Andrea Gschwendtner Bilder der Wandlung
Film, Fernsehen, Medienkultur. Schriftenreihe der Hochschule für Film und Fer...
54 downloads
1647 Views
11MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Andrea Gschwendtner Bilder der Wandlung
Film, Fernsehen, Medienkultur. Schriftenreihe der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Herausgegeben von Lothar Mikos, Michael Wedel, Claudia Wegener und Dieter Wiedemann Die Verbindung von Medien und Kultur wird heute nicht mehr in Frage gestellt. Medien können als integraler Bestandteil von Kultur gedacht werden, zudem vermittelt sich Kultur in wesentlichem Maße über Medien. Medien sind die maßgeblichen Foren gesellschaftlicher Kommunikation und damit Vehikel eines Diskurses, in dem sich kulturelle Praktiken, Konflikte und Kohärenzen strukturieren. Die Schriftenreihe der Hochschule für Film und Fernsehen schließt an eine solche Sichtweise von Medienkultur an und bezieht die damit verbundenen Themenfelder ihren Lehr- und Forschungsfeldern entsprechend auf Film und Fernsehen. Dabei werden unterschiedliche Perspektiven eingenommen, in denen es gleichermaßen um mediale Formen und Inhalte, Rezipienten und Kommunikatoren geht. Die Bände der Reihe knüpfen disziplinär an unterschiedliche Fachrichtungen an. Sie verbinden genuin film- und fernsehwissenschaftliche Fragestellungen mit kulturwissenschaftlichen und soziologischen Ansätzen, diskutieren medien- und kommunikationswissenschaftliche Aspekte und schließen Praktiken des künstlerischen Umgangs mit Medien ein. Die theoretischen Ausführungen und empirischen Studien der Schriftenreihe erfolgen vor dem Hintergrund eines zunehmend beschleunigten technologischen Wandels und wollen der Entwicklung von Film und Fernsehen im Zeitalter der Digitalisierung gerecht werden. So geht es auch um neue Formen des Erzählens sowie um veränderte Nutzungsmuster, die sich durch Mobilität und Interaktivität von traditionellen Formen des Mediengebrauchs unterscheiden.
Andrea Gschwendtner
Bilder der Wandlung Visualisierung charakterlicher Wandlungsprozesse im Spielfilm
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Barbara Emig-Roller / Eva Brechtel-Wahl VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17488-4
Danksagung
Für die fachliche Begleitung dieser wissenschaftlichen Studie, danke ich herzlich meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Lothar Mikos und Prof. Dr. Annamaria Rucktäschel. Für die Förderung der Entwicklung der Studie und den Freiraum für das wissenschaftliche Arbeiten danke ich herzlich Prof. Barbara Kirchner. Prof. Dr. Carsten Busch danke ich sehr für sein engagiertes Mentoring. Prof. Dr. sc. Dieter Wiedemann gilt mein Dank für das Vertrauen und wirksame Motivationsanschübe. Sabine Bischoff und Prof. Dr. Dagmar Hoffmann danke ich für kritische Lesungen und fachliches Feedback. Für das Coaching zu Struktur und Inhalt danke ich Dr. Sylvia Meffert, Stefan Kogel, Bettina Maisch, Prof. Dr. Clemens Schwender, Franz Schaller und Dr. Claudia Peppel. Für große Zuverlässigkeit, motivierende Hinweise und kraftvolle Mitarbeit beim Lektorat danke ich Dr. Holger Jens Schnell, Daniela Wiesner und Björn von Einem. Meiner Familie und meinen Freunden danke ich von Herzen für die Begleitung auf diesem langen Weg, die unerschütterliche Zuversicht und die vielen Quentchen Humor.
5
Inhaltsverzeichnis
Danksagung ..................................................................................................................
5
Einleitung 1. Wandlungsmomente – Funktionen des Erzählens ................................... 1.1 Charakterliche Wandlung im Spielfilm ......................................................... 1.2 Forschungsperspektiven zu filmischer Narration und Figuren ............... 1.2.1 Forschungsfokus Erzählung: Kernthemen, Gesellschaft und Kultur, Philosophie und Psychologie ................................................... 1.2.2 Forschungsfokus Filmfigur: Rollen und Typen, Figur und Gerne, Werkstudien, Figur und Bewusstsein ................................................... 1.2.3 Forschungsfokus Filmpraxis: Drehbuchschreiben, Modelle und Typologien zur Figurenkonstruktion, Praxismodelle zur Filmwirkung ..... 1.2.4 Forschungsfokus Psychologie: visuell-szenische Imagination .......... 1.3 Neues filmwissenschaftliches Forschungsdesign – Voraussetzungen, Erfordernisse, Orientierung .......................................................................... 1.4 Filmische Darstellung charakterlicher Wandlung - zentrale Forschungsfrage und Arbeitshypothesen ..................................................................................
11 13 15 16 17 18 22 23 26
Teil I Theorie und Methodik 2. Theorie der Prozesshaftigkeit Teil I: Begriffe der Erzähltheorie ......... 2.1 Definition Prozesshaftigkeit: formale Gestaltungsprinzipien und Dominanten ..................................................................................................... 2.2 Prozesshaftigkeit erzählerischer Ordnungsprinzipien ............................... 2.3 Prozesshaftigkeit narrativer Transformation .............................................. 2.4 Prozessstrukturen narrativer Transmission ................................................. 2.5 Prozesshaftigkeit als Begriff im PKS-Modell ............................................. 2.6 Visuelle Prozesshaftigkeit gegenständlicher Bildinhalte............................. 3. Theorie der Prozesshaftigkeit Teil II: Begriffe aus Theorien zur fiktiven Figur .. 3.1 Prozesshaftigkeit im Figurenprogramm ...................................................... 3.2 Hauptfigur: Prozesshaftigkeit in Rollenprofil, Konstruktion und Inszenierung .
31 32 34 42 45 55 58 61 62 66 7
3.3 Hauptfigur: Prozesshaftigkeit in Charakterprofil, Emotionsstrukturen und Affektinszenierung ................................................................................. 3.4 Analyseperspektive des PKS-Modells: Prozesshaftigkeit in der Figurenkonstruktion .......................................................................................
70 79
Teil II Filmanalyse und Ergebnisse 4. Gesamtmodell: Forschungsdesign und Analyseraster ............................. 4.1 Sequenzauswahl für die Filmanalysen .......................................................... 4.2 Kurzsynopsen der Filme ................................................................................ 4.2.1 Geschichten der Reifung ........................................................................ 4.2.2 Geschichten des Scheiterns ................................................................... 5. Visualisierung charakterlicher Wandlung im Gesamtverlauf der Narration 5.1 Handlungsverlauf und cause-effect chain ......................................................... 5.2 Hierarchie von kernels und satellites ................................................................ 5.3 Etablierung von goals und ihre Veränderung................................................ 5.4 Funktionen von initiating events und complicating actions ................................ 5.5 Aufteilung der erzählerischen Inhalte auf story und plot ............................ 5.6 Funktionen der filmischen Darstellung von Zeitfluss und Zeitmanipulation . 5.7 Prozesse charakterlicher Wandlung: Erzählverlauf und Retrospektive ..... 5.8 Zentrale Motif-Reihen: Handlungsarten und Schauplätze ......................... 5.9 Strukturen der Narration: Reihungen, Doppelungen und Trilogien ........ 5.10 Transformationen des initial terms ............................................................... 6. Visualisierung charakterlicher Wandlung in ausgewählten Sequenzen der Narration ....................................................................................................... 6.1 Strategien der narrative transmission (discourse) .............................................. 6.2 Präsentationsmodi der levels of narration ....................................................... 6.3 Duktus der Wissensgabe ................................................................................ 6.4 Subjektive Blickperspektive (Point of View) als Erzählstrategie ................ 6.5 PKS-Modell: Darstellung der charakterlichen Wandlung durch Gestaltungselemente und –muster auf den drei filmischen Strukturebenen .. 6.5.1 Kontraste und Bezugssysteme zwischen den Strukturebenen ......... 6.5.2 Verschiebungsdynamiken zwischen den drei Strukturebenen .......... 6.5.3 Innovationspotenzial der filmischen Erzählungen ............................. 6.5.4 Vergleich: zentrale Motif-Reihen und Strukturprofile (PKS-Modell) ..... 7. Visualisierung charakterlicher Wandlung durch prozesshafte Gestaltungsmuster im filmischen Bild (Raum, Gegenstand, Figur) ..... 7.1 Prozesshafte Strukturen der Raumkonstruktion ........................................ 7.2 Visuelle Gestaltungsmuster im Szenenbilder .............................................. 8
85 90 93 93 95 101 101 104 114 120 130 133 145 152 161 184 197 199 199 219 225 230 232 238 240 242 245 246 249
7.3 Veränderungen von Kostüm und Maske der Hauptfigur ......................... 7.4 Prozesshafte Gestaltung der Körpersprache (Hauptfigur) ....................... 7.5 Visuelle Bezüge zwischen Kostüm, Maske, Mimik und Körpersprache (alle Figuren) .................................................................................................... 7.6 Visuell-prozesshafte Veränderung zentraler Gegenstände ....................... 7.7 Kameraarbeit: Prozesshafte Veränderungen in der Bildgestaltung ......... 8. Visualisierung charakterlicher Wandlung durch Prozesshaftigkeit in der Figurenkonstruktion ............................................................................. 8.1 Prozesshaftigkeit im Profil der Handlungsrollen (Hauptfigur) ................ 8.2 Bezüge zwischen sozial- und genrebedingt typisierten Handlungsrollen ... 8.3 Schematisierte Interaktionsstrukturen der Handlungsrollen und Inszenierung des Figurenverhaltens ............................................................ 8.4 Veränderungsmuster in den Emotionsstrukturen der Handlungsrollen ... 8.5 Prozesshaftigkeit in Bezügen zwischen Handlunsgrollen (Hauptfigur und Nebenfiguren) ......................................................................................... 8.6 Visuelle Inszenierung von Wandlungsdynamik durch Emotion und Affekt in Mimik und Gestik .......................................................................... 8.7 Dynamik im Zentrum der list of traits – Veränderung der Konstellationen konflikthafter traits .........................................................................................
255 263 266 272 279 285 286 288 290 296 302 308 311
Teil III Diskussion: Analyseergebnisse und Arbeitshypothesen ..... 317 9. Visualisierungsmuster charakterlicher Wandlung – zwischen zwei idealtypischen Inszenierungsweisen ............................................................ 9.1 Figur und Figureninszenierung ..................................................................... 9.1.1 Prozesshafte Veränderung in der körperlichen Erscheinung der Figur ... 9.1.2 Dynamik der Bezüge zwischen Gestaltungsstrukturen im filmischen Bild (Raum, Gegenstand, Figur) ........................................ 9.1.3 Prozesshafte Inszenierung szenischen Verhaltens und interpersoneller Handlungen ................................................................. 9.2 Bildgestaltung in der Kameraarbeit und Formen der Wissensgabe ........ 9.3 Gestaltungsmuster der Narration ................................................................. 9.3.1 Zeitdarstellung und formale Ordnungsprinzipien ............................. 9.3.2 Kausale und hierarchische Ordnungsstrukturen in der Narration ...... 10. Visualisierungsmuster charakterlicher Wandlung – Phänomen Prozesshaftigkeit ................................................................................................. 10.1 Verschiedene Formen der Prozesshaftigkeit ............................................. 10.2 Gestaltungsstrukturen mit hohem Maß an Prozesshaftigkeit ................ 10.3 Gestaltungsstrukturen ohne deutliche Prozesshaftigkeit ........................
318 320 322 324 326 333 339 339 344 349 350 352 356 9
11. Visualisierungsmuster charakterlicher Wandlung – Unterschiede zwischen Reifung und Scheitern ................................................................... 11.1 Menge der eingesetzten Gestaltungsmuster ............................................. 11.2 Gestaltungsmuster – jeweils spezifisch für Reifung oder Scheitern ...... 11.3 Art und Maß der Prozesshaftigkeit in Gestaltungsstrukturen beider Themen (Reifung und Scheitern) ............................................................... 11.4 Visuellen Auffälligkeit, strukturellen Prägnanz und Komplexität – Unterschiede in den Gestaltungsstrukturen von Reifung und Scheitern ... 11.5 Reifung und Scheitern - Unterschiede in Inhalt und filmischer Visualisierung ................................................................................................
361 361 365 366 368 369
Teil IV Conclusio ............................................................................................. 373 12. Typologie, Theoriebildung und Ausblick ................................................... 12.1 Typologie: Filmische Bilder der Wandlung ............................................... 12.1.1 Generelle Gestaltungsprinzipien und strukturelle Eigenheiten in beiden Filmgruppen (Reifung und Scheitern) .............................. 12.1.2 Generelle strukturelle Unterschiede zwischen Reifung und Scheitern ................................................................................................. 12.1.3 Bilder der Wandlung: Typologie filmischer Mittel bei der Visualisierung von Reifung und Scheitern ........................................ 12.1.4 Bilder der Wandlung: Typologie filmischer Mittel - jeweils spezifisch für Reifung und Scheitern ................................................. 12.2 Theoriebildung .............................................................................................. 12.2.1 Grundlegende Definitionen: Theorie der Prozesshaftigkeit filmischer Gestaltung ............................................................................ 12.2.2 Neue Begriffe und definitorische Ergänzungen verschiedener Theoriemodelle ...................................................................................... 12.3 Ausblick ..........................................................................................................
373 373 374 377 379 385 390 390 397 408
Teil V Anhang Filmliste ......................................................................................................................... 415 Literatur ......................................................................................................................... 418
10
Einleitung 1. Wandlungsmomente – Funktionen des Erzählens
Das Erleben von Todesfurcht, die Integration des Sterbens und des Todes in das eigene Leben, erfordert den umfassendsten Wandlungsprozess, den ein Mensch auf seinem Weg von der Geburt zum eigenen Tod durchschreitet. „’Versuche nie zu ergründen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt Dir.’ So wie John Donne vor fast vierhundert Jahren bemerkte, schlägt die Stunde zur Beisetzung nicht nur den Toten, sondern auch dir und mir – wir sind zwar Überlebende, o ja, aber nur für begrenzte Zeit. Diese Einsicht ist so alt wie die Geschichte. (…) Der Tod des anderen konfrontiert uns mit dem eigenen [und kann] eine positive persönliche Veränderung bewirken.“ (Yalom 2000: 175 f.) Durch den Verlust eines nahe stehenden, geliebten Menschen wird die eigene Sterblichkeit plötzlich deutlich spürbar und bewusst. Für viele Menschen steht dieses Erleben in einem „signifikanten Zusammenhang mit einer Zunahme persönlichen Wachstums. [Als] Ergebnis einer existenziellen Konfrontation werden sie reifer, bewusster, weiser.“ (Yalom 2000: 177) Von den Mythen bis zur zeitgenössischen Literatur wird über solche Prozesse inneren Wachstums und damit verbundene emotionale Konflikte erzählt. In den Geschichten, die sich um dieses Thema drehen, werden verschiedene Teilaspekte des zentralen Grundkonfliktes der menschlichen Existenz behandelt und in unterschiedlicher Ausformung und Deutlichkeit vermittelt. „Lange bevor es die Psychologie als eigenständige Disziplin gab, waren die großen Schriftsteller die großen Psychologen, und in der Literatur finden sich anschauliche Beispiele von Todesbewusstsein, das als Katalysator einen persönlichen Wandel bewirkt. Man denke nur an Ebenezer Scrooges existenzielle Schocktherapie in Charles Dickens‘ Eine Weihnachtsgeschichte. Scrooges erstaunlicher persönlicher Wandel ist nicht das Ergebnis weihnachtlicher Fröhlichkeit, sondern einer erzwungenen Konfrontation mit seinem Tod.“ (Yalom 2000: 177) Im kulturellen Erzählgut einer Gesellschaft werden Wege für die emotionale Bewältigung dieser existenziellen Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit dargestellt und vermittelt. Die Triebkraft in solchen Erzählungen bildet sich aus dem Bestreben, unvereinbare Phänomene, die mit der menschlichen Existenz verbunden sind, über mehrere Entwicklungsstufen einer erzählerischen Mediation in eine Sinnstruktur und einen kausalen Zusammenhang zu integrieren. (vgl. Lévi-Strauss 1967: 226 ff.) Die inhaltli11 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
chen Informationen über solche, für das menschliche Erleben an sich unvereinbaren, Ereignisse müssen für eine Erzählung in sinnvolle, aufeinander bezogene Abfolgen gebracht werden. Über eine Verknüpfung von Ursache und Wirkung innerhalb der widersprüchlichen Erlebnisse muss Zusammenhang und Bedeutung aufgebaut werden. Diese schrittweise ‚Behandlung’ der inhaltlichen Informationen im Erzählprozess selbst ist dabei der zentrale Vorgang, der es dem Menschen ermöglicht, konflikthaftes Erleben und Erfahrungen unvereinbarer Geschehnisse im eigenen Leben über den Nachvollzug von Erzählungen bewältigen zu können. Das Zusammenflechten von Lebensereignissen und den damit verbundenen Emotionen und inneren Konflikten in eine erzählerische, d. h. poetische, Ordnung ist notwendige Grundlage für die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Menschen bzw. für seine aktive Lebensbewältigung. Im autobiografischen Gedächtnis eines Menschen sind die individuellen Erinnerungsinhalte über erzählerische Ordnungsstrukturen in Form von kausalen Ursache- und Wirkungszusammenhängen geordnet. Gelingt es nicht, die Geschehnisse, Erlebnisse und Bedürfnisse im eigenen Leben als aufeinander bezogen zu verstehen und ihnen mittels einer mentalen Anordnung Zusammenhang und schließlich Sinn zu geben, verliert das Individuum seine Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit. Auf der Basis dieses Verständnisses von Erzählung wird sich in der vorliegenden Studie dem Phänomen filmisch vermittelter Geschichten genähert. Die vormals von Epen und Mythen getragene Kernfunktionen, Orientierung zu geben und Erfahrungen des Lebensprozesses zu erklären, wird in modernen Gesellschaften zu großen Teilen durch die im Kino und Fernsehen erzählten Geschichten geleistet. Mythische Erzählfiguren „(…) berichten von einer längst vergangenen Wirklichkeit, die jedoch in der erlebten Wirklichkeit fortexistiert. Diese längst vergangene Wirklichkeit bildet den Stoff bzw. die Stoffe, aus denen die Erzählungen in den populären Medien konstruiert sind. Jede Zeit hat ihre eigenen medialen Bearbeitungen der mythischen Stoffe.“ (Mikos 1992: V) Die erzählerischen Inhalte von Kinofilmen können als Darstellung von Leben und Erleben des Individuums im Spannungsfeld der gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen gelesen werden. Über den Kinofilm konstituieren sich Aspekte des, nach Campbell, lebens- und kulturnotwendigen mythologischen Denkens in unserer Zeit (vgl. Campbell 1992). Im Rahmen dieser Studie wird davon ausgegangen, dass filmische Erzählungen als Mittel des Verständlichmachens, des Vermittelns und der Reflexion menschlicher Erfahrung von zentraler kultureller Bedeutung sind. „(…) narrative is a perceptual activity that organizes data into a special pattern which represents and explains experience.“ (Branigan 1992: 2 f.) An den Schauplätzen der filmischen Erzählungen wird probegehandelt. (Wuss 1993: 114 ff.) Über die Handlungen und Verhaltensweisen der Figuren werden mögliche Wege im Umgehen mit Lebensprozessen und Konflikten, 12
diesbezüglichen Entscheidungen und deren Konsequenzen für den Zuschauer dargestellt. In den Geschichten werden Handlungs- und Bewältigungsstrategien entworfen. Der Zuschauer vergleicht die fiktiven Situationen mit dem Repertoire seiner eigenen Welterfahrung. Im Spiegel der fiktiven Geschehnisse und Konflikte kann das eigene Erfahrungswissen reflektiert werden und mögliches, zukünftiges Handeln innerhalb der Fantasieszenarien gedanklich erprobt werden. „Der aktive Zuschauer kann so in der Rezeptionssituation handelnd konsistente Verhaltensmuster entdecken und für sich verfügbar machen.“ (Mikos 1994: 68)
1.1 Charakterliche Wandlung im Spielfilm Im Fokus der Studie befinden sich ausgewählte Spielfilme, deren Hauptfiguren in Auseinandersetzung mit grundlegenden, lebensweltlichen Problemstellungen geschildert werden. Die Figuren agieren im Spannungsfeld von Unvereinbarkeiten und komplexen äußeren und intrapersonellen Konfliktstrukturen. In der Konfrontation mit den Problemkomplexen durchlaufen die Figuren während der Geschichten charakterliche Entwicklungsschritte, die zu einem Reifen oder einem Scheitern der Akteure in Bezug zu ihren Zielen und ihrer Lebensbewältigung führen. Im Laufe der Erzählungen dieser Filme verändert sich dabei die Charakter- und Rollenkonstruktion der Hauptprotagonisten grundlegend. Branigan formuliert innerhalb seines narrationstheoretischen Modells zur filmischen Erzählung folgende Annahme: „every narrative reenacts „cultural beliefs about success“. (Branigan 1992: 25) Ebenso müssten in Erzählungen Vorstellungen einer Kultur über Misserfolg und Scheitern inszeniert sein. Es kann demnach davon ausgegangen werden, dass in filmischen Erzählungen über das Reifen oder Scheitern eines Menschen kulturelle Modelle über die Bedingungen und Entwicklungsstufen der charakterlichen Veränderungsprozesse inszeniert sind, die solchen Wandlungen von Persönlichkeit und der Fähigkeit zur Lebensbewältigung zugrunde liegen. Diese Annahme wird im Rahmen der vorliegenden Studie zu folgender Hypothese weiterentwickelt: In den filmischen Erzählungen über intrapersonelles Reifen und Scheitern sind Vorstellungen über derartige Entwicklungsprozesse dargestellt, über die Übereinkunft in der Gesellschaft unseres Kulturkreises herrscht. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Erzählungen weitere Gemeinsamkeiten aufweisen in Bezug auf ihre Gestaltung als filmische Werke. Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise richtet sich das zentrale Erkenntnisinteresse der Studie auf die Erforschung der filmspezifischen Gestaltungsphänomene, die für die erzählerische Vermittlung intrapersoneller Entwicklungs- und Wandlungsprozesse im audiovisuellen Erzählmedium Kinofilm eingesetzt werden. 13
Die Entscheidung der Eingrenzung der Studie auf Filme, die diese Art erzählerische Kernfigur aufweisen, begründet sich wie folgt. Jede filmische Erzählung aus dem Bereich des fiktionalen Films präsentiert eine Entwicklung, die Schilderung einer Veränderung und eines Prozesses. Jedoch entfaltet sich darin nicht zwangsläufig ein charakterlicher und psychischer Entwicklungs- und Wandlungsprozess der Hauptfigur. Betrachtet man die Geschichten, die in verschiedenen Filmgenres dargestellt werden, unter diesem Aspekt, so zeigt sich, dass viele Werke einen Problem- oder Konfliktlösungsprozess behandeln. In Actionfilmen muss die Bedrohung durch den Gegner beseitigt werden (z. B. Silvester Stallone Filme, Terminator I, II und III). In Agentenfilmen müssen Verschwörungen aufgedeckt und die Drahtzieher dingfest gemacht werden (z. B. James Bond: Goldfinger, Diamantenfieber, GoldenEye, Hitchcocks North by Northwest oder auch Jason Bourne: Bourne Trilogie). Im Western ist oft die Rache für ungesühnte Verbrechen das handlungsleitende Motiv der Hauptfigur (z. B. Spiel mir das Lied vom Tod). In Detektiv- und Kriminalfilmen wird der Verbrecher oder auch Mörder gesucht (z. B. Maltese Falcon, Der dritte Mann, Im Namen der Rose, Heat). In den meisten der genannten Genres und Filme agiert die Hauptfigur in konflikthaften Situationen, löst Probleme und bewältigt Aufgaben. Die Charakter- und Rollenkonstruktion dieser Figuren bleibt dabei jedoch, nachdem sie zu Beginn der Geschichte aufgebaut und etabliert ist, bis auf einige wenige Facetten bis zum Ende der Handlung unverändert (z. B. The Maltese Falcon, Cocktail für eine Leiche). Zudem gibt es zahlreiche filmische Erzählungen, die eine Art Zustandsbeschreibung vermitteln, ohne dass sich an den Rahmenbedingungen der Handlungssituation oder im Handeln der Figuren Veränderungsprozesse zeigen (z. B. L’Aventura, La Notte, Short Cuts). Spielfilme, die hingegen meist deutliche Wandlungs- und Veränderungsprozesse der Hauptfiguren vermitteln, sind Biografieverfilmungen. Hier werden große Teilabschnitte eines Lebenslaufes oder auch Ausschnitte einer gesamten Lebensgeschichte inszeniert und dabei die Veränderungen von Persönlichkeit und Charakter der Figuren auf dem Weg durch ihr Leben geschildert (z. B. Citizen Kane, Miss Dasy und ihr Chauffeur, Il Gattopardo). Des Weiteren gibt es filmische Erzählungen, deren zentrale Figuren keine intrapersonellen Entwicklungen durchleben, jedoch bei Personen in ihrer Umgebung große Veränderungen induzieren (Rain Man, Forrest Gump). Filmische Erzählungen, die für diese Studie ausgewählt werden, unterscheiden sich deutlich von den hier aufgeführten Beispielen, die Schilderungen von Problemlösungsprozessen, Zustandsbeschreibungen oder biografische Lebensverläufe beinhalten. Die Hauptfiguren in den ausgewählten Filmen erleben innerhalb eines sehr kurzen Zeitablaufs einen grundlegenden charakterlichen Wandlungsprozess. Die Geschichten ereignen sich über einige, wenige Wochen bis zu maximal eineinhalb Jahren erzählter Zeit. 14
In diesen Filmen sind die Momente im Erleben, Denken und Fühlen der Hauptfigur, die ihr Umgehen mit der Welt und ihr Wesen verändert, in eine dramaturgische und narrativ verdichtete Konstruktion eingebettet. Zum einen werden dabei intrapersonelle Entwicklungsprozesse, die sich in der Lebensrealität meist über längere Zeitabschnitte vollziehen (mehrere Jahre, ganze Lebensabschnitte), zeitlich stark verkürzt. Zum anderen werden diese Ereignisverläufe der erzählten Zeit durch die dramaturgische Komposition von Fragmenten und Ausschnitten erzählerischer Informationen in einer komprimierten Erzählzeit von knapp zwei Stunden präsentiert. Der Ereignisverlauf einer intrapersonellen Wandlung kann in einer filmischen Vermittlung nicht in seiner Eigenart, wie er sich im ‚richtigen‘ Leben abspielt, dargestellt werden. Es muss eine mediale „Aufbereitung“ der Geschehnisse erfolgen, um eine solche Geschichte in einem Film fesselnd erzählen zu können. (vgl. Altenburg/Fließ 2000: 30) Die Figur erlebt während ihrer inneren Veränderung unter dem Druck der äußeren Ereignisse des Lebensstromes intrapersonell dramatische und spannungsgeladene Momente. Eine filmische Dramatisierung solcher Ereignisse besteht jedoch nicht nur in einer zeitlichen Raffung solcher Momente innerhalb einer erzählerischen Konstruktion, sondern auch in dem Einsatz visueller Gestaltungsmuster, mittels derer die Phänomene von Entwicklung und Veränderung dargestellt werden. Zudem muss über die Gestaltungsmöglichkeiten von Dramaturgie und Narration das äußerlich undramatische Geschehen in seiner umfassenden und zentralen Bedeutung als spannungsreiches Kerngeschehen der Handlung dieser Geschichten formuliert und präsentiert werden.
1.2 Forschungsperspektiven zu filmischer Narration und Filmfiguren Die Forschungsperspektive der vorliegenden Studie auf den Spielfilm schließt eine Lücke in der Filmwissenschaft. Zwar sind Fragen zur Figurenkonstruktion in der Forschung zum narrativen Film bearbeitet worden. Jedoch gibt es keine Forschungsergebnisse zu einer Typologie filmischer Mittel, die für die Visualisierung intrapersoneller Wandlungsprozesse von Filmfiguren eingesetzt werden. Im thematischen Umfeld dieser für den filmwissenschaftlichen Diskurs neuen Frage konnten verschiedene Forschungsfelder herausgearbeitet werden in deren Fokus Analyseperspektiven zur Figur behandelt werden. Die Recherche zu Forschungsarbeiten mit Fokus auf filmische Narration, Filmfiguren, Figurenkonstruktion und -entwicklung, ergab ein Profil von insgesamt vier thematischen Feldern. Ein Vergleich des Forschungsvorhabens mit dem Profil dieser vier filmwissenschaftlich relevanten Themenfelder verdeutlichte die Lücke im Forschungsstand, die mittels der vorliegenden Studie geschlossen wird. 15
1.2.1 Forschungsfokus Erzählung: Kernthemen, Gesellschaft und Kultur, Philosophie und Psychologie Gegenstand der Studie sind Spielfilme, die alle ein bestimmtes erzählerisches Kernthema vermitteln: eine intrapersonelle Wandlung von Filmfiguren. Filmwissenschaftliche Studien mit vergleichbarem Fokus auf bestimmten erzählerische Themen und Ereignisfiguren können in drei Gruppen zusammengefasst werden. Eine der filmwissenschaftlichen Perspektiven ist ausgerichtet auf die Erforschung der filmischen Darstellung bestimmter Schauplätze oder inhaltlicher Handlungszusammenhänge, die in Form von thematischen Überbegriffen benannt sind. Hierzu zählen Studien über die filmische Inszenierung von Landschaft, Klein- und Großstadt, Heimat, Geschichte, Reise, Katastrophen oder Krieg im Spielfilm. (Natali 1996,Berg 1994, Tomin 1996, Jousse 2005, Fiedler 1995, Kaschube 1989, Chumo 1995, Rosenstone 1995, Sobchack 1995, Frick 1993, Leppin 1997, Seeßlen 2002, Wahrmann 1992, Paul 2004) Zu einer zweiten filmwissenschaftlichen Forschungsrichtung können Studien zusammengefasst werden, welche die Verfilmung von kulturell und gesellschaftlich bedingten Phänomenen erforschen. Beispiele solcher Studien sind Analysen zur filmischen Darstellung von Identität und Gesellschaft bzw. deren filmische Konstruktion, Frauen- und Männerbildern, Geschlecht, Weiblichkeit, Männlichkeit, Sexualität und Körperkonstruktion (Bruzzi 1997, Nessel 2003, Schmidt 1999, Vollmer 2003, Zeul 1997, Grabinsky 2004, Byers 1996, Silvermann 1990, König 1994, Meyer 2002, Greiner 1998). Ebenso zählen hierzu Forschungsarbeiten über Entwicklungstendenzen innerhalb von gesellschaftlichen Systemen wie z. B. die Generierung von Geschichtsbewusstsein über das Medium Film, die filmische Inszenierung von sozialen Lebensentwürfen und Familienstrukturen bzw. deren Gegenentwürfe und von Phänomenen in Subkulturen und weiteren Ordnungssystemen sozialer Gruppen (Böhringer 1998, König 1992, Mikos 1994, Michelsen 1999). Wissenschaftliche Arbeiten über filmische Darstellungen philosophischer Aspekte und psychologischer Phänomene bilden eine dritte Forschungsrichtung innerhalb des oben genannten Forschungsfeldes. Hierzu zählen sowohl Studien über Spielfilme, die Themen wie z. B. Wahnsinn, das Böse, Tod, Erlösung oder das Heilige beinhalten (Filmschau und Symposion 1998, McCarty 1993, Wulff 1995, Neumann 1986, Wada 2005, Kirsner 1996, Martin 1995), als auch Analysen der filmischen Darstellung von Erzählfiguren aus dem Bereich mythischer Themen und deren Handlungsschemata (Eliade 1988, Ferell 2000, MacKinnon 1986, Manthey o, J., Rother 1998, Voytilla 1999). Ebenfalls zu dieser Forschungsrichtung zählen Studien, die sich mit der Wirklichkeitskonstruktion und der Inszenierung von Wirklichkeitskonzepten im Spielfilm beschäftigen.
16
1.2.2 Forschungsfokus Filmfigur: Rollen und Typen, Figur und Genre, Werkstudien, Figur und Bewusstsein Der zweite große Bereich, zu dem die Studie in Bezug steht, ist die filmwissenschaftliche Forschung über Struktur, Konstruktion und Gestaltungsbausteine fiktiver Figuren. Der erzählerische Inhalt einer charakterlichen Wandlung kann im Spielfilm nur anhand der Inszenierung einer Figur vermittelt werden. Diese durchläuft während der Handlungsereignisse die stufenweisen Veränderungsschritte. Zum Stand der Forschung wurde nach filmwissenschaftlichen Studien recherchiert, die sich mit der Gestaltung und Inszenierung von Figuren im Spielfilm beschäftigen. Dabei wurde vor allem nach Forschungsergebnissen gesucht, die Gestaltungsphänomene in der filmischen Inszenierung von Charakter und Innenleben von Spielfilmfiguren beschreiben. Die vorhandenen Ergebnisprofile der Forschung zur Figur können grob in vier Gruppen geordnet werden. In einer der Forschungsrichtungen zur Figur wird aus sozial-, kultur- und genderwissenschaftlicher Perspektive die filmische Darstellung von Rollen- und Figurentypen untersucht. Diese filmwissenschaftlichen Studien erforschen z. B. die filmische Inszenierung von sozialen Rollen- und Charaktertypen wie z. B. Mutter, Vater, Fremde, jüdische Menschen, Verrückte oder auch Rollentypen aus religiösen Erzählungen wie z. B. Engel (Kaplan 1992 und 1992, Krah 1998, Pabst 1998 und 2005, Kracauer 1984, Karpf 1995, Lippmann 1967, MacCarty 1993, Vienne 1995). In einer zweiten, großen Gruppe von Studien, die dem genannten Forschungsfeld angehört, ist der Analysefokus aus der Perspektive des Genrebegriffs auf die Erforschung der Figur im Spielfilm ausgerichtet. Gegenstand der filmwissenschaftlichen Analysen sind hier sowohl genrespezifische Figurenstereotype wie z. B. Westernhelden, Femme Fatale, Dracula, Super Heroes, Cyborgs (Mitchel 1996, Doane 1991, Jung 1997, Reynolds 1992, Manthey o. J., Mikos 1995) als auch genrebedingte Figurenkonstellationen wie z. B. Figurentypen und -programme in TV-Serien verschiedener Genres (Dyer 1981, Mikos 1994). In einem dritten Forschungsschwerpunkt zur Figur im Spielfilm können die Studien zusammengefasst werden, die spezifische, einzelne Figuren zum Gegenstand haben. Als Beispiele seien hier Studien über z. B. die Filmfiguren James Bond (Schmidt 1999, del Buono/Eco 1966), Thelma und Louise (Grabinsky 2004, Sturken 2000), Citizen Kane (Enckell 1985) oder Forrest Gump (Byers 1996, Chumo 1995) erwähnt. Ebenso gehören zu diesem filmwissenschaftlichen Forschungsfeld Arbeiten über Figuren in den Werken bestimmter, einzelner Regisseure. So werden z. B. die Frauenfiguren in den Filmen von Ingmar Bergmann (Fabregue 1981), die Figurenkonstruktion in den Werken von Louis Bunuel (Schütz 1990) oder Krzysztof Kieslowski (Garbowski 1996) wissenschaftlich untersucht. Zudem sind im Rahmen 17
dieser Forschungsperspektive auch Studien über die filmische Darstellung kulturell-ikonischer Figuren oder historischer Personen im Spielfilm zu erwähnen. Hierzu zählen Forschungsarbeiten über Jesus und andere biblische Figuren als Filmfiguren (Langenhorst 1998, Tiemann 2001, Valentin 2002) oder auch Analysen zur Verfilmung von Biografien historischer Personen wie z. B. Ghandi oder Hitler (Sharma 1995, Merzeau 2001, Seeßlen 1994, Berghahn 2005). Die vierte Gruppe innerhalb des Forschungsfeldes zur Figur fasst Studien zusammen, die sich mit der Darstellung von Erinnerung, Bewusstsein und Gedankenwelten und den filmästhetischen Parametern dieser erzählerischen Inhalte befassen. Eine filmische Inszenierung dieser inhaltlichen Phänomene ist in der Form von Figureninszenierungen in Spielfilmen realisiert. Ein großes Teilsegment dieses Forschungsgebietes beinhaltet Studien zu Inszenierung und Einsatzweisen von Point of View (POV) (Branigan 1984, Sturm 1991, Wilson 1986).
1.2.3 Forschungsfokus Filmpraxis: Drehbuchschreiben, Modelle und Typologien zur Figurenkonstruktion, Praxismodelle zur Filmwirkung Über zentrale Aspekte der Forschungsfrage eröffnete sich zum Forschungsstand der vorliegende Studie ein drittes, großes Themenfeld filmanalytischer Arbeiten und zugleich ein dazu benachbarter Bereich filmbezogener Veröffentlichungen, die eher für eine Leserschaft aus der Filmpraxis geschrieben wurden. Folgende zentrale Annahme, die mit dem Erkenntnisinteresse der Studie verbunden ist, führte zu dieser Schnittmenge zwischen filmwissenschaftlicher und filmpraktisch ausgerichteter Fachliteratur: Die Inszenierung eines intrapersonellen Wandlungsprozesses – wird von dessen stufenweisem Ereignisverlauf ausgegangen – muss über bestimmte gestalterische Dynamiken in der Figurenkonstruktion aufgebaut sein. Studien, die sich mit Phänomenen von Entwicklung und Dynamik in der Figurenkonstruktion beschäftigen, waren im Forschungsfeld zur Figur nicht vertreten. Jedoch verwiesen Teilaspekte aus diesem filmwissenschaftlichen Diskurs in den Bereich der Fachliteratur zu Drehbuchentwicklung und Dramaturgie der Filmpraxis. Zum einen beinhalten diese Werke Handwerkszeug für Drehbuchautoren, welches sie für eine Figurenentwicklung einsetzen können (Bronner 2004, Seger 1994 und 2001, Field 1984, Howard 1996, McKee 2000, MacKeane 2002, Schütte 1999, Vale 1972, Vogler 1998). Zum anderen werden in diesen Werken auch filmanalytische Modelle entwickelt (Seger 1994 und 2001, Blothner 1999, Zag 2005), die von den Autorinnen und Autoren als Leitfaden und Prüfinstrumentarien bei einer Drehbuchentwicklung empfohlen werden. Ebenso dienen diese Begriffssysteme als Bewertungsraster für eine Qualitätsbeurteilung und Erfolgseinschätzung fertiger Drehbücher. Als dritte 18
Einsatzmöglichkeit propagieren die Verfasser ihre Methoden und deren Anwendung als filmanalytische Instrumente im Rahmen der Filmwissenschaft. Die Anwendbarkeit der Modelle wurde jeweils im Einzelfall und mit Blick auf die Fragestellung dieser Studie geprüft. Es zeigte sich dabei, dass die Analyseinstrumente in Ergänzung zu filmwissenschaftlichen Analysemethoden durchaus einsetzbar sind. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde jedoch entschieden, nicht mit diesen Analysemethoden zu arbeiten, da die filmwissenschaftliche Basis dieser Modelle nur lückenhaft und nicht tragfähig ist. Zudem fehlen darin systematisierte Kategorien und Definitionen für Gestaltungsmuster filmischer Visualisierung. Die Auseinandersetzung mit diesen Modellen diente aber als wichtige Orientierung für den Aufbau des Forschungsdesigns dieser Studie. Dieser Orientierungsprozess wird hier im Folgenden anhand von vier Beispielen kurz beschrieben. Blothner entwickelt ein psychologisches Modell zur Filmwirkung, das auch als Analyseinstrument für die erzählerische Konstruktion filmischer Geschichten ein-gesetzt werden kann. Blothner geht davon aus, dass die Wirkung eines Kinofilms auf den Zuschauer durch so genannte Grundkomplexe verursacht ist, die über das situative Handeln der Figuren in einer Geschichte aufgebaut sind (Blothner 1999: 48 f.). Die Grundkomplexe beinhalten jeweils ein Gegensatzpaar menschlicher Erfahrungswerte und Konflikte wie z. B. „Sieg und Niederlage“, „Getrennt und Vereint“ oder „Zerstören und Erhalten“ (Blothner 1999: 98 ff.). Eine filmische Erzählung ermöglicht für den Zuschauer ein aktuelles seelisches Erleben solcher Grundkomplexe, d. h. von „Problemen, die das Leben des Menschen bewegen und von ihm Lösungen abverlangen.“ (Blothner 1999: 48) Die Attraktivität des Kinofilms liegt für den Zuschauer nach Blothner in dieser Form des Erlebens. Psychisch hochaktiv vollzieht der Zuschauer die Konflikte nach und agiert innerhalb dieser Spannungsfelder mental probehandelnd. Von allen realen Konsequenzen solchen Handelns bleibt er jedoch dabei verschont. Im Laufe einer filmischen Erzählung durchlaufen die Konfliktkonstellationen, die in den Grundkomplexen paarweise auftreten, eine Entwicklung und Veränderung. Anhand des Modells von Blothner wird greifbar, dass die erzählerischen Informationen über diese Veränderungsprozesse über die Inszenierung der Figurenhandlung vermittelt werden. Blothners Modell ist nicht ausgerichtet auf eine Analyse von Figuren- oder Charakterkonstruktion. Sein Verständnis der Grundkomplexe bietet keine Definitionen für Gestaltungsparameter und -muster fiktiver Figuren oder für darüber etablierte prozesshafte Strukturen. Aber Blothner bietet in seinem Modell eine grundlegende Definition für prozesshafte Dynamiken, die über narrative Strukturen in einer filmischen Erzählung aufgebaut sein können. Daher ermöglicht sein filmanalytischer Ansatz eine Orientierung für das methodische Vorgehen im Rahmen der vorliegenden Studie zur Erforschung von Veränderung und Wandlung in einer Figurenkonstruktion 19
Auch in Segers praxisbezogenen Methoden für eine Drehbuch- und Figurenentwicklung finden sich ansatzweise Erklärungsmodelle für prozesshafte Dynamiken in der Figurenkonstruktion (Seger 1994 und 2001). An dieser Stelle sei Segers Definition für die „Fallhöhe“ als Baustein einer Figur exemplarisch herausgegriffen. (Seger 2005: 153 ff.) Gute Filmfiguren müssen nach Seger im Laufe einer Geschichte mehreren, wechselnden Fallhöhen ausgesetzt sein. Seger definiert dafür eine siebenstufige Hierarchie menschlicher, existenzieller Bedürfnisse. Überleben, Sicherheit und Geborgenheit, Liebe und Zugehörigkeit, Respekt und Selbstachtung sind nach Segers Modell die wichtigsten Bedingungen für die Lebensbasis eines Menschen. (Seger 2005: 153 ff.) Auch aus der Definition von „Fallhöhe“ als Parameter einer Figurenkonstruktion kann der Ansatz eines Erklärungsmodells für Phänomene prozesshafter Gestaltungsmuster im Film herausgelesen werden. Die Etablierung von Fallhöhe in der Inszenierung einer Figur führt zum Aufbau eines Spannungsfeldes zwischen zwei Polen: Der Protagonist einer Geschichte erreicht existenzielle Bedürfnisbefriedigung oder er erlebt Verlust von lebensnotwendigen Rahmenbedingungen. Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Optionen soll die Situation eines Protagonisten im dramatischen Verlauf der Ereignisse oszillieren. Die Position der Figur zu den entgegengesetzten Polen von Fallhöhe verändert sich über den Verlauf der Ereignisse. Seger entwickelt jedoch kein Begriffsmodell für einzelne Gestaltungsparameter einer solchen prozesshaften Entwicklung in einer Figurenkonstruktion. Aber an ihrem dramaturgischen Handwerkszeug kann Orientierung erfolgen für die Erfordernisse des Untersuchungsrasters der vorliegenden Studie. So kann davon ausgegangen werden, dass prozesshafte Gestaltungsmuster innerhalb eines Spannungsfeldes zwischen zwei gegensätzlichen Polen etabliert sind und dass eine Figurenkonstruktion von mehreren solchen Dynamiken gekennzeichnet ist. Auch nach Zag (Zag 2005) muss jede filmische Erzählung und die damit verbundene Figurenkonstruktion Optionen für Entwicklung und Veränderung beinhalten, um für den Zuschauer Erlebnisebenen während einer Filmrezeption zu eröffnen. Im Nachvollzug der Figuren und deren situativen Handlungen sollen beim Zuschauer möglichst elementare, sozial bedingte Emotionen hervorgerufen werden. Berücksichtigt man die Parameter der Erwartungshaltungen bei einer Drehbuchentwicklung, so kann über den Aufbau bestimmter erzählerischer Inhalte das Erleben des Zuschauers während einer Filmrezeption intensiviert werden. Zag beschreibt, dass im Erleben der sozialen Emotionen Erwartungshaltungen beim Zuschauer entstehen, die sich auf das „soziale Ganze“ (Zag 2005: 92) beziehen. Diese Erwartungshaltungen können als Definitionen für verschiedene Ausformungen von Prozesshaftigkeit in einer filmischen Geschichte gelesen werden. Es sind jeweils mögliche Entwicklungsdynamiken des sozialen Zusammenlebens, die Zag in seinem Modell 20
benennt, z. B. „Geben und Nehmen“ (Zag 2005: 27 f.), Ausgleich von Benachteiligung und Mangel (Zag 2005: 27 ff.), Konkurrenz und Entscheidungsprozesse zwischen „Loyalitätsebenen“ innerhalb von Beziehungsgeflechten (Zag 2005: 38 ff.). Für so genannte „Bewegungen im sozialen Netz“ definiert Zag vier Grundformen von Entwicklungsdynamiken (Zag 2005: 66 ff.). An einer Stelle seines Erklärungsmodells benennt er Erwartungshaltungen des Zuschauers, die sich auf die Charakterkonstruktion einer Figur beziehen. Bei der Darstellung von Charakteren, die sich in Bezug auf „Geben und Nehmen“ im sozialen Miteinander anmaßend verhalten oder innerhalb der Loyalitätsebenen von Beziehungen ambivalent agieren, baut der Zuschauer eine Erwartungshaltung nach Entwicklung und Veränderung der Charakterstruktur des Protagonisten auf. Beim Nachvollzug von Erzählungen über Reifen oder Scheitern einer Figur ist diese Erwartungshaltung des Zuschauers intensiv aktiviert. Zag benennt die Faktoren von Entwicklung und Veränderung, die mit diesen Erwartungshaltungen verbunden sind. Zags Erklärungsmodell bietet jedoch in diesem Zusammenhang keine Definitionen für konkrete filmische Gestaltungsfaktoren einer solchen Handlungs- und Figurenkonstruktion. Vielmehr benennt er in seinem Werk eine Palette von konkreten Ausformungen prozesshafter Ereignisfiguren in einer filmischen Handlung, die den Zuschauer zu starkem emotionalem Erleben und dem Aufbau von Erwartungshaltungen veranlassen. Der Verlauf im Erleben der sozialen Emotionen, die mit den verschiedenen Erwartungshaltungen verknüpft sind, ist selbst von Prozesshaftigkeit gekennzeichnet. Zags Modell verweist auf das Erfordernis, dass grundlegende Definitionen für prozesshafte filmische Mittel auf allen visuellen Gestaltungsebenen (erzählerische Konstruktion, Prozess der Narration, dreidimensionale Szenerie des Filmbilds, Figurenkonstruktion) recherchiert und herausgearbeitet werden müssen. Über diese Definitionen muss die Typologisierbarkeit von Visualisierungsmustern in der filmischen Darstellung intrapersoneller Wandlung erforscht werden können, unabhängig von der Frage, von welcher Art eine konkrete erzählerische Ausformung dieser prozesshaften Entwicklung ist. Für die vorliegende Studie müssen Kategorien und Definitionen für filmische Gestaltungsmittel als Analyseinstrumente eingesetzt werden, die von höherem Abstraktionsniveau und größerer Verallgemeinerbarkeit sind, als es bei den Begriffen aus den Modellen zur Drehbuch- und Figurenentwicklung der Fall ist. Als viertes und letztes Beispiel für den Orientierungsprozess beim Aufbau des Forschungsdesigns dieser Studie an Modellen aus der Filmpraxis zu Drehbuch- und Figurenentwicklung sei an dieser Stelle Voglers Modell zur Drehbuchdramaturgie und Figurenentwicklung angeführt. Voglers „Reise des Helden“ und seine Definitionen archetypischer Figuren bzw. deren erzählerisch-dramaturgischen Funktionen sind seit einigen Jahren sehr populär und werden als Methoden zur Drehbuchentwicklung 21
in der Filmpraxis eingesetzt (Vogler 1998). Vogler definiert in Anlehnung an Campbells Erkenntnisse der Mythenforschung und C. G. Jungs psychologischer Forschung sein Grundmodell der „Reise des Helden“, nach dessen Grundbausteinen Geschichten erfolgreicher Filme aufgebaut sind und Drehbücher entwickelt werden sollten. Eingebettet in das Modell der Heldenreise sind Definitionen von archetypischen Figuren, die innerhalb der dramaturgischen Konstruktion einer Geschichte bestimmte und verschiedenartige Funktionen übernehmen. Vogler spricht explizit davon, dass sein Modell auf zwei verschiedene Weisen für Drehbuchentwicklung und -analyse verstanden und angewendet werden kann. Zum einen können die archetypischen Figurenschablonen als Orientierung für die Entwicklung des gesamten Figurenprogramms einer Geschichte eingesetzt werden. Zum anderen kann das Modell der Archetypen als Baukasten für die Charakterkonstruktion einer einzelnen Figur eingesetzt werden (Vogler 1998: 82 ff.). Dabei dienen die dramaturgischen Funktionen der verschiedenen Archetypen als Bausteine und Ereignisdynamiken innerhalb der Charakterkonstruktion einer Figur. Diese Auffassung des Archetypenmodells wurde für das Forschungsdesign der Studie einer eingehenden Prüfung unterzogen. Dabei stellte sich heraus, dass sich die Kategorien und Definitionen als zu grob und vor allem von zu niedrigem Abstraktionsniveau erweisen. Darüber hinaus fehlt ein Begriffsverständnis für Elemente einer Figurenkonstruktion, die über visuelle Gestaltungsmittel und filmische Präsentationsfaktoren einer Narration definiert sind. Aus der Rezeption der hier beschriebenen Modelle zur Filmpraxis im Bereich Drehbuch, Dramaturgie und Filmwirkung, die unter dem Gesichtspunkt der zu bearbeitenden Fragestellung erfolgte, wurde folgende Schlussfolgerung gezogen: Der Schwerpunkt der Modelle aus der Praxis liegt auf dem Erzähltext und den darin eingesetzten Gestaltungselementen von Handlung, Figurenhandlung, Handlungszusammenhängen und deren Verläufen. Hierfür werden Definitionen und Modelle entwickelt. Ein Fokus auf die filmische Visualisierung von Erzählung bzw. Figuren und die Entwicklung von Definitionen der darin eingesetzten visuellen Gestaltungsmuster fehlt. Es werden zwar Modelle präsentiert, über welche sich die Dynamiken und Veränderungsprozesse in der erzählerischen Konstruktion einer Geschichte und in der Figuren- und Charakterkonstruktion beschreiben lassen, jedoch mangelt es hier an einer modellübergreifenden Systematisierbarkeit und, wie bereits benannt, an einem systematischen Bezug der Modelle zu Phänomenen in einer filmischen Visualisierung.
1.2.4 Forschungsfokus Psychologie: visuell-szenische Imagination Im Blick auf den Forschungsstand zur filmischen Visualisierung charakterlicher Wandlung und des Phänomens der Prozesshaftigkeit wurde die Recherche auf spezifische psychologische Fachliteratur ausgedehnt. Der Schwerpunkt lag dabei auf wissenschaft22
lich fundierten Psychotherapiemodellen, in deren Arbeitsmethodik visuelle Imagination und bildhafte Schaffensprozesse eingesetzt werden. Zentrale Ziele einer Psychotherapie sind zumeist Entwicklungs- und Veränderungsprozesse innerhalb der Wahrnehmungsmuster, der Fähigkeiten im emotionalen Erleben und der Persönlichkeitsstruktur der Patienten. Auf die filmischen Visualisierungsmittel für intrapersonelle Entwicklungen und Wandlungen dieser Art richtet sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie. Die psychologische Fachliteratur wurde nach Erklärungsmodellen und Begriffssystematiken für visuelle Prozesshaftigkeit durchsucht. Zum einen werden dort Kategorien entwickelt, mit deren Hilfe z. B. in malerischen Arbeiten eines Patienten bildbezogene Elemente und kreative Prozesse als Anzeichen für Entwicklungsstufen einer intrapersonellen Veränderung erkannt und beschrieben werden können (Kast 1988 und 1990, Eschenbach 1993, Franz 1973, Jacobi 1981, Riedel 1988). Zum anderen beinhalten bestimmte Therapiemethoden systematisierte methodische Schritte im Therapieverlauf, die an feste visuelle Szenerien und darin sich ereignende Handlungen gebunden sind (Leuner 1985). Der Therapeut gibt dem Patienten für dessen visuelle Imagination räumlich-szenische Settings vor, um dem Patienten darüber Impulse für Entwicklungen auf der Ebene des Erlebens zu ermöglichen. Die prozesshaften Veränderungen, die sich innerhalb der imaginierten Settings (Schauplatz und Handlung) ereignen, können dann entsprechend therapeutisch ausgewertet werden. Eine direkte Anwendung dieser Erkenntnisse über kreative, bildhafte Entwicklungsprozesse und Methoden der aktiven Imagination als filmwissenschaftliche Instrumente ist nicht empfehlenswert, außer eventuell im Rahmen einer weniger medien- oder filmwissenschaftlichen als vielmehr psychologischen Forschungsfrage. Auch für Studien über filmisch-visuelle Symbole und symbolische Prozesse wäre eine Orientierung an diesem Forschungsfeld empfehlenswert. Für die vorliegende Studie konnten durch die Recherche in psychologischer Fachliteratur folgende Erkenntnisse gewonnen werden: Für visuelle Gestaltungsparameter des filmischen Bildes wie Schauplatz, Raum, Gegenstand, Farbe und Licht ist im Spiegel der psychologischen Modelle anzunehmen, dass dies wichtige Elemente in einer Visualisierung charakterlicher Wandlungsprozesse sein können. Auch Gestaltungsmuster wie „oben und unten“, „groß und klein“, „hart und weich“, „hell und dunkel“, „nass und trocken“ etc. und Zwischenformen solcher Eigenschaften sind bei einer Analyse visueller Gestaltungsmuster von Entwicklung und Wandlung zu beachten.
1.3 Neues filmwissenschaftliches Forschungsdesign – Voraussetzungen und Erfordernisse Resultierend aus den Rechercheergebnissen zum Forschungsstand ergaben sich folgende Erkenntnisse über die Rahmenbedingungen und Erfordernisse beim Aufbau 23
einer wissenschaftlich-theoretischen Basis für das Untersuchungsraster der Studie. Erkenntnisinteresse ist über welche filmischen Gestaltungselemente und -strukturen die Aspekte einer intrapersonellen Wandlung vermittelt werden und welche dieser Gestaltungsmittel der filmischen Visualisierung typologisierbar sind. Als erstes müssen wissenschaftliche Definitionen für prozesshafte Dynamiken entwickelt werden, um anhand des Untersuchungsmaterials herausarbeiten zu können, welche filmischen Gestaltungsmittel prozesshafte Strukturen aufweisen. Als Nächstes müssen Begriffe aufgestellt werden, über welche die Verschiedenartigkeit der Dynamiken von Prozesshaftigkeit definiert werden. Zentrales Raster des Untersuchungsdesigns besteht dabei aus den unterschiedlichen Ebenen in der Gestaltung eines filmischen Werkes, die für die Visualisierung von Prozesshaftigkeit eingesetzt werden können. Vier Gestaltungsebenen werden unterschieden. In der erzählerischen Konstruktion einer Geschichte und im Prozess der Narration, d. h. in den Präsentationsweisen des erzählerischen Wissens, können Visualisierungsmuster für Entwicklung und Veränderung aufgebaut sein. Zu dieser zweiten filmgestalterischen Ebene zählen u. a. alle Gestaltungsparameter des Kamerablicks. Die dritte Ebene einer Visualisierung von prozesshaften Dynamiken liegt in den Gestaltungsstrukturen der dreidimensionalen Szenerie vor der Kamera, d. h. in der Gestaltung von Schauplätzen, Räumen, Gegenständen und der körperlichen Erscheinung der Protagonisten. In den Gestaltungsstrukturen der Figuren- und Charakterkonstruktion liegt die vierte Ebene filmischer Mittel, über die Aspekte von prozesshafter Entwicklung und Veränderung visualisiert sein können. Hier muss der filmanalytische Schwerpunkt auf solchen Gestaltungsparametern einer Figurenkonstruktion liegen, die spezifisch für die Charakterkonstruktion und die Inszenierung des inneren Erlebens einer Figur eingesetzt werden. Für alle filmischen Mittel, die den vier verschiedenen Visualisierungsebenen eines Filmes zugeordnet sind, müssen im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit Definitionen und Kategorien eingesetzt werden, die ein hohes Abstraktionsniveau aufweisen und ein großes Maß an Verallgemeinerbarkeit besitzen. Als Grundlage für das Forschungsdesign dienen filmwissenschaftliche Ansätze im Bereich der Narrationstheorie und der Theorie zur fiktiven Figur. Recherchiert wurden grundlegende filmwissenschaftliche Ansätze in diesen beiden Themenbereichen der Filmwissenschaft und dazu benachbarter Fachliteratur. Grundsätzlich wurden alle darin gegebenen Definitionen und Kategorien für filmische Gestaltungsmittel daraufhin geprüft, ob das jeweilige Begriffsverständnis Erklärungsansätze für Prozesshaftigkeit beinhaltet. Auf Basis der filmwissenschaftlichen Fachliteratur zur Narrationstheorie und zur fiktiven Figur wurde es möglich, den begriffsdefinitorischen Rahmen für diese Forschungsarbeit aufzubauen und das für die Analysen erforderliche wissenschaftliche Untersuchungsraster aufzustellen. 24
In keiner der filmwissenschaftlichen Studien und Standardwerke wird die filmische Visualisierung charakterlicher Entwicklung thematisiert oder untersucht. Ebenso wird in keiner dieser Studien die Frage nach einer möglichen Typologie filmischer Gestaltungsmuster für die Visualisierung intrapersoneller Wandlung beantwortet. Eine gewisse Orientierung für Teile des neuen Forschungsdesigns ermöglichte die Studie von Christopher Garbowski „Krzystof Kieslowski’s Decalogue Series: The Problem of the Protagonists and Their Self-Transcendance“ (Garbowski 1996). Im Zentrum dieser Analyse stehen Faktoren einer filmischen Figurenkonstruktion, mittels derer an sich unsichtbare Bedeutung und nicht äußerlich sichtbarer Sinngehalt vermittelt werden. Untersucht wird das Phänomen self-transcendance und wie dieses in den Filmen der Dekalog-Serie über Elemente der Figureninszenierung vermittelt wird. Garbowski definiert self-transcendance mithilfe mehrerer Begriffe, die jeweils eine Facette dieses philosophisch-religiösen Begriffs beschreiben. Übersich-Hinauswachsen (self-transcendance) basiert auf der Bewusstheit über das eigene Handeln, der Treue zu sich selbst und den eigenen moralischen Werten sowie darauf, sich selbst gegenüber Rechenschaft zu geben. (Garbowski 1996: 29 ff.) Weitere Aspekte dieses Begriffs sind Sinn im Leben zu erkennen bzw. selbst dem Leben Sinn zu geben und ein Gewissen zu haben. Ebenso sieht Garbowski self-transcendance als einen zentralen Faktor von Spiritualität und innerem Wachstum. Garbowski untersucht die filmische Repräsentation eines für die direkte äußerliche Anschauung unsichtbaren Phänomens, self-transcendance. Er erarbeitet Interpretationen darüber, wie Kieslowski in seinen Filmen das Phänomen self-transcendance behandelt und welche Ansichten und Aussagen der Filmemacher in seinen Werken darüber vermittelt. Garbowskis Forschungsfrage ist dabei nicht fokusiert auf die Frage nach den filmischen Gestaltungsmitteln der Visualisierung dieses spirituellen Aspekts des menschlichen Lebens. Dennoch ist sein Analyseansatz zu Teilen auf die Konstruktion filmischer Narration (in Anlehnung an Modelle von Bordwell und Chatman) und auf bestimmte visuelle Gestaltungsmittel ausgerichtet. Diese Aspekte seines analytischen Vorgehens gaben für die Entwicklung des Forschungsdesigns dieser Studie einige gute Impulse. Garbowski beschäftigt sich in seiner Studie mit den Gestaltungselementen des filmischen Raumes und der narrativen Zeitkonstruktion. Ebenso untersucht er im Rahmen seines Erkenntnisinteresses die Gestaltungsmuster der äußeren Erscheinung und des Innenlebens einer Figur als mehrdimensionale dialogic character (Garbowski 1996: 29). Er diskutiert die Faktoren der Figurenwahrnehmung durch den Zuschauer und orientiert sich hierfür zum Teil an kognitionswissenschaftlichen Annahmen. Zudem werden in der Studie Aspekte der Kameragestaltung (Einstellungsgröße und Blickwinkel) und deren Funktion bei der Vermittlung inhaltlicher Aspekte des Phänomens self-transcendance untersucht. Diese in Garbowskis Studie 25
eingesetzten Analyseperspektiven werden zu Teilaspekten des Forschungsdesign zu intrapersonellen Wandlungsprozessen. Jedoch ist der Aufbau des neuen filmwissenschaftlichen Forschungsdesigns wesentlich tragfähiger wissenschaftlich aufgebaut im Hinblick auf Systematik, Komplexität und Ausdifferenziertheit. Alle filmischen Mittel, die untersucht werden, sind darin über Definitionen und Kategorien präsent. Die Begriffssystematik ist mit strengem Fokus auf die im Medium Film möglichen Visualisierungsmuster für erzählerische Inhalte aufgebaut.
1.4 Filmische Darstellung charakterlicher Wandlung - zentrale Forschungsfrage und Arbeitshypothesen Die zentrale Frage dieser Studie lautet: Können bestimmte filmische Gestaltungsmittel und -muster für die Visualisierung von intrapersonellen Wandlungsprozessen im Spielfilm als typologisch bezeichnet werden? Es wird dabei von folgender zentraler Annahme ausgegangen: Gestalterische Phänomene, die für die Sichtbarmachung von gedanklichem und psychischem Geschehen ‚in‘ einer Figur in der äußeren Bildwelt eines Filmes eingesetzt werden, müssen in besonderer Weise über visuell-formale Gestaltungsstrukturen, szenisch-dramaturgische Interaktionsmuster und narrative Konfigurationen aufgebaut sein. Vergleichbar zu der inszenatorischen Verwendung von bestimmten Gestaltungsmitteln bei der Darstellung des mehr oder weniger handlungslosen Vorgangs „Warten“ (z.B. North by Northwest, Die Vögel) ist bei der Visualisierung eines intrapersonellen Wandlungsprozesses davon auszugehen, dass sich diese an sich ‚unsichtbare‘ Veränderung und deren Dynamiken über spezifische Gestaltungsstrukturen und Muster der filmischen Vermittlung visualisieren. Die zunächst unvereinbaren und konflikthaften thematischen Aspekte, die sich im Laufe einer intrapersonellen Veränderung wandeln, befinden sich in den ausgewählten Filmen einerseits im inneren System des fiktiven Charakters, und andererseits spiegeln sie sich in äußeren Handlungen der Figur und in deren Inszenierung innerhalb der Interaktionssituationen wider. Durch die Einbettung des Hauptcharakters in die dramatisierten szenischen Situationen und Handlungszusammenhänge konstituiert sich der fundamentale intrapersonelle Entwicklungsprozess mittels Informationsgaben auf mehreren visuellen filmgestalterischen Ebenen. Ziel der Studie, ist es, eine Typologie filmischer Gestaltungsmittel bei der filmischen Darstellung intrapersoneller Wandlungsprozesse aufzustellen.
26
Arbeitshypothese 1: Die Visualisierung eines intrapersonellen Wandlungsprozesses kann idealtypisch über zwei gegensätzliche Inszenierungsweisen erfolgen. Für die filmische Visualisierung von intrapersonellen Wandlungsprozessen wird in einer Grundannahme von zwei entgegen gesetzten Polen idealtypischer Inszenierung solcher erzählerischer Inhalte ausgegangen. Das Feld der Untersuchung erstreckt sich auf der Achse zwischen diesen beiden idelatypischen Polen. Die Visualisierung charakterlicher Wandlung kann zum einen idealtypisch über die visuelle und schauspielerische Darstellung der Figur inszeniert werden. Über die körperliche Erscheinung und das nonverbale, körpersprachliche Agieren und Verhalten einer Figur können sich deren Charakter und Einstellungen, innere Stimmungen, Handlungsmotivationen, Impulse bzw. deren Veränderungen mitteilen. So könnte im Extremfall die filmische Darstellung von Entwicklungsmomenten innerhalb des intrapersonellen Wandlungsgeschehens über die Inszenierung einer Plansequenz erfolgen. Die Figur wird dabei in einer ungeschnittenen Einstellung und aus einer gleichbleibenden Kameraposition während ihres emotionalen Erlebens, Agierens und Verhaltens in einer konflikthaften Situation gezeigt. Die Person ist dabei in ihrem Handeln und äußerlich wahrnehmbaren emotionalen Reagieren zu beobachten. Die intrapersonellen, emotionalen Vorgänge während des Erlebens und Handelns, etwa der innere Prozess des Integrierens gemachter Erfahrungen und einer eventuell daraus folgenden Entscheidungsfindung, sind in einer solchen Darstellung für den Zuschauer nur teilweise oder schwer nachzuvollziehen, da man die Figur nur ‚von außen‘ sieht. Über die stufenweise Veränderung der äußeren Erscheinung eines Protagonisten kann die Inszenierung einer charakterlichen Wandlung gestaltet sein. Dies wäre eine idealtypische Inszenierung von intrapersoneller Entwicklung über äußerlich sichtbare Gestaltungselemente einer Figur. Dabei kann über mehrere, aufeinander folgende Sequenzen eine stufenweise Änderung in der Gestaltung von Kostüm, Maske, Körpersprache, Mimik und Verhaltensweisen der Figur präsentiert sein. Über diese visuellen Gestaltungselemente der direkten körperlichen Erscheinung der Figur können Schritte ihrer inneren Wandlung visualisiert sein. Die zweite Art einer idealtypischen Inszenierung intrapersoneller Wandlungsprozesse definiert sich über den Einsatz filmischer Gestaltungselemente. Hier werden über die Gestaltungsmuster des Filmbildes, d. h. der dreidimensionalen Szenerie vor der Kamera, der Dramatisierung der darin sich abspielenden Handlungen und deren Präsentation über den filmischen Blick, formal-visuelle Strukturen etabliert, mittels derer visuelle Äquivalenzen zu den Dynamiken des charakterlichen Veränderungsprozesses aufgebaut werden. Auch die spezifische Verwendung erzählerischer Ordnungsprinzipien (kausal und zeitlich) und bestimmte Strukturen in der narrativen Konstruktion des Erzähltextes einer Geschichte zählen zur zwei27
ten Art idealtypischer Inszenierung bei der filmisch-visuellen Vermittlung eines intrapersonellen Wandlungsprozesses.
Abbildung 1: Idealtypische Inszenierung charakterlicher Wandlung
Ein charakterlicher Veränderungsprozess kann auf diese Weise z. B. über die Gestaltung des Szenenbildes (Raum, Raumsystem, Gegenstände, Licht, Farben) vermittelt werden. Dabei können über die Ausgestaltung der Szenerie Hinweise auf die innere Gestimmtheit und emotionale Bewegungen im Erleben des fiktiven Charakters inszeniert sein. Zudem kann eine „unsichtbare“ Veränderungsdynamik in der Charakterkonstruktion der Figur über Veränderungen in der Rollen- bzw. Handlungsinszenierung und über Verschiebungen in den Personenkonstellationen zwischen den Figuren vermittelt werden. Visuelle Hinweise über die innerpsychische Wandlung können auch für den Zuschauer nachvollziehbar über Veränderungen in der Wissensgabe und in den Gestaltungsmustern des filmischen Blicks aufgebaut sein. Auch können Aspekte der intrapersonellen Wandlung über Gestaltungsmuster der kausalen und zeitlichen Verknüpfung der erzählerischen Informationen und über Konfigurationsformen in der narrativ-hierarchischen Ordnung einer Erzählung zum Ausdruck gebracht werden. Der Zuschauer generiert durch bestimmte Wahrnehmungseindrücke, die im Nachvollzug der beschriebenen, formal-ästhetischen, visuellen und narrativen Gestaltungsmittel entstehen, Vorstellungen über das psychische Innenleben einer Figur und kann auf diese Weise die Entwicklung und Veränderung von deren Charakter und Wesensart nachvollziehen. Im Spannungsfeld zwischen den zwei inszenatorischen Idealtypen werden sich in den einzelnen Filmanalysen gestalterische Strategien und spezifische Gestaltungs28
muster herausstellen, die aus Kombinationen der unterschiedlichen Darstellungsmethoden beider idealtypischer Pole bestehen. Anhand der Achse zwischen den beiden Polen idealtypischer Inszenierung können alle Gestaltungsmuster, die sich als spezifisch für die Visualisierung intrapersoneller Wandlung erweisen, in bestimmte Gruppen zusammengefasst werden. Arbeitshypothese 2: Filmische Gestaltungsmittel, die in der Visualisierung intrapersoneller Wandlungsprozesse eingesetzt werden, sind von Prozesshaftigkeit in Struktur und Verwendungsweisen gekennzeichnet. In der zweiten Arbeitshypothese der Studie steht die Definition eines Prozessbegriffs für filmische Gestaltungsmuster im Mittelpunkt. Die darin gefasste Annahme lautet, dass die filmischen Gestaltungselemente und -muster, die sich als relevante Bausteine der Visualisierung intrapersoneller Wandlung erweisen, von prozesshafter Struktur sein müssen. Diese Hypothese begründet sich wie folgt: Ereignisse und Dynamiken eines psychisch-emotionalen Entwicklungsprozesses sind dem äußeren Anschein nach visuell unspektakulär. Die zentralen dramatischen Ereignisse einer intrapersonellen Wandlung bestehen nicht aus äußeren, bewegungsreichen Aktionen und Geschehnissen, in welche die Hauptfigur involviert ist. Vielmehr ist der Ort dieser Ereignisse der erzählerisch konstruierte psychische Raum der Figur, der sich nicht explizit der äußeren Anschauung eröffnet. Zudem ist davon auszugehen, dass sich ein charakterlicher Veränderungsprozess über mehrere Phasen und über eine stufenartige Dynamik entwickelt. Bei der Sichtbarmachung eines solchen Vorgangs über das Erzählmedium Film müssen Lösungen für die mediengerechte, d. h. visuell-filmische, Umsetzung dieses erzählerischen Stoffes gefunden werden. Denn die Hauptcharakteristika eines charakterlichen Wandlungsgeschehens sind in ihrer Eigenart äußerst unfilmisch. In der filmischen Visualisierung müssen visuelle Äquivalente für das äußerlich wenig dynamische und trotzdem höchst prozesshafte dramatische Geschehen etabliert werden. Arbeitshypothese 3: Die Verwendung filmischer Gestaltungsmuster bei der Visualisierung charakterlicher Wandlungsprozesse einer Reifung oder eines Scheiterns weist grundlegende Verschiedenheiten auf. Die Definition zweier gegensätzlicher Entwicklungswege, die den Verlauf einer intrapersonellen Wandlung kennzeichnen können, ist die Basis der dritten Forschungshypothese. Es ist dabei grundsätzlich zwischen zwei gegenläufigen Grundformen charakterlicher Veränderungsprozesse zu unterscheiden, die sich in einer gelingenden charakterlichen Reifung oder im Scheitern der zentralen Figur auf dem Weg 29
zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung manifestieren. Auf der Grundlage dieser Definition wird die Annahme formuliert, dass die filmischen Mittel, die bei der Visualisierung der jeweils gegensätzlichen Entwicklungsverläufe zum Einsatz kommen, von deutlicher Verschiedenheit gekennzeichnet sind. Um diese Arbeitshypothese am Material prüfen zu können, sind die Beispielfilme entsprechend ausgewählt. Vier der acht Spielfilme präsentieren einen charakterlichen Entwicklungsprozess, der zu einer Reifung führt. Die anderen vier Filme vermitteln in der Erzählung ein Misslingen der charakterlichen Reifung ihrer Hauptfiguren. Die Figuren in diesen beiden Filmgruppen entwickeln sich vom Schlechten zum Guten, vom Unvermögen zur Befähigung oder aber vom Guten zum Schlechteren, zur zunehmenden Unfähigkeit in der Lebensbewältigung. Die soziale Situation der fiktiven Charaktere ändert sich durch ihre innere Reifung oder ihr charakterliches Scheitern grundlegend. Die Protagonisten finden dabei den Weg entweder von Einsamkeit und Isolation zu Gemeinschaft und Integration, oder ihr lebendiges Begehren und Handeln findet paralysierten Stillstand und Isolation. Die für das Untersuchungsdesign vorgenommene Unterteilung der ausgewählten filmischen Erzählungen in Geschichten der Reifung und Geschichten des Scheiterns bedarf an dieser Stelle einer vertiefenden Erläuterung. Geht man davon aus, dass charakterliche Entwicklungsprozesse geprägt sind durch ein Geflecht von Gelingen und Scheitern, ist es nicht möglich, die Entwicklungsphasen einer Reifung oder eines Scheiterns als getrennte Phänomene zu behandeln. Zudem ist die Beurteilung von Geschehnissen als eine Entwicklung zur Reifung oder zu einem Scheitern im Wesentlichen kontextabhängig. Im Hinblick auf unterschiedliche soziale und gesellschaftliche Gruppen mit bestimmten Wertesystemen und Lebensstilen kann eine Ereignisfolge und Entwicklung jeweils aus der einen Kontextperspektive ein Scheitern bedeuten, aus einer anderen jedoch ein Gelingen. Im Rahmen der Studie geht es nicht darum, diese kontextabhängige Darstellung und Interpretation von Entwicklungsprozessen inhaltlich zu analysieren und zu deuten. Vielmehr geht es darum, die in den gestalterischen Strukturen der untersuchten filmischen Erzählungen jeweils festgelegten Lesarten der charakterlichen Veränderungsprozesse in ihrer formalen Struktur zu untersuchen und zu beschreiben. Die Art der Informationsgabe, d. h. die filmische Inszenierung der erzählerischen Inhalte bildet eine Matrix, die den Zuschauer beeinflusst, die Geschehnisse als Reifung oder als Scheitern zu interpretieren. Diese rezeptionssteuernden Gestaltungsmuster filmischer Inszenierung werden in den Untersuchungen herausgearbeitet. Die Ergebnisprofile der methodischen Filmanalysen zeigen den typologischen Einsatz filmspezifischer Gestaltungsmittel in der Schilderung von Entwicklungsgeschichten auf.
30
Teil I Theorie und Methodik 2. Theorie der Prozesshaftigkeit Teil I: Begriffe aus der Erzähltheorie
Im nun folgenden Kapitel werden alle theoretischen Begriffe und Annahmen der behandelten erzähltheoretischen Ansätze zusammengefasst aufgeführt, welche für die Untersuchung der Forschungsfrage von besonderer Bedeutung sind. In den Erzähltheorien wird für bestimmte gestalterische Mittel und Zusammenhänge festgestellt, dass diese in den komplexen Gestaltungsstrukturen eines Films besonders deutlich formale Entwicklungs- und Veränderungsdynamiken aufweisen. Diese hierfür in den Ansätzen entwickelten Kategorien werden als methodische Analysekriterien für die Bearbeitung der Forschungsfrage am Gegenstand ausgewählt. Der Fokus innerhalb der Filmanalysen wird dadurch auf die erzählerische und visuelle Darstellung von Prozesshaftigkeit ausgerichtet. An dieser Stelle ist noch einmal kurz auf die kognitionstheoretische Basis der diskutierten Theoriemodelle zurückzukommen. In den behandelten kognitionswissenschaftlichen Ansätzen der Film- und Medientheorie wird von der Annahme ausgegangen, dass der Zuschauer während der Rezeption eines Films bestimmte kognitive Wahrnehmungs-, Verstehens- und Lernprozesse leistet, um eine Erzählung nachvollziehen zu können und um sich eine mentale Repräsentation der Geschichte zu vergegenwärtigen. Gemäß der theoretischen Modellbildung ist eine Vorgabe und Anleitung zu diesen kognitiven Prozessen in den filmischen Strukturen gestaltet. Es wird davon ausgegangen, dass filmische Gestaltungsmittel und -muster, welche in ihren formalen Strukturen von dynamischer Prozesshaftigkeit gekennzeichnet sind, besonderen Einfluss auf die Rezeptionsleistungen haben, welche die Wahrnehmung und das Verstehen prozesshafter Dynamik von Entwicklung und Veränderung beim Zuschauer steuern. Auf der kognitionstheoretischen Basis zum Rezeptionsprozess lassen sich diejenigen filmischen Gestaltungsmittel und -muster herausarbeiten und beschreiben, die für die filmisch-visuelle Darstellung von intrapersonellen Wandlungsprozessen besondere Relevanz haben. Prozesshaftigkeit kann sich in bestimmter Ausformung von filmischen Mitteln auf allen gestalterischen Ebenen innerhalb einer Erzählung zeigen. Gemäß der erzähltheoretischen Kategorien story, discourse und form and substance of expression (Chatman 1978 [1993]: 23) bzw. stylistic system (Bordwell/Thompson 1986: 118) 31 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
werden im Rahmen der Studie drei Kategorien filmischer Gestaltungskomponenten unterschieden. Auf jeder Ebene dieser Strukturzusammenhänge können mittels bestimmter filmgestalterischer Mittel Anteile der Schilderung und Darstellung von Entwicklungs- und Veränderungsabläufen ausformuliert sein. Die Dynamik von Entwicklung und Veränderung im Ereignisverlauf einer Geschichte (story) lässt sich über die Untersuchung der darin ablaufenden Phasen narrativer Transformationen zentraler inhaltlicher Elemente herausarbeiten. Die spezifische Gestalt, d. h. die inhaltliche Konstruktion und der Gang der Ereignisse vom Beginn bis zum Ende einer Geschichte, wird dabei nach darin enthaltenen prozesshaften Strukturen untersucht werden. In der Gestaltung der erzählerischen Präsentation (discourse) einer Geschichte ist die Dynamik des Erzählprozesses erkennbar. Die Gabe des erzählerischen Wissens über eine Geschichte, d. h. der Einsatz filmgestalterischer Mittel in der narrativen Transmission, bildet einen eigenständigen Strukturzusammenhang, der ein Profil von Entwicklung und Veränderung aufweist. Eine weitere Art von Prozesshaftigkeit lässt sich auf der Strukturebene filmischer Gestaltung in der visuellgegenständlichen Szenerie im Bild (form and substance of expression bzw. stylistic system) untersuchen. Dynamische Veränderungen können sich in der Ausgestaltung von Farbe, Licht, props und deren Dimensionierung etc. zeigen. Wuss’ Modell der PKSStrukturen ermöglicht eine zusätzliche Perspektive auf die Phänomene gestalterischer Prozesshaftigkeit in der filmischen Vermittlung einer Geschichte. Im PKS-Modell wird nicht zwischen den Kategorien story, discourse oder form and substance of expression getrennt, um die gestalterischen Systeme in einem Film zu definieren. Vielmehr wird die Gesamtheit der erzählerischen Ereignisse einer Geschichte betrachtet und nach drei grundlegenden Kategorien von Verstehensleistungen geordnet, welche die verschiedenen filmischen Strukturen im Rezeptionsprozess des Zuschauers auslösen. Wuss’ theoretisches Verständnis filmischer Gestaltungsstrukturen ist hierbei zentral am Begriff der Prozesshaftigkeit orientiert. Daher ist dieser Ansatz für die Untersuchung der Visualisierung von intrapersonellen Wandlungsprozessen von besonderer Bedeutung.
2.1 Definitionen von Prozesshaftigkeit: Formale Gestaltungsprinzipien und Dominanten Als erster und grundsätzlicher Zugang zur Untersuchung prozesshafter Gestaltungsphänomene im Film sei an dieser Stelle auf die fünf Definitionen künstlerischer Gestaltungsprinzipien im Neoformalismus hingewiesen. Über die Begriffe der fünf Prinzipien, similarity and repetition, parallelism, difference and variation, unity/ disunity und development (Bordwell/Thompson 1986: 35 ff.) definieren sich abstrakte 32
Kategorien für gestalterische Strukturen in der Darstellung von Entwicklungs- und Veränderungsprozessen. Nach neoformalistischem Ansatz sind alle Elemente eines Films durch diese fünf gestalterischen Prinzipien organisiert und verknüpft. Die Gestaltung einer Abfolge von Ereignissen in einer Erzählung muss zwangsläufig in einen Verlauf von formalen Entwicklungen und Veränderungen eingebettet sein, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers für die Dauer der gesamten Filmrezeption zu fesseln. Die filmische Form einer Geschichte geht also zwangsläufig einher mit einer formalen Prozesshaftigkeit, principle of progression (Bordwell/Thompson 1986: 39). Über diese Entwicklungen und Veränderungen in den gestalterischen Strukturen etablieren sich die Inhalte einer Geschichte und deren Verlauf von Anfang bis Ende. Die Definition der fünf gestalterischen Prinzipien als abstrakte Kategorien für Prozesshaftigkeit steht in Verbindung mit der theoretischen Annahme, dass sich in jedem konkreten Filmwerk eine bzw. mehrere formale Dominanten im Einsatz der filmgestalterischen Mittel feststellen lassen (vgl. Thompson 1995: 60). Diese Dominante(n) korrespondieren in ihrer formalen Struktur in der Regel mit der inhaltlichen Konfiguration bzw. der Transformationsart des initial term einer Geschichte. Um die Strukturierung der filmischen Gestaltung in einem Werk und deren Dominante(n) analysieren zu können, wird von den Neoformalisten die Methode des Vergleichs von opening und ending favorisiert (Bordwell/Thompson 1986: 39, 90, 269, 303). Dieses methodische Instrumentarium und der Begriff der Dominante haben mit Fokus auf die zentrale Fragestellung dieser Studie grundlegende Bedeutung für die Untersuchung aller gestalterischen Komponenten eines Films in den Systemen von story, plot, discourse und style. Im Vergleich der Anfangs- und Schlusssequenz einer filmischen Erzählung lassen sich die grundlegenden Tendenzen im Einsatz gestalterischer Prinzipien auf allen Ebenen, die in einem konkreten Werk eingesetzt sind, beschreiben. Im opening werden die Grundbedingungen für den ästhetischen Nachvollzug des Werkes etabliert. Die gestalterischen Grundzüge der kausalen, räumlichen und zeitlichen Grundkonfigurationen des erzählerischen Inhalts werden im opening aufgebaut, ebenso die grundlegenden Muster der method of distribution (Branigan 1992: 139). Auch die visuellen Eigenarten in der Gestaltung der bildhaften Szenerie werden hier für den Zuschauer eingeführt. Die Vorstrukturierung für die Hypothesenbildung durch den Zuschauer über inhaltliche und formalgestalterische Zusammenhänge wird in jedem Film in der Exposition auf diese Weise gebildet. Diese Gestaltungsmechanismen werden im Neoformalismus als primacy effect (Bordwell 1985: 38) definiert. Bei der Untersuchung der gestalterischen Strukturen, welche den primacy effect generieren, lässt sich nach neoformalistischem Modell bereits eine Hypothese über die gestalterische Dominante in den filmischen Strukturen eines konkreten Werkes aufstellen. Das Verständnis der Dominante als übergeordnetes gestalterisches Prinzip, das in jedem Film in eigener Weise enthalten ist und sich anhand der Werkstrukturen 33
abstrahieren lässt, findet sich auch in Wuss’ PKS-Modell. Wuss geht davon aus, dass sich in der Wechseldynamik der Gestaltungsprozesse und -elemente eines jeden Films ein bestimmter Strukturtyp als dominant erweist (vgl. Wuss 1993: 100 f.). Die Untersuchung der Mechanismen des primacy effect und der gestalterischen Dominante(n) in den ausgewählten Filmen ist für die Forschungsfrage von Bedeutung. Mittels dieses Analyseschritts lassen sich die im konkreten Werk gestalteten Grundbedingungen und -strukturen filmischer Ästhetik herausarbeiten, welche die Rezeptionsprozesse für die spezielle inhaltliche Figur, nämlich die eines intrapersonellen Wandlungsprozesses, in den ausgewählten Filmen steuern. Auf Basis der Ergebnisprofile, welche über den Vergleich von opening und ending erarbeitet werden, lassen sich Aussagen treffen über die grundlegenden, d. h. dominanten Gestaltungsmittel und deren formale Profile bzw. Veränderungsstrukturen, die in einem konkreten Film zum Einsatz kommen. Diese Untersuchungsergebnisse werden dann durch die Anwendung des weiteren Untersuchungsinstrumentariums überprüft und erweitert. Evaluiert wird dabei, ob die prozesshaften Gestaltungsstrukturen in opening und ending über damit korrelierte, prozesshafte Strukturen im weiteren Filmverlauf eine kontinuierliche Entwicklungslinie bilden.
2.2 Prozesshaftigkeit erzählerischer Ordnungsprinzipien Statik, Dynamik erzählerischer Aussagen Alle inhaltlichen Elemente einer Erzählung werden in zwei Kategorien von Mitteilungen präsentiert. Über stasis statements (Chatman 1978 [1993]: 31) werden erzählerische Inhalte als bereits vorhandene, gegebene, konkrete Gegenstände (existents) präsentiert und deren Eigenschaften beschrieben. Stasis statements einer Erzählung sind nach Chatman als gegeben vermittelte Verhältnisse, Zustände von Situationen, Figuren, Gegenstände und Schauplätze. Informationen, die als Geschehnisse oder Handlungen (actions, happenings) in ihrem Verlauf dargestellt sind (enact), oder als eine Berichterstattung über Ereignisse inszeniert (recount) sind, werden von Chatman als process statements bezeichnet (ebd.). Momente einer charakterlichen Wandlung können nur in process statements ausgedrückt werden, da eine solche Entwicklung sich als dynamisches Geschehen ereignet. Beide Arten von Aussageformen können jedoch an der inhaltlichen Ausformulierung eines Veränderungsprozesses beteiligt sein. Nicht nur über das Ereignis eines process statement kann sich prozesshaftes Geschehen ausdrücken, sondern auch in Verhältnismäßigkeiten und Bezügen zwischen den Ereignissen eines process statement und den inhaltlichen Gegebenheiten eines stasis statement. Die theoretische Unterscheidung der beiden Mitteilungsarten ermöglicht 34
die Darstellung der Anteile einer Wandlung, welche durch die Dynamik eines process statement vermittelt werden, sowie die Beschreibung des Wechselverhältnisses zwischen dynamischen und statischen Aussagen. Hierin kann ebenfalls eine prozesshafte Entwicklung aufgebaut sein. Events und existents sind in jedem konkreten Werk auf spezifische Weise process statements oder stasis statements zugeordnet. Anhand der Analysen mittels dieser Kategorien kann ein Profil der Mitteilungsarten herausgearbeitet werden, über welche die inhaltlichen Elemente von Veränderung und Wandlung vermittelt werden. Eine weitere grundlegende Kategorisierung inhaltlicher Elemente, welche in Chatmans Modell entwickelt ist, besitzt eine besondere Relevanz in der Untersuchung von prozesshafter Dynamik in einer Geschichte. Alle events werden im Bezug auf das jeweils auslösende Moment eines Geschehnisses in action oder happening unterschieden. Ist ein event ein Ereignis, das durch aktive Handlungen als action stattfindet, beinhaltet es eine aktive Tätigkeit eines existents, „existent is agent of event“ (Chatman 1978 [1993]: 31). Ist ein Geschehnis als happening inszeniert, wird ein existent einer Einflussnahme durch Ereignisse unterzogen, „existent is the patient“ (ebd.). Im neoformalistischen Modell wird eine im Vergleich hierzu noch detailliertere Kategorisierung für Ereignisauslöser gegeben (vgl. Bordwell/Thompson 1986: 86). Es werden hierbei drei Grundarten auslösender Ursachen für Ereignisse in einer Geschichte unterschieden. Ein event kann durch ein aktives Handeln, das aus dem Streben einer Figur nach Verwirklichung ihrer Wünsche und Ziele motiviert ist, bestimmt sein. Die zweite Kategorie von Handlungsauslösung ist in Charakterzügen und Persönlichkeit einer Figur verankert, die ein bestimmtes Agieren bedingen. Die dritte Kategorie handlungsauslösender Impulse für Ereignisse liegt außerhalb des Wirkungskreises einer Figur. Solche Geschehnisse werden durch natürliche Kräfte (z. B. Stürme, Wetter im Allgemeinen bzw. Naturkatastrophen) oder auch übernatürliche Mächte (Magie, Gott) hervorgerufen. Die Geschehnisse, welche in der kausalen Grundkonfiguration einer Geschichte als Teil einer charakterlichen Wandlung erachtet werden, können als zielmotiviert, charaktermotiviert oder als außerhalb menschlicher Wirkungskreise liegend inszeniert sein. Welche Motivationen und Auslöser den Ereignissen während einer charakterlichen Veränderung zugrunde liegen, gibt Hinweis darauf, wie die Katalysatoren, Schritte und Phasen eines solchen dynamischen Prozesses über eine Kette von Ursache und Wirkung aufgebaut sind. Das inhaltlich logische Gerüst, welches die Veränderungsprozesse in der Konstruktion einer solchen Erzählung trägt, wird durch die Analyse der verschiedenen Auslöser, welche den Geschehnissen zugrunde liegen, beschreibbar. Welche Anteile die eigenaktiven Taten eines Protagonisten an seiner Persönlichkeitsentwicklung haben können, welche 35
charakterbedingten Aktionen und Reaktionen dynamische Komponenten einer Reifung oder eines Scheiterns auslösen können und welche äußeren Wirkkräfte und Ereignisse eine charakterliche Veränderung mit induzieren können – dies alles gibt Hinweis darauf, wie eine konkrete Geschichte über eine charakterliche Wandlung erzählerisch logisch aufgebaut ist. Faktoren erzählerischer Logik von Ursache und Wirkung Die Lebenswelten, welche in den ausgewählten filmischen Werken vorgestellt werden, müssen als Basis für die Untersuchung der Visualisierung von Wandlungsprozessen festgestellt und beschrieben werden. Sind die inhaltlichen Grundelemente, existents und events (Figuren, Orte, Gegenstände, Handlungen, Ereignisse), festgestellt, werden auf dieser Basis die Ursache- und Wirkungs-Verknüpfungen, cause-effect chains (Bordwell/ Thompson 1986: 83), zwischen den Ereignissen und Handlungen untersucht und beschrieben. Für die Analyse der erzählerischen Logik wird das Begriffsmodell der kernels und satellites von Chatman eingesetzt (vgl. Chatman 1978 [1993]: 53 ff.). Für eine Untersuchung der cause-effect chain in der Zeit- und Raumdarstellung sind hingegen die Definitionen im neoformalistischen Modell besser kategorisiert als bei Chatman. Chatman benennt zwar einige methodische Vorgaben zur Analyse der Zeit- und Raumkonstruktion in einer Erzählung (Chatman 1978 [1993]: 62 f.), diese Begriffe sind jedoch nicht vergleichbar gut systematisiert und für filmische Gestaltungsphänomene spezifiziert wie im neoformalistischen Ansatz. Auch in Branigans erzähltheoretischem Modell werden Definitionen für die Untersuchung von Raum- und Zeitkonstruktionen in filmischen Erzählungen entwickelt. Die Anwendung dieser sehr zahlreichen Definitionen und Untersuchungsperspektiven auf den Film würde zu einer sehr großen Menge einzelner Analysedaten führen (Branigan 1992: 20 ff.). Da die Untersuchung der filmischen Gestaltungsmittel in der Konstruktion von Zeit und Raum nur einen kleinen Schritt auf dem Weg zur Untersuchung der zentralen Fragestellung dieser Studie darstellt, wird für diese Analyseperspektive das weniger detaillierte, aber dennoch gut systematisierte Unters uchungsinstrumentarium der Neoformalisten angewandt. In der kausalen Gesamtkonstruktion einer Geschichte besitzt jedes inhaltliche Element eine Funktion. Die Analyse der kausallogischen Verknüpfungsprinzipien zwischen den Ereignissen in einer Geschichte ermöglicht die Darstellung der Konfiguration aller inhaltlichen Elemente als kernels und satellites (vgl. Chatman 1978 [1993]: 53 ff.). Das grundsätzliche Potenzial des Erzählmaterials, sich in eine Vielzahl von unterschiedlichen und möglichen Richtungen entwickeln zu können, wird an jedem wesentlichen Ereignispunkt innerhalb der Handlung reduziert. Die Ausrichtung der inhaltlichen, kausalen Logik einer Erzählung, zunächst nur 36
angedeutet bzw. vorangekündigt, wird aus der prinzipiell möglichen Fülle inhaltlicher Entwicklungen, Geschehnisse und Handlungen im erzählerischen Verlauf sukzessive durch Reduktion eingeschränkt und zu einer linearen Bestimmtheit hin entwickelt. Diese Entwicklung in der schrittweisen Ausformulierung der Ursache-WirkungsLogik einer Geschichte hat eine prozesshafte Struktur. Kernels beinhalten das Wissen über die Erzählung, das zum Verständnis von deren Grundgerüst und für den Nachvollzug eines darin enthaltenen Entwicklungsprozesses grundlegend ist. Von einem kernel zum nächsten klärt sich, welche inhaltlichen Elemente die Funktion der Ursache, und welche die der Wirkung tragen. Eine zusammenfassende Beschreibung der Inhalte aller kernels einer Geschichte gibt eine Kurzfassung aller wesentlichen Elemente und Ereignisse der Ursache-WirkungsKette wieder. Die inhaltliche Verknüpfung eines kernel zum nächsten bestimmt die Ausrichtung der narrativen Logik innerhalb aller Informationen über die Geschichte in eine bestimmte Entwicklung. Die Darstellung der Entwicklungsmö glichkeiten an einem branching point und die auslösenden Ereignisse und Umstände in der Handlungsentwicklung, welche deren Ausrichtung auf das nächste kernel bestimmen, werden über die Inhalte von satellites präsentiert. Das Ergebnisprofil der Verknüpfungsmuster zwischen den inhaltlichen Elementen ermöglicht die Darstellung der inhaltlichen Grundkonstituenten der jeweiligen Geschichte, ihrer Hauptereignisse und -handlungsverläufe sowie deren Nebenäste. Der Aufbau der Handlungslogik zeigt sich als ein prozesshaftes Interagieren und Reagieren innerhalb der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Bestimmte Anteile der erzählerischen Informationen in den kernels und satellites werden dabei offengelegt und verständlich in ihren Zusammenhängen dargestellt. Andere inhaltliche Aspekte werden verrätselt, vorenthalten und während des Filmverlaufs verzögert präsentiert. Das Profil der Wissensgabe über kernels und satellites gibt Aufschluss darüber, wie Aufbau und Nachvollzug des kausallogischen Systems aller inhaltlichen Zusammenhänge in einem Werk gestaltet sind. Manche Handlungselemente haben in der Fortentwicklung einer Geschichte eine stete, manche eine sich wandelnde Position und Bedeutung. Andere Elemente wiederum sind nur bis zu einem bestimmten Punkt im Entwicklungsgang der Ereignisse von Bedeutung. Die endgültigen Funktionen inhaltlicher Elemente im Erzählverlauf als kernels und satellites (Chatman 1978 [1993]: 56) lassen sich im retrospektiven Blick auf die gesamte Geschichte benennen. Der sukzessive Aufbau der erzählerischen Gesamtfigur einer intrapersonellen Wandlung lässt sich anhand der erzählerischen Konfiguration der Inhalte über kernels und satellites beschreiben. Das Profil der inhaltlichen Logik eines solchen Veränderungsprozesses manifestiert sich in der Verknüpfung von kernels und satellites und in den Entwicklungen an den branching points. In der Ausgestaltung der Kausallogik werden die Stufen der charakterlichen Entwicklung deutlich, d. h. 37
welche inhaltlichen Elemente als Ursache und welche als Wirkung für diesen Prozess bzw. dessen Phasen, Kernereignisse, Folgen und Entwicklungsstufen präsentiert werden. In dieser Konstruktion des logischen Erzählgangs wird deutlich, dass ein bestimmter inhaltlicher Weg von mehreren möglichen für die logische Schilderung eines Wandlungsprozesses und dessen Erscheinungsart präsentiert wird und dass die Geschichte auf eine bestimmte Weise verstanden werden soll. Die kausallogischen Hauptmomente im Prozess charakterlicher Entwicklung können anhand der Analyse benannt werden. Im Rahmen der Studie werden die Visualisierungsmuster dieser erzählerischen Elemente, über welche die Hauptrichtung der erzählerischen Logik innerhalb der charakterlichen Wandlung aufgebaut ist, untersucht. Gestaltungsfaktoren eines filmischen Raum- und Zeitsystems Die inhaltliche Konstruktion einer filmisch präsentierten Geschichte besteht aus drei Konstituenten, mittels derer sich die logische Gesamtfigur des Inhalts manifestiert. Zum einen ist dies die Summe der inhaltlichen Elemente in der story, deren Vernetzung sich in kernels, satellites und branching points ausformuliert. Die inhaltliche Gesamtkonstruktion wird durch das filmische Datenmaterial, das im plot, d. h. auf der Leinwand, präsentiert wird, generiert. In diesem Datenmaterial, das im Film immer schon ein konkretes, zumeist dreidimensionales Bild einer Szenerie zeigt, werden Informationen über Orte und räumliche Dimensionen bzw. Bezüge gegeben. Dies ist die zweite Konstituente der erzählerischen Logik. Die dritte Konstruktionsgröße, das zeitliche Bezugssystem, entsteht im Spannungsfeld zwischen der Dauer einer Handlung im bewegten Bild auf der Leinwand und der Dauer des gesamten Handlungsablaufs. Über die beiden Ordnungssysteme des zeitlichen und räumlichen Gefüges einer Ereignisabfolge bildet sich das prozesshafte Geschehen der inhaltlichen Gesamtkonfiguration einer Geschichte ab. Die bedeutungsschaffende Funktion der Zeit- und Raumdarstellung innerhalb des erzählerisch-logischen Aufbaus einer Geschichte kann beschrieben werden. In den meisten filmischen Erzählungen wird die visuelle Erschließung der Schauplätze in der fiktiven Welt und ihrer räumlichen Bezüge nicht nach den natürlichen Orientierungsbedürfnissen des Zuschauers, sondern auf eine andersartige, systematische Weise eröffnet, die der filmischen Dramatisierung der Geschehnisse und deren Entwicklungen dient. Während der Rezeptions- und Verstehensprozesse bildet der Zuschauer auf der Basis des filmischen Materials Vorstellungen über die Logik im räumlichen System aller Schauplätze. Die auf der Leinwand sichtbaren fragmentarischen Ansichten des filmischen Raums werden hierfür in der mentalen Konstruktion zu einem Raumkontinuum zusammengefügt. Lücken und Irritationen, welche durch die verschiedenen visuellen Perspektiven auf Raumfragmente entstehen, werden vom Zuschauer durch eigene Vorstellungen ergänzt. 38
Durch die Analyse des Gestaltungsprofils für das Raumsystem eines Films wird deutlich, welche Schauplätze der Handlung auf welche Weise gezeigt werden. Teilansichten und Perspektiven filmischen Raums werden im shot space und screen space präsentiert. Andere räumliche Bezüge werden durch Montage ausgedrückt oder über cues im offscreen space und die entsprechenden Hypothesen des Rezipienten in das Raumsystem integriert. Der Einsatz filmischer Gestaltungselemente bei der Etablierung der gesamten räumlichen Zusammenhänge einer Filmerzählung weist dabei prozesshaften Charakter auf. Schauplätze werden sukzessive und unterschiedlich detailliert eingeführt. Orte der Handlung können kontinuierlich oder lückenhaft präsentiert werden. Im Filmverlauf wird manche dieser Lücken zu einem späteren Zeitpunkt geklärt, neue Räume werden hinzugefügt. In der Inszenierung bereits etablierte Raumbezüge können eine Veränderung erfahren. Welche inhaltlichen Ereignisse sich im plot in klar definierten räumlichen Zusammenhängen abspielen oder im Gegensatz dazu mittels irritierender Rauminszenierung gezeigt werden, gibt Hinweis darauf, wie in einem konkreten Werk die jeweilige Art der räumlichen Konstruktion mit dem inhaltlichen Ereignis korrespondiert. So können bestimmte Ereignisse und deren Schauplätze durch den Einsatz von Normalperspektive und einfach nachvollziehbarer Montage präsentiert sein. Die Schilderung anderer Handlungszusammenhänge kann über die Präsentation von fragmentarisierten und verwirrenden räumlichen Bezügen zwischen den Ansichten eines oder mehrerer Schauplätze aufgebaut sein. Zur Bearbeitung der Fragestellung in dieser Studie werden die visuell-räumliche Konstruktion des fiktiven Erzählraums und die Positionierung der handelnden Figuren in diesen dreidimensionalen Zusammenhängen untersucht und beschrieben. Die gestalterischen Prozesse im Aufbau der räumlichen Zusammenhänge während des Filmverlaufs werden verglichen mit der dynamisch-prozesshaften Struktur in der erzählerischen Konstruktion der charakterlichen Wandlung. Dabei lässt sich feststellen, ob Bezüge zwischen den inhaltlichen Entwicklungen und dem Einsatz filmischer Mittel in der Rauminszenierung erkennbar werden. Dies lässt Annahmen zu über Funktionen des filmischen Raumsystems für die Dramatisierung und Bedeutungsschaffung auf der inhaltlichen Ebene der Ereignisse. Die Analyse der Inszenierungen zentraler Handlungsmomente in der charakterlichen Entwicklung an bestimmten Orten der Geschichte und die Beschreibung der spezifisch filmischen Mittel, die für den Aufbau dieser Raumsysteme eingesetzt werden, geben Hinweise darauf, welchen Anteil die jeweilige Raumkonstruktion an der Vermittlung der intrapersonellen Entwicklung hat. Das zweite Ordnungssystem der filmischen Daten auf der Leinwand besteht in den zeitlichen Bezügen zwischen den gezeigten Ereignissen. Die im plot einer filmischen Erzählung gestaltete Aneinanderreihung der erzählerischen Informationen 39
entspricht meist nicht der handlungslogischen, sukzessiven Abfolge der Ereignisse gemäß einem kontinuierlichen und linearen Zeitverlauf. Geschehnisse werden im plot beispielsweise in verkürzter, simultaner, nachgeordneter Weise oder im Vorgriff auf zukünftige Entwicklungen bzw. im Rückblick präsentiert. Jedes erzählerische Element einer Geschichte ist auf diese Weise an einer bestimmten Position in das System zeitlicher Logik eingeordnet. Die Manipulationen in der Darstellung von Zeitbezügen geben der inhaltlichen Gesamtkonstruktion ein spezifisches Profil im Bezug auf die Verflechtung von Zeitfragmenten und Abläufen. Der Zuschauer sieht Fragmente der story time einer gesamten Geschichte durch die Präsentation von Ereignissen auf der Leinwand (plot time). Er ist gefordert, diese inhaltlichen und zeitlichen Fragmente während der Filmrezeption in ein virtuelles Kontinuum von Zeitabläufen und temporärer Verkettung zu sortieren. Die Analyse der zeitlichen Bezüge zwischen den gezeigten Handlungszusammenhängen weist in jedem Film ein spezifisches Profil auf. Durch die Schaffung zeitlicher Zusammenhänge zwischen den Handlungsabschnitten eines Entwicklungsprozesses wird dieser in einer Geschichte über eine Abfolge von Phasen mit einem bestimmten Zeitablauf geschildert. Ereignisse erhalten durch die Art ihrer zeitlichen Erscheinung unterschiedliches Gewicht und Bedeutung. Verschiedene Manipulationen der Zeitdarstellung im plot (achronologische oder verkürzte Darstellung, Wiederholung desselben Ereignisses etc.) lassen Rückschlüsse zu auf die Sinnbezüge von Handlungsereignissen, die in der erzählerischen Konstruktion einer Entwicklungsgeschichte angelegt sind. Die Hypothesenbildungen über die Zusammenhänge einer stufenweisen, logischen Entwicklung, die der charakterlichen Wandlung der Figur zugrunde liegen, ist beeinflusst durch die zeitliche Konfiguration der Informationen über die Handlungszusammenhänge im plot. Manche erzählerischen Inhalte werden nur in geringer Differenz zur story time präsentiert, andere Informationen werden dem Zuschauer über deutliche Manipulationen der zeitlichen Kohärenz vermittelt. Diese Konstruktionsuntersch iede in der Schaffung der Zeitlichkeit einer Erzählung lassen sich als Teile eines Gestaltungsprozesses im Filmverlauf beschreiben und darstellen. Im Vergleich dieser gestalterischen Strukturen mit dem inhaltlichen Aufbau einer Erzählung kann anhand des Differenzprofils zwischen story time und plot time analysiert werden, wie die wesentlichen inhaltlichen Aspekte eines Wandlungsprozesses im Profil der zeitlichen Verhältnismäßigkeiten positioniert sind. Auf diese Weise kann herausgearbeitet werden, ob sich in den Gestaltungsstrukturen des zeitlichen Systems einer Erzählung Korrespondenzen zum prozesshaften Charakter der inhaltlichen Hauptlinie von Veränderung und Entwicklung nachweisen lassen. In Analyse und Vergleich der Vernetzungsmuster inhaltlicher Informationen innerhalb der drei Ordnungsprinzipien Kausallogik, Raum- und Zeitsystem wird deutlich, wie sich die 40
Prozesshaftigkeit der inhaltlichen Erzählfigur von Entwicklung und Wandlung in einer konkreten Filmerzählung auf diesen filmischen Gestaltungsebenen manifestiert und abbildet. Die Visualisierungsmuster in der Darstellung von Raum und Zeit und deren Anteil an der Konstituierung der zentralen inhaltlichen Zusammenhänge und Bedeutungen einer charakterlichen Entwicklungs- und Wandlungsgeschichte werden beschreibbar. Für die Untersuchung der Forschungsfrage ist es wichtig zu unterscheiden, welche Elemente der Erzählung im plot gezeigt werden, und welche sich davon, veranlasst durch Hinweise, d. h. cues im plot, nur in Form mentaler Ergänzungen des Zuschauers in der story manifestieren. Diese Unterteilung des content einer Erzählung in story und plot hat für die Untersuchung der Visualisierung von Wandlungsprozessen folgende Auswirkungen und Bedeutung: Zunächst erscheint es schlüssig für die Erforschung von Visualisierungsmustern, sich nur mit den auf der Leinwand sichtbaren gestalterischen Phänomenen im plot zu beschäftigen. Bevor aber diese Art Eingrenzung in der Forschungsperspektive vorgenommen wird, muss die Gesamtheit der story-Konstruktion in ihrer inhaltlichen Logik und ihrem Raum- und Zeitsystem unter bestimmten Gesichtspunkten analysiert werden. Das Verteilungsprofil der erzählerischen Inhalte auf story oder plot muss zunächst herausgearbeitet werden. Hierbei wird erkennbar, welche zentralen Elemente und ereignishaften Entwicklungsstufen einer intrapersonellen Wandlung mittels konkreter Raum- und Zeitsysteme im plot geschildert und dargestellt werden und welche Anteile dieser Entwicklung nur indirekt im plot von cues impliziert werden. Die Gestaltungsstrukturen der im plot visualisierten erzählerischen Inhalte lassen sich am konkreten filmischen Datenmaterial im Fokus auf die Fragestellung der Studie untersuchen. Wie verhält es sich jedoch mit den Gestaltungsmustern von erzählerischen Inhalten, welche nur in der story-Konstruktion vom Zuschauer imaginativ ergänzt werden? Die für den Wandlungsprozess relevanten Inhalte, welche von cues impliziert werden, gehören ebenso zu den Gegenständen der Forschungsfrage, obwohl sie als Elemente der story keine konkrete Ausformung durch filmische Mittel der Visualisierung aufweisen. Die Gestaltungsstrukturen der cues innerhalb der filmisch sichtbaren Informationen im plot enthalten Hinweise über kausale, zeitliche und räumliche Zusammenhänge dieser implizierten, nicht-sichtbaren Inhalte. Die Vorgaben für die Vorstellungsbildung beim Zuschauer für die inhaltlichen, räumlichen und zeitlichen Aspekte eines Elements in der story und deren Vernetzung zu den plot-Inhalten sind an den Gestaltungsstrukturen der cues ablesbar. Anhand der filmischen Mittel, die für die Gestaltung der cues eingesetzt sind, können Visualisierungsmuster untersucht werden, welche für die Schilderung einer charakterlichen Entwicklung eine bedeutungstragende Funktion haben.
