv): 1. Stills aus dem ganzen Video ziehen 2. Ausdruck von Kontaktbögen, jeden neuen Frame (Bildwechsel) festhalten 3. Auswahl der Schlüsselbilder aus den Stills des gesamten Videos bzw. aus Sequenzen 4. Bearbeitung der Schlüsselbilder mittels des Tableaus (Deskriptionsschwerpunkte) 5. Themenspezifische und ästhetische Verdichtung, Einordnung in thematische Bildcluster – relationale Einzelbilder (Analyseschwerpunkte) I. Deskriptionsschwerpunkte: Anschaulicher Charakter (Sedlmayr, Hans) Deskription ohne Interpretation (im Sinne von Panofsky: vorikonografisch) Fokus: Einzelbild aus Clips (kurze Sequenzen aus bewegten Bildern, nicht gesamten Clip/Spielfilm) Anwendbar: Film, Video, Animation, Anime kein Text, kein Ton
—————— 108 Bredekamp, Horst (2005), Im Königsbett der Kunstgeschichte. Im Gespräch mit Jens Jessen & Petra Kipphoff, Die Zeit vom 06.04.2005, Nr. 15, S. 47.
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Visuelle Merkmale: Personen (Kleidung/Mode, Körper, Frisur, Accessoires, Verhältnis Körper-Haut, Körper, Körpersilhouette XXL-XXS) Objekte/Gegenstände/Technologien/Materialien Farben Orte/Räume (Innen – Außen), Szenarien, Kulissen Natur-Urbanität Öffnungen, Transit, Innen, Außen (Türen, Fenster) Möblierung (alt – neu) Licht (Kunstlicht – natürliches Licht) Tageszeit Geschwindigkeit 2D, 3D, Wirkung, Tiefe Bild im Bild Relationen der visuellen Elemente Sichtbar – unsichtbar (Überlagerungen, Zudeckung) Abstraktion – Unbestimmtheit linear-malerisch; Fläche – Tiefe; geschlossen – offen; Vielheit – Einheit; Klarheit – Unklarheit Bewegtheit (Wölfflin) Technisch-Mediale Konstruktion: Kamera Einstellungsgrößen zum Beispiel Close-Up, Totale (long shot), extreme long shot (weit); full shot (Kopf bis Fuß); Erzählhaltung der Kamera: beobachtend, statisch, lebendig Perspektiven (Vogel, Frosch, Fischauge) Anschnitt Schnitt Schärfe-Unschärfe Zeitlupe Schwenk Zoom Handkamera Darstellungsebenen/Level Kompositionsschemata Hintergrund – Vordergrund Komposition (Symmetrien/Mittelpunkt) Frontal – zentriert Peripher – exzentrisch Beleuchtung (zum Beispiel Spots) Blenden, Übergänge Effekte Ton Strategie/Prinzip: »Mashup« Quelle: Produktion durch Videokamera, Film, Handy, Webcam
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Post-Produktion (zum Beispiel Gesamtkolorit) Computer Dateiformat Narration: Handlungsstränge, -ebenen Story, Plot, Motive chronologisch – linear oder Time Axis Manipulation (Flashback), zeitlicher Rahmen für Schlüsselbilder (Einordnung in eine Sequenz), Rhythmisierung der Bilder Handlung /Paraphrase: Handelnde Personen, Unterschied: Protagonisten andere Handelnde Personen: Gestik und Mimik, Posen Emotionen Relationen: Person – Person, Person – Objekt, Person – Objekt – Raum= Distanzen, Nähe Anordnung Körpergrößen Blickrelationen Körperrelationen-Berührungen (Umarmung, Kuss, einhaken, schlagen, zerren…) II. Analyseschwerpunkte: Bild-Referenzen/Bild-Vorbild: Film Videokunst Musikvideo Games Animationen Literatur Lyrik Jugendkulturen subkultureller Stil Genre Kunst Bibel Mythen Märchen Sagen Bilderordnungen Bildnachbarschaften (zum Beispiel 911) Bilderserien Medium/Gattung: Response Art-Clip Online-Clip (Unterkategorien Ego-Clips…) Musikvideo Werbe-Clip Filmsequenz Multiperspektivische Kontexterschließung: Thesen für Kontextanalyse, Interpretation Assoziationsketten Symbolik, alltagskulturelle und kunst- wissenschaftliche Entschlüsselung/Einordnung Sinn der Handlungen
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Bezug der Darstellung zu gesellschaftlichen Situationen (zum Beispiel Raum lässt auf WG schließen) Rekonstruktion gesellschaftlicher Zeithorizonte (zum Beispiel Flohmarktmöbel= Retro Stil) Archetypen Stereotypen/Klischees Race Gender Age Inhaltlicher Fokus: Körperbilder Sexualität Raum/Gewalt/Tod Das Böse Gender: Macht- und Dominanzzeichen Über-/Unterordnung Stereotypen (siehe Mühlen-Achs) Race Kategoriale Bewertung: Qualität der Gestaltung Atmosphäre Stil: »dokumentarisch, authentisch« fiktional naturalistisch realistisch= Realitätsstil true; real LowTech/Lomo Fake Hyperrealismus archaisch-klassisch-barock (Wölfflin) modern-modernisiert-normopathisch (Lütz) normative Zentrierung (B. Hamm) – exzentrische Komposition Außergewöhnliche Ästhetik Abweichung Zeitgeist Darstellungskonventionen Medienadäquanz Qualitäten Essenz-Komplexität
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2.3 Eigenschaften der Bild-Netze im Web 2.0 als Ausgangspunkt für eine Jugendbildforschung Die Schlüsselbilder sind im Web 2.0 zusammengesetzte Online/OfflineBilder. Kleinste Einheiten wie frames werden sichtbar, verschwinden und tauchen dann wieder auf und werden in relationale Bild-Nachbarschaften und Cluster eingefasst. Dies führt zu einer permanenten Neusortierung im digitalen Bilduniversum, deshalb ist der neue Bildermodus im Netz auch das image to image (i2i). Wesentlicher Bestandteil der digitalen Jugendkultur ist die körperbetonte, sinnliche Selbstdarstellung auf den »jungen« Plattformen YouTube und Flickr mit ihren game- und musikkulturorientierten Clips und Fotos. Jugendliche Selbstdarstellung schlägt sich im Anschluss an die eigene BildSozialisation in einem Medien-Ego nieder. Mediale Posen sind für die junge Generation selbstverständlich und alltäglich. Ihr Verhalten vor der Kamera ist zu einem großen Teil professionell und antrainiert. YouTube und Flickr zeigen am deutlichsten, wie Bilder als fluider Kommunikationsschmierstoff funktionieren können und dass hierbei Kunst entstehen kann. Diese visuell neuartigen Clipformen dienen einmal dem Ziel, sich anderen mitzuteilen und mit ihnen zu kommunizieren. Es kann aber auch eine negative Kommunikation werden, wenn die Bilder asozial werden, wenn sie als Material für Mobbing und »Cyberbullying« dienen. Zentral ist der Bezug auf vorhergehende Formate, so dass die Basis des strukturell neuen medialen Bildes immer aus »alten Bildern« geformt wird: solche Vorläuferbilder entstammen popkulturellen Medien oder sind peerBilder. Es entstehen Bilderzeugnisse, welche die Erfordernisse der medialen Formate bedienen und innerhalb dieses Rahmens einen individuellen Zugang suchen. Im Internet formieren sich so die bildermachenden Jugendlichen zu rituellen Öffentlichkeitsforen im Schutze von gleichaltrigen Bildgemeinschaften, die ihre Bilder teilen und anerkennen. So formen sich synthetische Bilder-Hybride aus me und I, also neue Formen von Foto und Video, die mit den »nicht-vernetzten« nicht vergleichbar sind. Neue mediale Strukturen erfordern eine Neuentwicklung von medienadäquaten Forschungsmethoden. Die jugendlichen Bild-Formen in Fotografie und Video im Netzwerk sind mit überkommenen Video- und Fotokategorien nicht zu verstehen. Im Folgenden sollen die in einer eigenen wissenschaftlichen, seit 2006 begonnenen Studie herausgearbeiteten medienadäquaten Analyse-
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methoden, Analyseschemata und Typologien, wie zum Beispiel die YouTube-Clipsorten (zum Beispiel Ego-Clip; bei Flickr egoshot) vorgestellt werden. Die Ergebnisse der Grundlagenforschung geben Aufschluss über die allgemeinen medienstrukturellen Eigenschaften von Online-Video und Fotosharing. Zugleich geben sie repräsentative Auskunft über prototypische Grundformen jugendlicher medialer Selbstdarstellung und den zentralen Themen der neuen visuellen peers, die sich insbesondere in sinnlich fundierten Körper- und Geschlechterbildern zeigen. Die Bilder jugendlicher Selbstdarstellung sind extrem sinnlich mit empathischer Wirkung: sie kreisen zentral um Körper, Sexualität, Liebe, Gewalt und Schmerz. Die verschiedenen sozialen Netzwerke haben grundlegende Gemeinsamkeiten, indem sie zum Beispiel alle dem Nutzer die Möglichkeit bieten, ein Profil zu erstellen und mit persönlichen Informationen anzureichern; einige Funktionen bieten jedoch nur bestimmte Anbieter. Vor allem aber findet durch das Design der unterschiedlichen Interfaces eine Unterscheidung der jeweiligen Anbieter statt. Die Arbeitsschritte und Verhaltensweisen sind dabei jedoch immer dieselben: »Profil anlegen, persönliche Informationen veröffentlichen, Kontakt zu Freunden herstellen.«
2.3.1 Das »typische« Profilbild Für die Plattformen MySpace, Facebook und studiVZ lassen sich Gemeinsamkeiten für das wesentliche Bildelement all dieser Plattformen für die Profilbilder der NutzerInnen feststellen. Somit kann hier auf der Grundlage einer repräsentativen Auswertung aller Profilbilder auf den drei Plattformen folgende Typologie vorgestellt werden:109 Die erste Kategorie ist, du warst in…, und enthält Reise- und Urlaubsbilder, die den UserInnen vor allem die Wahrzeichen der Metropolen der Welt zeigen und damit Zeichen der Anwesenheit sind, als »Beweise« für das Unterwegssein an hippen Orten, also Anzeichen für die Generation Easy Jet, die aufgrund der niedrigen Flugpreise überall anzutreffen sind. Maskeraden, Kostüme und Verkleidungen enthält der nächste Typ von Profilfotos. Dann gibt es den Typus von fotografierten Stellvertretern bzw. das Foto-Pseudonym oder Visonym: das zum Beispiel können Stars, Prominente oder Revolutionäre sein. Daran anschließend gibt es gezeichnete computergrafische Avatar-Stellvertreter, Computergame-Figuren und Comic-Figuren. Diese
——————
109 Ein Teil der Ergebnisse entstammt einer Studie von Jelena Jazo 2009.
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beiden Typen vermeiden die fotografische narzisstische Selbstbespiegelung der eigenen Person und wollen eine Haltung und eine Einstellung oder ein Fantum darstellen. Sehr häufig ist auch der Typ des Spiegelbilds, der sogenannte mirror shot, die Personen nehmen sich selbst im Spiegel auf. Diese Kategorie ist zu unterscheiden von technisch bedingten Ästhetiken, wie dem one arm length shot, da beim mirror shot das Motiv, die eigene Person, vor der Aufnahme sichtbar ist und sich selbst arrangieren kann. Hierbei gilt es auch, die sichtbare Kamera und einen eventuell sichtbaren Blitz in die Aufnahme miteinzuberechnen, damit die Person nicht dadurch verdeckt oder überblendet wird, wenn dies nicht gewünscht wird. Die »bessere Hälfte« ist eine Art von Profilbild, bei der sehr künstlerisch experimentell ein Porträt gezeigt wird, das angeschnitten wird. Sehr auffällig ist auch der Typus meine Schuhe, der hier auch zunächst wieder technische Ursprünge hat, aber so zu einer neuen Motivgruppe und Ästhetik führt. Die visuelle Erkundung der eigenen Person durch verschiedene Perspektiven hat zum Ergebnis, dass die Füße bzw. die Schuhe und Socken aus der »Vogelperspektive« entdeckt werden und so diese Kategorie entsteht. Der digitale Polaroid-Modus zeigt einen weiteren Typ, dieser ist vor allem durch den Momentaufnahmen-Charakter und die Referenz an die Sofortsichtbarkeit eines aufgenommenen Bildes der vordigitalen Zeit ausgezeichnet und hat oft eine weiße Umrahmung. Der Typus »Ich bin ein Mädchen« zieht mit genauer Kenntnis stereotyper Weiblichkeitsposen diese durch Übertreibung ins Lächerliche und entzieht sich damit potentiellen Sexualisierungen, mit Posen wie schiefgelegtes Köpfchen, Finger an die Lippen gelegt. Dieser Typus zeugt von einem sehr bewussten, ironischen Umgang fortgeschrittener Userinnen, die mit Weiblichkeitsimages spielen. Dazu passend steht das männliche Pendant: der Typus »Ich bin ein starker Mann, zeigt Männer und ihre Muskeln, steht aber im Dienste der stolzen Pose und spiegelt diese Männlichkeitsbild des starken Mannes unironisch. Hier zeigt sich, dass es noch wenig Erfahrung und noch keine so große Bandbreite in der männlichen Selbstdarstellung gibt. Deshalb kann diese auch noch nicht ironisiert werden (siehe Kapitel 4.2.3). Der Ebene von Tätigkeiten und Handlungen zugeordnet, ist der Typ Freudensprünge, die es in allen Varianten und Formen zu besichtigen gibt. Der Typus »ich rauchend« gehört auch in diesen Komplex. Die herausgestreckte Zunge ist eine neckische Bildform, die dem Gesamtkomplex Ge-
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sicht und Mimik zugeordnet ist. Dann folgt eine große Gruppe der Augen und Blicke, die sich auf Details im Gesicht konzentriert und nicht zwingend reflektiert oder sogar ironisch zum Beispiel mit der weiblich konnotierten Blickform des indirekten Blicks umgeht. Hinzu kommen die sogenannten Schnuten, verschiedenste Verformungen des Mundes vom angedeuteten Kuss bis zur vorgeschobenen Schmolllippe. Dann folgt der nächste Typus »Ich und meine beste Freundin«, wo auf dem kleinen Profilbild noch eine weitere Person zu sehen ist, ganz in der Tradition der Fotoautomatenbilder. Diese Bilder sind meist übervoll, die Personen wirken reingequetscht und ihre Gesichter können aufgrund der kleinen Bildfläche angeschnitten sein, dies folgt aber nicht einer bildgestalterischen Erwägung. Grob kann man die Profilbilder also unterteilen in Körper, Handlungen, Orte, Freunde. Alle Userinnen wollen besonders ausdrucksstark und kreativ wahrgenommen werden. Es fällt aber natürlich auf, dass der soziale »Individualitätszwang« dazu führt, dass es gewisse ästhetische, teilweise uniforme Formeln für die »originelle«, oft humorvolle Selbstdarstellung gibt, hinter deren Standard man auf keinen Fall zurückfallen darf. In der Typologie wird sichtbar, dass der Fundus an möglichen Selbstdarstellungsmustern nicht unendlich ist.
2.3.2 Bildsorte, Bildsuche und Bildprinzip Es gibt für die Typologie der Web 2.0 Bilder in den nächsten Kapiteln Hierarchien mit der näheren Charakterisierung der Bildplattformen zu beachten: Die erste Ebene wird eröffnet mit einer Tabelle für das bewegte Bild und der Analyse von Schlüsselbildern. Diese Analysemethode ist sowohl für Online- und Offline-Bilder anwendbar und geht trotzdem auf die medialen Spezifika der Bilder ein. Sie vereint Methoden aus verschiedensten Quellen insbesondere kunstwissenschaftliche und filmwissenschaftliche, woraus die jeweils viablen Teile zu einer neuen effektiven Methode für mediale Bilder zusammengeführt werden. Auf der zweiten Ebene folgen die visuellen Typologien für die wichtigsten und größten Bildplattformen im Web 2.0: die Prototypen YouTube und Flickr. Auf der dritten Ebene findet sich eine Typologie der Plattformen mit untergeordnetem Bildgebrauch, die trotzdem ein bildhaftes Ganzes vorweisen, wie MySpace und Facebook.
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Die visuell dominierten Plattformen im Web 2.0, hier vor allem YouTube und Flickr als Prototypen, werden untersucht. Hierbei laufen simultan vier verschiedene Suchwege: a. Die Schlagwörtersuche mit einem oder mehreren tags, wobei mehrere Suchworte ein gezielteres, aber stark eingrenzendes Verfahren darstellen. Viele Bilder gehen verloren, weil sie anders bezeichnet sind. Der Suchvorgang findet hierbei in den Bild-Titeln und in den von den Nutzern gewählten tags statt. Suchweg b. ist gekennzeichnet durch die Suche im flow der Recherche, dem Springen von link zu link, zu benachbarten (related als automatisch in Zusammenhang gesetzten) Bildern und den entgegengesetzten Bildern im Wettbewerb oder als response. Diese Recherchemethode ist auch eine assoziative Synonymsuche in inhaltlichen Referenzfeldern, zudem die Suche in den Bildern einer NutzerIn. c. Der dritte Suchweg ist der des »Social Bookmarking«, also dem Folgen der Empfehlungen anderer NutzerInnen, hierbei können es die »top rated«-, »most discussed«- oder die »most responded«-Bilder sein. Hierbei müssen alle Bilder gesichtet werden, da sie thematisch nicht eindeutig geordnet sind. Ein vierter Suchweg d. verläuft über die internen Kategorien der Plattformen. Auch dieser ist mit der kompletten Sichtung der Bilder verbunden, da Begrifflichkeit wie artist oder director nicht eindeutig sind und die NutzerInnen diese selbst wählen. Eine weitere Möglichkeit ist die Suche nach thematischen Gruppen oder Channels, hier ist der tag leitend, kann aber auch für nicht gemeinte Bilder, die thematisch nicht passen, stehen (siehe zum Beispiel Kapitel 4.1.3). Die medialen Bilderzeugnisse des Web 2.0 weisen unterschiedliche Qualitäten auf, die sich auf der medienstrukturellen Ebene nachweisen lassen. Es zeigt sich auch bei den BildproduzentInnen der Unterschied zwischen visuellen Mitläufern und subkulturellen Gestaltern: einmal gibt es das Rohmaterial, unbearbeitete ungeschnittene Foto- und Videosorten (das heißt Videos oder Fotos werden upgeloaded vom Bildapparat ins Netz). Diese sind hier nicht weiter interessant. Die nächste Kategorie sind die Retusche-Bilder (nur scheinbar unbearbeitet, dabei unauffällig »aufgehübscht«), es folgen die artistischen Bilder der Medienmeister (zum Beispiel die HDR Fotografie) und dann künstlerische Fotografie/Videos. Für die ProduzentInnen der medialen Bilder gibt es ein Feld von Bezeichnungen, wobei Begrifflichkeiten wie Amateur, Profi, Medienamateur, Medienaneigner, Laie, Prosumer, Statist, Kenner Hobby… für unsere Untersuchungen eher irrelevant waren. Dagegen bringen die Begrifflichkeiten wie Medienmeister, Fanartist, Bastler/Bricoleur, Self-Educator, Erfinder, Ge-
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nialer Dilettant, Aktivist, Director (Regisseur), Medien-/Videokünstler, Experte die verschiedenen Dimensionen und Motivationen für die kreativen Erzeugnisse zum Ausdruck und helfen bei der Analyse der Bilder. Die folgenden Analysen werden ferner gelenkt durch Überlegungen, welche Elemente, Motive und Genres der bildenden Kunst hier den Referenzkontext bilden und welche Genres aus Alltagsästhetik und Popkultur. Aus dem System Kunst stammen Verfahren und Stile wie Collage, Arte Povera, Art Brut, Readymade, Aktionskunst, Happening Performance, Videokunst, Medienkunst, Netzkunst und Experimentalfilm; aus dem System Popkultur und Konsumkultur: Fanart, Manga, Anime, Comic, Cosplay, Game, Design, Illustration, Strategien wie Reenactment, »Mashup«, Bricolage und Artistik. Für die Bewertung der neuen digitalen Bilder im Web 2.0 kann man künstlerische Kriterien aus der Video- oder Medienkunst im Allgemeinen heranziehen. Für das bewegte Bild gehen die Umsetzung eines Spannungsbogens und die Beurteilung des Umgangs mit dem Schnitt als gestalterisch formendes Element zur Rhythmisierung der Bilder in die Analyse ein. Stellt sich ein synästhetisches Ganzes ein oder sind Bild- und Ton-Ebene bewusst auf Trennung gehalten wie beim Bild-Ton Kontrast (Typ des »brutal«- und der misheard lyrics-Videos) oder einer kontrastiven Neu-Vertonung (zum Beispiel Typ des shred-Videos)? Für die bewegten Online-Videos lassen sich häufig weitere künstlerische Strategien feststellen wie Abstraktion, Verlangsamung oder Beschleunigung der Bilder. Neuartige Formen sind das reenactment von medialen Bildern aus anderen Medienformaten, wie zum Beispiel im Typ des sweded films. Grundlegend ist auch das Festhalten von Prozessen der Materialtransformation wie in experiment-transformVideos. Online-Bilder können Readymades sein, gleichsam können sie durch Kontextverschiebungen neue Bildwelten schaffen. Häufig anzutreffen ist auch eine Verschiebung der Größenverhältnisse im sogenannten Liliput-Syndrom, wie zum Beispiel das Skaten als Miniskater in der eigenen Wohnung. Diese Bilder basieren auf dem Bluebox/Chromokey Effekt durch das Einstanzen ins Bild. Ein weiteres wesentliches ästhetisches Prinzip ist die Reduktion von Komplexität, die sich in verschiedenen Formen wieder findet und vor allem auf den Umgang mit filmischen Rohmaterialien/found footage bezogen ist. Die Filme werden auf ihre Essenz (Filme in 60second, 5 second movies, spoof und auch die sweded films oder auch Femslash) »eingedampft«. Bei allen Zusammenstellungen von bewegten Bildern ist das Prinzip des »Mashups« leitend. Die technische Definition von »Mas-
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hup« für das Web 2.0 ist, dass Daten, Bilder, Töne oder Videos collageartig neu kombiniert werden. Die »Mashups« nutzen offene Programmierschnittstellen (APIs) von Web-Anwendungen (zum Beispiel Google Maps) und man kann Elemente embedden. Auch Flickr hat ein API, mit dem man die eigenen Fotos in andere Anwendungen einbinden kann. Es gilt beim technischen »Mashup«-Verfahren zwischenclient- oder serverseitigem »Mashup« zu unterscheiden. Das bedeutet, dass entweder ein application server die Daten aggregiert und aufbereitet oder dass ein Clientrechner dies alles übernimmt mit JavaScript. Datentechnisch stellt sich beim »Mashup« auf der Programmebene noch die Frage nach der sogenannten Orchestrierung. Hier kann man zwei Verfahren unterscheiden, Komponenten werden mittels flow verbunden, Daten fließen von einer Komponente zur nächsten. Die zweite Möglichkeit der Orchestrierung ist eventbasiert, die Komponenten sind durch ein event-listener-Modell verbunden. Auf der Ebene des visuellen »Contents«, der Bilder, stellt sich das »Mashup« andersartig dar, zunächst gibt es Synonyme und verschiedene Felder, auf denen »Mashup« stattfindet: Bastard Pop ist ein Phänomen aus der DJKultur und bezeichnet das Mischen möglichst unterschiedlicher Musikstile. In der Theorie der Cultural Studies heißt die Strategie Hybridisierung; hybride Kulturen (Homi K. Bhaba) sind die generelle Grundlage der gegenwärtigen Visualität. In den Cultural Studies wird das Verfahren, das vor allem subkulturelle Jugendstile formt, nach Claude Levi-Strauss Bricolage genannt. Die Kunst bezeichnet das »Mashup« als Collage oder De-Collage und in der Musik und Dj-Kultur gibt es den Mix. Cut’nMix und Battle sind spezielle Verfahren des Musik- und Tanzstils im HipHop. »Mashup« lässt sich als mediales Prinzip in verschiedene Sorten und Strategien unterteilen: »Mashupism« ist ein Äquivalent zur virtuosen Artistik, bei dem es darum geht, so viele unpassende Quellen wie möglich miteinander zu verschmelzen (musikalisch Whitney Houston und Kraftwerk). Minimales »Mashup« kombiniert nur zwei Elemente aus Bild- oder Tonquellen und kann auch ein reines Audio-»Mashup« sein. Die NeuMischung von Bild und Ton als Synthese steht der Strategie der Gegenüberstellung der visuellen bits im Kontrast gegenüber, der möglichst große Reibung zwischen den Elementen sichtbar machen soll. Es gibt weiterhin reine found footage »Mashups«, »Mashups« aus der game engine eines Computerspiels und aus Musikvideo oder visuelle »Mashups« zum Beispiel modischer Stil.
3 Soziale Netzwerke: medien- und bildstrukturelle Spezifika
Das Grundprinzip der hier untersuchten verschiedenen Netzwerkportale (YouTube, Flickr, Facebook und MySpace) und ihrer Oberflächen ist meist identisch. Die Jugendlichen haben die Möglichkeit, ihre eigene Seite zu gestalten, Angaben zur Person hinzuzufügen. Bereits beim Kontakt mit anderen Personen im sozialen Netzwerk erscheinen Angebote für neue Freundschaften; das eigene Profil wird mit anderen verlinkt. Das Ganze geschieht meist unbemerkt und wird von vielen nicht als problematisch wahrgenommen. Die Plattformen ermutigen die Nutzer daher, eigene Daten zu veröffentlichen und aktiv auf die Suche nach neuen Bekannten und Freunden zu gehen. Durch Anzeigen wie »du hast keine Freunde«, wie dies auf einigen Plattformen geschieht, wird dem Nutzer latent ein schlechtes Gefühl vermittelt, um ihn zur aktiven Partizipation zu animieren.110 Durch die persönliche Gestaltung des eigenen Profils (auch wenn es der Form nach vielen anderen gleicht), entsteht ein vernetzter Individualismus, ein persönlicher, eigener Raum der Darstellung, der mit vielen anderen verbunden ist.111 Diesen »leeren« Raum, dieses vorgefertigte Standard-Profil müssen die Jugendlichen erst mit ihren persönlichen Daten beleben, individualisieren und Aspekte ihrer Persönlichkeit darstellen.
—————— 110 So z.B. bei Facebook, vgl.: Gapski, Harald (2008), Denn sie wissen nicht, was sie tun? Medienkompetenz im Netz, in: Sokol, Bettina (Hg.), Persönlichkeit im Netz: Sicherheit – Kontrolle –Transparenz, Düsseldorf, S. 102. 111 Ebd., S. 102.
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3.1 YouTube: Universum der Bewegt-Bilder YouTube ist seit dem 15. Dezember 2005 als Portal im Netz, seit 2006 ist Google der Besitzer, auf dem ersten hochgeladenen Video war am 22. Mai 2005 die Katze Pajamas zu sehen. Mittlerweile gibt es viele andere Videohoster: MySpace, GoogleVideo, revvr, MyVideo (ProSieben Sat 1), clipfish (RTL), VideoEgg, Sevenload (Burda), die dem Erfolgsmodell nacheifern und welche im Folgenden gelistet sind.
3.1.1 Video-Hoster Auf Blib werden independent web shows gefördert. Auch als nicht registrierter Benutzer kann man sich Serien, News, Magazine oder Shows zu den verschiedensten Themen ansehen, bei jedoch fast allen angebotenen Funktionen wird man aufgefordert, sich zu registrieren. Blib ist episodenbasiert, das bedeutet, man findet lediglich Videos, die in regelmäßigen Abständen erscheinen oder von denen es mehrere Folgen gibt. Man findet weder einzelne Filme noch kurze Clips. Als registrierter Benutzer kann man zwar eigene Shows hochladen, jedoch lediglich, wenn sie ins Format von Blib passen. Die Video-Plattform Blinkx durchsucht das gesamte Web nach Videos, damit deckt es alle Bereiche und Kategorien von News über Funny Clips, professionelle Videos bis hin zu Serien ab und verlinkt gleichzeitig viele Video-Plattformen wie YouTube und Blib aber auch viele kleinere, unbekannte Videoportale miteinander. Das Besondere ist die von Blinkx patentierte Suchtechnologie, die Web-Inhalte »hört« beziehungsweise »sieht« und so auch auf Videos zugreifen kann, die nicht mit der jeweiligen Schlagwortsuche verarbeitet wurden. Zusätzlich ist es für alle Besucher der Seite möglich, eine sogenannte »Video-Wall« zu erstellen und über einen embedden-Link in das eigene Profil einzubetten. Dabei generiert Blinkx aus einem Suchwort eine Wand, die aus 25 kleinen Vorschau-Videos besteht und einen schnellen Überblick ermöglicht. Direktes Hochladen von Videos ist auf Blinkx nicht möglich. Es können allerdings durch Verlinkungen Videos von anderen Webseiten in Blinkx integriert werden.
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Auf der Startseite von Clipfish bekommt man Empfehlungen, Highlights und News präsentiert. Diese erstrecken sich über alle Themen und Kategorien, der Schwerpunkt der Plattform liegt jedoch besonders auf dem Bereich »Fun Videos«, weshalb man besonders oft auf Videos mit lustigen Pannen oder witzigen Tieren stößt. Clipfish ist einerseits eine Video-Plattform, auf der man auch als nicht registrierter Benutzer Videos suchen und ansehen kann; als registrierter Benutzer präsentiert sich Clipfish andererseits als Community, in der man mit anderen Benutzern über Profile und Nachrichten Kontakt aufnehmen, oder gegenseitig Videos bewerten, kommentieren und empfehlen kann. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, wenn man registriert ist, Playlists zu erstellen und Kanäle zu abonnieren; auch eigene Videos sind hochladbar. Auf Clipshack kann man jederzeit Videos zu einem bestimmten Thema oder zu einer speziellen Kategorie suchen und sich ansehen. Ist man registriert, besteht die Möglichkeit Videos mit Sternen zu bewerten oder in seine Favoritenliste zu übernehmen. Wie auf Clipfish gibt es auch auf Clipshack für registrierte Benutzer allerhand Community-Funktionen, wie Profile und Groups. Zusätzlich kann man eigene Blogs erstellen, zu denen man seine hochgeladenen Videos postet. Google bietet neben der normalen Websuche auch eine Videosuche an. Dabei zeigt Google-Video neben den Videoergebnissen aus dem eigenen Fundus auch Videoergebnisse vieler weiterer Videoportale, wie zum Beispiel Sevenload oder YouTube an und deckt somit alle Bereiche und Kategorien ab. Besonders praktisch und spezifisch für Google sind die erweiterten Suchfunktionen, die zusätzlich zur normalen Stichwortsuche angeboten werden. Hier kann man beispielsweise über die Dauer, die Relevanz oder die Qualität seine Suche weiter filtern oder bestimmen, in welchen Videoportalen Google suchen soll. Ähnlich wie bei vielen anderen Portalen auch, kann man auf Google-Videos die gefundenen Videos mit Sternen bewerten. MySpace ist hauptsächlich eine »Social Community«, bietet aber auch eine große Vielzahl an Videos über ein breites Kategoriespektrum an, die sich jeder ansehen kann. Community-Mitglieder können die Videos bewerten und weiterempfehlen oder Kanäle abonnieren. Außerdem gibt es die Videocharts, in denen die beliebtesten Videos der Woche, des Monats und
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insgesamt angezeigt werden. Dasselbe findet für die beliebtesten Videokanäle statt. User können eigene Videos hochladen oder über die Webcam eine Direktaufnahme starten und sogleich hochladen. Auf My Video findet man Videos zu allen Kategorien und Bereichen, darunter viele Shows und Episoden und gehäuft »Fun-Videos«. Die Suche von Videos wird durch die vielen Ranking-Listen, wie »Top-100«, »TopPlaylisten« oder »meist diskutierte« erleichtert, wenn man nichts Bestimmtes sucht. Auch bei My Video kann man als registrierter Benutzer Kommentare schreiben, bewerten, Playlists erstellen oder Verlinkungen und Weiterleitungen vornehmen. Der Upload von eigenem Material ist ebenfalls nach Registrierung möglich. Das Videoportal Sevenload umfasst alle Bereiche und Kategorien, ist jedoch spezialisiert auf Web-TV, das heißt, es werden bevorzugt Videos von Serien und Shows aus dem Fernsehen gezeigt. Ist man angemeldet, kann man die volle Bandbreite an »Community-Features«, wie Kommentieren, Bewerten und Weiterleiten von Videos und das Eintreten in Gruppen zu bestimmten Videothemen, ausnutzen sowie eigene Videos hochladen. Veoh ist dem Videoportal YouTube relativ ähnlich. Es spezialisiert sich zwar im Themenbereich ein wenig mehr auf Webserien und ausgewählte Filme, im Bereich der Möglichkeiten gibt es jedoch genau wie bei YouTube ein Bewertungs- und ein Kommentiersystem, Quicklists und Playlists, Favoriten und Kanäle, sowie die Möglichkeit, mit anderen Benutzern Nachrichten auszutauschen und seine eigenen Videos hochzuladen. Ein großer Unterschied zu YouTube ist der eigene Player von Veoh. Hat man sich den Veoh Web-Player heruntergeladen, kann man sich Videos direkt im Browser anschauen oder sie auf seine Festplatte herunterladen. Vimeo unterscheidet sich schon allein vom Aufbau der Seite von allen anderen Videoportalen. Es legt seinen Schwerpunkt vor allem auf kreative und künstlerische Videos und Filme, was sich schon am geschmackvollen Design der Webseite zeigt. Ist man auf Vimeo registriert, kann man sein eigenes Profil gestalten und Videos hochladen, auch sehr große Videos in High Quality sind kein Problem. Schlechte aufgenommene Handy-Clips oder verwackelte Home-Videos sieht man hier eher selten. Vielmehr kann
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FLICKERNDE JUGEND – RAUSCHENDE BILDER Schwerpunkte
Funktionen
Blib www.blib.tv
Independent web shows, sitcoms, news magazines, dramas; Episodenbasiert
Serien/Shows anschauen; für fast alle Funktionen Registrierung notwendig
Ja, wenn sie ins Format der Seite passen
Blinkx www.blinkx.com
Alle Bereiche/ Kategorien
Videos im gesamten Web suchen und ansehen; Suche nach Video-Inhalten; Playlists erstellen; »Video-Wall« erstellen
Nicht direkt; Durch Verlinkungen können Videos von anderen Seiten integriert werden
Clipfish www.clipfish.de
Alle Bereiche/ Kategorien. Schwerpunkt auf »Fun Videos«
Videos suchen/ansehen/bewerten/ kommentieren/empfehlen; Community mit Profil/Postfach/Freunden; Playlists erstellen; Kanäle/Videos abonnieren; Empfehlungen/Highlights/News
Ja
Clipshack www.clipshack.com
Alle Bereiche/ Kategorien
Videos suchen/ansehen/bewerten; Videoblogs erstellen; Groups; Community; Location-Verlinkung mit Google-Maps
Ja
Google Video video.google.com
Alle Bereiche/ Kategorien
Videos suchen/ansehen/mit Sternen bewerten; Erweiterte Suchfunktionen; durchsucht automatisch verschiedene Videoportale; Angesagte Videos/ Empfehlungen
Ja
MySpace Video vids.myspace.com
Alle Bereiche/ Kategorien
Videos suchen /ansehen/bewerten/ Freunden weiterempfehlen; Videocharts werden angezeigt;
Ja, zusätzlich direkte Aufnahme über Webcam möglich
My Video www.myvideo.de
Alle Bereiche/ Kategorien; Viele Shows und Episoden sowie auch Filme; Vor allem Lustiges
Videos suchen/ansehen; Top 100 Charts/meist gesehen/meist diskutierte/Favoriten uvm.; Kommentare/Bewertungen/Playlists erstellen möglich; Verlinkung/Weiterleitung
Ja
Sevenload De.sevenload.com
Alle Bereiche/ Kategorien; WebTV
Videos suchen/ansehen/weiterleiten/ einbetten /kommentieren; Verschiedene TV- Kanäle; Community
Ja
Veoh www.veoh.com
Alle Bereiche/ Kategorien; Webserien/ ausgewählte Filme
Videos suchen (integrierte YouTubeSuche)/ansehen/bewerten/ kommentieren/einbetten; Gruppen/Kanäle/Featured Videos
Ja
Vimeo www.vimeo.com
Schwerpunkt auf kreative/ künstlerische Videos und Filme
High Quality Videos; Community mit Profil/Postfach/Kontakten; Videos/ Kanäle abonnieren; Kommentare/Likes/ Dislikes vergeben
Ja, mit Funktion zum Hochladen von Videos in HD
YouTube www.youtube.de
Alle Bereiche/ Kategorien
Videos suchen/ansehen/bewerten/ kommentieren/empfehlen; Community mit Profil/Postfach/Freunden; Playlists Quicklists/Favouritelists erstellen; Kanäle/Videos abonnieren
Ja, User kann Kommentare in die eigenen Videos einfügen, Statistiken ansehen
Tabelle 1: Übersicht Video-Hoster
Upload
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man über die »Discover«-Funktion kunstvolle Musikvideos oder abstrakte Filme finden, die von der Vimeo-Redaktion ausgesucht wurden. So werden auch neue Videos schnell beliebt, die noch nicht viel angesehen wurden. Auch bei Vimeo hat sich die Bewertungsfunktion über »Likes/Dislikes« und Kommentare durchgesetzt. Ebenso kann man andere Benutzer im »Community-Style« als Kontakte hinzufügen oder ihnen Nachrichten senden und sich so ein Netzwerk aufbauen. Das wohl bekannteste aller Videoportale YouTube umfasst alle Bereiche und Kategorien. Mit seinem Community-Charakter ist es als registrierter Benutzer auf YouTube möglich, Videos zu bewerten, weiterzuempfehlen, Sterne und Kommentare zu vergeben, seinen Freunden Nachrichten zu schreiben und deren Kanäle zu abonnieren. Es ist außerdem möglich, sich feste Playlists zu erstellen oder Favoriten zu kennzeichnen, die dann in eine Quicklist eingefügt werden. Der Benutzer kann eigene Videos hochladen und in die gewünschte Kategorie einstellen. Außerdem ist es möglich, eigene Kommentare über eine Zeitleiste in sein Video einzutragen, Untertitel hinzuzufügen oder sich Statistiken zum Video anzusehen.
3.1.2 Clip-Typologie Die Plattform YouTube ist eine typische Erscheinung der zweiten dialogischen Epoche des Internets, des sogenannten Web 2.0.112 Hier beurteilen die Nutzer die Erzeugnisse anderer TeilnehmerInnen über die Kennzeichnung ihrer Favoriten über eine textliche Kommentierung, antworten (response) visuell über einen Videoclip oder erstellen ein Ranking. Es gibt unterschiedliche Suchfunktionen, wovon die wichtigste für die Suche nach Clips diejenige über tags ist. Weitere Auswahlkriterien: »Most Viewed« sind die am häufigsten angeschauten Videos (des Tages, der Woche, des Monats, des Jahres, of all Times), »Top Rated« sind die von den Usern am besten bewerteten Clips, »Most Discussed« sind die Clips mit den meisten Kommentaren, und schließlich sind die »Most Responded«-Clips diejenigen mit den meisten Video Antworten. Die Untersuchung von YouTube macht es notwendig, eine für sozialästhetische Online-Phänomene angemessene Erhebungs-, Sortierungs- und Auswertungsmethode und deren sinnvolle Kombination in einem innova-
—————— 112 Flusser; Vilem (1990), Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen, 3. Auflage.
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tiven Forschungsdesign zu entwerfen.113 Mangels interpretativ neutraler Verfahren ist also eine mimetische114 Form der Forschung anzustreben, in der sich die Beobachter auf das Feld eichen und darüber ein empirisch fundiertes Wissen über die besondere kulturelle Ordnung entwickeln. Als besondere Herausforderung gilt es dabei, Grundmuster in der Darstellung des Untersuchungsgegenstandes mithilfe der in der Studie entwickelten Kategorien von YouTube zu sichern, welche trotz des sekündlichen inhaltlichen Wandels im Kern konstant bleiben, das heißt eine Typologie von eingeführten und gemeinschaftlich weiterentwickelten Darstellungsmustern und -konventionen herauszuarbeiten. Vielversprechend für dieses Ziel erscheint daher der doppelte Zugang: einmal über eine repräsentative Erhebung, die Auskunft über die Häufigkeit des Vorkommens bestimmter Videos gibt und über eine qualitative Erhebung mittels ausgewählter Fallbeispiele. Die mediale Qualität des Bildes als »Shifting Image« wird berücksichtigt, das permanent neue Ordnungen im Universum der Bilder hervorbringt.115 YouTube-Grundlagenforschung existiert so gut wie gar nicht, außer im VideoVortex Reader.116 Die entwickelten Clip-Kategorien (im weiteren Text hervorgehoben markiert) sind fließend, mit vielen Querverbindungen. Clips können meist mehreren Bereichen zugeordnet werden, da sie auf verschiedenen Ebenen liegen. Die übergeordnete neuartige Kategorie ist die des »Response«, der visuellen Antwort auf einen geposteten Clip. »Response« ist die bildliche Variante von synonymen Begriffen aus
—————— 113 Komponenten: genaue medienstrukturelle Charakterisierung der Plattform, ein systematisches Stufenmodell für die Analyse der Bildwelten des Web 2.0, das heißt einzelfallorientierten Produktanalysen der Videos; mimetisch-ethnografische Forschungsmethoden siehe Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan (1997), Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm, in: Hirschauer, Stefan/Amann, Klaus (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt am Main, S. 7–52, S. 20, Online Ethnographie siehe Marotzki, Winfried (2003), Online Ethnographie. Wege und Ergebnisse zur Forschung im Kulturraum Internet (auch in Jahrbuch für Medienpädagogik Leske und Budrich http://www.uni-magdeburg.de/iew/web/Marotzki/03/virt_Communities /Marotzki_2003.pdf Netzwerkanalyse siehe Stegbauer, Christian (2008), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie: Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 114 Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan (1997), Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm, in: Hirschauer, Stefan/Amann, Klaus (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt am Main, S. 7–52, S. 20. 115 Siehe »Schlüsselbilder/Cluster« in Kapitel 2.1. Vgl. auch Richard, Birgit/Zaremba, Jutta (2007), Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, München. 116 Lovink, G./Niederer, S. (2008, Hg.), VideoVortex Reader. Responses to YouTube, Amsterdam.
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anderen Kontexten, wie »Coverversion«, »Remake«, »Parodie«, »Remix«. Das sogenannte »Re-enactment« (ursprünglich eine Bezeichnung für die Nachstellung historischer Ereignisse oder Lebenswelten) ist bei YouTube die Nachstellung von Film, Game-Szenen oder Performances aus der Kunst, etc., ohne den Anspruch einer großen Nähe zum Original. Das hierfür entwickelte Stufenmodell für die Analyse der Bildwelten des Web 2.0 weist bisher im aktuellen Forschungsstand folgende Schritte auf: 1. Bestimmung der relevanten Schlagwörter (tags): Bei den tags gilt es, die willkürliche Benennung durch die NutzerInnen (sowohl im Titel des Clips als auch in den selbst gewählten tags) zu beachten, die sich dem gesamten Feld anpasst, da die Clips von anderen Nutzern auch gefunden werden sollen. 2. Parallele Erhebung von Material über drei Suchpfade: a. Über die tags, Schlagwörtersuche mit einem oder mehreren tags (mehrere sind gezielter, aber stark eingrenzend, Clips gehen verloren). Der Suchvorgang findet in Titeln der Clips und in den von den Nutzern gewählten tags statt. b. Durch Zufallsstichproben und assoziative Auswahl im Sinne einer Mindmap, zum Beispiel Begriffen, die im Assoziationsfeld des jeweiligen inhaltlichen Fokus liegen. Die Suche im flow der YouTube-Recherche verläuft als assoziative Synonymsuche innerhalb inhaltlicher Referenzfelder in den Varianten gleicher Nutzer oder den related-Videos (ein automatisch generierter Zusammenhang). c. Über das social bookmarking, also über die Suche in den von anderen Nutzern empfohlenen und diskutierten Videos. Hier müssen alle Videos auf ihren Inhalt hin gesichtet werden. Es gibt auch die Möglichkeit einer Suche über thematische Gruppen: innerhalb dieser kann nicht mit dem tag gesucht werden. 3. Untersuchung der Begriffe auf Trennschärfe anhand des vorgefundenen Bildmaterials. Die Suche über Schlagworte kann auch in deren Verdichtung zu konkreten Fallanalysen führen. 4. Auswahl von repräsentativen Clips nach der Häufigkeit des Vorkommens und thematische Gruppenbildung (Cluster), wobei die Auswahl
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von Clips und die Fallanalysen aus einer repräsentativen Gruppe oder nach Sichtung des Contents erfolgen können. 5. Auswahl und Erstellung von Schlüsselbildern für die Analyse. 6. Erstellung einer Bild- bzw. Clip-Typologie bzw. Suche nach Abweichungen von der ästhetischen »Norm«, zum Beispiel durch eine besondere künstlerische Qualität, unter Berücksichtigung der spezifischen medialen Darstellung und Struktur. 7. Erstellung von relationalen Bilderclustern nach der Analyse des anschaulichen Charakters der Bilder. Die Aussagen über die Grundmuster in der Darstellung des zu Untersuchenden werden also zunächst nach der Häufigkeit ihres Vorkommens und dann in einem nächsten Schritt mittels Produktionsanalysen der Clips an Einzelfällen getroffen. Die größte inhaltliche Kategorie stellen die Ego-Clips dar: Die überwiegende Anzahl der Clips bei YouTube ist hier einzuordnen, wobei diese Clipsorte der exzessiven narzisstischen Selbstdarstellung dient. In dieser Kategorie ist eine große Bandbreite von schüchternen Talks bis hin zur visuellen Prostitution zu beobachten. Aufgrund der Vielfältigkeit der Selbstdarstellungen finden sich Unterkategorien wie Dance, Karaoke, Sports und Vlog (Videoweblog= Videotagebuch). Diese »Mainstream« Formen der Selbstdarstellung haben ihren Ursprung in medialen TV Formaten wie Casting-Shows mit Ausdrucksformen wie Singen und Tanzen. Eine Sonderform ist animal ego: Tiere führen als Extension des medialen »Selbst« Kunststückchen vor. Bei sports sind vor allem auch Moves und Performances (Fixies, Bike-Trial, Ninja-Moves) im öffentlichen Raum hervorzuheben und der Typus des freakout, des unkontrollierten oder inszenierten Wutausbruchs. Bei dance geht es um alles, was mit Tanz und rhythmischer Bewegung zu tun hat; das reicht von homedance, also dem Tanzen vor der Webcam in den eigenen vier Wänden, was auch indoor also in geschlossenen Innenräumen zuhause oder auch auf einer Bühne (Evolution of dance) stattfindet, bis hin zu Tänzen im öffentlichen Raum, outdoor im Garten (zum Beispiel Jumpstyle Videos) oder in der Natur. Bei den institutional dances gibt es mehrere Dimensionen, einmal das Tanzen in Institutionen und Firmen, zum Beispiel in Banken als politischer Kommentar oder der Tanz als Repräsentation von Institutionen, wie zum Beispiel AISECs Tänze zu TunakTunak.
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Tabelle 2 stellt die so genannten YouTube-Kategorien vor, nach denen Clips sortiert, archiviert und analysiert werden können. Ego-Clips =selfdesign konforme Selbstwerbung – bastard ego
Mediaremix found footage inmedium
Karaoke
film: real life – 5second movies environment – …in 60secs sweded filmsslash
dance: home outdoor indoor institutional
tv
sports
game: ingame human vlog games- visual teamspeakme+ my friends: gamesounds body touch, hug, gameobjekte kiss, one arm length shot animal ego freakout
Doku/Event-Clip Art-Clip medieneigene Aufnahmen adäquate KunstformenZufall/surprise SubversionWiderständigkeit Jugend Kunst online
Zuschauerscanning me watching
Musik-Kultur
YouTubefavoritesmedley
Artistik
shooterartvideoart
cover hommage
stickmen
Ausstellung/ perform-Doku
freakshow
musikalische Bilder (u.a. Musikvideo)
confession/ Werbung Beichte/Anklage skillzclips
arty/ art-response
Drama/Pathos
fan/hater
battleclip
experiment/ transform
funclips
fanart
haterdissflamewar
hacks
mockumentary fake
brutal
freakout
lowtech/mininal software
spoof
tutorials
pranks
Mashup bastard misheard lyrics shred (overdubclip)
08/2010
Tabelle 2: YouTube-Kategorien Bei Me and my friends wird die Selbstdarstellung eingebunden in den Freundeskreis und zeigt vor allem die Relation zu den FreundInnen über die Haltungen der Körper zueinander. Body touch ist hierbei eine Berührung
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oder das Aneinanderlehnen der Körper, manchmal den technischen Möglichkeiten des Bildausschnittes geschuldet, manchmal beabsichtigte liebevolle umfassende Berührung. Dazu gehören auch die Umarmung und das Umfangen mit den Armen im sogenannten hug. Mit kiss sind alle Formen von Küssen gemeint, ob dies über die flache Hand dahingehauchte sind oder Küsse auf den Mund bis hin zu endlosen french kisses (siehe zum Beispiel bei den Emokisses). Die one arm length cam ist die digitale Form des Blindfotos mit Selbstauslöser, gibt hierbei das Arrangement vor, da sich die Freunde aneinander kuscheln und formieren müssen, um alle Platz auf der Aufnahme zu finden. Confession als Beichte und/oder Anklage ist ein Clip-Typus (Beispiel Tom Cruise Scientology Entgleisungen), der ein eigenes Genre von Bekenntnissen für eine Tat enthält und auch indem Dinge zugegeben werden, die gleichzeitig zur Anklage gegen Andere werden. Eine ebenfalls sehr große Gruppe stellen die Mediaremix-Clips dar, diese bewegen sich innerhalb des Mediums (inmedium) oder tragen die Inhalte in einen anderen Kontext zum Beispiel aus TV-Shows in den Alltag durch re-enactment. Hier wird mit found footage gearbeitet, die aus den Bereichen Games, Cartoons, Werbung, TV und Film stammt: Hier gilt es als besondere Form die 5secondmoviesund das drama zu beachten, in denen ein Spielfilm oder ein Game in 5 Sekunden auf eine sehr persönliche Essenz eingedampft wird, alternativ, die längere Form »SAW in 60 sec«. Drama Pathos ist eine künstlerische Kategorie, die sich bei den MediaremixVideo häufig findet und die vor allem die Reduktion, den Minimalismus, das Streben nach der Essenz eines audiovisuellen Erzeugnisses in den Vordergrund stellt (Prärie Dog Drama). Sweded Films: Der Jack Black Film be kind rewind ist Anregung und Anlass für eine neue Form des Mediaremix, das re-enactment von Filmklassikern bzw. von Filmen, von denen die Userinnen Fans sind. Hier werden insbesondere die Lieblingsszenen der Fans nachgestellt, die auch zentrale Szenen der Filme sein können aber nicht müssen. Slash insbesondere FemSlash-Clips sind ein ClipTypus, die sowohl bei Mediaremix als auch bei Fanart einzuordnen sind. Es werden Szenen herausgeschnitten und hervorgehoben, die den Darstellungen eine homoerotische Komponente geben, so zum Beispiel bei Buffy the Vampire Slayer. Die Fans schneiden Szenen zum Beispiel so zusammen, dass zwei gleichgeschlechtliche DarstellerInnen plötzlich in Blickkontakt treten können.
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Einen sehr großen Anteil an den Mediaremix-Clips besitzt der Typ »musikalische Bilder«, bestehend unter anderem aus Elementen des analogen Mediums Musikvideo. Sehr wichtig ist hier auch die Gruppe der games: Es gilt viele Unterkategorien zu unterscheiden, zum Beispiel ingame: das sind innerhalb der Medienstrukturen des Games vorgenommene Veränderungen. Dagegen sind human games eine Kategorie, die als Re-enactment (wie bei der Gruppe Mega64) die Strukturen von Games in die materielle Realität überträgt, also outgame zuzuordnen sind. Der visualisierte teamspeak in Multiplayer Umgebungen und die Verwendung von gamesound sind weitere Typen. Bei den game-Objekten handelt es sich um Clips, die sich mit Details auch Games mit der Ausstattung wie zum Beispiel Waffen beschäftigen, das geht bis zu künstlerischen Clips wie zum Beispiel denen von Aram Bartoll, die dann die Gameobjekte in den öffentlichen Raum als materielles Objekt transferieren.117 Als Musikkultur-Clips gelten alle Clips, die von der Musik als Kern ausgehen und vor allem die Musik in den Vordergrund stellen. Hierbei sind »Mashup«/Bastard-Strategien die beinahe allen YouTube-Clips zugrunde liegende Form der Neukombination von Bild und Ton. Eine Sonderform ist dies im Bereich der Musik, wo dies ein eigenes Genre darstellt, zum Beispiel bei Soulwax/2 Many Djs; es wird dort Bastard Pop genannt. Shred (overdub clip) ist ein spezielles medienadäquates Genre, das sich so nur bei YouTube entwickeln konnte. Es setzt eine gewisse musikalische Expertise voraus, da hier die Soundspur von Gitarrenvirtuosen wie zum Beispiel Carlos Santana ersetzt wird durch das absichtlich falsche Gitarrespiel des Clipmachers (Beispiel Judas Priest). Der Typus »brutal« bezeichnet ebenfalls eine Strategie der Kontrastierung von Bild und Ton, hier werden kindliche, harmlos freundliche Bilder der Sesamstrasse (Ernie and Bert go brutal) oder der Muppets oder einer freundlichen dänischen Band (Tommy Seebach »Apache« als Ursprungs-Clip: Hinweis von Matthias Fritsch) mit extrem schnellen und harten Death Metal Tracks wie zum Beispiel von Cannibal Corpse kombiniert, sodass ein maximaler Kontrast und eine Reibung von Bild- und Tonebene entsteht. Fan-Clips, eine Sonderform von Fanart, zeigen die Begeisterung der User für einen bestimmten Star oder eine Band; sie verbreiten Lobeshymnen und huldigen ihren Angebeteten (zum Beispiel Britney Spears). Eng daran angelehnt sind hater-Clips von denjenigen, die eine Band hassen (zum
—————— 117 Alle hier erwähnten Clips stammen aus der Mediensammlung für Online-Videos des Jugendkulturarchivs Frankfurt.
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Beispiel Amy Winehouse, Tokio Hotel oder Emos, unter anderem aufgrund ihrer Abweichungen von Genderstereotypen) und dies mit allen visuellen Mitteln kundtun. Diss/flamewar-Clips sind response-Clips und gehören zu den battle-Clips, sie dienen der massiven Beleidigung von Anderen zum Beispiel aufgrund ihres geposteten Videos (hier finden sich zum Beispiel viele homophob motivierte Clips). Freakout ist ein Typus von battleclip, der exzessiv vor allem im Bereich des Gaming zu finden ist, vom generellen Umgang mit dem PC ausgeht: Technische Unzulänglichkeiten des Geräts haben animistische Beschwörungen und Zerstörungen zur Folge; da werden Rechner und Schnittstellen zertrümmert. Personen kommen meist nicht zu Schaden. Der Doku-Clip/Event-Clip zeigt Ereignisse und Unfälle, wie zum Beispiel die Hinrichtung Saddam Husseins. Sie können auch zu den Zufalls-Clips gehören. Zu den Doku-clip/Event-Clips zählen auch Veranstaltungen, persönliche Highlights wie Konzertbesuche oder Festivals. Hierbei steht die Aufzeichnung und Verbreitung des universell wichtigen und/oder des persönlichen Ereignisses aus der Perspektive des Augenzeugen im Vordergrund. Real life environment bezeichnet im Gegensatz zu virtuellen Welten alle Räume einer materiell greifbaren Realität. Freakshow ist ein Genre, in dem meist von anderen NutzerInnen eingestellte Personen mit besonderen körperlichen Defiziten und extremen Deformationen oder mit bestimmten als abseitig geltenden Eigenschaften, Gesten und Mimiken gezeigt werden. Es sind damit auch hater- und diss/flamewar-Clips, da sie sich bösartig über andere lustig machen und andere aufgrund äußerlicher Merkmale diffamieren. Aber auch selbst eingestellte Videos sind hier zu finden, wie zum Beispiel das sogenannte Starwars-KidVideo und seine massenhaften responses, die dann zur unfreiwilligen Freakshow werden. Hier hängt der Freakcharakter von der Perspektive und Einstellung ab. Zum Doku-/Event-Clip treten Unterkategorien wie »Zuschauer-Scanning« bzw. me-watching, eine Aufnahme des eigenen Verhaltens als ZuschauerIn. Diese Kategorie gehört auch zu den Ego-Clips, insbesondere, wenn dramatische Reaktionen auf das Geschehen auf dem Bildschirm inszeniert werden. Die Fun-Clips sind eine quer liegende Kategorie mit Missgeschicken anderer. Eine Sonderform ist der sogenannte mockumentary-Clip, der mit seriösem Anspruch inszeniert und zunächst glaubwürdig erscheinen will, dann aber deutlich macht, dass es sich um eine Parodie handelt. Mockumentary/fake bezeichnet also einen Cliptypus, der mit dem Stil einer ernst gemeinten Dokumentation operiert, Ästhetik und Tonfall werden
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übernommen, die zu übermittelnden Inhalte verhalten sich allerdings konträr dazu. Fake bezeichnet ebenfalls das Verfahren einer identischen Form zu einem Ursprungsformat und -ästhetik (siehe Fake-Websites der Netzkunst der 90er Jahre zum Beispiel von rtmark, die WTO oder G.W. BushSeiten verdoppelt und den Inhalt verändert trotz visueller Kontinuität). Spoof ist eine Form von Parodie, und pranks zeigt Scherze und Streiche wie bei »Verstehen Sie Spaß«. Die Anleitungs- und Lehrvideos (zum Beispiel die Reihe… »in plain english«) können tutorial-Clips sein, die mit der Sprödigkeit des Schulfernsehens inszeniert werden, aufgrund der übertriebenen Ernsthaftigkeit aber eine lustige Wirkung zeigen. Tutorials sind eine umfassende Kategorie, sie haben auch die ernstgemeinte Mission, andere NutzerInnen an der eigenen Expertise teilhaben zu lassen und vermitteln die verschiedensten Fähigkeiten vom Kochen bis zum Herstellen von Manga und Animés oder dem richtigen Schminken als Angehöriger der Emokultur. Eine andere Sparte stellt sich im experiment/transform-Clip dar, in dieser zeigen die Nutzer ihren ungewöhnlichen und experimentellen Umgang mit Alltagsgegenständen. Sie bauen Dinge wie Laser-Pointer zu Waffen um, bringen Mentos und Cola Light zur Explosion, führen ihre Hacks am iPhone (Jailbreaking) vor oder ihre Skills beim Lockpicking (Schloss aufbrechen) – letztgenannte Art von Clip wird von den Nutzern selbst auch als MacGyver-Clip bezeichnet. Hier gibt es die ganze Bandbreite von harmloser Manipulation bis hin zu illegalen Operationen. Hacks ist die Vorführung von meist illegalen Aktionen, speziell um sich Soft- oder Hardware anzueignen. Die sogenannten lowtech/minimalsoftware-Clips als Unterkategorie zeigen Fähigkeiten im Umgang mit einfachen Mal- oder Kompositionsprogrammen (zum Beispiel MacPaint; SuperMarioMusic oder Microsoft Songsmith), die zweckentfremdet werden. Die skillz-Clips ermöglichen es den NutzerInnen, individuelle Fähigkeiten zu demonstrieren, für die es normalerweise kein Publikum und auch keine Wettbewerbe gibt. Sie headbangen, sind human beatboxes, schnipsen virtuos mit den Fingern, jedes persönliche Talent kann hier dargestellt werden. Die skillz-Clips sind eine Form von Ego-Clip«, da hier die Selbstdarstellung im Vordergrund steht. Sie benötigen aber eine eigene Kategorie, da sie außergewöhnliche Begabungen und Talente zeigen, die nicht als kunstvoll gelten, damit auch kein »art« oder arty-Clips sein können.
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»Schließlich gibt es, drittens, all die Künste, in denen jemand etwas vorführt, weil er es so gut kann: Virtuosität, Akrobatik, Selbstbeherrschung.«118
Dieses ist am besten in der Kategorie arty-Clip beschrieben und kennzeichnet Clips, die artistischen Charakter haben, damit also besondere kunsthandwerkliche Fähigkeiten zeigen; sie enthält die Kategorie artresponse, bei der User Kunstwerke von etablierten Künstlern, wie zum Beispiel Erwin Wurm, zum Vorbild nehmen (es ist auch re-enactment). Zu der Kategorie arty/artresponse gehören abgefilmte Performances (damit auch Mediaremix zuzuordnen sind) sowie Fanart oder das Filmen einer Ausstellung oder die Dokumentation von KünstlerInnen und Werken als found footage. Artistik kennzeichnet Leistungen von Virtuosität, die über die Beherrschung des Handwerks hinausgehen, zum Beispiel das Umsetzen von Gestaltungen in einem dafür ungeeigneten Material (das Flechtkörbchen aus Porzellan oder Plastik) oder in einem Medium in einer manchmal übertriebenen Könnerschaft, die auch Zirkusvorführungen eigen ist, da es immer noch um eine Drehung mehr geht, die sich nicht mit sportlichem Ehrgeiz erklären lässt und einem gestalterischen Eklektizismus und verspielten Ornament huldigen kann. »Fanart« bezeichnet die Clips, die in der Absicht entstehen, das eigene Fantum darzustellen, zunächst ohne jegliche bewusste künstlerische Intention. Hierunter ist die gesamte Breite des Fantums zu finden, vom Fußballfanvideo seines Vereins (Rotweiß Essen Protestvideos gegen Insolvenz des Vereins) bis hin zu Manga Anime oder Games Fanvideos, die sich zum Beispiel eingehender mit ihrer Lieblingsfigur beschäftigen. »Fanart« ist ein feststehender Begriff; im Web 2.0 gibt es unzählige Portale für verschiedenste ästhetische Produkte (zum Beispiel deviant art). »Fanart« kann aber auch zu »JugendKunstOnline« werden: Nicht selten sind die zunächst covernden Fanprodukte dann an einer völlig neuen Ästhetik beteiligt, die sich aus dem Medium heraus entwickelt. So können die Videoarbeiten von Serpento zu Battlefield 2 ein neues Kunstgenre der Shooterart etablieren. Diese Shooterart lehnt sich direkt an die Strategien und ästhetischen Praktiken der Videokunst an. Es lassen sich hier deutliche Parallelen zu Schnitttechnik und Rhythmisierung von Claus Blumes bahnbrechenden Videos Kniespiel oder auch Arbeiten von Volker Schreiner feststellen. Diese erfolgen allerdings nicht als bewusste »Hommage« bzw. »Cover«, das heißt also als Verehrung und Tribut des Künstlers, sondern ergeben sich aus den
—————— 118 Diedrichsen, Diedrich (2007), Eigenblutdoping, Köln, S. 260.
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medialen Strukturen, die insbesondere die rhythmischen Schnittfolgen fördern. Hier ist vor allem die Nähe zum experimentellen Video und auch zu Verfahren wie Stoptrick-Animation auffällig, die auch deshalb sehr verbreitet ist, da manche Videobearbeitungssoftware dies als Feature beinhaltet. Des Weiteren ist diese Technik sehr beliebt, da sie die Zusammenstellung von unbewegten Einzelbildern zu einem bewegten Ganzen möglich macht, so wie bei dem viel beachteten YouTube-Klassiker »Noah Kalina takes a picture of himself everyday«. Stickmen bezeichnet einen häufig vorkommenden Darstellungstypus bei YouTube. Das gemeine Strichmännchen wird benutzt, um Ungeübtheit in der zeichnerischen Menschendarstellung zu umgehen. Die NutzerInnen lassen sich davon nicht mehr abschrecken und entwickeln diese prägnante kindliche Form weiter, um vor allem kleine Narrationen zu visualisieren. Wichtiger Bestandteil sind die Stickmen zum Beispiel bei den Misheard Lyrics, um Handlungen von Personen und Aktivitäten darzustellen. Zu guter Letzt werden die beispielhaft benannten Formen als art-Clip diejenigen Clips bezeichnet, die eine neue medienadäquate Darstellungsund Kunstform auf der Plattform etablieren, die dann auch im Kontext Kunst auftauchen könnten. Eine wichtige Unterkategorie hiervon wird durch die »Online-Jugend-Kunst« gebildet, die spezielle neue Formen jugendlicher Medienkunst zeigt, die beispielsweise aus der Fanart hervorgehen können.
3.2 Flickr: visueller Hypertext Die permanent erzeugten Bilder sind Kommunikationsanlass der OnlinePlattform, sie dienen als »Kommunikationsschmierstoff«. Hinter der relativ einfach gehaltenen Oberfläche, die nur auf den ersten Blick dem Prinzip von simplicity119 entspricht, verbergen sich viele, komplex strukturierte Sortierungen der erzeugten Daten. Wesentlich ist die Sortierung der visuellen Informationen: Sie werden nach den häufigsten Schlagworten oder chronologisch, zum Beispiel Bilder des Tages, des Monats (in Kalenderform) oder auch nach AutorInnen sortiert. Flickr ist ein soziales Netzwerk und
—————— 119 Maeda, John (2006), The Laws of Simplicity. Simplicity: Design, Technology, Business, Life, Cambridge.
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ein visuell motivierter sozialer Hypertext.120 Dies verhält sich teilweise analog bei weiteren Plattformen des Web2.0, bei denen die Möglichkeit des Uploads von Bildern im Vordergrund steht; diese sollen im Folgenden in verknappter Form, ergänzt durch eine abschließende Tabelle, beschrieben werden.
3.2.1 Photo-Sharing-Plattformen Das Fotoportal 23 zeigt Fotos jeglicher Kategorien, die man auch als nicht registrierter Benutzer kommentieren kann. Ist man registriert, kann man eigene Fotos hochladen, wenn gewünscht auch mehrere Fotos gleichzeitig. Man kann Alben anlegen, seinen Fotos Beschreibungen hinzufügen oder sogar im Blog-Stil kleine Fotogeschichten mit seinen Bildern erzählen. Es gibt Gruppen, denen man beitreten kann und Designvorschläge für das eigene Profil, die man übernehmen kann. Optional kann man auch sein eigenes Profildesign erstellen. Dabei sind die Fotouploads für nicht zahlende Benutzer jedoch beschränkt. In den ersten zwei Wochen nach Registrierung kann man noch bis zu 300 Fotos auf den Server laden, danach jedoch nur noch 30 Fotos pro Monat. Möchte man ohne Beschränkungen hochladen, muss man 20 Euro pro Jahr zahlen. DeviantArt ist eine Plattform für Künstler. Der Bereich, in dem sich DeviantArt bewegt, erstreckt sich von der Fotografie von traditioneller Kunst, wie etwa Skulpturen oder auch Malerei, über digitale Kunst, wie angewandte Fotografie, sowie über Filme und Animes. Ist man angemeldeter Benutzer, kann man sein eigenes Profil erstellen und Fotos seiner Arbeiten in eine Galerie hochladen. Andere Benutzer können die Werke dann auch käuflich erwerben. Der DeviantArt Shop bietet zusätzlich noch eine große Anzahl an T-Shirts und anderen bedruckbaren Artikeln zum Kauf an. Weiterhin ist es über die »collections toolbar« möglich, Kunstwerke anderer Benutzer zu sammeln und in Kategorien abzulegen. Über ein Tagebuch kann man seine Freunde und »Follower« über Neuigkeiten informieren. Auch über persönliche Nachrichten, den Chat, Gruppen oder über Kriti-
—————— 120 Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Ruhl, Alexander (2008), Me, Myself, I: Schönheit der Gewöhnlichen. Eine Studie zu den fluiden ikonischen Kommunikationswelten bei flickr. com, in: Kaspar Maase (Hg.), Die Schönheiten des Populären. Zur Ästhetik der Massenkünste, Frankfurt, S. 114–132.
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ken zu bestimmten Kunstwerken, kann man sich in der Community verständigen. Die Basis-Mitgliedschaft bei DeviantArt ist kostenlos. Eine bezahlte Mitgliedschaft erweitert das kostenlose Konto um diverse, zusätzliche Funktionen, wie die Shoutbox, größere Vorschaubilder oder die aktive Teilnahme im Forum. Die Fotocommunity hebt sich mit ihrem Konzept entscheidend von anderen Fotoportalen ab. So scheint die gesamte Webseite daran interessiert, einen professionellen Eindruck zu hinterlassen, hier sind aber meist Gebrauchsfotografen (Hochzeiten Partybilder etc.) und ihnen nacheifernde Hobbyfotografen anzutreffen. Über einen Shop mit breitem Angebot kann man Fotos auf Fotopapier, Leinwand, Acrylglas und mehr aus einem großen Sortiment bestellen. Die Modeldatenbank ist ein weiteres Feature, das für die Fotocommunity bezeichnend ist. Jeder User kann sich eine ModelSetcard anlegen. Das bedeutet, der User kann Fotos von sich hochladen und sich selbst für andere User inszenieren, die sich dann mit dem »Model« in Verbindung setzen können um eventuell ein Shooting zu verabreden. Generell ist die Fotocommunity sehr kommunikationsfokussiert. Das Forum mit seinen vielen Themen rund um die Fotografie hilft beim Informieren und Austauschen der Benutzer und Usertreffen, sowie Workshops werden in vielen Städten organisiert. Für registrierte, nicht-zahlende Benutzer besteht ein Upload-Limit von 50 Fotos, wobei man anfangs auch nicht mehr als 10 Fotos hochladen kann. Ein neuer »Upload-Slot« wird erst nach jeweils 7 Tagen wieder frei. Demnach ist auch das Uploadformular einfach gehalten, mit nur jeweils einem möglichen Einzelupload. Die Mitgliedschaft für zahlende User wird nochmals unterteilt in »Basic«, »Pro« und »World«, wobei mit steigendem Monatsbeitrag das Uploadlimit insgesamt, wie auch der Upload pro Woche steigt. Auf Ipernity soll es dem User ermöglicht werden, sich nicht nur auf Videos oder Fotos zu beschränken, sondern die Möglichkeit zu haben, alles auf einer einzigen Plattform zu vereinen. Man kann also sowohl Video-, als auch Foto- und Tondateien hochladen und zusätzlich Blogs verfassen. Nebenbei gibt es natürlich alle üblichen Funktionen eines Fotoportals, wie Alben, Gästebuch, Gruppen, Kommentierfunktion und tags. Außerdem kann man über E-Mail oder Handy Fotos hochladen und alle hochgeladenen Fotografien entwickeln lassen. Zusätzlich gibt es die WeltkartenFunktion, über die man Fotos von bestimmten Orten ansehen kann. Die
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Anmeldung bei Ipernity ist praktisch, wenn man bereits ein Google-, Facebook- oder Yahoo-Konto besitzt, denn dann kann man dieses Konto benutzen, um sich auch bei Ipernity einzuloggen. So ist man dann registriert und kann bis zu 200MB Daten im Monat hochladen oder für 1,99 Euro im Monat den Account zu einem Pro-Account umwandeln, bei dem es unbegrenzten Platz gibt und zusätzlich die Möglichkeit andere Fotos der Plattform in Originalgröße herunterzuladen. Die Webseite des Fotoportals Locr wirbt mit dem Motto »Geotag, Print & Share – Zeige deine Welt in Fotos« und spezialisiert sich damit auf Reisefotografie bzw. Fotografien mit Ortsbezug. Die Visualisierung von Orten, an denen Fotos aufgenommen wurden, steht also sehr stark im Vordergrund. Dafür stehen dem User Landkarten und Satellitenbilder von Google Maps, Microsoft Virtual Earth oder Yahoo Maps zur Verfügung, sowie die Möglichkeit Ortsbeschreibungen zu verfassen. Hat man ein Mobilfunkgerät mit GPS oder eine anderes GPS-fähiges Gerät kann man damit seine Bilder direkt geotaggen und hochladen. Eine schöne Möglichkeit, seine Fotos auch nicht digital zu Hause zu haben bietet Locr mit dem Geo-Fotobuch. Dieses kann man sich aus seinen online hochgeladenen Fotos und den zugehörigen Karten zusammenstellen, sich auf Wunsch auf richtigem Fotopapier drucken lassen und mit Soft- oder Hardcover und in vielen verschiedenen Formaten liefern lassen. In der Locr-Community kann man seine Fotos mit anderen Usern teilen, Fotos bewerten und kommentieren oder sich in Gruppen zusammenfinden. Mit dem kostenlosen Account von Locr können monatlich 100 MB hochgeladen und 5 Fotoalben erstellt werden. Mit der Erweiterung für 2 Euro im Monat kann man 2 GB hochladen, und die Anzahl an Fotoalben ist unbegrenzt. Außerdem kann man Fotos von der Seite in ihrer Originalgröße herunterladen. Photobucket ist ideal für die Speicherung von großen Mengen von Fotos, Videos oder Grafiken. Mit seinen kostenlosen 500 MB Speicher und 10GB Bandbreite, die man für 1,67 Dollar im Monat auf ein unbegrenztes Limit erweitern kann, bietet Photobucket reichlich Platz. Seine Fotos kann man über die Seite direkt hochladen, wobei man unbegrenzt viele Fotos gleichzeitig hochladen kann, oder über E-Mail, Handy oder FTP. Hochgeladene Fotos kann man mit einer Editier-Funktion bearbeiten, zum Beispiel drehen, ausschneiden, verkleinern oder vergrößern. Das Organisieren der Fotos ist über kleine Vorschaubilder der Fotos möglich, die man dann in
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erstellte Alben ziehen kann. Die Alben wiederum kann man noch mit vorgefertigten Designs »verschönern«. Außerdem kann man sogenannte Gruppenalben erstellen, die es mehreren Usern gleichzeitig ermöglichen, Fotos in dasselbe Album einzustellen. Aus seinen Alben kann man zusätzlich Fotos auswählen, um aus diesen eine Slideshow zu erstellen, die man dann in seine Homepage oder in seinen Blog einbinden kann. Im Bereich »Photo Products« kann man seine Fotos drucken lassen. Zusätzlich zu normalen Foto-Formaten kann man noch diverse andere Druckgegenstände, wie zum Beispiel T-Shirts, Grußkarten, Kalender oder Sticker auswählen und kaufen. Es gibt außerdem die Funktion, ein »scrapbook« zu erstellen. Dies ist ein Stickeralbum, das man sich frei aus seinen Fotos und anderen Motiven zusammenstellen kann. Das Fotoportal Picasa von Google bietet ein eigenes Programm zum Download an, mit dem man Fotos von seiner Festplatte ordnen, bearbeiten und schließlich in sein Picasa-Webalbum hochladen kann. Möchte man sich das Picasa-eigene Programm nicht installieren, kann man, wenn man bei Picasa angemeldet ist, auch direkt im Browser bis zu 5 Fotos gleichzeitig hochladen oder die entsprechenden Bilder über E-Mail einem Album hinzufügen. Dafür hat man 1024 MB Speicherplatz zur Verfügung, den man für wenig Geld auch einfach erweitern kann. Besonders innovativ ist das Picasa Namens-tagging. Hier verwendet Google Teilfeatures aus dem Programm image swirl für die Gesichtserkennung. Damit kann man auf seinen Fotos bestimmten Gesichtern Namen zuweisen. Hat man dies einmal getan, kann man seine gesamten restlichen Fotos und Alben nach diesen Namen durchsuchen, und Picasa findet die betreffende Person. Auch Geotags sind möglich, mit denen man auf Google-Maps den Ort kennzeichnet, an dem das Foto aufgenommen wurde. Damit zeigt sich auch Googles umfassende Möglichkeit, auf Nutzerdaten zuzugreifen und diese mit geografischen Daten und persönlichen Bildern zusammenzubringen. Neben der Erstellung von eigenen Alben ist es auch möglich sogenannte kollaborative Alben zu erstellen. Hier können »Mitarbeiter« hinzugefügt werden, die dann ebenfalls berechtigt sind, in das gewünschte Album Fotos hinzuzufügen. Die Funktionen Fotos kommentieren zu können, Fotos mit »Mag ich« zu kennzeichnen oder Fotos zu seinen Favoriten hinzuzufügen, fehlen bei Picasa natürlich auch nicht.