41
2.3 Prozesshaftigkeit narrativer Transformation Das erzähltheoretische Meta-Raster des narrative schema und die damit verbundenen Begriffe initial term und narrative transformation bilden ein abstraktes Modell, mit dessen Termini die Phänomene von inhaltlicher Prozesshaftigkeit und Veränderung in einer Erzählung begrifflich definiert sind. Ganze Ereigniszusammenhänge, d. h. erzählerische Sequenzen oder auch Ereigniszusammenhänge, die aus einer Verflechtung von kernels und satellites bestehen, werden den einzelnen Positionen des narrative schema zugeordnet. Dabei wird die Prozesshaftigkeit in der Veränderung von Situationen und Geschehnissen einer Geschichte von deren Beginn über die Mitte bis zum Schluss abstrakt darstellbar. Mit den Begriffen des narrative schema wird am Erzähl-„text“ einer Geschichte analytisch operiert. Für den Einsatz dieser Termini als filmanalytische Instrumentarien sind diesen keine Kategorien bestimmter filmtechnischer Gestaltungselemente zugeordnet. Ebenso wenig ausgerichtet auf das konkrete filmische Material, aber fokussiert auf den erzählerischen Inhalt, sind die Begriffe kernels und satellites. Das analytische Operieren mit diesen Instrumentarien am Erzählinhalt einer Geschichte ermöglicht die Darstellung der erzählerischen Konstruktion in der Hierarchie zwischen Haupt- und Nebenereignissen und deren Verflechtungen. Hierüber bildet sich das statische Gerüst in der Konfiguration der Inhalte einer Geschichte ab. Die Theoriebegriffe narrative schema, initial term und narrative transformation sind für deren Anwendung als methodische Analyseinstrumentarien ebenfalls nur auf den erzählerischen Inhalt einer Geschichte ausgerichtet, unabhängig von dessen medialer Erscheinungsart zum Beispiel als Text oder als filmisches Datenmaterial. Diese Termini sind jedoch in Gegensatz zu Chatmans Begriffen in ihrer methodischen Perspektive auf die Erfassung von Dynamik und Prozesshaftigkeit in der inhaltlichen Konfiguration einer Geschichte ausorientiert. Daher haben diese analytischen Instrumentarien eine wichtige Bedeutung für die Untersuchung der Fragestellung innerhalb dieser Studie. Um zu verdeutlichen, auf welche Weise das narrative schema auf die zentralen, prozesshaften Phänomene in einer Erzählung ausgerichtet ist, wird an dieser Stelle auf die beiden einfachsten erzähltheoretischen Schemata Bezug genommen, auf deren Basis das komplexere und detailliertere narrative schema fußt. In diesen beiden einfachen Schemata werden die basalen Anteile eines dynamisch-prozesshaften Geschehens definiert. Diese Grundformen von Entwicklung gelten als Wesenskern jeder erzählerischen Konstruktion. Das einfachste abstrakte Modell einer Erzählung wird als dreiphasiges Ganzes beschrieben. Jede erzählerische Ereignisfolge, die Zusammenhänge in Zeit, Raum, Ursache und Wirkung beinhaltet, weist eine Struktur auf, welche nach den grundlegenden Stufen einer prozesshaften Entwicklung mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende geformt ist. Diese Organisationsform eines simple narrative (Branigan 1992: 20 ff.) besteht nach Branigan aus einem szenischen Geschehen, dessen Handlungselemente drei Verlaufsphasen, d. h. exposition, event und resolution, 42
durchschreiten (vgl. Stanzel 1995 [1979], Strellka 1989, Propp 1986). Eine Erzählung beginnt mit einer Ausgangssituation, die durch ein Ereignis „gestört“ wird. Aus dieser Störung entwickelt sich das Ziel (goal), die Störung zu beseitigen und die ursprüngliche Situation wieder herzustellen. Die zweite Phase eines simple narrative umfasst alle Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, die Störung zu beseitigen. Der dritte und letzte Teil einer Erzählung beinhaltet das Ziel aller Handlungen, d. h. die wieder ins Gleichgewicht gebrachte, sich jedoch verändert zeigende Ausgangssituation. Über die Aufgliederung dieses dreistufigen Modells in eine fünfphasige Konstruktion wird die in einem Erzählvorgang enthaltene Entwicklungsdynamik eines Prozesses noch deutlicher differenziert. Die Dynamik im Zyklus von Ereignis, Reaktion, Aktion und Folge ist über dieses Modell noch besser nachvollziehbar. Die einzelnen Stufen in dieser Systematik sind von unterschiedlicher Prozesshaftigkeit gekennzeichnet. Die erste Phase führt eine Situation ein, die ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis besitzt (exposition). In der zweiten Phase geschieht eine Handlung mit hoher Dynamik, die das Gleichgewicht der Situation sprengt (initiating event). Der dritte Abschnitt in diesem Grundmodell erzählerischer Organisation besitzt weniger Dynamik als vielmehr eine betrachtende Aufmerksamkeit gegenüber der veränderten Situation. Dabei entsteht das Ziel, auf das sich die folgenden Handlungen ausrichten (goal). Das Ziel wird in der Erzähltheorie abstrakt als das Streben nach Wiederherstellung der Ausgangssituation definiert. In der vierten Phase herrscht eine vergleichbar große Dynamik wie in Phase zwei. Es ereignen sich Aktion und Reaktion (complicating action). Auf der letzten Stufe finden aktive Handlungsereignisse statt, die schließlich in ein Kräftegleichgewicht ohne weitere Dynamik münden (resolution). Die Eigenschaften des initiating event, durch welche die Störung ausgelöst wird, können in ihrer Charakteristik bereits einen Hinweis auf die Wesensart des darauf folgenden Transformationsprozesses geben. Die Ausrichtung des Ziels kann sich im Laufe des Erzählprozesses durch neue initiating events und complicating actions mehrmals verändern.
Tabelle 1: Fünf Stufen der narrative transformations (Todorov 1971 nach Branigan 1992: 4 f. und 219) 43
In Anlehnung an Todorov stellt dieses Modell nach Branigan die abstrakte Grundfigur der erzählerischen Umwandlung, narrative transformation, dar, die in jeder Geschichte enthalten ist (Branigan 1992: 219, Fußnote 7). Die inhaltlichen Elemente des erzählerischen Materials, die in der Ausgangssituation etabliert wurden, durchschreiten in einem Erzählverlauf diese fünf Phasen. Stufe 1, 3 und 5 stehen dabei in direktem Bezug, ebenso Phase 2 und 4. Ausgangs- und Endsituation sind von einer Ähnlichkeit gekennzeichnet; die Stufe in der Mitte des Modells stellt im Vergleich hierzu wiederum eine Umkehrung dar. Das Ereignis der Störung in Phase 2 findet eine umgekehrte Entsprechung in den Handlungen, welche auf die Beseitigung der Störung ausgerichtet sind. Mittels Branigans Begriffen initial term und narrative transformation kann untersucht werden, wie das erzählerische Material beim Durchgang durch die fünf Stufen einem dynamischen Veränderungsprozess unterzogen wird. Die Folgen der Transformationen zeigen sich im Verhältnis der Konstellation der Elemente in der Ausgangssituation zu deren Konfiguration in der Endsituation. Die Konstruktionen ähneln sich in Teilen, sind aber auch in bestimmten Aspekten unterschiedlich. Nicht alle inhaltlichen Elemente erfahren in den Stufen der narrativen Transformation eine Umwandlung. Nur diejenigen Elemente, die in Anfang und Ende vorhanden sind, deren Positionen sich aber in der Endsituation im Vergleich zur Gesamtkonstellation der Anfangssituation wesentlich unterscheiden, haben in der „Be“-handlung durch den Erzählverlauf eine grundlegende Transformation erfahren. Diese erzählerischen Elemente definiert Branigan als die initial terms (ebd.: 5) einer Erzählung. Über diese inhaltlichen Grundbausteine manifestiert sich die prozesshafte Veränderung, die als eine grundlegende Dynamik in jeder Erzählung enthalten ist. Zur Auffindung des initial term müssen die inhaltlichen Elemente in der Ausgangs- und Schlusssituation und in der Mitte einer Erzählung einem Vergleich unterzogen werden. Auf diese Weise werden die initial terms erkennbar, da sie in allen drei Erzählphasen vorhanden sind, jedoch in jeweils veränderter Konfiguration. Die Konfiguration des initial term innerhalb der erzählerischen Elemente in der mittleren Phase einer Geschichte ist im Verhältnis zu den Konstellationen in der Anfangs- und Endsituation vom Phänomen der Umkehrung gekennzeichnet. Welche Konstellationsmuster der inhaltlichen Elemente in der Anfangs- und Endsituation aufgebaut werden und welcher Art die Darstellung ihrer Inversionen ist, lässt Rückschlüsse auf die Gesamtfigur eines Transformationsprozesses zu. Die Konstellation und Verhältnismäßigkeiten der inhaltlichen Elemente in der Anfangs- und Schlusssituation und in der Phase der Inversionen legen eine bestimmte Lesart in der Entwicklungsrichtung des erzählerischen Transformationsprozesses fest. Die Definitionen im Begriffssystem von narrative transformation und initial term sind wesentliche erzähltheoretische Denkfiguren, welche der Forschungsfrage dieser Studie zugrunde liegen. Über das Bezugssystem zwischen initial term und narrative 44
transformation kann das zentrale erzählerische Meta-Thema einer Geschichte in Worte gefasst werden. Die inhaltliche Dominante in der grundlegenden Prozesshaftigkeit und ihrer Entwicklungsgestalt kann auf diese Weise in einer konkreten erzählerischen Konfiguration herausgearbeitet werden. Eine Erzählung, die einen intrapersonellen Wandlungsprozess der zentralen Figur vermittelt, beinhaltet damit eine inhaltliche Kernfigur, die auf besondere Weise über den erzählerischen Transformationsprozess ausformuliert sein muss. Phasen von Umwandlung manifestieren sich in diesen Geschichten nämlich auf spezielle Weise direkt über die Veränderung von Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsstrukturen der Figur. Die Hauptperson in einer solchen Erzählung ist zwar zu Anfang der Geschichte und in der Endsituation dieselbe – ihr inneres Selbstverständnis, ihr charakterlich basiertes Umgehen und Handeln in der Welt hat sich jedoch wesentlich verändert. Gewisse Aspekte dieser Umwandlung werden in der Veränderung der Konstellationen zwischen den gesamten erzählerischen Komponenten von Anfang, Mitte und Schluss in einer solchen Geschichte deutlich. Maß und Art der Veränderungen innerhalb eines charakterlichen Wandlungsprozesses lassen sich anhand der Unterschiede in den Elementkonstellationen von Anfang, Mitte und Ende analysieren. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass sich über die Gesetzmäßigkeiten des initial term und der sequence of narrative transformation der inhaltliche Verlauf einer charakterlichen Wandlung auf erkennbare Weise manifestiert. Die prozesshafte Dynamik einer charakterlichen Entwicklung kann nicht direkt szenisch dargestellt werden, da dies ein innerpsychisches Geschehen ist. U. a. können jedoch in bestimmten Handlungsmustern, in der Ausgestaltung der filmischen Szenerie und über Mittel der Narration Metaphern für Veränderung und Entwicklung gestaltet sein, welche die Informationen über die intrapersonelle Wandlung vermitteln. Ebenso müssen im Spannungsfeld der prozesshaften Dynamik, welche ein initial term in der Ereignisfolge durchläuft, zentrale Elemente des Wandlungsprozesses repräsentiert sein. Untersucht wird, ob entsprechend der inhaltlichen Veränderungen über die sequence of transformation im gestalterischen Einsatz bestimmter visueller Gestaltungsmittel Muster erkennbar werden, die von vergleichbaren Transformationsdynamiken gekennzeichnet sind.
2.4 Prozessstrukturen narrativer Transmission Verlaufsprofil der levels of narration – Erzählmotivationen – Nuancierung der subjektiven Blickperspektive In den Geschichten der für die Studie ausgewählten Filme manifestieren sich Schilderungen über tiefgreifende Prozesse charakterlicher Entwicklung und Wandlung in Bezug auf die Hauptfigur. Die veränderungsinduzierenden Ereignisse, das psychi45
sche Erleben der Figur und die Phasen ihrer inneren Wandlung sind in die visuelle Präsentation der Geschehnisse eingebettet und werden auf bestimmte Weise erzählerisch vermittelt. Im Rahmen der Studie wird von der Hypothese ausgegangen, dass sich der Prozess der Narration bei der erzählerischen Transmission einer solchen Geschichte auf spezifische Weise gestaltet. Eine Geschichte über charakterliche Wandlung enthält ein prozesshaftes Geschehen, das von großer Dynamik gekennzeichnet ist. Die eigentliche Bewegung dieser Dynamik wird jedoch von nicht direkt sichtbaren psychischen Veränderungsprozessen vorangetrieben. Die Strategien der Narration können in ihrem Einsatzprofil prozesshafte Gestaltungsmuster aufweisen. Ob Bezüge zwischen dem prozesshaften Einsatz filmischer Mittel der narrativen Transmission und der inhaltlichen Entwicklungsdynamik einer intrapersonellen Wandung bestehen, wird in dieser Studie näher untersucht. Der Zuschauer reagiert auf das Informationsmaterial, welches Teil der story oder Teil des discourse eines Films ist, auf jeweils verschiedene Weise. Die inhaltlichen Informationen werden von ihm nachvollzogen und in ein mentales Abbild der fiktionalen Welt mit logischen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung konstruiert. Dabei ergänzt der Zuschauer eigenes Erfahrungswissen, um die wahrgenommenen Informationen über eine Erzählung in einen Gesamtzusammenhang einfügen zu können. Die zweite Reaktionsweise des Zuschauers besteht aus der Hypothesenbildung über Erzählmotivationen und -intentionen, die als Ursachen dem Vorhandensein einer Geschichte zugrunde liegen. Der Zuschauer reflektiert während des Rezeptionsprozesses parallel über die zwei unterschiedlichen Komponenten einer Geschichte den Inhalt und dessen Vermittlungsvorgang. Grundsätzlich geht der Rezipient davon aus, dass jede Geschichte das Ergebnis eines bereits stattgefundenen Wahrnehmungsprozesses und einer dabei erfolgten Interpretation des Datenmaterials ist. Jede Geschichte wird auf diese Weise als Produkt einer Beobachtung der Welt durch eine menschliche Instanz verstanden. Der Zuschauer kann einer Geschichte folglich nur habhaft werden, da der ursprüngliche Beobachter der Geschehnisse sie aus seiner Sicht wiedergibt. Während der Rezeption bildet der Zuschauer zweierlei Annahmen über diese den Erzählprozess vermittelnde Instanz: Zum einen entwickelt der Zuschauer eine Vorstellung darüber, wie es ihm möglich ist, in den Besitz der erzählerischen Information zu kommen. Mittels der phantasy of seeing (Branigan 1992: 64) imaginiert der Zuschauer, welcher Art die Beobachterposition ist, welche erzählerische Inhalte einer Geschichte aus eigener Beobachtung schildert, und von welcher Art Wissensbegrenzung eine solche Erzählinstanz gekennzeichnet ist. Branigan benennt sprachliche Wendungen, welche der Zuschauer bei der Rezeption formuliert, um sich die Erzählposition, die ihm den Blick auf Ereignisse ermöglicht, zu vergegenwärtigen: „by saying that we are looking ‚over‘, ‚at‘, ‚with‘, ‚through‘, or ‚into‘ a character (ac46
cording to whether we adopt a nondiegetic, diegetic, nonfocalized, externally focalized or internally focalized frame of reference).“ (Branigan 1992: 112) Die zweite Hypothesenbildung bezieht sich auf die Motivationslage der Erzählinstanz. Der Rezipient geht dabei von seiner eigenen, alltäglichen Wahrnehmungserfahrung aus. Jede wahrgenommene Information wird mental verarbeitet, zugeordnet und interpretiert. Der Zuschauer bildet eine analoge Annahme über die Wahrnehmungsleistungen des ursprünglichen Beobachters der Ereignisse einer Geschichte. Dieser Beobachter, der primäre „Zuschauer“, ist zum Vermittler der Informationen geworden, die sich seiner Wahrnehmung geboten haben. Der Zuschauer geht davon aus, dass diese vermittelnde Erzählinstanz während der ursprünglichen Wahrnehmung der Ereignisse eine interpretierende und wertende, bzw. Zusammenhänge suchende und schaffende Haltung innehatte. Über Prozesse des aktiven Denkens und Verstehens sind die Wahrnehmungsinhalte der Geschichte zusammengesetzt. Der Zuschauer bildet fortlaufend Hypothesen darüber, wie diese ursprünglichen Verarbeitungsprozesse der Ereignisse die Art und Weise ihrer Wiedergabe beeinflussen. Der Rezipient geht von der Annahme aus, dass aus den ursprünglichen Wahrnehmungsleistungen der erzählenden Instanz die Motivation oder Intention erwächst, die Ereignisse auf bestimmte Weise zu schildern. Die Hypothesen über die Motivationslage der human agency, welche die Geschichte nahelegt, entwickelt der Zuschauer aufgrund bestimmter Gestaltungsstrukturen im filmischen Datenmaterial. Die Annahmen über die Erzählintention der informationsgebenden Instanz fungieren als richtungsweisende Faktoren für Sinnbildung und Lesart der geschilderten Geschehnisse durch den Zuschauer. Für die Untersuchung der Visualisierung von Wandlungsprozessen muss erforscht werden, auf Basis welcher Gestaltungsstrukturen des discourse der Zuschauer seine Hypothesenbildungen über Erzählinstanzen und deren Intention generiert. Der wechselnde Einsatz mehrerer Erzählinstanzen während eines Narrationsprozesses wird anhand der Analysen herausgearbeitet. Dieses Gestaltungsprofil weist eine eigenständige prozesshafte Struktur auf, die es im Rahmen der Fragestellung zu beschreiben gilt. Ebenso können die filmischen Mittel benannt werden, welche den Zuschauer zu Hypothesen über die Erzählmotivation und die daraus entstandene Version und Lesart der wiedergegebenen Zusammenhänge veranlassen. Diese gestalterischen Phänomene werden im Rahmen der Beispielanalysen als Visualisierungsmuster für Entwicklungs- und Wandlungsprozesse herausgearbeitet. Das Gestaltungsprofil in der Abfolge der einzelnen levels of narration innerhalb einer filmischen Szene kann mittels einer von Branigan entwickelten Grafik dargestellt werden (ebd.: 139):
47
Abbildung 2: Einsatzprofil der levels of narration in einer Filmszene (vgl. Branigan 1992: 139)
In leicht modifizierter Form wird diese Grafik im Rahmen der Studie als Analyseraster und zur Ergebnisdarstellung der Filmanalysen eingesetzt. Die wandlungsrelevanten Szenen werden in ihrer Ereignisstruktur in stichwortartiger Beschreibung auf der Zeitachse der filmischen Erzählung aufgeschlüsselt. Auf der zweiten Achse kann der Einsatz der levels of narration parallel zur Abfolge der Inhalte zugeordnet werden. Diese grafische Methode ermöglicht eine übersichtliche Darstellung der Abfolge der levels of narration innerhalb einer Szene, d. h. deren structure of narrative transmission (ebd.: 67). Zudem kann anhand dieser Darstellung von Analyseergebnissen herausgearbeitet werden, in welchen Sequenzen eine parallele Durchführung der Narration über mehrere levels of narration festzustellen ist. Aus der Fülle der möglichen Präsentationsmodi ist im konkreten Narrationsprozess eines Films für jede inhaltliche Information eine bestimmte Art der Wissensgabe und Erzählposition gewählt (vgl. ebd.: 63). Der narrational process (ebd.: 109) ist dabei im Vorgang der Einschränkung und Fokussierung auf einen bestimmten Weg der Schilderung der Ereignisse von einer prozesshaften Dynamik gekennzeichnet. Bereits in der Exposition eines Films wird die grundlegende Charakteristik dieser Dynamik über Gestaltungsstrukturen des discourse angelegt. Nach Branigan wird zu Beginn eines Films in der Exposition eine grundlegende method of distribution (ebd.: 139) etabliert. 48
Bestimmte Erzählinstanzen werden darin als dominant, andere Wissensquellen als in dazu ergänzender Funktion eingeführt. Bei der Untersuchung des Gestaltungsprozesses im discourse ist es wichtig, die in der Exposition eingeführte Struktur in der Wissensgabe zu benennen. Es wird im Vergleich dazu im weiteren Filmverlauf analysiert, ob die Charakteristik der anfänglich etablierten method of distribution beibehalten wird, ob diese variiert oder eine grundlegende Veränderung erfährt. Die Analyseergebnisse ermöglichen die Darstellung des Erzählvorgangs als strukturelles Gestaltungsmuster, welches von prozesshaften Dynamiken gekennzeichnet ist. Die Erforschung von Bezügen zwischen dieser Prozesshaftigkeit im discourse und den Verlaufsstrukturen der inhaltlichen Dynamiken sind wichtige Erkenntnisse für die Beantwortung der Forschungsfrage. In einem filmisch vermittelten Erzählprozess sind stets mehrere Erzählpositionen an der narrativen Transmission beteiligt, die wiederum durch sehr unterschiedliche Wissenshorizonte gekennzeichnet sind. Durch den wechselnden Einsatz der verschiedenen levels of narration im Erzählvorgang entsteht beim Zuschauer ein Geflecht von Annahmen über die verschiedenen intentionalen Haltungen der abwechselnd aktiven levels of narration. Das Gesamtgeflecht dieser wechselnden Motivationsaspekte ergibt in der Summe eine Steuerung der Wissensgabe, die den Zuschauer im Verstehen und Interpretieren einer Geschichte beeinflusst. Daher ist es bei der Untersuchung der narrativen, d. h. visuellen Vermittlung von Wandlungsprozessen äußerst wichtig, den Erzählprozess in seiner Ausdifferenziertheit untersuchen und darstellen zu können. Die imaginierten Motivationslagen der verschiedenen aktiven erzählenden Instanzen bestimmen sehr stark, auf welche Weise der Zuschauer die inhaltlichen Informationen in der Schilderung einer Entwicklung zur Reifung oder zum Scheitern nachvollzieht. Die Gestaltung der Blickregie in der narrativen Transmission ist das zentrale Element des discourse, welches die Hypothesenbildung des Zuschauers über die Intention des Zeigeaktes einer Szenerie und der Handlung darin veranlasst. Blicke, die über das filmische Bild gewährt werden, werden vom Zuschauer immer verbunden mit der Vorstellung über die konkrete Blickintention, die dem Akt des Schauens zugrunde liegt. Die Motivation eines Sehaktes kann bei einer Erzählinstanz außerhalb der story world liegen. Aus dieser extradiegetischen Meta-Perspektive werden Blicke auf erzählerische Informationen gegeben, motiviert aus dem Wissen heraus, „‚how to go on ...‘ about a world it already knows.“ (Branigan 1992: 125). Im Gegensatz dazu kann die Motivation eines Blicks auf erzählerische Informationen als „glance linked to characters’ intention“ (ebd.: 53) definiert sein. Hier ist die subjektive Erzählposition einer Figur aktiv, deren Wissenshorizont innerhalb der story world begrenzt ist. Die Figur blickt dabei in die Szenerie, motiviert durch eine eigene, bestimmte Absicht. Die Blicke können beispielsweise gelenkt sein durch die Suche nach und das Aufnehmen von Informationen oder als Reaktion auf szenische Handlungen 49
entstehen. Blicke in einer Erzählung haben auf diese Weise nicht nur die Funktion, das erzählerische Material zu präsentieren. Vielmehr können über Bezüge innerhalb der Blickregie und im Bezug zum Betrachter inhaltsbezogene Sinnbildung, d. h. inhaltliche Bedeutungen, Informationen und Zusammenhänge, erschaffen und nicht nur vermittelt werden. Auf der Ebene des discourse können auf diese Weise inhaltliche Sinnzusammenhänge etabliert sein, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in der diegetischen Welt stehen. Ein weiterer Faktor in der Bedeutungsschaffung durch Blicke ist der konkrete Wissensstand des Zuschauers über die Zusammenhänge einer Geschichte im aktuellen Moment einer Blickanalyse und seiner diesbezüglichen Hypothesenbildung. Zu jedem Moment eines Erzählverlaufs besitzt der Zuschauer einen bestimmten Stand des Wissens über die Inhalte einer Geschichte, d. h. über das oder die Ziele der Hauptfigur, mögliche und tatsächliche Hindernisse, Motivationen für Handlungen auf den Wegen zum Ziel usw. Der Zuschauer generiert seine Annahmen über die verschiedenen Blickintentionen der präsentierten Sehakte auf der Basis dieses eigenen Wissensstandes über die story world und die Wissensbegrenzungen der verschiedenen Erzählpositionen. Im späteren Verlauf einer Erzählung kann sich die Interpretation bestimmter Blickintentionen verändern, wenn der Zuschauer mehr Wissen erworben hat über die Handlungszusammenhänge und die daraus resultierenden Motivationen der Blicktätigkeit der verschiedenen Erzählinstanzen. Bestimmte Erzählinstanzen innerhalb der acht levels of narration bzw. bestimmte Gestaltungsphänomene in der Wissensvermittlung sind besonders wichtig für die Entstehung der Hypothesenbildung und die Steuerung interpretierender Tendenzen und Lesarten einer Geschichte. Branigan weist den Momenten des discourse über pure movement of narration oder break in narration und den verschiedenen Nuancen einer subjektiven Erzählposition besonders große Wirkpotenziale für die Schaffung einer Lesart der gegebenen Informationen zu (Branigan 1992: 80 f.). Diese Gruppe von Erzählpositionen kann auch in der erzählerischen Transmission einer Geschichte über einen intrapersonellen Wandlungsprozess einen besonderen Stellenwert haben und muss daher bei der Analyse des discourse besonders beachtet werden. Es gilt, die bedeutungsschaffende Rolle dieser Erzählpositionen im Rahmen der Beispielanalysen zu untersuchen. Pure movement of narration oder break in narration wird vom Zuschauer als Erzählaktivität interpretiert, die direkt aus einer allwissenden Erzählinstanz, der human agency heraus motiviert ist. Welche inhaltlichen Elemente mittels dieser Erzählstrategien vermittelt werden, wird direkt in Bezug gesetzt mit dem Wissenshintergrund einer omniszienten Erzählinstanz. Die Gestaltungsweisen des discourse, das planting of information, wird hier als Folge der Kenntnis über alle Zusammenhänge der Geschichte interpretiert. Als ebenso bedeutsam für die Ausrichtung einer Lesart fungiert die Informationsvermittlung über subjektive 50
Erzählpositionen Figuren. Die hierüber vermittelten Informationen sind aufgrund der direkt übersetzbaren human-like quality (Branigan 1992: 85) der Wahrnehmung besonders glaubwürdig. Die Hypothesenbildung über die Blickmotivationen wird als direkt in den Handlungsereignissen verankert evaluiert. Bei der Analyse der subjektiven Erzählpositionen im discourse muss differenziert werden zwischen den Blickperspektiven aus der Sicht der zentralen Figur und den subjektiven Wahrnehmungsschilderungen aus der Perspektive anderer Protagonisten innerhalb der story world. Da diese Studie sich mit der Visualisierung von intrapersonellen Wandlungsprozessen beschäftigt, ist die nuancierte Betrachtung und Analyse der levels of narration in Bezug auf die subjektive Wahrnehmung der Hauptfigur, die den charakterlichen Entwicklungsprozess erlebt, von besonderer Wichtigkeit. Branigans äußerst differenzierte Aufschlüsselung der levels of narration, die eine subjektive Sicht einer Figur präsentieren, wird an dieser Stelle detaillierter wiedergegeben, da diese Definitionen wesentlich sind für die Untersuchung der Forschungsfrage. Feinste Verschiebungen in der Gestaltung einer subjektiven Erzählperspektive haben große Auswirkung auf das Verständnis des Zuschauers für die damit präsentierten Inhalte im Gesamtzusammenhang einer Geschichte. Branigan unterscheidet mehrere Arten von Blickperspektiven, die in verschiedener Nuancierung als die subjektive Sicht eines Charakters wahrgenommen werden. Ein eyeline match (ebd.: 51, 53, 112) zeigt dem Zuschauer, wann und was eine Figur bei ihrem Blick in die Szenerie sieht. Jedoch ist die Position der Blickperspektive hierbei nur in etwa und annähernd der fiktiven Person zugeordnet. Die Präsentation erzählerischer Inhalte aus einem point of view ist in Branigans Verständnis der Blicktätigkeit eines Protagonisten um einiges direkter zugeordnet als die eines eyeline match. Eine Blickperspektive, die exakt aus der Position einer Figur gestaltet ist, bezeichnet Branigan als point of view mit zusätzlichem „subjective“ feature (ebd.: 51). Bei der Untersuchung der Visualisierung von Wandlungsprozessen gilt es, die Nuancen der Blickperspektiven aus der Position der Figur zu analysieren. Es lassen sich dabei diejenigen visuellen Gestaltungsphänomene der narrativen Transmission herausarbeiten, die speziell für die Darstellung und Präsentation der charakterzentrierten Ereignisse und Entwicklungen in den filmischen Bildern eingesetzt werden. Der Zuschauer generiert sehr komplexe Vorstellungen über die Art des Zugangs zu den erzählerischen Informationen, wenn die narrative Transmission über die Wahrnehmungsperspektive einer Figur gestaltet ist. Der Zuschauer imaginiert diese Blicke in die story world als aus einer möglichen eigenen Anwesenheit heraus entstanden. Um hier eine Hypothese über die Intention des Sehaktes zu generieren, nutzt der Zuschauer bei diesen Bildern alles Wissen, das er über die Figur bereits erhalten hat, als Orientierung. „The creation of a ‚character‘ has enormous implications because a character is understood to perceive in ways that we might imagine ourselves imitating if we were in a similar situation.“ (ebd.) 51
Bei der Schilderung eines intrapersonellen Wandlungsprozesses ist das zentrale Geschehen ein innerpsychischer Prozess. Die Darstellung subjektiver Wahrnehmungen der Figur, die im Laufe der Geschichte eine charakterliche Wandlung erlebt, ist die größte Nähe, die der filmische Blick auf das zentrale, prozesshafte und in seinem Wesen unsichtbare Geschehen „richten“ kann. Sicherlich können auch Blicke auf äußerlich sichtbare Handlungen und Reaktionen der sich verändernden Person als sichtbare Indikatoren für die Vorgänge in ihrem inneren Erleben eingesetzt sein. Jedoch ist die Möglichkeit des Wechsels zwischen diesen Beobachtungsperspektiven, außerhalb und innerhalb der Figur, wesentlich für den Zuschauer, um die komplexe Prozesshaftigkeit einer charakterlichen Wandlung nachvollziehen zu können. „A character’s goal is seldom as simple as ‚looking toward‘ an object but includes a reason for looking, and the anticipated consequences of having seen. A spectator’s assessment of these factors is a crucial part of what the spectator sees when he or she looks at a character.“ (Branigan 1992: 70) Der Zuschauer sieht einen Protagonisten handeln, erhält Informationen darüber, was die Person gerade sieht, und hat Wissen darüber, was die Figur in der Situation bereits gesehen hat bzw. wie ihr Wissenshintergrund in diesem Moment ist. Auf Basis dieser Faktoren formt der Zuschauer Hypothesen über die innere Situation einer Figur. Zu berücksichtigen gilt es in der Gestaltung der Blickregie, welche Ereignisse in einer Geschichte über charakterliche Veränderung als Wahrnehmungsinhalte des subjektiven Erlebens der Figur inszeniert sind. Diese Momente werden vom Zuschauer mit Hypothesen über die Blickmotivation des Protagonisten interpretiert. Zugleich antizipiert er aktuell stattfindendes subjektives Erleben der Figur und bildet dabei Annahmen im Rahmen der erzählerischen cause-effect chain über die Auswirkungen der Wahrnehmungserfahrungen der Figur auf die weiteren Entwicklungen. Davon werden Hypothesen über mögliche, auf die Wahrnehmungserfahrung folgende innerpsychische Vorgänge in der Figur impliziert. Die Inszenierung bestimmter Handlungssituationen in einer Geschichte aus subjektiver Blickperspektive kann einen Hinweis darauf geben, dass diese Ereignisse besonders einflussreich und bedeutsam für die Entwicklung der intrapersonellen Wandlung sind. Bei den exemplarischen Filmanalysen wird der Frage nachgegangen, ob die erzählerischen Informationen, die der Zuschauer als Wahrnehmungsinhalte des Bewusstseins der zentralen Figur nachvollziehen soll, im Prozess der charakterlichen Veränderung besonderen Stellenwert haben. Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden die Einsatzprofile der verschiedenen Gestaltungsmuster vergleichend untersucht. Das hierarchische System der kernels und satellites und die Verläufe der drei cause-effect chains werden mit dem Wechselprofil der erzählerischen Präsentationstechniken, levels of narration, verglichen. Dabei wird deutlich, welche inhaltlichen Elemente mittels welcher Erzählposition vermittelt werden. Es wird herausgearbeitet, ob in den Bezügen 52
zwischen den Gestaltungsmitteln Entsprechungen erkennbar werden zwischen der Prozesshaftigkeit der narrativen Transmission einer Geschichte und der darin vorhandenen Transformationsdynamik der inhaltlichen Wandlungsfigur. Wechselprofile und parallele Aktivität der levels of narration Im Gesamtprofil der narrativen Transmission einer Geschichte zeigt sich keine einheitliche Kontinuität in der Aktivität der einzelnen levels of narration. Der Einsatz von Erzählpositionen wird oftmals innerhalb einer Szene oder Sequenz schnell gewechselt. In den Momenten des Wechsels von einem level of narration zu einem anderen muss der Zuschauer die Veränderung des Wissenszugangs nachvollziehen. Es werden neue Informationen aus veränderter Erzählposition gegeben, die den Zuschauer veranlassen, neue Annahmen für seine phantasy of seeing und über Zusammenhänge der story zu generieren. Über welchen level of narration welche Information vermittelt wird, veranlasst jeweils bestimmte Interpretationstendenzen in Bezug auf das Verständnis dieses einen inhaltlichen Elements im Gesamtzusammenhang einer Geschichte. Bei einem Wechsel von einem level of narration zu einem anderen ist besonders deutlich wahrzunehmen, dass die Narration aktiv ist, d. h. dass der grand image maker umblättert und eine durch ihn arrangierte Bildersequenz präsentiert (vgl. Metz 1974: 20 nach Branigan 1992: 94). Momente des Wechsels in der Erzählinstanz wirken besonders stark auf die Sinnbildung seitens des Zuschauers, der die Tätigkeit des Positionswechsels als grundsätzlich sinnhaft und als aus den gezeigten Ereignissen heraus begründet interpretiert. Wechsel der levels of narration und breaks in narration evaluiert der Zuschauer als direkte Folge der Motivationslage der erzählenden Instanz. Diese trifft Entscheidungen für die Gabe des Blicks auf Basis ihrer Kenntnis der weiteren inhaltlichen Ereignisse und Zusammenhänge. Bei der Untersuchung der levels of narration wird herausgearbeitet, welche inhaltlichen Sequenzen durch ein deutliches Wechselprofil in ihrer narrativen Transformation gekennzeichnet sind und welche Erzählmomente eher aus einer einheitlichen Erzählposition vermittelt werden. Analysiert wird, welche Wechselprofile bei der Präsentation der besonders entwicklungsrelevanten erzählerischen Passagen in einer Geschichte aufgebaut werden. Die Auswirkungen dieser Gestaltungsmuster auf die Steuerung des inhaltlichen Verständnisses der konkreten Geschichte beim Zuschauer kann auf diese Weise beschrieben werden. Die verschiedenen levels of narration sind im Erzählprozess von unterschiedlicher Erkennbarkeit und inhaltlicher Wirkungskraft gekennzeichnet. Je weiter die Wissensquelle vom Erzählobjekt distanziert ist und dabei einen größeren Überblick über die erzählerischen Zusammenhänge bietet, umso größer ist die Einflussnahme auf die Verständnisweise bestimmter inhaltlicher Informationen und Sinnbildungen 53
über ihre Zusammenhänge. Für die Analyse der Visualisierung von Wandlungsprozessen ist es von großer Bedeutung, diese nondiegetischen Positionen in Bezug auf die Geschehnisse in der diegetischen Welt herauszuarbeiten. Die darin gestalteten Aussagehaltungen bestimmen wesentlich die Verständnisweise einer Information durch den Zuschauer. Wie die charakterliche Entwicklung einer Figur verstanden wird, als Reifung oder als Scheitern, hängt unter anderem auch davon ab, wie das nondiegetische Wissen über die Inhalte in der Erzählung gestaltet ist (vgl. Branigan 1992: 49). Je weiter eine Erzählposition in die story world integriert und den dortigen Bedingungen und Wahrnehmungsbegrenzungen der Figuren unterworfen ist, umso weniger wirksam ist deren bedeutungsmanipulative Kraft. Ein besonders hohes Maß an Einflusspotenzial auf die Sinnbildung und die Ausrichtung der Lesart einer Geschichte sieht Branigan in solchen Momenten, in denen zwei oder mehrere levels of narration parallel im inhaltlichen Datenmaterial operieren, welche von sehr unterschiedlich großem Wirkpotenzial gekennzeichnet sind. Unabhängig davon, ob die gleichzeitig aktiven levels in Bezug auf die inhaltliche Aussage miteinander interagieren oder in Konflikt zueinander stehen, entsteht an solchen Stellen im discourse ein strukturelles Spannungsfeld, über das inhaltliches Aussagepotenzial generiert wird. Die Sichtweise eines Geschehnisses mittels more powerful narration kann in Konsens oder im Widerspruch zur Sichtweise desselben Ereignisses mittels einer less powerful narration stehen (ebd.: 164 f.). More powerful narration kann eine bestimmte inhaltliche Wissensgabe aus parallel aktiver less powerful narration durch zusätzliche Einblicke ergänzen, bestätigen oder auch konterkarieren. Sinnbezüge in einem Konsens oder Konflikt zwischen Erzählpositionen bilden eigenständige erzählerische Mitteilungen, die außerhalb der Diegese entstehen. Im Spannungsfeld zwischen gleichzeitig aktiven Erzählpositionen und deren paralleler Blickperspektive auf ein und dieselbe inhaltliche Information wird eine Aussageebene geschaffen, auf der zusätzliche inhaltliche Informationen und bestimmte Interpretationshypothesen vorgegeben werden können. Zusätzlich zum inhaltlichen Geschehen wird die Differenz zwischen den Wissenshorizonten der verschiedenen Wahrnehmungsperspektiven deutlich. Dies wirkt sich auf die Evaluation und Interpretation der Ereignisse seitens des Zuschauers aus. In der Verknüpfung von diegetisch less powerful und nondiegetisch more powerful narration innerhalb einer Erzählung entsteht beim Zuschauer eine „more powerful (nondiegetic) hypothesis about character and story world (...) because of the simultaneous operation of more powerful, non-character narrations that are addressing the spectator by creating and manipulating ‚views‘.” (ebd.: 60 f.) Auf diese Momente parallel operierender levels of narration wird bei den Beispielanalysen besonderes Augenmerk gelegt. Über eine solcherart gestaltete Wissensgabe kann ein bestimmter Duktus, eine sozial-moralische Lesart für die Interpretation eines intrapersonellen Wandlungsprozesses induziert werden, in der 54
sich die Wertung der Ereignisse als Reifung oder als Scheitern widerspiegelt. Die Annahmen der Erzähltheorie über die Beeinflussung der Lesart einer Geschichte durch die Gestaltungsmuster des discourse werden im Rahmen der Studie genutzt, um die Visualisierungsmuster für inhaltlich bedeutsame Abschnitte des Erzählprozesses auffinden und beschreiben zu können.
2.5 Prozesshaftigkeit als Begriff im PKS-Modell Wuss’ methodische Werkzeuge des PKS-Modells sind für das Erfassen von prozesshaften Gestaltungsphänomenen in einer Erzählung besonders gut geeignet. Die Verteilung der inhaltlichen Elemente von kernels und satellites einer konkreten Erzählung auf die drei von Wuss definierten filmischen Strukturebenen weist ein bestimmtes Gestaltungsprofil auf. Hierüber wird deutlich, welche Inhalte über welche Art Datenorganisation dem Zuschauer präsentiert werden. Prozesshafte Veränderungen und Dynamiken werden über die Verflechtung und Wechselmomente zwischen den drei filmischen Ebenen beschreibbar. Nach Wuss werden über diese prozesshaften Strukturwechsel starke inhaltliche Wirkungsmomente aktiv. Zudem sind nach seinem Ansatz an solchen „Drehpunkten“ (Wuss 1993: 105, 115) wesentliche erzählerische Informationen verortet. Untersucht wird, welche inhaltlichen Elemente eines Wandlungsprozesses an den Punkten der Ebenenwechsel vermittelt werden und ob diese Geschehnisse in besonderem Maße ein dynamisches Vorantreiben der inhaltlichen Entwicklungen repräsentieren. Wuss’ Begriffsverständnis des unterschiedlichen Innovationspotenzials, das über die drei filmischen Strukturebenen generiert wird, ist ein nächstes wichtiges methodisches Instrumentarium im Rahmen dieser Forschungsarbeit. Die jeweiligen inhaltlichen Informationen, die auf den verschiedenen filmischen Ebenen präsentiert werden, werden vom Zuschauer auf der Ebene des Wahrnehmungslernens, des konzeptgeleiteten Denkens und Verstehens oder auf der Ebene der stereotypgeleiteten Hypothesenbildung nachvollzogen. Nach Wuss sind die auf den drei Gestaltungsebenen gelagerten inhaltlichen Elemente und Zusammenhänge, welche diese jeweils unterschiedlichen mentalen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstrategien im Rezeptionsprozess auslösen, in unterschiedlichem Maße dafür geeignet, Unbekanntes, Neues und Perspektivwechsel im Verstehen von bereits Bekanntem zu vermitteln. Demnach lässt sich anhand des Strukturprofils eines Films nach Wuss’ Modell analysieren, ob eine Geschichte besonders viel Potenzial hat, gesellschaftliche Veränderungen bzw. individuelle Verhaltensänderungen zu induzieren, bzw. beim Zuschauer während des Nachvollzugs einer Geschichte ein hohes Maß an neuen Erfahrungen und Perspektivwechseln zu ermöglichen. Diese Definition von Wuss 55
über das unterschiedliche Innovationspotenzial, das über die filmischen Gestaltungsebenen generiert wird, fasst zugleich das Wesen von Entwicklung und Veränderung. In einer Erzählung über eine charakterliche Wandlung sind das Zustandekommen von Innovationspotenzial und die dadurch ausgelösten Entwicklungen und Veränderungen das zentrale inhaltliche Geschehen. In diesen Geschichten beinhaltet die erzählerische Grundfigur den Weg aus Bekanntem heraus zum Unbekannten und Neuen. Faktoren wie Perspektivwechsel, neue Einflüsse, ungewohnte Erfahrungen sind Impulse und Ereignisse, die Verhaltensänderungen und Prozesse einer Persönlichkeitsentwicklung induzieren. Im Rahmen der vorliegenden Studie wird von der Annahme ausgegangen, dass zwischen den inhaltlichen Dynamiken eines charakterlichen Veränderungsprozesses und dem Einsatz der drei filmischen Strukturebenen bei der Vermittlung der wesentlichen erzählerischen Informationen bestimmte Korrelationen erkennbar werden. Nach Wuss haben bestimmte filmische Verknüpfungsweisen erzählerischer Inhalte ein besonders großes Potenzial verändernde Impulse für das Denken und Handeln des Zuschauers zu geben. Im Rahmen dieser Studie wird diese theoretische Annahme in Umkehrung angewendet. Es wird dabei von der Annahme ausgegangen, dass gerade die erzählerischen Momente, die aufgrund ihrer Gestaltungsweisen von hohem Innovationspotential gekennzeichnet sind, in der inhaltlichen Konstruktion einer intrapersonellen Wandlung eine ausschlaggebende und zentrale Rolle spielen. Ist doch eine charakterliche Veränderungen und Entwicklungen selbst ein Innovationsprozess. Untersucht wird, in welchen Strukturprofilen der PKS-Ebenen sich die zentralen inhaltlichen Momente und Entwicklungspassagen der charakterlichen Wandlung im Filmverlauf manifestieren. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob diese wandlungsinduzierenden Inhalte und Prozesse entsprechend der Wuss’schen Definitionen über die unterschiedlich starken Innovationspotenziale in die drei filmischen Gestaltungsebenen eingebettet sind. Im Folgenden werden die Wirkungsweisen der drei Strukturebenen nach Wuss und deren jeweils spezifisches Innovationspotenzial dargestellt. Auf der konzeptgeleiteten Ebene entstehen die zentralen inhaltlichen Kausalzusammenhänge einer Erzählung, nach klassischem Verständnis als „Fabula“ bezeichnet (Wuss 1986: 111 ff.). Auf dieser Ebene bildet sich der Makrotext (van Dijk 1980: 40 ff.) einer Geschichte. Die Inhalte, die in Kausalketten verknüpft sind, geben Handlungszusammenhänge und deren Alternativen bzw. Veränderungsmöglichkeiten konkret vor. Der Zuschauer kann bewusst entscheiden, ob er diese Vorschläge für mögliches Handeln als Anregung und Erkenntnis in sein internes Modell integriert oder nicht. Das Innovationspotenzial, das von erzählerischen Zusammenhängen auf der konzeptgeleiteten Ebene vermittelt wird, besteht nach Wuss aus einer bewussten Wahlmöglichkeit für den Zuschauer. Im Nachvollzug der erzählerischen Ereignisse 56
kann der Zuschauer spielerisch Probehandeln und den „Umgang mit Konflikten in Wirklichkeit“ (Wuss 1993: 116) einüben und trainieren. Beim Nachvollzug dieser inhaltlichen Verknüpfungsart wird das induktive Prinzip wirksam, d. h. es wird sich mit einer konkreten Hypothese einem Datenmaterial genähert und darin nach Fakten gesucht, welche die Hypothese bestätigen. Die Argumentation für die Hypothesenbildung wird durch die Verkettung von Ursache und Wirkung auf der konzeptgeleiteten Ebene immer wieder angelegt und erfüllt. Die inhaltlichen Elemente einer intrapersonellen Wandlungsgeschichte, die auf der konzeptgeleiteten Ebene verortet sind, beinhalten konkrete Informationen über Problemstellungen und über Wege zu deren Lösung bzw. die Schwierigkeiten dabei. Die Schritte einer Veränderung, die sich auf der Ebene der Kausalketten präsentieren, bilden sich in klaren und durchgängigen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung ab. Die Inhalte einer Geschichte, die auf der stereotypgeleiteten Ebene vermittelt werden, sind in Form von Story-Schemata präsentiert. Auf dieser Strukturebene werden stereotype Programme von Schauplätzen, Personen, Konstellationen und Handlungsverläufen vermittelt. Das Innovationspotenzial solcherart erzählerischer Zusammenhänge ist relativ gering, da in Stereotypen allgemeingültige, fixierte Grundkonstellationen und Entwicklungswege für bestimmte Situationen, Personen und Konflikte gebündelt sind. Die Faktoren eines intrapersonellen Wandlungsprozesses, die über stereotypgeleitete Strukturebenen vermittelt werden, sind ihrer Art nach schematisierte Zusammenhänge und vorbestimmte Phasen eines bereits fixierten Veränderungsprozesses. Inhaltliche Elemente, die auf der perzeptionsgeleiteten Strukturebene miteinander verknüpft sind, besitzen ein im Vergleich zu Kausalketten oder Story-Schemata sehr verschiedenes Innovationspotenzial für den Zuschauer. In den topikalisierten ErzählpassagengibteswederVorgabenüberhandlungsorientierteEinzellösungenkonkreter Problemstellungen, noch stereotype Informationseinheiten über allgemeingültige, fixierte Abläufe. In den Reihungen von Handlungsinformationen auf der perzeptionsgeleiteten Ebene werden keine Ursache- und Wirkungszusammenhänge präsentiert, sondern Beobachtungen verschiedener Geschehnisse, deren Zusammenhangsstruktur sich nur vage und latent andeutet. Der Zuschauer sucht bei seiner Wahrnehmungsverarbeitung solcher Topikreihen nach darin erkennbaren „Verdichtung[en] thematischer Grundgedanken“ (ebd.: 138) wie Ähnlichkeiten, Wiederholungen und ihre regelhaften Zusammenhänge. Sinnbezüge werden durch das abduktive (ebd.: 326) Wahrnehmungsprinzip des Wahrsch einlichkeitslernens aufgefunden. Das Datenmaterial wird ohne ordnende Vorannahmen rezipiert mit der latenten Erwartungshaltung, dass sich darin strukturelle Bezüge erkennen lassen. Die differenzierte und multilaterale Präsentation mehrerer solcher inhaltlicher Elemente ermöglicht es, „Nuancen von Zuständlichkeit der Welt“, die vom Zuschauer so „noch nicht erlebt oder gesehen wurden“ (ebd.: 122), zu vermitteln. 57
Erst eine Aneinanderreihung dieser Beobachtungen ermöglicht alternative Sichtweisen und einen Perspektivwechsel im Erleben und Beurteilen problematischer Situationen. In topikalisierter Erzählweise werden keine konkreten Handlungsalternativen zur Alltagsbewältigung vorgestellt, vielmehr erwachsen dabei Erkenntnisse und Einsichten über Möglichkeiten zur Einflussnahme und Veränderung auf subtile Weise. Das Innovationspotenzial der Inhalte auf der perzeptionsgeleiteten Ebene ist besonders hoch, da die Struktur des erzählerischen Datenmaterials bei der Rezeption durch den Zuschauer direkt „in Sinnbildungsprozesse der Menschen ein[greift], indem er TopikReihen ‚vorprogrammiert‘.“ (Wuss 1993: 139 f.) Die Analyse dieser Vorprogrammierung ist im Rahmen der Fragestellung dieser Studie von besonderer Bedeutung. Der fundamentalste Lernprozess, der neue Sinnstrukturen ermöglicht, spielt bei einem inneren Veränderungsprozess eine wesentliche Rolle. Das Auffinden neuer Perspektiven und Handlungsweisen ist Kerngeschehen einer charakterlichen Veränderung. Nach Wuss zeichnen sich filmische Erzählungen, die zusammen mit den äußeren Geschehnissen auch innere Prozesse eines Protagonisten thematisieren, vermehrt durch eine topikalisierte Erzählweise aus (ebd.: 131). Die Informationsgabe auf der perzeptiv geleiteten Ebene ermöglicht nach Wuss „eine größere Wirklichkeitsnähe“ (ebd.: 123) in der Schilderung lebensweltlicher Ereignisse. Es wird daher im Rahmen der Studie von der Vorannahme ausgegangen, dass die Präsentation wandlungsrelevanter erzählerischer Inhalte vermehrt über die Ebene der Tiefenstruktur (Wuss 1986: 32 f.) aufgebaut ist.
2.6 Visuelle Prozesshaftigkeit gegenständlicher Bildinhalte Die Gestaltung der dreidimensionalen Szenerie, die im Filmbild gezeigt wird, muss im Rahmen der Forschungsfrage dieser Studie in einem gesonderten Analyseschritt untersucht werden. Die Gestaltung von Szenenbild und Gegenständen wird dabei im Hinblick auf ihre potenzielle Sinnbildungsfunktion bei der Vermittlung erzählerischer Inhalte analysiert. Für diesen Analyseschritt werden die Gestaltungselemente des miseen-scene in ihrer Verwendung als Bedeutungsträger für inhaltliche Konnotationen und Informationen untersucht. Es wird dabei von der Vorannahme ausgegangen, dass sich in den Gestaltungsmustern des Szenenbildes (Räume, Gegenstände, Kostüme, Licht, Farbe u. v. m.) formale prozesshafte Phänomene auffinden lassen, die als relevante Darstellungsfaktoren der Visualisierung eines intrapersonellen Wandlungsprozesses fungieren. Die Bildwelt eines Films kann im Bereich der gegenständlichen Szenerie so komplex konstruiert und gestaltet sein, dass sich darin über visuelle Elemente erzählerische Inhalte erschließen, ohne über Handlungsereignisse oder einen Dialog vermittelt zu sein. 58
In der Exposition wird das „Gesicht“ eines Films, d. h. der grundlegende Gestaltungscharakter von Szenenbild, Gegenständen, Kostüm, Farb- und Lichtgestaltung etc. etabliert. Über die Wahrnehmungsprozesse des Zuschauers werden bestimmte Faktoren der filmischen Szenerie in ihrer, über den primacy effect eingeführten, spezifischen Ausformung als wiedererkennbare visuelle Informationseinheiten gespeichert. Veränderungen in der visuellen Eigenart dieser Faktoren der Szenerie werden registriert und als gestalterische Phänomene parallel zur Entfaltung der Handlung nachvollzogen. Das Bühnenbild im Theater fungiert als container for the action (Bordwell/ Thompson 1986: 122) mit dem Menschen als zentralem Handlungsträger. Das setting eines Films hingegen kann komplexere narrative Funktionen übernehmen. Die Gestaltungsmuster des Szenenbilds und dessen Gegenstände können selbst zum aktiven Inhalts- und Handlungsträger werden. Die komplexen Wahlmöglichkeiten in der Gestaltung von Stil, Farbe, Licht etc. im Raum- und Ausstattungsprogramm einer filmischen Erzählung ermöglichen eine „manipulation of a shot’s setting for narrative functions“ (ebd.: 125). In der Gestaltung des Bildraums einer filmischen Erzählung liegt wesentlich mehr Freiheit als auf der Ebene der inhaltlichen und zeitlichen Ursache- und Wirkungs-Bezüge einer Handlung. Für die Ausgestaltung einer Szenerie gibt es keinen „predetermined rationale“ (Chatman 1978 [1993]: 100). Hier kann dem Zuschauer Neues angeboten werden – auch unter der Prämisse, das Neue für diese spezielle Erzählung dem Zuschauer als einzuübenden neuen Code nahe zu legen (z. B. im Science-Fiction-Film). Eine wesentliche Möglichkeit, erzählerische Botschaften durch Elemente des setting zu transportieren, liegt in der Lenkung des Zuschauerblicks durch die Dreidimensionalität der Szenerie. Das visuelle Abtasten eines Filmbilds durch den Zuschauer und der darin präsentierten Szenerie und Ausstattung erfolgt nicht ausschließlich über die Blickperspektive der Kamera, sondern auch durch die Lenkung der Blickaufmerksamkeit durch bestimmte Gestaltungselemente in der filmischen Szenerie. Gemäß der Wahrnehmungsart des menschlichen Auges nimmt der Betrachter die visuellen Faktoren eines Filmbilds in der Rangfolge ihrer Reizgröße wahr. Bewegung, movement, ist der größte Reiz für die Lenkung des Blicks, gefolgt von Farbe, Hell-Dunkel-Kontrasten, color, Symmetrie bzw. Asymmetrie, balance und Größe, size (Bordwell/Thompson 1986: 136-140). Filmlicht und Farbgestaltung haben Zeige- und Lenkfunktion für die Aufmerksamkeit und den Blick des Zuschauers auf Szenerie, Gegenstände, Kostüm, Figuren und Handlungen. Ebenso beeinflussen Größe und lineare bzw. perspektivische räumliche Bezüge zwischen den dreidimensionalen Elementen der Szenerie den Wahrnehmungsablauf. In der Ausgestaltung dieser Parameter in der filmischen Szenerie entsteht bereits ein eigenständiges Bezugs-, und dadurch auch Bedeutungssystem, über das inhaltliche Facetten einer Erzählung generiert werden können. 59
Gegenstände, die eine eigenständige Erzählfunktion tragen und inhaltliche Bedeutung vermitteln, werden als props bezeichnet (Bordwell/Thompson 1986: 125 f., 143). Über eine sukzessive Veränderung einzelner oder mehrerer der aufgeführten visuellen Gestaltungsparameter kann erzählerische Information über Entwicklung visualisiert werden. Visuelle Gestaltungsmuster in Szenenbild und Ausstattung und darin ausgeprägte Veränderungen fungieren demnach als Indikatoren für inhaltliche Entwicklungsprozesse in Form von „important motifs throughout the story, helping to generate a large-scale pattern among local causes.“ (Branigan 1992: 137) In einem Filmverlauf können über die beschriebenen visuellen Gestaltungsfaktoren einer filmischen Szenerie Bezüge, patterned motifs, zwischen erzählerischen Bedeutungen hergestellt werden, die im Filmverlauf weit voneinander entfernt positioniert sind. Für die Analyse der Gestaltungsmuster in der visuellen Szenerie und darin ausgeprägte Phänomene formaler Prozesshaftigkeit wird anhand des filmischen Materials zunächst ein Vergleich von opening und ending erarbeitet. Mittels der methodischen Definitionen der fünf Gestaltungsprinzipien können prozesshafte Dynamiken, die in der Visualisierung einer filmischen Erzählung über visuelle Motif-Reihen in der dreidimensionalen Szenerie aufgebaut sind, herausgearbeitet werden. Nach der Auffindung der Dominante(n) auf der gegenständlich-visuellen Ebene des Filmbilds, wird untersucht, welchen Beitrag diese Gestaltungsmuster für die erzählerische Logik der charakterlichen Wandlung der Hauptfigur leisten.
60
3. Theorie der Prozesshaftigkeit Teil II: Begriffe aus den Theorien zur fiktiven Figur
Eine intrapersonelle Wandlung stellt ein dynamisches Geschehen dar. Es ist daher anzunehmen, dass dieser erzählerisch-inhaltliche Vorgang über gestalterische Elemente einer Figurenkonstruktion visualisiert ist, die von formalen Entwicklungsund Veränderungsprozessen gekennzeichnet sind. Zur Beantwortung der Fragestellung gilt es, das figurenbezogene filmgestalterische Datenmaterial auf darin aufgebaute Strukturen zu untersuchen, die von Prozesshaftigkeit gekennzeichnet sind. Im nun Folgenden werden diejenigen theoretischen Begriffe und Kategorien aus den Theorien zur Figur herausgestellt, deren Begriffsdefinitionen und zugrunde liegende abstrakte Denkfiguren bereits ein Verständnis von Prozesshaftigkeit als Gestaltungsphänomen beinhalten. Mit diesen ausgewählten Theoriebegriffen und methodischen Instrumentarien lassen sich die Gestaltungsmuster erforschen, welche für die Visualisierung einer charakterlichen Wandlung eingesetzt werden. Ebenso kann herausgearbeitet werden, ob in den Visualisierungsmustern der Figur und ihrer charakterlichen Entwicklung die Etablierung prozesshafter Strukturen besonders auffällig ist. In den Theoriemodellen zur Figur werden alle Gestaltungsstrukturen kategorisiert, auf deren Basis der Zuschauer während einer Filmrezeption Vorstellungen über die äußeren Bedingtheiten und die innere Beschaffenheit eines fiktiven Charakters generiert. Im Zentrum der vorliegenden Studie steht die Erforschung der gestalterischen Phänomene, welche die Wahrnehmungsprozesse des Zuschauers bei seinem Nachvollzug des intrapersonellen Wandlungsprozesses der zentralen Figur einer Geschichte steuern. Dieser Entwicklungsprozess ist in einer Figurenkonstruktion vor allem über diejenigen Gestaltungsstrukturen etabliert, über die das Innenleben und das Charakterprofil einer Filmfigur inszeniert sind. Kategorien und Analyseinstrumentarien aus den Theorien zur Figur, über die gestalterische Prinzipien in der filmischen Inszenierung von Charakterkonstruktion und Innenleben eines Protagonisten definiert sind, haben einen zentralen Stellenwert für die Erforschung der Visualisierung charakterlicher Wandlung. An dieser Stelle gilt es das Fachbuch zur Figurenanalyse von Eder (Eder 2008) für das Forschungsdesign der vorliegenden Studie zu evaluieren. Eder hat darin eine umfassende Zusammenführung zahlreicher Theorien und Modelle zur Figur 61 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
erarbeitet. Die Begriffe und Ansätze aus den diskutierten Theorien werden vier verschiedenen Sektoren einer Uhr der Figur (Eder 2008: 711) zugeordnet. Eder unterscheidet dabei zentrale Kategorien einer Figurenanalyse: Symptom, Artefakt, Symbol und Fiktives Wesen (Eder 2008: 131 ff. und 713-724). Modelle und Begriffe zur Figur, die sich auf prozesshafte Gestaltungsphänomene beziehen, werden über sein Gesamtmodell nicht herausgearbeitet. Eders Gesamtschau der Theorie zur Figur und die darin eingebundenen Begriffe und Modelle müsste für das Forschungsdesign der vorliegenden Studie unter dem Fokus des Phänomens der Prozesshaftigkeit diskutiert werden. Die Entscheidung fiel gegen ein solches Vorgehen für die Entwicklung des Forschungsdesigns der vorliegenden Studie aus folgenden Gründen: Das Erstellen eines Analyserasters gemäß Eders Modell würde sich ausschließlich auf seine Lesarten zu zahlreichen zentralen Theorien zur Figur stützen und dabei letztlich nur auf Sekundärliteratur. Für das zu entwickelnde Forschungsdesign der Studie soll ausschließlich mit Quellentexten und –werken ausgewählter Theorien und Ansätze zur Figur gearbeitet werden, da der gewählte Fokus der Lesart eine neue Theorieperspektive innerhalb der Filmwissenschaft etabliert. Im Aufbau des Untersuchungsdesigns dient der Prozessbegriff als zentrales Orientierungsmoment. Eine Theorie und ein Analysemodell zu prozesshaften Phänomenen filmischer Visualisierung kann nur auf Basis der Quellentexte- und werke zu Narrationstheorie und zur Theorie der Figur erarbeitet werden. Es werden dabei diejenigen theoretischen Definitionen filmästhetischer Phänomene aus beiden Theoriegruppen (zu Narration und Figur) ausgewählt, die besonders geeignet sind als methodische Instrumente für die Analyse prozesshafter filmischer Gestaltungsstrukturen. Auf der Basis eines Theorievergleichs und der Evaluierung der ausgewählten Begriffssysteme durch den Prozessbegriff wird das endgültige Untersuchungsraster entwickelt. Das Ergebnis dieser Lesart und Diskussion der Theorieansätze ist ein auf das Erkenntnisinteresse der Studie zugeschnittenes Gesamtmodell zu filmischer Narration und Figur.
3.1 Prozesshaftigkeit im Figurenprogramm In jeder Geschichte gibt es in Bezug auf den Gang der Ereignisse eine oder mehrere zentrale Figuren. Andere auftretende Protagonisten sind Neben- bzw. Randfiguren und fungieren nur zu geringen Anteilen als Träger wichtiger erzählerischer Zusammenhänge. Für die Untersuchung der Fragestellung dieser Studie muss diejenige Figur in der Geschichte eindeutig benannt werden können, welche als Trägerin des charakterlichen Wandlungsprozesses inszeniert ist. Diese Figur müsste von zentraler Bedeutung in der Erzählung sein und in ihrer filmischen Ausgestaltung als individuated character (Geragthy 1981: 19 f.) etabliert sein. Eine derartige 62
Figurenkonstruktion ist über komplexe Gestaltungsmuster in der Ausgestaltung von Charakterprofil und psychischem Innenleben aufgebaut. Nur über diese Faktoren einer Figureninszenierung lassen sich prozesshafte Phasen und komplexe Dynamiken einer charakterlichen Wandlung filmisch ausdrücken. Zunächst müssen die Inszenierungsmuster, über welche die zentrale Figur in einer Erzählung etabliert ist, im Zusammenhang mit den Gestaltungsparametern des gesamten Figurenprogramms betrachtet werden: „a film gives us access to the thoughts and feelings of a range of characters, interleaving the attitudinal perspectives and interests of all the participants.“. (Smith 1995: 7) Die Hauptfigur einer Erzählung ist mittels zahlreicher Zusammenhänge in das gesamte Figurenprogramm einer Erzählung eingebettet. Über verschiedene inszenatorische Mittel in der Figurengestaltung bilden sich dabei zahlreiche Bezüge. Die verschiedenen Gestaltungsparameter der Figuren stehen in einem jeweils bestimmten Verhältnis zueinander beispielsweise in Bezug auf ihre physische Erscheinung und die Ausgestaltung von Kostüm und Maske. Ebenso bilden sich Bezüge zwischen den Inszenierungsweisen des nonverbalen Ausdrucks der Figuren, zwischen ihren Handlungsweisen und den dabei ausgeführten Handlungsrollen usw. Die Verhältnismäßigkeiten zwischen diesen gestalterischen Phänomenen können in Form von Entsprechungen, Variationen und Kontrasten aufgebaut sein. Dieses Bezugssystem zwischen den verschiedenen Figuren fungiert als Basis für die Herausbildung wichtiger Elemente in der Charakterkonstruktion der zentralen Figur. In den visuellen Systemen innerhalb des gesamten Figurenprogramms einer Erzählung verdeutlicht sich das jeweils Spezifische in den Handlungsweisen und im emotionalen Erleben der zentralen Figur im Vergleich zu den Gestaltungsmustern der anderen Figuren. Über die formale Vernetzung und Einbettung der zentralen Figur in Bezug zu den gestalterischen Strukturen aller auftretenden Figuren können sich Dynamiken und prozesshafte Entwicklungsstrukturen abzeichnen, die bereits einen Teil der Visualisierung ihrer charakterlichen Wandlung darstellen. Es ist davon auszugehen, dass sich über die Elemente der Figureninszenierung der zentralen Figur und der anderen Protagonisten sowie über die Bezüge zwischen diesen bestimmte prozesshafte Dynamiken manifestieren, welche die Phasen der intrapersonellen Wandlung der Hauptfigur innerhalb der gesamten Figurenkonfiguration abbilden. So können beispielsweise Veränderungen in der äußeren Erscheinung oder auch in der Hierarchie der Handlungsrollen als Hinweise auf prozesshafte Entwicklungen im Innenleben der zentralen Figur fungieren. Ebenso können Veränderungen der Reaktionsweisen in bestimmten Interaktionsstrukturen zwischen den Figuren als Indikatoren für Wandlung in der Charakterstruktur der zentralen Figur fungieren. Bei der Analyse des gesamten Figurenprogramms werden die einzelnen Figuren bei ihrem ersten Auftreten unter der Maßgabe des dabei entstehenden primacy effect 63
(Bordwell 1985: 38) untersucht. Das heißt, die figurenbezogenen Gestaltungsfaktoren werden daraufhin analysiert, welcherart mentale Figurenkonstruktion der Zuschauer auf der Basis der Informationen generiert, welche er beim ersten Auftreten eines Protagonisten wahrnimmt. Bei allen Figuren muss hierfür zunächst die visuelle Inszenierung der äußeren Erscheinung beschrieben werden. Anhand der Gestaltung von Kostüm, Körperphysiognomie, Stimme, Sprechweise und körpersprachlichem Duktus lassen sich Alter, Geschlecht und zumeist auch soziale Stellung oder Beruf einer Figur, d. h. deren Status, feststellen. Ebenso kann anhand der genannten filmischen Informationen der Aufbau eines person-type (Smith 1995: 120 ff.) bei der Inszenierung einer Figur festgestellt werden. Als zentrale Leitlinie für diese vergleichenden Untersuchungen von Prozesshaftigkeit und Dynamik innerhalb der Gestaltungsparameter eines gesamten Figurenprogramms dienen die Elemente, welche als Bausteine der rapid characterization (ebd.: 48) einer Figur in der Theorie genannt werden: „the immediate sense of what a character is and what role s/he is likely to play has to be given quickly, using such elements as clothes and voice.“ (Geraghty 1981: 19) Unter den verschiedenen Figuren innerhalb einer konkreten Erzählung ist jeweils ein bestimmtes Bezugssystem zwischen den external traits (Smith 1995: 199), d. h. der Ausgestaltung der äußeren Erscheinung (clothes, style of dress, Stimmklang, Sprechweise, Körperphysiognomie, körpersprachlicher Ausdruck usw.) aufgebaut. So kann beispielsweise auf der Basis von in Kontrast zueinander stehenden Kostümgestaltungen die Charakterisierung verschiedener Figuren aufgebaut sein; „different styles of dress (...) tell us immediately the kind of characters we are engaged with.“ (Geraghty 1981: 19). Ähnlichkeiten und Kontraste zwischen diesen visuellen Figurenbausteinen bedingen und begrenzen wechselseitig Bedeutungen und Typisierungen in der Charakterisierung der verschiedenen Figuren: „the referral point for these judgements is more often within the serial than out in the real world (...) it is percisely the contrast of appearance which is important.“ (ebd.) Im Rahmen dieser Studie wird erforscht, ob innerhalb der figurenbezogenen Gestaltungsphänomene im Datenmaterial Ähnlichkeiten oder Kontraste, Wiederholungen und deren Variationen oder auch parallele Bezüge bzw. Entwicklungsmuster etabliert sind. Geragthy sieht das Figurenprogramm einer Erzählung als ein zusammenhängendes System, welches ein Raster verschiedener Charakterisierungen und Typen enthält: „certain characters become types within whose range of traits other characters are also then shaped.“ (ebd.: 20) Dieser mode of characterization besteht in der Zuordnung der verschiedenen Figuren zu bestimmten Punkten dieses Rasters, „the fitting of a characteristic into the scale provided by the serial which enables us to place a character.“ (ebd.: 19) Bestimmte Charakteraspekte einer zentralen Figur werden also über diese Bezüge zwischen den figurenbezogenen Gestaltungsparametern innerhalb des gesamten Figurenprogramms aufgebaut. Dieses Gefüge von 64
gestalterischen Mustern muss nun parallel zum Filmverlauf betrachtet werden und auf darin aufgebaute prozesshafte Veränderungen untersucht werden. Im nächsten Untersuchungsschritt wird die Verteilung von Funktions- und Handlungsrollen auf die verschiedenen Figuren in einer Erzählung herausgearbeitet. Hierbei wird deutlich, von welchem Grad an Komplexität die Ausgestaltung der verschiedenen Figuren gekennzeichnet ist. Dabei lässt sich unterscheiden, welche Figuren als Träger von Funktionsrollen, welche als Rollentypen oder als individuated characters inszeniert sind. Träger von Funktionsrollen treten nur ein Mal oder einige wenige Male auf und führen meist nur eine oder wenige einzelne Handlungen aus. Die figurenbezogenen Informationen ermöglichen die Beschreibung des Status’ dieser Figur. Eventuell ist hierüber auch ein Rollentypus etabliert. Die Gestaltungselemente beinhalten jedoch nicht genügend Information zur Konstruktion von Charakter- und Persönlichkeitsstrukturen dieser Figur. Je öfter ein Protagonist auftritt, dabei verschiedene Handlungsrollen übernimmt und in unterschiedlichen Interaktionssituationen agiert, umso zentraler ist seine Position in einer Geschichte. Durch die Analyse des alignment in Bezug auf die verschiedenen Figuren lässt sich überprüfen, wie groß der Beitrag an erzählerischer Information durch das Auftreten und Handeln einer Figur im Vergleich zum gesamten Handlungsgeschehen einer Geschichte ist. Wie oft und wie lange der erzählerische Blick eine Figur zeigt, gibt Hinweis darauf, welchen Stellenwert die Figur für den Verlauf der Ereignisse hat. Eine zentrale Figur in einer Erzählung ist durch die Übernahme mehrerer Handlungsrollen und durch häufiges alignment gekennzeichnet. Über diese Inszenierungsmuster sind zahlreiche Hinweise über habits und traits von Charakter und Persönlichkeit der Figur etabliert. Auf der Basis dieser cues generiert der Zuschauer ein komplexes Abbild einer Charakterkonstruktion, welche der Kategorie individuated character zuzuordnen ist. Über den Aufbau von Statuspositionen bzw. Handlungsrollen aller Protagonisten entsteht ein Bezugssystem, das hierarchisch strukturiert ist und in das die Hauptfigur auf spezifische Weise eingebettet ist. Die Bezüge zwischen den Statuspositionen innerhalb der gesamten Figurenkonfiguration werden mit Fokus auf die zentrale Figur untersucht. Dabei wird festgestellt, ob sich über diese Gestaltungsparameter Wechsel- oder Veränderungsdynamiken im filmischen Datenmaterial etablieren. So können beispielsweise bestimmte Handlungsrollen von Figuren und die damit verbundenen Motivationen und Interessen in konflikthafter Konstellation zueinander stehen. Diese Zusammenhänge können im Erzählverlauf Veränderungen erfahren. Untersucht wird, wie sich die Strukturen in der Vernetzung der verschiedenen Rollen zueinander im Gesamtzusammenhang aller Ereignisse der Handlung und mit Fokus auf die zentrale Figur konfigurieren und verändern. Ein wichtiger Teilschritt bei der Analyse von Bezugssystemen zwischen Statuspositionen und Handlungsrollen ist die Untersuchung der szenischen Räume, welche 65
den einzelnen Figuren als Handlungsräume zugeordnet sind. Nicht jede Figur einer Geschichte ist in einer für sie spezifischen visuellen Umgebung inszeniert. Mithilfe von Chatmans vier Bezugsweisen zwischen Figur und filmischer Szenerie lassen sich diejenigen Schauplätze und Räume einer Erzählung herausarbeiten, welche durch ihre visuelle Ausgestaltung figurenbezogene Bedeutung haben (Chatman 1978 [1993]: 143). Untersucht wird, ob sich über die Gestaltungsmuster der figurenbezogenen filmischen Räume dynamische Strukturen und prozesshafte Entwicklungen etablieren, welche Anteil haben an der Visualisierung des charakterlichen Wandlungsprozesses der Hauptfigur. Um im Rahmen der Studie eine gewisse Forschungsökonomie beibehalten zu können, wird für die genannten Teilschritte nach Empfehlung der Neoformalisten überwiegend das Analyseprinzip eines Vergleichs von opening und ending eingesetzt. Das heißt, die Gestaltungsmuster eines Figurenprogramms werden in Anfangs- und Schlusssequenz eines Films untersucht. Durch die Analyse der Gestaltungselemente, über die sich der primacy effect im opening aufbaut, kann herausgearbeitet werden, welche dieser dominanten Gestaltungsmuster im ending eine grundlegende Veränderung aufweisen. Auf Basis der Ergebnisse aus dem Vergleich von opening und ending werden verschiedene der dominanten Gestaltungsparameter für eine vertiefende Analyse ausgewählt. So werden zum Beispiel das körpersprachliche Ausdrucksverhalten, die Kostümgestaltung und die Visualisierungsmuster der figurenbezogenen szenischen Räume während des gesamten Filmverlaufs betrachtet und analysiert.
3.2 Hauptfigur: Prozesshaftigkeit in Rollenprofil, Konstruktion und Inszenierung Im Rahmen der Fragestellung konzentriert sich die weitere Erforschung prozesshafter Phänomene im Datenmaterial eines Films auf die Gestaltungsstrukturen der zentralen Figur. Hier kommen zunächst die Methoden zum Einsatz, welche bereits zur Untersuchung des gesamten Figurenprogramms angewendet wurden. Durch die vertiefende Analyse mittels dieser Instrumentarien werden diejenigen Gestaltungsprofile in der Konstruktion der zentralen Figur herausgearbeitet, über die eine deutliche Visualisierung prozesshafter Veränderungen und Entwicklungen im filmischen Material etabliert ist. Analysiert wird der stufenweise Aufbau der Gestaltungsmuster in der komplexen Konstruktion von Charakter und Persönlichkeitsstruktur einer zentralen Figur als individuated character mit Biografie, Charakterprofil und emotionalem Innenleben. Bei der Analyse der Figurenkonstruktion dienen zunächst die Elemente der rapid characterization als methodische Instrumentarien. Beim ersten Auftreten der zentralen Figur ist durch ihre körperphysische Erscheinung, ihren körpersprachlichen 66
und stimmlichen Ausdruck und die Gestaltung von Kostüm und Maske die Inszenierung eines person-type (Smith 1995: 116) gegeben. Ebenso werden über diese Gestaltungselemente die meisten Statusfaktoren der Figur (Alter, Geschlecht, soziale Stellung, Beruf) erkennbar. Für die Analyse von Entwicklung und Veränderung innerhalb der Figurenkonstruktion, etabliert über die Gestaltungsfaktoren der äußeren Bedingtheiten der Figur, wird in der ersten Untersuchungsphase mittels des Vergleichs von opening und ending am Material operiert. Die Elementgruppen in der visuellen Inszenierung der bodily images (ebd.: 117) der Figur, welche in einem Vergleich von opening und ending durch gestalterische Veränderungen gekennzeichnet sind, werden anschließend in ihren Gestaltungsweisen über den gesamten Filmverlauf analysiert. Hierbei werden die prozesshaften Strukturen in der Visualisierung erkennbar, über welche sich die Veränderung figurenbezogener Gestaltungsfaktoren etabliert. Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Gestaltungsfaktoren der bodily images muss an dieser Stelle ein besonderer Wirkungsfaktor im Einsatz dieser filmischen Mittel vertiefend erläutert werden, der für die Fragestellung dieser Studie von besonderer Bedeutung ist. Smith weist darauf hin, dass der Gesichtsausdruck in der Gruppe aller Gestaltungsfaktoren der äußeren Erscheinung eines Protagonisten (Kostüm, Maske, Haartracht, Körperphysiognomie und -sprache, Stimme etc.) einen besonderen Stellenwert innehat. Der Zuschauer wird durch die im Bild sichtbare Mimik eines Schauspielers besonders stark in seiner Hypothesenbildung über Wesensart und psychisches Innenleben der dargestellten Figur beeinflusst. Die emotionale Bewegtheit, die auf dem Gesicht eines Schauspielers erkennbar ist, regt den Zuschauer zum Wahrnehmungsprozess mimicry (Smith 1995: 99, ff., 103 und Mikos 2003: 177) an. Das bedeutet, er generiert ein eigenes körpersprachliches Echo auf den Gesichtsausdruck, welchen er bei der Figur auf der Leinwand sieht, und kann dadurch dessen emotionale Qualität nachspüren. In diesen Momenten eines Wahrnehmungsprozesses kommt es auf der Basis von mimicry beim Zuschauer zur Bildung von Annahmen über das Denken und Fühlen der Figur. Eine Wechselwirkung zwischen Gesichtsausdruck und dem sichtbaren situativen Kontext, welcher über die Inszenierung etabliert ist, nimmt dabei wesentlichen Einfluss auf die Vorstellungsbildung des Zuschauers über die inneren Prozesse der Figur. Dabei können Bilder im Wechsel mit dem Gesichtsausdruck einer Figur präsentiert sein, die nicht dem direkten raum-zeit-logischen szenischen Umfeld entstammen (Smith 1995: 159). Bereits durch die emotionale Anmutung des Gesichtsausdrucks wird die Interpretationsleistung des Zuschauers stark beeinflusst. Durch das Zeigen des Gesichtsausdrucks in Verknüpfung mit anderen Bildern wird sie verstärkt in eine bestimmte Richtung gelenkt. In den Beispielanalysen wird herausgearbeitet, ob diese Inszenierungsweise einen besonderen Stellenwert für die Darstellungen wesentlicher Ereignisse im Prozess der charakterlichen Wandlung hat. 67
Im nächsten Analyseschritt wird die Inszenierung der Handlungsrollen untersucht, welche die zentrale Figur verkörpert. Nach Mikos gründet die Glaubwürdigkeit einer Figur darauf, dass sie mehrere unterschiedliche Handlungsrollen auf sich vereint. Der Zuschauer setzt diese Figureninszenierung gleich mit seiner eigenen Welterfahrung als aktives Individuum und Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe. Durch die Übernahme sozialer Handlungsrollen beurteilt der Zuschauer die Figur als Entität eines menschlichen Individuums mit Persönlichkeit und Charakter. „In den Handlungsrollen vereinen sich Statusposition, individuelle Charaktermerkmale sowie die auf die Handlung bezogene Biografie der Protagonisten. Über diese Handlungsrollen wird sowohl die emotionale Nähe als auch die kognitive Repräsentation von erfahrungsbezogenen Handlungsmustern in der Rezeption generiert.“ (Mikos 2003: 163) Die Handlungsrollen, welche die zentrale Figur einer Erzählung verkörpert, sind im Bezug zum erzählerischen Kontext in einem hierarchischen System geordnet. Das Verhältnis zwischen dominierenden und nachgeordneten Rollen ist ein wichtiges Kriterium für die Glaubwürdigkeit einer Figur. Das Geschehen im Alltag einer realen Person wird hier nachgebildet. Das Individuum als Mitglied einer Gesellschaft handelt abwechselnd in vielfältigen sozialen Rollen und in den jeweils dafür spezifischen Interaktionssituationen. In den Beispielanalysen werden die verschiedenen Handlungsrollen der Hauptfigur einer Geschichte herausgearbeitet. Es lässt sich dabei beschreiben, in welcher Reihenfolge die Figur in den verschiedenen Rollen im Lauf der Handlung agiert. Die Handlungsrollen können auf Basis der Analyse in ihrer Art als typisiert, genrebedingt oder sozial und individuell ausgestaltet beschrieben werden. Die hierarchische Ordnung innerhalb des gesamten Rollenprofils einer Figur wird darstellbar (ebd.: 162 ff.). Anhand der hierarchischen Positionierung der Rollentypen können die wichtigsten Handlungsrollen der Figur benannt werden. Eine zentrale Handlungsrolle etabliert sich durch ein wiederholtes Handeln der Figur in dieser Rolle. Nur wenn die Figur in einigen sozialen Handlungsrollen wiederholt als Interaktionspartner inszeniert ist, kann in diesen Geschehnissen der Prozess einer intrapersonellen Wandlung ausformuliert werden. In der Abfolge der Rollenübernahme während des Filmverlaufs findet eine Wechsel- und Veränderungsdynamik statt, die ein bestimmtes Profil aufweist. Im folgenden methodischen Schritt wird die Inszenierung dieser zentralen Rollen in Bezug auf die spezifische Ausgestaltung der Interaktions- und Emotionsstrukturen darin analysiert. Jede soziale Handlungsrolle ist durch schematisierte Vorstellungen über bestimmte Interaktionen und damit verbundene Emotionsstrukturen definiert. Beim ersten Auftreten einer Figur generiert der Zuschauer, „on basis of very first attributes“, eine schematisierte Vorstellung des person-type, den diese Figur repräsentiert (Smith 1995: 120). Der Zuschauer evaluiert die Handlungen der Figur in den verschiedenen Handlungsrollen zunächst anhand der Annahmen über die 68
typisierten Bedingungen des person-type. Die Inszenierung von Verhaltensweisen und Emotionsstrukturen kann zunächst der schematisierten Typisierung einer Handlungsrolle ähneln. Im weiteren Handlungsverlauf können hingegen Veränderungen in der Inszenierung von Interagieren und Empfinden der Figur im Vergleich zum Schema einer Handlungsrolle präsentiert sein. In der Evaluation von Übereinstimmung, Ähnlichkeit und Differenz zu den typisierten Rollenschemata entsteht beim Zuschauer nach und nach ein mentales Abbild von Charakter- und Persönlichkeitsmerkmalen einer Figur. Mittels einer sich verändernden und auch kontrastierenden Inszenierung der Figur in Bezug auf die Rahmenbedingungen der verschiedenen Handlungsrollen können sich prozesshafte Dynamiken und Veränderungen von Motivationslagen und Bedürfnissen der Figur widerspiegeln. Auf diese Weise kann im Laufe eines erzählerischen Geschehens die Konstruktion eines Charakters mehrmals aufgebrochen und verändert werden. In Momenten eines solchen Veränderungsprozesses geht der Zuschauer von neuen, potenziellen Charakterzügen und Persönlichkeitsmerkmalen in seiner Figurenkonstruktion aus: „assign a whole new set of dispositional traits to them [characters]“ (Smith 1995: 124). Der Zuschauer sortiert die sich ständig verändernden figurenbezogenen Informationen im Abgleich mit den bereits erhaltenen und generiert eine fortgesetzte Neuformulierung der Charakterkonstruktion. Smith bezeichnet diese Bewusstseinstätigkeit als „reshuffling along these lines“ (ebd.: 120). Das theoretische Modell der Handlungsrollen ermöglicht es, Phänomene in der Visualisierung einer intrapersonellen Wandlung abstrakt zu beschreiben, welche sich über die rollenbezogene Figureninszenierung und gestalterische Veränderungen darin präsentieren. Parallel zur Analyse der Veränderungsprozesse in der Rolleninszenierung gilt es, einen weiteren wichtigen und damit eng verbundenen Gestaltungsfaktor zu untersuchen. Szenische Räume und Gegenstände, die zum Agieren der Figur in Bezug stehen, sind zentrale Bausteine für die Etablierung von Handlungsrollen. Handlungen in bestimmten räumlichen Szenerien und mittels bestimmter Gegenstände verdeutlichen die von der Figur ausgeführte Handlungsrolle. Zu jeder einzelnen Handlungsrolle eines filmischen Geschehens gehört ein bestimmter Raum bzw. ein Raumsystem mit spezifischer Ausstattung. Das Potenzial für figurenbezogene Bedeutungsbildung, das über die szenischen Räume und deren Ausstattung in einem Film aufgebaut sein kann, ist über die Definitionen von Chatman erfasst (Chatman 1978 [1993]: 143). Im Rahmen dieser Studie werden die Ausgestaltung der szenischen Schauplätze und die damit verbundenen Gegenstände in Bezug zu den verschiedenen Handlungsrollen der Hauptfigur analysiert. Dabei wird ein System von Räumen und Gegenständen benennbar, das in direktem Zusammenhang zu den zentralen Handlungsrollen der Figur steht. Entwicklungsprozesse in der Gestaltung von Szenerie und Gegenständen werden parallel zu den Veränderungen in Handlungsweisen und innerem Erle69
ben der Figur betrachtet. Herausgearbeitet wird dabei, ob anhand der erkennbaren Umformungen in der Gestaltung von Szenenbild und Gegenständen in Bezug zu bestimmten Handlungsrollen Bedeutungsaspekte der intrapersonellen Wandlung und Veränderungsdynamiken in der Charakterkonstruktion visualisiert werden.
3.3 Hauptfigur: Prozesshaftigkeit in Charakterprofil, Emotionsstrukturen und Affektinszenierung Die Untersuchungsinstrumentarien zur Beschreibung einer Figurenkonstruktion, die in den diskutierten kognitionswissenschaftlich basierten Filmtheorien ausformuliert sind, basieren auf den Definitionen kognitiver Wahrnehmungsprozesse, welche der Zuschauer während der Figurenrezeption und zu deren Nachvollzug leistet. Die Beschreibungen dieser Rezeptionsprozesse ermöglichen die Definitionen derjenigen Gestaltungsstrukturen im Datenmaterial, auf deren Basis der Zuschauer eine mentale Charakterkonstruktion einer Figur generiert. Aufgrund des Ablaufs einer filmischen Erzählung über eine bestimmte Zeitspanne und der dabei sukzessive vermittelten erzählerischen Informationen sind die Wahrnehmungsmechanismen des Zuschauers ebenfalls durch stufenweise Informationsverarbeitung geprägt. Der Nachvollzug einer Figurenkonstruktion und ihre Einbettung in den Ereignisverlauf ereignen sich auf der Seite des Zuschauers als eine Bewusstseinsleistung mit grundlegend prozesshafter Natur. Die konkrete Inszenierung des stufenweisen Aufbaus einer Figurenkonstruktion kann über zwei idealtypische Inszenierungsweisen ausgestaltet sein: Zum einen kann die schrittweise Informationsgabe über eine Figurenkonstruktion ausschließlich über die Dynamik von äußeren Handlungen, Ereignissen, Aktion und Reaktion der Figur innerhalb der erzählerischen Problem- und Konfliktsituationen präsentiert sein. Zum anderen können die Informationen zur Figur über zwei parallel aufgebaute prozesshafte Bedeutungsebenen im erzählerischen Geschehen vermittelt werden. Bei dieser Inszenierungsweise ist zusätzlich zur Dynamik in den äußeren Handlungen der Figur eine zweite prozesshafte Ereigniskette etabliert. Über diese erzählerischen Informationen werden Geschehnisse und Entwicklungen im inneren Erleben einer Figur dargestellt. Ist die Konstruktion einer Figur über Anteile beider idealtypischer Inszenierungsweisen aufgebaut, manifestiert sich die Entwicklungsdynamik innerhalb einer Figurenkonstruktion über Aspekte des äußeren Erscheinens und des Innenlebens der Figur. Ziel der Studie ist es, diejenigen visuellen Gestaltungsmuster zu analysieren, über welche sich der charakterliche Wandlungsprozess im Innenleben einer Figur im sichtbaren filmischen Material abbildet. 70
Im Folgenden werden nun die Begriffe aus den Theorien zur Figur vertiefend erläutert, welche die Gestaltungselemente des Charakterprofils und des Innenlebens einer Figur definieren. Die methodischen Instrumentarien dieser Kategorien sind von theoretischen Denkfiguren gekennzeichnet, die bereits in ihrer abstrakten Konstruktion die Dynamik von Prozesshaftigkeit repräsentieren. Daher sind diese Begriffe zur Analyse visueller Strukturen einer Figurenkonstruktion, welche von prozesshafter Veränderung gekennzeichnet sind, besonders geeignet. Konsens herrscht in den Theorien zur Erzählung darüber, dass in der inhaltlichen Konstruktion jeder Geschichte ein Prozess, das heißt eine Entwicklung und Veränderung repräsentiert ist: „essence of narrative is a presentation of systematic change through a cause and effect teleology.“ (Branigan 1992: 19) Auslöser und Katalysatoren für diese Veränderungen liegen in den Handlungen der Protagonisten begründet, welche wiederum durch deren Ziele, Bedürfnisse und Charakterstrukturen verursacht sind. „Cause and effect imply change. If the characters and their traits did not desire something to be different from the way it is at the beginning of the narrative, change would not occur. Therefore characters and their traits, particularly desire, are a strong source of causes and effects.“ (Bordwell/Thompson 1986: 98) In den Filmen, die eine intrapersonelle Wandlung schildern, ist die Ursachenquelle für Entwicklung und Veränderung in der Erzählung zugleich Schauplatz der Wandlung von Charakterstruktur und Persönlichkeit der Figur. Es ist davon auszugehen, dass sich diese inneren Veränderungsprozesse in der äußeren Anschaulichkeit einer filmischen Erzählung widerspiegeln. So werden zum Beispiel über situative Handlungskontexte und Verhaltensweisen der Figur die Folgen der charakterlichen Veränderungen sichtbar. Das zentrale Geschehen dieser Wandlung spielt sich zwischen denjenigen Gestaltungselementen einer Figurenkonstruktion ab, über die sich das Innenleben der Figur als erzählerischer Inhalt manifestiert. Im Einsatz der filmischen Gestaltungselemente einer Figurenkonstruktion, über welche innere Motivationen, Bedürfnisse, Ziele und Charakterzüge einer Figur etabliert sind, müssen sich strukturelle Dynamiken abbilden, die den Wandlungsprozess visualisieren. Chatman definiert die Ereignisfigur einer intrapersonellen Wandlung als eine von insgesamt drei möglichen Grundformen von Entwicklung und Veränderung, die sich in Bezug auf die zentrale Figur einer Erzählung ereignen können. Chatman bezieht sich in seinem Begriffsmodell auf Crane. Dieser übernimmt drei der sechs aristotelischen Typisierungen für erzählerische Ereignisverläufe und setzt sie für figurenbezogene, erzähltheoretische Analysen ein. Die Veränderungsprozesse zwischen Ausgangs- und Endsituation einer Erzählung können dabei idealtypisch in zwei verschiedenen inhaltlichen Bereichen der Geschichte situiert sein. Die erste Kategorie von Veränderung manifestiert sich in der äußeren Situation, welche die 71
Figuren umgibt. Die Transformation der zentralen inhaltlichen Elemente, der initial terms, zeigt sich hierbei in einer Veränderung des situativen Umfelds der Protagonisten und in ihrem gegenseitigen Agieren und Reagieren. In diesem Spannungsfeld der Figurenkonstellation ist die Art und Weise der Umwandlung von Ausgangssituation zu Endsituation etabliert. Der zweite Bereich innerhalb einer Erzählung, der als Schauplatz eines erzählerischen Transformationsprozesses gewählt sein kann, ist nach diesem Modell das Innere einer Figur, d. h. ihr Charakter und ihre Persönlichkeit. Hierüber manifestieren sich nach Crane die zweite und dritte Kategorie erzählerischer Transformationstypen. Eine Grundform prozesshafter Veränderungsdynamik zeigt sich dabei in der charakterlichen Grundstruktur und der moralischen Orientierung einer Filmfigur. Die andere Kategorie von Entwicklung etabliert sich über die Denkund Empfindungsweisen einer Figur und über die daraus resultierenden Handlungen. Die grundlegenden Charakterzüge der Figur verändern sich in diesem Fall jedoch nicht (vgl. Crane 1953 nach Chatman 1978 [1993]: 87). Im Rahmen der Studie werden Veränderungsprozesse untersucht, welche die zweite und dritte Grundform erzählerischer Transformationen nach Crane in sich vereinen. Es wird davon ausgegangen, dass sich die intrapersonellen Wandlungsprozesse der Figuren in den Beispielfilmen über eine stufenweise Veränderung der charakterlichen Grundstruktur und der moralischen Orientierung aufbauen, die parallel einhergehen mit Umformungen von Denk-, Empfindungs- und Handlungsweisen der Figur. Die geschilderten Überlegungen zu den Strukturen von Prozesshaftigkeit in der Visualisierung einer intrapersonellen Wandlung führen zu dem Schluss, dass die Konstruktion einer Figur, an der sich ein solcher Veränderungsprozess vollzieht, eine komplexe gestalterische Repräsentation des Innenlebens dieser Figur aufweisen muss. Eine Begriffsbildung von Chatman in Bezug auf die Figurenkonstruktion gibt einen weiteren wichtigen Hinweis darauf, wie die Gruppe möglicher fiktiver Charaktere definiert und eingegrenzt ist, welche für die Fragestellung der Studie relevant ist. Chatman unterscheidet zwischen flat und round characters (Chatman 1978 [1993]: 132). Er verbindet dabei sein Verständnis der beiden Adjektive flat und round mit dem strukturalistischen Begriff der traits. Der Handlungskontext von Figuren, die als flat characters aufgebaut sind, ist geradlinig ausgerichtet, ihre Motivationen und Ziele sind von Eindimensionalität gekennzeichnet. Das Charakterparadigma einer solchen Figur besteht aus wenigen traits, die teleologisch mit der Auflösung der Geschichte verknüpft sind. Die Hypothesenbildung über mögliche Handlungsweisen solcher Figuren gelingt dem Zuschauer leicht und seine Annahmen realisieren sich zumeist entsprechend im Verlauf der erzählerischen Entwicklungen. Als round characters bezeichnet Chatman Figuren, deren Konstruktion aus einer größeren Ansammlung von traits besteht, die zum Teil zueinander in Widerspruch oder konflikthaften Konstellationen stehen. Solcherart konstruierte Figuren erinnern den Zuschauer am ehesten an wirkliche 72
Menschen (Chatman 1978 [1993]). Bei Figuren der Kategorie round characters spricht Chatman von „open-end characters (...) capable of changing“ (ebd.). Hier gelingt es dem Zuschauer wesentlich seltener, mögliche zukünftige Verhaltensweisen solcher Figuren vorauszusagen, die sich als zutreffend erweisen. In der Konstruktion von Innenleben und Charakter der Figuren sind neue, überraschende Charakterzüge etabliert, die sich unerwartet im erzählerischen Geschehen manifestieren. Eine Figur, an der sich ein intrapersoneller Wandlungsprozess vollzieht, muss der Kategorie der round characters angehören und Konfigurationen widersprüchlicher und in Konflikt zueinander stehender Charakterzüge aufweisen. Um die Charakterkonstruktion und die psychischen Prozesse im Innenleben einer Figur analysieren und ihre Veränderungsdynamiken während eines Filmverlaufs beschreiben zu können, bildet Chatman den Begriff paradigm of trait (ebd.:127). Demnach generiert der Zuschauer ein schematisiertes mentales Modell einer Figur und benutzt dieses Paradigma während des Wahrnehmungsprozesses als Grundraster für den Nachvollzug von Entwicklungen und Veränderung in der Gesamtkonstruktion der Figur. Durch die Wahrnehmung und Verarbeitung figurenbezogener Informationen verändert sich das Paradigma einer Figur ständig: „the trait paradigm (...) tends to operate in praesentia.“ (ebd.: 128). Chatman bezeichnet in Anlehnung an Barthes die während einer Filmrezeption kontinuierlich ablaufenden Abgleichungsund Ergänzungsvorgänge in Bezug auf das paradigm of trait als process of nomination (ebd.: 115 f.). Im Filmverlauf werden über bestimmte Gestaltungsmuster Hinweise auf Charakter und Innenleben einer Figur gegeben. Nach Chatman entnimmt der Zuschauer diesen moments of expression (ebd.: 129 f.) Informationen, die über den process of nomination in Bedeutungen von Charakterstruktur und Innenleben einer Figur übersetzt werden. Diese Sinnzusammenhänge werden im paradigm of trait zu einzelnen Orientierungs- und Vergleichswerten für die Zuordnung weiterer Informationen, die während des Filmverlaufs über Charakterstruktur und psychisches Innenleben der Figur gegeben werden. Über diesen Prozess werden bestehende traitnames korrigiert (ebd.: 134 ff.) bzw. neue Bedeutungen in das Raster eingefügt. Auf diese Weise entstehen während des Filmverlaufs ständig aktuelle Aggregatzustände des Charakterparadigma einer Figur. Für die Analyse der gestalterischen Strukturen, welche den Aufbau einer Charakterkonstruktion beim Zuschauer steuern, muss festgestellt werden, welches truth schema (Smith 1995: 168-171) im Inszenierungsstil einer filmischen Erzählung etabliert ist. Nach Smith ist in jeder filmischen Erzählung eine bestimmte Grundform in der Inszenierung der Ausdrucksweise von Gefühlen, Bedürfnissen und Motivationen der Figur eingesetzt (ebd.: 166). Smith definiert zwei verschiedene Prinzipien eines truth schema. Im Einsatz des expressive truth schema (ebd.: 168) sind das Innenleben einer Figur und dessen sichtbarer Ausdruck von Konvergenz gekennzeichnet. Das 73
repressive truth schema hingegen manifestiert sich über eine Divergenz zwischen der Inszenierung eines körpersprachlichen oder auch verbalen Gefühlsausdrucks und der zugrunde liegenden inneren, emotionalen Situation einer Figur (Smith 1995: 169). Zu Beginn der Analyse einer Charakterkonstruktion muss nach Smith zunächst folgende Frage geklärt werden: „Whether and to what degree the film licenses our habitual practice of inferring interiour states from external expressions and gestures, given the peculiar nature of performance in the film.“ (ebd.: 180) Um die figurenbezogenen Informationen der moments of expression in Bedeutungen für das paradigm of trait übersetzen zu können, muss evaluiert werden, ob das Innenleben einer Figur analog zu ihrem körpersprachlichen Ausdruck inszeniert ist oder ob die innere Befindlichkeit der Figur nur indirekt über die schauspielerische Gestik und Mimik bzw. über verschlüsselte Hinweise angedeutet wird. Für die Beschreibung der Gestaltung des Innenlebens einer Figurenkonstruktion mithilfe eines repressive truth schema muss das erzählerische Geflecht von Ursache und Wirkung verstärkt als Erklärungsraster zu Hilfe genommen werden. Im Folgenden werden die Phasen bei der Konstituierung eines paradigm of trait beschrieben. Dabei verdeutlicht sich im Überblick, aufgrund welcher Gestaltungselemente im filmischen Material der Zuschauer die verschiedenen Rasterpunkte des paradigm of trait mit Bedeutung belegt. Der erste Schritt im Aufbau des paradigm of trait ist die Wahrnehmung der Gestaltungselemente, die der Zuschauer in eine rapid characterization übersetzt. Beim ersten Auftreten einer Figur werden dabei Annahmen über Wesensart und Charakter aufgrund der äußeren Erscheinung und der unmittelbaren szenischen Umgebung der Figur gebildet. Schematisierte Hypothesen über person-types und role-types bilden hierbei Rasterpunkte des paradigm of trait. Ebenso werden bereits Eindrücke der ersten Handlungen und Interaktionen der Figur auf der Basis schematisierter Vorannahmen in mögliche charakterliche Eigenschaften und Wesensarten, Interessens- und Motivationslagen der Figur übersetzt.