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Plattformen
Schwerpunkte
Möglichkeiten
Kosten/Platz
23 www.23hq.com
alle
mehrere Fotos gleichzeitig hochladen; Abzüge bestellen; hochladen via EMail/Handy; Alben/Gruppen Beschreibungen/tags, Geschichten hinzufügen, andere Fotos kommentieren, Profil gestalten
30 Fotos/Monat und in den ersten 2 Wochen nach Reg. 300 Fotos kostenfrei; für 20€/Jahr ohne Beschränkung
Devian Art www.deviantart.com
Kunst und Kunstfotografie
Bilder von Kunstwerken/Fotografien hochladen/verkaufen/sammeln; Profil mit Gallery; Tagebuch/Messages/Chat/Kritiken/ Gruppen
kostenlose Mitgliedschaft Upgrade für gewisse Feature möglich
Flickr www.flickr.com
alle
mehrere Fotos (Videos) gleichzeitig hochladen; Geotagging auf Landkarte/Satellitenbildern/ per GPS; hochladen via EMail/Handy; Alben/Gruppen; Beschreibungen/ tags, Geschichten hinzufügen, andere Fotos kommentieren; Profil gestalten
kostenlose Mitgliedschaft Pro-Account für 24,95$ möglich
Foto-Community alle www.fotocommunity.de
Modeldatenbank; große Bestellauswahl; Nachrichten schreiben/ Fotos kommentieren; Foren; Treffen/Workshops; Einzelupload
50 Fotos, 1 Foto pro Woche; Zahlende Mitglieder haben mehr Platz/ können pro Woche mehr Fotos hochladen
Ipernity www.ipernity.com
alle
Fotos, Videos, Blogs, Tondateien mehrere Dateien gleichzeitig hochladen; hochladen via E-Mail/Handy; Fotos Kommentieren, Gästebuch, Gruppen, Alben; Weltkarte, tags; Fotos entwickeln
Anmeldung mit Google- FacebookYahoo-Konto u.m. möglich. 200MB/ Monat für 1,99€/Monat +Originaldownload
Locr de.locr.com
Reisefotografie Fotografie mit Ortsbezug
Geotagging auf Landkarte/Satellitenbildern/per GPS Community zum tauschen/teilen/ bewerten/kommentieren der Fotos/Gruppen; Geofotobuch
100 MB und 5 Alben/Monat kostenlos für 2€/Monat 2GB und beliebige Anzahl an Alben/Monat + Originaldownload
Photobucket www.photobucket.com
alle
Videos/Fotos/Grafiken hochladen, Gruppenalben, Alben-Designs, Foto-Editor; Fotos drucken lassen, auch als Grußkarten, T-Shirts, Kalender, Sticker uvw. Stickeralben, Slideshows
kostenlos 500 MB Speicher und 10 GB Bandbreite/ Monat für 1,67$/Monat unbegrenzter Speicherplatz+ Bandbreite+ Originaldownload
Picasa (Google) picasaweb.google.com
alle
bis zu 5 Uploads gleichzeitig; Picasa download; Namenstags, Geotags; kollaborative Alben; Fotos kommentieren/»Mag ich« vergeben/ Favoriten; erweiterte Suche; Fotoübertragung via E-Mail
1024MB Speicherplatz; bis zu 1TB dazukaufen; 20GB ab 5$ pro Jahr
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Plattformen
Schwerpunkte
Möglichkeiten
Kosten/Platz
Pixunity www.pixunity.de
digitale Fotoalben alle
Fotoalben/Fotoblogs erstellen tags; Designvorlagen für Fotos und Alben; Freunde hinzufügen Fotos kommentieren/bewerten/empfehlen/ Mitgestalter einladen Fotos von Flickr übertragen
kostenlose Mitgliedschaft; keine Angaben über Uploadbegrenzungen
Stern View Foto-Community view.stern.de
alle
monatliche Veröffentlichung im ViewMagazin; Profil anlegen/Fotos hochladen/per Handy; Fotos bewerten/kommentieren/empfehlen; Serien anlegen; Forum
es gibt Test/Einsteiger-/ Pro-Mitgliedschaften; Upload von 15/5/20 Bildern pro Woche; Nach Anmeldung 14 Tage Testmitglied, dann Einsteigermitglied; für 2,33€/Monat Pro-Mitglied
Tabelle 3: Foto-Plattformen Pixunity ist eine Online-Community für digitale Fotoalben. Über eine kostenlose Mitgliedschaft kann man Fotoblogs erstellen, die man mit vielen Funktionen und Designs im Fotoblog-Editor personalisieren kann. Das Hochladen im Editor geschieht ganz einfach über einen Explorer, mit dem man auch mehrere Fotos gleichzeitig hochladen kann. Hat man bereits Fotos in einem Flickr- oder Fotokasten-Account, kann man diese auch bequem von dort in den Editor laden. Der fertige Fotoblog sieht dann aus wie ein richtiges Fotoalbum, in dem man hin- und herblättern kann. Auf der Startseite sieht man die neuesten und beliebten Fotoblogs oder kann nach bestimmten Schlagwörtern suchen. Als registrierter Benutzer kann man sein eigenes Profil gestalten und mit anderen Usern in Kontakt treten, indem man Nachrichten versendet, Fotoblogs kommentiert, bewertet, empfiehlt oder andere User dazu einlädt, ein Fotoalbum mitzugestalten. Das SternVIEW Fotoportal ist das Online-Pendant des Stern-Magazins VIEW, das sich mit Fotografie beschäftigt. Als registrierter Benutzer kann man im Stern-Fotoportal Fotos hochladen, andere Fotos kommentieren, bewerten oder empfehlen oder sich im Stern View Forum mit den anderen Usern austauschen. Außerdem kann man Serien anlegen. Dazu bestimmt man welche seiner hochgeladenen Fotos in die Serie hinein sollen, es müssen mindestens 3 und dürfen höchstens 40 Bilder ausgewählt werden, die dann in einer Galerie gezeigt werden. Das Besondere am Stern View Fotoportal ist, dass monatlich ausgewählte Fotos aus der Online-Community im Printmagazin vorgestellt werden. Es gibt Test-, Einsteiger- und ProMitgliedschaften, wobei man erstmals nach der Anmeldung für 14 Tage
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einen Test-Account bekommt. Dieser erlaubt es einem, 15 Bilder pro Woche hochzuladen. Danach wird man auf den Einstiegs-Account heruntergestuft, mit dem man nur noch 5 Bilder pro Woche hochladen kann. Für 2,33 Euro pro Monat kann man einen Pro-Account erwerben, der dem User 20 Fotos-Upload pro Woche und andere kleine Extras erlaubt.
3.2.2 Analyse der Plattform Flickr Bei der Plattform Flickr, auf welcher hier im Folgenden der Schwerpunkt liegen soll, ist jedes einzelne Bild zugleich Zentrum wie auch Peripherie in diesem Bilduniversum, das von den Nutzenden in jeder Sekunde selbst erschaffen, aufrechterhalten, strukturiert und verändert wird. Die individuelle Profilseite ist eine ideale Bühne der Selbstinszenierung, deren Wirksamkeit von der Aura des Authentischen, welche fotografischen Produktionen innewohnt, gesteigert wird.121 Ein Indikator, dass die Plattform auch tatsächlich in diesem Sinne als Schauplatz der Selbstaufwertung und der permanenten narzisstischen Selbstbespiegelung eingesetzt wird, ist die Zahl der gefundenen Bilder bei den Suchbegriffen me und I, die höher ist als bei der Suche nach Baby – einem Motiv, das zweifellos sehr häufig fotografiert wird.122 An dieser Stelle scheint es fruchtbar zu sein, die Theorie von George Herbert Mead und im Speziellen die Begrifflichkeiten me und I,123 die sich um Identität und das Selbst, also um die innerpsychische Wirklichkeit und den damit verbundenen Umgang von Individuen mit der Gesellschaft und ihrer Kultur als relevantes soziales Umfeld drehen, in das konkrete Feld Flickr einzuführen und medienadäquat zu transformieren. Denn Flickr bietet als Austragungsort visueller Darstellungen des Selbst eine Projektionsfläche für die Inszenierung der Identität aus der angenommenen Sicht des verallgemeinerten Anderen (me). Innerhalb dieser Leitlinien wird die persönliche, individuelle, also ganz eigene und unberechenbare Selbstinszenierung verortet (I). Die Unterscheidung bietet Ansatzpunkte
—————— 121 Bourdieu, Pierre/Boltanski, Luc et al. (1983), Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt am Main. 122 Walker, Jill (2005), Mirrors and Shadows: The Digital Aestheticisation of Oneself. Proceedings, Digital Arts and Culture, in: Hdl-Handle, 23. 12. 2005, http://hdl.handle.net/ 1956/1136 123 Mead, George Herbert (1973), Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt, S. 216.
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für die Identifikation von Bildinnovationen und eigenständige visuelle Darstellungsoptionen im Wechselspiel von me und I. Zur Dramaturgie einer solchen Aufmerksamkeitsökonomie des repräsentativen Bilderfundus gehört es auch, die eigenen Bilder mit populären, Erfolg versprechenden tags zu versehen. Flickr erschließt neue virtuelle Handlungsräume zur Kommunikation über den engen Familien- und Freundeskreis hinaus. Angestrebt wird die Erzeugung eigener und das Auffinden vertrauter, also eher uniformer Darstellungsweisen,124 welche die Aufgehobenheit in der Community garantieren. Bei Flickr geht es auch um außergewöhnliche Varianten eines Motivs, an denen die artistische Verwendung von Photoshop deutlich wird. Die eingestellten Motive sollen Zeugenschaft über das Ereignis und die Stimmung wiedergeben; sie sind narrativ und abstraktionsfrei. Es geht keinesfalls um eine ästhetische Abweichung der Gestaltung. Dafür werden andere Prinzipien wichtig: die Überdeutlichkeit bestimmter Motive, humoreske und absurde Momentaufnahmen, der Zufall im alltäglichen Leben. Bei Flickr wird deutlich, dass es zur Entstehung eines sozialen Netzwerks zwingend der ästhetischen Redundanz bedarf. Zudem schwingt im Amateurfoto ein hohes Authentizitätsversprechen mit,125 die fotografische Selbstdarstellung des me wird meist als eine unverfälschte Abbildung angenommen. Bei Flickr wird sichtbar, dass immer eine unbewusste Vermischung von Eigen- und Fremdbildern stattfindet, welche die Unterscheidung selbst mit den Begrifflichkeiten des me und I nahezu unmöglich macht. Anders als bei künstlerischen Bildern, gilt hier die authentische Individualität unhinterfragt. Nicht alle Nutzer und Nutzerinnen streben nach globaler Selbstdarstellung: Oft ist die Mitteilung an einen kleinen Kreis von Freunden und Bekannten am wichtigsten. Das Bild ist somit erst einmal Anlass zur Kommunikation; mit ihm ist noch keine Wertschätzung als eigenständiges Medium verbunden. Für die dargestellte technische und soziale Vernetzung bei Flickr ist eine verbale Verdatung mit Hilfe von tags, also Schlagworten und Kategorien, zwingend. Die Vernetzung findet über Bildähnlichkeiten statt, also
—————— 124 Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Betten, Inga (2007), Uniformität ist bilderfreundlich! Vestimentäre und choreographische Strategien als Aneignung von Nicht-Orten im Musikvideo, in: Gabriele Mentges/Dagmar Neuland/Birgit Richard (Hg.), Uniformierung, Kostümierung und Maskerade, Münster. 125 Gapp, Christian (2006), Von Hobby-Knipsern und Profi-Kriegern. Telepolis, 19. 08. 2006, 23. 12. 2006, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23362/1.html
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über motivische Redundanzen. Die Einordnung der individuellen Bilder hängt von zugewiesenen Begrifflichkeiten ab, kaum von den Bilderzeugnissen selbst. Die Bilder sind austauschbar und können daher nicht mehr und nicht weniger als »Zeichen von Anwesenheit«126, welche die Kommunikation anregen sollen, verstanden werden. Sie erzeugen Anschlussfähigkeit an globale Netze, etwa wenn Partyportale in der »Provinz« davon zeugen sollen, dass man existiert und ein exzessives Leben stattfindet. Das zeigt sich auch in der nüchternen apparatischen Bilderzeugung, die durch das schablonenartig wiederholbare Motiv oder artistische Programmeffekte der Bildverarbeitung127 und nicht durch den individuellen gestalterischen Eingriff charakterisiert ist. Dabei führt die strukturelle Verfasstheit von Flickr im Medium der Datenbank128 zu bestimmten Darstellungsmodi. Dazu gehören auch die Bestimmungen der sogenannten community guidelines; es gibt scheinbar nur wenige Darstellungsverbote, und diese werden nicht explizit gemacht: »nothing prohibited or illegal« darf gepostet werden. Eine interne Moderation entfernt zum Beispiel Darstellungen von »nudity« selbst im kleinen buddy icon. Daneben können die NutzerInnen ihnen nicht adäquat erscheinende Bilder kennzeichnen und bei Flickr/Yahoo melden. Als besondere Herausforderung gilt, Grundmuster in der jugendlichen Selbstdarstellung über Körper und Kleidung zu sichern, die trotz des konstanten inhaltlichen Wandels von flickr.com im Kern unverändert bleibt. Aus diesem Grund gilt es eine Typologie von eingeführten und gemeinschaftlich weiterentwickelten Darstellungsmustern und -konventionen herauszuarbeiten. Eine quantitative Vorgehensweise ist angesichts der Millionen von Bildern nur über Zufallsstichproben möglich, die sich mangels objektivierbarer Kriterien für die Motive in den Bildern als unzureichend erweisen. Um einiges vielversprechender erscheint der parallele Zugang über eine qualitative Erhebung.129 Mit einem dafür entwickelten adäquaten Forschungsdesign130 kann der Dynamik des Feldes Rechnung getragen
—————— 126 Vgl. Kapitel 2.3.1 – Das »typische« Profilbild. 127 Sturm, Hermann (1987, Hg.), Artistik, Jahrbuch für Ästhetik, Bd. 2, Aachen. 128 Ernst, Wolfgang (2008), Plädoyer für eine Ästhetik der Datenbanken (Lafitau, Humboldt, dBase), in: Wolfgang Schäffner & Irina Podgorny (Hg.), Kolumbus der Datenräume. 129 Zum Beispiel in Form des »Netzscans«. Vgl. Kapitel 2.1. 130 Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Ruhl, Alexander (2008), Me, Myself, I: Schönheit der Gewöhnlichen. Eine Studie zu den fluiden ikonischen Kommunikationswelten bei flickr. com, in: Kaspar Maase (Hg.), Die Schönheiten des Populären. Zur Ästhetik der Massenkünste, Frankfurt am Main, S. 114–132.
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werden. Dabei gilt, den beobachteten Prozessen mit Intuition und Kreativität in Form einer mimetischen Forschung131 nachzuspüren. Ähnlich den YouTube-Kategorien, wurden Bildtypen entwickelt, die im Folgenden erläutert werden. Egoshots sind eine Bildkategorie, auf denen der/die UserIn selbst zu sehen ist und werden oftmals als Werbung für das Selbst im Netz verstanden und dementsprechend in Szene gesetzt (zum Beispiel durch style/fashion, Darstellung des Körpers – bodyshots/nakedness, besonders humorvolle Inszenierung – funny self portraits). Spezielle Gestiken, Mimiken, Posen oder Maskeraden auf den Bildern sind spezifisch für bestimmte Jugendgruppierungen und werden innerhalb der Gruppierung als besonders »süß«, »cool«, etc. wahrgenommen. Auf Egoshots können auch Freunde dargestellt sein. Die Verbundenheit zueinander wird durch berühren, umarmen oder küssen symbolisiert. One arm lenght cam oder shot bezeichnet eine Art des fotografischen Selbstporträts, indem man die Kamera möglichst weit von sich weg hält, der Abstand muss gerade richtig sein um die eigene Person im Bild zu positionieren, ohne in den Sucher oder auf das Display zu schauen. Eine eigene Kategorie bilden die me-home Bilder, auf denen der User sich in seiner häuslichen Umgebung zeigt. Ebenso findet die Selbstinszenierung beim Tanzen oder Sport statt (sports, dance). Avatare, Klone oder Miis sind außerdem beliebt, um sich selbst darzustellen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine digitale Fotografie des Users, sondern um ein digitales computergrafikbasiertes Cartoon-Abbild, welches dem User im Fall des Klons und des Miis möglichst ähnlich sehen soll. Ein Avatar hingegen kann alles zwei – oder dreidimensional sein und ist die Stellvertreterfigur für den/die UserIn. Das Bastard-Ego-Bild verweist darauf, dass ein Selbstbild immer fremde Einflüsse und visuelle Anteile von Anderen aufnimmt, oft unbewusst, manchmal auch als absichtsvolles Zitat. Das Phlog, das Foto Weblog, ist ein Fototagebuch, das mittels Online-Fotografie, zum Beispiel einen Tagesablauf visuell begleitet oder jeden Tag zu einer bestimmten Zeit ein Porträt zeigt. Hier gibt es viele Möglichkeiten, die vor allem das Alltägliche, die alltägliche Umgebung und auch das visuelle Private in den Vordergrund
—————— 131 Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan (1997), Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm, in: Hirschauer, Stefan/Amann, Klaus (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt am Main, S. 7–52, S. 20.
80 Egoshots = selfdesign konforme Selbstwerbung – Bastard ego
FLICKERNDE JUGEND – RAUSCHENDE BILDER Mediaremix found footage inmedium screenshots tv /film
Selfportrait: Musikalische funny self portraits Bilder (u.a. Musikvideo) style fashion: Me-home
Werbung
bodyshots: nakedness
game – human gamesGameobjekte
me+ my friendsshot: body touch, hug, kiss, one arm length cam
doku/eventshot eigene Aufnahmen Zufall/surprise: Begegnungen Momentaufnahme real life environment
Artshots medienadäquate KunstformenSubversionJugendKunst Online – effects
arty/ art-response
Collagen (de-collage)
Cover Hommage Ausstellung/Perf orm Doku
one minute sculptures topics: nature animals sunrises and downers
phlog
drama/pathos Todesbilder Inszenierte Fotografie concept-shots: z.B. 365 days still life
miis: clone, Avatare doubles
Architektur Städte Reisen
Spiegelung Schatten Verzerrung
gesture: mimic, Pose, Maskerade, Travestie, Kostümierung
Menschen Freakshow
abstraction
Party Konzert
Perspektiven Schiebung
man, woman transgender
Unschärfe Hypermakro
sports dance
Lichtmalerei Lichtgraffiti
animal ego
Technology black and white historistic
Hyperkontraste
Fan Fanart
panorama 180
experiment/ transform
Funshots funny coincidence/obje cts
Cosplay
HDR Fotografie
hacks
mockumentary
artistic shots
lowtech/mininal software, Lomo Polaroid, Handy Webcam
funny animal shots
musik-kultur Mashup bastard
Makro
Bandfotos
Skillzshots Photoshop Renderbilder
Livefotos
morphing, hybrid Computergrafik
Tabelle 4: Bildtypen
blur figur ground Kontrast morph
fake
Stand Mai 2010
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stellen. Animal Ego: hier steht das Porträtieren eines Haustiers stellvertretend für ein Porträt der UserInnen. Das Tier präsentiert sich hier als Stellvertreter für die UserInnen und ihre Eigenschaften und Fähigkeiten. Man/Woman/Transgender: Diese Form der Egoshots zeigt visuelle Inszenierungen, die sich mit dem eigenen Geschlecht auseinandersetzen, sich als Mann oder als Frau oder als etwas dazwischen präsentiert und dabei Geschlechtlichkeit in den Vordergrund rücken. Unter der Kategorie Mediaremix finden sich viele Bilder, die auf so genanntem found footage basieren. Das können zum Beispiel Screenshots aus Film und TV, aus Musikvideos, Bilder von anderen Webseiten, aus Computerspielen (-games, gameobjekte) oder der Werbung sein. Inmedium bezeichnet hierbei die Formen, die aus dem Medium selbst wie zum Beispiel aus einem Computerspiel stammen, hier aber als Elemente neu arrangiert werden oder in einen anderen innermedialen Zusammenhang gesetzt werden. Die Kategorie Doku-/Eventshot bezeichnet eigene Aufnahmen des Users. Dies können zufällige Aufnahmen sein (Zufall/surprise), Begegnungen oder Momentaufnahmen oder ein bestimmtes Thema zum Anlass haben (nature, animals, sunrises and downers, architecture, cities, travelling etc.). Bilder von besonderen oder ausgefallenen Menschen (Menschen, freakshow) werden genauso eingestellt, wie Fotos von Partys und Konzerten, die der/die UserIn besucht hat. Unter den Bildern findet sich auch Kunst in Form des artshots. So zum Beispiel medienadäquate Kunstformen, etwa Designs und Illustrationen, wie auch subversive Werke, Jugendkunst, Collagen, de-Collagen, inszenierte, anspruchsvolle Fotografien oder Bilderserien mit Konzepten (conceptshots: zum Beispiel 365 days – jeden Tag ein Bild). Spiegelungen, Schatten, Verzerrungen werden benutzt um Abstraktion zu erzielen und kunstvolle Effekte zu schaffen. Auch mit Perspektiven, Verschiebungen, Unschärfe, Kontrasten und Makro wird gespielt, um Bilder mit künstlerischem Anspruch zeigen zu können. Lichtmalerei/Lichtgraffiti bezeichnet das Spielen und Experimentieren mit Langzeitbelichtung. Dabei wird die Kamera langsam (vornehmlich im Dunkeln mit einzelnen hellen Lichtquellen, zum Beispiel Autoscheinwerfern, Kerzen oder Leuchtreklame) bewegt, während belichtet wird. So entstehen Bilder mit leuchtenden Spuren, die wie »gemalt« wirken können. One Minute Sculptures bezeichnet Fotografien, die sich an die fotografische Serie One Minute Sculptures des österreichischen Künstlers Erwin Wurm annähern, entweder diese nachstellen oder den
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spielerischen Umgang mit Objekt und Person erweitern und dies fotografisch festhalten. Still life: Hiermit sind fotografische Stillleben gemeint, einmal klassische Motive des Stilllebens, wie das Arrangement von Obst oder aber als komplett neue Motivik und Wiederbeleben des Genres und der Motivik, mit einem Ensemble von leeren Flaschen nach einer Party, das Chaos jugendlich ausgelassenen Lebens zelebrierend. drama/pathos bezeichnet Fotografien, die in völliger Übertreibung Gesten und Mimiken zeigen. Todesbilder: diese Fotografien schließen an Genres der Malerei an wie »natura morte« und auch das Stillleben. Die klassischen Motive aus der Malerei werden neu entdeckt für die Fotografie. Es erscheinen aber auch mit Photoshop umgesetzte Versuche, den eigenen Körper mit Verwesungsspuren zu durchsetzen, auch das klassische Motiv der schönen weiblichen Leiche ist hier zu finden. Als Bezug auf einzelne Kunstwerke in Form der Kategorie arty/art-response findet man auch das »covern« oder re-enactment dieser Kunstwerke oder Bilder, die eine Hommage an diese darstellen. Der Typ Ausstellung/ perform/Doku bezeichnet die eher dokumentarische Herangehensweise an Ausstellungen und Performances im Bereich der Kunst, das Festhalten mit dem Fotoapparat. In der Musikkultur, als einer weiteren Kategorie, finden sich Bandfotos. Auf solchen Fotos sieht man die Bandmitglieder inszeniert dargestellt, oder es werden Fotos der Band bei Live-Auftritten gezeigt. »Fanart« ist eine generelle Bezeichnung für alle Fotografien, die in irgendeiner Weise das eigene Fantum für eine Band, eine Stadt etc. festhalten und bestätigen. Ein Teil dieser Kategorisierung bildet das Cosplay. Dieser Typ von Fotografie wäre zugleich auch bei den egoshots unter Maskerade einzuordnen. Auch die skillzshots zeigen die eigene oder eine andere Person bei Ausübung einer besonderen Fähigkeit, die dann festgehalten wird, zum Beispiel ein besonders hoher gelungener Sprung beim Parkours oder beim Skaten. Hacks bezeichnet den Eingriff in die Technologie der Kamera, meist in die Software zur Manipulation des visuellen Ergebnisses und werden in die Kategorie experiment/transform eingeordnet. Dies kann unter Umständen auch zu einem artshot werden. Lowtech/mininal software, lomo, handy, webcam, polaroid bezeichnet die generelle Arbeit mit digitalen und analogen fotografischen Geräten, die mit niedriger Auflösung arbeiten. Diese haben bestimmte ästhetische Qualitäten, bei denen technische Unzulänglichkeiten
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zu einer neuartigen visuellen Form führen, damit können diese auch potentiell als Konzept zu artshots führen. Funshots bezeichnen lustige Aufnahmen von besonders humorvollen Ereignissen oder Zufällen (funny coincidence), Aufnahmen von witzigen Objekten oder Tieren (funny objects/funny animal shot) oder auch Bilder, die etwas Lustiges vortäuschen, was nicht der Wirklichkeit entspricht (fake). Der Filmgenre-Begriff »Mockumentary« ist ein Kofferwort (engl. to mock – vorgetäuscht, engl. documentary – Dokumentarfilm) und die Bezeichnung für einen fiktionalen Dokumentarfilm, der die Prinzipien des Dokumentarfilms benutzt oder das ganze Genre parodiert. Unter der übergeordneten Kategorie technology finden sich technologische Verfahren, die über ihre mediale und technologische Struktur eine neue Ästhetik hervorbringen. Diese technologischen Vor-Einstellungen von Hard- und Software wirken sich unmittelbar auf das fotografische Bildergebnis aus und sind nicht nur ein technischer »Kunstgriff« zur Verbesserung fotografischer Ergebnisse. Es handelt sich bei bestimmten Bildverarbeitungsprogrammen und Programmen der Kamera nicht um neutraltechnische Werkzeuge, da diese massiv Einfluss auf die Bildform nehmen. So wird der untergeordnete Typ black and white auch mit dem Begriff historistic bezeichnet. Das bedeutet, dass in Zeiten der farbigen digitalen Fotografie die Wahl einer Schwarz-Weiß-Aufnahme medienstrukturell ein Rückgriff auf historische stilistische Mittel der analogen Fotografie ist. Es stellt somit einen bewussten gestalterischen Eingriff in die Motivik dar, um die Glaubwürdigkeit der Aufnahme zu unterstreichen und sie stilistisch in die Nähe eines »Dokuments« zu rücken, um zu »bezeugen«, »so war es«. Der Bildtyp panorama 180 Grad entstammt einer Funktion, die sich mittlerweile auch in technisch fortgeschritten Handy-Kameras wiederfindet; sie popularisiert eine bestimmte Art des fotografischen Rundumblicks. Eine Makro-Aufnahme lehnt sich an die scheinbare Neutralität von naturwissenschaftlichen Bildern und Fotografien an. Hier geht man davon aus, dass die Kamera einen direkten Einblick in die Strukturen der Natur gibt. Die Naturfotografie ist somit auch als ein eigenständiger fotografischer Stil einzuordnen, die mit den überraschenden Formentwicklungen in großer Nähe spielt und die Makroeinstellung zum entscheidenden stilistischen Element macht. Die HDR-Fotografie zeichnet sich durch einen hohen Dynamikumfang aus (high dynamic range). Diese digitalen Bilder können die in der Natur vorkommenden großen Helligkeitsunterschiede detailgetreuer
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speichern als herkömmliche digitale Bilder (low dynamic range). Renderbilder sind künstliche digitale Bilder, die annähernd fotorealistisch sind. Unter skillzshots werden alle fotografischen Typen zusammengefasst, die im Bild die besondere fotografische Expertise der UserInnen hervorheben; das können zum Beispiel auch fotografische Aufnahme sein, die FotografInnen auf dem Kopf gemacht haben oder während des Fallschirmspringens. Es sind also Arten von Motiven, die auch unter extremen Bedingungen technisch einwandfrei hergestellt sind. Sie hatten bisher keinen Platz in der Motivpalette der Fotografie und stellen eine spezifische Begabung des Fotografierenden heraus, die sich auch in ungewöhnlichem Aufnahmewinkel zeigen kann. Der untergeordnete Typus des morphing-Bildes bezeichnet das Miteinanderverschmelzen von verschiedenen Bildquellen (bei Video würde es »Mashup« heißen). Es kann dabei auch eine hybride Computergrafik herauskommen, die fotografische und computergrafische Elemente synthetisiert und zu einer bruchlosen Einheit macht. Zu den skillshots gehört zum Beispiel auch der Typus der HDR-Fotografie. Durch das technologische softwarebasierte Verfahren entsteht eine spezifische Ästhetik, die sich vor allem durch eine intensive Kolorierung und eine Dramatisierung von Farbigkeit, extreme Kontraste und Tiefe auszeichnet und die eine große Nähe zur digitalen Grafik entwickelt. Vom Typ her bilden diese Bilder die Schnittstelle zur Computergrafik, diese benötigt keine fotografischen Quellen. Auch die Ästhetik bewegter Bilder, das heißt computeranimierter Film und digitale Postproduktion spielen hier eine sehr große Rolle, und es findet eine Annäherung im Erscheinungsbild statt. Artistic shots sind Aufnahmen, die von Virtuosität von FotografInnen im Umgang mit der Technik künden und gleichzeitig die Verwendung von gängigen Motiven wie Landschaften bevorzugen. Diese werden durch artistische Beherrschung der Technik und deren ornamentalen Einsatz zu einem visuellen Stil. Sie sind eine Steigerung des Typus skillzshot, der auch exotische Seiten der Technikbeherrschung und Nischen zeigen kann. Der artistische Shot ist dagegen eine Übersteigerung der Demonstration technischen Könnens und ein teilweise unangemessener Umgang mit der Technologie, der aber wiederum eine neue Stilistik hervorbringt. Bei den Photoshop-Bildern geht es vor allem um die bruchlose Montage verschiedenster Elemente, wozu die unterschiedlichen Bildquellen mit den Mitteln und Werkzeugen des wichtigsten und marktbeherrschenden Bildverarbeitungsprogramms Photoshop zusammengefügt werden. Die Synthetisie-
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rung ist wichtigstes Ziel, die collagierte Konfrontation von Elementen steht nicht im Vordergrund. Häufig zu finden ist auch die Retusche zum Beispiel von Gesichtern und Körpern oder auch das Verschmelzen von Figur und Hintergrund wie zum Beispiel in der Übertragung von Oberflächen und ihren Texturen auf andere Gegenstände. Beide sind sehr beliebte Verfahren dieses Typus.
3.3 Facebook: Timeflux =Echtzeit-Sharing Ursprünglich bezeichnete Facebook ein Buch, welches Studenten zur Orientierung auf dem Campus dient und in welchem Portraits anderer Kommilitonen enthalten sind. Das virtuelle Facebook ist eine kostenfreie Internet-Kommunikationsplattform, die seit 2004 besteht und ihren Sitz im kalifornischen Palo Alto hat. Nach eigenen Angaben hat Facebook 400 Millionen Nutzer weltweit.132 Ein Facebook-Profil ermöglicht es dem User, mit anderen über Mail-, Chat- und Kommentar-Funktionen in Kontakt zu treten. Facebook wurde ursprünglich als Plattform für Studenten der Harvard Universität gegründet, erweiterte aber sein Einzugsfeld um andere Universitäten, um dann schließlich weltweit jedem User über 13 Jahren zugänglich zu sein. Facebook ist eine Plattform, die mit Bildern und über Bilder kommuniziert. Der Name Facebook bezieht sich bereits auf die Bildebene als Kommunikationsgrundlage. Anders als bei Flickr, wird nicht primär über die Bilder zur Kommunikation angeregt, sondern die Bilder als Medium zur Selbstdarstellung sind Teil der kommunikativen Praxis.133 Hierbei gilt zu differenzieren zwischen dem Profilbild, selbst eingestellten Bildern, Bildern, auf welchen die jeweilige Person verlinkt ist und eingebetteten Bildern/Bewegtbildern. Das jeweilige Facebook-Profil kann je nach Voreinstellung nur für Freunde einsehbar sein. Eine Freundschaftsanfrage muss gestellt werden und kann vom User angenommen
—————— 132 http://www.facebook.com/press/info.php?statisticsstand 16.06.2010. 133 Die Internet-Kommunikationsplattform Facebook ist der spin-off einer Harvard-Version der rating-site Facemash. Auf diesen so genannten rating-sites können User andere User nach verschiedenen Kriterien bewerten. Die Bewertungen beziehen sich fast immer auf die Abbildungen der äußeren Erscheinung der User. Es finden sich hunderte von ratingsites, wie »Hot Or Not«, die alle dem gleichen Muster folgen: anhand von Bildern, bewerten andere User die jeweilige Person nach bestimmten Kriterien, die sich immer auf das Aussehen auf den Bildern bezieht.
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oder abgelehnt werden. Ist man nicht befreundet, kann zum Beispiel nur das Profilbild oder nur der Name eingesehen werden. Dann bleiben die eingestellten Informationen den Freunden vorbehalten.134 Es sind zwei übergeordnete Benutzer-Ebenen zu unterscheiden, die in Darstellung und Inhaltsschwerpunkten variieren: die Home- und die Profil-Ebene. Beide Darstellungsebenen sind ähnlich aufgebaut, jedoch mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten versehen. Die Home-Seite zeigt die aktuellen Posts der anderen User und eigene, geordnet nach Einstellungszeit. Sie ist ständiger Veränderung unterworfen und als Haupt-Kommunikationsebene zu sehen, ihre Darstellung folgt der chronologischen Struktur eines Weblogs. Es finden sich die Angaben in den Statusmeldungen, selbst-gedrehte Videos, embedded Videos von YouTube, eingestellte Bilder, Songs, sowie Links zu anderen Seiten. Diese Seite ist nur für den jeweiligen User einsehbar. Die Profil-Ebene zeigt das Profil, wie es von Freunden des Users gesehen wird. Das Profilbild ist größer, und über untergeordnete Seiten können persönliche Informationen eingesehen werden. Hier sind nur die Posts des jeweiligen Profilbesitzers zu sehen sowie die Kommentare der anderen, die sich auf die Posts beziehen. Fotoalben (wie bei Flickr) oder persönliche/berufliche Informationen (ähnlich Xing) sind dem statischeren Personen-Profil zugeordnet, über das aber kaum kommuniziert wird. Das Personen-Profil updatet ständig die vom User eingestellten Daten, auch können die persönlichen Angaben problemlos geändert werden. Trotzdem ist hier ein Großteil der Daten beständig, in seiner Beschaffenheit somit statischer als das Home-Profil. Es stellt sich die Frage nach dem Kontext der Kommunikationsprozesse: inwieweit müssen die User ihre Kommunikationspraxen der Medienstruktur anpassen. Eine weitere Frage ist der Unterschied von Facebook zu anderen Plattformen. Die Kommunikationsstruktur,135 also die gebotenen Möglichkeiten, Kontakt mit anderen Usern aufzunehmen und zu kommunizieren, beinhaltet Chat, E-Mail, Statusmeldungen, Pinnwand und die Kommentarfunktion. Die Kommunikationstools sind bei entsprechender Voreinstellung auf die Community der Freunde beschränkt –
—————— 134 Eine Schwachstelle des Datenschutzes kann sein, dass Freunde eines Users, der von einem anderen User auf einem Bild verlinkt wurde, das Fotoalbum dieses Fremdusers einsehen können, ohne mit ihm/ihr befreundet zu sein. 135 Vgl. Marotzki, Winfried (2003), Online-Ethnographie – Wege und Ergebnisse zur Forschung im Kulturraum Internet, S. 10.
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außer die Mailfunktion, durch die der User auch mit Nicht-Freunden in Kontakt treten kann, um diese dann eventuell zu befreunden. »Statusmeldungen« beschreibt eine Kommentarleiste, die dem User die Möglichkeit bietet, beispielsweise sein momentanes Befinden auszudrücken. Dieser Text befindet sich dann direkt neben Profilbild und Profilnamen und setzt das Geschriebene in direkte Verbindung mit dem Usernamen: zum Beispiel »User Soundso ist gelangweilt«. Dieser Text kann dann von anderen Usern kommentiert oder für gut befunden werden: wer keinen Kommentar schreiben, sich aber trotzdem positiv äußern will, hat die Möglichkeit, den Button »das magst du« bzw. like anzuklicken. Unter dem ersten Post erscheint dann ein Icon, welches eine Hand mit einem emporgestreckten Daumen zeigt. Alle anderen Posts (Bilder, Clips, …) können genauso bewertet werden. Die sogenannte Präsentationsstruktur136 des Userprofils bei Facebook umfasst das Identitätsmanagement137 des jeweiligen Users, also welche Möglichkeiten der User hat, sich zu präsentieren. Wie bei den meisten Internetplattformen, findet die Darstellung vor allem über das Profilbild, welches sich im oberen linken Bildbereich befindet, statt. Daneben befindet sich der Username, der bei Facebook der eigene Name und kein Pseudonym sein sollte. Unter dem Profilbild finden sich drei »links«, um sich die Fotos des Users anzuschauen, auf dessen Profil man sich gerade befindet, dem User eine E-Mail zu schreiben und um den User »anzustubsen« (eng. to poke). Das poking bietet, genau wie der like-Daumen, den anderen Usern die Möglichkeit, den jeweiligen User zu grüßen, ohne etwas schreiben zu müssen. Die Geste des Grußes reicht hier aus. Weiter finden sich im linken Seitenbereich allgemeine Informationen zum Profilbesitzer (Wohnort, Beziehungsstatus, Geburtstag) und dessen Freunde. Es wird zwischen »gemeinsame Freunde« und »Freunde« unterschieden. »Gemeinsame Freunde« beschreibt die Freunde, die der Profilbesitzer und der User, der das Profil besucht, gemeinsam haben, während unter »Freunde« alle Freunde des Profilbesitzers einsehbar sind. Unter dem Usernamen, der sich neben dem Profilbild befindet, sind verschiedene Unterseiten verlinkt, die nähere Auskunft über den User geben und auf die eingestellten Fotos verweisen. Die fotografischen Online-Bilder und Bewegtbilder dienen der Verortung des Users innerhalb des Netzwerks. Sie sind häufig ausschlaggebende
—————— 136 Vgl. ebd., S. 11. 137 Vgl. ebd., S. 11.
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Grundlage der kommunikativen Praxis in Facebook, die kommentiert und diskutiert werden. Die selbst eingestellten Bilder und Videos machen Teile der eigenen analogen Lebenswelt sichtbar, während embedded-Clips oder Musik die Möglichkeit bieten, sich bestimmter Stile oder Szenen zuzuordnen. Auch die Kommunikations-Plattform YouTube bietet einen Facebook-Button, um mit einem einzigen Klick den jeweiligen Clip auf Facebook zu posten und so zur Kommunikation über den Clip anzuregen. Hauptbezugspunkt ist das Profilbild,138 dessen Wichtigkeit auch in guidelines von Facebook hervorgehoben wird: »the picture you select is another way to express who you are to your friends and family«139. Das Selbstportrait wird stellvertretend für die Person gesehen und zeigt »who you are«. Facebook rät, sich die Profilbilder von Freunden anzuschauen, falls man nicht weiß, wie man sich am besten selbst darstellen soll. Zudem zeigt Facebook in den guidelines Beispiele, wie ein Selbstportrait aussehen könnte. Wer kein Profilbild einsetzt, wird automatisch durch die Umrisse eines Kopfes vertreten. Es ist nicht vorgesehen, keine bildliche Repräsentation zu haben. Wenn die formale Kategorie des klassischen Portraits beibehalten wird und somit den Vorgaben der guidelines bzw. dem OutlineKonterfei entspricht, finden Strategien der Individualisierung auf einer Mikroebene statt, die sich einerseits in einem bestimmten Rahmen bewegen, sich andererseits der Wichtigkeit der Selbstdarstellung über das Profilfoto bewusst sind. Die folgende Facebook-Tabelle orientiert sich an den Bildkategorien, die für die Bildplattform Flickr entwickelt wurden. Die Unterteilung fokussiert auf die Darstellungsebenen von Facebook, also den Bereichen, in denen Bildmaterial eingestellt werden kann. Dabei bilden die Flickr- sowie die YouTube-Tabellen die Metaebene für alle anderen Bilddarstellungen in Netzwerken. Diese werden dann anhand ihrer medienspezifischen Anwendbarkeit unterteilt, wie hier erkennbar wird. Weil die mediale Struktur Facebooks wenig customizing des Profils zulässt und auch bei der Angabe des Eigennamens darauf bedacht ist, »Echtheit«140 zu bewahren, ist Präsentation und Verortung über das Profilfoto von großer Wichtigkeit. Die Individualisierungspraxis des customizing findet
—————— 138 Vgl. Kapitel 2.3.1. 139 http://www.facebook.com/help/new_user_guide.php?guide_section=set_up_profile 140 »Facebook users provide their real names and information, and we need your help to keep it that way.« (http://www.facebook.com/terms.php?ref=pf)
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Profilfotos Egoshots Selfdesign, Selbstportrait, Headshot, one arm length shot Mediaremix musikalische und filmische Bilder, als Portrait-Surrogat (u.a. Musikvideo, Film, Stars) doku/eventshot
Embedded Pics (Pinnwand) arty/artresponse
Fotos & Videos (in Alben) egoshots
Mediaremix Found Footage
doku/eventshot
doku/eventshot – und clips Party, Konzert, Urlaub
funshots
artshots
Mediaremix Verlinkung auf Fremdbild (z.B. Flyer)
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Verlinkter User egoshots/ego-Clips Selbstportrait, Gruppenportrait
Tabelle 5: Bildkategorien Facebook über Fremd-Applikationen oder das Verändern des Profilbildes statt. Eine Form der Abweichung durch das Modifizieren des Profilbildes findet sich beispielsweise in der Applikation »Yearbook Yourself«.141 Mit dieser Flashanwendung kann man das eigene Portraitfoto hochladen oder direkt mit einer Webcam aufnehmen, um dann alte Jahrbuchfotos mit dem eigenen Konterfei generieren zu lassen. Die Handhabung ist sehr einfach und intuitiv, was der Verbreitung der so entstandenen Fotos zuträglich ist. Das Portrait wird in die vorgegebenen Fotos eingepasst und lässt sich nachträglich noch modifizieren, um das Ergebnis noch echter und absurder wirken zu lassen. Man hat die Möglichkeit, sein Gesicht im fotografischen Stil der 1950er- bis 2000er-Jahre einzufügen und mit den jeweils absurd-typischen Frisuren und Kleidungsstilen zu kombinieren. Zudem gibt es die Darstellungsoption »Student Life«, die das Portrait in Gruppenfotos integriert. Hier lassen sich alle auf dem Bild befindlichen Gesichter ersetzen, und man kann entweder alle mit dem eigenen Portrait versehen oder Bilder von Freunden hinzufügen. Die so entstandenen Bilder lassen sich entweder auf dem eigenen Computer speichern oder über einen Facebook-Button direkt auf Facebook hochladen. Diese Applikation ist inhaltlich und formal so
—————— 141 http://www.yearbookyourself.com/
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benutzerfreundlich angelegt, dass es ein ideales Kommunikationsantriebsmittel ist, welches sich großer Beliebtheit erfreut. Diese Applikationen werden aber nur in einer sehr kurzen Zeitspanne exzessiv genutzt, nach einer Woche spätestens sind Applikation und Anwendungsbegeisterung verschwunden und auch nicht mehr sichtbar. Eine Möglichkeit der Szene- und Interessenverortung bieten Quizzes und Gruppen. Ein Quiz ist eine der Plattform inhärente Applikation, also keine eigene Webseite wie beispielsweise »Yearbook Yourself«. Der User kann selber ein Quiz erstellen oder an einem teilnehmen. Die Möglichkeit, Quizzes selber zu erstellen, evoziert vor allem eine Mannigfaltigkeit an Themen und Spezialisierungen. Das Quiz »What metal song are you?«,142 bezieht sich in seiner etwas merkwürdigen Fragestellung auf klassischere Psycho-Quizfragestellungen, wie sie sich in verschiedenen Zeitungen finden, ist allerdings auf Spezialisten innerhalb eines bestimmten Bereichs zugeschnitten. Die Fragen beziehen sich dezidiert auf das Spezialwissen innerhalb der Heavy Metal-Kultur. Nach Beantworten der Fragen bekommt der User mitgeteilt, welcher »metal song« er/sie ist, sowie einen Kommentar, der den Song deutet und in Verbindung mit dem Charakter des Users bringt. Ist man beispielsweise der Song »Internal Fire« von der Band Dissection, so lautet der Kommentar: »Black – The flame I bear inside. Black – The flame that never died. 666 is your lucky number, haha! You like everything around you to be black.« Im Song »Walk« von der Band Pantera wird der Quizteilnehmer folgendermaßen beschrieben: »Respect! Walk! You don’t like dealing with people who act like someone that they’re not.«. Nach demselben Prinzip funktionieren viele andere Quizzes, wie »What’s your Red Neck Name?«143 oder »What serial killer are you?«144. Bevor der User an dem jeweiligen Quiz teilnimmt, kann er Einladungen an Freunde verschicken, denen dieses Quiz auch gefallen könnte. Das Ergebnis erscheint dann, für alle Freunde sichtbar, auf Facebook und kann dann kommentiert oder ebenfalls an ihm teilgenommen werden. Die GruppenFunktion bietet ebenfalls die Möglichkeit einer Verortung nach Interessen. Der User kann einer Gruppe beitreten oder »Fan« einer bestimmten Seite werden. Zu fast jedem Stichpunkt und jeder bekannten Person findet sich eine Gruppe. Diese Gruppen sind nach verschieden Kriterien unterteilt, wie beispielsweise »gemeinsame Interessen«, »Wirtschaft« oder »Religion &
—————— 142 http://apps.facebook.com/what-metal-so-fjieii/?start=1&target=home 143 http://apps.facebook.com/whatus-your-r-hgdhcj/?start=1&target=home 144 http://apps.facebook.com/serialkillerquiz/?ref=9&ref_l=profile_box
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Spiritualität«. Der User kann über eine Gruppe auch eine humoristische Aussage über die eigenen Lebensumstände transportieren, wie zum Beispiel »People who don’t sleep enough because they stay up late for no reason«,145 oder den Tod von Michael Jackson bedauern, »Michael Jackson RIP«.146 Grundsätzlich fällt auf, dass die geposteten Daten häufig Skurilitäten zeigen, egal ob über Statusmeldungen, Applikationen, Gruppen, gepostete Links oder YouTube-Clips. Facebook gibt seinen Usern die Möglichkeit, ein persönliches Archiv zu kreieren, das verschiedene Bild- und Textinformationen zusammenführt. Fotos, embedded Videos, Posts und Links bilden ein Konglomerat und sind somit nicht nur auf eine Form der Selbstpräsentation beschränkt. Gleichzeitig gibt es medienstrukturelle Vorgaben, die den Umgang mit Facebook von vornherein mitbestimmen. Man kann mit Wolfgang Ernst sagen, dass Facebook also nicht erst das ist, »was nach dem Ende bleibt; schon am Anfang bildet es das vorgängige Raster registrierter Wirklichkeit«.147 Diese medienstrukturellen Vorgaben werden je nach inhaltlicher Ausrichtung und Zielgruppe entworfen. MySpace, als Musik- und Kreativ-Plattform, gibt dem User mehr Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Profils als Facebook, welches vor allem auf direkte Kommunikation angelegt ist. Es müssen also andere Formen der Individualisierung gefunden werden, welche sich weniger im Customizing als vielmehr über individuelle Verortung und die Profilerweiterung durch Apps manifestieren. Die zur Kommunikation anregenden Elemente sind jedoch divers und orientieren sich an persönlichen Angaben sowie an Popbildern. Die Plattform Xing beispielsweise ist, im Vergleich dazu, rein berufsorientiert und bietet nur statische Informationen an. Die rein berufliche Verortung findet alleine über das Profilbild und die Textebene statt und ist nicht dafür angelegt, aktuelle oder Echtzeit-Posts einzustellen. Die Medienstruktur der Plattformen ist der jeweiligen Zielgruppe und dem Nutzungsfokus angepasst und sorgt, durch medienstrukturelle Einschränkungen ihrerseits dafür, dass Zielgruppe und Nutzungsfokus erhalten bleiben. Der Nutzungsfokus von Facebook steht zwischen den beiden anderen genannten Plattformen und ist gleichzeitig in seiner Kommunikationsstruktur am meisten auf Aktualität angelegt. Medienstrukturelle Einschränkungen dienen dem Fluss der Kom-
—————— 145 http://www.facebook.com/group.php?gid=2209591134 146 http://www.facebook.com/group.php?gid=100704011805&ref=search&sid=650623 653.BR.3571901135.1 147 Ernst, Wolfgang (2002), Das Rumoren der Archive, Berlin, S. 24.
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munikation und versuchen, diesen unter anderem durch Profil-»customizing« nicht ins Stocken zu bringen. Individualisierungsstrategien haben »app«-Charakter innerhalb dieser Matrix und sind nicht zwingend ihr direkter Bestandteil. Die Applikationen generieren ständig neue Anregungsformen, den Kommunikationsfluss zu erhalten. Die »apps« bilden eine neue ästhetische Dimension entlang der Medienstruktur. Allgemein gesehen bilden die Applikationen einen Hauptanreiz für User, eine bestimmte Plattform (Facebook) oder ein bestimmtes Gadget (iPhone) zu wählen.148 Die Kommunikation innerhalb dieses stetiger Veränderung unterworfenen und innerhalb fester medialer Strukturen agierenden Archivs handelt auch von Leerstellen –vom nicht gezeigten. Der Überhang an persönlichen Informationen erzeugt immer auch Gespenster der Zwischenräume und des Unsagbaren, bzw. die »Anhäufung von Gedächtnis [versucht] die Angst vor Verlust [und] Verschwinden […] zu exorzieren«.149 Eine große Menge an Informationen löscht die einzelne Information, so dass es mehr um den Informationsfluss als um die jeweilige Information selbst geht, bzw. sich jede Einzelinformation in den Informationsfluss einordnet, um nicht über sich selbst, sondern über den angestoßenen Diskurs Gehör zu finden. Eine unkommentierte Aussage ist eine nicht gehörte Aussage. Ein inaktiver User wird nicht wahrgenommen, weil er nicht teilnimmt – sich dem Informationsfluss entzieht. Anwesenheit alleine schafft noch keine Existenz. Und Existenz wird nur über aktive Teilnahme erzeugt. Somit werden auch die eingestellten Bilderzeugnisse nur über die Möglichkeit zur Kommunikation sichtbar. Ein MySpace-Profil beispielsweise ist in einem gewissen Maße auch existent, wenn der User inaktiv ist, weil es stark individualisiert werden kann und die eingestellte Musik immer eine übergeordnete Rolle spielt, welche gut sichtbar auf dem Profil positioniert ist. Facebook hingegen findet weniger über die eigene Profil-Ebene als über die Home-Ebene statt. Auf dieser sind nur die aktuellsten Beiträge sichtbar. An diesem Punkt wird das Archiv von der Echtzeit-Kommunikation gedehnt, erweitert oder gar überschrieben. Die vom User eingegebenen Informationen, in Verbindung mit den medienstrukturellen Vorgaben Facebooks, bilden den Rahmen für das Sichtbare und das Abwesende. Statische Informationen,
—————— 148 Vgl. Spiegel-Online Artikel zu Handy-Apps: »Wer die schlauesten Handy-Anwendungen anbietet, wird den Mobilfunkmarkt der Zukunft beherrschen.« http://www.spiegel.de/netzwelt/ gadgets/0,1518,660663,00.html 149 Ernst, Wolfgang (2002), Das Rumoren der Archive, Berlin, S. 13.
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wie persönliche Angaben und die letzten Einträge finden sich gleichsam auf der Profil-Ebene und können dem stetigen Fluss so ein gewisses Maß an Konstanz hinzufügen. Gleichzeitig wird jede Veränderung der statischen Informationen in den Fluss eingegliedert: wenn ein User beispielsweise seinen Beziehungsstatus ändert, erscheint dies, für alle Freunde sichtbar, auf Home- und Profil-Ebene. Es ist unmöglich, keine Spuren zu hinterlassen – diese Spuren verwischen jedoch in Echtzeit, weil sie von immer neuen Informationen verdrängt werden.
3.4 MySpace: von Musik-Promo zu Profil-Customizing MySpace ist ein soziales Netzwerk im Web 2.0, bei dem Nutzerprofile mit Fotos, Videos, Audio und Blogs kostenlos eingerichtet werden können und das sich über Werbung finanziert. Dieser Informationspool wird aus freiwillig veröffentlichten Daten der teilnehmenden User gespeist. Es gibt Informations-Presets für persönliche Angaben (sexuelle Orientierung, Sternzeichen, »wen ich gerne treffen möchte«, …), die aber nicht verwendet werden müssen. Die einzigen Vorgaben sind die Abhängigkeit von der medialen Struktur von MySpace – auf Eingabe- sowie auf Darstellungsseite. Das Unternehmen wurde 2003 von Tom Anderson gegründet, 2005 von Rupert Murdoch für 580 Millionen Dollar gekauft und zählt mittlerweile über 200 Millionen Profile. Ursprünglich diente MySpace als Kommunikationsplattform für Musiker und Fans, wurde dann aber vielseitig genutzt. Seit Murdochs Kauf hat sich das multimediale Spektrum erweitert (zum Beispiel Film), und es fand ein Paradigmenwechsel von einer Plattform unbekannter Künstler zur stärkeren Einbeziehung kommerzieller Firmen statt. Seit 2006 besteht eine Kooperation mit Google. GoogleSuche und Google-Adsense wurden in MySpace integriert. MySpace richtet sich vor allem an den englischsprachigen Raum, wurde jedoch 2007 um eine deutsche Version erweitert. Auch MySpace Österreich ist mittlerweile online. Neben Musik- und privaten Nutzerprofilen verwenden jetzt auch verstärkt politische Organisationen, wie beispielsweise Greenpeace, MySpace. Als User ist zwischen zwei Oberflächen zu unterscheiden, der Profiloberfläche und der Home-Seite (diese heisst in der deutschen Version: »Mein MySpace«). Erstere ist die Präsentation des eigenen Profils im Web,
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wie sie jeder sehen kann. Der Home-Bereich beschreibt die eigene Benutzeroberfläche, von der aus man sein Profil updaten oder seine Mails checken kann: Ein Darstellungsbereich und ein Bereich zur Modifizierung dieses Darstellungsbereichs. Der User muss sich der Profiloberfläche nur zuwenden, um zu prüfen, ob Neuerungen im Profil sichtbar sind und (beim Musik-Profil) wieviele andere User die geposteten Songs gehört haben. Somit befindet sich der jeweilige Profilbesitzer immer auf einer anderen Darstellungsebene als der User, der dieses Profil besucht. Die Home-Seite ist die Startseite des Users, von der alle weiteren Schritte vorgenommen werden. Der User hat einen eigenen Mail-Account, von dem aus mit anderen MySpace-Usern kommuniziert werden kann. Weitere Kommunikations-Möglichkeiten sind die Kommentarfunktion (mit der auf dem MySpace-Profil eines anderen Users ein für alle lesbarer Kommentar hinterlassen werden kann), die Bulletin-Funktion (bei der eine Nachricht gleichzeitig an alle Freunde verschickt wird) und der MySpaceIM (ein Messenger, den man herunterladen kann, um mit anderen Usern zu chatten). Über »Profil« lassen sich die Angaben, die auf dem Profil angezeigt werden, bearbeiten und verändern. Hat man als Musiker oder Band ein MySpace Music-Account, kann man hier auch Angaben über kommende Konzerte »posten« und Songs »uploaden«. Es gibt zwei Arten von Profilen auf MySpace: das Personen-Profil und das Musik-Profil, da MySpace ursprünglich als Kommunikationsplattform für Musiker gedacht war. Das Musik-Profil einer bestimmten Band muss nicht zwingend von der Band selbst stammen. Auch Fans können ein Profil ihrer Lieblingsband erstellen. Somit können Bands über diverse Profile auf MySpace in Erscheinung treten. Vom MySpace-Profil kann die Webseite der Band verlinkt werden. Die Verortung innerhalb einer Szene, egal ob bei Personen- oder Musik-Profilen, wird, neben Angaben über persönliche Vorlieben oder Musikreferenzen, durch die »friends list« vereinfacht. Die »top friends« erscheinen auf der Profil-Seite und bieten dem Rezipienten so die Möglichkeit, beispielsweise neue Bands oder Privatpersonen kennen zu lernen, die ähnliche Interessen aufweisen. Die Bildanalyse unterscheidet sich auf MySpace stark von anderen Plattformen des Web 2.0, wie Flickr oder YouTube. In Flickr ist das Bild, in YouTube das Video, Hauptkommunikationsmittel, bei dem man sich über tags und groups fortbewegt. Auf MySpace dient das Bild der Unterstützung des eigenen Profils, welches auch über Text kommuniziert – Beschreibung von Hobbies, Ansichten, Vorlieben – Quasi als Poesiealbum
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2.0. Neben der Suchen-Funktion auf MySpace, die zwischen Personen, Gruppen, Musik und Videos unterscheidet, die anhand der click rate ihre Ergebnisse sortiert, ist man auf MySpace häufig auf assoziatives Suchen angeiesen. Es kann auch gesagt werden, dass die Medienstruktur von MySpace zum assoziativen Suchen animiert, beispielsweise über die »friends list«. Ein MySpace-Profil, als ein ständiger Veränderungen unterworfenes, persönliches Archiv, führt verschiedene Bild- und Textinformationen zusammen. Fotos, embedded Videos, Blogs und Links bieten ein Konglomerat und sind somit nicht auf eine Form der Selbstpräsentation beschränkt. Unter dem Gesichtspunkt der Bildlichkeit auf MySpace können zwei Ebenen unterschieden werden: Zunächst Einzelbilder, die auf der Profilseite genutzt werden. Beispielsweise das Profilfoto, Slideshows, embedded Videos oder Fotos und Videos auf untergeordneter Ebene. Dem Profilfoto, also dem Einzelbild, das repräsentativ für den User steht, kommt eine besondere Bedeutung zu, weil dieses eine wichtige Repräsentations- und Kommunikationsgrundlage bietet. Auf der zweiten Ebene kann zudem das gesamte Profil als Bild betrachtet werden. Diese Betrachtungsweise ist zur Analyse von individualisierten Profilen nötig. Das sogenannte customizing selbst zeigt, dass der User nicht nur versucht, sich über Bildmedien und Textbeiträge darzustellen, sondern dass er auch daran interessiert ist, dem Profil als Ganzes ein individuelles Aussehen zu verleihen. Ein individualisiertes Profil, welches durch das Einfügen verschiedener html-tags erreicht wird, spricht dem User auch eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Materie zu. Die Möglichkeit des customizing zeigt aber auch einen anderen Umgang der Plattformbetreiber mit ihrem Programm und den Usern. Vergleichbare Plattformen, wie Facebook oder studivz, lassen den kreativen Umgang der User mit ihren Profilen nicht zu. Somit ist ein besonderes Augenmerk auf das Profilfoto sowie das customized Profil als Ganzes zu richten. Bei dem Musik-Profil ist weiter zu fragen, inwieweit sich das MySpace-Profil von der Bandwebseite unterscheidet. Wie wird die Band/Person auf der jeweiligen Plattform mit den ihr inhärenten medial bedingten Strukturvorgaben dargestellt? Der Andeutungscharakter und die Widersprüchlichkeit der Selbstinszenierung findet auf MySpace, als Konglomerat verschiedener Bildmedien und der Möglichkeit der Modifizierung des eigenen Profils, eine ideale Platt-
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form, dieser Ästhetik Ausdruck zu verleihen. MySpace ist besonders für diese Darstellungsvarianten geeignet, weil es sich um ein Medium handelt, welches sich über die Verortung innerhalb eines Genres, einer Subkultur oder einer bestimmten Ästhetik definiert, die dann über Bilder, Clips, Musik und Text dargestellt und kommuniziert werden. Während Flickr der Veröffentlichung des eigenen fotografischen Werks und der Kommunikation darüber dient und YouTube die Möglichkeit bietet, Clips zu präsentieren sowie diese bewerten oder kommentieren zu lassen, lebt die MySpaceDarstellung primär von Profilen. Die Kommunikation läuft entlang der Beschaffenheit des Mediums, zwar nicht nur über Einzelbilder oder customized Profile, jedoch bietet es die Möglichkeit, verschiedenste Bilddaten zu sammeln und über das Userprofil zu visualisieren. MySpace als Repräsentations-Plattform ist aufgrund der Vielfalt der Darstellungsformen ideal als »ein konzentriertes Bild- und Informationskonglomerat«150 und bietet Produzenten und Rezipienten Möglichkeiten zur (Bild-)Kommunikation. Die hauptsächlich eingestellten Bilddarstellungen werden in der folgenden Tabelle zusammengefasst und im Anschluss daran näher erläutert: Ego Shot self-portrait (hold away/mirror-shot…) professional shot doing sth.: (eating/sleeping/ doing sports…) on vacation
Me And… a group of people my best friend my boyfriend/ girlfriend
party-pics
my family
my band
My group/team friends artwork/ paintings/ logos/flyer injuries
toys pet car animated gif/polaroid/photoshopped/frames
Media Remix anime/manga/ cartoons food foreign art
landscape/ architecture animals screenshots bands
Tabelle 6: Bildkategorien MySpace
—————— 150 Grünwald, Jan (2008), Apokalyptische Jungs – Formen von Männlichkeit aus MySpace, in: Konsum Guerilla. Widerstand gegen Massenkultur?, Frankfurt am Main, S. 169–183.
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Me:151 self-portrait: Profilbilder, auf denen der User selbst zu sehen ist. Das Foto wurde von ihm selbst ausgelöst, entweder über den Selbstauslöser der Kamera, das Ausstrecken des Armes vor dem Körper (hold away) oder im Spiegel (mirror-shot). professional shot: Professionelle Profilbilder zeigen den User in Porträts, die im Fotostudio oder bei professionellen Fotoshootings gemacht wurden. Sie zeichnen sich durch gute Beleuchtung, hohe Qualität und ausgewählte Hintergründe aus. doing sth.: Die Kategorie »doing sth.« Bezeichnet alle Profilbilder, auf denen ein User bei einer bestimmten Tätigkeit fotografiert wurde, sei es beim Schlafen, Essen, Trinken, BMX-Fahren oder beim Spazieren gehen. on vacation: Der User wird im Urlaub gezeigt. Beim Sonnen, vor dem Wahrzeichen einer Stadt, beim Baden oder Zelten mit Freunden. party-pics: User beim Feiern auf Partys zusammen mit Freunden, beim Tanzen oder auf Konzerten. Typisch sind Schnappschüsse die mit Blitzlicht aufgenommen wurden. Oft sind alkoholische Getränke mit auf den Bildern. Me and …: a group of people: Mehrere Personen sind zusammen mit dem User zu sehen. Dies sind oftmals Freunde oder andere Bekannte. Beliebt sind Profilfotos, auf denen der User mit mehreren Personen irgendetwas Bestimmtes tut (zum Beispiel grillen, einkaufen…) my best friend: Der User ist auf dem Profilfoto zusammen mit einer anderen Person zu sehen, und es ist zu erkennen, dass der User sehr gut mit der anderen Person befreundet ist. Oft sind die Fotos, wie beim Selbstporträt, mit ausgestrecktem Arm aufgenommen. Auch Fotoserien aus dem Fotoautomaten sind häufig zu finden. my boyfriend/girlfriend: Der User ist mit seinem festen Freund oder seiner Freundin zu sehen. Diese Kategorie zeichnet sich durch Kussaufnahmen, innige Umarmungen oder auch melancholische Kuschelfotos aus. my band: Bandfotos sind hauptsächlich auf Musikprofilen von Bands, aber auch bei privaten Usern, die in einer Band sind, zu finden. Sie zeigen die Band in einem bestimmten Setting (oft sind dies auch professional shots) oder bei Konzerten. my family: Zeigt den User zusammen mit Familienmitgliedern.
—————— 151 Zur allgemeinen Analyse der Bedeutung von Profilbildern siehe Kapitel 2.3.1.
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My: group/team: Zeigt ein Gruppenbild, auf dem der User mit mehreren anderen Personen zu sehen ist. Oftmals zeigt das Gruppenbild das Sportteam, die Mitarbeiter der Firma oder ähnliches. Auch Gruppenfotos, die bei einer Veranstaltung oder bei einer Reise mit allen Teilnehmern gemacht wurden, fallen in diese Kategorie. friends: »a group of people«. Jedoch der User ist selbst auf dem Foto nicht zu sehen. artwork/paintings/logos/flyer: Vom User selbst gestaltete Designs, Flyer und Logos oder selbst angefertigte Zeichnungen und Bilder. injuries: Profilbilder, auf denen Verletzungen gezeigt werden, die sich der User zugezogen hat. Das Spektrum reicht von blauen Flecken über Gipsbeine bis zu blutigen Wunden. toys: Kuscheltiere, Puppen und anderes Spielzeug, das vom User für das Profil fotografiert wurde oder das mit dem User zusammen auf einem Foto zu sehen ist. pet: Profilfotos auf denen Haustiere zu sehen sind. Sie können dabei ganz trivial in ihren Behausungen zu sehen sein oder speziell für das Foto in Szene gesetzt sein. car: Foto vom Auto des Users oder im Auto des Users. Wahlweise auch Fotos von Autos, die dem User besonders gefallen. Random Cool Stuff: anime/manga/cartoons: Fotos aus Animes, Mangas oder Cartoons. food: Fotos von Nahrungsmitteln oder Gerichten. Entweder found footage aus dem Internet oder selbstfotografierte Lebensmittel. foreign art: Kunst, die nicht vom User selbst hergestellt wurde. Dazu zählen Logos, Designs oder Flyer, aber auch Gemälde und gescannte Fotos aus Katalogen oder Zeitschriften sowie sämtliches anderes found footage. landscape/architecture: Entweder vom User selbst fotografierte Landschaften und Gebäude, auf denen er nicht selbst zu sehen ist, oder im Internet entdeckte Bilder. animals: Bilder von Tieren. Bunt gemischt, selbst fotografiert, found footage, im Zoo oder unterwegs. In diese Kategorie fallen jedoch nicht Bilder von Haustieren. screenshots: Profilfotos, die Screenshots aus Filmen, Serien oder Videos zeigen. bands: »my band«. Der User ist jedoch nicht selbst in der Band, sondern promoted diese nur, weil er Gefallen an ihr hat oder mit ihr bekannt ist.
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Ästhetisierungs-Technik animated gifs: aus mehreren Fotos zusammengesetztes Bild, das wie ein kleiner Film wirken kann und sich ständig wiederholt. polaroid: eingescannte tatsächliche polaroid-Fotos oder Bilder, die nachträglich so bearbeitet wurden, dass sie eine polaroid-Ästhetik erhalten. photoshopped: stark nachbearbeitete Fotos (zum Beispiel starke Kontraste, Weichzeichner, Unschärfeeffekte, etc.) oder Fotos in die digital Dinge hineingemalt oder geschrieben wurden, oft in auffälligen Farben. frames: Fotos von Fotos/Fotos mit Rahmen.
4 Inhaltliche Felder der jugendlichen Bild-Netzwerke
4.1 Posen der Selbstdarstellung bei YouTube und Flickr Wesentlicher Bestandteil der digitalen Jugendkultur ist die Selbstdarstellung über stille und bewegte Bilder im Internet. Im Mittelpunkt stehen bewegte Bilder von YouTube und die stillen Bilder der Fotosharing-Plattform Flickr. Prototypische Grundformen jugendlicher medialer Selbstdarstellung sind der Ego-Clip bei YouTube und der egoshot bei Flickr.152 Jugendliche sind keine »Medien-Aborigines«, wie man sie in älteren Generationen noch findet. Mediale Posen sind für die junge Generation selbstverständlich und alltäglich. Ihr Verhalten vor der Kamera ist professionell und antrainiert. Sie orientieren sich an Starimages, und ihre Bilder entwickeln sich auf der Grundlage medienstruktureller Vorgaben, zum Beispiel auf Partyportalen, die typischen Pärchen- oder friendsshots oder der one arm length shot.153 Ein generelles Charakteristikum ist die Übernahme von Gesten und Posen der Stars und deren Transformation. Dies geht weit über das hinaus, was Keller154 als »StarNutzung« bezeichnet; sie konzentriert sich auf nicht primär ästhetisch fundierte Identifikationen in der Rezeption.
—————— 152 Richard, Birgit (2008), Art 2.0: Kunst aus der YouTube! Bildguerilla und Medienmeister, in: Richard, Birgit/Ruhl, Alexander, Konsumguerilla. Widerstand gegen Massenkultur? Frankfurt am Main, S. 225–246. 153 Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Ruhl, Alexander (2008), Me, Myself, I: Schönheit der Gewöhnlichen. Eine Studie zu den fluiden ikonischen Kommunikationswelten bei flickr.com, in: Kaspar Maase (Hg.), Die Schönheiten des Populären. Zur Ästhetik der Massenkünste, Frankfurt, S. 114–132. 154 Ihre Untersuchung betrachtet vor allem TV Formate, nicht Web 2.0. Vgl. Keller, Katrin (2008), Der Star und seine Nutzer. Starkult und Identität in der Mediengesellschaft, Bielefeld.
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4.1.1 Das Leben und die Liebe: Exkurs Online-Dating155 Allein in Deutschland finden sich mehr als 2.000 Online-Singlebörsen, Partnervermittlungen, Singlechats, Seitensprung-Dienste und Sextreffs. 12 davon ist es bis Dezember 2007 gelungen, die Grenze von 1.000.000 Usern zu überschreiten. Einem immer größer werdenden Publikum wurde die gezielte Partnersuche durch die Dating-Shows im Fernsehen bekannt. Diese Entwicklung hatte in Deutschland ihren Anfang mit der Fernsehshow Herzblatt, die über einen Zeitraum von fast 20 Jahren156 in brav wirkender Weise die öffentliche Selbstanpreisung zwecks Partnersuche ins Fernsehen brachte.157 Mittlerweile sind viele unterschiedliche Formate für spezifische Zielgruppen, wie beispielsweise »Bauer sucht Frau« oder für bisexuell orientierte Partnersuchende »Tila Tequila«, in sämtlichen Sendern rund um die Uhr zu finden. Auf diesem medialen Hintergrund ist auch der Erfolg der Online-Partnersuche zu verstehen, welche die Auffassung vom modernen, sein Lebensglück selbstkonstruierenden und gestaltenden Menschen spiegelt. Die straff organisierte Struktur dieser Form der Partnersuche erscheint auf den ersten Blick besser steuerbar als die Suche nach einem Partner im »echten« Leben. Derzeit nutzen sieben Millionen Teilnehmer das Internet für die gezielte Kontakt- und Partnersuche – viele davon aus einem Alterssegment, das Jugendliche und junge Erwachsene unter 30 Jahren umfasst. Anders als ältere Bezugsgruppen, nutzt diese Zielgruppe die Möglichkeiten, die das Netz bietet, stärker für die Anbahnung von interessenorientierten Freundschaften, kurzfristigen Affären, Dates und unverbindlichen Flirts, als zum Aufbau einer langfristigen Beziehung. Bei Jugendlichen unter 25 wird diese Kontaktsuche deshalb weniger explizit als Online-Dating bezeichnet, sondern ist als Möglichkeit in die Interaktion der sozialen Netzwerke integriert: beispielsweise über die Profileinstellung »Beziehungsstatus«, der bei MySpace und Facebook für die Selbstdarstellung auf dem Nutzerprofil optional zur Verfügung steht.
—————— 155 Basis für dieses Kapitel bildet das Material von Katrin Mair: Online-Dating. Unveröffentlichtes Manuskript. 2007, S. 4. 156 Herzblatt (1987–2006), GRUNDY Light Entertainment. 157 Öhner Vräath (2007), Zur sozialen Funktion von Dating-Shows im Fernsehen, in: Dating.21, Bielefeld, S. 141.
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Welche Faktoren beeinflussen diesen für die Selbstdarstellung zur Verfügung stehenden Raum, der sich Profil nennt? Welche Funktion nimmt hier, neben der scheinbar so dominanten, schriftsprachlichen Kontaktaufnahme, die Rolle des Profilbildes ein? Und wie passt sich diese Form der sozialen Interaktion in die spezifischen Lebenszusammenhänge Jugendlicher und junger Erwachsener ein? Im Unterschied zur Kontakt- und Partnersuche »offline« hat die Onlinesuche den Vorteil, dass die Angebote auf den Dating-Portalen rund um die Uhr verfügbar sind und sich vergleichsweise niedrigschwellig nutzen lassen. Sie sind jederzeit einsehbar, und es ist möglich, von überall anonymisiert auf das Angebot zuzugreifen und so auch zeitliche Lücken im Alltag für die Kontakt- und Partnersuche zu verwenden.158 Die sich verändernde Lebensweise mit gesteigerter Internetnutzung und die zunehmende Mobilität haben der Kontakt-, Freundschafts- und Partnersuche im Cyberspace zum Durchbruch als Massenphänomen verholfen. »Who does not meet, does not mate« meint die Tatsache, dass man nur mit derjenigen Person eine Beziehung eingehen kann, die einem in der eigenen Lebenswelt auch begegnet. Ohne passende Gelegenheit gibt es keine Chance zum Kennenlernen.159 Online-Dating ist in einer sich zunehmend diffuser gestaltenden sozialen Lebenswelt eine gute Möglichkeit, soziale Bindungen aufzubauen und zu intensivieren. Die geografisch und soziokulturell vorgeformten Gelegenheitsstrukturen verlieren nur teilweise ihre prägende Rolle für das Zusammenfinden im Internet.160 Sozialwissenschaftliche Forschung subsumiert dies unter die Bezeichnung Ähnlichkeitsthese: Die soziale Herkunft und der damit verbundene Bildungsgrad spielt bei der Wahl der Freunde und Partner eine wichtige Rolle.161 Die freie Partnerwahl hat so, im Zuge eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, kaum zu einer stärkeren Durchmischung der sozialen Schichten geführt, sondern es lässt sich stattdessen eine zunehmende Tendenz beobachten, welche die soziale Schließung verfestigt.162 Auf diesem
—————— 158 Döring Nicola (2003a), Internet-Liebe: Zur technischen Mediatisierung intimer Kommunikation, in: Höflich R. J./Gebhardt J. (Hg.) Vermittlungskulturen im Wandel, Frankfurt am Main, S. 233–263, S. 240. 159 Wirth Heike (2000), Bildung, Klassenlage und Partnerwahl, Opladen, S. 50. 160 Bühler-Ilieva Evelina (2006), Einen Mausklick von mir entfernt, Marburg, S. 77. 161 Lösel, Friedrich/Bender, Doris (2003), Theorien und Modelle der Paarbeziehung, in: Grau, I./Bierhoff, H. W. (Hg.), Sozialpsychologie der Partnerschaft, Berlin, S. 43–75.&Wirth Heike (2000), Bildung, Klassenlage und Partnerwahl, Opladen. 162 Burkhart Günter (2008), Familiensoziologie, Konstanz, S. 179.
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Hintergrund ist zu beachten, dass die virtuelle Kommunikation, selbst im Videochat, welcher vermeintlich alle Primärsinne anspricht, nicht in der Lage ist, die Hyperkomplexität menschlicher face-to-face-Kommunikation vollständig abzubilden. So wird gerade von Internet-Usern häufig berichtet, dass im interface-to-interface-Kontakt, der ja körperlos vonstattengeht, die innere Annäherung eine Beschleunigung erfährt. Irritationen, beispielsweise über Asymmetrie bezüglich der körperlichen Attraktivität, spielen hier eine kleinere Rolle, bzw. rücken angesichts der über das Profilbild der Kontaktperson vermittelten Bildkompetenz (die über die Deckungsgleichheit der sozialen Lebenswelt, über ästhetische Präferenzen und den individuellen Inszenierungswillen Auskunft gibt) in den Hintergrund. Ist die latente Bereitschaft der Beteiligten vorhanden, so gilt als belegt, dass der Charakter der Internetkommunikation das schnelle Vorstoßen in einen intimen und sehr persönlichen Kontakt beschleunigen kann, indem er die Hemmschwelle des Sich-Bekennens herabsetzt.163 Das Profil als Display Für die Prozesse der Selbstdarstellung im Online-Dating ist es für den Nutzer zunächst von großer Bedeutung, die Gesetzmäßigkeiten des jeweiligen Portals zu erfassen, um mit diesen so kompetent wie möglich umgehen zu können. Es geht also darum, ein Bewusstsein für das Regelwerk der netzbasierten Kommunikation zu entwickeln, denn nur so kann der User erfolgreich partizipieren und das Medium optimal für sich nutzen. »Je größer und unübersichtlicher das Kollektiv, die Welt, je anonymer und partikularisierter der Einzelne, umso mehr bedarf es Techniken des Sichtbarmachens des Anderen und Techniken der Verabredungen mit Anderen. Anders gesagt: Je massiver der Zwang zur Individualisierung (individere) im globalen Feld, um so dringlicher werden raffinierte Strategien der Teilung (dividere), des Sich-Mitteilens und des Sich-Treffens, werden subjektive wie politische Strategien temporärer Entindividuierung und Exteriorisierung, mit denen das Gemeinsame, das Zusammen wichtiger wird als das Alleinsein, die ›konstruierte Selbstverwirklichung‹.«164
—————— 163 Vgl. Döring, Nicola (2003a), Internet-Liebe: Zur technischen Mediatisierung intimer Kommunikation, in: Höflich R. J./Gebhardt J. (Hg.), Vermittlungskulturen im Wandel, Frankfurt am Main, S. 233–263, S. 244ff. 164 Ries, Marc (2007), Zeigt mir wen ich begehren soll, in: Ries/Fraueneder/Mairitsch. Dating.21, Bielefeld, S. 11.
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Die Auswahl des Fotos kann so einige Schwierigkeiten bereiten, denn es stellt den Suchenden wiederum vor die schwierige Entscheidung, wie er/sie sich zeigen, bzw. wieweit die persönliche Entblößung gehen soll. Soll es ein Portrait sein oder lieber ein Foto, das den ganzen oder wenigstens Teile des Körpers mit abbildet?165 Vielleicht eines, welches einen Eindruck seiner Freizeitaktivitäten vermittelt, also beim Skifahren, Kochen oder Wandern? Oder aber eines, das den Suchenden in seinem Heim abbildet, eine Art unausgesprochene Einladung, bis hin zur Darstellung der Person, die sich lasziv im Bett räkelt? Obwohl im Online-Dating der Kontakt primär über textbasierte Informationen abläuft, also in einer entkörperlichten Form, ist dem Foto als Informations- bzw. Zeichenträger eine große Bedeutung beizumessen. Die Anwerber und Anwerberinnen zeigen so im Datingprozess ihr »Selbst«, indem sie Eigenschaften und Präferenzen in durch das jeweilige Portal vorgegebene rasterförmige Strukturen bringen und ihre Individualität so parzellieren.166 »Das Bewußtsein, Teil eines konkurrenzorientierten Marktes vergleichbarer Fotografien zu sein, bedeutet, die Individuen finden sich in einer Position wieder, die ihnen… a) […] ein Höchstmaß an Bewußtsein für ihre physische Erscheinung abverlangt; b) in der ihr Körper die Hauptquelle sozialer und ökonomischer Werte ist; c) wo sie über ihren Körper in Konkurrenz zu andern treten; d) wo ihr Körper und ihre Erscheinung insgesamt öffentlich ausgestellt werden.«167
Ein so entworfenes Bild kann zwar keinen konsistenten Eindruck der sich darstellenden Persönlichkeit vermitteln, sondern nur bewusst ausgewählte und inszenierte Teile derselben; es fungiert jedoch als Medium, um sich gezielt von der homogenen Masse zu unterscheiden, ohne sich dabei jedoch zu weit vom »Common sense« des kulturellen Skripts wünschenswerter Persönlichkeit zu entfernen.168 Das Medium Internet wirkt hier wie ein Katalysator, bietet es doch zusätzlich zu erhöhter Flexibilität und Offenheit die Möglichkeit zur spielerischen Selbsterfindung, aber auch zur beabsichtigten oder unbeabsichtigten Täuschung und Manipulation.169 In diesem Sinne verknüpft sich hier die Konstruktion von Identität über die »visuelle Selbst-Narration« in Form
—————— 165 Vgl. hierzu Kapitel: 2.3.1 – Das »typische« Profilbild. 166 Vgl. Ries, Marc (2007), Zeigt mir wen ich begehren soll, in: Ries, Fraueneder, Mairitsch. Dating.21, Bielefeld, S. 19. 167 Illouz Eva (2007), Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt am Main, S. 123. 168 Vgl. ebd., S. 124. 169 Vgl. ebd., S. 121.
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des Profilbildes170 (bzw. über weiteres, virtuell zur Verfügung gestelltes Bildmaterial) mit der »Fähigkeit zum Spiel, zur Selbsterfindung«.171 Der Suchende präsentiert Teile seiner Persönlichkeit und legt hierbei den Schwerpunkt mal auf den einen, mal auf den anderen Aspekt, je nachdem, wie sich die Rückmeldung von außen durch das virtuelle Gegenüber darstellt. Das Profil wird so zum »Display«172 für den Protagonisten auf dem Markt, den die online vermittelte Kontakt- und Partnersuche sowohl in Form von organisierten Anbietern als auch in Form von jungen OnlinePlattformen bietet. Es formuliert ein Angebot, aber gleicht es in einem andauernden Prozess parallel immer wieder den gespiegelten Wünschen an. So wird die »Verabredung der Ware zum Teil der Produktion«,173 in dem sich Suchen und Anbieten zu einem wechselseitig beeinflussenden Prozess verbinden. Das Überangebot von potentiellen Partnern führt auf diesem Hintergrund zwar zu Strategien der Standardisierung und Wiederholung, was in einem deutlichen Gegensatz zum Ideal der romantischen Liebe steht, welche ihre Verzauberung gerade aus der Exklusivität und einer Ökonomie der Verknappung bezieht. Sie bietet aber auch eine Bühne für Formen der Selbstdarstellung durch visuelle Inszenierung, die über Profilbilder und hochgeladenes Fotomaterial einen Eindruck über spezifische Interessen und kulturell geformte, ästhetische Präferenzen und Wertorientierungen spielerisch darstellen kann. Im Hinblick auf die weiter oben referierte Ähnlichkeitsthese, ist dieses Potential gerade im Hinblick auf eine zunehmend inkonsistente Lebenswirklichkeit unverbindlicher und temporärer.
4.1.2 Besonderheiten jugendlicher Bild-Egos Die Begrifflichkeiten für die mediale Selbstdarstellung im Web 2.0 werden aus der Medienstruktur heraus entwickelt. Zentral ist der Bezug auf vorhergehende Formate, in diesem Falle die popkulturellen Vorläuferbilder.174
—————— 170 Zur allgemeinen Analyse der Bedeutung von Profilbildern siehe Kapitel 2.3.1. und Kapitel 3.4. 171 Illouz Eva (2007), Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt am Main, S. 121. 172 Vgl. Ries Marc (2007), Zeigt mir wen ich begehren soll, in: Ries/Fraueneder/Mairitsch. Dating.21, Bielefeld, S. 14. 173 Vgl. Ebd., S. 14. 174 Aufbauend auf McLuhan, Marshall: The Medium is the Message (mit Quentin Fiore), New York 1967. Siehe dazu auch relationale Bildnachbarschaften/Bildcluster bei Richard, Birgit/
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Die jugendliche Selbstdarstellung schlägt sich im Anschluss an die eigene Bild-Sozialisation in einem Medien-Ego nieder. Das kann ein StarDouble sein,175 in jedem Falle entsteht aber ein Bilderzeugnis, das sich der Erfordernisse der medialen Formate bedient und innerhalb dieses Rahmens einen individuellen Zugang sucht. Das Medien-Ich im Bild bewegt sich immer in vorgegebenen Kategorien. Die scheinbar privaten visuellen Selbstdarstellungen weisen einmal auf das soziale Konstrukt von Privatheit176 aus dem 19. Jahrhundert hin. Gleichzeitig wird hier vom Phänomen Jugend als zeitabhängigem Konstrukt ausgegangen, das ähnlich wie das des Geschlechts angenommen werden kann. Ergänzt wird dies durch einen erweiterten »Maskerade« Begriff,177 der nicht nur für die Verbildlichung von Geschlechterrelationen gilt, sondern auch auf die jugendliche Selbstdarstellung im Netz angewendet wird. Dies deshalb, um die Ideologie einer »authentischen« jugendlichen Darstellung im Bild als natürlich oder echt zu widerlegen. Damit sind für das Verständnis des Mediums Online-Video bei YouTube und der Online Fotografie bei Flickr folgende Grundannahmen essentiell: Es handelt sich bei Bildern generell nicht um die »Abbildung«178 einer authentischen sozialen Realität, die direkte Rückschlüsse auf jugendliches Leben erlaubt. YouTube- und Flickr-Bilder sind Paradebeispiele für raffinierte Hybride aus Fremd- und Eigenbildern, typische Bildformen für das Web 2.0 und für eine friedliche Koexistenz von »real-« und »fakeFormaten«, die nur mit entsprechender Medienkompetenz auseinander zu halten sind. »[Das] Setzen auf Authentizität bewirkt aber gerade den unkontrollierten Einfluß von vorgeprägten Typen auf die subjektive Imagination.«179
Die irreführende Ideologie des »Authentischen« als inhärenter kultureller Konsens entsteht aufgrund von »low tech« Aufzeichnungs- und Ausgabemedien mit geringer Auflösung. Diese Wirkung bringt das Authentizitäts-
—————— Zaremba, Jutta (2007), Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, München. 175 Ullrich, Wolfgang (2002), Der Starkult als Verdopplung: Doubles, in: Wolfgang Ullrich/Sabine Schirdewahn: Stars, Frankfurt am Main, S. 121–149. 176 Sennett, Richard (1986), Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main. 177 Weissberg, L. (1994, Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt am Main. 178 Siehe z.B. »Illustration« in Bredekamp, Horst (2005), Im Königsbett der Kunstgeschichte, Ein Interview in Die Zeit Nr. 15 vom 6. April 2005, S. 47. 179 Reck, Hans Ulrich (1991, Hg.), Imitation und Mimesis, in: Kunstforum International, Band 114, Juli–August, S. 82.
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versprechen des fotorealistischen Prinzips180 mit sich, das auch im bewegten Bild des Online-Videos aufrechterhalten wird. Das Netz basiert auf der Notwendigkeit der sozialen Begegnungen.181 Die NutzerInnen von YouTube und Flickr produzieren in erster Linie Bilder, um zu kommunizieren, ihre Clips und Fotos sind fluider Kommunikationsschmierstoff. Zentral für die Suche und Analyse jugendlicher Selbstdarstellungen im Bild erscheinen also bei YouTube die übergeordnete Kategorie: Ego-Clip, darunter dance, karaoke, sports und vlog, die Kategorie skillz-clip und auch Fan- und Hater-Clips, sowie generell das re-enactment über Body doubles, das heißt die Darstellung der Spielfigur/des Stars.
4.1.3 Poser und Casting auf YouTube Grundsätzlich ist zu unterscheiden, ob die Ergebnisse des search oder des tags zur Auszählung verwendet werden: Beim search wird der gesamte Text durchsucht, beim tag führt die Verschlagwortung der UserInnen zum Ergebnis. Hier werden die Resultate des search verwendet, weil sie durch das Einbeziehen der Clip-Titel umfangreicher sind. Grundsätzliche Probleme wirft die Bedeutungsvielfalt der Suchbegriffe auf. Dafür ist es nötig, alle angezeigten Clips im allgemeinen Netzscan182 vorzusichten, thematisch unpassende auszusortieren, um die restlichen prozentual auszuwerten und für die folgende qualitative Auswertung auszuwählen. »Ein Leittypus […] ist sicherlich der Kandidat von Castingshows. […] Man will berührt werden, allein deshalb, weil man existiert. Die Menschen träumen von leistungslosen Einkommen, sie wollen reich sein, aber das gratis. […] Noch mehr träumt man vom leistungslosen Ruhm: Wer bin ich, dass ich etwas können müsste, um eine Celebrity zu sein?«183
—————— 180 Vgl. Richters Begriff der realistischen Stile: Richter, Sebastian (2008), Digitaler Realismus: Hybride Bewegungsbilder zwischen Animation und Live-Action-Film, Bielefeld. 181 Ries, Marc (2007), Zeigt mir, wen ich begehren soll. Begegnung und Internet, in: Marc Ries/Hildegard Fraueneder/Karin Mairitsch (Hg.), dating.21. Liebesorganisation und Verabredungskulturen, Bielefeld, S. 11–23. 182 Vgl. Kapitel 2.1. und Richard, Birgit/Zaremba, Jutta (2007), Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, München. 183 Sloterdijk, Peter (2008), Die Freiheit ist das Opfer des Jahrzehnts, Interview von Stephan Lebert und Christine Meffert, in: Zeitmagazin Nr. 51 vom 11.12.2008, S. 30.
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Da Casting-Shows mit ihren Grundstrukturen viele Formen der Selbstdarstellung enthalten und zudem Ranking, Bewertung, Leistung und Prüfung dazu zu dienen scheinen, den medialen Marktwert der Jugendlichen zu testen, gilt es, diesen Begriff als nächstes bei YouTube zu verfolgen.184 Beim Casting ergab der search: 337.000 Clips und tag: 170.000 (Juni 2010). Es blieben 135 Clips, die gesichtet und prozentual ausgewertet wurden. Für den Suchbegriff casting entstand hierbei folgende Verteilung: real (46 Prozent) bezieht sich auf ironiefreie Darstellungen, beispielsweise auf Castingshows (wie »Pop Idol«) oder Aufnahmen von Casting-Situationen bekannter Schauspieler. Es gibt hier wieder die Kategorie fake (15 Prozent), also Parodien von Castingshows. Musik (30 Prozent): Hier befindet sich der Begriff in Titel oder Bandnamen. Die große Anzahl der Musik-Clips und Fan-Clips erklärt sich über eine christliche Rockband namens »Casting Crowns«. Handwerk (8 Prozent): Die Begriffsbedeutung kommt hier von einer weiteren englischsprachigen Wortbedeutung, dem Abguss eines Gegenstandes. Bei Reflektionen zu casting (1 Prozent) wird das Prinzip des Castings zum Thema gemacht. Insgesamt erweisen sich die Suchbegriffe Dating und Casting für die Untersuchung jugendlicher Bilder auf YouTube als wenig zielführend. Beim Begriff Dating beispielsweise ergab der search auf YouTube eine Trefferquote von 451.000 Clips und der tag: 386.000 Clips (Juni 2010). Nach Vorsichtung wurden 133 Clips genauer gesichtet und ausgewertet, aus denen die folgende Typologie entstand. Die angegebenen Prozentzahlen beziehen sich auf diese ausgewerteten Clips. Für den Suchbegriff »dating« wurde folgende Sortierung entwickelt: Real (29 Prozent) bezeichnet ironiefreie Darstellungen des Dating-Begriffs, wie Datingshows, private DatingVideos, Dating-Tipps. Unter fake (32 Prozent) werden auf den ersten Blick authentisch wirkende Dating-Parodien, wie zum Beispiel Sketche oder Spoof, auf TV-Shows zusammengefasst. Die Reflektionen zu dating (9 Prozent) machen das Dating an sich zum Thema, wie zum Beispiel in Dokumentationen oder der Auseinandersetzung von Stand-Up-Comedy. Bei games/animation (7 Prozent) erscheinen zum Beispiel Games, die zu einer Dating-Szene (hier bezogen auf den Prozess des Kennenlernens) umfunktioniert werden, beispielsweise indem man die Protagonisten nachvertont. Interacial (13 Prozent): Eine überraschend große Zahl der Clips befasst sich mit dem Dating unter verschiedenen Ethnien und den kulturellen Unterschieden. Gossip (5 Prozent) bezieht sich auf Clips, die sich mit »Ge-
——————
184 Zibilla, Imke (2008), Casting Shows, unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt am Main.
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schwätz« jeglicher Art über Stars und Sternchen beschäftigen. Musikvideos (3 Prozent): Hier befindet sich, wie unter beinahe allen Suchbegriffen, der Begriff in Titel oder Bandnamen. Nur Teile der Clips sowie auch in der Kategorie »Film« (2 Prozent) befassen sich mit dem Thema. Die Typologie für das Dating weist hierbei keine jugendspezifischen Formen auf, so dass die Kategorie bei den YouTube-Clips zu vernachlässigen ist. Anders und sehr erfolgversprechend scheint dagegen der Begriffsapparat um die Pose (Posing und Poser) zu sein. Der search Poser zeigt 5.250 und die Suche nach tag: 5.150 Clips; Posing: 103.000 search und nach tag: 5.230 (Juni 2010). Es wurden daraufhin 108 Clips gesichtet und ausgewertet. Der Großteil der Clips zum Suchbegriff bezieht sich auf Bildbearbeitungs- und Animationssoftware, wie »Adobe Poser« oder »Poser 7«. Weil diese Begriffsdeutung unerheblich für das zu untersuchende Feld ist, werden diese Clips nicht berücksichtigt. So bleiben nur 31 Clips zur Auswertung, aus denen folgende Typologie entsteht: Poser im klassischen Sinne: Poser bezieht sich hier auf Formen von Selbstdarstellung und Angeberei (40 Prozent). Posing als »so tun als ob« (25 Prozent): Der Posing-Begriff ist hier mit Imitation zu übersetzen. Poser diss (30 Prozent): Diese Clips setzen sich ironisch oder abwertend mit Posern auseinander (zum Beispiel »True Metal vs. Poser Metal« oder »Don’t be a Poser«-Clip). Musik (5 Prozent), bezieht sich auf den Titel und den Bandnamen und Musikvideos. Bei der Auswertung fällt auf, dass zwischen weiblichen und männlichen Posen zu unterscheiden ist. Der search bringt vor allem männliche Poser. Das Posing wird bei den Männern als negativ und »unnatürlich« aufgefasst, weil »der Mann« es durch die »patriarchale Dividende«185 nicht »nötig« hatte, sich aufreizend mit seinen körperlichen Qualitäten zu präsentieren. Es ist nicht Bestandteil seiner Sozialisation (sehr gut zu beobachten bei der TV Show »Are U Hot«). Für Frauen wird dieser Ausdruck nicht verwendet; hier erscheinen Posen selbstverständlich. Junge Frauen sind durch ihre mediale Sozialisation in ihren Selbstdarstellungsschablonen auf körperliche Sexiness-Posen festgelegt. Auffällig wird hier der Unterschied zwischen Gesten und Posen: Pose wird von den Jugendlichen oft als genormt und negativ aufgefasst. Deshalb wäre hier, abgeleitet aus dem Tanz, ein positives Synonym für die Pose, die Figur einzuführen, auf deren Grundlage Improvisation möglich ist. Für die konkrete jugendliche Selbstdarstellung im Bild wird nun mit dem Begriff der Geste bzw. der Figur, die die ästhetische Form betont,
—————— 185 Connell, Robert (1999), Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen.
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operiert. Als Beispiel dient die mimetische Aneignung der Gesten eines Black Metal Idols als Bestandteil einer gut konstruierten Figur. Die Starpose als jugendliche Bild-Geste Ausgangsvideo bei YouTube ist Satan…,186 ein Fan-Clip, der aus einer Videodokumentation über Metal herausgeschnitten wurde, um die Essenz der Aussage des Idols zu bündeln.187 Der circa einminütige Clip setzt den Ex-Sänger der Band Gorgoroth – den »großen Gaahl«, wie er ehrfurchtsvoll in der Subkultur genannt wird – als eine Figur ins Bild, die mehrere Faszinosa der Szene bedient: die Orientierung am Satanismus und die Verkörperung des Bösen (»the most evil man of black metal«) durch die aktive Ausführung von Verbrechen, die aktenkundig ist (schwere Körperverletzung). Die Kultszene aus einer Dokumentation zeigt den hageren Sänger, ungeschminkt, ohne martialischen corpse paint,188 in einem ruhigen bläulich-dunklen Ambiente mit Kerzen im Hintergrund. Trotz des ungeschminkten Auftretens, wird hier die Aura des unnahbar Bösen inszeniert. Auf die Frage des Interviewers: »What is the primary ideology or primary ideas that motivate Gorgoroth’s music?«,189 lässt sich der links im Bild sitzende, schwarz gekleidete Sänger viel Zeit mit seiner Antwort und dreht sein Glas am Stiel hin und her. Dann antwortet er nur mit dem einen Wort: »Satan«. Er trinkt danach sehr langsam einen Schluck Rotwein aus seinem Rotweinkelch, mit sehr kultivierter und cooler Geste. Der Rotwein wird mit Blut assoziiert, Gaahl inszeniert sich filmisch, ähnlich langsam gefährlich, wie Hannibal Lector in »Schweigen der Lämmer«.190 Die Auswahl und Weiterverarbeitung dieser Szene durch die Fans ist eine Reminiszenz an Stil und Mythen der Subkultur, die im aufgebauten Bild des blutsaugenden Satanisten zusammenfallen. Es gibt mehrere Fan- oder auch hater-Clips als visuelle Antwort, welche die Geste des Stars als »Aktanten der Medienpro-
—————— 186 Satan… http://www.youtube.com/watch?v=puwllq0fBLs 303,351 views upload von aclys 29. Mai 2006 187 Metal, a Headbanger’s Journey 2005, mit Spezialteil Norwegian Black Metal.Directed by: Sam Dunn & Scot McFadyen. 188 Einer typischen Art, sich dramatisch schwarz-weiß zu schminken. 189 Metal A Headbanger’s Journey – Gaahl Interview; http://www.youtube.com/watch?v= oQJqZFUell8 from gorgorothvideos 26. Juli 2007. 190 Das Schweigen der Lämmer (1991), R: Jonathan Demme (Romanvorlage: Thomas Harris).
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duktionsseite«191 übernehmen oder karikieren. Zwei responses (Handyvideos) werden hier kurz betrachtet, sie zeigen die nachgedrehte Szene, also ein reenactment. Ein männlicher Darsteller, in einer Art Proberaum, zieht am Strohhalm seines Cola-Glases und sagt dann kurz Satan.192 Eine weibliche Darstellerin, der Art ihrer Schminke, der Anzahl und der Gestaltung ihrer Ringe nach dem Gothic oder Metal Umfeld zuzuordnen, hält in ihrem Clip ein Glas Rotwein lange vor sich und dreht es am Stiel, um dann nach einer noch längeren Pause ein hexenartig schrilles »Satan« auszustoßen, um so die Pose umzukehren.
Abbildung 1: Corpse paint. Gerry_mak. Flickr.com Im Metal steht die »Pose« dem »True« gegenüber, die Beherrschung der künstlichen Gesten gibt höchste Glaubwürdigkeit. Ein Vergleich zu den
—————— 191 Keller, Karin (2008), Der Star und seine Nutzer. Starkult und Identität in der Mediengesellschaft, Bielefeld, S. 255. 192 Gaahl_from_Gorgoroth_Satan_interview_spoof http://www.youtube.com/watch?v=i_ KcoBRFlBc upload von chicofarva 19 november 2006.
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bewegungslosen Bildern bei Flickr bietet sich hier an,193 wo Gestik und Mimik zu einer eingefrorenen Geste kulminieren. Die Flickr Recherche setzt bei Gaahl und Gorgoroth an. Es werden folgende Begriffe für die direkte Vergleichbarkeit mit YouTube gewählt: gaahl, gaahl pose, gaahl posing, gorgoroth und black metal pose, alle diese ergeben keinerlei Treffer. Erst ein search mit corpse paint bringt, Fanpräsentationen betreffend, die gewünschten Ergebnisse.194 Zunächst erscheinen viele Konzertfotos, aus denen Vorbildfiguren extrahiert werden. Hier treten aber auch die Fans mit corpse paint in Erscheinung. Eigentlich wird die Maskierung des corpse paint hauptsächlich von Bands praktiziert. Corpse paint markiert eine klare Trennung zwischen Kunstfigur und Privatperson. Er hat nicht die Funktion der Anonymisierung, sondern dient der Dramatisierung der dargestellten Figur. Durch die Eigenheiten des Schminkens unterscheiden sich Black Metal Bands, wie zum Beispiel Immortal und Gorgoroth, voneinander. Im Flickr search zu »corpse paint« finden sich 2.063 Treffer (Abfrage Juni 2010). Nach Nichtberücksichtigung der Fotos einer Malschule (mit circa 150 Fotografien), Fotos von Leichen bzw. die Darstellung als Leiche, erscheint passendes Material, überwiegend Fotos von Bands und Konzerten, mit einem Anteil von 45 Prozent. Auf corpse paint-ähnliche Darstellungen im Rahmen von Halloween-Partys entfallen 30 Prozent. Unter der Kategorie Halloween werden einmal reine Halloween-Fotos, also ein Pseudo-corpse paint, als Gruselkostümierung berücksichtigt. Hier finden sich aber auch Mischformen, die Fotos von Black Metal Fans zeigen, welche das Fest auf ihre subkulturelle Art feiern. Für die Unterscheidung müssen die tags hinzugezogen werden, diese zeigen, ob es sich um Fans handelt, welche die Subkultur kennen und sich darauf beziehen, indem sie die richtigen Begrifflichkeiten, wie zum Beispiel Abbath, Immortal, True Norwegian benutzen. Die näher zu betrachtenden Fan-corpse-paints sind mit circa 20 Prozent bei den Flickr Fotografien vertreten, gefolgt von 5 Prozent Fotos mit »Fanart«. Speziell die Bands benutzen den corpse paint für den Auftritt, bei Fans kommt dies seltener vor und wenn, dann weniger auf Konzerten, häufiger auf Festivals, das zeigen die Fotos der Flickr Recherche. Daneben
—————— 193 Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Ruhl, Alexander (2008), Me, Myself, I: Schönheit der Gewöhnlichen. Eine Studie zu den fluiden ikonischen Kommunikationswelten bei flickr.com, in: Kaspar Maase (Hg.), Die Schönheiten des Populären. Zur Ästhetik der Massenkünste, Frankfurt 2008, S. 114–132. 194 Die Abbildung zeigt ein Foto von Gerry_mak: http://www.flickr.com/photos/gerry mak/3102953325/
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wird auch das Auf- und Abschminken dokumentiert. Die Bildbeispiele zeigen, dass die Fans den corpse paint mit dem ästhetischen Wissen um Subkultur bzw. Band anlegen. Sie tun dies bei Flickr meist mit ironischer Selbstdistanz und zeigen sich damit an ungewöhnlichen Orten, zum Beispiel auf Spielplätzen oder bei ungewöhnlichen Handlungen, zum Beispiel beim Wäscheaufhängen und Blumengießen. Corpse paint ist in der normalen urbanen Umgebung sowieso immer fehl am Platze. Im Gegensatz zur Kostümierung geht es bei dieser Maskerade nicht um Imitation. Sie zeigt eine mimetische Eigenleistung in den Gesten und eine stimmige Inszenierung der Figur im Raum, die das Stilbild neu interpretiert. »Die Vergewisserung des bereits Geleisteten im Modus der Nachahmung belege, dass zwischen Imitation und Neuschöpfung weder ein wertphilosophischer noch ein ästhetischer Bruch klafft.«195 Mimesis ist im umfassendsten Sinn Darstellung und »durch Nachahmung und Anverwandlung genährtes Konstruktionsvermögen«.196 Als eine weitere Form der jugendspezifischen Inszenierung für YouTube und Flickr soll im Folgenden Kapitel eine Auseinandersetzung mit der visuellen Inszenierung von jugendlichen Alkohol- und Drogen-Exzessen folgen.
4.1.4 Rausch als visuelles Phänomen der Selbstinszenierung »Pille – Palle – Alle Pralle Druff – Druff – Druff – Druff – Druff Verpeilt und verschallert, alle verballert Druff – Druff – Druff – Druff – Druff (Refrain ) Volle Kanne Einwurf, 3 Tage wach Paniert und ding dong ding dong, 3 Tage wach Bunte Pillen Fete, 3 Tage wach Puls wie ’ne Rakete, 3 Tage wach.«197
Der jugendliche Kontrollverlust wird bei YouTube und Flickr, den wichtigsten jugendlichen Bildplattformen im Web 2.0, tausendfach ins Bild gesetzt. Rausch wird als visuelles Phänomen beleuchtet und Clips sowie
—————— 195 Reck, Hans Ulrich (1991, Hg.), Imitation und Mimesis, in: Kunstforum International, Band 114, Juli–August, S. 65. 196 Ebd., S. 67. 197 Auszug aus »Lützenkirchen: 3 Tage wach«.
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Fotos von gemeinschaftlich begangenen, aufgezeichneten Rauschereignissen gesucht. Auch visuelle Exempel, die sich ironisch kritisch mit Alkohol und Drogen auseinandersetzen, ohne einen »erwachsenen Zeigefinger mit Gesundheitsappell« aufzuweisen, sollen gesucht werden. Rausch kann Selbsterfahrung sein, im negativen Sinne sind Rauscherlebnisse Überbietungs-Wettbewerbe und immer noch überwiegend eine Domäne von männlichen Jugendlichen. Es soll die Struktur eines Sonderformats medialer jugendlicher Selbstdarstellung, die Kategorie der Selbstdarstellung, (kulminiert und entgleist im Festhalten und Veröffentlichen des eigenen Rausches) analysiert werden. Im Mittelpunkt stehen zu Beginn die bewegten Bilder auf YouTube mit game- und musikkulturorientierten Clips. Als Vergleich dazu dienen die stillen Bilder der Fotosharing-Plattform Flickr. Als prototypische Grundformen jugendlicher medialer Selbstdarstellung sind grundsätzlich der EgoClip bei YouTube und der egoshot bei Flickr anzunehmen. Trunkenheit und Kontrollverlust bei YouTube Zunächst interessiert in der Recherche das Spektrum der Rauschbilder bei YouTube und typische Motive, die hierbei rauschbedingt zu finden sind. Thematisch beginnt die Palette bei der Darstellung der Auswirkungen der verschiedenen Rauschmittel und die visuell ästhetischen Auswirkungen des Verlusts der Selbstbeherrschung. Es zeigen sich glasige Augen, knirschende Kiefer oder Riesenpupillen, schreien und lallen, Sprachverlust, motorische Störungen wie Stürze, taumeln, rollen, umfallen, ein nicht mehr aufstehen können, Folgen wie kotzend in der Ecke rumliegen und Hilflosigkeit. Bei Frauen wird auch gerne sexuelle Willenlosigkeit gezeigt:198 Hier werden Frauen betrunken gemacht, um zu leichter Beute zu werden. Die Clipsortierung mit Prozentzahlen zur Thematik Jugend und Rausch (Abfrage im Juni 2010) bringt folgende Ergebnisse. Zunächst bieten sich für den search folgende Suchbegriffe an: betrunken, flatrate parties, Kampftrinken, binge drinking, pissed, breit, stoned oder Komasaufen. Zum Suchbegriff Betrunken finden sich im search 5.130 Clips, zum tag: 5.100 Clips. Die meisten Clips sind selbst erstellt, mit dem Handy oder der Webcam. Ansonsten gibt es viele TV-Ausschnitte (zum Beispiel Stefan Raab), also Mediaremix-Clips. Es finden sich auch einige wenige Musikti-
—————— 198 Es existiert eine eigene flickr Gruppe namens »betrunkene Frauen«.
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tel.199 Für die ausgezählten und gesichteten 144 Clips ist folgende Verteilung festzustellen: Suchbegriff Betrunken search: 5.130 Clips – tag: 5.100 Clips Selbsterstellte Clips mit Freunden Musik-Clips Mediale Berichterstattung oder Aufklärungsspots Humoristischer Umgang
144 Clips 78% 10% 9% 3%
Der nächste ausgewertete Begriff ist Flatrate Party: zum Suchbegriff finden sich nur 35 Clips mit dem tag (diese sind aber inhaltlich nicht relevant): 120 Clips zum tag »Flatrate«; 416.000 Clips zum tag »Party«, in der Kombination der Begriffe aber selten zu finden. Hier deutet sich bereits an, dass bestimmte Begriffe mediale Konstruktionen sind und nicht dem Bezeichnungs-Universum der Jugendlichen entstammen. Ausgezählt bleiben 33 Clips mit der Verteilung: Suchbegriff Flatrate Party 120 Clips tag »Flatrate« – 416.000 Clips tag »Party« Selbsterstellte Clips mit Freunden Musik-Clips Mediale Berichterstattung oder Aufklärungsspots Humoristischer Umgang Kritik am Thema (selbsterstellt)
33 Clips 61% 9% 18% 9% 3%
Es zeigt, dass der Begriff für Jugendliche weniger relevant ist, da er selten zur Visualisierung kommt. Kampftrinken als Suchbegriff: 176 Clips; zum tag: 47 Clips. Ausgezählt wurden 142 Clips, die sich folgendermaßen verteilen: Suchbegriff Kampftrinken search: 176 Clips – tag: 47 Clips Selbsterstellte Clips mit Freunden Musik-Clips Mediale Berichterstattung oder Aufklärungsspots Humoristischer Umgang mit der Trunkenheit
176 Clips 90% 1% 4% 5%
—————— 199 Tomte: »Nichts ist so schön auf der Welt, wie betrunken traurige Musik zu hören«, Reinhard Mey: »Wenn ich betrunken bin«, Pur: »hab mich mal wieder an dir betrunken«.
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Daran anschließend der Begriff Kampftrinker (Ergebnis Auswertung ähnlich wie bei »Kampftrinken«). Suchbegriff: 181 Clips und tag: 56 Clips. Hier finden sich hauptsächlich selbst erstellte Clips, die Jugendliche beim Alkoholkonsum und den damit verbundenen Resultaten zeigen (wie zum Beispiel »Villacher Kirchtag 2008 Bier auf Ex-Kampftrinker«). Der Begriff Kampftrinker kann stolze Selbstbezeichnung sein. Der englische Begriff wird durch das Pendant binge drinking gebildet. Die Clips, die zu finden sind, stehen in starkem Kontrast zu den deutschsprachigen KampftrinkClips. Hier finden sich fast ausschließlich Clips, die über das Thema des binge drinking in »aufklärerischer Mission« berichten und dessen Gefahren aufzeigen. Auch die selbsterstellten Clips, die aktive Binge Drinker zeigen, weisen im Titel auf die Gefahren hin. Zur Verteilung: Suchbegriff Binge Drinking search: 1.460 Clips – tag: 0 Clips Selbsterstellte Clips mit Freunden Musik-Clips Mediale Berichterstattung oder Aufklärungsspots Humoristischer Umgang Kritik am Thema (selbsterstellt)
136 Clips 9% 5% 62% 12% 12%
Komasaufen zeigt als Suchbegriff folgende Verteilung: Suchbegriff Komasaufen search: 198 Clips – tag: 150 Clips Selbsterstellte Clips mit Freunden Musik-Clips Mediale Berichterstattung oder Aufklärungsspots
174 Clips 78% 3% 11%
Humoristischer Umgang
5%
Kritik am Thema (selbsterstellt)
2%
Fake- Berichterstattung
1%
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Bei Wettsaufen findet sich folgende Verteilung: Suchbegriff Wettsaufen search: 193 Clips – tag: 117 Clips Selbsterstellte Clips mit Freunden
137 Clips 93%
Musik-Clips
1%
Humoristischer Umgang mit der Trunkenheit
6%
Ein weiterer Begriff wäre Vorglühen: Suchbegriff Vorglühen search: 560 Clips – tag: 230 Clips Selbsterstellte Clips mit Freunden Musik-Clips Begriffsnutzung zum Thema Auto
154 Clips 98% 1% 1%
Alle abgefragten Begrifflichkeiten zeigen deutlich den Unterschied zwischen von den Jugendlichen benutzten oder medial vorgegebenen Begrifflichkeiten; dies kann man vor allem an der Anzahl der selbstgedrehten Clips und deren Benennung feststellen. Zudem gibt es vor allem aus der medialen Außensicht Clipmedleys à la Pleiten Pech und Pannen, wo nicht nur jugendliche Betrunkene teils humoreske Entgleisungen im Slapstick Style vorführen. Auf dem Handy sind solche Ereignisse leicht festzuhalten, um der Schadenfreude zu frönen. Einige dieser Videos sind best of’s; zeigen die lustigsten und betrunkensten Personen. Bei den Musikvideos gilt es ergänzend auf den Clip von Deichkind »Arbeit nervt« hinzuweisen, der nicht über search und tag gefunden wurde, aber ergänzend einen überraschenden Umgang mit dem Rausch- und Genussmittel Bier in den Vordergrund stellt. Dabei handelt es sich um ein großes Bierfestival-Video mit Bierdusche für die Feiernden im Stil der »Cola Light mit Mentos-Videos«200: Eine Sinfonie aus Bierfontänen, eine Körperinstallation mit Rüstungen aus sprühenden Bierdosen, Partypeople in einer Bierschaumdusche. Die gekrönten Bierbauchkönige von den Deichkindern tanzen mit goldenen Bierdosen, die Band spielt innerhalb einer Bierdose.
—————— 200 http://www.youtube.com/watch?v=hKoB0MHVBvM
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Das Video macht den kunstvollen Exzess und die Ekstase körperlich wahrnehmbar. Dieses ironische Video folgt der YouTube Ästhetik der experiment/transform Clip-Kategorie und ist zugleich durch seine künstlerische Performance ein art-Clip. Es nähert sich der künstlerischen Interpretation des Alkoholexzesses. Eine weitere Facette der Visualisierung von Rauschzuständen, diesmal mit dem Schwerpunkt der chemischen Rauscherzeugung namentlich durch die Droge Ecstacy, stellt das Video von Tobias Lützenkirchen mit dem Titel »Drei Tage wach« dar. Es handelt sich um einen »party track«, eine Collage eines langen Partywochenendes inklusive Vorglühen. Das Stück war der große Sommerhit des Jahres 2008 und rief bei einer Vielzahl der Partygänger, welche ebenfalls die im Liedtext benannten Rauscherscheinungen nach außen zeigten oder zumindest kannten, ein wissendes Grinsen hervor. Das Video präsentiert in Hasenkostümen getarnte, anonymisierte Protagonisten, die sich dem Rausch der Clubnächte hingeben. Die Räume der gegenwärtigen Clubszene und ihre Utensilien (zum Beispiel den Technics 1210), die Streetwear-Szeneläden und die Clubräume werden im Rausch durchwandert. Vor diesem Hintergrund wird ein »druff und verstrahlt sein« durch die Partydroge zelebriert, aber auch die Auswirkungen thematisiert. Das Clubbing hat wie jede andere bedeutende Musikkultur unter anderem auch Drogen und Exzesse im Gepäck. Zu Lützenkirchen gibt es sehr viele Response-Videos und musikalische Remixe, häufig wird die Musik benutzt, um Bilder von außer Kontrolle geratenen Leuten im Rausch zu untermalen. Trunkenheit und Kontrollverlust bei Flickr Zum direkten Vergleich sollen nun die gleichen Schlagworte bei Flickr ausgewertet werden. Fotos zum Stichwort betrunken verteilen sich auf zwei große Gruppen: Die Doku-/Event-Fotos von Menschen und die Inszenierten Fotos von unbelebten Gegenständen nach ästhetischen Vorgaben (Stillleben von Flaschen, etc.), inszeniert Humoristisches (wie betrunken aussehend). Der Begriff »betrunken« scheint also auch für Jugendliche relevant zu sein. Bei dem Schlagwort Flatrate Party scheint es sich eher um einen von den Medien generierten Begriff zu handeln. Unter dem Suchbegriff finden sich 54 Fotos; beim tag 3 Fotos. Dabei sind alleine 15 Fotos von einem User und zeigen keine Betrunkenen, sondern vielmehr Stillleben mit Flaschen; der Begriff ist daher nicht repräsentativ und wird vernachlässigt.
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Ebenso verhält es sich mit dem Suchbegriff Kampftrinken bei Flickr: erbringt 12 Fotos, der tag 4; auch mit dem Begriff Kampftrinker verhält es sich analog (Suchbegriff: 16 Ergebnisse; tag: 1 Ergebnis). Suchbegriff betrunken201 search: 2.817 Fotos – tag: 1.863 Fotos Doku/Event Fotos Betrunkene Entblößung Fotos ohne sichtbar Betrunkene Inszenierten Fotos Arrangement von unbelebten Gegenständen Inszeniert Humoristisches
153 Fotos 16% 8% 41% 18% 17%
Erfolgversprechender scheint das englische Pendant binge drinking (Suchergebnisse von Binge und Drinking). Diese englischsprachige Variante des Komasaufens enthält wie die Clips bei YouTube auch die institutionellen Kampagnen gegen Alkoholkonsum. Diese verteilen sich folgendermaßen: Suchbegriff binge drinking search: 2.589 Fotos – tag: 885 Fotos Doku/Event Fotos Betrunkene Entblößung Fotos ohne sichtbar Betrunkene Inszenierten Fotos Arrangement von unbelebten Gegenständen Inszeniert Humoristisches Anti-Alkohol-Kampagnen
140 Fotos 16% 2% 24% 38% 17% 3%
—————— 201 Abfrage vom 27.01.09; bei Serien vom selben User vom gleichen Event wird nur jeweils ein zufällig anfallendes Bild gezählt. Auch einfach nur verwackelte Fotos wurden mit dem tag Betrunken versehen.
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Komasaufen bringt folgende Verteilung: Suchbegriff Komasaufen search: 83 Fotos – tag: 66 Fotos Doku/Event Fotos Betrunkene Entblößung Fotos ohne sichtbar Betrunkene Inszenierten Fotos Arrangement von unbelebten Gegenständen Inszeniert Humoristisches
63 Fotos 22% 2% 38% 14% 24%
Bei Komasaufen sind mehr Betrunkene zu sehen als in den vorherigen Kategorien. Wettsaufen bringt als Suchbegriff: 13 Ergebnisse, als tag: 0 Clips, ist daher nicht relevant. Interessant wird es dann bei dem Begriff Vorglühen (diese Fotos sind hauptsächlich zuhause aufgenommen und zeigen die Vorbereitung auf eine Party, nur teilweise die Party an sich): Suchbegriff Vorglühen search: 1.239 Fotos – tag: 578 Fotos Doku/Event Fotos Betrunkene Fotos ohne sichtbar Betrunkene Inszenierten Fotos Arrangement von unbelebten Gegenständen Inszeniert Humoristisches
123 Fotos 3% 84% 11% 2%
Nach der ersten Auswertung der Suchbegriffe bei Flickr ist das Ergebnis eher bescheiden, sehr viel mehr Material scheint sich in den special interest Gruppen von Flickr zu finden: hier erscheinen Stichworte wie »drunk of the day«, »puking in the street«, »party victims« und »puking pictures« zielführend. Sie konzentrieren sich vor allem auf die unangenehmen Nachwirkungen des Alkoholkonsums. Die Gruppe »party victims« hat zum Beispiel 585 Mitglieder, es werden drei Diskussionen geführt, und es sind 611 Fotos eingestellt. Die Gruppe wurde vor 42 Monaten mit den Stichworten: »the drunk«, »the decorated«, »the left-overs that took a zip too much at
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your party and are lying around half-naked. (please think twice when you post a photo that might be too…)« gegründet. Hier bestätigen sich nochmals die Kategorien, die in den ausgewerteten Fotos zu finden waren, aber auch die These, dass es gewisse Vorgaben für die Inszenierung von Trunkenheit gibt. Noch beliebter ist die Flickr Gruppe »Betrunkene Frauen« (drunk women), sie hat 1.182 Mitglieder. In ihr werden zwei Diskussionen geführt, und es gibt dort 311 Fotos. Die Gruppe wurde vor zehn Monaten gegründet und mit folgendem Schwerpunkt beschrieben: »Betrunkene Frauen (Ehefrau, Freundin, Bekannte, Unbekannte), eure Frau oder Freundin war betrunken und ihr habt Bilder davon gemacht, dann stellt sie hier herein und lasst uns teilhaben.« Der hohe Anteil an »lurkern«, also Voyeuren, die keine eigenen Bilder einstellen, erklärt sich natürlich an den Bildmotiven von wehrlosen und halb entblößten Frauen, für die sich gerne, vornehmlich männliche, Betrachter finden. Insgesamt sind für Flickr noch tiefergehende Recherchen und Auszählungen notwendig; die ersten Sichtungen zeigen jedoch, zum Beispiel mit dem Begriff Vorglühen, neue Suchwege. Vorglühen wurde innerhalb der YouTube Recherchen entdeckt, und auch der Gegencheck bei Flickr bestätigt, dass es sich um einen jugendrelevanten Begriff handelt. Die hier erstellten Fotokategorien der Web 2.0-Plattform Flickr sind noch im Bildungsprozess: neben der für Flickr aufgestellten Kategorie der egoshots treten die aus YouTube abgeleiteten Parallelkategorien Doku/event-Foto und Funfoto. In der Zusammenschau werden auf Flickr sehr wenige Bilder von offensichtlich betrunkenen Jugendlichen auffällig, der prozentuale Anteil ist sehr gering, und wenn Bilder vorhanden sind, dann sind diese schwerer zu finden als angenommen. Die Ergebnisse zeigen, dass das von den Medien und einigen Jugendforschern vertretene Bild der sich permanent nur besinnungslos zudröhnenden und sich medial exponierenden Jugendlichen für die Mehrheit nicht zutrifft und dass meist das Feiern und Zusammensein mit Freunden im Vordergrund steht. Verstrahlte und rauschende Bild-Inszenierungen Die meisten jugendlichen uploader auf YouTube/Flickr wollen keine neue Ästhetik oder Kunstform etablieren, schon gar nicht mit Videos/Fotos der verlorenen Selbstbeherrschung. Konstruierte Begriffe wie »Flatrate-Partys«
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oder binge drinking sind Verweise auf die all-inklusive »Ballermann«- Phänomene bei den Erwachsenen. Die Einschätzungen der Bildwelten des Rausches von Erwachsenen und Jugendlichen unterscheiden sich immens. Die neuesten Anti-Alkohol-Kampagnen wie »StayGold 2008«202 zeigen Bilder, die viele Jugendlichen zwar kennen, die jedoch für sie noch nicht als drastische Bilder mit abschreckender Wirkung gelten. »Doch anders als von den besorgten Erwachsenen erhofft, stehen solche Szenen bei den Jugendlichen eher für einen »lustigen« Abend. Und anstatt das Besäufnis im Freundeskreis zu missbilligen, honorieren es die Kumpels als Leistung. […] Schließlich könne »ein gemeinsamer Rausch mit Freunden häufig Teil eines sozialen Bindungsrituals« sein und werde demnach »positiv eingeschätzt und mit Spaß, Freundschaft und guten Zeiten assoziiert – obwohl manche Jugendliche dabei auch das Ziel von Erniedrigungen werden können.«203
Ähnlich wird die »StayGold«-Kampagne der Bundes-Drogenbeauftragten Bätzing von Jugendlichen unterschiedlich eingeschätzt: Eher brave Jugendliche aus der süddeutschen Provinz bestätigen in einem YouTubeClip, dass die Fotos ihre abschreckende Wirkung zeigen. Besonders auffällig und bedenklich ist, wie bei der StayGold-Kampagne genderspezifisch gewarnt wird. Bei den Jungen sind die bildlichen Konsequenzen peinlich, aber ohne Auswirkungen für ihren Lebenslauf und nicht so weitgehend sexuell konnotiert. Männliche Jugendliche, die von Erbrochenem bedeckt sind oder deren Hose in der Schrittgegend einen nassen Fleck aufweist, können am Wochenende ein normaler Anblick sein und sind keine Frage der »Ehre«. Mädchen sind jedoch diejenigen, denen visuell klar gemacht werden soll, zu viel Alkohol führe zu selbst verschuldeter Vergewaltigung (ein Bierdeckelmotiv der »StayGold«- Kampagne). Die Kampagne visualisiert das gesellschaftliche Gebot für Mädchen, niemals die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren. Es ist bedenklich, zu beobachten, welche traditionellen Geschlechterbilder diese offizielle Regierungskampagne transportiert. Sie ist somit als visuelles Gender-Mobbing von offizieller Seite zu bezeichnen.204 Um visuelles Mobbing handelt es sich ebenso,
—————— 202 http://www.staygold.eu/die-kampagne/die-kampagne.html (STAY GOLD ist eine Initiative der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes unter der Schirmherrschaft von Sabine Bätzing, Drogenbeauftragte der Bundesregierung). 203 von Drach, Markus C. Schulte (2007), Jugend und Alkohol. Sie trinken weiter, Sueddeutsche.de vom 10.12.2007. 204 Siehe »visuelles Mobbing« bei: Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Recht Marcus (2008), Happy Slapping und visuelles Mobbing, in: Herbert Scheithauer/Tobias Hayer/Kay
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wenn die aufgenommenen Videos/Fotos ohne Wissen der wehrlosen betrunkenen Person ins Netz gestellt werden, was in einigen Fällen passiert. Dieses Problem ist im Rahmen einer Neukonstitution von Privat und Öffentlichkeit im Netz zu diskutieren. Die Androhung von biographischen Konsequenzen für Jugendliche, die ihre alkoholischen Exzesse im Bild festhalten, ist massiv und wird von einer nicht gänzlich unbegründeten Angst genährt. Es gilt zu bedenken, dass die Neukonstitution von öffentlichen und privaten Anteilen im Rahmen eines sogenannten Privacy Managements auch von Erwachsenen erlernt werden muss; hierzu ist ein ganz neuer Dienstleistungssektor im Netz entstanden. Es gibt zahlreiche warnende Berichte in den Massenmedien über naive Jugendliche, welche sich betrunken und kotzend ins Netz stellen und damit eine zukünftige Jobsuche gefährden. In den Medien formiert sich getreu der geltenden Normen ein sozialer Appell an die Vernunft: »sei gesund, sei leistungsorientiert, sei produktiv«. Der globale Kapitalismus kann keine exzessiven Trunkenbolde gebrauchen, die sich auch noch stolz im Bild zeigen. Diese willentliche Schwächung der Arbeitskraft kann nicht geduldet werden. »Was die Produktivität des Mobs reduziert muß zuerst weg […]. Solch spiessige Gesetze und Normen führen zu Ödnis, Langeweile, Mittelmäßigkeit und nerviger Normalität. Zum Menschen gehört aber auch Ekstase, Exzess und Karthasis.«205
Die neue bürgerliche Gesundheitsreligion einer turbokapitalen WellnessGesellschaft will, dass alle Menschen gut und gesund sind. Der Wunsch nach Exzess und seine Umsetzung, die in ihrer Erprobung zum Jugendalter gehören, suchen sich neue, nun auch visuelle Wege über Fotos und Videos, wie die ausgewerteten Bilder gezeigt haben. »Jeder der sich in eine Technohölle begibt, geht da nicht hin um sich eine Packung Gesundheit abzuholen, sondern um sich eine Dröhnung zu verpassen, das kann auch Alkohol oder Tanzen bei ohrenschädigendem Lärm sein und muß nicht mal zwangsläufig mit Drogen zu tun haben…«206
Die Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zeigen in den letzten Jahren den allgemeinen Rückgang des Alkoholkon-
—————— Niebank (Hg.), Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter. Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen und Möglichkeiten der Prävention, Stuttgart, S. 72–85. 205 Tanith aka Thomas Andrezak, tanithblog, 2008.Online unter: http://www.tanith.org/ 206 Ebd.
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sums.207 Aber da, wo der exzessive Konsum vorhanden ist, verzeichnet sie eine Zunahme der Heftigkeit bis hin zur Alkoholvergiftung. Das zeigen auch die jugendlichen Fotos und Videos in Anzahl und Qualität sehr deutlich und bestätigen so die Ergebnisse der Studie mit den visuellen Erzeugnissen der Jugendlichen selbst. Auch in ihren Rausch-Bildern denken sich Jugendliche gleich als Zuschauer mit, sie filmen und fotografieren sich auch als Zuschauende vor den Medien. So sind die jugendlichen Party-Bilder schon im Bewusstsein gefilmt und fotografiert, dass sie von anderen, von den friends, gesehen werden. Zudem spielen die Stars, ihre Drogen und Alkoholposen eine Rolle. Generell ist man auf Flickr und YouTube nicht einfach ungestaltet betrunken, sondern folgt Bild-Schemata, die an körperliche Vorgänge gekoppelt sind. Man macht Dinge, welche bei Jugendlichen als lustig anerkannt sind. Der einfache, uninszenierte Kontrollverlust gilt nicht als lustig, sondern als asoziale Verwahrlosung. Wichtig scheint in der Darstellung auf Fotos und Videos, dass es sich bei dieser punktuellen Entgleisung nur um einen Spaß und nicht um einen Dauerzustand handelt. Bei den rauschenden Bildern geht es gleichzeitig um den Wettbewerb: hier ist die eigene Überlegenheit im Exzess und eine gute Figur im Überleben zu machen zentral. Die herausgearbeiteten neuen visuellen Kategorien einer jugendlichen Rauschästhetik beziehen sich auf Begriffe wie Vorglühen oder sie zeigen stilllebenartige Arrangements mit Flaschen, Raum- Dekonstruktionen oder die unabsichtliche Entblößung als neues Bild-Genre. Der Rausch stellt ein spezielles jugendliches Bildszenario her, das bestimmte Motive bedient, die schon auf der Plattform präsent sind. Die Rausch-Bilder dienen im jugendlichen Social networking wieder einmal als fluider Kommunikationsschmierstoff. Die Darstellung und bildliche Verarbeitung des Rausches funktionieren als eigene Bestätigung und für
—————— 207 Bei der aktuellen Befragung zeigte sich, dass Alkohol die am weitesten verbreitete psychoaktive Substanz bei Jugendlichen ist. 2008 geben rund drei Viertel (75,8%) der 12bis 17-Jährigen an, schon einmal Alkohol getrunken zu haben. Beim regelmäßigen Konsum von Alkohol ist seit 2004 ein Rückgang zu beobachten. 2004 gaben 26% der männlichen und 16,1% der weiblichen Befragten an, mindestens wöchentlich Alkohol getrunken zu haben, während 2008 21,8% Jungen und 12,8% Mädchen in dieser Altersgruppe regelmäßig zu Alkohol gegriffen haben. Der Anteil der Jugendlichen, die in den letzten 30 Tagen mindestens einmal exzessiv getrunken haben (Binge Drinking, fünf oder mehr Standardgetränke bei einer Gelegenheit), bleibt im Zeitraum von 2004 (22,6%) bis 2008 (20,4%) nahezu konstant.
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die nachträgliche Begutachtung von gemeinsam bewältigten Rauscherlebnissen in der Gruppe. Das bestätigt auch die große Relevanz der thematischen Gruppen, die nur als vernetzte Bild-Universen der Jugendlichen denkbar sind. Die Anschlussfähigkeit des eigenen Bildmaterials ist für die Kommunikation also alles entscheidend.
4.2
Fashion Victims: Jugendliche Mode-Bilder
4.2.1 Modische Selbst-Bilder bei Flickr Dieses Kapitel nähert sich den medial inszenierten jugendlichen Selbstdarstellungen über Körper- und Mode-Bilder. Es beschäftigt sich mit den globalen jugendlichen, auch über Kleidung geprägten Bildern, die im Internet auf der Fotosharing-Plattform flickr.com lagern und durch einen nennenswerten Teil von Präsentationsweisen des Selbst geprägt sind. Schwerpunkt der Untersuchung ist die neu entstandene Form des Popbilds, wobei die Kategorie des Popbilds an dieser Stelle als eine hybride Kategorie zwischen Amateur-/Profibild in den Onlineumgebungen des Web 2.0 eingeführt wird. Die hier vorgestellte Studie sichert zunächst das medienstrukturelle Phänomen, um dann zu einer repräsentativen Auswertung des erhobenen Materials zu kommen, trotz der inhärenten Dynamik, die den Reiz von Flickr ausmacht. Das kollektiv mit Inhalten bestückte Web 2.0und insbesondere Flickr zeigen am deutlichsten, dass Publizieren nicht länger Privileg professioneller Bilderzeuger ist. Das Popbild, eine von Amateuren hergestellte Bildform, in der sich sowohl triviale als auch Darstellungsschemata der bildenden Kunst eingelagert haben, gilt als authentische Bildäußerung, da es sich scheinbar an der alltäglich beobachtbaren Realität orientiert. Die Amateurtechniken sind aber zugleich Anlass für künstlerische und designerische Stile und zeigen sich in Trends wie Super 8, der Lomo-Fotografie und Videoproduktionen mit der Handykamera. Die Amateure verwenden und erzeugen Bilder getreu ihrer visuellen Sozialisation und deren Wahrnehmungswelten, die natürlich auch durch die Gebrauchsbilder professioneller Bilderzeuger wie Fotojournalisten geprägt und so wiederum an künstlerischen Vorbildern geschult wurden. Das individuelle Bildverstehen ist also fest in sozialen und kulturellen Praktiken
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verankert.208 Zudem werden bei der Bilderstellung zahlreiche Entscheidungen getroffen, die einen direkten Eingriff in das Bild darstellen. Bewusst oder unbewusst beeinflussen technische sowie ästhetische Entscheidungen die (Selbst-)Darstellung, beispielsweise durch die Auswahl der Kamera, des Objektivs, der Auflösung, sowie durch Wahl ästhetischer Merkmale wie Bildkomposition oder des Bildausschnitts. Somit ist die Bildproduktion immer von Interpretation und Selektion geprägt.209 Egoshots: Methodische Strategien zur Untersuchung jugendlicher Selbstbilder Für die Verarbeitung der modischen Selbstbilder bietet sich besonders die Übertragung der Kategorie Ego-Clips von den bewegten Bildern zu den stillen an und erhält eine ähnliche Benennung: »egoshots«, die rein auf die Aufnahme der eigenen Person konzentrierten narzisstisch motivierten Bilder, von denen die modische Selbstdarstellung eine Unterkategorie bildet. Die tags, die bei der Erstellung einer Typologie hilfreich zu sein scheinen (erhoben am 1. Mai 2007), beziehen sich auf Formen der Selbstrepräsentation, auf das persönliche, aber auch fotografische Selbstverständnis: me (1.209.948), I (10.083.460), self (586.985), selfportrait (303.601)), auf das Format der medialen Selbstdarstellung (sexy (316.222), posing (409.731), posers (41.573), naughty (29.196), body (192.572), male body (4.677), female body (4.668), my body (33.012)) und auf die sexuelle Orientierung, die häufig gleichzeitig einen definierten Darstellungs- und Körpermodus impliziert (gay (293.586), lesbian (49.982), hunk (9.267).210
—————— 208 Mitchell, William J. (1990), Was ist ein Bild?, in: Bohn, Volker (Hg.), Bildlichkeit, Frankfurt am Main. 209 Knieper, Thomas (2005), Krieg ohne Bilder?, in: Ders., Müller, Marion G. (Hg.), War Visions. Bildkommunikation und Krieg, Köln. 210 Im gegebenen Fall sind zunächst die erforderlichen englischen tags zu formulieren. Begriffe wie beauty (360.325 Bilder) oder beautiful (907.764 Bilder) verfehlen durch die Menge an verschiedenen Bildmotiven, wie Porträts, Naturaufnahmen, Bilder von Kindern, Mode etc., das Forschungsfeld; sie sind zu diffus, um ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen.
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4.2.2 Bildpolitik des Sexuellen bei Flickr Sexualität wird in der Soziologie meist unter modernisierungstheoretischen Annahmen untersucht, was zur Folge hat, dass der Wandel des intimen Handelns in den Blick rückt. Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck stellen fest, dass leitende Normen abnehmen.211 Mit deutlichen Bezügen auf Michel Foucaults These, dass die Diskursivierung der Sexualität den Sex erst machtvoll »eingepflanzt« hat, zeigen Beck/Beck-Gernsheim, dass Enttraditionalisierung Sexualität verbreitet und zu einer mit Sinn aufgeladen Praxis wird. Insbesondere die Frauen- und Geschlechterforschung hat sich darum bemüht, körperliche Erfahrung nicht als naturwüchsig zu behandeln, sondern den Körper als Produkt einer symbolischen Ordnung zu verstehen.212 Sexualität wird in dieser Perspektive zu einer verleiblichten kulturellen Einschreibung, die nachweislich auch über materielle und symbolische Inszenierungen213 verläuft. Durch die vermehrte öffentliche sexualisierte Selbstdarstellung ist eine Aufheizung des elektronischen Raums der Medien zu beobachten. Die Körperdarstellungen scheinen meist keine Grenzüberschreitungen in Form eines Rückzugs aus einer dominanten heterosexuellen Matrix zu sein. Die digitalen Räume sind prädestinierte kommerzielle Behälter der Ware Sexualität. Als Prototypen für die sexuelle Selbstvermarktung erscheinen Bild-Plattformen wie »suicide girls«, auf der erwachsene NutzerInnen sexualisierte Bildinhalte selbst und freiwillig zur Schau stellen. Die sexuelle Präsentation vorzugsweise des weiblichen Körpers wird als individuelle Freiheit verkauft, die sich gleichwohl stets im normativen Rahmen heterosexuell konnotierter Sexualitäten bewegt. Dieses Kapitel beleuchtet sowohl die gängige körperbetonte Darstellung von Jugendlichen, als auch die Abweichungen von normierter Bildpolitik, konkret in der Suche nach anderen Körper- und Sexualitätsbilder in den verschiedenen Formaten und Plattformen des Web 2.0 als Nischen und Rückzugsmöglichkeiten für weibliche, aber auch für männliche Sexua-
—————— 211 Vgl. Beck, U./Beck-Gernsheim, E. (1990), Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main. 212 Z.B. Duden, Barbara (1987), Geschichte unter der Haut, Stuttgart; Honnegger, C. (1991), Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt am Main/New York. 213 Vgl. Hubbard, P. (1998), Sexuality, Immorality and the City. Redlight districts and the marginalisation of female street prostitutes, in: Gender, Place and Culture. A Journal of Feminist Geography, 1, S. 55–72. & Bech, H.: Citysex. Die öffentliche Darstellung der Begierden, in: Soziale Welt, (1/1995), S. 5–26.
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litätsdarstellungen, die einer unmittelbaren Vermarktbarkeit widerstreben. Die Bildpolitiken des Sexuellen, insbesondere der Stellenwert des Sexuellen in der jugendlichen Selbstdarstellung, wurden bisher nicht untersucht. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob es auch »neuartige« Bilder von männlichen und weiblichen Körpern gibt und ob diese der zusätzlichen Aufheizung der sexuellen Märkte dienen oder zu Erweiterungen von männlichen und weiblichen Sexualitätsdarstellungen führen. Die Betrachtung der generellen körperlichen und auch der modischen Selbstdarstellung sind dabei notwendige Zwischenschritte zur Untersuchung einer sexualisierten Selbstdarstellung, deren Existenz für jugendliche NutzerInnen erst noch nachzuweisen wäre und die, wie die Untersuchung zeigen wird, niemals explizit wird. Die leitende Fragestellung ist also, ob und wie sich die Darstellung von jugendlicher Sexualität im Bild durch die Möglichkeiten des Social Web 2.0 auf der Fotoplattform Flickr verändert: Strebt alles in Richtung Warenförmigkeit des jugendlich Körperlichen oder wird Sexualität zum einem wichtigen, relativ autonomen Bereich jugendlicher Selbstdarstellung? Vorangehende sozialwissenschaftliche Studien zum Web 2.0 zum Beispiel zu Flickr, YouTube oder Facebook beschäftigen sich ausschließlich mit dem ästhetisch wenig innovativen Mainstream, die Suche gilt daher vor allem den abweichenden, stilbildenden Fallbeispielen. Wesentlicher Bestandteil von digitalen Jugendkulturen ist die körperbetonte, sinnliche Selbstdarstellung auf den »jungen« Plattformen YouTube und dem Fotosharing bei Flickr.214 Der Abschnitt wird die größte und meist genutzte Fotoplattform Flickr in den Blick nehmen, um sie auf sexualisierte (Selbst-)Darstellungen zu untersuchen. Diese wird als Ort primär »usergenerierter« Sexualitäten angenommen: Sie definieren sich nicht explizit sexualisiert, es ist jedoch davon auszugehen, dass sie sich kommerziellen sexuellen Darstellungsschemata bewusst oder unbewusst annähern. Sexualität ist für Jugendliche ein hochsensibles Gebiet, sodass häufig andere tags gefunden werden müssen. Für die Recherche und die Analyse kann nicht von Begriffsapparaten Erwachsener ausgegangen werden. Flickrnde Sexyness Im nächsten Abschnitt erfolgt nun die Zuspitzung der erarbeiteten Thesen für die Darstellung von männlichen und weiblichen Körpern und ihrer
—————— 214 Richard, Birgit (2009), Dating – Posing – Casting im Web 2.0. Bildformen jugendlicher Selbstdarstellung bei YouTube, in: Hugger, Kai (Hg.), Digitale Jugendkultur.
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Bekleidung auf die Intention sich sexuell attraktiv und erotisch darzubieten. Hierzu wurden die dementsprechenden Schlagwörter abgefragt und ausgezählt (November 2009). tag Sex (224133 hits) Weiblichkeitsdarstellungen Männlichkeitsdarstellungen Couple Other (Kein Bezug zu jug. Bildwelten) tag Sexy (1032206hits) Weiblichkeitsdarstellungen Männlichkeitsdarstellungen Couple Other (Kein Bezug zu jug. Bildwelten)
350 Fotos ausgezählt 29% 3% (alle heterosexuell) 2% 66% 392 Fotos ausgezählt 84% 5% (überwiegend hetero) 3% 8%
Tag Nude (208213hits) Weiblichkeitsdarstellungen Männlichkeitsdarstellungen Couple Other (Kein Bezug zum tag)
274 Fotos ausgezählt 76% 13% 2% 9%
Vergleichbare tags, wie naked, hot, hottie weisen ähnliche Gewichtungen auf. Groups (eher jugendorientiert) Teen Style Skinny Shirtless Guys Pics of Sexy Gay Guys with Braces Emo Boys=Heart <3 Sexy Men Who Smoke Sexy Emo Boys Hot Emo
Pics 28026 1316 21 604 195 321 459
Members 2944 2268 45 424 277 368 197
Unter den gängigen »erwachsenen« tags für die Darstellung von Sexualität (Sex, Sexy, Nude, Naked, Hot, Hottie) finden sich fast überhaupt keine Verweise auf jugendliche Bildwelten und Inszenierungen. Jugendliche scheinen sich mit den tags überhaupt nicht zu identifizieren, sondern sich
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sogar angstvoll vor so viel Deutlichkeit zurückzuziehen. Wenn, dann findet man unter den tags meist stereotype Darstellungen von meist weiblichen, Körpern. Der tag »Sex« weist überdurchschnittlich viele Bilder auf, die nichts mit diesem zu tun haben, jedoch hilfreich ist, um die Clickrate zu erhöhen. Stellenweise finden sich auch explizite Darstellungen von Nacktheit bei erwachsenen Einzelpersonen. Diese sind aber meistens für den User nicht zugänglich, sondern an eine Gruppenzugehörigkeit gebunden. Explizite Darstellungen von Körperlichkeit, sind meist im Homosexuellenoder Fetischbereich anzusiedeln. Hier finden sich andere Motivgruppen und Stereotypen, bzw. neue Möglichkeiten für die sexualisierte Selbstdarstellung, wie beispielsweise das »Naked Gardening«.215 Männliche Bildtypen: »Indie Boy« & Macho Man Im Bild-Universum von Flickr lassen sich verschiedene geschlechtsspezifische Typologien ausmachen. Maskeraden der Männlichkeit sind daher, im Gegensatz zu den Maskeraden der Weiblichkeit, auch Aufführungen von »Authentizität«, sogar wenn sie einen gänzlich »unmännlichen Mann« performen.216 Daraus resultiert das Paradox, dass auch der verstellte Mann der echte Mann ist, was Auswirkungen auf die parodistische Überzeichnung von Geschlechtsidentität hat. Stark zur Schau gestellte Weiblichkeit kann, laut Benthien, leicht als künstliche Übertreibung gelesen werden, während es sich im Falle von Männlichkeit um den Versuch einer Potenzierung handelt, besonders in der zeitgenössischen Kultur, in der sich exzessive Männlichkeit primär in der Physis zeigt. Das subversive Moment der Repräsentation von Männlichkeit liegt also vielleicht eher im Akt der Performanz als im Bild selbst. Es können zwei Männertypen herausgearbeitet werden, zwischen deren Polen diverse Möglichkeiten zur Selbstdarstellung liegen. Ersterer kann als »Indie Boy« bezeichnet werden, weil seine bildliche Darstellung androgyne und sensible Jungenhaftigkeit repräsentiert. Dieser Typus wird von Susan Bordo217 als leaner bezeichnet, weil sich die Dargestellten im Bildmotiv üblicherweise anlehnen oder auf ein Objekt stützen. Die vom leaner darge-
—————— 215 http://www.flickr.com/photos/dgthornhill/sets/72157605873964407/ 216 Benthien, Claudia (2003), Das Maskerade-Konzept, in: Claudia Benthien und Inge Stephan (Hg.), Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln, S. 56. 217 Bordo, Susan (1999), The Male Body, New York, S. 187.
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stellten Posen sind eher als traditionell »weiblicher« Modus einzustufen. In der kommerziellen bildlichen Repräsentation von Geschlechterstereotypen gilt zudem die visuelle Faustregel John Bergers: »men act and women appear«.218 Damit ist der Figurtypus des leaner dem Bergerschen »appear« näher als der aktiv (Selbst-)Produzierende traditionelle Mann. Die passivsensible Selbstdarstellung des »Indie Boys« ist nicht als Spiel mit Versatzstücken der »gay culture« zu werten (auch wenn der Ursprung hier liegen mag). Als Beispiel für den »Indie Boy« kann das Flickr-Profil des aus Brasilien stammenden Eric Phillips dienen, bei dem die oben beschriebenen Attribute zu finden sind.219 Neben den Sets »Friends« und »Nature«, in denen das im Titel Benannte bebildert wird, findet sich das Set »Myself«, welches 15 Fotos enthält. Auf der Eröffnungsseite von Phillips’ Profil befindet sich ein Bild des »Myself«-Sets. Die in diesem Set angeordneten Fotografien zeigen Phillips in ähnlichen Posen und Bildausschnitten. Sein Gesicht ist im Fokus der Bilder, der Körper ist meist nur im Anschnitt zu sehen. Exemplarisch ist aus Eric Phillips’ »Myself«-Set das Bild mit der Bezeichnung »Herz«, auf dem er ein herzförmiges, diamantenartiges Glasobjekt in der rechten Hand hält.
Abbildung 2: Indie Boy. flickr.com
—————— 218 Berger, John (1972), Ways of Seeing, S. 45, 47. 219 www.flickr.com/photos/eric_phillips
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Der Blick ist zur Kamera gerichtet. Die halblangen, braunen Haare fallen in sein Gesicht und verdecken sein linkes Auge. Der Kopf ist leicht schräg geneigt und befindet sich in der rechten Bildhälfte. Die helle Gesichtshaut und die leichte Überbelichtung lassen das Gesicht weicher und jungenhafter erscheinen. Die rechte Hand, die das Herz hält, befindet sich im linken unteren Bilddrittel, auf Höhe des Kinns. Die Hand, in der das Herz liegt, ist offen. Im Bildhintergrund ist auf der linken Hälfte eine grüne Wiese zusehen, und in der rechten oberen Ecke ein Stück eines Fußwegs. Die Naheinstellung ist aus einer leicht überhöhten Kameraposition von Phillips selbst aufgenommen worden, indem er die Kamera in der linken Hand, mit ausgestrecktem Arm von sich weg hält. Das Bild zeigt, wie durch Blick, Kopfhaltung und Styling »Niedlichkeit« inszeniert wird, die durch die Verwendung des Herzens eine weitere Verstärkung erhält. Er wirkt fast körperlos, das Gesicht repräsentiert den Körper. Die Zartheit der Gesichtszüge, der verträumte Blick und der Schmollmund lassen ihn zurückhaltend erscheinen. Dieses Bild ist mit den tags »lovely« und »heart« versehen, was darauf hinweist, dass er sich der Wirkung seiner Inszenierung bewusst ist. Die Kommentare der Bildbetrachter beziehen sich dagegen fast ausschließlich auf die technische Ausführung des Bildes.