Abbildung 3: Bildung des paradigm of trait Phase I 74
Im weiteren Rezeptionsverlauf leistet der Zuschauer beständige Formulierungsarbeit in Form des process of nomination und konstruiert dabei im Vergleich zum ersten Entwurf des paradigm of trait eine komplexere Charakterkonstruktion. Handlungen und Verhaltensweisen der Figur werden als moments of expression evaluiert und in Aspekte von Charakter und innerem Erleben der Figur übersetzt. In dieser zweiten Phase der Generierung des paradigm of trait werden drei verschiedene Kategorien filmischer Inszenierungsstrukturen als moments of expression für die Figurenkonstruktion evaluiert. Zum einen entnimmt der Zuschauer den Interaktionen innerhalb der Handlungsrollen, welche eine Figur verkörpert, Hinweise auf Charakterstruktur und inneres Erleben der Figur. Im Vergleich zwischen den schematisierten Annahmen verschiedener Handlungsrollen und dem konkreten Agieren der Figur in diesen Rollen formuliert der Zuschauer Beschreibungen für Motivationen und Charakterzüge der Figur. Eine zweite Quelle für die Beschreibung von Charakter und Innenleben einer Figur etabliert sich über die schematisierten Emotionsstrukturen, die hypothetisch den einzelnen Interaktionen einer Handlungsrolle zugrunde liegen können. Im Rückgriff auf die Ergebnisse des fortgesetzten Vergleichs zwischen den schematisierten emotionalen Prozessen einer Handlungsrolle und den tatsächlichen Handlungsweisen der Figur in dieser Rolle formuliert der Zuschauer weiter an seinem mentalen Modell des Charakterprofils. Die dritte Kategorie filmischer Strukturen, die als moments of expression vom Zuschauer interpretiert werden, besteht aus dem direkt sichtbar inszenierten emotional-affektiven Ausdruck des Schauspielers, der eine Figur verkörpert. Auf der Basis dieser Informationen ergänzt der Zuschauer sukzessive das paradigm of trait.
Abbildung 4: Bildung des paradigm of trait und des process of nomination Phase II 75
Die Analyse der Darstellungsmuster für das emotionale und affektive Erleben der Figur erfolgt mittels des Definitionsmodells des acentral und des central imagining (Smith 1995: 76-81, 96, 98, 102, 236). Das Gefühlsleben der Figur ist zu manchen Teilen über den direkten physischen Ausdruck und zu anderen Teilen über den situativen Kontext bzw. die filmische Gestaltung von Handlung und Kontext inszeniert. Der Zuschauer evaluiert diese Informationen durch mimicry oder durch emotional simulation (Smith 1995: 103), d. h. entweder über ein direktes körperliches Echo emotionaler Affekte oder über Emotionen, die als Folge von Verstehensleistungen empfunden werden. Dieser kognitive Prozess geschieht nach Gordon auf folgende Weise: „we do not lose ourselves in the other but imagine possessing certain predicates of the other (...) simulate predicates of the other: beliefs, desires, emotions“ (Gordon 1987 nach Smith 1995: 97). Mittels des affective mimicry und der emotional simulation evaluiert der Zuschauer die filmischen Gestaltungsstrukturen, die ihm Hinweise auf zentrale Aspekte des Innenlebens einer Figur geben. Über den process of nomination fließen die dabei generierten Vorstellungen des Zuschauers in die weiteren Aggregatzustände des paradigm of trait ein.
Abbildung 5: Bildung des paradigm of trait und des process of nomination Phase III Die im ending eines Films präsentierten Informationen über die Figur vergleicht der Zuschauer mit der Konstruktion der bisher aufgebauten Charakterstruktur und fügt die figurenbezogenen Informationen zu einer endgültigen Form des paradigm of trait zussammen.
76
Abbildung 6: Endgültige Version des paradigm of trait und des process of nomination Die beschriebenen Untersuchungsinstrumentarien ermöglichen es, strukturelle Prozesshaftigkeit und Veränderung in den Gestaltungsparametern von Charakterkonstruktion und Innenleben einer Figur auf drei Wegen zu untersuchen. Wenn die zentrale Figur beginnt, „anders“ zu handeln als zu Beginn der Erzählung inszeniert, wenn in den Interaktionssituationen „anderes“ geschieht, wenn die Figur dabei „anders“ fühlt und reagiert, zeigen sich darin die Entwicklungsstufen der intrapersonellen Wandlung. Für die Untersuchung der Konfigurationsmuster in einer Charakterstruktur und darin aufgebaute prozesshafte Veränderungen bietet Branigans Ansatz einen Begriff, der in Ergänzung zu Chatmans paradigm of trait im Rahmen der Analysen dieser Studie von zentraler Bedeutung ist. Nach Chatman entwickelt der Zuschauer während seiner Figurenrezeption über den process of nomination „the exact combination of trait names to sum him [the character] up.“ (Chatman 1978 [1993]: 134) Über die Gestaltungsstrukturen und Verknüpfungen innerhalb dieser combination of traitnames wird von Chatman kein Erklärungsmodell gebildet. Für die Beantwortung der Forschungsfrage ist es jedoch von hoher Relevanz, den strukturellen Aufbau der Charakterkonstruktion beschreiben zu können, da sich darin Visualisierungsmuster der intrapersonellen Wandlung manifestieren. Branigans Verständnis der list of traits bietet hier ein geeignetes methodisches Instrumentarium. Basierend auf der Literaturtheorie geht Branigan dabei von folgender Grundannahme aus: „A list of personality traits in a novel helps define a ‚character‘.“ (Branigan, 1992: 19) Branigan bezeichnet diese list of personality traits als eigene Form erzählerischer Datenorganisation und definiert sie als „catalogue – collecting objects similarly related to a ‚center‘“ (ebd.). In einer filmischen Erzählung, die in ihrem Verlauf die charakterliche Wandlung der Hauptfigur schildert, ist davon auszugehen, dass die list of traits und deren thematisches Zentrum grundlegende Veränderungen aufweisen. Nach Chatmans 77
Modell muss sich das Phänomen einer charakterlichen Wandlung als Entwicklungsmuster in der Konstruktion des paradigm of trait manifestieren. Nach Branigan kann sich dieses prozesshafte erzählerische Geschehen über strukturelle Veränderungen der list of traits und deren Zentrum manifestieren. Bei den Analysen im Rahmen dieser Studie werden nach den Untersuchungsergebnissen auf Basis des paradigm of trait eine solche list of traits aufgestellt und das entsprechende thematische Zentrum darin benannt. Bei der Analyse wird herausgearbeitet, ob sich während des Filmverlaufs das einmal etablierte Zentrum der list of traits hin zu einem neuen Kern verändert. Nach Branigans Verständnis müsste hierbei ein neues Bezugssystem zwischen allen Charakterzügen der list of traits entstehen. Durch den Wandel des thematischen Zentrums, mittels dessen traits zueinander in Beziehung stehen, verändern sich zum einen die Ausrichtung einzelner traits und zum anderen auch die Bedeutungszusammenhänge zwischen traits. Für die Untersuchung der Fragestellung werden nach Branigans Modell vor allem die in Konflikt zueinander stehenden Charakterzüge und die widersprüchlichen Persönlichkeitseigenschaften in einer Charakterkonstruktion in ihrem Bezug zum thematischen Zentrum beobachtet. Erforscht wird die Relevanz von Veränderungsprozessen und Neukonstellationen innerhalb der Strukturen der list of traits als Visualisierungsmuster der charakterlichen Wandlung. Branigan verdeutlicht in seiner Beispielanalyse des Films The Girl and her Trust (ebd.: 28 f.), dass sich die psychische Entwicklung innerhalb der Strukturen einer Charakterkonstruktion vor allem über Veränderungen der Konstellationen von conflicting and contradictory traits manifestiert. In diesem Zusammenhang einer Figurenkonstruktion entwickelt Branigan den Begriff des deeper schema (ebd.: 31). In der Definition dieses filmgestalterischen Phänomens von Figuren bezieht sich Branigan auf das Modell der klassischen Erzählstrukturen im Hollywoodfilm. In diesen Erzählungen ist das Feld der konflikthaften Ereignisse zwischen den verschiedenen Protagonisten aufgebaut. Die Konflikte entstehen dabei durch die widersprüchlichen und unvereinbaren Ziele, Bedürfnisse und Persönlichkeiten der einzelnen Figuren. Während der erzählerischen Entwicklungen verändern sich in diesen Geschichten Schritt für Schritt die Dynamiken der konflikthaften Konstellationen zwischen den Figuren bis zu einer Lösung (Bordwell/Thompson 1986: 289). Der im deeper schema etablierte Widerstreit kann zwei unterschiedliche Ursachen haben. Zum einen können Charakterzüge und emotionales Erleben von Widersprüchlichkeit gekennzeichnet sein, zum anderen kann eine Figur zwei Ziele verfolgen, die nicht gut vereinbar sind (Branigan 1992: 31). Hierdurch entsteht nach Bordwell ein double causal schema (Bordwell/Thompson 1986: 289) mit widerstreitenden Handlunsgmotivationen. Bei der Schilderung einer intrapersonellen Wandlung befindet sich das Hauptkonfliktfeld der Erzählung innerhalb der Figurenkonstruktion und der Elemente des Innenlebens einer Figur. Das deeper schema bildet sich hier nicht in den äußeren 78
Bezügen zwischen verschiedenen Figuren ab, sondern manifestiert sich in der Charakterkonstruktion und über die Motivationen, Ziele und Gefühle einer einzelnen Figur. Die Inszenierung widersprüchlicher Handlungen und Empfindungen einer Figur gibt Hinweis auf dieses deeper schema. Dieses Bezugssystem widersprüchlicher traits entsteht durch die Konfiguration widerstreitender Charakterzüge und Eigenschaften, die sich über Interaktionen in den verschiedenen Handlungsrollen der Figur ausdrücken. Die Emotionsstrukturen und Interessenlagen innerhalb der Rollen können im Widerspruch zueinander und zu den zentralen Eigenschaften der Charakterisierung stehen (Mikos 2003: 164 ff.). Widersprüchliche Charakterzüge, Ziele, Bedürfnisse und Impulse bilden dabei meist paarweise Zusammenhänge. Diese Bezüge zeigen sich entweder in Form einer double motivation, „a character who has two motives to do something” (Branigan 1992: 30), oder das deeper schema etabliert sich in Form von widerstreitenden Gefühlen, die als Reaktionen auf bestimmte Situationen entstehen.
3.4 Analyseperspektive des PKS-Modells: Prozesshaftigkeit in der Figurenkonstruktion Wuss orientiert sich in seinen theoretischen Überlegungen zur Figur und Charakterkonstruktion sehr nahe an Aristoteles. Dementsprechend betrachtet er die Handlungen eines Protagonisten als die wichtigsten Elemente einer Erzählung. Wuss geht davon aus, dass sich die Beschreibung von Charakter und Persönlichkeit einer Figur aus ihren Handlungen und Verhaltensweisen ableiten lassen muss (Wuss 1993: 109). Auch in Wuss’ Überlegungen zu Plot- und Figurentypen wird eine Orientierung an Aristoteles erkennbar (ebd.: 134 ff. und 384). Zur Definition und Analyse der Figurenkonstruktion selbst entwickelt Wuss zwar kein eigenes Theoriemodell, das etwa vergleichbar wäre mit dem der sozialen Handlungsrollen, dem des paradigm of trait oder der list of traits; dennoch bietet die definitorische Systematik seines PKS-Modells ein methodisches Instrumentarium, das zur Analyse der Gestaltungsmuster in einer Figurenkonstruktion gut geeignet ist. Wuss geht von der grundlegenden Annahme aus, dass bei Eintreten einer Figur in interpersonelle soziale Interaktionen der Zuschauer auf dieser Basis komplexe Hypothesen über deren Handlungsmotivationen, innere Gestimmtheiten und emotionales Erleben generiert. Jedoch entwickelt Wuss für die Bewusstseinsvorgänge im Rahmen dieser Hypothesenbildung keine begrifflich systematisierten Modellannahmen, wie es Smith, Chatman, Geraghty, Branigan und Mikos tun. Mittels des Kategorienrasters des PKS-Modells können jedoch bestimmte Aspekte von Prozesshaftigkeit in der Konstruktion einer Figur erforscht und beschrieben werden, die wiederum über die Begriffsmodelle der anderen Theorien nicht herauszuarbeiten sind. Wuss’ 79
Vorgehensweise ist mit Fokus auf eine Figurenanalyse zwar wesentlich einfacher und gröber strukturiert als die von Smith, Chatman, Geraghty, Branigan und Mikos, aber gerade deshalb kann sein Modell als Prüfinstrumentarium der Analyseergebnisse fungieren, welche mittels dieser anderen Methoden am Material erarbeitet wurden. Für die Analyse einer Figurenkonstruktion geht Wuss direkt von den drei Basisbegriffen seines Modells aus, den drei Kategorien filmischer Strukturebenen, der perzeptions-, konzept- und stereotypgeleiteten Ebene, und den entsprechenden Verstehens- und Lernleistungen des Zuschauers, die dadurch ausgelöst werden (Wuss 1993: 12 und 46 ff.). Im Rahmen der Analyse einer Figurenkonstruktion wird untersucht, welche der figurenbezogenen Gestaltungselemente welcher der drei Strukturebenen zugeordnet sind. Eine Charakterkonstruktion kann zum einen rein durch die Darstellung von Verhaltensweisen der Figur dargestellt werden und wird vom Zuschauer durch Wahrnehmungslernen verstanden und nachvollzogen. Die visuellen Gestaltungsmuster der Figurenkonstruktion sind hierbei überwiegend als Elemente auf der perzeptionsgeleiteten Strukturebene gelagert. Zum zweiten können sich Persönlichkeit und Wesensart einer Figur durch die kausalen Zusammenhänge einer Erzählung und den damit verknüpften Handlungen dieser Figur etablieren. Die Figurenkonstruktion vollzieht der Zuschauer hier auf Basis der erzählerischen Ursache- und WirkungsZusammenhänge nach. Diese Erzählstrukturen werden mittels kognitiver Prozesse auf der Ebene des logischen Denkens verstanden. Dabei werden, orientiert an den wahrgenommenen figurenbezogenen Handlungszusammenhängen, mentale Muster über Bedeutungszusammenhänge aus Alltag und Kunstrezeption aktiviert und als Wahrnehmungsraster für die Figurenkonstruktion eingesetzt. Eine dritte Art der Figurenkonstruktion entsteht durch den Einsatz stereotyper, klischeehafter Handlungen der Figur, welche auf der Basis typisierter Handlungssituationen und Personentypen aufgebaut sind. Der Zuschauer aktiviert während der Wahrnehmung solcher stereotypisierter Anteile einer Figurenkonstruktion Schemata mit gebündelten, festgefügten Bedeutungszusammenhängen. Zum einen vollzieht der Zuschauer hier Aspekte von Charakter und Gefühlsleben der Figur auf der Basis kulturell kanonisierter, stereotyper Annahmen über menschliches Handeln und Fühlen in bestimmten Situationen des Alltagslebens nach. Zum anderen findet eine Orientierung des Figurenverstehens anhand von Schemata stereotypisierter Repräsentationen fiktiver Figuren, die in anderen Erzählungen wahrgenommen wurden, statt. Auf der perzeptionsgeleiteten Ebene sind figurenbezogene Informationen in Form von „homologen Reihen“ (Wuss 1993: 57 f., 121, 219, 251) etabliert, d. h. zunächst ohne festgefügten erzählerischen Kontext oder deutlichen kausallogischen Sinnbezug. Es werden dabei Handlungen und Verhaltensweisen der Figur präsentiert, die vom Zuschauer als solche registriert werden, jedoch ohne eine Zurodnung 80
zu bestimmten erzählerischen Kontexten, Handlungs- und Rollenschemata oder Typisierungen. Auf der Gestaltungsebene der perzeptionsgeleiteten Strukturen können auf diese Weise Aspekte von Charakter und Innenleben einer Figur präsentiert sein, die sich als beginnende neue Tendenzen in einer Figurenkonstruktion manifestieren und in ihrer Entwicklung noch nicht in klar benennbare traits übersetzt werden können. Nach Wuss werden vor allem über Elemente in der Tiefenstruktur die Charakterkonstruktionen von Figuren aufgebaut (Wuss 1986: 17 ff., 70, 75 ff., 126). Der Zuschauer behält diese handlungsbasierten, figurenbezogenen Informationen im Gedächtnis und sucht im folgenden Verlauf der Geschichte nach ähnlichen und dazu passenden Informationen. Die kontinuierliche Suche nach solchen Elementen, deren Wahrnehmung und eine entsprechende Fortsetzung einer Hypothesenbildung kann über lange Strecken des Filmverlaufs beim Zuschauer latent aktiv bleiben. Im Gegensatz zu diesen Andeutungen über Charakter und Persönlichkeit einer Figur durch Informationselemente auf der perzeptionsgeleiteten Ebene können über Handlungen und Verhaltensweisen eines Protagonisten auf der konzeptgeleiteten Ebene deutliche Einblicke in Charakterzüge und Wesensart einer solchen Figur etabliert sein. Nach Wuss kann eine Charakterkonstruktion hierbei mit „großer Plastizität“ (Wuss 1993: 219) ausgestaltet sein. Die Ziele, Interessenlagen, Handlungsmotivationen und Verhaltensweisen dieser Figuren erklären sich über deutliche Zusammenhänge mit dem inhaltlichen Gesamtkontext einer Geschichte. Das heißt, Handlungen und Erleben einer Figur erklären sich aus den erzählerischen Zusammenhängen der cause-effect chain. Die Inszenierung von stereotypisierten Handlungs- und Erlebnisweisen einer Figur hingegen weist in vielen Bedeutungsaspekten über den direkten Handlungskontext hinaus und bindet dadurch Bündel kanonisierter Sinnzusammenhänge in die Figurenkonstruktion mit ein. Über solche figurenbezogenen Elemente auf der stereotypgeleiteten Ebene können stereotype Charakterzüge bestimmter Persönlichkeitstypen aufgebaut sein. Zumeist bewegen sich Charakterkonstruktion und Handlungsweisen solcher Figuren innerhalb stereotypisierter Schemata verschiedener sozial bedingter oder genredefinierter Figuren- und Plottypologien. Wuss definiert entsprechend einer Charakterkonstruktion über Elemente auf den drei Strukturebenen drei Grundarten von Figurenhandlungen, deren Repräsentationen jeweils auf den verschiedenen Strukturebenen situiert sind. Über diese Handlungen einer Figur kann sich ihre Konstruktion erstens über nur angedeutete charakterliche Eigenarten, zweitens über deutlich erkennbare charakterliche Züge und drittens über eine Typisierung etablieren. Auf der perzeptions-geleiteten Strukturebene sind Handlungen einer Figur situiert, die in beiläufiger Beobachtung alltägliches Tun und die Verhältnismäßigkeiten dieser Handlungen präsentieren. Auf der konzeptgeleiteten Ebene werden Handlungen und Verhaltensweisen einer Figur dargestellt, die in Bezug auf 81
die Ursache- und Wirkungs-Zusammenhänge der erzählerischen Situationen eine eindeutige Zielrichtung haben. Handlungen einer Figur, welche „klischeehafte Aktionen“ oder „Routinehandlungen“ (Wuss 1993: 220) darstellen, sind auf der stereotypgeleiteten Ebene gelagert. Die Analyse der Implementierung figurenbezogener Informationen auf den drei Strukturebenen einer konkreten Erzählung lässt ein bestimmtes Verteilungsprofil erkennen. Mittels dieses Verteilungsprofils wird es möglich, darzustellen, über welche Gestaltungselemente auf den drei Strukturebenen Charakterzüge, Emotionen, Stimmungen etc. der Figur repräsentiert sind. Anhand dieses Profils wird ebenfalls erkennbar, welche gestalterischen Dynamiken zwischen den einzelnen Strukturebenen in Bezug auf die darin enthaltenen Elemente der Figurenkonstruktion aufgebaut sind. Im Spiegel des Verteilungs- und Verlaufsprofils der figurenbezogenen Gestaltungselemente kann beschreiben werden, mittels welcher Prinzipien diejenigen Charakterzüge, Motivationen und Impulse der Figur inszeniert sind, welche den Kern der charakterlichen Entwicklung darstellen. Die Gestaltungsmuster einer Figurenkonstruktion, welche innerhalb der drei Strukturebenen prozesshafte Veränderungen aufweisen, können herausgearbeitet werden. Aus Wuss’ Ausführungen zur Figurenkonstruktion ist zu entnehmen, dass die figurenbezogenen Elemente auf der perzeptionsgeleiteten Strukturebene eine besondere Relevanz für die Vermittlung phasenweiser Dynamik und Entwicklung im Prozess einer charakterlichen Wandlung besitzen (Wuss 1993: 215). Im Rahmen der vorliegenden Studie wird daher besondere Aufmerksamkeit darauf gelegt, wie sich die Gestaltung figurenbezogener Informationen auf dieser Strukturebene darstellt. Nach Wuss ermöglicht dem Zuschauer die Präsentation figurenbezogener Informationen auf der perzeptionsgeleiteten Ebene eine „Reflexion über das Persönlichkeitsprofil eines Helden und dessen Möglichkeiten zu einem Wandel.“ (ebd.) Eine solche Figurenkonstruktion auf der Ebene der „Tiefenstruktur hilft dem Zuschauer sich über ein Menschenbild bewußt zu werden“ (Wuss 1986: 90). Über den Aufbau einer Figurenkonstruktion auf der perzeptionsgeleiteten Ebene können neue Möglichkeiten für Entwicklung und Veränderung von Charakter und Persönlichkeit präsentiert werden, welche der Zuschauer durch Verstehensleistungen des Wahrscheinlichkeitsle rnens als gänzlich innovative Perspektiven nachvollziehen kann. Als Beleg für Charakterkonstruktionen über Elemente auf der perzeptionsgeleiteten Ebene führt Wuss neben Anlaysen von Filmen u.a. Tchechows Dramatik an. Nach Wuss vollziehen sich die Handlungen in den Dramen dieses Schriftstellers oftmals auf zwei Ebenen: „Scheinbar Belangloses geschieht [… es] fließt eine ‚Unterströmung‘, die das eigentlich Bedeutsame des Dramas darstellt (...) untergründiges Geschehen [tritt] hervor.“ (Wuss 1986: 261) „Das Unausgesprochene“ (ebd.: 262), das als „Unterströmung“ der Handlungsereignisse dargestellt wird, teilt sich über eine Reihung 82
bestimmter Verhaltensweisen und interpersoneller Interaktionen zwischen den Figuren mit. Bei solcherart Informationsgabe über die perzeptionsgeleitete Ebene sieht Wuss ein besonders hohes Potenzial für die Vermittlung von Ungewöhnlichem und Neuem, von ungeahnten Alternativen und sich dynamisch entwickelnden Veränderungen. Nach Wuss erachtet der Zuschauer konflikthafte Konstellationen innerhalb einer Figurenkonstruktion als inhaltliche Faktoren, welche eine zentrale Bedeutung für den Gesamtverlauf und die Auflösung einer Geschichte haben. Ist das zentrale konflikthafte Feld in einer Erzählung über Widersprüchlichkeiten und Konflikte in der Charakterkonstruktion einer Figur etabliert, so evaluiert der Zuschauer Elemente von Wesensart und Innenleben der Figur als zentrale erzählerische Informationen für den Entwicklungsgang der Geschichte zur Auflösung der konflikthaften Konstellationen, „Evokationen, die aus dem Figurenverhalten hervorgehen, sind voller Gegensätze“ (ebd.: 250 f.), und hierüber etabliert sich das konflikthafte Spannungsfeld innerhalb einer Charakterkonstruktion. Für den Aufbau von Gegensätzen und widersprüchlichen Anteilen innerhalb einer Figurenkonstruktion können Elemente auf allen drei Strukturebenen eingesetzt sein, so zum Beispiel ein „wechselnder Gestus des Geschehens“ auf der perzeptions- oder konzeptgeleiteten Ebene oder auch „wechselnde Genreund Stilvorstellungen“ auf der konzept- oder stereotypgeleiteten Ebene (ebd.: 250). Es kann folglich davon ausgegangen werden, dass die figurenbezogenen Elemente innerhalb eines deeper schema, gekennzeichnet von fehlender Vereinbarkeit und Widerstreit, vom Zuschauer während der Rezeption einer Geschichte über einen intrapersonellen Wandlungsprozess mit erhöhter Aufmerksamkeit wahrgenommen werden. Bestimmte traits, habits, motivations, goals und desires, die durch konflikthafte Konstellationen und Kollisionen gekennzeichnet sind, werden vom Zuschauer als teleologische Elemente einer solchen Erzählung evaluiert. Bei den Analysen der Beispielfilme gilt es daher vor allem, diese in Widerspruch zueinander stehenden Aspekte einer Charakterkonstruktion und die prozesshaften Veränderungen in den Gestaltungsmustern dieser Elementkonstellationen zu erforschen. Im Vergleich der Veränderungsdynamiken in der Elementrepräsentation auf den drei filmischen Strukturebenen mit den moments of expression in den verschiedenen Aggregatzuständen des paradigm of trait und den konflikthaften Bezügen innerhalb der list of traits lässt sich herausstellen, ob die verschiedenen Untersuchungsergebnisse über den phasenweisen Verlauf der charakterlichen Wandlung und die Benennung der zentralen Gestaltungsstrukturen dieser Repräsentationen einander entsprechen.
83
Teil II Filmanalyse und Ergebnisse 4. Gesamtmodell: Forschungsdesign und Analyseraster
Die Bearbeitung der zentralen Forschungsfrage dieser Studie ist in zwei große thematische Blöcke und darin wiederum in mehrere Teilfragen aufgefächert: Im ersten der beiden Blöcke werden die aufgestellten Hypothesen zur Visualisierung charakterlicher Wandlungsprozesse mittels methodischer Untersuchungen auf der Grundlage narrationstheoretischer Modelle überprüft. Analyseinstrumentarien aus Theorien zur Konstruktion von Figuren werden für die Beantwortung der zweiten thematischen Gruppe von Hypothesen eingesetzt. Im Folgenden werden die narrationstheoretisch fundierten Analyseschritte und die an Theorien zur Figur orientierten Untersuchungsoperationen zusammenfassend dargestellt. Die Themen und Teilfragen der eigenen Forschungshypothesen werden dabei kurz beschrieben und die für ihre Beantwortung am filmischen Material eingesetzten Analyseinstrumentarien jeweils zugeordnet. Bei der Diskussion der ersten Teilfrage werden die wesentlichen Momente der intrapersonellen Entwicklung und die zentralen Wandlungsschritte im Erzähltext des Films herausgearbeitet. Durch Benennung der kernels und satellites (Chatman 1978 [1993]: 53 ff.) und die Analyse der Strukturen der erzählerischen cause-effect chain (Bordwell/Thompson 1986: 83 ff.) lassen sich die Hauptstränge der Handlung mit dem Fokus auf dem intrapersonellen Wandlungsgeschehen innerhalb der Geschichte beschreiben. Mit Hilfe des narrative schema (Branigan 1992: 14 ff.), das auf den Verlauf der Haupthandlung angewendet wird, wird die Zuordnung der einzelnen Handlungsbausteine zu den unterschiedlichen Stationen dieses Rasters verdeutlicht. Zudem können in diesem Untersuchungsschritt die goals (Bordwell/Thompson 1986: 90 ff., Branigan 1992: 14 ff., Mikos 2003: 155 ff.) der agierenden Charaktere, insbesondere der Hauptfigur, benannt werden. Nach der Beschreibung dieser Aspekte wird eine erste Untersuchungsfrage nach prozesshaften Gestaltungsphänomenen innerhalb der erzählerischen Konstruktion an das filmische Material herangetragen. Hierfür werden die Konstruktion der kernels und satellites bzw. die Elemente der cause-effect chain unter der Analyseprämisse der fünf formalen gestalterischen Prinzipien (Bordwell/Thompson 1986: 35 ff.) betrachtet. Dabei wird deutlich, welche Reihungen und Verknüpfungsarten der Hand85 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
lungsereignisse innerhalb des Erzählverlaufs vorhanden sind, so dass die Repräsentation prozesshafter Veränderung innerhalb dieser formalen Gestaltungsstrukturen des erzählerischen Materials in Verkettungen, parallelen Folgen, Reihungen und Entwicklungssequenzen beschrieben werden kann. Die Beschreibung der Strukturen innerhalb der erzählerischen Konstruktion der Geschichte bildet die Basis zur Bearbeitung eines nächsten Teilaspekts der Forschungsfrage: In den Gestaltungsstrukturen gemäß der fünf formalen Prinzipien verdeutlichen sich in der Verflechtung der Handlungselemente bestimmte inhaltliche Zusammenhänge und Ereignisverläufe, welche über die Bedeutungswandlungen eines initial term (Branigan 1992: 5 f.) beschrieben werden können. Im Rahmen der Studie wird davon ausgegangen, dass bei der Benennung des initial term und der Analyse seiner fünf Bedeutungstransformationen eine unmittelbare Äquivalenz zu Sinn, Bedeutung und Entwicklung des charakterlichen Wandlungsprozesses beschrieben werden kann. Das zentrale erzählerische Moment einer Geschichte erfährt dabei wiederholte Transformationen von Bedeutungen und Sinnbezügen. In diesem Untersuchungsschritt können Entsprechungen des prozesshaften Geschehens zur stufenweisen Veränderung innerhalb der inhaltlichen Bedeutungsbildung des charakterlichen Wandlungsprozesses beschrieben werden. Eine nächste Teilfrage der Studie beschäftigt sich mit der Gestaltung der Zeitdarstellung und des Wissensflusses in den filmischen Erzählungen. Hierbei wird untersucht, ob in den Strukturen des filmischen Materials prozesshafte Phänomene festgestellt werden können, die in Bezug zum charakterlichen Wandlungsgeschehen stehen. Die Analyse der zeitlichen Erzählfolge und der Situierung der wesentlichen Wandlungsmomente im Verlauf der proairetischen bzw. hermeneutischen Linie (Thompson 1995: 56) erlaubt Rückschlüsse darauf, ob diese filmischen Gestaltungsmittel eine besondere Relevanz für die Darstellung charakterlicher Wandlung haben. Im Vergleich des zeitlichen Aufbaus der cause-effect chain während des Filmverlaufs mit dem Gerüst einer retrospektiven Rekapitulation der Geschichte werden Manipulationen und Strategien zur Gestaltung von Zeit- und Wissensfluss deutlich, die in der Schilderung von Veränderungsstufen einer intrapersonellen Wandlung eingesetzt werden. Als nächster Teilaspekt werden in den ausgewählten Filmbeispielen die Inszenierungsweisen des filmischen Blicks und die dabei vermittelten Erzählpositionen analysiert, sowie die Zeigefunktionen der Kamera und die Inszenierungen der wissensgebenden Instanzen in der filmischen Darstellung des Wandlungsgeschehens herausgearbeitet. Prozesshafte Gestaltungsmuster bei der Verwendung und im Wechselprofil der levels of narration (Branigan 1992: 86 ff.) werden als Ergebnisse dieses Analyseschritts beschrieben. Die Klärung der Frage, über welche spezifischen Blickpositionen die zentralen Wandlungsmomente präsentiert werden, bzw. von welcher Art die vom Zuschauer dabei imaginierte Wissensquelle ist, ermöglicht 86
die Beschreibung narrativer Gestaltungsphänomene, die bei der Visualisierung der charakterlichen Wandlung von Relevanz sind. Ebenso werden die Einsatzweise von POV (Branigan 1992: 100 ff. und Branigan 1984) und die Verwendung von less or more powerful levels of narration (Branigan 1992: 165 ff.) auf ihre Relevanz bei der Visualisierung dieser charakterlichen Wandlung hin untersucht. Eine gänzlich neue Untersuchungsperspektive wird unter Anwendung des PKSModells (Wuss 1993) auf das filmische Material gewählt. Die Ergebnisprofile, die mit Hilfe dieser Analysemethode erarbeitet werden können, dienen bei der Beantwortung der Forschungsfrage sowohl als Vergleichsraster wie auch als Prüfinstrumentarium für eine Reihe von Analyseergebnissen, die mittels anderer methodischer Operationen am filmischen Material herausgearbeitet werden. Dabei wird untersucht, wie die erzählerischen Handlungselemente in den zentralen Wandlungsphasen auf die drei verschiedenen filmischen Strukturebenen verteilt sind. Es zeichnet sich durch die Inszenierungsweisen der handlungsbasierten Elemente ein bestimmtes Verteilungsprofil der Informationen über die intrapersonellen Veränderungsstufen auf der perzeptions-, der konzept- und der stereotypgeleiteten Ebene ab (Wuss 1993: 12 ff.). So kann die Größe des Innovationspotenzials (Wuss 1993: 99 ff.), d. h. der Wirkung der Erzählung, benannt werden. In diesem Untersuchungsschritt wird deutlich, ob sich für die Beispielfilme ähnliche oder verschieden große Innovationspotenziale beschreiben lassen. Im Rahmen der narrationstheoretischen Analyseschritte wird nun ein Vergleich zwischen dem Profil von Einsatzhäufigkeit und Wechsel der drei Strukturebenen und dem Profil der Verwendung und Wechsel der levels of narration erstellt. Explizit wird in den Theorien eine besondere Wirksamkeit der Gestaltungsphänomene des Wechsels von Strukturen und Mustern auf den Rezeptionsprozess und die Sinnbildung konstatiert. Daher wird im Rahmen dieser Studie davon ausgegangen, dass gerade solche Gestaltungsmuster des charakterlichen Wandlungsprozesses zentrale Relevanz haben, welche durch Wechselprofile gekennzeichnet sind. Das nächste große Forschungsfeld bei der Beantwortung der zentralen Frage dieser Studie ist die gegenständliche Dreidimensionalität des Filmbildes. Die szenischen Räume, die Ausstattung und die Kostüme werden dabei in ihrer Ausgestaltung untersucht, wobei sich die Analyse dieser visuellen Elemente in mehrere Schritte aufteilt: Zunächst wird der Aufbau des räumlichen Systems der Handlungsschauplätze untersucht. Im Ergebnis lässt sich die Abfolge der szenischen Bewegungen mit der dabei entstehenden Verknüpfung der Orte als eine Landkarte der Geschehnisse darstellen. Diese dreidimensionale Konstruktion wird mit den inhaltlichen Entwicklungsstufen innerhalb der charakterlichen Wandlung verglichen. Darin erkennbar werdende Bezüge können als Bausteine der Visualisierung des Wandlungsprozesses beschrieben werden. In einem nächsten Teilschritt werden die Bedeutungsverknüpfung zwischen Schauplatz und szenischer Situation der Hauptfigur untersucht und die bedeutungs87
gebenden Funktionen der Szenenbilder in Bezug zur Veränderung der Hauptfigur benannt. Anschließend werden Veränderungen von szenisch zentralen Gegenständen und Kostümen betrachtet. Dabei verdeutlichen sich Korrespondenzen zwischen den Gestaltungsstrukturen dieser Bildelemente und den stufenweisen Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur der Figur. Die Veränderungen in der Ausformung dieser dreidimensionalen Bildelemente werden dabei im Wesentlichen mittels der fünf Kategorien formaler Gestaltungsprinzipien festgestellt und analysiert. Auf der Schnittstelle der Drei- und Zweidimensionalität des Filmbildes liegen die kameratechnischen Gestaltungsparameter einer filmischen Visualisierung. Diese filmischen Mittel werden im Rahmen der Studie in ihrer Verwendung zur Visualisierung der intrapersonellen Entwicklung untersucht. Um die Studie überschaubar zu halten, wird diese Analyseperspektive auf eine beschränkte Auswahl szenischer Momente je Beispielfilmausgerichtet;dieGestaltungsmustervonEinstellungsgrößen,Kameraposition, -winkel und -bewegung werden nur dann aus den Beispielfilmen herausgearbeitet, wenn sich Korrespondenzen zwischen diesen Visualisierungsmustern und bestimmten szenischen Momenten innerhalb des charakterlichen Wandlungsgeschehens erkennen lassen. Zahlreiche kameratechnische Gestaltungsmuster werden auch über Teilaspekte anderer Analyseinstrumentarien herausgearbeitet, so etwa die Mittel der Zeitmanipulation oder auch der levels of narration. Die Gestaltungsmuster bei der Bild- und Tonmontage sind als Teilaspekte der Visualisierung einer filmischen Erzählung aus der Studie ausgegrenzt, da sie über den festgelegten Analyserahmen hinaus eine nicht zu bewältigende Menge an Analyseoperationen erfordern würden. Im zweiten thematischen Hauptteil der Forschungsfrage werden Analysemethoden aus Theoriemodellen zur Figur auf das filmische Material angewendet. Die analytische Bearbeitung der Beispielfilme gliedert sich bei der Untersuchung der Figurenkonstruktion und -inszenierung in drei Hauptperspektiven. Der erste Teilbereich der Figurenanalyse fokussiert die Handlungen der Hauptfigur. Im Verlauf der Erzählung repräsentieren sich im Handeln der Figur ihr Status (Geraghty 1981: 19 ff.; Mikos 2003: 157) und ihre verschiedenen Handlungsrollen (Mikos 2003: 156 ff.) innerhalb der fiktionalen Welt. Diese filmischen Informationsstrukturen rufen beim Zuschauer bestimmte Wissensschemata über Handlungsrollen im real-sozialen oder auch im fiktional-genrespezifischen Kontext und deren Rahmenbedingungen auf. Das Einsatz- und Wechselprofil der Rollenübernahme durch die Figur wird mit den Strukturen der zugrunde liegenden Rollenschemata (Mikos 2003: 156 ff.) verglichen. Dabei wird die jeweilige Varianz bei der Inszenierung der Handlungsrollen im Vergleich zu den zugrunde liegenden Schemata festgestellt. So wird deutlich, welche erzählerischen Verknüpfungen und visuellen Muster in den Handlungsinteraktionen für die filmische Präsentation des 88
charakterlichen Wandlungsprozesses eingesetzt werden. Zudem wird die Einbettung der Handlungsrollen des Protagonisten in das gesamte System von Rollen und Rollentypisierung der übrigen in der Erzählung agierenden Figuren betrachtet. Hierbei lassen sich innerhalb des Figurenprogramms einer Erzählung Analogien und Kontraste mit Fokus auf den zentralen Charakter beschreiben, die verschiedene Anteile des intrapersonellen Veränderungsprozesses sinnhaft spiegeln bzw. einrahmen. Der zweite Komplex analytischer Teilfragen zur Figurenkonstruktion richtet sich noch einmal auf die visuelle Erscheinung von Körperlichkeit und Kostüm der Hauptfigur. Teilweise wurden diese Aspekte bereits auf der Basis narrationstheoretischer Analysemethoden betrachtet. Die Gestaltungsmuster werden nun mit Hilfe methodischer Instrumentarien aus der Theorie zur Figur vertiefend untersucht. So wird beschreibbar, wie über Physiognomie, Kleidung, Gestik und Mimik innere Prozesse und emotionale Impulse, welche die Hauptfigur erlebt, visuell inszeniert sind. Es werden Veränderungen von Gestaltungsmustern und die bedeutungsschaffende Wirkung dieser visuellen Informationen analysiert sowie Interaktionen der Figur mit Gegenständen und die Ausgestaltung der dazu gehörigen Handlungsräume untersucht. In diesem Schritt werden auch visuelle Analogien und Kontraste innerhalb der Gestaltungsmuster der zentralen Figur in Bezug auf die Erscheinungsbilder der anderen Charaktere des gesamten Figurenprogramms betrachtet. Bestimmte Konstruktionselemente verdeutlichen sich dabei in ihrer Funktion als gestalterische Muster in Bezug zur Komposition der Hauptfigur. Diese visuell-gestalterischen Zusammenhänge innerhalb des Figurenprogramms einer Erzählung konstituieren Anteile an der Darstellung der dynamischen Veränderung des zentralen Charakters. Die dritte Frage zur Konstruktion der Figur richtet den analytischen Blick auf diejenigen Gestaltungsphänomene, die den Charakter und das emotionale Innenleben der Figur visualisieren. Um diese filmischen Inszenierungsmittel in den Beispielfilmen beschreiben zu können, werden verschiedene Untersuchungsergebnisse aus den vorangegangenen Analyseschritten zusammengefasst und erneut methodischen Betrachtungen unterzogen. Dabei wird die Frage beantwortet, welche Mittel und Anteile einer Figureninszenierung es dem Zuschauer ermöglichen, im Rezeptionsprozess Persönlichkeitsstruktur und Charaktereigenschaften der Hauptperson benennen zu können. Der Zuschauer konstruiert aufgrund bestimmter filmischer Elemente (Kostüm, Maske, Körpersprache, das Umgehen der Figur mit complicating actions (Branigan 1992: 14 ff.), die Inszenierung der Handlungsrollen, Interaktions- und Emotionsstrukturen (Mikos 2003: 166) u. ä.) das Modell des Charakters einer Figur, dessen unterschiedliche Eckdaten er während des gesamten Filmverlaufs permanent mit den neu gewonnenen Informationen abgleicht. In den exemplarischen Filmanalysen wird erarbeitet, wie auf Basis von bildhaften Prozessen die Dynamik charakterlicher Veränderungen in der Rezeption nachvollzogen wird. 89
Eine letzte Untersuchungsperspektive auf die filmischen Gestaltungsfaktoren der Figur wird mittels des PKS-Modells auf das Material eingenommen. Auch hier dient wiederum der Ansatz von Wuss als Vergleichsraster und Prüfinstrumentarium für die bereits erarbeiteten Untersuchungsergebnisse zur Visualisierung der Charakterkonstruktion. Dabei werden die handlungsbasierten Ausdrucksmomente der verschiedenen Charakteraspekte in ihrer Inszenierungsart den drei Strukturebenen des PKS-Modells zugeordnet. Ein Einsatz- und Wechselprofil dieser filmischen Strukturen wird für jeden Beispielfilm darstellbar. Nach Wuss müsste sich dabei speziell für die perzeptionsgeleitete Ebene eine besondere Funktion in der Schilderung charakterlicher Entwicklung und Veränderung feststellen lassen. Untersucht wird ebenso, ob sich bestimmte Verknüpfungsmuster zwischen den drei Ebenen bei der Schilderung eines intrapersonellen Wandlungsprozesses erkennen lassen. Die letzte Teilfrage zur Figurenkonstruktion ist auf die Gestaltungsmuster in der Charakterkonstruktion gerichtet. Wuss konstatiert ein besonders hohes Potenzial prozesshafter Entwicklung für konflikthaft konstellierte Charakteraspekte einer Figur. Für die Bearbeitung der Forschungsfrage werden diese konflikthaften Konstellationen mittels Branigans Analyseinstrumentarium der list of traits (Branigan 1992: 208 ff.) untersucht. Aufbau und Veränderungsdynamik im Charakterkonstrukt – der Kernvorgang intrapersoneller Wandlung – können dabei benannt werden.
4.1 Sequenzauswahl für die Filmanalysen Die einzelnen Untersuchungsinstrumentarien des beschriebenen Analyserasters verlangen ein jeweils eigenes Vorgehen bei der Auswahl des filmischen Materials, d. h. der Sequenzen aus dem konkreten Werk, das untersucht werden soll: Mit Hilfe einiger Untersuchungsinstrumentarien können nur in dem Fall relevante Ergebnisse erzielt werden, wenn die entsprechenden Gestaltungsaspekte, ihre Strukturen und Dynamiken durch den gesamten Filmverlauf hindurch beobachtet und verfolgt werden. Andere Analysemethoden dagegen erfordern die Beschränkung der zu untersuchenden filmischen Daten auf wenige Sequenzen eines Films, da hierbei sehr komplexe und detailreiche Gestaltungsphänomene betrachtet werden. Es werden daher zwei verschiedene Vorgehensweisen bei der Sequenzauswahl praktiziert. Im Folgenden wird erläutert, welche Analyseergebnisse aus dem Datenmaterial, das sich über den gesamten Filmverlauf erstreckt, gewonnen und welche Erkenntnisse auf Basis ausgewählter Sequenzen erarbeitet werden. Eine generelle Vorstrukturierung des filmischen Materials für die analytische Bearbeitung wird mittels zweier analytischer Methoden durchgeführt: Es handelt sich dabei um den Vergleich der filmischen Gestaltungsparameter im opening und ending 90
(Bordwell/Thompson 1986: 39, 90 f., 117, 263, 303) einer Filmerzählung und den sich dabei verdeutlichenden primacy effect (Bordwell 1985: 38). Grundsätzlich werden bei jedem der acht Beispielfilme die opening- und die ending-Sequenz untersucht. Aufgrund der besonderen Erfordernisse der zentralen Forschungsfrage bietet sich dieses Verfahren für eine erste Teilauswahl des zu untersuchenden Materials an; in dieser Einteilung einer Filmerzählung in drei große Abschnitte, also in opening, ending und den mittleren, großen Erzählabschnitt, spiegelt sich das Grundgerüst einer in Phasen ablaufenden Entwicklung wider. Die lineare Schilderung des Verlaufs eines charakterlichen Wandlungsprozesses lässt sich auf ähnliche Weise in drei Abschnitte gliedern: Der erste Abschnitt beschreibt die Ausgangssituation, den Zustand der Figur und ihrer Persönlichkeit vor Beginn ihrer charakterlichen Veränderung und Entwicklung. Im zweiten Erzählsegment wird die stufenweise Veränderung geschildert und im dritten Abschnitt wird der neue, verwandelte Zustand präsentiert. Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden folglich stets opening und ending eines Films für die Untersuchung ausgewählt, da im Vergleich der filmischen Gestaltung dieser Erzählabschnitte die Veränderungen der Figur in der Differenz zwischen Anfangsund Endzustand klar hervortreten. Der Untersuchung des opening kommt dabei eine äußerst wichtige Bedeutung zu: Im opening wird der Kanon aller im Verlauf des Films eingesetzten Gestaltungsmittel etabliert. Der Aufbau einer solchen charakteristischen Gestaltungsweise in einem konkreten Werk wird von den Neoformalisten als primacy effect (Bordwell 1985: 38) bezeichnet. Die dabei erkennbaren gestalterischen Dominanten geben Hinweise auf mögliche Gruppen und Einzelphänomene innerhalb der Visualisierungsmuster eines Films, bei deren weiterer Verwendung im Filmverlauf sich prozesshafte Veränderungen zeigen können. Es wird geprüft, welche dieser von prozesshaften Strukturen gekennzeichneten gestalterischen Dominanten als relevante Darstellungsmittel des Wandlungsprozesses der Figur gelten können. Eine stufenweise Veränderung filmischer Gestaltungsmuster wird erkennbar in deren ursprünglicher Erscheinungsweise im opening und ihrer Veränderung im ending. So wird deutlich, welche Gestaltungsstrukturen sich gänzlich gewandelt haben und welche Einsatzweisen filmischer Mittel sich nicht mehr ähneln. Die Begrenzung der Länge von opening und ending fällt bei den acht Filmbeispielen sehr verschieden aus und kann nicht kategorisch auf die fixe Minutenzahl einer Filmlaufzeit festgelegt werden; die Bestimmung der Dauer von opening und ending wird vielmehr bei jedem einzelnen Film auf Basis der Analyseergebnisse der erzählerischen Komposition festgelegt. Die Bestimmung des opening orientiert sich dabei an zwei Stationen des narrative schema (Branigan 1992: 13-17, 86, 113-116). Das Ende der Exposition und das Auftreten der ersten konflikthaften Handlung, die in Bezug zur Figur und deren charakterlicher Veränderung steht, wird als das Ende des opening definiert. Bei der Bestimmung des Beginns des ending erfolgt eine Orientierung an resolution und 91
outcome, zwei weiteren Stationen eines Erzählkonstrukts, die im narrative schema definiert sind. Das ending beginnt, wenn die konflikthaften Konstellationen aufgelöst sind, die letzte Entwicklungsphase der charakterlichen Veränderung durchschritten ist und der neue, gewandelte Zustand der Hauptfigur geschildert wird. Um die Phasen der charakterlichen Wandlung der Hauptperson im Hauptteil der Erzählung inhaltlich beschreiben zu können, werden zunächst ausgewählte narrationstheoretisch basierte Analyseinstrumentarien auf den gesamten Filmverlauf angewendet. Hierbei wird jedoch nur der erzählerische Text der Handlung als Ganzes betrachtet, nicht bereits einzelne Aspekte der filmgestalterischen Inszenierung. Die erzählerische Grundstruktur bzw. narrative Komposition der Geschichte wird dabei im Überblick und zugleich mit Fokus auf die Figur analysiert, so dass das inhaltliche Gerüst der Geschichte und die darin eingebettete abschnittsweise Schilderung der charakterlichen Veränderung der Hauptfigur deutlich werden. Die Auswahl der Sequenzen filmischen Materials, welche den vertiefenden Untersuchungsoperationen der Analyse unterzogen werden, orientiert sich an diesem Profil des Wandlungsprozesses bzw. an der Systematik der inhaltlichen Bauform dieses erzählerischen Geschehens. Für die weiteren Untersuchungen werden Sequenzen ausgewählt, die wesentliche Phasen und Momente der charakterlichen Wandlung schildern. In verschiedenen Analyseschritten kann es auch zu Bezugnahmen auf filmische Gestaltungsmomente kommen, die außerhalb der ausgewählten Sequenzen liegen: Dies kann erforderlich sein, um einzelne Verbindungsglieder einer dynamischen Veränderungsfolge im Einsatz bestimmter Gestaltungselemente deutlicher aufzeigen zu können. Die Analyse des räumlichen Systems der Ereignisse wird zunächst mit Perspektive auf den gesamten Filmverlauf erarbeitet. Für eine vertiefende Untersuchung der Raumgestaltung werden daraufhin nur diejenigen Schauplätze ausgewählt, die in einem engen Bezug zur Hauptfigur stehen: An diesen Orten ereignen sich wesentliche, in Zusammenhang mit der intrapersonellen Veränderung stehende Handlungen. In gleicher zweiphasiger Weise erfolgen die Sequenzauswahl filmischen Materials und die Analyse der Gestaltung von körperlicher Erscheinung, Kostüm und Maske der Hauptfigur: Zunächst werden diese filmischen Gestaltungselemente in einer Gesamtschau der Filmerzählung registriert. In den vertiefenden Analyseschritten werden diese visuellen Bausteine der Figur anhand der ausgewählten Sequenzen untersucht. Ebenso werden die Bedeutungsverknüpfungen zwischen Protagonist und szenischem Raum ausschließlich anhand der ausgewählten Sequenzen bearbeitet. Die analytische Anwendung des PKS-Modells und des Analyserasters der levels of narration erfolgt auf gleiche Weise. Die Untersuchung der gestalterischen Kameraarbeit wird nur in den zentralen Momenten der Darstellung von Charakterveränderungen vorgenommen. Beim analytischen Arbeiten mit den Analyseinstrumentarien aus der Theorie zur Figur teilen sich die Untersuchungsperspektiven wiederum auf in solche, die 92
ihre Beobachtung auf den gesamten Filmverlauf ausrichten und andere, die nur auf das filmische Material ausgewählter Sequenzen angewendet werden. Abfolge und Veränderungsverlauf im System der Handlungsrollen müssen zunächst über den ganzen Filmverlauf hinweg festgestellt und beschrieben werden. Ebenso verhält es sich mit der Analyse der Verknüpfungen zwischen den Rollen der zentralen Figur und den Handlungsrollen innerhalb des gesamten Figurenprogramms einer Erzählung. In diesen Analyseschritten werden diejenigen Handlungsrollen erkennbar, deren Inszenierung die wesentlichen Entwicklungsschritte der intrapersonellen Wandlung verdeutlicht. Weitere Analyseschritte zur Rollenkonstruktion bzw. deren Veränderung bleiben auf diese Handlungsrollen begrenzt. Die Analyseschritte zur Beschreibung von Charakterkonstruktionen und darin inszenierter Veränderungsdynamiken erfolgen ebenfalls anhand dieser Sequenzen.
4.2 Kurzbeschreibung der Filme Die analysierten Filme sind in zwei grundlegende Kategorien des Wandlungsprozesses gruppiert: Vier der acht Filme erzählen Geschichten, welche die Hauptfigur in verschiedenen Phasen eines Reifungsprozesses zeigen (Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano, Kleine Fluchten). Die anderen vier Filme erzählen von der scheiternden Entwicklung der Hauptfigur: Die charakterliche Entfaltung und Reifung misslingt (Taxi Driver, Rocco und seine Brüder, Breaking Glass, Betty Blue). Diese Aufteilung in zwei Gruppen ermöglicht eine Gegenüberstellung und vertiefende Befragung der Analyseergebnisse. Untersucht wird, ob sich eher unterschiedliche oder eher ähnliche visuelle Gestaltungsmuster bei der Darstellung eines Reifungsprozesses oder eines Scheiterns feststellen lassen.
4.2.1 Geschichten der Reifung Kleine Fluchten1 Pipe lebt und arbeitet seit Jahrzehnten als Knecht auf dem Hof von Bauer John und tritt am Beginn der Geschichte dort in Rente. Er arbeitet weiterhin für John, beginnt aber mit dem Kauf eines Mopeds aus den festgefahrenen und kontrollierten Strukturen seines Lebens auszubrechen. Pipe erkundet seine Umgebung, wird beweglicher, bricht zu lang ersehnten Zielen auf, stürzt sich in Abenteuer und findet nach Höhenflügen und trotz Absturz dank seiner ungebrochenen Kreativität neue Formen des Selbstausdrucks. Sein Verhalten und seine Veränderung wirken wie 1
Angaben zu Stab, Produktionsjahr u.ä. siehe Teil V Anhang ab S. 415
93
ein Katalysator für viele Veränderungs- und Entscheidungsprozesse der anderen Personen in der Geschichte. Pipe gelingt es, neue Wege zu finden und dabei nach und nach seine Persönlichkeit zu entfalten. Am Ende der Geschichte hat sich die Lebensgemeinschaft auf dem Hof stark verändert – Pipe hat sich in seinem Leben und in der Gemeinschaft eine neue Position erobert. Der mit dem Wolf tanzt John Dunbar kämpft als Soldat im amerikanischen Bürgerkrieg. Er zeigt sich als willensstarker, dabei aber orientierungsloser und selbstmörderischer Draufgänger. Mit einem waghalsigen Ritt zwischen den feindlichen Linien provoziert er die entscheidende Schlacht, die zum Sieg seiner Seite führt. Er wird befördert und seinem Wunsch nach Versetzung in den wilden Westen wird stattgegeben. Dunbar nähert sich in seinem Dienst auf dem einsamen und westlichsten Militärposten in der Steppe mehr und mehr einem Leben im Einklang mit der Natur und sich selbst. Als er auf Indianer trifft, kommt es zunächst zu einer zögerlichen Annäherung und schließlich zur Freundschaft zwischen Dunbar und ihnen. In den Begegnungen mit den Indianern und beim Kennenlernen ihrer Lebensweise und Kultur entdeckt Dunbar nach und nach Facetten seiner Persönlichkeit und damit korrespondierende Aspekte seines Charakters. Er verlässt sein altes Leben und schließt sich ganz der Lebensgemeinschaft der Indianer an. Dunbar wandelt sich vom orientierungslosen und zum Selbstmord bereiten Soldaten zum Indianer, der in familiärer Gemeinschaft lebt und für die Existenz und das Überleben seiner Mitmenschen kämpft. Das Piano Die Geschichte spielt Mitte des 19. Jahrhunderts. Ada lebt in England und ist unverheiratete Mutter eines etwa siebenjährigen Mädchens. Adas Vater hat die Heirat seiner Tochter an einen ihr unbekannten Mann in Neuseeland arrangiert. Seit ihrem sechsten Lebensjahr spricht Ada nicht mehr – ihr wesentliches Ausdrucksmittel ist ihr Spiel auf dem Piano geworden. Ada geht nach Neuseeland und lebt mit ihrer Tochter auf der Farm ihres Ehemanns, verweigert sich aber jeder Annäherung. Sie verhält sich auch zu anderen abweisend und bleibt eine Außenseiterin in der Siedlergemeinschaft. Ihr geliebtes Piano, das bei ihrer Ankunft am neuseeländischen Strand zurückgelassen wurde, wird zum Auslöser für eine leidenschaftliche erotische Beziehung zwischen Ada und dem benachbarten Siedler Baines. Er kauft es Adas Ehemann ab und transportiert das Instrument durch den Dschungel in seine Hütte. Baines bietet Ada den Handel an, ihr das Instrument Taste für Taste im Tausch gegen körperliche Zärtlichkeiten und Annäherungen zurück zu geben. Ada akzeptiert die Bedingungen dieses Tauschhandels und entdeckt im Lauf dieser von Baines erpresserisch verhandelten Begegnungen ihre Liebe zu ihm. Als Adas Ehemann diese Entwicklung be94
merkt, versucht er verzweifelt und auf gewalttätige Weise diese Verbindung zu zerstören. Schließlich kann Ada gemeinsam mit Baines und ihrer Tochter die Siedlung im Dschungel verlassen. Sie beginnen ein gemeinsames Leben zu dritt im neuseeländischen Newport. Ada hat ihre Verschlossenheit und Unberührbarkeit aufgegeben und verwandelt sich in eine liebende und lebensfreudige Frau. Ihre Fixierung auf das Piano hat sich gelöst und sie beginnt das Sprechen wieder zu lernen. Dead Man Die Handlung spielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Zeit des Eisenbahnbaus in Amerikas Wildem Westen. William Blake, ein schüchterner, schreckhafter junger Buchhalter verlässt nach dem Tod seiner Eltern seine Heimat und reist nach Westen, um in einer Eisenbahnfabrik am Ende der Bahnstrecke einen Job zu übernehmen. Der Posten ist bei seiner Ankunft jedoch bereits vergeben und Blake steht plötzlich mittellos auf der Straße. Er lernt Thelma, eine ehemalige Prostituierte, kennen und erschießt in Notwehr deren früheren Liebhaber Charlie, den Sohn des Eisenbahn fabrikbesitzers. Blake wird selbst bei der Schießerei von einer Kugel in die Brust getroffen und flieht aus der Stadt. Am nächsten Morgen findet der Indianer Nobody Blake, der besinnungslos im Staub der Steppe liegt. Nun beginnt Blakes Flucht vor seinen zahlreichen Verfolgern, drei Auftragskillern und der Polizei. Nobody begleitet Blake zu Beginn und am Ende seiner Flucht. Blake muss sich gegen seine Verfolger mit Waffengewalt zur Wehr setzen. Anfänglich agiert er sehr schreckhaft und ängstlich, gewinnt jedoch schließlich mehr und mehr an Entschlossenheit und Durchsetzungskraft. Um sein Leben zu retten, begeht er auf seiner Flucht mehrere Morde. Zugleich leidet er zunehmend an Schwäche durch seine Verletzung und Ausgezehrtheit. Nobody geleitet den sterbenden Blake zu einem heiligen Ort und ermöglicht ihm dort ein menschenwürdiges Sterben. Blake hat sich vom schüchternen, verschlossenen, lebensunkundigen und willensschwachen Jüngling zu einem treffsicheren Killer gewandelt. Er ist fähig geworden, sich einer tiefen Freundschaft zu öffnen und beginnt im Sterben die Rätsel des Lebens zu verstehen.
4.2.2 Geschichten des Scheiterns Rocco und seine Brüder Die Fabel dieses Films rankt sich um zwei Hauptpersonen, Rocco und Simone. Die Analyseperspektive richtet sich auf Simone, da dieser während der Ereignisse den tiefgreifendsten Wandlungsprozess durchläuft. In der Inhaltsbeschreibung sind demnach die Ereignisabläufe mit Fokus auf Simones Entwicklung zusammenfassend geschildert. 95
Nach dem Tod ihres Mannes verlässt Frau Parondi mit ihren drei erwachsenen Söhnen Rocco, Simone und Ciro sowie dem jüngsten, noch jugendlichen Lucca Sizilien und geht nach Mailand. Dort lebt ihr fünfter Sohn, Vincenco, bei der Familie seiner Braut. Die völlig mittellose sizilianische Familie gehört in der Stadt bald zu den Ärmsten der Armen und die jungen Männer versuchen, jeder auf seine Weise, ein Auskommen zu finden: Simone beginnt als Boxer zu trainieren und erlebt anfängliche Erfolge. Rocco arbeitet zunächst als Laufbursche und geht dann zum Militär. Ciro absolviert eine Abendschule und wird Mechaniker. Vincenco heiratet und gründet eine Familie. Als der unerfahrene Simone sich in die Prostituierte Nadja verliebt, beginnt sein Abstieg. Um sie auszuhalten, begeht er Diebstähle, betrügt und macht Spielschulden. Er vernachlässigt sein Boxtraining und muss Niederlagen einstecken. Nadja verlässt ihn. Als Rocco vom Militär entlassen wird, trifft er zufällig auf Nadja. Die beiden verlieben sich und Nadja beschließt, mit Roccos Hilfe ein neues Leben zu beginnen. Simone lauert den beiden eines Nachts auf, vergewaltigt Nadja vor Roccos Augen und schlägt dann seinen Bruder bis zur Bewusstlosigkeit. Rocco verlangt von Nadja, zu Simone zurückzukehren und trennt sich von ihr. Nadja kehrt zu Simone zurück mit dem Ziel, sich zu rächen und ihn zugrunde zu richten. Simone verschuldet sich immer tiefer und verübt einen Raubüberfall auf seinen ehemaligen Boxmanager. Um Simone vor einer Verhaftung zu retten erklärt sich Rocco bereit, sich für Jahre als Boxer zu verpflichten. Nadja sieht ihr Ziel erreicht und verlässt Simone, der völlig haltlos geworden ist und seine Familie um Lebensunterhalt erpresst. Rocco muss wider seinen Willen als Boxer arbeiten, wird aber dennoch zum sehr erfolgreichen Kämpfer. Simone versucht währenddessen ein letztes Mal, Nadja, die wieder als Prostituierte arbeitet, zurück zu gewinnen. Weil sie ihn ablehnt, ermordet Simone Nadja schließlich. Wiederum versucht Rocco, Simone vor der Strafe für seine Tat zu retten. Ciro jedoch verrät Simone an die Polizei und er wird als Mörder gefasst. Simone ist zu Beginn der Geschichte ein junger, unerfahrener Mann. Er ist sowohl schüchtern als auch sehr impulsiv, unsicher, aber auch großmaulig und unbeherrscht. Er wandelt sich zu einem völlig haltlosen Trinker und Kleinkriminellen und schließlich zum Räuber, Erpresser, rohen Gewalttäter und Mörder. Taxi Driver Travis, ein Mann von Mitte zwanzig, lebt in einer großen amerikanischen Stadt und ist völlig isoliert. Er leidet an Schlaflosigkeit und beginnt, nachts als Taxifahrer zu arbeiten. Er ist sehr verschlossen, der Kontakt zu seinen Kollegen ist nur sehr oberflächlich. Er fährt auf seinen nächtlichen Taxitouren auch in die verrufensten Viertel der Stadt und akzeptiert dabei jede Art von Klientel. Travis’ Wahrnehmung ist zwanghaft auf Gewalt, Elend, Kriminalität und Prostitution fixiert, was er zugleich tief verabscheut. Zudem wird in seinem Verhalten eine stark rassistische 96
Haltung deutlich. Travis sehnt sich nach einer Beziehung zu einer Frau. Seine ungeschickten und teils absurden Versuche der Kontaktaufnahme zu Frauen scheitern jedoch kläglich. Betsy, Wahlkampfmitarbeiterin eines Präsidentschaftskan didaten, lässt sich anfänglich auf ein Kennenlernen ein. Als Travis sie eines Abends in ein Pornokino mitnimmt, bricht sie den Kontakt zu ihm ab. Sein Versuch, Rat bei einem Kollegen zu finden, scheitert. Travis kauft sich mehrere Revolver und beginnt eine Art Training zum Guerillakämpfer. Er scheint ein Attentat auf den Präsident schaftskandidaten im Wahlkampf zu planen. Travis ermordet einen Schwarzen, als dieser einen Raubüberfall auf einen Ladenbesitzer verüben will. Nach der Mordtat kann Travis unerkannt fliehen. Zufällig lernt er auf seinen nächtlichen Fahrten die minderjährige Prostituierte Iris kennen. Er will sie aus ihrer Situation retten, sie lehnt sein Vorhaben jedoch ab. Travis bewaffnet sich daraufhin eines Tages mit all seinen Pistolen und Revolvern und sendet sein gesamtes Geld mit einem Abschiedsbrief an Iris. In einem Amoklauf erschießt er ihren Zuhälter, den Betreiber des Stundenhotels und einen von Iris Freiern. Am Ende dieser Mordserie will er sich selbst das Leben nehmen. Es ist jedoch keine Kugel mehr im Magazin seiner Waffe. Travis wird von der Presse als Held gefeiert und Iris’ Eltern drücken ihm in einem Brief ihre tiefe Dankbarkeit für die Rettung ihrer Tochter aus. Er nimmt nach den dramatischen Geschehnissen seine Arbeit als Taxifahrer wieder auf. Travis entwickelt sich vom verschlossenen, kontaktunfähigen und latent paranoiden jungen Mann zum fanatischen Waffenbesitzer, der seine Gewaltphantasien auslebt und in Selbstjustiz zum Attentäter und Mörder wird. Anschließend kehrt Travis zurück in ein vermeintlich normales Leben, doch kann es jederzeit zu einem erneuten Ausbruch seiner Gewalttätigkeit kommen. Breaking Glass Kate, eine junge, begabte, dabei aber erfolglose Rocksängerin, lebt in der Punk- und New-Wave-Szene Londons. Dany, ein gleichfalls junger und erfolgloser Musikmanager, will eine neue Band für sie aufbauen und mit ihr eine Platte aufnehmen. Kate hat starke politische Ideale, verurteilt die Maschinerie der Musikindustrie als kapitalistisch und lehnt es ab, nach deren Regeln als Künstlerin zu agieren. Dennoch lässt sie Dany gewähren und geht mit einer neuen Band auf Konzerttour durch Großbritannien. Die beiden verlieben sich ineinander und werden ein Paar. Erste Erfolge stellen sich ein. Kate begehrt zwar immer wieder auf gegen weitere PR-Maßnahmen, die Dany initiiert. Doch gibt sie immer wieder klein bei und fügt sich den Bedingungen auf dem Weg zum kommerziellen Erfolg. Bei einem Konzert im Rahmen einer politischen Kundgebung kommt es zu einer Schlägerei zwischen Neonazis und anderen Konzertbesuchern. Dabei wird vor ihren Augen ein junger Mann ermordet. Kate erleidet einen Schock. Dennoch kann Dany durchsetzen, dass Kate Kontakt zu dem 97
einflussreichen Musikproduzenten Wood aufnimmt. Als dieser ihr Talent erkennt, erschleicht er sich mit geheucheltem Verständnis für Kates traumatisches Erlebnis ihr Vertrauen. Kate lässt sich nach und nach von Wood und den Zielen der Plattenfirma völlig vereinnahmen. Sie absolviert bis zur körperlichen und psychischen Erschöpfung unzählige Konzerttouren und PR-Aktionen. Dany bricht ihre Beziehung ab und verlässt nach einem Streit sie und die Band. Kate nimmt Aufputschmittel, um weiter machen zu können. Produzent und Plattenfirma manipulieren die Inhalte ihrer Texte und verheizen sie für ihren Profit. Im Drogenrausch flieht Kate während eines Auftritts von der Konzertbühne und rennt hinunter zur U-Bahn. Sie steigt in einen Wagon, erleidet dort Halluzinationen und einen völligen Zusammenbruch. Dany besucht Kate im Krankenhaus. Sie ist paralysiert und sprechunfähig, aber gerührt über Dannys Kommen. Er legt ihr ihren kleinen Synthesizer auf den Schoß. Kate wandelt sich von der ambitionierten, willensstarken und nach klaren Idealen handelnden jungen Künstlerin zum erfolgreichen, von der Musikindustrie völlig fremdbestimmten und innerlich einsamen Pop-Idol. Von diesem Film lagen für die Studie zwei verschiedene Fassungen vor, die sich um ca. 5 Minuten Länge unterscheiden. Die erste Fassung ist die originale Kinofassung des Films, die im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die zweite Fassung beruht auf einer Veröffentlichung als VHS-Edition des Films, die 2001 in den USA herausgegeben wurde. Zwischen den beiden Fassungen besteht ein erheblicher inhaltlicher Unterschied. In der zweiten Fassung von 2001 sind Szenen aus der Filmhandlung gekürzt, sodass sich der gesamte Sinnzusammenhang der Handlung verändert - vor allem in Bezug auf den Verlauf von Kates charakterlicher Wandlung und den Ausgang der Geschichte, der in beiden Fassungen gänzlich verschieden. Kates Verzweiflung über das Auseinanderbrechen der Band als Gruppe wird in der gekürzten Fassung nicht mehr erzählt. Ebenso gekürzt wurde die Szene, die Kates psychischen Zusammenbruch nach dem traumatisierenden Erlebnis der Ermordung eines Konzertbesuchers zeigt. Dany gelingt es in dieser Situation Kate gegen die Interessen des Managements in Schutz zu nehmen. Diese und weitere Kürzungen minimieren den ursprünglich in der Geschichte stark ausgeprägten, kritischen Blick auf das etablierte Musikmanagement. Die Figur Danys wird insgesamt in seiner Rolle und Bedeutung geschmälert. Seine Engagement als Musikmanager von Kates Band ist nicht in erster Linie gewinnorientiert motiviert, sondern von Leidenschaft für die Musik und aus Liebe zu Kate. Dieser Gegenpol zur Motivation der etablierten Musikindustrie wird durch die Kürzungen deutlich minimiert. Die gekürzte Fassung schildert Kates Wandlung über folgende Stationen: Kate hat ihre früheren Ideale als Künstlerin und Musikerin aufgegeben. Sie opfert ihre Band dem großen Erfolg, lässt sich vom Management der Musikindustrie manipulieren und immer weiter pushen auf der Welle ihres gro98
ßen Erfolgs, auch wenn der Preis dafür ihre körperliche und seelische Gesundheit ist. Durch Kürzungen der Szenen am Schluss des Films wird in der zweiten Fassung Kates letztendliche Entscheidung gegen das Funktionieren nach den Mechanismen und Zielen der Musikindustrie komplett aus der Geschichte herausgenommen. Das letzte Bild der zweiten Fassung zeigt Kate in Großaufnahme während ihres Auftritts auf einem großen Konzert. Dieses Bild friert ein und dann beginnt der Abspann. Der ursprüngliche Schluss des Films erzählt eine eklatante Wende in Kates Verhalten und ihrer Situation. Sie entzieht sich der Erfolgsmaschinerie und flüchtet während des Großauftritts von der Konzertbühne. Sie rennt in die U-Bahn und halluziniert dabei Begegnungen von Stationen ihres Aufstiegs und Traumas. Kate befindet sich anschließend als Patientin im Krankenhaus. Sie steht unter Schock, ist nahezu regungslos und kann nicht sprechen. Es kommt zu einer neuen Begegnung zwischen ihr und Dany. Für Kate und ihn beginnt eine neue Entwicklung, deren Richtung am Ende der Geschichte offen bleibt. Betty Blue Betty hat ihren Job als Kellnerin verloren und steht plötzlich mit ihrem Koffer in Zorgs Holzhäuschen. Er lässt seine Freundin bei sich einziehen. Zorg ist Anfang dreißig und arbeitet bei einem Abschleppdienst. Als der Besitzer der Strandbuden von Bettys Einzug erfährt, kommt es zum Streit. In den Auseinandersetzungen zwischen dem Pärchen mit dem Budenbesitzer, reagiert Betty sehr impulsiv und mit unbeherrschtem aggressivem Verhalten. In einigen anderen Streitszenen während des Filmverlaufs zeigt sich immer wieder, dass Betty zu Konfliktlösungen nicht fähig ist, sondern vielmehr sehr schnell ihre Aggressionen gegen Sachen und Menschen tätlich ausagiert. Eines Tages entdeckt Betty einen großen Stapel Tagebücher neben Zorgs Bett und liest sie. Sie ist begeistert und sofort davon überzeugt, dass Zorg Karriere als Schriftsteller machen wird. Nach einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Besitzer der Strandhäuser flippt Betty völlig aus, wirft allen Hausrat aus dem Fenster und brennt anschließend das Holzhaus nieder. Gemeinsam gehen Betty und Zorg daraufhin nach Paris, wo sie bei Bettys Freundin Lisa wohnen. Betty tippt die Texte aus Zorgs Tagebüchern ab und schickt diese Manuskripte an Verlage. Sie versucht sich als Kellnerin. Als es Streit mit einer Restaurantbesucherin gibt, greift Betty diese tätlich an. Etwas später geht sie auf einen Verleger los, der Zorgs Manuskript ablehnt und verunglimpft. Zorg toleriert Bettys Ausbrüche und versucht immer wieder, alles einzurenken. Plötzlich stirbt die Mutter von Lisas Freund Eddy. Gemeinsam fahren sie zur Beerdigung. Die alte Frau betrieb ein Klaviergeschäft in einer kleinen Stadt. Eddy bittet Zorg und Betty, das Geschäft weiter zu führen. Beide leben nun in dem idyllischen Städtchen. In einem Streit mit Zorg richtet Betty zum ersten Mal ihre aggressiven Impulse gegen sich selbst: Sie durchstößt eine Glasschei99
be mit der Faust und verletzt sich dabei. Eines Tages glaubt Betty, dass sie schwanger ist. Beide freuen sich sehr darüber. Als Betty jedoch ein negatives Testergebnis vom Arzt erhält, richtet sie zum zweiten Mal Gewalt gegen sich. Später erzählt sie Zorg, dass sie beginnt Stimmen zu hören. Er versucht sie zu beruhigen. Einige Tage später reißt Betty sich ein Auge aus. Sie wird in ein Krankenhaus gebracht. Zorg ist verzweifelt und kann nicht akzeptieren, dass Betty psychisch schwer krank ist. Sie liegt sediert und völlig apathisch in einem Anstaltsbett und vegetiert in diesem Zustand vor sich hin. Zorg erstickt die wehrlose Betty mit einem Kissen. Betty hat sich von einer impulsiven, spontanen und liebevollen, zugleich aber konfliktunfähigen und unbeherrschten jungen Frau zu einer zunehmend gewalttätigen, in sich gekehrten, mehr und mehr autoaggressiven und an Schizophrenie leidenden psychisch Kranken entwickelt.
100
5. Visualisierung charakterlicher Wandlung im Gesamtverlauf der Narration
Die charakterliche Wandlung ereignet sich im Innenleben einer Person. Diese intrapersonelle Entwicklung ist eingebettet in eine sichtbare Ursachen- und Wirkungslogik der äußeren Handlung der Geschichte. Es gilt nun, die Bezüge zwischen der charakterlichen Veränderung und dem äußeren Handlungsverlauf zu beschreiben. Dabei können Gestaltungsmuster in der Konstruktion der erzählerischen Bauelemente herausgearbeitet werden, die in den Beispielfilmen zur Visualisierung eines intrapersonellen Wandlungsprozesses eingesetzt werden. Im Folgenden werden Bezüge zwischen diesem Wandlungsprozess und den Gestaltungsstrukturen in drei narrativen Ordnungssystemen aufgezeigt, sowie Zusammenhänge zwischen der Ursache-und-Wirkungs-Kette des äußeren Handlungsverlaufs und dem Ereignisgang der inneren Wandlung untersucht. Das System der kernels und satellites wird gleichfalls unter dieser Prämisse betrachtet. Mit Hilfe des narrative schema wird erkennbar, in welcher inhaltlichen Korrespondenz die goals der Figur zu deren innerer Wandlung stehen. Ebenso wird der inhaltliche Duktus der initiating events bzw. der complicating actions in ihrem Bezug auf die Ziele der Figur und deren innerer Veränderung beschrieben.
5.1 Handlungsverlauf und DBVTFFąFDUDIBJO Bei der Untersuchung der Bezüge zwischen den Bauelementen der cause-effect chain und dem Prozess der charakterlichen Wandlung im Erzählverlauf zeigt sich ein jeweils individuelles Zusammenhangsprofil in den Erzählungen der acht Beispielfilme, es können jedoch Gruppierungen von gestalterischen Ähnlichkeiten im Vergleich der Filme festgestellt werden: In fünf Filmen ist eine deutliche, sich linear entwickelnde Verknüpfung zwischen den erzählerischen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung und dem charakterlichen Entwicklungsprozess der Hauptfigur festzustellen. In Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Das Piano, Rocco und seine Brüder und Breaking Glass sind die intrapersonellen Wandlungsprozesse direkt eingebettet in die lineare cause-effect chain der äußeren Handlungen und Ereignisse. Innerhalb des Aufbaus der Ursacheund-Wirkungs-Kette in diesen Geschichten handeln die Protagonisten zum einen 101 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
aktiv, zum anderen erleiden sie passiv Ereignisse, auf die sie anschließend wiederum reagieren. Die Entwicklungsschritte der Ursache-und-Wirkungs-Kette im äußeren Geschehen der Geschichten entsprechen strukturell den stufenweisen Phasen der inneren Veränderung der Figuren. John Dunbars äußere Lebenssituation verändert sich schrittweise, ebenso seine Persönlichkeit. Pipe geht neue Wege, bricht auf und aus, wagt und erlebt dabei Neues. Im Laufe der Ereignisse und Handlungen wandelt er sich. Auch Ada agiert und reagiert im Strom der Ereignisse. Ihr Inneres verändert sich im Wechsel von Erlebnisphasen in der äußeren Handlung und inneren Entwicklungen. In der äußeren cause-effect chain verläuft die Entwicklung Simones von seinem Aufstieg als Boxer über das Erleiden von Niederlagen bis in das soziale Abseits eines Verbrechers. Zugleich gerät er in den inneren Abgrund seines charakterlichen Verfalls. In Dead Man findet sich in ähnlicher Weise wie in den vier zuvor genannten Filmen eine Linearität der Bezüge zwischen der äußeren cause-effect chain und den Stufen der inneren Geschehnisse. Hier lässt sich jedoch eine Besonderheit der erzählerischen Konstruktion feststellen: In dieser Erzählung existieren zwei verschiedene, sich mehr oder weniger unabhängig voneinander entwickelnde, äußere cause-effect chains. Für beide gelten jeweils unterschiedliche Bezugssysteme zum inneren Entwicklungsgang der Hauptfigur: Eine der beiden Ursache- Wirkungs-Ketten entwickelt sich über eine Bedeutungswandlung parallel zur charakterlichen Veränderung der Hauptfigur – Begegnung und Freundschaft zwischen Blake und Nobody weisen verschiedene Entwicklungsstadien auf, ebenso die psychische Veränderung Blakes. Die zweite cause-effect chain in der äußeren Handlung bildet hierfür eine Ausgangs- bzw. Rahmenkonstellation, die sich den ganzen Film hindurch nicht verändert. Blake muss sich als flüchtiger Mörder verstecken und sein Leben immer wieder vor seinen mörderischen Verfolgern retten. Vor dem Hintergrund dieser gleichbleibend konstellierten cause-effect chain wird die Veränderung in den Handlungsweisen Blakes besonders deutlich: Blake ist auf seiner Flucht gezwungen, mehrere seiner Verfolger aus Notwehr zu töten. Dabei zeigen sich in seinen Handlungsweisen stufenweise Verhaltensveränderungen. Der junge Mann, der anfangs bei jedem Schuss zusammenzuckte, den Kopf einzog und einen Revolver nur zitternd halten konnte, erschießt später gelassen und treffsicher seine Verfolger mit ironischen Bemerkungen auf den Lippen und ohne genau hin zu sehen. Es besteht also ein Bezugssystem zwischen den Strukturen der gleichbleibenden cause-effect chain und den dazu in immer stärkerem Kontrast stehenden Veränderungsdynamiken von Blakes Handlungsweisen. Im Verhältnis zwischen der gleichbleibenden inhaltlichen Linie und der dazu konstellierten exponentiell ansteigenden Veränderungskurve wird der stetig fortschreitende innere Wandlungsprozess deutlich. In Taxi Driver und Betty Blue lassen sich von den bisher beschriebenen Filmen abweichende Konstruktionsprinzipien der Bezugssysteme zwischen innerer und äußerer cause-effect chain feststellen. 102
In Betty Blue sind zwei äußere cause-effect chains aufgebaut, die über weite Strecken ohne erkennbaren Bezug zueinander verlaufen. Die erste Ursache-Wirkungs-Kette vermittelt die Veränderung der äußeren Lebensumstände von Betty und Zorg. Die zweite erzählerische Linie mit einer Ursache- und Wirkungslogik ist über szenische Interaktionen aufgebaut, die Hinweise auf Bettys Persönlichkeitsstruktur und auf die sukzessive Veränderung geben, welche sich darin abspielt. Bettys aggressive Ausbrüche sind Ereignisse innerhalb dieser Zusammenhänge. Diese Handlungen sind in eine auf die konkrete szenische Situation beschränkte Ursache-und-Wirkungs-Verknüpfung eingebettet. Bettys Attacke auf die Restaurantbesucherin und auch ihrem tätlichen Angriff auf den Verleger folgen keine Ereignisse im weiteren Handlungsverlauf, die dazu in Bezug stehen. Auch als sie sich in einem autoaggressiven Akt die Hand verletzt, gibt es im weiteren Verlauf der Geschichte keinen Rückbezug auf dieses Ereignis: Bettys aggressive und zerstörerische Handlungen haben keinerlei Auswirkungen auf die Entwicklung der Lebenssituation des Paares. Zorg versucht sie immer wieder zu beruhigen und wiegelt Bedenken Dritter ab. Nur die erste und letzte Handlung Bettys, die als Anzeichen ihrer inneren Wandlung inszeniert werden, haben einen direkten und wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Ereignisverlaufs im Rahmen der Gesamthandlung: Betty brennt das Haus nieder und beide verlassen den Ort gemeinsam in Richtung Paris. Auf diesen aggressiven Akt Bettys folgt eine wichtige Veränderung in der Lebenssituation der beiden. Wesentlich gravierender jedoch verändert sich die äußere Situation von Betty und Zorg nach ihrer Selbstverstümmelung – hier fügen sich nun beide Ursache- und Wirkungsverläufe zu einem zusammen. Die Folgen von Bettys autoaggressiver Handlung verursachen die größte Veränderung in der Lebenssituation des Paares: Betty liegt völlig apathisch im Krankenhaus und reagiert nicht auf Zorgs Berührung und Ansprache. Zorg kann diesen Verlust Bettys als aktive und gesunde Partnerin nicht ertragen und tötet sie. Vergleichbar mit den beschriebenen Strukturen in Betty Blue weist Taxi Driver Besonderheiten bei der Verknüpfung der Handlungsereignisse der äußeren cause-effect chain mit den Phasen der charakterlichen Wandlung auf: Im ersten Drittel des Films wird zunächst eine klar nachvollziehbare Ursache-Wirkungs-Kette in den äußeren Handlungszusammenhängen aufgebaut. Travis interessiert sich für eine junge Frau, lernt sie kennen und versucht in näheren Kontakt mit ihr zu treten, scheitert aber bei diesem Versuch. Der Protagonist handelt dabei auf ein Ziel hin, verursacht mit seinen Handlungen Folgeereignisse und versucht mit Hindernissen, die sich auf dem Weg zu seinem Ziel einstellen, umzugehen. Seine inneren Impulse und Beweggründe und einige seiner Wesensmerkmale sind deutlich an seinen Handlungsweisen abzulesen. Hinweise auf einen Prozess innerer Veränderung werden in dieser Szenenfolge nicht inszeniert. Im mittleren Teil des Films hingegen löst sich die Schlüssigkeit der Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung in den Handlungen der Hauptfigur 103
auf. Über einen längeren Abschnitt des Erzählverlaufs ist kein direkter Bezug zwischen Ursache und Wirkung der äußeren Ereignisse und den Verhaltensweisen der Hauptfigur aufgebaut. Travis versucht ein persönliches Gespräch mit seinem Kollegen Wizard zu führen [00.44.00]2. Bei einem illegalen Waffenhändler kauft sich Travis mehrere Schusswaffen und beginnt ein intensives Training damit [00.52.00, 00.55.05]. Travis sieht sich im Kino einen Pornofilm an [00.55.51]. Ziele von Travis’ Handlungen und deren mögliche Auswirkungen auf seine Lebenssituation sind anhand der fragmentarischen Ereignisfolge nicht mehr interpretierbar. Ebensowenig lassen sich das emotionale Erleben, die Handlungsmotivationen und Stimmungen, Impulse und inneren Entscheidungswege der Hauptfigur noch eindeutig und klar aus den äußeren Situationen und Handlungen ablesen. Während dieses Erzählabschnitts, der von großer Unbestimmtheit des Zusammenhangs zwischen äußerer Handlung und innerer Erlebenswelt der Hauptfigur gekennzeichnet ist, ereignet sich die zentrale Wandlungsphase. Im letzten Teil des Films baut sich hingegen erneut eine nachvollziehbare Zusammenhangsstruktur zwischen der äußeren Ereignisabfolge und erkennbaren Zielen bzw. inneren Motivationen der Verhaltensweisen der Hauptfigur auf: Travis will Iris aus der Prostitution retten. Er schickt ihr sein Geld und einen Brief, begeht mehrere Morde, um Iris zu befreien und versucht sich schließlich selbst umzubringen. Sein Selbstmordversuch scheitert und die Presse feiert ihn als Helden, der Verbrechen rächt. Im Vergleich der Handlungsweisen der Hauptfigur in diesen beiden Erzählabschnitten, die von nachvollziehbaren UrsacheWirkungs-Zusammenhängen äußerer Ereignisverläufe mit Zielen und Motivationen des Protagonisten gekennzeichnet sind, wird seine charakterliche Veränderung deutlich. Die Stufen der Wandlung, ihre Auslöser und ihre Entwicklung stellen sich in diesen Erzählabschnitten durchaus dar, doch über diese inhaltlichen Elemente können nur retrospektiv Hypothesen aufgestellt werden: Die Momente der charakterlichen Wandlung sind in der Erzählphase der unklaren und fragmentarischen erzählerischen Zusammenhänge auf eine nur implizite Weise konnotiert.
5.2 Hierarchie von LFSOFMT und TBUFMMJUFT Bei der Analyse der hierarchischen Konstruktion zwischen kernels und satellites zeigen sich in den untersuchten filmischen Erzählungen auffällige Gestaltungsmuster in der Verwendung der satellites, die in direktem Bezug zur Darstellung des charakterlichen 2
Die Angaben der Filmlaufzeiten stellen für das Aufsuchen der entsprechenden Stelle im Filmablauf nur einen Orientierungswert dar. Sie beruhen auf der Zeitangabe eines digitalen Players, während der Filmsichtung. Die angegebenen Filmlaufzeiten geben dabei jedoch nicht die exakten Werte eines digitalen Timecodes wieder.
104
Wandlungsprozesses stehen. Der erzählerische Raum der satellites wird dabei zum einen genutzt für eine Art metaphorische Darstellung oder Kommentierung des intrapersonellen Wandlungsgeschehens und zum anderen zur Präsentation zentraler Wandlungsmomente selbst. Eine solche Einsatzweise von satellites besteht aus Szenenfolgen oder aus einigen wenigen Einzelszenen, die entweder durch ihre thematische Verknüpfung oder durch ihre ästhetische Inszenierung als in Bezug zueinander stehend auffallen. Am plakativsten ist dies inszeniert in Der mit dem Wolf tanzt: In der Geschichte wird in einer Szenenfolge, die als eine Reihe von satellites in der erzählerischen Hierarchie positioniert ist, die Begegnung und Annäherung zwischen dem Protagonisten und dem Wolf geschildert. Dieses sich stufenweise entwickelnde Ereignis hat keinen Einfluss auf die zentralen Handlungszusammenhänge. Vielmehr sind diese insgesamt 11 Szenen wie ein metaphorisches Ergebnisprotokoll der langsamen Veränderung John Dunbars inszeniert. In den kernels handelt Dunbar, entscheidet, macht Erfahrungen und wird dabei allmählich zu einem anderen Menschen. Er hat nur mehr wenig gemeinsam mit dem Dunbar, der als Soldat selbstmörderisch durch die verfeindeten Linien der Schlacht geritten ist. In der Bilderfolge der satellites, welche die Kontaktaufnahme mit dem wilden Tier präsentieren, drückt sich der zentrale Wandlungsvorgang Dunbars vom Soldaten der U. S. Army zum Indianer als visuelle Metapher aus. Diese Kernmetapher seiner Wandlung wird zudem in seinem neuen, indianischen Namen „Der-mit-dem-Wolf-tanzt“ wörtlich festgeschrieben. Andere inhaltlich zusammenhängende Szenenfolgen, die als satellites positioniert sind, stehen nicht in direktem Bezug zur charakterlichen Veränderung des Protagonisten, vielmehr werden hier Informationen gegeben, vor deren Hintergrund sich die charakterliche Wandlung deutlich abzeichnen kann. Die Reise zu seinem Posten mit dem verlotterten Trapper kontrastiert und verdeutlicht Dunbars Persönlichkeit, seine Zielstrebigkeit und seine Liebe zur Natur. Dunbars Tätigkeiten auf seinem einsamen Posten und seine inneren Monologe geben Hinweise auf seine Disziplin, seine Werte, seine Wünsche und seine große innere Flexibilität und gutmütige Neugierde. Diese Informationen bilden die Ausgangsbasis und Voraussetzungen für weitere Entwicklungen und Veränderungen, sind jedoch in szenischen satellites in die erzählerische Hierarchie der Geschichte integriert. Ein vergleichbarer Einsatz von satellites für eine indirekte Abbildung und Kommentierung des intrapersonellen Wandlungsgeschehens ist auch in Das Piano festzustellen. Die Begegnungen zwischen Baines und Ada und das Auftreten anderer, äußerer Einflüsse und Begebenheiten, auf die Ada reagieren muss, sind als kernels inszeniert. In satellites, welche Handlungssequenzen zwischen den Begegnungen von Ada und Baines zeigen, werden die Themen des Veränderungsprozesses metaphorisch bebildert. Ein Beispiel hierfür: Ein Theaterstück wird geprobt, ein harmloses 105
Spiel um dramatische Themen von Liebe, Gewalt und Tod, das mit dem Auftritt von Engelchen beginnt [00.55.20]. Die impulsiven Maoris im Publikum nehmen das Spiel für wahres Geschehen und stürzen mit gezückten Säbeln auf die Bühne, um den Theatermord zu verhindern [00.57.29]. Ebenso wird das Spiel zwischen Ada und Baines ernst. Die Szenen der satellites können als eine Art Kommentierungen der Entwicklungsphasen der Beziehung zwischen Ada und Baines und der sich dabei ereignenden Wandlung von Ada interpretiert werden. Die Ereignisse in den satellites haben keinen wesentlichen Einfluss auf den Fortgang der Haupthandlung. In einem weiteren Bezugspaar zweier satellites wird ein anderer Zusammenhang des Wandlungsprozesses von Ada verdeutlicht: In zwei thematisch ähnlichen Szenen baut sich ein Vergleich zwischen den Persönlichkeiten von Baines und Stewart auf. Baines verhandelt mit Ada auf faire Weise, jeder hat seinen Spielraum, Kompromisse werden geschlossen und auch eingehalten [00.38.00]. Stewart verfolgt hingegen bei der Verhandlung um Landkauf den Eingeborenen gegenüber nur eine Strategie: Sie durch einen höheren Preis zum Verkauf des Landes zu bewegen [00.49.17]. Es kommt zu keiner Annäherung und die Verhandlungen scheitern. Stewart geht auf seinen Verhandlungspartner nicht ein, sucht keine Kompromisse, kein Verstehen. Auf die gleiche Weise geht Stewart mit Ada um. Baines’ Verhalten hingegen ermöglicht es Ada, sich zu öffnen, Willensstärke zu zeigen und Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Dabei verändert sie sich und kann ihren inneren Stillstand aufgeben. Drei weitere szenische Momente, die als Ereignisse im Handlungsgeschehen der Gruppe der satellites zuzuordnen sind, stellen zentrale Wandlungsmomente dar, die Ada erlebt; es sind Momente, die Ada zeigen, wie sie ruhig sitzt oder steht und vor sich hin blickt, nichts weiter passiert. Diese Bilder sind in bestimmte Zusammenhänge der äußeren Handlung eingebettet und weisen eine auffällige Ästhetik der Kameraarbeit auf. Diese Hervorhebung veranlasst den Zuschauer, zu diesen Momenten Vorstellungen über Umschwünge im inneren Erleben von Ada zu entwickeln. Durch die ungewöhnliche Kameraästhetik beziehen sich im Verlauf des Films vier Szenen dieser Art aufeinander, die – bis auf die beiden ersten – zeitlich weit voneinander entfernt positioniert sind. In dem über diese satellites entstehenden inhaltlichen Bezug wird Adas charakterliche Veränderung ablesbar. Sie blickt von einer Anhöhe auf ihr Piano, das am Strand zurückbleibt [00.14.13]. Nach der Herstellung einer Hochzeitsfotografie blickt Ada durch ein Fenster hinaus in den Regen und sieht vor ihrem inneren Auge ihr Piano am Strand [00.19.30]. Ein drittes szenisches Bild dieser Art zeigt Ada, wie sie neben ihrer Tochter im üppigen Grün des Dschungels sitzt: Die Kamera nähert sich von oben bis nah an ihr Gesicht [00.32.50]. Danach geht sie zum ersten Mal zu Baines. Im vierten Bild steht Ada mit dem Rücken zur Kamera und blickt in den Dschungel. Die Kamera fährt auf ihren Hinterkopf zu und übernimmt dann ihren point of view mit einer Blickperspektive, die sich weiter in den Dschungel 106
hinein bewegt [01.08.09]. In der folgenden Szene wird gezeigt, wie sie das erste Mal freiwillig zu Baines geht und sich ihm öffnet. Jeweils im Anschluss an diese vier satellites, die Ada in nachdenklichen Positionen zeigen, handelt sie auf neue Weise, dabei werden ihre neuen Ziele und ihre innere Veränderung nachvollziehbar. In der Verwendung von kernels und satellites in Breaking Glass zeigen sich verschiedene auffällige Konstruktionsmuster in Bezug zum Aufbau der inneren Wandlung von Kate. In den kernels werden die Einflussnahmen der verschiedenen Personen auf Kate und ihre jeweiligen Absichten geschildert. Ebenso in kernels zeigen sich die Auswirkungen dieser Einflussnahmen, wenn Kates Handlungen sich bereits danach richten. Der Moment ihrer jeweiligen Entscheidung, diese Einflüsse zuzulassen, wird nicht geschildert. Dahingegen werden Prozesse der anderen Personen im Film, wie sie sich aktiv entscheiden etwas zu tun oder nicht zu tun und dann konsequent danach handeln, in kernels inszeniert. In einer weiteren Gruppe von satellites zeigt sich in Breaking Glass eine besondere Konstruktion von Bezügen zum charakterlichen Veränderungsprozess. Hier spielt das Genre dieses Spielfilms eine zentrale Rolle: Er handelt von einer Rocksängerin, die Lieder textet und diese mit ihrer Band übt, auf Konzerten aufführt und in Studios aufnehmen lässt. Demzufolge sind viele Musikstücke von Kate und ihrer Band als szenische Inszenierungen im plot zu sehen. Die Musik von Kate und ihrer Band ist dabei einerseits diegetischer Anteil eines szenischen Handlungskontextes und wird andererseits auch nondiegetisch als Filmmusik eingesetzt. Die Liedtexte und die emotionale Atmosphäre der jeweiligen Songs werden in einer Reihe von satellites präsentiert, die als parallele Kommentierung von Kates Veränderung verstanden werden können. Durch den gesamten Film hindurch werden Szenen von Kates Konzertauftritten, Proben und Studioaufnahmen gezeigt. Die Lieder, die in diesen Szenen zur Aufführung kommen, stehen mit ihrer textlichen Bedeutung in inhaltlicher Verknüpfung zu Kates Veränderungsprozess. Die Handlungsereignisse in diesen Musikszenen haben jedoch keinen Einfluss auf den Fortgang der Haupthandlung, es sind also satellites. Die Liedtexte, die im Film zu hören sind, geben einen Eindruck von Kates politischer Einstellung, ihren sozialen Werten und persönlichen Gefühlen wieder: Bei der ersten Studioaufnahme in der großen Plattenfirma singt sie über das Sein an der Spitze und das Unwirkliche daran [01.08.20]. Sie ist so konzentriert auf ihren Gesang, dass sie nicht bemerkt, wie der Saxophonist das Studio verlässt. Sein musikalischer Part wurde vom Musikproduzenten aus dem Stück genommen. Nach dem traumatisierenden Erlebnis der Ermordung eines jungen Mannes während eines Konzertauftritts in ihrer nächsten Nähe fragt sie in einem neuen Song: „What’s right or wrong?“ [01.07.14]. Parallel zur Eskalation des Konflikts zwischen Dany, dem Manager, dem Produzenten und der Band werden immer wieder Konzertausschnitte mit dem Song „Coffee and Tea“ gezeigt. Dieser Song thematisiert Ängste 107
und Hoffnungen über Annäherung und Nähe oder Distanz, Trennung und Verlust eines geliebten Menschen. In der Haupthandlung kommt es zum Bruch zwischen Dany und den anderen. Als er beschließt, aus der Crew auszusteigen, kommt es auch zur Trennung zwischen ihm und Kate. Kate wird in den Folgeszenen nur noch bei ihren Auftritten und auf der Reise im Tourbus gezeigt, wie sie erschöpft in ihrem Sitz hängt. Kate reist ohne Pause weiter auf ihrer Konzerttour – dabei ist das Lied zu hören: „You are a programme“ [01.18.00]. Dies beschriebt ihre Situation: Kate funktioniert nach dem Programm der Musikindustrie. Es werden PR-Auftritte, Fototermine, Autogrammstunden und eine Preisverleihung geschildert. Dabei ist das Lied „Big Brother“ zu hören, inklusive der neuen Textzeile, gegen deren Änderung sich zu Beginn der Zusammenarbeit mit der Plattenfirma die Band entschieden gewehrt hatte [01.26.45] – ein weiterer Hinweis auf Kates Funktionieren und Zulassen von Steuerung und Manipulation durch die Musikindustrie. Vor ihrer Flucht von der Konzertbühne singt sie das Lied über die Maschine, die nach den Wünschen des Menschen eine neue Welt geschaffen hat [01.29.14]. Kate ist unter dem Einfluss der erfolgsgenerierenden Maschinerie der Musikindustrie selbst zu einer Maschine geworden, die am Ende verlassen und zugleich besiegt ist. In Breaking Glass wird ein drittes Bezugssystem zwischen einer Reihe von satellites und der intrapersonellen Veränderung von Kate erkennbar. Diese Bezüge verdeutlichen sich im Vergleich von opening und ending: In den szenischen Sequenzen bis zum Beginn ihrer Erfolgskarriere werden in Montagesequenzen Ereignisse gezeigt, die Kate im Miteinander der Bandmitglieder zeigen, wie sie gemeinsam etwas unternehmen, wie sie in engem Kontakt stehen, wie sie gemeinsam weitere Bandmitglieder auswählen [00.14.39]. Sie konzertieren und reisen zusammen in ihrem Tourbus [00.37.06], werden von der Polizei aufgehalten [00.35.41] und proben gemeinsam in ihrem Übungsraum [00.33.38]. Diese Ereignisse haben keinen wesentlichen Einfluss auf das weitere Geschehen, vielmehr schildern sie Kates Eingebundensein in die Gruppe. Die Bandmitglieder beziehen sich auf einander, setzten sich für einander und für ihre Musik ein. Im ending gibt es solche Szenen lebendigen sozialen Kontakts nicht mehr: Kate ist in ihrem Erfolg vereinsamt, sie bewegt sich isoliert, wird zwar von anderen Beteiligten begleitet, lebt aber ohne den Zusammenhalt und die Lebendigkeit einer Gruppe, einer Gemeinschaft [1.19.00; 1.19.33; 1.20.51; 1.36.00; 1.22.40; 1.26.16]. In der einzigen Szene im ending, die Kate in privater Gemeinschaft mit ihren Bandmitgliedern zeigt, erniedrigt der Gitarrist den Saxophonspieler Ken [01.21.15]. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft ist zerbrochen. Kate versucht dies zu verhindern, es ist jedoch bereits zu spät und sie kann den Bruch nicht vermeiden. Über diese genannten satellites etabliert sich ein Bedeutungskontrast zwischen opening und ending, der den Prozess der Veränderung in Kates äußerer und innerer Situation verdeutlicht. Sie verliert den Zusammenhalt der Gemeinschaft, gerät zusehends in 108
Isolation, lässt sich manipulieren und fremdbestimmen und gibt ihren eigenen Willen und ihr Streben nach ihren ursprünglichen Idealen auf. In Betty Blue lassen sich bei der Analyse der kernels und satellites zwei Auffälligkeiten im Einsatz der satellites feststellen, die in Bezug zur intrapersonellen Wandlung der Protagonistin stehen. Bettys aggressive Ausbrüche und tätliche Handlungen gegen Dinge und andere Menschen sind, wie in 5.1 (vgl.: 103 f.) bereits beschrieben, mittels lokal begrenzter cause-effect chains von Ursache und Wirkung in den Gesamtzusammenhang der Erzählung eingebettet. Diese Ereignisse haben, bis auf Bettys ersten und letzten aggressiven bzw. autoaggressiven Akt, keinen Einfluss auf den Gang der weiteren Handlung und sind daher als satellites zu definieren. Diese Szenen zeigen, in welcher für sie charakteristischen Weise Betty auf Konflikte, Probleme und Frustrationen reagiert. Ihr „passt etwas nicht“ und sie versucht im Ausagieren ihrer Aggression und Frustration die Situation in ihrem Sinne zu verändern. Dabei wird jedoch deutlich, dass ihre Verhaltensweisen keine sozial adäquaten Lösungsstrategien zur Lebensbewältigung bieten. Die Ausbrüche von Gewalt und Aggression eskalieren von Mal zu Mal, doch bleiben unmittelbare Folgen ihres Verhaltens aus. Nur der erste große aggressive Akt, das Niederbrennen des Hauses, hat direkte Folgen für den weiteren Handlungsverlauf [00.27.42]: Betty und Zorg gehen gemeinsam nach Paris. Die anderen aggressiven Ausbrüche gegen Dinge und Menschen haben, mit Ausnahme der letzten, selbstzerstörerischen Handlung, keinerlei Auswirkung auf den anschließenden Verlauf der Ereignisse. Damit haben diese erzählerischen Momente in der gesamten Erzählung als satellites gegenüber den kernels der äußeren Handlung eine untergeordnete Bedeutung. Für die Darstellung des intrapersonellen Wandlungsprozesses liefern die satellites jedoch wichtige Informationsbausteine: In der Reihung der satellites werden Hinweise auf den Entwicklungsgang des psychischen Umbruchs der Figur eingebaut – Anzeichen von Bettys Veränderung deuten sich in der Folge der aggressiven Handlungen an. Erst als Bettys Veränderung vollzogen ist, als die psychische Erkrankung gänzlich ihr Denken, Fühlen und Handeln bestimmt, sind die damit verbundenen Zusammenhänge als Inhalte von kernels in der Handlung positioniert. Die letzte ihrer autoaggressiven Handlungen, Bettys Selbstverstümmelung, hat direkte und gravierende Auswirkungen auf den folgenden Handlungsverlauf. In einer zweiten, bemerkenswerten Verwendung von satellites werden in Betty Blue szenische Begebenheiten zwischen verschiedenen Figuren der Geschichte inszeniert, die „unpassende“ Momente und Verhaltensweisen schildern: Etwas „Verrücktes“, nicht Passendes, ereignet sich oder eine der Figuren handelt auf absurde, irritierende Weise. Diese Ereignisse haben alle keinen wesentlichen Einfluss auf das Hauptgeschehen und die Entwicklungen innerhalb der Geschichte. Hier nur einige Beispiele: Betty kocht einen Weihnachtsbraten im Hochsommer [00.24.10]; Eddy stopft 109
sich den Absagebrief eines Verlegers in den Mund, damit Betty ihn nicht sieht [00.48.20]; in die ausgelassene Party dringt die Nachricht über den Tod von Eddys Mutter [00.52.35]; im Moment großer Trauer flötet die Automatikuhr von Eddy ihr kitschiges Stundensignal [00.54.15] – das bringt die Tröstenden zum Lachen; die einzige schwarze Krawatte Eddys, die für die Beerdigung passt, zeigt das Bild einer nackten Frau [00.53.35]; der Gemüsehändler spielt Trompete für die stummen Goldfische [01.07.45] und hängt im Zorn seinen Sohn mitsamt Hose und Hosenträgern an einen Handtuchhaken [01.04.50]; der empfindliche Flügel wird mit einem schweren Tieflader transportiert [01.17.00]. In diesen Szenen wird das Thema von Bettys unbeherrschten und „verrückten“ Verhaltensweisen wie ein fortgesetztes Echo immer wieder aufgegriffen. Vermittelt wird so, dass verrückte und unpassende Ereignisse normal sind und dass solche Situationen zum Leben gehören. Über diese thematische Parallele zu Bettys aggressiven Ausbrüchen als unpassende Verhaltensweisen bildet sich zunehmend ein Kontrast im Ursache- und Wirkungskontext. In den kleinen „verrückten“ Szenen und Interaktionen der anderen Figuren gelingt es stets, die nicht passenden Elemente und Ereignisse in die Situationen zu integrieren. Betty hingegen wird in ihrem Handeln immer unbeherrschter: Ihre aggressiven Akte lassen sich nicht mehr in ein soziales Umgehen mit anderen integrieren, sondern eskalieren zur Katastrophe. Situative Integration und Lösungen sind nicht mehr möglich. Folgen dieser Ereignisse scheint es jedoch keine zu geben. Erst am Gipfel der Eskalation, dem Akt der Selbstverstümmelung, werden die Folgen ihres Handelns in Form erzählerischer kernels thematisiert. Hier wechselt das Thema ihrer psychischen Disposition und Verfassung von der Peripherie der satellites in die zentralen kernels des Handlungsverlaufs. Für Taxi Driver wurde bereits festgestellt, dass im mittleren Teil der Erzählung keine stringente Verknüpfung zwischen Ursachen und Wirkungen der gezeigten Ereignisse aufgebaut ist. Da die Handlungsketten nicht deutlich durch eine erzählerische Logik verbunden sind, zeigt sich auch eine gewisse Unbestimmbarkeit bei der Analyse einzelner szenischer Situationen ob ihrer Eigenschaften als kernels oder satellites im hierarchischen Konstrukt: Ohne klare Bezüge zwischen Ursache und Wirkung lässt sich nicht sicher bestimmen, welche Situationen zu den Kernereignissen der Handlung zählen und welche nur mittelbare Bedeutung haben für den Fortgang des Geschehens. Hier einige Beispiele aus diesen Szenenfolgen: Travis sitzt nachts mit seinen Kollegen im Taxifahrertreff [00.14.10]; er wird von einem Fahrgast gezwungen, ein Fenster zu beobachten. Der Fahrgast monologisiert dabei seine Gewaltphantasien, die er an seiner untreuen Ehefrau ausagieren will [00.39.04]; Travis scheitert beim Versuch, mit seinem Kollegen Wizard ein persönliches Gespräch zu führen [00.44.00]; Travis sieht eine Wahlsendung mit Palantine [00.47.18]; bei einer nächtlichen Taxifahrt stolpert Iris vor seinen Wagen [00.48.55]; Travis kauft sich 110
fünf Pistolen und Revolver [00.52.10]; er beginnt seinen Körper zu trainieren und übt die Handhabung der Waffen [00.55.05]; Travis geht bewaffnet auf eine Wahlveranstaltung von Palantine und spricht dort einen Mann des Civil Service an [00.58.55]; er sitzt mit einer Waffe in der Hand allein in seinem Zimmer vor dem laufenden Fernseher [01.06.33]. In dieser, noch um einige Szenen längeren, Abfolge ereignen sich Situationen, die eine jeweils eigene Logik haben, aber zueinander nicht als Kettenglieder einer übergreifenden Logik in Beziehung stehen. Es entstehen verschiedene Momente latenter Sinnzusammenhänge im Wechsel dieser Szenen, zwischen deren erzählerischen Elementen keine klaren Hierarchien herrschen. Diese Unbestimmtheit und Latenz kann als Strategie der erzählerischen Konstruktion beschrieben werden, welche in einem direkten Bezug zur Darstellung des intrapersonellen Wandlungsprozesses steht. Der Zuschauer generiert mehrere mögliche Versionen vorhandener Zusammenhänge in diesen Szenenfolgen, bzw. implizite Ursache-undWirkungs-Verknüpfungen und hält sie als Erklärungsmodelle für die weiteren Geschehnisse bereit. In dieser Reihung von Ereignissen verübt Travis plötzlich einen Mord [01.05.00]. Diese Szene ist völlig unvermittelt in die Abfolge lose aneinander gereihter Ereignisse eingeflochten; irgendwelche Auswirkungen dieser Tat auf Travis’ Lebenssituation werden nicht gezeigt. Das Ereignis, so gravierend die Handlung eines Mordes auch sein mag, ist als satellite inszeniert. Der gesamte Erzählabschnitt mit einer nur latenten Ursache-Wirkungs-Verknüpfung im Fluss der Ereignisse verfolgt den Weg zum Wendepunkt in Travis’ Verhalten und Handeln. Wie diese innere Veränderung vorgeht, bleibt mehr oder weniger verborgen und wird nur angedeutet. Die intrapersonelle Wandlung der Figur Travis wird nicht als ein offenliegendes, sich in Phasen und Stufen vollziehendes inneres Geschehen inszeniert, sondern bleibt in ihrem Verlauf unfassbar und nicht nachvollziehbar. In starkem Gegensatz zu dieser Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit werden die gravierenden Folgen von Travis’ charakterlicher Veränderung um so drastischer in den kernels der Kampfvorbereitungen und des Attentats selbst geschildert. In Dead Man werden klare Funktionen der kernels und satellites für die Schilderung des Wandlungsgeschehens erkennbar. Alle Ereignisse, die Blakes äußeres Leben im opening der Erzählung in eine völlig neue Richtung zwingen, sind als zufällige und schicksalshafte Ereignisse in kernels inszeniert. Die Ursache-Wirkungs-Kette, welche sich durch diese kernels aufbaut, bleibt durch den ganzen folgenden Filmverlauf auf gleiche Weise erhalten. Blake muss als flüchtiger Mörder sein Leben verteidigen und tötet dabei weitere Personen. Diese Taten sind als kernels inszeniert. Ihre Auswirkungen verändern aber die Entwicklung von Blakes Lebenssituation nicht grundlegend. Er muss nach wie vor seinen Verfolgern entkommen. In den kernels sind jedoch wesentliche Informationen und Hinweise auf seinen Wandlungsprozess inszeniert; die sukzessive und deutliche Veränderung von Blakes Verhalten bei der Ausführung der 111
Mordtaten steht in Beziehung zu seiner charakterlichen Wandlung. In der Analyse der satellites zeigt sich, dass diese untergeordneten Elemente der erzählerischen Hierarchie ebenfalls Funktionen für die Schilderung der intrapersonellen Veränderung haben. In Reihungen mehrerer szenischer Situationen, die als satellites inszeniert sind, werden erzählerische Zusammenhänge aufgebaut, die Hinweise auf Blakes inneres Erleben, seine Suche nach Orientierung und sein schrittweises Annehmen seines Leidens und Sterbens präsentieren. Diese Inhalte finden sich in satellites mit szenischen Situationen, welche die Freundschaft zwischen Blake und dem Indianer Nobody schildern: Beide Figuren führen in diesen Szenen Dialoge über metaphysische Gedanken – über die großen Fragen des Lebens und über die Lebenssituation des flüchtenden Weißen. Blakes Reaktionen, Fragen und Antworten in diesen Gesprächen zeigen dabei eine inhaltliche Entwicklungslinie: Zunächst bleibt er in distanzierter und leicht amüsierter Haltung gegenüber Nobodys Äußerungen. In einer ersten Haltungsänderung zeigt er Unmut über die Rätsel und Andeutungen Nobodys. Er gibt zu, nichts zu verstehen und ist verärgert über Nobodys Art, sich auszudrücken. In einer nächsten Veränderungsphase übernimmt Blake nach und nach einige Formulierungen und Gedankengänge Nobodys in sein eigenes Sprechen. Diese Veränderungen in Blakes Denken und Sprechen bewirken keine grundlegende Wende der äußeren Handlungsereignisse, vielmehr formuliert sich in diesen satellites der Weg zur steigenden inneren Erkenntnis und zur intrapersonellen Veränderung Blakes: Die Haltung, mit der er sein Schicksal trägt, verändert sich. Dies zeigt sich zum einen in der Art und Weise, in der er auf seine Verfolger und Angreifer reagiert und zum anderen, indem er sich der Freundschaft mit Nobody öffnet. Eine weitere Gruppe von satellites visualisiert innere Wahrnehmungsbilder von Blake. Diese Szenen haben zwar keine Folgen für die Haupthandlung, in einem Vergleich dieser Szenen jedoch wird ein Veränderungsprozess beschreibbar, der in Beziehung zur inneren Wandlung steht. Ähnlich wie in Das Piano sind dies Szenen, die den Protagonisten in einer völlig ereignislosen Situation zeigen, in der er sich selbst überlassen ist. In diesen Momenten werden durch eine auffällige, verfremdende Kameraästhetik Bewusstseinsbilder Blakes inszeniert. Die auf diese Weise präsentierten Bildinhalte stehen in Bezug zu Aussagen anderer Figuren, die ihm durch die Beschreibung dieser Bilder prognostische, für ihn jedoch zunächst rätselhafte Dinge mitgeteilt haben – sowohl der Heizer im Zug als auch Nobody haben in Dialogszenen mit Blake gedankliche Bilder beschrieben, die nun in Blakes innerer Wahrnehmung entstehen: Nobody meinte, Blake werde ohne Brille besser sehen können [01.08.00]; Blake sieht daraufhin ohne Brille nachts Geister im Gebüsch [01.16.54]. Der Heizer erzählt ihm vom Erleben und Sehen, dass das Boot, in dem er sich befindet, still stehe, die Landschaft sich aber bewege [00.05.00] – als Blake sich neben das tote Reh legt, beginnt die Kamera diesen Wahrnehmungseffekt aus seiner subjektiven Blickperspektive zu inszenieren [01.20.55], ebenso am Ende des Films, wenn Blake in seinem Sterbeboot liegt [01.48.03]. 112
Ein weiterer Bezug zu Blakes innerem Veränderungsprozess ist in der sehr unterschiedlichen Inszenierung zweier subjektiver Wahrnehmungsweisen in opening und ending visualisiert: Wenn Blake zu Beginn des Films durch das Dorf Machine geht, fällt sein Blick auf Szenerien und Situationen, die ihn irritieren, anekeln, erschrecken. Seine subjektive Blickperspektive springt dabei schnell von einem Anblick zum nächsten. Bei seinem Gang durch das Indianerdorf am Ende der Erzählung gleitet sein Blick nahezu unkontrolliert über Szenerie, Menschen und Gegenstände, nichts fesselt seinen Blick mehr oder erschreckt ihn. Er nimmt nun alles mit großer Gleichmut wahr, bedingt auch durch seinen sehr geschwächten physischen Zustand. Im Kontrast zwischen diesen Inszenierungen seiner subjektiven Wahrnehmung zu Beginn und am Ende des Films wird Blakes innere Wandlung deutlich. Die Hauptfigur Pipe in Kleine Fluchten geht seinen Veränderungsprozess aktiv an – Pipe handelt auf neue Weisen und geht dabei neue Wege. Diese Handlungen werden in kernels des Handlungsverlaufs inszeniert. Satellites werden im erzählerischen Material der Geschichte auf zwei unterschiedliche Weisen eingesetzt, um Pipes innere Veränderung und Reifung zu verdeutlichen: Zum einen sind in vielen satellites Pipes Wesenszüge dargestellt, welche die Ausgangsbasis seiner Veränderung bilden. Er will und kann genießen, was beim Kartenspiel [01.16.55] und bei seinen Ausflügen deutlich wird [z.B. 00.28.09; 00.41.57; 00.48.24; 1.07.28]. Er ist zu Spontaneität und Impulsivität fähig, das zeigt sich in seiner Kontaktaufnahme zu anderen [01.22.31] und in seinem Humor [z.B. 00.57.54; 1.13.33]. Pipe ist spielerisch, von kindlicher Begeisterungsfähigkeit und hat einen starken Willen. Dies wird in seiner Annäherung an das Moped und das Mopedfahren dargestellt [00.24.58]. Kreativ, findig und schlau begegnet er Aufgaben und Problemen seines Alltags und findet nach Momenten des Scheiterns neue Wege zu Sinn und Selbstausdruck. Diese Potenziale seiner Persönlichkeit werden hauptsächlich in satellites geschildert. Die Handlungen wiederum, welche er durch diese persönlichen Fähigkeiten selbst initiiert und mittels derer er seine Wandlung anstößt, sind in der erzählerischen Hierarchie in kernels verortet. Eine weitere Funktion der satellites für den Aufbau von Pipes charakterlicher Wandlung liegt in den darin präsentierten parallelen Geschichten der anderen Protagonisten. Deren Inhalte sind in Bezug auf Pipes Handlungsstrang in der erzählerischen Hierarchie nachgeordnet. Über die szenischen Situationen dreier anderer Figuren spiegelt sich Pipes Streben nach Veränderung und Wandlung wider. Diese Erzählstränge sind wie ein Kommentar zu Pipes Entwicklung aufgebaut: Der Sohn des Bauern will die Hofwirtschaft verändern und entwickeln; die Tochter ist unzufrieden mit ihrer Lebenssituation und sucht nach einer Lösung; Pipes Kollege Luigi blickt in eine unsichere Zukunft. Die enge Bedeutungsverknüpfung dieser Erzählstränge mit der Entwicklung von Pipe zeigt sich etwa in der Montagesequenz nach Pipes Mopedunfall: Auch die anderen Figuren werden darin kurz in Momenten des Scheiterns gezeigt. 113
In Rocco und seine Brüder können in der erzählerischen Verwendung der satellites keine expliziten Gestaltungsmuster festgestellt werden, die in einem Bezug zum charakterlichen Wandlungsprozess der Figur Simone stehen. Dies hat folgende Gründe: Kernels beinhalten das Schicksal der beiden Hauptfiguren Rocco und Simone. Satellites werden in dieser Erzählung genutzt, um parallele Handlungsstränge der beiden Brüder Vincenzo und Ciro zu präsentieren, welche eigene erzählerische Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen aufweisen. In einer Gesamtschau des Schemas von kernels und satellites fällt auf, dass hier ein inhaltlicher Kontrast aufgebaut ist: Die Inhalte der kernels, die sich auf Simone beziehen, zeigen seinen Weg des Scheiterns. In den satellites, welche die parallelen Geschichten der anderen Brüder vermitteln, werden deren Streben nach eigenen Zielen (Ausbildung, Familie) und ihr sozialer Aufstieg dargestellt. Die Geschichten über Vinzenco und Ciro nehmen keinen direkten Einfluss auf den Haupthandlungsstrang der Figur Simone. Auf diese Weise wird ein starker Kontrast zu Simones Entwicklung aufgebaut. Die Geschichte von Simone wird fast ausschließlich in kernels strukturiert, ergänzt durch wenige satellites, die zur Schilderung seiner charakterlichen Dispositionen eingesetzt sind. In den Szenen zwischen Simone und Nadja zeigen sich seine Wünsche und Bedürfnisse nach Zuneigung, Nähe und Liebe. Zugleich verdeutlicht sich seine Eigenschaft, die harte Realität zu verdrängen. Rahmen der Beziehung zwischen Nadja und Simone ist die Prostitution. Doch sieht Simone darin eine Liebesbeziehung. Dass er eine Einladung des Managers ausschlägt, um mit Nadja auszugehen, zeigt seine Gleichgültigkeit gegenüber geschäftlichen Vereinbarungen und den Bedingungen der Arbeitswelt. Im Anschluss an Schilderungen von Simones Charaktereigenschaften in satellites wird sein Aufstieg und Scheitern im weiteren Filmverlauf in einer Reihe von kernels geschildert. Immer weniger führt ihn sein Handeln zur Lösung seiner Probleme, sondern Schritt für Schritt in den sozialen Abgrund.
5.3 Etablierung von HPBMT und ihre Veränderung Bei der Analyse der Beispielfilme wird deutlich, dass in Aufbau und Veränderung der goals der Hauptfiguren wesentliche Faktoren für die erzählerische Vermittlung ihrer charakterlichen Wandlungsprozesse etabliert sind. Die inhaltlichen Bedeutungszusammenhänge der goals sind zwar in jedem Film auf andere Weise strukturiert, doch tragen sie stets wesentliche Bausteine zur Visualisierung der intrapersonellen Wandlung bei. In einem Vergleich der Gestaltungsmuster der goals lassen sich ähnliche und korrespondierende Verwendungsweisen feststellen. Es können drei verschiedene Konfigurationen der goals beschrieben werden: Die Veränderungen sind entweder nach dem Prinzip development, einer fortschreitenden 114
Entwicklung, oder nach dem Prinzip disunity, eines sich verstärkenden oder auch jäh einsetzenden, extremen Kontrasts ausgestaltet. Die dritte Konstruktionsart hingegen weist keine Veränderung der goals auf, sondern folgt einer nach dem Prinzip unity geformten gleichbleibenden Linie. Die Beispielfilme, in denen ein Prozess charakterlicher Reifung erzählt wird, präsentieren diesen in einer stufenweisen Veränderung der goals der Hauptfigur (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man). Auch in Der mit dem Wolf tanzt findet sich solch eine phasenweise Entwicklung in Bezug auf die goals der Figur, die jedoch noch zusätzlich durch einen Kontrast, der einen Rahmen für den Veränderungsprozess bildet, akzentuiert wird. Die Erzählungen des Scheiterns weisen zwei verschiedene Konstruktionsprinzipien in Bezug auf die goals ihrer Hauptfiguren auf: In Betty Blue und in Breaking Glass sind die Handlungen der Figuren auf gleichbleibende goals ausgerichtet. Dabei liegt das Scheitern von Betty in ihrer Unfähigkeit, alternative Ziele zu wählen. Kate hingegen scheitert daran, ihre Ziele kontinuierlich zu verfolgen. Die beiden anderen Beispielfilme für das Scheitern intrapersoneller Wandlungsprozesse, Taxi Driver und Rocco und seine Brüder, zeigen in ihrem Aufbau extreme Kontraste bei der Veränderung der goals der Hauptfiguren. Das Ziel, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, wandelt sich in das Gegenteil: Andere Menschen zu töten. In Das Piano lässt sich eine deutliche, stufenweise Veränderung der goals der Hauptfigur feststellen: Zu Beginn des Films ist es Adas goal, zu dem Mann, mit dem sie verheiratet wurde, nach Neuseeland zu reisen. Schon bald nach ihrer Ankunft in Neuseeland etabliert sich ein neues goal für Ada, das über mehr als die Hälfte des Films konstant bleibt: Ada will ihr Piano wieder in ihren Besitz zu bringen. Im letzten Drittel der Erzählung verändert sich das goal Adas erneut und richtet sich auf das Zusammensein mit Baines. Im Erzählverlauf kommt es zwischenzeitlich noch zu einer scheinbaren Verlagerung von Adas goal auf ihren Mann Stewart, bevor sie ihr eigentliches Ziel, mit Baines leben zu können, am Ende der Geschichte erreicht. Die erzählerische Konstruktion und Veränderung der goals weist in dieser Geschichte eine außerordentliche Symmetrie auf. Sie findet ihre Vollendung in der Szene, in der Ada ihr ursprüngliches zentrales goal – den Besitz des Pianos – aufgibt und das Instrument im Meer versenkt [01.46.40]. An der Veränderung der goals zeigt sich, dass Adas intrapersonelle Wandlung grundlegend ist: Ist ihr goal zunächst auf einen leblosen Gegenstand ausgerichtet, ist am Ende der Geschichte ihr zentrales goal, mit dem geliebten Menschen zusammen leben zu können. Sie hat ihre Zuneigung, Sehnsucht und Liebe, die ursprünglich ganz ihrem Piano gewidmet war, von dem toten Gegenstand gelöst und richtet sie nun auf die Annäherung und Liebesbeziehung mit Baines. In Dead Man zeigt sich eine Besonderheit in der Art und Weise, wie die goals der Hauptfigur innerhalb der erzählerischen Konstruktion entstehen: Nur sein erstes goal wählt Blake aus freiem Willen und durch selbstbestimmtes Handeln. Er will den 115
Job im weit entfernten Machine annehmen, der ihm brieflich versprochen wurde. Das zweite goal, das Blake im Verlauf der Geschichte übernimmt, wird von ihm nicht selbstbestimmt gewählt; er wird durch schicksalhafte Ereignisse gezwungen, als zentrales Ziel das existentiellste goal eines Menschen zu wählen: Seine Freiheit und sein Überleben zu verteidigen und zu schützen. Blake muss vor seinen Verfolgern fliehen; Widersacher, die sich ihm in den Weg stellen, tötet er. Die Folgen seiner Schussverletzung, die er zu Beginn der Geschichte erlitten hat, zwingen ihm Schritt für Schritt ein neues, drittes und letztes goal auf. Er wird an dieser Verletzung sterben. Während er um sein Überleben kämpft, wird sein Sterben zu seinem letzten goal. Nur allmählich erkennt und versteht er dieses goal, das sich ihm bereits in seinen jungen Jahren stellt. Im letzten Viertel des Films hat er dieses unausweichliche Ziel auch innerlich angenommen und geht seinen Weg mit innerem Einverständnis. Blakes Wandlung ist, gemessen an der Entwicklung und Veränderung seiner goals, die größte, die ein Mensch in seinem Leben durchschreiten kann und muss: Die Unabwendbarkeit des eigenen Sterbens anzunehmen. Dieser Tatsache kann sich niemand durch aktives Handeln entziehen. Die Bildung des zweiten goals und mehrerer peripherer Interimsziele, die Blake im Laufe der erzählerischen Ereignisse gezwungenermaßen wählen muss, weisen übereinstimmend diese Qualität der Unumgänglichkeit auf. Die goals der Hauptfigur Pipe in Kleine Fluchten sind von gänzlich anderer Art – Pipe wählt jedes seiner goals aktiv und auf Grund seines freien Willens aus. Zentrales inhaltliches Moment seiner goals ist die Fortbewegung: Er kauft sich ein Moped und erweitert Schritt für Schritt seinen Bewegungsradius. Nach dem Verlust dieser Möglichkeit – Pipe verursacht betrunken einen Unfall und darf nicht mehr Moped fahren [01.37.45] – wählt er zwei in Art und Geschwindigkeit gegensätzliche Bewegungsarten: Er bewegt sich im kleinsten Radius durch seine Alltagswelt und betrachtet und fotografiert sich selbst, seine Umgebung und die Menschen, mit denen er lebt [01.47.00, 01.52.15, 01.53.42]. Zugleich unternimmt er die weiteste und schnellste Bewegung innerhalb der Erzählung: Einen Helikopterflug zum Matterhorn [01.55.37]. Während dieses Flugs benennt er sein nächstes goal: Er will nach Hause, weil er dort zu tun hat. Zurück auf dem Hof streicht er sein Zimmer weiß [02.04.21]. In Der mit dem Wolf tanzt handelt die Hauptfigur bei der Wahl ihrer goals ebenfalls auf selbstbestimmte Weise. Durch einen Vergleich der goals am Beginn und am Ende der Geschichte kann der Kern der intrapersonellen Wandlung von John Dunbar zu Dermit-dem-Wolf-tanzt erfasst werden: Am Beginn der Geschichte rettet sich der Soldat Dunbar vor einer Beinamputation, stürzt sich aber kurz darauf selbstmörderisch zwischen die verfeindeten Seiten der Schlacht. An ihrem Ende verlässt der weiße Freund der Indianer gemeinsam mit seiner Frau diese Lebensgemeinschaft, um so ihr Überleben zu sichern. Die wesentlichen Eigenschaften der Hauptfigur wandeln sich von widersprüchlichen Impulsen, dem blanken, existentiellen Überlebenswillen 116
und selbstmörderischer Selbstaufgabe zum Streben nach Kontakt, Verständigung, Freundschaft und Liebe. Aus dem haltlosen, potenziellen Selbstmörder ist ein liebender Mensch geworden, fähig zu tiefen Bindungen und verantwortungsvollem und altruistischem Handeln. Der Weg dieser intrapersonellen Wandlung ist in einer Kette von goals aufgebaut, die Schritt für Schritt den Entwicklungsbogen der Hauptfigur verdeutlichen. Dunbar geht dabei den Weg von der Einsamkeit zur Gemeinschaft: Er will den Wilden Westen kennenlernen und lässt sich als Soldat dort hin versetzen, setzt sich der Einsamkeit aus, findet dabei zu seinen wahren Bedürfnissen und zu einem Leben im Einklang mit der Natur. Er sehnt sich nach menschlichen Kontakten, es kommt zu Begegnungen mit den Indianern und Dunbar gelingt es, ihr Vertrauen zu gewinnen. Es entstehen Freundschaft und Liebe. Er heiratet die Frau, die er liebt und findet seinen Platz in der Lebensgemeinschaft der Indianer. Er desertiert von der U. S. Army, verlässt die Indianer und entscheidet am Ende der Erzählung, sich für das Überleben der Indianer einzusetzen. Der mit dem Wolf tanzt ist geprägt von einer Kette von goals. Im Kontrast hierzu steht die gänzlich andersartige Verwendung von goals in Breaking Glass. Über die Handlungen und Aussagen der Protagonistin etabliert sich im opening des Films ihr zentrales, kontinuierliches Ziel. Kate will sich als gesellschaftskritische Musikerin vor einem Publikum ausdrücken. Ihr Credo dabei ist, dass sie dies unabhängig und unbeeinflusst von marktwirtschaftlichen Mechanismen der Musikindustrie tun will. Damit verbindet sich ein weiteres goal: Kate ist der Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern ihrer Band sehr wichtig. Ihre innere Wandlung wird inszeniert in der zunehmenden Entfremdung von ihrem zentralen goal, den damit verbundenen Grundwerten und ihrem Selbstverständnis. Kate wählt den kommerziellen Erfolg nicht aktiv als eigenes, neues goal. Sie handelt nach Forderungen, die von außen an sie herangetragen werden und die den Zielen Dritter dienen. Ihr Verhalten liefert Hinweise, dass sie mehr und mehr die zunehmende Fremdbestimmung ihrer Person und ihres Tuns zulässt; die Orientierung ihrer Entscheidungen nach ihren ursprünglichen Auffassungen gibt sie dabei auf. Der einstmals enge Zusammenhalt ihrer Band löst sich auf, es kommt zum Auseinanderdriften und zu Distanziertheit. Kates Musik und ihre Liedtexte werden von Plattenfirma und Produzent manipuliert. Verausgabt durch die unablässigen Konzerte, wird sie mit Aufputschmitteln zum weiteren Funktionieren im Sinne des Musikmanagements gebracht. Als sie aus dieser entfremdeten Situation ausbricht, kollabiert sie körperlich und psychisch. Im Zimmer der Klinik trägt ihr Dany bildhaft ihr ursprüngliches goal wieder an, indem er ihr ein kleines elektronisches Musikinstrument auf den Schoß legt [01.35.16]. Nachdem Kate aus dem Veränderungsprozess, der zum Verlust ihres zentralen goal geführt hat, ausgebrochen ist, steht am Ende der Geschichte ein neuer Ausgangspunkt für eine Entwicklung. 117
Die Entwicklung und Wandlung der zentralen Figur in Betty Blue ist – vergleichbar mit der Konstruktion in Breaking Glass – über einem zentralen, sich nicht verändernden goal der Hauptfigur aufgebaut: Betty strebt danach, ihren Willen uneingeschränkt durchzusetzen und die Erfüllung ihrer Wünsche zu erreichen. Sie ist nicht bereit, sich den dabei entstehenden Konflikten zu stellen, sie zu lösen bzw. Kompromisse zu finden. Trifft sie auf ihrem Weg auf Widerstände, richtet sie ihre Frustrationen und Aggressionen gegen Dinge und Menschen. Zwei aufeinander folgende Hauptziele strebt Betty an: Sie möchte, dass Zorg zu einem erfolgreichen Schriftsteller wird und hat dafür Zorgs Tagebücher als Manuskript an Verlage geschickt. Als sie glaubt schwanger zu sein, freut sie sich auf ihr Kind. Beide Ziele jedoch entziehen sich ihrem direkten und möglichen Einfluss: Zorg beugt sich nicht ihrem Willen, potenzielle Verleger reagieren ablehnend auf das Manuskript und die Schwangerschaft bestätigt sich durch eine laborärztliche Untersuchung nicht. Die Frustrationen über die nicht erreichten Ziele agiert Betty in Akten der Zerstörungswut gegen Gegenstände und gegen die Verursacher der Enttäuschungen aus. Als sie die Aussicht auf eine Schwangerschaft verliert, wendet sie sich autoaggressiv gegen sich selbst. Ihr Unvermögen, nicht erreichbare goals aufzugeben, Enttäuschung zu ertragen und alternative Ziele zu suchen, ist Auslöser und Katalysator ihrer intrapersonellen Wandlung. Dies zeigt sich im Fortbestehen der goals vom Beginn bis ans Ende der Geschichte. Bettys Unfähigkeit, mit Frustration umzugehen steigert sich, was sowohl in peripheren Alltagssituationen wie im Bezug auf ihre zentralen goals dargestellt wird. Am Ende der Geschichte manifestiert sich das Scheitern Bettys im Verlust jeglichen Entscheidungsraums für ein möglicherweise situationsveränderndes neues goal. In Taxi Driver ist in der Veränderung der goals, welche die Hauptfigur anstrebt, ein extremer Bedeutungskontrast aufgebaut. Dies lässt sich im Vergleich der goals innerhalb der Sequenzen von opening und ending der Geschichte beschreiben: Travis sucht sich einen Job und sehnt sich nach Kontakt zu einem Menschen. Er sieht Betsy und versucht sie näher kennen zu lernen. Am Ende der Geschichte ist es sein goal, eine junge Prostituierte zu retten und dabei andere Menschen und sich selbst zu töten. Das Ziel, in Beziehung zu anderen Menschen zu treten, hat sich in das Gegenteil verwandelt. Eine zusätzliche Steigerung dieses Kontrastbezugs wird durch die Konstruktion von anfänglich ähnlichen und parallelen Ereignisverläufen in opening und ending aufgebaut, die dann aber in den beiden Sequenzen einen gänzlich anderen Verlauf nehmen. Die Ziele von Travis, wenn er zu Beginn der Geschichte Betsy kennenlernen will und im letzten Drittel die Begegnung mit Iris anstrebt, stehen in Parallelität und Korrespondenz zueinander. Ein Element der Strukturen dieser goals jedoch ist verschoben: Travis wollte Betsy als Gegenüber gewinnen, um vielleicht eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Den Kontakt zu Iris strebt er nicht mit dem Ziel, eine Beziehung zu ihr aufbauen zu wollen, an, sondern um sie aus ihrer Situation als 118
Prostituierte zu befreien und zur Rückkehr zu ihren Eltern zu bewegen. In seinem Bestreben, Betsy näher zu kommen, handelt Travis zielgerichtet, scheitert aber und gibt sein Ziel daraufhin auf. Seinen Willen, Iris zu befreien, setzt er mit Gewalt durch. Dieser Wandel in der Vorgehensweise der Hauptfigur vollzieht sich in einer Entwicklungsphase im mittleren Teil der Geschichte, die eine Auflösung klarer, miteinander in Zusammenhang stehender goals repräsentiert. Nach der Zurückweisung durch Betsy sucht Travis das Gespräch mit seinem Taxikollegen [00.43.30], eine Verständigung scheitert jedoch. Hier endet die über klare goals nachvollziehbare Entwicklung im Handeln von Travis. Es folgen Ereignisse und Handlungen, deren Einfluss auf ihn und seine Zielorientierung im Unklaren bleibt. Travis fährt weiter Taxi und verbringt einsame Stunden in seinem Zimmer. Er kauft sich mehrere Waffen [00.52.10] und beginnt zu trainieren wie ein Guerillakämpfer [00.55.05]. Er geht bewaffnet auf eine der Wahlveranstaltungen für Palantine [00.58.33]. Plant er ein Attentat auf den Wahlkampfkandidaten oder auf Betsy? Völlig unvermittelt entschleiert sich ein goal von Travis, als er einen Schwarzen, der ein Lebensmittelgeschäft überfällt, erschießt [01.05.00]. Dieses Ereignis bleibt folgenlos und findet keine Verknüpfung mit weiteren Entwicklungen in der Geschichte. Die Etablierung dieses goals erfolgt nicht über stufenweise Veränderungen, sondern wird plötzlich in einer einzelnen Handlung von Travis manifest. Dies geschieht wie die Bewegung einer Kippfigur, die daraufhin wieder zurückklappt; im weiteren Erzählverlauf folgt eine Szenenfolge mit unklaren Handlungszielen, ohne dass ein Bezug erkennbar wird. Schlüsse, die Travis aus seinen Erfahrungen zieht, verbleiben im Unbestimmten. Seine Entscheidungsfindung ist nicht nachvollziehbar dargestellt. Ein neues, klares goal benennt Travis erst wieder gegenüber Iris: Er will sie aus ihrer Situation als Prostituierte retten [01.16.50]. Auf dem Weg zu diesem Ziel ereignet sich zum zweiten Mal die Bewegung einer Kippfigur bei der Etablierung eines goal: Travis’ Impuls der Kontaktsuche zu anderen Menschen klappt um zur Tötung mehrerer Menschen. In dieser Kippfigur zweier zueinander in starkem Kontrast stehenden goals ist das Scheitern des Protagonisten Travis inszeniert. Zwischen der ersten und der zweiten Bewegung des plötzlichen Umklappens von Impulsen ist die Phase der Unbestimmtheit und Ziellosigkeit zwischengelagert. Die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung in Travis’ intrapersonellem Wandlungsprozess bleiben jeweils Fragment. Lediglich die Rätselhaftigkeit von Travis’ Entscheidungsfindung wird in dieser Inszenierungsweise der goals deutlich. Er ist zwar fähig, seinen Willen auf selbst gewählte Ziele hin zu verfolgen, doch erfolgt die Verarbeitung seiner Gefühle und Erfahrungen, die ihn neue goals wählen lässt, auf nicht nachvollziehbare Weise. Auch in Rocco und seine Brüder ist ein Kontrastbezug im Aufbau der goals der Figur Simone auszumachen: Die goals, welche diesem Protagonisten in opening und ending der Geschichte zugeordnet sind, stehen zueinander in extremem Gegensatz. Zu Be119
ginn der Erzählung strebt Simone ein besseres Leben in der Stadt an. Seine beiden zentralen goals sind es, ein erfolgreicher Boxer zu werden und Nadjas Liebe zu gewinnen. Am Ende der Erzählung hat sich sein Streben nach Erfolg in kriminelle Energie umgewandelt. Sein goal ist es nun, durch verbrecherische Handlungen seine Existenz zu sichern, zum Beispiel durch Diebstahl und Erpressung. Simones zweites goal ist unverändert Nadjas Liebe. Sein Streben danach wandelt sich jedoch plötzlich in das Gegenteil: Da er ihre Liebe nicht bekommen kann, ermordet Simone Nadja. Die Veränderung der Handlungsweisen von Simone illustrieren seinen inneren Wandlungsprozess. Für eine Weile geht er den Weg des Erfolgs. Doch als Nadja ihn verlässt, ändern sich seine zielorientierten Handlungsweisen: Er gibt es auf, sich aus eigener Tatkraft eine Existenzgrundlage aufzubauen. Stattdessen trinkt er, macht beim Glückspiel Schulden und handelt kriminell: Er stiehlt, betrügt und erpresst andere und seine Familie, um an Geld zu gelangen. Auch in den beiden extremen Verhaltensveränderungen Simones gegenüber Nadja ist seine intrapersonelle Wandlung inszeniert: Zunächst liebt und umwirbt er sie. Dann erniedrigt er sie aufs Äußerste und eine Weile später ermordet er Nadja. Im Gegensatz zu Taxi Driver sind in dieser Erzählung die jeweiligen Entscheidungen Simones für ein goal und seine daraus resultierenden Handlungsweisen klar nachvollziehbar. Er bleibt seinen goals auf dramatische Weise treu und ist nicht fähig, von unerreichbaren Zielen abzulassen und dafür alternative goals zu wählen. Für das goal, das er durch eigenen Einsatz erreichen könnte, nämlich ein erfolgreicher Boxer zu werden, wählt er inadäquate Mittel. Das andere goal, das sich als unerreichbar erweist, Nadjas Liebe zu gewinnen, zerstört er. Damit ist das kollektive goal aller Figuren in diesem Film, sich in eine neue soziale Lebenssituation und gesellschaftliche Umgebung zu integrieren, für Simone nicht mehr erreichbar. Dieses Scheitern wird bei seiner letzten Rückkehr in den Familienverbund deutlich: Als Mörder kann er nicht mehr in seine ursprüngliche soziale Gruppe und Umgebung zurück.
5.4 Funktionen von JOJUJBUJOHFWFOUT und DPNQMJDBUJOHBDUJPOT Bei der Analyse der initiating events und der complicating actions lassen sich in den Beispielfilmen spezifische Funktionen dieser erzählerischen Elemente bei der Darstellung des charakterlichen Wandlungsprozesses feststellen. Dabei können folgende Eigenarten im Einsatz dieser Elemente des narrative schema beschrieben werden: Initiating event oder complicating action können auf zwei verschiedene Weisen in einer Erzählung auftreten. Entweder erfährt die Hauptfigur auf dem Weg zu ihren goals diese meist richtungsändernden Geschehnisse als äußere Einflüsse, die sie zum Reagieren veranlassen. Oder die Figur löst ein solches Ereignis durch eigenes 120
Handeln aus und muss daraufhin mit den Folgen umgehen. Die Beispielfilme lassen sich diesbezüglich in zwei Gruppen einteilen: In einem Teil der Filme handeln die Haupfiguren aktiv und zumeist selbstbestimmt. Im anderen Teil der Filme sind die Hauptfiguren vermehrt in Reaktion auf Ereignisse begriffen und bleiben eher passiv und fremdbestimmt. Vier der acht Beispielfilme zeichnen sich durch die Inszenierung von aktiven, selbstbestimmten Hauptfiguren aus (Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Rocco und seine Brüder, Taxi Driver). Drei der Filme (Das Piano, Breaking Glass, Dead Man) schildern Hauptprotagonisten, die in eher passiver Haltung den Ereignissen ausgesetzt sind und auf sie reagieren. Diese beiden unterschiedlichen Inszenierungsweisen des Verhaltens und Handelns der Hauptfiguren führt zu jeweils verschiedenen Verwendungsarten von initiating events und complicating actions zur Illustration intrapersoneller Wandlungsprozesse. Betty Blue nimmt in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Verwendungsweisen von initiating events und complicating actions in den Beispielfilmen erläutert. Die Bezüge zwischen dem Verhalten der Hauptfiguren und den initiating events bzw. complicating actions in Kleine Fluchten und Der mit dem Wolf tanzt weisen eine klare, lineare Struktur auf: Beide Hauptfiguren verursachen das initiating event ihrer Geschichte durch selbstbestimmtes Handeln auf ihr Ziel bzw. ihre Ziele hin. Die complicating actions in der Folge des Handlungsverlaufs werden in beiden Geschichten zum Großteil durch fortgesetzte und zielstrebige Aktivitäten der Protagonisten ausgelöst und können durch ihr aktives Handeln bewältigt werden. Pipe schlägt neue Wege ein, bricht dabei verschiedene Regeln und löst so bei den Personen in seiner Umgebung unterschiedliche Reaktionen aus: Sein Handeln hat Folgen – die ihn umgebende Situation verändert sich. Pipe agiert aus selbstbestimmtem Antrieb heraus, muss dann aber auch mit den Folgen seines Verhaltens umgehen. Die Gesamtkonstruktion der complicating actions dieses Films besteht aus verschiedenen Hindernissen, die sich Pipe beim Verfolgen seiner Ziele in den Weg stellen. Seine beiden zentralen goals sind es, in Bewegung und „hoch hinaus“ zu kommen. Das Fahren mit dem Moped gestaltet sich jedoch schwierig [00.22.31]; viele Wege erweisen sich als beschwerlich. Der Bauer verbietet es Pipe, sich an den Werktagen vom Hof zu entfernen [01.12.57]. Für all diese complicating actions findet Pipe Lösungen. Die dramatischste complicating action auf seinem Weg zu mehr Beweglichkeit löst Pipe dann selbst aus: Betrunken verursacht er einen Unfall mit dem Moped, bei dem andere zu Schaden kommen [01.37.19]. In der darauf folgenden Phase des Stillstands zerstört er das Moped, da ihm nach dem Verlust seiner Fahrerlaubnis diese Bewegungsmöglichkeit genommen ist [01.42.13]. Pipe sucht neue Formen, um seinen Lebensradius zu vergrößern und beginnt, seine nächste Umgebung und die Menschen, mit denen er im Alltag zu tun hat, fotografisch zu erforschen [01.43.52]. Zudem bricht er in dieser Phase zu seiner größten Bewegung auf: Dem Helikopterflug zum Gipfel 121
des Matterhorn [01.55.45]. An der Nahtstelle von Stillstand und größter Bewegung ist der zentrale Wandlungsmoment Pipes platziert – als der Bauer ihn auf seinem Weg aufhalten will, setzt er sich aktiv gegen ihn durch und verfolgt sein Ziel weiter, das ihn zu einer neuen Position im Leben führen wird [01.54.40]. John Dunbar agiert aus selbstbestimmten Entscheidungen heraus. Weil er handelt, geschehen unerwartete Ereignisse, initiating events, die richtungsverändernde Folgen haben und ihn auf dem Weg zu seinen Zielen voran bringen. Dabei stellen sich ihm complicating actions entgegen. In der aktiven Bewältigung dieser Schwierigkeiten entfaltet sich nach und nach Dunbars Wesen. In opening und ending der Geschichte ereignen sich die beiden dramatischsten complicating actions; der Umgang der Hauptfigur mit diesen Hindernissen ist in beiden Fällen von zwei sich wiederholenden Handlungskomponenten geprägt: Zum einen handelt Dunbar sehr ungewöhnlich in diesen Momenten nach einer jeweils selbst gewählten Entscheidung, die eine große Veränderung seiner Situation mit sich bringt. Zum anderen wird ihm gerade in diesen Situationen von anderen auf dem Weg zu seinem Ziel geholfen. Er entscheidet sich dafür, sein Leben zu riskieren und der Zufall hilft ihm, den Ritt durch die feindlichen Linien zu überleben [00.06.21]. Der General hilft ihm, die schwere Beinverletzung zu heilen und erfüllt seinen Wunsch, in den Wilden Westen versetzt zu werden [00.10.00]. Am Ende entscheidet sich Dunbar – in Gefangenschaft der USArmy und trotz Androhung der Todesstrafe – dafür, ganz zum Indianer zu werden [03.12.58]. Auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte wird er von den Indianern befreit und so vor der Todesstrafe gerettet [03.21.01]. Diese beiden wichtigsten complicating actions beinhalten zugleich zentrale Momente der intrapersonellen Wandlung. In vergleichbarer Weise zu den beiden beschriebenen Hauptfiguren Pipe und John Dunbar ist auch Simone in Rocco und seine Brüder als ein aktiv und selbstbestimmt handelnder Protagonist inszeniert. Jedoch entstehen seine Ziele durch initiating events, die als Zufälle konstruiert werden: Zufällig lernt er Nadja kennen und diese erzählt ihm und seinen Brüdern von den Chancen eines Boxers [00.26.30]. Simone wählt daraufhin aus freiem Willen die beiden goals „Boxen“ und „Nadja als Geliebte“ und handelt aktiv, um diese zu erreichen. Die Selbstbestimmtheit seines Handelns wird in dem Kontrast deutlich, der zwischen Simone und Rocco aufgebaut wird: Rocco wählt nur zu Beginn der Geschichte selbstbestimmt eigene Ziele; im weiteren Verlauf der Handlung wird er zunehmend mit den Folgen von Simones kriminellen Handlungen verstrickt. Rocco versucht, diese Folgen von Simones Handeln abzuwenden bzw. aufzufangen, um seinen Bruder vor den Konsequenzen zu bewahren. Hierbei verliert Rocco jeglichen Freiraum für eigene Entscheidungen und unabhängige Handlungen. Simone hingegen agiert unverändert aktiv und selbstbestimmt. Als Darstellungsform der intrapersonellen Wandlung Simones werden seine Reaktionen auf die complicating actions genutzt. Dabei wird in seinen Reaktionen auf 122
diese Schwierigkeiten, also in seinem fortgesetzt zielorientierten Handeln, seine charakterliche Veränderung ablesbar. Die Qualitäten dieses Handelns ändern sich dabei, wenn Simone zunehmend sozial und gesellschaftlich unadäquate Mittel einsetzt, um seine Ziele zu erreichen. Um die Schwierigkeiten der complicating actions zu bewältigen, stiehlt, betrügt und erpresst er, wird gewalttätig und verübt schließlich einen Mord. Ähnlich wie Pipe, John Dunbar und Simone ist auch Travis in Taxi Driver ein selbstbestimmt handelnder, aktiver Hauptprotagonist. Die Wahl seiner goals entsteht durch initiating events, die als Zufälle inszeniert sind. Travis sieht Betsy zufällig auf der Straße. Iris steigt bei ihrem Fluchtversuch zufällig in sein Taxi und stolpert einige Nächte später wiederum zufällig vor seinen Wagen. Der intrapersonelle Wandlungsprozess von Travis ist im Geflecht zwischen den initiating events, die seine goals etablieren, und seinem Umgang mit den damit verbundenen complicating actions inszeniert. Wie in den vorausgegangenen Abschnitten dieses Kapitels erläutert, vermittelt sich der intrapersonelle Wandlungsprozess der Hauptfiguren in Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt und Rocco und seine Brüder über den Aufbau einer stringenten narrativen Stufenkonstruktion, die sich im Bezugssystem zwischen initiating events, goals, zielgerichteten Handlungsweisen der Figuren und complicating actions etabliert. In diesen Filmen verändern sich in wenigen Stufen die goals der Protagonisten, sei es durch ihre eigene Wahl oder durch äußere Einflüsse. Jedes goal erfordert von den Figuren, entsprechende complicating actions zu lösen. In den Handlungsweisen der Figuren bei diesen Bewältigungs- und Lösungsprozessen wird schrittweise die Entfaltung ihrer charakterlichen Entwicklung und Wandlung deutlich. In Taxi Driver findet sich bei der Schilderung der intrapersonellen Veränderung der Hauptfigur keine solche Stufenkonstruktion. In den Bezügen zwischen initiating events, goals, complicating actions und den damit verbundenen Handlungsweisen des Protagonisten zeigt sich eine andersartige Konstruktion: Der Aufbau zweier paralleler Ereignisverläufe. Innerhalb der Parallelen sind bestimmte inhaltliche Bausteine und Sinnzusammenhänge zueinander verschoben inszeniert. In diesen Differenzen der sonst parallelen Bezüge ist die intrapersonelle Veränderung der Figur Travis inszeniert. Zu Beginn der Geschichte wählt Travis Betsy als goal und versucht durch aktive Verhaltensweisen, d. h. durch verschiedene Kontaktaufnahmen zu ihr, sie näher kennen zu lernen [00.18.55, 00.22.06]. Bei der Wahl des zweiten expliziten goal im letzten Drittel des Films, Iris’ Rettung, kommt es zu einer parallelen Entwicklung der Ereignisse. Travis unternimmt mehrere Anläufe, Iris näher kennen zu lernen und sein Ziel zu erreichen – vergleichbar mit seinem früheren Handeln, um Betsy kennen zu lernen [01.11.51, 01.20.49]. Hier wird jedoch eine deutliche Verschiebung von Sinn und Motivation seiner Aktionen inszeniert: Travis wollte Betsy als Frau und mögliche Freundin kennen lernen, Iris nicht. Vielmehr ist es seine Absicht, Iris aus der Prostitution zu retten und ihre Rückkehr nach Hause zu erreichen. Zum einen wird Travis’ innere Verände123
rung in dieser Verschiebung der Motivationen deutlich, welche für das Kennenlernen von Betsy und Iris etabliert werden. Zum anderen ist die charakterliche Wandlung der Figur Travis in der Veränderung seiner Umgehensweisen mit den complicating actions, die sich ihm auf den Wegen zu diesen unterschiedlichen Zielen in den Weg stellen, inszeniert. Vergleicht man sein Handeln in beiden Erzählabschnitten, seine Begegnung mit Betsy und seine Begegnung mit Iris, zeigt sich in den extrem unterschiedlichen Handlungsqualitäten seine Persönlichkeitsveränderung. Beide Male wird er mit Ablehnung und einer misslingenden Kontaktaufnahme konfrontiert. Der Abweisung durch Betsy versucht er durch fortgesetztes Werben zu begegnen [00.35.05]. Danach versucht er sie in einer direkten Konfrontation umzustimmen, wird aber durch Betsys Kollegen gewaltsam aus dem Büro gedrängt [00.37.02]. Auch von Iris wird er, als sie von seiner Absicht erfährt, sie von der Prostitution abbringen zu wollen, um sie zu retten, abgewiesen [01.22.00]. Er setzt diese Ziele daraufhin mit Waffengewalt und Morden durch. Der Wechsel der sozialen Qualitäten seiner Handlungsweisen in Reaktion auf die complicating actions von Ablehnung und Zurückweisung durch andere wird hier als Darstellungsebene von Travis’ intrapersoneller Wandlung eingesetzt. Vergleichbar mit der Inszenierungsweise von Simones charakterlicher Wandlung manifestiert sich der Vorgang der Veränderung von Travis im Wandel seines Umgangs mit den complicating actions. An dieser Stelle soll noch auf die besondere Bedeutung des mittleren Handlungsabschnitts in Taxi Driver mit Blick auf die Schilderung der charakterlichen Veränderung von Travis eingegangen werden. Wie in 5.3 beschrieben, ist hier der eindeutige Zusammenhang zwischen goals, zielgerichteten Handlungsweisen und complicating actions aufgelöst. Ein besonderes Mittel der erzählerischen Konstruktion in diesem Abschnitt ist das gänzliche Fehlen von complicating actions für die Hauptfigur. Da sie keine nachvollziehbaren Ziele verfolgt, können auch keine Handlungsereignisse ihrer Eigenart nach als complicating actions auf diese Ziele hin benannt werden. Ebenso wenig können Handlungsweisen als zielorientiert bzw. als Umgangsweisen mit entsprechenden complicating actions definiert werden. Was Travis bei den folgenden Ereignissen – der zufälligen Begegnung mit dem mordlustigen Fahrgast [00.39.04], dem gescheiterten Gesprächsversuch mit seinem Kollegen [00.45.15], seinen Beobachtungen der Wahlveranstaltungen [00.58.45, 01.29.50] und den einsamen Aufenthalten in seinem Zimmer fühlt, erlebt und denkt, wird in der Erzählung nicht offengelegt. In dieser Reihung diffuser innerer Motivationen und Erfahrungen lässt sich das auslösende Moment für den Waffenkauf nicht erkennen: Ganz unvermittelt wählt Travis Besitz und Gebrauch von Waffen zu seinen handlungsbestimmenden Zielen. Dieser von kausaler Unbestimmtheit gekennzeichnete Erzählabschnitt wird begrenzt durch die beiden parallelen Ereignisverläufe seiner Begegnungen mit Betsy und Iris. Über den ähnlichen Aufbau dieser beiden Begegnungen und über die darin etablierte Differenz ihres Verlaufs vermittelt sich Travis’ intrapersonelle Veränderung. 124
Die Figuren in Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Rocco und seine Brüder und Taxi Driver werden als aktiv und selbstbestimmt handelnde Protagonisten inszeniert. Anders verhält es sich in Das Piano, Dead Man und Breaking Glass: Die Protagonisten dieser Erzählungen kennzeichnet eine eher passive Haltung und sie werden vorwiegend beim Reagieren auf initiating events und complicating actions gezeigt, die sie nicht selbst initiiert haben. Wählen sie anfangs ihr Ziel noch autonom, so wird im weiteren Verlauf der Ereignisse ihre Wahl weiterer goals vermehrt von äußeren Einflüssen bestimmt. Erst gegen Ende der Geschichte gelingt es ihnen wieder, selbstbestimmt zu handeln. Die meisten initiating events und complicating actions, die in diesen Geschichten den Gang der Handlung bestimmen, werden also von äußeren Umständen und durch das Agieren anderer Figuren ausgelöst. Die Protagonisten Ada, Blake und Kate sind gezwungen, auf die Folgen zu reagieren. Die intrapersonelle Wandlung zeigt sich in diesen, wie in den vier bereits beschriebenen Filmen, im Umgang der Hauptfiguren mit den complicating actions, doch ist die Konstruktion dieser Entwicklungen über die erzählerischen Elemente der initiating events und complicating actions hier jeweils verschieden aufgebaut: In Das Piano manifestiert sich eine stufenweise Entwicklung von Adas Veränderung in drei großen Abschnitten. In Dead Man wird die Wandlung Blakes in mehreren aufeinander folgenden Stufen beschrieben, Kates charakterliche Wandlung hingegen wird in einem kaum vermittelten Wechsel ihrer zielorientierten Handlungen und ihrer Reaktionen auf complicating actions inszeniert. In den bereits beschriebenen Filmen (Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Rocco und seine Brüder, Taxi Driver) stellt sich die intrapersonelle Veränderung in den sich wandelnden Umgehensweisen der Hauptfiguren mit complicating actions dar. In Das Piano ist dieses inszenatorische Mittel nicht gewählt: Die Grundhaltung der Protagonistin ist vorwiegend passiv – Ada agiert nicht selbstbestimmt. Zudem sind ihre Handlungen sämtlich als Reaktionen auf äußere Einflüsse und als Interaktionen mit anderen Figuren inszeniert. Der Handlungsrahmen für ihre Reaktionen ist sehr eingeengt und durch Handlungen andere Figuren vorgegeben. Dennoch zeigt sich in den Handlungen Adas stets ihr kraftvoller Wille und ihre Fähigkeit, mit complicating actions umzugehen und sie zu lösen. Die Qualität ihrer Taten wird gleichbleibend als äußerst zielstrebig geschildert. Als Spiegel ihrer intrapersonellen Wandlung sind im Zusammenhang mit den Konstruktionsprinzipien der complicating actions andere Bausteine des narrative schema als Darstellungsebene gewählt. In diesem Film belegt die Veränderung der goals (wie in 5.3 beschrieben) die charakterliche Wandlung der Hauptfigur. Wie grundlegend Ada sich verändert, verdeutlicht der Wandel ihrer Ziele: Sie werden von Ada nicht selbst bestimmt, so wie es bei Pipe oder John Dunbar der Fall ist. Vielmehr führen die Handlungen anderer Figuren sie Schritt für Schritt von einem Ziel zum nächsten; Ada gerät in widrige Umstände und unter den Einfluss anderer 125
Personen – dem muss sie sich zwangsläufig aussetzen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Zuerst gilt ihr Streben einem leblosen Gegenstand. Dann verwandelt es sich in den Wunsch, einen lebendigen Menschen zu lieben und mit ihm zusammen leben zu können. Die complicating actions auf dem Weg zu diesen beiden aufeinander folgenden Zielen werden stets durch andere Figuren ausgelöst: Gegen Adas Willen wird das Piano am Strand zurück gelassen [00.12.58]; Baines kauft das Piano von Stewart und bietet Ada einen seltsam gestalteten Deal an; Ada geht darauf ein, um ihr Piano zurück zu bekommen. Sie strebt danach, das Piano wieder zu bekommen und gerät dabei in die Nähe eines Mannes, dem sie später ihre Liebe gestehen wird. Wie Katalysatoren wirken die äußeren Einflüsse, die sich Ada als complicating actions in den Weg stellen. Die Konfrontationen mit diesen Schwierigkeiten bewirken Adas innere Entwicklung. Ihre erste, ganz und gar selbstbestimmte Handlung ist zugleich das Signal für das zentrale Wandlungsmoment dieser Figur: Ada geht aus freien Stücken zu Baines und zeigt ihm ihre wahren Gefühle [01.10.32]. Nun wird sie von Stewart wiederum vehement dabei behindert, ihr neues Ziel zu erreichen. Als Ada ihr neues goal, mit Baines leben zu können, dennoch erreicht, wird deutlich, dass ihre innere Wandlung vollzogen ist. Ein zweite, selbstbestimmte und gänzlich frei gewählte Handlung belegt dies am Ende der Geschichte, wenn sie das Piano ins Meer versenken lässt, dabei den Unfall provoziert und gerettet wird [01.45.45]. Das erste initiating event in Dead Man wird durch ein selbstgewähltes Handeln des Protagonisten Blake verursacht: Seinem Aufbruch von seiner Heimat und seiner Reise nach Machine. Die folgenden initiating events ereignen sich ohne eigenes Zutun der Hauptfigur, verursachen aber dramatische Richtungsänderungen: Zufälle, unvorhersehbare Ereignisse und Handlungen anderer Figuren brechen über den Protagonisten herein und zwingen ihn zum Handeln. Blake ist in unablässiger Reaktion auf diese Entwicklungen begriffen und kann seine Wege nicht aus eigener Entscheidung wählen. Durch äußere Einflüsse, die deutlich vom Prinzip des Zufalls geprägt sind, verändern sich die Ziele der Hauptfigur völlig. Der Blake angebotene Job ist bereits vergeben [00.15.35]; er gerät in eine Schießerei, wird dabei angeschossen und erschießt in Notwehr den Angreifer [00.24.50]. Dieses initiating event ist der Auslöser von Blakes Veränderungsprozess. Er muss fliehen. Durch einen weiteren Zufall begegnet er dem Indianer Nobody [00.26.31]. Nobody stößt in dieser Begegnung ein weiteres initiating event an, das die Wandlung von Blake befördert. Nobody provoziert eine Situation, die Blake zwingt, durch Waffengewalt mordlustige Angreifer, auf Nobody und sich selbst, zu töten. Im Verlauf der Handlung verändert sich Blakes Reaktionsweise wesentlich, wenn er sich weiterer Angriffe auf sein Leben erwehren muss. Dies verdeutlicht sich in der Art und Weise, in der Blake Schusswaffen handhabt und wie er sich seiner Verfolger entledigt. Diese Situationen werden als Darstellungen von Blakes intrapersoneller Wandlung genutzt. Die Verfolger und Angreifer zwingen 126
ihn zu diesen Handlungen, über die sich sein allmählicher Zugewinn an Souveränität und Eigenständigkeit verdeutlicht. Blakes intrapersonelle Wandlung wird in der Art seines Umgangs mit diesen complicating actions auf dem Weg zu seinem unfreiwillig gewählten Ziel deutlich: Vor den Verfolgern zu fliehen um in Freiheit sterben zu können. Die einzigen selbstbestimmten Handlungen dieser Figur beschränken sich auf intrapersonelle Vorgänge. Nach einer Phase der Ablehnung, Auflehnung und Verweigerung versucht Blake seine jäh veränderten Lebensziele, die widrigen Umstände der äußeren Situation und das über ihn hereinbrechende Schicksal anzunehmen. Diese Handlungen, die psychischen Bewältigungsschritte eines Anpassungsprozesses, sind allein als selbstbestimmt zu definieren und dabei trotzdem passive Vorgänge des Annehmens und Sich-Hingebens. Blake vertraut Nobody, versucht, dessen Sichtweisen zu verstehen, übernimmt sie teilweise und lässt sich zuletzt von dem Freund auf seinem Weg in den Tod begleiten. Kates goal in Breaking Glass bleibt während des gesamten Erzählverlaufs dasselbe: Sie will sich in ihrer Musik, ihren Texten und ihrem Gesang als Künstlerin ausdrücken, ohne dabei den Mechanismen der Musikindustrie zu erliegen [00.08.29, 00.45.15, 01.04.32]. Ihre charakterliche Veränderung wird im Wechsel ihrer Handlungsweisen und ihrer Haltung erkennbar: Zunächst handelt Kate aktiv auf ihr Ziel hin. Mehrere initiating events befördern sie auf dem Weg zu ihrem Ziel und es gelingt ihr, entsprechende complicating actions zu lösen. Kate begegnet Dany und lässt sich von ihm dazu anregen, eine neue Band zu gründen [00.08.35]. Sie setzt sich gegenüber der Konzertagentur durch und bekommt für ihre Band einen Tourneeauftrag [00.36.36]. Als das Licht in einer großen Konzerthalle ausfällt, gelingt es ihr und ihrer Band auch „unplugged“, das Publikum zu begeistern [00.49.00]. In diesem Erzählabschnitt trifft Kate Entscheidungen, setzt ihren Willen durch und findet Lösungen für verschiedene complicating actions, die sich ihrem großen Ziel in den Weg stellen. Bemerkenswert an ihren Handlungsweisen ist dabei jedoch, dass sie selten aus ureigenster Motivation und Eigeninitiative heraus agiert, sondern eher auf äußere Impulse und Ansinnen reagiert. Ihr aktives Agieren ist dabei dennoch selbstbestimmt und auf die Umsetzung ihrer künstlerischen Arbeit gemäß ihrer persönlichen Grundsätze ausgerichtet. Ihren intrapersonellen Wandel verdeutlicht der jähe Wechsel ihrer zielgerichteten Handlungsweisen und der damit verbundenen inneren Haltung: Traumatisiert vom Anblick des Mordes an einem jungen Konzertbesucher aus nächster Nähe, verliert sie ihren zielgerichteten Willen und gibt ihre Maxime auf [01.00.51]. Sie äußert zwar noch ihre Ideale und Handlungsmaximen [01.04.45], setzt sie aber nicht mehr durch, sondern lässt immer mehr zu, dass andere über sie bestimmen. Kates Handlungsweise verändert sich von selbstbestimmtem Handeln zu einem fremdbestimmten Mitmachen aus einer passiven inneren Haltung heraus. Sie trifft keine Entscheidungen mehr, sondern entspricht den Forderungen anderer und 127
handelt nach deren Erwartungen. Die Konstruktion der complicating actions in Bezug auf ihr unverändertes zentrales goal wandelt sich dabei auf spezifische Weise: In der ersten Hälfte der Geschichte bewältigt sie Schwierigkeiten, die ihrem Ziel, als Künstlerin arbeiten zu können, im Weg stehen. Nach dem traumatisierenden Ereignis stellen sich ihr keine complicating actions dieser Art mehr in den Weg. Ihr wird von der Musikindustrie eine zunehmend große Plattform geschaffen, um als Musikerin und Sängerin erfolgreich arbeiten zu können. Die complicating actions in diesem Erzählabschnitt richten sich gegen ihre Ideale, gegen ihre Integrität und ihre ureigenste Art künstlerischen Ausdrucks. Ihr goal wird dabei verformt. Über diesen Wechsel in den Bezügen zwischen den complicating actions und ihrem goal und im Wechsel von aktivem Verhalten zu einer passiven Haltung wird die intrapersonelle Wandlung Kates inszeniert. Ihr goal, als Musikerin arbeiten zu können, bleibt dasselbe, jedoch bestimmen zunehmend andere Figuren, auf welche Art und Weise sie dieses Ziel verfolgen soll. Ihre Musik, ihre Lieder, ihr ganzer Stil werden manipuliert. Ihre Persönlichkeit als Sängerin wird von Plattenfirma und Musikproduzent neu entworfen und künstlich inszeniert. Kate lässt dies geschehen [01.09.33]. Von den Managern der Plattenfirma werden Kates Songs überformt und verändert. Es kommt zum Stillstand in Kates künstlerischer Arbeit. Sie geht gegen diese complicating actions nicht aktiv an, vielmehr lässt sie ungebremst den Einfluss dieser Ereignisse auf ihre Situation und ihr Handeln zu. Am Ende des Films ereignet sich erneut ein extremer Wechsel im Umgang mit ihrer Situation und den complicating actions: Kate handelt zum ersten Mal wieder selbstbestimmt, als sie aus dem Konzert wegläuft [01.32.33]. Sie entzieht sich auf diese Weise der völlig entfremdeten Situation. Dieses Handeln aus freiem Willen verknüpft sich in der Gesamtschau mit der ersten aktiven Entscheidung für eine Veränderung, die Kate am Beginn der Geschichte trifft, wenn sie beschließt, eine neue Band zu gründen. Offen bleibt, ob ihre Flucht aus der Fremdbestimmung, dieses erste Agieren aus eigenem Willen nach langer Zeit passiven Erleidens, auch der erste Schritt zu einer weiteren inneren Entwicklung und Veränderung ist. Betty Blue lässt sich mit Blick auf die Analyseergebnisse in Bezug zum narrative schema nicht direkt mit den anderen sieben Filmen vergleichen. Die Hauptfigur Betty wird sowohl aktiv und selbstbestimmt handelnd als auch passiv und reagierend inszeniert. Ihre intrapersonelle Wandlung baut sich weder in einer Stufenkonstruktion zwischen goal, complicating actions und Handlungsweisen auf, noch durch einen Wechsel dazwischen. In Betty Blue wird die Entwicklung Bettys im Spannungsfeld zweier Ereignisverläufe innerhalb der erzählerischen Konstruktion etabliert. Dabei ist eine Aufspaltung zweier Handlungsstränge zu konstatieren, die in jeweils unterschiedlichem Bezug zu Betty konstruiert sind. Betty ist als Figur in beiden Handlungssträngen in zwei verschiedene Konstruktionen von goals und damit korrespondierenden complicating actions eingebunden. Der eine Strang beinhaltet Bettys goal, das aus der zu128
fälligen Entdeckung von Zorgs Tagebüchern entsteht [00.24.15]. Zu Bettys Ziel wird es, Zorg zu einem erfolgreichen Schriftsteller zu machen. Ebenso gehört zu diesem Handlungsstrang ihr Wunsch, ein Baby zu bekommen [01.18.46]. Sie zeigt im Streben auf das erste Ziel hin ihren starken Willen, auf das zweite hin ihre große Hoffnung, Freude und Erwartung. Mit den complicating actions, die beiden Zielen im Wege stehen, kann sie in beiden Fällen nicht umgehen: Sie setzt sich mit den widrigen Umständen nicht auseinander, sucht keine konstruktiven Lösungen oder Alternativen, sondern reagiert mit zunehmend eskalierenden aggressiven Ausbrüchen und autoaggressiven Gewaltakten auf diese Hindernisse. Im zweiten Handlungsstrang ereignen sich die Entwicklungen in der äußeren Situation von Betty und Zorg. Hier löst Betty zu Beginn zwei große Veränderungen aus: Sie zieht bei Zorg ein [00.04.53] und zerstört später das gemeinsam bewohnte Haus [00.27.42]. Danach geht sie mit Zorg nach Paris und kommt dort mit ihm bei einer Freundin unter [00.30.09]. Nach diesem Ereignis in der Geschichte nimmt Betty keinen aktiven Einfluss mehr auf ihre äußere Situation. Sie hat keine äußeren Ziele, die sie etwa mit einer Berufstätigkeit verbinden würde. Sie orientiert sich ganz auf ihr Ziel, Zorg als Schriftsteller erleben zu wollen, egal, wie sich die äußeren Lebensumstände gerade gestalten. So unternimmt sie den Versuch zu Kellnern [00.42.29], den Umzug und die Geschäftsübernahme im Haus von Eddys Mutter [00.59.45], wie auch soziale Beziehungen nur in passiver Haltung [00.51.21]: Sie lässt diese Ereignisse geschehen, ohne weiter darauf Einfluss zu nehmen [00.59.14]. Die Veränderungen der äußeren Lebenssituation Bettys geschehen ohne direkten Bezug auf ihr zentrales goal. Innerhalb des Erzählstrangs, der sich auf ihr Hauptziel ausrichtet, haben die Beziehungen zwischen goal und complicating actions jedoch eine spezielle Qualität. Es zeigt sich wiederholt, dass ihr goal nicht zu erreichen ist; Betty findet keine Lösungen für die complicating actions. Ihre Ziele, Zorg als Schriftsteller zu erleben, die Veröffentlichung seines Manuskripts und ihr Wunsch, schwanger zu sein, verweigern sich ihr. Ihre Einflussnahmen bewirken nichts, ihre Wünsche gehen nicht in Erfüllung. In der Aufteilung der erzählerischen Konstruktion zwischen goals und complicating actions in den beiden beschriebenen, voneinander fast gänzlich unabhängigen Ereignisverläufen spiegelt sich die Art von Bettys intrapersoneller Wandlung wider. Ihre psychische Veränderung geschieht, ohne dass es ihr bewusst wird und ohne dass sie darauf verändernden Einfluss nehmen kann. Ein Teil ihres inneren Erlebens und ihrer Reaktionen auf complicating actions wird zunehmend unkontrollierter, während sie ihrer Umgebung über weite Strecken der Geschichte als relativ normal und aktiv handelnd erscheint. Die drei grundlegenden Ortswechsel und die damit verbundenen, jeweils großen Veränderungen in ihrer und Zorgs Lebenssituation ereignen sich gänzlich unabhängig von Bettys inneren goals. In der zunehmenden Diskrepanz zwischen diesen beiden Erzählsträngen ist Bettys intrapersonelle Wand129
lung und ihr Scheitern inszeniert. In ihrem Inneren eskalieren die aggressiven Impulse, die sie zunächst gegen Dinge, dann gegen Menschen und schließlich gegen sich selbst ausagiert. In der äußeren Situation ereignen sich parallel dazu Begegnungen, Veränderungen und Zufälle, die jedoch ohne Einfluss auf das Innenleben von Betty bleiben. Wenn jedoch Ereignisse in der äußeren Situation mit Bettys goals kollidieren, dann zeigt sich in ihren Reaktionsweisen ihre sukzessive intrapersonelle Veränderung. Über den zunehmenden Kontrast zwischen dem munteren, aber eher undramatischen Fortgang äußerer Ereignisse und der dramatischen Eskalation ihres psychischen Erlebens wird Bettys intrapersonelle Wandlung inszeniert.
5.5 Aufteilung der erzählerischen Inhalte auf TUPSZ und QMPU Bei der Untersuchung der Verteilung aller erzählerischen Informationen auf story und plot lassen sich die Beispielfilme in zwei Gruppen aufteilen. Das Interesse gilt dabei der Frage, wie die zentralen, erzählerischen Inhalte des charakterlichen Wandlungsprozesses auf plot und story verteilt sind. Die vier Filme, welche Geschichten einer Reifung erzählen, weisen dabei alle eine ähnliche Grundstruktur im Verhältnis der Inhalte von story und plot auf. In den vier Filmen, die vom Scheitern der Hauptfigur erzählen, zeigt sich kein entsprechend homogenes Profil im System zwischen story und plot. Bei der Darstellung eines Reifungsprozesses werden in den Beispielfilmen alle wesentlichen Momente der intrapersonellen Veränderung – das innere Erleben und Empfinden der Protagonisten in wesentlichen Momenten der psychischen Veränderung und Entwicklung – im plot inszeniert. Hier seien nur einige Beispiele genannt: Das auslösende Moment und zwei weitere Schritte von Adas innerer Veränderung werden in drei ruhigen Bilder von ihr vermittelt [00.11.13, 00.32.50, 01.08.09]. Pipes inneres Empfinden und die Veränderungen darin werden auf ähnliche Weise geschildert: Er schwebt in seiner Phantasie über eine Landschaft hinweg [00.29.04]. Später richtet er seinen Blick auf sich selbst und seine nächste Umgebung und betrachtet alles durch eine Fotolinse [01.43.52]. Die Schnittfolge an dieser Stelle macht Pipes inneres Erleben nachvollziehbar. In Der mit dem Wolf tanzt werden Momente intrapersoneller Entwicklung zum einen über die Aussagen der Off-Stimme inszeniert, welche die Gedanken der Hauptfigur wieder gibt, zum anderen über szenisches Verhalten des Protagonisten, indem verschiedene Momente seines inneren Erlebens visualisiert werden – so etwa, wenn Dunbars Tanz allein um das nächtliche Feuer [02.09.20] und sein Verhalten bei der Annäherung an den Wolf, das wilde Tier, gezeigt werden. In Dead Man werden Momente subjektiver Wahrnehmung Blakes inszeniert, die auf Phasen innerhalb seines intrapersonellen Wandlungsprozesses hinweisen. 130
In den Filmen der Reifung hat keines der Ereignisse, die in der story impliziert sind, einen wesentlichen Anteil an der inneren Wandlung. Dieses Prinzip wird in Der mit dem Wolf tanzt und Dead Man durchgängig angewendet. In Das Piano und Kleine Fluchten ist die Konstruktion zwischen story und plot in gleicher Weise aufgebaut, wird jedoch durch jeweils einen inhaltlichen Faktor im Rahmen des Entwicklungsprozesses durchbrochen. Der Mopedunfall, den Pipe in Trunkenheit verursacht, ist in der story gelagert. Die Folgen dieses Ereignisses für Pipes Wandlungsprozess sind wiederum im plot dargestellt [01.37.15]. In Das Piano ist eine wichtige Information in Bezug auf den Wandlungsprozess ebenso in der story verortet. Ada selbst erzählt mit ihrer inneren Stimme zu Beginn der Geschichte, wie sie im Alter von sechs Jahren aufgehört hat zu sprechen [00.01.25]. Am Ende der Geschichte wird im plot die große Veränderung dieses Phänomens inszeniert – Ada beginnt wieder zu sprechen [01.50.00]. In der Gruppe von Beispielfilmen, die Geschichten des Scheiterns erzählen, sind die Verteilungsprofile des Inhalts zwischen story und plot von heterogenen Gestaltungsmustern gekennzeichnet. Bei drei Filmen – Taxi Driver, Betty Blue und Breaking Glass – lassen sich jedoch Ähnlichkeiten in der Aufteilung wesentlicher Elemente des Wandlungsprozesses auf story und plot beobachten. In diesen Filmen werden manche Aspekte und Gründe, die zum Scheitern und zu der charakterlichen Veränderung führen, d. h. Erlebnisse, Handlungen, innere Prozesse und Entscheidungen der Hauptfiguren, nicht im plot gezeigt, sondern als Elemente der story nur angedeutet. Die Folgen solcher Faktoren jedoch werden jeweils im plot geschildert. So bleibt in Taxi Driver über weite Strecken der Geschichte offen, welche Erlebnisse und Entscheidungen die Veränderung der Hauptfigur tatsächlich beeinflussen. Die Ereignisse und Handlungen in Beziehung zu Travis, die im plot gezeigt werden, erlauben Vermutungen darüber, dass sich in der story der Erzählung weitere Geschehnisse ereignen, die seine innere Wandlung beeinflussen. Ebenso entstehen aus der Unbestimmtheit von Ursache und Wirkung im mittleren Teil der Erzählung Hinweise darauf, dass sich in der story konkrete Momente abspielen, deren Präsentation im plot die Gründe von Travis’ psychischer Veränderung klarer nachvollziehbar machen, als es die Informationen des plot ermöglichen. Ebenso bleiben in Betty Blue die Bewegungen im Innenleben der Hauptfigur, die als Gründe ihres intrapersonellen Wandels verstanden werden könnten, als Teile der story nur vage angedeutet. Man sieht zwar Bettys eskalierende, gewalttätigen Ausbrüche im plot und es werden lokale Gründe zur Erklärung ihrer Entgleisungen präsentiert: Der dicke Budenbesitzer beleidigt Zorg [00.25.15], ebenso die Restaurantbesucherin [00.45.33]. Auf diese Beleidigungen ihres Geliebten reagiert Betty mit tätlichen Angriffen. Der Verleger lehnt barsch Zorgs Manuskript ab [00.50.19] und Zorg selbst fügt sich nicht Bettys Willen, ein Schriftsteller zu werden [01.09.23]. Betty reagiert auf diese Ereignisse von Enttäuschung und Frustration mit aggressiven und autoaggressiven Handlun131
gen. Die tieferen Gründe jedoch, die inneren Vorgänge, die einer solchen Eskalation ihres Verhaltens vorausgehen und zugrunde liegen, werden im plot nicht genauer erklärt, auch wird hier keine Innensicht ihres Wesens dargestellt, vielmehr werden Vermutungen über ihr Innenleben in die story – und damit in die Hypothesenbildung des Zuschauers – projiziert. Die beiden selbstzerstörerischen Handlungen Bettys werden nicht im plot gezeigt, sondern nur als Teile der story. Die Auswirkungen dieser Handlungen wiederum werden im plot dargestellt [01.32.02, 01.37.15]. In Breaking Glass werden auf vergleichbare Weise Faktoren des intrapersonellen Veränderungsprozesses nur in der story impliziert und nicht im plot dargestellt. Zu Beginn von Kates Veränderung sind zwei ihrer Handlungsweisen im plot inszeniert, die wesentlichen Einfluss nehmen auf den weiteren Gang der Ereignisse und die Entwicklungen in ihrer äußeren und inneren Situation: Als Kate nach dem traumatisierenden Erlebnis der Ermordung des jungen Konzertbesuchers zum ersten Mal wieder in einem Studio singt, lässt sie Manipulationen und Veränderungen an ihrer Musik durch den Musikproduzenten Bob Woods zu [01.08.20]. Ihr zentrales Empfinden ist in dieser Situation, dass ihr das Singen gut tut. Dass ihre Musik verändert und manipuliert wird, scheint sie nicht wahrzunehmen. Auch Dannys Kritik, dass sie bei dieser Arbeit nicht sie selbst sei, sondern von Bob Woods gesteuert würde, weist sie zurück [01.10.20]. Im weiteren Verlauf der Geschichte werden nur noch die Auswirkungen von Kates Verhalten im plot gezeigt. Die Momente, in denen Kate immer wieder gegen ihre Ideale handelt, hingegen nicht. Rocco und seine Brüder nimmt im Vergleich zu den anderen Beispielfilmen in der Konstruktion von story und plot eine Sonderstellung ein. Da die Geschichte die Entwicklungswege mehrerer Figuren nacherzählt, repräsentiert die erzählerische Konstruktion ein sehr komplexes inhaltliches Geflecht zwischen story und plot: Die story erhält in diesem Film eine wesentlich größere Bedeutung, da sehr viele Informationen dort angelegt sind, um im plot eine gewisse und notwendige Erzählökonomie zu erreichen. Die wesentlichen Teile des Veränderungsprozesses von Simone sind dabei zu großen Teilen jeweils auf plot und story verteilt, so dass die sukzessive Entwicklung in der Summe der Informationen schlüssig nachvollzogen werden kann. Zu Beginn der Geschichte werden die wesentlichen Einflüsse und Handlungen, die Simones Entwicklung anstoßen, im plot gezeigt. Im weiteren Verlauf werden Simones Verhalten und Taten auf dem Weg zu seinem Scheitern von anderen erzählt und sind somit in die story eingebaut. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen, Simones heruntergekommene Erscheinung, Einblicke in seine Lebensweise und seine gravierendsten Taten – Vergewaltigung, Prügelei und Mord – werden wiederum im plot gezeigt.