Abbildung 3: Macho Man. flickr.com
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Der zweite Männertypus, der die andere Seite des Spektrums von Männlichkeit verkörpert, kann als »Macho Man«220 bezeichnet werden, weil hier eine expressive Männlichkeit zum Tragen kommt. Diese Hypermaskulinität nimmt (Bild-)Raum durch physische Präsenz ein. Sie vermittelt den Eindruck physischer und psychischer Stärke, damit eine archaische Form von Männlichkeit, die das Versprechen von Kraft und Potenz transportiert. Im Vergleich zum leaner trifft hier der Begriff des rock221 zu, einer Form von Männlichkeit, die sich als kraftvoll, gepanzert und emotional undurchdringlich präsentiert. Das bildliche Selbst tritt dabei in Wettbewerb mit dem Bildkonsumenten. Es geht immer als Sieger hervor, weil der Rezipient der körperlich-kriegerischen Männlichkeit nichts entgegenzusetzen hat. Als ein Beispiel für den Typus »Macho Man« dient das Flickr-Profil von Calgary56.222 Das Set »Narcissism« (13 Bilder) zeigt Calgary56 bei der Selbstdarstellung. Nur eins der acht Bilder, die dem Muster der Selbstdarstellung folgen, ist definitiv als Selbstporträt auszumachen, weil hier der ausgestreckte Arm von Calgary56 erkennbar ist, der die Kamera hält und sein Spiegelbild aufnimmt. Die anderen Aufnahmen sind mit Selbstauslöser oder von einer anderen Person aufgenommen. Die Selbstporträts sind alle schwarz/weiß, andere Bilder des Sets auch farbig. Die acht Bilder, die Calgary56 zur stilisierten Selbstrepräsentation nutzt, zeigen immer nur bestimmte, durchtrainierte Körperpartien wie Bauch, Brust und Rücken.223 Sein Gesicht ist entweder nicht zu sehen oder es wird bewusst mit einem Cowboyhut verdeckt. Das Bild ist nicht betitelt – es scheint für sich selbst zu sprechen. Es zeigt den muskulösen Torso und den Kopf von Calgary56. Das Gesicht ist bis zur Mundpartie mit einem schwarzen Cowboyhut verdeckt. Der Körper steht seitlich zur Kamera. Der rechte Arm ist angewinkelt und greift über die Brust zur linken Schulter. Der Arm verdeckt so die Kinnpartie des Gesichts, das, nach unten geneigt, in Richtung Kamera zeigt. Der schwarze Cowboyhut nimmt das obere rechte Drittel des Bildbereichs ein, während der Körper, etwas links von der Bildmitte, einen großen Teil des restlichen Bildbereichs ausfüllt. Der Hintergrund ist weiß oder grau, und die Schat-
—————— 220 Cole, Shaun (2000), Macho Man: Clones and the Development of a Stereotype, in: Fashion Theory, Volume 4, Issue 2, Great Britain, S. 125–140. 221 Bordo, Susan (1999), The Male Body, New York. 222 www.flickr.com/photos/40376425@N00 223 Zum Begriff der Körper-Fragmentierung, und dem Gesichtspunkt der fetischisierenden Skopophilie als Initiator des »Gaze« vgl. Recht, Marcus (2010), Die Figur des »sympathischen Vampirs« als Gender-Ikone in der TV-Serie Buffy, unveröffentlichte Diss., erscheint 2010.
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ten, die Körper und Cowboyhut werfen, weisen darauf hin, dass Calgary56 direkt vor der (Lein-)Wand steht und der Bildbereich bewusst ausgeleuchtet, das heißt dass es kein Schnappschuss ist. Calgary56 zeigt sich als starker Mann. Das einzige Kleidungsstück/ Accessoire ist der Cowboyhut, der das Gesicht bedeckt. Die Besonderheit ist, dass der Körper bis zum Ansatz des männlichen Geschlechtsteils gezeigt wird. Das Gesicht spielt bei der Selbstrepräsentation nur eine untergeordnete Rolle; der Körper steht im Mittelpunkt. Die Wahl des Cowboyhuts als Maske ist neben dem muskulösen Körper ein weiteres Symbol von expressiver Männlichkeit und verweist auf den historischen amerikanischen Machismo, der in Westernfilmen und der Gay Community zitiert wird. Shaun Cole224 beschreibt, wie wichtig der Archetyp des Cowboys und der des Bikers für die Entwicklung schwuler Styles waren, weil sie einen traditionellen, gleichzeitig non-konformen Aspekt von Männlichkeit repräsentierten. Die Schwulenszene der siebziger Jahre suchte auf diese Art eine positive Abkehr vom »verweiblichten« Schwulen-Stereotyp. Der Begriff »Macho« und die dazugehörende Bild- und Stilwelt wurde durch die Anlehnung an eine traditionelle Männlichkeit als maskuliner eingeschätzt und war daher von großem Interesse für die Gay Community. Somit speist sich bildliche Selbstdarstellung von Calgary56 auch aus dem Repertoire der »schwulen Bildwelt«. Nur ein Bild seines Profils, welches die Bildunterschrift »Wife took this over my shoulder« enthält, legt seine sexuelle Orientierung dar. Es zeigt sich die Überschneidung und Gleichzeitigkeit von hetero- und homosexuellen Männerbildern. Beide Männertypen (»Indie Boy« und Macho Man) entsprechen in ihrem Bild-, Darstellungs-, und Accessoire-Repertoire auch einem der schwulen Szene inhärenten Ursprung, der in der zeitgenössischen Selbstdarstellung allen sexuellen Präferenzen entspricht. Das bedeutet allerdings nicht, dass die heterosexuellen Bildproduzenten bewusst mit der Ambivalenz der Nichteindeutigkeit spielen. Nur selten kommt es zum bewussten Bruch mit Stereotypen. Die subversive Pose liegt also im vorangegangenen Diskurs der jeweiligen Typologien, die, wenn sie in Flickr auftauchen, schon längst ein Teil der Mainstream-Kultur geworden sind. Gesicht und Körperbilder erfahren häufig eine Trennung. Die Separation von Porträts und Bodyshots findet nur dann eine Auflösung, wenn es der Komplettierung des Männerbildes zuträglich ist. Trotz
—————— 224 Cole, Shaun (2000), Macho Man: Clones and the Development of a Stereotype, in: Fashion Theory, Volume 4, Issue 2, Great Britain, S. 125–140.
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der beschriebenen Referenzen kann gesagt werden, dass es kaum einen technisch-abstrahierenden oder subversiven Umgang mit männlichen Körperbildern gibt. Weibliche Bidtypen: Sexyness, Hässlichkeit und künstlerische Inszenierung Anhand von drei verschiedenen Profilen soll dargestellt werden, auf welche Art bei Flickr Weiblichkeit wiederholt dargestellt wird. Bei dem Profil von Violet1980 handelt es sich um einen kostenpflichtigen Pro-Account mit drei Sets. Das Set »Portraits« enthält 341 Bilder (März 2007), die ausschließlich Violet1980 zeigen. Zwischen den klassischen one arm length self portraits finden sich auch Körperdarstellungen, auf denen sie sich als verführerischer, verträumt-erotischer Vamp stilisiert. Ihr Gesicht ist fast immer gut zu erkennen. Wenn die Augen nicht geschlossen sind, wirkt der Blick beim Versuch, verführerisch zu wirken, unbeholfen. Die Aufnahmen wurden meist aus einer überhöhten Perspektive, im armlangen Abstand, gemacht und zeigen so vor allem Gesicht und Dekolleté. Die Bildüberschriften versuchen den erotischen Gestus der Aufnahmen zu verstärken, zum Beispiel »Bad Girl« oder »When the seduction it is only a game«(sic!). Nacktheit wird selten gezeigt, da sie bei Flickr eigentlich nicht zugelassen ist. Die Selbstportraits in Spitzenunterwäsche entsprechen dem gängigen Verständnis von Erotik nach Bildvorgaben aus Magazinen und Erotikmesse-Plakaten. Als exemplarisches Bild soll hier das Foto »Presences« dienen, welches von Violet1980 mit vielen tags versehen wurde, wie zum Beispiel: look, bed, body, skin, shoulders, portrait, selfportrait, I, me, myself, girl, woman, sexy, hot. Die tags dienen nicht nur der Erkennbarkeit innerhalb des Flickr-Universums, sondern zeigen, wie die Bildproduzentin sich selbst sieht und interpretiert. Ihr ego tagging zielt auf die bekannten buzzwords für Erotik und Sexiness, sie betont ihren »Marktwert« und damit den Warenaspekt ihres Körpers. Das Gesicht von Violet1980 befindet sich bei dem schwarz/weißen Selbstportrait, wie bei den meisten ihrer Portraits, im mittleren bis oberen Bildbereich. Ihr Körper, der nur bis kurz unter die Schultern zu erkennen ist, befindet sich in einer Bauchlage. Ihre Brüste sind auf Grund des Liegens auf einer nicht zu identifizierenden Unterlage nur angedeutet. Damit wird verheißungsvolle Nacktheit suggeriert und das Prinzip des Striptease eingebracht. Ihre Haare sind offen und fallen leicht in das zur Kamera gedrehte Gesicht. Die Augen sind geschlossen und der Mund leicht geöff-
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net: eine typische Mimik, welche »weibliche« Verführung und Bereitschaft signalisieren soll. Die Aufnahme wirkt szenisch – nicht statisch – und wurde vermutlich mit einem digitalen Weichzeichner nachgearbeitet. Violet1980 stellt ihren Körper in gängigen Posen dar, sie will sich erotisch in Szene setzen. Dabei bedient sie sich dem Fundus pseudokünstlerischer erotischer Aufnahmen von Hamilton bis zu aktuellen Darstellungsmustern des Playboy-Magazins. Sie schließt sich hier mit dem kommerziellen Bildprogramm weiblicher Körperdarstellung kurz und macht sich zum erotischen Angebot im Anpreisen des Selbst. Sie demonstriert, wie schmal der Grat zwischen Sexiness und käuflichem Objekt bei weiblichen Körperbildern verläuft; bei Männerbildern ist dies kein so ausgeprägtes Thema.
Abbildung 4: Inszenierung von »Hässlichkeit«. flickr.com Im Set des Accounts von Myriel befinden sich 109 Fotos. Im Vergleich zu Violet1980 versucht Myriel in ihrem Set »Mee« mit weiblicher Niedlichkeit zu brechen, in dem sie Grimassen schneidet.225 Diverse Serien ihrer Selbstportraits experimentieren mit eigenen Gesichtszügen. Durch die deutlich erkennbare Grimasse ist dem Bildkonsumenten bewusst, dass es sich bei der inszenierten Hässlichkeit nur eine Pose und vorübergehende Erscheinung handelt. Die Aufnahmen zeigen Myriels Gesicht sehr nah. Die Distanzlosigkeit bietet ihr ein Experimentierfeld, mittels der sie die Wirkung ihrer Physiognomie testen kann. Durch die Nähe zur Kameralinse erfährt das Gezeigte eine leichte Verzerrung. Dies unterstreicht das Moment des Absurden im Selbstportrait. Make-Up und Kleidung wechseln – das verzerrte Gesicht bleibt. Bei dem Bild »stupid poser«, das exemplarisch für
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225 http://www.flickr.com/photos/myriel
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Myriels Selbstrepräsentation ist, streckt sie die Zunge heraus, zieht die Oberlippe nach oben und hat die Augen leicht zusammen gekniffen. Ihr Kopf füllt fast den gesamten Bildbereich aus. Nur im äußeren linken Bildbereich ist ein Hintergrund zu erkennen (vermutlich eine öffentliche Toilette). Myriel schaut mit dem Gesicht leicht schräg zum Bildmittelpunkt. Ihre halblangen, dunkelblonden Haare hängen im Gesicht. Ihre Augen sind stark dunkel geschminkt. Sie trägt ein schwarzes Tanktop. Ihr rechter Arm ist an der Hüfte angewinkelt. Mit dem linken Arm hält sie die Kamera, die aus leichter Obersicht aufnimmt. Die eingenommene Pose und der Gesichtsausdruck imitieren Johnny Rotten oder Billy Idol. Die PunkAttitude wird durch Make-up und Kleidung unterstützt. Auch der öffentliche Toilettenraum dient der Verortung innerhalb der Bildwelt dieser Subkultur. Die Bildunterschrift »Mommy, I’m drunk, I’m bad and I’m outta control« tut ihr Übriges. Würde man dieses Bild dem Set entreißen und losgelöst davon betrachten, läge der Schluss nahe, dass Myriel in diesem subkulturellen Umfeld zu verorten wäre. Innerhalb des Sets »Mee« befinden sich jedoch andere Aufnahmen, die sie in Nikolaus-Verkleidung oder nicht szene-typischer Bekleidung zeigen und somit eine ganz andere Interpretation zulassen. Myriel nutzt Flickr als Spielwiese, auf der sie mit ihrem Äußeren experimentieren und Stilrichtungen verwischen kann.
Abbildung 5: Künstlerische Inszenierung von Weiblichkeit. flickr.com
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Das dritte zu analysierende Profil gehört Esther_G. Die Bilder sind klar als künstlerisch-motivierte Arbeiten zu erkennen, die in Darstellung, Technik und Bildbearbeitung professionell wirken.226 In ihren Arbeiten setzt sich Esther_G mit den Themen Geschlecht, Weiblichkeit und Maskierung auseinander. Die Aufnahmen sind durchweg inszeniert, meistens stark nachbearbeitet und oft verfremdet. Esther_G’s Profil beinhaltet 58 Sets, die unter anderem Titel tragen wie: »Identity Crisis«, »Woman«, »Ego Defense Mechanisms«, »Stop hurting me now« oder »Mirror mirror«. Die Bilder reflektieren nicht nur die Schwierigkeit der Selbstdarstellung außerhalb gängiger Stereotype, sondern auch die Position der Frau als Bildproduzent innerhalb des Flickr-Universums. Innerhalb des künstlerischen Kontextes ist der hier präsentierte Habitus kein ungewöhnlicher. Das Set »another way« zeigt Selbstporträts, die sich mit Themen wie Metamorphose und Verschmelzung auseinandersetzen. Das Bild »Thorazine«, das hier vorgestellt wird, ist eine Fotomontage mit aneinander gefügten Gesichtshälften. Das Doppelporträt ist eine Nahaufnahme und zeigt den Kopf im Anschnitt. Das erste Gesicht schaut von der Bildmitte her in den linken Bildbereich. Das Zweite blickt nach rechts. Das Kinn ist Ausgangspunkt der Fotomontage und verbindet die beiden Gesichter. Beide Gesichter blicken melancholisch aus dem Bildbereich heraus. Die Trennlinie zwischen den Gesichtern wird durch eine Narbe dargestellt, die entlang der Wangenpartien verläuft. Das schwarz/weiße Portrait ist weich ausgeleuchtet und hat einen schwarzen Hintergrund. Das Bild, technisch perfekt inszeniert, erzeugt durch den Einsatz von Photoshop-Bearbeitung eine Stimmung, die das Gefühl von Zerrissenheit widerspiegelt. Durch die technische Manipulation wird der Konsensbereich des Schönen zugunsten des Versuchs der Darstellung einer bestimmten Emotion verlassen. Es wird mit einem gesellschaftlichen Schönheitsideal gebrochen, um einem künstlerischen zu entsprechen, welches Schönheit in der abstrakten Selbstrepräsentation generiert. Women act – men appear? Bei der jugendlichen Selbstdarstellung auf Flickr spielt Mode eine entscheidende Rolle. So finden sich unter dem tag »fashion« 1.564.582 Einträge (Abfrage November 2008). »Fashion victim« verzeichnet nur noch 4.786 Einträge. Versucht man, die Fotos nach Geschlecht zu sortieren,
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226 http://www.flickr.com/photos/belljar
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finden sich unter den erweiterten Suchkriterien noch weniger passend »getaggte« Bilder. Die Erweiterung des tags »fashion victim« um den tag »girl« zeigt 229 und die Ergänzung durch den tag »boy« nur noch neun Einträge (Stand 28.10.2008). Im Allgemeinen beschreibt »fashion victim« eine Person, die mehr als nur modebewusst ist. Das »fashion victim« ist Opfer der Konsumgesellschaft, welches durch Konsumieren und Tragen der aktuellsten Mode, dem Zwang unterliegt, immer trendbewusst zu sein, um so eine Steigerung des eigenen kulturellen Kapitals zu bewirken. Einerseits findet durch die Selbst-»Viktimisierung« eine Kritik an Strukturen der Konsumgesellschaft statt. Gleichzeitig wird das Anzeigen des »Opfers« aber auch prototypisch benutzt, um die Schwäche der Einzelperson hervorzuheben, die sich nur über ihren modischen Konsum einen Status verschaffen kann, nicht über die Persönlichkeit. Dieses persönliche Stilbewusstsein wird dem »fashion victim« abgesprochen. Wer Stil hat, scheint sich diesen kommerziellen manipulativen Mechanismen durch Individualitätsstrategien entziehen zu können. Der Umgang mit Mode (oder Konsumartikeln im Allgemeinen) ist also einer Dichotomie unterworfen: das sklavische Folgen vorgegebener Trends der »fashion victims« ist abzulehnen, damit das kreative Potential der stilbewussten Individualisten gefeiert werden kann. Das »fashion victim« ist also notwendig, damit sich Jugendliche als unverblendet und unabhängig positionieren können. Sie zeigen, dass sie kompetent an der Konsumgesellschaft partizipieren, ohne sich dieser zwanghaft unterzuordnen. Dass diese Dichotomisierung mit Ablehnung der Position des »fashion victims«, nur eine von vielen Selbstrepräsentationsstrategien ist, die sich wiederum dem konsensualen Individualisierungszwang anpasst, kann durch die Invertierung des Begriffs des fashion victims« sichtbar gemacht werden. Die positive Umdeutung durch die Selbststigmatisierung als »fashion victim« wirkt so der moralisierenden Instanz des Stils entgegen. Das Flickr-Profil von »Lorena Cupcake« (julietbanana) zeigt solch eine invertierte Selbstbezeichnung als fashion victim. Eines ihrer Sets ist als »Style Diary« betitelt und zeigt 254 Selbstportraits in wechselnden, sehr bunten Outfits. Ein Text, der den Bildern zur Seite steht, beschreibt Intention und modische Einflüsse von Cupcake, die sie in diesem Set präsentiert. An anderer Stelle erklärt sie, dass sie die Bilder, mit Hilfe eines Stativs oder der klassischen one arms length-Technik aufgenommen hat. Das hier analysierte
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exemplarische Bild227 trägt den Titel »spring is fucking finally here!« und ist mit 32 tags, unter anderem dem tag fashion victim versehen. Lorena Cupcake ist in einer Totalen zu sehen und steht frontal zur Kamera. Die Arme sind vor dem Körper positioniert, um mit beiden Händen eine Handtasche festzuhalten. Sie steht in aufrechter Position; die Füße sind leicht nach innen gerichtet; der Kopf ist ein wenig geneigt. Ihr Blick ist in Richtung Kamera gerichtet; die Augen sind offen, der Blick wirkt jedoch etwas verschlafen. Ihr Mund formt ein neutrales, geschlossenes Lächeln. Das lange braune Haar ist seitlich gescheitelt und hinter die Ohren gekämmt, sodass das Gesicht frei sichtbar ist. Sie trägt eine Brille mit großem, hellem Rahmen im Vintage-Look. Der Titel des Selbstportraits bezieht sich vermutlich auf die Farbgestaltung ihrer Kleidung. Sie trägt einen knielangen, gelben Rock mit schmalen Trägern und Spitzenapplikationen am unteren Rocksaum. Unter dem Dekolleté des Rocks trägt sie ein buntgestreiftes Bikini-Oberteil, welches um ihren Hals geschlungen
Abbildung 6: Lorena Cupcake – fashion victim. flickr.com
—————— 227 Flickr Bild Nr. 2419680768
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ist. Auch die Kniestrümpfe sind buntgestreift, sowie die Träger-Handtasche, die Cupcake vor sich hält und welche am linken oberen Rand mit rosa Federn geschmückt ist. Die Schuhe sind gelb und um beide Handgelenke trägt sie je drei rosa Plastikarmreifen. Lorena Cupcake steht auf einer Wiese, vor der grauen Veranda eines hellblauen Ein-Familien-Hauses. Zwischen ihr und der Veranda befindet sich ein schmales Blumenbeet in dem gelbe Osterglocken wachsen. Die hier präsentierte Niedlichkeit der Protagonistin, sowie der HeileWelt-Charakter der Umgebung wirken in einem Spannungsfeld zwischen schnappschussartiger Kleinstadt-Idylle und einer bunten Hyperrealität, die eben durch das Zuviel an Niedlichkeit die eigene Parodie schon in sich trägt. Lorena Cupcake präsentiert die Gleichzeitigkeit von Modeaffinität und deren Überzeichnung mit einem scheinbar passiven und doch wissenden Ausdruck auf ihrem Gesicht. Der Farbenüberschuss wird selbstbewusst in Szene gesetzt und mit dem tag fashion victim gekrönt. Es findet eine Invertierung der ursprünglichen Bedeutung von »fashion victim« statt, bei dem der Begriff ins Positive umgewertet wird. Das spielerische Moment und der Verkleidungscharakter von Mode stehen hier im Vordergrund und findet durch den Begriff des fashion victims eine Bezeichnung, die den ernsthaften und reflektierten Diskursen, welche sich um Stilbewusstsein drehen, gegenübergestellt wird.
Abbildung 7: Life Sparks – fashion victim »the tie«. flickr.com
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Unter dem tag fashion victim finden sich nur wenige Männer und keine, die sich modisch präsentieren und derart titulieren. Das hier untersuchte Bild, eines männlichen Bilderstellers, trägt den Titel »fashion victim ›the tie‹«.228 Dieses schwarz-weiße Selbstportrait findet sich auf dem Flickr-Profil von Life Sparks und ist mit den tags fashion, victim, boy und tie versehen. Der Umgang mit der Beschreibung als fashion victim ist hier ein gänzlich anderer, als bei dem Flickr-Profil von Lorena Cupcake. »Fashion victim ›the tie‹« zeigt den Close-Up des Gesichts von Life Sparks. Der Kopf, der zum linken Bildrand hin gerichtet ist, ist leicht im Anschnitt zusehen. Der Blick ist in Richtung Kamera gerichtet; Dunkelblonde Haare fallen über die Stirn und bedecken einen Teil des rechten Auges. Um den Kopf hat der Bildersteller eine dunkle Krawatte mit kleinen, hellen Rechtecken, gewickelt. Die Krawatte bedeckt Nase, Mund und Kinn. Die Augenpartie wird folglich von Haaren und Krawatte eingerahmt. Im linken Bildhintergrund ist ein Stück des Oberarms zu sehen. Life Sparks trägt ein helles T-Shirt, von dem aber nur Fragmente zu erkennen sind. Augen und der Teil der Krawatte, der sich über der Nase befindet sind scharf, während der äußere Bildbereich unscharf ist. Das Foto ist professionell inszeniert und ähnelt einem klassischen schwarz-weiß Portrait, dessen Ästhetik durch die Vermummung gebrochen wird. Diese Vermummung allerdings findet ohne jegliche Subversionsabsicht statt. Sie vermittelt die moralisch konnotierte Ursprungsbedeutung von »fashion victim«, nämlich die des sklavischen Mode-Opfers, welches durch den uniformierenden Aspekt, hier durch die Krawatte, seiner Individualität beraubt wird. Life Sparks beschreibt seine drei Bilder umfassende Serie zum Thema des »fashion victims«, als einen »new style (that) is supposed to be inviting, humorous & deep«.229 An Bild und Aussage lässt sich erkennen, dass für Life Sparks ein kritischer Umgang mit den Diktaten der Mode, der einzig mögliche zu sein scheint. Die Reflektion ist auf einer »kulturkritischen« Ebene angesiedelt, die über eine klare Bild-Gestaltung erreicht wird. Das künstlerische Potential wird technisch-professionell umgesetzt, es nähert sich jedoch nicht dem Diskurs des »fashion victims« auf eine kritisch-reflektive Art an. Es spielt auch nicht mit den Klischees und Erwartungen oder inszeniert sie bewusst, wie es bei dem Bild von Loretta Cupcake der Fall ist. Das Thema des fashion
—————— 228 www.flickr.com/photos/lifesparksphotography/502276788/in/set-72157604783699 242 229 http://www.flickr.com/photos/lifesparksphotography/501375601/in/set-7215760478 3699242/
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victim als Spezialform des egoshots, weist ähnliche Unterschiede wie bei der geschlechterspezifischen Selbstdarstellung im Allgemeinen auf: der weiblichen fotografischen Position scheint der jeweilige Selbstrepräsentationsdiskurs vertraut; Sie ist dabei selbst in der Lage die kritischen Positionen zu hinterfragen. Die männliche Position muss sich erst einmal über schon etablierte Muster der Kritik, verorten. Hierbei spielt immer noch die stereotype Vorannahme eine große Rolle, welche besagt, dem Mann sei sein Körper Schmuck genug und Mode gehöre nicht in den Bereich der aktiven Selbstdarstellung.
4.2.3 Jugendliche Körper- und Modebilder bei Flickr »Men act – women appear«230
Dieser Leitsatz visueller Repräsentation von Gender beschreibt immer noch sehr passend, warum es Männern sehr viel schwerer fällt, ihr Rollenbild visuell zu formulieren oder gar infrage zu stellen. Frauen besitzen einen visuellen Fundus für die Gestaltung ihrer appearance. Die Selbst-Definition über den Körper und sein Erscheinen eröffnen als inhärente Möglichkeiten die Brechung oder Unterwanderung von Stereotypen der Weiblichkeit und machen sie zu einem Akt der Befreiung; dieser wird jedoch bei Flickr kaum sichtbar. Bei der traditionellen Repräsentation von Männlichkeit betritt der Mann nicht um des Erscheinens willen die Bildfläche, sondern um eine aktive Tätigkeit zu demonstrieren. Bei Männern dreht es sich meist nicht um die Rolle, Objekt des Anschauens zu sein und sich so zu inszenieren, um appearance zu verkörpern. Dieses Terrain ist für den männlichen und heterosexuellen Bildproduzenten neu; eine Plattform wie Flickr macht dies überdeutlich. Insofern ist der Schritt zur reinen Selbstrepräsentation auch über die Mode wichtig und kann als die eigentliche Freiheit begriffen werden, das heißt, er muss im Moment noch nicht subversiv hinterfragt werden. Diese Nicht-Erfahrung im performing gender, aufgrund eines Ungleichgewichts der Wertigkeit in der bildlichen Darstellung von Mann und Frau, könnte Ursache der Unterrepräsentation subversiver Momente des Mannes im Bild sein. Es fällt auf, dass Männer bei der Selbstdarstellung ihres Körpers meist gesichtslos bleiben, während Frauen Körperdarstellungen mit indirektem,
—————— 230 Berger, John (1972), Ways of Seeing. London, S. 45 & 47.
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nicht offensivem Blick und Mimik, als Kommunikation mit dem Betrachter, kombinieren. Bei den fashion victim-Porträts ist es plötzlich umgekehrt, hier werden die Auswirkungen auf das Gesicht gezeigt. Es finden sich weitaus mehr Frauen, die im Genre Selbstporträt zunächst den Körper und seine schmückende Bekleidung präsentieren. Dies ist der Sozialisation von Frauen grundgelegt, deren erster Gedanke für die Darstellung des Selbst über den Körper läuft. Männer definieren sich bisher weniger über das direkte Zeigen des gesamten Körpers, und wenn, dann eher über den trainierten kraftvollen Oberkörper.231 Frauenbilder sind innerhalb bestimmter Grenzen vielfältiger, jedoch keinesfalls subversiver. Es fällt nur die größere Variationsbreite von Darstellungsformen auf, was nicht per se von einer Befreiung von Klischees kundet; im Gegenteil: Je größer die Bandbreite sich anbietender Posen, desto schwieriger wird es, Grenzen zu überschreiten, es sei denn, die weiblichen Dargestellten bewegen sich direkt in bestimmten künstlerischen oder subkulturellen Milieus. Das bedeutet, dass in den Nutzungsweisen von Flickr nicht nur Individuelles und Lokales, sondern auch visuelle Zuschreibungen für Geschlecht weitgehend erhalten bleiben und so bedeutungsvoll für die Identitätskonstruktion sind. Die Annahme, Geschlecht, Raum, Zeit, Ethnizität, Schicht würden im virtuellen Raum aufgehoben und bedeutungslos oder zumindest relativiert,232 ist in ihrer generellen Art zu falsifizieren. Die genannten Grenzen sind über das soziotechnische Netzwerk Internet zwar prinzipiell überwindbar, spielen aber in den meisten Fällen nach wie vor die zentrale Rolle für die eigene Positionierung, vor allem die Platzierung in geschlechtsspezifischen Arrangements und Sets.
—————— 231 Richard, Birgit (2005), Beckham’s Style Kicks! Die metrosexuellen Körperbilder der Jungendidole, in: Klaus Neumann-Braun/Birgit Richard (Hg.), Coolhunters. Jugendkulturen zwischen Medien und Markt, Frankfurt am Main, S. 244–258. 232 Vgl. Sandbothe, Mike (1997), Interaktivität – Hypertextualität – Transversalität. Eine medienphilosophische Analyse des Internet, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Mythos Internet, Frankfurt am Main, S. 56–82.
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4.2.4 Jugendliche Selbstdarstellung bei Flickr Es gibt keine Abbildung des eigenen Lebens, aber zum ersten Mal ist mit dem Internet eine flüssige Kommunikation über Bilder möglich.233 Die ikonische Kommunikation bei Flickr ist prototypisch für eine »Durchsäuerung des Lebenszusammenhangs mit Bildern«.234 Dies ist ein für die Darstellung von Körpern wichtiger struktureller Diskursmechanismus, der die Grenzen dessen absteckt, was gezeigt werden darf. Ohne diese Beschränkung wäre Flickr schnell von pornographischen Aufnahmen durchsetzt. Daher wundert es nicht, dass man kaum eine dargestellte Entblößung von Körpern findet; die Selbstdarstellung läuft in gesicherten Bahnen, geht aber bis an die mögliche Grenze. Die Metastruktur, in welche die selbsterzeugten Massen von technischen Bildern durch tags, sets, groups, usw. eingegliedert werden, erzeugt ein redundantes ikonisches Stakkato, das durch die Permanenz der Bildproduktion mit immer neuen Bildern versorgt wird. Dadurch wird ein subversiver Umgang mit der Selbstrepräsentation im technischen Bild erschwert und Abweichungen von stereotypen Darstellungsmustern zur Ausnahme. Ähnlich verhält es sich bei der technischen Umsetzung, die eng an die apparatische Verfasstheit der verwendeten Medien geknüpft ist: Die beiden gängigen Darstellungsmodi des Snapshots sind das one arm length self portrait und der »Party Snapshot«; das spontane Partybild ist als Darstellung von Körperlichkeit vor allem durch die geringe Distanz größerer Gruppen zur Kamera gekennzeichnet. Die neuartige Fotoform des one arm’s length self portrait verbreitet sich durch Handycam und Digicams, da kein Risiko besteht, Aufnahmen zu verschwenden, falls die Person in diesem narzisstischen Akt nicht zu sehen ist. Die Flickr-Bilder zeigen Inszenierungen, die geleitet von Bild-Vorgaben und visuellen Konventionen ein Me, das heißt meine visuellen Identität(en) aus der Sicht der anderen, mein soziales Selbst, herstellen. Es ist das Ich aus dem Blickwinkel des generalisierten Anderen; meine Vorstellung davon, wie mich andere sehen, wird visualisiert. Dass die Ausbrüche auch im Bereich des Modischen prozentual gering ausfallen, ist aber nicht als komplettes Ausgeliefertsein zu interpretieren,
—————— 233 Böhm, Gottfried (2008), Die ikonische Differenz ist eine Grundüberlegung zu der Frage, wie Bilder Sinn erzeugen. Ein Gespräch mit Birgit Richard, in: Birgit Richard/ Sven Drühl (Hg.), Denken 3000, Kunstforum Interational, S. 134–140. 234 Ebd.
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denn hier wird gleichzeitig eine spezielle Form von Kommunikations- und Vernetzungskompetenz erworben. Manchmal entwickelt sich eine spezielle Bildkompetenz, die es den UserInnen ermöglicht, vorgegebene Stereotype zu modifizieren. Die Selbstinszenierung findet durchaus in Kenntnis der Künstlichkeit der körperlichen Inszenierung und in Kenntnis der medialen Prinzipien statt. Trotz eigenen Wissens um die Bildmanipulation wird den verbreiteten konsensuellen Fremd-Bildern von Schönheit nachgeeifert. »Schönheit« bedeutet hier vor allem Makellosigkeit der Oberfläche. Diese wird plastisch ausgeformt in den Muskeln des Oberkörpers bei den Männern; bei den Frauen in Posen, welche die Plastizität der Brüste und des Pos durch Drehungen des Körpers hervorheben. Geringes Ansehen genießen Extreme wie die Körper anorektischer Models oder überfüllige Rubensformen. Es zeigen sich vor allem schöne plastische Körperlandschaften: Der Körper steht für sich, es ist meist kein Umraum/Kontext visualisiert. Es herrschen territoriale Körperbilder. Der Körper als Territorium schließt hierbei an vormoderne Körperbilder an.235 Bei den Männerbildern zeigt sich als neuer Typus ein Hybrid aus hetero- und homosexuellen Männerbildern: der muskulöse Körper in Emo-Pose, gegen starr frontale Körpershots gesetzt. Frauenbilder weichen in subkulturellen, als hässlich geltenden Verzerrungen vom Mainstream ab. »Für Karl Rosenkranz (Ästhetik des Häßlichen, 1853) zerfiel das Schöne in das eigentlich Schöne, das Negativ-Schöne und das Komische. Das Negativ-Schöne, also das Häßliche, kommt einem schon bekannter vor. Rosenkranz beschreibt es als unfrei, zerrissen, formlos, kleinlich, gemein, plump, scheußlich, abgeschmackt, leer. Kurz: Es ist aktuell.«236
Auf der Jagd nach dem größten Thrill im Bereich der Sexualität ist sonst jegliche Abweichung schnell als neuer Fetisch und Obsession vereinnahmt. Die angebotenen Körperbilder von Männern und Frauen verstehen sich als Selbstwerbung, oft als sexuelle; deshalb werden die Grenzen des unzensiert Darzustellenden ausgelotet. Calgary zeigt sich fast bis zum Schambereich, Violet1980 enthüllt ihre Brüste, soweit es erlaubt ist. Die BildproduzentInnen bewegen sich aber immer innerhalb szene- und gendertypischer Repräsentationsmuster, und es kommt nur zu wenigen tatsächlichen visuellen Grenzüberschreitungen. Es werden zum einen künstlerische Absichten –
—————— 235 Zur die Bedeutung der weiblichen Körperlandschaft vgl. Richard, Bigit/Zaremba, Jutta (2007), Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, München. 236 Schmitt, Caspar (2007), Ästhetik des Häßlichen. Michelangelos Geheimnis, Jungle World. Online unter: http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_98/37/04a.htm
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unter Zuhilfenahme der Schwarzweiß-Fotografie oder spezieller Techniken (Morphing, HDR) – und zum anderen erotische Ambitionen unter Zuhilfenahme der bekannten visuellen Zeichen aus Film und TV, geäußert. Das sind die Ambitionen der UserInnen: attraktive Ware sein oder KünstlerIn. Somit besteht die Chance, dass eine kleine Gemeinde kreativer User dieses Medium so nutzt, dass auch neuartige visuelle Erzeugnisse entstehen. Flickr dient nicht nur der Kommunikation über Bilder, sondern auch als Portfolio der eigenen Arbeiten und dem Austausch mit anderen (semi-) professionellen Fotografen. Damit werden die individuellen künstlerischen Ansätze dem Bereich des I (individuelles, persönliches Selbst – Ich) zugeordnet, die geprägt sind durch die ganz eigenen, unberechenbaren Reaktionen auf das, was von der Gesellschaft/den anderen/der Kultur (also dem me) an mich herangetragen wird. Das I wird auch beeinflusst, aber nicht determiniert durch das me. Im Bereich der visuellen Identitätskonstruktion über das I lassen sich durchaus eigenständige Bild-Äußerungen aufzeigen. Die Studie zeigt, dass verschiedene Faktoren wie Zufälligkeit, Abstraktion, Hässlichkeit, Überzeichnung oder Sichtbarmachung der Überzeichnung, theatrale Posen und Kulissen »ungeschönter Körper« das Herausfallen aus gängigen Schönheits- und Präsentationsposen begünstigen. Das Selbst/Individualität ergibt sich im Wechselspiel des me and I; hierin entwickelt sich die Schönheit des modisch definierten Popbildes bei Flickr im Rahmen einer eigenen jugendlichen Bildkategorie: den egoshots!
4.3
Das Böse, die Gewalt und der Tod
4.3.1 Die Achsen des Bösen im Web 2.0! Der Video-Hoster YouTube macht mit seinen Online-Videos das »Böse« in der westlichen Gesellschaft sichtbar, um es auf eine kreativ-ästhetische Art und Weise zu verarbeiten. YouTube beherbergt als visuelles Archiv von bewegten Bildern die gesamte Bandbreite der Visualisierung des Bösen von Ablehnung und Kult. Herauszufinden gilt es nun, in welchen der entwickelten Kategorien das Böse nistet. Clips, in denen das Böse repräsentiert wird, finden sich vermutlich in folgenden Clip-Kategorien: im Mediaremix, in den Fan-Clips, den arty/artresponse und den Ego-Clips.
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Online-Ikonen des Bösen »Every passing second a human dies, so there’s no need to make a big fuss of this one kill.«237
Zunächst geht es darum, tags und ihre Synonyme zum Abfragezeitpunkt und ihre Häufigkeit zu sichern. Die englischen tags sind: »evil«, als Kern der Recherche 278.000 Videos (Dezember 2007) und mit den Synonymen: bad, embodiment of evil, depraved, nasty, fierce, wicked, mean, diabolic, vicious, evil deeds, devil. Die deutschen tags sind:»böse«, die Synonyme: übel, schlecht, Bösewicht, finster, fies, unheilvoll, auch Teufel, Satan. Zur Verteilung der Clips auf die Mediensorten in den am häufigsten auftretenden Formen für das Böse: 70 Prozent der gefundenen Treffer entfallen auf das Computerspiel Resident Evil, hierzu zählen Cartoons, Parodien und auch ein persönliches re-enactment von Spielfiguren im öffentlichen Raum. Somit fallen auch 70 Prozent auf die Kategorie Mediaremix, da es sich um Film- und Gametrailer-Clips handelt. Bei 20 Prozent handelt es sich um Bandvideos, wobei Bandnamen das Wort »evil« enthalten, hier insbesondere bei Styles, die sich »böse-affin« präsentieren, wie Metal, Gothic, Punk, Industrial mit Symboliken für Satan und Tod, Gewalt (wie zum Beispiel Feuer, Blut, Verfall, Folter, Totenschädeln, Pentagramm, blasphemische Kreuzigungsszenen) oder bei denen der Titel des Stücks ein entsprechendes Schlagwort enthält (zum Beispiel »Evil Dub« von Trentemoeller). Diese Clips sind der Kategorie Mediaremix oder Musikvideo zugeordnet; es finden sich aber auch Fan-Clips sowie arty und Ego-Clips. Die restlichen 10 Prozent verteilen sich auf Filme (zum Beispiel »Evil Dead«) und TV Dokumentationen, im Besonderen solche, die sich mit Massenmördern beschäftigen. Manche Clips wollen das Böse aussperren – hier finden sich aktuelle Feldzüge gegen den Raucher als »bösen Menschen«. Clips, die aus politischen Parolen bestehen (evil bankers), stehen neben dem bösen Ereignis der jüngeren Vergangenheit, dem 11. September 2001. »Böse« Clips thematisieren insbesondere auch aktuelle Vorfälle: als prominente Vertreter des Bösen tauchen hier die verschiedenen SchulAttentäter und Amokläufer wie »Resistance X« und der Finne Sturmgeist89
—————— 237 Zitat von Hendrik Möbius of Absurd aus: Moynihan, Michael/Soderlind, Didrik: Lords of Chaos (2002), The Bloody Rise of the Satanic Metal Underground, Zeltingen-Rachtig (engl. Ausgabe 1998), S. 257.
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auf; auch die Klassiker des Bösen: Marilyn Manson, der böse Popstar, und Diktatoren wie Hitler, Saddam Hussein finden sich hier. Da es sich bei YouTube um ein junges Medium handelt, sind die Clips des Bösen hauptsächlich game- und musikkulturorientiert. Auffällig ist, dass gerade die Visualisierungen des bösen Tuns an den Schnittstellen zur Kunst und zu den jugendlichen Subkulturen als ästhetisch-stilistische Avantgarden liegen: »[…] kein Black Metal-Song [hat] eine Kirche angezündet oder einen Jugendlichen erdrosselt. Das eigentlich Schreckliche dürfte sein, dass der Zusammenhang ein ganz anderer ist: Nicht nur gibt es diese Kunst vor allem deshalb, weil diese Taten begangen wurden, sondern die Tatsache, dass diese Kunst von diesen Taten so spricht, wie sie das nur kann, weil es möglich ist, dass diese Taten wieder geschehen, macht sie […] zu guter Kunst über schlechte Dinge […]«238
Serial killers werden von bestimmten Jugendkulturen und KünstlerInnen durch visuelle Transformationen zu Ikonen des Bösen erhoben; So Ian Brady und Myra Hindley, welche ihre sogenannten »Moors Murders« zwischen 1963 und 1965 in der Umgebung von Manchester verübten. Vier der fünf Opfer wurden im Saddlewood Moor begraben. Ihre Opfer, Mädchen und Jungen, waren zwischen zehn und siebzehn Jahre alt. Sie wurden von Brady teilweise sexuell missbraucht. Vom vierten, zehnjährigen Opfer wurden Fotos und Tonaufnahmen während der Tat gemacht. Brady und Hindley wurden zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Brady (*1938) verbringt 19 Jahre in Gefängnissen, bevor er 1985 in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird, obwohl er für seine Taten hingerichtet werden will. Er schreibt ein Buch über Serienmorde mit dem Titel »The Gates of Janus«. Hindley (1942–2002) beteuert lange ihre Unschuld und legt erst 1987 ein Geständnis ab. Sie bereut, aber ihre Begnadigungsgesuche werden abgelehnt. Das Schwarzweißfoto, welches nach ihrer Verhaftung von der Polizei aufgenommen wird, macht sie zur Ikone und verleiht ihr Kultstatus. Ihr Porträt sorgt Jahrzehnte später 1997 auf der »Sensation Ausstellung« in der London Royal Academy für einen Skandal. »Few outside the art world remember the name Marcus Harvey, but many recall his portrait of serial child killer Myra Hindley composed of children’s handprints. The show was picketed by the pressure group Mothers Against Murder And Ag-
—————— 238 Dath, Diethmar (2006), Das mächtigste Feuer. Die Kriegsfantasie als Nukleus von Moderne und Gegenmoderne in Pop oder/und Avantgarde, in: Birgit Richard/Klaus Neumann-Braun (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen – Tarnen – Drill, München, S. 35–46, S. 46 [Anmerkung der Verfasser].
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gression, accompanied by Winnie Johnson, the mother of one of Hindley’s victims. They asked for the work to be removed. So did Hindley. Windows were smashed at the Academy’s home, Burlington House, eggs and ink were thrown at the picture, which was temporarily removed, restored, placed behind Perspex and guarded by security men.«239
Künstler aus der Punk und Industrial Szene, beziehen sich auf das Mörderpaar: Throbbing Gristle im Stück »Very Friendly« (Ian Brady gewidmet), The Smiths mit ihrem Titel »Suffer Little Children«; Crass mit dem Lied »Mother Earth« (Referenzen zu Hindley) und die The Manic Street Preachers mit »Archives of Pain« beziehen sich auf Brady und Hindley. Diverse Fernsehdokumentationen und zwei Fernsehfilme von 2006/2007 belegen die Aktualität dieser historischen serial killers und unterstreichen die Funktion von YouTube als subkulturelles Archiv; die Clips schließen an bekannte Symboliken und Motive an: »Sie entwickeln großes Interesse an den Fällen von Massen- oder Ritualmördern, wie zum Beispiel Charles Manson, der Kindesmörderin Mary Bell, dem Paar Ian Brady and Myra Hindley, wobei dieses Interesse oft als Zustimmung zu Mord und Gewalt ausgelegt wird. Es geht aber darum, die schlimmsten, ausgeblendeten Seiten der Gesellschaft – die Bereiche, die selbst von den Medien ausgespart werden oder über die in ganz bestimmter Art und Weise berichtet wird – zu präsentieren.«240
Abscheu und Faszination werden im Netz von aktuellen Jugendkulturen und Stars wie Devendra Banhart oder Cocorosie (Tribute bzw. Abwandlung des Charles Manson Porträts mit dem Hakenkreuz auf der Stirn in der Vermischung mit einem Jesusbild) weiter gepflegt. Es gibt kontextuelle Bedingungen für eine so lange währende Ikonizität, das unfassbar Böse muss in bestimmter Weise inszeniert werden, damit es zum Faszinosum wird. Zwingend für den sozialen Kontext ist: Die abscheuliche Tat erscheint grundlos als Befriedigung der niedersten Instinkte. Die Täter empfinden keine Empathie, haben kein Unrechts- und kein Schuldbewusstsein, sie wissen, was sie tun und töten ohne Zwang. »das letzte Verbrechen, eine entsetzliche Untat, welche die heiligsten Gesetze allesamt verletzt. Es vollzieht sich unter so außerordentlichen Umständen, in ei-
—————— 239 Hattenstone, Simon (2009), Myra, Margaret and me, in: The Guardian, Saturday 21 February. Online unter: http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2009/feb/21/marcus-harvey-margaret-thatcher 240 Zur Industrial-Szene der 80er/90er Jahre des 20. Jahrhunderts: Richard, Birgit (1995), Todesbilder. Kunst Subkultur Medien, München, S. 138.
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nem so tiefen Geheimnis, mit einer solchen Unermeßlichkeit, gleichsam an der äußersten Grenze aller Möglichkeit, dass es nur das einzige und jedenfalls letzte seiner Art sein kann.«241
Angesichts dieses »letzten Verbrechens«242 setzt gleichzeitig, da vermittelt über ein Medium, das erhabene Vergnügen des Gruselns und Schauderns ein. An diesem Punkt ist auch der Seitenblick auf den Umgang mit dem Bösen in der Naturwissenschaft interessant. Das Böse gilt als Krankheit und wird damit medizinisch lokalisierbar als Defekt der Gene, des Hirns, der Psyche. Diese biologistische Argumentation propagiert ein Frühwarnsystem über einen Katalog für Persönlichkeitsstörungen, die zunächst einmal auf viele Menschen zutreffen könnten (Robert Hares Checkliste: Lügen, manipulatives Tricksen, kein Selbstwert, kein Gewissen, seichte Gefühlsregungen, Allmachtgefühle, mangelnde Empathie). Der Psychologe Michael Stone von der Columbia University entwirft die sogenannten »Gradiations of Evil«243, der Gerichtspsychologe Michael Welner von der NYU die sogenannte »Depravitiy Scale«, der Hirnforscher Lutz Jäncke weist auf defekte Hirnregionen und Han Brunner, Molekularbiologe aus Nijmwegen, weist auf irreguläre chemische Vorgänge (Monoaminooxidase A) im Körper hin.244 Sie alle lokalisieren das Böse als Krankheit im Körper, quasi als »malum physicum«, als das alltägliche Böse in Krankheit und Tod.245 Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Dokumentationen im Clip auf YouTube entwickelt das subkulturelle Clipmaterial eine eigene Sichtweise auf die mörderischen Taten. Ein Beispiel hierfür ist »Charles Manson Dance-Clip«.246 Dieser arty/artresponse-Clip ist eine Sequenz des öffentlichen Auftritts von Charles Manson, der geloopt wird und den Anschein einer Tanzperformance vermittelt. Manson tanzt zu einer eigenwilligen
—————— 241 Foucault, Michel (1977), Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main, S. 117. 242 Ebd, S. 117. 243 Steinberger, Karin (2005), Eine Reise in die Abgründe der Seele, in: Sueddeutsche.de vom 20.10.2005. Online unter: http://www.sueddeutsche.de/wissen/das-boese-eine-reise-indie-abgruende-der-seele-1.910370 244 Steinberger, Karin (2005), Das Böse. Eine Reise in die Abgründe der Seele. Was macht einen Menschen zum Massenmörder? Hirnforscher, Genetiker und Psychologen sind dem Grauen auf der Spur, 20.10.2005 unter http://www.sueddeutsche.de/wissen/artikel/883/62821/print .html 245 Arntz, Klaus (2008), Die Entdramatisierung des Bösen aus moraltheologischer Sicht, in: W. Faulstich (Hg.), Das Böse heute. Formen und Funktionen, München, S. 25–41. 246 http://www.youtube.com/watch?v=pBWy2ImaRyA&feature=related
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Elektro-Country-Interpretation des Nine Inch Nails-Songs »Fuck You Like an Animal«. Die Einzelsequenz ist 8 Sekunden lang und wird für die Länge des Songs (3.39 min.) aneinander gereiht. Sie zeigt Manson in einem mit Holz verkleideten Raum in San Quentin, wahrscheinlich Anwalts- oder Verhörraum, hinter einem Tisch stehend. Er gestikuliert stark mit Händen, Armen und Beinen. Durch den Loop entsteht ein ambivalenter unfreiwilliger Tanz, der Manson lächerlich macht, da er quasi nachträglich animiert und damit fremd gesteuert wirkt. Sein Charakter als bösartiger Mörder wird einmal zugunsten eines Bildes des »lustigen« Wahnsinns abgeschwächt. Gleichzeitig spielt die humoristische Behandlung mit der Ambivalenz der Verharmlosung und der politischen Unkorrektheit. Ein zweites Beispiel ist ein Ian Brady-Clip:247 Bei diesem Fan-Clip liest eine Frauenstimme aus dem Off Auszüge aus Ian Bradys Buch »The Gates of Janus«.248 Der akustisch schwer zu verstehende Text ist mit verschiedenen Bildern und einer langen Filmesequenz versehen. Als erstes wird das Cover von Ian Bradys Buch eingeblendet, welches zum Bild der Blüte einer roten Rose überblendet, dann vom comichaften Bild einer Frau abgelöst wird, die im Close-Up mit einer Waffe direkt in Richtung des Rezipienten zielt. Es folgt eine lange Filmsequenz, die einen Banküberfall und den bewaffneten Kampf zweier vermummter Verbrecher gegen die in Anzahl überlegene Polizei zeigt. Die Täter sind sehr gewalttätig, angstfrei und kaltblütig dargestellt, scheinen unverwundbar, im Gegensatz zu den Polizisten, die verletzt und leidend erscheinen. Die Szenarien der Gewalt werden durch Einstellungsgrößen der Kamera und Slowmotion stark ästhetisiert. Der Clip erfährt gegen Ende eine Rahmung durch die Fotos vom Anfang. Die Filmsequenz stellt genau wie die Stills keine Bezüge zum Gesagten und zum anderen Bildmaterial her. Der übergeordnete Kontext scheint die Formen der Gewalt als Ausdrucksmittel eines radikalen Individualismus zu sein, so wie ihn Ian Brady in seinem Buch propagiert. Amokläufer »Der Anteil der Attentäter an der männlichen und erst recht weiblichen Bevölkerung Alteuropas, Neu-Europas und Amerikas ist aber auch verschwindend gering. Trotz oder vielleicht eben wegen dieser Seltenheit konnten diese wenigen Männer
—————— 247 Der hier beschriebene YouTube-Clip ist nicht mehr online. 248 Brady, Ian (mit Alan Keightley, Peter Sotos, Colin Wilson, 2001), The Gates of Janus: Serial Killing and Its Analysis, Los Angeles.
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und Frauen die Weltpolitik beeinflussen. Genau dies aber diktiert den Attentätern ihr Traum, wenn sie sich auf Tyrannen, Könige, Präsidenten stürzen oder sich inmitten anonymer Mengen in die Luft jagen. Sie wollen mit einem Schlag das Gesicht der Welt verändern. […] Die lange Geschichte der Attentate erzählt eigentlich mehr von Einzelgängern als von Gruppen. Diese solitären Ich-Armeen, diese auf rätselhafte Weise mobilisierten Einzeltäter, zeigen zum Teil auch Züge geistiger Verwirrtheit oder gar Anflüge von Wahnsinn.«249
Abbildung 8: Sturmgeist89. youtube.com Der nächste Clip von Sturmgeist89 ist gleichzeitig Ego-Clip und Mediaremix, da er sich auf vorangegangene Clips bezieht.250 Das Bildmaterial erfährt seine »Bösartigkeit« vor allem durch seine Kontextualisierung, denn der Clip ist die Ankündigung zum Jokela High School Massaker in Finnland. Eric Auvinen ist bei Schießübungen im Wald zu sehen, die er selbst mit einer Videokamera aufgenommen hat. Die erste Aufnahme zeigt ein Close-Up vom Ladevorgang seiner Pistole. Eine weiche Blende führt zur Waffe, die auf einen Apfel, der im Schnee liegt, zielt und schießt. Die Kamera präsentiert einen »Point of View«-Shot, also die Sicht des Schützen. Diese Einstellung ähnelt dem Bildaufbau von Ego-Shootern. Das »Erschießen« des Apfels wird in Zeitlupe wiederholt. Anschließend zeigt die
—————— 249 Schneider, Manfred (2006), Bildmobilisierte und Emblemsöldner. Zum Profil von Attentätern, in: Birgit Richard/Klaus Neumann-Braun (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen – Tarnen – Drill, München, S. 257–276, S. 257. 250 Der hier beschriebene YouTube-Clip ist nicht mehr online.
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Kamera die Überreste in Nahaufnahme. Eine weitere weiche Blende führt zu einer Totalen, die den Schützen am rechten Bildrand zeigt, wie er seine Waffe mit ausgestrecktem Arm hebt und dreimal in Richtung des linken Bildbereichs schießt. Um das Magazin der Pistole zu wechseln, geht er auf die Kamera zu, lächelt und winkt freundlich in die Linse, um dann rechts aus dem Bild zu gehen. Die letzte Einstellung zeigt den mit Schnee bedeckten Wald. Die Aura des Bösen wird dem Clip durch das Wissen um den folgenden Amoklauf im Schießen auf einen Apfel und dem sympathischen Lächeln verliehen. Zudem impliziert die unscheinbare, freundliche Erscheinung des Schützen als der nette Junge von Nebenan, dass jeder ein Täter sein kann. Diese Form des Bösen präsentiert sich hier mit freundlichem Gesicht, ganz im Gegensatz zu den Inszenierungen des Black Metal, die ihrer subkulturellen Ästhetik ein hyperböses Gesicht geben wollen. Pimp up my Black Metal evil! »I was running after him, stabbing, and it was four or five stabs. The first stab was in the chest. The whole time he was trying to run away, so I had to stab him in the back…He died from one stab through his skull. I actually had to knock the knife out.«251
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit dem einzigen Musikvideo der Einmann-Metalband »Burzum« von 1996 und trägt den Titel »Dunkelheit«.252 Auch hier entsteht die Aura des Bösen nicht durch den Clip selbst, sondern durch die Lebensgeschichte des inhaftierten Mörders Varg Vikernes, der als dunkles Idol verehrt wird. Der Clip ist gänzlich unmartialisch; er zeigt eine Landschaft, die mit Düsternis durch monotone Musik und Gesang aufgeladen ist. Gängige Elemente, die dann später im Black Metal auf die Spitze getrieben werden, sind hier noch in sehr behutsamen Bildern zu finden. Das visuelle Setting zeigt die Natur als den Lauf der Dinge, das fließende Wasser, die schnell ziehenden Wolken, nur ab und zu scheint die Sonne durch die Baumkronen einer Lichtung. Das Böse findet nur angedeutet auf einer Ebene statt, die sich nicht sofort offenbart, sondern ein subtiles Spiel mit Zeichen und Referenzen betreibt: per Stoptrick animierte
—————— 251 Varg Vikernes, after killing former friend Euronymous: Moynihan, Michael/Soderlind, Didrik: Lords of Chaos (2002), The Bloody Rise of the Satanic Metal, Underground Zeltingen-Rachtig (engl. Ausgabe 1998), S. 123. 252 http://www.youtube.com/watch?v=9Bm-kdLwBVc
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Runen, dunkler Wald mit dichten Bäumen, Elemente wie Explosionen, Feuer und einen Blitz werden in Bezug zu Naturgewalten gesetzt und kulminieren in einer Art Landkarte in altertümlicher Runenform, die einen magischen Ring bilden.253 »When night falls she cloaks the world in impenetrable darkness. A chill rises from the soil and contaminates the air suddenly… life has new meaning.«254
Die meisten Burzum Fan-Clips sind Collagen aus verschiedenen Fotos von Varg Vikernes, die sich immer wiederholen, zum Beispiel mit corpse paint für die »bösartigen« Toten des Black Metal (im Gegensatz zu den schönen Leichen der Gothic Szene), mit Hilfe anderer Maskeraden des Bösen mit Nieten und Keule, Kettenhemd, als Nazi oder mittels der Cover von Burzum Platten. »Nun werden sicher nur die Verbissensten unter den MenschenfreundInnen mir und anderen Black-Metal-EnthusiastInnen […] unterstellen wollen, das bloße Anhören solcher Musik mache uns schon zu SympathisantInnen von Vikernes ekelhaften politischen Programmen. Ich habe auch keine Lust, mich für mein Interesse an dieser Musik, ja, mehr noch: für mein Wohlgefallen an einigen ästhetischen Spitzenleistungen von Vikernes (vor allem seinem auf den besagten beiden Alben festgehaltenen stimmbruch-gepeinigten, absolut einzigartigen Kreisch- und Kotzgesang, dessen Pathos wirklich zum Erlesensten gehört, was der Heavy Metal je ausgeworfen hat) vor irgend jemandem zu rechtfertigen.«255
Auf einen außergewöhnlichen Burzum Fan-Clip soll hier näher in einer ausführlichen Fallanalyse eingegangen werden; dieser ist eine typische Erscheinung von YouTube. Er ist in der Kategorie Mediaremix und arty/artresponse einzusortieren. Der Fan-Clip zu »Gebrechlichkeit II«256 vom Burzum-Album »Filosofem« von 1996 wurde vor einem Jahr von Rob Snook auf YouTube gepostet. Im Unterschied zu den meisten Burzum Fan-Clips, interpretiert hier ein Fan den Song mit eigenen Aufnahmen. Der Clip verfügt über drei Darstellungsebenen. Darstellungsebene I – Außenbereiche: Verwackelte Aufnahmen eines regnerischen Tages, durch ein Fenster gefilmt, welche einen unauffälligen Hinterhof zeigen; Schlammiger Boden, ein Holzzaun, Bäume. Das Wackeln der Kamera wird durch einen nach-
—————— 253 Vgl. auch Grünwald, Jan: Male Spacing, Unveröffentlichtes Manuskript. 254 Burzum »Dunkelheit« 1996. 255 Dath, Diethmar (2006), Das mächtigste Feuer. Die Kriegsfantasie als Nukleus von Moderne und Gegenmoderne in Pop oder/und Avantgarde, in: Birgit Richard/Klaus Neumann-Braun (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen – Tarnen – Drill, München, S. 35–46, S. 45. 256 http://www.youtube.com/watch?v=OwOXrBgsEPM
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träglich hinzugefügten Effekt noch verstärkt, um dem ambienten Sound des Songs bildlich zu entsprechen. Der Vordergrund zeigt den Close-Up eines Tellers, auf dem etwas liegt, man erkennt später die Klinge eines Messers. Es folgt die statische Aufnahme eines in Sepia-Tönen gehalten Hauses, gefilmt mit einem Fast-Motion-Effekt, erkennbar bei dem sonst sehr bewegungsschwachen Bild nur anhand der sich im Wind bewegenden Bäume, des Sonnenschirms und der schnell vorbeiziehenden Wolken. Darstellungsebene II – Innen: Eine einfach gestaltete, etwa handgroße Puppe mit zwei großen Nägeln in ihrem Kopf ist im Bild. Die Figur ist mithilfe der Stop-Motion-Technik animiert, bewegt sich ruckartig und gebückt über eine hell erleuchtete Fläche. Dann tropft Blut auf den hellen Boden, über den Kopf der Figur, die Nägel und schließlich über den ganzen Körper, bis sie regungslos in einer Blutlache liegenbleibt. Darstellungsebene III – Körper: Die Kamera zeigt ein Close-Up eines männlichen Kopfes. Sie schwenkt langsam aus dem Dunkel der Haare, die zum Pferdeschwanz gebunden sind, am Ohr vorbei und zeigt schließlich das Gesicht, das eine Atemmaske trägt und starr nach links aus dem Bildbereich blickt. Es folgt die Aufnahme eines Infusionsbeutels, die in schwarz/weiß gehalten ist. Eine Hand zieht am Infusionsschlauch und trennt diesen vom Beutel. Überblendung zur Halbnaheinstellung eines jungen Mannes mit langen dunklen Haaren und freiem Oberkörper, der im Bett liegt und zu schlafen scheint; erwindet sich und schüttelt den Kopf. Die Augen bleiben geschlossen. Diese Szene ist wieder schwarz/weiß, wird in Fast Motion präsentiert bis sie schließlich von einer Farbaufnahme in Slow Motion der Person mit Pferdeschwanz und Atemmaske, die einen langen Trenchcoat und Gummihandschuhe trägt, unterbrochen wird. Diese geht langsam aus Richtung der Kamera in einen Raum, zu einem Tisch und nimmt etwas in die Hand. Man erkennt das große Messer. Überblendung zum Close-Up einer Hand mit blauem Gummihandschuh, die eine Stoppuhr, die bei 19 Sekunden gestoppt wird, hält. Close-Up eines großen Messers, welches dann von einer Hand mit Gummihandschuh genommen wird. Die Klinge reflektiert das Licht einer Lampe. Überblendung. Der Mann im Trenchcoat mit der Atemmaske legt eine Decke über das Bett, in dem vorher der sich windende Mann lag, und verlässt dann den Bildbereich. Unter der Decke zeichnet sich ein lebloser Körper ab. Überblendung. Die Kamera ist auf dem Boden platziert. Auf dem grauen Teppich, der einen Großteil des Bildbereichs einnimmt, liegt eine Hand. Die Person im Trenchcoat hebt sie auf und geht mit ihr aus dem Bildbereich. Der Fan tritt als Produzent und
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in zwei Charakteren in Erscheinung, die im Abspann mit »The Man« und »The Patient« bezeichnet sind. Der Clip ist mit »Production of Evil« benannt und fasst so die gewünschte Ästhetik und den Inhalt des Clips zusammen. Explizite Gewalt wird an einer Puppe ausgeübt, Blut ist nur in der animierten Sequenz zu sehen. Der Trenchcoat bildet eine Bildreferenz zum Columbine-Massaker und der sogenannten »Trenchcoat-Mafia«, die sich wiederum auf eine Szene im Film »The Basketball Diaries« bezieht, in der Leonardo DiCaprio, in einer Traumsequenz, mit einer Schrotflinte durch sein Klassenzimmer geht und Lehrer und Schüler erschießt.
Abbildung 9: Burzum Fan-Clip. youtube.com Die beiden auftretenden Charaktere werden durch filmische Mittel unterschieden: der »Patient« wird in Fast Motion, also unruhig, und in schwarz/weiß dargestellt, während »The Man« mit verlangsamten farbigen Bildern gezeigt wird. Die statischen Aufnahmen des Hofes und des Hauses am Anfang sind in Verbindung zum »Patient« zusehen. Diese werden ebenfalls in Fast Motion gezeigt. Die Objektwahl (regnerisches Wetter, Leere) stützt die scheinbare Zerrissenheit. Der verhüllte männliche Körper ist der konzentrierte, ausübende (The Man), während der unbekleidete, dünne männliche Körper als krank, unkontrolliert und dann tot gezeigt wird (The Patient). Die »Production of Evil« des Burzum-Fans bebildert die Musik mit statischen Außenaufnahmen, welche die melancholische Monotonie des Stücks zu verkörpern suchen. Das Böse wird vor allem
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über Objekte und Werkzeuge einer möglichen Gewalttat und dem angedeuteten Tod dargestellt. Kill fast, die young! Ego-Bilder des Bösen »Aber dieser Wahnsinn äußert sich vielfach in homogenen Gesten und wieder erkennbaren Verhaltenszitaten, die aus vertrauten Bildern und Texten gezogen sind. Der Attentäterwahnsinn wie die Attentätervernunft hören auf eine gemeinsame Sprache.«257
Die Analyse der beiden letzten Clips weist auf einheitliche Bildschablonen für die Darstellung des »bösen Menschen« in den »Disziplinen« serial killer, mörderischer Einzelgänger und Amokläufer in den Alltagsmedien hin. Die Vorbilder im bösen Tun kreieren ein besonderes Bildsetting, bei dem sich immer wiederkehrende Muster finden. Motivisch drängt sich hier die beinahe zwangsläufige visuelle Verschwisterung von »sinnlosem« Mord, Amoklauf und Attentat auf. Visuelle Parallelitäten des Clips vom Amokläufer Sturmgeist89 und dem Burzum Video lassen sich ganz deutlich in der Farbgebung und in einer verschwommenen Ästhetik zur 80er-Jahre Videokunst und der Produktionsweise der Industrial Szene ausmachen.258 In den visuellen Programmen zeigen sich folgende Gemeinsamkeiten: Die Täter sind alleine im (winterlichen) Wald mit Waffen (bei heimlichen Schiessübungen); sie inszenieren, dramatisieren und idealisieren ihr Einzelgängertum.259 Bei der Sichtung der YouTube-Clips fällt auch auf, dass eine Engführung auf böse Männlichkeitsbilder auftritt. Es existiert ein visuelles Gendering des Bösen, wenn Frauen Täterinnen sind, dann werden diese als besonders heimtückisch dargestellt (Myra Hindley). Frauen »können« nicht auf gleiche Weise böse und grausam sein, als Hüterin und Spenderinnen des Lebens dürfen sie kein Leben nehmen. Deshalb bekommen Mörderinnen trotz gegenteiliger Kriminalstatistik besonders häufig einen ikonischen Charakter. Als düstere Idole und Amokläufer kommen Frauen in den Clips
—————— 257 Schneider, Manfred (2006), Bildmobilisierte und Emblemsöldner. Zum Profil von Attentätern, in: Birgit Richard/Klaus Neumann-Braun (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen – Tarnen – Drill, München, S. 257–276, S. 257. 258 Vgl. Throbbing Gristle und Psychic TV Videos. 259 Vgl. auch AZAD Selbstbezeichnung als Ein Mann Armee. Zu selbstge- (auser)wählter Einsamkeit, z.B. in der Huldigung des einsamen Wolfs in der Natur, der nicht domestiziert werden kann. Die bei YouTube schon vor einer Tat geposteten Videos zeigen diesen »einsamen männlichen unverstandenen Wolf«, der seinen Triumph als zukünftiger beachteter medialer Held vorauszelebriert.
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auf YouTube gar nicht vor. Es entwickelt sich daher ein neuer männlicher Idoltypus:260 das »böse Idol«. Dessen Credo »Kill fast, die young« bzw. »Live fast, kill young«, stellt dem üblichen »Live fast, die young« eine neue Variante jugendlichen Umgangs mit Leben und Tod an die Seite. Hier muss der Umschwung von tödlicher Selbstschädigung zu aktiver absichtsvoller Tötung von Anderen, inklusive Selbstmord beachtet werden. Dieser neue Typus von jugendlichen Idolen am Rande der sozialen Kommunikation im Real Life ist nur in Bild und Videomaterial deutlich sichtbar, vor allem natürlich auf YouTube, trotz aller vergeblichen Zensurversuche. Im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Dokumentationen im Clip entwickelt das subkulturelle Clipmaterial (zum Beispiel zu Manson oder dem finnischen Amokläufer Sturmgeist89) eine Eigendynamik durch den Bezug auf die vorangegangene Tat. Bei YouTube entsteht damit, an Clips nachvollziehbar, eine Genealogie der bösen Tat (zum Beispiel mit Ausgangspunkt Columbine Shooting), da sich die Amokläufer der Gegenwart immer auf schon geschehene Taten beziehen. Die Medienberichte im Clip setzen sich mit ihrer Vermittlung oft an die Stelle des Geschehenen, während der künstlerische, der unkommentierte oder der fantypische Umgang mit dem Bildmaterial für Irritationen sorgen kann, eine andere Sicht auf das Material ermöglicht und die Inszenierungen der medialen Berichterstattung und ihren Realitätsbezug in Frage stellt. Die Spielarten des Bösen und die beschriebenen Ikonen des Bösen sind sichtbarer und ihre Visualisierungen sind potentiell leichter zugänglich durch das Netz. Bewegte Bilder des Bösen gab es vor YouTube schwerpunktmäßig in Nischenkulturen.261 Das Böse ist nun sehr präsent, alte Themen bekommen über die neuen Clip-Kategorien Aufwind. Die »bösen Bilder« waren schon immer präsent seit es Medien gibt, neu ist jetzt ihre Mehrperspektivität: die sensationslüsterne Präsentation in TV oder Printmedien ist nicht mehr die einzige Position zu diesen Taten, es tritt ein eher popkulturelles Abwägen hinzu. Ein Nebeneinander der verschiedenen Perspektiven wird möglich, YouTube lässt die Polysemie und Polyvalenz eines Phänomens zu. Jedoch bei YouTube wird der Kult des Bösen zeleb-
—————— 260 Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann (1997), Vom einsamen Rebell zur »singenden Altkleidersammlung«. Jugend-Idole und ihre mediale Repräsentation im historischen Wandel (zusammen mit Heinz-Hermann Krüger), in: »Deutsche Jugend«, Heft 12/1997. S. 536–543. 261 Siehe Industrial Culture Publikation in den 80er und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts, vor allem durch 235 Media Köln.
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riert: das jugendliche Medium stellt hervorragendes Provokationsmaterial gegen eine »liberale« Elterngeneration zur Verfügung. »Dass diese Zwangsläufigkeit, wie gesagt, eingebildet ist, beweist der Weg von Bands wie Cradle of Filth, die, statt Leute aufzuessen, Kirchen anzuzünden und in die Menge zu schießen (was schon der Surrealismus propagiert hat), lieber die pompöse und sehr gelungene Theatralik ihrer Musik und sonstigen Performance immer weiter verbessern, und dabei dennoch eine lupenreine Black Metal-Band bleiben, also nicht ›auswimpen‹. Interessanterweise entwickelt sich das Genre vom Atavismus zur Hochzivilisation, wie man vor allem auch an den Platten von Burzum sehen kann, die immer mehr in Richtung elektronischer Experimentalismus und ›ambiente‹ Leere driften und sich dabei zusehends von der 1:1 Umsetzung morbiden Gewaltkrams entfernen.«262
Funk-Hennings beschreibt Black Metal in seiner ersten Phase als harmlos, ein Spiel mit dem Bösen und Satanismus; erst in der zweiten Phase führe »Black Metals bösartige Ideologie«263 zu Killern und Gewalttätern. Die Faszination für die Fans liegt aber genau darin, dass diese Täter nicht nur ankündigen, sondern zur Tat schreiten. Brandstiftung und Mord werden durchgeführt und auch das Bekennen zum nordischen Nazitum (als das ultimativ Böse) wird von den Tätern als Produkt ihrer radikalen Individualität präsentiert. Damit wird zum Beispiel Burzum zur Ikone eines aktiven »Widerstands« in Sinne einer männlich-pubertären Überheblichkeit. Die Mörder nehmen die Strafe in Kauf, fordern sie sogar ein, was den Kultstatus in der Fangemeinde steigert, so wie auch bei den vorangegangenen serial killers (Ian Brady oder Gary Gilmore). Sie plädieren nicht auf Unzurechnungsfähigkeit, sondern zelebrieren die bewusst ausgeführte böse Tat, ihre Ausführung des »malum morale«264 und damit ihr bewusstes Verlassen von sittlicher Integrität. Bei Varg Vikernes verbinden sich beide Formen, die Höffe265 in seiner Phänomenologie des Bösen benennt: das affektive, heiße Böse des Amokläufers wird im Nachhinein kombiniert mit dem kalkulierten, kalten Bösen, der Grausamkeit eines Nationalsozialisten, die
—————— 262 Dath, Diethmar (2006), Das mächtigste Feuer. Die Kriegsfantasie als Nukleus von Moderne und Gegenmoderne in Pop oder/und Avantgarde, in: Birgit Richard/Klaus Neumann-Braun (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen – Tarnen – Drill, München, S. 35–46, S. 45. 263 Funk-Hennings, Erika (2008), Musik als vehiculum verschiedener Ideologien – dargestellt an Musik im KZ und musikalischen Jugendkulturen, in: Faulstich, Werner (Hg.) Das Böse heute, München, S. 141–151. 264 Arntz, Klaus (2008), Die Entdramatisierung des Bösen aus moraltheologischer Sicht, in: W. Faulstich (Hg.), Das Böse heute. Formen und Funktionen, München 2008, S. 25–41. 265 Höffe, Otfried (2007), Lebenskunst und Moral. oder macht Tugend glücklich?, München.
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hier zielgerichtet eingesetzt wird. Zudem haben sich aus der Analyse der YouTube-Clips zwei Typen der Darstellung des Bösen herauskristallisiert, die visuell in Motiven wie dem Wald zusammenkommen: der urbane Typus des evil male, als serial killer und Amokläufer und der »unzivilisierte« pagane Typus des »schwarzen« jugendlichen Killers. »Todsünde ist folglich die freie Entscheidung für das Böse um des Bösen willen.«266
Dem Trend zur allgemeinen sozialen Entdramatisierung des Bösen267 steht dessen mediale »Aufwertung« gegenüber. Insbesondere über die Plattform YouTube findet die visuelle Re-Dramatisierung des Bösen durch Jugend- und Populärkulturen statt. Das, was die Moraltheologie unter dem absoluten Bösen versteht, ist hier zuhause. In den Alltagsmedien finden sich vor allem die drastischen, beinahe alttestamentarischen und traditionellen Formeln für die Darstellung des Bösen: das Böse wie auch der Tod sind bilderfreundlich. »Das Realitätsprinzip ist im Zuge einer Totalisierung der Welt durch die Guten im Verschwinden begriffen. An dessen Stelle tritt eine virtuelle Realität, eine integrale Realität, die scheinbar vollkommen, kontrollierbar und ohne Widerspruch ist. Doch bringt diese fatale Logik des Exzesses zugleich das verdrängte Andere hervor: das Übermaß an Gesundheit den Virus, das Übermaß an Sicherheit neue Bedrohungen et cetera. Hierin liegt die Intelligenz des Bösen, die bösartige Umkehrung der Struktur gegen sich selbst.«268
Die bildliche Darstellung der »in-sich-sittlich-schlechten« Handlung, das »intrinsece malum«,269 bleibt kulturelles Grundmotiv in allen Künsten, im Film und in den Jugendkulturen. Ein bemühtes »Gutmenschentum« versucht immer wieder, zum Beispiel unter dem Banner des Jugendschutzes, die verzweifelten jungen männlichen »Ich-Armeen« unsichtbar zu machen. Eine Plattform wie YouTube sorgt im Web 2.0 dafür, dass das visualisierte Böse nicht aus der Welt verschwindet, sondern dass mit diesen dunklen Antipoden die Abgründe der aufgeklärten westlichen Gesellschaft offenbar bleiben.