132
5.6 Funktionen der filmischen Darstellung von Zeitfluss und Zeitmanipulation Im nächsten Untersuchungsschritt werden die Mittel der Zeitdarstellung, die in den Beispielfilmen zum Einsatz kommen, analysiert. Dabei wird herausgearbeitet, welche filmischen Gestaltungsweisen aus der Palette der Techniken filmischer Zeitdarstellung bei der Schilderung des intrapersonellen Entwicklungsgeschehens verwendet werden. Die Untersuchungsperspektive beschränkt sich in diesem Analyseschritt zum einen auf die Beschreibung deutlich auffälliger Manipulationstechniken in der Darstellung von Zeit- und Ereignisabläufen innerhalb der Gesamtkonstruktion der Beispielfilme, zum anderen auf die Analyse spezieller Techniken der Zeitdarstellung, die in zentralen Momenten des Wandlungsgeschehens innerhalb des plots eingesetzt werden. Für die Studie wurden Filme ausgewählt, welche intrapersonelle Wandlungsprozesse präsentieren, die sich über einen relativ kurzen Zeitraum innerhalb der fiktiven Lebenszeit der Hauptfiguren ereignen (vgl. 1.2). Alle Geschichten der analysierten Filme umfassen eine relativ kurze Zeitspanne von einigen Wochen bis zu einigen Monaten, insgesamt aber stets weniger als ein Jahr. Nur Rocco und seine Brüder umspannt einen Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahren. Als dominantes Gestaltungsmuster der Zeitdarstellung ist für alle filmischen Erzählungen der Einsatz chronologischer Ordnung und Linearität bei der Präsentation der Zeitverläufe festzustellen. Betrachtet man die filmische Behandlung der Zeit mit dem Fokus auf der Schilderung charakterlicher Wandlungsprozesse, so ist der Einsatz verschiedener Manipulationstechniken in der Zeitdarstellung festzustellen. Ein einheitlicher Einsatz bestimmter Gestaltungsmuster in der Darstellung von Zeit und deren Manipulation lässt sich jedoch nicht konstatieren. Vielmehr finden sich vier verschiedene Mittel der Zeitmanipulation, die bei der Schilderung intrapersoneller Wandlungsprozesse eingesetzt werden: Zeitsprünge und Zeitraffung, Zeitdehnung, Flashback und Parallelmontage. Die Techniken der Zeitsprünge bzw. Zeitraffung und die Verfremdung linearer Zeitabläufe durch Zeitdehnung werden in den Beispielfilmen besonders oft als Manipulation der Zeitdarstellung eingesetzt. Bei den Effekten einer Zeitdehnung kommt jedoch nicht nur die klassische Zeitlupe (höhere Bildfrequenz bei der Aufnahme) zum Einsatz: Durch das Zusammenwirken verschiedener Mittel der Kameraarbeit bzw. der Bild- und Montagegestaltung werden Effekte der Auflösung des linearen Zeitfortschritts und die Schaffung von ungefährer Zeitlosigkeit eines im plot gezeigten Moments in den Filmen erreicht. Als dritte Form der Zeitdarstellung wird in vier Filmen ein szenischer Rückblick – flashback – im plot inszeniert. Dabei werden jedoch nur zwei dieser Flashbackszenen in direkter Verbindung mit der Schilderung des intrapersonellen Wandlungsprozesses eingesetzt. Parallelmontagen werden als vierte Technik der Zeitmanipulation für die Visualisierung von intrapersonellen Wandlungsprozessen angewendet. 133
Im Folgenden werden Beispiele der Manipulationen in der Zeitdarstellung beschrieben, die sich bei der Filmanalyse als Darstellungsmittel intrapersoneller Wandlungsprozesse herausgestellt haben. Zeitsprünge und Zeitraffung Jedes filmische Erzählen funktioniert über Zeitsprünge. Einen Ereignisablauf in seiner Dauer im Verhältnis 1:1 abbilden zu wollen, würde eine schlüssige filmische Darstellung einer Geschichte mit mehreren Geschehnissen und komplexeren Zusammenhängen unmöglich machen. In der Zeit eines abendfüllenden Spielfilms von ca. 90 bis 180 Minuten Länge sollen jedoch Geschichten, die sich über beliebig lange Zeiträume – eine Stunde, einen Tag oder mehrere Jahrhunderte – ereignen, für den Zuschauer nachvollziehbar präsentiert werden. Dies ist über das System von story und plot möglich und durch den Wechsel von auf der Leinwand gezeigten Ereignissen einer Geschichte und dem Auslassen von Zeitabläufen und Momenten des Handlungsgangs. Diese allgemeine Bedingtheit filmischen Erzählens hat einen besonderen Stellenwert in Filmen, die einen intrapersonellen Wandlungsprozess erzählen: Psychische Veränderungen, wenn sie nicht plötzlich durch Schock und Trauma ausgelöst werden, brauchen eine gewisse Zeitspanne, um sich entwickeln zu können. Der Faktor der Dauer einer solchen Entwicklungszeit ist ein wesentliches Moment intrapersoneller Entwicklungen. Dem Einsatz von Zeitsprüngen kommt daher in den Beispielfilmen eine besondere inhaltliche Bedeutung zu. Im Allgemeinen dienen Zeitsprünge im filmischen Erzählen dazu, dem Zuschauer zu vermitteln, dass Ereignisse in komplexen Zusammenhängen stehen, auch wenn sie nicht in linearer zeitlicher Abfolge konstelliert sind. In den Beispielfilmen lässt sich ein Einsatz von Zeitsprüngen feststellen, der über die reine Erzählfunktion hinaus in direkter bedeutungsschaffender Verknüpfung zur Darstellung der intrapersonellen Wandlung steht: Die Hauptfigur erlebt Ereignisse und handelt. Das Erleben nimmt Einfluss auf ihr Innenleben, Entscheidungen für Handlungen werden getroffen und umgesetzt. Dies führt wiederum zu weiteren Ereignissen und Erfahrungen. Über die Abfolge von Erleben und Handeln der Hauptfigur und ihrer inneren Verarbeitung des Erlebten erfolgt und ereignet sich phasenweise die intrapersonelle Entwicklung. Als wesentliche Faktoren einer intrapersonellen Veränderung müssen in der filmischen Darstellung das Erleben und Verarbeiten von Ereignissen und das gleichzeitige Voranschreiten von Zeit geschildert werden. Zeitsprünge haben folglich in diesen Filmen nicht nur die Funktion, die Geschichte filmisch erzählbar zu machen, sondern liefern zudem einen wesentlichen inhaltlichen Baustein zur Konstruktion des Wandlungsprozesses. In Das Piano wird in der Abfolge der „Klavierstunden“ und der dazwischen liegenden Szenen, in denen Adas Familienleben und die Ereignisse in der Siedlergemeinschaft gezeigt werden, deutlich, dass sich ihre Begegnungen 134
mit Baines in bestimmten Abständen wiederholen. Zwischen diesen Begegnungen wirken die gemeinsam mit Baines erlebten Momente bei Ada nach und lösen eine Bewegung in ihrer intrapersonellen Entwicklung aus. Eine vergleichbare Struktur von Abfolge und Wiederholung bestimmter Ereignisse und Situationsabfolgen im Fortschreiten von Zeit lässt sich in Taxi Driver erkennen: Travis verbringt die Nächte in seinem Taxi. In den Pausen trifft er seine Kollegen, seine freie Zeit verbringt er allein in seinem Zimmer. Im Ablauf dieser Ereignisse werden Zeitphasen impliziert, die zwar nicht auf der Leinwand gezeigt werden, aber wesentliche Entwicklungszeiträume von Travis’ intrapersoneller Veränderung indizieren. In Rocco und seine Brüder wird ein Zeitabschnitt von mehr als einem Jahr in der Erzählung ausgelassen. Im Vergleich der Schilderung von Simones Lebenssituation und seiner Wesensart vor und nach diesem Zeitraum wird die große Veränderung deutlich, die in dem ausgelassenen Zeitabschnitt mit dieser Figur vorgegangen ist. Zu Beginn von Der mit dem Wolf tanzt sind größere Zeitsprünge eingefügt. Der Heilungsprozess von Dunbars Beinverletzung [00.10.00] wird gänzlich weggelassen und die lange Reise in den Wilden Westen nur in einigen wenigen Ausschnitten gezeigt. Diese Auslassungen haben zum einen die Funktion, zügig in die Zusammenhänge der Geschichte einzuführen und die Ausgangssituation in der Exposition aufzubauen, zum anderen manifestiert sich darin schon die Vorankündigung vom Ausmaß der intrapersonellen Wandlung, welche die Hauptfigur durchleben wird. Dunbar begibt sich zu Beginn der Geschichte auf eine lange und weite Reise, um an einen Ort zu gelangen, an dem er seine nicht minder weite innere Reise unternehmen wird. Eine paradoxe Verwendung filmischer Mittel zur Darstellung von Zeitsprüngen wird in Dead Man eingesetzt: Im Rahmen filmischer Konventionen der Zeitdarstellung bedeutet eine Abblende ins Schwarze am Ende einer Szene und eine Aufblende in eine neue Szene stets, dass eine längere Zeitspanne zwischen den beiden szenischen Ereignissen – die durch die Blende verbunden werden – vergangen ist. In Dead Man sind solche Schwarzblenden in großer Anzahl und fast zwischen allen Szenen- und Ortswechseln eingesetzt. Aus den erzählerischen Zusammenhängen der mit diesen Blenden aneinander gereihten Ereignisse geht jedoch meist klar hervor, dass nur sehr wenig Zeit – ein Tag, wenige Stunden oder auch weniger als eine Stunde – vergangen ist. Der konventionellen Bedeutung von Auf- und Abblende für die Zeitdarstellung wird somit in den erzählerischen Zusammenhängen widersprochen. Auf diese Weise entsteht ein doppeltes Zeitempfinden auf zwei Ebenen: Durch die Darstellung der Ereignisse im plot wird klar, dass die erzählte Geschichte sich in einer relativ kurzen Zeitspanne ereignet. Die zahlreichen Schwarzblenden suggerieren jedoch einen wesentlich größeren Zeitraum, zumal die Abblenden über einem empty frame der Szenen erfolgen. Mit diesem filmischen Mittel wird der Abschluss einer Handlungssequenz in einer zeitlichen Zäsur zusätzlich betont. Die mit filmischen Mitteln geschaffene Paradoxie in der Verhältnismäßigkeit 135
von Zeit lässt sich als Metapher auf Blakes innere Entwicklung lesen. Er beschreitet im Laufe einer relativ kurzen Zeitspanne und weniger äußerer Ereignisse den Weg der inneren Erkenntnis über die Endlichkeit seines Lebens. Die Anerkennung dieser Wahrheit bedarf normalerweise der Dauer eines ganzen Lebens. Blake erlebt diesen Prozess innerhalb weniger Wochen. Die existenzielle Dimension seines inneren Veränderungsprozesses wird in der Auflösung von Zeitverhältnismäßigkeiten visualisiert. Die zeitlich messbare Dauer von Ereignissen erscheint dabei relativiert. In Breaking Glass hingegen werden Zeitsprünge auf klassische Weise eingesetzt, um die Spanne von vergangener Zeit zu verdeutlichen. Innerhalb dieser Zeitabläufe ereignen sich die intrapersonellen Veränderungsphasen. Für die Darstellung von Zeitablauf und Entwicklung kommt dabei die filmische Form der Montagesequenzen zum Einsatz: Wenn Kate ihre neue Band zusammenstellt, wird die Anhörung verschiedener Musiker in zeitraffender Montageweise präsentiert [00.14.39]. Als Ergebnis dieser Ereignisfolge kommt es zu einer neuen Zusammensetzung von Bandmitgliedern, die ihre gemeinsame künstlerische Arbeit aufnehmen [00.18.40]. In zwei weiteren Montagesequenzen werden Begegnungen der Band mit der Polizei [00.35.41] und das Unterwegssein der Gruppe auf Konzerttour [00.37.06] zusammengefasst. In der Raffung der Szenen durch Montagesequenzen wird deutlich, dass der Zusammenhalt zwischen den Bandmitgliedern gewachsen ist und dass sich Dany und Kate einander genähert haben. In einer vierten Montagesequenz wird die große Konzerttour Kates und ihrer Band und die Betreuung durch Plattenfirma und Musikproduzent zusammengefasst [01.11.31]. In den Szenen dieser Montagesequenz werden Veränderungsprozesse geschildert: Dany und der Schlagzeuger Mick verlassen die Band kurz nacheinander [01.15.16, 01.20.15]. Der Zusammenhalt zwischen den verbliebenen Bandmitgliedern löst sich nach und nach auf. Kate ist zunehmend isoliert und erfüllt ihr Arbeitssoll nur noch mit Hilfe von Drogen [01.28.41]. Die beschriebenen Montagesequenzen und die darin gestalteten Zeitsprüngen haben die erzählerische Funktion, schrittweise Veränderungen der äußeren Handlung und Kates intrapersonelle Wandlung zu schildern. Im Vergleich der szenischen Inhalte der Momentausschnitte innerhalb der Montagesequenzen zeigen sich Stufen von Entwicklung und Veränderung. In den ausgelassenen Zeitabschnitten schreitet die Entwicklung voran. In Taxi Driver werden zwei Montagesequenzen eingesetzt, die einen Kontrast zu der bis zu diesem Moment im Film praktizierten Zeitdarstellung aufbauen: Travis wird in langen und teilweise von langsamen Fahrten begleiteten Einstellungen gezeigt, während er sich in seinem Zimmer aufhält [00.04.30, 00.09.22, 00.09.50, 00.36.38, 00.47.18, 00.50.53]. Weitere Aufenthalte von Travis in seinem Zimmer, in dem er die Zeit nach dem Waffenkauf mit Körpertraining, der Übung mit seinen Waffen und der Herstellung von weiterer Waffentechnik verbringt, werden dagegen in Form zeit136
raffender Montagesequenzen präsentiert [00.55.05, 01.02.39, 01.29.05]. Mit diesem Kontrast verschiedener Zeitdarstellungen wird Travis’ intrapersonelle Veränderung visualisiert. An einer Stelle der zeitraffenden Montagesequenzen wird zudem eine Stopptrickmontage eingesetzt [01.02.39]. In der Wahrnehmung des Zuschauers wird so ein Bruch des Nachvollzugs von Zeitabläufen erreicht. Diese Verfremdung in der Zeitdarstellung vermittelt die Veränderung von Travis’ innerem Erleben. Er ergeht sich in Gewaltphantasien; diese Imaginationen ereignen sich losgelöst vom linearen Zeitablauf. Am Ende des Films kommt es durch Verwendung eines Zeitsprungs zu einer inhaltlichen Paradoxie, die sich direkt auf Travis’ Wandlungsprozess bezieht. Travis wird bei seinem Amoklauf schwer verletzt; sein Krankenhausaufenthalt und die Interpretation seines Handelns als Heldentat durch die Presse werden im plot nicht gezeigt. Der plot zeigt Travis erst wieder, wenn er seine Arbeit als Taxifahrer erneut aufgenommen hat [01.42.38]. Dem äußeren Anschein nach scheint sich nichts verändert zu haben, die Ereignisse der übersprungenen Zeitspanne haben auf Travis’ innere Disposition keinen Einfluss genommen. Das Potenzial für eine weitere plötzliche Eskalation seines Verhaltens ist in seiner Persönlichkeitsstruktur unverändert vorhanden. Dies wird deutlich in der Diskrepanz zwischen den dramatischen Ereignissen und der Spanne von vergangener Zeit zur Inszenierung einer äußerlich scheinbar unveränderten Situation. In Kleine Fluchten wird zur Schilderung verschiedener Stationen in Pipes Entwicklung das Mittel der Zeitraffung über kurze Montagesequenzen eingesetzt: Wenn sich Pipe zum ersten Mal mit seinem Moped beschäftigt, wird in einigen Detail- und Nahaufnahmen sein vorsichtiges Betasten des Fahrzeugs gezeigt [00.03.47]. Seine behutsamen Berührungen verschiedener Teile des Mopeds werden dabei in wesentlich rascherer Folge gezeigt, als sie dem alten Mann mit den entsprechenden körperlichen Bewegungen und Positionswechseln möglich wären. Hier formuliert die Zeitraffung die Intensität von Pipes subjektivem Erleben. Der in der Zeitraffung geschilderte Moment markiert einen wichtigen Schritt auf dem Weg der intrapersonellen Entwicklung der Hauptfigur. Im letzten Drittel des Films kommt es erneut zum Einsatz zeitraffender Montagesequenzen. Am Beginn dieser Szenenfolge steht ein stark retardierendes Moment: Die Kamera zeigt aus der Subjektiven von Pipe und in einer ungeschnittenen Plansequenz, wie er ein Polaroidfoto, ein Selbstportrait, festhält und wie sich dieses Polaroidfoto in der realen Dauer entwickelt, bis Pipe darauf ganz sichtbar geworden ist [01.47.00]. Nach diesem langen, verweilenden Blick setzt eine zeitraffende Montage von Pipes Blicken durch und seinen weiteren Aufnahmen mit dem Fotoapparat ein [01.47.30]. Die Bilder, die er von sich selbst, seiner Umgebung und den Menschen, mit denen er zu tun hat, macht, werden im Moment ihrer Aufnahme gezeigt. Dies wird durch das Geräusch des Auslösers erkennbar. Das Herstellen der Aufnahmen ist in enger zeitlicher Folge montiert. Der sich zwischen den Aufnahmen ereignende Positionswechsel 137
des Fotografen und seine Motivsuche werden nicht im plot gezeigt. Die Bildfolge erscheint als Metapher für Pipes Gedanken, Gefühle und innere Verarbeitungsprozesse während seiner charakterlichen Entwicklung. Sein Weg der Auseinandersetzung mit seiner Lebenssituation wird so zusammengefasst. Am Ende dieser Fotosequenzen mündet die filmische Zeitbehandlung wieder in eine ungeraffte, lineare Darstellung. In einer ungeschnittenen Einstellung werden in einer Gesamtschau Pipes durchlebte Erfahrungen und die Schritte seiner Veränderung betrachtet [02.00.14]. Die Kamera schwenkt langsam über die Fotografien, die Pipe an der Wand seines Zimmers in verschiedenen Gruppen arrangiert hat. In der Zusammenstellung der Aufnahmen und durch die Abtastung der Bilderfolgen in der Kamerabewegung entsteht eine inhaltliche Bedeutungsentwicklung: Pipes innere Entwicklung wird nachgezeichnet. Die Serie von Polaroid-Selbstportraits hat Pipe zunächst so lange betrachtet, bis er darauf ganz sichtbar wurde. In einer nächsten Stufe beobachtet er seine nächste Umgebung und die Menschen, zu denen er in Beziehung steht. Stationen seiner neuen Wege und Erfahrungen sind in Bildnotizen zusammengefasst. Am Ende der Fotosequenz positioniert sich Pipe im Kreis der Menschen, auf die er sich bezieht [02.01.30]. Der realistische Blick auf sein Leben als Bauernknecht visualisiert in dieser Bildsequenz den Sieg, den Pipes Wandlung und Reifung für ihn bedeuten. Eine Sonderform beim Einsatz von Zeitraffung und Zeitsprung findet sich am Ende von Breaking Glass: Kates Gang durch den U-Bahn-Wagen nach ihrer Flucht aus der Konzerthalle eröffnet in einer Halluzination eine surreale Szene innerer Wahrnehmung [01.33.10]. Der erste Teil dieses Geschehens ist in Realzeit in einem ungeschnittenen Gang der Handkamera inszeniert. Kate passiert dabei alle Personen, mit denen sie im Laufe der Geschichte zu tun hatte. Im zweiten Teil dieser Halluzinationsszene sieht Kate im nächsten U-Bahn-Wagen Dany und geht auf ihn zu. Während des Näherkommens wechselt jedoch das Bild von Dannys Erscheinung von einem Moment zum nächsten in das des ermordeten Jungen. Diese Wechselbilder wiederholen sich. Der junge Mann stürzt auf Kate zu und reißt sie mit zu Boden. Darauf folgt eine Weißblende. Durch den Stopptrickeffekt der Kippbilder zwischen Dany und dem ermordeten Jungen werden Kates innere Verfassung und Wahrnehmungsverfremdung in einer extremen Form von Brüchen im Zeitverlauf der Handlungsdarstellung visualisiert. Das traumatisierende Ereignis hat sie handlungsunfähig gemacht. Weißblenden sind ein im Allgemeinen selten eingesetztes und stets eine starke Zäsur suggerierendes filmisches Mittel der Zeitmanipulation. Szenerie und Ereignisse auf der Leinwand werden von gleißendem Licht verschlungen, quasi aufgelöst. Eine Szene, die nach einer Weißblende montiert ist, hat die Anmutung von etwas gänzlich Neuem. Kate lebt in dem Krankenzimmer in einer neuen, im Blick auf ihre Zukunft gänzlich unbestimmten Situation [01.34.20]. Sie hat den Kreis von Manipulation und Fremdbestimmung verlassen. 138
Zeitdehnung Die zweite Manipulationstechnik bei der Zeitdarstellung, die in sechs der acht Beispielfilme zum Einsatz kommt, ist die Zeitdehnung. Dabei werden zum einen zeitliche Abläufe szenischer Ereignisse und Momente mit Hilfe der klassischen Zeitlupe verfremdet. Zum anderen wird mit verschiedenen Techniken der Bildgestaltung, so etwa durch Kameraarbeit und bestimmte Montagetechniken, eine Lösung von Ereignismomenten aus der Linearität des Zeitablaufs erreicht. Mit diesem Mittel der Inszenierung wird die Dauer solcher Momente in einen nahezu zeitlosen Ereignisraum und Zustand gestellt. In den vier Filmen, die von einem Reifeprozess erzählen (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man) werden die Gestaltungsmittel zur Zeitdehnung bei der filmischen Inszenierung wesentlicher Momente des intrapersonellen Wandlungsgeschehens eingesetzt. Auch lässt sich die Verwendung dieses filmischen Gestaltungsmusters in der Inszenierung der intrapersonellen Veränderungsprozesse in zwei filmischen Erzählungen feststellen, die ein Scheitern der Hauptfiguren zeigen (Taxi Driver, Breaking Glass). In Betty Blue wird die Zeitlupe lediglich einmal eingesetzt – bei der Darstellung des Flügeltransports auf einem Tieflader [01.19.26]. Dabei besteht jedoch kein Bedeutungsbezug zur Schilderung des intrapersonellen Wandlungsprozesses der Hauptfigur. In Rocco und seine Brüder kommt diese Technik der Zeitmanipulation nicht zum Einsatz. In allen szenischen Momenten der sechs Beispielfilme, die durch den Einsatz filmischer Mittel ein Abgelöstsein aus dem Zeit- und Ereignisfluss kennzeichnet, wird das innere Erleben der Hauptfiguren während Schlüsselerlebnissen, Entscheidungs- und Veränderungsmomenten im Verlauf ihres intrapersonellen Wandlungsprozesses visualisiert. Ada blickt von der Küste aus auf ihr Piano, das am Strand zurück gelassen wurde. Eine lange Kamerakreisfahrt um ihr Gesicht löst diesen Moment aus der Umgebung und aus dem Tempo der Zeitbehandlung durch den Erzählfluss heraus [00.14.13]. Adas Gesicht und dabei auch ihr Gefühl beginnen sich von der konkreten Weltumgebung abzuheben und zu schweben. In diesem Moment wird Adas starke emotionale Verbundenheit mit ihrem Instrument verdeutlicht. Ein auf ähnliche Weise den Zeittakt des Erzählflusses retardierendes Moment zeigt Ada, während sie ruhig im Grünen sitzt, aus der Perspektive einer schwebend herabsinkenden Kamera. Nach diesem Moment begibt sie sich zum ersten Mal und gezwungenermaßen zu Baines, um ihm Klavierstunden zu geben. Ihr Gesichtsausdruck spiegelt den inneren Konflikt, Angst und Traurigkeit. Ein drittes Ereignis wird mit ähnlichen filmischen Mitteln inszeniert: Ada steht am Rande der Siedlung und blickt in den Dschungel [01.08.09]. Die Kamera nähert sich ihr langsam von hinten. Dann übernimmt die Kamera ihren Blick und schwebt damit in den Dschungel hinein. In der darauf folgenden Szene geht sie aus freien Stücken zu Baines, um ihm ihre wahren Gefühle zu zeigen. In dem zeitlosen 139
Moment hat sie eine Entscheidung getroffen. Einer der zentralen Momente in Adas Wandlungsprozess ist mit Hilfe deutlich sichtbarer Zeitdehnung visualisiert: Mit einer wesentlich höheren Bildfrequenz und aus der Vogelperspektive wird die Szene von Adas Rettung gezeigt. Ada taucht aus der Tiefe des Meeres wieder an die Oberfläche, sie saugt hörbar Luft zum Atmen ein. Von den Maoris wird sie ins Boot gezogen. Dieser letzte und größte Schritt in Adas intrapersoneller Wandlung wird zusätzlich durch ihre Stimme aus dem off hervorgehoben: „...mein Wille hat sich für das Leben entschieden...“ [01.48.55]. Kurz vor dem letzten Bild des Films wird noch einmal die Zeitlupe eingesetzt: Adas Tochter schlägt ein Rad. Die Zeit beginnt sich nach den dramatischen Ereignissen langsam weiter zu drehen. In einer letzten Darstellung eines Geschehens, losgelöst aus dem linearen Zeitfluss, wird am Ende der Geschichte ein Phantasiebild Adas präsentiert: Sie schwebt als Ertrunkene über ihrem Piano, das sie hinab zum Meeresgrund gezogen hat [01.51.25]. Die bewegungslose Szenerie und die fast unmerkliche, aber kontinuierliche Kamerarückfahrt stellen den Moment außerhalb des realen Zeitablaufs. Zusätzlich zu diesem Effekt der Zeitdehnung bzw. Loslösung dieses Moments aus der zeitlichen Linearität wird hier das filmische Mittel eines flashback eingesetzt: Adas phantasierte Szene zeigt ein Ereignis, das sich beinahe so zutragen hätte – ihren Tod durch Ertrinken. Ein solcher Ausgang der Geschichte hätte das Resultat von Adas charakterlicher Wandlung am Ende der Geschichte gänzlich verändert. Über den Kontrast zwischen Adas Phantasiebild, das ihren Tod bedeutet, und dem tatsächlichen Ausgang der Geschichte, ihrem Weiterleben, verdeutlicht sich die existenzielle Dimension von Adas Wandlungsprozess. Zwei weitere Szenen, die mit dem Mittel der Zeitdehnung arbeiten, seien an dieser Stelle noch kurz erwähnt: Beide gewalttätigen Szenen zwischen Stewart und Ada sind in Zeitdehnung visualisiert. Stewarts Vergewaltigungsversuch wird in slow motion präsentiert [01.19.10]. Der Moment, als Stewart Ada einen Finger abhackt, ist ebenso in Zeitlupe zu sehen [01.33.30]. Die in beiden szenischen Momenten eingesetzte Zeitlupe bewirkt eine Intensivierung der Dramatik dieser Ereignisse. In Kleine Fluchten löst sich die filmische Darstellung von Pipes Erlebnissen aus der Zeitgebundenheit, als er bei seiner ersten Fahrt mit dem Moped abzuheben und über die weite Landschaft zu fliegen scheint [00.29.04]. Die Ablösung vom realen Zeitverlauf in der Zeitdehnung vermittelt die Intensität von Pipes Erleben dieses Moments. Pipe löst sich auf seiner Mopedfahrt vom Erdboden und aus dem Zeitfluss. Der Moment der Erweiterung seines Bewegungsradius’ und seine neuen Möglichkeiten des Fortkommens sind wesentliche Erlebnisse der Hauptfigur auf dem Weg ihrer inneren Entwicklung und Wandlung. Ein weiterer Einsatz von Zeitdehnung zeigt sich in der Begegnung zwischen Pipe und dem Sieger des Motocrossrennens [01.25.55]. Pipes subjektive Wahrnehmung des Motorradfahrers auf seiner Ehrenrunde wird in Zeitlupe dargestellt – der Moment des Sieges hat etwas Zeitloses. Ein weiterer 140
Moment starker Retardierung ereignet sich kurz nach dieser Szene, wenn Pipe dem Sieger einen Apfel reicht [01.27.00]. Die Momente des Siegens oder Scheiterns, des Erreichens von Gipfeln und des Erliegens von Versuchungen werden Pipe auf seinem weiteren Weg und im Verlauf seiner intrapersonellen Wandlung beschäftigen. Auch kommt es in Kleine Fluchten zum Einsatz eines weiteren Mittels zur Dehnung der filmischen Präsentation von Zeit: Durch Auf- und Abblenden wird an verschiedenen Stellen ein Retardieren des Erzählflusses erreicht. Die filmischen Punktuationen und zeitlichen Zäsuren werden stets in solchen erzählerischen Momenten eingesetzt, die das Ende einer Phase in Pipes Entwicklungsprozess illustrieren: Nachdem Pipe sein neues Moped in sein Zimmer gebracht hat, erfolgt die erste Abblende in diesem Film [00.06.55]; die Voraussetzung für neue Wege und Erfahrungen ist geschaffen. Nach Pipes Phantasieflug und seiner Rückkehr zum Hof auf dem Moped im strömenden Regen blendet das Bild zum zweiten Mal ab ins Schwarze [00.31.55]. Das erste Hindernis ist überwunden, Pipes Bewegungs- und Erfahrungsradius wesentlich erweitert. Die nächste Ab- und Aufblende erfolgt erst sehr viel später im Erzählverlauf: Als Pipe nach seinem Unfall von der Polizei zum Hof zurück gebracht wird, endet die Szene mit einer Abblende ins Schwarze. In diesem Moment des Scheiterns ist das Gelingen von Pipes Entwicklung und Reifung in Frage gestellt [01.39.05]. In Der mit dem Wolf tanzt werden zwei szenische Ereignisse mit Zeitlupen visuell inszeniert. Es handelt sich dabei um Situationen, in denen wesentliche Ausdrucksmomente von Dunbars Persönlichkeit und deren Weiterentwicklung vermittelt werden: In selbstmörderischer Absicht reitet Dunbar zu Beginn der Geschichte durch die Frontlinie zwischen beiden verfeindeten Lagern [00.06.21]. Er wird von den Schüssen der Soldaten nicht getroffen und überlebt seinen Höllenritt unverletzt. Die Soldaten johlen und fordern ihn auf, den Ritt zu wiederholen [00.07.45]. Viele der Soldaten zielen mit ihren Gewehren auf ihn, als er wieder los reitet. Sein Ritt wird in mehreren Zeitlupeneinstellungen gezeigt: Er breitet die Arme aus, als sei er bereit, sich zu opfern [00.08.00]. Wie durch ein Wunder überlebt er den Ritt entlang der Front ein zweites Mal. In dieser Szene zeigen sich Dunbars Mut und sein starker Wille, es vermitteln sich eine fast wundersame Unverletzbarkeit seiner Person und zugleich seine Verzweiflung, seine Lebensmüdigkeit und die Ziellosigkeit seines Handelns. Der zweite Moment, der in einer Zeitdehnung in John Dunbars Geschichte präsentiert wird, zeigt einen zentralen Ausdrucksmoment auf dem Weg zu seinem Identitätswechsel: Nach der gemeinsamen Büffeljagd mit den Indianern kehrt er allein zu seinem Posten zurück. Nachts tanzt er wie im indianischen Ritual mit wölfischem Geheul um das Feuer [02.09.20]. In der filmischen Visualisierung der Zeitdehnung wird dieser zentrale Moment in Dunbars intrapersoneller Wandlung hervorgehoben: Er hat seine Bestimmung gefunden und eine Entscheidung getroffen – er nimmt die indianische Kultur an. Sein Ziel ist ab diesem Moment, in der indianischen Gemeinschaft zu leben. 141
In Dead Man wird die Visualisierung von Blakes subjektiver Wahrnehmung an einer bestimmten Stelle seines Entwicklungsprozesses als Ereignis außerhalb linearer Zeitabläufe inszeniert. Als Blake im Wald das tote Reh entdeckt, legt er sich daneben und blickt in den Himmel [01.21.10]. Die Kamera beginnt sich zu drehen und Bilder von Himmel und Baumwipfeln in Mehrfachbelichtung legen sich dabei übereinander. Die Visualisierung dieser Bilder greift eine Beschreibung der inneren Wahrnehmung auf, die am Beginn der Geschichte der Heizer im Zug Blake erzählt [00.05.00]. Die Worte des Heizers wirken wie eine Prophezeiung, die sich in diesem und in späteren Momenten in der Geschichte erfüllt. Die inneren Bilder, welche der Heizer zu Beginn der Geschichte beschreibt, realisieren sich in dem zeitlosen Moment, in dem Blakes subjektive Wahrnehmung visualisiert wird. Blake ist nun bereit, sich dieser Form von Wahrnehmung hinzugeben. Er hat akzeptiert, dass er sich auf dem Weg zu seinem Sterben befindet. Zum zweiten und letzten Mal wird diese Visualisierung subjektiver Wahrnehmungsweise kurz vor Blakes Tod gezeigt: Blake liegt in seinem Sterbekanu und blickt in den Himmel [01.50.55]. Im Bildwechsel zwischen der Halbnahen von Blake und der Totalen des Himmels aus seiner Blickperspektive wirkt der Inhalt seiner Wahrnehmung tatsächlich so, wie der Heizer ihn beschrieben hat: Das Boot scheint auf dem Wasser still zu stehen und der Himmel in seinem Kopf bewegt sich. In diesen Momenten der Zeitdehnung und der Loslösung von zeitlicher Linearität werden zwei zentrale Stufen in Blakes Entwicklungsprozess bei der Annahme seines Sterbens vermittelt. Ein weiterer Einsatz der Zeitlupe gegen Ende des Films dient zur Visualisierung der Dimension von Blakes intrapersoneller Veränderung. Diese Zeitlupenbilder korrespondieren in Inhalt und Ästhetik mit einer Bildfolge im opening des Films. So entsteht zwischen beiden Filmsequenzen ein Kontrastbezug, der in einem Verhältnis steht zu Blakes Veränderungsprozess. Im ending der Geschichte geht Blake gestützt von Nobody durch ein Indianerdorf. Seine subjektive Blickperspektive ist in einer langen Sequenz eines Handkameragangs inszeniert, der in Zeitlupe und durch den Einsatz einer Steadycam gestaltet ist. Diese Bilder vermitteln die physische Erschöpfung Blakes. Vergleicht man diese Sequenz mit dem Handkameragang zu Beginn des Films, wenn Blake durch das Dorf Machine geht, so lassen sich bestimmte Unterschiede feststellen, welche die Dimension von Blakes Veränderungsprozess vermitteln: Seine Blickweise hat sich extrem verändert – seine Blicke in die Dorfstraße von Machine lassen ihn vieles sehen, was ihn erschreckt und irritiert. Unruhig springt seine Beobachtung dabei von einem Geschehen zum nächsten. Im Indianerdorf hingegen gleitet sein Blick gleichmütig über die sich ihm bietenden Szenen, nichts fesselt sein Interesse, seine Blicke versuchen nicht, etwas genauer zu ergründen. Auch erschreckt ihn nichts mehr. In der unterschiedlichen Inszenierung von Blakes Wahrnehmung wird seine intrapersonelle Veränderung deutlich. Sein Wesen, seine Art des Wahrnehmens und Verstehens hat sich geändert. 142
In Taxi Driver verlässt die Bildlaufzeit mehrmals den linearen Zeitfluss. In den Einstellungen, die in Zeitdehnung präsentiert werden, wird Travis’ subjektive Wahrnehmung inszeniert. Es wird dabei deutlich, dass seine Wahrnehmung verfremdet ist: Er sieht Dinge auf andere Weise, als sie sich real ereignen. Als er Betsy zum ersten Mal sieht, nimmt er sie als schwebenden Engel wahr [00.09.42]. Nächtliche Besucher des Coffeeshops und seine Taxikollegen sieht er gleichfalls zeitverzögert [00.14.10]. Während seine Kollegen miteinander schwatzen, nimmt er keinen Kontakt zu ihnen auf, sondern versenkt sich in die Betrachtung der aufsteigenden Gasperlen in seinem Glas mit Alka Seltzer [00.16.15]. Als er eine Wahlveranstaltung Palantines beobachtet, bewegen sich die handelnden Figuren für ihn in Zeitdehnung, wie unter Wasser schwebend. Travis’ so inszenierte Wahrnehmung fördert die Hypothesenbildung über seine Gefühle, Gedanken und emotionalen Bewegungen. Was genau in ihm vorgeht, bleibt jedoch nur vage zu vermuten. Der plötzliche Wechsel in Travis’ Wahrnehmung und Agieren verdeutlicht sich visuell im gleichfalls unvermittelten Wechsel der ästhetischen Gestaltung der Zeitdarstellung. In der Visualisierung der Momente, die ihn beim Phantasieren gewalttätiger Begegnungen zeigen, werden die Effekte Zeitraffung und Stopptrick eingesetzt [00.55.05, 00.55.51, 00.56.30]. Sein innerer Takt scheint sich wesentlich verändert zu haben – von der retardierten Augenblickswahrnehmung zur fragmentarisierten, sprunghaften Wahrnehmung, die nurmehr lückenhaft Situationen und Ereignisse aufnimmt. Gegen Ende der Geschichte, als er sein Aggressionspotenzial im Attentat und in seinem anschließenden Selbstmordversuch ausagiert hat, setzt wiederum ein die Zeitdarstellung extrem verfremdendes Gestaltungsmittel ein: Die bewegte Szenerie wird eingefroren und die Kamera fährt langsam über diesen Stillstand hinweg [01.38.00]. Im Vergleich zu den im ersten Drittel des Films eingesetzten Mitteln der Zeitmanipulation kommt es hier nun zu einer extremen Retardierung und zu einem Stillstand. Stellt man die in diesem Film angewendeten Mittel der Zeitdarstellung in Beziehung zum Wandlungsprozess der Hauptfigur, so vollzieht sich in diesen Momenten die dritte Phase von Travis’ Veränderung. In Breaking Glass wird das Mittel der Zeitdehnung nur ein einziges Mal eingesetzt. Die Bilder des Mordopfers beim Konzert, der schreiende und sterbende junge Mann, werden in Zeitlupe und mit Shuttereffekt gezeigt [01.01.05]. Aus Kates Perspektive ist zu sehen, wie er sich auf den Wagen der Band zu retten versucht, dabei aber in die Menge stürzt. Die Großaufnahme der schreienden Kate wird eingefroren und farbentsättigt bis zum Schwarz/Weiß [01.01.23]. Erst in der nächsten Einstellung klärt sich, dass dieses Bild zugleich ein Zeitungsfoto von Kate ist, welches in genau diesem Moment entstanden ist. Diese Manipulation der Zeitdarstellung und der Abbildqualität bildet eine starke Zäsur in der Ereignisdarstellung dieses Films, einer Punktuation ähnlich. Dieser Moment in Kates Erleben ist Auslöser extremer Veränderungen, die sich in der Folge ereignen. 143
Flashback Flashbacks werden zwar in vier Filmen eingesetzt, aber nur in einem kommt diesem Mittel bei der Visualisierung charakterlicher Veränderungsprozesse eine bedeutungsbildende Funktion zu. In Breaking Glass wird in einem sehr kurzen, intermittierend montierten Flashback der Veränderungsbogen von Kates Situation in einem kurzen Moment zusammengefasst: Kate singt auf einem Tourkonzert mit Bob Woods und dem Manager ihrer Plattenfirma auf großer Bühne, mit Light Show und in spektakulärem Kostüm „You are a Programme“ [01.18.10]. Dazwischen werden in einem Flashback Momente gezeigt, als Kate im opening der Geschichte Dany einige Zeilen dieses Liedes auf der Straße vorgesungen hat. Der Ort war damals eine schäbige Straßenecke, nun singt sie auf einer großen Bühne. Ihre Haare waren blond und standen etwas wirr von ihrem Kopf ab. Nun trägt sie eine schwarze Perücke mit Glitzerstreifen. In der Straßenszene sind ihre tanzenden Bewegungen spontan und improvisiert. Sie trägt Alltagskleidung. Auf der Konzertbühne folgt sie einer Choreografie und trägt ein sehr aufreizendes Kostüm [01.19.06]. Die Verwendung des Flashbacks dient hier der visuellen Schilderung des Ausmaßes der Veränderung von Kates Charakter und Lebenssituation. Die Rückblenden in Der mit dem Wolf tanzt und Dead Man stehen nicht in einem direkten Bezug zur Schilderung der Veränderungsprozesse der Protagonisten. In diesen Flashbacks werden die Vorgeschichten und Schicksale zweier Figuren geschildert, Nobody und Steht-mit-einer-Faust, die in ihren Geschichten tragende Rollen spielen. Die Darstellungen dieser Lebenswege liefern jedoch keine wesentlichen Aspekte des intrapersonellen Wandlungsprozesses der Hauptfiguren in diesen Geschichten. Parallelmontage Als eine weitere Technik der Zeitmanipulation wird in Der mit dem Wolf tanzt und Rocco und seine Brüder die Parallelmontage zur Illustration intrapersoneller Wandlungen eingesetzt. Die Parallelmontage, wie sie einem im gesamten Verlauf von Dead Man begegnet, steht dagegen nicht in direktem Bezug zu den Wandlungsschritten in William Blakes Wesen. Vielmehr dient sie hier dazu, das Ereignis- und Handlungsstereotyp eines Westernplots zu etablieren: Abwechselnd werden Verfolgte und Verfolger auf ihrem Weg gezeigt. In Der mit dem Wolf tanzt wird das Prinzip der Parallelmontage für die Schilderung der schrittweisen Annäherung zwischen den Indianern und John Dunbar verwendet [00.57.00]: Im Dorf der Indianer wird über das Auftauchen des weißen Mannes beraten. Der Medizinmann hält den Weißen für einen besonderen Mann, der vielleicht magische Kräfte besitzt, und schlägt vor, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Parallel dazu reift bei John Dunbar der Entschluss, zu den Indianern zu reiten. So beginnt eine schrittweise Annäherung zwischen Dunbar und den Indianern und damit die 144
stufenweise innere Veränderung und Entwicklung der Hauptfigur. In den Aussagen des Medizinmannes ist Dunbars Entwicklungspotenzial benannt: Er wird sich in der Tat als ein besonderer Mann für die Indianer erweisen. Später werden noch in zwei anderen Sequenzen Parallelmontagen zur Spannungssteigerung eingesetzt, doch ohne relevanten Bezug zum intrapersonellen Wandlungsgeschehen Dunbars. Die Parallelmontage von Dunbars Gefangennahme und dem Aufbruch der Indianer zu seiner Befreiung wiederum kann als Metapher des abschließenden Identitätswechsels des Protagonisten gelesen werden: Dunbar entscheidet sich als Gefangener der U. S. Army, Indianer zu werden und riskiert so sein Leben [03.12.58]. Die Menschen, die mit seiner neuen Identität verknüpft sind, tragen Sorge um sein Wohl, befreien ihn und verhindern dadurch seine Hinrichtung. Damit ist die Wandlung der Hauptfigur besiegelt und Dunbar betritt endgültig den neuen Raum seiner gewandelten Identität. In Rocco und seine Brüder kommt es am Höhepunkt der dramatischen Entwicklungen zum Einsatz einer klassischen Parallelmontage, die eine bedeutungsschaffende Wirkung im Wandlungsprozess Simones hat: Als Simone Nadja ein letztes Mal begegnet, wird im intermittierenden Wechsel mit dieser Szene das parallele Ereignis des großen Boxkampfes von Rocco montiert [02.24.44]. Die Situation zwischen Simone und Nadja eskaliert. Das Kampfgeschehen zwischen Rocco und seinem Gegner nimmt ebenfalls an Dramatik zu. Simone ermordet Nadja mit zahlreichen Messerstichen. Im selben Moment besiegt Rocco seinen Gegner endgültig. Simone hat mit dem Mord an Nadja in der Kette seiner kriminellen Taten nun das größte Verbrechen begangen. Er hat auf die ihn kränkende und demütigende Beschimpfung Nadjas mit grausamer Gewalt reagiert. Er ist nicht mehr fähig, mit Scham, Hass, Wut, Verlangen und Verzweiflung umzugehen.
5.7 Prozesse charakterlicher Wandlung: Erzählverlauf und Retrospektive In der Rezeption eines Films baut sich die erzählerische Logik von einem szenischen Moment zum nächsten auf. Erst am Ende des Films ist dem Zuschauer eine retrospektive Gesamtschau der Geschichte möglich. Im folgenden Untersuchungsschritt wird gefragt, ob sich eine Differenz zwischen den im Filmverlauf etablierten sinnhaften Zusammenhängen des Wandlungsprozesses und der retrospektiv erkennbaren Konstruktion der intrapersonellen Veränderung feststellen lässt. In vier der Beispielfilme (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Rocco und seine Brüder) lässt sich eine große Ähnlichkeit zwischen der erzählerischen Logik des Wandlungsprozesses im Filmverlauf und in retrospektiver Schau erkennen. In diesen Filmen klären sich die Zusammenhänge des Geschehens der intrapersonellen 145
Wandlung in großer zeitlicher Nähe zum konkreten Ereignisverlauf. Aus retrospektiver Gesamtschau bestätigt sich im Nachvollzug des Films die sukzessiv aufgebaute Logik der Ereignisse und des geschilderten Wandlungsgeschehens. In Das Piano, Kleine Fluchten und Der mit dem Wolf tanzt werden auf hermeneutischer Linie oft Irritationen durch einen Szenenwechsel ausgelöst, die sich jedoch sehr schnell im weiteren Filmverlauf auflösen. Diese vorläufigen Rätselbilder und -handlungen dienen zum einen dem Spannungsaufbau und der Aufmerksamkeitslenkung des Zuschauers. Am deutlichsten zeigt sich dies in Der mit dem Wolf tanzt. Zum anderen werden auf der hermeneutischen Linie unerwartete Handlungen der Hauptfigur präsentiert, die erst im weiteren szenischen Verlauf als zentrale Impulse für die intrapersonelle Veränderung der Figur erkennbar werden. So werden in Kleine Fluchten einige Szenenwechsel mit entsprechenden Irritationen ausgestattet: Eine neue Szene ist zu sehen, deren Zusammenhang und Ereigniskern zunächst nicht klar erkennbar ist. Nach einigen Momenten klären sich die Zusammenhänge und man sieht Pipe, wie er aus seinem fest gefügten Alltag ausbricht, einen weiteren Aufbruch in neue Gefilde wagt und dabei eine weitere Stufe seiner intrapersonellen Entwicklung erklimmt. In Kleine Fluchten und Der mit dem Wolf tanzt werden diese Irritationen in der Regel schon in den nächsten Sekunden des Szenenverlaufs aufgelöst. In Das Piano wird dieses Muster ähnlich eingesetzt. Jedoch ist hier noch der Aufbau eines übergreifenden Sinnzusammenhangs im Rahmen solcher Irritationen erkennbar, der sich eher in der retrospektiven Schau der Geschichte erklärt. Die Szenen in Das Piano, in denen Episoden aus dem Siedlerleben gezeigt werden und die zwischen die Besuche Adas bei Baines montiert sind, verursachen beim Zuschauer zu Anfang oft eine Irritation und die Suche nach Sinnzusammenhängen. Diese Irritation löst sich im weiteren Verlauf der Szenen auf; in der retrospektiven Schau der Geschichte wird deutlich, dass mit den inhaltlichen Themen dieser Zwischenszenen eine Interpretation oder auch Vorankündigung der Entwicklungen zwischen Ada und Baines präsentiert wird. In Der mit dem Wolf tanzt wird am Beginn der Geschichte eine starke hermeneutische Linie aufgebaut. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird von mehreren Rätseln gefesselt: Die Handlungen der Hauptfigur, wie etwa ihr Ritt durch die Frontlinie, und die ihnen zugrunde liegenden Motivationen sind mit Hilfe der gelieferten Informationen zunächst nicht erklärbar [00.04.19]. In den nächsten Minuten etablieren und klären sich jedoch vor dem Hintergrund eben dieses Spannungsfeldes um so deutlicher die Ziele und Wünsche des Protagonisten. Im weiteren Verlauf wird dann nur noch mit lokalen Irritationen und ihrer zeitlich nahen Auflösung operiert, um Spannung aufzubauen und den Zuschauer zu fesseln. Diese Irritationen sind jedoch thematisch nicht unmittelbar an die Phasen der intrapersonellen Wandlung geknüpft. In Rocco und seine Brüder wird mit kleinen lokalen Verschiebungen zwischen der proairetischen und der hermeneutischen Linie die logisch nachvollziehbare Ent146
wicklung und Veränderung von Simones Situation und Verhalten aufgebaut und so Simones charakterliche Disposition für seine späteren Handlungen vermittelt. Die Gründe seines Abstiegs werden geschildert, dabei sein Scheitern Schritt für Schritt erklärt. Im Kontrast entsteht eine hermeneutische Linie der Handlungen Roccos: Seine Entscheidungen und Handlungen sind oftmals irritierend und der Zuschauer versucht, die ihnen zugrunde liegende Orientierung und den Weg der Entscheidungsfindung aus dem Verhalten dieser Figur zu rekonstruieren. Simones innerer Antrieb seines Handelns ist leichter nachvollziehbar als der Roccos. Gegen Ende des Films wird in einem Monolog Roccos eine Erklärung der Ereignisse gegeben – in einer Art retrospektiver Deutung seiner Handlungsmotivationen: Er spricht von dem Opfer, das erbracht werden muss, damit ein Haus sicher stehen kann [02.35.46]. Am Ende der Geschichte wird deutlich, dass als Preis für den Sozialisierungs- und Integrationsprozess der bäuerlichen Familie in die sozialen Strukturen der Großstadt sogar drei Opfer erbracht wurden: Simone ist in den sozialen Abgrund geraten, Nadja wurde von ihm ermordet, Rocco ist gezwungen, ein Leben zu führen, das ihm und seinen ursprünglichen Wünschen nicht entspricht. In den anderen vier Filmen kommt der hermeneutischen Linie eine größere Bedeutung als in den vier bereits beschriebenen zu: Zum einen erklären sich in ihnen rätselhafte Inhalte und Gegebenheiten zunächst nicht, sondern erst nach Gabe weiterer Informationen in größerer Entfernung im Filmverlauf. Zum anderen entstehen in drei Filmen (Taxi Driver, Breaking Glass, Betty Blue) gerade in der retrospektiven Schau auf die Ereignisse noch neue, zentrale Erkenntnisse mit Blick auf die intrapersonelle Wandlung. Im vierten Film dieser Gruppe – Dead Man – ist das Moment der Irritation und der hermeneutischen Linie insgesamt dominanter als das der proairetischen Linie. Die Grundkonstellation des plot, Blakes Ausgangslage am Beginn der Geschichte und die Konstellation von Verfolgern und Verfolgtem, wird entlang der proairetischen Linie aufgebaut. Lokale Irritationen durch Szenenwechsel wiederum werden als spannungssteigernde und aufmerksamkeitslenkende Mittel eingesetzt, ohne einen direkten Bezug zur Schilderung des intrapersonellen Wandlungsprozesses erkennen zu lassen. Die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung innerhalb der charakterlichen Entwicklung Blakes werden überwiegend als Elemente der hermeneutischen Linie präsentiert. Die rätselhaften Aussagen des Heizers, Blakes Wahrnehmungen auf der Dorfstraße von Machine und die mystisch-rätselhaften Aussagen von Nobody, dies alles sind Informationen und erzählerische Inhalte, deren Zusammenhänge in Beziehung stehen zu Blakes intrapersonellem Wandlungsprozess, deren Bedeutungen sich jedoch erst mit großer zeitlicher Verzögerung klären oder sich zu einem logischen Ganzen zusammen fügen. Die rätselhaften Inhalte, die in der Exposition des Filmes aufgebaut werden, finden Schritt für Schritt im Ab147
lauf der Ereignisse – und besonders gegen Ende des Films – ihre Erklärungen und Auflösungen. Im letzten Teil des Films nimmt das hermeneutische Moment noch einmal auf neue Weise größeren Raum ein: Blakes subjektive Wahrnehmung als körperlich geschwächter und sterbender Mensch wird im Bild inszeniert. Diese Wahrnehmungsweise ist rätselhaft, surreal und nicht mehr nach deutlicher Motivation und Zielorientierung der Figur analysierbar. In der retrospektiven Schau der Ereignisse ergeben sich keine neuen Erkenntnisse. In Breaking Glass gewinnt die hermeneutische Linie ab der Ermordung des jungen Mannes in der Konstruktion der Geschichte und in Bezug auf die Schilderung des intrapersonellen Wandlungsprozesses gegenüber der proairetischen Linie an Dominanz. Die Zusammenhänge zwischen den Ereignissen, den inneren Motivationen und den Auswirkungen der Handlungen sind bis zu diesem Moment in zeitnahem Wechsel zwischen hermeneutischer und proairetischer Linie konstruiert. Ebenso werden in diesem Film hermeneutische Momente als Stilmittel für Spannungsaufbau und Aufmerksamkeitslenkung bei irritierenden Szenenwechseln eingesetzt. Kates Handlungen, ihre Situation und Hinweise auf ihr inneres Erleben werden ab dem für sie traumatisierenden Ereignis zunehmend auf der hermeneutischen Linie gelagert. Warum sie in so großem Maß Einflussnahmen und Manipulationen anderer zulässt und ihre zuvor bekannten Ideale und Ziele aufgibt, ist mit Hilfe der gezeigten Ereignisse nicht erklärbar. Die latente Suche nach Erklärungen begleitet permanent die weitere Filmwahrnehmung. Kate wird nach der Mordszene nur in zwei Momenten des gesamten Filmverlaufs mit subjective access inszeniert – in beiden Szenen werden Momente von Kates Innenleben geschildert, wird sie in sehr ambivalenten emotionalen Stimmungen gezeigt [01.01.33, 01.21.05]. Ihre inneren Motivationen und ihre Entscheidungen, die diesen Momenten folgen und ihren weiteren Handlungen zugrunde liegen, werden dabei nicht offen gelegt. Der Zuschauer trägt an das filmische Geschehen immer wieder die Frage heran, warum Kate auf diese oder jene Weise handelt. Erst bei ihrem Ausbruch aus der Konzerthalle werden in der Inszenierung ihrer Halluzination Einblicke in ihr inneres Erleben möglich [01.32.34]. Kate steht noch immer unter dem schockierenden Eindruck des Mordes an dem jungen Mann. Die Kenntnis ihres inneren Zustands hilft ihre Willenlosigkeit zu erklären, ihre Passivität und ihre Ziellosigkeit; es klärt auch, wie sie auf solch extreme Weise in den Sog der Entwicklungen geraten konnte. Aus retrospektiver Sicht erhellen sich so die Gründe von Kates Handlungsweisen. In Betty Blue und Taxi Driver ist der Stellenwert der hermeneutischen Linie bei der Schilderung intrapersoneller Wandlungsprozesse höher als in den anderen sechs Beispielfilmen. Nach Travis’ gescheitertem Annäherungsversuch an Betsy sind seine weiteren Handlungen und ihre Motivationen nur noch an eine lokal begrenzte proairetische Linie innerhalb der einzelnen szenischen Situation geknüpft. Die über148
greifenden Zusammenhänge der Ereignisse sind verrätselt und damit auf der hermeneutischen Linie gelagert. Der Gang des Geschehens und die inneren Motivationen und Entscheidungen Travis’ erklären sich erst retrospektiv nach dem Attentat und nach seinem Selbstmordversuch. Dennoch bleiben auch nun zahlreiche weiße Flecke im logischen Zusammenhang der Ereignisse mit Blick auf Travis’ intrapersoneller Wandlung bestehen – die innere Veränderung von Travis und sein Scheitern bleiben partiell rätselhaft. Die auf der hermeneutischen Linie aufgeworfenen Fragen werden am Ende nur teilweise beantwortet; vielmehr etabliert sich mit der scheinbaren Wiederkehr der frühen Handlungssituation am Ende des Films die drängende Frage, ob sich der Gang der Ereignisse in einem neuen Zyklus entwickeln und ob Travis darin wiederum gewalttätig werden wird. Der retrospektive Blick auf die Geschichte kann einige Unklarheiten auflösen, jedoch verstärkt sie zugleich die Wahrnehmung ungelöster Rätsel und Sinnlücken. Das Ereignis der Wandlung wird in seinem Ursacheund Wirkungsgeflecht nicht völlig offen gelegt. In Taxi Driver wie auch in Betty Blue fällt auf, dass das Mittel der Irritation beim Wechsel von einer szenischen Situation zur nächsten – anders als in den anderen ausgewählten Filmen – kaum zum Spannungsaufbau und zur Aufmerksamkeitslenkung eingesetzt wird. Die Reihe aggressiver Ausbrüche der Protagonistin in Betty Blue gehört der hermeneutischen Linie an. Zwar gibt es bei jedem einzelnen eskalierten Verhalten eine szenisch lokal verortete Logik dieses Ereignisses, doch bleibt die Frage nach den tieferen Gründen, die Betty immer wieder so drastisch überreagieren lassen, unbeantwortet. Zwischen Bettys Verhaltensweisen wird kein erkennbarer übergreifender Sinnzusammenhang aufgebaut. Erst aus retrospektiver Sicht, nach ihrer Selbstverstümmelung, wird deutlich, dass ihre Aggressionsausbrüche Stufen einer psychischen Entwicklung bis zum Tiefpunkt ihrer gänzlichen Umnachtung sind. Doch auch in der Retrospektive bleiben die genauen Gründe für Bettys psychische Veränderung rätselhaft. Dieses Muster, nach dem ganze Informationszusammenhänge auf der hermeneutischen Linie verbleiben, spiegelt sich auch in der Tatsache, dass der Inhalt von Zorgs Manuskript nie offen gelegt wird. Am Ende beginnt Zorg erneut zu schreiben. Es stellt sich nun die Frage, ob der Inhalt des fertigen Romans eine ähnlich dramatische und autobiografische Geschichte aus Zorgs Leben beschreiben wird. Ein starker Perspektivwechsel auf Zorg erfolgt im Rückblick durch sein Verhalten im letzten Teil der Erzählung: Seine Fähigkeit zu morden, seine egoistischen Handlungsmotive, die diese Szenen zeigen, verändern die Perspektive auf seine Verhaltensweisen während der ganzen vorangegangenen Geschichte. An dieser Stelle sei noch auf ein gesondert festzustellendes Phänomen in opening und ending von fünf Beispielfilmen hingewiesen: Dabei wird zu Beginn ein rätselhaftes Bild, eine rätselhafte Szenerie, ein rätselhafter Vorgang ins Bild gesetzt. Dieses Bild und sein Inhalt spielen im weiteren Verlauf der Geschichte keine größere Rolle mehr. Am Ende der Geschichte jedoch kommt es zu einer visuellen Entsprechung 149
zu diesem Bild bzw. zu dessen szenischem Inhalt. Die erneute Präsentation des szenischen Inhalts bzw. das Aufgreifen des ersten Bildes durch eine damit korrespondierende visuelle Entsprechung ist von zwei verschiedenen Qualitäten in der Art dieser Bezugnahme gekennzeichnet: Entweder baut sich eine deutliche Veränderung bzw. eine Weiterentwicklung auf oder es wird im Vergleich beider Elemente deutlich, dass sich nichts verändert hat. In Das Piano und Kleine Fluchten sind es das erste und das letzte Bild, die wie eine Klammer um die gesamte Geschichte und um das Geschehen der intrapersonellen Wandlung gelegt sind. Im Vergleich beider Bilder zeigt sich ein deutlicher Kontrast. In Kleine Fluchten wird dieses Prinzip am markantesten eingesetzt: Das erste Bild zeigt den leeren Misthaufen [00.00.08], das letzte Bild zeigt Pipe, wie er auf diesem Misthaufen steht, die Hände in den Hosentaschen und rauchend [02.08.00]. Die Abwesenheit und Nicht-Sichtbarkeit Pipes hat sich gewandelt zu seiner Präsenz und profilierten Wahrnehmbarkeit. Die subjektive Sicht Adas, die sich ihre Finger vor die Augen hält, bildet den Einstieg in Das Piano [00.01.25]. Dieses Bild ist unscharf, rötlich-fleischfarben und erklärt sich erst durch einen Gegenschuss auf Adas Finger und ihr Gesicht von außen. Das letzte Bild des Films ist blau-schwarz und verschwimmt in der Unschärfe. Es zeigt den unendlichen Raum des Meeresgrunds [01.51.55]. Zwischen beiden Bildern ist nicht nur ein deutlicher Farbkontrast, sondern auch ein großer Unterschied in der Dimension der Szenerie aufgebaut. Der gezeigte Raum im ersten Bild beschränkt sich auf die wenigen Millimeter zwischen Adas Augen und der Oberfläche ihrer Handinnenseite. Im letzten Bild wandert der Blick zur immer undurchschaubarer werdenden tiefblauen Größe des Meeres. Das erste Bild zeigt die reale Beschränkung des Blicks durch eine eigenmächtige und kindliche Handlung, das letzte Bild eine Phantasie Adas, eine Möglichkeit ihres Schicksals, die nicht eingetreten ist. Ihr Blick ist dabei ins Unendliche gerichtet. In Dead Man ist es Blakes Gang durch Machine [00.09.30], der als szenische Situation im ending erneut aufgegriffen wird, nun jedoch in einem gänzlich veränderten situativen Zusammenhang. Blake geht zu Beginn der Geschichte über die Dorfstraße, sieht dort viele ihm fremde und ihn befremdende Dinge und Geschehnisse und reagiert dabei sehr schreckhaft und verängstigt. Am Ende des Films geht Blake, gestützt von seinem Freund Nobody, völlig entkräftet und dem Tode nahe durch das Indianerdorf, das zugleich rituelle Stätte der Totenbestattung ist [01.41.40]. Blake schreckt nun vor nichts mehr zurück, er lässt sich führen, sein Blick gleitet gleichmütig betrachtend über die Szenerie. Opening und ending von Betty Blue und Taxi Driver weisen ebenfalls visuelle Entsprechungen zwischen verschiedenen Szenerien bzw. Ereignissen auf. Hier ist jedoch auffällig, dass im Vergleich der beiden Bausteine deren Ähnlichkeit deutlich wird, und kein Kontrast oder grundlegende Veränderung der Situation. Zu Beginn 150
und Ende kocht Zorgs Topf mit dem Chili con Carne auf dem Herd und er setzt sich im Anschluss an den Tisch, um zu essen [00.03.46, 01.51.10]. In vergleichbarer Weise werden zu Beginn von Taxi Driver Bilder einer nächtlichen Fahrt mit dem Taxi gezeigt. Ein ähnliches Geschehen wiederholt sich am Ende des Films. Der Vergleichsbogen zwischen diesen Situationen suggeriert einen Stillstand – eine Situation, die sich trotz der Dramatik der vergangenen Ereignisse nicht wesentlich verändert hat. Die Bezüge zwischen diesen an Beginn und Ende beider Geschichten positionierten visuellen Elementen auf hermeneutischer Linie weisen aus retrospektiver Sicht auf die Dimensionen der Entwicklung und Veränderung des charakterlichen Wandlungsprozesses der Hauptfiguren. Im Vergleich des Geflechts von proairetischer und hermeneutischer Linie und retrospektiver Schau der Sinnzusammenhänge lässt sich für die ausgewählten Filme feststellen, dass die Schilderungen intrapersoneller Wandlungsprozesse, die zu einer Reifung führen, in einem klaren und stufenartigen Aufbau der logischen Zusammenhänge und im Wechsel zwischen proairetischer und hermeneutischer Linie strukturiert sind. Die verrätselt präsentierten Zusammenhänge werden in relativer zeitlicher Nähe im weiteren Ereignisverlauf geklärt. Die Zusammenhänge der Geschichte entsprechen in retrospektiver Sicht generell dem, was im Filmverlauf sukzessive entfaltet wurde. Wenn sich hier nun die eine und andere zusätzliche Erkenntnis über die Bedingungen und Entwicklungen der intrapersonellen Wandlung ergibt, dann verändert sich dadurch doch nicht das Gesamtverständnis der Geschichte. In Dead Man wird eine Variante dieses Gestaltungsmusters ausgeformt: Die Abschnitte zwischen Setzung eines hermeneutisch präsentierten Inhalts und dessen Aufklärung und damit der Wechsel auf die proairetische Linie sind zeitlich meist sehr lang. Es entsteht ein Geflecht rätselhafter Zusammenhänge, das jedoch sukzessive aufgelöst wird. In drei Filmen, die Geschichten des Scheiterns erzählen, lässt sich grob folgendes einheitliches Verwendungsmuster von proairetischer und hermeneutischer Linie beschreiben: Am Gesamtprofil beider Linien haben die als verrätselte Inhalte präsentierten Elemente den größeren Anteil. Die Auflösung der Rätsel erfolgt oft erst in großer zeitlicher Distanz zur ihrer Entstehung oder unterbleibt sogar völlig. Am Schluss bzw. in den letzten Abschnitten dieser drei Erzählungen werden Informationen gegeben, durch die für einige wesentliche Zusammenhänge im Verlauf der Handlung veränderte Sinnbezüge entstehen. Rocco und seine Brüder entspricht in diesem Punkt eher den Gestaltungsmustern der Filme, die einen Reifungsprozess beschreiben. Hier liegt ein linearer, kurzphasiger Wechsel zwischen hermeneutischer und proairetischer Linie vor. Die im letzten Teil des Films in Dialogform gelieferte Deutung der Ereignisse und ihrer Entwicklungen gibt dem Gesamtverlauf der Geschichte und dem darin vollzogenen Sinnaufbau keine neue Wendung, setzt aber einen neuen Akzent. 151
5.8 Zentrale .PUJGReihen: Handlungsarten und Schauplätze Die bisher zur Anwendung gekommenen Analysenstrumente beruhen auf narrationstheoretischen Modellen, die erzählerische Ordnungsprinzipien über hierarchische Strukturen definieren. So ist beispielsweise das Verständnis der erzählerischen und zeitlichen cause-effect chain, der Zusammenhänge zwischen kernels und satellites oder der Elemente des narrative schema von der Definition darin vorhandener hierarchischer Bezüge geprägt. Es können daher bei der Anwendung dieser Untersuchungsinstrumente auch nur diejenigen Gestaltungsmuster, die prozesshafte Phänomene filmisch präsentieren, analysiert werden, deren Gestaltungsstrukturen über diese hierarchischen Bezugssysteme aufgebaut sind. Um Gestaltungsmuster einer filmischen Erzählung beschreiben zu können, die keine hierarchischen Strukturen bilden, sondern über andersartige Bezugssysteme konstruiert sind, wird das neoformalistische Begriffsmodell der fünf formalen Prinzipien auf das Untersuchungsmaterial angewendet. So können Bausteine der Visualisierung eines intrapersonellen Veränderungsprozesses und deren Bezugsgeflechte beschrieben werden, die in Reihungen und über Korrespondenzen einander zugeordnet sind. Eine Motif-Reihe enthält erzählerische oder stilistische Bausteine, die durch bestimmte Merkmale ihrer Gestaltung in Bezug zueinander stehen (Bordwell/Thompson 1986: 37 f., 144-146, 293). Wie dieser Bezug gestaltet ist, kann mittels der fünf Prinzipien beschrieben werden. Die Definitionen der fünf formalen Prinzipien sind für das Erfassen prozesshafter Phänomene in einem Artefakt besonders geeignet. Als Analyseergebnisse können Motif-Reihen im Material erkannt werden, die eine zentrale Funktion beim Aufbau und der Schilderung der intrapersonellen Wandlung haben. Betrachtet man die Konstruktion der Erzählungen durch das Raster der fünf gestalterischen Prinzipien, so wird bei der Mehrzahl der untersuchten Filme eine signifikante Verwendung der Prinzipien repetition, difference and variation in Kombination mit development erkennbar. In allen acht Beispielfilmen lässt sich auf diese Weise eine zentrale Reihung erzählerischer Elemente feststellen, die in direktem Bezug zum Ablauf der intrapersonellen Wandlung steht. In diesen Motif-Reihen und ihren Gestaltungsstrukturen entsteht kein direktes Abbild der charakterlichen Veränderung der Hauptfiguren. Vielmehr repräsentieren diese Gestaltungsstrukturen eine Reihung erzählerischer Ereignisse und Begebenheiten, die für sich genommen ein prozesshaftes Geschehen darstellen und in deutlicher Korrespondenz zur inneren Entwicklung der Hauptfigur stehen. In diesen Reihungen wird jeweils ein Entwicklungsbogen aufgebaut, der ein visuelles, dabei aber nur fragmentarisches Äquivalent des unsichtbaren, innerpsychischen Wandlungsgeschehens bildet. Die Summe verschiedener visueller, durch bestimmte filmische Gestaltungsmittel im Material des Films etablierter Teiläquivalenzen verkörpert die erzählerische Figur des Wandlungsgeschehens. 152
Die bei der Analyse festgestellten erzählerischen Motif-Reihen lassen sich nach den jeweils eingesetzten inhaltlichen Bausteinen in zwei Gruppen einteilen: In drei Filmen wiederholt sich in den Reihungen an ein und demselben Schauplatz jeweils ein szenisches Geschehen, in das die zentrale Figur involviert ist (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Taxi Driver). Der Schauplatz bleibt dabei in seiner Ausgestaltung relativ unverändert. In Bezug auf den Ort des Geschehens wird hier also die repetition als ordnendes Prinzip eingesetzt: Die Art der szenischen Handlung wiederholt sich am selben Schauplatz, doch verändert sich bei jeder Wiederholung schrittweise die Ausführungsweise dieser Handlung. Bei der Inszenierung der Handlungsweise kommen die Prinzipien repetition und similarity gepaart mit development zum Einsatz. In weiteren vier Filmen können die darin aufgefundenen Motif-Reihen mit Blick auf ihre Strukturierung in einer zweiten Gruppe zusammengefasst werden (Dead Man, Betty Blue, Kleine Fluchten, Rocco und seine Brüder); in diesen Filmen wiederholen sich über jeweils eine zentrale Reihung erzählerische Momente mit ein und derselben Handlungsart, jedoch an wechselnden Schauplätzen. Wiederum bleibt der thematische Kern der sich wiederholenden Handlungen gleich, doch verändert sich von Mal zu Mal die Handlungsweise der zentralen Figur. Mit Hilfe der Prinzipien repetition, similarity und development wird über diese Reihungen ein Bezug zum intrapersonellen Wandlungsgeschehen aufgebaut. Breaking Glass lässt sich im Bezug auf den Aspekt der Reihungen keiner der beiden Gruppen zuordnen. Dieser Film weist zwar ebenfalls eine zentrale Reihung erzählerischer Informationen auf, die in einem Bezug zur Darstellung der intrapersonellen Wandlung stehen. Diese Reihung wird jedoch weder durch eine sich wiederholende Handlungsart noch durch eine wiederkehrende Raumsituation hergestellt. Vielmehr konfiguriert sich diese Motif-Reihe über bestimmte Figurenkonstellationen und ein sich wiederholendes und veränderndes szenisches Geschehen, das diese Figuren miteinander verbindet (vgl. 7.7: 282). Diese Motif-Reihe ist in ihrer Struktur heterogener und auch nicht so stark ausgeprägt wie die Reihungen der anderen Beispielfilme. Im Folgenden werden die zentralen Reihungen in den ausgewählten Filmen beschrieben. In Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt und Taxi Driver zeigen sich die deutlichsten erzählerischen Motif-Reihen. In allen drei Filmen begegnen uns eine Reihe von Szenen, die einen konstant bleibenden Ort mit einer ihm zugeordneten szenischen Handlung kombinieren. Im Laufe der Wiederholungen wird eine stufenweise Veränderung der situativen Ereignisse und der Handlungsweise der zentralen Figur inszeniert. Dabei verändert sich der Schauplatz nicht oder nur sehr geringfügig. Durch einen kombinierten Einsatz mehrerer formaler Ordnungsprinzipien treten diese Reihungen besonders deutlich hervor. Die sich wiederholenden Interaktionen verändern sich schrittweise; so bildet sich der Bogen eines Entwicklungsprozesses. Vor 153
dem Hintergrund identischer Räume zeichnen sich veränderliche Phänomene deutlich ab und werden durch das Zusammenspiel konstanter und prozesshafter formaler Prinzipien nochmals betont. In Das Piano begegnet uns ein solcher Raum-HandlungsZusammenhang neun Mal: Ada geht zu Baines’ Hütte, tritt in Kontakt mit ihm und hält sich bei ihm auf. Der Ort des Geschehens bleibt dabei stets derselbe. Innerhalb aller erzählerischen Elemente der szenischen Ereignisse kommt es zu sukzessiven Veränderungen. Ada geht beim ersten und beim neunten Mal aus freiem Willen und mit einer klaren Absicht zu Baines. Hier ist similarity das verbindende Prinzip, doch besteht mit Blick auf das Objekt von Adas Motivation zwischen beiden Szenen ein starker Kontrast – disunity. Beim ersten Mal ist ihre Absicht noch ausschließlich darauf gerichtet, dass Baines sie zu ihrem Klavier am Strand bringe, beim letzten Mal motivieren Begehren und Liebe den Weg zu ihm. Von der zweiten bis zur achten Begegnung beherrscht eine Kombination konstanter und sich verändernder Handlungselemente die Szene, welche konfiguriert werden durch repetition, similarity und development. Adas Motivation, zu Baines zu gehen, ist sieben Mal identisch: Sie will dem mit ihm ausgehandelten Deal nachkommen und so ihr Instrument zurück erlangen. Für jeden Besuch bei Baines erhält Ada eine der schwarzen Tasten zurück. Auf diese Weise gelingt es ihr, das Piano Stück für Stück einzuhandeln. Dafür muss sie für Baines spielen und zulassen, dass er sie dabei beobachtet, ihr nahe kommt und sie berührt. Dieser Deal steht für das Prinzip der Entwicklung, des development. Die Vereinbarung gibt beiden einen festen Rahmen und Interaktionsradius vor. Die Visualisierung der Entwicklung und Wandlung gelingt durch sukzessive Veränderung der Aktionen beider Figuren, was durch den festgesetzten Handlungsrahmen besonders auffällig wird. Ada spielt auf dem Instrument – Baines will sich ihr annähern: In dieser fixen Konstruktion entwickelt sich das Geschehen. Ada handelt sich für Berührungen und das Entkleiden nun jeweils mehr als eine Taste ein – und das in aufsteigender Zahl: Zunächst zwei, dann fünf, dann zehn Tasten. Zwischen der sechsten und siebten Stunde sind die Veränderungen vieler Elemente der Handlung in Bezug auf den sich wiederholenden Rahmen am größten – aus großer Distanz zu intimer Nähe. Ada spielt immer weniger und schließlich gar nicht mehr auf dem Instrument. Die Tastenzahl für eine Stunde ist mittlerweile zehnmal höher als vereinbart, die Nähe zwischen den beiden die größtmögliche: Sie liegen nackt beieinander. Als Ada zum achten Mal zu Baines geht, kommen ihr auf halbem Weg Maoris entgegen, die das Piano tragen: Baines gibt es ihr zurück. Der Entwicklungsbogen innerhalb der acht Besuche bei Baines ist abgeschlossen. Der neunte Weg von Ada zu Baines führt beide als Liebende zusammen. Die zentrale Motif-Reihe, die als visuelle Metapher Dunbars inneren Entwicklungsprozess in Der mit dem Wolf tanzt illustriert, wird aus seinen Begegnungen mit einem Wolf konstruiert: Der konstante Ort ist Dunbars Posten, Fort Sedgewick, 154
und dessen nahe Umgebung. Die szenische Konstellation der Begegnung zwischen Mensch und Tier bildet den Rahmen und ereignet sich insgesamt dreizehn Mal. Die Handlungen beider Figuren und ihr Verlauf während dieser Begegnung verändern sich von Mal zu Mal nach dem Gestaltungsprinzip des development. Besonders bemerkenswert an dieser Motif-Reihe ist, dass das Geschehen während dieser Begegnungen keinen Einfluss auf den Verlauf der Gesamthandlung hat; die Szenen sind eindeutig als satellites in der Gesamtkonstruktion der Geschichte situiert. Doch erwächst eine wesentliche inhaltliche Information aus diesen Szenen, die als Symbol für Dunbars neue Identität verstanden werden kann: Die Indianer beobachten Dunbar dabei, wie er versucht, den sich ihm nähernden Wolf zu verjagen [02.10.18]. Daraus entwickelt sich eine spielerische Verfolgungsjagd – die Indianer geben ihm daraufhin seinen neuen Namen „Der-mit-dem-Wolf-tanzt“. Ähnlich wie in Das Piano teilen sich die dreizehn Wiederholungen in bestimmte Phasen; innerhalb dieser Szenen entwickelt sich langsam die Annäherung zwischen Mensch und Tier. Beim ersten und beim letzten Mal werden der Wolf und Dunbar nur für das Auge des Zuschauers durch Bildmontage zueinander in Beziehung gesetzt. Beide Figuren halten sich in relativer Nähe zueinander auf, begegnen und sehen sich jedoch nicht. Die dritte und zwölfte Begegnung ereignen sich in großer räumlicher Distanz beider Figuren. Dazwischen entwickelt sich der Entwicklungsbogen über mehrere Stufen. Die sechste, siebte und achte Begegnung bringen die größten Veränderungen. Es wird hier eine ähnliche Potenzierung der Entwicklungsdimension inszeniert wie in der oben beschriebenen zentralen Motif-Reihe von Das Piano. Bei der sechsten Begegnung zwischen Mensch und Tier bezeichnet eine aktive Handlung des Wolfs die nächste Entwicklungsstufe: Das Tier legt Dunbar seine Jagdbeute als Gabe vor die Hütte. Die siebente Begegnung, die bereits erwähnte Szene der Namensgebung, bringt beide zu gemeinsamem Spiel im wechselseitigen Kontakt zusammen. Die größte Nähe zwischen beiden Figuren entsteht im achten szenischen Moment der Reihung, wenn der Wolf Dunbar aus der Hand frisst. Die dreizehn Szenen setzen Zäsuren im Verlauf der gesamten Erzählung. In diesen Einschüben wird metaphorisch das Entwicklungsgeschehen in Dunbars Lebenssituation und in seinem inneren Veränderungsprozess zusammengefasst. Die beiden deutlichsten Beispiele: Nach dem direkten Kontakt mit dem Wolf verlässt Dunbar seinen Posten und geht zu den Indianern, um mit ihnen zu leben [02.30.31]. Damit ist der größte Schritt seiner Veränderung vollzogen. In der dramatischsten Bedrohung von Dunbars neuer Identität und Lebensweise, seiner Gefangennahme durch die U. S. Army, erschießen die Soldaten den Wolf zu ihrem Vergnügen [03.18.30]. Eine vergleichbare Wiederholungs- und Veränderungskonfiguration findet sich auch im erzählerischen Material von Taxi Driver. Beim Aufbau einer zentralen erzählerischen Motif-Reihe sind die Prinzipien repetition und development eingesetzt. Im Unterschied zu den beiden bereits beschrieben Motif-Reihen in Das Piano und Der 155
mit dem Wolf tanzt kommt hier jedoch zusätzlich das Prinzip variation zum Einsatz, wodurch der Entwicklungsbogen in Taxi Driver einen anderen Verlauf nimmt. Die Szenen sind in Taxi Driver wiederum als satellites inszeniert und haben keinen Einfluss auf den Fortgang der Geschichte. Vierzehn Mal kommt es zur Inszenierung desselben Ortes – Travis’ Ein-Raum-Appartment und seinem Handeln darin. Diese Grundkonstellation bleibt im Verlauf aller Wiederholungen konstant. Travis verbringt, wenn er nicht als Taxifahrer arbeitet oder im Pornokino sitzt, seine freie Zeit allein zu Hause. Was er dabei tut, variiert von Mal zu Mal und verändert sich im späteren Verlauf sehr – Travis’ Handlungen sind vom ersten bis zum sechsten und dann wieder beim zehnten und elften Mal gekennzeichnet von den Prinzipien repetition und variation. Seine verschiedenen Tätigkeiten umfassen zunächst ganz unspektakuläre Alltagshandlungen, die ihn in einer gewissen Passivität zeigen und ohne Anzeichen einer inneren Entwicklung. Zwischen diesen Momenten entwickelt sich keine tiefere, sinnhafte Bedeutung in Bezug auf andere Handlungssequenzen der Geschichte. Travis schreibt in seinem Tagebuch, er liegt auf dem Bett und blickt zur Decke oder er sitzt essend vor dem Fernseher. Erst in der siebten bis neunten Wiederholung verändert sich Travis’ Verhalten wesentlich, kommt es zu einem Entwicklungssprung, der sich in der Folge noch intensiviert. Das Prinzip development ordnet diese Zusammenhänge. Travis agiert dabei sehr aktiv: Er beginnt seinen Körper zu trainieren, fertigt verschiedene Waffenhalterungen an, richtet sich ein Kampfoutfit zurecht, probiert es an und übt vor dem Spiegel die Handhabung seiner Waffen. In der neunten Szene dieser Motif-Reihe probt Travis Szenen aggressiver, bewaffneter Begegnungen vor dem Spiegel. Innerhalb der vierzehn Szenen fallen noch zwei vom Prinzip development gekennzeichnete Motif-Reihen auf: In Szene fünf, zehn und elf sieht Travis fern. Dabei verändert sich sein Verhalten dramatisch: In der ersten Szene isst er etwas, in der zweiten hält er eine große Waffe in der Hand, die er sich zunächst an den Kopf lehnt. Später zielt er mit ihr auf das TV-Gerät. In der dritten Szene stößt Travis den Fernseher um, so dass er zu Bruch geht. Danach stützt er mit einer verzweifelten Geste seinen Kopf in beide Hände, während er weiterhin die Waffe hält. Die zweite eingeflochtene Motif-Reihe bezieht sich auf drei Situationen, die Travis und sein Bett zeigen. In der zweiten der vierzehn Szenen liegt Travis auf diesem Bett. Er erinnert sich an den Moment, in dem er Betsy das erste Mal gesehen hat. In der Folge beginnt Travis’ Annäherung an Betsy. Die siebente bis neunte Szene zeigen Travis beim Körpertraining und seinen Übungen mit den Waffen. Die Szenen vor dem Spiegel steigern sich bis zum Phantasieren und Proben eskalierender Gewaltszenen. Am Ende dieser Sequenzen liegt Travis in Kampfmontur wieder auf dem Bett, zusammengekauert wie ein Kind. Im direkten Anschluss an diese Szene erschießt Travis den farbigen Ladenräuber. In der dritten Szene, die mit diesen beiden korrespondiert, steht Travis mit nacktem Oberkörper in seinem Zimmer 156
und schluckt Tabletten. Die Matratze ist zusammengerollt. Im Anschluss an diesen dreizehnten szenischen Baustein der Motif-Reihe folgt Travis’ „geplanter Amoklauf“ zur Befreiung von Iris. Alle drei Momente, die mit Bezug zu seinem Bett inszeniert sind, bilden kurze Zäsuren, auf die jeweils entscheidende Schritte auf Travis’ Weg der intrapersonellen Wandlung folgen. Vergleichbar mit der Verflechtung einer solchen Motif-Reihung in Der mit dem Wolf tanzt, bilden diese Szenenfolgen in Taxi Driver eine Metapher für die charakterliche Entwicklung der Hauptfigur. So wie sich Dunbar stetig auf seine Reifung hin entwickelt, ist auch seine Annäherung an den Wolf von gleichmäßigen Schritten gekennzeichnet. Travis’ Wandlung verläuft ebenfalls in Phasen: Stagnation, eine Phase der Latenz, schließlich sprunghafte Entwicklungen. Dieser Verlauf von Travis’ Wandlungsprozess spiegelt sich in der Inszenierung der vierzehn Elemente dieser Motif-Reihe von Schauplatzwiederholung und Handlungsveränderung wider. Auch in den folgenden vier Filmen – Dead Man, Betty Blue, Kleine Fluchten und Rocco und seine Brüder – lassen sich zentrale Motif-Reihen feststellen. Dabei kommt es in diesen Erzählungen zu Wiederholungen bestimmter Handlungssituationen, die durch das Agieren der zentralen Figur aktiv gestaltet werden. Die Schauplätze der Handlungen sind jedoch verschieden. Die Handlungen der Figuren bleiben sich im Verlauf der Wiederholungen gleich oder sehr ähnlich. Die Art und Weise ihrer Ausführung jedoch ändert sich währenddessen sukzessive und grundlegend. In Dead Man verübt die Hauptfigur Blake sieben Morde und einen Mordversuch mit Revolver oder Gewehr. Diese Ereignisse bilden eine zentrale narrative MotifReihe. Der situative Rahmen, die handlungsbezogene Konfiguration der Figuren, bleibt dabei stets gleich: Blake muss sich gegen einen mit Waffengewalt verübten Angriff auf sein Leben wehren und erschießt dabei seinen jeweiligen Kontrahenten. Repetition ist das Ordnungs- und Verknüpfungsprinzip dieser Reihung. Nach dem Prinzip development werden in stufenweiser Veränderung Blakes Handlungsweisen bei seinen Mordtaten inszeniert. Darum gruppieren sich weitere kleine szenische Verhaltensweisen der Hauptfigur, die sich alle auf sein Verhältnis zu Schusswaffen beziehen. In dem Abschnitt, bevor Blake seinen ersten Mord begeht, wird eine MotifReihe von kleinen Sequenzen konstruiert, die Blakes Reaktionen beim Anblick von Schusswaffen und das Abfeuern von Schüssen in seiner Nähe zeigen: Er fürchtet sich vor Schusswaffen, zuckt bei Schüssen, auch wenn sie nicht auf ihn gerichtet sind, heftig zusammen und versucht, sich zu verstecken oder wenn möglich zu flüchten. In den Szenen der zentralen Motif-Reihe, den sieben Mordtaten Blakes, ist in der Inszenierung seiner Körperhaltung, in seinen Bewegungen beim Schießen und der Handhabung der Waffen eine deutliche, sukzessive Veränderung aufgebaut. Beim ersten Mord liegt er im Bett, hält zitternd den Revolver, zuckt bei jedem Schuss zusammen und schließt dabei die Augen. Durch seine Ängstlichkeit und ohne sei157
ne Brille zielt er schlecht. Er schießt mehrmals und eher zufällig trifft einer der Schüsse den Angreifer tödlich. Eine Szene im weiteren Handlungsverlauf zeigt den unverändert unsicheren Umgang Blakes mit Schusswaffen: Er sitzt mit Nobody am nächtlichen Feuer [00.33.38] und betrachtet die Waffe, mit der er den ehemaligen Liebhaber von Thel erschossen hat. Völlig unbedarft hantiert er damit, als ob es ein hübsches Schmuckstück sei, dessen Einzelteile er neugierig betrachte. Bei seiner nächsten Mordtat hockt Blake auf dem Boden und Nobody wirft ihm ein Gewehr zu, das er ungeschickt auffängt und befremdet betrachtet. Als er sieht, dass Nobody durch einen Angreifer, den dieser nicht bemerkt, bedroht wird, erschießt Blake den Angreifer, wirft sich dann zu Boden und versucht sich zu verstecken. Sein Verhalten und sein Gebrauch der Waffe in dieser Szene sind ebenso von Ängstlichkeit und Ungeschicktheit geprägt wie bei seiner ersten Mordtat. Jedoch ist sein Erschrecken bereits weniger heftig und seine Unsicherheit beim Führen der Waffe etwas geringer geworden. In der dritten Mordszene zeigt Blake ein stark verändertes Verhalten: Er erschrickt diesmal nicht, vielmehr nimmt er sich noch Zeit, zwei ironische Sätze zu formulieren, bevor er gezielt auf die beiden Angreifer feuert. Seine Schüsse treffen, beide fallen zu Boden – der eine tödlich getroffen, der andere liegt noch im Sterben. Blake schießt nochmals aus nächster Nähe auf ihn. In der vierten Szene in dieser Motif-Reihe wird Blake von einem undefinierbaren Ungeheuer bedroht, das im nächtlichen Wald auf ihn zu läuft. Blake zückt seinen Revolver. Als er abdrückt, löst sich jedoch kein Schuss – das Magazin seines Revolvers ist leer. Das vermeintliche Ungeheuer entpuppt sich als sein Freund Nobody. Vor der fünften Mordtat schenkt Blake Nobody ein Gewehr. Blake hat Waffen zu schätzen gelernt und erkennt nun ihren Wert und ihre Funktion und beherrscht ihre Handhabung. Den fünften Mord verübt Blake in souveräner Haltung und mit zynischen Worten auf den Lippen. Dabei vollführt er eine geradezu dramatische Inszenierung dieser Tat: Für sein Handeln nimmt er sich Raum und Zeit. Er ist gelassen, handelt präzise und ohne Hast, obwohl er sich erneut in einer lebensbedrohlichen Situation befindet. Seine beiden letzten Morde verübt Blake wie nebenbei und in sicherer Routine. Seine Schüsse treffen über weite Distanz und sogar, wenn er sie ohne seine Brille und schräg über seine Schulter nach hinten abgibt. Blakes intrapersoneller Wandlungsprozess verdeutlicht sich in der sukzessiven Veränderung seiner Handlungsweisen innerhalb dieser MotifReihe – er entwickelt sich vom ahnungslosen, naiven und ängstlichen Jungen zum wissenden, souveränen und wehrhaften Mann. Die Inszenierung von Bettys aggressiven Ausbrüchen und Handlungen als zentrale erzählerische Motif-Reihe in Betty Blue steht in direkter Korrespondenz zum intrapersonellen Wandlungsprozess der Hauptfigur. Insgesamt sind elf solcher aggressiven Akte im plot inszeniert. Der letzte in dieser Reihe, Bettys Selbstverstümmelung, wird jedoch nicht szenisch gezeigt, sondern nur indirekt über 158
den plot in der story impliziert. Die Handlungsart ist in allen elf Situationen dieselbe und durch das Prinzip repetition in einer zentralen Motif-Reihe geordnet: Betty verhält sich aggressiv und agiert ihre Aggressionen körperlich aus. Ihre Handlungsweise verändert sich dabei von einer Szene zur nächsten. Durch das Prinzip development sind die Bausteine dieser Motif-Reihe miteinander verbunden. Betty wird immer aggressiver und gewalttätiger, ihre Ausbrüche haben immer gravierendere Folgen. Die Veränderungssequenz entwickelt sich über mehrere Stufen der Eskalation: Zunächst richten sich Bettys Aggressionen nur gegen Gegenstände, dann gegen Menschen, die sie angreift und verletzt, schließlich gegen sich selbst – sie verletzt und verstümmelt sich auf grausame Weise. In Kleine Fluchten ist die zentrale erzählerische Motif-Reihe, die in direkter Korrespondenz zum intrapersonellen Wandlungsprozess der Hauptfigur steht, aus Handlungselementen aufgebaut, die sich alle um das Thema Bewegung drehen: Die Orte wechseln ständig, die sich wiederholende Handlungsart ist das In-Bewegung-Kommen und In-Bewegung-Sein. Diese Handlungen werden durch das Prinzip repetition zu einer zentralen Reihe verbunden. Die Prozesshaftigkeit dieser Entwicklung wird innerhalb der Motif-Reihe durch die Prinzipien variation und development hergestellt: Pipe kommt auf verschiedene Weisen in Bewegung – er schiebt sein Moped auf der Straße, er lernt das Fahren und beginnt in seiner Phantasie mit dem Moped zu fliegen. Pipe fährt in das Dorf und auf Berge hinauf. Er besucht ein Motocrossrennen. So wird eine stete Steigerung der Bewegungsweisen Pipes inszeniert. Erst kommt er langsam in Bewegung, dann legt er immer schneller immer größere Strecken zurück. Das Motocrossrennen demonstriert eine extrem schnelle Bewegung mit dem Zweirad. Pipe fährt nicht selbst, ist aber in das Geschehen involviert, daher gilt dieser szenische Zusammenhang ebenfalls als ein Glied der Motif-Reihe. Anschließend kommt es zu einer starken Zäsur: Pipe verliert seine Bewegungsmöglichkeit, da er nach seinem Unfall nicht mehr mit dem Moped fahren darf. An dieser Stelle wird in die erzählerische Motif-Reihe mit Hilfe des Prinzips difference bzw. disunity ein starker Kontrast integriert: Pipes Bewegungen kommen abrupt zum Stillstand; nun nimmt er wieder die einfachste und kleinste Form der Fortbewegung auf – er bewegt sich zu Fuß mit seiner Polaroidkamera im engsten Radius, zunächst nur in seinem Zimmer und dann in seiner nächsten Umgebung. Zu Fuß bricht er auch zu seinem nächsten Ausflug auf – sein Weg führt ihn zur größten, schnellsten und weitesten seiner Bewegungen: Pipe fliegt mit einem Helikopter zum Gipfel des Matterhorns. Er sitzt ganz ruhig in der Kabine, die größte Bewegung findet außerhalb statt. In Pipe vollzieht sich dabei eine tiefe Erkenntnis, die seinen Reifungsprozess abschließt. Das letzte Bild des Films zeigt ihn, wie er unbewegt auf dem Misthaufen steht. Hier findet die Motif-Reihe der Bewegung ihr Ende, nicht jedoch Stillstand andeutend, sondern das Ende eines Reifungsprozesses. 159
In Rocco und seine Brüder fällt eine Reihung bestimmter erzählerischer Elemente durch die Kombination mehrerer Ordnungsprinzipien auf. Die Kategorien der Handlungen, die als eine zentrale Reihung in Bezug zum Wandlungsprozess der Hauptfigur inszeniert werden, bleiben gleich und sind nach dem Prinzip repetition organisiert. Es handelt sich dabei um kriminelle und gewalttätige Handlungen der Hauptfigur. Ihre Untaten werden immer gravierender und sind nach dem Prinzip development inszeniert: Zunächst verschuldet sich Simone mit recht kleinen Beträgen bei Rocco und anderen. Am Anfang begeht er einen kleinen Diebstahl, er klaut ein Hemd in der Reinigung. Später stiehlt er die Brosche der Geschäftsfrau und macht immer größere Schulden: Er leiht sich zunächst 5 000 Lire von Rocco, dann macht er 60 000 Lire Schulden im Hotel. Er verstrickt sich mehr und mehr in Betrugs- und Schmuggeldelikte. Schließlich wird Simone gegenüber Nadja und Rocco gewalttätig, er begeht einen Raubüberfall und stiehlt dabei 400 000 Lire von seinem Boxmanager. Von Ciro erpresst er ebenfalls eine große Summe. Am Ende steht der Mord an Nadja. Mit Hilfe des Prinzips parallelism ist durch Verknüpfung mit dieser Motif-Reihe eine weitere Ereigniskette in Beziehung gesetzt: Roccos Entwicklung und die Veränderungen seiner Situation sind in einer direkten Ursache-Wirkungs-Verknüpfung mit Simones kriminellen Handlungen konstelliert – je gravierender die Taten Simones werden und je mehr er in den sozialen Abgrund gerät, desto mehr verstrickt sich Rocco in Verantwortungen und Verpflichtungen, so dass es ihm unmöglich wird, frei über sein Handeln zu entscheiden. Zudem ist das Prinzip parallelism zwischen diesen beiden Handlungssträngen mit den Prinzipien difference und development verknüpft: Simone sinkt immer mehr ins soziale Abseits, während Rocco in seinem erzwungenen Dasein als Boxer aufsteigt. Dieser Kontrast nimmt im weiteren Verlauf stetig zu. Letztlich jedoch scheitern beide Figuren gleichermaßen: Simone zerstört seine Chancen auf verantwortungslose Weise, und um ihn zu retten, gibt Rocco aus Verantwortungs- und Pflichtgefühl seine eigenen Wünsche und Ziele auf. Breaking Glass lässt sich mit Blick auf die Ausformung bestimmter erzählerischer Bausteine zu einer zentralen wandlungsbezogenen Motif-Reihe keiner der beiden beschriebenen Gruppen zuordnen. In der erzählerischen Konstruktion dieses Films zeichnet sich weder eine Reihung gleichbleibender Handlungsarten und ihrer sich verändernden Ausführungsweisen ab, noch verbindet sich eine solche Handlungsfolge mit ein und demselben oder wechselnden Orten. Die Analyse zeigt jedoch eine Motif-Reihe, die aus anderen erzählerischen Bausteinen aufgebaut ist und dabei ein visuell-metaphorisches Äquivalent zum intrapersonellen Wandlungsprozess der Hauptfigur Kate bildet. Diese stufenweise Repräsentation von Kates Veränderungsprozess ist erzählerisch-visuell konstruiert in den Figurenkonstellationen zwischen Kate und den übrigen Bandmitgliedern. In einer Motif-Reihe verbinden sich dabei die Szenen, welche Kate und ihre Musiker in gemeinsamen Situationen 160
zeigen. Dies ist die Konstante innerhalb der Motif-Reihe nach dem Prinzip repetition. Die Konstellation der Figuren zueinander zeigt eine sukzessive Veränderung: Durch die Ordnungsprinzipien variation und development wird die Verknüpfung zur Motif-Reihe hergestellt. Am Beginn der Geschichte finden sich die Mitglieder der Gruppe nach und nach zusammen. Anschließend werden sukzessive Zusammenhalt und Zusammenwirken der Gemeinschaft in szenischen Interaktionen gezeigt. Mit steigendem Einfluss der Musikindustrie kommt es zur allmählichen Auflösung der Gemeinschaft, fast spiegelbildlich zu ihrem Entstehen. Vereinzelung und Trennung prägen diese Phase, verdeutlicht durch die Inszenierung der Figurenkonstellationen an verschiedenen Schauplätzen (vgl. 7.7).