—————— 266 Höffe, Otfried (2007), Lebenskunst und Moral. oder macht Tugend glücklich? München. 267 Ebd. 268 Baudrillard, Jean (2006), Die Intelligenz des Bösen, Wien. 269 Arntz, Klaus (2008), Die Entdramatisierung des Bösen aus moraltheologischer Sicht, in: W. Faulstich (Hg.), Das Böse heute. Formen und Funktionen, München 2008, S. 25–41.
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Eine weitere Strategie des Ernst-Machens in Verbindung mit einer Bildproduktion sowie der Inszenierung einer Form des visualisierten Bösen ist das »Happy Slapping«.
4.3.2 »Happy Slapping« und visuelles Mobbing270 Schlagende Bilder »Happy Slapping«, im Sinne von »fröhlichen Ohrfeigen«, beschreibt grundsätzlich einen meist willkürlichen Angriff einer oder mehrerer Personen auf eine einzelne Person. Der Einsatz der Handy-Kamera zum Aufzeichnen des betreffenden Szenarios ist zwingend. Die Aufnahmen werden über das Internet oder per Bluetooth von Handy zu Handy verbreitet. Die inflationäre Verwendung des Begriffes »Happy Slapping« fordert jedoch eine genauere Definition. Florian Rötzer vermutet, dass »alles mit harmlosen Ohrfeigen und tatsächlich aus Jux begonnen« hat und »schließlich zu gewalttätigen Anschlagsformen ausgeartet«271 ist. Barnfield führt den Terminus auf das aus den 1940ern stammende »Happy Snapping« zurück; Schnappschüsse von Familie und Urlaub.272 Da das englische Wort slap weder berauben, verprügeln, vergewaltigen oder gar töten bedeutet, sondern die einfache Bezeichnung für eine Ohrfeige273 ist, sollte man die kriminellen Fälle, von denen in den Medien berichtet wird, als das ansehen, was sie tatsächlich sind, nämlich Raub, Totschlag, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung. Man muss außerdem zwischen Taten unter Freunden und Fremden unterscheiden, ob Personen aktiv Gewalt ausüben oder passiv am Bildertausch beteiligt sind und die Clips verbreiten. Ein solcher aufgezeichneter Vorfall kann aber auch eine Inszenierung sein, bei der die Tat nur vorgetäuscht wird und niemand zu Schaden kommt. Es macht die Brisanz des Phänomens aus, dass die Bilder selbst nicht immer über den Ernst der Situation Auskunft geben.
—————— 270 Dies ist die ungekürzte, unredigierte »Freestyle und Remix«-Version eines Artikels, der 2007 in: Herbert Scheithauer/Tobias Hayer/Kay Niebank (Hg.), Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter. Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen und Möglichkeiten der Prävention, Stuttgart, erschienen ist. 271 Rötzer, Florian (2005), Das brutale Spaß-Happening für die Handy-Kamera, Telepolis vom 30.04.2005. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20004/1.html 272 Quinion, Michael (2005), Happy Slapping, World Wide Words vom 25.06.2005. http://www.worldwidewords.org/turnsofphrase/tp-hap1.htm 273 Meriam-Websters 2001.
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»Happy Slapping« wird hier als Oberbegriff für verschiedene Formen von gewalttätigen Übergriffen bei Jugendlichen verwendet und soll an dieser Stelle von ähnlichen Begrifflichkeiten abgegrenzt werden. Unter Übergriffen wird hier die gesamte Bandbreite von Einwirkungen auf andere Körper verstanden, von »scherzhaft« gemeinten Klapsen nach medialem Vorbild bis hin zu krimineller Gewalt. Die Bezeichnung »Happy Slapping«, ursprünglich leichte Schläge gegen Körperstellen wie Nacken, Wange oder Hinterkopf unter Freunden, beschreibt also heute ein sehr weites Feld an Taten. Anders bezeichnet werden Übergriffe auf Frauen/Mädchen; die damit verbundene sexuelle Gewalt wird »Bitch Slap« genannt.274 Unter »Bullying« versteht man, wenn eine Person das Opfer von wiederholten Demütigungen oder physischer Gewalt wird, wobei die Erniedrigung hier über die Tat selbst und nicht über die multimediale Aufzeichnung und Weiterverbreitung stattfindet. Genauso wird der Begriff »Snuff« häufig in Verbindung mit »Happy Slapping« genannt. »Snuff« beschreibt den echten oder »inszenierten« Mord an einer meist weiblichen Person, der, zu perversen »Entertainment«-zwecken, gefilmt und verbreitet wird. Inszenierte Kämpfe, mit dem Ziel ein Unterhaltungsvideo herzustellen, findet man auch bei den sogenannten »Bum Fights«, bei denen Obdachlose bezahlt werden, sich selbst oder einem anderen Obdachlosen zu schaden. Sie unterscheiden sich vom »Happy Slapping« vor allem dadurch, dass der Produzent der Aufzeichnung die Gewalthandlung zwar bewusst herausfordert, jedoch nicht selber ausführt. Es gibt zwei Formen des »Happy Slapping«: Zum einen das klassische »Happy Slapping«, bei dem es sich um das aktive Zuschlagen mit Überraschungskomponente handelt und das auf die Erstellung von eigenen Bildern hinausläuft. Der Akt erstaunt durch seine Sinn- und Grundlosigkeit, das Opfer ist nicht bekannt. Zum anderen den passiven Umgang mit Bildern der Gewalt, dem Bildertausch und Fotosharing. Aktive und passive Varianten des »Happy Slapping« liegen nachweislich nah beieinander (siehe unten aufgeführte Kriminalfälle), wobei die Sammlung von Gewaltbildern bei Jugendlichen eine gewisse Gewaltaffinität voraussetzt. Wir gehen davon aus, dass es Gewalt ist, einer anderen Person illegitim seinen Willen mittels Eingriffen in die körperliche und/oder psychische Integrität aufzuzwingen. Bei Jugendlichen gilt es zwei potenziell aggressive
—————— 274 Balci/Güner/Reimann (2006), Gewaltvideos auf dem Handy. Verprügelt, vergewaltigt und gefilmt, SpiegelOnline vom 13.06.2006.http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,418 236,00.html
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Handlungskontexte zu unterscheiden: Zum einen die unmittelbare, face-toface-, zum anderen die massenmedial vermittelte Kommunikation. Jugendliche erfahren Gewalt als Täter oder Opfer direkt, aber auch indirekt auf unkörperliche Weise im Rahmen der audio-visuellen Unterhaltung, zum Beispiel durch Filme und Games. Allen Varianten der Gewalt, die hier verhandelt werden, ist gemeinsam, dass sie sich zwingend in einer visuellen Form und Ästhetik niederschlagen bzw. dass sie mit einem vorlaufenden medialen Format verknüpft sind.275 Der Analyse des Phänomens wird des Weiteren die Basisannahme zugrunde gelegt, dass der Umgang mit Bilderzeugnissen immer milieubzw. geschlechtsspezifischen Sehgewohnheiten folgt.276 Speziell für Jugendliche sind dabei andere bilderzeugende Systeme als die bildende Kunst bestimmend. »Happy Slapping«, so die dritte Grundannahme, ist in seinen gewalttätigen Ausformungen ein Phänomen unter männlichen Heranwachsenden.277 Eine andere kulturelle Voraussetzung findet sich im Verhältnis von Bild und Körper: Das Fortwirken der diskursiven Festschreibung der Ursprünge der männlichen Gewalt in der Natur im 19. Jahrhundert als Norm des Körper-Geschlechts ist festzustellen.278 Mit den technischen Bildern steigt jedoch die Tendenz, den weiblichen Körper zum Bild zu machen. Phantasmen des Weiblichen werden visualisiert und weisen Frauen ihren Platz als permanentes Blickobjekt zu bis hin zur Mortifizierung des weiblichen Körpers zur Sicherung männlicher Autorenschaft.279 Die schweren Gewalttaten männlicher Täter sind jedoch Einzelfälle, in denen bestehende Konflikte weiter ausgetragen werden. Es entsteht hierbei meist keine neue Gewalt, sie wird im Moment des »Happy Slapping« jedoch sichtbar. Gewalt ist nicht der Normalfall in Schule und Gleichaltrigengruppen, und so beobachten Jugendliche keinen generell gewalterfüllten
—————— 275 Richard, Birgit (2006), Pictorial Clashes am medialen Gewaltkörper: Abu Ghraib, Nick Berg und Johannes Paul II, in: Richard, Birgit/Neumann-Braun, Klaus (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen–Tarnen–Drill, München, S. 235–255, S. 238. 276 Bourdieu, Pierre/Boltanski, Luc et al. (1983), Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt am Main. 277 Polizeiliche Kriminalstatistik (2005) vom Bundesministerium des Inneren. www.bmi. bund.de/…/Polizeiliche_Kriminalstatistik_20054_de.pdf 278 Ehrlicher, Hanno/Siebenpfeiffer, Hania (2002), Ein Jahrhundert der Gewalt: die Krise der männlichen Moderne, in: diess. (Hg.), Gewalt und Geschlecht. Bilder, Literatur und Diskurse im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien, S. 8. 279 Bronfen, Elisabeth (1996), Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München.
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Umgang in Schule und Peergroup.280 Wie bei allen kritisch diskutierten jugendkulturellen Phänomenen gilt es den Blick zu schärfen für die Unterscheidung von pathologisch-kriminellen Exzessen und der Erprobung neuer Medienkonstellationen, die generell immer auf Vorgaben einer medien-sozialen Umwelt fußen. Das gesellschaftliche Bildklima ist im Moment geprägt durch die Ästhetisierung der Grausamkeit, eine Gewalt um der Gewalt willen.281 Diese spiegelt sich vor allem in Hollywood-Filmen, wo der Folterhorror in den USA sehr treffend mit torture porn bezeichnet wird und nun auch im Mainstream angekommen ist.282 Diese neuen Bildwelten sind so konstruiert, dass sie kein Mitleid mit den Opfern erlauben. Ganz im Gegenteil, diese werden als dumm und unentschlossen dargestellt, während Folterer als artistische Künstler der Körperzurichtung gefeiert werden. »Da ist der Genuß der Ausschweifung, das Hohngelächter über das Leiden der Opfer, die Entgrenzung des Affektes.«283 Im Moment ist der soziale Bezugsrahmen also ein extrem gewalttätiger, welcher Folter auf verschiedenen Ebenen als legitimes Mittel visualisiert. So ist es nicht verwunderlich, wenn solche brutalen Bildwelten indirekt von Jugendlichen verarbeitet und auch selbst hergestellt werden. You’ve been tangoed! Mediale Vorläufer In den Medien werden immer wieder TV-Sendungen als Initiatoren für »Happy Slapping«-Vorfälle verantwortlich gemacht. Als Ursprung des »Happy Slapping« gilt der Werbespot der britischen Limonadenfirma Tango (1993) mit dem Slogan »You know when you’ve been tangoed«. Der speziell für die Geschmacksrichtung Orange des Herstellers produzierte Clip zeigt einen orangefarbenen, nackten, glatzköpfigen comicartigen Mann, der in schneller Geschwindigkeit auf der Straße auf einen anderen Mann zurennt, welcher gerade eine Dose Tango Orange trinkt. Der verdutzt schauende Konsument weiß gar nicht, wie ihm geschieht, als er von der orangefarbenen Figur unvermutet geohrfeigt wird. Der intensive säuerliche
—————— 280 Pfaff, Nicolle/Fritsche, Sylke (2006), Gewalt – Erfahrungen, Einstellungen und Verhaltensweisen Jugendlicher in Schule und Gleichaltrigengruppe, in: Helsper, Werner/ Krüger, Heinz-Hermann et al.: Unpolitische Jugend? Eine Studie zum Verhältnis von Schule, Anerkennung und Politik, Wiesbaden, S. 97–122, S. 113. 281 Wieviorka, Michel (2006), Die Gewalt, Hamburg. (Gekürzte deutsche Ausgabe des franz. Originals: La Violence. 2004. Paris), S. 148. 282 Beier, Lars Olaf (2006), Mordsspaß im Schlachthof, Der Spiegel, 30, S. 128–130. 283 Sofsky, Wolfgang (2000), Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main, S. 49.
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Geschmack von Tango sollte den Konsumenten wie ein unerwarteter Schlag erwischen und überraschen. Die Geschwindigkeit des orangenen Mannes, die Einblendung des Wortes »Replay« und die Reporter aus dem Off, die das Gesehene in der Art einer Sportveranstaltung kommentieren, heben den Slapstickcharakter des Spots hervor. Dieser Clip kam bei Kindern sehr gut an, die damit begannen, ihre Mitschüler und Eltern unerwartet zu ohrfeigen. Dies führte nicht nur zu geplatzten Trommelfellen,284 sondern auch dazu, dass der Clip vom Markt genommen wurde und nur noch in abgewandelter Form mit einem Kuss anstatt der Ohrfeige gezeigt werden konnte.285 Nicht nur der Tangospot, auch die MTV-Shows »Jackass« und »Dirty Sanchez« werden als Initiatoren für die gewalttätigen Übergriffe angesehen.286 »Jackass« hatte für drei Staffeln die höchsten Einschaltquoten bei MTV; im Jahre 2002 wurde die Produktion eingestellt. 2001 hatte sich ein 13-jähriger Junge die Füße mit Benzin in Brand gesetzt, weil er einen Stunt der Show Human BBQ imitierte.287 Hierbei trug Knoxville einen feuerfesten Anzug, an dem unzählige Steaks befestigt waren, und legte sich über einen riesigen Grill, seine Kollegen besprühten ihn mit flüssigem Grillanzünder. Eine weitere MTV-Show, an der Kritik geübt wird, ist die Sendung »Wildboyz«; die Protagonisten Steve-O und Chris Pontuis bereisen ferne Länder und setzen sich dort mit ihren Körpern wilden Tieren aus oder probieren seltsame, dort einheimische Speisen, wie Tier-Hoden, von denen Steve-O immer wieder vor laufender Kamera erbrechen muss. Zum Running Gag dieser Sendung gehört die sogenannte Black Mamba, bei der sich einer der beiden Protagonisten einen schwarzen Strumpf über die Hand zieht und dem schlafenden Anderen damit ins Gesicht klatscht. Die »Komik« ent-
—————— 284 Camberwell (2006), Handling controversey (yet again), Arachnoboards vom 27.07.2006, Oxfordshire. http://www.arachnoboards.com/ab/showthread.php?t=73303&page=5 und Russell (2005), Happy Slapping, son of Tango.Mobhappy vom 24.01.2005. http://mobhappy.typepad.com/russell_buckleys_mobhappy/2005/01/happy_slapping _.html 285 Marvello (2006), The Old Tango Ad, Ciao-Review vom 21.02.2006. http://www.ciao. co.uk/Tango_TV_Advertisement__Review_5561896 286 Vgl. http://www.noopen.net/jackass/index.php?x=51 287 Farache, Emily (2001), Jackass Ripped. Jackass is in the hot seat, eonline.com vom 30.01.2001. http://www.eonline.com/News/Items/0,1,7736,00.html und Starr, Michael (2001). MTV Won’t Curtail Jackass. A senator calls for the network to tone down a show that inspired a fire accident. beliefnet 2001. http://www.beliefnet.com/story/65/ story_6517_1.html
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steht hierbei durch das Überraschungsmoment, denn das Opfer der Attacke, das gerade aus dem Schlaf gerissen wurde, zeigt ein ziemlich irritiertes Gesicht. Auf einem Vorläuferformat von »Jackass«, »Camp Kill Yourself«, kurz CKY, wird der Protagonist RaabHimself von Bam Magera fest mit flacher Hand geschlagen (schleicht sich in das Zimmer, visiert mit seiner Hand den Kopf des Schlafenden an und rennt dann weg). Solche Szenen wiederholen sich immer wieder in abgewandelter Form, und so überraschen sich die Darsteller auch auf der Straße durch unerwartete Schläge mit geballter Faust auf den Kopf. Aber nicht nur die Selbsterniedrigung und der eigene Schmerz werden erprobt; auch fremde Personen werden erniedrigt: Auf einer Feier wird der betrunkene Freund einer Bekannten, der nicht wach zu kriegen ist, ausgezogen, geschminkt und gedemütigt. Bam Magera startete 2003 bei MTV seine eigene Show »Viva la Bam«, bei der seine Eltern und die ganze Verwandtschaft unter den Dummheiten der bereits durch CKY und »Jackass« bekannten Crew leiden müssen. Direkte Form des »Happy Slapping« findet man also hauptsächlich um Bam Magera in den Sendungen »Viva La Bam« und bei CKY. Auch die Serie »Dirty Sanchez« wird immer wieder in der Debatte um Schlägereien, die mit dem Handy aufgezeichnet werden, genannt; eine direkte Verbindung zum alltäglichen Phänomen »Happy Slapping« ist jedoch zu konstruiert. Trotzdem sind viele Parallelen augenscheinlich: sie zeigen Gewalt gegenüber Menschen und kreieren eine spezielle Ästhetik der Gewalt. Bei den MTV-Serien ist diese Art der Gewalt jedoch Teil einer Show und läuft zwischen Personen ab, die sich gut kennen und ihre Verhaltensweisen im gegenseitigen Einverständnis akzeptieren. Es muss des Weiteren differenziert werden, ob die Gewalt nach innen gerichtet ist, wie bei »Jackass«, »Wildboyz« und »Dirty Sanchez« hauptsächlich der Fall, oder ob sie auf sadistische Weise Außenstehende trifft, wie beim »Happy Slapping«. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Motiv der Mutprobe, die verlangt, eigene Schmerzen oder Ekel zu überwinden. Diese Sendungen medialisieren eine bestimmte Form männlicher Körpersozialisation, während bei den kriminellen Fällen das Zufügen von körperlichem oder seelischem Schaden im Mittelpunkt steht. Auch auf ästhetischer Ebene finden sich Gemeinsamkeiten, denn die Aufnahmequalität der MTV-Serien bewegt sich durch das Medium des DV-Videos in Richtung einer Amateurästhetik der nur bedingt erkennbaren Bilder von Handykameras. Jene Gemeinsamkeit wird noch unterstützt von einem »dokumentarischen« Stil, der durch Verzicht auf das Hilfsmittel des Stativs den sponta-
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nen Charakter einer Liveaufnahme besitzt und somit die Authentizität der Performance unterstreichen soll. Bildsozialisation durch »shifting images« Im Weiteren soll hier ergründet werden, welche bekannten digital-medialen Bedingungen, die aus den Unterhaltungs- und Informationsmedien auf die Betrachtenden wirken, ein solches Phänomen begünstigen, um dann schließlich ihre Transformation bzw. neue Qualität zu analysieren und die Grenze zur kriminellen Devianz zu ziehen. Entscheidend für die neuartige Entwicklung der Bilderproduktion und -distribution ist das wichtigste Gadget, das vor allem Jugendlichen sozial unentbehrlich erscheinende Handy; laut einer britischen Studie sind zwei Drittel der Jugendlichen bis 23 Jahre der Überzeugung, dass das Handy ihr Leben verbessert habe, bei den über 40-Jährigen ist man hier eher geteilter Meinung.288 Das multifunktionale Handy der Gegenwart ist natürlich mit einer Handycam, einer digitalen Kamera ausgerüstet. Da das Gerät ständig verfügbar und mobil ist, kann in jeder Situation ein Foto oder ein Video erzeugt werden: Es besteht die permanente Möglichkeit zur Bildproduktion, -distribution und -rezeption. Die technische Vernetzung geschieht über drahtlose P2P-Übertragung, zum Beispiel per Bluetooth, ohne Kontrollierbarkeit von Inhalten (des Weiteren kommt hinzu, dass gelöschte Daten auf Handys nicht wieder hergestellt werden können). Größere Handyspeicher, heute bis zu 64 GB, halten die Bilder verfügbar und jederzeit abrufbar. Hinzu kommt das neu aufgestellte Internet auf der Basis von Web 2.0 als virtuelles Fotoalbum und Bildtagebuch. Schnelle Breitbandanschlüsse garantieren einen raschen Up- und Download von Bildern, und so können die Eigenproduktionen direkt vom Smartphone in die Web 2.0-Datenbanken integriert werden. Das Internet ist zugleich Quelle für verbotene indizierte Bilder, die auf das Handy heruntergeladen werden können. Als universelles Speichermedium beherbergt das Internet von Anfang an die dunklen Seiten der westlichen Kultur und ihre ungewollten Bilder. Die uneingeschränkte und leichte Zugänglichkeit von Pornografie und gewalttätigem Bildmaterial von Websites, die nicht zensierbar und nicht abschaltbar sind (russische Provider, zum Beispiel die Todesbilder von www.ogrish.com), begünstigen die Weiterverteilung insbesondere in männlichen Peergroups.
—————— 288 Rötzer, Florian (2006), Das Handy als Freund und Leibwächter, Telepolis vom 25.07.2006. www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23175/1.html
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Hobbyfotografie ist kein Ausweis für kritische Bildkompetenz, obwohl die Menschen mit dem Herstellungsprozess der Bilder vertraut sind.289 Digitale Bilderzeugung ist nicht per se kunstvoll oder demokratisierend, wie sich im »Happy Slapping« zeigt. Formen von active spectatorship290 und ein autonomes imagineering291 entstehen also nicht zwangsläufig. Gewaltbilder haben Schnittstellen zu Kunst, Film und TV. Sie zeigen die Vorprägung des Blicks und verdeutlichen, dass eine direkte Abbildung von Realität niemals möglich ist.292 Bilder lassen sich generell nur immer in Relation zu anderen Bildern betrachten. Das »shifting image«293 bewegt sich zwischen verschiedenen medialen Bildsystemen wie TV, Film, Printmedium und Internet. Als Schlüsselbild hat es eine epidemische Struktur, die zur »Ansteckung« und Bildung neuer Bildcluster bzw. -nachbarschaften führt. Die große ungeordnete Anzahl von Bildern im Internet generiert eine Hypervisualität, die ohne Ordnungskriterien und Selektion nicht zu bewältigen ist. Alles wird gezeigt, aber die aufdringlichen Bilder sind gekennzeichnet durch die Undurchlässigkeit ihrer Oberfläche, die kein Erklärungsmodell anbietet.294 Gegenwärtige bildmediale Phänomene der Gewalt zeigen sich in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, in Film- und Pressebildern und im Internet: Abu Ghraib mit seinem konzeptuellen Zwilling, dem gnadenlosen Folterhorrorfilm »Hostel«295; Nick Berg, das neue Genre der islamistischen Enthauptungsvideos. Alle diese Phänomene hängen zusammen und befinden sich mit ihren »shifting images« im permanenten Medienwechsel und Image-Fusionen. Im Zusammenspiel verschiedener Mediensysteme ent-
—————— 289 Gapp, Christian (2006), Von Hobby-Knipsern und Profi-Kriegern, Telepolis, 19. 08. 2006, 23. 12. 2006, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23362/1.html und Klenk, Florian (2006), Rat der falschen Wächter. Wie Blogger im Libanonkrieg Propaganda betreiben. Die Zeit vom 10.08.2006. http://www.zeit.de/2006/33/Manipulation 290 Rogoff, Irit (1999), Studying visual culture, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.), Visual culture Reader, London & New York, S. 14–26, S. 23ff. 291 Holert, Tom (2000), Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln. 292 Bredekamp, Horst (2005), Im Königsbett der Kunstgeschichte, Ein Interview in: Die Zeit Nr. 15 vom 6. April 2005, S. 47. 293 Richard, Birgit (2006), Pictorial Clashes am medialen Gewaltkörper: Abu Ghraib, Nick Berg und Johannes Paul II, in: Richard, Birgit/Neumann-Braun, Klaus (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen–Tarnen–Drill, München, S. 235–255. 294 Zu Visual Culture als wissenschaftlicher Ansatz s. Rogoff, Irit (1999), Studying visual culture, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.), Visual culture Reader, London/New York, S. 14–26, S. 22. 295 Hostel (2005), Director & writer: Eli Roth.
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steht eine Spirale des voyeuristischen Verlangens nach »authentischen« Gewaltbildern, nach einem Theater der Grausamkeiten. Diese Art von Steigerung lässt sich auch in den Bildersammlungen auf den Handys von Jugendlichen wiederfinden. Der medial vorstrukturierte Blick macht auch hier die Erkennung des Realitätsgrades bzw. die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Virtualitätslevels des Bildmaterials (Film- Video-, Live-, Stand-, Handycambild) immer schwieriger. »Happy Slapping«: performte und veröffentlichte Gewalt Das Individuum bedient sich zur Selbstdarstellung kulturell »vor-gesehener« Bilder, die sich mit den Möglichkeiten eines neuen Mediums erweitern: das Lacansche »Im Bild Sein« ist »In Der Welt Sein« und bildet das Paradigma der jungen Generation. Der Aufstieg des modernen Individualismus fördert auf zwei Arten die Gewaltbereitschaft: Gewalt erscheint einmal als illegitimes Mittel, ein legitimes Ziel wie Geld und Genuss zu erreichen,296 was für »Happy Slapping« nicht zutreffend ist. Gewalt wird zweitens zum Ausdruck einer unmöglich gewordenen, beschädigten Subjektivität. Das System verhindert, der Akteur der eigenen Existenz zu sein, Gewalt wird als Sinnsuche und -stiftung verstanden und ist das Streben, selbst etwas herzustellen, was früher durch Kultur oder Institutionen geliefert wurde;297 die Auswüchse des »Happy Slapping« bieten den Protagonisten genau dieses an. Vorfälle von »Happy Slapping« unter Freunden sind alltäglich und unspektakulär. Wenn sich Jugendliche gegenseitig necken und aus spaßigem Zwicken ein unerwarteter Schlag mit einer zusammengerollten Zeitung oder eine unerwartete Ohrfeige wird, mit der man sich gegenseitig im Spaß aufzieht, kommt üblicherweise niemand nachhaltig zu Schaden. Die Presse und vor allem die Boulevard-Magazine konzentrieren sich auf die kriminellen Fälle von »Happy Slapping«: schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, Totschlag und Mord. Dass man dann nicht mehr von einer »lustigen Ohrfeige« sprechen kann, zeigen die folgenden ausgewählten Fälle, die von den Medien als »Happy Slapping« bezeichnet werden, um beim Leser die
—————— 296 Wieviorka, Michel (2006), Die Gewalt, Hamburg, S. 63. 297 Ebd., S. 64.
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Aufmerksamkeit und Befürchtung vor einer neuen Welle jugendlicher Gewalt hervorzurufen.298 »Täter begehen die Taten nicht aus sozialer Benachteiligung, sondern um Spaß zu haben. […] Wenn es ein neues Aufzeichnungsgerät gibt, dann gibt es immer das Bestreben, seine Triebe damit aufzuzeichnen und es gibt immer die Frage des Täters, wie sehr bin ich Avantgarde?«299
Man kann bei den kriminellen Fällen schon von einer Häufung dieser neuartigen Akte sprechen, die nach einem Muster ablaufen: Es ist ein Gruppendelikt mit Verobjektivierung des Opfers für eine Kamera. Die Taten werden ins Netz gestellt und auf dem Handy herumgezeigt, um damit zu prahlen und sich durch die eigene Inszenierung im Bild zu profilieren. Das Aufnehmen der Tat macht diese zeitlos, de-realisiert sie im Portfolio des Täters. Die Gewalttat wird durch die mediale Verbreitung im Freundeskreis und im Internet und durch die gleichzeitige Erniedrigung des Opfers zur Trophäe. Ist die jeweilige Szene erst einmal im Handy, kann das Opfer jederzeit vorgeführt werden. Es entsteht eine Art Folter-Loop, der endlos wiederholt werden kann. Das Ziel von »Happy Slapping« ist daher weniger der körperliche Angriff, sondern die totale Demütigung. Die pathologischen Auswüchse sollten aber insofern Beachtung finden, als sie auf medialen Strukturen fußen, die von allen Jugendlichen genutzt werden. Dass die Extreme nicht der Normalfall sind, korrespondiert mit dem Ergebnis von Studien zu jugendlicher Gewalt in der Schule: Harte kriminelle Formen, zum Beispiel Waffengewalt, kommen im schulischen
—————— 298 Bei einem der spektakulärsten frühen Fälle aus dem Ursprungsland des Happy Slappings, Großbritannien, handelt es sich um die von der Presse als »Clockwork Orange Gang« bezeichnete Gruppe, durch welche der 37-jährige Barmanager Davis Morley am Südufer der Themse in London am 30. Oktober 2004 ums Leben kam. [Vgl. Dean, Neville (2006), Clockwork Orange gang jailed for »happy slapping« killing, irish examiner vom 24.01.2006. http://archives.tcm.ie/irishexaminer/2006/01/24/story 291725940.asp].44 Schlagverletzungen, eine gerissene Milz und fünf gebrochene Rippen wurden bei Morley, der einer der in dieser Nacht von der Gang attackierten 8 Personen war, diagnostiziert. [Vgl. Gardham, Duncan (2005), Feral street gang who killed for kicks, telegraph online vom 15.12.2005. www.telegraph.co.uk/news/main.jhtml?xml=/news/2005/12/15/nsl ap15.xml] 299 Stolz, Matthias (2006), »Ich bin überfordert«. Berliner Schüler sollen ein Mädchen vergewaltigt und dabei gefilmt haben, Regisseur Michael Haneke beschäftigt sich schon seit langem mit Gewalt und Videos. Die Zeit, 22 vom 24. Mai 2006, S. 68. http://www.zeit.de/2006 /22/W_2fHaneke_22
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Kontext kaum vor. Dagegen weisen psychische und verbale Formen300 eine besorgniserregende Normalisierung auf. »Happy Slapping« stellt hierfür ein perfides visuelles Mobbing-Instrument zur Verfügung. Die Täter wollen bei ihren Taten im Bild erkennbar sein und veröffentlichen die Bilder; Mitleid mit dem Opfer existiert nicht. Das Ausrichten des eigenen Lebens an Bildern impliziert die Dominanz des male gaze301, der nun auch Schemata zur sexuellen Unterwerfung für männliche, schwache oder konkurrierende Körper entwirft. Hierbei gilt es zu beachten, dass sich besonders gewaltaffine Stile, wie zum Beispiel die Musikrichtung HipHop, auf generelle Gewaltbereitschaft auswirken.302 Statistiken zeigen, dass auch Jungen häufiger Opfer sexueller Übergriffe werden. Die sexuelle Unterwerfung wird als Machtfaktor ausgespielt und zur maximalen körperlichen und seelischen Demütigung.303 Generell sind Bilder in heutigen Peer-Groups gruppen-konstituierend und erhaltend; nur wer aktiv Bilder erzeugt (mit der Kamera oder als download) oder rezipiert, gehört dazu. Jugendliche kopieren dabei nicht eins zu eins, was sie in Medien sehen. Aber Inszenierungspraxen und Ästhetik der medialen Darstellung beeinflussen in der Umsetzung der Taten, welche vielleicht auch so stattgefunden hätten. Das gemeinsame Erleben und Bestehen gewalttätiger Aktionen, nun verknüpft mit den Bildern vom gewalttätigen Event, gehört leider auch manchmal zur Aufbauarbeit für Peer-Kontakte.
—————— 300 Siehe Studie von Lenz, Ackermann zitiert nach Pfaff, Nicolle/Fritsche, Sylke (2006), Gewalt – Erfahrungen, Einstellungen und Verhaltensweisen Jugendlicher in Schule und Gleichaltrigengruppe, in: Helsper, Werner/Krüger, Heinz-Hermann et al., Unpolitische Jugend? Eine Studie zum Verhältnis von Schule, Anerkennung und Politik, Wiesbaden, S. 97–122, S. 106. 301 Mulvey, Laura (1989), Visual and Other Pleasures, Bloomington. 302 Pfaff, Nicolle/Fritsche, Sylke (2006). Gewalt – Erfahrungen, Einstellungen und Verhaltensweisen Jugendlicher in Schule und Gleichaltrigengruppe, in: Helsper, Werner/ Krüger, Heinz-Hermann et al., Unpolitische Jugend? Eine Studie zum Verhältnis von Schule, Anerkennung und Politik, Wiesbaden, S. 97–122, S. 112. 303 Fall: Goslar ein 14-Jähriger wird von mehreren 14–16-Jährigen gezwungen, an sich selbst schmerzhafte sexuelle Handlungen zu vollziehen, dies wurde gefilmt und auf die Homepage der Täter gestellt. Süddeutsche Zeitung 7. Juni 2006, S. 10, Nr. 129.
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»Happy Slapping« und Visuelles Mobbing Der mediale Inszenierungscharakter von »Happy Slapping« wird erst in der Analyse der Bilder im Kontext erkennbar.304 Dies widerlegt den immer wieder vermuteten direkten Zusammenhang zu medialen Formaten als unmittelbare Auslöser von Gewalttaten. Die dargestellten visuellen Erscheinungen und die kriminellen Fälle zeigen, dass Handy-Kameras oder gar MTV-Serien wie »Jackass« für Gewalttaten nicht primär verantwortlich gemacht werden können, sondern vielmehr die soziale Umgebung und Mediensozialisation eines Menschen. Bei den dargestellten kriminellen Fällen handelt es sich um Einzelfälle, und man kann nicht von einer Epidemie sprechen; »Happy Slapping« sei ein Beispiel dafür, wie die Medien Einzelfälle zum Massenphänomen hochstilisieren.305 Die Täter versuchen sich mit den Videos gegenseitig zu überbieten, das Bild der aufgenommenen Straftat wird zum Beweis. »Herrscht hier so viel Naivität vor«, fragt Rötzer306 und beantwortet seine Frage mit dem in der Masse vorherrschenden Drang, sich in das »mediale Gedächtnis einzutragen«, aus dem Schatten herauszutreten und »im hellen Strahl der Aufmerksamkeit zu stehen«. Das Heil des eigenen magischen Aufgehens im Bild führt zur offenen Präsentation von Täter und Opfer. Der Trugschluss, das private Blog wäre ein verschlossenes Tagebuch und das Netz ein geheimer privater Raum für eine Peergroup, macht so Zugriffe der Justiz möglich.307 Jugendliche sind intensiv mit der Verarbeitung von Angeboten einer exhibitionistisch-voyeuristischen Gesellschaft beschäftigt. So überrascht es laut Barnfield kaum, dass Kinder bei solchen normal und legitim gewordenen aufdringlichen Bildern ihre eigenen gleichwertig aussehenden Materia-
—————— 304 Dabei können über die Betrachtung der Ästhetik spezifischer medialer Bilder der Konstruktcharakter von Gewaltritualen und ihre Abhängigkeit von medialen Folien und Bildern deutlich werden. Im Bild zeigt sich dann, dass Auseinandersetzungen und Gewalttätigkeiten, wie auch in der Kunst, nach bestimmten Prinzipien und Dynamiken ablaufen. Vgl. z.B.»The Match«, eine Videoarbeit von Martin Brand, macht z.B. klar, wie höchst ritualisiert sich prügelnde Hooligans verhalten. 305 Peter Vitouch im Gespräch mit diepresse.com. Zitiert nach: Lecher, Judith (2005), Happy Slapping: Ein britisches Phänomen, Die Presse.com vom 20.07.2005. http:// wirtschaft. diepresse.at/Artikel.aspx?channel=h&ressort=hm&id=495767 306 Rötzer, Florian (2005), Im Visier der Kamerahandys, Telepolis vom 19.06.2005. http:// www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20347/1.html 307 Roth, Wolf-Dieter (2005), Mein Blog liest ja sowieso kein Schwein. Aber der Chef und der Staatsanwalt, Telepolis vom 23.12.2005. www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21643/1.html
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lien erzeugen möchten.308 Globale soziale Trends wie der Verlust der Empathie und die Zunahme der Heftigkeit von Sex und Gewaltdarstellungen, sehr oft in Kombination, spiegeln sich in diesen Bildwelten. Gewalt wird ausgeübt, um Bilder zu erzeugen; in der alleinigen körperlichen Abreaktion von Aggression wird keine Befriedigung mehr empfunden, wenn niemand zuschaut. Alle Täter tun dies für die persönliche Profilierung, denn nur als medialer Bilderzeuger fühlen sie sich als existierend, wobei das Ziel immer die Erzeugung eines sendbaren Realformats ist. Wer nur den Körper hat, ist unterlegen, wird zugerichtet; es wird eine Abtrennung von Körper und Bild vollzogen, die die Auflösung von »feindlichen« Körpern im Bild ermöglicht. Alle erwähnten medialen Phänomene künden von Verschiebungen im Verhältnis von Bild und Täter/Opfer und der Relation Blick und Körper/Medium. Die Verbindung des technisch apparativen Bildes zur materiellen Realität scheint gerissen, das Indexikalische verschwunden. »Absolute Gewalt bedarf keiner Rechtfertigung. Sie zielt nur auf die Fortsetzung und Steigerung ihrer selbst«309
Nicht nur in den kriminellen Fällen des »Happy Slapping« lässt sich der Wunsch des oder der Täter, durch eine Gewalttat einen empfundenen Sinn- und Anerkennungsverlust zu kompensieren, nachweisen.310 Mit jedem neuen Medium bietet sich auch eine Möglichkeit der Präsentation der eigenen gewalttätigen Triebe an,311 die die Täter auf einfallsreiche Weise nutzen. Psychischer sowie physischer Gewalt steht mit dieser Medialisierung das wirkungsvollste visuelle Mobbing-Instrument zur Verfügung. Es gründet auf wiederholbaren und überall vorführbaren Bildern, die die Opfer immer wieder im Bild auflösen. Damit erhält die alte abergläubische Angst aus der Frühzeit der Fotografie, des eigenen Bildes beraubt werden zu können, neue Nahrung.312 Die Demütigung durch den Raub einer eigenen Bildidentität ist groß: Weil es kein selbst erstelltes Bild, sondern eine er-
—————— 308 Barnfield, Graham (2006), Panoramic Views (Blog). The Loneliest Jukebox, vom 29.03.2006 unter: http://loneliestjukebox.blogspot.com/2006/03/panoramic-views. htm 309 Sofsky, Wolfgang (2000), Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main, S. 53. 310 Wieviorka, Michel (2006), Die Gewalt, Hamburg, S. 115. 311 Haneke, Interview in Stolz, Matthias (2006), »Ich bin überfordert«. Berliner Schüler sollen ein Mädchen vergewaltigt und dabei gefilmt haben, Die Zeit, 22 vom 24. Mai 2006, S. 68. http://www.zeit.de/2006/22/W_2fHaneke_22 312 Richard, Birgit (1995), Todesbilder. Kunst Subkultur Medien, München, S. 37.
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zwungene Körperformation ist, fällt es schwer, den degradierten und entindividualisierten Körper wieder in ein autonomes Bild zu verwandeln. Das selbst bestimmte Bild entsteht nämlich in den unzähligen Video- und Fotoblogs bzw. -communities im Internet vor allem durch die Inszenierung des eigenen Körpers. Eigenheiten in den Bildpräsentationen sind so, trotz der Anlehnung an mediale Formate, möglich. Die autonome Mischung aus Eigen- und Fremdanteilen im Bild entsteht dadurch, dass der eigene Körper vorgegebene mediale Schemata performt und diese damit graduell individualisiert. Immer wieder sorgt der Input alltäglicher Körper aus Fleisch und Blut im Zusammenspiel mit neuen Technologien für Interdependenzen mit medialen Formaten. Eine Transformation der gängigen Ästhetik real existierender Menschen, die ihre Körper mit Handycams aufnehmen, in eine Medienästhetik findet statt, die dann wie in »Jackass« wieder als Ausweis für »Realness« in die Produktion aufgenommen wird. Die Kreation von realistischen medialen Stilen ist ein permanenter Prozess und zwingend auf die selbstbestimmten Körper »realer« Akteure, die freiwillig im Bild aufgehen, angewiesen; dies wird auch im folgenden Abschnitt weiter deutlich.
4.3.3 Jugendliche Gewalt- und Todesdarstellung bei YouTube Jugendliche Todes-Bilder In der Regel zeigt die Populärkultur den Umgang mit dem toten Körper genauer, sie betont vor allem, welche Art von Einblicken sozial erlaubt oder sanktioniert wird. Es wird dort eine andere Perspektive auf den toten menschlichen Körper offenbar, die man nicht, wie es manche Kulturkritiker gerne tun, rein eskapistisch missdeuten sollte. Sehr kurz soll in diesem Zusammenhang einleitend auf den Video-Clip Rock DJ313 von Robbie Williams eingegangen werden, um diesem dann Clips auf YouTube gegenüberzustellen und letztendlich auf die Ebene der konkret gegenständlichen Todessymbolik in der Mode jugendkultureller Stile einzugehen. Rock DJ verweist auf den besonderen Status des Starkörpers als einem erhabenen, vollkommenen und mithin auch unverletzlichen und unsterblichen Körper. Williams sieht weder aus wie ein Zombie, noch verhält er sich wie einer; ein Zombie als das sozial Andere würde die Menschen angreifen, um die
—————— 313 Regie: Vaughn Arnell 2000.
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symbolische Ordnung wiederherzustellen. Die Selbstzerlegung seines Körpers hat dieselbe symbolische Funktion wie das verweste und versehrte Fleisch der Untoten: Der Austausch der Blicke zwischen ihm als Star und dem – zumeist begeisterten – weiblichen Publikum gerät aus der Balance. Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, präsentiert er sich als unverletzlich, indem er wie ein Untoter mit seinem Körper umgeht, der keinen Schaden nehmen kann, weil er ohnehin bereits tot ist. Doch im Gegensatz zu den mit einem Fluch versehenen Zombies, nimmt er keine passive, sondern eine aktive Rolle ein und erregt, indem er seinen Körper selbst dekomponiert, die weibliche Aufmerksamkeit. Es gelingt ihm außerdem eine gewisse Verschiebung der stereotypen Relation vom erscheinenden performenden weiblichen Körper und dem männlichen Voyeur.314 Man kann den Clip als eine Reinterpretation des Totentanzmotivs lesen, insofern als der Striptease bis auf die Knochen seinem Starimage neues Leben einhaucht. Die Verbindung zwischen falschem Leben, Krankheit und Tod wird durch die populären Medien aufgebrochen: Robbie ist nicht krank, er präsentiert einen frischen, lebendigen Körper, der als Skelett seine Individualität verliert. Der Blick in den Körper konnotiert in der Regel Sterblichkeit, weil tote Körper aufgeschnitten werden, um innere »Konstruktionsfehler« oder die Ursachen ihres gewaltsamen Todes zu diagnostizieren. In Körper, die eines nicht-gewaltsamen individuellen Todes gestorben sind, blickt man nicht hinein. Der Blick in das Innere zeigt das fremde Territorium des Todes; nur ein von Haut umschlossener Körper fühlt sich für Menschen, die nicht im Feld der medizinischen Pathologie arbeiten, sicher und gut an. Der oben analysierte Video-Clip zeigt einen frischen anatomischen Körper ohne Krankheit. Er präsentiert den unsterblichen, unverletzlichen, erhabenen Körper eines Stars. Motivgeschichtlich schließt dieser an die Figur des Gehäuteten an, des sogenannten »ecorché«;315 junge frische Körper werden als Grundlage für die Darstellung der anatomischen Funktionen des menschlichen, sprich männlichen Normkörpers genommen. Dieses Bild des »open corpse« steht ganz denen im Medium Film entgegen. Die populäre Figur des Zombies, eines Untoten mit verwesendem Leib, macht meist Jagd nach lebenden, symbolisch noch nicht gestorbenen Opfern.
—————— 314 Richard, Birgit/Zaremba, Jutta (2007), Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, München. 315 Z.B. bei Vaalverde oder Houdon.
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Todesartistik auf YouTube YouTube dient auch im Speziellen dazu, Todesereignisse und das Sterben von Nahestehenden und Angehörigen sichtbar zu machen, den Schmerz über den Verlust anderen mitzuteilen und auf eine kreative ästhetische Art und Weise zu verarbeiten. Auch die generelle eigene Auseinandersetzung mit Leben und Tod wird sichtbar gemacht in der neuen Form von visuellen Requien und Memorials. In der ersten Phase des World Wide Web fand sich diese in Form von Einwegkommunikation in den virtuellen Friedhöfen im Internet. Neue medienadäquate Phänomene sind die schon erwähnten Trauervideos: Das Gedenken in Form von Memorials per Video für Verstorbene oder auch eine verflossene Liebe oder das eigene gescheiterte Leben. Bei YouTube als einem jungen Medium zeigt sich die Aktualität lebensweltlicher Interessen an den verhandelten Themen, wie beispielsweise der Todesbezug, über den Jugendliche Fragen nach dem »Sinn des Lebens« oder Suizidgedanken transportieren. Die Jugendlichen schaffen hier einen Ort, wo pubertäre Verlustängste und auch tatsächliche Verluste verarbeitet werden können, indem sie eine visuelle Videobotschaft an andere produzieren, auch angelehnt an die Bildsettings von Jugendkulturen, wie zum Beispiel Gothic. YouTube ist zudem eine Plattform, auf der gängige und randständige Formen zu bestimmten Begrifflichkeiten diskutiert und Grenzen zwischen den NutzerInnen ausgehandelt werden. Diese zeigen auch an, wenn gewisse Clips die Grenzen überschreiten, diese Clips bleiben aber trotz Diskussionen erhalten oder wandern auf andere Plattformen.316 Generell stellt sich die Frage: Welche Formen des Todes tauchen überhaupt bei YouTube auf? Welche schließen an bekannte Symboliken und Motive an und welche sind medienbedingt neuartig? Im ersten Untersuchungsschritt sind die tags für das Thema Tod zu sichern. Die tags in englisch sind: death mit 569.000 hits.317 Synonyme: dying, dead, undead, grief, mourning, memorial, funeral, decease; sie wurden für das Thema als Zentral gesichert. Die tags in deutsch sind: Tod, tot, Sterben, Schmerz, Trauer, Erinnerung, Requiem, Ableben, Abschied, Exitus, Lebensende, Sterben, Gevatter (ugs.), Knochenmann (ugs.), Schnitter (ugs.), Sensenmann (ugs.), Thanatos (griech.), Todesengel.
—————— 316 Wie z.B. November 2007 liveleak.com 317 Oktober 2007.
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Bei der Suche nach deutschsprachigen Begriffen (obwohl es bereits seit November 2007 YouTube auch in deutscher Sprache gibt) zeigt sich, dass dies bis jetzt noch wenig sinnvoll ist, da die Suchfunktionen auf englische Sprache eingerichtet sind und sich dementsprechend die Suche mit englischen tags als vielversprechender erweist. Der deutsche tag Tod ist zum Beispiel ein englischer Vorname, Clips die passen, sind Musikvideos (Einstürzende Neubauten: »Der Tod ist ein Dandy«, Burzum: »Jesus Tod«) oder Fan-Clips. Beim tag »tot« finden sich ebenfalls Musikvideos und FanClips (das Ich: »Gott ist tot«, Spax: »Hiphop ist tot«), aber auch Clips mit nationalistischen Inhalten: »Ehre für tote Soldaten«. Die gleichzeitige Suche mit zwei tags »Tod und tot« bringen 341 Clips (Oktober 2007), die direkt mit der Thematik zu tun haben. Dies ist zugleich eine starke Eingrenzung des Bereichs, weil Clips mit einem der Suchbegriffe nicht mehr auftauchen. Die Analyse beschränkt sich nun auf das englische Stichwort »death«. Zunächst findet alles, was »death« im Titel hat, Erwähnung, das sind zum Beispiel Ausschnitte aus Filmen. Hier gibt es lustige Todesszenen aus verschiedenen Hollywoodfilmen oder weniger lustige aneinandergereihte Todesszenen aus »Final Destination«. Es entsteht eine populäre, blutige, tödliche Version der künstlerischen Videoarbeit »Lauf der Dinge« von Fischli und Weiss, die Verkettung unglücklicher Umstände zu einem Reigen blutigen Zufalls. Neben filmischen Todesfällen (Ausschnitte aus »Torture Porn« Filmen mit Todesszenen von Eli Roth), TV Serien (CSI), TV Formate (wie Deathmatch) oder Musikvideos (von »todesaffinen« jugendkulturellen Stilen wie Metal, Gothic, Punk und Emo) finden sich Doku-/ event-Clips wie »Tunnel of Death« (russischer Tunnel mit den meisten tödlichen Verkehrsunfällen). Eine besondere Kategorie stellen die Nachrichtentode von Berühmtheiten dar: Dianas Tod, Handyvideos von Saddams Hinrichtung und Möllemanns Absturz. Alle Letztgenannten sind mit dem Etikett »real people« versehen. Die »authentischen Tode« werden hier live und in Echtzeit gezeigt, je schlechter die Bildqualität, desto größer ihre Glaubwürdigkeit. Gerade ist mit »Vancouver Airport Taser Killing of Dziekanski by Police« der Clip eines mitgefilmten Todes im November 2007 auch in den TV Nachrichten gezeigt worden. Für die folgende Fallanalyse wurde ein Clip ausgewählt, der »death« im Titel trägt, um die Ästhetik des toten bzw. verletzten Körpers dem im Musikvideo von Robbie Williams gegenüber zu stellen.
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»Combat Zone Wrestling«: Zeige deine Wunde! Dieser in sehr schlechter Qualität vorliegende und damit seine Realness betonende Clip zeigt einen Ausschnitt des sogenannten »Combat Zone Wrestling« (gegründet 1999). Diese ultrabrutale Spielart des Wrestling unterscheidet sich durch die Zurschaustellung massiver Verletzungen und Wunden und den exzessiven Gebrauch von »Verletzungstools« wie Tischen, Stühlen, Scherben, Glas, Stacheldraht, Neonröhren, Strom und Feuer. Es gibt hierbei keinen klassischen Kampfring, und die Gegner springen von hohen Leitern auf Tische in Scherben und andere verletzende Gegenstände; hier sind besonders Neonröhren zu nennen. Das konventionelle Wrestling performed das Drangsalieren des Gegners ohne sichtbare Verletzungen. Im »Combat Zone Wrestling« wird dies konterkariert durch die Präsentation echter Wunden; in diesem Zusatz liegt das attraktive Authentizitätsversprechen. Die Moves – also Bewegungen, Würfe, etc. – entsprechen denen im klassischen Wrestling; die Performance ist also kontrolliert, als add-ons kommen die genannten Objekte hinzu. Der Clip hat seine »Highlights« in der stolzen Präsentation von Verletzungen, je tiefer die Wunden und Risse in der Haut, desto besser. Die Ästhetik der Wunde orientiert sich vor allem an Filmdarstellungen (vgl. Mel Gibsons Passion Christi). Der Clip zeigt selbsternannte »Märtyrer« in ihrem Blut, in Blutfontänen. Die archaische Gewalt im gegenseitigen Traktieren mit Feuer, Scherben und Stacheldraht dient als Männlichkeitsbeweis. Das Martyrium des Körpers endet in der Erlösung durch tiefe Wunden. Der männliche Körper schmückt sich mit ihnen und dem strömenden Blut; diese »Ornamentik« vermischt sich mit »schmutzigen« Materialien. Es deuten sich Parallelen zu den künstlerischen Darstellungen von gemarterten Heiligen vorheriger Jahrhunderte an, etwa zum heiligen Sebastian, seinen Verletzungen und Hautritzungen, das durch Pfeile verursachte herunterlaufende Blut; allerdings wird der Heilige meist mit dem ansprechenden Körper eines Jünglings dargestellt, wie zum Beispiel 1525 von Giovanni Sodoma. Also könnte von der Darstellung des Körpers eher der heilige Bartholomäus infrage kommen: bei der Darstellung seiner Häutung wird häufig ein bärtiger, halbglatziger älterer Mann dargestellt (zum Beispiel in Michelangelos Jüngstes Gericht aus der Sixtinischen Kapelle; eine Ausnahme ist Guercinos Darstellung »Das Martyrium des heiligen Bartholomäus« aus dem 17. Jahrhundert, wo die Einschnitte in die Haut als Beginn des Martyriums dargestellt werden).
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Der männliche Körper präsentiert sich als einer dem Tod Trotzender: »Zeige Deine Wunde« feiert die Widerstandsfähigkeit des männlichen Körpers und zelebriert die Leiden des unsterblichen Helden, getreu dem filmischen »Die Hard«-Modell. Für diesen Männlichkeitsbeweis braucht man, wie bei allen anderen Wettkämpfen dieser Art auch, zwingend männliche Zuschauer und männliche Mitkämpfer. Die blutenden Körper sind damit Schauobjekte für Männer. Im attackierenden Zusammenstoß findet gleichzeitig eine erlaubte Verschmelzung der beiden männlichen Körper statt. Es ist ein reziprokes Zufügen von Schmerzen, da der Gegner nicht alleine leidet: jeder Angriff ist masochistischer Akt als Überwältigung des Gegners. Die Körper entsprechen keinem geltenden Schönheitsideal und demonstrieren hier eine autonome Form von Männlichkeit, die auf der »patriachalen Dividende« basiert.318 Es sind selbsterwählte Schmerzensmänner, die im Sinne eines klassischen Martyriums mit den Leidenswerkzeugen präsentiert werden. Zu ergänzen gilt der historische Hintergrund von öffentlichen Selbstverletzungspraktiken in der populären Kultur: Noch in den 80er Jahren war dies das Feld einer randständigen unsichtbaren Minderheit, die sich der Kunst- und Musikkultur zuordnete.319 Diese früher extrem ausgegrenzten Körperpraktiken der Selbstverletzung zeigen sich nun auch in den Mainstreammedien (siehe auch die jugendlichen Praktiken des Ritzens), mit dem quotenfördernden Etikett »eklig« versehen. Der männliche Körper und der Tod im Online-Video Bachtin legt in »Literatur und Karneval« dar, dass »in den komischen Gestaltungen des Todes, in der fröhlichen Zerstückelung« der »Sieg über die Furcht« gefeiert werde: »Alles Bedrohliche wird ins Komische gekehrt.«320 In diesem Sinne ist die Demontage des eigenen Körperbildes bei Robbie Williams positiv konnotiert: Enthäutung und Einschnitt in die Haut dienen dem »Herausschälen« aus einer alten Identität, heraus aus der ästhetisierten
—————— 318 Connell, Robert (1999), Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen, S. 80f. 319 Kapitel Industrial, Monte Cazazza; siehe Richard, Birgit (1995), Todesbilder. Kunst Subkultur Medien, München. 320 Bachtin, Michail (1990), Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt am Main, S. 35ff.
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Körper-Darstellung. Der Gestaltwandel des Körpers ist als ein Akt der Demaskierung und Selbstwerdung stilisiert und suggeriert Authentizität im Prozess der Ich-Findung.321 Musikvideo und »death match« machen auch deutlich, wie groß der geschlechtsspezifische Unterschied ist. Weibliche Selbstverletzungen, wie zum Beispiel Cutting, bleiben weitestgehend eine private Angelegenheit, auch wenn diese nun durch YouTube öffentlich gemacht werden. Nur bei der Darstellung einer Geburt darf gezeigt werden, wie viel der weibliche Körper an Verletzung und Blut aushält, konform mit der weiblichen Reproduktionsrolle als Spenderin des Lebens.322 Wenn weibliche verletzte tote Körper gezeigt werden, dann nur auf eine bestimmte Art und Weise in einem bestimmten Arrangement von Blut und Oberfläche (= Haut) im Gesamtkonzept der schönen weiblichen Leiche.323 »Die transparente, elastische Qualität der Haut ist beim muskulösen Männerleib eine wünschenswerte Eigenschaft, da sie das durchscheinen lässt, was positiv mit Vitalität und Virilität konnotiert ist. Der Frauenleib hingegen bedarf einer verdeckenden, verhüllenden glänzenden Körperhaut, die das diffuse Innere nicht preisgibt.«324
Beide Clips verweisen auf Männlichkeit und männliche Hautoberfläche, da die weibliche Hülle nicht verletzt werden darf. Im Death Match wollen die Kämpfer der Sterblichkeit trotzen und überleben. Die Zeugenschaft des Bildes bringt sie dazu, ihr Leben spürbar zu machen, zum Beispiel wenn Mann »dem Tod nahe« sein Blut als Lebenssaft verspritzt. Es sind Verletzungen, die gegen die Vergänglichkeit arbeiten und Spuren auf dem Körper hinterlassen.325 »Death Match« inszeniert ein mediales säkularisiertes Martyrium in »alltäglich«-popkultureller Umgebung. Dagegen zeigt Robbie Williams den Bühnenraum für die theatrale Inszenierung; hierdurch wird sofort klar,
—————— 321 Vgl. Benthien, Claudia (1999), Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek, S. 94f. 322 Vgl. Labouvie, Eva (2007), Lebensfluss, Schwangerschaft, Geburt und Blut (16.– 19. Jahrhundert), in: Christina von Braun/Wulf, Christoph (Hg.), Mythen des Blutes, Frankfurt am Main. 323 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne, Goldmann 1999. und Richard, Birgit/Zaremba, Jutta (2007), Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, München. 324 Benthien, Claudia (1999), Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek, S. 100. 325 Vgl. Einleitung bei: von Braun, Christina/Wulf, Christoph (2007, Hg.), Mythen des Blutes, Frankfurt am Main, S. 10f.
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dass der Clip keinen Anspruch auf Authentizität erhebt. Sein Fleisch ist Bekleidung, die abgelegt wird, es zeigt sich hier eine saubere Animation (Abziehen der Haut, Filettieren) bis auf die blutigen Fleischbrocken, die den Frauen zugeworfen werden, welche für die Lebendigkeit des Stars stehen. Hier drängen sich Ähnlichkeiten mit der Figur des »ecorché«, dem Darstellungstypus des Gehäuteten in seiner Funktion von anatomischer Angemessenheit auf.326 Beide Clips zeigen in der Selbstaufopferung den Körper als Durchgangsstation, um die Aura der Unsterblichkeit des Stars oder die des unbekannten säkularen Märtyrers, eines Heiligen der Schmerzen, zu erlangen. Robbie Williams Todeskörperbild ist frisch und sexy, es zeigt keine Verfallserscheinung und Risse in der Haut, lehnt sich an die saubere Darstellung des anatomisch motivierten »ecorché« an. Dagegen ist beim Clip »Death Match« das Ziel, ein abstoßendes Körperbild mit Rissen und Wunden in der Haut zu erzeugen, also bewusst dreckige und eklige Bilder zu zeigen. Das Körperbild lehnt sich in der Tradition eher an die Märtyrer wie Bartholomäus an, der heilige Sebastian scheint hier keine Referenzgröße, da er vor allem in den barocken Darstellungen mit jungem Körper beinahe in masochistischer Verzückung in den Martern gezeigt wird. Überall ist also der gewaltsame Tod, sind verstümmelte Leichen gegenwärtig auf den Bildern der Nachrichten, der Filme und der Clips auf YouTube. Generell bleibt die alltägliche Sichtbarmachung toter und verletzter, dem Tode naher Körper aber ein ambivalenter Prozess.327 Die Rätselhaftigkeit von Tod und Sterben wächst proportional zur Sichtbarwerdung von toten Körpern, die jüngst entwickelte Bildmetaphorik zeigt jede Menge Leichen. Alle diese Bilderzeugnisse sind auf der Bildebene beinahe ununterscheidbar. Nur die Inszenierungsarten von toten Körpern variieren; Nachrichtenbilder können der farbenfrohen Präsentationen von toten Körpern in forensischen Serien wie CSI wenig Glaubwürdigkeit entgegensetzen. Der materielle Leichnam als unretouchierter, nicht medial präparierter Körper ist auf der visuellen Ebene nur eine Enttäuschung und ein Schock. Auch YouTube zeigt den Tod wieder einmal als bilderfreund-
—————— 326 Exemplarisch bei Juan de Vaalverde de Hamuscos: La anatomia del corpo humano von 1598 oder auch Houdons Skulptur, die beinahe wie das direkte Vorbild der Computeranimation wirkt. 327 Richard, Birgit (2006), Pictorial Clashes am medialen Gewaltkörper: Abu Ghraib, Nick Berg und Johannes Paul II, in: Richard, Birgit/Neumann-Braun, Klaus (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen – Tarnen – Drill, München, S. 235–255.
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lich. Es steht damit ein weiteres Medium zur Verfügung, um sich mit der Endlichkeit menschlichen Lebens auseinanderzusetzen, und das wird von allen Generationen flächendeckend betrieben. Die YouTube-Clips, die den Tod zeigen, entfalten ihre besondere Wirkung durch ihre »Echtheit«. Das »Authentizitätsversprechen« ist das Surplus, das die Zuschauer in den Bann zieht, angeschlossen immer noch an Barthes fotografisches Paradigma »das da, genau das, dieses eine ist’s (ça eté)«.328 Aber YouTube ist kein neutrales Archiv der authentischen Inszenierung oder einer Ästhetik des Banalen im frühen 21. Jahrhundert.329 Der vorschnelle Schluss, es handele sich um die Abbildung einer authentischen sozialen Realität, übersieht das für die Bildwelten des Web 2.0 typische, raffinierte Hybrid aus Fremd- und Eigenbildern. Das »eigene« Bild gibt es hier nicht, aber auch kein objektives: durch die mediale Verarbeitungsform entsteht immer ein Hybrid. Es gibt weder das eigene subjektive, noch das fremde objektive Bild. Die Ideologie des Authentischen und Eigenen entsteht aufgrund der Aufzeichnungsmedien mit geringer Auflösung und einer qualitativ nicht hochwertigen Ausgabe in einem kleinen Fenster auf dem Bildschirm. Das fördert eine ständige Vermischung von real und fake, die durch die Authentiziätsverheißung des immer noch gültigen fotorealistischen Prinzips330 aufrechterhalten wird. YouTube leistet die Neudefinition des aktuellen realistischen Stils, das heißt dessen, was in der zeitgenössischen Medienlandschaft als besonders authentisch gilt. Die medialen Welten bewahren aber auch, wie vorne dargelegt, traditionelle Formen des Umgangs mit toten Körpern und Bestattungsritualen. Die künstliche Welt der Spiele führt den Tod als unvermeidliche Tatsache wieder ein. Die medialen digitalen Körper im Game sind mit Leib und Seele ausgestattet. Im Game ist der Tod nur Zwischenstadium, also funktioniert die Überwindung des Körperlichen im Verfall hier auch wieder nach christlichem Paradigma. Der Tod als ecorché und als Martyrium ist Durchgangsstation, auch im selfsplatter, der Selbsteröffnung des Körpers. Diesen Vorgaben entsprechend hat sich hinsichtlich der Leiche in der Bilderwelt der populären Medien eine neue Bildästhetik entwickelt. Heute ist es eine
—————— 328 Barthes, Roland (1980), Die helle Kammer. Anmerkung zur Photographie, Frankfurt am Main, S. 12f. 329 Graff, Bernd (2006), Kamerafahrten durch die globale Privatsphäre, in: Süddeutsche Zeitung vom 10./11.06.2006, online 09.06.2006, http://www.sueddeutsche.de/kul-tur/artikel/ 802/77725, 25.06.2008, S. 12. 330 Richter, Sebastian (2008), Digitaler Realismus: Hybride Bewegungsbilder zwischen Animation und Live-Action-Film, Bielefeld.
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Art von medialem Zombie: Der open corpse wird hier als neuer Typus, der mit versehrtem Körper in unterschiedlichen Formaten präsent ist, eingeführt, als der geöffnete Körper, von innen explodierender Körper im Splatter bzw. in der Dekomposition als Zombie und als fragmentierter Körper in der Tortur. Die Populärkultur zeigt an den Beispielen World of Warcraft, Musikvideo und im YouTube-Video die verschiedenen Ästhetiken des neuartigen Todesbildkörpers: der transitorische im Zombieformat, der geöffnete Körper in anatomischer Präparierung, der angeritzte »geslashte«, säkularisierte Märtyrerkörper. Alle zusammengenommen werden zum neuen Paradigma zeitgenössischer Todesdarstellung. Der »open corpse« löst damit den technisch verkabelten Moribunden des 20. Jahrhunderts ab. Im »Death Match« hingegen, wird die auf den Tod verweisende Wunde zum Schmuck transformiert, sie ist ein tief einschneidendes »Accessoire«, das auf den Tod verweist und den Träger auszeichnet. Diese verweisen auch auf die YouTube-Videos, die zeigen, wie sich Jugendliche mit Rasierklingen ritzen. Dort, wo die Wunde auch zum Schmuck und Verweis auf das eigene Leid oder den eigenen Mut wird, zeigt sich eine nahe Verwandtschaft zum »Combat Zone Wrestling« durch den Zusammenhang der masochistischen Selbstverletzung. Im Musikvideo stellt, wie oben gezeigt, Robbie Williams in seiner Funktion als Star seinen unverletzlichen und erhabenen Körper in einer Reinterpretation des Totentanzmotivs dem weiblichen Publikum zur Schau, während die Web 2.0-User auf YouTube sich generell mit dem Sinn von Leben und Tod auseinandersetzen. Darin inbegriffen sind die verschiedensten Film-Tode, aber auch die »echten« und authentisch wirkenden Tode von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Eine hiervon abweichende Verortung bildet das »Combat Zone Wrestling«, bei dem die Zurschaustellung echter Verletzungen, mit denen sich der männliche »Märtyrer-Körper« schmückt, im Zentrum steht. Die nicht den gegenwärtigen Schönheitsidealen entsprechenden blutigen und dreckigen Männerkörper könnten keinen größeren Kontrast zu Robbie Williams sauberem Star-Körper bilden. Was diese Videos gemeinsam haben ist, dass sie auf Männlichkeit verweisen, während der weiblich geöffnete oder verletzte Körper nur als schöne Leiche oder in seiner reproduktiven Eigenschaft zur Schau gestellt werden darf. Als dritte große Gruppe der Auseinandersetzung mit Todesbildern finden sich die soeben untersuchten Accessoires diverser Jugendkulturen zwischen Subkultur und Mainstream. Die Todessymbolik durchzieht also in all ihren verschiedenen
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Facetten das Mainstream-Musikvideo, das Web 2.0 und ebenso die Mode der Jugendkulturen – auf ihre jeweils spezifisch konnotierte Art.
4.3.4 Jugendliche Performances des Todes bei Flickr Die Darstellung des Todes ist ein so existentiell wichtiges Thema im speziellen für die Erlebens- und Darstellungswelt von Jugendlichen, dass es einen sehr großen Raum auf der Plattform Flickr einnimmt. Die Selbstdarstellung des jugendlichen Körpers als tot oder versehrt findet mit Flickr, aufgrund der medienstrukturellen Spezifika, eine ideale Plattform der Sichtbarmachung. Unter dem tag »Death« finden sich 1.217.977 und unter »dead« 1.308.669 Bilder.331 Die Themenschwerpunkte der getaggten Bilder variieren: sie zeigen Gräber, Friedhöfe, Totenköpfe, tote Tiere, Death Metal Bands, Fotos des Death Valley und die hier analysierten Performances des Todes.332 Unter dem tag »death« finden sich weiterhin 5.816 Gruppen, die sich unter verschiedenen Schwerpunkten mit dem Thema Tod auseinandersetzen: »Death to…. (Let’s pretend we’re all dead!)«; »Staged Death (please no real dead bodies)«; »Death by Photoshop (Photoshop manipulated death scenes)«; »Photoshop of Horrors«. Auch dies weist zentral auf die große Bedeutung von Thematik und Motiven für die junge Community auf Flickr hin. Die entscheidenden jugendlichen ästhetischen Strategien und die Auseinandersetzung mit bestimmten Themen findet man vor allem in den Gruppen, in denen sich bestimmter Darstellungsstrategien gewidmet wird. Für die Analyse im Besonderen hervorzuheben ist also, dass für eine thematische dichte fotografische Arbeit die Flickrgroups von Bedeutung sind, die sich mit dieser spezifischen Form der tödlichen Selbstdarstellung befassen. Einige dieser Gruppen kontextualisieren das Thema Tod neu. Ebenfalls hervorzuheben sind neue Sinnzusammenhänge und Motive für die Darstellung des Todes, wie sie sich beispielsweise in den Gruppen »Blue Screen of Death« oder »Public Windows Crashes« zeigen. Diese Gruppen archivieren Bilder von abgestürzten Computersystemen. Sie zeigen alle einen blauen Bildschirm und die Kommandozeile, welche die Situation als »Fatal System Error« oder »The system has been shut down« beschreibt. Der verbildlichte Computerabsturz als Todessymbol bietet eine
—————— 331 Stand 11.11.08. 332 Stand 22.02.10.