5.9 Strukturen der Narration: Reihungen, Doppelungen und Trilogien In den erzählerischen Konstruktionen aller Beispielfilme sind über die in 5.8 beschriebenen zentralen Motif-Reihen hinaus inhaltlich-szenische Bausteine nach Organisationsstrukturen konfiguriert, die den formalen Gestaltungsmustern der fünf Prinzipien entsprechen. Konfigurationen inhaltlicher Elemente in mehrteiligen Reihungen, Doppelungen und Trilogien weisen eine deutliche Häufung auf. Innerhalb dieser Konfigurationen sind zumeist die Prinzipien repetition, similarity, development, difference und disunity etabliert. Bei eingehender Analyse und Beschreibung der Konfigurationen erzählerischen Materials in Reihungen, Trilogien und Doppelungen wird erkennbar, dass sich in allen Filmen das Kerngerüst der intrapersonellen Wandlung in jeweils spezifisch ausgeformten Organisationsstrukturen des erzählerischen Materials mittels verschiedener der fünf formalen Prinzipien ausprägt. In der folgenden Darstellung der Analyseergebnisse werden für jeden Beispielfilm diejenigen Reihungen, Doppelungen und Trilogien inhaltlicher Elemente beschrieben, für die ein direkter Bezug zur Schilderung der charakterlichen Veränderung und Entwicklung auszumachen ist. Die Ergebnisdarstellung aus diesem Analyseschritt erlauben keine Sortierung der Beispielfilme in klar voneinander abgegrenzten Gruppen. Vielmehr lässt sich für jeden Film ein spezifisches Gestaltungsprofil in Bezug auf Einsatzweise, Deutlichkeit und Häufung dieser Gestaltungsmuster feststellen. In Der mit dem Wolf tanzt sind die Ordnungsformen der Trilogien und der Doppelung besonders dominant bei der Etablierung der Visualisierungsstrukturen von Entwicklung und Wandlung. In Kleine Fluchten wird die Darstellung des Entwicklungsprozesses verstärkt durch triadische Bezugssysteme zwischen szenischen Aspekten etabliert. In Dead Man sind es sowohl mehrfache Wiederholungen und darin kon161
struierte Veränderungsprozesse als auch Doppelungen szenischer Elemente, welche die Hauptstrukturen der visuellen Darstellung des Wandlungsprozesses konstituieren. Ähnlich sind die Strukturen in Breaking Glass gestaltet, jedoch nicht annähernd so durchgängig und so häufig im Einsatz. In Das Piano werden zusätzlich zu der bereits beschriebenen zentralen Motif-Reihe Konfigurationen kleiner szenischer Teilaspekte durch Doppelungen als wiederkehrendes Konstruktionsprinzip zur Darstellung der charakterlichen Entwicklung eingesetzt. Innerhalb der paarweisen Bezüge sind die Konstruktionsschemata similarity und difference etabliert. Die Konfiguration dieser Doppelungen sind weit weniger auffällig als in den anderen untersuchten Filmen. In Das Piano wird durch die Doppelungen ein sehr sublimes und weit verzweigtes Bedeutungsnetz innerhalb der visuellen Gestaltungsstrukturen der Erzählung etabliert. In Betty Blue ist die Konfiguration von Reihungen besonders auffällig und dominant für die Schilderung des charakterlichen Veränderungsprozesses; die Sequenzen sind nach dem Prinzip similarity miteinander verknüpft. Trilogien als Ordnungsformen erzählerischen Materials lassen sich ebenfalls finden. Hier ergibt sich aber nur in wenigen Fällen ein deutlicher inhaltlicher Bezug zur Visualisierung der intrapersonellen Wandlung. In Rocco und seine Brüder visualisiert sich über triadische Konstruktionen zwischen szenischen Situationen ein zentraler Aspekt von Simones Veränderungsprozess. Daneben werden einige wenige Doppelungen in der narrativen Organisation wesentlicher Momente der intrapersonellen Wandlung eingesetzt. In Taxi Driver besitzen Doppelungen oder dreifache Wiederholungen keine besondere Relevanz für die Visualisierung der charakterlichen Veränderung. Dagegen lassen sich in der erzählerischen Konfiguration sehr vielteilige, zueinander durch ein szenisches Ereignisthema in Bezug stehende Motif-Reihen feststellen, die sich über den gesamten Verlauf der Erzählung erstrecken. Innerhalb dieser Reihen werden Äquivalenzen zur intrapersonellen Veränderung der Hauptfigur aufgebaut. Im Folgenden werden exemplarisch aus den Beispielfilmen ausgewählte konstruierte Reihungen, Trilogien und Doppelungen von erzählerischen Elementen beschrieben. Dabei werden deren jeweiliger inhaltlicher Stellenwert und ihre bedeutungsschaffende Funktion in Bezug auf die visuelle Präsentation der intrapersonellen Wandlung deutlich. In Der mit dem Wolf tanzt zeigen sich Organisationsstrukturen erzählerischen Materials in Form von Trilogien und Doppelungen szenischer Ereignissen in sehr ausgeprägter Weise. Die Teilelemente szenischer Zusammenhänge, die zu Trilogien zusammengefügt sind, verbinden die Prinzipien development und difference; das zweite Element einer Trilogie ist bereits gekennzeichnet von einer anteiligen Verschiedenheit im Vergleich zum ersten Element, im Vergleich zwischen erstem und drittem Element tritt eine deutliche Unterschiedlichkeit und Veränderung hervor: Zu Beginn erleidet Dunbar drei Ohnmachtsanfälle. Zwei Mal verliert der am Bein Verletzte durch die Schmerzen, 162
die das Anziehen des Stiefels verursacht, die Besinnung [00.02.19]. Nachdem er zweimal die Frontlinie entlang geritten ist und so die entscheidende Schlacht ausgelöst hat, findet ihn der General besinnungslos neben seinem Pferd im Gras liegen [00.09.40]. Nach diesen ersten drei Ohnmächten beginnt Dunbars eigentlicher Weg. Im ending werden wiederum drei Ohnmachtsanfälle von Der-mit-dem-Wolf-tanzt inszeniert – er wird jeweils von den Soldaten, die ihn gefangen genommen haben und bewachen, besinnungslos geschlagen: zum ersten Mal als er überwältigt und gefangen genommen wird [03.06.42], noch einmal, wenn er seinem toten Pferd nachtrauert [03.11.22], ein drittes Mal, als er zu verhindern sucht, dass der Wolf zum Vergnügen der johlenden Soldaten niedergeschossen wird [03.18.31]. Im Anschluss an diese Szene wird Der-mitdem-Wolf-tanzt von den Indianern befreit. Der zentrale Moment in Dunbars Veränderungsprozess, in dem er sich zu seiner indianischen Identität bekennt, folgt auf die zweite Ohnmacht während seiner Gefangenschaft [03.12.58]. Die Annäherung Dunbars an die Lebensgemeinschaft der Indianer wird in Form einer langen Reihung von Szenen geschildert, die sich über einen großen Teil des Filmverlaufs erstreckt. Diese Reihung wird über die erzählerischen Themen von Begegnung, Annäherung und Freundschaft definiert. In diesen Sequenzen vollzieht sich der stufenweise Wechsel der Zugehörigkeit Dunbars weg von der U. S. Army hin zur Lebensgemeinschaft der Indianer. Diese prozesshafte Entwicklung ist in einer Reihe von Szenen aufgebaut, welche Begegnungen zwischen Dunbar und einzelnen oder mehreren Indianern zeigen. Insgesamt werden neun Szenen zwischen den Indianern und Dunbar gezeigt, bis es zur vollständigen Integration von Dunbar als Der-mit-dem-Wolf-tanzt in die indianische Lebensgemeinschaft kommt. Innerhalb dieser neun szenischen Begegnungen werden verschiedene erzählerische Teilelemente in Konfigurationen zu je drei Elementen verbunden, die alle nach dem Prinzip development organisiert sind: Drei Mal versuchen die Indianer, Dunbars Pferd Zisko zu stehlen, drei Mal misslingt es ihnen [00.51.45, 01.01.00, 01.04.05]. Drei Mal besuchen die Indianer Dunbar in seinem Fort, bevor sie ihn zu sich in ihr Dorf einladen [01.16.52, 01.19.10, 01.29.00]. Dunbar selbst begibt sich drei Mal zum Indianerdorf [01.11.51, 01.30.42, 01.38.17]. Drei Taten vollbringt Dunbar, die zu seiner vollständigen Integration in die Gemeinschaft der Indianer führen: Er rettet Stehtmit-einer-Faust bei ihrem Selbstmordversuch [01.10.15], er rettet Lächelt-viel vor dem rasenden Büffel [01.56.10] und er verteidigt zusammen mit Alten, Knaben und Frauen die Dorfgemeinschaft erfolgreich gegen den Angriff des feindlichen Stammes [02.38.47]. Bei allen drei Taten ist Dunbar der Lebensretter. Dies steht in einem großen Kontrast zu seinem selbstmörderischen Handeln im opening. Eine weitere Trilogie wird mit den Szenen aufgebaut, die Dunbar wieder allein zurück im Fort zeigen, nachdem er bereits Freundschaft mit den Indianern geschlossen hat: Nach seinem ersten Besuch im Dorf der Indianer sitzt Dunbar nachts am Feuer [01.36.26]. 163
Im Off-Text seines inneren Monologes spricht er davon, dass er sich auf seinen nächsten Besuch bei den Indianern freue. Der Posten sei sein Zuhause und er warte auf die Ablösung. Nachdem Dunbar nach der gemeinsamen Büffeljagd allein zu seinem Posten zurückgekehrt ist, vernachlässigt er seine Aufgaben und sehnt sich nach der Gemeinschaft der Indianer. Nachts tanzt er allein um das Feuer [02.09.20]. Hier formuliert sich einer der zentralen Wandlungsmomente – am nächsten Tag verlässt Dunbar seinen Posten und schließt sich der indianischen Lebensgemeinschaft an. Als er später ein drittes Mal zu seinem verlassenen Posten zurückkehrt, schreibt er in sein Tagebuch eine Liebeserklärung an Steht-mit-einer-Faust [02.28.10]. Während jeder dieser drei Rückkehrsituationen in die Einsamkeit seines Postens ereignen sich Momente der Besinnung und Entscheidung Dunbars. Als er zum letzten Mal an diesen Ort zurückkehrt, hat sich die Situation gänzlich geändert: Der Posten ist von einer ganzen Kompanie der U. S. Army besetzt. Dunbar wird gefangen genommen und es kommt zur Krise und Bedrohung seines neuen Lebenswegs und seiner veränderten Identität. Die Doppelung erzählerischer Elemente ist die zweite Organisationsstruktur, die uns in dieser Erzählung häufig begegnet. Dabei werden jeweils zwei inhaltliche Elemente aus unterschiedlichen Stellen des Filmverlaufs durch szenische Ähnlichkeit zueinander konstelliert. Bestimmte Teilaspekte der durch similarity miteinander gepaarten szenischen Momente sind nach den Prinzipien difference und disunity gestaltet. Innerhalb dieses Systems von Ähnlichkeit und Verschiedenheit bzw. in dem daraus entstehenden Kontrast zeigen sich in bestimmten Doppelungen visuelle Äquivalenzen in direkter Beziehung zu einzelnen Aspekten des intrapersonellen Entwicklungsprozesses der Hauptfigur. Dunbar reist in Begleitung eines Fallenstellers mit der Kutsche von Fort Haze zu seinem Posten nach Fort Sedgewick. Als dieser ihn von dem verlassen aufgefundenen Posten wieder zurück nach Fort Haze bringen will, setzt sich Dunbar durch und bleibt allein auf seinem neuen Posten [00.29.47]. Wiederum eine Kutsche bringt Dunbar als gefangenen Deserteur der U. S. Army auf den Weg zurück nach Fort Haze [03.17.06]. Er wird während dieser Kutschfahrt von den Indianern befreit und kann seinen Weg in die Gemeinschaft der Indianer fortsetzen. Kurz bevor Dunbar am Beginn der Geschichte Fort Sedgewick erreicht, steht er in einer Mulde und streicht mit seinen Händen über das Steppengras [00.28.06]. Er hört einen Vogel auffliegen und erschrickt. Als Strampelnder-Vogel nach Ankunft Dunbars das Lager von einem Hügel aus beobachtet, führt er eine ähnliche Geste mit seinen Händen aus. Strampelnder-Vogel wird mit dieser Geste in den plot eingeführt: Man sieht zunächst nur seine Hände, die über das Steppengras streichen [00.50.21]. Erst in der darauf folgenden Einstellung ist der Indianer ganz zu sehen. Durch die Bewegung der Hände in beiden Szenen wird eine starke visuelle Parallele zwischen Dunbar 164
und Strampelnder-Vogel aufgebaut. Während der ersten Nacht, die Dunbar in Fort Sedgewick verbringt, erschrickt er bei Geräuschen und fürchtet sich bei jedem Rascheln [00.35.00]. Später sitzt er nachts allein am Feuer. Der Off-Text seines inneren Monologs erzählt davon, dass er die nächtlichen Geräusche liebt und sie ihn in seiner Einsamkeit trösten [02.08.46]. Dunbar gewinnt im Laufe der Geschichte zwei Tiere zu treuen Gefährten, sein Pferd Zisko und den Wolf, den er „Socke“ nennt. Beide Tiere werden von den Soldaten der U. S. Army getötet. Nach der ersten Begegnung Dunbars mit einem Indianer vergräbt er seine Waffen in einem Versteck, damit sie nicht den Indianern in die Hände fallen [00.52.51]. Viel später gräbt er sie wieder aus, um sich und die indianische Gemeinschaft damit zur Verteidigung gegen einen feindlichen Stamm auszurüsten [02.35.55]. Zwei sehr deutliche Beispiele für Doppelungen und darin inszenierten Entwicklungen, die auf die grundlegende Veränderung Dunbars und seiner Lebenssituation hinweisen, begegnen uns in seinen jeweils ersten und letzten Begegnungen mit zwei anderen zentralen Figuren der Erzählung. Diese Szenen sind durch jeweils deutliche Bezüge in der Figurenchoreografie und Inszenierung miteinander gepaart. Bei seiner ersten Begegnung mit Wind-in-seinem-Haar sitzt dieser auf seinem Pferd und schreit dem vor ihm stehenden Dunbar zwei Mal seinen Namen und dass er keine Angst vor ihm habe ins Gesicht [01.04.45]. Bei ihrer letzten Begegnung sitzt Wind-in-seinem-Haar auf seinem Pferd auf einem Felsvorsprung. Der-mitdem-Wolf-tanzt steht unter dem Felsvorsprung auf dem Weg und ist gerade dabei, die Gemeinschaft der Indianer zu verlassen. Wind-in-seinem-Haar schreit zwei Mal seinen, dann den Namen von Der-mit-dem-Wolf-tanzt, dass er sein Freund sei und dies auch für immer bleiben werde [03.35.18]. Die erste und die letzte Begegnung zwischen Dunbar und Strampelnder-Vogel bilden eine vergleichbare Paarung zweier Ereignisse: Bei der ersten Konfrontation rennt Dunbar nackt auf Strampelnder-Vogel zu, als dieser sein Pferd stehlen will [00.51.18]. Der Indianer flieht. In der letzten Begegnung geht Der-mit-dem-Wolftanzt auf Strampelnder-Vogel zu, um sich von ihm zu verabschieden. Der-mit-demWolf-tanzt ist nach indianischer Art in ein dickes Büffelfell gehüllt, nur Kopf und Hände sind unbedeckt. Beide Freunde tauschen Geschenke aus [03.32.30]. Nun ist es Der-mit-dem-Wolf-tanzt, der weg geht. In beiden Konstellationen findet in der Inszenierung des Geschehens ein wesentlicher Bedeutungswandel des szenischen Zusammenhangs statt: Zwischen Dunbar und Wind-in-seinem-Haar wechselt die Bedeutung von Angriff und Drohgebärde zum Ausdruck tiefer Zuneigung und dem Wunsch, dass die Freundschaft dauern möge. Zwischen Dunbar und StrampelnderVogel wandelt sich das Geschehen vom Verjagen eines Diebs zu gegenseitiger tiefer Wertschätzung und der gegenseitigen Gabe von Geschenken zwischen voneinander scheidenden Freunden. 165
In Kleine Fluchten sind die auffälligsten Verknüpfungsprinzipien mehrteilige Reihungen und Trilogien inhaltlicher Elemente. Die zentrale thematische Reihe dieses Films wurde bereits in 5.8 beschreiben. An dieser Stelle sei eine szenische Variation des Themas Bewegung aufgeführt, durch die ein weiterer Aspekt in Pipes innerer Entwicklung illustriert wird. Nicht Pipe selbst gerät dabei in Bewegung, sondern durch seine Gewitztheit ganz mühelos etwas sehr Schweres: Prall gefüllte Getreidesäcke. Pipe und Luigi haben ein Transport- und Bewegungsstreckensystem gebaut [00.57.54]. Durch die Nutzung des Eigengewichts und den Gesetzen der Schwerkraft folgend geraten Säcke auf Führungsschienen in Bewegung und gleiten wie von selbst an den vorgegebenen Ort. Noch eine weitere sehr auffällige Reihung ein und desselben Schauplatzes und – damit verbundenen – verschiedenen Ereignissen wird in Kleine Fluchten inszeniert: Insgesamt elf Mal sind dem Handlungsverlauf Szenen eingeflochten, die Pipe bei verschiedenen Tätigkeiten auf und neben dem Misthaufen zeigen. Diese Reihung bekommt einen wichtigen Stellenwert in der Schilderung von Pipes Entwicklungsprozess, da erste und letzte Szene zugleich erstes und letztes Bild des Films sind. Durch similarity und disunity wird die Beziehung dieser visuellen Elemente zum intrapersonellen Wandlungsprozess der Hauptfigur deutlich. Die serienweise Produktion von Polaroids bildet eine weitere Reihung visueller Elemente, die in einem Bezug zum Prozess der intrapersonellen Wandlung stehen: Bei seinen Blicken durch die Linse beschäftigt sich Pipe nach und nach mit verschiedenen Themen. Zunächst beobachtet er sich selbst in seinem Zimmer und stellt mit dem Selbstauslöser eine Serie von Selbstportraits her [01.46.56]. Danach rückt seine Arbeit ins Zentrum seines fotografischen Blicks [01.52.15]. Als drittes Thema betrachtet er die Menschen, mit denen er zu tun hat. Er setzt mit der Polaroidkamera seine Beziehung zu diesen Menschen ins Bild [01.53.42]. In der letzten Phase der Beobachtung fotografiert er Schicksalsgenossen – andere Bauernknechte, die etwa in seinem Alter sind [01.55.09]. Ein zweites dominantes Ordnungsprinzip erzählerischer Elemente sind triadische Konfigurationen szenischer Situationen und einer darin sukzessive aufgebauten Veränderung. In der Folge werden nun einige zentrale Beispiele solcher Trilogien beschrieben, die Teilaspekte von Pipes innerer Veränderung visualisieren. Innerhalb der dominantesten Reihung erzählerischer Elemente, die Pipes In-Bewegung-Kommen zeigen, sind zwei solcher Trilogien enthalten: In drei Phasen nähert sich Pipe seinem Moped und dem Mopedfahren. Er betastet vorsichtig alle Teile des Fahrzeugs und schiebt es dann auf der Straße zum Hof und in sein Zimmer [00.03.47]. Danach lässt er sich von Luigi Fahrunterricht geben [00.20.53]. Das Fahren will ihm aber noch nicht recht gelingen. Im dritten Anlauf sieht man Pipe, wie er auf einem Waldweg unermüdlich das Anfahren übt, bis es ihm schließlich gelingt [00.24.58]. Die zweite Trilogie einer thematischen Reihung des In-Bewegung-Kommens ist zum 166
Thema Abheben und Fliegen konstelliert. Das erste Mal hebt Pipe in seiner Phantasie mit seinem Moped ab zum Flug über die Landschaft [00.29.04]. In der zweiten Szene dieser Trilogie fährt Pipe auf seinem Moped einem Segelflieger hinterher bis hoch hinauf auf einen Berggipfel, um ihm von dort aus nach zu blicken. Beim dritten Mal hebt Pipe tatsächlich mit einem Helikopter ab, der ihn zur Spitze des Matterhorns bringt [01.55.57]. Ein weiteres Beispiel einer Trilogie ist Pipes dreimalige Abwesenheit während der Wochenarbeitstage: Er holt sein Moped vom Bahnhof ab [00.01.02], läuft von seiner Arbeit, die er gemeinsam mit dem Bauern John verrichtet, fort und fährt mit seinem Moped dem Segelflieger hinterher [00.47.58]. Beim dritten Mal fährt er mit Josianne zur Schokoladenfabrik und besichtigt den Betrieb [01.07.28]. Eine weitere Trilogie szenischer Momente rahmt Pipes Aufbruch in seine Bewegungsphasen und den Moment seines Scheiterns dabei. Drei Mal sitzt Pipe im Laufe der Erzählung an der Ecke des Schuppens und macht Pause. Rose gibt ihm Kaffee und spricht mit ihm. Das erste Mal fragt ihn Rose nach seinem Moped, das in seinem Zimmer steht, und danach, was er damit machen wolle [00.12.28]. Beim zweiten Mal sitzt Pipe nach dem Unfall völlig zerschlagen auf seinem Platz an der Scheunenecke. Rose schlägt ihm vor, ein heißes Bad zu nehmen. Sie meint bedauernd, dass sie ja auch nichts dafür könnten und dass er zu einem Arzt gehen müsse [01.41.18]. Beim dritten Mal sitzt Pipe an seiner Ecke und macht von Rose ein Foto, wie sie mit einem Tablett mit Kaffee und Milch zu ihm herüber kommt. Sie scherzt darüber mit ihm und sagt, jetzt sei er wohl wirklich wieder zur Erde zurückgekehrt [01.52.15]. Als letztes Beispiel einer Trilogie, die in direkter Korrespondenz zu Pipes Veränderungsprozess steht, sei an dieser Stelle der dreimalige Blick Pipes auf sich selbst beschrieben. Dies passiert auf drei verschiedene Weisen: Als Pipe den Anstieg zum Gipfel beginnt, um dem Segelflieger nachzufahren, fällt sein Blick auf einen Bauernknecht, der, wie er selbst so oft, vor einer Scheune Mist schaufelt [00.50.30]. Den zweiten Blick Pipes auf sich selbst richtet er direkt durch die Linse des Fotoapparats [01.46.56]. Im dritten Teil dieser Reihe betrachtet Pipe – ebenfalls durch die Linse der Polaroidkamera – andere Knechte, die in einer vergleichbaren Situation mit der seinen leben [01.55.09]. Das Prinzip der Doppelung als Organisationsprinzip erzählerischer Elemente wird in Kleine Fluchten nicht vergleichbar dominant durchgeführt wie in Der mit dem Wolf tanzt und Dead Man. Jedoch stehen einzelne Szenen oder szenische Teilaspekte, die in einem paarweisen Bezug zueinander konstelliert sind, in einem wesentlichen Zusammenhang mit der Schilderung von Pipes Veränderungsprozess. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel einer solchen Doppelung beschrieben: Der Sieger des Motocrossrennens wird mit einem Kranz geehrt [01.25.55]. Als Pipe am Rande des Motocrossrennens ein Ratespiel gewinnt, bekommt er als Preis eine Polaroidkamera und zusätzlich einen Siegerkranz verliehen [01.29.30]. So ausstaffiert fährt der 167
trunkene Pipe in sein Scheitern hinein. Doch führt ihn dieses Ereignis auch einen Schritt weiter auf seinem Weg der Reifung. In Dead Man sind schon auf den ersten Blick Einsatzweisen der fünf formalen Ordnungsprinzipien in den Konfigurationen des erzählerischen Materials erkennbar. Einige dieser Strukturierungsmuster sind äußerst plakativ gestaltet, beispielsweise die fünfmalige Veränderung in der Art und Zusammensetzung der Fahrgäste im Zug und parallel dazu die fünfmalige Veränderung der Landschaften, durch welche die Reise geht [00.00.23, 00.01.04, 00.01.42, 00.02.04, 00.03.49]. Eine weitere sehr offensichtliche Strukturierung des erzählerischen Materials wird durch den zwölfmaligen Wechsel zwischen den beiden zeitlich parallelen Handlungsverläufen der Verfolgten und der Verfolger hergestellt. Auch in der Abfolge der Mordtaten ist zwischen diesen beiden Handlungssträngen ein Wechsel aufgebaut: Zwei Mal ereignet sich nach einer Mordtat Blakes in der parallelen Handlungslinie der Verfolger die Ermordung eines der Killer. Der Film erzählt von einer Reise seines Protagonisten. Diese Reise teilt sich auf in drei Phasen: Die Zugreise, den Ritt durch wechselnde Landschaften und die Kanufahrt bis zum Indianerdorf am Meer. Innerhalb dieser drei Abschnitte kennzeichnet die erste und die letzte Fortbewegungsweise – die Fahrten mit dem Zug und dem Kanu – ein ähnlich passiver Charakter. Bei eingehender Analyse der erzählerischen Konstruktion dieses Films wird deutlich, dass ein sehr enges Geflecht von Bezügen mittels der fünf formalen Verfahren im erzählerischen Material erstellt wird und dass diese Strukturen Bedeutungen der Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses etablieren. Es wird eine Konstruktion aus mehreren miteinander in Beziehung stehenden Reihungen, Stufenkonstruktionen, Trilogien und Doppelungen erkennbar. Diese Konfigurationen weisen in ihren formalen Gestaltungsmustern jeweils einen relativ linearen Entwicklungs- und Veränderungsprozess auf. Einige der Bezüge sind sehr fein gesponnen und oft kaum offensichtlich. Zusätzlich zu der bereits in 5.8 beschriebenen zentralen Reihung werden über solche Konfigurationen szenischer Aspekte und Situationen visuelle Teiläquivalenzen zur intrapersonellen Entwicklung und Veränderung Blakes präsentiert. Diese Reihungen sind durch die Prinzipien repetition und similarity miteinander verbunden. Bestimmte szenische Elemente wiederum, die in diese Reihungen eingebunden sind, werden mittels difference bzw. development einander zugeordnet. Außerdem begegnen uns in Dead Man Doppelungen als besonders auffällige Konstruktionen innerhalb der Gesamtkonfiguration der erzählerischen Elemente. Szenische Bausteine werden dabei durch similarity und difference oder auch durch similarity und disunity gepaart. Im Folgenden werden einige Beispiele solcher narrativer Konfigurationen beschrieben. Eine kontinuierliche Reihung szenischer Situationen besteht in der Häu168
fung und Abfolge von Augenblicken der Irritation bei Begegnungen Blakes mit anderen Protagonisten. Die Hauptfigur zeigt ein sehr zurückhaltendes, scheu-ängstliches Verhalten. Im Kontakt zu Anderen ereignen sich häufig Momente mangelnder Verständigung. Blake reagiert oft erst sehr verzögert und manchmal gänzlich zu spät. Der Austausch und die Verständigung über gegenseitige Gesten der Kommunikation misslingen häufig, die Impulse gehen aneinander vorbei. Im zweiten Drittel des Films ereignen sich solche szenischen Geschehnisse wesentlich seltener, im letzten Drittel bleiben sie ganz aus. Blake versteht nach und nach mehr vom Leben, wird fähig, mit Rätseln zu leben, findet Wege der Verständigung und gewinnt an Einsicht. Eine weitere Reihung szenischer Ereignisse in Bezug zu Blakes innerer Entwicklung besteht aus den Begegnungen und Dialogen zwischen Blake und Nobody. Diese Ereigniskette zieht sich durch den ganzen Film und weist in bestimmten inszenatorischen Anteilen eine prozesshafte Entwicklung und Veränderung auf. Die innere Haltung Blakes gegenüber Nobody und seinen Ansichten verändert sich in den Begegnungen sukzessive. Dies drückt sich zum einen in einem inhaltlichen Entwicklungsbogen aus, verdeutlicht durch Blakes Fragen, Antworten und Aussagen im Dialog mit Nobody. Zum anderen zeigen Blakes körpersprachliche Reaktionen in den Begegnungen mit Nobody Stufen der Veränderung. Wie sehr sich die Beziehung zwischen beiden Protagonisten von einer zufälligen Begegnung zu einer Freundschaft entwickelt hat, zeigt die visuelle Paarung zweier weit auseinander liegender szenischer Momente: Es handelt sich um die beiden zufälligen Begegnungen zwischen Blake und Nobody. Bei der ersten Begegnung stößt Nobody durch Zufall auf Blake, der besinnungslos und in seiner Unterwäsche auf dem Boden liegt. Nobody kniet über ihm und versucht, die Kugel aus Blakes Brust heraus zu schneiden [00.26.31]. Einige Zeit später kommt es zu einer zweiten zufälligen Begegnung [01.22.55]. Hier kehrt sich die Kostümchoreografie um: Nun ist es Nobody, der nur mit seinem Unterhemd bekleidet ist. Beide ringen miteinander und als sie einander erkennen, umarmen sie sich gegenseitig, halb auf den Knien. Diese Figurenposition ähnelt der in der ersten Szene. Obwohl im Rahmen dieser Studie der gesprochene Dialog in den Filmen nicht untersucht wird, seien an dieser Stelle doch zwei dialogbasierte Motif-Reihen aus Dead Man erwähnt, die eine sehr deutliche prozesshafte Entwicklungsstruktur zeigen. Diese Beispiele sollen dazu dienen, die hohe Zahl und die Vielschichtigkeit der formalen Konfigurationen zu verdeutlichen, die im erzählerischen Material dieses Films zur Vermittlung des prozesshaften Geschehens der intrapersonellen Wandlung etabliert sind. Zwei thematische Linien innerhalb des Dialogtextes, die einen prozesshaften Wandel aufweisen, seien an dieser Stelle aufgegriffen: Tabak spielt in den Dialogen und Handlungen immer wieder eine Rolle, ebenso der Maler und Dichter William Blake. Die Haltung des Protagonisten Blake, die sich in seinen Antworten auf die Frage nach Tabak mitteilt, ändert sich im Lauf der Dialogszenen ständig: Er zeigt 169
zunächst kein Interesse, da er Nichtraucher ist. Nach einer Weile reagiert er wütend und ablehnend auf die fortgesetzte Wiederholung der Frage. Schließlich setzt er selbst die Forderung nach Tabak gegenüber dem Händler durch und macht noch im Sterben einen Scherz über den Tabak und seine stets von ihm geäußerte Abstinenz – wohl wissend, dass dies ein ritueller Gegenstand ist, der ihm von Nobody für seinen letzten Weg ins Jenseits mitgegeben wurde. Eine zweite Reihung von Dialogsequenzen entsteht durch die Erwähnung William Blakes durch Nobody: Nobody sieht in Blake eine Reinkarnation des verstorbenen Dichters. Der „wirkliche“ Blake reagiert auf diese Überzeugung Nobodys zunächst amüsiert und mit leiser Ironie. Im weiteren Verlauf konfrontiert Nobody Blake immer wieder mit seiner Projektion. Blakes ironisch-ablehnende Haltung wandelt sich zunehmend zu einer Teilidentifikation mit dem Dichter: Er zitiert aus Gedichten Blakes, die er von Nobody gehört hat, und wiederholt Metaphern, die Nobody zwischen Gedichten William Blakes und Blakes Lebenssituation als eines flüchtenden Outlaws bildet [01.12.19]. Die Gesamtkonstruktion des Films ist von zahlreichen weiteren Reihungen durchzogen, die jedoch nicht alle in direktem Bezug zum charakterlichen Wandlungsprozess Blakes stehen. Hier sei nur ein weiteres Beispiel genannt, um die außerordentliche Komplexität formal organisierter Bezüge im erzählerischen Material zu verdeutlichen. Alle Figuren dieser Geschichte, die mit Blake in näherer Beziehung stehen – außer Dickinson und sein Bürovorsteher – sterben eines gewaltsamen und plötzlichen Todes: Thel, Charlie, die drei Killer, die drei Trapper, die beiden Officer, der Händler, Nobody. Blake selbst stirbt auch an den Folgen des Mordversuchs an ihm, jedoch im Gegensatz zu den anderen Figuren einen langsamen Tod. In der szenischen Struktur des Films ist das Bezugssystem der Paarung zweier ähnlicher erzählerischer Bausteine äußerst dominant. Die Bezüge zwischen den einzelnen szenischen Elementen dieser Doppelungen sind durch die Prinzipien similarity und difference bzw. disunity konfiguriert. Diese paarweisen Konfigurationen erzählerischen Materials unterscheiden sich mit Blick auf das Erkenntnisinteresse der Studie in zwei Gruppen: Durch einige dieser Doppelungen werden für den logischen Gesamtaufbau der Geschichte notwendige erzählerische Zusammenhänge etabliert. Andere Paare wiederum vermitteln inhaltliche Aspekte, die in direktem Bezug zur Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses stehen. Im Folgenden werden Beispiele aus der zweiten Gruppe beschrieben: Blake betritt zu Beginn und am Ende der Geschichte ein Dorf [00.09.17, 01.41.40]. Das Dorf am Beginn ist eine Siedlung von Weißen, dort werden Eisenbahnschienen und Züge fabriziert. Das Dorf, das Blake im ending der Geschichte betritt, ist ein indianisches Dorf und zugleich ein Ort der Totenbestattung und der damit verbundenen Riten [01.43.00]. Auch hier werden Fahrzeuge hergestellt – Kanus, die zur Fahrt auf dem offenen Meer geeignet sind. Thel und Blake fallen beide, im Abstand einiger Stunden story 170
time, in den Schlamm [00.19.19, 00.25.30]. Beide Stürze werden begleitet von einem Regen weißer Papierrosen. Beide Figuren wird dasselbe Schicksal ereilen, denn beide werden an ein und derselben Kugel eines Revolverschusses sterben – Blake nur um einiges später als Thel. Die Geschichten von Nobody und Blake ähneln sich in anderer Hinsicht: Nobody wurde als Heranwachsender Opfer einer willkürlichen Gewalttat der Kolonialtruppen [00.46.03]. Er wurde jäh aus seiner Lebensumgebung gerissen und nach Europa und Amerika verschleppt. Den einzigen Trost findet er in seinem Exil bei der Lektüre der Werke William Blakes. Nobody gelingt es, aus dem Exil zu entkommen und in seine Heimat zurückzukehren. Jedoch haben ihn seine Erfahrungen sehr verändert. Er wird von den Indianern seines Stammes nicht mehr in die Gemeinschaft aufgenommen. Obwohl Nobody an seinem Heimat- und Identitätsverlust leidet, hat er einen Weg gefunden, damit zu leben [00.49.00]. Auch Blake ist ein noch recht ahnungsloser, scheuer und unschuldiger junger Mann, als er in den Schusswechsel gerät und von der Kugel, an der er sterben wird, getroffen wird [00.24.50]. Dieses Ereignis und das Töten, das er aus Notwehr begeht, verändern jäh seine gesamte Lebenssituation und zwingen ihn zur Flucht. Blake wird zum Outlaw. Dabei ist Blake ganz neuen Erfahrungen ausgesetzt, in deren Verlauf sich seine Persönlichkeit grundlegend ändert: Allmählich erkennt er seinen Weg und kann sein Schicksal annehmen. Diese Parallelen des Schicksalswegs beider Protagonisten spiegeln sich unter anderem in der Paarung zweier visueller Elemente: Blake schenkt Nobody sein Portrait, das auf einem Steckbrief abgedruckt ist [01.30.15]. Nobody wiederum hat Blake, als dieser in seinem Sterbekanu liegt, das kleine Bild, das ihn als Jungen zeigt und das er bisher an seiner Weste getragen hat, als Gabe an den Mantel gesteckt. Mit einer weiteren Paarung wird ein prozesshafter Schritt in Blakes intrapersoneller Entwicklung illustriert: Die erste Szene besteht aus der Geste der Gesichtsbemalung, die Nobody gegenüber Blake macht. Er tut dies, nachdem er im Ritual die Erkenntnis erlangt hat, dass Blake ein dem Tod geweihter Mann sei [01.06.30]. Er bemalt Blakes Gesicht mit weißer Farbe und zeichnet ihm dabei geometrische Ornamente auf die Wangen. Der zweite szenische Part dieser Doppelung zeigt, wie Blake selbst ein Mal auf sein Gesicht zeichnet. Er mischt dafür das Blut des erschossenen Rehkitzes mit dem aus seiner eigenen Schusswunde und malt damit eine Linie über sein Gesicht von der Stirn bis hinunter zu seinem Kinn [01.20.30]. Überträgt man die Bedeutung dieses Tuns von Nobody in der ersten Szene auf die zweite mit Blake, so zeigt sich, dass Blake selbst nun zur Erkenntnis seines nahen Todes gelangt ist In den bisher beschriebenen Filmen Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten und Dead Man lassen sich sehr genau Gestaltungsmuster, die in der erzählerischen Konstruktion mittels der fünf formalen Prinzipien konfiguriert sind, herausarbeiten, da sie in den filmischen Strukturen dieser Werke auf äußerst deutliche Weise hervortre171
ten. In den fünf anderen Filmen – Breaking Glass, Das Piano, Betty Blue, Rocco und seine Brüder, Taxi Driver – lassen sich durchaus ebensolche Verwendungsmuster der fünf Prinzipien in Konfigurationen des erzählerischen Materials feststellen. Doch sind die Ordnungsmuster hier weniger auffällig und nicht immer konsequent durchgeführt, zudem erscheinen sie insgesamt weniger häufig. Im Überblick der Untersuchungsergebnisse lässt sich aber feststellen, dass auch in diesen Filmen die Ordnungsprinzipien erzählerischer Elemente nach den fünf neoformalistischen Kategorien spezifisch zur Visualisierung der intrapersonellen Wandlungsprozesse der jeweiligen Hauptfiguren eingesetzt werden. Im Folgenden werden Beispiele aus Breaking Glass, Das Piano, Betty Blue, Rocco und seine Brüder und Taxi Driver aufgeführt, die dies verdeutlichen. Wie bereits in 5.9 beschrieben, wird in Breaking Glass eine Motif-Reihe, die in Bezug zu Kates intrapersoneller Veränderung steht, durch die szenische Konfiguration der Figuren errichtet. Visuell ist diese Motif-Reihe jedoch nicht sehr dominant, da die Szenen an verschiedenen Schauplätzen spielen und jeweils unterschiedliche Handlungsereignisse enthalten. Konstant im Sinne von repetition ist die Figurenkonstellation zwischen den Bandmitgliedern und Kate. Die szenischen Sequenzen, in denen Handlungen innerhalb dieser Gruppe gezeigt werden, können nach zwei Arten unterschieden werden: Zum einen werden die Bandmitglieder während verschiedener Konzertauftritte gemeinsam auf der Bühne gezeigt. Zum anderen wird das Zusammensein dieser Personen in Situationen außerhalb der Konzertauftritte gezeigt, so zum Beispiel bei Proben, während der Konzertreisen im Bus und bei Studioaufnahmen oder gemeinsamen Besprechungen. In der Reihung dieser Situationen werden sukzessive Veränderungen in der Konstellation zwischen Kate und ihren Bandmitgliedern deutlich. Es baut sich dabei nach dem Prinzip development ein sich über den gesamten Film erstreckender Entwicklungsbogen auf. Die Anzahl anwesender Figuren, ihre räumliche Konstellation und die Art ihrer Interaktionen verändern sich stetig. Darin manifestiert sich eine visuelle Darstellungsebene für Veränderungen, die in Beziehung zur inneren Wandlung Kates steht. In der Konstellation und ihrer schrittweisen Veränderung wird zudem eine gewisse Symmetrie erkennbar, die den Verlauf der Entwicklung von Kates Wandlungsprozess illustriert: Im opening treten die späteren Bandmitglieder nach und nach in das erzählerische Geschehen ein. Zunächst nimmt Dany Kontakt zu Kate auf [00.04.56]. Er organisiert für sie das Probevorspiel mit verschiedenen Musikern, damit sie sich eine neue Band zusammenstellen kann. Als dritter stößt der Saxophonist Ken zu der Runde [00.15.16], als vierte die beiden Gitarristen [00.16.41], dann Mick, der Schlagzeuger [00.18.07]. Am Ende des opening ist die Band komplett und es kommt zu einem ersten gemeinsamen Auftritt [00.18.40]. In spiegelbildlicher Symmetrie dazu stehen Entwicklung und Veränderungen der Zusammensetzung dieser Figurengruppe im ending der Geschichte: Als erster verlässt Dany die Gruppe [01.15.16]. Mick scheidet während eines Konzerts 172
aus der Band aus. Als letzter geht Ken. In der Inszenierung des ersten und letzten Kontakts zwischen Dany und Kate, vor ihrer Wiederbegegnung in Kates Krankenhauszimmer, wird ein starker Kontrast aufgebaut. Bei ihrer ersten Begegnung auf nächtlicher Straße [00.04.56] und während ihres ersten längeren Gesprächs, als beide vor den Toilettentüren einer Bar sitzen [00.08.29], erkennt Dany Kates Talent und will ihr Manager werden. Es entwickelt sich eine zunehmende Nähe zwischen den beiden. Der letzte Kontakt dann spielt sich im Rahmen größtmöglicher Distanz ab: Dany spricht zu Kate über das Hörertelefon des Rundfunksenders, als Kate Gast einer Radioshow ist. An dieser Stelle sei eine Motif-Reihe aus Breaking Glass beschrieben, die durch die Tongestaltung etabliert wird: Das auditive Material der Beispielfilme ist zwar aus der zentralen Fragestellung der Studie ausgegrenzt, jedoch fordert die Analyse von Breaking Glass, einem Musikfilm und Portrait einer Rocksängerin, eine Ausnahme – die Musik von Kate und ihrer Band ist zentrales inhaltliches Element der Erzählung. Im Lauf der Analysen stellt sich eine relativ dominante Reihung erzählerischer Elemente in diesem Film heraus, die in Beziehung zur Darstellung von Kates Wandlungsprozess stehen und mit Hilfe der Tonspur etabliert werden. Ein kurzes Beispiel aus dieser Motif-Reihe: Es entsteht hier eine Verknüpfung von drei visuellen, szenischen Momenten und dem wiederholt auf der Tonspur dazu gesetzten Lied „You are a programme“: Während der ersten Begegnung zwischen Kate und Dany auf der Straße und im Text ihres Songs „You are a programme“, aus dem sie ihm ein paar Takte vorsingt, wird Kates kritische Haltung gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen deutlich [00.05.49]. Ein paar Sekunden aus dieser Szene werden wesentlich später als flashback in eine Konzertszene einmontiert, in der Kate dieses Lied auf der Bühne singt [01.19.06]. Ihr Outfit hat sich im Vergleich zur Straßenszene sehr verändert. Kate tourt nun mit ihrer Band und funktioniert nach dem Programm des Musikproduzenten Bob Woods und des Managers der Plattenfirma. Die letzte Szene des Films, die Kate auf der Bühne zeigt, steht in visuellem Bezug zu den beiden anderen Szenen, die mit dem Songtitel „You are a programme“ verbunden sind [01.29.14]: Kate trägt ein Kostüm, das ihr Äußeres extrem verfremdet. Ihr Körper sieht aus wie die Schaltfläche eines Computerchips. Die Aussage ihres ursprünglichen Songs, „You are a programme“, dass ihre Mitmenschen wie Programme seien, trifft nun auf sie selbst zu – Kate ist selbst zu einem fremdgesteuerten Programm geworden. Eine weitere visuelle Reihung erzählerischer Elemente lässt sich im filmischen Material von Breaking Glass beschreiben, wo mittels der Prinzipien similarity und difference eine prozesshafte Veränderung bildlich präsentiert wird. Wie Zäsuren bzw. bildhafte Kapitelüberschriften sind im szenischen Ablauf von Breaking Glass Blicke auf verschieden weite oder enge Totalen der Stadt einmontiert. Diese Einstellungen sind fast alle mit bewegter Kamera gestaltet. Die Bewegungsart dieser Bilder ist jedes Mal 173
eine andere, ebenso ändert sich stets die Tageszeit. Der erste Blick ist ein Schwenk über ein städtisches Panorama in den frühen Morgenstunden, der bei Kates Haus mit Blick auf ihr Wohnzimmerfenster stoppt. Die Tageszeit verändert sich in den nächsten Panoramasequenzen von mittags über nachmittags bis in den Abend bzw. in die Nacht hinein. Jeder Blick scheint ein Moment des Innehaltens zu sein, bevor die Schilderung weiterer wesentlicher Veränderungen und Entwicklungen von Kates Situation erfolgt. Das Prinzip der paarweisen Verknüpfung szenischer Elemente und die darin inszenierten Kontraste und Veränderungen, die in Bezug zur Visualisierung der charakterlichen Wandlung stehen, sind in Breaking Glass an einigen Stellen beschreibbar. Jedoch sind diese Paarungen bei Weitem nicht so dominant und werden nicht so häufig eingesetzt wie in Dead Man oder in Der mit dem Wolf tanzt. Im Folgenden werden einige Bespiele solcher Inszenierungsweisen in Breaking Glass beschrieben. In diesen paarweise aufeinander bezogenen, szenischen Anteilen bestimmter Situationen wird durch die Prinzipien similarity und difference bzw. disunity jeweils ein Bedeutungswechsel aufgebaut, der in Bezug zur intrapersonellen Entwicklung der Hauptfigur steht. Beide Bewegungen zwischen Kate und Dany, das Zueinanderkommen und das Auseinandergehen, finden während einer Reise statt. Das Zusammenkommen der beiden ereignet sich auf der gemeinsamen Zugfahrt der Band von einer Konzerttour zurück nach London [00.42.19]. Dany verlässt die Truppe und Kate bei einer Busfahrt während der Konzerttour, welche die Band unter Vertrag mit Bob Woods und der Plattenfirma unternimmt [01.15.16]. Ein weiterer starker visueller Kontrast, der das Phänomen Veränderung visualisiert, wird über die Wiederholung eines ähnlichen Schauplatzes an Beginn und Ende des Films aufgebaut: Der erste Schauplatz im Film zeigt Kate in der U-Bahn [00.00.07]. Der letzte Schauplatz, den Kate betritt, bevor sie ihren totalen Zusammenbruch erlebt, ist wieder die U-Bahn [01.33.05]. In der ersten Szene klebt sie Werbung für ein Konzert ihrer Band an die Wagenfenster und geht dabei von einem Wagen in den nächsten. Am Ende dieser Szene betritt Kate die Außenplattform der U-Bahn. Die Kamera blickt dem Zug hinterher. Kate verschwindet mit der U-Bahn im Dunkel des Schachtes. Im ending flieht sie aus der Konzerthalle in die U-Bahn [01.32.39]. Diesmal geht sie nicht zielstrebig durch die Waggons, sondern erleidet Wahnvorstellungen und stürzt schreiend von einem Waggon in den nächsten. Das Bild blendet in diesem Moment auf ins Weiße. Die Blenden am Ende beider Szenen bilden einen extremen Kontrast: Kate stürzt im Moment der Weißblende in einen Abgrund. Ihr Zusammenbruch könnte jedoch die Hoffnung auf einen möglichen Neuanfang in sich bergen. Die Bilder im Anschluss an die Weißblende zeigen Kate in einem von gleißendem Sonnenlicht durchfluteten Krankenzimmer. Ein ähnlich starker visueller Kontrast besteht zwischen den paarweise zueinander konstellierten Szenen an der Zapfsäule der Tankstelle: In der ersten Szene ist Kate bei ihrer Arbeit als Tankwartin zu sehen [00.14.00]. Sie spricht mit ihrer Freundin über die Chancen, 174
eine neue Band zu gründen. Währenddessen muss sie mehrmals einen ungehaltenen Mann zurechtweisen, den sie an ihrer Zapfsäule nicht bedienen darf. In dieser Szene werden Kates Temperament, aber auch ihre zögerliche Seite spürbar. In der zweiten Szene an diesem Ort ist Kate stark geschminkt. Ihr Gesicht ist dadurch ganz maskenhaft geworden, ihr Blick abweisend, fast mürrisch. Sie wird von Fotografen und Maskenbildnern in Szene gesetzt. Kates Impulsivität und ihre Nachdenklichkeit sind nicht mehr Teil des szenischen Geschehens an diesem Schauplatz. Beginn und Ende von Kates Aufstieg rahmen zwei aufeinander bezogene szenische Momente. Nach der ersten Studioarbeit mit Bob Woods schluckt Kate vor einem Spiegel Tabletten [01.10.04]: Sie hat den ersten Schritt hinein in die Abhängigkeit getan. Dany fordert sie zu einer Auseinandersetzung auf, doch weicht Kate dem Konflikt aus. Beim letzten Konzert unter dem Kommando von Woods und der Plattenfirma, schluckt Kate ebenfalls vor dem Spiegel in ihrer Garderobe Tabletten [01.28.03]. Danach jedoch durchbricht sie den Teufelskreis aus Fremdbestimmung und Abhängigkeit. Die dominanteste Reihung in der erzählerischen Konstruktion von Das Piano wurde bereits in 5.8 beschrieben. Es handelt sich um die Szenen der Begegnungen zwischen Ada und Baines im Verlauf der Klavierstunden. In dieser Motif-Reihe etabliert sich eine visuelle Äquivalenz für Adas prozesshafte Wandlung. Über diese dominante Reihung hinaus fallen im gesamten Filmverlauf nur wenige weitere deutlich erkennbare Reihungen oder Doppelungen szenischer Elemente auf, die in Bezug zum intrapersonellen Wandlungsgeschehen stehen. Im Folgenden werden einige Beispiele beschrieben. Das Verknüpfungsprinzip in Trilogien szenischer Momente findet in diesem Film keine Verwendung. Die szenische Interaktion einer Verhandlung verschiedener Beteiligter über ihre unterschiedlichen Interessen findet eine auffällige Wiederholung: Ada verhandelt mit Stewart über den Abtransport des Pianos vom Strand [00.12.30]; sie verliert diese Verhandlung. Die Eingeborenen verhandeln mit Baines über die Route durch den Dschungel [00.15.30]. Baines versteht ihre Beweggründe, Stewart nicht. Baines verhandelt mit Stewart um das Piano, ein Stück Land und Klavierstunden [00.29.15]. Stewart schlägt ein und zwingt seine Frau, ihren Anteil an seinem Handel zu leisten [00.30.31]. Baines verhandelt mit Ada über das Gewähren von Berührungen als Gegengabe für die Tasten des Pianos [00.37.10]. Stewart versucht von den Maoris Land gegen Gewehre einzuhandeln [00.49.17]. Aspekte der Fairness beim Verhandlungsverhalten, der Gleichberechtigung und der Verhandlungsstrategien werden in diesen Szenen variiert. Diese Aspekte stehen jedoch nicht in direktem Bezug zu Adas intrapersonellem Wandel. Vielmehr dienen sie dazu, die sehr verschiedenen Männer Stewart und Baines zu charakterisieren, unter deren Einflussnahme Ada steht. Der Blick eines Auges durch eine kleine Öffnung wiederholt sich in einer weiteren auffälligen Reihung dieses Films: Augen blicken durch den Sucher eines 175
Fotoapparats [00.17.30], durch den Schlitz eines Vorhangs [00.53.54] und durch Ritzen in Holzwänden [01.01.10, 01.14.00]. Diese Wiederholungsreihe wird von den Prinzipien repetition und variation konfiguriert, weist dabei jedoch keine spezifische Prozesshaftigkeit auf. Eine weitere über den gesamten Filmverlauf etablierte visuelle Motif-Reihe besteht aus szenischen Situationen, in deren Zentrum Hände und Finger als Handlungs- und Bedeutungsträger ins Bild gesetzt werden. Eine ausführliche Analyse dieser Motif-Reihe ist in 7.6 beschrieben. Das Prinzip der Doppelung szenischer Elemente findet in Das Piano eine besondere Verwendung – im Vergleich von opening und ending wird dies deutlich nachvollziehbar. In diesen Paarungen sehr kleiner szenischer Anteile und Elemente zeigen sich auf besonders subtile Weise Bezüge zur Visualisierung intrapersoneller Wandlung. Die paarweise zueinander in Bezug stehenden szenischen Elemente finden sich auf zeitlich weit auseinanderliegenden Punkten im Filmverlauf. Diese Paarungen sind mittels der Prinzipien similarity und difference bzw. disunity konfiguriert. Innerhalb der Doppelungen wird jeweils ein Aspekt von Veränderung ausformuliert. Die Visualisierung von Adas charakterlichem Wandlungsprozess wird dabei durch ein vielschichtiges Netz aus wenig auffälligen Bezügen zwischen kleinen Anteilen szenischer Ereignisse aufgebaut, die bei einem einmaligen Betrachten nur sehr schwach wahrgenommen werden, jedoch in ihrem Zusammenwirken visuelle Äquivalenzen der Prozesshaftigkeit einer Entwicklung repräsentieren. Im Folgenden werden einige Beispiele solcher Doppelungen aus opening und ending aufgeführt. Dabei wird deutlich, dass paarweise Entsprechungen in opening und ending sowohl über große, übergreifende Gestaltungselemente als auch über sehr kleine, lokale szenische Elemente aufgebaut werden. Die szenischen Schauplätze in opening und ending stehen in spiegelbildlichem Bezug zueinander und werden nach den Prinzipien similarity und disunity konfiguriert. Zu Beginn und am Ende der Geschichte ist Ada zu Hause – doch der Ort am Ende der Geschichte unterscheidet sich wesentlich von der Art eines Zuhauses, das ihr am Beginn der Geschichte als ihr künftiges Heim angekündigt wird. Jeweils einmal in opening und ending wird Ada in einer Szene, die sie in ihrem Zuhause zeigt, in einer Handlung unterbrochen: Im opening spielt sie auf ihrem Klavier und wird von einer älteren Dame unterbrochen, vermutlich ihrer Mutter, die sie streng und unbewegt ansieht [00.02.53]. Im ending übt Ada das Sprechen, während sie auf der Veranda ihres neuen Heims auf und ab geht. Sie wird dabei unterbrochen von der zärtlichen Berührung durch Baines [01.50.40]. Wiederum spiegelbildlich ist in opening und ending der neuseeländische Strand wiederholt Schauplatz einer Szene und ebenso spiegelbildlich führt jeweils eine Bootsfahrt hin zu bzw. weg von diesem Strand. Die Handlungsbedeutung beider Strandszenen ist gegensätzlich: Zu Beginn der Geschichte ereignet sich dort die Ankunft nach einer Bootsfahrt, am Ende ist es der Aufbruch zu einer Bootsfahrt. Adas Ankunft gemeinsam mit ihrer Tochter er176
eignet sich an einem einsamen Strand [00.04.37]. Die Abschiedsszene hingegen wird begleitet durch andere Personen und Ada bricht gemeinsam mit vielen Menschen auf [01.44.05]. Als Ada und ihre Tochter im opening von den Skippern an den Strand getragen werden, ist dies für sie ein schwieriger Balanceakt auf den Schultern der Männer [00.04.15]. Die Skipper tragen zerlumpte Kleidung. Im ending wird Ada von den Maoris aus dem Wasser gezogen. Die kräftigen, fast nackten Schwimmer packen fest zu, ziehen Ada zum Boot und heben sie wieder hinein [01.49.00]. Im opening muss sich Flora bei der Ankunft am Strand übergeben. Im ending hängt sie ebenfalls über der Reling des Kanus, doch es wird ihr nicht schlecht. Im opening dient Adas steifer Unterrock Mutter und Tochter nachts am Strand als Zelt. Die Tochter fragt bang, ob das Zelt wohl Feuer fangen werde [00.08.17]. Im ending stülpt sich der Unterrock, als Ada in die Tiefe des Meeres gezogen wird, genau in die andere Richtung um und wird dabei von Wasser durchströmt. Zu Beginn der Geschichte hört man Adas innere Stimme erzählen: Sie berichtet von einer Aussage ihres Vaters, dass sie einen starken Willen habe und dass der Tag, an dem sie sich entscheiden werde nicht mehr zu atmen, ihr letzter sein werde. Im ending taucht sie aus den Tiefen des Meeres auf. An der Oberfläche angekommen, saugt sie die Luft tief ein. Ihre innere Stimme sagt zu dieser Szene ihrer Rettung, sie habe sich für das Leben entschieden. Es wären noch viele Beispiele solcher Paarungen im erzählerischen Material von Das Piano beschreibbar. Die gegebenen Beispiele genügen jedoch, um die diesem Film spezifische Verwendung narrativer Ordnungsprinzipien zu verdeutlichen. In den Doppelungen der Elemente und in den darin angelegten grundlegenden Veränderungen einzelner Teilbezüge in Kontrast und Gegenteil werden Gestaltungsmuster aufgebaut, über die sich Aspekte von Adas innerer Veränderung visualisieren. In Betty Blue ist das Ordnungsprinzip erzählerischen Materials nach den Prinzipien repetition und similarity sehr dominant. In 5.8 wurde bereits die zentrale Reihung szenischer Geschehnisse, die in Bezug zu Bettys intrapersonellem Wandlungsprozess steht, beschrieben. Mit dieser Motif-Reihe ist durch viele situative Ereignisse ein sich wiederholendes szenisches Thema verwebt. Es handelt sich dabei um Interaktionen von Protagonisten, bei denen sich etwas Unerwartetes und Unpassendes ereignet. Auf Dialogebene ist eine Reihung von Aussagen feststellbar, deren Bedeutung mit der Reihung szenischer Ereignisse, die verrückte und unpassende Momente zeigen, verknüpft wird. Diese Aussagen werden von verschiedenen Figuren zu unterschiedlichen Momenten des Filmverlaufs und in zahlreichen Variationen getroffen. Sie stehen jedoch nicht in spezifischem Bezug zur erzählerischen Konstruktion der prozesshaften Veränderung der Hauptperson, da weder Entwicklung noch Kontrast in den gestalterischen Elementen aufgebaut werden. Bei anderen Reihungen fallen hingegen Bezugssysteme auf, die als ein Teil der Visualisierung von Bettys Veränderungsprozess bezeichnet werden können. So sind Szenen, die in Badezimmern 177
spielen, von einer gewissen Eskalation, von Dramatik und Gewalttätigkeit der Handlungen gekennzeichnet. Vier Mal ist das Badezimmer Schauplatz von Ereignissen, die normalerweise nicht im Badezimmer geschehen: Der Nachbarsjunge hat sich in das Badezimmer eingeschlossen, Zorg klettert über eine Leiter hoch und durch das Fenster. Als die Tür wieder offen ist, stürmt der Vater des Jungen herein und hängt den Junge zur Strafe mit seinen Hosenträgern an einen Handtuchhaken [01.04.19]. Nachdem Betty sich beim Durchstoßen einer Glasscheibe verletzt hat, versucht Zorg, ihre verletzte Hand zu versorgen. Betty schlägt um sich und stößt dabei Zorg in die Badewanne [01.11.42]. Zorg sucht Betty nachts im Haus. Sie hat das gemeinsame Bett verlassen. Er findet Betty, wie sie völlig apathisch auf dem Rand der Badewanne sitzt. Sie sagt, dass sie Stimmen höre und Angst habe, verrückt zu werden [01.35.09]. Die autoaggressive Tat Bettys, als sie sich ein Auge ausreißt, ereignet sich im Badezimmer. Diese Handlung wird nicht im plot visualisiert, aber das blutverschmierte Badezimmer ist zu sehen [01.37.15]. Eine zweite Reihung, die den Veränderungsprozess visuell verdeutlicht, wird durch Szenen verknüpft, in denen Betty und Zorg im Bett liegen. Der Schauplatz wiederholt sich, die Handlungen aber verändern sich sukzessive. Der Film beginnt mit einem Liebesakt von Betty und Zorg [00.01.13]. Solche erotischen Szenen ereignen sich noch drei Mal [00.29.25, 01.21.52, 01.25.32]. Etwas später im opening sieht man Betty und Zorg schlafend im Bett [00.08.58]. In weiteren nächtlichen Szenen liegt Zorg wach und Betty schläft neben ihm. In einer späteren Szene erwacht Zorg und bemerkt, dass Betty nicht da ist [01.35.09]. Die Szene, in der Zorg Betty tötet, bildet einen Kontrast in der Handlungsbedeutung zur Einleitungsszene des Films, in der sich Betty und Zorg auf dem Bett lieben. Am Ende beugt sich Zorg über Betty und erstickt sie mit einem Kissen [01.47.48] – Zorgs leidenschaftliche und liebevolle Beziehung zur vitalen Betty hat sich in eine todbringende Kraft verwandelt. Das Ordnungsprinzip des erzählerischen Materials in Trilogien ist hier in Bezug auf die Visualisierung des intrapersonallen Wandlungsprozesses nicht sonderlich relevant. Drei solche Konfigurationen erzählerischer Elemente seien an dieser Stelle beschrieben: Betty und Zorg leben an drei verschiedenen Orten. Drei Mal ermöglicht ihnen eine Absprache mit den Besitzern ihrer Bleibe, wonach sie bestimmte Arbeiten übernehmen, das Bleiben am jeweiligen Ort: Für den Besitzer der Buden müssen sie Malerarbeiten leisten [00.10.30], für Lisas Hotel übernimmt Zorg Klempneraufgaben [00.30.09], in Eddys Elternhaus führen nun Betty und Zorg den Pianoladen [00.59.30]. Bettys und Zorgs Aufenthaltsorte werden immer gediegener und etablierter. Diese Entwicklung verdeutlicht die Reihung, einen starken Kontrast bildend zu Bettys innerer Veränderung. In opening und ending sind zwei weitere Trilogien von zueinander in Bezug stehenden szenischen Handlungen aufgebaut, die in dieser Konfiguration visuelle Äquivalenzen für Bettys inneren Veränderungsprozess darstellen: Zorg geht zu Beginn des 178
Films drei Mal aus dem Haus und weiß bei seiner Rückkehr nicht, welche Situation ihn erwarten wird. Beim ersten Mal gibt es Streit zwischen ihm und Betty [00.18.30]. Beim zweiten Mal hat Betty, nachdem sie sein Manuskript gelesen hat, für ihn gekocht [00.23.40]. Bei seiner dritten Heimkehr zündet Betty das Haus an [00.27.12]. Hier zeigen sich zum einen unerwartete Entwicklungen und zum anderen wird deutlich, dass Betty keine Grenzen im Ausagieren ihrer aggressiven Impulse kennt. Eine vergleichbare Reihung wird am Ende des Films inszeniert: Drei Mal geht Zorg zu Betty ins Krankenhaus. Das erste Mal geht er an ihr Bett, wendet sich dann weinend ab und schaut aus dem Fenster [01.38.07]. Parallel zur zweiten Szene der bereits beschriebenen Trilogie im opening ist in dieser triadischen Konfiguration im ending sein Manuskript szenisches Thema von Zorgs zweitem Besuch im Krankenhaus. Er erzählt der apathischen Betty die gute Nachricht von der Zusage des Verlegers [01.41.48]. Zorg berührt und liebkost Betty dabei. Bei seinem dritten Besuch an Bettys Krankenbett tötet er sie [01.45.08]. In dieser Trilogie wird in Bezug zur triadischen Konfiguration der Szenen im opening eine vergleichbare Veränderung und dramatische Eskalation in den Handlungen aufgebaut. Bezieht sich die erste Konfiguration auf Bettys Veränderungsprozess, so sind es in der zweiten die Veränderungen in Zorgs Verhalten, die Bettys Scheitern besiegeln. Das formale Prinzip der Doppelung oder Paarung szenischer Elemente findet in Betty Blue nur selten Verwendung. Es konnten einige solcher Bezugspaare festgestellt werden, doch haben sie keine Relevanz für die Schilderung der intrapersonellen Wandlung der Hauptperson. Rocco und seine Brüder weist mit Blick auf die Entwicklung Simones eine zentrale Reihung auf, die seine charakterliche Veränderung visualisiert. Diese Abfolge besteht aus Simones immer gravierenderen kriminellen Handlungen. Eine genaue Beschreibung dieser Motif-Reihe findet sich in 5.8. Die Gesamthandlung dieser Erzählung, in die Simone als eine der zentralen Figuren eingebettet ist, erzählt von einem großen Veränderungsprozess, in den alle Mitglieder der Familie Parondi involviert sind. Eine Reihung von Szenen visualisiert diesen Veränderungsprozess deutlich: Sie ist über die verschiedenen Wohnungen der Familie und die darin inszenierten Figurenkonstellationen aufgebaut. Parallel zum sozialen Aufstieg der Familie wechseln die Wohnungen der Familienmitglieder und deren Ausstattung. Ebenso verändern sich sukzessive die Konstellation und die Anzahl der Protagonisten, die in diesen Wohnungen leben und sich dort begegnen. Am Beginn wohnen alle Brüder gemeinsam mit der Mutter in einer Kellerwohnung [00.15.38]. In der nächsten, einer Sozialbauwohnung, leben nur noch vier der Brüder zusammen [01.02.07] – Vincenzo lebt mit seiner Frau in einer eigenen Wohnung [01.44.43] und auch Rocco wird die Familie verlassen und zum Militär gehen. Als Rocco aus der Militärzeit zurückkehrt, ist die Familie erneut umgezogen, nun in eine große Mietswohnung im dritten oder vierten Stock [01.19.17]. Rocco trifft seine Mutter darin alleine an. Später leben dort 179
nur noch sie und Luka, vorübergehend Simone und Nadja und für eine Weile Ciro. Die zu Beginn noch sehr enge Gemeinschaft der Familienmitglieder löst sich nach und nach auf, die Figuren vereinzeln immer mehr. Auch wenn diese Veränderung kein Zeichen eines sozialen Abstiegs der Familie ist, sondern sich während des Aufstiegs verschiedener Familienmitglieder ereignet, entsteht in diesen Inszenierungselementen doch ein visuelles Äquivalent für den Abstieg Simones, der aus dieser Gemeinschaft ganz herausfallen wird. Die Motif-Reihe beginnt mit einem der ersten und endet mit dem letzten Bild des Films: Zu Beginn sieht man die ganze Familie, wie sie nach ihrer Ankunft in Mailand durch die weiten Hallen des Bahnhofs geht [00.04.19]. Das letzte Bild zeigt Luka, wie er allein über die menschenleere und kahle Straße eines Neubaugebietes geht und sich immer weiter in die Totale hinein von der Kamera entfernt [02.49.00]. Eine weitere zentrale Reihung szenischer Geschehnisse, die eng verbunden ist mit Simones Veränderungsprozess, bilden die Momente, in denen er Kränkungen erfährt: Insgesamt sechs Mal wird Simone im Laufe der Ereignisse in seinem Stolz und seinem Selbstbewusstsein verletzt. Über seine Reaktionsweisen in den jeweiligen Situationen vermittelt sich seine charakterliche Veränderung. Als er von Rocco erfährt, dass Nadja ihn nicht mehr sehen will, wandelt er seine Enttäuschung in abfällige Äußerungen über Nadja um [01.09.16]. Die zweite Kränkung erfährt Simone, als sein Trainer Cervi ihn wegen seines schlechten Trainingsstands rügt und sich zugleich für Rocco als Boxer interessiert [01.23.00]. Als Simone jedoch von Rocco selbst erfährt, dass dieser keine Ambitionen für das Boxen hat, ist Simone die Erleichterung anzusehen. Später erfährt er, dass Rocco doch von Cervi ausgewählt wurde und zudem mit Nadja zusammen ist [01.31.17]. Eifersucht und Hass veranlassen Simone, dem Paar eines Abends aufzulauern. Er erniedrigt Nadja vor den Augen Roccos. Als Rocco ihn für sein Handeln verurteilt und ihm sagt, dass Simone ihn anwidere, reagiert dieser auf die erneute Kränkung mit Gewalt [01.41.20]: Er schlägt sich mit Rocco bis in die frühen Morgenstunden. Die fünfte Kränkung erfährt er, als ihm der Boxmanager sagt, wie sehr er heruntergekommen sei und dass Simone ihn anwidere [02.10.12]. Daraufhin geht Simone auf den Manager los. Die letzte Kränkung erfährt er durch Nadja, die ihm ihre Verachtung ausdrückt [02.28.08]. Auf diese sechste Kränkung im Verlauf der Geschichte reagiert Simone mit roher Gewalt und bringt Nadja um. In dieser Reihe von Kränkungen und Simones Reaktionen darauf wird wiederum eine dreistufige Steigerung der Gewalttätigkeit Simones inszeniert, von der Vergewaltigung über die brutale Schlägerei zum Mord. Das Prinzip der paarweisen Bezüge zwischen erzählerischen Elementen wird in diesem Film verschiedene Male zur Visualisierung von Prozesshaftigkeit im intrapersonellen Veränderungsprozess Simones eingesetzt. In den Beziehungen zwischen den Teilen einer Doppelung werden dabei Veränderungen oder auch Kontraste aufgebaut, die auf Veränderungen Simones und seiner Situation hinweisen. Im opening 180
und im ending des Films wird eine Familienfeier inszeniert. Beide Feiern platzen, da ein unerwarteter Besuch in die Feier eindringt und die Situation sich dadurch grundlegend wandelt. Bei der ersten Feier erscheinen plötzlich die Parondis; es kommt zum Streit und die Verlobungsfeier platzt [00.10.37]. Während der zweiten Familienfeier kommt Simone zurück nach Hause und gesteht seinen Mord [02.37.24]. Eine zweite Paarung szenischer Momente wird im Rahmen von Simones Boxtraining aufgebaut. Dabei steht Simone jeweils an der Tür zum Umkleideraum, wenn zunächst er selbst und später Rocco als Boxkämpfer ausgewählt werden [00.34.15, 01.25.45]. Rocco steht in beiden Szenen vor dem Spiegel und boxt mit seinem Spiegelbild. In der ersten Szene wird Simone, in der zweiten Rocco vom Trainer ausgesucht. Beide Szenen haben sowohl sich wiederholende als auch gegensätzliche gestalterische Anteile, welche die Veränderung von Simones Situation deutlich werden lassen. Eine weitere Doppelung wird mit der Inszenierung von Boxkämpfen im erzählerischen Material etabliert: Rocco und Simone werden jeweils zwei Mal in Wettkampfsituationen im Boxring gezeigt. Simone gewinnt den ersten Kampf und kapituliert beim zweiten [00.37.08, 01.27.39]. Rocco siegt in beiden Kämpfen [01.53.26, 02.27.38]. In dieser Doppelung der Szenen und in der Verschiedenheit ihres Ausgangs wird der unterschiedliche Weg der beiden Brüder verdeutlicht. Eine weitere paarweise Konfiguration besteht zwischen den Gewalttaten, die Simone an Nadja begeht: Die Vergewaltigung und der Mord [01.36.43, 02.30.16]. Die eklatante Eskalation, die zwischen diesen beiden Gewalttaten existiert, verweist auf Simones fortschreitende innere Veränderung. In Taxi Driver zeigen sich durchaus Ordnungsprinzipien im erzählerischen Material durch Reihungen und Trilogien. Jedoch sind die Gestaltungsmuster dieser Ordnungsprinzipien nicht so prägnant und komplex gestaltet wie in Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Kleine Fluchten und Das Piano. Dies liegt daran, dass die Reihungen und Trilogien szenischer Elemente, die zueinander in Bezug stehen, nicht so sehr auf der Ähnlichkeit visueller Anteile der Inszenierung verschiedener Situationen beruhen, sondern auf Konfigurationen von Handlungsaspekten, die sich in ähnlicher Weise wiederholen. Die Konfigurationen erzählerischer Elemente und die darin angelegten Veränderungen nach den Prinzipien difference und disunity sind in einem weit verzweigten Netz von Handlungsverläufen und bestimmten dramatischen Ereignisfiguren darin aufgebaut. Einige dieser Reihungen erstrecken sich über die gesamte Länge des Handlungsverlaufs. Eine zentrale Reihung szenischer Elemente wird über das variierende szenische Thema „Kontaktaufnahme und Begegnung“ konfiguriert. Handlungen mit diesem inhaltlichen Ereigniskern spielen während Travis’ Taxifahrten und in verschiedenen Alltagssituationen. Während der meisten dieser Begegnungen kommt es zu Irritationen – sie nehmen einen absurden Verlauf oder misslingen völlig. Schon in der ersten Szene, die Travis im Dialog mit einer anderen 181
Figur zeigt, erfährt er eine Zurückweisung: Als Travis versucht, einen Scherz zu machen, weist ihn der Taxiunternehmer brüsk ab [00.02.15]. Die Frau an der Kinokasse lehnt sein Kontaktangebot ab und droht ihm mit dem Manager [00.07.37]. Travis beteiligt sich nicht aktiv an den Gesprächen seiner Kollegen. Sie bieten ihm an, sich am Gespräch zu beteiligen, er beschränkt sich jedoch auf ein paar Sätze und sitzt sonst nur dabei [00.14.10]. In den Dialogen zwischen den Taxifahrern wird das Thema „Kontaktaufnahme“ auf zahlreiche Weisen variiert: Die Kollegen erzählen von ihren Erlebnissen mit den Fahrgästen und vor allen Dingen von ihren Begegnungen mit Frauen [00.14.40]. Travis wird bei verschiedenen Begegnungen mit seinen Fahrgästen gezeigt. Dabei variiert die Atmosphäre, in der die Kontakte sich ereignen: Manche Kunden sind schweigsam [00.12.40], mit Palantine ergibt sich ein lebhaftes Gespräch [00.26.50], der eifersüchtige Ehemann dirigiert Travis in herrischem Ton [00.38.15]. Travis wird bei seinen verschiedenen Versuchen der Kontaktaufnahme wiederholt verjagt. Diese Reihung szenischer Interaktionsmomente zum Thema „Kontaktversuche und Begegnungen“ steht in direktem Bezug zu Travis’ Veränderungsprozess. In einer längeren Abfolge erzählerischer Momente innerhalb der Reihung wird das szenische Thema „Begegnung und Kontakt“ zunächst nur variiert. Es ist darin noch keine Entwicklung im Sinne der Prinzipien development oder difference aufgebaut. Durch die thematisch verknüpften Szenen werden in Wiederholungen Varianten der Handlungsart „Begegnung“ durchgespielt. In diesen Interaktionsmomenten baut sich der für Travis problematische intrapersonelle Bereich auf, in dessen Spannungsfeld sich seine Veränderung vollzieht. In den szenischen Phantasien, die Travis etwas später vor seinem Spiegel durchspielt, werden ebenfalls Kontaktaufnahmen und Entwicklungen von Begegnungen thematisiert. Diese imaginierten Begegnungen ereignen sich in Form aggressiver Konfrontationen und Travis phantasiert ein Spiel von Provokation und Ablehnung bis zur tätlichen Gewalttat und dem Einsatz seiner Waffen [01.02.39]. Plötzlich reiht sich eine Begegnung in diese Szenenfolge ein, die zu einer sprunghaften Steigerung der Dramatik dieses Themas führt: Travis erlebt zufällig den bewaffneten Überfall auf einen Ladenbesitzer und erschießt den schwarzen Ladenräuber [01.04.43]. Bei seinem Amoklauf setzt Travis seine Gewaltphantasien in die Tat um [01.33.48]. Am Ende des Films wird das Thema „Kontakt und Begegnung“ wiederum in einer szenischen Interaktion aufgegriffen und dabei in einer unverändert von Irritationen und Scheitern behafteten Situation inszeniert. So wird die Reihung der Variationen über „Kontaktversuche und Begegnungen“, die sich über die beiden ersten Drittel des Films erstreckte, wieder aufgegriffen und fortgeführt: Betsy steigt in Travis’ Taxi ein [01.43.00], es kommt zu einem kurzen Dialog, den Travis jedoch ins Leere laufen lässt. Eine weitere Reihung, die einen zentralen Aspekt von Travis’ innerer Veränderung thematisiert, zeigt Ereignisse, die Travis während seiner Taxifahrten beobachtet: Straßenszenen mit aggressiven und gewalttätigen Situatio182
nen. Genau dieses Phänomen gewalttätiger Aggression ist es, welches als Ausdruck Travis’ intrapersoneller Wandlung in seinem eigenem Verhalten eskaliert. Travis’ Veranlagung zu solch aggressivem Verhalten wird deutlich, als er den Ladenräuber tötet. Hier zeigt sich, dass Travis dazu tendiert, sein aggressives Potenzial, das er bisher in seinen Phantasien auslebte, nun in konkrete Handlungen umzusetzen. In der Tötungsszene ist wiederum das Prinzip des Kontrasts innerhalb der Reihung von Szenen mit aggressiven Ereignissen inszeniert. Kommt es in Travis’ Phantasien und in den gewaltgeladenen Straßenszenen zu direkten Konfrontationen zwischen gewalttätigen Personen, so ereignet sich im Lebensmittelladen weder eine direkte Konfrontation, noch ein Zweikampf: Travis erschießt den Ladenräuber von hinten. Eine auffällige Doppelung im Handlungsverlauf wird in Travis’ Begegnungen mit Betsy und Iris aufgebaut. Der Verlauf dieser Begegnungen führt in beiden Fällen über ähnliche Stationen und Entwicklungen. Innerhalb dieses Ereignisgangs wird das Prinzip der Trilogie bzw. der vierteiligen Reihung als Ordnungsprinzip eingesetzt. In Kombination hierzu wird durch difference und disunity ein starker Kontrast zwischen der ersten und dritten bzw. vierten Begegnung etabliert. Travis’ Aufmerksamkeit fällt zufällig auf die beiden Frauen. Travis trifft sich mit beiden je zwei Mal. Dazwischen kommt es zu einer Annäherung, bei der dritten Begegnung dann zur aggressiven Eskalation und in deren Folge zum Abbruch des Kontakts. Eine eklatante Steigerung wird dabei im Vergleich zwischen der Art der aggressiven Eskalation bei der Begegnung mit Betsy und der mit Iris aufgebaut: Betsy lehnt es nach dem Kinobesuch ab, mit Travis noch weiteren Kontakt zu haben [00.34.00]. Die vierte Begegnung zwischen Betsy und Travis, wenn er versucht, sie an ihrem Arbeitsplatz zur Rede zu stellen, endet mit Travis’ Hinauswurf [00.37.02]. Bei seiner dritten Kontaktaufnahme zu Iris kommt es zu dem Amoklauf und Travis „befreit“ Iris [01.33.48]. Diese dreistufige Veränderung wird in einer weiteren Konfiguration szenischer Elemente mit vergleichbarer Prozesshaftigkeit eskalierender Interaktionsverläufe konstruiert: Travis’ Anwesenheit bei Wahlkampfveranstaltungen des Kandidaten Palantine wiederholt sich drei Mal: In voller Kampfmontur geht Travis beim ersten Mal auf eine Wahlveranstaltung und spricht dort einen Mitarbeiter des Civil Service an [00.58.13]. Das zweite Mal beobachtet Travis eine solche Veranstaltung von seinem Taxi aus [01.08.03]. Auf der dritten Kundgebung erscheint Travis wiederum in seinem Kampfanzug. Der Mitarbeiter des Civil Service wird auf ihn aufmerksam. Mitgezogen von der Menge nähert sich Travis dem Kandidaten und scheint ein Attentat ausüben zu wollen. Als die Männer des Civil Service auf ihn zugehen kehrt er um und läuft davon. Auf diese Szene folgt sein Amoklauf im Stundenhotel von Iris. Die beschriebenen Trilogien bilden visuelle Äquivalenzen zum inneren Veränderungsprozess von Travis. Es sind ähnliche Entwicklungen festzustellen, da jeweils aggressive Handlungen Begegnungen eskalieren lassen. 183
5.10 Transformationen des JOJUJBMUFSN In der Gesamtschau auf die Analyseergebnisse von 5.9 wird deutlich, dass jeweils bestimmte Anteile erzählerischer Inhalte und gestalterischer Elemente in den verschiedenen Beispielfilmen mit Hilfe der fünf formalen Prinzipien konfiguriert werden. Betrachtet man die erzählerischen Themen und die dramatischen Ereignisfiguren, die innerhalb dieser Reihungen, Doppelungen und Trilogien behandelt werden, können dafür zusammenfassende Überbegriffe benannt werden. Der Bedeutungskern dieser Begriffe erfährt im Lauf der Reihungen mehrere Transformationen. Für diese gestalterischen Strukturen kann eine klare Korrespondenz zur Visualisierung des mehrphasigen Geschehens der intrapersonellen Wandlung der Hauptfigur nach Branigans Definition des initial term herausgearbeitet werden (Branigan 1992: 6). In den Filmanalysen wurde festgestellt, dass eine Geschichte mehrere initial terms aufweisen kann, die im Verlauf der Ereignisse eine Vielzahl von Transformationen durchlaufen können. Nur in einem Fall – Rocco und seine Brüder – ergab die Analyse einen einzigen initial term. In den anderen Filmen erfahren jeweils zwei oder drei erzählerische Themen mehrfache Transformationen. Die initial terms aller acht Beispielfilme lassen sich als kleinste beschreibbare Handlungseinheit erfassen. In allen untersuchten Filmen finden sich mehrere solcher zentralen erzählerischen Elemente, deren Bedeutungswandel mit dem Prozess der intrapersonellen Veränderung der Hauptfigur korrespondiert. Der Film Rocco und seine Brüder bildet eine gewisse Ausnahme in Bezug auf die Ausformung der initial terms. In Bezug auf die visuelle Inszenierung der initial terms und ihrer Transformationen lassen sich die ausgewählten Filme in zwei Gruppen einteilen: Fünf Filme kennzeichnet eine sehr deutlich strukturierte visuelle Inszenierung der zentralen Begriffe und ihrer Bedeutungswandlungen (Das Piano, Taxi Driver, Kleine Fluchten, Dead Man, Betty Blue). Hier können die Transformationsstufen der initial terms anhand bestimmter szenischer Ereignisse beschrieben werden – ein Vorgang, eine wiederkehrende Ereignisart oder eine Handlung werden dabei wiederholt und in Variationen im plot präsentiert. Auf der Grundlage dieser Handlungsmomente kann nun ein Begriff für einen initial term innerhalb der filmischen Erzählungen gebildet werden. In der Zusammenschau dieser Wiederholungen und Variationen wird die grundlegende Bedeutungsveränderung des initial term erkennbar. Die zweite Gruppe bilden Breaking Glass und Der mit dem Wolf tanzt. Hier können ebenfalls initial terms auf der Basis narrativer Ordnungsstrukturen herausgearbeitet werden, doch zeigen die Analyseergebnisse, dass in diesen Filmen jeweils zwei initial terms benannt werden können. Der erste ist in seinen Transformationsstufen anhand der visuellen, szenischen Zusammenhänge ablesbar. Der zweite bildet ein ebenso zentrales Element im Zusammenhang mit dem geschilderten intrapersonellen Wand184
lungsprozess. Dieses zweite zentrale erzählerische Thema ist dabei jedoch weniger über stringente, kontinuierlich etablierte visuelle Momente im Verlauf der filmischen Geschichte aufgebaut, sondern vielmehr innerhalb der Gesamtkonstruktion aus plot und story. Der zweite initial term steht in direktem inhaltlichen Bezug zum ersten, weist jedoch einen erheblich höheren Abstraktheitsgrad auf. Diese übergeordnete Bedeutungskategorie wird nicht ausschließlich über Reihungen von Handlungsmomenten im plot visualisiert, sondern über die impliziten Zusammenhänge zwischen story und plot aufgebaut. Rocco und seine Brüder steht, wie bereits erwähnt, in Bezug auf die Analyse des initial term für sich allein: Zwar lässt sich in Bezug auf die gesamte Erzählung ein zentraler initial term herausarbeiten, doch ist dieser von übergeordneter Abstraktheit und wird nur in der Gesamtschau von story und plot auf übergeordneter Ebene etabliert: Ein durch die Reihung szenischer Ereignisfiguren und ihre Wiederkehr in transformierter Form etablierter initial term existiert in diesem Film nicht. Das Geschehen des charakterlichen Wandlungsprozesses Simones stellt innerhalb der Konstruktion des initial term mit hohem Abstraktionsniveau wiederum eine Stufe der mehrmaligen Transformation dar. Für die Darstellung der Analyseergebnisse wird nun folgendermaßen vorgegangen: Für zwei Filme aus der ersten Gruppe wird eine ausführliche Ergebnisdarstellung gegeben (Das Piano, Taxi Driver). An diesen Werken lassen sich die visuellen Gestaltungsmuster, über welche die Etablierung des initial term erfolgt, besonders deutlich erläutern. Die Analyseergebnisse der drei anderen Filme werden kurz zusammengefasst und mittels ausgewählter Beispiele belegt. Für die zweite Gruppe werden die Analyseergebnisse von Der mit dem Wolf tanzt ausführlicher dargestellt, ergänzt durch wenige kurz zusammengefasste Beispiele aus Breaking Glass. Am Schluss der Erläuterungen werden noch kurz die übergeordneten Begriffe der initial terms in Rocco und seine Brüder erläutert, um die Verschiedenheit seiner visuellen Struktur und Inszenierung im Vergleich zu den anderen Filmen zu verdeutlichen. In Das Piano können drei initial terms herausgearbeitet werden, bei Taxi Driver hingegen ist es ein einzelner zentraler Begriff, auf dem die erzählerischen Transformationen aufgebaut werden. In beiden Filmen erfahren die initial terms jeweils mehrere Transformationen, deren visuelle Konstruktionen dabei ähnlich komplex strukturiert sind. Die drei initial terms in Das Piano lassen sich mit den Kategorien „tauschen“, „trennen“ und „berühren“ beschreiben. Sie erfahren im Verlauf der Ereignisse einen mehrmaligen Bedeutungs- und Zusammenhangswechsel. Anhand der Figurenkonstellation und der Zugehörigkeit des Pianos lässt sich die Kategorie des Tausches – die zudem mehrere Erscheinungsformen durchläuft – beschreiben.
185
Tabelle 2: Das Piano: Figurenkonstellationen und Zugehörigkeit des Pianos Transformationen eines initial term
Als weiterer initial term kann das Phänomen der Berührung herausgearbeitet werden. Diese interpersonelle Geste erfährt im Laufe der Geschichte wiederholt einen Bedeutungswandel. Ada vermeidet Berührung durch andere Menschen und schreckt sogar davor zurück. Als sie von den Skippern an Land getragen wird, ist ihr deren Berührung sichtlich unangenehm [00.04.25]. Als die Maori versuchen, sie zu berühren, erschrickt 186
sie und erstarrt dabei [00.11.26]. Allein ihr Piano und ihre Tochter berührt sie zärtlich. Zwischen ihr und ihrem Ehemann Stewart finden hingegen keine Berührungen statt. Im weiteren Verlauf wird die Geste des Berührens zum Tauschobjekt gegen die Tasten des Pianos [00.47.10]. Ada lässt sich von Baines berühren. In einer Unterrichtsstunde nimmt sie Baines ihre Jacke weg, die dieser zärtlich berührt hatte [00.51.15]. Als sie sich danach wieder dem Piano zuwendet und die Tasten berühren will, verwehrt ihr Baines dies, indem er den Deckel schließt [00.52.37]. Als Ada mit Stewart in der Theatervorstellung sitzt, berührt sie vor Baines’ Augen demonstrativ Stewarts Hand [00.55.45]. In der folgenden Szene gibt Baines ihr das Piano zurück und kündigt so den Tauschhandel auf [01.03.30]: Er will sie unter diesen Bedingungen nicht mehr weiter berühren. Ada entscheidet sich nun, Baines ihre Liebe zu gestehen – beide berühren sich im Liebesakt [01.13.05]. Stewart erfährt von ihrem Verhältnis. Er folgt seiner Frau auf dem Weg zu Baines und versucht gewaltsam, sie dazu zu bringen, seine Berührung zuzulassen [01.18.35]. Stewart sperrt Ada in sein Haus ein, um weitere Begegnungen der beiden Liebenden zu verhindern. Ada sehnt sich nach Baines und berührt nachts im Schlaf zärtlich ihre Tochter [01.22.27]. Ada wacht auf und bemerkt, was sie tut. Sie steht auf, geht zu ihrem Mann und beginnt, diesen zärtlich zu berühren [01.22.54], doch darf Stewart Ada hingegen weiterhin nicht berühren. Als er ein zweites Mal versucht, den Beischlaf mit Ada zu erzwingen, gelingt es ihr, ihn durch ihre Blicke davon abzuhalten [01.38.00]. Daraufhin lässt Stewart Ada frei – Ada und Baines kommen nun zusammen. Baines greift im Kanu zärtlich nach Adas Fingern [01.45.28]. Sie küssen und umarmen sich auf der Veranda ihres gemeinsamen Hauses [01.50.50]. Als dritte Variante eines initial term kann in diesem Film folgender, sich in mehreren veränderten Bedeutungen ereignender Vorgang herausgestellt werden: Ein Zustand des Gebundenseins entwickelt sich zu einem Trennen und Ablösen. Ada zerschneidet die Schnürsenkel von Floras Rollschuhen, statt sie auf zu flechten und so zu lösen [00.02.45]. Die Rollschuhe kann Flora nicht nach Neuseeland mitnehmen. Ada muss sich zunächst von ihrem Piano trennen und es am Strand zurücklassen [00.14.13]. In den Stunden bei Baines trennt sie sich nach und nach von ihren Kleidungsstücken. Baines trennt sich von dem Piano, als er auf die zunächst ausgehandelte Weise Ada nicht mehr an sich binden möchte [01.03.30]. Ada löst eine Taste aus dem Instrument heraus und sendet Baines damit eine Liebesbotschaft [01.29.00]. Stewart erfährt von der Liebe zwischen seiner Frau und Baines und hackt daraufhin Ada einen Finger ab [01.33.30]. Als Ada mit Baines vom Strand abfährt, ist das Piano mit Tauen fest auf das Kanu gezurrt [01.44.20]. Ada fordert Baines und die sie begleitenden Maoris auf, die Taue zu lösen und das Instrument ins Meer zu stürzen [01.45.45]. Das Piano versinkt im Meer, und das sich dabei schnell abwickelnde Tau umfasst Adas Fuß [01.46.50]. Sie wird vom Gewicht des sinkenden Pianos aus dem Boot und in die Tiefe gerissen. Ada kann sich von dem Seil befreien, indem sie ihren Schuh abstreift [01.47.53]. Die Gründe 187
des Trennens und Ablösens werden transformiert – der Vorgang des Trennens weist dabei verschiedene Bedeutungszusammenhänge auf. Die erste und vorletzte Transformation, das Abschneiden der Rollschuhe und das Abstreifen des Schuhs, bedeuten das Abtrennen von etwas, das ganz zurückgelassen und aufgegeben wird. Dies ist die Kernereignisfigur in Adas intrapersonellem Wandlungsprozess: Ada löst ihre emotional-sinnliche Fixierung auf das Piano, gibt ihre Weigerung zu sprechen auf, öffnet sich für die Liebesbeziehung mit Baines und lernt das Sprechen [01.50.00]. Im Lösen von dieser Selbsteinschränkung vermittelt sich die letzte Stufe dieses initial term. Im Verlauf der übrigen Transformationen wird der Vorgang des Trennens und Ablösens jeweils unterschiedlich konnotiert. Folgende Varianten werden inszeniert: Ada wird zwei Mal zwangsweise von etwas getrennt – im opening ist es das Piano, im ending ist es Baines. In beiden Fällen sehnt Ada sich sehr nach dem von ihr getrennten Objekt. Sie gibt aufgrund ihrer Abmachung mit Baines nach und nach die Stücke ihrer Kleidung her, weil sie ihr Piano zurück bekommen will. Baines wiederum trennt sich von dem Piano und löst so die Bindung Adas an die Abmachung auf. Ada trennt eine Taste aus dem Piano heraus, um Baines ihre Gefühle mitzuteilen. Als Stewart Ada einen Finger gewaltsam abtrennt, bedeutet dies eine unwiederbringliche Trennung und den Verlust dieses Körperteils. Den letzten Vorgang einer Trennung, der sich in diesem Film ereignet, entscheidet Ada freiwillig: Sie trennt sich endgültig von ihrem Piano. Auffällig ist, dass die initial terms und ihre Transformationen anhand szenischer Ereignisse im plot deutlich nachvollziehbar aufgebaut und inszeniert sind. Dabei bilden die drei Erscheinungsformen des initial term jeweils Analogien zum Geschehen innerhalb der intrapersonellen Wandlung der Hauptfigur bzw. symbolisieren und visualisieren diese. In der Analyse des initial term in Taxi Driver lässt sich die Kategorie „Kontaktaufnahme und Begegnung“ herausarbeiten. In mehreren Bedeutungswandlungen dieser interpersonellen szenischen Situationen entfaltet sich Travis’ Situations- und Verhaltensänderung als dramatische Entwicklungsfigur. Dabei erfahren die mit den Szenen verbundenen Bedeutungskonnotationen starke Veränderungen – die soziale Qualität der Begegnungen reicht von freundlicher Annäherung bis zu aggressiver Konfrontation mit tödlichem Ausgang für einen der Akteure. Travis lebt isoliert und sehnt sich nach Kontakt zu anderen Menschen. Er versucht, Frauen kennen zu lernen. Es gelingt ihm, Betsy zwei Mal zu treffen. Doch als er mit ihr in ein Pornokino geht, weist sie ihn zurück und bricht den Kontakt ab [00.22.06, 00.31.33]. Nach diesem Ereignis durchlebt Travis sehr verschiedene Entwicklungen beim Kontakt zu anderen Menschen. Die meisten Begegnungen werden von Irritation und Scheitern geprägt. Nach einer Phase der Latenz, in der Travis keine aktive Kontaktaufnahme mehr versucht, schlägt sein Verhalten um und er sucht nach aggressiven Konfrontationen. Zunächst phantasiert er nur gewalttätige Begegnungen [01.02.39]. In diesen Szenen lehnt er – zum Teil gewalttätig – die Kontaktversuche 188
anderer ab. Im weiteren Verlauf folgen diesen Gewaltphantasien reale Taten: Travis erschießt einen Ladenräuber [01.05.10]. Während eines Amoklaufs erschießt er drei Männer. Sein anschließender Selbstmordversuch misslingt [01.33.48]. Am Ende lebt Travis wiederum isoliert. Die Transformationen des initial term werden in Taxi Driver in zahlreichen szenischen Situationen entwickelt. Drei verschiedene Gruppen von Handlungszusammenhängen, in denen Teilaspekte dieser Transformationen aufgebaut werden, können beschrieben werden: Travis’ berufliche Tätigkeit, das Taxifahren, bildet den ersten Interaktionsrahmen, in dem der Ereigniskern des initial term – „Kontaktaufnahme und Begegnung“ – immer wieder inszeniert wird. Das setting dieser Handlungsrolle rahmt die zufälligen Begegnungen, die sich für einen Taxifahrer sowohl zweckgebunden als auch zwangsläufig ergeben. Diese Begegnungen prägt im festgelegten Interaktionsrahmen eine starke Ambivalenz von Distanz und Isolation, sie sind als Basis für zwischenmenschliche Begegnungen wenig geeignet. In den Szenen, die Travis als Taxifahrer während seiner Arbeit zeigen, wird der initial term „Kontaktaufnahme und Begegnung“ in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen inszeniert. Versucht der Fahrgast außer beim notwendigen Informationsaustausch über das Fahrziel keine Kontaktaufnahme, bleibt Travis als Person isoliert. Es entsteht keine „Begegnung“, obwohl sich hier zwei Personen räumlich sehr nah kommen [00.12.40]. Dabei kann es innerhalb dieser künstlich herbei geführten Nähe durchaus zu Grenzüberschreitungen kommen, bei der die natürliche soziale Distanz zwischen Fremden nicht mehr gewahrt wird.
Tabelle 3: Taxi Driver: Szenische Interaktionen in Travis’ Taxi und deren verschiedene Bedeutungskonnotationen - Transformationen eines initial term 189
In mehreren szenischen Interaktionen in Travis’ Alltagsleben außerhalb seiner Arbeitszeit werden weitere Transformationen des initial term „Kontaktaufnahme und Begegnung“ aufgebaut: Travis erlebt und initiiert Begegnungen sehr unterschiedlicher Qualität und Entwicklung. Meist scheitern seine Kontaktaufnahmen, Travis bleibt so isoliert und allein wie am Beginn der Geschichte. Im letzten Drittel der Transformationskette kommt es zu einer sukzessiven Steigerung von Aggressivität und Gewalt in den Begegnungen, und am Ende der Eskalation zu seinem Amoklauf.
Tabelle 4: Taxi Driver: Begegnungen zwischen Travis und anderen Figuren (außerhalb des Taxis) mit verschiedenen Bedeutungskonnotationen - Transformationen eines initial terms 190
Die dritte Gruppe szenischer Zusammenhänge, in denen das zentrale erzählerische Thema „Kontaktaufnahme und Begegnung“ in Taxi Driver variiert und transformiert wird, besteht aus einer Reihe von Ereignissen und Handlungen in Travis’ Ein-ZimmerWohnung. Während die Taxifahrten geprägt sind von der Ambivalenz zwischen Isolation bei gleichzeitiger Anwesenheit anderer Personen und einer übergroßen Nähe zwischen einander Fremden, so ist Travis’ Wohnung der Ort vollkommener Isolation. Er ist dort stets allein, in seiner Phantasie aber häufig beschäftigt mit Begegnungen und Kontaktaufnahmen. In diesen Szenen werden visuelle Metaphern für Travis’ Wünsche, Sehnsüchte und Impulse in Szene gesetzt – zugleich deutet sich im Verlauf dieser filmischen Momente die Kippfigur in Travis’ sozialem Verhalten an. Er tagträumt von Betsy, die er nur einmal aus der Ferne gesehen hat [00.09.34]. Er sitzt vor seinem Fernsehapparat und sieht Sendungen, die Menschen in direktem Kontakt miteinander zeigen: Palantine spricht mit einem Journalisten [00.47.18], Tanzpartner bewegen sich eng umschlungen [01.06.40], ein Paar spricht über Liebe, Verbindung und Trennung [01.10.50]. Beim Training mit seinen Schusswaffen phantasiert Travis Szenen aggressiver Begegnungen und gewalttätiger Konfrontationen [01.02.39]. Er schreibt seinen Eltern einen Brief und erzählt ihnen darin von seiner Freundin, obwohl er allein ist [01.09.42]. Travis zielt mit der Waffe auf ein TV-Bild von sich umarmenden Tanzenden [01.06.33] und „beendet“ den Dialog eines Paares über Liebe und Trennung, indem er das TV-Gerät zerstört [01.11.00]. Auch im Pornokino zielt er mit seiner Hand wie mit einer Pistole auf die Leinwand [00.55.51], auf der gerade zwei Menschen beim sexuellen Akt gezeigt werden. Travis scheint seine ungestillte Sehnsucht nach Kontakt und die Frustration über erlebte Ablehnungen in seinen Phantasien von aggressiven Begegnungen und gewalttätigen Konfrontationen zu kompensieren. In diesen imaginierten Interaktionen ist stets er derjenige, der sein Gegenüber zurück weist. Später setzt er diese Zerstörungsphantasien in reale Taten um und tötet dabei andere Menschen. Die Inszenierung dieser Mordtaten bebildert die letzte Transformationsstufe des initial term in Taxi Driver. Dabei kommt es zur völligen Umkehrung der ursprünglichen Bedeutung von Szenen der Begegnung und Kontaktaufnahme, denn die Tötung eines Menschen ist zugleich direkte Konfrontation und Vernichtung des anderen. Jede Möglichkeit von Kontakt ist damit unmöglich geworden. In Kleine Fluchten, Dead Man und Betty Blue können jeweils ein initial term bzw. mehrere solcher zentraler Begriffe herausgearbeitet werden. Über Inszenierungen von Varianten dieser Kernereignisfiguren werden die entsprechenden Bedeutungskonnotationen transformiert. Die zentralen erzählerischen Begriffe in Kleine Fluchten können mit den Kategorien „In-Bewegung-Kommen“ und „Erreichen-des-Gipfels“ benannt werden. In Transformationen des ersten initial term wird deutlich, dass es sowohl um äußere 191
als auch um innere Bewegungen geht. Im stufenweisen Veränderungszyklus des zweiten initial term kommt es zu einer Relativierung der klassischen Konnotationen dieses Begriffs. Zunächst einige Beispiele aus der Reihe mehrmaliger Bedeutungswechsel der Kategorie „In-Bewegung-Kommen“: Bewegung ist schwer zu initiieren [00.22.31], sie kann beflügeln [00.28.52], sie drängt nach Freiheit [01.21.31] und kann zu Kollisionen führen [01.36.44]. Die Kraft der Bewegung hat ihre eigenen Gesetze und Wirkungen [00.57.54]. Die größte innere Bewegung kann sich in Momenten vermeintlich totalen Stillstands ereignen. Pipes charakterlicher Entwicklungsprozess visualisiert sich in der szenischen Darstellung durch Transformation des initial term. Entfernung und Geschwindigkeit sind Faktoren in Pipes Geschichte, die mit seiner intrapersonellen Entwicklung metaphorisch korrespondieren: Am Beginn des Films unternimmt Pipe erste Schritte heraus aus seinem Stillstand. Nach und nach dehnt er seinen Bewegungsradius aus. Es kommt wieder zu Stillstand und Krise. Danach erfolgt die Wiederaufnahme von Bewegung in äußerst kleinem Maße. Doch im nächsten Moment ereignet sich die größte und schnellste Bewegung Pipes, sein Flug mit dem Helikopter. Seine letzte Bewegung endet dann in einer Ruheposition. Und so bilden das erste und das letzte Bild des Films eine inhaltliche Klammer um den bewegten Veränderungsprozess: Zu Beginn ist der Misthaufen zu sehen und man hört den Bauern, seine Frau und seinen Sohn auf dem Hof nach Pipe rufen [00.00.08]. Doch Pipe ist nicht da. Das letzte Bild der Geschichte zeigt, wie Pipe genau dort, auf dem „flachen Gipfel“ des Misthaufens steht [02.08.00]. Er hat im Verlauf seines Erfahrungsprozesses an innerer Bewegungsfreiheit, Erkenntnis, Durchsetzungskraft und mehr Eigenständigkeit gewonnen. Ein Gipfel ist bezwungen – und Pipe weiß nun, dass dieser Gipfel flach und begehbar und nicht spitz und unbezwingbar ist. In Dead Man können zwei zentrale initial terms benannt werden: „Töten“ und „Nicht Verstehen“. Die Hauptfigur Blake muss im Laufe der Ereignisse das Töten lernen, um überleben zu können. Zugleich muss Blake im Lauf der Geschichte sein eigenes Sterben akzeptieren. Einige Beispiele der Transformationen des initial term „Töten“ werden im Folgenden aufgeführt: Töten begegnet beim Verdrängungskampf zwischen Menschen (der Kampf der Weißen gegen die Indianer). Töten kann notwendig werden, um das eigene Leben oder das eines anderen zu retten (Blake muss sein Leben mehrmals mit Waffengewalt verteidigen, er erschießt einen der drei Trapper, der seine Waffe auf Nobody angelegt hatte). Das Töten kann als Beruf ausgeübt werden (die drei beauftragten Killer). Töten kann aus perversem Impuls heraus geschehen (Killer Cole). Blake muss andere töten, um selbst friedlich und würdig sterben zu können. Daneben lässt sich im szenischen Material des Films ein zweiter Begriff herausarbeiten, der mehrere Bedeutungswandlungen erlebt: Es ist das Phänomen des „Rätsels“ und des „Nicht-Verstehens“. Blake versteht Vieles nicht, das sich in seinem Le192
ben ereignet. Nach und nach gelingt es ihm – auch durch Nobodys Hilfe – zu akzeptieren, dass Rätselhaftes zum Leben gehört und dass die Anerkennung unerklärbarer Phänomene den Weg zur Erkenntnis bedeutet. Die beschriebenen initial terms dieser Geschichte und ihre Transformationen bilden direkte Bedeutungskonnotationen mit dem charakterlichen Wandlungsprozess der Hauptfigur. Im Fall von Betty Blue können vielschichtig aufgebaute Transformation zweier zentraler initial terms herausgearbeitet werden: „Ver-rückt“ und „Zerstören“. Während des Verlaufs der Handlung werden beide Ereignisfiguren in vielen kleineren und größeren szenischen Interaktionen inszeniert und dabei mit jeweils anderen Bedeutungen konnotiert. In den szenischen Interaktionen, aus denen sich die initial terms herausbilden, geschieht wiederholt und auf verschiedenste Weise Disparates: Es ereignen sich Zufälle, die nicht in den Ereigniskontext passen. Betty gelingt es in der Folge dieser für sie nicht kontrollierbaren Ereignisse nicht, ihre Ziele und Wünsche zu erreichen. Variiert wird in diesen Transformationen zudem der szenisch-kausale Zusammenhang dieser Zufälle. Einige Male gelingt es, das Disparate in die jeweilige Situation zu integrieren und das ver-rückte Ereignis zurecht zu rücken. In anderen Fällen misslingt dies. Die Inszenierung der Momente und Ereignisse scheiternder Integration disparater Ereignisse zeigt die dramatische Entwicklungsfigur von Bettys charakterlicher Wandlung. Dem Disparaten wird in diesen Szenen aggressiv begegnet. In Zerstörungsakten soll das Unpassende vernichtet werden. Die Bedeutung der zerstörerischen Reaktionen auf das Ver-rückte werden mehrmals transformiert. Es kommt auch zu versehentlichen Zerstörungsakten (z. B. die Glasvitrine, das Sofa [01.01.55, 01.01.15]). Gezielte Zerstörungen werden ausagiert, bleiben jedoch ohne Folgen (z. B. die Inbrandsetzung des Strandhauses [00.27.42]). Die beiden letzten Transformationen im Umgang mit etwas Ver-rücktem bedeuten die Eskalation zum Höhe- und Endpunkt der Bedeutungswandlung des initial term. Das Ver-rückte in Betty wird zerstört, sie verstümmelt ihren eigenen Körper [01.37.47], schließlich wird sie von Zorg getötet [01.47.48]. Für Der mit dem Wolf tanzt und Breaking Glass kann jeweils ein zentraler initial term herausgearbeitet werden, der mehrere Bedeutungstransformationen erfährt. Die Analyse beider Filme ergibt zudem, dass jeweils noch ein weiterer, mit dem zentralen initial term thematisch verbundener und sehr viel abstrakterer Begriff visualisiert wird. Dieser Begriff verkörpert keine konkrete Situation oder Handlungsfigur, wie noch die Begriffe „ver-rückt“, „in-Bewegung-Kommen“ oder „tauschen“. Mit dem abstrakteren Überbegriff werden in diesen beiden Filmen Aspekte des gesellschaftlichsozialen Zusammenlebens thematisiert – in Der mit dem Wolf tanzt das Phänomen des Identitätswechsels bzw. der Identitätsfindung, in Breaking Glass verschiedene mögliche Motivationen sozialer Beziehungen. Diese abstrakten Kategorien werden jedoch nicht szenisch visualisiert, sondern entstehen durch Bezüge zwischen 193
dem Gesamtrahmen der story und einzelnen konkreten Zusammenhängen und Ereignissen, in denen sich der erste initial term dieser Geschichten manifestiert. Der zentrale initial term von Der mit dem Wolf tanzt kann mit dem Begriff „Annäherung“ benannt werden. Dabei kommt es zu zahlreichen Begegnungen zwischen den Protagonisten, wobei stets das Phänomen des „Sich-näher-Kommens“ thematisiert wird. Die Konstruktion dieses initial term ist jedoch nicht so komplex wie in Das Piano oder Dead Man. Die szenischen Momente, die den initial term „Annäherung“ im filmischen Material von Der mit dem Wolf tanzt manifestieren, sind im Vergleich weniger stark mit anderen visuellen Anteilen vernetzt. Die Transformationen des initial term von Der mit dem Wolf tanzt verdeutlichen zwei verschiedene Aspekte des Phänomens „Annäherung“: Dabei ist eine Form der Annäherung die an andere Menschen, eine andere die an den „wahren Kern“ der eigenen Person. Hier einige Beispiele für szenische Transformationen beider Aspekte des initial term „Annäherung“: In der zentralen Motif-Reihe wird die Annäherung zwischen Mensch und Tier inszeniert. Zugleich wird in einigen Szenen Dunbars schrittweise Annäherung an die Natur geschildert. Als eine Form der Transformation dieses initial term werden Verweigerung und Unmöglichkeit der Annäherung in Szene gesetzt: Während der Kutschfahrt nach Fort Sedgewick kommt es trotz großer räumlicher Nähe zu keiner Annäherung zwischen Dunbar und dem Kutscher [00.22.41], Dunbar nimmt eine sehr distanzierte Haltung ein. Die ersten Begegnungen Dunbars mit den Indianern werden bestimmt von feindseligem und aggressivem Ton [00.52.15, 01.01.00, 01.04.05]. Mit Hilfe der folgenden szenischen Momente von Begegnung und Annäherung zwischen Dunbar und den Indianern wird der grundlegende Bedeutungswandel dieses initial term inszeniert: Drohgebärden werden von Zeichen tiefer Zuneigung abgelöst, auf die Flucht vor Dunbar folgt seine treue Begleitung, aus diebischen Absichten wird die Begegnung zwischen Freunden mit der Gabe von Geschenken. Die meisten aktiven Annäherungen gehen dabei von Dunbar aus. In vielen dieser Situationen – bei seiner Annäherung an den Wolf, an die Natur, an die Indianer und ihre Lebensgemeinschaft – formulieren sich Dunbars innere Werte, Ziele und Wünsche. In der Gesamtschau dieser szenischen Elemente manifestiert sich der Prozess von Dunbars Identitätsfindung: Zu Beginn der Geschichte zeigen sich sein starker Wille und zugleich seine lebensmüde, selbstmörderische Haltung innerhalb der Zwangsund Zweckgemeinschaft der Armee [00.06.21]. Schritt für Schritt verlässt er diese Identität und legt ihre Insignien ab [00.47.15, 01.59.00, 02.01.26]. Mit zwei kulturell codierten Klischees werden Aspekte von Dunbars neuer Identitätsfindung inszeniert: Seinem indianischen Tanz um das Feuer [02.09.20] und mit der Verleihung seines neuen Namens durch die Indianer [02.15.05]. Dunbars starker Wille kann sich nun frei entfalten – in der Begegnung mit den Indianern findet er seinen wahren Ausdruck und neue Ziele. Der-mit-dem-Wolf-tanzt wird zum Lebensretter und 194
Beschützer, er orientiert sich an den existentiellen Bedürfnissen der indianischen Gemeinschaft – und er wird zum Liebenden, der tiefe Beziehungen und Freundschaften eingeht und dabei Verantwortung übernimmt. Gegen Ende der Geschichte kommt es zur existenziellen Bedrohung seiner neuen Identität, vergleichbar mit der selbstmörderischen Bedrohung an ihrem Beginn. Die letzte Transformation des Themas „Annäherung“ erfolgt am Schluss der Erzählung in einer Umkehrung der Bedeutung dieses initial term: Um die Lebensgemeinschaft der Indianer zu schützen, verlässt er sie [03.37.38]. In Breaking Glass lautet der Begriff für den initial term „Beweggründe für soziale Beziehungen“: Mit wechselnden Figurenkonstellationen werden die Beziehungen Kates und ihre jeweiligen Veränderungen visualisiert. Dabei kommt es zu Transformationen der Motivationen aller sozialen Verbindungen zwischen Kate und anderen. Zu diesem Themenkomplex wird noch ein übergeordneter und abstrakterer initial term aufgebaut, der sich auf eine gesellschaftliche Entwicklung bezieht: Der Songtitel „You are a programme“ und die dazu in Bezug stehenden szenischen Anteile dienen dabei als Klammer. Kate kritisiert in ihrem Liedtext, dass die gesellschaftlichen Bedingungen den Menschen zwingen, wie programmiert zu funktionieren. Im Verlauf der Erzählung gerät Kate selbst in diese Lage: Sie funktioniert nach dem Programm der Musikindustrie – die Ziele der Menschen, die zu ihr in Beziehung treten, bestehen darin, Kate zu manipulieren und eigene, kommerzielle Absichten zu erreichen. Die Menschen, die aus anderen Gründen Beziehungen zu Kate hatten, haben sich von ihr distanziert. Der initial term von Rocco und seine Brüder ist, ähnlich wie in Der mit dem Wolf tanzt und Breaking Glass, über szenische Anteile im plot im Zusammenhang mit der Gesamtkonstruktion der story aufgebaut. Der initial term lässt sich mit zwei Begriffen benennen: „Handeln aus Liebe“ und „Handeln auf der Basis sozialer Werte“. Damit wird deutlich, dass sich auch in diesem Film der initial term und seine Transformationen auf einer abstrakteren Ebene befinden als in Das Piano oder Kleine Fluchten. In der Folge werden einige Beispiele für Transformationen beider initial terms von Rocco und seine Brüder aufgeführt: Die Mutter liebt ihre Söhne und zieht in die Stadt, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Söhne haben die Pflicht, die Familie zu ernähren und zu erhalten. Simone liebt Nadja und ist bereit, für das Zusammensein mit ihr zu bezahlen. Er bestiehlt und verführt die Besitzerin der Reinigung, um Geld für Nadja zu haben. Rocco liebt Simone und ist bereit, für dessen Fehltritte die Verantwortung zu übernehmen. Dabei gibt er sukzessive sein eigenes Leben bis zur völligen Fremdbestimmung auf. Simone vergewaltigt Nadja und schlägt seinen eigenen Bruder bewusstlos. Rocco sieht diese Taten Simones als von dessen Liebe zu Nadja motiviert und trennt sich von ihr. Simones Liebe zu Nadja bleibt jedoch unerwidert und so ermordet er sie. Rocco liebt Simone noch immer und will ihn vor 195
der Verhaftung bewahren. Ciro liebt Simone und übergibt ihn aus diesem Grund der Polizei. In Bezug auf die visuelle Darstellung von Simones intrapersonellem Wandlungsprozess besteht zwischen den beschriebenen Transformationen des initial term und dem Veränderungsprozess der Figur kein direkt proportionaler Zusammenhang wie in den übrigen sieben Beispielfilmen. Im Analyseschritt zum initial term von Rocco und seine Brüder wird deutlich, dass hier über den Wandlungsprozess Simones hinaus ein übergeordneter Veränderungsprozess geschildert wird. Dessen Thema ist die Umformung der gesamten Familien- und Gesellschaftsstruktur und darin enthalten die Entwicklung und Veränderung der Situation jedes einzelnen Familienmitglieds. So werden die sozialen Werte, die eine aus einer ländlichen Region stammende Gemeinschaft verinnerlicht hat, dargestellt. Die Konfrontation mit gänzlich anderen Bedingungen sowie die Wirkungsmechanismen des andersartigen sozialen Wertesystems der Großstadt führen zu Veränderungen im sozialen Handeln der Familienmitglieder. Diese Entwicklungen werden über die Transformationen des initial term visualisiert. Dabei bilden die szenischen Momente, die mit der Figur Simone inszeniert sind, nur einen Aspekt dieses mehrteiligen Transformationsprozesses. Die Bedeutungskonnotationen von Simones Handeln und der Veränderung seiner Situation sind solche des sozialen Abstiegs, des Misslingens von Integration und des Werteverfalls. Simones Handlungsweisen beim Umgang mit den Anforderungen dieses sozialen Veränderungs- und Anpassungsprozesses – und damit auch mit Frustration und Kränkung – indiziert den Verfall sozialer Werte. Im Entwicklungsgang der Figuren Vincenzo oder Ciro hingegen werden Transformationen des initial term präsentiert, die auf mögliche Wege gelingender Anpassung an veränderte Lebensbedingungen und auf eine Neuorientierung an veränderten bzw. neuen sozialen Werten hinweisen.
196
6. Visualisierung charakterlicher Wandlung in ausgewählten Sequenzen der Narration
Für die folgenden Untersuchungsschritte werden aus jedem Beispielfilm mehrere Sequenzen ausgewählt; diese Auswahl basiert auf den bisher gewonnenen Erkenntnissen zur Relevanz der zur Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses dienenden Gestaltungsmuster der erzählerischen Konstruktion. Aus jedem Film wird die Sequenz von opening und ending1 für eine eingehende Untersuchung ausgewählt. Die Länge dieser Abschnitte wird für jeden Beispielfilm anhand der erzählerischen Konstruktion festgelegt. Zudem werden jeweils weitere Szenenanteile ausgewählt, die sich in den bisherigen Untersuchungsschritten als besonders relevant für Aufbau und Visualisierung des charakterlichen Wandlungsprozesses erwiesen haben. Der Verlauf des opening von Taxi Driver erstreckt sich bis zu Travis’ erstem Rendezvous mit Betsy. Das ending beginnt mit der Frühstücksszene mit Travis und Iris. Auffallend ist die Symmetrie der Ereignisfolge: Sowohl am Ende des opening wie am Beginn des ending sieht man Travis, wie er gemeinsam mit einer Frau in einem Lokal ein Gespräch führt. Neben diesen beiden Abschnitten werden alle szenischen Ereignisse untersucht, die sich in Travis’ Wohnung abspielen, dazu kommen kurze Bildsequenzen, die Travis’ subjektive Wahrnehmung zeigen. Die Visualisierung dieser Momente fällt bereits beim ersten Betrachten des Films auf, denn die eingesetzten filmästhetischen Mittel etablieren einen merklichen Verfremdungseffekt. Opening und ending von Breaking Glass lassen sich mit Hilfe der spiegelbildlichen Symmetrie szenischer Ereignisse festlegen: Wie eine Klammer dieser beiden Sequenzen wirken die Szenen der ersten Annäherung und der endgültigen Trennung von Kate und Dany. Die Veränderungen in der Figurenkonstellation bilden eine der zentralen prozesshaften Ereignisfolgen. Darum werden nun diejenigen Szenen für eine vertiefende Untersuchung ausgewählt, die Kate und die Bandmitglieder außerhalb ihrer Konzertauftritte zeigen. Hier zeigen sich Schritt für Schritt Veränderungen der Figurenkonstellation. Die Konzerte der Band selbst werden nicht ausgewählt, da diese Szenen zu stark von Präsentationskonventionen des Genre „Musikfilm“ geprägt sind. Der Einsatz spezieller und für diese Untersuchung relevanter, filmischer Parameter wird hier stark überlagert von visuellen Gestaltungsmustern des Genres. Opening und ending von Betty Blue werden jeweils einseitig begrenzt von gravierenden Zerstörungsakten Bettys: Das opening endet mit dem Abfackeln des Strandhauses, das 197 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
ending beginnt mit dem letzten autoaggressiven Akt Bettys, wenn sie sich ein Auge ausreißt und ins Krankenhaus gebracht wird. Zudem werden all jene Sequenzen, die Bettys aggressives, unkontrolliertes und eskalierendes Verhalten zeigen, ausgewählt. In Rocco und seine Brüder sind opening und ending durch die spiegelbildliche Wiederholung eines Geschehens gekennzeichnet, doch sind die jeweiligen Begleitumstände der beiden Ereignisse sehr verschieden: Nach Simones erstem Boxkampf, den er souverän gewinnt, trifft er Nadja und beide gehen eine intime Beziehung ein. Zugleich zeigt diese Szene zum ersten Mal Simones pflichtvergessenes, unbedachtes und impulsives Handeln, das ein auslösendes Moment für seinen sozialen Abstieg ist. Im Laufe der Erzählung trennt sich Nadja von Simone, doch zu Beginn des ending kommen die beiden wieder zusammen. In dieser Situation besiegelt sich Simones Abstieg. Zusätzlich zu opening und ending werden Sequenzen ausgewählt, die Simones kriminelle Taten, die ihm zugefügten Kränkungen und seine Reaktionen darauf zeigen. Der mit dem Wolf tanzt überschreitet mit der Länge von 220 Minuten die sonst übliche Laufzeit von Spielfilmen zwischen 90-120 Minuten; die an den Entwicklungsphasen des charakterlichen Wandlungsprozesses der Hauptfigur orientierte Festlegung der Ausschnitte von opening und ending ergibt daher ebenfalls recht lange Sequenzen, die in einigen Analyseschritten nur kursorisch durchgesehen und bearbeitet werden können. Das opening endet mit dem ersten – offiziellen und freundschaftlich gestimmten – Besuch der Indianer bei Dunbar. Dies ist der Beginn ihrer Annäherung und Freundschaft. Das ending beginnt mit der Gefangennahme von Der-mit-dem-Wolftanzt durch die U. S. Army und dadurch mit der existenziellen Bedrohung seiner neuen Identität. Auch werden die Szenen der Annäherung zwischen Dunbar und dem Wolf ausgewählt, sowie szenische Teile einzelner Doppelungen und Trilogien. Es handelt sich dabei um die Szenen, die den dreimaligen Besuch der Indianer in Dunbars Posten zeigen, bis er schließlich offiziell von ihnen in ihr Dorf eingeladen wird. Ebenfalls zählen hierzu die filmischen Sequenzen, die Dunbars drei Besuche im Indianerdorf zeigen. Als weitere Trilogie werden die Szenen der drei Aufenthalte von Der-mit-dem-Wolf-tanzt in seinem ehemaligen Posten Fort Sedgewick aufgefasst, als er diesen bereits verlassen hat und mit den Indianern lebt. Zuletzt werden die Szenen zweier Doppelungen für eine eingehendere Analyse herangezogen: Es handelt sich um die jeweils erste und letzte Begegnung zwischen Dunbar und Wind-in-seinemHaar sowie zwischen Dunbar und Strampelnder-Vogel. Opening und ending von Kleine Fluchten werden verklammert durch Anfang und Ende von Pipes Fahrten auf seinem Moped. Das opening endet nach Pipes erster gelungener Mopedfahrt, während der er einen Flug über die Landschaft fantasiert. Das ending beginnt, wenn Pipe die Fahrerlaubnis für sein Moped von der Polizei entzogen wird. Alle Sequenzen, die Pipe bei eigenmächtig entschiedenen Ausflügen, Unternehmungen und Aktionen zeigen, werden ebenfalls untersucht. 198
Das opening von Dead Man endet mit der Beauftragung der Killer durch Dickinson. Die Handlungskonstellation zwischen Verfolgtem und Verfolgern ist somit etabliert. Das ending wird eingeleitet, wenn Blake Nobody ein Gewehr schenkt. Blake hat mit Hilfe Nobodys das Töten gelernt und ist darin zum Meister geworden. Seine Entwicklung ist abgeschlossen. Er schenkt nun seinem Lehrer zum Dank diese wertvolle Waffe. Zudem werden all jene Szenen ausgewählt, die Blake zeigen, wenn er mehrere seiner Verfolger tötet. Besonderes Augenmerk gilt im Rahmen dieser Untersuchung den Dialogen zwischen Nobody und Blake, insbesondere den Anteilen Blakes. Eine dritte Gruppe ausgewählter Sequenzen besteht aus den szenischen Momenten, in denen das Thema „Tabak“ im Mittelpunkt steht. Das opening von Das Piano endet mit Adas Ankunft bei strömendem Regen in der Hütte Stewarts: Nachdem das Hochzeitsfoto gemacht wurde, steht Ada am Fenster und blickt hinaus in den Regen. Vor ihrem inneren Auge sieht sie ihr Piano, das sie am Strand zurücklassen musste, wie es vor den Wellen am Ufer steht. Das erste konflikthafte Geschehen in Adas Wandlungsprozess hat sich dabei ereignet. Wenn Ada gemeinsam mit Baines Stewarts Hütte verlässt, beginnt das ending der Geschichte. Für weiterführende Analyseschritte werden die Szenen herangezogen, die Adas Aufenthalte in Baines Hütte oder in nachdenklichen Momenten ohne weitere szenische Handlungen zeigen.
6.1 Strategien der OBSSBUJWFUSBOTNJTTJPO(EJTDPVSTF) Anhand der ausgewählten Sequenzen wird untersucht, welche Gestaltungsmuster des discourse in den Beispielfilmen für die narrative transmission des charakterlichen Wandlungsprozesses eingesetzt werden. Zugleich wird geklärt, welche Gestaltungsmuster während des Filmverlaufs prozesshaften Veränderungen unterliegen.