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humoristische Diskussionsgrundlage für Rezipienten-Kommentare und anderer Bildproduzenten. Der humorvolle Umgang mit dem Thema Tod auf Flickr ist jedoch eine Ausnahme und auf abstrakte Bezüge (wie hier den Computer) beschränkt. Die jugendliche (Selbst-)Darstellung als toter Körper wird ernsthaft betrieben und mit einem »authentischen« Gestus versehen, bei gleichzeitigem Betonen der Artifizialität dieser Darstellungen. Tod muss ernst sein und echt aussehen, darf aber nicht echt sein. Bei den Gruppen »Staged Death« und »Death to…« geht es darum, sich visuell als tot zu inszenieren. In der Gruppenbeschreibung wird nur eine zu beachtende Regel für die Gruppenmitglieder genannt: »It’s pretend, OK? No actual corpses«.333 Obwohl es in den Community Guidelines334 von Flickr kein explizites Verbot gibt, finden sich fast keine Bilder, die »echte« Tote zeigen. Selbst in der Gruppe »Faces of Death«, die sich »echten« Todesbildern widmet – »the photography of things that have died. Any living thing can be posted in this pool if it has passed« – findet sich nur ein Bild, welches wahrscheinlich tatsächlich einen toten Menschen zeigt. Die vielen Gruppen spielen bei Flickr generell eine sehr viel größere Rolle als bei YouTube, da sie dem thematischen Zusammenschluss zu einer Community von gleichgesinnten FotografInnen fördern. Typologie jugendlicher Todesbilder: Play Dead & Photoshop of Horrors Über die genannten tags und Gruppen lässt sich eine Typologie der jugendlichen Todes(selbst)darstellungen entwickeln: Die »ich selbst tot«-Typologie. Es wurden nach intensivem Netzscan über 100 Bilder für diesen Darstellungstypus vorausgewählt, von denen hier einige exemplarisch einer Fallanalyse unterzogen werden. Die Auswertung ergibt vier wesentliche Typen: »Schönheit« (ästhetisierte Inszenierungen von Tod und totem Körper), »Act« (die aktive Handlung einer Person, die zum Tode führt), »Cool« (der Tod als Stil) und »Zombie/Untot« (als Stil eines Film/Bildgenres), die im nächsten Schritt vor allem auch auf die geschlechtsspezifische Darstellung hin untersucht werden sollen. Die Typen weisen Überschneidungen auf – nicht alle der ausgewählten Bilder können ihnen zugeordnet werden. Grundsätzlich fällt auf, dass es sich bei den Abgebildeten und Bildproduzenten (insofern sie nicht identisch sind) fast
—————— 333 http://www.flickr.com/groups/death_to/ 334 http://www.flickr.com/guidelines.gne
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ausschließlich um junge Menschen handelt. Die klassischen Darstellungsstereotypen werden von beiden Geschlechtern konsequent eingehalten. Die Kategorie »Schönheit« steht für einen ästhetischen Umgang mit dem toten Körper von Frauen. Die Bilder zeigen fast ausschließlich weibliche Körper, die als »schöne Leiche«335 inszeniert werden, ein Stereotyp, auf das beinahe jeder Krimi mit einem weiblichen Opfer referiert. Sie wirken aufgrund ihrer Artifizialität teilweise geradezu wie Modefotos. Sie suggerieren das Sublime336 des weiblichen Körpers, der in Tod und Blut immer noch frisch und jung wirkt. Das exemplarische Foto hierfür, Bittersweet337, zeigt die farbige Studioaufnahme einer jungen, rothaarigen Frau. Vom linken Mundwinkel erstreckt sich eine dekorative Blutspur, die sich über die Wange zieht und in dem roten Haar verschwindet. Der leblose Blick ist nach oben gerichtet. Der linke Arm liegt gebeugt vom Körper entfernt und grenzt den unteren Bildbereich ein. Das Tanktop der Frau verschwindet im Schwarz des Hintergrundes. Die helle Haut als Zeichen von Unschuld, wird durch die Beleuchtung intensiviert und hebt sich kontrastreich, ebenso wie das intensivrote Haar, vom Schwarz ab. Das Foto ist ein Anschluss an gängige visuelle Inszenierungspraxen des klassischen Schneewittchen-Themas – ein Schwellenbild, welches den Übergang einer Jungfrau zur sexuellen Reife verbildlicht.338 Der Tod als Konservierung weiblich-blasserer Schönheit ist gleichsam ein Motiv der schwarzen Romantik. Zwei Unterkategorien des Themas der schönen Leiche, stellen den »Tod in der Badewanne« sowie den »weiblichen Körper als Ornament« dar. Der größte Teil der Todesdarstellungen des weiblichen Körpers findet im klinischen Weiß des Bades und der Badewanne seine Verbildlichung. Der Kontrast zum Rot des Blutes kommt in dieser Inszenierung am besten zur Geltung. Zudem kann bei diesem Motiv ungeniert – weil kontextualisiert – weibliche Nacktheit gezeigt werden. Meist blicken die Augen starr gen Kamera, der Körper ist dekorativ blutverschmiert und an den Armen finden sich angedeutete Schnittwunden. Diese Geste des Entschwindens aus dem Körper, – eigentlich des Hingebens an die Blicke der Betrachter –,
—————— 335 Bronfen, Elisabeth (1996), Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München. 336 Žižek, Slavoj (1991), Liebe Dein Symptom wie Dich selbst. Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin. 337 http://www.flickr.com/photos/norizza/2387504504/ 338 Vgl. http://www.uni-giessen.de/jojo-magazin/artikel/03/01/universitaet/schneewittch en.htm
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oder das Entgleiten in den Tod ist Teil popkultureller Bildwelten, wie beispielsweise im Musikvideo Everytime von Britney Spears (2004).339 Das Badezimmer mit Badewanne als antiseptischer Raum des Todes weckt verschiedene Assoziationen, beispielsweise an die aktuell sehr beliebten Forensik-Serien wie CSI. Unter bildästhetischen Aspekten ist dieser Raum geeignet, weil der weibliche Körper beinahe unversehrt präsentiert werden kann, ohne realitätsfern inszeniert zu sein. Realitätsbezüge werden auch dadurch evoziert, dass die Badewanne ein häufig vorkommender Schauplatz des Selbstmordes ist: Nach Einnahme von Medikamenten oder dem Aufschneiden der Pulsadern, wird die Überlebenschance durch ein mögliches Ertrinken im Badewannenwasser weiter vermindert. Auch gängige, positiv konnotierte Reinlichkeitsvorstellungen spielen eine Rolle: Man möchte der Nachwelt keine unappetitlichen Blutspuren in der Wohnung hinterlassen. Das Arrangement des weiblichen Körpers als Ornament ist ebenfalls ein archetypisches Motiv weiblicher Todesdarstellungen. Der Körper wird durch bestimmte Körperhaltungen und Positionen zu einem leblosen, modellierbaren Objekt. Die Geste des Entschwindens, als ein kontinuierlicher Bewegungsablauf, weicht einem verbogenen Körper in realitätsferner verdrehter Position,340 als Figura serpentina.341 Während bei Flickr die tot spielenden jungen Frauen überwiegend als schön, nackt und dekoratives Objekt gezeigt werden, ist der männliche Körper ein gemarterter. Seine Oberfläche wird oft zerstört, mit Wunden bedeckt und mit Blut bespritzt – jedoch nicht im dekorativen Sinne. Der Tod wird durch Gewalt herbeigeführt – durch sich selbst oder durch Fremdeinwirkung. Das Darstellungsrepertoire rekrutiert sich aus verschiedenen meist filmischen Bildvorlagen. Das Bildrepertoire ist humorvollkünstlerisch erweiterbar, wie bei dem unbetitelten Bild von niv tishbi:342 Ein junger Mann, der sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen hat, liegt tot auf dem Boden. Der rechte Arm liegt angewinkelt in der Nähe des Kopfes, die Tatwaffe neben seiner Hand. Auch wenn die Armposition der weiblichen Toten gleicht, ist diese in einem anderen Bedeutungszusam-
—————— 339 Für die männlichen Darsteller des Todes in der Badewanne gibt es weniger gängige, männlich konnotierte Bildvorlagen (außer eventuell das Badewannen-Foto von Uwe Barschel). Trotzdem ist für Männer der Tod in der Badewanne auch ein nutzbares Motiv, nur ist der Männerkörper hier beinahe niemals nackt zu sehen. 340 http://www.flickr.com/photos/yenemar/2864054784/ 341 Ames-Lewis, Francis/Joannides, Paul (2003), Reactions to the Master: Michelangelo’s Effect on Art and Artists in the Sixteenth Century, Ashgate. 342 http://www.flickr.com/photos/nivtishbi/2405207764/
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menhang zu sehen: hier ist es keine Geste des Aufgebens, sondern die einer durch den Tod zum Stillstand gebrachten aktiven Bewegung. Die Augen des jungen Mannes sind geschlossen. Das Blut, das aus seinem Hinterkopf austritt, wird durch ein Plastikmodell einer Blutpfütze dargestellt. Diese ist vielfältig in Form und Rottönen, aber klar als artifiziell erkennbar. Der Endpunkt einer Performance des Todes wird über das durchkomponierte Bild klar als solches deklariert. Nicht eine Form von Realismus wird gesucht, sondern die Konstruktion einer Pose des Todes sichtbar gemacht, bei gleichzeitigem Einhalten anderer Todesbild-Konventionen in Technik und Darstellung. In der Kategorie »cool« wird die Todesdarstellung als Stilmittel eingesetzt und mit modischem Outfit kombiniert, ein wörtlich genommenes Mode-Opfer. In dem Bild »Day of the Dead«343 ist zu sehen, dass die Selbstdarstellung nicht dazu dient tot auszusehen, sondern, über Referenzen zu anderen Todesbildern, einen individuellen Stil als Untoter zu entwickeln. Die Andeutungen von körperlichem Verfall und Blut erweisen sich als optimales modisches Stilmittel. Das aufgerissene mit Blut befleckte TShirt des jungen Mannes ist einmal Zeichen dieser jugendlichen Versehrtheit, aber auch Hingabe an einen vermeintlichen Verletzer und Blutsauger. Die darunter liegende Haut ist rot gefärbt, weist aber keine sichtbaren Wunden auf. Das rote Kunst-Blut wird nicht als Verwundung gebraucht, sondern wie Make-up verwendet. Nähe zu einem bestimmten Todesbild spielt keinerlei Rolle. Der genderspezifische Habitus wird beibehalten. Es findet ein Oszillieren zwischen klassischer Coolnesspose und entrücktem Selbstdarstellungsmotiv statt, welches einmal die vermeintlich bekannte Darstellung des filmischen Zombie Motivs neu-kontextualisiert, zum anderen sich kulturell, wie im Hintergrund zu sehen, an den Motiven des mexikanischen Dia de los Muertos, dem Tag der toten orientiert. Zombies sind ein gerne verwendetes Motiv, um sich mit dem Todesthema auseinanderzusetzen, welches sich gleichzeitig für Variationen mittels Bildbearbeitung etwa mit Photoshop anbietet (siehe zum Beispiel die Flickr-Groups »Photoshop of Horrors« oder »Death by Photoshop«). Tod und Versehrtheit dienen also als Thema und Vorwand für Retuschearbeiten und um technische Möglichkeiten der Bildmanipulation auszuloten. Hierbei wird beispielsweise versucht, eine möglichst artistische Meisterschaft in der Nähe zu filmischen Zombie-Figuren zu erreichen und bildet somit die Form eines re-enactements. Flickr dient generell nicht nur der
——————
343 http://www.flickr.com/photos/ajuhrich/2596286171/
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Kommunikation über Bilder, sondern auch als Portfolio der eigenen Arbeiten und dem Austausch mit anderen FotografInnen, insbesondere auch bei der bildlichen Inszenierung der Untoten. Hier steht der Referenzbereich im Vordergrund und der Versuch eine detailgetreue Nachstellung des Zombiethemas zu erreichen. Eine Variante des Motivs der Untoten findet sich bei dem Bild »Zombie!«344 von »denhollisterduck«. Eine weitere Zombiedarstellung als weibliche Spielart entzieht sich mit dem Titel »Red Head Zombie«345 jeglicher Todesnähe und damit scheinbar auch einem weiblich konnotierten Opferund Unterwerfungsgestus. Die junge Frau trägt rotes Haar (rot als das hexenhafte, aber erotisch reizvolle). Die Lippen sind dunkelrot geschminkt und ihr Gesicht ist dekorativ blutverschmiert; keine Verletzung und kein Verfall ist sichtbar. Die auffallend blauen Augen werden von starkem Eyeliner gerahmt. Auf dem rechten Wangenknochen befindet sich ein dünn gemaltes umgedrehtes Kreuz; auf dem anderen ein kleines Pentagramm. Trotz der Betitelung der jungen Frau als Zombie, ist ihre Darstellung nicht entstellend oder unvorteilhaft. Die Aufnahme wirkt eher wie ein Modefoto, welches versucht, sich gängigen Schönheitsdarstellungen zu entziehen, ohne sich der Darstellung von Schönheit zu verwehren. Somit ist diese Aufnahme auch der Kategorie »cool« in der tödlichen Selbstdarstellung zuzuordnen, weil Blut und die beschriebene Darstellungsweise als Stilmittel eingesetzt werden, ohne die dargestellte Person bewusst zu verunstalten. Vielmehr wird über Referenzen eine Erweiterung der Darstellungsform erreicht – ganz im Gegensatz zur Kategorie »Zombie«, bei der normalerweise konsequent an der Demontage gängiger weiblicher Schönheitsideale gearbeitet wird. Die Darstellung schließt hier üblicherweise an die Motivik unberechenbarer weiblicher Hexen, Dämonen und »Shedevils« an, die animalisch und gefährlich inszeniert wird. Der weibliche Horrorzombie von »Ms_congeniality«346 stellt sich furchterregend und gar nicht beschönigend dar, sondern beunruhigend und aggressiv. Er ist damit eine visuelle Ausnahme. Es gibt für die Selbst-Darstellung als tot weitgehend klare mediale Vorgaben für Geschlechter. Der Umgang mit dem abgebildeten GeschlechterKörper ist kein reflektierter, da er auch auf den kulturellen Bildvorgaben anderer Medien gründet, in die sich die soziale Geschlechterkonstruktion
—————— 344 http://www.flickr.com/photos/dhollister/2596483147/ 345 http://www.flickr.com/photos/austenhaines/2991044857/ 346 http://www.flickr.com/photos/henrietta1/2603156857/
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visuell eingeschrieben hat. In einem Großteil der Körperinszenierungen präsentieren sich Frauen als schöne Leiche; Männer fallen einem gewaltsamen Tod zum Opfer oder rufen ihn selbst hervor und entsprechen somit wiederum der »Grundregel« binärer Geschlechtsunterscheidung, »men act – women appear«. Durch einen auch möglichen, eher genderneutralen Zombiehabitus werden genderspezifische Darstellungsformen überflüssig: Flickr an sich ist somit eine neutrale Plattform der Kommunikation und des Austauschs über Bilder, deren Inhalte den gebotenen Raum genderisieren beziehungsweise geschlechtlich konnotieren. So ist jugendlichen Todesbildern gemein, dass sie einen attraktiven Anreiz darstellen, sich selbst als tot oder untot zu imaginieren, dies aber ohne jegliche tatsächliche Ambition zum Suizid: Solche Bilder sind bei Flickr zwar auch zu finden, haben aber eine gänzlich andere Motivik. Sie thematisieren Abschied, Schmerz, Verletztheit nicht selten mit der Darstellung echter Wunden. Dagegen sind die erwähnten Fotografien die maximale artistische Perfektion eines reenactment des Todes. Erstaunlich ist, dass früher solche Themen nur in speziellen Szenen wie der Gothic-Szene oder anderen schwarzen Stilen visuell umgesetzt wurden. Jetzt ist das »Tot-spielen« und »Tot-stellen« bei Jugendlichen zum übergreifenden popkulturellen Phänomen geworden, und es ist kein Tabu sich selbst als tot zu inszenieren, sondern eher ein Spaß für die Generationen, die mit Horror- und Splatterfilmen oder CSI aufgewachsen sind und jetzt Halloween feiern. Diese Affinität zu Todesbildern und Verfall diente einer Abgrenzungsstrategie zur Elterngeneration, weil Jugendliche ursprünglich einem Darstellungsverbot des Todes unterlagen, es jedoch immer zu den Bildprogrammen wichtigen Subkulturen gehörte, sich mit Todessysmbolen zu schmücken oder sich selbst als Tote darzustellen.347 Das Phänomen der jugendlichen (Selbst-)Darstellung als toter Körper wird, wie die Analysen zeigen, weiterhin mit aller Ernsthaftigkeit betrieben. Die Geste der Authentizität ist von großer Wichtigkeit für die Bilderzeuger – bei gleichzeitigem Betonender Artifizialität dieser Darstellungen. Der Gebrauch von Blut ist exemplarisch für diese Darstellungsstrategie: Die Gleichzeitigkeit von authentizitätsstiftender Referenz, dem Gebrauch als Make-Up und seiner offensichtlichen Artifizialität – die Ästhetisierung von Tod ohne einen Zweifel daran zulassen, dass alles nur Spiel ist. Es ist quasi eine Entgren-
—————— 347 Richard, Birgit (1995), Todesbilder. Kunst Subkultur Medien. München. Und Richard, Birgit/Recht, Marcus (2010), Skulls und Death Matches: Jugendliche Todes- Bilder bei YouTube und schwarzer Todesschmuck, in: Ellwanger, Karin/Schroeder, Barbara u.a. (Hg.), Bielefeld.
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zung ohne Entgrenzung, bei welcher der ästhetische Wert von der Szenespezifik losgelöst und so variabel und ungefährlich benutzbar wird, ohne auf den rebellischen Impetus der Referenzen verzichten zu müssen. Zudem dient der Tod als Motivgrundlage, um sich mit den technischen Möglichkeiten der digitalen Bildproduktion und post-production vertraut zu machen und so über den Tod zu einem »Medienmeister«348 zu werden. »Ich selbst, tot im Bild« bietet den Jugendlichen die Möglichkeit, sich selbst aus der Distanz als ästhetisches Experiment zu sehen, also eine mögliche Außenperspektive auf das Selbst fotografisch zu entwickeln und so aus einem sozialen Konsens-Me ein visuell eigenständiges I im Bild zu entwickeln. Diese völlig neuen Jugend-Bilder des Todes können so nur bei Flickr entstehen und heben das Social Networking auf die neue Stufe des social artworking – es entsteht eine neue jugendliche Online-Kunst. Die Entwicklung eines eigenen visuellen Selbstbilds auf Flickr und YouTube sowie einer Kommunikationsgrundlage über Bilder kann ebenfalls über musikkulturelle Inszenierungspraxen, technisch-kreative Prozesse und deren (Bewegt-)Bildmanipulationen erreicht werden, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll.
4.4 Kreativ-okkupative Musikkulturen Da das Internet als soziales Netzwerk auf der generellen Notwendigkeit von sozialen Begegnungen349 und rituellen Praktiken aufbaut, produzieren die jugendlichen NutzerInnen, besonders von YouTube, vor allem Bilder, um damit auf Bilder zu antworten. Sie kommunizieren also über serielle Folgen von bewegten Bildern: Audiovisuelle Erzeugnisse wie Online-Videos sind fluider Kommunikationsschmierstoff. In dem Sinne werden die musikalischen Bilder von Jugendlichen im Netz in allen ihren visuellen Formen, trotz oder gerade aufgrund ihrer Warenförmigkeit zu »social music«, zu geteilter Musik in den Netzportalen bis hin zu »community based
—————— 348 Richard, Birgit (2008), Art 2.0: Kunst aus der YouTube! Bildguerilla und Medienmeister, in: Richard, Birgit/Ruhl, Alexander: Konsumguerilla. Widerstand gegen Massenkultur? Frankfurt am Main, S. 225–246. 349 Ries, Marc (2007), Zeigt mir, wen ich begehren soll. Begegnung und Internet, in: Marc Ries/Hildegard Fraueneder/Karin Mairitsch (Hg.), dating.21. Liebesorganisation und Verabredungskulturen, Bielefeld, S. 11–23.
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art«. Die technischen Bedingungen für die freie Verfügbarkeit von Musik und Bildern als Rohmaterial auf Hardware- und Software-Ebene im Social Web 2.0 sind vielfältig: Das Internet bietet zunächst besseren Zugang zur Musik. Auf Software Ebene entwickeln sich komprimierte Datenformate wie MP3, Real Audio und MPEG. Mit MySpace erfolgt 2003 ein Sprung in Richtung eines sozialen Netzwerks; technisch wird das unter anderem durch sogenannte Widgets umgesetzt.350 Musik und Selbstdarstellung der Jugend im Anschluss an die eigene Bild-Sozialisation sind Teil des »Medien-Egos«. Es entsteht ein Bilderzeugnis, das die Erfordernisse der medialen Formate bedient und innerhalb dieses Rahmens einen individuellen Zugang sucht. Mediale Posen sind für die junge Generation selbstverständlich und alltäglich. Ihr Verhalten vor der Kamera ist professionell und antrainiert. Die Einführung des Begriffs der mimetischen Selbstdarstellung ermöglicht Bild-Strategien jugendlicher Selbstinszenierung zu verstehen. Jugendliche führen mediale Posen und auch Maskeraden vor, die zum Beispiel von den TV-Sendern als »real« und »authentisch« verkauft werden,351 medienstrukturell aber komplett anders einzuordnen sind: »Zahlenketten generieren als Signalästhetik auch andere Erzählformen, die als Infotainment den klassischen Wirklichkeitsanspruch hinterfragen – vom Reality TV bis zur Doku-Soap.«352
Ferner sind für das Verständnis des Mediums Online-Video bei YouTube folgende Grundannahmen essentiell: Es handelt sich bei Bildern generell niemals um die »Abbildung« oder »Illustration«353 einer »authentischen« sozialen Realität, die direkte Rückschlüsse auf Leben erlaubt. YouTube-
—————— 350 Musik wird zudem durch Hardware wie den iPod und MP3 Player mobil, für diese entwickeln sich legale Downloads von einzelnen Tracks als Geschäftsidee. Vorher sind die P2P Netzwerke und das sogenannte file sharing illegale Piraterie: das Napster der ersten Generation und auch Kazaa. Online Radiostationen und soziale Musiknetzwerke wie Lastfm, Pandora, thesixtyone und Blip.fm. folgen. Musik kommt als Stream auf mobile Endgeräte als iPhone und Android Anwendungen. Vgl. Parr, Ben (2009), The Rise of Social Music: How the Web Transformed Audio, May 19th, 2009: http://mashable.com /2009/05/19/social-music-history/ 351 Siehe »real people Formate«. 352 Ernst, Wolfgang (2009), Technologie zeitigt Experimente. Eine Programmatik des Fernsehens, in: Grisko, Michael/Münker, Stefan: Fernsehexperimente. Stationen eines Mediums, Berlin, S. 47–66, S. 48. 353 Zur Begründung siehe u.a. Bredekamp, Horst (2005), Im Königsbett der Kunstgeschichte, Ein Interview in Die Zeit Nr. 15 vom 6. April 2005, S. 47.
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Bilder sind Paradebeispiele für raffinierte Hybride aus Fremd- und Eigenbildern. Typische Bildformen für das Social Web 2.0 zeigen die friedliche Koexistenz von »real«- und »fake«-Formaten, die nur mit entsprechender Medienkompetenz auseinanderzuhalten sind. »[…] Setzen auf Authentizität bewirkt aber gerade den unkontrollierten Einfluß von vorgeprägten Typen auf die subjektive Imagination.«354
Die irreführende Ideologie des »Authentischen« ist inhärenter kultureller Konsens. Das Authentizitätsversprechen des fotorealistischen Prinzips355 wird auch im bewegten Bild des Online-Videos massiv aufrechterhalten. Zentral ist der Bezug auf vorher gehende Formate, so dass der Inhalt des neuen medialen Bildes immer die alten Bilder sind, in diesem Falle unter anderem die popkulturellen Vorläuferbilder und die musikalischen PeerBilder im Netz.356 Schon für das Musikfernsehn gilt:»Seine Stärke hat das Medium Fernsehen entsprechend dort, wo Sinn eine geringe oder keine Rolle spielt.«357 Online-Video358 ist als Begriff international eingeführt und viel weiter gefasst. Das musikalische Online-Video ist in keinerlei Hinsicht eine Fortsetzung des TV-Formats Musikvideo, sondern medienstrukturelles Neuland.359 Jedes Pixel, jedes Bit ist durch die UserInnen ansteuerbar, sie arbeiten längst im Stream der Bilder. Anstelle von Sendung und Programm
—————— 354 Reck, Hans Ulrich (1991, Hg.), Imitation und Mimesis, in: Kunstforum International, Band 114, Juli–August, S. 82. 355 Begriff der realistischen Stile vgl. Richter, Sebastian (2008), Digitaler Realismus: Hybride Bewegungsbilder zwischen Animation und Live-Action-Film, Bielefeld. 356 Aufbauend auf: McLuhan, Marshall (1967), The Medium is the Message (mit Quentin Fiore), New York (dt. Ausgabe: Das Medium ist die Botschaft, Frankfurt am Main/ Berlin/Wien 1969). siehe auch relationale Bildnachbarschaften/Bildcluster bei Richard, Birgit/Zaremba, Jutta (2007), Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, München. 357 Winkler, Hartmut (1991), Switching,-Zapping. Ein Text zum Thema und ein parallellaufendes Unterhaltungsprogramm, Darmstadt, S. 39. 358 Siehe Lovink, G./Niederer, S. (2008, Hg.), Video Vortex Reader, Amsterdam. 359 Aus medienärchäologischer und medienadäquater Perspektive gibt es keine genealogische Entwicklung von MTV zu YouTube. Das klassische Musikvideo ist im Internet obsolet, da die Zeiten der eindimensionalen, »faschistischen« Einwegkommunikation, also des nicht dialogischen Musikkonsums, vorbei sind.
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treten Digital Video Broadcast und Streaming,360 dies erfordert weniger Inhaltsanalyse als subsemantische Vorgehensweisen. »›Sogar Katzen sehen fern‹, schreibt James Monaco; offensichtlich ist kultureller Sinn und Kontext nicht entscheidend für televisionäre aisthesis auf der unmittelbaren Ebene der Nervenreizung. […] und es gilt der Versuchung zu widerstehen, solche Formen programmfreier, aber mediennaher Sendung populärkulturell vorschnell zu rediskursivieren.«361
4.4.1 »Mashup« my Music! Shred, Songsmith und Misheard Lyrics Unter dem Suchbegriff shred finden sich auf YouTube 87.600 Einträge.362 Die Dekonstruktion von Virtuosität ist für YouTube-User am relevantesten. Die Ergebnisse einer Auszählung nach reiner Anzahl zeigen eine Verwendung des nicht-ironischen Begriffs, der Verbindung von Instrument und Virtuosität. Die shred-Clips mit einer innovativen audiovisuellen Bildund Tonbearbeitung machen dann nur einen kleinen Teil der Einträge aus. Die nach Relevanz gesuchten Clipinhalte verteilen sich folgendermaßen: Suchbegriff »Shred« 87.600 Einträge Eigentliche shred-Clips Ein bekannter Musiker praktiziert das »Shredding« User zeigen ihr Können zuhause an der Gitarre »Shredding« beim Skate- und Snowboarding Musikvideo-Titel Weitere nicht themenrelevante Verwendungen
76 Clips 43% 17% 11% 4% 11% 14%
Als beispielhaft für die Bildpraxis des shred-Clips, bei dem der Clip einer Band/eines Musikers mit einer neuen Tonspur unterlegt wird, kann das YouTube-Video »Santana Shreds«363 von St. Sanders analysiert werden. Der Clip zeigt die Live-Performance Carlos Santanas mit seiner Band. Es werden einzelne Musiker in Nahaufnahme gezeigt. Der jeweilige Musiker
—————— 360 Ernst, Wolfgang (2009), Technologie zeitigt Experimente. Eine Programmatik des Fernsehens, in: Grisko, Michael/Münker, Stefan: Fernsehexperimente. Stationen eines Mediums, Berlin. S. 47–66, S. 55. 361 Ebd, S. 50. 362 Stand Mai 2009. 363 http://www.youtube.com/watch?v=2BrLEuzVCVQ
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scheint sein Instrument nicht zu beherrschen, weil das zu Hörende schräg und dilettantisch klingt. Dem schlechten Spiel, auf der nachvertonten Tonspur, wird eine ständig variierende Kombination an schlecht gespielten Instrumenten hinzugefügt, welche das Moment von Absurdität noch steigert. shred-Clips demontieren musikalisches Virtuosentum. Die Videospur dieses Cliptyps zeigt die Originalaufnahme des Konzertes eines oder mehrerer Musiker/Gitarristen, die als besonders gute Instrumentalisten gelten (zum Beispiel Santana, Eric Clapton, Steve Vai, Guns’ n’ Roses). Die Audiospur bezieht sich zwar auf die Performance der Musiker, gibt aber den Eindruck, dass die Musiker ihrer Instrumente nicht mächtig sind. Diese bewusst schlecht gespielte Musik, steht im radikalen Kontrast zu den ekstatischen Posen und der selbstbewussten Performance. Losgelöst von der ursprünglichen Tonspur legt das Video die Konstruktion bestimmter Musiker-Posen frei bzw. macht sie als solche sichtbar. Zur gleichen Zeit ist die neu hinzugefügte Musik de facto nur eine vermeintliche »Unmusikalität«. Das zeigt die kenntnisreiche musikalische Bild Transformation. Die tonalen Dissonanzen sind der Bildebene so gut angepasst, dass beim Rezipienten leicht der Eindruck entstehen kann, dass es sich um nicht-modifizierte Aufnahmen handelt.364»Erfinder« dieses sogenannten overdub-Clips365 ist der Finne Santeri Ojala, der unter seinem Usernamen St. Sanders verschiedene Clips auf YouTube veröffentlicht hat. Der Begriff shred entstammt dem Musikgenre Heavy Metal und beschreibt das sehr schnelle Spielen auf der Gitarre, hier wäre also das Virtuosentum des Gitarristen ausschlaggebend. Andererseits passt shred in der deutschen Übersetzung »schreddern, zerreissen, zerkleinern« zur Bildpraxis des shred-Clips: Das vermeintliche Können des Musikers wird durch das Hinzufügen einer neuen Tonspur ad absurdum geführt. Durch die Aufhebung der ursprünglichen Verbindung von Bild und Ton entsteht ein neuartiges Online-Video Genre. Dagegen ist Musiksoftware »Songsmith« ursprünglich für Personen ohne musikalisches Vorwissen gedacht. Der User singt zu einem Rhythmus366 eine beliebige Melodie und das Programm kreiert automatisch die Hintergrundmusik dazu. Das eingeschränkte klangästhetische Potential des Programms und die einfache Handhabung inspirieren User das Programm
—————— 364 Anhand der Kommentare unterhalb des jeweiligen Clips, zeigt sich, dass nicht jedem Rezipienten klar ist, dass die Aufnahmen nachvertont sind. 365 http://www.scottrobertsweb.com/St.-Sanders-Guitar-Shreds-Videos-Removed-FromYouTube .php 366 Es kann zwischen verschiedenen Musikstilen und Tempi gewählt werden.
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anders einzusetzen,367 als von den Herstellern gedacht und die so entstandenen Artefakte als Video-Clip in YouTube zu präsentieren: die Gesangspuren aus bekannten Songs werden extrahiert und durch »Songsmith« mit neuer Musik unterlegt. Die so entstanden Modifikationen werden dem ursprünglichen Musikvideo hinzugefügt und über YouTube präsentiert. Die Neuvertonung steht bewusst in starkem Kontrast zur Originalmusik. So wird beispielsweise der Song »We Will Rock You«368 von Queen zu einem Salsa Stück, »Take On Me«369 von A-Ha zu Bar-Jazz und Metallicas »Justice for All«370 wird zu einem Uptempo-Popsong. Der Gesang bildet die Verbindung von Bild und Ton. Musik und Bild stehen, wie bei den shred-Clips, in starkem Kontrast zueinander. So wird gleichfalls die Starpose, durch die klangspezifischen Einschränkungen des Programms »Songsmith«, unterwandert. Erwähnenswert wäre noch die Kategorie des brutal-Clips«, in denen Bild-Sequenzen aus Kindersendungen, wie »Sesamstraße« oder »Muppet Show«, mit extremer Musik unterlegt werden. Das Bildmaterial wird so modifiziert/geschnitten, dass es wirkt, als würden die gezeigten Figuren wie etwa Ernie und Bert, diese Musik spielen.371 Die Kontrastierung von Klangästhetik und Inhalt findet sich auch in der Musik der Clips, die mit dem Programm Mario Paint Composer kreiert wurden – hier allerdings nur innerhalb der Audioebene. Es ist das Remake eines sehr einfachen Programms zur Musikerzeugung des Nintendo Konsolen-Klassikers »Super NES«372 aus den frühen 90er-Jahren, bei dem die kompositorischen Möglichkeiten und Klangqualität sehr eingeschränkt sind. Gerade dieser 16Bit-Sound wird gerne benutzt, um bekannte Popsongs neu zu interpretieren. Es findet sich eine große Vielfalt an Songs, die durch »Mario Paint Composer« eine neue musikalische Form bekommen haben.373 Die Bildebene dieser Clips ist immer gleich: es wird die Benutzeroberfläche des Programms gezeigt.
—————— 367 Gegen ihre Gebrauchsanweisung, im Sinne Kittlers: Kittler, Friedrich (1983), Film, Grammophon, Typewriter, München. 368 http://www.youtube.com/watch?v=22AWPW5s4EA 369 http://www.youtube.com/watch?v=vUO6gCxcYo0 370 http://www.youtube.com/watch?v=69YPxhynHoE 371 http://www.youtube.com/watch?v=InZNBcJTmWs 372 Super Nintendo Entertainment System. 373 Z.B. http://www.youtube.com/watch?v=6gc-1Dq3uQQ
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Abbildung 10: The Mother Of All Funk Chords. youtube.com Eine allen übergeordnete Bildpraxis ist das audio-visuelle »Mashup«.374 Es entstammt der elektronischen Musik und kreierte ein neues Genre, den Bastard Pop, der Samples möglichst gegensätzliche Musikrichtungen miteinander kombinierte, wie zum Beispiel Whitney Houston und Kraftwerk. Während in den shred-Clips Virtuosen von ihrem Thron »geshreddet« werden, machen die folgenden »Mashup-Clips« »Hobby-Musiker« zu Virtuosen.375 Beim »Mashup«-Video geht es um das Neu-Arrangement von Bild und Ton, es findet sich diversen Minimal-Varianten wieder. »Mashup« beschreibt das Verfahren des Mischens von audiovisuellem found footage-Material zu einem gänzlich neuen Video.376 YouTube-Videos einzelner, nicht bekannter Heim-Musiker werden zu einem Musikstück zusammengesetzt. Exemplarisch für diese Praxis ist der Musiker Kutiman, der aus 23 You-
—————— 374 Vgl. die Mashup-Fomen in Kap. 2.3.2. 375 Der Begriff Amateur scheint zu negativ besetzt, siehe z.B.: Keen, Andrew (2008), The Cult of the Amateur, New York. 376 Mashup ist also auch als Metaebene des Verbindens von verschiedenen Inhalten zu verstehen, unter die auch Shred-Clips und Misheard Lyrics fallen.
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Tube-Videos den Track »The Mother Of All Funk Chords«377 zusammen gestückelt hat.378 Auf der Tonspur werden unter anderem ein Mundharmonika-Spieler in seinem Wohnzimmer, ein Gitarrist in seinem Arbeitszimmer, ein kleiner Junge mit seiner Trompete, zu einer homogen klingenden Band editiert. Die Bildebene variiert zwischen Einzelaufnahmen und Split Screens, die in mehreren Fenstern die verschiedenen Videos simultan zeigt. Ein visuelles »Mashup« entsteht durch den Ton als strukturierendes Element; der Track wurde danach editiert. Ganz anders, als das Erschaffen eines virtuosen Video-Tracks beim »Mashup« oder der Entzauberung der Posen des Starkörpers im shred-Video, ist die folgende Strategie einzuordnen. Unter dem Suchbegriff Misheard Lyrics finden sich 5.800 Einträge (Mai 2009). Diese Clips beziehen sich alle auf die hier beschriebene Bildpraxis. Viele der Videos sind mehrmals vorhanden, weil sie von Usern immer wieder eingestellt werden. Als sogenannte Kern- oder Schlüsselbilder379 sind sie mediale Leitbilder, die von ande-ren Usern optimiert bzw. mit einer gänzlich neuen Bildebene versehen werden. Bei den ausgewählten Songs handelt es sich um Rock und Pop Musik, Hip Hop eignet sich aufgrund von Textmenge und Vortragsgeschwindigkeit nicht. Die Misheard Lyrics beziehen sich auf das vermeintliche Missverstehen eines Songtextes. Es zeigt sich in Worten und Bildern, der dann in Form einer simplen Collage zusammengeführt werden. Die Misheard Lyrics gibt es schon in der ersten Phase des Internets in Textform (davor existieren schon gedruckte Textbücher). Das Missverstehen manifestiert sich zunächst in neuen Textkreationen. Diese werden dem Originalsong über die Bildebene hinzugefügt. Eine eigenwillige Ästhetik bebildert den falschen Text: Hier mischen sich Ton, Bild und Wort zu einer kreativen Melange, die schließlich eine humoristische Kunstform bildet. Prototypisch transportiert das YouTube-Video »Wishmaster – The Misheard Lyrics«380, über die Bildebene eine neu getextete Version zur Tonspur des Originalsongs »Wishmaster« der Band Night-
—————— 377 http://www.youtube.com/watch?v=tprMEs-zfQA 378 Auf seiner Webseite sind alle verwendeten Clips und die dazugehörigen Links zu YouTube angegeben. http://thru-you.com/ 379 Richard, Birgit/Zaremba, Jutta (2007), Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, München. 380 http://www.youtube.com/watch?v=gg5_mlQOsUQ; 8.168.318 views am 22.07.2009, vor drei Jahren 2006 eingestellt von Kewen, ca. 54.000 ratings.
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wish. Aus dem Originaltext: »Master! Apprentice! Heartborne, 7th Seeker« wird »Hamster! A Dentist! Hardporn, Steven Seagull«. Der neue visualisierte Text wird der Tonspur gegenübergestellt, so dass der Rezipient den Eindruck gewinnt, er höre den zu sehenden Text auch wirklich. Stutzig machen nur die sinnbefreiten Formulierungen. Der Ersatz-Text wird durch selbst gestaltete Cliparts, Collagen, einfache »stickmen« und Einzelbilder humoristisch unterfüttert. Die Verbildlichung führt zur endgültigen Auslöschung der originalen Lyrics. Die hier entwickelte Ikonisierung des Texts und die Kombination mit Bildern findet sich in fast allen Misheard Lyrics-Videos und ist als eigenständige Ästhetik zu sehen, die in dieser Form nur auf YouTube zu finden ist.
Abbildung 11: Wishmaster– The Misheard Lyrics. youtube.com Das Zusammenstellen von Fremdmaterial als ästhetisch-technische Kategorie im »Mashup« findet medienübergreifende Verwendung, auch in den kommerziellen Produktionen etablierter Bands wie Weezer, die sich in ihrem Musikvideo der »großen Gesten der kleinen Leute« angenommen haben. Ein Starkörper entsteht auf YouTube durch ein bestimmtes Talent
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oder das Fehlen des selbigen. In dem Musikvideo von Weezer zu dem Song »Pork and Beans«381 werden 20 der beliebtesten YouTube-Clips,382 mit den Original-Protagonisten, neu interpretiert und in einer Gesamtnarration zusammengeführt. Die neuen Versionen der Clips werden in den Dienst der Band gestellt (die Lippen der Darsteller werden synchron zum Text von Weezer bewegt). Das musikalische Online-Video ist eine Hommage an die neuen Stars, dieser ebenso neuen Medienplattformen; jedes Medium kreiert seine passenden Stars. Die Ursprungs-Clips werden nachgestellt und teilweise zu einem positiven Ende gebracht. Die Fehler, durch die der Clip populär wurde, werden hier retroaktiv wieder gut gemacht: Der Protagonist des YouTube-Videos »Afro Ninja«383 beispielsweise, der bei einem Rückwärtssalto unsanft auf dem Boden aufprallte und benommen aus dem Bild torkelte, bekommt die Möglichkeit, den Stunt zu einem positiven Ende zu bringen. Am Ende des Videos finden Band und die Protagonisten der Clips in einem Raum zusammen und performen die für sie typischen Parts. Auch die traditionellen Medien bleiben von diesen »Mashup«-Verfahren nicht verschont, so wird Jane Austins Roman »Pride and Prejudice«, der durch die Addition einiger Horrorpassagen zu »Pride and Prejudice and Zombies«.384 Dieser »Mashup« führt zur Produktion des Films »Pride and Predator« Austen’s Geschichte wird um das 80er-Jahre Alien »Predator« erweitert. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die hier vorgestellten Bildpraxen shred, »Mashup« und misheard lyrics arbeiten mit verschiedenen inszenatorischen Mitteln: shred-Clips dekonstruieren Virtuosentum während »Mashup«-Clips genau den umgekehrten Weg gehen können und aus Videos unbekannter, noch nicht von der Musik Industrie entdeckter Musiker, ganz eigene Bild- und Klang-Collagen generieren. Bei shred-Clips wird die Tonspur ersetzt, bei misheard lyrics die Textebene und beim »Mashup«werden Bild und Ton als Verbund editiert. All diese neuen Formen jugendlicher, bildlich-medialer Auseinandersetzung innerhalb der aktuellen multimedialen Netzwerk-Plattformen sind zugleich Neu-Kontextualisierung als auch Sichtbarmachung gängiger Bild-
—————— 381 http://www.youtube.com/watch?v=T_jGlyqoYoo; 382.648 views am 22.07.2009; 1143 ratings, 2008 eingestellt von musiclocation. 382 Vgl. http://www.buzzfeed.com/scott/weezer-pork-and-beans-video 383 http://www.youtube.com/watch?v=BEtIoGQxqQs 384 Austen, Jane & Grahame-Smith, Seth (2009), Pride and Prejudice and Zombies: The Classic Regency Romance – Now with Ultraviolent Zombie Mayhem!, Philadelphia.
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stereotypen im Bereich einer vorgegebenen Warenästhetik des Musikbusiness. Die hier beschriebenen Inszenierungs- und Bildpraxen und Modifikationsformen von Fremdmaterial stehen dabei in einer Tradition von Strategien der künstlerischen Selbstermächtigung wie Collage (Kunst), cutup (Literatur) und Bastard-Mix (Musik).
4.4.2 Musik und Bild als digitale Rohstoffe »Vorschriften sind in unseren Köpfen, unserer Kultur vorgeschrieben. Alle Namen sind bereits vorprogrammiert. Allein die Namen hindern uns daran, jemals richtig zu improvisieren. Man kann nicht alles sagen, was man will. Man ist im Grunde verpflichtet, den stereotypen Diskurs zu reproduzieren.«385
Die Aneignung von frei zugänglichem (selbst erstelltem) und fremdem Bildmaterial, zur Weiterverwendung, Ent- und Neu-Kontextualisierung führt auf der Video-Plattform YouTube unter anderem zu Zeugnissen eines virtuosen386 Anti-Virtuosentums. Diese neuartigen, musikalisch motivierten Bildformen entstehen außerhalb des Kunstbetriebs als entlarvendes Werkzeug scheinbar monolithischer Bildstereotypen im Musikbusiness. Die »vorprogrammierten Namen« und »Vorschriften«387 werden, durch die hier beschrieben Bildpraxen, nicht unbedingt umprogrammiert, jedoch als Programm/Konstrukt sichtbar gemacht und dadurch eine alternative Betrachtung ermöglicht. Die ironische Distanz zum interpretierten Werk und dem eigenen Schaffen ist programmatisch. So finden Verschiebungen zwischen Star und Fantum statt. Hieraus entsteht die Sorge der unzähligen Web 2.0 Kritiker, die den kulturellen Niedergang vom Virtuosen zu den »idotae des Web 0.0«388 beklagen oder den Umschwung von Beethoven zur
—————— 385 Derrida, Jacques, Unveröffentlichtes Interview, 1982. http://www.derridathemovie.com/ readings.html 386 Virtuos im Sinne des Entwickelns einer Strategie, die sich humoristisch-kritisch mit Posen und Inszenierungen von Starkörpern auseinandersetzt – ähnlich wie Punk eine Antwort auf musikalische Perfektion und Größenwahn des 70er-Jahre Rock war. 387 Derrida, Jacques (1982), Unveröffentlichtes Interview. http://www.derridathemovie.com/ readings.html 388 Graff, Bernd (2007), Die neuen Idiotae. Web 0.0. Das Internet verkommt zu einem Debattierclub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten. Ein Plädoyer für eine Wissensgesellschaft mit Verantwortung, in: Sueddeutsche Online vom 09.12.2007, http://www.sueddeutsche.de/ computer/artikel/211/146869, 24.06.2008.
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Kakophonie,389 befürchten. Bei den Beispielstrategien werden die medialen Ikonen des TV von ihrem Olymp heruntergeholt, gleichzeitig entstehen neue Formen von Virtuosität. Es findet ein medial bedingter ikonoklastischer Angriff auf die Starpose statt, die wie bei Santana medienadäquat ersetzt wird. So entsteht eine visuelle Antwort auf die Geste der medienikonischen Stars, den »Aktanten der Medienproduktionsseite«390 als Übernahmen, Karikatur und Ironisierung wodurch die Konstruktion der StarBilder sichtbar wird. Schon für das klassische, »vordigitale« Stardouble gilt: »[…] wird als autonome Figur wahrgenommen, als Star von eigenem Recht[…]«391 »Es geht nicht in seiner darstellerischen Leistung auf, sondern macht darüber hinaus immer auch bewusst, wie diese zustande kommt und inszeniert ist.«392
Die westliche Gesellschaftsordnung basiert ferner darauf, dass Kreativität und Wissen immer klar auf ein Individuum, einen Autor oder Urheber rückführbar sein müssen und in einem Werk ihren Abschluss finden.393 Kollektive ästhetische Praxen, wie die bildermachenden Jugendlichen in den rituellen Öffentlichkeitsforen des Social Web 2.0, sind nicht vorgesehen. Die audiovisuellen peers teilen Gesten und Figurationen im Schutze ihrer gleichaltrigen Bildgemeinschaften. Das Teilen von gemeinsamen Rohmaterialen zur Stilbildung ist schon seit jeher konstituierenden und gruppenerhaltendes Mittel von Jugendkulturen gewesen. Die Praxis des »bootlegging« im Bastard Pop zeigte die Aneignung ökonomisch fixierten Materials und seine Verwandlung in kollektive Ressourcen für eine Community, mit der Möglichkeit der individuellen Arbeit. Die kollektiven Tauschpraxen von Jugendlichen gerieten bisher immer in Konflikt mit der ökonomischen Struktur (Hometaping is killing Music). Die kollektive Vervielfältigung von symbolischem Kapital in Form des Austausches von Musik und Bildern ist in Jugendkulturen eine kulturelle Praxis, die nicht nur aus finanziellen Gründen Setzungen wie das Copyright unterläuft.
—————— 389 Keen Andrew (2008), the cult of the amateur, New York, und Weinberger, David (2007), Everything is miscellaneous. The power of the new digital disorder, New York. 390 Keller, Karin (2008), Der Star und seine Nutzer. Starkult und Identität in der Mediengesellschaft, Bielefeld, S. 255. 391 Ullrich, Wolfgang (2002), Der Starkult als Verdopplung: Doubles, in: Wolfgang Ullrich/Sabine Schirdewahn: Stars, Frankfurt am Main. S. 121–149, S. 138. 392 Ullrich adaptiert hier Beltings Definition von Kunst für das Double; Belting zitiert nach Ullrich, Wolfgang (2002), Der Starkult als Verdopplung: Doubles, in: Wolfgang Ullrich/Sabine Schirdewahn: Stars, Frankfurt am Main. S. 121–149, S. 142. 393 Vgl. Foucault, Michel (1988), Was ist ein Autor, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main, S. 7–31, (EA 1969).
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Schon immer ist der Austausch von musikalischen Daten überverschiedene Reproduktions- und Speichermedien vom Tonband über Audiokassetten bis hin zu Napster (nun fest in den ökonomischen Kreislauf integriert), praktiziert worden; nicht immer in der Intention als Praxis des eigensinnigen Widerstands gegen kommerzielle Systeme. Vielmehr ist Kopieren, Teilen, Verleihen und Tauschen ein gemeinsames Charakteristikum von offline peer-groups und Online-Communities auf Software-Basis. Diese jugendlichen Sharing-Prinzipien haben sich jetzt auf die Bilder ausgedehnt. Die medialen Strukturen des digitalen Zeitalters, Samples, Tracks, Bits im Stream eignen sich nun hervorragend für die autonome Transformation audiovisueller Bilder. Damit kann die visuelle Aneignung von Musikprodukten und ihre Umgestaltung stattfinden. Die Enteignung der Technologie bzw. der Software und der Bilder ist möglich durch das Zerlegen des Audio-Visuellen in seine Bestandteile. Die neuartigen Synthesen von Bild und Ton passen zum produktiven Umgang mit dem Material auf der visuellen Ebene: Die Arbeit mit found footage erzeugt audiovisuelle Bildmodulationen, ein eingeführtes künstlerisches Prinzip (vgl. Verfahren der Appropriation Art, die darstellerischen Mittel der Arte Povera, Bildelemente wie Stickmen), die auf YouTube seine Meisterschaft finden. Die einfachen, durch Self Education erlernten Techniken, die leicht erhältlichen und günstigen Produktionsmittel in Form von Software und die generelle Verfügbarkeit von Bildern und Tönen, bringen eine Freiheit in den gestalterischen Mittel auf vielen Ebenen. Diese führen zur Freisetzung von modular organisierten digitalen Rohmaterialien audiovisueller Art.394 Der kreative Schwerpunkt liegt in der Struktur, dem Konzept und der Idee. Die Einfachheit der gestalterischen Mittel ist dabei die notwendige Bedingung im Sinne von Minimalismus. Sie ist das medienadäquate Prinzip für eigene bild- und musikalische Entwicklungen im Online-Video, aber auch im gesamten Social Web 2.0 zu sehen. Simplicity395 ist keine Einschränkung, sondern die notwendige Selektion und Konzentration auf die Essenz eines vorlaufenden medialen Erzeugnisses (TV, Film). Durch die geschilderten Beispiele wird die einseitige Warenförmigkeit der Musik aufgebrochen, ein ironischer Umgang mit dem eigenen Musik-
—————— 394 Im Sinne von: Ernst, Wolfgang (2009), Technologie zeitigt Experimente. Eine Programmatik des Fernsehens, in: Grisko, Michael/Münker, Stefan: Fernsehexperimente. Stationen eines Mediums, Berlin, S. 47–66. 395 Maeda, John (2006), The Laws of Simplicity. Simplicity: Design, Technology, Business, Life, Cambridge.
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konsum betrieben und audiovisuelle Tätigkeiten rund um die Musik sichtbar gemacht. Der Copyright-Konflikt entsteht vor allem an den Stellen, wo zwei Mediensysteme bzw. Medienzeitalter aufeinanderprallen, das alte analoge TV-System und die streamenden Online-Medien. Das klassische Musikvideo hat als musikalisches, kommerziell vollständig kontrolliertes Produkt keinen Bestand. Es besitzt online keine medienadäquate Form mehr und dient bestenfalls als Rohmaterial für ironische Bearbeitungen der UserInnen. Klassische analoge Bewegtbild-Medien werden also im Web 2.0 in eine digitale Struktur überführt, indem sie in ihre Elemente zerlegt, nutzbar gemacht werden. Es bleiben oberflächliche Referenzen an ein überkommenes analoges Format wie Musikvideo. »Wenn alles streamt, geraten selbst die glattesten Formate mitunter ins ruckeln, und es tun sich nicht nur juristische, sondern auch konzeptionelle und ästhetische Lücken auf […]«396
Online-Videos erinnern visuell an Musikvideo, die Hülle ist aber hard- und softwaretechnisch andersartig. Eine neusortierte Musik, die social music ist eine auch bildlich präsente community based art im Online-Video. Der MusikClip ist als kommerzielles Produkt aus den digitalen Welten verschwunden bzw. durch neuartige mediale »Insubordinationskulturen«397 aneignet und weiterverarbeitet worden. Aus Kittlers Missbrauch von Heereselektronik durch die Unterhaltungsindustrie, ist der Missbrauch von Unterhaltungselektronik geworden: die neuen eigenwilligen audiovisuellen Bildformen erzeugen passende, medienadäquate Formate.
4.5 Jugend-Bilder im Web 2.0 als mimetische Selbstdarstellung Für die Flickr-FotografInnen, aber auch für die YouTube-Clips, muss es zum Abwägen von neue Begrifflichkeiten kommen: Medienmeister, Statist, Künstler, Double, Imitator, mimetische SelbstdarstellerInnen. Zunächst geht es um den Begriff des (jugendlichen) Medienmeisters (im Sinne von Handwerksmeister): Er/sie zeichnet sich durch technische Expertise aus
—————— 396 Ernst, Wolfgang (2009), Technologie zeitigt Experimente. Eine Programmatik des Fernsehens, in: Grisko, Michael/Münker, Stefan: Fernsehexperimente. Stationen eines Mediums, Berlin, S. 47–66, S. 64. 397 Haug, Wolfgang Fritz (2009), Kritik der Warenästhetik: Gefolgt von Warenästhetik im HighTech-Kapitalismus, S. 349.
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und besitzt darüber hinaus artistische handwerkliche Fähigkeiten auf der Grundlage des Mediums. Außerdem produzieren MedienmeisterInnen künstlerische Werkstücke, entsprechend den Bereichen Medien-Design oder angewandter Kunst. Vom Betriebssystem Kunst aus gesehen, sind die meisten der angesprochenen ästhetischen Produkte Sinnbild für das kindlich Naive, Unreflektierte. Es gilt eventuell als ein technisch perfektes Bildprodukt, das aber durch visuelle Stereotypen, entwertet und trivial wird, so dass eine Kategorisierung als KünstlerIn verweigert wird. Dies ist aber deshalb unerheblich, da die meisten jugendlichen uploader auf YouTube/ Flickr keine neue Ästhetik oder Kunstform etablieren wollen. Die nächste zu testende Bezeichnung wäre Statist. »Statisten vervollständigen meist nur eine Szene, eine Idee, sie sind selten die zentrale Attraktion. Das aber ist es, womit wir es hier zu tun haben: Statisten als zentrale Attraktion. Die sind also weder Rollenträger noch Selbstdarsteller, sondern Kompetenzvorführer. […] aber auch bei einem großen Teil der Reality-TV-Shows sind die Statisten und sonst wie Mitwirkenden sehr oft auch diejenigen, die primär eine Erfahrung machen sollen, während das eigentliche Publikum nur denen bei Erfahrungsmachen zuschauen soll.«398
Diese Begrifflichkeit trifft den Kern jugendlicher Selbstdarstellung im Bild nicht konkret, sondern nur die Teilmenge der TV Formate. Vielleicht könnte der Begriff des Doubles, bezogen auf die Stardarstellung, weiterhelfen. »Das Double wird als autonome Figur wahrgenommen, als Star von eigenem Recht […]«399
Ullrich fasst den Begriff positiv auf und entwickelt die besonderen Qualitäten des Doubles und seiner Traditionen, wie zum Beispiel im Nachstellen von Bildern im »tableau vivant« bis hin zur gezielten kommerziellen Verwertung durch Double Agenturen.400 Bilder sind immer die Referenz für das Double:401
—————— 398 Diedrichsen, Diedrich (2007), Eigenblutdoping, Köln, S. 261. 399 Ullrich, Wolfgang (2002), Der Starkult als Verdopplung: Doubles, in: Wolfgang Ullrich/ Sabine Schirdewahn: Stars, Frankfurt am Main, S. 121–149, S. 138. 400 Ebd., S. 131ff. 401 Ebd., S. 133.
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»Es geht nicht in seiner darstellerischen Leistung auf, sondern macht darüber hinaus immer auch bewusst, wie diese zustande kommt und inszeniert ist.«402
Da Double nur einen Teil der jugendlichen Selbstdarstellung betrifft, soll anknüpfend an diesen positiven Doublebegriff nun ein weitergehender, nämlich ein positiver Mimesis-Begriff gegen den negativen ImitationsBegriff gesetzt werden. Auf dieser Grundlage soll die mimetische Selbstdarstellung für die jugendlichen Bilder als positiver und sozial notwendiger Inbegriff und als Form von Kreativität eingeführt werden. Gegen den »negativen Beiklang des Imitierens« soll hier im Sinne Recks403 die Hoffnung auf ein mimetisches Vermögen, als »vorahmende Eröffnung neuer Erfahrungen« gesetzt werden. Der negative Beigeschmack der Mimesis hat seine Herkunft auch in der Angst vor der Nachahmung des Bösen: man will die »mimetische Darstellung zügelloser oder verwerflicher Charaktere«404 verhindern, wie man am Beispiel der schnell von YouTube entfernten Clips von Amokläufern sehen kann.405 Wiederholung, Verschiebung, Akzentuierung und Neugewinnung in der Mimesis406 können auch für die jugendlichen Selbstbilder als leitende Prinzipien und Transformationsstrategien verstanden werden. Die spezifische Darstellungskraft der Mimesis als pragmatische alltagskulturelle Leistung arbeitet gegen Technik- und Fortschrittsgläubigkeit.407 Die Bezeichnung »bloße Imitation« ist laut Reck eine kulturgebundene Setzung, die vernachlässigt, dass im Akt der Nachahmung ein Gebrauch von der Realität gemacht wird, der diese mit konstruiert.408 Diese Setzung bringt vor allem den abwertenden sozialen Umgang mit den Bild-Erzeugnissen von Jugendlichen hervor, die keinen institutionellen Ursprung haben. Die Einführung des Begriffs der mimetischen Selbstdarstellung ermöglicht BildStrategien jugendlicher Selbstinszenierung und ihre neuen kreative Bild-
—————— 402 Ullrich adaptiert hier Beltings Definition von Kunst für das Double; Belting zitiert nach ebd., S. 142. 403 Reck, Hans Ulrich (1991, Hg.), Imitation und Mimesis, in: Kunstforum International, Band 114, Juli–August 1991, S. 64. 404 Edgar Wind zitiert nach Reck, Hans Ulrich (1991, Hg.), Imitation und Mimesis, in: Kunstforum International, Band 114, Juli–August 1991, S. 70. 405 Richard, Birgit/Grünwald, Jan (2008), Charles Manson tanzt auf den Achsen des Bösen im Web 2.0! Zur Re-Dramatisierung des Bösen in der digitalen, medialen Alltagskultur, in: Faulstich, Werner (Hg.), Das Böse heute, München, S. 151–169. 406 Reck, Hans Ulrich (1991, Hg.), Imitation und Mimesis, in: Kunstforum International, Band 114, Juli–August 1991, S. 69. 407 Ebd, S. 70. 408 Ebd, S. 75.
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formen zu verstehen. Zudem kann auch eine »visuellen Avantgarde«, also die stilbildenden und kreativen Köpfe unter den jugendlichen Bilderzeugern gefunden und geschätzt werden. Jugendliche führen mediale Posen und auch Maskeraden vor, die von TV-Sendern aber als real (real people-Formate) und »authentisch« verkauft werden. Laut Elias409 entwickelte sich die »Ideologie des Authentischen« in der bürgerlichen Familie der beginnenden Moderne. Sie grenzt sich gegen soziale Konventionen und rituelle Regelungen intimer Befindlichkeiten ab, da sie sich als exklusiven Ort des Ausdrucks unverfälschter, authentischer Gefühle annimmt. Sennett interpretiert dies als Form von Unzivilisiertheit, da das Tragen vorfabrizierter Masken oder das Spielen bestimmter Rollen auch eine Schutzfunktion hat.410 Sennetts »Tyrannei der Intimität« wird im Netz aufgebrochen, weil Rituale und Maskerade als Basis für jugendliche Selbstdarstellung sichtbar werden. Die Speerspitze des »Authentischen«, die familiäre Intimsphäre, bekommt im Web 2.0 virtuelle Löcher. Daher hat die Diskussion um internetsüchtige Jugendliche auch zwei Seiten, einmal den berechtigten Jugendschutz, andererseits zeigt sie das Missfallen an den kleinen virtuellen, unkontrollierten Ausbrüchen der Heranwachsenden. Der Mimesis-Ansatz von Reck eröffnet die Möglichkeit des sinnvollen Umgangs mit Bildern jugendlicher Selbstdarstellung, da er das »ewige Gerede von Ursprünglichkeit, von Authentizität, Innovation und Echtheit« dekonstruiert und die Ideologie »normsetzende Authentizität«, in unserer Kultur anprangert.411 Diese zeigt sich in den Bildern zu den von Jugendlichen zur Abgrenzung gewählten Begrifflichkeiten, wie true im Metal oder real im Hiphop. Diese Begriffe bezeichnen Figuren, die Höhepunkte des Artifiziellen sind, die den Ideologien eines von außen gesetzten »Authentischen« widersprechen. Alle Gesten und Figuren der Jugendlichen, nicht nur die subkulturellen, sind immer extrem künstlich, aber innerhalb ihrer Kulturen glaubwürdig und notwendig, um zum jeweiligen style zu gehören bzw. das jeweilige mediale Format zu bedienen. Im Internet, mit seinem Social Networking im Web 2.0, formieren sich die bildermachenden Jugendlichen wieder zu rituellen Öffentlichkeitsforen und zeigen ihre Maske-
—————— 409 Elias, Norbert (1991), Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt am Main, 16. Auflage, Band 2, S. 417. 410 Sennett, Richard (1986), Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main, S. 336. 411 Reck, Hans Ulrich (1991, Hg.), Imitation und Mimesis, in: Kunstforum International, Band 114, Juli–August 1991, S. 75.
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raden in visuellen Gesten und Figurationen, im Schutze von gleichaltrigen Bildgemeinschaften, die ihre Bilderwelten teilen und anerkennen. Zu den Strategien von Authentizität und Echtheit gesellt sich eine weitere popkulturelle Geste, welche ebenfalls dem Authentizitätsversprechen dient: Es handelt sich um den Begriff der Widerständigkeit, welcher im nächsten Kapitel ergründet werden soll.
5 Babes in Toyland – Widerständige Geschlechterbilder im Web 2.0
Die widerständige Geste und der künstlerische Umgang mit normativen Geschlechterdarstellungen sollen im folgenden Kapitel untersucht werden. Kompetenzen in der Selbstinszenierung und die Reflektion der eigenen Position innerhalb einer Bildproduktion stereotyper Weiblichkeitsdarstellungen stehen im Vordergrund. Auch soll der allgemeine Abweichungszwang einer popkulturellen Inszenierung kritisch hinterfragt werden, um dann Formen zu suchen, sich wiederum widerständig dazu positionieren.412
5.1 Problematisierung des Begriffs der Widerständigkeit »Die Andersheit ist wie der ganze Rest unter das Marktgesetz, unter das Gesetz von Angebot und Nachfrage gefallen.«413
Widerständigkeit erscheint als die notwendige Zutat einer popkulturellen Geste: Der widerständige Gestus dient dem Authentizitätsversprechen, hindert jedoch nicht die gleichzeitige Konsumierbarkeit der dargebotenen Inszenierung. Bezogen auf die damit vorhersehbare, widerständige popkulturelle Inszenierung entlang eines bestehenden Bildkanons der Abweichung, entfällt so jedoch scheinbar häufig das Risiko bestehende kulturelle Ordnungen tatsächlich durcheinander zu bringen und damit subversiv im Sinne Rancieres zu wirken.414
—————— 412 Vgl. Kapitel 4.2.2.3 Weibliche Bidtypen: Sexyness, Hässlichkeit und künstlerische Inszenierung. 413 Baudrillard, Jean (1992), Transparenz des Bösen, Berlin, S. 143. 414 Zu widerstehen bedeutet, die Haltung desjenigen einzunehmen, der sich der Ordnung der Dinge entgegenstellt und dabei das Risiko, diese Ordnung durcheinander zu bringen, nicht anerkennt. Und man weiß, dass in unseren Tagen die heroische Haltung desjenigen, der dem Malstrom der Demokratie, Kommunikation und Werbung »widersteht«,
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Während der subversive Akt in Rancieres Sinn den Umsturz einer bestehenden Ordnung zum Ziel hat, ist es hier, angesichts der Beschäftigung mit den popkulturellen Gesten der Widerständigkeit und ihrer bildlichen Repräsenation im Web 2.0, lediglich die Utopie des Umsturzes durch deren Verbildlichung eine Widerständigkeit des Bildes beobachtet werden kann. Die Professionalität die dabei die Perfomance solcher populären Widerständigkeitsgesten kennzeichnet, schmälert jedoch, so soll hier argumentiert werden, nicht unbedingt ihr heroisches aber dennoch subversives Potential, das sich in Darstellung und Stil entfaltet. Dieses findet sich gerade in den Kleinstabweichungen, Modualtionen und Mechanismen der Wiederholung und so in der Infragstellung von Sehgewohnheiten. Die Widerständigkeit populärer Bilder zeichnet sich, unter dem Druck sofortiger Inkorporation und Vermarktung, so gerade durch das Vermögen aus, momentane und punktuelle Veränderungen zu orten, um diese dann zu erweitern oder zu konterkarieren. Diese Form des »Widerstehens der Bilder« kann dabei nicht in dem dialektischen Sinne einer Antithese gedeutet werden,415 sondern funktioniert entlang einer Strategie des SichAneignens und der Reibung und geht so mit einer Erweiterung des jeweiligen popkulturellen Bilder- und Gestenrepertoires einher. Judith Butler spricht, bezogen auf Sexualität und Subversion, von der Illusion eines »Außerhalbs der Matrix der Macht« und verweist auf Strategien, die innerhalb dieser Matrix operieren und trotzdem keine unkritische Reproduktion bestehender Verhältnisse darstellen. Hier stehen besonders die Formen der Wiederholung, »die keine einfache Imitation, Reproduktion und damit Festigung des Gesetzes bedeuten«416 im Vordergrund. So kann das widerständige Potential von Bildern von Weiblichkeit statt in einer aggressiv-oppositionellen Inszenierung auch in einer parodistischen Widerholung von Stereotypen liegen, die der Bewusstmachung der Konstruktion von Geschlecht dienen und somit in der Praxis der Wiederholung und Überzeichnung als Entlarvungsstrategie bestehender Strukturen funktionieren.
—————— sich gern mit einer Willfährigkeit hinsichtlich der existierenden Herrschaftsverhältnisse und Ausbeutungen verbinde.Rancière, Jaques (2008), Ist Kunst widerständig? Berlin. 415 So merkt Baudrillard an, dass der Andere – also die Andersheit, die Differenz – plötzlich nicht mehr da ist, »um vernichtet, gehasst, zurückgewiesen, verführt zu werden, er ist da, um verstanden, befreit, umsorgt, anerkannt zu werden« Baudrillard, Jean (1992), Transparenz des Bösen, Berlin. S. 143. 416 Butler, Judith (2003), Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main.
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Denn Bilder allein sind nicht subversiv. Sie müssen immer in den kulturellen und bildmedialen Kontext eingebettet sein, um in ihrem Potential zu Widerstehen sichtbar zu werden. Widerständigkeit, die ein Abweichen von einem Anderen anstrebt, ist dabei immer auf das Gegenüber, auf welches sich diese Abweichung richtet, bezogen. Dieses ist jedoch variabel und prozessual und fordert ein, dass eine solche Inszenierung in der Lage sein muss, mit kurzzeitigen und punktuellen Veränderungen Schritt zu halten, um ihr widerspenstiges Moment zu erhalten. Der Begriff der Subkultur, im Sinne eines subversiven Gegenmoments zu einer dominanten Mainstream-Kultur, scheint auf diesem Hintergrund größtenteils unpassend, weil der popkulturelle Distinktionszwang dazu führt, dass die Normabweichung keine mehr ist. Dichotomien (Norm/Abweihung) erscheinen in diesem Zusammenhang als Analysekategorien zu vereinfachend. Gleichzeitig finden sich viele der hier im Folgenden besprochenen Bildbeispiele auf den Grundmauern, Ruinen und Traditionsgebäuden, welche die Bildkonventionen und Widerstandsfolklorismen jugendlicher »Subkulturen« hinterlassen haben. Der Plural von Potential beschreibt viel eher die Multiperspektivität der Bilder, die sich der Gesten der Widerständigkeit bedienen: Widerständigkeit kann somit als Begriff für die Abweichungspotentiale in ihrer medialen Repräsentation dienen und verweist dabei auf das Widerstehen der Bilder und deren, mit einer Distanzierung vom Alltag einhergehende Wirkungsweise. Es gilt im folgenden Kapitel zu klären, ob die sich im Web 2.0 auf den »jugendlichen« Portalen und Internetplattformen präsentierten Frauenbilder solche subversiven, wiederständigen Potentiale aufweisen; in welcher Weise sich diese gestalten und in wieweit die Medienstrukturen diesen zuträglich, bzw. diese in spezifischer Form charakterisiert, soll untersucht werden.
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5.2 Stached Women: Der Bart als Motiv abweichender Inszenierung von Weiblichkeit auf Flickr »Isn’t laughter the first form of liberation from a secular oppression?«417
An dieser Stelle soll einleitend der Versuch unternommen werden, ein Phänomen zu beleuchten, das sich innerhalb des Contents der Web 2.0Anwendung flickr.com zeigt und das als »shifting image« in verschiedenen medialen Formen und auf unterschiedlichen Plattformen des Web 2.0 als wiederkehrendes Motiv zu finden ist: das Bild der Frau mit Bart, das, wenn der Bart glaubhaft wirkt, befremdende Gefühle erweckt, nicht selten jedoch auch humoristische Assoziationen mit sich bringt.418 Im Hinblick auf dieses Motiv lassen sich zahlreiche Möglichkeiten der bildlichen Inszenierung ausmachen, die innerhalb der Bildwelten des Webs Anwendung finden. So finden sich auf Flickr einige Varianten von »portablen Bärten«, die auf dem Finger aufgemalt wie bei »Jay Wolf« mit ihrem Foto »Mustache Girl« oder in textueller Form wie bei »the robots revenges« Bild »mustache« inszeniert werden und je nach Bedarf angehalten und wieder abgenommen werden können. Das keinesfalls auf den Bereich Flickr beschränkte, sondern vielmehr die Bildwelten des Web 2.0 in immer neuen Formen durchziehende spielerische Motiv lässt sich auch im Bereich des Musikvideo-Clips auf YouTube beobachten. Wie in CocoRosies Musikvideo mit dem Titel »Rainbow Warriors«, dessen Ästhetik stark an das von Pierre et Gilles entworfene und fotografierte Album-Cover des Duos erinnert, und in dem Bianca Casadys Kleidung zwischen einer Pagen- und einer phantastischen Militäruniform changiert und durch einen künstlichen Oberlippenbart vervollständigt wird. Diesen kommentiert Casady: »Was den dünnen Bart angeht: Ich finde das sieht schick aus. Manchmal, wenn ich schreibe, ziehe ich mich gerne wie ein alter Lüstling aus dem 18. Jahrhundert an.
—————— 417 Luce Irigaray (1985), This Sex which is Not One, Übersetzt von Catherine Porter und Carolyn Burke, S. 163. 418 Kann zum Beispiel Assoziationen zur Steinigungsszene aus Monthy Pythons »Life of Brian« hervorrufen. In dieser Szene verkaufen Händler falsche Bärte an Frauen, da nur Männer an einer Steinigung teilnehmen dürfen, was schließlich dazu führt, dass am Ende nur noch ein Mob von Frauen mit nicht überzeugenden falschen Bärten und tief verstellten Stimmen an der Steinigung teilnehmen.
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Manches davon bleibt ein bisschen hängen, kleine Fetzchen dieses Mythos. Und nein, wir sind keine Feministinnen. Lil Kim ist eine. Wir lieben sie trotzdem.«419
Bei einer anderen, ebenfalls in einem Video auf YouTube zu findenden Inszenierung spielt ebenfalls ein auffälliger Oberlippenbart eine Rolle. Diesen trägt die DJane JD Samson von »Le Tigre«, die in den im Rahmen dieser Beschäftigung noch näher zu untersuchenden Videos mit dem flaumartigen, typisch männlichen haarigen Merkmal für visuelle Devianz sorgt und auf dem Foto im klassisch männlichen Smoking abgebildet ist. Oder auch die Sängerin »Peaches« alias Merrill Beth Nisker, die für ihr Album »Fatherfucker« mit einer ganz anderen Form von Bart, einen aufgeklebten klassisch holländischen Kinnbart, wie ihn auch Abraham Lincoln trug, posiert.
Abbildung 12: Moustache girl. flickr. com
Abbildung 13: Mustache. flickr.com
Diese unterschiedlichen Arten der Bärte, die sich hier bereits anhand des Bezugsmediums des Musiksvideos abzeichnen, sollen im Rahmen der folgenden Beschäftigung mit der Fotoplattform Flickr näher in Augenschein genommen und vorläufig kategorisiert werden.
—————— 419 Vgl. Thomas Jänsch: Interview CocoRosie. Online unter: www.brokenviolence.de/inter views/icoco0504.htm
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5.2.1 Bärtige Frau-Bleibungen
Abbildung 14: topupthetea – non pas! flickr.com Betrachten wir uns also ein erstes der vielen Fotos »bärtiger« Frauen auf Flickr näher. Es handelt sich um eine Aufnahme der Autorin »topupthetea«, das den Titel »non pas!«420 trägt: Das Bild zeigt ein, von einem erhöhten Standpunkt, eventuell aus der eigenen Hand, aufgenommenes Selbstportrait der Fotografin im Querformat. Der Ausschnitt umfasst ihr Gesicht in einer Großaufnahme, die von der Mitte der Stirn bis zum Kinn reicht. Durch die geringe Tiefenschärfe ist nur ein kleiner Bereich ihrer Nase wirklich scharf und durch den Kamerawinkel sind ihre unverhüllten Schultern zu sehen, die unter einem Pulli mit dem dunklen Hintergrund in der Unschärfe verschmelzen. Das Kolorit des Bildes bewegt sich im Bereich dunkelbraun-rötlicher Töne, die gut mit ihrem rothaarigen Typus zu harmonieren scheinen; allgemein ist das Foto sehr dunkel gehalten. Die abgebildete Künstlerin hat rot-braune lockige Haare, gezupfte Augenbrauen im selben Ton und grüne Augen in deren Mitte große Pupillen den Bildbetrachter anzublicken scheinen. Ihr Teint zeigt leichte Sommersprossen. Ihre Wimpern sind mit Wimperntusche geschwärzt und die Augen von einem Augenkontourstift dezent umrahmt. Auf den leicht geöffneten Lippen, hinter denen man einen kleinen Einblick auf ihre Zähne erhält, ist dezenter roter Lipgloss aufgebracht. Zu guter Letzt befindet sich auf ihrer Oberlippe ein dünner mit Kajal gezeichneter gezwirbelter Bart, der auf den
—————— 420 http://www.flickr.com/photos/topupthetea/388467313/
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ersten Blick einen Bruch in der sorgfältigen Konstruktion von Weiblichkeit zu verursachen scheint. Zunächst einmal scheint die Darstellung von Weiblichkeit innerhalb der beschriebenen Fotografie eine klassisch romantische bis sinnliche zu sein. Der romantische Eindruck wird durch die braun-dunklen Töne der Fotografie konstruiert. Ebenso jedoch durch das Klischee, dass rothaarige Frauen, ganz besonders, wenn sie mit einem so großen Unschärfeanteil abgebildet werden als Sinnbild für ländliche Natürlichkeit, im Sinne der herbstlichen Farben vom Laub, gelten. Das sinnliche Moment ergibt sich durch die Darstellung mit großen Pupillen, welche zum Beispiel im Zustand der Erregung geweitet scheinen und somit die Illusion einer Öffnung ins Innere des Kopfes zur Seele erzeugen, gleichzeitig aber fordernd schauen. Des Weiteren zerstört der direkte Blick zum Beobachter jede Möglichkeit eines voyeuristischen Blickes desselben, denn der Betrachter wird hier in seinem Schauen ertappt, was wiederum eine subtile Spannung erzeugt. Schließlich spielen die leicht geöffnet Lippen innerhalb der sinnlichen Konstruktion eine große Rolle. Die romantisch-sinnlichen Bestandteile des Fotos sind also klassisch weiblich konnotiert. Durch den direkten Blickkontakt mit dem Betrachter wird eine erotische Aufladung erzeugt. Gleichzeitig unterwirft sich die Fotografierte diesem durch den erhöhten Kamerawinkel, der die Abgebildete als unterlegen konstruiert. Der aufgemalte Bart wirkt dabei mehr wie ein »posierliches« Element, denn er ist, wie auf den ersten Blick festgestellt werden kann, eben nur aufgemalt und wirkt sich keineswegs auf eine Dekonstruktion von Geschlecht aus. Dafür ist der Rest der Abgebildeten, das Bildgenre, Kleidung und Make-up, zu weiblich. Die binäre geschlechtliche Matrix darf und wird damit bei einem solchen Bild kaum aufgebrochen. Der Bart fungiert im Rahmen der Selbstdarstellung weiblicher Mitgliedern auf Flickr oft in ähnlicher Weise und betont als Kontrastpunkt umso mehr die weibliche Performanz, als dass er im Sinne eines »gender benders« fungiert, eine Strategie die im Folgenden weiter dargestellt werden soll. Um zwei weitere Beispiele zu nennen, die zeigen sollen, dass es sich bei dem soeben beschriebenen Bild um keinen Einzelfall handelt, soll an dieser Stelle ein Foto vom der Userin »Professor Frenchie« folgen, dass den beschreibenden Titel »francesca & danielle scowl with moustaches«421 trägt. Auch hier weisen die vestimentären Praktiken eindeutig auf biologische Weiblichkeit hin. Eine Erweiterung bei diesem Handyfoto bildet nur die
——————
421 http://www.flickr.com/photos/frenchieb/1241417775/
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Mimik, die durch ernsten und selbstsicheren Ausdruck422 als klassisch männlich performt wird.
5.2.2 Spaß-Inszenierung von bärtiger Männlichkeit Es soll an dieser Stelle nicht vernachlässigt werden, dass es auch viele Formen der Darstellung von bärtiger Weiblichkeit bei Flickr gibt, die sich der hier dualistisch kategorisierten Formen zwischen Frau-Bleibungen und Mann-Werdungen widersetzen können und eine Zwischenform oder eine humoristische durch ein Event bedingte Verkleidung darstellen. Ein solches Beispiel ist das keinen Titel tragende Bild von »the real janelle«423, das zwei Frauen mit recht unpräzise aufgeklebten Bärten in einer spielerischen amerikanischen Police-Detective-Verkleidung zeigt. Beide tragen Sonnenbrillen obwohl der Hintergrund des Bildes dunkel ist, was die Verwendung eines Blitzes für das Foto erklärt. Bei genaueren Hinblicken lassen sich andere dicht zusammenstehende Körper um die beiden Personen herum erkennen. Beide bärtige Frauen tragen Krawatten, die von der Farbauswahl aus den 70er-Jahren zu entstammen scheinen; der Schlips der linken Frau ist so breit, dass er diese zeitliche Einordnung noch unterstützt. Die Anspielung auf diese Zeitepoche in Verbindung mit dem visuellen Genre des US-Police-Detective scheint Bärte in einer solchen maskulinen Form bereits unabdingbar zu machen. Die linke Frau trägt eine Art von Waffenholster um ihre Schultern, das die Formen ihres Busens unter dem Khakifarbenen robusten Hemd leicht betont und ein Spielzeughaft wirkendes Police-Abzeichen. Wären die eine in einer überheblichen Pose mit offenem Mund, ihre obere Zahnreihe entblößend festgehalten wurde, grinst die andere selbstsicher, eine Dose, womöglich Bier, in ihrer Hand haltend, in die Kamera. Bei dem Foto handelt es sich um eine spaßige Partyinszenierung von uniformierter Männlichkeit. Im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Fotografien, wird hier die »biologische« Weiblichkeit der Fotografierten nicht unbedingt betont, noch handelt es sich um eine überzeugende Inszenierung von Männlichkeit, eher um eine spielerische bis humoristische Nachahmung.