6.2 Präsentationsmodi der MFWFMTPGOBSSBUJPO Hier zeigt sich ein sehr heterogenes Ergebnisprofil: Jeder Film weist andere Einsatzarten der Verwendung der levels of narration auf. Es lassen sich jedoch für einige Faktoren bei der Gestaltung von Erzählpositionen Gemeinsamkeiten beschreiben und Vergleiche anstellen. Diejenigen Gestaltungsmuster der levels of narration, welche Relevanz für die Visualisierung des prozesshaften Wandlungsgeschehens aufweisen, werden im Folgenden kurz zusammengefasst und mit Beispielen belegt. Am deutlichsten tritt das parallele Operieren mit mehreren levels of narration unterschiedlicher Hierarchiestufe bei der Visualisierung der intrapersonellen Wandlungs199
prozesse hervor: Dabei werden die nondiegetic narration, die außerhalb der Geschichte und auf höherer Abstraktionsstufe liegt, sowie die darunter angeordnete Position eines diegetic narrator gleichzeitig oder überlappend mit der Wissensvermittlung aus internal focalization surface bzw. depth eingesetzt (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Taxi Driver, Dead Man). Einsatzprofile der levels of narration mit linearer prozesshafter Veränderung und direktem Bezug zur Visualisierung des charakterlichen Wandlungsprozesses lassen sich nur für einen der analysierten Filme – Kleine Fluchten – herausarbeiten. In zwei weiteren – Breaking Glass und Rocco und seine Brüder – kommt es zwar in einigen Erzählabschnitten zu Veränderungen der Einsatzprofile der levels of narration, diese Unterschiede in der Gestaltung der Erzählpositionen weisen jedoch keine prozesshafte Struktur auf. Zwei weitere Filme zeigen zyklische Gestaltungsmuster im Einsatz verschiedener levels of narration, die entsprechend der drei Erzählabschnitte opening, Mittelteil und ending strukturiert sind (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt). In beiden Filmen werden zunächst im opening die Mechanismen äußerst wirksamer Präsentationsweisen – powerful narration – etabliert. Doch tritt im mittleren Erzählabschnitt diese Erzählinstanz sehr in den Hintergrund. Im ending beider Filme tritt wiederum verstärkt eine nondiegetic narration in Aktion, was die Lesart erzählerischer Zusammenhänge erneut stark beeinflusst. Davon ganz und gar verschieden sind die individuellen Profile der levels of narration in Dead Man und Taxi Driver: In Dead Man wird gleich zu Beginn mit der schriftlichen Präsentation eines Sinnspruchs als erstem Bild des Films und über die rhythmisch bei jedem Szenenwechsel eingesetzten Auf- und Abblenden eine äußerst dominante nondiegetic narration etabliert. Für diese Einsatzart der nondiegetic narration, die in der Funktion eines image-maker szenische Episoden wie beim Blättern in einem Bilderbuch aneinander reiht (Metz 1974: 20 nach Branigan 1992: 94), kann jedoch kein direkter Bezug zur Visualisierung des Wandlungsprozesses der Hauptfigur ausgemacht werden. Bei näherer Analyse der erzählerischen Präsentationsweisen kristallisieren sich jedoch für einzelne Momente innerhalb der szenischen Episoden Verwendungsweisen einer nondiegetic narration mit parallel dazu operierendem Einsatz einer internal focalization heraus. Dieser Einsatz von Erzählpositionen korrespondiert mit den inneren Wandlungsprozessen der Hauptfigur. Das Gesamtprofil der levels of narration in Dead Man zeigt jedoch keine prozesshafte Struktur, die sich in einen direkten Bezug zur stufenweisen Wandlung des Protagonisten setzen ließe. In Taxi Driver kommt es zu einem sehr dynamischen, auf den ersten Blick gänzlich heterogenen und sogar unsystematisch scheinenden Einsatz von levels of narration verschiedener Hierarchiestufen. Die Analyse ergibt jedoch durchaus ein System von Mustern. In Folge der hohen Dynamik des Einsatzprofils der levels of narration verwischen die Grenzen zwischen nondiegetischer Erzählposition und einer Wahr200
nehmungsperspektive aus der internal focalization depth. In Kombination mit bildästhetischen Stilmitteln in der Kameraarbeit visualisieren diese Gestaltungsmuster den Kern des charakterlichen Wandlungsgeschehens in Taxi Driver. Die niedrigste Relevanz der levels of narration als Gestaltungsmuster der Visualisierung einer intrapersonellen Wandlung zeigt sich bei Betty Blue: Zwar werden gleich zu Beginn der Geschichte zwei wirksame Erzählpositionen etabliert, jedoch wird in ihrem Operieren bei der Präsentation des erzählerischen Materials keine Dynamik erkennbar, die in einem Bezug zur psychischen Wandlung stehen könnte. Der Protagonist Zorg ist zunächst diegetic narrator, gleichzeitig wird eine nondiegetic narration außerhalb der Geschichte installiert. Zorg tritt als diegetischer Erzähler nach dem ersten Drittel völlig in den Hintergrund, der Einfluss der Nondiegese aber durchzieht den gesamten Filmverlauf, bleibt stets deutlich erkennbar, nimmt aber keinen kommentierenden Einfluss auf die Vermittlung des Wandlungsprozesses. Vielmehr ist diese Erzählfunktion gekennzeichnet von für die Entwicklung zentraler dramatischer Ereignisse irrelevanten Informationen. Dieses Verfahren reflektiert durchaus die dramatischen Veränderungen Bettys, die ja von ihrer Umgebung – und von ihr selbst – nicht als bedenkenswert erkannt werden. Gleichzeitiges Operieren von hierarchisch sehr unterschiedlichen levels of narration als Präsentationsmodus intrapersoneller Veränderungsprozesse Das parallele Operieren mit hierarchisch sehr unterschiedlichen levels of narration ist in vier Beispielfilmen ein wesentliches Gestaltungsmittel zur Visualisierung charakterlicher Wandlungsprozesse (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Taxi Driver). Dabei werden erzählerische Momente präsentiert, die wesentliche Informationen über Ereignisse des Wandlungsprozesses beinhalten. Im Folgenden werden einige zentrale Beispiele beschrieben. Gleich in den ersten Bildern von Das Piano werden drei Erzählpositionen parallel etabliert [00.00.37]. Ada spricht im off über sich und ihre Situation aus der Position eines diegetic narrator. Gezeigt wird dabei ihre subjektive Blickperspektive auf die Innenseite ihrer Finger und Hände, die sie sich vor das Gesicht hält. Hier wirkt die wissensgebende Instanz einer internal focalization surface. Als dritte Erzählinstanz wird in der Bewegung der Kamera und der Montage verschiedener Blickpositionen auf die Szenerie eine nondiegetic narration etabliert. Diese Erzählposition hat freien Zugang zum Wissen und präsentiert sich als unabhängig von zeitlichen und räumlichen Gesetzen: Die Kamera schwebt an einem Baumstamm entlang nach oben, blickt dann plötzlich in einen dunklen Hausflur [00.02.10] und von unterhalb des Wasserspiegels aus untersichtiger Perspektive auf einen Bootsbug [00.04.09]. Diese sehr wirksame nondiegetic narration wird jedoch nicht in allen Abschnitten des Films gleichmäßig eingesetzt: Die internal focalization aus Adas Perspektive ist im ersten Viertel des Films sehr präsent, tritt dann im Hauptteil ganz in den Hintergrund, bevor sie im ending 201
wieder an Präsenz zulegt. Die external focalization hingegen wird während des gesamten Films kontinuierlich verwendet. Wenn es parallel oder im Wechsel zu diesem Kontinuum der external focalization zu einer Aktivität von nondiegetic narration oder internal focalization surface oder depth kommt, sind diese Momente meist recht auffällig, da sie häufig eine ungewöhnliche Perspektive und Kamerabewegung kennzeichnet. Diese visuellen Momente betonen das präsentierte erzählerische Material. Für eine solche Gestaltung von nondiegetic narration seien hier zwei Beispiele beschreiben: Die Kamera befindet sich beispielsweise im Innern der Transportkiste, wenn Ada vorsichtig ihre Hand durch eine Bretterfuge zu den Tasten des Pianos hindurch steckt [00.07.32]. Oder der filmische Blick wird in Stewarts Hosentasche positioniert, wenn er daraus das Medaillon mit Adas Bild hervor holt [00.09.30]. In beiden Szenen sind nondiegetic narration und internal focalization der jeweiligen Protagonisten eng miteinander verwoben. Hierbei entfaltet sich die Grundkonstellation des Konflikts zwischen Ada und Stewart: Ada sehnt sich nach Intimität mit ihrem Instrument und Stewart sehnt sich nach Intimität mit Ada. Ein solches paralleles Operieren mit zwei hierarchisch sehr verschiedenen levels of narration – nondiegetic narration und internal focalization depth – wird in wesentlichen Momenten von Adas innerem Erleben und ihren Wandlungen erkennbar. Aus internal focalization surface schaut Ada auf das am Strand stehen gelassene Piano zurück. Nach dem Umschnitt blickt eine entfesselte Kamera aus nondiegetic narration in einer langen Umfahrt auf Adas Gesicht [00.14.45]. Dabei wird ihre tiefe Bindung an das Instrument visualisiert. Diese innere Situation wird sich im Laufe der Erzählung wesentlich verändern: Das Einsatzprofil der levels of narration wird von der external focalization und – in Dialogen – vom Wechsel zur internal focalization in Form eines subjective view geprägt. Die nondiegetische Erzählinstanz wird bei Schauplatz- und Szenenwechseln aktiv und deutlich wirksam. Innerhalb szenischer Ereignisse an einem Schauplatz findet man diese Erzählposition jedoch kaum. Wie eine visuelle Insel im Fluss der Ereignisse wirkt im weiteren Filmverlauf ein Bild, bei dem die nondiegetic narration deutlich wird: Der Moment vor Adas erstem Gang zu Baines, um ihm Klavierstunden zu geben [00.32.50]. Dabei wird Ada aus der Vogelperspektive gezeigt, wie sie im Grünen sitzt. Ihre Tochter liegt ausgestreckt schräg hinter ihr im Gras. Die Kamera bewegt sich in langsamer Fahrt auf Adas Gesicht zu. Diese Bewegung ist autonom, d. h. nicht durch ein szenisches Geschehen motiviert. Es wird nicht gezeigt, wohin oder worauf sich Adas Blick richtet. In der ersten Inszenierung einer solchen Szene, die aus großer Nähe Adas Gesicht während eines langen Blicks zeigt, schaute sie auf ihr Piano zurück. Eine dritte visuelle Insel zeigt Ada, wie sie ruhig da steht. Kurz zuvor hat ihr Baines das Piano zurückgegeben. Ada steht mit dem Rücken zur Kamera im Freien. Der filmische Blick fährt von hinten und aus einer amerikanischen Einstellungsgröße langsam auf ihren 202
Hinterkopf zu. Im nächsten Bild nimmt die Kamera die Blickposition einer internal focalization depth ein und fährt auf das üppige Grün des Dschungels zu [01.08.09]. Auch in diesem Bild wird ein unsichtbares Geschehen in Adas Innenleben visualisiert – Sehnsucht scheint sie in Bewegung zu setzen und ihr Sinn strebt durch den Dschungel nach Baines. In der darauf folgenden Szene wird Ada während ihres inneren Entscheidungsprozesses gezeigt. Dann handelt sie gemäß ihrer veränderten Bedürfnisse und geht zu Baines [01.08.42]. Nun motiviert nicht mehr das Piano ihren Gang zu Baines, sondern ihre Liebe zu diesem Mann. Beide in sehr wirksamer nondiegetic narration inszenierten Bilder von Ada bilden einen visuellen und zeitlichen Rahmen für die Begegnungen zwischen Baines und Ada während der Klavierstunden. Dabei tritt die nondiegetische Erzählposition eher in den Hintergrund und wird nur in ganz wenigen – für den Wandlungsprozess aber wesentlichen – Momenten aktiv; so auch, wenn in einer langsamen Fahrt im Schuss-Gegenschuss-Verfahren auf Ada und Baines die innere Annäherung beider während der neunten Begegnung in Baines Hütte inszeniert wird [01.10.32]. Auch diese Kamerabewegung ist nicht durch szenische Ereignisse motiviert, sondern drückt das innere Erleben beider Protagonisten aus. In zwei anderen zentralen Schritten von Adas Veränderungsprozess, der zur Liebesbeziehung mit Baines führt, wird parallel zu internal focalization surface und external focalization eine omnisziente Erzählposition aktiv, die jeweils aus der Nondiegese auf zwei zeitgleich ablaufende Ereignisse blickt [01.01.07, 01.13.55]. Zunächst Flora, dann nähert sich auch Stewart Baines’ Hütte, in der es zwischen Ada und Baines zunehmend zu körperlicher Nähe und Intimität kommt. Dieses Geschehen wird in external focalization präsentiert. Ein omniszienter Blick zeigt Flora und Stewart vor der Hütte. In beiden Szenen wird in internal focalization Floras und Stewarts – die jeweils durch eine Öffnung in der Bretterwand blicken – eine Sicht auf die intime Begegnung zwischen Ada und Baines inszeniert. Die letzte Wandlungsphase Adas ist wieder vom parallelen Operieren mit nondiegetic narration und internal focalization gekennzeichnet, zunächst in Kombination zwischen auditiver und visueller Ebene: Adas Auftauchen aus der Tiefe des Meeres, während das Piano weiter versinkt, wird in extremer Vogelperspektive und in Zeitlupe gezeigt [01.48.00]. Hier wird die nondiegetic narration wirksam. Zugleich beginnt die innere Stimme Adas, die schon zu Beginn der Geschichte zu hören war, wieder zu sprechen und gibt dabei Einblick in ihr inneres Erleben – internal focalization depth. Die folgenden Bilder werden in external focalization präsentiert. Am Ende des Films wechselt die Erzählfunktion noch einmal kurz in die Nondiegese, wenn Adas Tochter in Zeitlupe beim Radschlagen zu sehen ist [01.50.30]. Das Schlussbild präsentiert Adas internal focalization depth zugleich auf visueller und auditiver Ebene [01.51.50]. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass zur Präsentation wesentlicher Wandlungsmomente in Das Piano nondiegetic narration und internal focalization parallel bzw. im häufigen und schnellen Wechsel eingesetzt werden. 203
Für Kleine Fluchten lässt sich auf Basis der Untersuchungsergebnisse eine deutlich prozesshafte Veränderungsstruktur im gestalterischen Einsatzprofil der levels of narration beschreiben, die direkt mit dem intrapersonellen Entwicklungsprozess der Hauptfigur korrespondieren. Eine vergleichbare Prozesshaftigkeit in der Gestaltung erzählerischer Transmission ist in den anderen Beispielfilmen nicht zu finden. Im ersten Viertel des Films wird gleichzeitig mit zwei – nur durch zwei Hierarchiestufen voneinander getrennten – levels of narration, external focalization und nondiegetic narration, operiert. Zum parallelen Einsatz von levels of narration sehr verschiedener Hierarchiestufen kommt es dann im nächsten Erzählabschnitt, in dem in einzelnen szenischen Momenten ein gleichzeitiges Agieren von internal focalization depth und nondiegetic narration inszeniert wird. Im letzten Fünftel des Films wiederum nimmt das parallele Operieren mit diesen beiden Erzählfunktionen rasant zu; nondiegetic narration und internal focalization stehen dabei in starkem hierarchischen Kontrast und wirken zugleich kontinuierlich zusammen. Im Folgenden werden aus verschiedenen Erzählabschnitten und den darin verwendeten Formen der levels of narration einige Beispiele ausgewählt: Schon mit dem ersten Bild von Kleine Fluchten wird eine sehr wirksame nondiegetic narration im Wechsel und parallel zu einer external focalization etabliert – kein szenischer Kontext erklärt oder rechtfertigt die Blickperspektive und -dauer auf den leeren Misthaufen [00.00.08]. Dagegen werden auf auditiver Ebene Handlungen außerhalb des Bildrahmens vermittelt, denen sich der von einer Instanz außerhalb der story world gesteuerte erzählerische Blick verweigert. Dieser Einsatz einer sehr wirksamen und bedeutungsbildenden Erzählposition – nondiegetic narration – ist im weiteren Verlauf häufig in Momenten von Schauplatz- und Szenenwechseln auszumachen. Abrupte Wechsel der Schauplätze und szenischer Zusammenhänge werden häufig mit einem break in narration inszeniert, wobei eine den Informationsfluss steuernde Erzählinstanz deutlich wirksam wird. Einige Beispiele: Szenenwechsel zu dem am Bahnhof stehenden Pipe [00.02.19], Luigi erklärt Pipe das Moped [00.17.31], Bauer John steht vor der Scheune und beobachtet Kornsäcke auf einer Rutsche [00.57.54], Pipe trifft Josiane an einer Wegkreuzung und beide fahren gemeinsam weiter [01.07.28]. Eine nondiegetische Erzählfunktion wählt hier die Momente aus, welche der Zuschauer als nächstes sehen soll, und stellt dabei oftmals ein Rätsel oder eine Irritation in den Erzählfluss. So visualisieren sich auf nondiegetischer Ebene Duktus und Impulsivität von Pipes Handlungsweisen als wesentliche Faktoren seiner charakterlichen Wandlung: Er verhält sich unerwartet, probiert Neues aus und agiert impulsiv. Ebenso aktiv wird das parallele Operieren von nondiegetic narration und external focalization in wichtigen Momenten der intrapersonellen Wandlung: Wenn Pipe sein Moped zum ersten Mal anlässt, fährt die Kamera zwei Mal langsam aus der Halbtotalen bis zur Großaufnahme auf ihn zu [00.21.15]. Dies ist der Initialmoment seiner neuen inneren Bewegungen. Wenn es Pipe nach anfänglichen Schwierigkeiten 204
durch hartnäckiges Üben endlich gelingt, mit dem Moped in Fahrt zu kommen, verweilt der Kamerablick lange auf der leeren Lichtung, die Pipe auf seinem Moped verlassen hat [00.22.31]. Hier wechselt allein durch die Dauer der Einstellung external focalization zu nondiegetic narration. Dieses Bild korrespondiert mit dem Blick auf den leeren Misthaufen [00.00.08], den Pipe am Beginn für seinen ersten eigenmächtigen Gang zum Bahnhof verlässt, um das Moped abzuholen. Der Blick auf die leere Waldlichtung visualisiert Pipes nächsten Entwicklungsschritt – in Momenten seiner inneren Veränderung operieren im folgenden Erzählabschnitt parallel zueinander nondiegetic narration und – im großen Kontrast dazu – internal focalization depth. Pipe fantasiert bei seinen Mopedfahrten einen Flug über die Landschaft [00.28.09]. Beim Abheben wird der Originalton der Szene ausgeblendet und ein heroischer Chorgesang setzt ein. Im weiteren Verlauf seines fantasierten Flugs wird es dann ganz still, später pfeift der Wind. Am Ende setzt der Originalton wieder ein, wenn Pipe im Regen auf der Landstraße fährt [00.30.44]. Dieser Einsatz parallel operierender levels of narration bebildert Pipes inneres Erleben, seinen Aufbruch, sein In-Bewegung-Kommen und seine Begeisterung. Als er nach seinem Unfall von der Polizei zum Hof zurück gebracht wird und seine Fahrerlaubnis verliert, präsentiert die nachfolgende Sequenz im deutlichen Agieren von nondiegetic narration eine judgemental attitude dieses Abschnitts in Pipes Entwicklung. Dabei werden in einer Montagefolge alle Bewohner des Bauernhofes dabei gezeigt, wie ihnen etwas misslingt und sie sich darüber ärgern oder verzweifelt weinen [01.39.13]. Die nächste wichtige Handlung in Pipes Entwicklung, die eigenhändige Zerstörung seines Mopeds [01.42.13], wird in parallelem Operieren von external focalization und nondiegetic narration präsentiert: Die lange Plansequenz macht die Zeigefunktion einer außerhalb der Geschichte stehenden Erzählinstanz spürbar. Im letzten Fünftel von Kleine Fluchten nimmt der Einsatz parallel operierender levels of narration sprunghaft zu. Dabei werden zwei hierarchisch sehr unterschiedliche Erzählpositionen miteinander kombiniert: nondiegetic narration und internal focalization. Ihre Wirkung auf die Lesart der Informationen ist deutlich erkennbar – verglichen mit Das Piano beeinflussen in Kleine Fluchten parallel operierende levels of narration die Lesart der erzählerischen Informationen wesentlich stärker. Diese stärkere Wirksamkeit resultiert aus dem Einsatz eines exakten subject view bei der Inszenierung von internal focalization und dem parallelen Agieren einer deutlich wirksamen nondiegetic narration. Die Inszenierung seiner inneren Wahrnehmung vermittelt ebenso Informationen wie die gleichzeitig aktive omnisziente Erzählinstanz außerhalb der Geschichte mit ihrem Wissen um Pipes Gedankengänge und Gefühle. Beider Zusammenwirken führt zu einer verstärkten Orientierung für das Verständnis von auf diese Weise vermittelter inhaltlicher Informationen. Die folgenden Vorgänge in Pipes intrapersoneller Wandlung werden in diesem erzählerischen Modus präsentiert: Mit dem Blick durch die Polaro205
idkamera wechselt Pipes Erzählposition in einen exakten POV [01.43.52]. Intermittierend wird Pipe bei seinen Fotoaktionen und während weiterer szenischer Handlungen in external focalization beobachtet. Die Präsenz dieser Erzählposition nimmt jedoch in den Montagefolgen der Fotografien immer mehr ab. Das Zeigen der Fotografien in direkter, ununterbrochener Montage [01.48.30; 01.52.38] und das parallele Operieren mit nondiegetic narration und internal focalization bestimmen die weitere Wissensvermittlung. Präsenz und Aktivität der nondiegetischen Erzählposition werden auf auditiver Ebene durch Ausblenden des O-Tons und Einsetzen einer nondiegetischen Filmmusik in dieser Sequenz verdeutlicht. Diese Bilder- und Szenenfolgen inszenieren Pipes innere Wahrnehmungen und gedanklichen Prozesse. Während seiner fotografischen Arbeit wandeln sich die Motive und Themen, die er mit seiner Polaroidkamera festhält. Besonders deutlich und wirksam wird das Interagieren der beiden verschiedenen levels of narration beim Blick aus Pipes POV auf eines seiner Selbstportraits [01.46.56]. Im auffällig lang auf dem Polaroidfoto und dessen chemischer Entwicklung verweilenden filmischen Blick wirkt die starke nondiegetic narration. Dieser Einsatz der levels of narration knüpft in seiner Wirkung wiederum an filmische Momente an, in denen vergleichbar lange Blicke auf wichtige Stufen in Pipes Veränderungsprozess hinweisen. In den letzten 15 Minuten des Films werden die beiden abschließenden Momente von Pipes intrapersonellem Wandlungsprozess dargestellt und es kommt zu einer weiteren Veränderung im Einsatzprofil der levels of narration: Wurden die Visualisierungen von Wandlungsmomenten bisher meist durch gleichzeitiges Operieren hierarchisch sehr unterschiedlicher levels of narration präsentiert, so geschieht dies im Falle der beiden letzten zentralen Szenen durch external focalization bzw. durch einen Wechsel zwischen external focalization und internal focalization surface – Pipe setzt sich endgültig gegen den Bauern durch. Danach geht er zum Helikopterstartplatz [01.55.34]. Beide Szenen werden in external focalization gezeigt. Der Helikopterflug zum Gipfel des Matterhorns wird im Wechsel zwischen external focalization und internal focalization surface inszeniert [02.55.57]. Ein letztes Mal ändert sich danach die Wissensvermittlung wieder zu parallelem Operieren von nondiegetic narration und internal focalization. Ein langsamer Schwenk aus Pipes Perspektive gleitet über die an der Wand arrangierten Fotografien wie über die Stufen seines Entwicklungswegs. Am Ende des Schwenks sieht man Pipe auf einem Foto als Sieger und umringt von Menschen. Durch nondiegetic narration wird in der letzten Einstellung ein visueller Punkt hinter die Geschichte und Pipes Wandlungsprozess gesetzt: Eine lange Plansequenz zeigt Pipe, wie er unbewegt und mit den Händen in den Hosentaschen auf dem Misthaufen steht [02.08.00]. In Der mit dem Wolf tanzt wird gleich zu Beginn eine nachhaltige Beeinflussung der Lesart durch die Verflechtung von extra fictional narration, omniszienter nondiegetischer Erzählposition und Präsentationen von Ereignissen aus internal focalization 206
depth aufgebaut. Die Exposition beschreibt mit sehr deutlicher Zeigefunktion – extrafictional und nondiegetic narration – die Situation der Hauptfigur. Zugleich wechselt der filmische Blick in die internal focalization des Protagonisten: Dunbars Überlegungen und seine Entscheidung, vom Operationstisch zu fliehen und mit seinem Pferd durch die feindlichen Frontlinien zu reiten, deuten sich in der Abfolge der Blickperspektiven aus seiner subjektiven Wahrnehmung [00.01.29] an. Während des selbstmörderischen Ritts [00.06.21] kommt es beinahe zu einer Verschmelzung von external und internal focalization surface bzw. depth und nondiegetic narration, trotz hierarchischer Trennung dieser levels of narration. Die Kamera blickt aus external focalization auf den reitenden Mann. Parallel dazu wird mit dem Blick auf Schultern und Hals des galoppierenden Pferdes internal focalization eingeführt, der Einsatz von Zeitlupe und sprunghaftem Standpunktwechsel markiert zudem nondiegetic narration – das parallele Operieren dreier unterschiedlicher levels of narration visualisiert einen Eindruck vom inneren Zustand des Protagonisten. Nach dieser Anfangsepisode wird die Off-Stimme Dunbars als diegetic narrator auf auditiver Ebene der Erzählung eingeführt [00.11.06]: Dunbar scheint seine Geschichte bereits zu kennen und präsentiert sie aus einer Art omniszienter Position. Dennoch baut sich auf auditiver Ebene keine omnisziente Erzählinstanz auf, da der diegetic narrator nur dann in Funktion tritt, wenn Dunbar selbst im Bild zu sehen ist und agiert – etwa, wenn er sein Tagebuch schreibt. Die omnisziente nondiegetische Erzählinstanz auf visueller Ebene hingegen zeigt Szenen und erzählerische Informationen, die dem Protagonisten Dunbar nicht zugänglich sind: Im ersten Drittel der Erzählung ist vor allem bei Szenen- und Schauplatzwechseln eine sehr wirksame omnisziente nondiegetic narration aktiv. Dabei werden durch die Montage von der Spannungssteigerung dienenden Irritationen erzählerische Zusammenhänge inszeniert – so Dunbar beim Verbrennen der Tierkadaver und die Ermordung des Kutschers durch Indianer [00.42.14], so auch, wenn der filmische Blick Dunbar scheinbar aus der Perspektive eines sich heran schleichenden Indianers beobachtet [00.44.40]; später könnte die Hand von Strampelnder-Vogel auch die Dunbars sein [00.50.21], der bei seinem Ritt mit der verletzten Steht-mit-einer-Faust in das Indianerdorf von Kindern und Hunden nicht bemerkt wird, was die nondiegetic narration zeigt, die im weiteren Verlauf mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Deutlich aktiv ist diese Funktion nur in zwei zentralen Parallelmontagen: Eine Sequenz zeigt parallel zur langsamen Annäherung Dunbars und der Indianer auch Szenen mit Dunbar auf seinem Posten und mit den Indianern in ihrem Dorf. Eine zweite Parallelmontage zwischen Verfolgern und Verfolgten ist in die letzten dreißig Minuten des Films integriert. Die Begegnungen zwischen Dunbar und dem Wolf bilden eine zentrale szenische Reihe dieser Erzählung. Präsentiert werden sie durch paralleles Operieren mit nondiegetic narration und internal focalization surface. So wird das Wissen um die Anwesenheit eines Wolfs nahe Fort Sedgewick zunächst durch eine omnisziente nondiegetische 207
Erzählposition vorgeführt. Der Kamerablick richtet sich dabei mit einem autonomen Schwenk – also ohne eine handlungsbezogene Motivation dieses Schauplatzwechsels – auf den Wolf, der einen Wasserlauf entlang läuft [00.33.51]. Bei späteren Begegnungen wird das Tier entweder aus Dunbars subjektiver Blickperspektive oder in external focalization gezeigt. In einem zentralen Wandlungsmoment Dunbars, seinem Tanz um das nächtliche Feuer [02.09.20], wird die sehr wirkungsvolle nondiegetic narration parallel zu external und internal focalization aktiv. Die Szene mit Dunbars indianischem Tanz wird dabei zunächst in external focalization eingeführt. Besonders bemerkenswert ist für die weitere Folge der Einsatz einer parallel aktiven zweiten Erzählposition, internal focalization surface, der beiden Tiere in Fort Sedgewick. Aus der Perspektive des Wolfs und von Dunbars Pferd Zisko wird auf Dunbars Tanz um das Feuer geschaut. Als dritte bedeutungsschaffende Erzählfunktion wirkt in dieser Szene die nondiegetic narration: Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren wechselt der filmische Blick dabei zwischen der Sicht des Wolfs auf Dunbar und dem Blick in das Gesicht des Tieres. So wird durch den Einsatz zweier filmischer Mittel eine nondiegetische Erzählposition etabliert. Durch pure movement of narration, d. h. ohne handlungsbasierte Motivation, bewegt sich die Kamera von Umschnitt zu Umschnitt im Schuss-Gegenschuss-Verfahren immer mehr auf den Kopf und die Augen des Wolfs zu. Zugleich wird mit Hilfe der Zeitlupe aus nondiegetischer Position der ekstatische Moment in Dunbars Tanz vom realen Zeitempfinden abgelöst. Das Zusammenwirken dieser drei hierarchisch sehr verschiedenen levels of narration visualisiert das zentrale Ereignis im intrapersonellen Wandlungsprozess Dunbars. Im Vergleich mit den drei bereits beschriebenen Filmen kennzeichnet Taxi Driver ein deutlich gesteigerter Einsatz parallelen Operierens verschiedener levels of narration – den ganzen Film bestimmt ein sehr heterogener Einsatz visueller Stilmittel. Die Analyse zeigt einen sehr dichten Wechsel der Erzählpositionen und ein Geflecht parallel operierender levels of narration unterschiedlicher Hierarchiestufen. Im Wechsel der visuellen Gestaltungsmuster und der Erzählpositionen wird keine systematisierbare rhythmische Ordnung oder Prozesshaftigkeit erkennbar, vielmehr prägen Unregelmäßigkeit und Sprunghaftigkeit diese visuellen Strukturen. Im Einsatzprofil der levels of narration wird eine Besonderheit erkennbar: Die parallele Aktivität von Travis’ nondiegetic und diegetic narration und seiner internal focalization depth verwischt die Hierarchiegrenzen zwischen den Erzählpositionen. Die Kamerafahrten, die zu Beginn des Films Travis’ Augen beim Beobachten von Straßenszenen zeigen, werden mit starken Farbeffekten und Zeitlupe verfremdet [00.00.55]. Hier ist die nondiegetic narration sehr aktiv, wie auch in der nächsten Szene mit Hilfe der Zeitlupe, wenn er das Büro des Taxiunternehmers betritt [00.01.44]. Im späteren Verlauf wird die Zeitlupe dann mehr und mehr als Muster von Travis’ internal focalization depth etabliert – etwa beim Erinnerungsbild von Betsy [00.09.42] oder dem Blick auf schwarze 208
Menschen in der Cafeteria [00.14.10]. Während eines Schwenks mit Blick durch die Taxi-Garage wirkt zunächst die Erzählposition der external focalization, kurz darauf übergehend in Travis’ internal focalization. Der Schwenk endet dann wieder mit external focalization [00.03.45]. Ganz ähnlich werden Zeitmanipulationstechniken wie Stopptrick oder Zeitsprung als Gestaltungsmuster der nondiegetic narration etabliert: Nach seinem Gespräch mit dem Taxiunternehmer geht Travis in Richtung Kamera; in mehreren Überblendungen, die Teile seines Wegs auslassen, wird er aus stets derselben Kameraperspektive ein Stück näher gezeigt [00.04.15]. Später werden diese filmischen Mittel der Zeitdarstellung als Phänomene von Travis’ Wahrnehmungsweise, der internal focalization depth, etabliert, etwa die Zeitsprünge in der Schilderung seines Waffentrainings [00.55.05] und seiner Gewaltfantasien vor dem Spiegel [01.02.39]. Weitere Beispiel für das Verwischen der Grenzen zwischen nondiegetic narration, external und internal focalization werden in den verschiedenen Schauplatz- und Szenenwechseln gestaltet: In den bereits beschriebenen Filmen kommt bei einem Schauplatz- bzw. Szenenwechsel vermehrt nondiegetic narration zum Einsatz, dagegen lösen sich in Taxi Driver in diesen erzählerischen Momenten die klaren Trennungen der levels of narration auf. Zu Beginn wird ein Schauplatz- und Szenenwechsel entweder über eine nondiegetische Erzählinstanz etabliert (z. B. beim Wechsel von der Straßenszene in Travis’ Zimmer [00.04.30]) oder ein solcher Wechsel geschieht aus Travis’ innerer Bilderwelt heraus (internal focalization depth, etwa wenn Travis auf seinem Bett liegt, seine Gedanken als Off-Text zu hören und seine Erinnerungsbilder von Betsy zu sehen sind [00.09.34]). Hinweise auf Travis’ emotionales Erleben werden zu Beginn in nondiegetic narration visualisiert, der Dialog zwischen Travis und dem Taxiunternehmer dann aus external focalization und im Schuss-Gegenschuss-Verfahren präsentiert [00.01.50]. Zudem ist parallel dazu über eine Kamerabewegung nondiegetic narration aktiv: Wenn Travis von seinem Chef zurechtgewiesen wird, fährt die Kamera näher auf sein Gesicht zu – dabei werden an seiner Mimik Irritation und Ablehnung deutlich ablesbar. Ähnlich verfährt die nondiegetic narration parallel zur external focalization in der Szene mit Travis und der Kassiererin des Pornokinos [00.07.37]: Im Moment der Zurückweisung geht die Kamera sehr nah auf Travis’ Gesicht. Als er vom Kassentresen weg und in Richtung Vorführraum aus dem Bild geht, fährt die Kamera in einer autonomen Bewegung auf das Projektionsfenster des Vorführraums [00.08.20]. Dort ist in einer Filmszene zu sehen, wie eine Hand nackte Haut berührt. Die nondiegetische Zeigefunktion verweist hier auf Travis’ zurückgewiesene Kontaktversuche und sein unbefriedigtes Bedürfnis nach Berührung. Die Erzählposition der nondiegetic narration transportiert dabei erzählerische Informationen, die in Bezug zu Travis’ intrapersoneller Wandlung stehen. An anderer Stelle der Erzählung wird über die Präsentationsmodi der nondiegetic narration bei gleichzeitiger external und internal focalization Travis’ inneres 209
Erleben visualisiert: Er beobachtet von seinem Taxi aus Betsy an ihrem Schreibtisch im Wahlkampfbüro [00.11.30]. Bei einem Gegenschuss aus Betsys Perspektive wird erkennbar, dass Travis’ subjektive Blickperspektive eine wesentlich größere Nähe zu Betsy suggeriert, als ihm seine Beobachterposition im szenischen Raum tatsächlich erlaubt. Dieser Kontrast aus Travis’ subjektiver Wahrnehmung und den tatsächlichen räumlichen Verhältnissen illustriert seine deutlich gestörte Wahrnehmung von Nähe und Distanz. Die Szenen, die Travis in seiner kleinen Wohnung zeigen, sind mit einem Profil deutlicher Veränderungssprünge der levels of narration inszeniert: Zu Beginn dominiert nondiegetic narration. Die Zeigefunktion der filmischen Blicke bewegt sich dabei ohne eine handlungsbedingte Motivation. Dann etabliert sich im Wechsel zwischen external focalization und internal focalization (surface) von Travis eine neue Erzählposition. Wenn er nach dem Kauf der Waffen sein Training damit beginnt, wird ein paralleles Operieren von nondiegetic narration, external focalization und internal focalization depth inszeniert. Dabei werden die Grenzen zwischen diesen Erzählinstanzen stark verwischt. Dieses Gestaltungsmuster verweist auf den intrapersonellen Veränderungsschritt, den Travis in diesen Szenen durchlebt. Das Verwischen der Grenzen zwischen den parallel operierenden, hierarchisch sehr unterschiedlichen levels of narration und der Einsatz von Gestaltungsmustern, welche den Bild- und Zeitfluss verfremden, schafft Bedeutung. Die Kamera nimmt dabei ungewöhnliche bzw. unmögliche Blickwinkel ein. Die Fragmentarisierung der Zeitdarstellung wird durch den Einsatz von Zeitsprüngen und Überblendungen gesteigert [01.02.39]. Im Anschluss an diese Sequenz tötet Travis den Ladenräuber [01.04.33]. In dieser Szene wirken hauptsächlich zwei levels of narration: In external focalization sieht man Travis den Laden betreten und zum Kühlregal gehen. In ungeschnittener Plansequenz bleibt die Blickperspektive auf ihn ausgerichtet, während auf auditiver Ebene das Geschehen des Überfalls zu hören ist. In der Verweigerung des Blicks auf das dramatische Geschehen wirkt nondiegetic narration. Die Kamera begleitet Travis’ Bewegung, wenn er seinen Revolver aus dem Hosenbund zieht und nach vorn zur Ladentheke geht. Dabei rückt parallel zu seiner Wahrnehmung die Szene des Überfalls auch in den Kamerablick. Wenn Travis schießt, wechselt die Blickperspektive mit einer Einstellung over-shoulder zunächst in seine internal focalization surface. Dann springt die Kamera in eine Totale aus deutlicher Aufsicht. Durch diese ungewöhnliche Kameraposition wirkt wiederum nondiegetic narration. Der Dialog zwischen dem Ladenbesitzer und Travis wird zu Teilen aus external und internal focalization präsentiert. Wenn der Ladenbesitzer den niedergeschossenen Ladenräuber mehrmals mit einer Eisenstange schlägt, wechselt die Blickperspektive im Rhythmus der Schläge einige Male sehr schnell. Wiederum wirken nondiegetic narration und external focalization parallel. In dieser Szene fällt auf, dass auf visuelle Effekte wie Zeitlupe, Zeitsprung, Kamerabewegungen u. Ä., die in Taxi Driver sonst sehr 210
häufig eingesetzt werden, gänzlich verzichtet wird. Eine Innensicht von Travis wird nicht geliefert. Vielmehr wird der Moment seiner inneren Entscheidung, den Räuber zu töten, allein in der körpersprachlichen und mimischen Ausdrucksarbeit des Darstellers gezeigt. Dagegen kommt es beim nächsten Schauplatzwechsel und in den folgenden Szenen wieder zur Visualisierung von Travis’ innerem Veränderungsprozess durch paralleles Operieren von nondiegetic narration und internal focalization: Travis ist in Nahaufnahme in seinem Zimmer zu sehen. Er blickt aufmerksam nach rechts, wendet dann den Kopf zur Kamera und zielt mit seiner Waffe in diese Richtung [01.06.33]. Der Montageanschluss suggeriert den Eindruck, als habe Travis in diesem Moment die Mordszene an dem Ladenräuber beobachtet und ziele nun mit der Waffe auf ein weiteres Opfer. Der Gegenschuss aus seiner Subjektiven zeigt jedoch, dass er auf das TV-Gerät zielt, in dem gerade ein schwarzer Tänzer mit seiner Partnerin beim Tanzen zu sehen ist. Durch Inszenierung der levels of narration im beschriebenen Schauplatzwechsel und in dieser Szene wird Travis’ inneres Erleben visualisiert. Die langsame wechselseitige Zufahrt aus beiden Blickperspektiven einer Schuss- Gegenschuss-Folge auf Travis’ Gesicht und auf das TV-Gerät verweist aus einer Erzählinstanz außerhalb der Geschichte noch einmal deutlich auf die Vorgänge in Travis’ Innenleben. In der Inszenierung der letzten Szene in Travis’ Zimmer entsteht ein starker Kontrast zum bisherigen Gestaltungsprofil; als einziges level of narration wirkt hier external focalization: Die Kamera zeigt dabei Travis’ Zimmer in der Totalen. Sein Handeln wird ohne Standortwechsel in einer ungeschnittenen Plansequenz gezeigt. Sein inneres Empfinden und Erleben wird nicht durch Einsatz weiterer filmischer Gestaltungsmittel inszeniert – diese Verweigerung der Innensicht verweist auf das Ende von Travis’ Veränderungsprozessen. Seine innere Verfasstheit ist umgeschlagen. Am Ende seines Amoklaufs – dem show-down des Films – wird sehr wirksam nondiegetic narration bei gleichzeitigem Einsatz mehrerer den Bild- und Zeitfluss verfremdender Gestaltungsmittel verwendet: Die Kamera blickt senkrecht von oben in Iris’ Zimmer [01.38.30]. Das szenische Bild friert ein. In Zeitlupe beginnt eine autonome Kamerafahrt aus der Perspektive dieses impossible view. Die Blickbewegung verfolgt den Weg des Amoklaufs zurück bis auf die Straße. Auch der anschließende Schwenk über die Zeitungsartikel an der Wand von Travis’ Appartement wird in nondiegetic narration präsentiert. Funktionen spezifischer Einsatzprofile der levels of narration in der Schilderung charakterlicher Wandlungsprozesse Die im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen vier Filme lassen eine ähnliche Einsatzart parallel operierender levels of narration erkennen. Diese Gestaltungsmuster zeigen eine sehr hohe Relevanz für die Visualisierung intrapersoneller Wandlungsprozesse der Hauptfiguren. Bei den übrigen vier untersuchten Filmen – Dead Man, 211
Rocco und seine Brüder, Breaking Glass, Betty Blue – zeigen sich dagegen sehr heterogene Profile dieser Gestaltungsstrukturen. Nur in Kleine Fluchten zeigt das Profil der levels of narration, die direkt mit dem Wandlungsprozess der Hauptfigur korrespondieren, eine deutliche Prozesshaftigkeit. In Breaking Glass und Rocco und seine Brüder hingegen findet man in bestimmten Erzählabschnitten einen veränderten Einsatz der levels of narration. Dabei unterscheidet sich die Auswahl der Erzählpositionen von der in diesen Filmen etablierten method of distribution, doch werden mit diesen Veränderungen keine deutlich prozesshaften Entwicklungsstrukturen aufgebaut. In Dead Man wird eine Dominante der nondiegetic narration durch den Einsatz von Auf- und Abblenden etabliert. Diese Erzählinstanz hat zwar freien Zugang zum erzählerischen Wissen, ist aber nicht als omniszient inszeniert. Die Zeigefunktion aus nondiegetischer Perspektive vermittelt dabei eher eine Suche nach Erkenntnis und Informationen. Ebenso wird in der Gestaltung der Blicke aus external focalization ein fragender, suchender Duktus in der Präsentation szenischer Inhalte etabliert. Nur in wenigen einzelnen Momenten wird eine deutliche Relevanz des Einsatzprofils der levels of narration bei der Schilderung des intrapersonellen Wandlungsprozesses von Blake erkennbar, doch sind auch in diesen Gestaltungsmustern keine prozesshaften Strukturen aufgebaut. Im Vergleich zu den anderen Beispielfilmen weist das Einsatzprofil der levels of narration in Betty Blue als Gestaltungsmittel zur Visualisierung der charakterlichen Entwicklung der Hauptfigur die geringste Relevanz auf. Zwar werden Veränderungen bei der Verwendung verschiedener levels of narration im Verlauf des Films erkennbar, aber eine prozesshafte Struktur ist nicht festzustellen. Der einzige Beitrag erzählerischer transmission des charakterlichen Veränderungsprozesses etabliert sich als ironischer Duktus der nondiegetic narration. Diese Erzählposition außerhalb der Geschichte wird erkennbar durch auffällige Kamerapositionen und -bewegungen sowie durch die Präsentation von szenischen Bildern, die mit den Ereignissen der Geschichte nicht in direktem Zusammenhang stehen. Im Folgenden wird an Beispielen aus diesen vier Filmen gezeigt, welche Einsatzarten der levels of narration hier einen Beitrag zur Visualisierung intrapersoneller Veränderungen der Hauptfiguren leisten. In Breaking Glass sind keine prozesshaften Gestaltungsmuster im Einsatzprofil der levels of narration erkennbar, doch lässt sich an bestimmten Ereignismomenten ein Bezug zwischen der Verwendung der levels of narration und der Schilderung von Kates Veränderungsprozess feststellen. Zudem kommt es im letzten Drittel des Films zu einem auffällig vermehrten Einsatz von nondiegetic narration. Am deutlichsten zeigt sich der Einfluss von nondiegetic narration und internal focalization in den folgenden drei Momenten der Handlung: Wenn Kate das traumatisierende Ereignis widerfährt [00.59.06], in einem Moment emotionaler Verwirrung [01.22.26] und während Kates 212
Wahnvorstellung am Ende der Geschichte [01.32.34]. Der Mord an dem Jungen und Kates Erleben dieses Ereignisses werden durch paralleles Agieren von external focalization, nondiegetic narration und internal focalization inszeniert, Hinweise auf die Wirkung des traumatischen Erlebnisses durch sehr wirksame nondiegetic narration visualisiert. Der Ton wird verfremdet und verzerrt, das bewegte Bild von Kate friert ein und die Farbsättigung geht gegen schwarz-weiß. Das Trauma führt zu Kates Erstarrung. Deutlich wirkt nondiegetic narration erneut auf auditiver Ebene, wenn sie versucht, die Demütigungen Kens durch die beiden Gitarristen zu unterbinden: Kates Gesichtsausdruck schwankt in dieser Szene zwischen Lachen und Weinen und der Ton der Handlung wird verfremdet. Am Ende des Films werden in der Inszenierung von Kates Wahnvorstellung die hierarchisch sehr unterschiedlichen Erzählpositionen internal focalization depth und nondiegetic narration parallel aktiv. In einigen anderen Momenten des filmischen Geschehens kommt es zu einem weiteren, jedoch weniger auffälligen Gebrauch wirkungsvoller nondiegetic narration, welche Teilaspekte von Kates Wandlung visualisiert: Produzent und Musikmanager rahmen den Blick in das Rundfunkstudio ein, in dem Kate ein Interview gibt [01.22.14]. Sowohl Kate als auch ihre Situation sind framed, d. h. sie werden von diesen Akteuren kontrolliert. Im Verlauf des Interviews bewegt sich die Kamera in fortgesetzten und zum Teil gegenläufigen Kreisfahrten um Kate. Von Telefonanrufern wird ihr Selbstverständnis als Künstlerin hinterfragt und sie weiter eingekreist. Gleichfalls auf auditiver Ebene wirkt während der Autogrammstunde Kates in einem Kaufhaus eine starke nondiegetic narration [01.26.16]. Ein Song Kates ist zu hören, dessen Text von der Plattenfirma verändert wurde. Kate wird wegen des Ansturms auf sie von Bodyguards aus dem Kaufhaus geleitet. Ihre anfängliche Weigerung, mit ihrer Kunst kommerziellen Erfolg zu erlangen und etwas an ihren Texten zu ändern, hat sich in eine konformistische Haltung gewandelt. Einen weiteren auffälligen Einsatz von nondiegetic narration in Kombination mit external focalization findet man in den Montagesequenzen, die wiederholt Ereignisfolgen und Entwicklungen in geraffter Form präsentieren: Die ersten beiden zeigen den Zusammenhalt und das gemeinsame Arbeiten der Band [00.35.41, 00.37.06], die beiden letzten die Vereinzelung Kates während der Konzerttouren und ihre zunehmende Vereinnahmung durch die Musikindustrie [01.11.31, 01.18.00]. Der thematische Kontrast der Montagesequenzen visualisiert diesen Veränderungsprozess. Eine sublime Beeinflussung durch nondiegetic narration erfolgt durch die Wahl der Bildausschnitte in Beziehung zu den abgebildeten Figuren bzw. zu deren Konstellationen untereinander: Zunächst werden die einzelnen Bandmitglieder einer nach dem anderen in den Bildrahmen integriert, bis die ganze Gruppe darin konstelliert ist [00.04.56; 00.15.16; 00.16.41; 00.18.35; 00.24.29; 00.33.38]. Die Zusammengehörigkeit der Band und Kates starke Bindung an ihre Musiker wird durch die große räumliche Nähe der Protagonisten zueinander und durch gemeinsa213
me Anwesenheit innerhalb eines Bildausschnitts visualisiert. Nach dem Kontakt der Band mit dem Management der Plattenfirma beginnt eine gegenläufige Entwicklung: Im framing der Bandmitglieder und in der Figurenpositionierung wird wachsende Distanz inszeniert [00.54.48; 00.55.40; 1.06.04; 1.08.20; 1.15.55; 1.20.01; 1.20.51; 1.22.17; 1.22.40; 1.27.06; 1.27.42]. Auch Kate vereinzelt zusehends. Zugleich rücken andere Akteure in ihre unmittelbare Nähe, die sie manipulieren und für ihre Zwecke benutzen. In Breaking Glass werden Hinweise auf Kates inneren Wandlungsprozess in der Blickgestaltung der Kameraarbeit und der Figurenchoreografie vor der Kamera inszeniert. Das Profil dieser Gestaltungsaspekte lässt eine prozesshafte Veränderungsstruktur erkennen (vgl. 7.7: 279 ff. und 8.6: 309). Paralleles Operieren der levels of narration oder auffällige Veränderungen im Einsatzprofil der Erzählpositionen sind in diesem Film nicht als relevante Visualisierungsmuster für den charakterlichen Wandlungsprozess eingesetzt. In Rocco und seine Brüder wird von Anfang an eine wirksame, zumeist omnisziente und von einer sehr deutlichen Zeigefunktion gekennzeichnete nondiegetic narration etabliert. Diese Erzählinstanz prägt den dominierenden Duktus der Interpretation erzählerischer Zusammenhänge. Im Einsatzprofil der levels of narration lassen sich nur an wenigen vereinzelten Momenten spezielle Bezüge zur Visualisierung von Simones Veränderungsprozess erkennen, erst im letzten Teil der Geschichte steigert sich die Wirkung der nondiegetic narration. Der Film ist in mehrere Kapitel eingeteilt, deren Beginn jeweils durch Schrifteinblendungen in extrafictional narration markiert wird. In nondiegetic narration werden visuelle Argumente von Simones Scheitern präsentiert: So blickt eine omnisziente Kamera durch einen Spalt des Vorhangs in die Umkleidekabine, wenn Simone das Hemd stiehlt [00.51.50]; ein ebenfalls omniszienter Schwenk verfolgt die Bewegungen seiner Hand, wenn er die Brosche vom Kleid der Reinigungsbesitzerin zu lösen beginnt [01.00.32]. Simones Mimik wird in Momenten von Kränkung und Verletzung in Groß- und Nahaufnahmen präsentiert [01.09.16, 01.23.00, 01.26.00, 01.31.17, 01.41.20, 02.10.12, 02.28.08]. Hier ist es die Schauspielarbeit, in der Hinweise auf das innere Erleben und auf die Veränderungen im Wandlungsprozess Simones visualisiert werden. Durch die Kameraarbeit werden diese Momente hervorgehoben. Wenn Rocco am Ende des Films von dem Opfer spricht, das erforderlich sei, damit ein Haus fest stehe [02.36.00], schwenkt die Kamera auf einen Zeitungsartikel am Spiegel, der ein Foto Simones als Boxkämpfer zeigt. Hier arbeitet die nondiegetic narration mit einer argumentativen Zeigefunktion. Bei der Visualisierung von Simones Entwicklungsprozess ist keine prozesshafte Veränderung im Einsatzprofil der levels of narration festzustellen, doch kommt es im letzten Abschnitt der Geschichte zu einer sprunghaften Änderung in der hier etablierten method of distribution. Dabei wirkt deutlich bedeutungsschaffend nondiegetic narration in der Präsentation und Interpretation von Simones Wandlungsprozess. Die Paral214
lelmontage der Mordszene mit Roccos Boxkampf konstruiert durch Verflechtung zweier getrennter Ereignisse neue Sinnzusammenhänge. So werden Teilaspekte von Simones Wandlungsprozess visualisiert und zugleich eine Lesart dieser Zusammenhänge induziert [02.24.44]. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Rocco und seine Handlungen durch paralleles Operieren verschiedener levels of narration und durch weitere Gestaltungsfaktoren der Kameraarbeit wesentlich elaborierter inszeniert sind. Nondiegetic narration und external focalization sind die dominierenden Erzählpositionen in Dead Man. Diese levels of narration sind kontinuierlich aktiv. Kontrastierend dazu fällt in bestimmten Momenten der Informationsvermittlung der Einsatz von internal focalization surface und depth sowie ein paralleles Operieren von Erzählinstanzen auf. Die Analyse zeigt keinen direkten Bezug zwischen dem Einsatzprofil der levels of narration und der Visualisierung des Wandlungsprozesses, doch kann für einige Momente des Films ein paralleles Operieren verschiedener levels gezeigt werden. Bestimmte erzählerische Elemente, die in solchen Präsentationsmodi visualisiert werden, liefern Hinweise auf Blakes Wandlungsprozess. Besonders in Grenzmomenten zwischen internal focalization surface und depth kommt es zum parallelen Operieren von nondiegetic narration. Dabei werden Wahrnehmungen und innere Erlebnisse Blakes präsentiert. Das Zusammenwirken dieser Erzählinstanzen liefert sublime Informationen über seine inneren Veränderungen. In der Abfolge subjektiver Blicke Blakes bei seinem Gang durch die Dorfstraße von Machine kommt es zu einem plötzlichen, irritierenden und unlogischen Wechsel in der Blickbewegung [00.09.30]. Die gesamte Sequenz wird dabei als internal focalization surface präsentiert. Im Moment des Wechsels öffnen sich jedoch die Grenzen zur internal focalization depth und – parallel dazu – zur nondiegetic narration. Diese Momente der Irritation und der plötzlichen Veränderung in der Kameraarbeit korrespondieren inhaltlich mit Blakes Schicksal: Er wird unvorhersehbaren Ereignissen ausgesetzt, die seine Lebenssituation dramatisch verändern werden. Das visuelle Mittel des Kameragangs kehrt im ending der Geschichte wieder, eine ästhetische Korrespondenz mit dem ersten Kameragang bildend [01.41.40]. Die Gestaltung der levels of narration in diesem Erzählabschnitt schafft eine Bedeutung im Zusammenhang mit Blakes Wandlungsprozess. Beim zweiten Kameragang fällt der vermehrte Einsatz filmästhetischer Stilmittel auf: Unlogischer Richtungswechsel, Zeitlupe, Steadycam. Diese Gestaltungsmuster der internal focalization depth visualisieren Aspekte der inneren Veränderung Blakes. Zudem lässt sich hier eine parallele Aktivität von nondiegetic narration bei Blicken auf Blakes Oberkörper in Nah- und auf sein Gesicht in Großaufnahme erkennen. Die visuelle Gestaltung dieser Blicke ergibt einen sich wiederholenden Duktus der erzählerischen Zeigehaltung, der in Beziehung zu Blakes innerem Veränderungsprozess steht. Diese Blicke werden aus external focalization oder internal focalization anderer Akteure auf Blake gerichtet. Auffallend dabei 215
ist im Schuss-Gegenschuss-Verfahren, dass die Kameraposition mit Blick auf Blake meist um einiges näher bei ihm positioniert ist als es die räumlichen Bezüge des POV des auf ihn blickenden Protagonisten erlauben. Hier wird wieder die nondiegetische Erzählinstanz aktiv: Sie steht Blake näher, als es die räumlichen Gesetze des Schuss-Gegenschuss-Verfahrens gestatten. Auch in der Blickgestaltung dieser Szene durch external focalization wird das gleichzeitige Operieren einer nondiegetic narration in der wiederholt großen Nähe des Blicks auf Blakes Gesicht spürbar. In vielen mit external focalization präsentierten szenischen Momenten dieser Sequenz verweilt die Kamera in Großaufnahme auf Blakes Gesicht, während die übrigen Protagonisten und die Szenerie nur nah oder halbnah gezeigt werden. Die wissensgebende Instanz scheint mit diesen eindringlich forschenden Blicken auf Blakes Gesicht sein inneres Erleben vermitteln zu wollen – der Kamerablick kriecht dem Protagonisten förmlich unter die Haut. Die Blickweise in diesen Momenten der Kameraarbeit ist weniger in Form einer Präsentation von Informationen gestaltet als vielmehr von einem nach Erkenntnis suchenden Duktus gekennzeichnet. Diese Art der Inszenierung findet man an verschiedenen Stellen des Films: Wenn Nobody den ohnmächtigen Blake findet [00.26.31], in der Begegnung zwischen Blake und den Trappern [00.56.56] und wenn Blake sich das Gesicht mit dem Blut des toten Rehkitzes bemalt [01.19.43]. All diese Szenen schildern wesentliche Ereignisse oder Teilschritte in Blakes Wandlungsprozess. Die Blicke auf Blakes Gesicht suchen nach Zeichen, die sein Erleben und den Wandlungsprozess darin sichtbar machen. In einem einzigen Moment der Geschichte wird dieser unsichtbare Veränderungsprozess direkt durch einen filmischen Trick visualisiert, wenn Nobodys Vision vom dem Tod entgegen gehenden Blake durch internal focalization depth auf Blakes Gesicht sichtbar wird [01.05.42]. Im letzten Abschnitt der Geschichte setzt paralleles Operieren von nondiegetic narration und external focalization eine deutliche Zäsur im Handlungsverlauf: Nach einer langen internal- focalization-depth-Sequenz, die Blakes Wahrnehmung im Indianerdorf visualisiert [01.45.09], kommt es durch Gestaltung der Erzählpositionen in der folgenden Szene zu einer starken Kontrastierung. Über zwei parallel operierende levels of narration etabliert die visuelle Inszenierung eine starke Zäsur als Zeichen für den Abschluss von Blakes charakterlicher Veränderung. Dabei blickt die Kamera in einer langen, ruhigen Einstellung auf Blake, der in einen indianischen Fellmantel gehüllt neben dem Kanu am Meeresstrand liegt [01.47.23]. Es gibt in diesem Bild keine szenische Handlung – Blake liegt ruhig, dreht kaum merklich seinen Kopf und blickt ungefähr in Richtung der Kameraachse. Die Länge der Einstellung und die gänzliche Abwesenheit szenischer Handlung verdeutlichen die Mitteilungsabsicht des imagemakers (Metz 1974: 20 nach Branigan 1992: 94). Gleich zu Beginn wird in Betty Blue in Gestalt Zorgs ein diegetic narrator auf auditiver Ebene etabliert. Daneben gibt es im erzählerischen Material nondiegetic narration mit deutlich 216
erkennbarer und wirksamer Zeigefunktion. Zwischen beiden Erzählinstanzen verwischen die Grenzen, was durch die parallel zu Zorgs Off-Texten verlaufenden – und von seiner Erzählperspektive gesteuerten – Kameraführung etabliert wird. Die Kamerablicke und -bewegungen in Szenen ohne Off-Text müssten nun gemäß dieser method of distribution ebenfalls Zorgs Erzählperspektive wiedergeben. Es kommt hier jedoch sowohl bei Schauplatz- und Szenenwechseln als auch innerhalb einer Situation zu einem interpretierenden Duktus bei der Bildgestaltung, der eine parallele, nondiegetische und von Zorgs Erzählinstanz abgelöste Perspektive einnimmt. Dabei werden Aspekte von Situationen außerhalb von Zorgs Wissen präsentiert. Dieses Ineinander von Zorgs diegetischer Perspektive und einer nondiegetic narration entsteht durch Gestaltung des Bildausschnitts an verschiedenen Schauplätzen, bei bestimmten Szenenwechseln und durch ungewöhnliche Blickperspektiven. Eine deutlich wirksame nondiegetic narration ist zum Beispiel beim Szenenwechsel von der ersten Liebesszene zwischen Zorg und Betty zu Zorgs Autofahrt wirksam [00.01.13]. Ebenfalls nondiegetisch motiviert sind der Blick auf den siedenden Kochtopf [00.03.46], die Aufsicht auf Zorgs Haus bei Bettys Ankunft [00.04.26] und die Parallelfahrt entlang der Haushaltsgegenstände, die Betty aus dem Haus geworfen hat [00.25.40]. Die Erzählfunktion des diegetic narrator Zorg tritt nach der ersten Filmhälfte völlig in den Hintergrund und external focalization übernimmt diese Wissensvermittlung ohne Personifizierung. Das Gesamtprofil der levels of narration in Betty Blue zeigt keine prozesshafte Veränderung. Ein direkter Bezug zwischen der Ausgestaltung der erzählerischen transmission und der Schilderung des Wandlungsprozesses lässt sich mit den Analysedaten nicht beschreiben. Zwei Gestaltungsphänomene im Profil der levels of narration verweisen jedoch auf einen indirekten Bezug: Eine sehr wirkungsvolle nondiegetische Erzählfunktion stellt dem Betrachter immer wieder kitschige Bildmotive vor Augen. Dieser stilistische Duktus steigert sich deutlich in der Inszenierung von Zorgs Lastwagenfahrt mit seinem Nachbarn [01.19.26]. Dabei sind die Farben intensiviert und verfremdet, extreme Brennweiten und Blickwinkel, Zeitlupe und klischeehafte Landschaftsmotive verstärken den Eindruck von übersteigerter Idylle, Harmonie und Kitsch. Es entsteht ein starker Kontrast zwischen diesen kitschigen Bildern und den Sequenzen von Bettys Veränderungsprozess. In dieser extremen Gegensätzlichkeit von unwirklicher Harmonie und den aggressiven bzw. autoaggressiven Ausbrüchen Bettys wird eine interpretierende Erzählinstanz wirksam: Unter der Schicht von Kitsch und Harmlosigkeit spielt sich ein gravierendes, lebensbedrohliches Drama ab. Die Personen in Bettys Umgebung verdrängen und ignorieren diese Momente ihrer Veränderung. Umso heftiger eskalieren die Ereignisse später. An ganz wenigen Stellen lässt sich auf der Basis der Analysedaten ein direkter Zusammenhang zwischen dem Einsatz einer nondiegetischen Erzählfunktion und der Schilderung des Wandlungsprozesses in Betty Blue 217
beschreiben. Beim eskalierenden Konflikt zwischen Betty und Zorg verbindet die Kamera die beiden Protagonisten durch einen Schwenk [01.10.00]. Zugleich wird dabei die Verschiedenheit beider Stimmungslagen verdeutlicht und kontrastiert. Betty sitzt vor dem dröhnenden Fernsehapparat, während Zorg am Küchentisch Zeitung liest. Der Schwenk ist aus nondiegetischer Perspektive motiviert und eröffnet den Blick auf das Konfliktfeld; es gibt in dieser Szene keine Handlungsbewegung, die den Schwenk motivieren würde. Ein weiteres Beispiel für einen direkten Bezug zwischen nondiegetic narration und der Schilderung von Bettys Wandlung zeigt sich wiederum in einem autonomen Schwenk: Die Kamera begleitet dabei zunächst die Bewegung des Wagens, mit dem Zorg und Betty durch die Landschaft fahren [01.23.01]. Dann bleibt der Kamerablick auf einem festen Standpunkt stehen, das Auto entfernt sich im Bildhintergrund. Ein autonomer Schwenk gibt nun den Blick frei auf ein schwarzes Metallkreuz, das an der Straßenbiegung empor ragt. Die tödliche Entwicklung des weiteren Wegs von Betty und Zorg wird hier angekündigt. Wie diese Beispiele zeigen, wird die Lesart der erzählerischen Inhalte auf äußerst subtile Weise beeinflusst. Ganz im Gegensatz dazu steht die plakative Wirkung der Inszenierung von Kitsch und falscher Idylle. Als zentrales Visualisierungsmuster der Schilderung des charakterlichen Wandlungsprozesses bildet dieser visuelle und thematische Kontrast ein Bezugssystem zwischen mehreren entgegengesetzten Polen. Über den Einsatz der levels of narration in Taxi Driver, Dead Man, Kleine Fluchten, Betty Blue und Breaking Glass kann zusammenfassend gesagt werden, dass in diesen Filmen eine Analogie zwischen dem erzählerischen Duktus des Einsatzprofils der levels of narration und der Art bzw. dem Kernereignis des charakterlichen Wandlungsgeschehens aufgebaut wird. Der dynamische Wechsel der levels of narration in Taxi Driver verwischt die Hierarchiegrenzen zwischen den einzelnen Erzählpositionen, was sich auch darin widerspiegelt, dass oft nur vage Informationen über Wandlungsschritte geliefert werden und so die Bedeutung vieler Ereignisse in der Schwebe bleibt. Travis verliert die Fähigkeit, mit seiner Situation adäquat umzugehen und sein soziales Verhalten zu steuern. In Dead Man wird in den levels of narration eine Analogie zwischen Blakes Wesen und seinen Handlungen in für ihn schicksalhaften Situationen aufgebaut. Die Haltung der Erzählinstanzen kennzeichnet ein suchender, fragender, von einer kontemplativen Betrachtung der Ereignisse geprägter Duktus. Das Einsatzprofil der levels of narration in Kleine Fluchten kennzeichnet eine steigende Zahl von Perspektivwechseln – ein eng mit Pipes Wandlungsprozess verbundener Vorgang. Das Erobern neuer Freiheiten und einer anderen Sicht auf die Dinge und auf sein Leben sind zentrale Faktoren von Pipes Veränderung. In Betty Blue wird das Einsatzprofil der levels of narration von sehr unauffälligen Strukturmerkmalen geprägt. Dabei sind die Gestaltungsmuster zur Visualisierung der Wandlung von 218
geringer Relevanz, doch beeinflussen die auf Bettys Veränderungsprozess bezogenen levels of narration subtil die Lesart bestimmter Zusammenhänge und Informationen. Diese Subtilität spiegelt die Art dieses Wandlungsprozesses wider: Es ereignen sich nur wenig offensichtliche, dabei aber gravierende Veränderungen in Bettys Wesen, in Breaking Glass wird Kates Veränderung vor allem durch situative Kontraste visualisiert. Dabei werden in Montagesequenzen das Vorher und das Nachher verschiedener einander ähnelnder Handlungssituationen einander gegenüber gestellt, während sich in der inzwischen vergangenen story-Zeit mehrere Wandlungsschritte ereignet haben.
6.3 Duktus der Wissensgabe In Bezug auf den Duktus der Wissensgabe – omniscient, unrestricted, restricted – lassen sich folgende Tendenzen feststellen: Fast alle Erzählungen kennzeichnet eine auf den Kenntnishorizont der Hauptfigur beschränkte Wissensvermittlung. Besonders deutlich zeigt sich dies in Taxi Driver, Betty Blue, Dead Man und Kleine Fluchten – die Schilderung von Travis’ und Bettys charakterlicher Veränderung ist jeweils ganz auf den Zugang beider Protagonisten zu ihrer eigenen Geschichte beschränkt. Nur am Beginn von Dead Man wird Wissen über Blakes Persönlichkeitsstruktur in einer deutlich aktiven, zudem omniszienten Erzählhaltung vermittelt. Im weiteren Verlauf wird das für die intrapersonelle Wandlung relevante Wissen dann jedoch fast ausschließlich im beschränkten Wissenshorizont des Protagonisten präsentiert. Informationen, die aus einer unbeschränkten, frei zwischen den Protagonisten wechselnden Erzählposition gegeben werden, sind für die erzählerische Konstruktion der Wandlung nicht relevant. Die wesentlichen Ereignisse von Pipes Wandlung in Kleine Fluchten werden aus dem ihm zugänglichen Wissenshorizont erzählt. Informationen aus der Perspektive anderer Figuren spielen dabei keine wesentliche Rolle. In Der mit dem Wolf tanzt dominieren abwechselnd eine allwissende Erzählinstanz und die Wissensvermittlung im Horizont der Hauptfigur – im Zusammenspiel der Informationen beider Instanzen werden die Momente der Wandlung vermittelt. Eine omnisziente und frei zwischen den Protagonisten wechselnde Wissensgabe kennzeichnet wiederum den erzählerischen Zugang zur Geschichte von Rocco und seine Brüder – die auf den Horizont Simones beschränkte Wissensvermittlung spielt hier keine wesentliche Rolle. In Breaking Glass und Das Piano wechselt die zwischen den handelnden Figuren oszillierende Erzählposition – unrestricted – mit einer auf den Wissenshorizont der Hauptfigur eingeschränkten Sichtweise – restricted – und der Gabe bestimmter Informationen durch eine omnisziente Instanz; vor allem Informationen, die aus großer Nähe zu den Figuren gegeben werden, beinhalten wesentliche Momente des Wandlungsgeschehens. Auch spielen hier einzelne Wissenselemente eine wichtige Rolle, die aus omniszienter Position zur 219
Schilderung der intrapersonellen Entwicklung beitragen. In Breaking Glass ist die auf Kates Wissenshorizont beschränkte Informationsgabe im Vergleich zur Wissensgabe im Wechsel der Figurenperspektiven eher zweitrangig. Aus omniszienter Erzählposition werden nur sehr kleine Mengen von Informationen gegeben, welche allein die Beweggründe des manipulativen Verhaltens der anderen Figuren in Bezug auf Kate kommunizieren. Qualität des erzählerischen Wissens – hier definiert über den Bezug der narrativen Informationen auf das Wandlungsgeschehen - und Quantität ergeben eine Rangfolge der ausgewählten Filme: Der mit dem Wolf tanzt und Rocco und seine Brüder präsentieren dem Zuschauer ein sehr umfangreiches erzählerisches Wissen. Viele Elemente der Erzählungen reichen dabei weit über den Kontext der intrapersonellen Wandlung hinaus. In Rocco und seine Brüder wird dies dadurch deutlich, dass Simones Geschichte nur einen der miteinander verwobenen Erzählstränge repräsentiert. Die große Menge erzählerischen Wissens um John Dunbar entsteht durch die zahlreichen Schauplätze und Personen, welche jeweils tragenden Anteil am erzählerischen Gesamtzusammenhang haben. Eingebettet in diese komplexe Informationsfülle wird die Geschichte der Entwicklung der Hauptfigur. In Kleine Fluchten und in Das Piano ist das Gesamtwissen der Geschichte relativ umfangreich, haftet jedoch sehr nah am Ereigniskern. Die Wissensmenge in beiden Filmen ist jedoch im Vergleich zur Komplexität der Geschichten von John Dunbar sowie Simone und seiner Familie wesentlich begrenzter – das erzählerische Wissen, das über jene die Hauptfigur betreffenden Kernereignisse hinausgeht, wird in beiden Fällen zur Spiegelung, Ergänzung bzw. Kommentierung genutzt. Eine relativ eng begrenzte Wissensmenge kennzeichnet Breaking Glass und Dead Man. Die über das Kernereignis der Wandlung hinausgehenden Informationen dienen dem allgemeinen Aufbau der Geschichte, jedoch ohne eine spezifische Spiegel- oder Kommentarfunktion für das intrapersonelle Wandlungsgeschehen. Der Informationsumfang in Betty Blue ist noch enger begrenzt, die Menge des Wissens in Taxi Driver schließlich am geringsten. Werden in Bezug auf Bettys Situation noch einige umgebende Informationsstränge aufgebaut, so beschränkt sich das Wissen um die Welt von Travis nur auf die ihn unmittelbar betreffenden Ereignisse. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass zwei Filme des Scheiterns – Taxi Driver und Betty Blue – mit einem sehr kleinen Wissensumfang auskommen müssen; dass eine Geschichte des Scheiterns und eine der Reifung – Rocco und seine Brüder und Der mit dem Wolf tanzt – einen sehr weiten Wissenshorizont transportieren, der jedoch nur in bestimmten Aspekten im direkten Zusammenhang zur Wandlung der Hauptfigur steht. Das Piano und Kleine Fluchten lassen eine andere Form der Verknüpfung zwischen dem Prozess der Reifung und dem relativ großen Wissensumfang der Erzählungen erkennen: Die meisten Anteile der präsentierten Wissensmenge, 220
die nicht in unmittelbarer Nähe zur sich wandelnden Figur gelagert sind, haben eine Spiegel- oder Kommentarfunktion in Bezug auf deren intrapersonellen Veränderungsprozess. In Dead Man und Breaking Glass rankt sich die größte Menge des Wissens direkt um die Hauptfigur. Das zusätzlich gegebene Wissen ist dabei von relativ kleinem Umfang. In Breaking Glass werden einige Zusatzinformationen gegeben, die Einflussfaktoren in Bezug auf Kate und ihre Veränderung veranschaulichen. In Dead Man werden zusätzlich zum Kernwissen über den Protagonisten auch Informationen geliefert, die für den Entwicklungsprozess nicht unmittelbar relevant sind. Nach der Tiefe des Einblicks, der depth of knowledge, welchen der Zuschauer in den verschiedenen Erzählungen über die Zusammenhänge und die Figuren erhält, können die ausgewählten Filme zu klar voneinander abgegrenzten Gruppen zusammengefasst werden: Vier Filme liefern während des gesamten Erzählverlaufs einen sehr tiefen Einblick in Wahrnehmung und inneres Erleben der Hauptfiguren: Taxi Driver, Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man und Kleine Fluchten. In zwei weiteren Filmen – Das Piano und Breaking Glass – kommt es ebenfalls zu einem tiefen Einblick in die Innenwelt der Hauptfiguren, jedoch nur an bestimmten, vereinzelten erzählerischen Momenten oder Sequenzen; in Breaking Glass noch mit der Besonderheit, dass in der entscheidenden Phase von Kates Veränderung keine Innensicht der Figur mehr inszeniert wird. Nur sehr wenige bis gar keine Informationen über das Innenleben der Hauptfiguren werden in Rocco und seine Brüder und Betty Blue vermittelt. Die Ergebnisse dieses analytischen Teilschritts zeigen eine klare Tendenz: Sechs der acht Filme liefern einen tiefen Einblick in das Innenleben der sich wandelnden Protagonisten. Die Art der Wissensgabe kann auf Basis der Analyseergebnisse als typologisches Visualisierungsmuster intrapersoneller Wandlungsprozesse benannt werden. Der relativ geringe Einblick in Simones Innenleben resultiert aus der Komplexität der Gesamtgeschichte: Die Ereignisse um ihn sind nur ein Teil der Gesamtereignisse. Der Zuschauer erhält ebenfalls tiefere Einblicke in das Innenleben Roccos, der anderen Hauptfigur dieser Erzählung. Eine Sonderstellung im Zusammenhang mit diesem Gestaltungsaspekt nimmt Betty Blue ein – hier wird die Innensicht in Erleben und Wahrnehmung Bettys ganz verweigert. Die Informationsgabe wird in allen ausgewählten Filmen zu großen Teilen vom perfect view geprägt. Dabei verfolgt der Blick der Kamera die szenischen Ereignisse und präsentiert diese aus einem möglichst günstigen Blickwinkel. In Das Piano, Taxi Driver, Betty Blue und Dead Man lässt sich zudem der vermehrte Einsatz von excentric angle feststellen: Aus ungewöhnlichen Kamerapositionen und Blickwinkeln werden häufig eine nondiegetische Erzählfunktion oder auch paralleles Agieren mehrerer levels of narration inszeniert. Zur Visualisierung des Wandlungsprozesses wird in Taxi Driver wiederholt mit einem eingeschränkten Blick – restricted view – gearbeitet. Das ist auch, wenngleich seltener, für Dead Man und Kleine Fluchten festzustellen. Breaking Glass bildet hier einen 221
Sonderfall: In diesem Film kommt den Gestaltungsmustern der Blickweisen ein zentraler Anteil bei der Visualisierung des Veränderungsprozesses zu (vgl. 7.7). Ungehinderte Informationsgabe – communicativeness – ist in allen Filmen gegeben, wenn auch in ganz unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedenen Kombinationen von Verzögerung bzw. Verweigerung – suppressiveness – oder nachdrücklicher Inszenierung der Präsenz des Erzählvorgangs – self-consciousness. Die Erzählweise des klassischen Hollywoodkinos wird von vorwiegend freiem Informationsfluss geprägt, so wie in Der mit dem Wolf tanzt und in ähnlicher Form in Rocco und seine Brüder. Suppressiveness spielt als Gestaltungsmuster der intrapersonellen Wandlung in beiden Filmen keine Rolle, wird aber in Der mit dem Wolf tanzt in zahlreichen Momenten zur Spannungssteigerung eingesetzt. In der Analyse wird deutlich, dass die Verweigerung von Wissen in Betty Blue, Breaking Glass, Taxi Driver und Kleine Fluchten trotz sehr unterschiedlicher Intensität insgesamt eine wichtige Funktion bei der Schilderung der intrapersonellen Wandlung hat. Am ausgeprägtesten ist sie in Betty Blue: Die genauen Zusammenhänge von Bettys Wandlung werden nicht offen gelegt. In geringerem Maße, aber ebenfalls mit Bezug auf die Schilderung der inneren Veränderung der Protagonistin, wird in Breaking Glass mit dem Mittel der Informationsunterdrückung gearbeitet: Wann genau nach Kates Traumatisierung ihre Veränderung beginnt und wie sie fortschreitet, wird nicht im plot inszeniert. Vielmehr werden die Auswirkungen ihres bereits fortgeschrittenen Wandlungsprozesses geschildert. In Taxi Driver wird ein sehr ausgeklügeltes System der Informationsgabe und -verweigerung aufgebaut: Informationen wie Leerstellen streben als Gesamtzusammenhang keiner Auflösung entgegen, sondern bilden eine schwebende Form. Auch in Kleine Fluchten kommt es in einem zentralen Moment von Pipes Wandlung zu einer Wissensverweigerung: Der von Pipe verursachte Mopedunfall sowie seine Umstände werden nicht geschildert. Welche Entscheidungen und inneren Erlebnisse danach Pipes weiteres Streben nach Veränderung prägen und aufgrund welcher Motivationen er neue Wege der Entwicklung wählt, wird ebenfalls nicht geschildert. Erst wenn Pipe bereits in weitere Wandlungsschritte involviert ist, setzt die Informationsgabe wieder ein. Dead Man und Das Piano werden von einer Kombination aus ungehindertem Wissensfluss – communicativeness – und deutlich wahrnehmbarer Inszenierung des Erzählvorgangs – self-consciousness – geprägt: Während die aktive Zeigefunktion in Dead Man eher ein Suchen und Ergründen-Wollen kennzeichnet, bezieht der image-maker in Das Piano bei der Präsentation seines Wissens um Adas Entwicklungsprozess eindeutig Stellung. Für diesen Aspekt also lässt sich eine Tendenz beschreiben: In drei Filmen, die vom Scheitern erzählen, kommt es in zentralen Momenten des Wandlungsgeschehens zum Einsatz von Wissensverweigerung. Eine ungehinderte Informationsgabe prägt hingegen die vier Filme, die von einer Reifung handeln. 222
In allen Filmen zeigt sich, dass der Einsatz von pure movement of narration als Gestaltungsmuster bei der Visualisierung der intrapersonellen Veränderungsprozesse relevant ist. In einigen Filmen wird dieses filmische Mittel dabei sehr ausgeprägt verwendet, in anderen eher selten: In Taxi Driver und Kleine Fluchten lässt sich im Zusammenhang mit der Vermittlung des intrapersonellen Entwicklungsprozesses ein häufiger, mehr oder wenig kontinuierlicher bzw. zum Ende der Geschichte gesteigerter Einsatz von pure movement of narration feststellen. Auch in Das Piano wird diese Erzählposition bei der Präsentation wandlungsbezogener Informationen mehrfach eingenommen. In Dead Man, Betty Blue, Rocco und seine Brüder und Breaking Glass lassen sich jeweils mehrere unmittelbare Zusammenhänge zwischen der Verwendung von pure movement of narration und der Visualisierung von Wandlung beschreiben. Insgesamt ist das Ergebnisprofil jedoch heterogen. In Betty Blue wird durch den Einsatz von pure movement of narration auf subtile Weise ein inhaltlicher Kontrast aufgebaut, der auf das Wandlungsgeschehen verweist. Die Eigenaktivität der Erzählinstanz in Dead Man ist dagegen sehr deutlich wahrnehmbar. In Bezug auf die Präsentation der Wandlung entsteht so eine erzählerische Haltung suchenden, fragenden Beobachtens. In Breaking Glass und Rocco und seine Brüder zeigt sich das pure movement of narration vor allem in Montagetechniken, die dabei vermittelten Inhalte stehen in Beziehung zum Veränderungsprozess der jeweiligen Hauptfigur. Relativ oft lässt sich eine omnisziente Erzählposition und deren handlungsunabhängige Eigenaktivität in Der mit dem Wolf tanzt ausmachen. Dabei wird dieses Mittel der Narration meist für Verknüpfungen erzählerischer Zusammenhänge und in der Spannungsdramaturgie eingesetzt, zudem stellen bestimmte erzählerische Momente Bezüge zwischen dem Einsatz von pure movement of narration und der Visualisierung von Wandlung her. Zur Einflussnahme der Gestaltungsmuster der narrativen Transmission auf die Lesart der charakterlichen Veränderungsprozesse lassen sich folgende Tendenzen herausarbeiten. In Kleine Fluchten, Das Piano und Der mit dem Wolf tanzt trifft man auf einen deutlich interpretierenden Erzählduktus, in dem sich der charakterliche Veränderungsprozess der Hauptfiguren als Entwicklung zur Reifung präsentiert. In Taxi Driver wird solch eine interpretierende Stellungnahme nicht aufgebaut; zwar ist eine hohe Aktivität sehr wirksamer Erzählfunktionen festzustellen, doch konstituiert sich darüber keine interpretierende Lesart zentraler Informationen über den charakterlichen Veränderungsprozess. In Rocco und seine Brüder ist von Beginn an eine interpretierende Erzählhaltung aktiv. Die Wissensgabe weist dabei deutliche Steuerungsvorgänge für die Lesart der Informationen auf, der Zuschauer wird zu einem klaren Verständnis der Geschichte und der geschilderten Veränderungsprozesse geführt. Die Entwicklungen, die zu Scheitern oder Reifung führen, werden als solche verdeutlicht. In Betty Blue hingegen klingt nur eine sich sehr subtil mitteilende Stellungnahme der Erzählfunktion an – im dabei aufgebauten Kontrast zwischen einer scheinbaren Idylle und den dramatischen Ereignissen der charakterlichen Veränderung wird die 223
interpretierende Haltung durch die Gestaltungsmuster der narrativen Transmission spürbar: Zum einen werden die Idylle als Lebenseinstellung und die damit verbundene Verdrängung von Problemen in Frage gestellt, zum anderen wird vermittelt, dass „verrückt“ zu sein zu den vielen verschiedenen Erscheinungsformen des Lebens zählt. In Dead Man ist zwar eine sehr wirkungsvolle Erzählfunktion präsent, doch baut sich keine deutliche Stellungnahme zum erzählerischen Geschehen auf. Der erzählerische Duktus konstruiert eine Art kontemplativer Beobachtungshaltung gegenüber den Geschehnissen innerhalb der Geschichte. Zwar steuert eine eigenaktive Instanz die Informationsgabe sowie die Auswahl bei der Präsentation erzählerischen Wissens sehr deutlich, doch wird in Bezug auf die Ereignisse keine Interpretationsrichtung vorgegeben. Vielmehr wird aus gleichmütiger Beobachtungshaltung heraus verfolgt, wie sich der Held der Geschichte seinen Aufgaben stellt. In Breaking Glass nehmen die Gestaltungsmuster der narrativen Transmission nur geringen Einfluss auf die Lesart der Informationen über die charakterliche Wandlung der Hauptfigur. Zwar wird der Moment des Traumas als wesentliches Element im Wandlungsgeschehen durch auffällige Verwendungsweisen narrativer Transmission akzentuiert, ebenso wie verschiedene damit in Verbindung stehende Ereignisse in Kates innerem Erleben, doch resultieren die Hinweise auf eine Lesart der Ereignisse vermehrt aus der Gestaltung der Bildausschnitte und der darin inszenierten Figurenkonfiguration. Damit kann festgestellt werden, dass in drei Filmen – Kleine Fluchten, Das Piano und Der mit dem Wolf tanzt – die Erzählweise deutlich Einfluss auf die Vermittlung der Informationen über den Veränderungsprozess der Hauptfigur nimmt: Die Interpretation des Wandlungsgeschehens als Reifungsprozess erfolgt zum Großteil über die Gestaltungsmuster der narrativen Transmission. Im vierten von einem Reifungsprozess erzählenden Film – Dead Man – nimmt die Erzählhaltung weniger Einfluss auf die Lesart der Ereignisse. Die narrative Transmission baut hier eine fragende und betrachtende Haltung bei der Gabe der erzählerischen Informationen auf. Die Erkenntnis, dass der Wandlungsprozess zu einer Reifung führt, erwächst hier eher aus anderen Gestaltungsmustern, zum Beispiel aus der narrativen Konstruktion der Erzählung, aus der Schauspielarbeit u. Ä. In drei Filmen, die eine Veränderung hin zum Scheitern präsentieren – Breaking Glass, Betty Blue und Taxi Driver – wird anhand der Analysedaten der Aufbau einer interpretierenden Erzählweise in den Gestaltungsmustern der narrativen Transmission erkennbar. Allerdings ist hier die Einflussnahme im Vergleich zur sinnstiftenden Interpretation der Erzählungen von Reifungsprozessen wesentlich zurückhaltender, subtiler bzw. wird in der Schwebe gehalten. Die deutlich interpretierende Erzählweise in Rocco und seine Brüder bildet in diesem Zusammenhang eine Ausnahme: Hier herrscht in Bezug auf die gesamten erzählerischen Zusammenhänge ein deutlich interpretierender Präsentationsduktus vor. Diese Beeinflussung der Lesart gilt auch für die Erzählung vom Scheitern Simones. 224
6.4 Subjektive Blickperspektive (1PJOUPG7JFX) als Erzählstrategie Die Analyse zeigt, dass die subjektive Blickperspektive des POV als visuelles Mittel zur Darstellung prozesshafter Veränderung und charakterlicher Wandlung in fünf Filmen der Auswahl – Kleine Fluchten, Dead Man, Taxi Driver, Das Piano und Breaking Glass – auf sehr prominente Weise eingesetzt wird. In den drei übrigen Filmen – Der mit dem Wolf tanzt, Betty Blue und Rocco und seine Brüder – wird er ebenso oft verwendet, doch lässt sich hier kein direkter Bezug zur Darstellung intrapersoneller Wandlung feststellen. In Kleine Fluchten werden im POV Wahrnehmungsinhalte und innere Entscheidungsprozesse der Hauptfigur Pipe gezeigt. Die szenischen Inhalte weisen auf Pipes Interessen, Begehren und Handlungsmotivationen. In wichtigen Momenten von Pipes Entwicklung erklärt sich sein Handeln durch die Darstellung bestimmter subjektiver Wahrnehmungsinhalte. So blickt er während der gemeinsamen Arbeit mit dem Bauer John auf verschiedene Szenen der Fortbewegung: Singende Kinder fahren in einem Bus vorbei [00.44.30], der Sohn des Bauern fährt mit seiner Freundin auf einem Motorrad vom Hof [00.45.30], schließlich rauscht ein Segelflieger über das Gehöft hinweg [00.47.35]. Im Anschluss an diese Wahrnehmungen Pipes sieht man ihn, wie er von seiner Arbeit auf dem Feld davonläuft und in waghalsiger Fahrt mit dem Moped versucht, dem Segelflugzeug zu folgen [00.48.24]. Aus seiner subjektiven Perspektive wird hier visualisiert, welche Ereignisse seine Aufmerksamkeit fesseln, dadurch wird sein Entscheidungsprozess nachvollziehbar. Die Darstellung von Pipes Gedankenfolgen und Entscheidungsfindungen durch den POV ist ein zentrales visuelles Gestaltungsmuster zur Visualisierung seines inneren Veränderungsprozesses. Von ebenso zentraler Bedeutung ist der Einsatz von POV in Dead Man: Zum einen werden, vergleichbar mit Kleine Fluchten, die Inhalte von Blakes subjektiver Wahrnehmung im POV präsentiert. Im Zusammenhang mit Objekten und Szenen, die Blake betrachtet, und seinen anschließenden Handlungen werden Aspekte seines inneren Erlebens und seiner Persönlichkeit vermittelt. Zudem visualisiert eine sukzessive Veränderung des POV die Wandlung seines körperlichen Zustands, sein langsames Sterben: Blakes subjektive Wahrnehmung wird zu Beginn und über weite Teile des Hauptteils visuell unverfremdet präsentiert. Später werden Mehrfachbelichtungen und bewegte Kamera mit ungewöhnlichen Blickperspektiven und Bewegungsrichtungen eingesetzt. Blakes POV wird im letzten Viertel des Films deutlich häufiger eingesetzt. Seine subjektive Wahrnehmungsperspektive wird in einer POV-Sequenz von mehreren Minuten Dauer präsentiert [01.41.40], deren visuelle Qualität stark von den verwendeten visuellen Verfremdungseffekten – Steadycam und Zeitlupe – geprägt wird. Insgesamt lässt sich feststellen, dass mit dem Gestaltungsmuster des POV in Dead Man wesentliche Phänomene von Blakes physischer und psychischer Wandlung visualisiert werden. 225
Auch in Taxi Driver wird der POV zur Visualisierung von Travis’ subjektiver Wahrnehmung sehr oft und zudem sehr plakativ eingesetzt. So werden wiederholt Travis’ Tagträume visualisiert. Der Übergang zwischen diesen POV-Szenen zu Szenen aus Travis’ konkreter, diegetischer Umgebung – zum Beispiel aus external focalization oder nondiegetic narration – ist oft visuell nicht klar markiert, sondern fließend. Dabei fällt auf, dass Zeitlupe und sehr langsame, präzise kontrollierte Bewegungen der Kamera sowohl zur Verfremdung von Travis’ Tagträumen wie auch bei der Präsentation diegetischer Szenen seiner subjektiven Wahrnehmungen eingesetzt werden [00.09.34, 00.14.10, 00.41.50, 01.29.26]. Daneben werden – im Kontrast zu den verfremdenden Effekten Zeitlupe und langsame Kamerabewegung – Travis’ Wahrnehmungsinhalte aus seinem POV in Montagesequenzen präsentiert, die Folgen seiner subjektiven Eindrücke während der Taxifahrten zeigen [00.05.05, 00.12.40, 01.45.33]. Die Montage von Blicken und bewegter Szenerie aus seinem POV ergibt einen kaleidoskopartigen Bilderbogen. Diese Wahrnehmungsfragmente sind durch sehr unregelmäßige Zeitsprünge miteinander verbunden. Zum einen verdeutlicht der häufige Einsatz des POV, dass das visuelle „Abtasten“ von Straßenrand und Gehwegen zu Travis’ beruflicher Tätigkeit gehört. Doch vermitteln die Objekte, nach denen er mit seinen Blicken oft sucht, dass Travis auf Szenen der Gewalt, der Prostitution und des Elends fixiert ist. Aspekte seines Innenlebens werden hier erkennbar. Insgesamt etabliert der Einsatz filmästhetischer Mittel zur Inszenierung von Travis’ Wahrnehmungsinhalten starke Verfremdungseffekte bei der visuellen Präsentation szenischer Momente: Zum einen kippt Travis’ Wahrnehmung in verlangsamte, überdehnte Phasen, zum anderen wird seine Wahrnehmung durch das Aneinanderreihen von Ereignisfragmenten mit vielen zeitlichen Auslassungen extrem beschleunigt. Dieser gehäufte Einsatz filmästhetisch verfremdender Mittel zur Visualisierung von Travis’ subjektiver Blickperspektive vermittelt, dass seine Wahrnehmung von einer „normalen“ Sicht auf die Dinge stark abweicht – Travis’ Realitätswahrnehmung, Informationsaufnahme und -verarbeitung sind gestört. Und so gelingt es auch nicht, seine Entscheidungen mit Hilfe der im POV präsentierten Inhalte nachzuvollziehen. Doch ermöglicht die Visualisierung von Travis’ verfremdeter Wahrnehmung Vermutungen über seine Impulse und Beweggründe, die zu seinen absurden und kriminellen Handlungen führen. Der POV wird in Taxi Driver nicht zur unmittelbaren Erklärung des Veränderungsprozesses des Protagonisten eingesetzt, wie es für Kleine Fluchten und Dead Man gilt. Die verfremdenden Wahrnehmungsweisen der Hauptfigur geben lediglich Hinweise auf handlungsverursachende Prozesse in ihrem Innern. In wenigen zentralen Momenten von Adas Geschichte in Das Piano wird ihre subjektive Wahrnehmungsperspektive zur Visualisierung inneren Erlebens und Fühlens eingesetzt. So sieht sie etwa vor ihrem inneren Auge ihr geliebtes Instrument, das am Strand nahe der großen Wogen des Meeres steht [00.19.45]. Wenn sie sich nach 226
Baines sehnt, richtet sie ihren subjektiven Blick auf das üppige Grün des Dschungels [01.08.09]. Am Ende des Films fantasiert Ada, wie sie tot über ihrem Piano auf dem Meeresgrund schwebt [01.51.20]. Diese Szenen subjektiver Wahrnehmungsinhalte, die sich über den ganzen Filmverlauf verteilt finden, vermitteln Aspekte von Adas innerer Veränderung: Die Beziehung zu ihrem Musikinstrument und zu anderen Menschen wandelt sich grundlegend. Der Einsatz des POV als Mittel zur Dialoginszenierung vermittelt weitere Facetten ihres Wandlungsprozesses. So werden auch Gelingen und Scheitern ihrer Beziehungen zu Baines und Stewart visualisiert: Das Scheitern der Beziehung zu Stewart wird in der Kadrierung einer Dialogszene zwischen beiden [00.20.00] deutlich: Sie sind zueinander so positioniert, dass sich ihre Blicke im Schuss-Gegenschuss-Verfahren nicht treffen. Die Gestaltung von Adas POV bei den verschiedenen Begegnungen mit Baines verändert sich im Laufe der Handlung, wobei ein deutlicher Wechsel der visuellen Gestaltung zu bemerken ist, durch welchen Adas veränderte Gefühle für Baines visualisiert werden: Bei der ersten persönlichen Begegnung, wenn Ada Baines bittet, sie und ihre Tochter zum Piano am Strand zu bringen, sind die Kamerapositionen von Adas Blicken auf Baines wesentlich näher an seinem Gesicht, als es die Positionen der Figuren im szenischen Raum zulassen [00.21.45] – hier wird angedeutet, dass Ada eindringlich und unbedingt Baines’ Hilfe will. Während der Klavierstunden werden im Rahmen der gesamten visuellen Inszenierung aus unterschiedlicher Distanz Adas POVs auf Baines visualisiert. In der achten Stunde, wenn Baines das Instrument zu Ada transportieren lässt, wird zwischen den beiden eine Schuss-Gegenschuss-Sequenz mit sehr distanzierten Blickpositionen inszeniert [01.03.05]. Dabei ist Adas Blick – in Umkehrung zur oben beschriebenen ersten Begegnung – weiter von Baines entfernt, als dessen Blick auf sie es für den szenischen Raum indiziert. Bei ihrer nächsten Begegnung werden Schuss-Gegenschuss-Verfahren und langsame Zufahrt aus beider POVs eingesetzt. Dabei nähern sich die Blickperspektiven auf das Gesicht des Gegenübers bis zur Großaufnahme [01.10.32]. Diese Gestaltungsmuster vermitteln die emotionale Annäherung zwischen Baines und Ada. In einigen wenigen, doch bei der Schilderung von Kates Veränderungsprozess zentralen Momenten wird der POV sehr spezifisch eingesetzt: Wenn die Polizei in den Übungsraum der Band eindringt und die Beamten den Schlagzeuger Mick bedrängen, wechselt der POV zwischen Kate und den übrigen Bandmitgliedern [00.33.38]. Kate bezieht sich auf alle in der Gruppe gleichermaßen. In ihrem POV entwickelt sich ein Netz von Beziehungen, das sie mit Dany und den Musikern ihrer Band verbindet. In einem stark verfremdeten POV wird Kates subjektiver Blick auf den vor ihren Augen getöteten jungen Konzertbesucher präsentiert [00.59.06]. Dieses Ereignis traumatisiert sie so sehr, dass sich ihre Handlungsfreiheit und ihr Empfinden stark verändern. Kurz danach lässt Kate zum ersten Mal die Manipu227
lation und Vereinnahmung ihrer Kunst durch die Musikindustrie geschehen: Zunächst wird ihr Song What’s right or wrong? in Atmosphäre und Klang, danach für ein Musikvideo auch ihr Äußeres stark verändert [01.09.33]. Nach der Arbeit im Studio ist sie gemeinsam mit Dany zu Hause [01.10.04]. Er beginnt einen Streit über den Einfluss des Produzenten auf sie und ihre Musik. Dabei blickt Kate in einen großen Spiegel und schminkt sich ab. Die Kamera präsentiert annähernd Kates POV auf sich selbst und auf Dany im Spiegel. Noch immer vor dem Spiegel stehend schluckt Kate, die erkältet ist und sich nicht wohl fühlt, Tabletten. Gegen Ende des Films ereignet sich eine ganz ähnliche Szene: Kate steht vor einem ihrer Konzertauftritte vor einem Spiegel in ihrer Garderobe und schluckt wieder Tabletten [01.27.42]. Dabei wird ihr Blick auf sich selbst visuell verfremdet, er ist verschwommen und unscharf. Die Kamera fährt langsam zurück und gibt den Blick auf zahlreiche weitere Spiegelbilder Kates frei, bis sie schließlich in Rückenansicht selbst ins Blickfeld rückt – zwischen zwei einander gegenüber stehenden Spiegeln, so dass eine fast unendliche Zahl von Spiegelbildern entsteht. Dieser POV Kates korrespondiert mit der ersten Spiegelszene. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kate erstmals den Einfluss der Musikindustrie zugelassen. Zur Zeit der zweiten Spiegelszene ist sie bereits ganz zur Marionette von Produzent und Plattenfirma geworden. Die unterschiedliche ästhetische Inszenierung beider Spiegelszenen visualisiert Ausmaß und Tragweite von Kates Wandlungsprozess. Im letzten Teil der Geschichte wird in zwei weiteren POVs aus Kates Perspektive eine inhaltliche Verknüpfung zu dem traumatisierenden Ereignis aufgebaut. Die visuelle Inszenierung verweist darauf, dass sich Kates Veränderungsprozess unter anderem in Folge dieses Traumas entwickelt hat. Während ihres großen Konzerts nimmt sie wie in Zeitlupe das Publikum als eine tobende, schreiende und entindividualisierte Masse wahr, deren Konturen sich in Unschärfe auflösen [01.32.34]. Ähnlich verfremdet war ihr Blick auf die tobende Menge, als vor ihren Augen der junge Konzertbesucher getötet wurde. Eine weitere Darstellung aus Kates POV während ihrer Halluzination in der U-Bahn wiederholt den Blick auf den sterbenden und schreienden Jungen. Diese visuell verfremdeten und auffällig inszenierten POVs präsentieren in diesem Film wichtige Momente des inneren Erlebens, die in einem Bezug zur intrapersonellen Wandlung der Protagonistin stehen. Für die drei anderen filmischen Erzählungen aus dieser Gruppe der Beispielfilme – Der mit dem Wolf tanzt, Betty Blue und Rocco und seine Brüder – lassen sich zwar verschiedene Verwendungsweisen des POV aus der Perspektive der Hauptfigur erkennen, jedoch keine oder nur sehr schwache Bezüge zur Visualisierung der charakterlichen Wandlung feststellen. In Der mit dem Wolf tanzt wird der POV der Hauptfigur John Dunbar relativ häufig eingesetzt. Objekte und Szenen, die aus seiner Perspektive inszeniert sind, visualisieren gleich zu Beginn der Geschichte seine Gedankengänge und Entschei228
dungen. Diese Verwendung des POV kommt noch an vielen weiteren Stellen der filmischen Inszenierung zum Einsatz und vermittelt dort jeweils das innere Erleben des Protagonisten. So wird etwa sein Erschrecken über die toten Tiere an der Wasserstelle durch den Wechsel von external focalization zu POV in einer raschen Heranfahrt auf das tote Tier vermittelt. Weitere Beispiele hierfür sind Dunbars Blicke im POV auf die Indianer, wenn sie ihn nach der Jagd verlassen und weiterziehen [02.04.45] und sein inneres Erleben als Der-mit-dem-Wolf-tanzt im POV während der Hochzeitszeremonie mit Steht-mit-einer-Faust [02.52.55]. Die Vermittlung von Informationen über die Wesensart des Protagonisten wird im Zusammenwirken von Dunbars gedanklichen Off-Texten und den Bildern aus seiner subjektiven Wahrnehmungsperspektive inszeniert. Einen weiteren Einsatz des POV findet man bei Dialogen Dunbars mit anderen Figuren im Schuss-Gegenschuss-Verfahren. In der Gesamtschau auf die Inszenierung lässt sich jedoch keine spezifische Relevanz für das Verfahren des POV zur Visualisierung von Dunbars intrapersoneller Wandlung erkennen. Zwar wird diese Erzählposition wiederholt eingesetzt, um verschiedene Momente von Dunbars innerem Erleben, seinem Denken und Fühlen zu visualisieren, doch wird dabei keine prozesshafte Entwicklung seines Charakters und seiner Persönlichkeit inszeniert – in Der mit dem Wolf tanzt wird der POV gleichberechtigt mit anderen levels of narration zur Vermittlung erzählerischer Inhalte eingesetzt. In Betty Blue kommt der POV der Hauptfigur kaum zum Einsatz. Nur in einigen wenigen Dialogszenen zwischen Betty und Zorg und bei einem Teil der tätlichen Übergriffe bzw. Selbstverletzungen Bettys werden einige Momente des szenischen Ereignisses aus Bettys subjektiver Perspektive gezeigt. Blitzartig kurze Momente während ihrer aggressiven Ausbrüche liefern die wenigen szenischen Bilder, die in Bettys POV präsentiert werden. Der Kamerablick zeigt dann, wie sie wütend auf den dicken Vermieter zugeht und einen Streit mit ihm beginnt [00.16.45]. Ebenso ist aus ihrer subjektiven Perspektive zu sehen, wie sie nach dem am Boden liegenden Kamm greift, um den Verleger damit im Gesicht zu verletzen [00.50.38]. In ähnlicher Weise sieht man in einer sehr kurzen Einstellung aus Bettys subjektiver Perspektive, wie sie nach der Gabel greift, mit der sie die RestaurantBesucherin am Arm verletzen wird [00.45.33]. Auch der szenische Moment, in dem Betty ihre Faust durch die Glasscheibe stößt, wird aus ihrem POV inszeniert. Ein Vergleich dieser kurzen szenischen Teile zeigt jedoch für den POV keinen direkt bedeutungsschaffenden Bezug zur Visualisierung charakterlicher Wandlung. Zwar entsteht in diesen visuellen Momenten plötzlich und sehr kurz eine große Nähe zu Bettys subjektiver Perspektive, doch verlässt sie der filmische Blick sofort danach wieder. Diese Momente ermöglichen keinen klärenden Einblick in Bettys Innenleben, sondern zeigen Momente ihres unkontrollierten, impulsiven Handelns aus ihrer Blickperspektive. In der Kameraarbeit werden die Gestaltungsmuster zur 229
dramaturgisch-visuellen Präsentation von Handlungen eingesetzt, ohne dass dabei spezifische Hinweise auf Bettys inneren Veränderungsprozess vermittelt werden. In Rocco und seine Brüder wird ein direkter POV der Akteure ebenfalls selten eingesetzt: In fast allen Fällen wird in den Dialogszenen der Bildausschnitt im SchussGegenschuss-Verfahren over-shoulder gesetzt. Eine einzelne Einstellung jedoch, die explizit in Simones POV inszeniert wird, fällt innerhalb seiner Entwicklung auf: Der Boxtrainer wird auf Rocco aufmerksam und befragt ihn nach seinen Ambitionen [01.25.12], dabei steht Simone in der Tür zum Umkleideraum und beobachtet diese Szene [01.26.00]. Als Rocco seine ablehnende Haltung gegenüber dem Boxsport äußert, geht Simone in den Umkleideraum hinein – die Schauspielarbeit des Darstellers drückt hier Simones Befürchtung aus, dass Rocco ihm vielleicht Konkurrenz machen und ihn überflügeln könnte. In diesem szenischen Moment zeigen sich sein fragiles Selbstwertgefühl und seine große Angst vor Kränkungen – ein zentraler Wesenszug Simones, der ihm auf seinem weiteren Weg immer wieder zum Verhängnis werden wird: Auf Enttäuschungen, Misserfolge und Kränkungen reagiert er mit Aggression und Gewalt.
6.5 PKS-Modell: Darstellung der chrakterlichen Wandlung durch Gestaltungselemente und -muster auf den drei filmischen Strukturebenen Im PKS-Modell wird die narrative Konstruktion einer filmischen Erzählung durch Präsentationen aller Handlungsereignisse auf drei verschiedenen Strukturebenen definiert. Im Folgenden werden nun jeweils drei Aspekte der Grundstruktur betrachtet: Zunächst wird untersucht, wie das Verteilungsprofil aller Handlungen der zentralen Figur innerhalb der drei von Wuss definierten filmischen Strukturebenen gestaltet ist. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, wie die auf die innere Wandlung der Figur verweisenden Handlungsaspekte auf die drei Ebenen verteilt sind. In einem nächsten Schritt werden die Wechselprofile der drei Strukturebenen in opening und ending der Beispielfilme untersucht und miteinander vergleichen. Dabei wird beschrieben, welche Verwendungsweisen der filmischen Strukturebenen in den verschiedenen Filmen jeweils dominieren, ob also die inhaltlichen Elemente vermehrt in Kausalketten, Topikreihen oder Story-Schemata bzw. in bestimmten Kombinationen dieser drei basalen Erzählformen organisiert werden. Über das definitorische Verständnis des primacy effect können in einem anschließenden Vergleich der Gestaltungsstrukturen in opening und ending Aussagen über Unterschiede und prozesshafte Veränderungen in den Wechselprofilen der Ebenen getroffen werden. Als dritter Untersuchungsaspekt des Wuss’schen Modells wird das Innovationspotenzial der einzelnen Filme analysiert. Nach Wuss entstehen bei bestimmten Dominanz230
verhältnissen zwischen den drei filmischen Strukturebenen und bei der Rezeption der darin repräsentierten inhaltlichen Aussagen mehr oder weniger große Impulse für Neuerungen und Veränderungen des potenziellen zukünftigen Verhaltens des Betrachters. Es lässt sich für alle Beispielfilme gemeinsam feststellen, dass die wesentlichen Elemente, die über Wesensart und Persönlichkeit der zentralen Figur und deren Veränderungen informieren, auf der perzeptionsgeleiteten Ebene gelagert sind: Wiederholung und Varianz bestimmter Handlungen und Verhaltensweisen der Hauptfigur fügen sich zu Topikreihen zusammen. In der Summe dieser szenischen Ereignisse bilden sich die charakterlichen Eigenschaften und die Wesensarten der Persönlichkeit der Figur heraus. In Bezug auf die Wechselprofile zwischen den drei Strukturebenen, wie sie sich in opening und ending zeigen, lässt sich bei sieben Beispielfilmen (die Ausnahme ist Breaking Glass) folgende Dynamik in den Gestaltungsweisen beobachten: Bestimmte Verhaltenstendenzen und -eigenarten der zentralen Figur, die während des Filmverlaufs überwiegend auf der perzeptionsgeleiteten Ebene gelagert waren, repräsentieren sich gegen Ende der Geschichte sukzessive und vermehrt als Elemente auf der konzeptgeleiteten Strukturebene. Das bedeutet, dass der Zuschauer diejenigen Tendenzen innerhalb der Persönlichkeitskonstruktionen, die nach Veränderung streben, im opening und über weitere Strecken des Filmverlaufs über das Wahrnehmungslernen verstehen lernt. Ist die Wandlung vollzogen, werden dem Zuschauer keine weiteren Informationen auf der Ebene dieser Lernleistung angeboten und es kommt so zum Abschluss dieses Lernprozesses. Die veränderte Situation und damit die neuen oder gewandelten Verhaltensweisen der Figur werden im ending als Tatsachen der Kausalkette präsentiert. Als zweites zentrales Ergebnis des Vergleichs von opening und ending kann für sechs der acht Beispielfilme (nicht für Breaking Glass und Taxi Driver) der Aufbau eines bestimmten Bezugssystems zwischen den Inhalten auf der perzeptionsgeleiteten und der stereotypgeleiteten Ebene herausgearbeitet werden. Die Verbindung der Informationen auf diesen beiden Strukturebenen wird durch einen Kontrast erstellt: Die inhaltlichen, auf der stereotypgeleiteten Ebene aufgestellten Themen werden auf der perzeptionsgeleiteten Ebene von Bedeutungskontexten der handlungsbezogenen Elemente kontrastiert. Innerhalb dieses inhaltlichen Spannungsfelds spielt sich das Geschehen des jeweiligen Wandlungsprozesses ab. Von den Ergebnissen dieser Strukturvergleiche ausgehend lassen sich Aussagen über das Maß des Innovationspotenzials der verschiedenen Filme treffen: Sechs Filme weisen ein relativ hohes Innovationspotenzial auf, da sich in ihren narrativen Strukturen eine Verknüpfung zwischen der perzeptions- und der stereotypgeleiteten Ebene abzeichnet. Die Ausnahmen sind Breaking Glass und Taxi Driver: In Taxi Driver sind die erzählerischen Informationen über die Handlungen der zentralen Figur 231
vorwiegend auf der perzeptionsgeleiteten Strukturebene gelagert, demnach müsste in diesem Film ein sehr hohes Innovationspotenzial wirken. In Breaking Glass ist ein anderes Bezugssystem als das des Kontrasts zwischen Inhalten der stereotyp- und der perzeptionsgeleiteten Ebene etabliert: Hier wird ein Zusammenwirken der erzählerischen Elemente auf den beiden Strukturebenen installiert. Das dabei entstehende Innovationspotenzial müsste wiederum relativ hoch sein.