—————— 422 Mühlen Achs, Gitta (1998), Geschlecht bewusst gemacht. Körpersprachliche Inszenierungen. Ein Bilder- und Arbeitsbuch, München, S. 80. 423 http://www.flickr.com/photos/janelle/76457186/
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Abbildung 15: Misses with Moustaches.flickr.com Dasselbe gilt für das als »Misses with Moustaches«424 titulierte Bild vom User »Broken Piggy Bank«, indem ein weiteres typisches Klischee von Masculinity performt wird, das des amerikanischen Süd-Staatlers. Dieser Darstellung dieses Prototyps tendiert in Richtung einer moderneren Inszenierung des Cowboys, bei der rechten Frau durch den Hut, bei der Linken durch die buschige und lange Form des Bartes erreicht. Alles außer den Schnurrbärten und der ernsten Mimik der rechten Frau ist typisch weiblich: Kleidung, Haarlänge, Zopffrisur, Make-Up, schmal gezupfte Augenbrauen, das freundliche Lächeln der linken Frau und ihre großen Ohrringe. Selbst der klassisch männliche Cowboyhut tritt hier in der weiblichen Variante in schmaler Form mit hohen Krempen auf, ähnlich wie im Video »Music« von Madonna. Die letzte humoristische Inszenierung von Männlichkeit, die hier innerhalb dieser Kategorie Erwähnung finden soll ist eine nicht überzeugende aber gleichzeitig spaßig gemeinte Hitler Inszenierung, nochmals von der Userin »iggy_sodashell« mit dem Titel »This is from Last summer.«425 Als erstes fällt bei diesem Selbstportrait der schlecht gemalte aber markante Bart des Diktators in den Blick, der in diesem Kontext von dem militärisch anmutenden Jackett in Olivgrün mit einem Abzeichen auf dem rechten Ärmel, gestützt wird. Die schwarzen zur Seite gekämmten Harre, spielen
—————— 424 http://www.flickr.com/photos/jremigio/13627340/ 425 http://www.flickr.com/photos/iggysparkses/499562439/
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ebenfalls, jedoch kaum erkennbar, auf die Frisur Hitlers an. Der große Unterschied zu dieser ist, dass die Gezeigte lange lockige Haare hat, die bereits die männliche Darstellung brechen, ebenso wie der leuchtend rote Lippenstift und der abgeblätterte Nagellack. Die verlegene Pose mit gesenktem Kopf, weit offenen nach oben blickenden Augen, der Hand fast vor dem Mund signalisieren einen »Upps!«-Moment gestellter Peinlichkeit, denn eine Adolf-Hitler-Kostümierung ist nicht grade political correct. Die durch den Bart bezweckte Verwandlung stellt weder eine Betonung der Weiblichkeit dar, noch ist hier eine überzeugende Männerinszenierung vorzufinden; die bärtige Männlichkeit dient auch hier lediglich zu humoristischen Zwecken.
5.2.3 Bärtige Mann-Werdungen Nachdem bei der letztbearbeiteten Kategorie ein weibliches Aussehen immer noch im Vordergrund stand oder sogar durch das Tragen eines Bartes betont wurde, soll an dieser Stelle eine andere Art der Kategorisierung unternommen werden, in der Frauen sich als Mann inszenieren und damit das ihnen zugewiesene Geschlecht dekonstruieren.
Abbildung 16: Ksen. flickr.com
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Als ein solches Beispiel kann das Foto von »ksen« mit dem Titel »drag: pleased« aufgeführt werden: Das Selbstportrait ist auch dieses Mal wieder von einem erhobenen Winkel aus fotografiert, wahrscheinlich, weil es sich auch dabei um ein arm’s length self portrait handelt. Der Kopf ist um 40 Grad vom Körper weg zur Kamera gedreht. Der Anschnitt des nahezu quadratischen Fotos reicht von der Stirn bis zum oberen Viertel des Oberkörpers. Als erstes fallen dem Betrachter die großen braunen Augen auf, die den diesen unmittelbar anblicken. Dieses Foto ist mit integriertem Kamerablitz aufgenommen und die Pupillen sind um einiges kleiner, als die von »topupthetea«, fixieren aber den Bild-Rezipienten mit einem ähnlichen Ausmaß an Intensität. Durch die Verwendung des Blitzes mangelt es dem Bild an perspektivischer Tiefe und die oberen Zweidrittel des Gesichtes wirken sehr hell, fast Weiß. Das Gesicht wirft einen kleinen, harten Schatten auf den weißen, ungebügelten Hemdkragen, der aus dem schwarzen runden Kragen des Pullovers hervorragt. Die nackenlangen, intensiv durchgestuften Haare wirken, ebenso wie die buschigen zerzausten Augenbrauen dunkel. Schließlich trägt die Autorin einen kleinen kurzen Bart, der zu den Mundwinkeln mit leichtem Bogen ausläuft und in der Mitte der Nasenachse eine 5mm kleine, zentral gelegene Lücke aufweist. Insgesamt präsentiert sich das Portrait als eine gelungene bubenhafte Darstellung, die gleichzeitig von legerem chic gekennzeichnet ist. Es sind keine weiblichen Körperformen zu erkennen, kein Make-Up um die Augen an Wimpern oder im Gesicht. Auch die Augenbrauen wirken durch ihre enorme Dichte, Größe und Ungepflegtheit klassisch männlich. Hinzu kommt der Gesichtsausdruck, der zwischen Ernsthaftigkeit und Ausdruckslosigkeit liegt und somit auch als klassisch männlich gegendert gelesen werden kann.426 Als einziger im wahrsten Sinne des Wortes irritierender Punkt innerhalb des Bildes kann ihr Nasenring gesehen werden, bei dem es sich um einen punktgroßen, silbernen Stecker handelt, der in unserer Gesellschaft, vor allem wenn es ein Stecker und kein Ring ist, als typisch weiblich angesehen wird. Dies ist der Autorin zwar nicht bewusst, wie aus der Diskussion innerhalb des Flickr-Kommentars hervorgeht, löst aber erst die Ambiguität aus, die eine wirklich interessante Fotografie zu erzeugen vermag und macht die Dargestellte zu einem »Drag King«427, worauf bereits der Titel des Fotos hinweist. Ein Bruch der den Betrachter
—————— 426 Ebd., S. 80. 427 In diesem Fall für »Dressed as a guy«.
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nicht einfach akzeptieren lässt, dass es sich bei der Abgebildeten um einen Mann handelt, sondern der »Gender Trouble« erzeugt und damit eine Dekonstruktion durch Verwirrung des Geschlechts auszulösen vermag. Eine ebenso große Verwirrung der binären Geschlechterordnung vermag der Flickr-User »philippe leroyer« mit seiner als »ExisTrans’ (53) – 06Oct07, Paris (France)«428 titulierten Fotografie auszulösen: Bei dieser handelt es sich zum ersten Mal innerhalb der hier verwendeten Bilder um kein Selbstportrait, sondern um eine Fotografie, welche nach dem Titel zu urteilen auf der »L’Existrans« einer ziehenden Straßenveranstaltung für Transsexuelle in Paris zu lokalisieren ist.
Abbildung 17: Philippe Leroyer @ ExisTrans’. flickr.com Das festgesetzte Geschlecht verschwimmt bei der abgebildeten Person so sehr, das eine Verortung innerhalb des für diesen Text festgesetzten Themenkomplexes von bärtiger Weiblichkeit selbst zum Problem wird. Denn handelt es sich beim biologischen Geschlecht der dargestellten Person um einen Mann, so wäre genau genommen das Thema des Aufsatzes verfehlt. Die Lösung dieses Problems liegt in genau der Intension dieses Textes und des dahinter stehenden Autoren, nämlich Geschlecht zu dekonstruieren. Das biologische Geschlecht der auf dem Bild festgehaltenen Person ist dabei von geringerer Bedeutung als ihr Gender, was mit Ausnahme des Bartes als eindeutig weiblich festzusetzen ist. Die Sonnenbrille, welche die grade durch sie hindurch schimmernden getuschten Wimpern verbirgt,
—————— 428 http://www.flickr.com/photos/philippeleroyer/1502844348/
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wirkt dabei ebenso wie eine Maskierung, wie Arthur Schopenhauers Kommentar der einst den Bart »als halbe Maske, polizeilich verboten«429 sehen wollte. Die langen dunkelbraunen Haare, die im Gesicht in einem seitlich gekämmten Pony enden wirken ebenso weiblich, wie das recht helle Make-Up im Gesicht der abgebildeten Person. Auch der weit ausgeschnittene schwarz-weiß geringelte Pullover und ein darunter hervor blitzender Tigermuster-BH sind weiblich konnotiert. Lediglich die große Nase wirkt klassisch maskulin wie der Bart, bei dem nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann ob er natürlich gewachsen oder mit Hilfe einzelner künstlicher oder auch echter Barthaare aufgeklebt ist. Alles in allem handelt es sich aber bei der abgebildeten Person um eine »queere« Erscheinung, die mit Hilfe ihres Bartes Geschlecht zu dekonstruieren vermag.
5.3 Dimensionen der Abweichung Die Frau mit Bart durchzieht also als shifting image die verschiedenen popkulturellen Medien von Cover-Art, zum Musikvideo auf YouTube bis hin zur medialen Selbstinszenierung für die die Plattform Flickr. Der Bart steht dabei als Signifikant für sexuelle männliche Potenz, Macht, Rang, Reife, Stand und Wissen. Das Forum wird so von UserInnen genutzt um sich über die Dimension des Bildes (nicht zuletzt des Selbstportraits) mit Dimensionen von Weiblichkeit auseinanderzusetzen und diese nicht selten bewusst zu unterwandern. Das Spektrum solcher Inszenierungen ist dabei, wie es hier entlang des Motivs gezeigt wurde nicht selten sehr heterogen. Im weiteren Verlauf der Beschäftigung sollen deshalb, unabhängig von einzelnen Schlüsselbildern, wie das der Popgeste der bärtigen Frau, verschiedene charakteristische Inszenierungspraktiken beobachtet und beschrieben werden, die weibliche Subversionspotentiale, im Eingangs beschriebenen Sinne aufzuweisen scheinen. Dabei weitet sich der Blick von Flickr, als einer Plattform für unbewegte Bilder im Web 2.0. auf verschiedenen anderen Medien die sich in dem virtuellen Raum den das Internet bildet präsentieren und die sich, besonders für Jugendliche, als Werkzeuge und Spielplätze der Selbstinszenierung zur Verfügung stellen.
—————— 429 Winkler, Thomas (2006), Hippie-Revival. Musik mit Bart, Spiegel Online. http://www. spiegel.de/kultur/musik/0,1518,447258,00.html
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Besonderes Augenmerk wird dabei im Folgenden auf die Web-Communitys MySpace und YouTube gelegt werden und die hier dominierenden Medien, die sich in Form des Nutzerprofils auf MySpace, das diverse Gestaltungsmöglichkeiten durch die User zulässt, sowie dem Musikvideo auf YouTube, das als Ausgangspunkt und Schnittstelle einen nicht unerheblichen Beitrag zur der Beweglichkeit der Bilder im Web 2.0 leistet, darstellen.
5.3.1 Aggressiv: Der weibliche Protestkörper Untersucht man die diversen Darstellungskonventionen die sich auf MySpace im Bezug auf die Darstellung von Frauen finden, fallen besonders Aufsehen erregende Strategien der Inszenierung ins Auge. Zunächst soll hier eine solche am Beispiel der Selbsinszenierung der Hiphop-Musikerin Lady »Bitch« Ray gezeigt werden, die versucht, durch die gezielt offensive Sexualisierung des weiblichen Körpers eine Reaktion des Betrachters einzufordern, die den widerständigen Status des gezeigten Bildes rechtfertigt. Sexuell-offensiv Anhand des offiziellen MySpace-Profils von Lady »Bitch« Ray wirdversucht, eine ironisierte Überzeichnung des klassischen Bildrepertoirs der Darstellung von Weiblichkeit im Hip Hop-Kontext, auf der Bildebene sichtbar zu machen. Das MySpace-Profil wurde zu diesem Zweck customized. Die Erweiterungen beziehen sich auf das Einbeziehen eines großen Fotos, das Lady Ray zeigt und eine Werbung für eine Veröffentlichung darstellt, und den dunklen Hintergrund, vor dem in kursiver Schrift »Vagina Style« zu lesen ist. Zudem wurde der Kontaktbereich modifiziert und die ursprünglichen Bezeichnungen durch sexualisierte ersetzt. »Send Message« ist hier »Loveletter«, »Add to Friends« ist »Fuck Me« und der Link »Add to Group« ist als »Gangbang« angegeben. Die große Abbildung zeigt Lady Ray auf einem Flokati hockend in leichter Untersicht fotografiert. Sie trägt ein schwarzes Negligé, welches in einer Dreiecksform nach unten zusammenläuft. Diagonal dazu läuft um den Bauch ein schwarzer Gürtel aus demselben Material. Das Kleidungsstück ist um das Dekoltée geschlossen. Die Brüste zeichnen sich leicht
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unter dem Material ab. Die V-Form des Kleidungsstücks macht den äußeren Bauchbereich sichtbar. Die Beine sind nicht bedeckt. An den Füssen befinden sich weiße High-Heels. Lady Ray trägt an Hals, Ohren und Händen Schmuck. An der Halskette hängt ein großer, mit Brillianten besetzter, Anhänger, der ihren Namen zeigt. Die Augen sind dunkel geschminkt, die Lippen rot. Lady Ray präsentiert auf diesem Bild (und auch auf den anderen Bildern der Bildrubrik ihres MySpace-Profils) eine hypersexualisierte Weiblichkeit, die einerseits in ihrer Attitüde einem weiblichen Machismo Rechnung trägt, sich aber andererseits des Hip Hop-Fundus an Weiblichkeitsklischees bedient und somit klassische Stereotype unterstützt. Es geht also scheinbar weniger, um eine globale Kritik am Frauenbild des Hip Hops selbst, sondern um eine Form der Selbstermächtigung innerhalb dessen Bildwelten. Die offensive Pose und der direkte Blick, können als weibliche Variante einer popkulturellen Geste gedeutet werden, die Susan Bordo, in ihrer Analyse von Männerbildern in der Werbung, als »Rock«, bzw. »Faceoff masculinity«430 bezeichnet: ein sich frontal zur Kamera Richten und dem Rezipienten in überlegener Pose Gegenüberstehen. Dieser Effekt wird bei dem Bild von Lady Ray durch die Untersicht der Aufnahme verstärkt. Ihr extrem sexualisiertes Auftreten zeigt so den Versuch, gängige Stereotypen zu überzeichen, zu invertieren und neu lesbar zu machen. Die Schwierigkeit, diese Strategie auf der Bildebene zu vermitteln, besteht hier darin, dass die stereotypen Bilder von Weiblichkeit auf die sich Lady Ray bezieht431 sich bereits so stark überzeichnet und comichaft gestalten, dass der Versuch der Widerständigkeit, nur eine weitere Facette einer sexualisierten und stereotypen Weiblichkeit zu ergeben scheint. Ein weiteres Bild von Lady Ray, welches sich ebenfalls auf ihrem MySpace-Profil finden lässt, ist die Nachahmung eines bekannten Portraits, das der Fotograf David Lachapelle von Lil Kim aufgenommen hat. Die
—————— 430 »Overall, these ads depict what i would describe as »face-off masculinity«, in which victory goes to the dominant contestant in a game of will against will. Who can stare the other man down? Who will avert his eyes first? Whose gaze will be triumphant?«[Bordo, Susan (1999), The Male Body, New York, S. 186]. 431 Butler spricht, bei der Parodie als Strategie zur Subversion bestehender Gender-Stereotypen, nicht von der parodierten Kopie eines Originals, sondern von einer Kopie, die zu einer Kopie in Relation steht. Die Idee des Originals offenbart nur, dass sie »nichts anderes als eine Parodie der Idee des Natürlichen und Ursprünglichen ist«. [Butler, Judith (2009), Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt, S. 58].
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Bildvorlage zeigt die Rapperin Lil Kim deren nackter Körper mit dem Logo des Taschenherstellers Louis Vitton im Stil eines klassischen Taschenmodells der genannten Marke bedruckt ist. Ihre Hände bedecken die primären Geschlechtsmerkmale, während der Po seitlich herausgestreckt wird. Der Blick ist in die Linse der Kamera gerichtet. Unter der Kopfbedeckung, die als einziges Kleidungsstück ebenfalls mit den Louis Vitton Logos bedruckt ist, hängt eine blonde Strähne über Lil Kims Gesicht. Lady Rays Nachahmung zeigt sie mit gleicher Körperhaltung, nur dass die Pose Spiegelverkehrt inszeniert wurde und der Bildhintergrund eine andere Farbe hat. Der nackte Körper, bei dem die Hände wieder die Geschlechtsmerkmale verdecken, ist hier jedoch mit dem Logo von Lady Rays eigener Marke »Pussy Deluxe« bedruckt. Das Logo stellt eine eine Adaption der »Rolling Stones-Zunge« dar, die von zwei gespreizten Frauenfingern umrahmtwird. Ebenfalls richtet Lady Ray ihren Blick direkt in die Kamera. Diese Adaption ist als Pastiche zu beschreiben: Anders als bei der Parodie, der das Humoristische und Satirische inhärent ist, ist das Pastiche in ihrer Nachahmung eine neutrale Praxis, oder, wie es Fredèric Jamesons beschreibt: »eine Parodie, die ihren Humor eingebüsst hat«.432 Es handelt sich hier also um eine Form des Bildsampling, bei dem das Motiv sich zu eigen gemacht und modifiziert wird. Diese Praxis des Customizing dient der Präsentation einer individualisierten Nachahmung, deren Gestus und Bildinhalt sich einen schon bekannten Bildrepertoire aneignet. Wie Judith Butler bemerkt, ist Parodie an sich nicht subversiv. Nur bestimmte Formen parodistischer Wiederholung wirkten störend und erzeilten so ein spezifisches Subversionspotential.433 Ebenso verhält es sich mit dem Pastiche: Die Nachahmung an sich ist noch nicht widerständig, wenn sie nicht eine Erweiterung des Bildrepertoires bedeutet und Reibung zum Original erzeugt. Die Selbstermächtigung über die Aneignung der Darstellung funktioniert bei diesem Beispiel nur teilweise. Das zur Schaustellen des eigenen Markenlogos auf dem Starkörper, als Transformation der im Original persiflierten Konsumpraxen in der Hip Hop-Kultur, zeigt eine Abkehr von der Fremdbestimmtheit anderer Marken und setzt sich selber als Star und Marke in den Vordergrund; eine Selbstvermarktung durch das Aufgreifen bereits bekannter Bildrepertoires und deren Erweiterung.
—————— 432 Jameson, Fredric (1991), Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham. 433 Ebd., S. 204.
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Die ironisch-reflektierte Distanz des Originals geht dabei allerdings verloren. Der scheinbar emanzipatorische Akt der Selbstdarstellung Lady Rays ist viel eindeutiger und weniger ambivalent als die Darstellung Lil Kims, bei der die Übertreibung stereotyper Gesten und Handlungen einer Selbstparodie gleichkommt, die dem gängigen und weitgehend ironiefreien Hip Hop-Gestus entgegensteht. Die hypersexualisierte Pose die Lady Ray anstrebt wird auf ihrem MySpace-Profil über verschiedene Strategien deutlich und sichtbar gemacht. Ein widerständiger Gestus, als Kritik der Fremdbestimmung von Frauen, wie er auf der Textebene des Profils deutlich wird434, bleibt dabei auf der Bildebene des Profils lediglich diffus. Es bedarf der erweiterten Bildrubrik, die dem MySpace-Profil untergeordnet ist, um Potentiale von Widerständigkeit sichtbar zu machen. Doch in anbetracht dieser zeigt sich die Schwierigkeit, gängige Stereotypen zu überzeichnen, um so die Konstruktion von Geschlecht sichtbar zumachen, ohne diese Stereotypen dabei nur zu reproduzieren. Aggressiv-unheimlich Als Stilmittel eingesetzte Formen weiblicher Agression finden sich häufig bei weiblichen Punk-, Metal- oder Hardcorebands (oder bei Bands dieser Genre, die weibliche Bandmitglieder haben). Dabei lassen sich Unterschiede in der Darstellung ästhetisierter Agressivität und dem über diese vermittelten Weiblichkeitsbild feststellen. Das offizielle MySpace-Profil, der Band Plasmatics, die 1979 gegründet wurde und sich 1983 wieder auflöste, zeigt beispielsweise eine klassische Punk-Ästhetik. Wie auch das von Lady Bitch Ray wurde das Profil der Plasmatics customized. Dabei wurde dem Grundprofil ein Hintergrundfoto hinzugefügt, das eine Collage von Fotos der Plasmatics zeigt. Die Wirkung die so von dem MySpace-Profil erzeugt wird gestaltet sich durch das Hintergrundbild, auf dem sich Profilfoto, Mediaplayer (welcher auch immer ein Foto zu dem jeweiligen Track, der abgespielt wird, zeigt) sowie Informationen über die Band befinden, chaotisch und unprofessionell, und verstärkt so gezielt die angestrebte Punk-Ästhetik. Das Profilfoto zeigt die Sängerin Wendy O. Williams in Kampfkluft und mit großem blondiertem Mohawk. Sie steht seitlich zur Kamera und blickt nach links aus dem Bild. Ihr linker Arm ist angewinkelt und an ihrer
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434 Z.B. durch verschiedene Posts im Blog oder die »10 Gebote des Vagina Styles«
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Hüfte abgestützt, der rechte ist zum oberen Bildrand ausgestreckt, die Hand zur Faust geballt. Ihre Kleidung ist schwarz und zerrissen. Eine Art Lendenschurz aus Leder liegt um ihre Hüften, darüber ein Nietengürtel und eine Kette aus Metall, die nach unten hängt. Der Oberkörper wird von einem zerrissenen schwarzen Top nur wenig bedeckt. Bauch und Schultern liegen frei. Wendy O. Williams trägt schwarze, fingerfreie Lederhandschuhe. Die Ellenbogen sind mit überlangen Nägeln verziert, die wie Nieten nach aussen stehen. Der Bildhintergrund ist dunkel. Vor schwarzem Hintergrund befindet sich am rechten Bildrand eine besprühte Wand, den linken Bildrand füllt nach oben steigender Rauch. Das Bandlogo der Plasmatics befindet sich auf Höhe der ausgestreckten Arms. Die Figur Wendy O. Williams wurde mit Hilfe von Bildbearbeitungsverfahren aus der Aufnahme einer Liveperformance der Plasmatics freigestellt und vor dem Logo plaziert. Ihr Mohawk und der gestreckte Arm mit der geballten Faust verbinden sich so mit dem Logo vor dem sie sich befinden. Oberhalb des Logos steht in roter Schrift »Official«, was darauf verweist, dass das MySpace-Profil das offizielle, von der Abnd authorisierte darstellt. Als programmatisches Motto lässt sich die im Schwarzbereich der Bildmitte, links von Wendy O. Williams Körper, grüne Schrift »Undermine the Status Quo« verstehen. Styling und Bühnenkulisse vermitteln eine dystopische Science-Fiction-Ästhetik im Sinne von Mad Max. Das körperlich-kriegerische Frauenbild und der rebellische Gestus von Wendy O. Williams sind dabei immer als bewusste Inszenierung erkennbar. Im Vergleich mit der theatrischen Science-Fiction-Punk-Ästhetik der Plasmatics, bedient sich die Black Metal-Band Demonic Christ, bei der Sängerin und Gitarristin Satania einziges festes Bandmitglied ist, den Black Metal-typischen Insignien, die sich auch auf dem MySpace-Profil als Visualisierungen finden. Auch dieses Profil von Demonic Christ wurde customizied und ist komplett in schwarz gehalten. Den Hintergrund bildet eine graue Zeichnung auf schwarzem Grund, die ein schwer erkennbares okkultes Motiv zeigt. Und auch das Profilfoto gestaltet sich in Form einer Zeichnung auf schwarzen Grund. Das dargestellte Wesen hat Teufelshörner, große, fledermausartige Flügel und einen langen Schwanz. Die muskulösen Arme halten ein umgedrehtes wie eine Waffe nach unten gerichtetes Kreuz, um das sich der Schwanz des Wesens windet. Oberhalb dieser Figur befindet sich das Logo der Band, bei dem die Worte »Demonic« und »Christ« übereinander positioniert sind. Auch diese markiert in der Mitte des diffusen Schriftzugs ein umgedrehtes Kreuz. Ein
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weiteres Motiv, dass sich in die Reihe der okkulten Symbolik einfügt findet sich auf dem Display des integrierten Mediaplayers. Dieses zeigt ein eine verschlungene, pentagrammähnliche Figur, die ein weiteres umgedrehtes Kreuz und ein Pentagramm umfasst. Neben dieser Anzahl an Grafiken befindet sich schließlich auf der linken Seite des MySpace-Profils, unterhalb der Bandinformationen, ein Foto der Musikerin Satania. Das Bild, das frontal aufgenommen wurde, zeigt Satania mit langen, dunkelblonden, ins Gesicht fallenden Haaren Dieses ist im Black Metal typischen corpse paint-Stil blass grundiert, während die Augenpartie und der Mund schwarz hervorgehoben wurden. Die geschwärzten Partien gehen so im Dunkel der Beleuchtung unter und lassen das Gesicht der Sängerin zur dämonischen Fratze werden. Satania ist schwarz gekleidet. Ihre Unterarme sind mit großen Nietenarmbändern bestückt. Auf der Brust hängt ein großes, silbernes, umgedrehtes Kreuz, um ihre Schultern eine Gitarre, deren Griffbrett wiederum mit umgedrehten Kreuzen verziert ist. Satanias Blick ist nach links abgewand. Das Bild zeigt die Musikerin in einer Performance-Situation und ist etwas zu dunkel und rotstichig, wodurch viele Bildinformationen verloren gehen. Die Inszenierung Satanias ist nicht geschlechtsspezifisch konnotiert. Die sonst fast ausschliesslich männlichen Musiker im Black Metal unterscheiden sich in ihrem Outfit, Style und Gestus kaum von der Musikerin, denn selbst die langen Haare sind in der Heavy Metal-Kultur gänig und kein Hinweis auf Weiblichkeit. Die authentische Geste der weiblichen Black Metal Musikerin wird hier also nicht über die Verbildlichung von Differenz erreicht, sondern über das Erfüllen von szenespezifischen Stilkanon und Symbolik, ohne überhaupt auf das Geschlecht der Dargetsellten zu verweisen. So wird auch der amazonenhafte Stereotyp, der sich sonst bei weiblichen Musikerinnen in diesem genre beobachten lässt, außer Acht gelassen. Weiblichkeit bleibt unsichtbar. Das aggressive Potential des Black Metal selbst genügt, um eine Distinktionsgeste von gängigen Weiblichkeitsstereotypen zu vollziehen. Unheimlich-monströse Weiblichkeit funktioniert hier über die Distanzierung von Weiblichkeit selbst. Das Unheimliche ist »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«. Es ist die visualisierte Todesmetapher, die hier das Unheimliche erzeugen soll, weil »im allerhöchsten Grade« vielen Menschen das unheimlich erscheint, »was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern
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und Gespenstern, zusammenhängt«.435 Unbehagen und Unheimlichkeit wird so, in anbetracht der Schwärze des Bildes und einzelner Körper- und Gesichtspartien, durch das Verbergen des lebendigen Körpers und das Sichtbarmachen des »Schädels« als Totenmaske erzeugt. Dieser Todesbezug wird dabei geschlechtsneutral inszeniert.436 Als dritte Variante einer weiblichen aggressiven Geste kann das MySpace-Profil der Band »Walls Of Jericho« betrachtet werden. Das Profil wurde professionell customized und um ein großes Bandfoto erweitert, das zur Werbung für ein neu veröffentlichtes Album dient. Das Bild, welches den ganzen oberen Profilbereich ausfüllt ersetzt das Profilfoto. Der Kontaktbereich wurde in das Bild embedded. Es zeigt die fünf Bandmitglieder: mittig positioniert die Sängerin der Band, rechts und links von ihr jeweils zwei der männlichen Musiker etwas hinter ihr stehend. Die Sängerin steht frontal zur Kamera, ihr Blick fokussiert diese. Die Augen sind dunkel (»smokey eyes«) und die Lippen rot-braun geschminkt. Der Kopf ist leicht angehoben, das dunkel-rote, gestufte Haar ist etwas über schulterlang. Ihr Pony ist gerade geschnitten und endet über der Augenpartie. Sie trägt ein weißes Tanktop mit dunklem Print. Ihre Schultern sind leicht zurückgezogen und ihre stark tätowierten Arme sind nach unten gerichtet. Das hier präsentierte Frauenbild entspricht einerseits den gängigen Bildkonventionen der Hardcore-Szene, der diese Band zuzuordnen ist: Tattoos und sportive Kleidung gehören zum Darstellungsrepertoire. Andererseits wird hier Weiblichkeit weder negiert, noch übersexualisiert und körperbetont in den Vordergrund gestellt. Die Darstellung wirkt selbstsicher, jedoch gemäßigt. Vergleicht man die Abbildung der Sängerin von »Walls Of Jericho« mit der von Wendy O. Williams, die sehr körperlichaggressiv wirkt, oder mit Satania, bei der Signifikanten von Weiblichkeit verschwinden, so lebt die Abgrenzung hier vom vermischen szenetypischer Referenzen und einer »klassischen« Weiblichkeit. Aggessivität wird, ähnlich wie am Beispiel aus dem Metal-Bereich über den stilistischen Szenebezug, wie Tätowierungen, Auftreten und Szenebezug kommuniziert, so dass sich eine aggressive Weiblichkeit im Bild, scheinbar gar nicht mehr aggressiv gebärden muss.
—————— 435 Freud, Sigmund (2000), Das Unheimliche, in: Psychologische Schriften, Bd. IV, Frankfurt am Main, S. 264. 436 Zu Abweichungsstrategien im Black Metal, vgl. auch Grünwald, Jan., Male Spacing, Unveröffentlichtes Manuskript 2010.
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Bei der Beschäftigung mit vergleichbaren Formen aggressiver Weiblichkeit, wie sie sich auf YouTube finden, scheint zunächst, ähnliche wie es anhand der Recherche auf MySpace deutlich wurde, insbesondere der, sich als szenegebunden präsentierende musikkulturelle Kontext dafür geeignet, abweichende Formen und Äußerungsinstanzen zu liefern. Gerade das abwertende Stigma des niedlichen und artigen Mädchens wird hier durch die musikalischen Vertreterinnen der Riot-Grrrl-Bewegung und ihrer popkulturellen Erbinnen zunächst, in der Selbstbennenung sprachlich, wie sich zeigen wird jedoch auch in unterschiedlichen Formen auf der Bildebene, aufgegriffen und modifiziert.437 Häufig, und wie an dem folgenden Beispiel für eine aggressiv-unheimliche Inszenierung des weiblichen Körpers gezeigt werden wird, schwingt bei den Riot Grrrl-Bands eine »Puppenmotivik« mit: In Kombination mit schweren Lederboots und aggressivem Make-Up, tragen einige Musikerinnen unschuldige, dabei häufig zerrissene Puppenkleider. Musikerinnen wie Courtney Love oder Kat Bjelland kreierten damit gezielt ein KinderwhoreImage.438 Grundsätzlich laufen in dem Motiv der Puppe mehrere Themenstränge zusammen: Inszenierungen des Fragmentarischen, Momente des Subtilen und Aspekte des Politischen finden sich hier wieder. Der Einsatz dieses Puppenkörpers im Sinne einer Inszenierung aggressiver und unheimlicher Weiblichkeit wird besonders anhand seiner Darstellung im Rahmen des auf YouTube zu findenden Musikvideos der Band »Babes in Toyland« mit dem Titel »he’s my thing« deutlich. Das Musikvideo setzt ausschließlich Schwarzweißaufnahmen ein, um Live-Inszenierungen eines Band-Gigs mit filmischen Stopptrick-Animationen von Puppen zu verzahnen. Bereits der Bandname »Babes in Toyland« deutet auf Puppengestalten sowie das (ernste) Spiel mit Verwüstung hin. Das Musikvideo »he’s my
—————— 437 »Grrrl bringt das Knurren zurück in unsere Miezekatzekehlen. Grrrl zielt darauf, die ungezogenen, selbstsicheren und neugierigen Zehnjährigen in uns wieder aufzuwecken, die wir waren, bevor uns die Gesellschaft klar machte, daß es an der Zeit sei, nicht mehr laut zu sein und Jungs zu spielen, sondern sich darauf zu konzentrieren, ein »girl« zu werden, das heißt eine anständige Lady, die die Jungs später mögen würden.« [Gilbert, Laurel/Kile, Crystal (1997), SurferGrrrls, in: SPoKK (Hg.), Kursbuch JugendKultur. Stile, Szenen und Identitäten vor der Jahrtausendwende, Mannheim, S. 222]. 438 »Kinderwhore was an image used by a handful of American female punk rock bands in the early/mid 1990s. The kinderwhore look consisted of torn, ripped babydoll dresses or nighties, heavy makeup, leather boots, and crucially, patent leather »Mary-Jane« shoes (the kind favored by 3- to 10-year-old girls) of various colors and exposed cleavage« http://en.wikipedia.org/wiki/Kinderwhore
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thing« betont hierbei vor allem das »toyland«, das heißt die Ebene der Spielfiguren respektive die Sphäre der Puppen – dem stehen die »babes«, die weiblichen Bandmitglieder, die zwar für eine Dynamisierung des Geschehens sorgen, selbst aber in keinem fiktiven Setting agieren, gegenüber. Im Video kaum mit Musikinstrumenten im Bild zu sehen, scheinen diese vielmehr selbst zu Instrumenten der Expression von Aggressivität, Energie und Dynamik geworden zu sein: Ähnlich einer Videoinstallation von weiblichen Körperfragmenten439 lösen sich hier die einzelnen Musikerinnen zu Überblendungen von Haaren, Mündern und Gesichtern auf und ergeben so den Kollektivkörper der tranceartigen Musikerin, die sich vollends in ihrem Spiel »austobt«. Gerade das obsessiv zerzauste Haar drückt eine Form von Kollektivität aus, die mit Ungebändigtsein und Grenzenlosigkeit einhergeht: »[…] die Vermischung von Männern und Frauen zu langhaarigen, zotteligen Schimären zeigt deutlich an, dass etwas kollabiert und aus der Fassung geraten ist, dass Vorstellungen humanistischer Individualität und Subjektivität, vor allem aber auch von vernunftorientierter Männlichkeit etwas Anderem, Kollektiven gewichen sind.«440
Diese Ebene des Musikerinnen-Körpers bildet eine eigenwillige Sphäre von weiblicher Selbstermächtigung via Stimm- und Körperausdruck, die nicht auf eine Zurschaustellung von Erotik hin angelegt ist. Es bildet über dieses Mittel vielmehr eine Ästhetik der Devianz heraus, die das Fragmentarische nicht zur Vorbereitung von sexuellen oder pornografischen Körperinszenierungen einsetzt, sondern zu aggressiv-lustvollen Spiegelungen jener Bösartigkeit, die sich auf der Ebene der Puppenkörper abspielt. Auf rein visueller Ebene lassen sich zwei Parallelen zwischen den Inszenierungen des »Frauenkörpers« und des »Puppenkörpers« beobachten: Zunächst werden beide durchgängig in Schwarzweiß-Kontrasten vorgeführt, wenn auch bei den Musikerinnen mehr Graustufen und Unschärfen, bei den Puppen dramatische Schärfen und Ausleuchtungen vorherrschen, die die narrative Dominanz des Puppen-Geschehens unterstreichen. Zudem existiert zotteliges blondes Haar sowohl bei der Leadsängerin als auch bei der ebenfalls im Mittelpunkt stehenden blonden Puppe – hier liegt die
—————— 439 Z.B. Videoinstallationen von Ulrike Rosenbach oder Friederike Petzold. 440 Volkart, Yvonne: Monströse Körper: Der verrückte Geschlechtskörper als Schauplatz monströser Subjektverhältnisse, in: www.medienkunstnetz.de/themen/cyborg_bodies/monstroese_ koerper
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Visualisierung eines Alter Ego durch die Puppe und deren Ungezähmtheit nahe. Von größerer Bedeutung sind jedoch die unterschiedlichen Puppengestalten und deren magisch-destruktiven Handlungen. Zentral erscheint hier die blonde Puppe. Von Anfang an steht sie im Fokus des Geschehens, wenn sie wie in einem Horrorfilm allein inmitten eines dunklen Raumes thront. Der wilde Haarschopf, die Nacktheit der Figur und ihr großer Schlagschatten zum Publikum hin signalisieren Trotz, Ungebundenheit und ein (dunkles) Eigenleben. Dass die Puppe dabei trotz ihrer blonden Haare keinesfalls auf Niedlichkeit hin angelegt ist, zeigt der Vergleich mit anderen Puppengestalt, einer Porzellanpuppe: Die blonde Puppe wirkt emotionslos, mit wirrem Haar und tief in den Augenhöhlen liegenden, schwarzumrandeten Augen, während die Porzellanpuppe ein vollbackiges, lächelndes Gesicht besitzt und »artig« mit einem Rüschenhemdchen bekleidet ist. So sind auch im weiteren Verlauf die weiblichen Täter-OpferRollen klar verteilt: Wie eine Henkerin, lässt die stehende blonde Puppe ihr Beil auf die liegende Porzellanpuppe niedersausen– eine Großaufnahme zeigt die unbarmherzige Zerteilung durch Abtrennung eines Beines. Bei diesem minutiösen Gewaltakt wird der weibliche Körper als Schlachtfeld inszeniert. Allerdings geschieht dies in einer Doppelrolle: Gewalt wird sowohl vom konventionellen weiblichen Körper erlitten als auch durch den devianten weiblichen Körper ausgeübt. In diesem rabiaten Ritual wird nicht nur eine weibliche Figur als Täterin zelebriert, sondern auch schonungslos die Brutalität im Umgang von weiblichen Wesen untereinander gezeigt. Fragmentierung wird hier nicht als kreative ästhetische Option vorgeführt, sondern als monströse Ermächtigung, die sich in einem offensiven Akt weiblicher Malignität äußert. Das Video setzt so auf eine ästhetische Wirkung zwischen Faszination und Grauen, ohne auf mitfühlende Gefühlsregungen zu bauen. In dieser Form der Inszenierung von weiblicher Boshaftigkeit spielen weder Gewissensbisse, Schuldgefühle noch Raserei eine Rolle. Gerade durch die Wahl der starren Puppenkörper ist es möglich, die Brutalität der Taten auf sehr lakonische Weise zu zeigen und damit das Grauen zu steigern. Es handelt sich so um eine Verschränkung der beiden Motive: dem kollektiven Frauenkörper der ekstatischen Bandmitglieder und dem Puppenkörper als einer subtilen Umsetzung des Motivs aggressiv-unheimlicher Weiblichkeit. So entwickelt sich eine maliziöse Feier in der Boshaftigkeit
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zum selbstgewählten, weiblichen Fetisch wird, bei dem sich aggressive Ermächtigungen von Erschaffung und Vernichtung entfalten können.
5.3.2 Der postsexuelle Körper Wie bereits in der einleitenden Auseinandersetzung mit dem Motiv der bärtigen Frauen, wie sie sich auf der Foto-Plattform Flickr finden, deutlich wurde, hat die Inszenierung weiblicher Abweichung häufig eine Dimension die über die Darstellung unspezifischer und sexuell ambiquer Geschlechtlichkeit die gewünschte Wirkung eines Widerstehens der Bilder erzeugt. Unter der Kategorie der »bärtigen Mannwerdung« wird diese Vorgehensweise weiter oben teilweise vorweggenommen. Hier wurde in der Besprechung fotografischer Beispiele, wie sie Flickr-UserInnen ins Netz stellten, bereits auf existierende Bezugsbilder verwiesen, die eine mediale Musikkultur im Internet zum Teil einer sehr speziellen Bildkonvention werden lässt. Erwähnt wurde hier das Video der Frauenband »CocoRosie«, dass die eine der zwei Protagonistinnen mit einem feinen aufgezeichneten Schnurrbart als jungen, femininen Soldaten inszeniert, aber auch das Plattencover der Electro-Clash Ikone »Peaches«, die sich mit einem an Abraham Lincoln erinnenden Vollbart auf ihrem Album »Fatherfucker« präsentiert. Neben diesen Beispielen wurde bereits auf die Musikerin JD Samson von »Le Tigre« verwiesen, die sich mit einer bewussten Aussparung weiblicher Attribute präsentiert. Ein nicht zu unterschätzendes Element einer solchen ambiquen Selbstdarstellung stellt in ihrem Fall ein flaumiger Damenbart dar, der als deutlicher dunkler Schatten ihre Oberlippe bedeckt. Die jungenhaft-nerdige Inszenierung von JD Samsons soll hier Ausgangspunkt einer vertiefenden Darstellung der Kategorie sein, die unter dem Begriff der queeren oder ambiquen Weiblichkeit über ein Abweichungspotential verfügt und damit, als ästhetische Strategie das Widerstehen des Bildes auf den Plattformen des Web 2.0 in immer neuen Formen gewährleistet. Wieder soll für eine Vertiefung des Motivs auf das Bildmaterial zurückgegriffen werden, dass sich auf dem Videoportal YouTube im Internet findet. Als zweite Ausprägung von widerständigen Bildern von Weiblichkeit lässt sich hier das Motiv des postsexuellen Körpers erkennen, dessen Erotisierung rein mechanisch erzeugt wird und dessen wandelbare Physis
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lediglich zu inszenatorischen Zwecken zum Einsatz kommt. Als eine Auswirkung der Verschiebung von sexuellen Bedeutungsaufladungen, lässt sich der postsexuelle Körper zwar in Typologien auffächern, befindet sich dabei selbst jedoch jenseits von geschlechtlichen Eindeutigkeiten. Die Inszenierungen des postsexuellen Körpers setzen somit das Konstrukt von Weiblichkeit zu performativen Gendervorführungen ein; dennoch scheint dieses immer unbedeutender, spielerischer und damit quasi »postweiblich« zu werden. Das 2002 von »Le Tigre« produzierte Musikvideo well well well441 setzt– korrespondierend zum begleitenden Elektropop-Sound – in minimalistischer Manier Motive stereotyper weiblicher Berufswelten von Sekretärinnen, Telefonistinnen und ähnlichem zusammen. Insbesondere der uniforme Habitus bezüglich Körper, Kleidung und Gebrauchsgegenständen wird in reduzierten Performances visualisiert. Es resultiert ein Kunstvideo, das mit Verschränkungen aus historischen und aktuellen Aufnahmen, auf lakonische Art kulturelle Images von Geschlechterkonstruktionen vorführt. Den anfänglichen Rahmen des Videos bildet eine das Playgirl-Magazin lesende junge Frau. Hier existieren bereits erste Gender-Irritationen: Eine Frau liest Playgirl mit dem Untertitel »365 days of passion«. Der angestrengte Gesichtsausdruck der lesenden jungen Frau erklärt sich kurz darauf: Im Inneren des Magazins befinden sich anstelle der zu erwartenden erotischen Darstellungen technische Abbildungen von Musikanlagen im Stil der 1950er Jahre. Es folgen Nahaufnahmen unter anderem von einem ringbuchartigen Organizer, der mit roter Lackfarbe beschmiert wird sowie Aufnahmen von »Bürodamen« früherer Generationen, die adrett gekleidet an ihrem Arbeitsplatz sitzen Der lakonische Titel well well well lässt bereits ein ironisches Spiel mit Identitäten anklingen. Hierbei herrschen Motive der mechanischen Verzahnung von Frauenkörpern und stereotypen Alltags- und Berufswelten vor. Dabei wird jede Eindeutigkeit im Sinne einer »korrekten« Genderpositionierung sabotiert, und es entsteht der entlarvende Blick auf den funktionalen weiblichen Effektkörper. Das Video verwirrt von Beginn an herkömmliche Genderbezüge: Eine Frau liest das Playgirl-Magazin, doch im Inneren des Magazins befinden sich technische Abbildungen, die wiederum konventionell mit einer männlichen Leserschaft konnotiert sind. Codes von Weiblichkeit, wie rotla-
——————
441 http://www.youtube.com/watch?v=WnC2nnBHQ_U&feature=related.
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ckierte Fingernägel, werden stattdessen gezielt eingesetzt, um konventionelle Erotik zu signalisieren. Die domestizierte Bürowelt wird auf stilisierte Weise ihrer Funktionalität enthoben und in eine performative Ebene überführt, indem (alt)modische Signale weiblicher Erotik zum Beispiel auf eine rote Paste reduziert werden, die, über einzelne Bürogegenstände verteilt, gleichzeitig den Büroalltag von Sekretärinnen etc. persifliert Die markante Visualisierungsstrategie mündet schließlich in Schlüsselbildern der Desorientierung von Gendernormierungen. Vor der Kulisse eines simplen Büroraumes, der lediglich durch ein geschlossenes rotes Fenster und einen weißen Tisch in der Bildmitte charakterisiert ist, sitzt eine (vermeintlich) männliche Person am Tisch – JD Samson von »Le Tigre« – die ihre Arme, ihren Kopfumfang sowie die Breite des Tisches mit einem Maßband ausmisst. Die scheinbare Männlichkeit der Person wird noch durch eine weiße Krawatte betont, die sich von einem schwarzen Hemd abhebt. Hier ist es der (vermeintliche) männliche Körper, der sich und seine Umgebung vermisst. Physische Proportionen, Idealmaße und Verhältnismäßigkeiten deuten sich dabei an, wobei sich keinerlei Ergebnisse oder gar Erkenntnisgewinn abzeichnen. Die vordergründige Unsinnigkeit dieser Aktionen zielt auf eine Desorientierung von Genderimages: Handelt es sich um eine männlichen oder einen weiblichen Körper, und wird hier quasi das Geschlecht vermessen? Was ist der Sinn und was das Ergebnis von Gendernormierungen? Diese Fragen werden nicht beantwortet, sondern sie schwingen lediglich mit. Durch die offensive Stilisierung der Aktionen werden gleichzeitig Brüche im dichotomen Gendergefüge möglich, da die Konstruiertheit von Gender und Zweigeschlechtlichkeit spielerisch vorgeführt wird. Das Musikvideo well well well lässt aus den weiblichen ebenso wie aus den vermeintlich männlichen Körpern ein Funktionsset an erstarrten Codes entstehen, die auf lakonische Art und Weise gebrochen und durchkreuzt werden. Aus der Künstlichkeit und der Ironie dieser Inszenierungen, resultiert ein Effektkörper, der fixe Position von Weiblichkeit und Männlichkeit sabotiert. Ein Effektkörper ist nicht nur das Resultat von performativen Gendereinschreibungen, sondern auch eine Option für neue Subjektpositionen. So lässt sich das, was Yvonne Volkart für den Cyborgkörper442 feststellt, auch auf die Inszenierungspraktiken dieses Videos übertragen: »Der Cyborgkörper ist immer Effekt- und Symptomkörper der
—————— 442 Zur Bedeutung des Cyborgs vgl. Recht, Marcus (2000), Homo Artificialis. Androiden & Cyborganalyse mit dem Fokus auf Star Trek, Saarbrücken.
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neoliberalen Informationsgesellschaft. Er ist dessen Produkt und Sinnbild, sabotierende Durchquerung und alternativer Subjektentwurf.«443 Bei well well well ist es weniger der Bezug auf die neoliberale Informationsgesellschaft als vielmehr auf die weibliche Bürowelt der 1950er, 60er und 70er Jahre, die sich mit aktueller Elektro-Pop-Art mischt. Dennoch existiert auch hier der Effektkörper als Reihung von Sinnbildern, als »sabotierende Durchquerung« genau dieser und sogar als Zugewinn von alternativen Subjektentwürfen, die binäre Genderzuschreibungen dynamisieren und für multiple Geschlechtercodes aufscheinen lässt.
5.3.3 Indifferent: Das Widerstehen der Bilder und Off-Kilter-Ästhetik Die weiter oben beobachtete spielerisch-ironische Dimension der Etablierung einer Widerständigkeit des Bildes, wie sie sich auf den hier besprochenen Plattformen im Web 2.0 als beständige Austauschbewegung professionell erstellter und privater, inszenierter Bilder in Bezug auf die Darstellungskonventionen von Weiblichkeit gestaltet, findet sich ebenfalls als Aspekt der hier als dritte Kategorie beobachteten visuellen Praxis wieder. Jenseits einer aggressiv-unheimlichen Weiblichkeit finden sich hier Inszenierungspraxen die diese in einen scheinbar naiv-kindlichen Zusammenhang stellen über eine, teilweise bewusst überzogene Stilisierung dabei jedoch keineswegs eine eindimensionale Gefälligkeit sondern vielmehr eine Irritation des Betrachters zu erzeugen in der Lage sind. Diese visuelle Strategie, deren eskapistisch-kindliches Moment hier unter der Kategorie der spielerisch-naiven Darstellungsformen von Weiblichkeit gefasst werden soll, kann entlang der von Michael Butz und David Ripmeester entwickelten Theorie als Form einer visuell-inszenatorischen »Off-Kilter Resistance« als Praxis eines indirekten und uneindeutigen oppositionellen Handelns auf dem Hintergrund der Third Space-Theorie Homi K. Bhabhas als »that productive space of the construction of culture as difference, in the spirit of alterity or otherness«444 gedeutet werden. Auf diesem Hintergrund formulieren Butz/Ripmeester »Off-Kilter-Resistance« als ein Ausdruckshandeln, welches sich, jenseits einer binären Entgegensetzung von Mächteverhältnissen, durch Offenheit, Uneindeutigkeit und
—————— 443 Yvonne Volkart: Widerspenstige Körper. Der Effektkörper als Ort des Widerstands, in: http:// www.medienkunstnetz.de/themen/cyborg_bodies/widerspenstige_koerper/ 444 Bhabha, Homi K. (1990), Nation and Narration, London, S. 209.
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Unabgeschlossenheit kennzeichne. Es gestalte sich immer partiell und zeitlich begrenzt und kennzeichne sich durch das spielerische kreieren von »diskursiven Geistern«, »that step around authorized readings of both power and resistances to imagine and describe alternative, contrapuntal sociocultural realms that do not deny authorized discourses, but rather disrupt them through supplementation.«445 »Off-Kilter-Resistance« artikuliere sich so in Form kreativ-schöpferischen Ausdrucks, ersetze eine explizite Verweigerung durch »flexibility, creativeness, and cunning«446 und umgehe grundsätzlich eindeutige und direkte Aussagen und Statements zugunsten einer beständigen Vorläufigkeit. Angesichts der durch Butz/Ripmeester dargestellten Charakteristika der Off-Kilter Resistance wird ihre Relevanz für die Anwendbarkeit auf aktuelle popkulturelle Phänomene deutlich, die sich zunehmend, wie bereits angesichts der besprochenen ambiquen Weiblichkeitskonstruktion in dem Musikvideos von le Tigre abzeichnete, nur schwer und wenn dann unbefriedigend auf eine direkt-oppositionelle und offensiv kritische Funktion in einem gesellschaftlichen und kulturellen Gesamtzusammenhang rückführen und analysieren lassen. Gebrochene Niedlichkeit Im Sinne der eingangs dargestellten »bärtigen Fraubleibungen«, in denen das männlich konnotierte Attribut des Schnurrbartes in einem kokettierenden Sinne genutzt wird, finden sich auch in den mediatisierten Welten, als die sich die Online-Plattformen und die durch verschiedenen NutzerInnen eingestellten und hochgeladenen Bild- und Videodateien darstellen, verschiedenen Motivtypen, die ein naiv-verspieltes Bild des eigenen- oder des Starkörpers präsentieren. Gerade in der unschuldigen Attributierung mit dem scheinbar unpassenden Accessoire wird eine mädchenhafte Niedlichkeit hervorgehoben. Während Formen aggressiver Weiblichkeit ihre Kraft auch aus der scheinbaren Eindeutigkeit und der Ironiefreiheit ihrer Darstellung beziehen, so betreibt das folgende Beispiel eines MySpace-Profils das bewusste Spiel mit Bildern von Weiblichkeit und einer mit ihr, im popkulturellen Kontext, häufig verbundenen kindlichen visuellen Ebene der Naivität.
—————— 445 Butz, David/Ripmeester, Michael (1999), Finding Space for Resistant Subcultures, in: Invisible Culture, An Electronic Journal for Visual Studies. 446 Ebd.
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Das Profil der beiden Rap-Musikerinnen »Bunny Rabbit« und »Black Cracker« wurde durch Bildmaterial erweitert und dient als künstlerisches Versuchsfeld einer »D.I.Y.«447 Ästhetik, auf dem verschiedene Formen der Selbstdarstellung visualisierung finden. Aus diesem Grund sollen an dieser Stelle zwei verschiedene Stills des MySpace-Auftrittes miteinbezogen werden: eines das im April 2008 gemacht wurde und eines, welches das aktuelle Profil zeigt.448 Bei »Bunny Rabbit« und »Black Cracker« werden nicht nur die Konzertdaten und Tracks upgedated sondern auch das künstlerische Profil – als work in progress. Das Customizing wird hier anders eingesetzt, als bei den weiter obene besprochenen Profilen. Die Seite gestaltet sich als Gesamtinszenierung im Sinne einer Collage verschiedener Bildideen, Animationen und Videos. Bilder werden übermalt und so erneuert und verfremdet. Text erscheint zum Verständnis des Gezeigten weniger nötig, wärend der visuell-bildliche Aspekt deutlich im Vordergrund steht. Das alte Profil, von dem im April ein Still erzeugt wurde, präsentiert sich in einer collagenhaften Niedlichkeit. Der Hintergrund ist rosa-weiß gestreift, wirkt dabei unsauber und tapetenartig. Der obere Profilbereich zeigt eine Collage, auf der vier Mädchen zu sehen sind. Die Aufnahme der Mädchen ist alt und schwarz-weiß. Sie tragen Kleider und posieren mit lächelnden Gesichtern, die im Nachhinein gestalterisch modifiziert wurden, indem mit einem schwarzen Stift die Wangen mit mit kleinen Kreisen verziert oder ein gößeres Lächeln aufgesetzt wurde. Der Hintergrund des Motives bildet eine ungleichmäßige, grüne Buntstiftschraffur. Am unteren Bildrand befindet sich ein rosa Schriftzug in einer stark geschwungenen Schrift: »Let’s Be Friends«. Während am oberen, unsauber mit einer Schablone, die Worte »Bunny Rabbit« zu lesen sind. Der rechte Bildrand ist mit dunkel-gezeichneten Gesichtern, die nur aus Mund und Augen bestehen, verziert. Teilweise lachen die Gesichter, teilweise sind sie zur traurigen Fratze verzogen, einige tragen Fliegen oder sind mit stilisierten Tränen versehen. Die hier eingeführten grafischen Motive finden sich als Themen auch auf anderen Bildern des Profils wieder. Auf dem Profilfoto, welches ein Portrait »Bunny Rabbits« in einer Art Dirndl zeigt, tauchen die gezeichneten Tränen wieder auf, die hier der Rapperin auf den Wangen liegen. Auf einer weiteren wurde der Mund von »Black Cracker« überzeichnet,
—————— 447 Abkürzung für »Do It Yourself«. 448 Stand August 2008.
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unterhalb von »Bunny Rabbits« Gesicht befindet sich eine skizzenhafte Fliege vor mit rosa Buntstift schraffierten Hintergrund. Das MySpace-Profil von »Bunny Rabbit« und »Black Cracker« zeigt typische Darstellungskonventionen weiblicher Niedlichkeit: die Farbe Rosa, Menschen in Sonntagskleidern, Freundinnen, professionelles Posieren. Diese Darstellungsformen werden aber erweitert und überzeichnet (im doppelten Sinne): Die Niedlichkeit verwischt, wenn das Lächeln zu breit wird. Das Rosa verliert seinen mädchenzimmerhaften Charme, wenn der Schmutz zum Vorschein kommt. Die niedlich-konstruierte Scheinwelt, wird als solche sichbar gemacht. Im Fall des aktualisierten MySpace-Profils der Musikerinnen zeigt der gesamte obere Bildbereich erneut eine Collage, auf der diese wiederum im Rahmen einer Bildmischform aus Foto, Zeichnung und Animation eingebettet sind. Das Portrait von »Bunny Rabbit« und »Black Cracker« ist schwarz-weiß und befindet sich im rechten Bildbereich. »Black Cracker«, die etwas höher als »Bunny Rabbit« im Bild platziert ist, verzieht das Gesicht zur Fratze. Die Oberlippe ist nach oben gezogen und der Blick richtet zu linken Bildrand. »Black Cracker« deutet mit der rechten Hand eine Pistole an, die sie auf »Bunny Rabbit« richtet. Ihre Wangenknochen wurden mit zwei blauen Punkten nachträglich verziert. Sie trägt ein Sakko und darunter ein weißes T-Shirt mit schwarzen Schriftzug. »Bunny Rabbit« blickt direkt in die Kamera, die Mundwinkel stark nach unten gezogen, die Unterlippe zur Schmolllippe vorgeschoben und nachträglich rot bemalt. Der Zeigefinger der linken Hand liegt an der Wange an und verzieht diese leicht nach unten. Oberhalb der Köpfe der Musikerinnen befindet sich die Outline-Zeichnung einer Akrobatin, die, leicht bekleidet, an einem Reifen schwingt. Im Kontrast dazu bildet der Hintergrund der Collage das Foto einiger leerer Autos ab, hinter denen eine große Rauch-, und Feuerwolke aufsteigt. Dieser wurde animiert und vergrössert und verkleinert sich so im Loop. Das erzeugen ästhetischer Bruchstellen findet bei dieser Collage auf verschiedenen Ebenen statt: Bezogen auf Bilder von Weiblichkeit, wird ein Frauentypus entwickelt, der sich vieler Referenzen bedient, dabei gleichzeitig in sich widersprüchlich scheint und doch den Eindruck vermittelt aus einem Guss zu sein. Das nachträgliche Schminken, welches in starken Farben auf dem schwarz-weiß-Portrait stattfindet, spielt mit Konstruktionen von Weiblichkeit und dem Konstruieren des eigenen Körpers als Inszenierungsfläche und deckt diese gleichzeitig, durch Strategien des
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Sichtbarmachens und der Übertreibung, auf. »Bunny Rabbit« wird zur Parodie niedlicher Weiblichkeit, indem sie mit traurigen großen Augen und dem Schmollmund, das gängige Kindchenschema übernimmt und ein klassisches Stereotyp bedient, dass aber so gar nicht mit dem Stil und der übertriebenen Inszenierungspraxis harmonieren will. »Black Cracker« entzieht sich gängigen Weiblichkeitsdarstellungen komplett. Kleidung und Habitus erscheinen Genderneutral oder eher männlich konnotiert. Nur noch die, fast schon clownsartig, geschminkten Wangen deuten weibliches Make-up an. Der Bildvorder- und -hintergrund steigert die inszenierten Wiedersprüchlichkeiten noch. Die an die Grafiken eines Malbuchs erinnernde Akrobatin, die graziös lächelnd und leicht bekleidet in ihrem Ring hängt und scheinbar darauf wartet noch bemalt zu werden, will sich genauso wenig in einen klaren Zusammenhang zu den Musikerinnen setzen lassen, wie das aus einem dokumentarischen Kontext gerissene Foto einer Explosion. Diese Unklarheit und bewusste Wiedersprüchlichkeit erzeugt ebenso visuelle Reibung wie die parodistische Widerholung von Stereotypen, die der Bewusstmachung der Konstruktion von Geschlecht dient. Eskapistische Jenseitigkeit Auch das Musikvideo Kiss449 der Sängerin Scout Niblett (Feat. Will Oldham) verweigert sich konsequent (möglicherweise noch konsequenter) jeder offensiv widerständig anmutenden Bildsprache. Statt einer aggressiven und direkt-oppositionellen Inszenierung, wie sie beispielsweise im Kontext der Riot-Grrrl-Bewegung der frühen 90er Jahre angesichts eines direkten Thematisierens von Marginalsierungserfahrungen aufgrund geschlechtlicher Identität stattfindet, so bildet das hier zu analysierende Musikvideo scheinbar das direkte Gegenteil ab. Dem offensiven Grundton einer solchen aggressiv auf Opposition bedachten Ästhetik stellt es einen rückwärtsgewandten Eskapismus entgegen, der in der passiven weiblichen Figur, verkörpert durch die Sängerin Scout Niblett, kulminiert. Dennoch gestaltet sich dieses Musikvideo als »Erzählung« einer räumlichen Emanzipation, eines Erschließens unbekannten, bzw. unbesetzten Raumes. Der Frame, mit dem der Clip beginnt führt programmatisch das Motiv des abgeschlossenen und geöffneten Raumes ein. Auf einem, in seiner
—————— 449 http://www.spex.de/867/media.html & http://www.youtube.com/watch?v=I9c wz12 wKD0
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Begrenzung nur durch einen Teil des gebogenen, schwarzen Rahmens angedeuteten Spiegel, werden zwei schwarz-weiße Fotografien, die auf einem Streifen, wie von Passbildautomaten produziert, gezeigt. Die Fotografien bilden ein, in das enge, weiße Rechteck des Bildrahmens eingefügtes Paar ab. Während der männliche Part, der Musiker Will Oldham, aufrecht die linke obere Bildecke ausfüllt, scheint das Gesicht der weiblichen Figur, das der Sängerin Scout Niblett, deutlich flexibler und beweglicher zu sein. Ihre Schulter und ihr Oberkörper schieben sich vor den von Oldham. Sie biegt ihren Kopf stark zurück in den Nacken, bis sie den Kopf, bzw. den Oberkörper ihres Partners berührt. Ihr Kinn ist dabei deutlich nach vorne und oben gestreckt. Sie erreicht so eine möglichst vollständige Ausnutzung des eng beschränkten, zur Verfügung stehenden Bildraumes. Dieser Anfangsframe des Videos führt so nicht nur narrativ das Paar ein, das im Zuge des Verlaufs des Clips vom Betrachter begleitet werden soll, sondern eröffnet so bereits das Thema der räumlichen Beschränkung, wie sie sich für die Frauenfigur darstellt. Eine Enge, in die sich diese durch Nachgiebigkeit und Flexiblität ihres Körpers einfügt. Das Motiv der Nähe in Verbindung mit Enge und die Öffnung des Raumes hin zu einem virtuellen unendlichen Raum, wird durch das einleitende Motiv des Spiegels, im Sinne Michel Foucaults »anderen Räumen«450 visuell aufgegriffen und steht programmatisch für den weiteren Verlauf des Videos. Im Anschluss an eine rituell anmutende Verwandlungssequenz in der zunächst die von Scout Niblett dargestellte Figur vor einem Spiegel eine äußerliche Veränderung ihrer Person ernsthaft und versunken ausgeführt, indem sie über ihre dunklen glatten, im Nacken zusammengebundenen Haare eine struppig-blonde Kurzhaarperücke zieht, deren Sitz sie konzentriert im Rahmen ihres Spiegelbildes kontrolliert. Darüber hinaus verfolgt der Betrachter, wie Niblett in den Händen zu festen Brocken geknetetes Brot unter ihre Oberlippe schiebt und so ihre Gesichtsform stark verfremdet. Im Anschluss dreht sich die Sängerin zur Kamera und wendet dabei erstmals den Blick weg von dem eigenen Spiegelbild. Gerahmt durch ein Fenster im Hintergrund, hinter dessen Glas sich eine Gartensituation erahnen lässt, zeigt sich die Sängerin dem Betrachter in direktem Blickkontakt mit der Kamera.
—————— 450 Foucault, Michel (2005), Von anderen Räumen, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Bd. 4: 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 931–942.
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Der hier dargestellten Verwandlungssequenz der weiblichen Darstellerin steht die des männlichen Parts gegenüber: Die Bildqualität wechselt an dieser Stelle von einer Farb- zu einer Schwarzweiß-Ästhetik. Ebenfalls vor einem Spiegel wird eine Figur in einem schwarzen Ganzkörperkostüm gezeigt auf dessen dunklen Stoff applizierte Plastikknochen ein menschliches Skelett bilden. Der mit Knochendesign bedruckte Overall ist durch eine schwarze, das gesamte Gesicht verhüllende Maske ergänzt, die, die Konturen des Gesichts aufnehmend, einen Schädel zeigt. Die Szene spiegelt in ihrer Struktur, die ihr vorangegangene, indem sie die vorher stattgefundene Maskierung der Protagonistin hier in einer teilweisen Demaskierung des Todes aufnimmt, der in seiner anschließenden Selbstbetrachtung vor dem Spiegel seine Schädelmaske abnimmt und sich als der bereits auf dem einführenden Bildstreifen vorgestellte Will Oldham offenbart. Trotz des Wiedererkennungs-Effektes unterschiedet sich sein Gesicht deutlich von dem zum Anfang des Videos gezeigten: Die Gesichtszüge sind hell geschminkt und durch dunkel umrandete und so eingefallen erscheinende Augenhöhlen verfremdet. Das Motiv des Todes bleibt so, auch angesichts der abgenommenen Maske präsent. Im Anschluss an diese Vorstellung der Protagonisten und der von diesen vollzogenen Verwandlung inszeniert das Video Kiss im seinem weiteren Verlauf die Kontaktaufnahme des Paares, des in den Tod verwandelten Freundes und seiner Freundin, die in aller Ernsthaftigkeit eine »Verpuppung« vorzogen hat, die unter anderem durch das Tragen »von Trauer« in einem folkloristisch-historistisch anmutenden Kostüm zeigt. Die Versuche der Kontaktaufnahme des Todes mit der Protagonistin sind dabei sehr viel aktiver und expressiver als es die der weiblichen Hauptfigur tun. Seine Gesten in der durch die schwarz-weiße Bildqualität als jenseitig markierten Welt drücken einen ständigen Wechsel zwischen Locken, Verzweiflung und Aggression aus. Diesen Orten, die der mit den Symbolen der Vergänglichkeit gekennzeichnete Liebhaber alleine und abgeschieden bewohnt, stehen die wenigen Sequenzen gegenüber, welche die weibliche Figur in ihrer »eigenen Welt«, die durch räumliche Enge und Beschränktheit gekennzeichnet sind (wie ein winziges Baumhaus, versehen mit der Aufschrift »kids only«), zeigen. Diesen abgeschiedenen Räumen, welche die beiden Figuren allein bewohnen, stehen jedoch im Rahmen des Musikvideos andere, weite Räume gegenüber. Diese scheinen in der Lage zu sein, die Distanz zwischen beiden Figuren zu überbrücken und einen gemeinsamen Raum, einen Zwischen-
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raum zwischen den einander entzogenen Welten, zu schaffen. Diese stellen sich als sonnendurchflutete, farbige Landschaften dar, die scheinbar ausschließlich von dem hier glücklich vereint scheinenden Paar durchstreift werden. Die gemeinsamen Aktivitäten des Paares gestalten sich in diesem Raum »hinter dem Spiegel«, in diesen Zwischenräumen, die, angesichts der Allgegenwart des Todes als Orte, zwischen Leben und Tod und damit losgelöst von den Ordnungen des Alltags erscheinen, in Form unschuldiger und harmonischer Freizeitgestaltung, die durch die irritierende Kostümierung der Figuren verfremdet wirkt. Das Motiv des Tanzes mit dem Tod, als das metaphorische Einswerden der Figuren, wird auf diesem Hintergrund zweimal herangezogen. Dabei handelt es sich zunächst um den kindlichen Tanz am Ufer eines Flusses in Abendstimmung, der die melancholische Harmonie des jenseitigen Paares zum Ausdruck bringt. Diesem Tanz in der Natur steht eine andere Schlüsselsequenz gegenüber, die das Motiv in die künstlich beleuchteten Räume eines Clubs transferiert. Hier wendet sich die vertraute Zweisamkeit und es kommt zu einer Distanznahme der weiblichen Figur. Die naiv-passive Figur des Mädchens erscheint nun erstmals aktiv, indem sie sich dem Zugriff des Todes aggressiv und bestimmt erwehrt. An diese Sequenz anschließend verändert sich die dargestellte Beziehung und die Gesten der symbiotischen Zweibeziehung werden zu Gesten des Abschieds. Eine abschließende gemeinsame Sequenz, die das Motiv der Weite prägt, findet sich hier auf eine völlig neue Dimension erweitert, indem die beiden Figuren aus einiger Entfernung auf einem weiten gelben Stoppelfeld vor einem fast zwei Drittel des Bildes ausfüllenden Himmel in Abendstimmung gezeigt werden. Die Beschränkung, die den geweiteten und lichtdurchfluteten Raum bisher nur in der Gemeinsamkeit der Protagonisten zu Verfügung stehen ließ, wird hier in der Schlusssequenz des Musikvideos durch einen abschließenden Schnitt mit einem Perspektivwechsel kompositorisch beendet, indem sich die letzten Sekunden des Videos in den ungestörten Blick auf die sich erstreckende und einsame Herbstlandschaft ergehen. Das Video zu dem Song Kiss von Scout Niblett (feat. Will Oldham) beschreibt so eine räumliche Emanzipation der weiblichen Figur, die mit dem Motiv eines lebensweltlichen Eskapismus einhergeht. Das sowohl in der konzeptuellen Struktur, als auch in der Eingangssequenz präsente Spiegelmotiv gestaltet sich im Sinne einer »Schleuse«, einer »Misch- und Mittelerfah-
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rung«451, eines Momentes des Überganges zwischen den beschränkenden und entfremdeten Räumen der Alltagswirklichkeit. Dieser Übergang zwischen den Erfahrungswelten des Alltags und denen der außeralltäglichen Erfahrung bildet damit einen Übergang zwischen der Tag- und der Nachseite der menschlichen Existenz und stellt sich für das ihn durchlaufende Individuum im Sinne einer Erschütterung dar.452 Angesichts einer nicht näher konkretisierten Beschränkung, die der weiblichen Figur, vermittelt durch die Darstellung in gerahmten und eingeengten Raumsituationen, findet sich hier ein befreiendes und gleichzeitig, wie sich an der stattfindenden Emanzipation von den besitzergreifende Gesten des Todes, ein ermächtigendes Erschließen eines alternativen dritten Raumes, dessen physikalische und zeitliche Dimensionen unklar und offen sind. Statt einer Kritik an einem regressiven Eskapismus, wie sie sowohl anhand der kindlichen Kostümierungsgesten und dem klassisch passiven Weiblichkeitsstereotypen die hier angedeutet werden, angemessen erscheinen könnte, eröffnen sich in der Logik der Inszenierung für die durch ihre Umwelt beschränkte Protagonistin neue Räume hinter dem Spiegel, die gleichzeitig die Gefahr des Selbstverlustes in der Hingabe an das zudringliche Werben des Todes in sich bergen, aber auch, jenseits eines explizit oppositionell orientierten, gesellschaftskritischen Diskurszwanges, eine Perspektive auf Veränderung eröffnen, deren visuelle Form sich dabei jedoch einer oppositionellen Ästhetik verweigert. Der Betrachter dieses Videos wird damit Zeuge der Besetzung eines nicht kolonialisierbaren Raumes: Der weiten Felder und hohen Himmel der, angesichts von Verweigerung und Entfremdung gegenüber der Alltagswirklichkeit zu einem kreativen Rückzugsort popkultureller Inszenierung gewordenen Gefilde zwischen Leben und Tod. Affirmative Pop-Ermächtigung Wie bereits das Musikvideo Kiss so greift das Video zu dem Song Galang453 das Motiv des »Todes und des Mädchens« auf. Die Form der Inszenierung gestaltet sich hier jedoch dem eskapistisch-rückwärtsgewandten Motiv des
—————— 451 Foucault, Michel (2001), Andere Räume, in: Peter Gente, Heidi Paris, Martin Weinmann (Hg.), Michel Foucault. Short Cuts, Berlin, S. 27. 452 Berger, Peter/Luckmann, Thomas (1969), Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main, S. 24. 453 http://www.miauk.com/videos/MIA_Galang_Video.mov
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vorangegangenen Clips komplementär entgegen: Statt sich in die jenseitigen Räume der Todesnähe zurückzuziehen, begegnet das Motiv des Todes der Sängerin im Rahmen des Videos Galang als allgewärtiges und scheinbar alltägliches Motiv eingebunden in eine knallbunte Popkulisse. Die Musikerin M.I.A ist dabei selbst direkt an der Gestaltung des auf der Video-Plattform YouTube abgelegten Musik-Clips Galang beteiligt. Die animierten Schablonengraffitis, die das Erscheinungsbild großstädtischer Straßensituationen ästhetisch im Rückbezug auf die charakteristische Bildlichkeit von Street-Art aufgreifen, prägen die visuelle Gestaltung des Videos. Dem Tod begegnet die Protagonistin dabei nicht in seiner personifizierten Form in einem vom Alltag abgegrenzten Raum, sondern sie begegnet ihm in Form von Lebensgefahr mitten in einer bunten, globalisierten Welt der Konflikte und Gewalt. So gestaltet sich der Beginn dieses Clips nach einer kurzen Exposition der Musikerin durch das Motiv des Ausgesetztseins dieser gegenüber einer bedrängenden und bedrohlichen Macht. Die Musikerin wird tanzend vor einem animierten Panzer gezeigt, während, im Rhythmus des stampfenden Basses, zu ihrer Rechten und Linken Sprengsätze zu explodieren scheinen, was durch stilisierte gelborangefarbene gezackte Farbfelder visualisiert wird. Diese Sequenz bildet damit eine programmatische Einführung zu dem, das Musikvideo prägenden Motiv der existentiellen Bedrohung, die sich in der Konfrontation der zierlichen jungen Frau mit den phallischen Symbolen der globalen Krisenherde gestaltet. Gestik und Mimik der Sängerin erscheinen dabei jedoch angesichts einer solchen beängstigend scheinenden Situation keineswegs eingeschüchtert oder irritiert: In ausladenden Bewegungen, im Zuge derer sie mit ihren Armen und Beinen einen weiten Bewegungsspielraum für sich in Anspruch nimmt, behält sie den Platz vor dem hinter ihr aufrollenden Panzerfahrzeug bei. Gekleidet in schrillfarbige, auf die Mode der 80er Jahre und den frühen Hiphop referierende Kleidung, scheint sie die bedrohliche Lage absolut im Griff zu haben. Die Explosionen zu ihren Füßen und in ihrem Rücken muten so lediglich als ein Ausdruck der Dringlichkeit ihres mit Bestimmtheit vorgetragenen Songs an. In dem, durch schnelle Schnitte und eine expressive Farbigkeit charakterisierten weiteren Verlauf des Videos zeigt sich die Figur M.I.As dem Betrachter vor zunehmend bunteren und komplexeren Hintergrundcollagen, vor denen sie in immer neuen, grellen Outfits ihren Song performt.
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Das Gestaltungsmerkmal der mit den Metaphern des militärischen Konflikts aufgeladenen Bildwelten, die sich als Schablonengraffitis hinter der Künstlerin entfalten, bleibt dabei jedoch durchlaufend bestehen. Der zierliche, feminine Körper des »Mädchens«, der in diesem Fall nicht in ein altmodisches Trauerkleid, sondern in bunte, urbane Kleidungsstücke gekleidet auftritt, ist hier nicht in der Abgeschiedenheit einer Zwischenwelt, sondern mitten im Zentrum innerweltlicher Gefahr zu beobachten. So zeigt sie sich dem Betrachter des Videos vor einer, durch eine perspektivische Anlegung des Graffitis sich scheinbar in die Ferne erstreckenden Fläche, auf der sich die Rauchwolken von Explosionen zu riesigen Fäusten zu ballen scheinen oder vor einem olivefarbenen Himmel auf dem Düsenjets ein unregelmäßiges Ornament bilden. Schließlich wird die Musikerin tanzend im Zentrum der roten Fläche eines überpersonengroßen stilisierten Feuers und damit im Mittelpunkt, im »Melting Pot« der Gefahr, am deren metaphorischen Siedepunkt, gezeigt. Trotz der zeichenhaften Bezugnahme auf urbane und militärisch Krisengebiete handelt es sich bei den Räumen innerhalb derer M.I.A. sich im Zuge dieses Videos bewegt, nicht um Räume, die direkt auf konkrete Kriegsschauplätze und Krisenregionen referieren. Es handelt sich nicht um explizite Bezugnahmen auf reale Territorien sondern stattdessen vielmehr um zweidimensionale Nichträume. Besonders deutlich wird dies anhand des Motivs des Ornamentes, das die Sängerin als ästhetisches Mittel und charakteristisch für das hier besprochene Video einsetzt. Dieses eliminiert jede dreidimensionale Orientierung, bleibt aber, als Verweis auf spezifische Räume, nämlich die Räume von Gefahr und Bedrohung, ständig präsent. So lassen sich auf den zweiten Blick, die in leuchtenden Farben wie Tapeten den Hintergrund des Bildes ausfüllenden Flächen als ornamentale Verweise auf Kriegs- und Katastrophenschauplätze verstehen: Sie zeigen gleichmäßige, schmückende Fallschirme bildende Strukturen vor hellblauem Grund. Sie greifen das, bereits durch die, den Vietnamkrieg thematisierende Adaption des Romans Heart of Darkness durch Francis Ford Coppola in Apokalypse Now in westliche Bildwelten eingeprägte Motiv brennender Palmen auf und erneuern beständig das Abbild eines, durch das vor den angedeuteten schweren Kettenantrieb zur Linken und Rechten emporragende Kanonenrohr phallisch wirkenden Panzers in unterschiedlichen Farbkombinationen. Die im Rahmen des Videos inszenierten Räume legen angesichts dieser durch die ornamenthaft gestalteten Hintergründe gekennzeichneten Se-
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quenzen alle Eigenschaften des natürlichen Ortes ab und werden zu illusorischen Räumen, zu Projektionsflächen, die lediglich die Aufgabe eines zeichenhaften Verweises erfüllen. Sowohl der Forderung nach einer linearen, narrativen Struktur, als auch der nach einem Abbilden von »Wirklichkeit«, das sich letztlich auf ein Abbilden von Raum reduzieren lässt, verweigert sich die Ästhetik des Videos. Die Konstruiertheit des Gezeigten wird so, anhand jeder neuen Sequenz erneuert und bestätigt. Die farbliche Gestaltung der bedrohlichen Motive in knalligen, fröhlichen Farben sowie deren Zusammenspiel mit dem Offbeat-Charakter der Musik wirken auf dem scheinbar durch die Motive gewählten thematischen Hintergrund verwirrend. Und auch die Gesten der Musikerin scheinen sich einer Stellungnahme gegenüber dem Gezeigten zu verweigern: Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich beständig von ernst zu fröhlich, ihre Gesten und ihr Tanzstil erscheinen ausgelassen und verspielt, was durch die Wahl der Kleidung unterstrichen wird. Durch die bunten Farben und dem unbeschwert fortrumpelnden Beat scheint sich das Gezeigte einzufügen in eine Popwelt, die sich im Sinne einer Camp-Ästhetik,454 jedem normativen Urteil kategorisch verweigert. Wie das Musikvideo Kiss, so gestaltet sich auch das Video Galang als visuelle Inszenierung einer »bild« räumlichen Emanzipation und einer performativen Raumnahme. Wiederum handelt es sich bei dem hier annektierten »Territorium« um eines, das sich in seinen räumlichen und zeitlichen Ausmessungen diffus gestaltet. Im Gegensatz zu dem mystischen und jenseitigen Zwischenraum, den das Video Kiss beschreibt, gestaltet sich das im Musik-Clip Galang inszenierte Gebiet jedoch als artifizieller, illusorischer Raum. Dem Motiv der liminalen Abkehr von weltlichen Ordnungen und damit auch deren Verbindlichkeiten und Beschränkungen, das den emanzipierenden Gehalt des vorangegangenen Videos als Beispiel für eine eskapistisch-jenseitige Inszenierung von Weiblichkeit ausmacht, steht in diesem eine scheinbar gegenläufige Technik der Realisierung eines »dritten Raumes« entgegen, die sich in Form einer affirmativen Ästhetik gestaltet. So bleibt das Verhältnis der Protagonistin zu den sie umgebenden Schreckensmetaphern verwirrend ungeklärt. Die Beziehung, in die ihr Körper durch die Gestaltung des Clips zu diesen gesetzt wird, scheint keineswegs eine weltanschauliche Distanznahme zu artikulieren. Stattdes-
—————— 454 Sontag, Susan (2001), Notes on Camp. In dies.: Against Interpretation and Other Essays, Picador.
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sen werden die Kriegssituationen, im Zusammenspiel mit der positiv besetzten farbigen Gestaltung und dem Offbeat-Charakter des musikalischen Kontextes, in einen scheinbar neutralen bis positiven Zusammenhang gestellt. Die, dem Betrachter durch ihre beständige Reproduktion im Rahmen von Nachrichten-Sendungen und Dokumentationen bekannten Motive, die auf die Schrecken des Krieges verweisen, werden damit im Zuge des Videos keineswegs mittelbar als problematische Wirklichkeiten der Jetztzeit inszeniert, die eine visuelle Betroffenheitsrethorik fordern würden, sondern in die Dimensionen eines neuen, inszenierten Raumes gehoben. In Ablösung von einem normativen Bewertungsparadigma findet im Rahmen dieses Videos damit eine Entkontextualsierung der mit Krieg verbundenen Bildwelten statt. Angesichts ihrer »unkritischen« Affirmation werden hier die Bilder des Schreckens zunächst, wie im Rahmen der Disasters-Serie Andy Warhols, zu visuellen Bestandteilen eines populären Bildkanons. Im Rahmen des sich so eröffnenden, durch die bildlichen Verfremdungseffekte beständig als unnatürlicher und konstruierter ausgewiesenen Raumes, begegnet uns auch die Figur der Sängerin in einer von der alltäglichen Interaktion abgelösten Umgebung. Diese gestaltet sich, trotz der bereits weiter oben gezeigten Ermächtigungstendenzen, für die Figur der Protagonistin keineswegs im Sinne einer weltfernen Phantasie, bzw. einer Utopie. Vielmehr umfasst dieser neue virtuelle Raum nicht nur einen »angemessenen« Anteil des innerweltlichen Schreckens, sondern er ist vielmehr durch die Allgegenwart des Unerwünschten in Form von Gefahr und Tod bestimmt. Durch das inszenatorische Ablösen und Aneignen der Schreckensbilder von der Unverfügbarkeit der Wirklichkeitserfahrung, werden diese jedoch im Zuge einer performativen Inszenierung, wie sie sich im Verlauf des Videos visuell vollzieht, ihrer Bedrohlichkeit entäußert. Dieser neue Raum der popkulturellen Affirmation erlaubt so ein performatives Abstandnehmen von den Gegebenheiten der Umwelt und des Körpers. Die Formen über die ein Widerstehen der Bilder, im Sinne einer, wie einleitend dargestellt, Utopie des Umsturzes, einer Phanasie des durch Ranciere formulierten Durcheinanderbringens der »Ordnung der Dinge«, in den medialen Bildwelten des Web 2.0 erzeugt wird, sind, wie die Ausführungen in diesem Kapitel beweisen, diffus und vielgestaltig. Entlang des Motivs des Shifting Image wird dabei deutlich, wie einzelne Schlüsselbilder
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innerhalb der virtuellen Plattformen und medialen Präsentationsformen wandern, modifiziert und rekontextualisiert werden und wie über solche minimalen Verschiebungen beständig eine Bewegung erzeugt wird, die ein »Gerinnen« der Bilder verhindert. Besonders am Beispiel der Genderthematik im Web 2.0, die hier exemplarisch aufgegriffen wurde, ist dabei die Bandbreite, die durch solche Verschieungen erzeugt wird, mannigfaltig. Die eskapitisch-harmlose Folkgeste steht hier, im Rahmen unserer Argumentation, gleichberechtigt und ebenso, als Phantasie der Alterität unterschwellig subversiv, neben der aggresiven Inszenierung subkultureller Szeneattribute und der knallig bunten Pop-Performance.
6 Jugend und Kunst im visuellen Online-Medium
Im Web 2.0 steht die Kommunikation über Bilder im Vordergrund. So macht der Videohoster YouTube mit seinen Onlinevideos auch das »Gestalterisch-Künstlerische« in den westlichen Gesellschaften sichtbar. Die Onlinevideo-Plattform YouTube beherbergt als kultureller Speicher und visuelles Archiv von bewegten Bildern die gesamte Bandbreite der Visualisierung des Kreativen, von artistischen Fingerübungen bis hin zur Bildenden Kunst. Dieses Kapitel geht also der Frage nach, wie man von der generellen Kommunikation mit visuellen Mitteln im Web 2.0, einem oft endlosen, geschwätzigen visuellen Rauschen,455 zur besonderen ästhetischen Qualität durch bewusste Gestaltung kommt. Wo entstehen auf der Basis der medialen Strukturen456 innovative ästhetische Formen? Sind es Produkte von »Medienamateuren«457 oder ist eine neue Begrifflichkeit einzuführen? Die Definition der Medienamateure von Dieter Daniels geht von technisch – nicht unbedingt ästhetisch/gestalterisch – interessierten Privatleuten aus, die sich autodidaktisch Technik aneignen und weiterentwickeln, bevor kommerzieller Nutzen erkennbar ist. Der Erfinder und aktive Programmierer – hierzu zählen die Demoszene, Machinimas, Brickfilms – bedient nicht nur,458 sondern durchdringt in seiner Selbstausbildung die innere
—————— 455 Graff, Bernd (2007), Die neuen Idiotae. Web 0.0. Das Internet verkommt zu einem Debattierclub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten. Ein Plädoyer für eine Wissensgesellschaft mit Verantwortung, in: Sueddeutsche Online vom 09.12.2007, http:// www.sueddeutsche.de/computer/artikel/211/146869, 24.06.2008. 456 Ernst, Wolfgang (2008), Epistemologische Medientheorie produziert immer wieder unmittelbare Kurzschlüsse mit der Alltagswirklichkeit unserer Medienkultur. Ein Gespräch mit Birgit Richard, in: Birgit Richard/Sven Drühl (Hg.), Denken 3000, Kunstforum International, S. 147–152. 457 Daniels, Dieter (2002), Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München, S. 210. 458 Linde, Ingo (2005), Medienaneignung und Medienamateure am Beispiel der sogenannten Demoszene, in: http://www.uni-leipzig.de/~wehn/anima/theory/demoszene/aneignung/index.htm, 25.06.2008.
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Struktur und eröffnet einen kulturell nicht vorgeprägten Erfahrungsraum.459 Für die meisten der YouTube-Clips trifft dies nicht zu, sie werden nicht vom »Kolumbus-Gefühl«460 getrieben. Sie sind die BenutzerInnen innerhalb der medialen Strukturen, sie programmieren nicht und trotzdem entstehen neue Ästhetiken, mit denen im sozialen Netzwerk weitergearbeitet wird. Zum Verständnis des Mediums Online-Video bei YouTube sind folgende Grundannahmen notwendig: YouTube ist kein Archiv der »Ästhetik des Banalen im frühen 21. Jahrhundert«461 und auch keine »Hall of Fame des Augenblicks«462, sondern mehr. Hier zeigt sich nicht das »Leben der Anderen«463, eine solche Aussage ignoriert schlichtweg die Präsenz eines Mediums mit seinen speziellen Vorgaben für Form und Inhalt. Es handelt sich nicht um die Abbildung einer authentischen sozialen Realität. YouTube-Bilder sind Paradebeispiele für ein raffiniertes Hybrid aus Fremdund Eigenbildern und für eine friedliche Koexistenz von real- und fakeFormaten, die nur mit entsprechender Medienkompetenz auseinanderzuhalten sind. Das eigene Bild existiert in dem Sinne nicht; wenn, dann ist es das Ergebnis einer bewussten, künstlerisch motivierten Hervorbringung. Die irreführende Ideologie des Authentischen als inhärenter kultureller Konsens entsteht aufgrund von Lowtech-Aufzeichnungsmedien mit geringer Auflösung und der qualitativ nicht so hochwertigen Ausgabe in einem kleinen Fenster auf dem Bildschirm. Diese Wirkung bringt das Authentizitätsversprechen des fotorealistischen Prinzips464 mit sich, das auch im bewegten Bild des Online-Videos aufrechterhalten wird. Aber diese Diskussion ist hier weniger relevant als der Blick auf die neuartigen Kunstformen. Auch nicht künstlerisch ausgebildete Menschen testen in diesem Labor für bewegte Bilder neue Formen, die sie aus Materialien der Alltags- und Popkultur generieren. Die Produzierenden bewegen
—————— 459 Daniels, Dieter (2002), Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München, S. 210. 460 Glaser, Peter (1988), Glasers Heile Welt. Erzählungen, Köln, S. 152f. 461 Graff, Bernd (2006), Kamerafahrten durch die globale Privatsphäre, in: Süddeutsche Zeitung vom 10./11.06.2006, online 09.06.2006, http://www.sueddeutsche.de/kultur/ artikel/802/77725, 25.06.2008. 462 Graff, Bernd (2008), Hall of Fame des Augenblicks, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.05.2008, S. 15. 463 So der Titel einer Rubrik zu YouTube in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung http://www.sueddeutsche.de/kultur/special/736/89647, 19.06.2008. 464 Zum Begriff der realistischen Stile vgl. Richter, Sebastian (2008), Digitaler Realismus: Hybride Bewegungsbilder zwischen Animation und Live-Action-Film, Bielefeld.
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sich hierbei im Rahmen ihrer ästhetischen Sozialisation. Dabei gilt zu ergründen, ob und worin die neuartige Kreativität vorliegt. Eine Grenzziehung zwischen kunstvoller Artistik des Varietés, neuen Kunstformen und ihren Prototypen ist notwendig, obwohl die Kontexte generell im Fluss sind. Es gilt im Anschluss, bestehende Begrifflichkeiten zu diskutieren beziehungsweise neue Kategorien für diese Art der Kreativität in einem neuen Medium zu schaffen: Die Begrifflichkeiten »Geniale Dilettanten«, »Prosumer«, »emanzipierte Konsumenten« und »Medienamateure« sind zu negativ konnotiert, da sie vom Maßstab einer »Kunst der Hochkultur« ausgehen und die Dichotomie des high and low zugrunde legen. Es muss eine differenziertere Bezeichnung für die kreativen Eigenleistungen entwickelt werden, die nach der Qualität der Werke schaut. Medienmeister und Medienbricoleur wären eine erste begriffliche Annäherung, da die Online-Video-Arbeiten von hoher Medienkompetenz zeugen und vom artistischen Umgang mit dem Medium und seinen Möglichkeiten ausgehen, aber nicht zum Kanon der anerkannten Künste, auch nicht der angewandten, zählen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen also das visuelle Ergebnis und seine ästhetischmedienadäquate Qualität.
6.1 Neue Formen von Kunst im Web 2.0 Zunächst geht es darum, die Schlagworte und ihre Häufigkeit zum Abfragezeitpunkt zu sichern. Das englische Schlagwort lautet »art« und erzielt 947.000 Treffer, während »Kunst« 15.800 Ergebnisse liefert.465 Der Kunstbezug ist beim Suchbegriff Kunst häufig nicht gegeben oder weicht sehr vom untersuchten Thema ab (zum Beispiel finden sich dort Folgen der TV Serie Sailor Moon, Brotlose Kunst oder von Bands wie Markscheider Kunst. Insgesamt finden sich kaum Clips, die aus der klassischen Bildenden Kunst stammen. Wenn ein direkter Kunstbezug besteht, dann in einer sekundären Form (TV-Dokumentationen) über Kunst oder als Aufzeichnung einer Performance oder eines Werks (damit wären es arty/artresponse-Clips). Der Clip selber wird nicht als Kunstwerk verstanden. Unter dem Begriff »Kunst« finden sich also Clips über Kunst und weniger die Kunst selbst. Der Suchbegriff art versammelt meist Clips, die sich mit Kunst befassen, aber selten Kunst im klassischen Verständnis des »Betriebssystems«
—————— 465 Stand Mai 2008.
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Kunst sind. Es ist viel Streetart vertreten, zum Beispiel wird in fast motion gezeigt, wie ein Graffiti entsteht. Dann gibt es kunsthandwerkliche, ephemere Randerscheinungen, die gerade durch das Spezielle ihrer Herstellung einen hohen Entertainmentfaktor haben – Pflastermalerei, Kochkunst, nailart, speedart, sandart: Bei letzterem wird beispielsweise Sand über eine Art Overheadprojektor gestreut und generiert ein sich ständig veränderndes Bild. Bei latteart wird mit Milchschaum auf Kaffee gearbeitet. Sehr beliebt ist auch der Clip spitart, bei dem der Künstler mit Wasser, das er aus seinem Mund laufen lässt, auf einer Asphaltstraße ein Bild erstellt. Genauso wie der Clip »Bruce Lee – high speed painting«, bei dem der Künstler seine Hände in Farbe taucht und mit Handkantenschlägen ein Bruce-Lee-Portrait an die Wand schlägt. Der Button search related to: art, grenzt das Feld weiter ein, in Kategorien wie zum Beispiel sprayart oder japanese art (lokale Kunstströmungen), auch diese Unterteilung hilft bei der Suche nach neuen künstlerischen Formen wenig weiter. Die vorher genannten Arten von Clips sind ganz eindeutig den Kategorien arty-Clip oder skillz-Clip zuzuordnen. Hinzu kommen, wie bei allen inhaltlichen Kategorien auf YouTube, wieder Clips von Bands, die in Titel oder Bandnamen art haben. Beim Blick auf die Verteilung der Clips mit den tags Kunst und art auf die Mediensorten entfallen 70 Prozent der gefundenen Treffer auf oben genannte artistische, selfmadeFormen und 25 Prozent auf die mediale Alltagskultur (Musikvideos, Games etc.). Es ist auch bemerkenswert, dass sich bei den vorgegebenen Video-Kategorien keine eigene für Kunst befindet, unter der man eigene Clips verorten könnte. Meistens wird die Kategorie Film und Animation gewählt, um den Clip zu kategorisieren (aber auch Comedy oder Musik). Die Suche nach neuen künstlerischen Formen bei YouTube kann also eindeutig nicht über die Schlagwortsuche, über tags, erfolgen. Hier zeigen sich nicht die gewünschten Resultate, so dass über einen anderen Suchweg gearbeitet werden muss. Die Spielarten des Künstlerischen bei YouTube sind zunächst einmal nicht eingeschränkt durch das »Betriebssystem« Kunst, im speziellen durch den Kunstmarkt. Durch das Netz sind viele Formen sichtbarer und ihre Visualisierungen potenziell leichter zugänglich. Die meisten dieser Erscheinungen finden außerhalb des Systems Kunst statt, es sind randständige Straßenkünste, obwohl Streetart bereits wieder ein marktfähiger Begriff in der Kunst (etwa bei Banksy) ist. Hier steht eindeutig die Rehabilitation der sonst vergessenen/ausgeschlossenen »Volkskünste« im Vordergrund; mit einem bürgerlichen Kunstbegriff ha-
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ben die meisten Clips nichts zu tun. Kunst ist also doch sehr präsent, da traditionelle Darstellungsformen des bewegten Bildes wie Zeichentrick und Stopptrickanimationen über die neuen Clip-Kategorien Aufwind bekommen. Kunst, vor allem in der Tradition von Filmkunst, ereignet sich hier ohne den Ballast von kunstakademischer Ausbildung und medienkunsthistorischer Kritik und Verarbeitung. Diese neuen Kunstformen brauchen die Institution Museum nicht: die fast 9 Millionen Aufrufe wie für den folgenden, kann kein Museum übertreffen.
6.2 Klassiker der neuen Kunst auf YouTube Noah Kalina, ein New Yorker Student der Visual Arts, versteht sich als Autor/Künstler, das zeigt vor allem seine Präsentation auf der Website mit insgesamt acht einzelnen Fotoseiten.466 Sein berühmter Clip von 2006 zeigt 2.356 Einzelporträtfotos,467 die mit elegischer und sich motivisch wiederholender Klaviermusik untermalt sind. Die Hintergründe scheinen sich nach links oder rechts zu verschieben. Im Zentrum steht sein Gesicht als Kontinuum und stabilisierender Faktor. Die Augen sind immer in der Bildmitte und fixieren den Betrachter starr, immer mit der gleichen ernsten Miene: Seine T-Shirts, Räume beziehungsweise Hintergründe, Haare, Frisur und die Beleuchtungsverhältnisse wechseln ruckelnd. Es entsteht eine neue Art von Morphingästhetik. Die Sprünge zwischen den Motiven erinnern an Super-8-Film, lehnen sich also an eine als authentisch geltende Ästhetik und einen realistischen Stil an. Noahs Leben perlt durch die Klaviermusik wie von Philip Glass als Erinnerungsband vorbei und wirkt dabei nicht wie eine Momentaufnahme. Das rituelle Selbstaufnehmen vor der Webcam des Rechners immer in der gleichen Position zeigt Veränderung und Vergänglichkeit, aber auch zugleich Momente der Ewigkeit des Selbst, da das Gesicht gleich bleibt. Die mühevolle, rituelle tägliche Aufnahme im beinahe (natur)wissenschaftlichen Versuchsaufbau steht der automatischen Komposition der Einzelbilder durch eine Software gegenüber. Der Clip erzeugt durch die Permanenz des Blicks in der Verkettung der Bilder einen tranceartigen flow-Zustand. Die Bilder sind so schnell hintereinander geschaltet, dass Urteile über Noah, sein Outfit oder die Umge-
—————— 466 Vgl. http://www.noahkalina.com, 19.06.2008. 467 Laut Abspann: 11.01.2000–31.07.2006, 2356 days, a work in progress.
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bung nicht getroffen werden können, dieser Ego-Clip zeigt kein Individuum. Die schnelle Bildfolge erinnert an den Aufnahmestil bei Naturaufnahmen, die im Zeitraffer das Wachsen von Pflanzen zeigen. Bei Noah wächst nichts, um zu bleiben, Haare, Bart und Augenringe erscheinen und verschwinden sofort wieder. Noah Kalinas Clip steht für Vergänglichkeit und Endlichkeit. Er ist damit eine zeitgenössische Form des memento mori und eine mediale Vanitas-Darstellung, steht gleichzeitig für die Ewigkeit der eigenen Bilderwerdung. Der Clip wird vom Tagebuch zum Tagebild und schließt an Praktiken und Stile der Handy-Fotografie an (ein sog. phlog, ein Foto-Weblog). Das Muster des Videos, das 9,3 Millionen Aufrufe, 60.000 Bewertungen, 45.000 Textkommentare und 77 Videoantworten verzeichnet, ist schnell durchschaut. Das ermutigt ausdrücklich zu eigenen Produktionen. So gibt es zahlreiche Videoantworten, die sich um Bart- oder Haarewachsen oder Abnehmen drehen. Sie versuchen vor allem Noah zu übertreffen, zum Beispiel durch einen noch längeren Zeitraum, die Darstellung anderer Prozesse ganz im Sinne des Wettbewerbscharakters der Web 2.0-Erzeugnisse. Hergestellt ist der Clip mit Windows Movie Maker; diese Software macht aus Einzelbildern automatisch eine Diaschau, die vertont werden kann. Noah Kalina knüpft mit seiner intermedialen Arbeit an die traditionelle Kategorie des Fotofilms als Schnittstellen-Medium zwischen Film und Fotografie an. Das Video ist in den Kontext von medialen Vorläufern im Internet 1.0 zu stellen, wie das mirror project468, das auch in Flickr weiter. geführt wird oder Alberto Frigos im Netz präsentiertes Projekt Sobject .469
Abbildung 18: Videostills aus The Hauntening. youtube.com
—————— 468 http://www.mirrorproject.com 469 http://www.albertofrigo.net/und http://lifelonglog.org/SOBJECT/index.html
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Das Beispiel »The Hauntening«470 von waverlyflams inszeniert eine Alltagsgeschichte im Hitchcock-Stil mit Stopptrick-Elementen. Der Clip von 2007 beginnt mit einer Gasflamme im Close-Up und bedrohlicher Musik. In einer Küche werden siedendes Wasser im Topf und ein Toaster gezeigt. Dann blickt die Kamera durch einen Türrahmen im Korridor auf eine Frau, sie beginnt Bohnen in einen Topf zu schütten. Dann fallen die Bohnen herunter und formieren sich zu Buchstaben und den Worten: look behind you. Ein unheilvoller Ton setzt ein, die barfüßige Frau erscheint verletzlich. Sie wird von hinten und im Spiegel gezeigt und dreht sich langsam um, dann erscheint ein »look at the floor« in den bunten Buchstaben von einer Kindermagnettafel auf dem Kühlschrank. Sie dreht sich etwas, der Ton wird klirrend: Auf dem Boden formt sich aus den Bohnen »now look at the fridge«. Das nächste Bild lenkt den Blick wieder auf die Kindertafel: »wait i’m confused«, ein eher lustiger Satz, aber der Sound bleibt bedrohlich. Die nächste Einstellung zeigt die Bohnen, mit dem Satz: »idiot you’re supposed« to »spell something scary«. Die Kindertafel antwortet mit »salmonella poisoning«. Die Bohnen formen ein »no«. Auf der Tafel wird das Wort: »stegosaurus« angeordnet. Die Bohnen antworten: »stop«, und die Tafel in einer sehr kurzen Stopptricksequenz: »tooth decay«. Bohnen: »just forget it moron«. Dann erschreckt die Frau und zuckt zusammen, der Ton wird schneidend. Die nächste Einstellung zeigt, dass die Buchstaben auf der Tafel durcheinander gewirbelt sind, auch die Bohnen liegen nur noch aufgehäuft zusammen, vielleicht eine Entwarnung der beseelten, belebten Gegenstände. Die Frau streicht sich nach überstandenem Schrecken durch das Gesicht, sammelt die hingefallenen Bohnen auf, tut sie wieder in den Topf. Es folgt ein langsamer Schwenk über ihren Nacken zurück auf die Tafel, die Kamera zoomt auf die wieder formierten Wörter: »Burn« lässt sich unter unheilvoller Musik lesen. Es findet ein animierter Dialog zwischen Gegenständen statt. Die Dialoge am Anfang sind erst vage Anweisungen, wohin die Frau zu sehen hat. Sie werden dann zur Unterhaltung zwischen zwei Personen beziehungsweise Geistern. Doch erst durch »burn« kommt die Aggression gegen die Frau voll zum Vorschein, zumal dies eine diabolische Andeutung ist, die von der Frau scheinbar nicht mehr gesehen wird. Formal ähneln sich die Aufsicht auf den brodelnden Topf, die schwarzen Bohnen im Haufen und der Abspann mit dem Wappen von waverly victus films. Der Clip wurde von den Herstellern mit den tags: scary,
——————
470 http://www.youtube.com/watch?v=tFRhs3-pP8w
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clip, comedy, spooky, ghosts, terror, hauntening films, the haunted, kitchen messages of waverly beans, flams, horror und week versehen, und verzeichnete 2,3 Millionen Aufrufe.471 Es gibt Referenzen zu Filmen wie Warte bis es dunkel wird – die blinde Audrey Hepburn, die alleine in der Wohnung und vor allem in der Küche gezeigt wird; die Frau erscheint schwach und bleibt doch Siegerin. In Bezug auf die Schrift kommt unter anderem auch Shining in den Sinn, der Junge der redrum, das umgedrehte Wort murder, auf den Spiegel schreibt. Die bedrohliche, autonome, sich selbst schreibende, von einer höheren Macht gelenkte Schrift ist ein alttestamentarisches Motiv. König Belsazar erscheint bei einem Festmahl das Menetekel,472 die Referenz an diese unheimliche und vernichtende Schrift wird oft im Film bemüht. The hauntening zeigt die Dramatisierung eines Kurzfilms über den Ton, ohne dessen narrative Logik. Das Video ist professionell gedreht in verschiedenen Einstellungen. Diese beiden künstlerischen »Top Rated« videos wurden durch »social bookmarking« zu Videos, die von vielen gesehen, als interessant eingestuft und weiterverarbeitet wurden. Die beiden analysierten Clips sind all time favorites und Klassiker, die beinahe jeder kennt, sie sind virale, universelle, globale Clips im kollektiven medialen Bilduniversum.
6.3 Medienadäquate Strategien von Online-Videokunst Die neuen medienadäquaten Kunstformen bei YouTube sind auf jeden Fall nicht als solche sprachlich deklariert; unter dem tag Kunst oder art finden sie sich nicht. Die Clips, die unter den tags zu finden sind, zeigen, dass die User eine andere Vorstellung von Kunst haben, die oft dem »Kunst kommt von Können« nahesteht – die Darstellung handwerklicher Fähigkeiten unterschiedlichster Form wird in den Vordergrund gestellt.473 Die Clipkunst ist vor allem an das System Film anschlussfähig. Zum Aufspüren von interessanten Clips sind mediale Kriterien wichtig: Die Anzahl der Aufrufe (bis in die Millionen) ist ein erstes Indiz. Hierzu kommt, dass der Clip ein intensives rating erfahren hat, das heißt, dass viele
—————— 471 Stand März 2008. 472 Altes Testament Buch Daniel 5. 473 Vgl. Sturm, Hermann (1987, Hg.), Artistik, Jahrbuch für Ästhetik, Bd. 2, Aachen.
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NutzerInnen diesen Clip über einen längeren Zeitraum zu ihrem Favoriten (meist im fünfstelligen Bereich) ernannt haben. Hinzu kommt, dass die Nutzer schriftliche Statements in Form von Kommentaren dazu abgeben. Die sprachlichen Kommentare sind jedoch geringer zu bewerten, da sie nicht über die normale Chat-Kommunikation hinausgehen. Medienspezifische Kriterien als Hinweis auf mögliche künstlerische Formen sind weiter: Ein Video entwirft eine neue Ästhetik, die von vielen NutzerInnen aufgenommen wird. Am prägnantesten stellt sich das in den sogenannten responses dar, den visuellen Antworten auf gleicher Ebene (bei den Top-Clips sind es hunderte von Antworten). Videoantworten haben immer einen Wettbewerbscharakter, man versucht, den Vorgänger-Clip zu übertreffen, sie sind also auch als contest-Clips zu bezeichnen. Hier ist besonders hervorzuheben, dass man einen ästhetisch und damit auch sozial relevanten Clip daran erkennt, dass die visuellen Antworten nicht nur die Grundform aufnehmen, sondern ästhetische Varianten entwerfen, die die Grundform karikieren oder weiterentwickeln. Die visuellen Responses erfordern eine intensive Auseinandersetzung und aktives Tun mit audiovisuellem Material, also den Umgang mit stillen und bewegten Bildern und Ton. Weiterhin relevant für die Einstufung als künstlerische Arbeit sind neben der ästhetischen Qualität und konzeptueller Arbeit daher auch Anzahl und Qualität der Videoantworten. Diese sind wichtige Indikatoren zur Einschätzung des ästhetischen- und Sinngehalts.474 Auffällig ist, dass viele der als künstlerisch zu bezeichnenden Videos Stopptrick und Animation nutzen oder aus dem Einzelbild in Serie zum bewegten Bildstreifen des Fotofilms kommen. Für die weitere Einordnung und Beurteilung der Form sind vor allem der Ton und die Art und Weise, wie die Bilder rhythmisiert werden, von Bedeutung. Oft wird zunächst eine Bewegtbilder generierende Software benutzt. Des Weiteren sind für die formale Analyse Kriterien der Video- beziehungsweise Medienkunst von Bedeutung. Die Beurteilung nach dem Umfang des gestalterischen Eingriffs ergibt genau im Bereich der bildenden Kunst nicht immer Sinn (Clip: Prairie dog drama), hier zählt wie bei einigen der Clip-Kategorien die Essenz eines Moments.
—————— 474 Bedeutung der Fanart für die GamerInnen vgl. Richard, Birgit (2004), Sheroes. Genderspiele im virtuellen Raum, Bielefeld. Und Zaremba, Jutta (2009), FanArt – Mediale Zeichnungen als jugendliches Expertentum, in: Constanze Kirchner/Johannes Kirschenmann (Hg.), Kontext Kunstpädagogik, kopaed-Verlag; vgl. Mutzl, Johanna (2005), Die Macht von Dreien. … Medienhexen und moderne Fangemeinschaften. Bedeutungskonstruktionen im Internet, Bielefeld.
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Die NutzerInnen zollen einer Person aus ihrer Mitte Respekt, die nicht im bürgerlichen Sinne eine Person ist, die durch die Bezeichnung und den sozialen Status als Künstler hervorgehoben ist, es fehlt von Seiten der uploader komplett die Selbstbezeichnung als KünstlerIn.
6.4 Online-Video: »Mashup« und Bastard-Kunst von Medienmeistern Es folgt ein Blick auf die Einbettung der Clips in das mediale System. Das Web 2.0 ist zunächst einmal eine neutrale Plattform für diese Art von Kunst. Die gegenwärtigen künstlerischen Formen weisen einen großen Unterschied zu den künstlerischen Initiativen der Netzkunst Mitte der neunziger Jahre auf: So hat zum Beispiel das P2P Netart-Projekt einen internen Verbreitungskreis. Der Künstler gibt den Impuls und die veränderte Kunst zirkuliert nur innerhalb eines festgelegten Netzwerks. Alle Bedingungen sind künstliche und künstlerische, sehr weit entfernt von Tauschpraktiken der normalen User. Anschließend an die Debatte um die Netzkunst- stellt sich folgende Frage: Sind die kreativ-künstlerischen Clips bei YouTube Netzkunst 2.0, die mit den Strukturen des Netzes arbeiten oder Kunst im Netz mit der Kunst als Inhalt? Beide Formen sind hier zu finden, ersteres wäre der Clipkategorie art-Clips zuzuordnen, zweites der Kategorie arty/artresponse. Für die YouTube-Clips wird vom Begriff des Medienmeisters ausgegangen (im Sinne von Handwerksmeister): Er/sie zeichnet sich durch technische Expertise und Perfektion aus und besitzt darüber hinaus artistische handwerkliche Fähigkeiten auf der Grundlage des Mediums. Außerdem produziert der Medienmeister meisterhafte Werkstücke, die manchmal künstlerisch sind oder den Bereichen des Mediendesigns oder der angewandten Kunst entstammen. Vom Betriebssystem Kunst aus gesehen, sind Amateure Sinnbild für das kindlich Naive, Unreflektierte, ein vielleicht technisch perfektes Bildprodukt, das aber durch visuelle Stereotypen, durch bestimmte Motive des Amateurs, entwertet und trivial wird. Die meisten uploader auf YouTube praktizieren dies nicht, um eine neue Ästhetik oder Kunstform zu etablieren. Die YouTube-Künstler werden nicht durch den Kunstmarkt generiert, sondern wachsen innerhalb der Community wie Noah Kalina, der aber schon namentlich mit künstlerischer/gestalterischer
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Vorbildung antritt. Die NutzerInnen von YouTube agieren vor allem der Kommunikation halber, die Clips sind ihr fluider Kommunikationsschmierstoff.475 Sie brauchen dafür das Betriebssystem Kunst nicht. Aufgegriffen und kommerziell verwertet (Rechteinhaber ist Google!) werden die neuen Formen eher von der anderen Seite, den Profis der angewandten Kunst, aus Design und Werbung (Stichwort virales Marketing), im Moment noch weniger vom Kunstbetrieb selbst. »Tatsächlich konterkariert diese Medienrealität sogar oft die utopisch-euphorischen Entwürfe der Künstler. New Economy hat Pionierphase der Net.Art niedergewalzt, Medienamateure werden meist vom industriellen Mainstream an den Rand gedrängt.«476
Unter Clips von Medienamateuren auf YouTube wird in diesem Zusammenhang das Festhalten der eigenen Fähigkeiten im bewegten Bild wie im skillz-Clip verstanden. Die Amateure genießen ihre Talente im Clip als narzisstische Spiegelung des Egos, dies geht schon weit über die Medienaneignung im Sinne von Rezeption hinaus. YouTube ist charakterisiert durch simultane Produktionen und Reaktionen in Echtzeit und die ständige Verfügbarkeit der Produktionsmittel. Ein hier als künstlerisch charakterisierter Clip kann sich nicht unbedingt auf dem Kunstmarkt behaupten (wie zum Beispiel Machinima): Potenziell könnten sie es oder sind sogar schon im Kunstmarkt des bewegten Bildes angekommen. Neben neuen Kommunikationsformen entstehen also neue Präsentationsformen wie auf dem European Media Art Festival 2007, wo der Künstler Björn Melhus als VJ seine Fundstücke bei YouTube vorstellte. Das Revival abgelegter künstlerischer Formen setzt diese frei, wie künstlerischer Fotofilm und analoge Techniken wie Stopptrick, das Gestalten mit Einzelbildern nach Trickfilmprinzipien und Lowtech-Kunstformen mit Lomo-Effekt zeigen. Damit sind die User von YouTube sehr fortschrittlich mit der Art ihrer Produktion, die hybriden Bewegungsbilder des Kinos werden heute nach ähnlichen Prinzipien erstellt.477
——————
475 Ries, Marc (2007), Zeigt mir, wen ich begehren soll. Begegnung und Internet, in: Marc Ries/Hildegard Fraueneder/Karin Mairitsch (Hg.), dating.21. Liebesorganisation und Verabredungskulturen, Bielefeld, S. 11–23. 476 Baumgärtel, Tilmann (2003), Innovative Amateure an den Schnittstellen von Kunst und Medien. Ein Email-Dialog mit dem Kunsthistoriker Dieter Daniels über sein Buch »Kunst als Sendung«, in: Telepolis 19.01.2003, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/ 13/13975/1.html, 25.06.2008. 477 Vgl. Richter, Sebastian (2008), Digitaler Realismus: Hybride Bewegungsbilder zwischen Animation und Live-Action-Film, Bielefeld.
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Die Funktion ist neben Selbstdarstellung und Huldigungen des Verehrten immer die Mitteilung des Individuums an die Community. Die bewegten Bilder sind ein mögliches Daten- beziehungsweise Ausgabeformat der social software und dienen der Interaktion und dem Teilen von Daten mit anderen Nutzern.478 Die Übertragung der Kategorien von Huber479 zur Netzkunst auf YouTube zeigt, dass es sich um eine partizipative Plattform handelt, auf welcher der User durch Download, Bearbeiten, Einsenden von Text, Bildern, Tönen und Filmen zu einer dauerhaften Formveränderung des jeweiligen Projektes beitragen kann. Die Clips, das mediale Rohmaterial sind per se reaktiv, das heißt der Nutzer klickt, um abzuspielen; interaktiv sind sie auf den ersten Blick nicht. Sie sind in einer veränderten, viel umfassenderen Form partizipativ: die visuell innovativen Clips regen dazu an, einen eigenen Clip als Antwort zu produzieren. Dieser bildet dann zusammen mit dem Ursprungsclip ein auf unterschiedlichen Ebenen vernetztes Gesamtprojekt, das sich permanent verändert. Der Schwerpunkt einer Netzkunst 2.0 hat sich von der Interaktion zur Kommunikation in sozialen Netzwerken verschoben. YouTube-Clips sind eine randständige Ergänzung und Auffrischung der Kunst, parallel zum Web 2.0-Journalismus. Unsichtbare kreative Alltagspraxen werden sichtbar, die schon vorher vorhanden waren, aber auch neuartige durch die mediale Form angeregt. Es findet keine neue Ästhetisierung des Alltags statt, da das kreative Potenzial bisher auch schon da, aber nicht sichtbar und offenkundig, war (vergleichbar mit den nur als Teilbereiche des Trivialen wahrgenommenen Feldern, wie das Sammeln und die Fanart). Es entsteht eine medienadäquate grassroot art, die anschließend an Ullrichs480 Präferenz der hauptsächlich unterhaltenden Kunst, als eine l’art pour l’ego et les amis zu bezeichnen wäre. Diese Videos zeichnen sich durch Qualitäten aus, die aus der Videokunst abgeleitet werden: Spannungsbogen, Schnitt, Synästhesie, Rhythmisierung, visuelle Qualität der Bilder, Abstraktion. Es ist auch eine Anschlussfähigkeit an klassische Stile und Genres der Bildenden Kunst gegeben: Collage, Art Brut (kindliche Schemata wie Strichmännchen), Arte Povera (arme, minderwertige Medienmaterialien), appropriationart und Performance.
—————— 478 Vgl. Richard, Birgit (2008), Open Corpse und der Tod aus der (You)Tube. Zur Ästhetik des geöffneten, »transi«-(torischen) und anatomischen Körpers in Musikvideo, Computerspiel und Internet, in: Andreas Frewer/Annette Hilt/Isabella Jordan (Hg.), Endlichkeit, Medizin und Unsterblichkeit. 479 Huber, Hans-Dieter (2001), Zur Geschichte der Netz.Kunst. Problemstellungen, Stand der Dinge, Ausblicke, http://www.hgb-leipzig.de/artnine/netzkunst/geschichte, 25.06.2008. 480 Ullrich, Wolfgang (2005), Was war Kunst? Biografien eines Begriffs, Frankfurt am Main.
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Die Video-Kerne (die Unikate!) eines Online-Video-Gesamtkunstwerkes (wie die Misheard Lyrics bei Wishmaster) sind Medienadäquat. Sie sind Prototypen einer Video- und Medienbricolage. Damit stoßen sie ein fraktales, selbstemergentes Videonetzprojekt an, ein vernetztes videoscape, eine mediale Landschaft, die nicht hierarchisch dezentral und viral ist. Eine neue Bildguerilla als Bildfreibeutertum ist in den kommerziellen Strukturen des Google-Imperiums tätig. Hier wird nicht die mediale Technik okkupiert, sondern die medialen Bilder egal welchen Ursprungs. Sie werden erobert und weiterverarbeitet, unbeachtet bleibt, von wem, wo oder wann sie hergestellt wurden. Mit den kreativ künstlerischen YouTube-Clip-Kategorien entsteht durch appropriation im visuellen Hypertext eine mediale Bastard Kunst im Sinne von social artworking, das die visuelle mediale Landschaft bis hin zur Medienkunst beeinflusst und die visuellen Kompetenzen der sozialen Netzwerke verändert.
7 Sinnlosigkeit, Künstlichkeit, Pathos und Bastardbilder in asozialen Netzwerken als zentrale Schwerpunkte der Jugendbildforschung Das Buch hat in den vorangegangenen Kapiteln die Ergebnisse der Forschung um eine medienadäquate jugendliche Bildlichkeit mit widerspenstigen bis widerständigen Bildpraktiken dargelegt. Hier standen die jugendlichen Bilder von neuen Subkulturen und augmented subcultures, also von medial verstärkten jugendkulturellen Stilen, im Mittelpunkt einer neuartigen Jugendbildforschung. Statisten, optische Mitläufer, Mainstream und Normopathen481 befanden sich in vorangehenden sozialwissenschaftlichen Studien immer im Fokus. Deshalb ist es nicht notwendig, sich mit dem visuell »wiederholenden« Mainstream zu beschäftigen, der ist schon von diversen Studien erfasst. »Today this means giving mass man what he most needs and desires: an illusion of individuation.«482
In unseren Untersuchungen stand eine stil- und ästhetikbildende Avantgarde im Mittelpunkt. Dies bedeutet nicht generell, dass von der Annahme ausgegangen wird, dass die Web 2.0-Bildwelten in einer künstlerischen Absicht hergestellt werden. Kaum einer der Jugendlichen würde sich selbst als KünstlerIn bezeichnen. Eine Anerkennung innerhalb des Systems Kunst ist nicht das Ziel. Den vorangehenden Betrachtungen und Analysen liegt also durchaus ein normativer Ansatz zugrunde, der von der besonderen gesellschaftlichen Funktion der ästhetischen Avantgarden ausgeht. Diese bilden sich insbesondere in den urbanen Metropolen der Welt und spiegeln sich im Internet wider, das dabei nahtlose Übergänge zwischen dem Materiellen und Virtuellen schafft (siehe zum Beispiel Fashion- und Styleblogs). Die Untersuchungen zeigen ein neues ästhetisches Zeitalter, in dem Jugendliche als prädestinierte User innerhalb der eigenen peers und
—————— 481 Lütz, Manfred (2009), Irre – Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde, Gütersloh. 482 Walden zitiert nach Gray, John (2004), Heresies, London, S. 207.
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durch Peer-learning eigene avantgardistische Ästhetiken aufbauen, die unabhängig von Erwachsenen und Institutionen entstehen. Sie betreiben also visuelle Self-education und es entstehen zum ersten Mal autonome Formen von Online-Jugendkunst. Trotz qualitativer Ausrichtung des Buches ist die Repräsentativität nicht aus den Augen verloren worden: Für alle analysierten thematischen Felder fanden ein alle Webseiten zur Thematik erfassender Netzscan und eine Auszählung statt, so dass zu allen relevanten Kernthemen von Jugendlichen auf der Grundlage der Auszählung des Bildmaterials repräsentative Aussagen gemacht werden konnten. Die eigenen Untersuchungen haben somit das gesamte im Web zugängliche Bildmaterial zu einer Thematik erfasst. In den ausgewählten Fallbeispielen geht es ausdrücklich dann auch um die besonderen, abweichenden, subkulturellen Online-Videos und -Fotos. Hier standen zum ersten Mal in der Forschung zum Web 2.0 fast ausschließlich die verdienten ästhetischen jugendlichen Innovateure im Mittelpunkt. Diese sind verantwortlich für neue stilistische Formen, neuartige genuine Bilder und mediale Strategien, die die gesamte Bildwelt und visuellen Landschaften einer Gesellschaft nachhaltig verändern. Nur den subkulturellen Innovateuren, circa 3–5 Prozent, gelingt der reflektierte Umgang mit den visuellen Eigen- und Fremdanteilen im bastardisierten »Mashup«-Bild. Visuelle Mitläufer, die restlichen circa 95 Prozent sind sich dagegen keiner Übernahme bewusst und naturalisieren ihre un(ter)bewusst inkorporierten Vorbilder. In der seit 2006 stattfindenden Grundlagenforschung zu Online-Bildplattformen wie YouTube und Flickr (sowie auch zu MySpace und Facebook), von denen die erstgenannten als die Prototypen für Online-Videobild und -Fotografie exemplarisch in Fallanalysen untersucht wurden, ist die Produktebene von Interesse. Produktionskontext und Rezeption spielten nur am Rande eine Rolle, das zeigt sich zum Beispiel in der Auszählung der Views des erhobenen Bildmaterials, die die Grundlage für die Auswertung der Bilder und die werkimmanenten Fallanalysen darstellt. Die Auswertung konzentrierte sich nicht auf technische Verfahren, wie Mustererkennung (pattern recognition) und damit auf optische Darstellungsmuster, sondern auf Themengebiete, Motive und Felder der jugendlichen Bilder und bedient sich dabei auch neuartiger Programm der visuellen Bildsuche für den image retrieval (zum Beispiel google image swirl oder retrievr), um Bildnachbarschaften zu konstruieren. Für die Analysen waren hermeneutische Methoden nicht notwendig, da begleitende Texte und
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Sprachanteile bewusst nicht berücksichtigt wurden, um konsequent ausschließlich die visuelle Ebene und die Vermittlung visuellen Wissens in der Vordergrund der Forschung zu stellen und nicht durch Text und sprachliche Vorannahmen zu verunklären, soweit dies möglich ist. Eine intentionale Sinnhaftigkeit der Bilder und die absichtsvolle Vermittlung von visuellem Wissen wurden hierbei nicht vorausgesetzt. Auch sind hier zum ersten Mal Ansätze von Gender und Diversity, die in dieser Forschung bisher keine Rolle gespielt haben, in den Analysen berücksichtigt worden, da sie bei jedem thematischen Schwerpunkt immer wieder relevant wurden. Die visuelle Konstruktion von Geschlecht wurde bisher immer ausgespart bzw. durch stereotype a priori (und Vorurteile, wie Jungen haben einen größeren Horizont im Netz und Mädchen sind sozialer, also lieben sie das chatten usw.483 – die geschlechtlichen Unterschiede werden nicht interpretiert) in den vorliegenden Studien bedient worden. Dabei spielt Geschlecht in den Widerständigkeiten bzw. für die widerständige Bildstrategien eine bedeutende Rolle. So wurden Bilder von expliziter Hypersexualität, neuartige Männlichkeitsbilder oder die folkloristische weibliche Zartheit hier als abweichend herausgearbeitet. Unterschiedliche Bildformen sind ohne die sozialen Vorgaben für die visuelle Konstruktion von Geschlecht nicht zu erklären. Alle herausgearbeiteten abweichenden Bilder von Drastik, Dramatik, Archaik, Pathos, aber auch hybride Tanzstile oder FanArt nutzen das Netz als besonderes Experimentierfeld, da es erst einmal einen sanktionsfreien Bildraum darstellt. Es bietet genügend Nischen und was zudem wichtig ist: es ist ein kommerzieller Warenraum, der von Erwachsenen nicht ernst genommen bzw. hauptsächlich zu Konsumzwecken genutzt wird. Dies bringt Vor- und Nachteile (Sanktionen wegen Copyright oder Urheberrechtsverstößen) mit sich, sprengt aber vor allem die Enge der Face2Face Kontakte auf. Web 2.0 steht für das Endlos-Werden einstiger privater Räume. Die Ausweitung des Privaten bringt es mit sich, dass die Selbstpräsentationen ganz selbstverständlich zu Kostümierungen oder ernsthaften Maskeraden werden müssen, hinter denen sich kein »Kernselbst« oder eine fassbare Identität verbergen können.
—————— 483 Siehe z.B. JIM-Studie von 2009 S. 7f, S. 19. Online unter: http://www.mpfs.de/filead min/JIM-pdf09/JIM-Studie2009.pdf
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»In Brummell’s time, dandyism was an exclusive cult. […] Today, Walden observes, it is the habit of millions.«484
Die ausbrechenden und Grenzen aufweichenden Bilder bemühen referentiell Zukunft und Vergangenheit, die Gegenwart ist bereits vereinnahmt und verfließt zu schnell. Das machen Plattformen wie Facebook oder Flickr, dessen Bezeichnung schon für die schnelle Vergänglichkeit des Aufflackerns steht, mehr als deutlich. Das Ziel ist die momentane Präsenz, die wie die Jugendlichen wissen, für die Wahrnehmung durch die Anderen wichtig ist aber nicht von Dauer. Das Bild des Selbst als Ego-Clip und Egoshot fällt ständig dem asozialen Verschwinden im Flow der Bilder anheim. Mit einer linear aufgebauten Sprache sind die simultanen Prozesse in den Netzwelten, die auf multiperspektivischem und multilayer Hypertext basieren, nicht zu beschreiben. Für Bilder gilt auch grundsätzlich, dass in einem Bild alle Informationen zur gleichen Zeit präsent sind. Bilder sprechen grundsätzlich nicht, sie erzeugen einen optischen Überschuss, der nicht in Sprache auflösbar ist, außerdem bilden sie nicht ab. Bilder können auch im Falle einer im Bild befindlichen Person nicht sprechen: Bild und Person sind immer durch das Dazwischen des Apparats im Zusammenspiel von Hard- und Software getrennt. Bilder stehen oder laufen und interagieren nicht, sind auch nicht groß und still, wie Bolz485 sie bezeichnet hat. Bilder sind keine anthropomorphe Erscheinungen, sondern von ihrer Medienstruktur her technische Bilder, mit einem dazwischengeschalteten Apparat486 und im digitalen Zeitalter, Produktions- und Bildverarbeitungsapparat. Immer ist davon auszugehen, dass in Bilduniversen Nachbarschaften und Serien entstehen. Die humane Geste des Archivierens geht über den reinen Speicherungsprozess hinaus und schafft eine individuelle Ordnung. Die digitalen Online-Bilder sind immer seriell487 und es gibt daher image to image (i2i) Bildzuordnungen, -verschiebungen und -verwerfungen. Deshalb gibt es keine Bildinteraktionen, denn Bilder sind keine eigenständigen Entitäten. Es sind die Menschen, die auf der Grundlage von Hardware und Software agieren. Medienstrukturell nennt man dies »Telepräsenz«, die im Gegensatz zu Interaktion nicht in Echtzeit, sondern mit Ver-
—————— 484 Gray, John (2004), Heresies, London, S. 206. 485 Bolz, Norbert/Rüffer, Ulrich (1996), Das große stille Bild, München. 486 Vgl. Flusser; Vilem (1990), Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen. 487 Sykora, Katharina (1983), Das Phänomen des Seriellen in der Kunst: Aspekte einer künstlerischen Methode von Monet bis zur amerikanischen Pop Art, Würzburg.
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zögerungen einem »cyberspace delay« stattfindet. Die Bildumschichtungen erscheinen absichtslos, Jugendliche können eine Bilderlawine anstoßen, denn die Online-Bilder sind viral. Sie verbreiten sich unkontrolliert, sind aber keine eigenständigen Subjekte, so wenig wie ein Virus etwas Wesenhaftes sein kann. Festzustellen ist also, dass das Bild in einer neuen technischen Phase des Web 2.0 wieder einmal magische Qualitäten bekommt, da der Mensch, wie bei der analogen Fotografie, wieder vergisst, dass er selbst Apparat und Bilder gemacht hat.488 Der animistische Geist vorheriger Epochen der Bildherstellung verselbständigt die Bilder, die von Medium und Mensch animiert werden. Bei YouTube und Flickr zeigen Ego-Clips und -shots, das mediale Bild wird niemals durch ein Porträt einer Person verdrängt, auch wenn sie auf dem Monitor spricht. Ein Videobild ist immer die Illusion einer realen Person, es ist medienvermittelt. Die digitalen Bilder werden sortiert und selektiert von Menschen und Programmen. UserInnen legen links, legen Alben und Serien an, diskutieren und kommentieren sie usw. – damit entstehen Bildnachbarschaften, eine Ebene darüber findet man programmierte image maps und mouseovers als Verbindungen der Bilder. Die gleichgültige Verschiebung von Bildern innerhalb von Bildsystemen und Bildrhizomen, die auf Mensch und Technik basiert, ist per se asozial, da sie auf der technisch-medialen Ebene angesiedelt ist. Damit ist trotz möglicher Kommunikationsfunktionen von Asozialen Netzwerken auszugehen; die Bilder in ihnen sind mediale loops und selbstreferentiell. Sie könnten auch beinahe ohne jegliche Nutzer voll automatisiert programmiert funktionieren, rekurriend auf die visuellen Inhalte, die schon da sind. Es ist nicht unterscheidbar, ob ein Mensch oder eine Maschine oder ein Softwarebot agiert. Damit ist Joseph Weizenbaums ELIZA Experiment von 1966 immer noch aktuell. Die Bilder im Netz sind also technische Bilder, apparatisch erzeugte digitale Formate. Auch diese Bilder sind immer noch keine »Absonderungen von Realitäten«, auch wenn sie eine besondere Fülle und Dichte von Bildern in Echtzeit erzeugen und senden können. Das Gegenteil ist der Fall, je mehr Bilder erzeugt werden, desto mehr tritt das »Optisch-Unbewusste« in den Lücken zwischen den Bildern zum Vorschein, nicht etwa eine letztgültige Auflösung dahinter. Bilder sind also grundsätzlich keine Abbildungen und auch keine »Dokumente« jugendlichen Lebens oder visueller
—————— 488 Vgl.: Flusser; Vilem (1990), Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen.
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Ausweis von »Identität«489. Denn Abbilder erschöpfen sich aufgrund ihrer Eingebundenheit in den Alltag darin, »existierende Dinge oder Sachverhalte nochmals zu zeigen«.490 Das digitale Bild unterscheidet sich von analogen Bildern. Eine digitale Fotografie ist seriell-massenhaft und erzeugt durch die Veränderbarkeit jedes Pixels eine neue Bildsorte. Die Selektion ist für Serien und Bildordnungen die entscheidende Strategie, sie lässt auch Bildbastarde und -hybride im sogenannten »Mashup« entstehen, durch Appropriation und mimetische Wiederholung. Die beiden wichtigsten Online-Bild-Plattformen des Web 2.0 weisen unterschiedliche Bildqualitäten auf. Flickr reflektiert die Bestandteile der Fotografie, Technik, Apparat und die Komplexität des fotografischen Bilds. Die Beschäftigung mit der Fototechnik ist dominant, es geht um die Kamera und ihre Einstellungen. Die Online Fotografien sind High Quality und bemühen sich meist um die Dichte der Bildinformationen; sie reflektieren Fotokunst, Amateur-, Hobby- und Gebrauchsfotografie. Auf Flickr finden sich Selbstdarstellungen und Übertreibungen der technisch ästhetischen Mittel. Bei den Online-Videos von YouTube ist die Technik unwichtig, durch bestimmte Vorgaben der Datenbank waren zu Beginn nur bestimmte Datenmengen möglich. Obwohl heute verschiedene Qualitäten wählbar sind, zählen hier vor allem die visuellen low tech und Minimalvarianten (wie zum Beispiel der Film »Saw in 60sec«). Apparat und Technik treten in den Hintergrund, das Medium reflektiert sich selbst und seine Bestandteile, nämlich alle bewegten digitalen Bild und die zugrundeliegenden Roh-Materialien aus Film, TV und Game, die im gestaltenden Prinzip des »Mashup«, durch die UserInnen transformiert werden.
—————— 489 Gray, John (2004), Heresies, London. 490 Böhm, Gottfried (1994), Die Wiederkehr der Bilder. (Anm. 4), S. 12 und S. 16. zitiert nach www.fernuni-hagen.de/KSW/forschung/pdf/fk1_ksw_collenberg.pdf
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7.1 »Identität« als Illusion: Das verdoppelte Spiegelstadium in asozialen Netzwerken »Auch Hegemanns Erfolg basierte auf dem Glauben an ihre Authentizität – als sich herausstellte, dass einige Passagen ihres Buchs abgeschrieben waren, war die Enttäuschung groß.«491 »Gewollte Tränen sind ebenso wenig echt, wie gewollte Authentizität.«492 »Damit wird jedoch nicht eine bestimmte Form des Authentischen durch eine neue abgelöst, sondern vielmehr die Kategorie der Authentizität selbst ein für allemal verabschiedet«.493
Die Selbstbespiegelung in der mimetischen Selbstdarstellung kann dabei wichtiger werden als die Kommunikation. Das visuelle Ego und seine Objekte befinden sich in permanenter Spiegelung und Vervielfältigung. Die Wiederholungen erschöpfen sich nicht in der Starrheit eines sinngeladenen Handlungsmusters, sondern enthalten auch vor allem das essentielle Moment der unverständlichen Sinnlosigkeit, das sich jeglicher Hermeneutik entzieht. Wie im Barock produzieren die Netz-Fotos und -Videos einen ekstatischen Mehrwert, das Visuelle strömt aus dem Bild heraus.494 Trotz maximaler visueller Künstlichkeit bleiben die UserInnen immer real, auch als Avatar und in bestimmten Posen im Netz. Daher kann es keine Echtheit geben, sobald ein apparatives Aufnahmemedium dazwischengeschaltet ist, deshalb ist gleich alles oder nichts echt. Damit erledigen sich die ewigen Diskussionen um »Authentizität« durch das jugendliche Lob von Bastardenund »Mashup«-Strategien und das Feier barocker sinnloser Künstlichkeit und überschäumender Artistik. Die digitalen Bilder des Web 2.0 sind von ihrem medialen Charakter her, wie einst Graffiti und tags auf der Straße, Zeichen von Präsenz.495 Sie teilen nichts mit außer Ort und Namen, lassen sich nicht entschlüsseln, außer Präsenz und der Zuordnung zu einem Style,
—————— 491 Rapp, Tobias (2010), Lenaismus, Spiegel 14/2010 S. 118–120, S. 120. 492 Mecke, Jochen (2006), Der Prozeß der Authentizität. Strukturen, Paradoxien und Funktionen einer zentralen Kategorie moderner Literatur, in: Knaller, Susanne (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München. S. 82–114. S. 99. 493 Ebd., S. 114. 494 Fahle Oliver (2004), Vorlesung: Geschichte und Gegenwart der Bilder (SoSe 2004) http:// www.uni-weimar.de/medien/bildmedien/lehre/ss2004/Vorlesung%20Bilder% 5B1%5 D.%201.Teil.htm &http://www.uni-weimar.de/medien/bildmedien/lehre/ss 2006/VL _5-10_Positionen%20der%20Bildtheorie.pdf 495 Vgl. Baudrillard, Jean (1978), Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin (frz. 1975).
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sie sind Markenzeichen im unbestimmten und bereits kommerziell okkupierten Raum. So wie in der ersten Phase der Digitalisierung sind Wahrheit und Tiefe in Bezug auf die jugendlichen Netzbilder als überkommene Begriffe zu betrachten: Vor allem die jugendkulturellen Online-Bilder im Netz sind ein Lob der Oberfläche ohne verborgene Wahrheit und Sinn dahinter.496 Medienstruktur und Visualität, der dadurch als asozial zu bezeichnenden Netzwerke kommen der ephemeren Qualität der Jugend in hervorragender Weise entgegen. Die Medienstruktur hat die logische Folge von massenhaften Bilderscheinungen, die sich nur für die Sekunde im Stream bewegen und dann verschwinden. Während der darstellende digitale Apparat massenhaft speichern und jederzeit wieder löschen kann, sind in der digitalen Zirkulation die Netz-Bilder immer in Bewegung. Sie sind daneben auch expliziter Ausdruck der Verweigerung der sprachlichen Mitteilung. Die Jugendlichen verschwenden ihre Zeit nicht mit Reflektionen über Privatheit und Öffentlichkeit. Sie präferieren wie alle Generationen davor, Sinnlosigkeit und Zeitverschwendung im endlosen »Zocken«, sinnliche Bild-Exzesse in Nicht-Privatheit, Existenz und Ekstase im Datenstrom der technischen Bilder. Sie bevorzugen das visuelle Stottern der Bilder, es gibt im Netz keine klare »Grammatik«, weil Bilder-Netze im Fluss vorsprachliche Erscheinungen sind, es zählt nur ihre medienadäquate »Trueness«. Es findet eine Verschiebung vom »komischen Geräusch«497 zu komischen Bildern statt. »Lärm« wird in der Argumentation gegen die »Bilderflut« gekontert durch die mediale Störung, das Verkürzen und Strecken, das Stotternlassen der Motorik des Bildflusses und die hermetische sinnlose Pose für die Ekstasen des jugendlichen Lebens. Die These von den Bildern als Mittel zum einzigen Zwecke der Kommunikation mit anderen, muss also revidiert bzw. erweitert werden. Hinreichende Motivation für den Einstieg in den Bildstrom ist die Spiegelung und die Rückkopplung von Selbstbildern. Das entscheidende Prinzip bei den Jugendlichen Netz-Bildern ist also ihre asoziale Selbstreferenz. Die Pubertierenden sind »Helden der Gegenwart, wenn man sie lässt«, so Jan-Uwe Rogge. Dieses lässt sich mit der Hirnforschung nachweisen: Jay Giedd weist mit einem Hirnscan bei 2.000 Kids in den USA nach, dass das Gehirn in Pubertät grundlegend umstrukturiert wird, deshalb beson-
—————— 496 Flusser; Vilem (1990), Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen, 3. Auflage. 497 Diedrichsen, Diedrich (1994), Wer fürchtet sich vor dem Cop Killer? Zehn Thesen, in: Pop und Politik, Spiegel special 2/1994 v. 01.01.1994, S. 27.
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ders leistungsfähig ist und begierig, alles neu zu sortieren. Es werden also Ordnungen hergestellt, welches die populäre Anschauung des Pubertären als ein wirres hormonelles Durcheinander, widerlegt. Die Jugendlichen haben eine hyperaktive sinnliche Wahrnehmung und die »Datenverarbeitung« im Gehirn erhält dadurch hohe Neuronenimpulse und innovative Verschaltungen. Das Hirn und die Sinne besitzen das Potential zu Höchstleistungen.498 Daher ist auch die Verarbeitung von medialen Bildern das passende Betätigungsfeld für jugendliche UserInnen, die massenhafte, permanente und weitestgehend unkontrollierte Bildproduktion und -rezeption machen das Netz zum Freiraum und damit zum »winning space«.499 Die Phase der Pubertät macht also kreativ durch aisthetische Höchstleistungen und setzt damit auch viele visuelle Energien frei, um eigene Bilder zu machen. Das Netz bietet zudem auf seinen Bild-Plattformen für Jugendliche die Möglichkeit, als vollwertige Mitglieder von Online-Gemeinschaften anerkannt werden, während im RL in bestimmten Milieus die Jugendliche bis 18 Jahre noch im Status des Kindes gehalten werden.
7.2 Durch das asoziale »shifting image« zum visuellen Wissen Das Web 2.0 macht zum ersten Mal die Bewegungen des shifting image sichtbar bzw. macht nachvollziehbar, dass die Bilder in relationalen Bildnachbarschaften organisiert bzw. angeordnet sind und mit jedem neuen Bild neu formiert werden. Bislang waren die Bildverlagerungen nur spekulativ zu erfassen,500 jetzt kann man die Verschiebung und Setzung der Bilder bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, ihre Speicherung, Archivierung, dann die Selektion und Neukomposition durch Bastardisierung. Exemplarisch für einen neuartigen Umgang mit den Bildern führt der Fotograf Armin Linke vor, wie die Bilder ohne Text auskommen können. Bilder, in diesem Fall die digitalen Fotografien, stehen für sich und dürfen
—————— 498 Dworschak, Manfred (2010), Helden auf Bewährung, Spiegel Online vom 12.04.2010. Online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-69946947.html 499 Whyte, William Foote (1996), Die Street Corner Society: Die Sozialstruktur eines Italienerviertels, Berlin/New York. 500 Richard, Birgit (2003), 9-11. World Trade Center Image Complex + »shifting image«, in: Kunstforum International: Das Magische (Hg. zusammen mit Sven Drühl) Band 164, S. 36– 73.
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endlich sprachlos werden und sind damit als Kontrapunkt gesetzt zu den traditionell sprachbasierten Wissenschaften und Künsten, die das Bild als Illustration und nicht als eigene Entität sehen. Schon als Armin Linke 2006 auf der ZKM-Tagung »Das Bild der Gesellschaft« seine Bilder präsentierte, 500 Stück in einer Slideshow – unkommentiert, schnell hintereinander getaktet – erhob sich unter der anwesenden Wissenselite der Protest gegen die Geschwindigkeit und Sprachlosigkeit der Bilder. Die neue sinnliche Bilderfahrung im Seriellen war mit den bisherigen, der Sprache untergeordneten Bild-Präsentationen nicht vereinbar. Armin Linkes medienadäquates Konzept für eine serielle digitale Fotografie ist beinahe singulär. Es basiert ganz auf der Struktur des digitalen fotografischen Mediums als Archiv und rekurriert dann immer auf Formen der individuellen Anordnung. Armin Linke hat damit eine neue Dimension betreten, die dem digitalen Bild den Platz einräumt, den es verdient. Der Fotograf weiß die Verschiebungen der Bilderströme, Motive und Strukturen richtig einzuschätzen. Trotz seiner scheinbaren Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelmotiv vertritt er einen dokumentarischen Stil in der Fotografie. Sich auf Linkes Bild-Präsentation einzulassen, bedeutet Neues über die Bilder im klassischen Wortsinn von Aisthesis zu erfahren. Die strömenden Bilder werden im Kopf von den BetrachterInnen geordnet oder sie können dann sogar in Installationen manuell angeordnet und materiell mitgenommen werden. Hier ist es egal, aus welchem Impuls BesucherInnen die Bilder ordnen. Das Erstellen der eigenen Ordnung des Archivs (Linkes digitales Bildarchiv umfasst 100.000 Fotografien) ist das Entscheidende und folgt rein visuellen Kriterien. »›Der Fotograf‹, heißt es in der Ausstellung, ›sucht nach visuellem Wissen, das noch nicht mit sprachlichen Klischees verbunden ist. Es gibt im Kunstverein Heidelberg keinen Text, der den Hintergrund erläutert, die Fotos tragen einen Titel, nennen Ort und Datum des Aufgenommenen – mehr nicht.‹«501
Das reicht aus, mehr sagt auch kein Flickr-Foto im Web 2.0, vielleicht wird noch der Kameratyp benannt. Die Rezeption der BetrachterInnen wird nicht über Texte vorgeprägt, sie werden nicht sprachlich instruiert, wie sie das Bild zu sehen haben, sondern müssen sich mit dem beinahe »nackten« Visuellen auseinandersetzen. Julia Voss moniert auch das Unbearbeitete
—————— 501 Voss, Julia (2010), Was lehrt uns der leere Pool im Westjordanland?, FAZ 10. April, Nr. 83, S. 33.
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der Fotografie, auch das ist ein Kennzeichen der neuen digitalen seriellen Fotografien. Nicht das Einzelbild steht im Vordergrund, sondern durch die massenhafte Erzeugung das Einstellen in einen Verbund. Es geht um Bilderordnungen und Sortierungen und in der Sprachlosigkeit liegt das neuartige der neuen digitalen Bilder, eine Herausforderung für eine logo- und phonozentristische Gesellschaft, genau richtig für die junge Generation von BildProduzentInnen. Aber was sagt uns das Bild darüber hinaus? Da es ein Bild ist, sagt es nichts, sondern zeigt etwas. Armin Linke ist der somit künstlerische Prototyp eines neuartigen Umgangs mit massenhaft erzeugten digitalen Bildern. Ein sehr kleiner Teil der jungen Generation von FotografInnen geht anders, nämlich medienadäquat mit der Fotografie um, so auch Taryn Simon, wobei hier ein Sprachrest vorhanden ist, da in den Beiheften zu Ausstellungen aufgelöst wird, welches Bildmotiv zu sehen ist. Die Bilder der Jugendlichen und ihr Umgang damit laufen natürlich simultan und parallel zu den Verfahren Armin Linkes, da es der einzig medienadäquate ist. Nur mit diesen Strategien ist ein Ausbruch aus dem Gefängnis der Sprache möglich ist und damit ein bewusster reflektierter Umgang mit Bildern. Damit ist für das Web 2.0 der Aspekt der asozialen Netzwerke viel stärker hervorzuheben und als der dominantere zu bewerten. Zur grundsätzlichen Asozialität des Netzes gehören sowohl Phänomene wie die exzessiven visuellen Selbstbespiegelungen, als auch alles, was von der Presse unter dem Begriffen Mobbing und »Cyberbullying«502 gehandelt wird. Kommunikation findet zwar statt, aber das eigene Ego und die soziale Anerkennung auf Kosten Anderer stehen oft im Vordergrund. Das wird von der Medienstruktur gefördert, da diese von der Tendenz her neutral ist, also asozial. Asoziale Strategien werden vor allem auch von den erwachsenen »Eliten« des Web 2.0 vorgelebt, so zum Beispiel vom harten Kern der Wikipedianer, von circa 100 Leuten, die sich zu einer sektenartigen Struktur formiert haben. Dort gibt es zwei Lager, die ideologische Richtungskämpfe ausfechten, asozial sind hier die sogenannten Exklusionisten. Diese lehnen Artikel von NutzerInnen als nicht relevant oder zu kurz ab und würdigen unerfahrene UserInnen dann noch verbal herab.
—————— 502 Auch als Schwerpunkt der JIM-Studie (2009), Online unter: http://www.mpfs.de/filead min/JIM-pdf09/JIM-Studie2009.pdf
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Die demokratische Toleranzgeste des angeblichen Mitmachnetzes bleibt also ein nicht eingelöstes Versprechen. Dagegen wird der asoziale Umgang des Beleidigen und Belehrens besonders von den Strukturen des Web 2.0 gefördert. Die Statuten eines sogenannten Neutral Point of View werden von den oligarchisch Organisierten selbst unterlaufen, sagt Fiebig: »Es gibt Relevanzkriterien, die bestimmen, worüber man überhaupt schreiben darf.«503 Die Führungskader verlassen sich dabei auf Google, daran machen sie die Relevanz fest, wer nicht bei Google erscheint, ist nicht relevant. Hier zeigt sich im Mitmachnetz auch die Dominanz des Kommerziellen und der Verwertbarkeit von Daten. »Die Wikipedia ist kein Projekt vieler, sondern ein Projekt weniger. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass alle Nutzer gemeinsam und demokratisch zu ihr beitragen«504
Jugendliche schreiben bei Wikipedia deshalb meist nicht mit,505 sie werden überall genug im Alltag schulmeisterlich belehrt, wenn dann sind es oft junge Männer,506 die sich beweisen wollen. Jugendliche weichen deshalb auf andere Plattformen aus, gerne auf die kommerziellen, die ideologiefrei vor allem auf das Bild ausgerichtet sind und Unübersichtlichkeit und Weite des virtuellen Raumes suggerieren. Die Erwachsenen gebärden sich als die Herren der Sprache,507 Bilder scheinen ihnen als eine vernachlässigbare Größe. Deshalb ist der Umgang mit Bildern eine Nische, die die jugendlichen UserInnen gerne besetzen, da die Pubertät ihr sinnliches Austoben geradezu herausfordert und hier beinahe unbemerkt ein erheblicher visueller Wissensvorsprung gegenüber der älteren Generation herrscht.
—————— 503 Fiebig zitiert nach von Rohr, Mathieu (2010), Im Innern des Weltwissens. Spiegel Nr. 16/2010, S. 152–156, S. 154. 504 von Rohr, Mathieu (2010), Im Innern des Weltwissens, Spiegel Nr. 16/2010, S. 152–156, S. 152. 505 Laut JIM-Studie von 2009 nur 1%. 506 von Rohr, Mathieu (2010), Im Innern des Weltwissens, Spiegel Nr. 16/2010, S. 152–156, S. 156. 507 Jugendliche twittern auch sehr selten laut der JIM-Studie von 2009.
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Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18:
Corpse Paint. Gerry_mak. Flickr.com..............................................111 Indie Boy. flickr.com...........................................................................131 Macho Man. flickr.com.......................................................................132 Inszenierung von »Hässlichkeit«. flickr.com....................................136 Künstlerische Inszenierung von Weiblichkeit. flickr.com .............137 Lorena Cupcake – fashion victim. flickr.com..................................140 Life Sparks – fashion victim »the tie«. flickr.com ...........................141 Sturmgeist89. youtube.com................................................................153 Burzum Fan-Clip. youtube.com ........................................................157 The Mother Of All Funk Chords. youtube.com.............................198 Wishmaster – The Misheard Lyrics. youtube.com .........................200 Moustache girl. flickr.com..................................................................214 Mustache. flickr.com...........................................................................214 topupthetea – non pas! flickr.com ....................................................215 Misses with Moustaches. flickr.com .................................................218 Ksen. flickr.com...................................................................................219 Philippe Leroyer @ ExisTrans’. flickr.com .....................................221 Videostills aus The Hauntening. youtube.com................................255
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