6.5.1 Kontraste und Bezugssysteme zwischen den Strukturebenen Im opening von Das Piano werden zahlreiche Handlungen Adas inszeniert, die in keinem direkten Bezug zur kausalen Logik der Ereignisabläufe stehen. Diese Handlungen verdeutlichen verschiedene Aspekte von Adas Wesensart. Gezeigt werden unkonventionelle und äußerst kreative Verhaltensweisen, die kaum den Normen sozialer Handlungsmuster entsprechen. Zudem werden in Adas Handlungen ihr starker Wille und ihr Drang, sich durchzusetzen, erkennbar: Sie hält sich wie ein kleines Kind die Augen zu [00.01.00], sie spricht nicht, obwohl sie als Kind dazu fähig war, sondern artikuliert sich nur in Zeichensprache. Ihre Gefühle drückt sie im Klavierspiel aus [00.01.25]. Sie zerschneidet Schnürsenkel, statt sie zu lösen [00.02.45] und baut aus ihrem Unterrock ein Zelt für sich und ihre Tochter [00.08.17]. Sie vermeidet – mit Ausnahme ihrer Tochter – Berührungen anderer Menschen [00.11.00]. Sie lässt ihre Schuhe am Strand vom Salzwasser durchweichen [00.05.00] und beschimpft den Skipper mit rohen Worten [00.06.10], sie zerreißt die Spitzen ihres Hochzeitskleids [00.19.30]. Hier könnten noch viele weitere Beispiele für Adas Verhaltensweisen genannt werden. Im Kontrast zum Duktus dieser Handlungen, der in der Erzählung durch Topikreihen etabliert wird, stehen zahlreiche inhaltliche Informationen auf stereotypgeleiteter Ebene, die in Story-Schemata präsentiert werden. In diesen – oft von Stewart und seinen Verwandten ausagierten – Bedeutungsbündeln werden vor allem Szenen gesellschaftlich normierten Verhaltens, sozialer Konventionen und Rituale vermittelt. Dabei werden diese Konventionen jedoch häufig durch die Art ihrer Inszenierung gebrochen und – wie bereits beschrieben – von Adas Verhalten kontrastiert: Stewart kämpft sich mit Frack und Zylinder durch den Dschungel, um seine Braut vom Strand abzuholen. Er kämmt sich auf dem Weg seine ungewaschenen, verklebten Haare und versucht sich auf diese Weise für die erste Begegnung mit seiner Braut schön zu machen [00.09.30]; zu ihrer Begrüßung erscheint er dann einen Tag zu spät am Strand [00.1032]. Zur Inszenierung eines Hochzeitsfotos schleppt sich die Gesellschaft bei strömendem Regen nach draußen und durch den Schlamm [00.17.22]. In der neuen Familie (Stewart, Ada und Flora) bricht am Frühstückstisch ein heftiger Streit aus [00.30.31]. Stewart geht mit Baines 232
einen Tauschhandel ein: Er tauscht von Baines ein Stück Land gegen Adas Piano und Klavierstunden [00.29.15]. Es kommt nicht zu einer Annäherung zwischen Stewart und seiner Ehefrau [00.36.00]. Die Siedlergemeinde besucht ein Theaterstück; Maoris, welche die Aufführung ebenfalls verfolgen, erschrecken über die Handlung und greifen aktiv in das Spiel ein [00.57.29]. In all diesen Szenen bestimmen von ritualisierten Rahmen, konventionalisierten Abläufen und gesellschaftlich festgelegten Bedingungen gekennzeichnete Ereignisse das Geschehen. Diese fixen Schemata aber werden aufgrund ihrer Inszenierungen durch jeweils ein Handlungs- oder Ereigniselement gestört: Beim Arrangement des Hochzeitsfotos regnet es in Strömen. Die Maoris halten die vorgespielten Gewaltakte für reale Ereignisse und sprengen die Aufführung. Stets verhindern unkontrollierbare Ereignisse und Interaktionen die Einhaltung des gesellschaftlich-konventionellen Schemas; Adas in Topikreihen inszeniertes Verhalten verursacht Regelbrüche und unkonventionelle Situationen. Die Ereignisse auf stereotypgeleiteter Ebene mit ihrem festgelegten Ablaufschema stehen dazu im Kontrast, aber auch Adas Verhaltensduktus spiegelt sich hier wider, wenn die in Story-Schemata präsentierten Ereigniszusammenhänge durch unkonventionell und regelbrüchig inszenierte Handlungen und Ereignisse gestört werden. In der Inszenierung von Adas Besuchen bei Baines wird ein weiteres fein ausgeklügeltes Bezugssystem von Kontrast und Analogie zwischen den erzählerischen Elementen aller drei Strukturebenen errichtet: Die Handlungen beider Figuren, die dem konventionellen Rahmen eines Klavierunterrichts entsprechen, werden auf stereotypgeleiteter Ebene inszeniert:. Die Vereinbarung zwischen Ada und Baines über den Tauschhandel von Instrumententasten gegen körperliche Berührung, als erzählerischer Inhalt in Form eines kausalen Zusammenhangs auf der konzeptgeleiteten Ebene in Szene gesetzt, bricht den konventionellen Rahmen einer Klavierstunde gänzlich auf. Adas Verhaltensweisen sind hier abwechselnd auf allen drei Strukturebenen einzuordnen, je nach aktuellem Bezugsrahmen. Wenn Ada wie vereinbart durch ihr Vorspiel unterrichtet, liegen diese szenischen Elemente auf der stereotypgeleiteten Ebene. Ihr Verhalten beim mehrmaligen Nachverhandeln über Tastenanzahl und Berührungsarten wird dagegen auf der konzeptgeleiteten Ebene präsentiert. Die auf perzeptionsgeleiteter Ebene gelagerten Verhaltensweisen entsprechen weder den Konventionen der Klavierstunde noch dem durch die Vereinbarungen des Tauschhandels etablierten Handlungsrahmen. Diese Handlungen Adas auf perzeptionsgeleiteter Ebene verändern sukzessive den Rahmen dieser Vereinbarung. Ada entwickelt neue, unerwartete Verhaltensweisen gegenüber Baines: Zunächst reagiert sie abweisend auf Baines’ Annäherungen. Dann zwingt sie sich, sie zuzulassen, um so die ausgehandelten Bedingungen zu erfüllen. In diesen Situationen wendet sie sich zunächst aktiv ihrem Instrument zu. Mit zunehmender Neugier für Baines und seine Verhaltensweisen wendet sie sich aber wieder von ihrem Instrument 233
ab, beobachtet ihn aufmerksam und beginnt, während ihrer Begegnungen auf seine Zuwendung zu warten. Schließlich wendet sich Ada Baines aktiv und aus eigenem Antrieb zu. In dem beschriebenen inhaltlichen Bezugssystem entfalten sich auf allen drei Strukturebenen wesentliche Momente von Adas intrapersoneller Entwicklung. In Kleine Fluchten teilt sich die Wesensart Pipes in kleinen Verhaltensweisen am Rande der Haupthandlung mit. Er ist zögerlich und scheu. Er lässt sein neues Moped tagelang in seinem Zimmer stehen [00.06.30], ist verspielt und macht gern Schabernack. Pipe uriniert auf die kreischenden Hühner neben dem Misthaufen [00.11.03], an der Tankstelle spielt er mit dem Klingelkabel [00.42.27], er ist einerseits ungeduldig und leicht beleidigt, zeigt andererseits aber auch Durchhaltevermögen. Als er aus eigenem Unvermögen mit seinem Moped in den Graben fährt, beschimpft er Luigi dafür [00.23.01]. Unermüdlich übt Pipe auf einer Waldlichtung das Anfahren mit seinem Moped, bis es ihm endlich gelingt [00.24.58]. Er ist sehr pfiffig, kreativ – und er hat Träume. Gemeinsam mit Luigi hat Pipe eine mechanische Transportkonstruktion für schwere Säcke gebaut [00.58.30]. Er träumt vom Fliegen und ist fasziniert vom unbezwingbar scheinenden steilen Gipfel des Matterhorns [00.29.04, 00.35.05, 00.47.48, 01.55.34]. Er kann genießen und ist zur Begeisterung fähig. Er verspeist genüsslich die Pralinen während des gemeinsamen Kartenspiels [01.19.25]. Begeistert verfolgt er das Motocross-Rennen und gibt sich abends ausgelassen dem Tanz und dem Bier hin [01.23.15, 01.31.29]. Alle diese Handlungen und Verhaltensweisen werden auf perzeptionsgeleiteter Ebene präsentiert. Auf der stereotypgeleiteten Ebene wird durch ein Story-Schema Pipes Lebenssituation als Bauernknecht etabliert, hier sind auch seine Handlungen im Rahmen dieser Tätigkeit situiert. Topikreihen der Handlungsweisen Pipes bilden einen Kontrast zum schematisierten Handlungsrahmen seines Knechtseins. Neue Verhaltensweisen sprengen diesen konventionellen Rahmen. Er ist während der Arbeitszeit wiederholt abwesend und geht seiner Neugier und eigenen Wünschen und Bedürfnissen nach [00.02.19, 00.48.24, 01.07.28, 01.55.34]. Während solcher Unternehmungen trägt er unter der Woche seinen Sonntagsanzug. Ähnlich wie in Das Piano spielt sich in Kleine Fluchten das Wandlungsgeschehen der charakterlichen Entwicklung des Protagonisten im Spannungsfeld des inhaltlichen Kontrastbezugs der erzählerischen Elemente auf perzeptions- und stereotypgeleiteter Ebene ab. Zusätzlich zu diesen erzählerischen Informationen über Pipe werden Ereignisse auf der konzeptgeleiteten Ebene etabliert, die ebenfalls zur Visualisierung der Wandlung dieser Figur in Beziehung stehen. So entstehen inhaltliche Zusammenhänge zwischen den Informationen auf allen drei Strukturebenen, über die sich wiederholt der Handlungszyklus aufbaut. Pipes Handlungsweisen durchschreiten diesen Zyklus mehrmals – von einem ersten Aufbruch über die darauf folgenden Widrigkeiten und deren Überwindung bzw. seinem Scheitern daran. Innovative 234
Verhaltensweisen sind Elemente seines Wegs zur charakterlichen Entwicklung und Reifung. Auf der stereotypgeleiteten Ebene wird das Erlernen des Mopedfahrens inszeniert, die Lernschritte werden auf der konzeptgeleiteten Ebene vermittelt. Pipes Verhalten, das ihn hier zur Bewältigung der anfänglichen Schwierigkeiten führt, wird auf der perzeptionsgeleiteten Ebene präsentiert: Er gibt nicht auf, sondern versucht immer wieder von Neuem das Fahren zu lernen, bis es ihm gelingt. Im nächsten Entwicklungszyklus ist Pipe mit seinem Wunsch, fliegen zu können, konfrontiert: Ein Symbol für schwerelose, befreite Bewegung wird auf der stereotypgeleiteten Ebene in Form eines Segelflugzeugs eingeführt [00.47.48]. Pipe unternimmt den absurden Versuch, mit seinem Moped den Segelflieger einzuholen. Der Impuls seines Aufbruchs ist auf der perzeptionsgeleiteten Ebene gelagert, seine zielgerichteten Handlungen werden auf der konzeptgeleiteten Ebene präsentiert. Pipes Umgang mit einer unüberwindbaren Grenze und sein Scheitern werden wiederum als Element der perzeptionsgeleiteten Ebene gezeigt, wenn er das Windfluggeräusch des Segelflugzeugs nachahmt und ihm mit Tränen in den Augen hinterher blickt, bis es am Horizont verschwindet [00.53.00]. Ein weiterer Zyklus dieser Art erwächst aus Pipes Impuls, aus seinem Alltag als Knecht auszubrechen. Unter der Woche unternimmt er einen Ausflug in die Schokoladenfabrik, in der Josiane, die Tochter des Bauern, arbeitet [01.07.28]. Auf der stereotypgeleiteten Ebene werden die Drohung und das Verbot des Bauern gestaltet – zum einen gibt Pipe klein bei und legt seinen nächsten Ausflug auf einen Sonntag, was auf konzeptgeleiteter Ebene vermittelt wird; zum anderen wird die Topikreihe von Pipes impulsivem und regelverstoßendem Verhalten auf der perzeptionsgeleiteten Ebene weiter geführt. Zur Durchführung seines nächsten Vorhabens geht Pipe wiederum unter der Woche von seiner Arbeit weg und ignoriert die neuerlichen Drohungen des Bauern. Er nutzt zudem die Gelegenheit, dem Bauern zu widersprechen und ihm seine Meinung zu sagen [01.54.50]. Den umfassendsten Zyklus dieser Art erlebt Pipe in seiner Beziehung zum Gesetz: Er fährt betrunken mit seinem Moped, verursacht einen Unfall und verliert daraufhin die Fahrerlaubnis [01.36.44]. Er scheitert durch diesen Regelbruch in seinen Bestrebungen, mit dem Moped seinen Bewegungsradius zu vergrößern. Auf perzeptionsgeleiteter Ebene werden sein Umgang mit dieser Grenze und seine Strategien zur Bewältigung dieses zentralen Scheiterns präsentiert: Pipe zündet sein Moped an und zerschlägt es mit einem Beil [01.42.13]. Sein nächster Handlungsimpuls führt ihn zu kreativer Selbstbetrachtung und Annäherung an die Menschen in seiner nächsten Umgebung [01.43.52]. Auch die Grenzen seiner Bewegungsfreiheit überwindet er mit neuen Strategien: Er unternimmt einen Helikopterflug zum Gipfel des Matterhorns [01.55.34]. In diesen Handlungen wird in Fortsetzung der Topikreihe Pipes ungewöhnliches und individuelles Verhalten präsentiert. Er will die letzten Minuten der Flugzeit nicht mehr nutzen, sondern bittet den Piloten, ihn zurück zu bringen, da er 235
„dort unten noch etwas zu tun hat“ [01.59.15]. Bei seinen Auf- und Ausbruchsversuchen trifft Pipe immer wieder auf Widerstände, Grenzen, neue Herausforderungen. Sein innerer Reifungsprozesses wird in dem beschriebenen Bezugssystem zwischen allen drei filmischen Strukturebenen und in mehreren Entwicklungszyklen konstruiert. In Betty Blue werden die Verhaltensweisen der zentralen Figur in eine sehr umfangreiche Topikreihe eingebettet, die sich durch fast den gesamten Film erstreckt. Dabei werden auf der perzeptionsgeleiteten Ebene Bettys ungewöhnliche, oftmals unpassende oder auch verrückte Verhaltensweisen präsentiert, wie auch Handlungen anderer Protagonisten von ähnlicher Bedeutung. Bettys Verhalten jedoch eskaliert zu (auto-)aggressiven Handlungen. Zu diesen Informationen über Bettys Verhalten wird durch verschiedene als erzählerische Elemente auf der stereotypgeleiteten Ebene gelagerte Story-Schemata ein starkes thematisches Kontrastsystem aufgebaut. Dabei werden zugleich soziale Handlungsklischees etabliert, wie auch durch ein störendes Ereignis konterkariert: Zorg kocht Kaffee für den dicken Budenbesitzer, der als ungebetener Gast in das Haus eingedrungen ist [00.09.10]. Betty überrascht Zorg in der Rolle der „braven Hausfrau“ mit einem „Essen für Verliebte“ und serviert an einem hochsommerlichen Abend einen Weihnachtsbraten [00.23.40]. Eine ausgelassene Party wird gefeiert [00.51.21], bei der die feiernde Gesellschaft von einem Trauerfall erfährt. Betty und Zorg beginnen eine Arbeit als Kellner und Kellnerin. Zorg legt dabei Küchenabfälle auf eine bestellte Pizza [00.43.45]. Betty und Zorg streiten miteinander: Betty läuft nachts auf die Straße, Zorg holt sie ein und sie ringen miteinander vor einem Kirchenportal. Bei ihrer nächtlichen Patrouille stoßen zwei Polizisten auf das Paar [01.12.01]. Später wird Zorg wegen überhöhter Geschwindigkeit von einem Polizisten angehalten und kontrolliert [01.19.26]. Diese szenischen Ereignisse werden von gesellschaftlich festgelegten Rahmen und Regeln bestimmt, die Story-Schemata werden jedoch jeweils innerhalb ihrer Inszenierung auf stereotypgeleiteter Ebene durch Elemente auf konzept- oder auch perzeptionsgeleiteter Ebene unterbrochen und gestört: Der dicke Mann stört das Kaffeeritual und wirft seine mit frischem Kaffee noch fast volle Bowl in die ebenfalls gerade erst gefüllte Bowl von Zorg, als solle das Geschirr schon in den Abwasch [00.12.25]. Betty brät mitten im Hochsommer ein Weihnachtsessen in der Bratröhre [00.23.40]. Angetrunken sitzen die Freunde mit dem trauernden Eddy beisammen. Sie suchen für ihn gemeinsam eine schwarze Kravatte für die bevorstehende Beerdigung, finden aber nur eine mit einem Pin-Up-Girl. Als in der traurigen Szene plötzlich das fröhliche Stundensignal von Eddys Digitaluhr erklingt, können Zorg, Betty und Lisa ihr Lachen nur schwer unterdrücken [00.53.28]. Während der Totenwache fällt Zorg vor Müdigkeit plötzlich um und reißt dabei einen Vorhang herab [00.54.56]. Die Restaurantbesucherin isst mit großem Appetit die von Zorg aus Küchenabfällen bereitete Pizza und versucht umständlich, den dicken Belag zu bändigen. Ihr dickes 236
männliches Gegenüber macht ihr just in dieser Situation eine Liebeserklärung, die sie nur hilflos mit den Ellenbogen wedelnd und mit vollem Mund murmelnd erwidern kann [00.44.00]. Später geben die beiden Polizisten plötzlich ihren Verdacht gegen Betty und Zorg auf und bringen das Paar, das eben noch vor der Kirchentüre miteinander gerungen hat, nach Hause [01.15.04]. Als der Polizist erfährt, dass Zorg Vater wird, lässt er ihn unbehelligt weiter fahren [01.20.38]. In einer Umkehrung der Kontrastierung von Konvention und deren Bruch versucht Zorg gegenüber Dritten Bettys Verhalten und ihr „Ausrasten“ mit klischeehaften Erklärungen zu verharmlosen und zu integrieren: Sie habe „ihre Tage“, der Sturm mache sie verrückt [00.17.56], sie sei beim Hausputz ein richtiger Putzteufel [00.26.15] und es sei doch „nichts gewesen“ [00.46.54]. Den Kontrast zwischen Story-Schemata und Topikreihe prägen Konventionen und ihr harter Bruch, der Umschlag des geordneten Idylls in Chaos. Darin spiegelt sich die Entwicklung von Bettys Innenleben: Sie neigt nicht nur zu vorsätzlichen sozialen Regelbrüchen, sondern verliert in konflikthaften Situationen auch leicht ihre Selbstkontrolle. Nur ein einziges Mal wird ihr sich veränderndes Verhalten auf konzeptgeleiteter Ebene präsentiert, wenn Zorg sie im Badezimmer auf dem Wannenrand sitzend antrifft und sie ihm erzählt, dass sie Stimmen höre und Angst habe, verrückt zu werden [01.35.25]. In drei anderen Beispielfilmen – Dead Man, Der mit Wolf tanzt und Rocco und seine Brüder – lassen die Analysedaten ähnliche Gestaltungsmuster innerhalb der drei Strukturebenen erkennen wie in den unter diesem Gesichtspunkt bereits beschriebenen Filmen Das Piano, Kleine Fluchten und Betty Blue: Erzählerische Elemente, die über zentrale Charaktereigenschaften und Wesensarten der Hauptfiguren informieren, werden in Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt und Rocco und seine Brüder überwiegend auf perzeptionsgeleiteter Ebene gelagert. Zudem wird zwischen den inhaltlichen Themen auf der stereotypgeleiteten und der perzeptionsgeleiteten Ebene ein Kontrastverhältnis etabliert, das zur Art und Weise der jeweiligen charakterlichen Wandlung in Beziehung steht. Abschließend sei nun das Ergebnisprofil der Analyse von Taxi Driver näher erläutert. In diesem Film wird im Vergleich zu den sechs oben genannten Filmen ein anderes Strukturprofil beim Einsatz der drei filmischen Ebenen etabliert: Ähnlich wie in den anderen Erzählungen werden zentrale Verhaltensweisen und Hinweise auf die Persönlichkeitsstruktur des Protagonisten auf der perzeptionsgeleiteten Ebene präsentiert. Diese Szenen zeigen überwiegend scheiternde Interaktionen, bei denen Travis’ Verhaltensstörungen deutlich werden. Anders als in den übrigen sechs Beispielfilmen wird in Taxi Driver zwischen den inhaltlichen Themen auf perzeptions- und auf stereotypgeleiteter Ebene jedoch kein Kontrastverhältnis, sondern ein Bezugssystem in Form von Analogien aufgebaut: Auf stereotypgeleiteter Ebene 237
werden zwei dominierende Story-Schemata etabliert, die analog zum übergeordneten Thema der Topikreihe als zentrales Phänomen die Begegnung zwischen Menschen präsentieren. In diesen Schemata werden die stereotypisierten Handlungsrahmen des Taxifahrens und der Prostitution etabliert. In beiden Interaktionsformen kommt es zwischen sich in der Regel völlig fremden Menschen zu einer zeitlich sehr limitierten Begegnung und Nähe. Diese Beziehung prägt eine deutliche Asymmetrie: So bestimmt jeweils der Kunde das Ziel der Zusammenkunft – der Dienstleister kommt diesem Wunsch gegen Bezahlung nach. Diese auf stereotypgeleiteter Ebene thematisierten künstlichen Beziehungen ohne Entwicklungsperspektive bilden Analogien zu Travis’ übrigen Kontakt- und Beziehungsversuchen zu anderen Figuren in der Geschichte, die in den meisten Fällen scheitern. Diese inhaltliche Entsprechung zwischen erzählerischen Themen der Topikreihe und der Story-Schemata verweist auf Travis’ zentralen Wandlungsprozess: Seine gestörte Beziehungsfähigkeit lässt Kontaktversuche stets scheitern – sein Verhalten kippt um in Feindseligkeit und Aggression bis zu seinem Amoklauf. Die beschriebene Analogie wird im ending noch einmal in kondensierter Form präsentiert: Im künstlichen Begegnungsrahmen einer Taxifahrt nimmt nun Betsy, zu der er im opening eine Beziehung suchte, Kontakt zu Travis auf [01.43.02]. Beide begegnen sich in großer Nähe. Doch die Kontaktaufnahme scheitert erneut.
6.5.2 Verschiebungsdynamiken zwischen den drei Strukturebenen Ein Vergleich von opening und ending lässt mit Hilfe der Beispielanalysen zwei ineinander greifende Profilveränderungen innerhalb der Konfigurationen erzählerischer Elemente auf den drei Strukturebenen und ihrer Bezugssysteme erkennen: Bei sechs Beispielfilmen – Dead Man, Betty Blue, Das Piano, Rocco und seine Brüder, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten – verändert sich der inhaltlich-thematische Kontrastbezug zwischen der perzeptionsgeleiteten und der stereotypgeleiteten Strukturebene im letzten Teil der Erzählungen. Dabei kommt es zu einer deutlichen Abschwächung oder sogar völligen Auflösung dieser Kontrastierung. Daneben verändert sich gegen Ende der Erzählungen die Repräsentationsebene bestimmter Verhaltensweisen der zentralen Figuren. Wie bereits im vorigen Abschnitt beschrieben, werden zentrale Verhaltensweisen und Wesensarten der Protagonisten aller acht Beispielfilme als Informationseinheiten auf der perzeptionsgeleiteten Ebene inszeniert. In diesem Zusammenhang können in den hier zu diskutierenden sechs Filmen zwei unterschiedliche Veränderungsmuster herausgearbeitet werden: Entweder wird die Zahl der Repräsentation von Verhaltensweisen der zentralen Figur über Topikreihen im letzten Drittel der Erzählungen stufenweise immer kleiner, bis sie ganz unterbleiben. Oder es kommt 238
zum sukzessiven Ebenenwechsel bei der Präsentation der erzählerischen Informationen. Dabei verändern die szenischen Handlungen der Figur im letzten Teil der Erzählungen ihre Positionen innerhalb der Strukturebenen: Die figurenbezogenen inhaltlichen Elemente der Topikreihen werden zu Bausteinen der Kausalkette, welche sich in der konzeptgeleiteten Ebene manifestiert. Im Folgenden werden an verschiedenen Beispielen aus den Filmanalysen diese prozesshaften Veränderungen im Verlaufsprofil der filmischen Strukturebenen erläutert. So tritt im ending von Dead Man das Story-Schema des Western- und Indianerfilms immer mehr in den Hintergrund. Zudem verschwinden zusehends Verhaltensmuster aus Blakes Handlungen und Interaktionen, die dazu in Kontrast stehen und die über weite Strecken auf perzeptionsgeleiteter Ebene präsentiert werden: Blake verhält sich immer weniger ängstlich, ungeschickt, zögerlich oder schüchtern und agiert zunehmend zielgerichtet, geschickt und selbstbewusst. Aspekte dieses neuen Verhaltens werden in verschiedenen Handlungszusammenhängen und Interaktionen jeweils einmalig gezeigt und so als Elemente auf konzeptgeleiteter Ebene präsentiert. Die Interaktionen und Dialoge zwischen Blake und Nobody werden mit erzählerischen Elementen sowohl auf perzeptions- wie auf konzeptgeleiteter Ebene inszeniert. Die Topikreihe, in der Blake bei seinen Interaktionen mit Nobody als ein naiver, orientierungsloser Nicht-Wissender und Nach-Verstehen-Suchender gezeigt wird, kommt noch vor dem ending zu einem Abschluss. Im letzten Drittel der Erzählung werden die Szenen zwischen dem sterbenden Blake und seinem Freund Nobody zunehmend auf konzeptgeleiteter Ebene gelagert, im letzten Erzählabschnitt wird auf sehr dominante Weise Blakes Erleben seines Sterbeprozesses in einer neuen Topikreihe auf perzeptionsgeleiteter Ebene visualisiert. Zudem etabliert ein neues Story-Schema das indianische Sterbe- und Totenritual, zu dem kein erzählerisches Element in Kontrast steht. Auch in Betty Blue kommt im letzten Teil die Topikreihe von Bettys (auto-)aggressiven Verhaltensweisen, welche auf perzeptionsgeleiteter Ebene etabliert wird, zu einem Abschluss. Parallel dazu werden im letzten Erzählabschnitt auch die Topikreihen, in denen andere Figuren etwas Unpassendes, Störendes oder Verrücktes tun, nicht mehr fortgeführt. Zorgs Handeln am Ende der Geschichte wird in Elementen auf konzeptgeleiteter Ebene inszeniert. Dabei steht die höchste Form gewalttätigen Verhaltens, Bettys Ermordung, am Ende einer Kausalkette und ist damit Element der konzeptgeleiteten Ebene [01.46.45]. Das Story-Schema idyllischer Situationen und harmonischer Interaktionen, das über weite Strecken des Filmverlaufs in Kontrast zu den auf perzeptionsgeleiteter Ebene gelagerten verrückten und chaotischen Ereignismomenten steht, findet man im letzten Erzählabschnitt nur noch ein einziges Mal, wenn nach Bettys Ermordung unvermittelt ein in romantisches Abendlicht getauchter umfriedeter Platz gezeigt wird [01.50.30]. 239
Der letzte Erzählabschnitt von Das Piano manifestiert in sukzessiven Strukturveränderungen die Auflösung des Kontrasts zwischen den auf stereotyp- und den auf perzeptionsgeleiteter Ebene gelagerten Themen: Adas Verhalten ist bis zu diesem Erzählabschnitt auf zwei Ebenen verteilt: Die durch ihre Lebenssituation erzwungenen Handlungen werden auf der stereotypgeleiteten Ebene, dagegen solche, die sie freiwillig und ihrem Charakter entsprechend unternimmt, auf der perzeptionsgeleiteten Ebene situiert. Im ending sind es hingegen gerade diese Verhaltensweisen Adas, welche die Interaktionen mit anderen Figuren und den Handlungsverlauf auf der konzeptgeleiteten Ebene bestimmen. Adas ungewöhnliche und eigenwillige Handlungen werden im Rahmen ihrer veränderten sozialen Situation als Elemente der zentralen Kausalkette präsentiert. Der Kontrast bzw. Gegensatz ihrer Handlungen zum StorySchema gesellschaftlicher und sozialer Regeln löst sich auf. Zudem werden im ending neue Schemata auf stereotypgeleiteter Ebene eingeführt, wie beispielsweise der Abschiedsgesang bei Adas Abreise [01.44.55], Ada als Klavierlehrerin oder das Zusammenleben der neuen Familie [01.49.40]. Diese Themen stehen jedoch nicht mehr im Kontrast zu den handlungsbasierten Inhalten der beiden anderen Strukturebenen. In Taxi Driver wird die zwischen perzeptions- und stereotypgeleiteter Ebene etablierte thematische Analogie im letzten Drittel des Films immer seltener eingesetzt. Mit Beginn des ending tritt dieser Bezug dann ganz in den Hintergrund. Während des show-down – Travis’ Amoklauf – werden die aus seiner Verhaltensstörung resultierenden eskalierenden Handlungen auf konzeptgeleiteter Ebene präsentiert [01.33.48]. Im letzten Teil des ending wird dann die inhaltliche Analogie zu den beiden anderen Strukturebenen wieder etabliert.
6.5.3 Innovationspotenzial der filmischen Erzählungen Das PKS-Modell ordnet die verschiedenen Strukturebenen nach ihrem Innovationspotenzial, fragt also danach, ob in einer filmischen Erzählung wirklich Neues mitgeteilt wird und ob der Zuschauer bei der Rezeption fiktiver Ereignisse und Handlungen Inspirationen zu eigenen Verhaltensweisen erhält. Dieses Maß kann mit Hilfe des Verteilungsprofils der erzählerischen Informationen auf den drei Strukturebenen herausgearbeitet werden: Filme, die überwiegend Kausalketten präsentieren, kennzeichnet ein relativ geringes Innovationspotenzial. Erzählungen, die vornehmlich durch Story-Schemata vermittelt werden, haben gar kein Innovationspotenzial. Dominiert in einer filmischen Geschichte die Informationsvermittlung durch Topikreihen einer offenen Erzählform, bietet das ein großes Innovationspotenzial. Das gilt auch für Filme, deren szenische Handlungen in einer Kombination aus Story-Schemata und Topikreihen präsentiert werden. 240
In den untersuchten Werken verändern sich Handlungen und Verhaltensweisen der Hauptfiguren im Laufe ihrer charakterlichen Wandlung grundlegend. Da durch dieses Kernereignis Veränderungen und neue Entwicklungen im situativen und konfliktbezogenen Handeln der Figuren ausgelöst werden ist anzunehmen, dass diese inhaltlichen Erzählfiguren ein besonderes Maß an Innovationspotenzial bieten. Die Analyseergebnisse bestätigen dies: Sieben Filme zeigen aufgrund der zwischen den drei Strukturebenen herrschenden Dominanzverhältnisse und der inhaltlichen Bezüge ein hohes bis sehr hohes Maß an Innovation. Aufgrund von Ähnlichkeiten und Abstufungen in Gestalt und Maß des Innovationspotenzials lassen sich die Filme zu drei Gruppen mit jeweils zwei oder drei Filmen zusammenfassen, die im Folgenden beschrieben werden. Kleine Fluchten, Dead Man und Das Piano, drei Geschichten einer Reifung, eint ihr sehr großes Innovationspotenzial. Einmal werden in allen drei Werken Informationen über die Figur dominant in Topikreihen präsentiert. Zum anderen visualisieren sie den Entwicklungsbogen der charakterlichen Veränderung durch einen Kontrastbezug zwischen szenischen Inhalten der Story-Schemata und den Topikreihen. Bei diesen drei Filmen ist in Bezug auf die Analyse des Innovationspotenzials zudem zu berücksichtigen, dass die Geschichten jeweils in einem historisch-gesellschaftlichen Rahmen situiert sind: Kleine Fluchten spielt in den späten siebziger Jahren in der französischen Schweiz in einem bäuerlichen Milieu. Die Geschichte Blakes führt den Zuschauer in die Zeit vor 1900. Historisch noch etwas weiter zurück liegt die Handlung von Ada und ihrem Piano. Veränderungen und Innovationen bei der Inszenierung von Verhaltensweisen in diesen Erzählungen sind immer unter Berücksichtigung des entsprechenden historischen Umfelds und der gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen, doch können Verhalten und Erleben der zentralen Figuren vom historischen Rahmen auch abstrahiert und aus heutiger Perspektive verstanden werden, ohne dass dabei den zentralen dramatischen Kernfiguren dieser Geschichten etwas von ihrem Innovationspotenzial verloren ginge. Mit Blick auf ihr Innovationspotenzial lassen sich zwei Erzählungen eines Scheiterns, Betty Blue und Taxi Driver, zu einer eigenen Gruppe zusammenfassen. In diesen Filmen werden dominant Topikreihen zur Vermittlung erzählerischer Elemente eingesetzt. Zugleich werden Bezugssysteme in Form von Kontrast oder Analogie zwischen Informationen auf stereotyp- und perzeptionsgeleiteter Ebene installiert. So wird in beiden Erzählungen ein sehr hohes Innovationspotenzial aufgebaut. Im Gegensatz zu den drei Geschichten in Das Piano, Dead Man und Kleine Fluchten werden hier die Konflikte nicht gelöst, auch wird kein Reifungsprozess der zentralen Figur gezeigt. Vielmehr wird eine Art „schwebendes Verfahren“ aufgebaut und bis zum Schluss aufrecht erhalten; dies geschieht in Taxi Driver noch um Einiges deutlicher als in Betty Blue. Der Ausgang dieser Geschichten beunruhigt, der Ereignisverlauf 241
konflikthafter Handlungen liefert keine Hinweise auf mögliche alternative Entwicklungs- und Lösungsmöglichkeiten, vielmehr regt der Abschluss der Entwicklungen den Zuschauer dazu an, über andere Lösungen als die präsentierten nachzudenken. Das Innovationspotenzial dieser Filme zielt vor allem auf Überlegungen des Zuschauers über Zusammenhänge der Erzählung, um Vorstellungen von anderen sinnvollen Verhaltensweisen und deren Einfluss auf den Gang der Ereignisse zu entwickeln. Eine dritte Gruppe bilden Der mit dem Wolf tanzt und Rocco und seine Brüder, die filmische Erzählung einer Reifung und die Geschichte eines Scheiterns. Am Strukturprofil beider Filme fällt auf, dass die erzählerischen Informationen zur Figur nicht nur auf perzeptionsgeleiteter Ebene gelagert sind, sondern zu wichtigen Teilen auch auf konzeptgeleiteter Ebene. Wie in den oben genannten Beispielen wird auch in diesen Geschichten ein Kontrastbezug zwischen den erzählerischen Elementen der Story-Schemata und der Topikreihen aufgebaut. Jedoch sind zentrale Anteile der Entwicklungen und Veränderungen im Laufe des Wandlungsprozesses der beiden zentralen Figuren auf der konzeptgeleiteter Ebene präsentiert. Insgesamt dominiert in beiden Geschichten eher die Informationsvermittlung durch Kausalketten, damit ist das Innovationspotenzial im Vergleich mit den anderen Filmen nur gering. In Breaking Glass weisen die Dominanzverhältnisse zwischen den Strukturebenen ein sehr heterogenes Profil auf. Dabei kommt es zur Vermittlung figurenbezogener Informationen sowohl über Topikreihen wie auch über Kausalketten, zugleich werden verschiedene Bezugssysteme zwischen Story-Schemata und Topikreihen aufgebaut. Die Höhe des Innovationspotenzials dieses Filmes kann nicht abschließend benannt werden.
6.5.4 Vergleich: zentrale .PUJGReihen und Strukturprofile (PKS-Modell) Die mit Hilfe des PKS-Modells erarbeiteten Analyseergebnisse ermöglichen es, eine Gruppe bereits erarbeiteter Ergebnisse erneut zu betrachten und sie dabei zu überprüfen. Es handelt sich um die zentralen erzählerischen Reihungen, die durch Anwendung der fünf formalen Prinzipien aus den acht Filmerzählungen herausgearbeitet werden konnten (vgl. 5.8: 152 ff.). Im Vergleich dieser Analyseergebnisse wird deutlich, wie sich die Bausteine der szenischen Reihungen zu den Dominanzverhältnissen innerhalb der drei filmischen Strukturebenen verhalten. Dabei wird in fünf Filmen eine Kongruenz zwischen zentralen erzählerischen Szenenreihungen und den jeweiligen Strukturprofilen der drei filmischen Ebenen erkennbar (Kleine Fluchten, Das Piano, Dead Man, Betty Blue und Rocco und seine Brüder). Die für diese Filme mit Hilfe der fünf formalen Prinzipien herausgearbeiteten zen242
tralen szenischen Reihungen beinhalten jeweils wesentliche inhaltliche Aspekte mit Bezug zum charakterlichen Wandlungsgeschehen. Diese szenischen Elemente sind auf der perzeptionsgeleiteten Strukturebene und innerhalb des Kontrastbezugs zwischen der perzeptionsgeleiteten und der stereotypgeleiteten Ebene zu finden. Damit bestätigt sich die Annahme, dass die Gestaltungsmuster bei der Verknüpfung dieser szenischen Inhalte zu Reihungen bzw. deren Eigenschaften als Elemente der verschiedenen filmischen Strukturebenen von zentraler Bedeutung für die Visualisierung des charakterlichen Wandlungsprozesses sind. Doch kann bei genauerer Analyse nach dem PKS-Modell ein noch weitaus komplexeres System von Bezügen im filmischen Material herausgearbeitet werden, das in seinen zentralen Konfigurationen nach den fünf formalen Prinzipien organisiert ist. So wurde beispielsweise in der Analyse von Dead Man zunächst festgestellt, dass über die szenische Reihung der Tötungsdelikte, die Blake in Notwehr verübt, zentrale Veränderungsschritte seiner intrapersonellen Wandlung visualisiert werden. Mit Hilfe des PKS-Modells konnte zudem herausgearbeitet werden, dass das Verhalten der Figuren in dieser Reihung auf perzeptionsgeleiteter Ebene gelagert wird und ein starker Kontrast dazu durch das Story-Schema des Western- und Indianerfilms gegeben ist. Die prozesshafte Verschiebung der Präsentation von Blakes Verhaltensweisen als Elemente von Topikreihen zu Inhalten einer Kausalkette konnte ebenfalls durch Anwendung des PKS-Modells auf ausgewählte Sequenzen gezeigt werden. Auch wurde es so möglich, die sukzessive Auflösung des Kontrasts zwischen erzählerischen Handlungen der Topikreihen und Story-Schemata im ending der Geschichte zu erkennen. Die Analyse von Dead Man hat gezeigt, dass eine Kombination der fünf formalen Prinzipien mit dem PKS-Modell zu aufeinander aufbauenden Ergebnissen führt. In Taxi Driver und Der mit dem Wolf tanzt entsteht hingegen keine vergleichbare Kongruenz zwischen den nach den fünf formalen Prinzipien gestalteten zentralen szenischen Reihungen und dem Profil der Dominanzverhältnisse innerhalb der drei Strukturebenen. Bei der Analyse nach dem PKS-Modell zeigt sich, dass verschiedene inhaltliche Elemente der szenischen Reihungen in dazu nicht direkt vergleichbaren Bezugssystemen innerhalb der drei filmischen Ebenen aufgeteilt sind. Die Untersuchungsergebnisse zu diesen beiden Filmen machen besonders deutlich, dass eine Anwendung aller Untersuchungsinstrumentarien auf opening und ending zu tragfähigen Ergebnissen führt. Dagegen bietet eine Auswahl des Untersuchungsmaterials allein nach den darin konfigurierten Reihungen keine geeignete Basis zur Erarbeitung aussagekräftiger Analyseergebnisse. Erst die Analyse der Sequenzen von opening und ending in Taxi Driver und Der mit dem Wolf tanzt führt zu klaren Erkenntnissen über die Wechsel- und Dominanzverhältnisse zwischen Handlungselementen auf den drei filmischen Strukturebenen und zur Relevanz dieser Gestaltungsmuster bei der Visualisierung charakterlicher Wandlungsprozesse. 243
7. Visualisierung charakterlicher Wandlung durch prozesshafte Gestaltungsmuster im filmischen Bild (Raum, Gegenstand, Figur)
Die Analyseperspektive des nächsten Untersuchungsschritts fokussiert die Gestaltungsmittel der dreidimensionalen Szenerie vor dem Kameraauge. Gemäß dem neoformalistischen Modell (Bordwell/Thompson 1986: 117 ff.) werden dabei aus den vier Gruppen filmgestalterischer Mittel vor allem visuelle Elemente aus der Gruppe des mise-en-scene untersucht. Zunächst werden dabei die verschiedenen Schauplätze einer Geschichte im Zusammenhang mit den damit verbundenen erzählerischen Ereignissen betrachtet, um die in diesem räumlichen System gestalteten prozesshaften Strukturen in Bezug zur inhaltlichen Wandlungsfigur herauszuarbeiten. Im nächsten Schritt wird die visuelle Ausgestaltung der Szenen analysiert. Hier werden solche Gestaltungsphänomene der räumlich-gegenständlichen Welt benannt, die über den gesamten Filmverlauf eine augenfällige Veränderung ihrer visuellen Erscheinungsart zeigen. Anschließend werden die Gestaltung der visuell-körperlichen Erscheinung der zentralen Figuren und die Gestaltungsmuster von Kostüm und Maske sowie der Duktus des körpersprachlichen Verhaltens – Gestik und Mimik – analysiert. Dabei ist auch zu untersuchen, ob zwischen der visuellen Erscheinung der zentralen Figur und der Ausgestaltung von Kostüm, Maske Physiognomie etc. anderer Figuren Bezugssysteme mit prozesshaften Strukturen bestehen. Die Inszenierung von bedeutungstragenden Gegenständen im Rahmen der intrapersonellen Wandlung ist gleichfalls von Interesse. In den genannten Analyseschritten werden zudem Gestaltungsmuster der Raumkonstruktion und einige ausgewählte Aspekte der Farb- und Lichtgestaltung beschrieben. Zur Analyse des Raumsystems, der visuellen Schauplatzgestaltung sowie von Kostüm und Maske war es erforderlich, die Untersuchungsperspektive auf den gesamten Filmverlauf auszudehnen, um Aussagen über die spezifischen Gestaltungsweisen dieser visuellen Elemente und ihrer prozesshaften Veränderungen treffen zu können. Die Analysen des körpersprachlichen Verhaltens sowie der Kameragestaltung beschränken sich wiederum auf die Abschnitte von opening und ending und auf ausgewählte Sequenzen. Anhand der Analyse des filmischen Blicks auf Szenerie, Gegenstände, Protagonist und Figurenprogramm werden Gestaltungsphänomene der Kameraarbeit herausgegriffen die für die Visualisierung der Prozesshaftigkeit relevant sind. 245 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
7.1 Prozesshafte Strukturen der Raumkonstruktion Erstellt man von allen acht Beispielfilmen eine Karte der Handlungsräume und einen Fahrplan der Ortswechsel des szenischen Geschehens, so werden zwei verschiedene Gestaltungsweisen von Prozesshaftigkeit erkennbar. In vier Filmen wird innerhalb des Raumsystems ein linearer Bewegungsprozess inszeniert, in dem sich die zentrale Figur fortbewegt (Dead Man, Betty Blue, Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt). Für diese vier Filme muss die Analyse weiter differenziert werden: In zwei Filmen ist die Linearität der Bewegung konstant ausgeformt (Dead Man, Betty Blue): Wenn ein Ort einmal verlassen wurde, wird er kein zweites Mal betreten. In den beiden anderen Filmen wird die Linearität von intermittierenden Phasen einer Vorund Rückbewegung unterbrochen (Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano). Dabei wechselt die zentrale Figur mehrmals zwischen zwei Orten, bevor ein weiterer, nun endgültiger Ortswechsel innerhalb der linearen Bewegungsentwicklung folgt. Eine zweite Darstellungsweise von Prozesshaftigkeit zeigt sich in vier Beispielfilmen in Form einer sukzessiven Veränderung der Dimensionierung der Schauplätze (Betty Blue, Rocco und seine Brüder, Breaking Glass, Kleine Fluchten). In drei Filmen nimmt die Größe der Räume im Filmverlauf stetig zu (Rocco und seine Brüder, Betty Blue, Breaking Glass), in Kleine Fluchten ist zudem eine exponentielle Steigerung der topograpischen Höhe der Schauplätze zu bemerken. In diesen vier Filmen sind auch phasenweise prozesshafte Bewegungsabläufe zwischen den Schauplätzen festzustellen, doch dominiert die sukzessive Veränderung der Dimensionen der szenischen Orte. Taxi Driver kann beiden Gruppen nicht zugeordnet werden: In diesem Film wird kein prozesshaftes Gestaltungsmuster der szenischen Räume bzw. der Handlungsbewegungen zwischen den Schauplätzen aufgebaut. Vielmehr wird durch die Gestaltungsmuster des Raumsystems eine symmetrische und statische Konstruktion etabliert. In opening und ending hält sich Travis am selben Ort auf, seinem Einzimmerappartement. Zwar bewegt er sich zu anderen Schauplätzen, doch kehrt er immer wieder in sein Appartement, der zentralen räumlichen Konstanten des gesamten Ereignisverlaufs, zurück. Die beiden im filmischen Raumsystem visualisierten Darstellungsmuster von Prozesshaftigkeit werden im Folgenden anhand von Beispielen aus den acht untersuchten Filmen erläutert. Das räumliche System in Dead Man wird durch die Bewegung des Protagonisten von einem Ort zu einem nächsten sukzessive und linear aufgebaut. Jeder Ereignisraum wird von ihm nur ein Mal betreten: Blake fährt mit der Bahn von Lake Eire nach Machine [00.00.20]. Er geht durch das Dorf zur Fabrik von Dickinson [00.10.00] und anschließend in den Saloon [00.17.43.]. Von dort aus begleitet er Thel nach Hause [00.20.50]. Blake flieht nach der Schießerei nachts in die Wildnis. Seine 246
Flucht beginnt [00.25.15]. Auch bei seinem allerletzten Weg, der Fahrt in seinem Sterbekanu, zeigt sich dieses Bewegungsmuster: Blake verlässt einen Ort für immer und bewegt sich zu einem nächsten, neuen Ort. Bemerkenswert an der Inszenierung von Blakes Bewegung durch den filmischen Raum ist die spiegelbildliche Verwendung von aktiver und passiver Bewegung, dem Gehen oder Reiten und dem Gefahrenwerden: Zu Beginn und am Ende der Erzählung wird Blake gefahren, im Zug und im Kanu. Spiegelbildlich symmetrisch jeweils nach und vor diesen beiden Fahrten geht er durch ein Dorf. Im ending wird er dabei von seinem Freund Nobody gestützt [01.41.15]. Zu Beginn seiner Flucht kann sich Blake wegen seiner Verletzung kaum auf dem Pferd halten [00.26.01]. Im weiteren Verlauf wird sein körperlicher Zustand stabiler und er kann aus eigener Kraft reiten und gehen. Im letzten Viertel des Films hingegen wird seine körperliche Konstitution wieder schwächer, bis er sich gar nicht mehr fortbewegen kann [01.47.23], vergleichbar mit dem Zustand, in dem ihn Nobody nach seiner Flucht in der Steppe gefunden hat [00.26.31]. In Der mit dem Wolf tanzt erfolgt eine vergleichbare lineare Bewegung des Protagonisten. Sukzessive entfaltet sich in dieser Bewegung der gesamte filmische Raum. Der Protagonist bewegt sich in dieser Erzählung jedoch zwischen einigen Schauplätzen mehrmals hin und her: Dunbar verlässt den Kriegsschauplatz und unternimmt seine Reise nach Westen in zwei Etappen. Die erste führt ihn nach Fort Haze [00.11.22], die zweite nach Fort Sedgewick [00.29.31]. Von dort unternimmt er verschiedene Ausflüge. Die Inszenierung des filmischen Raums etabliert für diese Bewegungen keine eindeutige räumliche Richtungsangabe. Den nächsten Schauplatz, der eine Fortführung der räumlich-linearen Weiterbewegung des Protagonisten darstellt, betritt Dunbar, wenn er zum ersten Mal zum Indianerdorf reitet [01.11.51]. Im Laufe der folgenden Ereignisse bewegt er sich zwischen seinem Posten und dem Indianerdorf hin und her, bis er sein Lager endgültig verlässt und in der Dorfgemeinschaft mit den Indianern lebt. In dieser Phase der Erzählung kommt es noch einmal zu Ortswechseln: Dunbar begibt sich ein letztes Mal zurück zu seinem ehemaligen Posten, um sein Tagebuch zu holen [03.05.28]. Dabei wird er gefangen genommen. Sein Weg führt ihn unterdessen fast wieder nach Fort Haze zurück. Nach der Befreiung durch die Indianer setzt er den Weg mit ihnen fort. Dabei wird die nächste Phase der Bewegungsrichtung etabliert. Der-mit-dem-Wolf-tanzt reist mit der indianischen Dorfgemeinschaft zu ihrem Winterlager [03.25.24]. Dort verlässt er gemeinsam mit seiner Frau die Gemeinschaft und geht einen anderen Weg weiter [03.37.38]. Die Steigerung der Dimensionen inszenierter Räume etabliert die zweite Grundstruktur visueller Prozesshaftigkeit in den untersuchten Filmen. In Betty Blue bewegt sich das Paar gemeinsam von einem Ort zum nächsten; ein einmal verlassener Ort wird nicht mehr aufgesucht. Die Schauplätze nehmen dabei an Größe und Status zu: Betty und Zorg verlassen die kleine Strandhütte [00.28.02], die aus einem Raum, 247
einer Bettnische und der Terrasse besteht, und ziehen in Lisas Hotel [00.30.09]. Dort gibt es einen großen Gastraum mit Rezeption, der als gemeinsames Wohnzimmer genutzt wird. Auch hat das Hotel eine große Küche und einen kleinen Speiseraum. Im oberen Stockwerk befinden sich mehrere Zimmer, Toilette und Bad. Die Ausstattung ist einfach. Im Vergleich dazu ist der nächste Ort um einiges größer und gediegener. Das Haus von Eddys verstorbener Mutter beherbergt im Erdgeschoss die weitläufigen Räume des Pianoladens [00.55.45]. Die Wohnung selbst liegt darüber und verfügt über einen großen Salon, ein Fernsehzimmer, eine große Küche und ein geräumiges Schlafzimmer [00.59.15, 00.59.35, 00.59.45, 01.00.45]. Die Einrichtung ist bürgerlich. Am Ende des Films wird Bettys Raum jäh reduziert, wenn sie in einem kahlen Krankenhauszimmer liegt [01.38.07]. Eine vergleichbare Entwicklung der Gestaltung räumlicher Dimensionen ist für die Schauplätze in Breaking Glass zu beobachten. Sowohl die Konzerträume wie auch die Aufnahme- und Produktionsstudios werden im Verlauf der Handlung zusehends größer und besser. In dieser Geschichte kommt es, vergleichbar mit der Raumkonstruktion in Taxi Driver, zu einer Wiederkehr des Schauplatzes des opening im ending: Kate betritt zu Beginn des Films einen U-Bahn-Waggon [00.00.10]. Dies tut sie auch gegen Ende der Geschichte [01.33.03]. Dieser Schauplatz ist jedoch nur der vorletzte – die Erzählung endet mit der Etablierung eines ganz neuen Schauplatzes und eines neuen Handlungsstrangs. In der Begegnung zwischen Kate und Dany im Krankenzimmer öffnet sich epilogartig der Blick auf mögliche neue Entwicklungen Kates. Als letztes Beispiel sei hier die spezifische Veränderung der Raumdimensionen in Kleine Fluchten beschrieben. Das räumliche Zentrum dieser Geschichte ist der Bauernhof. Hier lebt und arbeitet die zentrale Figur Pipe. Von hier aus unternimmt er auf sternförmige Weise seine Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung. Die genauen Richtungen dieser Bewegungen werden in der Inszenierung des filmischen Raums nicht näher festgelegt. Die Größe der verschiedenen Schauplätze zeigt im Vergleich keine sich sukzessiv-linear verändernde Struktur. Durch die Höhe der Schauplätze wird jedoch ein deutlich prozesshaftes Gestaltungsmuster etabliert: Bei seinem ersten Ausflug, nachdem Pipe das Mopedfahren gelernt hat, imaginiert er einen Flug über die Landschaft [00.29.04]. Er sieht ein Segelflugzeug über das Bauernhaus fliegen. Pipe wagt den nächsten Ausbruch aus dem Hof und aus seinem Alltag und kämpft sich mit dem Moped in halsbrecherischer Verfolgungsjagd hinauf auf die Gipfelkuppe knapp oberhalb der Baumgrenze [00.48.24]. Von dort blickt er dem Segelflugzeug hinterher, das über der weiten Landschaft schwebt. Sein letzter großer Ausflug führt ihn auf über viertausend Meter Höhe zum Gipfel des Matterhorns [01.55.34]. Die Höhensteigerung findet ein letztes visuelles Echo im Schlussbild: Pipe steht auf dem flachen Gipfel des Misthaufens [02.08.00].
248
7.2 Visuelle Gestaltungsmuster im Szenenbild Zwischen der visuellen Gestaltung der Schauplätze und dem prozesshaften Geschehen in der charakterlichen Wandlung können zwei verschiedene Zusammenhänge beschrieben werden. Zum einen entsteht ein Bedeutungsbezug zum charakterlichen Wandlungsgeschehen durch die visuelle Erscheinung eines Raums und durch die Ausstattung mit Gegenständen und Farben. Auch Lichtstimmungen spielen dabei in einigen Beispielfilmen eine große Rolle. Zum anderen werden durch die szenischen Themen, die mit der Beschaffenheit bestimmter Schauplätzen klischeehaft verbunden sind, inhaltliche Metaphern für verschiedene Ereignisse innerhalb eines charakterlichen Wandlungsprozesses aufgebaut. Bei der Analyse der visuellen Beschaffenheit der Handlungsorte wird das Modell von Chatman angewendet, das fünf verschiedene Bezugsarten zwischen Szenenbild und Figur definiert (Chatman 1978 [1993]: 143 ff.). Anhand der Analysedaten können drei verschiedene Weisen der Schauplatzgestaltung beschrieben werden. Das markanteste Bezugssystem zwischen Schauplatzgestaltung und Wandlungsgeschehen wird in Das Piano und Kleine Fluchten etabliert. Die visuelle Gestaltung von Orten und Räumen hat hier oftmals symbolische Bedeutung (symbolic) und bebildert inneres Erleben und emotionale Stimmungen der zentralen Figuren (countries of mind/emotional state). In Der mit dem Wolf tanzt und Breaking Glass wird eine andere Bedeutungsverknüpfung zwischen der Ausgestaltung der Schauplätze und dem Geschehen innerhalb der charakterlichen Wandlung aufgebaut, indem Schauplätze überwiegend eingesetzt werden, um erzählerische Zusammenhänge der inhaltlichen Entwicklungen plausibel zu machen und sozial-gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu etablieren (utilitaristic). Doch besteht auch in diesen Filmen ein inhaltlicher Bezug (symbolic) zwischen Ausstattung und Kontext einiger Schauplätze und der charakterlichen Veränderung der Hauptfigur. Eine dritte Form kann in Dead Man und Rocco und seine Brüder gezeigt werden. Auch hier werden häufig Schauplätze zur Etablierung von Milieu und inhaltlichen Stationen eingesetzt. Einige Orte und Ausstattungen stehen dabei zusätzlich in metaphorischem Bezug zum Wandlungsgeschehen. Dabei kommt es weniger zur symbolischen Visualisierung inneren Erlebens oder einzelner Stufen des Wandlungsgeschehens, vielmehr werden Auswirkungen und Folgen der charakterlichen Veränderung in der Gestaltung des szenischen Raums antizipiert oder kommentiert. In Betty Blue und Taxi Driver sind verschiedene Verwendungsweisen von Schauplätzen und ihrer Ausstattung in Bezug auf die Visualisierung des charakterlichen Veränderungsprozesses der Hauptfigur festzustellen. Die häufigsten und auffälligsten Bezüge zwischen Szenenbild und Figurenentwicklung in Betty Blue sind nach Chatmans Definitionen als ironic zu bezeichnen. Nur in einigen wenigen szenischen Momenten werden Teile des Szenenbilds symbolisch in Bezug zu Bettys psychischem Verän249
derungsprozess gesetzt. In Taxi Driver ist ein anderes Bezugssystem installiert: Hier wird innerhalb der visuellen Ausstattung und der szenischen Themen der Räume keine symbolische Bedeutung aufgebaut, die zu Travis’ charakterlicher Wandlung in Beziehung steht, vielmehr werden verschiedene Schauplätze bestimmten Figuren zugeordnet. Im Folgenden werden anhand von Beispielen die drei verschiedenen Bezüge zwischen Schauplatzgestaltung und Wandlungsgeschehen erläutert. In Das Piano findet sich eine Fülle von Bezügen zwischen der Ausgestaltung des Szenenbilds und der charakterlichen Wandlung der Hauptfigur Ada - hier einige Beispiele. Deutlich werden hier Orte der Handlung zu symbolischen Bildern für Phänomene innerhalb des Wandlungsgeschehens ausgestaltet. So verbildlicht etwa die unterschiedliche visuelle Inszenierung des Strands Adas innere Veränderung. Als sie in Neuseeland ankommt, wird das Meer von hohen Wellen bewegt [00.04.09], die bis zu der Stelle steigen, an der das Piano am Strand abgeladen wurde. Einige von Adas Kisten werden weg geschwemmt. Als Ada am Ende der Geschichte gemeinsam mit Baines vom selben Strand wieder abreist, ist das Meer ruhig [01.44.05]. Die Ebbe hat weite, flache Sandflächen frei gelegt. Adas und Baines’ Besitztümer, die in ein Kanu verladen werden, stehen in sicherem Abstand zu den Wellen. Eine weitere Bedeutungskette (symbolic, emotional state) mit Bezug zur inneren Wandlung der Hauptfigur wird in diesem Film mit Hilfe von Häusern und Innenräumen aufgebaut: Die Räume in Adas ursprünglichem Heim in England sind lichtarm [00.02.53], die Zimmer haben dunkle Fußböden und sind mit schweren, dunklen Gegenständen angefüllt. Adas neues Zuhause am Ende der Geschichte ist hingegen hell und licht [01.50.00], das Haus hat weiß gestrichene Wände und eine offene Veranda, aus den geöffneten Fenstern wehen weiße Vorhänge. Helles Tageslicht fällt in den Innenraum, in dem Ada Klavier spielt [01.49.40]. Als sie durch den heimatlichen Garten in England ging, war es Herbst [00.02.04]. Das Grün um Adas neues Heim ist frühlingshaft frisch und üppig [01.50.30]. In starkem Kontrast werden die zwei Behausungen von Stewart und Baines im Film inszeniert: Stewarts Hütte steht zwischen verkohlten Baumstümpfen inmitten einer großen, schlammigen, zwischen Hügeln eingesenkten Rodung [00.16.06]. Bei Adas Ankunft zeigt die Kamera die Gegend in strömendem Regen. Die Szene ist geprägt von Grau und Schwarz. Wenn Ada diesen Ort für immer verlässt, ist er in Sonnenlicht getaucht [01.42.55]. Baines’ Hütte steht auf einem kleinen freien Platz mitten im Dschungel [00.22.44], um das Haus herum wuchert üppiges Grün. Ein steiler Weg durch den Urwald führt zu diesem Ort hinauf, der in strahlendem Sonnenschein präsentiert wird. Die Sonne dringt durch das Dach des Dschungels. Adas Bewegungsrichtung strebt im Laufe ihrer Wandlung weg von Stewarts Haus hin zu Baines und seinem Wohnort. Der Innenraum dieser Hütte wird in zahlreichen Szenen von sehr warmem, hellem Sonnenlicht durchflutet [00.32.04, 00.42.21, 00.58.10, 01.10.32]. Die Licht- und Szenengestaltung während des gemeinsamen Aufenthalts 250
am Strand, wenn Ada ihr Instrument spielt, Flora am Strand herumtollt und Baines die beiden beobachtet, wird gleichfalls von gelb-rötlichen warmen Farben geprägt [00.23.45], wie auch die Szenen zwischen Ada und ihrer Tochter in ihrem Schlafzimmer [00.20.00, 00.35.30, 01.18.05]. Am Ende der Geschichte leben Ada, ihre Tochter und Baines zusammen an einem von Helligkeit und Offenheit geprägten Ort. Einen starken visuellen Gegensatz bilden dazu die Schauplätze der Beziehung zwischen Stewart und Ada: Der Weg durch den Dschungel zwischen Strand und Stewarts Haus ist schlammig [00.15.15], die hochragenden Baumstämme sind in bläulich-grünes, kaltes Licht getaucht. Als Stewart versucht, Ada zu vergewaltigen, ringt das Paar zwischen kahlen Ästen von Schlingpflanzen [01.18.35]. Die Szenerie ist von fahler Farbigkeit und kalt-weißlicher Helligkeit. Als Stewart Ada in Rage einen Finger abhackt, regnet es in Strömen. Der Ort dieses Gewaltakts ist der kahle, schlammige und farblose Platz um Stewarts Haus. In Kleine Fluchten werden im thematischen Kontext verschiedener Schauplätze Aspekte von Pipes Wandlungsprozess visualisiert. Die szenischen Ereignisse auf diesen Schauplätzen handeln von (Fort-)Bewegung, Raumerweiterung, Kampf und Sieg, Spiel, Vergnügen und Genuss sowie vom Erreichen eines Gipfels. Diese Themen spiegeln sich im Szenenbild der Schauplätze: Straßen, Landschaften, Anhöhen und Gipfel, Rennstrecke eines Moto-Cross-Rennens, Bier- und Tanzlokal, Schokoladenfabrik, Gartenlokal und Misthaufen. Der Bauernhof – zentraler Schauplatz der Geschichte – ist in zwei Seiten eingeteilt: Die Bauernfamilie lebt auf der einen Seite, der Knecht Pipe auf der anderen. Zu beiden Seiten des Hofs spielt sich eine grundlegende Veränderung in der Situation der Protagonisten ab. Die Sitzordnung am Küchentisch verdeutlicht, welche Figuren in den Veränderungsprozessen die jeweils zentralen Rollen spielen: Bauer John und Knecht Pipe sitzen sich an den Tischenden gegenüber [00.13.24]. Über Schauplätze der Geschichte werden klischeehaft Entwicklung und Veränderung visualisiert. Raumgestaltung und Ausstattung von Pipes Zimmer präsentieren visuelle Äquivalenzen für Stufen seines Wandlungsprozesses. Wiederholt gibt die Kamera Einblicke in Pipes Zimmer [00.01.30, 00.34.58, 01.08.28, 01.46.46., 02.00.14, 02.04.21], wobei jedes Mal Veränderungen sichtbar werden – die Stellplätze der Möbel ändern sich: Das Bett rückt aus der Mitte an die Wand, der Schrank in die andere Ecke des Zimmers und der Tisch an die Wand neben das Fenster. Ebenso findet das Bild des Matterhorns einen neuen Platz an der Wand neben Pipes Bett. Der Raum wirkt durch die Veränderungen nach und nach geräumiger und heller. Der Handlungsraum für seinen Bewohner wird größer. Schritt für Schritt kommen neue Gegenstände dazu: Landkarten, eine weiteres Bild des Matterhorns, ein Blumenstrauß auf einer Truhe. Ein Regal kommt hinzu, darin neue Papiere und Materialien. Weitere Landkarten und Prospekte sammeln sich zunächst auf einem Tisch mit rotkarierter Tischdecke. Später verschwindet die rotkarierte Tischdecke 251
vom Tisch. Pipe nutzt den dann blanken Holztisch als Arbeitsfläche und breitet seine Fotos darauf aus. Er sortiert seine Aufnahmen zu Serien, die er schließlich in großer Zahl an die Wand seines Zimmers heftet. Der letzte Blick der Kamera in Pipes Zimmer zeigt eine umfassende Veränderung von Einrichtung und Ausstattung: Alle Möbel und Gegenstände wurden in die Mitte gerückt und aufeinander gestapelt – Pipe ist dabei, die Holzwände seines Zimmers weiß zu streichen. In Der mit dem Wolf tanzt lassen sich keine wesentlichen Bezüge zwischen visuellen Gestaltungsmustern der Szenenbilder und der Visualisierung der charakterlichen Wandlung des Protagonisten feststellen. Die Gestaltung der Schauplätze und ihre Ausstattung dienen hauptsächlich der Etablierung des historischen Kontexts und des Genres (utilitaristic). Szenische Themen, die mit den klischeehaften Schauplätzen verbunden sind, liefern nur wenige Bezüge zum charakterlichen Wandlungsprozess. Einzelne visuelle Aspekte bestimmter Schauplätze und darin inszenierter Handlungen sind jedoch an der visuellen Bedeutungsschaffung in Dunbars Wandlungsprozess beteiligt. Der Ort zwischen den Fronten lässt sich als Metapher für Dunbars inneren Kampf um Richtung und Ziel lesen. In der Nähe von Wasser, an Bach- und Flussläufen spielen sich wichtige Ereignisse ab, die Bedeutungszusammenhänge zu Dunbars intrapersoneller Entwicklung herstellen. Die Schauplätze haben symbolischen Wert: Dunbars Posten [00.37.22], wie auch das Indianerdorf liegen an einem Wasserlauf [01.11.51]. Dunbar muss die Wasserstelle und den Flusslauf nahe seines Postens erst von Tierkadavern säubern, bevor er darin baden kann [00.37.22]. Er begleitet Steht-mit-einer-Faust zum Wasserholen am Fluss [02.20.37]. An dessen Ufer kommen Dunbar und Steht-mit-einer-Faust später als Liebespaar zusammen [02.30.41]. Die feindlichen Indianer schleichen sich durch das Flussbett an das Dorf heran [02.36.34], am Ende des Kampfes wird der letzte fliehende Angreifer in diesem Fluss getötet [02.42.54]. Als Gefangener der U. S. Army wäscht sich Dunbar sein blutig geschlagenes Gesicht am Ufer des Wasserlaufs [03.13.39]. Der letzte Kampf um Dunbar und seine neue Identität findet ebenfalls in einem Flusslauf, genauer in einer Furt, statt [03.21.01]: Dabei wird der letzte Engpass in Dunbars Entwicklungsprozess überwunden – der finale Abschnitt der Wandlung ist erreicht. Der nächtliche Schauplatz von Dunbars Tanz um das Feuer visualisiert den ersten Schritt seiner Identifikation mit der indianischen Kultur [02.09.20]. In Breaking Glass werden die Schauplätze vorwiegend eingesetzt, um den sozialen Rahmen der Figuren und der Geschichte zu erläutern (utilitaristic). Die szenischen Themen der Handlungsorte präsentieren die Veränderungen der Situation von Kate und ihrer Band. Die visuelle Ausstattung dieser Räume lässt keine abgestuften Gestaltungsmuster in Bezug zur charakterlichen Wandlung Kates erkennen. In einzelnen szenischen Momenten sind jedoch zwischen Figur und Ausstattung visuelle Metaphern für verschiedene Aspekte von Kates Wandlungsprozess 252
etabliert. Im Folgenden werden hierfür einige Beispiele vorgestellt. Der große Besprechungsraum der Plattenfirma ist fensterlos [00.53.15], zwei Sessel in Form schwarzer Hände stehen im Eingangsbereich. Von da aus führen zwei Stufen hinab zu einer Sitzgruppe. Während eines Streits mit Dany lehnt sich Kate mit dem Rücken an eine Wand in ihrer Wohnung [01.10.48]. Neben ihr hängt ein Portraitfoto – Gesichtszüge und Haarschnitt Kates auf dem Foto unterscheiden sich deutlich von ihrer aktuellen Erscheinung. Später befestigen Bühnenarbeiter eine große Pappfigur mit Kates Bild an einer Hauswand [01.18.00]. Kate erscheint hier als reproduzierbare Schablone und beliebig verfügbar, sie wird – wie die Pappfigur – nach den Interessen der Musikindustrie „zurecht gerückt“. Im letzten Teil besucht Dany Kate im Krankenhaus. Dieser Schauplatz steht in deutlichem Bezug zu Kates Wandlungsprozess (symbolic): Die thematisch klischeehaften Konnotationen des Krankenhauses als Ort von Krankheit und Krise verweisen auf Kates Situation – entweder gelingt hier eine schrittweise Genesung oder eine Heilung ist nicht möglich. Kates Krankenzimmer ist in überstrahlendes, gegenlichtiges Sonnenlicht getaucht und mit warmen Farben gestaltet. Hoffnung auf Genesung deutet sich in diesen Gestaltungsmustern an. In Dead Man kommt es im Vergleich zu den bisher beschriebenen Filmen zu einer ganz anderen Verwendungsweise visueller Gestaltungsmuster des Szenenbilds und ihres Bezugs zur charakterlichen Wandlung der Hauptfigur. Schauplätze und Ausstattung signalisieren das Genre des Westernfilms. Zudem wird Blakes Tod vorab visuell angekündigt: Die verschiedenen Szenenbilder im opening sind mit zahlreichen visuellen Motiven des Todes, der Vergänglichkeit und des Sterbens versehen. Der Weg des Protagonisten dient als Metapher für den Lebensweg von der Geburt zum Tod. An beiden Orten, die Blake zu Beginn und am Ende der Geschichte betritt, werden Fortbewegungsmittel hergestellt: In der Metallfabrik werden Schienen und Eisenbahnen produziert [00.11.40], in der Kultstätte der Indianer Kanus [01.43.48]. Die Szenerie dieses Films zeigt kaum prozesshafte Gestaltungsmuster mit Bezug auf Blakes innere Wandlung, vielmehr wird in einzelnen Faktoren des Szenenbilds eine symbolische Metapher des zentralen narrativen Themas des Wegs eines Menschen vom Leben zum Tod etabliert. Blakes Veränderung auf diesem Weg wird mit anderen filmischen Gestaltungsmitteln, etwa seiner Körpersprache (vgl. 7.4, 7.5, 8.6), seinen Dialogen mit Nobody (vgl. 8.5, 8.4) oder durch Wechsel von Kostüm und Maske (vgl. 7.3, 7.5) ins Bild gesetzt. In Rocco und seine Brüder lassen sich zwar prozesshafte Gestaltungsmuster im Szenenbild feststellen, doch werden mit ihnen keine visuellen Hinweise auf das Wandlungsgeschehen aufgebaut. Vielmehr fungieren die szenischen Räume mit Bezug auf Simone als Kommentare und Erläuterungen bereits abgeschlossener Veränderungen. Der Bezug zwischen Figuren und Schauplätzen ist hier symbolic. Die Wohnungen 253
der Familie Parondi zeigen ihren sozialen Aufstieg [00.15.38, 01.02.25, 01.19.30], die Aufenthaltsorte Simones hingegen visualisieren seinen sozialen Abstieg. Zu Beginn ihrer Beziehung trifft er sich mit Nadja in einem luxuriösen Hotelzimmer [00.43.12] und fährt mit ihr ans Meer [00.55.56]. Später hausen beide in einem kärglich eingerichteten Zimmer in der Wohnung der Familie [02.01.53]. Im letzten Erzählabschnitt wohnt Simone allein in einem heruntergekommenen Pensionszimmer [02.19.07]. Szenische Themen, die stereotyp mit diesen Orten verbunden sind, werden dabei zu einem Kontrastgefüge konfiguriert, das Simones Abstieg verdeutlicht. Schauplätze mit dieser inhaltlichen Funktion sind entweder eindeutig Rocco oder Simone zugeordnet. Roccos Orte sind verbunden mit Reinheit, Erhabenheit, Religiosität und Klarheit. Im Reinigungsgeschäft [00.48.12], am Hafen [01.11.00] und auf dem Dach des Mailänder Doms [01.46.00] ist alles in helles, überstrahlendes Licht getaucht. Der Blick in diese szenischen Räume ist weit geöffnet. Simone hingegen wird überwiegend in lichtarmen Räumen und nächtlichen Szenerien gezeigt: Nachts ist er auf der Straße unterwegs oder mit seinen Bekannten in der Bar. Bei Dunkelheit geht er in die Reinigung, um das gestohlene Hemd zurück zu geben. Im dunklen, engen Raum zwischen den Kleiderstangen verführt er die Besitzerin des Ladens [01.01.07]. Die Bar und der Nebenraum haben keine Fenster [01.49.16]. Bei der nächtlichen Schlägerei mit seinem Boxmanager stürzt Simone in eine Leuchte, die daraufhin verlöscht [02.10.10]. In diesen Szenen werden Vergnügen und Ausschweifung, Zügellosigkeit und Gewalt dargestellt. Die Lichtregie der jeweils Rocco oder Simone zugeordneten Orte baut einen deutlichen Hell-Dunkel-Kontrast auf – eine symbolische Visualisierung von Simones charakterlichem Verfall. Auf ähnliche Weise wird der Kontrast zwischen Außen- und Innenraum aufgebaut. Die Handlungen der Brüder, außer denen Simones, werden oft tagsüber und im Freien inszeniert, dagegen spielen sich Simones Aktionen, so auch seine beiden Gewalttaten [01.37.43, 02.29.16], in Innenräumen, im Dunkeln oder nachts ab. Zuletzt seien zu diesem Analyseaspekt noch Beispiele der Szenenbildgestaltung in Betty Blue genannt: Hier ist der Bezug zwischen Szenerie bzw. ihrer visuellen Ausstattung und dem Verlauf der inneren Wandlung der Hauptfigur hauptsächlich ironic. Der soziale und thematische Rahmen der Geschichte werden im filmischen Raum etabliert. Zunächst scheint zwischen Bettys innerem Veränderungsprozess und der Gestaltung einzelner Schauplätze keine Verbindung zu bestehen. Bald zeigt sich jedoch, dass zwischen Gestaltungsaspekten der Szenerie und dem charakterlichen Wandlungsgeschehen ein Kontrastsystem herrscht: Während in Betty zunehmend psychisches Chaos herrscht, wird der soziale Rahmen des Paares zunehmend gediegener und bürgerlicher. Die Farbgestaltung der Szenerie verändert sich in drei Phasen: Zunächst beherrschen bonbonbunte Farben die Szene. Dann wechselt die Farbigkeit zu weniger grellen, aber weiterhin kräftigen Farbtönen. Im letzten Drittel 254
herrschen gedeckte, dunkle Farben und Pastelltöne vor. Einige wenige Farbkleckse im Bild entstehen durch Bettys und Zorgs Kleidung. Schauplatz ihrer Streitereien und Handgreiflichkeiten ist das Eingangstor einer Kirche [01.12.40]: Ein ironisierender Kontrast zwischen Handlungsgeschehen und klischeehaften Konnotationen des Schauplatzes – Kirche und Portal stehen für Ruhe, Frieden, Erhabenheit wie auch als Ort glücklich vereinter Hochzeitspaare. Einen ähnlich starken Kontrast zwischen Szenerie, Figur und Handlung findet man in der folgenden Szene: Salon und Esszimmer der dritten Wohnung von Zorg und Betty sind mit schweren Möbeln eingerichtet. Betty sitzt mit blutigem Gesicht und verfilzten Haaren am großen Tisch [01.32.12]. Ein direkt symbolischer, also nicht ironisierend-kontrastierender Bezug zwischen Szenenbild und Aspekten des Wandlungsgeschehens lässt sich nur in wenigen Momenten der Geschichte feststellen. So wandelt sich das Wetter vom heißen Hochsommer mit grellem Sonnenlicht im opening [00.03.09] zum herbstlich bedeckten Himmel mit nächtlichen Regenschauern im ending [0149.00]. Wenn Betty und Zorg versuchen, den Klappmechanismus des Sofas zum Funktionieren zu bringen, geht versehentlich die Glasvitrine zu Bruch [01.01.55]. Das Glas der Küchentüre hingegen wird von Betty willkürlich mit der Faust zerschlagen [01.11.42]. Die Wand wird als „eine Barriere zwischen uns und der klaren Sonne draußen“ bezeichnet [01.08.41]. Von einer solchen Barriere wollen sich Betty und Zorg „nicht verscheißern lassen“ [01.09.05] – Zorg reißt die Wand mit einem schweren Hammer ein. Das findet eine entgegengesetzte Entsprechung, wenn Betty sich ihr Auge herausreißt [01.37.47]: Das Augenlicht wird zerstört, es wird dunkel um Betty. Im Krankenhaus, dem letzten Schauplatz ihres Weges, werden die damit klischeehaft verbundenen Themen inszeniert: Am Ort von Krankheit und Krise ist Genesung oder Verschlechterung eines Zustands möglich. Wurde in Breaking Glass durch die visuelle Ausgestaltung des Krankenzimmers der Hoffnungsaspekt betont (vgl. hierzu die Szene in Breaking Glass: 253), herrscht in Betty Blue ein fahles, kalt-weißliches Licht in dem leeren Raum [01.38.07] – auf dieser Szene liegt kein Hoffnungsschimmer.
7.3 Veränderungen von Kostüm und Maske der Hauptfigur In allen acht Beispielfilmen werden mit der äußeren Erscheinung der zentralen Figur prozesshafte visuelle Veränderungen etabliert. Drei verschiedene Einsatzweisen dieser Gestaltungsfaktoren können dabei unterschieden werden. In Breaking Glass, Taxi Driver und Rocco und seine Brüder ist die Veränderung von Kostüm, Maske und Frisur stufenweise und linear gestaltet. So wird eine visuelle, nonverbale Argumentationsfolge aufgebaut, die über den Verlauf der intrapersonellen Wandlung informiert. In Dead Man und Der mit dem Wolf tanzt werden derartige visuelle Argumentationsstrukturen 255
wesentlich komplexer angelegt. Mit den visuellen Gestaltungsmustern von Kostüm, Maske und Frisur werden in diesen Filmen mehrere ineinander greifende Veränderungszyklen beschrieben: Zyklische Veränderungen des Äußeren der Hauptfigur visualisieren Phasen ihrer charakterlicher Wandlung, zugleich werden sowohl innere Stimmungen der zentralen Figur wie auch Veränderungen in Interaktionssituationen zwischen den Protagonisten dargestellt. Schließlich werden bestimmte Elemente von Kostüm und Maske in Handlungen und Dialoge der Protagonisten integriert. Veränderungen im Äußeren der Hauptfigur werden damit zum szenischen Thema der Handlung. Zu einer weiteren Gruppe lassen sich Das Piano, Betty Blue und Kleine Fluchten zusammenfassen. In diesen Filmen wird keine markante visuelle Darstellung der inneren Wandlung der zentralen Figuren im oben beschriebenen Sinne angestrebt, doch lassen sich auch hier durchaus gestalterische Veränderungen feststellen. Diese neuen oder veränderten Aspekte der Gestalt der Hauptfiguren werden hauptsächlich nach dem Wendepunkt des Wandlungsprozesses etabliert. Im Folgenden werden beispielhaft die drei verschiedenen Einsatzweisen von Kostüm und Maske zur Visualisierung der Wandlung vorgestellt. Kostüm und Maske Kates (Breaking Glass) lassen sich zwei Bereichen zuteilen: Szenen, die Kates privates Leben schildern, und Szenen, die sie auf der Bühne zeigen. Die Gestaltung ihrer äußeren Erscheinung macht zwischen den beiden Bereichen zwei verschiedene prozesshafte Entwicklungen erkennbar. Diese Muster entfalten sich linear und zueinander versetzt: Zunächst ähneln sich Kostüm und Maske in Kates Privatleben und während ihrer Konzertauftritte sehr. Dann ist eine sukzessive Veränderung bei ihren Auftritten zu erkennen, während ihre Kleidung und Frisur in privaten Situationen fast unverändert bleiben. Mit Beginn der Zusammenarbeit mit Bob Woods verändert sich Kates Outfit während ihrer Konzerte grundlegend. Auch Kates Stil und Make-up im Alltag verändern sich ab diesem Ereignis – beide Erscheinungsweisen konvergieren. Am Ende des Films tritt Kates durchgestyltes Outfit dann gänzlich in den Hintergrund. Die letzte Einstellung von ihr zeigt sie in schlichter Kleidung und ungeschminkt [01.34.15]. Im Folgenden werden einige Beispiele dieses Veränderungsprozesses aufgeführt. Zu Beginn der Geschichte besteht der Unterschied zwischen Kates privater Erscheinung und ihrem Aussehen während der Konzertauftritte nur in der Gestaltung ihrer Maske. Ist ihr Make-up im Privaten eher unauffällig [00.04.56], so ist es während ihrer Konzerte von einem starken HellDunkel-Kontrast gekennzeichnet [00.07.00]. In weiteren Szenen entwickelt sich die schrittweise Veränderung von Kates Kleidung und Maske: Während ihrer ersten Konzerttour [00.37.06], bei ihrem Konzert in der Music Machine [00.48.25] und während ihres ersten Konzerts im Auftrag von Overlord Records [00.57.58]. Das Kostüm Kates wird expressiver und unterscheidet sich immer mehr vom Stil ihrer privaten Kleidung. 256
Der Hell-Dunkel-Kontrast ihres Make-up verstärkt sich weiter [00.47.58]. Trug Kate ihre Frisur bisher auf eher gleichbleibende Art, so nimmt das Styling ihrer Haare im Laufe der Veränderungsphasen sehr unterschiedliche Formen an: Entweder sind ihre Haare zu einem großen blonden, struppigen Volumen aufgebauscht [00.28.15], in strenge Locken stilisiert [01.11.45] oder zu einer exzentrischen Hochsteckfrisur geformt [01.22.45]. Über die Gestaltung des Kostüms etablieren sich weitere Veränderungen. In der Zusammenarbeit mit Bob Woods wird der bisherige Stil ihres Outfits als Sängerin stark verändert. Der Schwarz-Weiß-Kontrast verschwindet gänzlich aus ihrem Erscheinungsbild. Das kontrastreiche, nahezu schwarz-weiße Make-up weicht einem bunten Hellblau und Hellrot [01.09.33]. Sie trägt ein pastellfarbenes hellblaues bzw. silbernes, kurzes, eng anliegendes Kleid. Ihre sonst struppig abstehenden Haare werden in eine Form gestylt, die schmal anliegt und im Bogen ihr Gesicht umrahmt. Während der drei weiteren Konzerte, die im Film inszeniert sind, schreitet die deutliche Veränderung von Kates öffentlichem Erscheinungsbild stetig voran. Einmal wird ihr Haar zu einer dreieckigen, blond gelockten Frisur geformt. Ihr Make-up glänzt kupfern und bräunlich-rot [01.11.31]. Sie trägt eine schlichte, weite braune Hose und ein schwarzes Oberteil dazu. In einem nächsten Konzert wird ihr Körper zur Schau gestellt [01.18.15]. Ganz im Gegensatz zu ihrer bisher eher locker und leger geschnittenen Kleidung trägt sie dabei eine schwarze Korsage, Netzstrümpfe und hohe schwarze Lackstiefel. Ihre Haare sind von einer schwarzen Glitzerperücke verdeckt. Dieses Styling bildet den größten Kontrast zu ihrem ursprünglichen Aussehen. Auch der Stil von Kleidung, Frisur und Make-up, der Kates Erscheinung außerhalb ihrer Konzertauftritte kennzeichnet, beginnt sich sukzessive zu verändern. Bei ihrem Besuch in Bob Woods Haus trägt Kate zum ersten Mal einen kurzen, engen Rock [01.05.24]. Mittlerweile ist Kate auch in Situationen außerhalb ihrer Auftritte meist stark geschminkt, ihre Haare sind sehr unterschiedlich gestylt und ihre Kleidung ist im Vergleich zu ihrem früheren Stil sehr körperbetont [00.53.15, 01.05.24, 01.21.05]. Ihr früheres, privates Erscheinungsbild zeigt sich nur noch, wenn sie zwischen ihren Konzertauftritten erschöpft im Bus sitzt [01.18.58]. Kate absolviert PR-Termine für die Plattenfirma. Ihr Make-up changiert dabei in den Farben Kupfer, Rot und Hellblau [01.20.51, 01.22.45, 01.26.16]. Ihre Haare werden entweder rund geföhnt oder als Hochfrisur aufgetürmt. Ihre Kleidung ist eng anliegend. Wie in einer Art Flashback wird zwischendurch während dieser sich stufenweise entwickelnden, visuellen Umstilisierung die „alte“ Kate für ein Pressefoto neben einer Zapfsäule inszeniert [01.19.50]. Hierfür ist der ehemalige Hell-Dunkel-Kontrast in ihrem Make-up perfekt gestaltet und ihre Haare sind wieder zu einem wirren Volumen aufgebauscht. Bei einem nächsten PR-Auftritt weisen Kates Kleidung und Make-up wiederum völlig neue Farben auf [01.20.51]. Sie trägt ein gelbes Sakko und hat blau geschminkte Lippen. Die größte und zugleich letzte Stufe in der Veränderung von Kates Kos257
tüm und Maske ist während ihres letzten Konzerts gestaltet. Ihr Gesicht ist silbern geschminkt und hat dadurch alle individuellen Konturen verloren [01.29.14]. Ihre Haare sind unter eine eng anliegende silberne Kappe gesteckt. Kate trägt ein hautnah anliegendes, silbernes Trikot, das durch metallisch schimmernde Armschienen ergänzt wird. Das Kostüm wirkt wie eine Rüstung. Kleidung und Maske sorgen für eine starke Verfremdung des Ausdrucks von Kates Gesichtzügen. In der letzten Szene ist Kate ungeschminkt und unkostümiert zu sehen. Kostüm und Maske sind in diesem Film wesentliche Faktoren der Visualisierung von Kates innerer Wandlung. Dabei ist anzumerken, dass das Outfit von Rockmusikern oft als künstlerisches Ausdrucksmittel genutzt wird. Die Künstler können so Stilrichtung, gesellschaftliche Zugehörigkeit oder auch politische Einstellungen ausdrücken. In Breaking Glass wird dieses Ausdrucksmittel eingesetzt, um die innere Wandlung Kates darzustellen und das Zurückdrängen ihres Selbstverständnisses sowie die Vereinnahmung der Künstlerin durch die Musikindustrie zu visualisieren. Ähnlich linear, jedoch nicht in so vielen präzise ausgebildeten Stufen, ist die Umformung der Gestaltung von Kostüm und Maske in Taxi Driver ausgebildet. Travis’ charakterliche Veränderung zeigt sich am deutlichsten in der Veränderung seiner Frisur. Zunächst trägt er einen Kurzhaarschnitt mittlerer Länge [00.01.54]. Als er mit dem Waffentraining begonnen hat, sind die Haare plötzlich wesentlich kürzer geschnitten und stehen teilweise borstenartig und struppig vom Kopf ab [00.55.05]. Als er eine Weile später mit Waffengurt und Pistole vor dem Spiegel in seinem Zimmer Angriffsszenen probt, sind seine Haare ganz kurz zu einer Stoppelfrisur abgeschnitten. Kurz vor der Szene des Amoklaufs ist Travis’ Kopf glatt rasiert bis auf einen hochragenden Irokesen-Haarkamm [01.30.06]. Die Gestaltung der Maske der Hauptfigur ist ebenso von Veränderungen gekennzeichnet. Zu Beginn der Geschichte und besonders beim Rendezvous mit Betsy wirkt sein Gesicht glatt, jung, entspannt und freundlich [00.02.20, 00.23.00, 00.32.00]. Im weiteren Filmverlauf verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er wirkt zunehmend erschöpft und einige Male verzweifelt. Die Folgen von Travis’ Tablettenabusus, seiner Schlaflosigkeit und dem fanatischen Körper- und Waffentraining verdeutlichen sich in seinen abgehärmten und abgemagerten Gesichtszügen und den rot unterlaufenen und oftmals stumpfen Augen [00.41.00, 00.52.30, 00.56.30, 01.03.00]. Travis’ Kostüm verändert sich über drei Schritte mit jeweils intermittierenden Zwischenphasen. In Alltagssituationen trägt Travis eine braune Fliegerjacke, klein gemusterte, leicht farbige Hemden und Bluejeans [00.06.38]. Als er mit Betsy zum Rendezvous verabredet ist, trägt er ein rotes Cordsakko und eine weiße Hose [00.22.06]. Im Erzählabschnitt von Travis’ Versuchen einer Kontaktaufnahme zu anderen Protagonisten, sind die Hemden der Hauptfigur zumeist rot-weiß gemustert. Zudem befinden sich in seiner unmittelbaren Umgebung rot-weiße Gegenstände (z. B. Colabecher, Cornflakes-Schachteln) 258
[00.07.37, 00.14.10, 00.19.05, 00.31.33, 00.37.02, 00.42.20, 01.11.51, 01.20.49]. Als Travis Betsy im Wahlkampfbüro zur Rede stellen will, trägt er ein groß rot-weiß gemustertes Hemd. In der anschließenden Handlungsphase verschwindet die Farbe Rot gänzlich aus Travis’ Kostüm und Umgebung. Nur bei seinem Rendezvous mit Iris trägt er ein letztes Mal ein in rot-weiß kleingemustertes Hemd [01.20.49]. Während seines Körpertrainings wird zum ersten Mal sein nackter Oberkörper sichtbar [00.55.05]. In diesem Erzählabschnitt trägt Travis zu seiner Bluejeans eine andere Jacke, einen grünen Parka [00.58.00]. Unter seiner Kleidung hat er verschiedene Schusswaffen um seinen Körper geschnallt. Er schneidet die Ärmel eines weißen Hemds ab und zieht dies unter der Armeejacke an [01.28.40]. In der schrittweisen visuellen Veränderung von Travis’ äußerer Erscheinung visualisieren sich nacheinander verschiedene soziale Rollen und Typen. Zunächst ist Travis ein junger, lässig gekleideter Mann, der mit Taxifahren sein Geld verdient. Dann erscheint er als gepflegter und konservativ korrekt gekleideter Mann, als er sich mit Betsy zu einem Rendezvous trifft. Später in der Geschichte schlüpft er in die Rolle eines Guerillakämpfers. Zudem mimt Travis mit Sonnenbrille, Jeans und dem Hemd über der Hose einen Zivilbullen. Die visuell-prozesshaften Gestaltungsmuster von Kostüm und Maske vermitteln über eine sichtbare Entwicklung den charakterlichen Veränderungsprozess der Hauptfigur in diesem Film. Rocco und seine Brüder zeigt ebenfalls einen linearen Veränderungsprozess bei der Gestaltung von Kostüm und Maske. In diesem Schwarz-Weiß-Film gestaltet sich der Wandel von Kostüm und Maske in der Veränderung der Hell-Dunkel-Kontraste und der Stoffmuster. Simones Kostüm zeigt dabei drei Veränderungsphasen: Zunächst trägt er bäuerliche Kleidung [00.02.16]. Später wird sein Kostüm städtischer und stilvoller [00.55.45]. Im letzten Erzählabschnitt verkommt sein Äußeres mehr und mehr [02.02.00]. Ebenso verändern sich die Hell-Dunkel-Kontraste seiner Kostüme. Insgesamt ist seine Kleidung dunkel gehalten. Im ersten Drittel der Erzählung trägt er jedoch häufiger heller gemusterte Kleidungsstücke oder einen hellen Anzug [00.40.30, 00.44.00, 00.49.00, 00.55.45]. Später wird seine Kleidung immer dunkler und kontrastärmer, die Stoffe haben keine Muster mehr. Am Ende wird seine äußere Erscheinung von Dunkelgrau und Schwarz geprägt [02.22.10]. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich in der Gestaltung der Maske Simones: Sein Gesicht verändert sich zusehends – sieht man zu Beginn der Geschichte das glatte, offene und helle Gesicht eines sehr jungen Mannes [00.25.30], so reifen seine Gesichtszüge im Laufe der Ereignisse. Sein Ausdruck wirkt erwachsener [00.49.12]. Allmählich zeigen sich Spuren seines Lebenswandel in seinem Äußeren: Simone wirkt blass, aufgeschwemmt und erschöpft [02.02.00]. Im letzten Erzählabschnitt wirkt sein Gesicht stark abgehärmt, von Angst und Erschöpfung geprägt. Nach dem Mord an Nadja steht Simone mit schweißnassen Haaren, unrasiert und verschmutzt vor der Wohnungstür seiner Mutter [02.37.44]. 259
Im Vergleich zu diesen Filmen zeigen Der mit dem Wolf tanzt und Dead Man bei der Gestaltung von Kostüm und Maske wesentlich komplexere Veränderungsabläufe. In beiden Filmen werden mit Kostüm und Maske lineare Entwicklungsprozesse mit Bezug zur charakterlichen Wandlung der Hauptfiguren etabliert. Im Folgenden werden Gestaltungsweisen von Kostüm und Maske anhand einiger Beispiele erläutert. In mehreren Aufbau- und Dekonstruktionszyklen verändert sich in linearer Entwicklung Dunbars Kostüm von der Soldatenuniform zur indianischen Kleidung: In voller Uniform reitet Dunbar nach Fort Haze [00.11.06]. Während Kutschfahrt und Ritt nach Fort Sedgewick sieht man ihn mit aufgeknöpfter Jacke, mal auch nur in Hemd und Hose oder auch ohne Hut [00.17.50]. Hierüber visualisiert sich ein erster Veränderungsschritt. Im Anschluss beginnt ein neuer Entwicklungsschritt, der außerdem einen Zwischenzyklus beinhaltet. Als Dunbar zum ersten Mal einem Indianer begegnet, ist er völlig nackt [00.52.15]. Bei der zweiten Begegnung trägt er seine Uniformhose, aber sein Oberkörper ist unbekleidet [01.04.05]. Als Vorbereitung auf eine dritte Begegnung mit den Indianern kleidet sich Dunbar in seine Paradeuniform mit allem Zubehör [01.08.03]. Die Uniform wird jedoch in den folgenden Szenen dekonstruiert. Dunbar findet Steht-mit-einer-Faust, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Mit seiner Fahne verbindet er ihre Wunden. Er hüllt sie in seine Jacke [01.11.04]. Seinen Hut bindet er am Sattel fest. Dunbar bringt die Frau zum Indianerdorf. Als er den Indianern begegnet, trägt er nur noch Hemd und Hose seiner Paradeuniform [01.13.20]. Als eine Gruppe von Indianern zum ersten Mal Dunbar einen offiziellen, freundschaftlichen Besuch in seinem Fort abstattet, trägt Dunbar Hose, Hemd und Uniformjacke [01.17.12]. Nach diesem Entwicklungszyklus beginnt eine neue lineare Veränderung in der Gestaltung von Dunbars Kostüm in Form einer nächsten Dekonstruktion. Alle bisherigen Veränderungen an Dunbars Kleidung werden als Gegebenheiten im Bild präsentiert. Im nächsten Veränderungszyklus ereignen sich Veränderungen am Kostüm der Hauptfigur über szenische Interaktionen zwischen Dunbar und anderen Protagonisten. Das Kostüm selbst und Teile davon werden zum Gegenstand der Handlung. Im Gespräch mit den Indianern steckt er seine Uniformjacke unter sein Hemd, um den Buckel eines Büffels pantomimisch nachzuahmen [01.17.28]. Ein Indianer hat während der Büffeljagd Dunbars Hut gefunden, den er beim Reiten verloren hatte. Er wird aufgefordert, Dunbar eine adäquate Gegengabe dafür zu überreichen [02.01.41]. Er bekommt daraufhin einen indianischen Dolch überreicht. Als Besiegelung der Freundschaft tauschen Dunbar und Wind-in-seinem-Haar Uniformjacke gegen Brustschmuck [01.59.20]. Darauf folgende Veränderungsschritte in Dunbars Kostüm sind wiederum als visuelle Gegebenheiten präsentiert. Bei seinem Ausritt mit Strampelnder-Vogel trägt Dunbar zum ersten Mal einen indianischen Lederkittel [02.56.33]. Am Ende des Films ist er in ein Büffelfell gehüllt [03.30.17]. Hier schließt sich ein Entwicklungszyklus. Bei der 260
ersten Begegnung mit Strampelnder-Vogel war Dunbar nackt. Bei der Verabschiedung zwischen den beiden Freunden ist Dunbar komplett eingekleidet im Stil der indianischen Kultur und Lebensweise. Seine Uniformweste und seine Hose bleiben während der ganzen Geschichte als seine Kleidungsstücke unverändert. Durch andere Gestaltungsmuster in der Kostümgestaltung werden visuelle Hinweise über die emotionale Gestimmtheit von Dunbar gegeben. Auch die emotionale Qualität von Begegnungen wird darüber visualisiert. Trägt Dunbar ein rotes Hemd, ist er berührt durch die Begegnungen mit anderen Personen. Er erlebt dabei Gefühle von Zuneigung, Freundschaft und Liebe. Als er gemeinsam mit den Indianern bei ihrem Besuch Kaffee trinkt, trägt er ein rot gemustertes Hemd. Eine ebensolche Farbe trägt er während der drei Stufen der Annäherung zwischen ihm und Stehtmit-einer-Faust. Anhand der Gestaltung von Dunbars Frisur und Barttracht kann ein linear verlaufender Veränderungsprozess beschreiben werden, der Anteil hat an der Visualisierung seines Wandlungsprozesses. Zu Beginn der Geschichte trägt Dunbar einen struppigen Vollbart [00.01.29]. Später besteht sein Bart aus einem langen Schnauzer und einem kurz rasierten Kinn- und Backenbart [00.11.22]. Dann trägt er nur noch einen kurzen Schnauzer. Im letzten Viertel der Erzählung ist sein Gesicht glatt rasiert. Durch diese Veränderungen werden seine Gesichtszüge immer deutlicher sichtbar. Der Veränderungsschritt zum glatt rasierten Gesicht ereignet sich, als er seinen indianischen Namen erfahren hat und von Strampelnder-Vogel beauftragt wird, das Dorf und seine Bewohner zu beschützen [02.17.48]. Parallel zur Veränderung seines Barts wechseln auch Form und Aussehen von Dunbars Frisur. Trägt er anfänglich einen Kurzhaarschnitt, so ist sein Haar im letzten Teil der Geschichte lang gewachsen und verziert mit indianischen Perlen und Federschmuck [02.52.06]. Als Der-mit-dem-Wolf-tanzt mit Strampelnder-Vogel zu einem heiligen Ort reitet, ähnelt seine Frisur der seines indianischen Freundes. In Dead Man wird eine ähnlich komplexe und in mehreren Zyklen verlaufende Veränderung von Kostüm und Maske gestaltet: Blakes Kostüm wird dekonstruiert und anschließend retabliert. Im nächsten Veränderungszyklus werden Teile des Kostüms verändert. Am Ende der Geschichte trägt Blake ein neues Kostüm [01.48.03]. Zudem werden ähnlich wie in Der mit dem Wolf tanzt Teile von Blakes Kostüm und Maske – sein Hut, seine Haare und seine Brille – in Interaktionen mit anderen Protagonisten integriert [00.38.05, 00.53.44, 01.08.00, 01.24.52]. Die Gestaltung von Blakes Maske etabliert einen weiteren linearen Veränderungsprozess im filmischen Material. In beiden Filmen findet sich ein ähnliches Gestaltungsphänomen in Bezug auf Kostüm und Maske: In beiden Geschichten stehen sich zwei Kulturen und Traditionen gegenüber, damit auch zwei verschiedene Kleiderordnungen. Zwischen der westlichen Bekleidungskultur der weißen Amerikaner und der indianischen Bekleidungsweise besteht ein starker visueller Kontrast. Zwischen beiden Polen erstreckt 261
sich das Feld für Veränderung und Entwicklung. Dieses Spannungsfeld der Ausgestaltung von Kostüm und Maske wird in beiden Filmen genutzt, um den charakterlichen Wandlungsprozess zu visualisieren. Auch die drei letzten Beispielfilme, Das Piano, Betty Blue und Kleine Fluchten, können mit Blick auf Kostüm- und Maskengestaltung zu einer Gruppe zusammengefasst werden. In ihnen zeigt sich keine vergleichbar auffällige Prozesshaftigkeit der Gestaltung des Äußeren der zentralen Figuren, dennoch wird auch hier ein Bezug zwischen der Gestaltung von Kostüm und Maske und der inneren Wandlung der Hauptfigur aufgebaut. In Das Piano bleiben Kostüm, Frisur und Maske der Hauptfigur während der gesamten Geschichte nahezu unverändert. Nur bei genauer Betrachtung werden schrittweise Veränderungen von visuellen Elementen darin erkennbar. Diese Phänomene stehen in direktem Bezug zur äußeren und inneren Situation Adas – hier seien nur Anfangs- und Endpunkt der Veränderungen in Adas Kostüm kurz zusammengefasst: Ada trägt in den meisten Szenen der Erzählung hochgeschlossene und langärmelige schwarze bzw. sehr dunkle, kaum gemusterte oder verzierte Kleider [00.01.30]. Nur wenige Stoffe sind kariert oder liniert. In der letzten Szene trägt Ada dann ein hellgraues, luftiges und mit geschwungenen Blumenstickereien verziertes Kleid [01.49.40]. Zu Beginn der Erzählung ist Adas Gesicht bleich und konturlos. Im weiteren Verlauf der Ereignisse werden ihre Gesichtszüge zunehmend konturierter, in den Begegnungen mit Baines wird ihr Gesicht lebendiger, ihre Augen bekommen einen Glanz, ihre Haut ist von wärmerer Farbe und ihre Lippen sind röter und voller [01.08.42]. Als Ada sich gegen Stewarts Vergewaltigungsversuch wehrt, gleicht ihr Gesicht einer grau-weißen Maske mit zwei dunklen Punkten als Augen und dünnen Strichen als Lippen [01.19.20]. Nachdem Stewart ihren Finger abgehackt hat, liegt sie besinnungslos und fiebrig im Bett – ihre strenge Frisur ist aufgelöst und ihr Gesicht ist gerötet und schweißglänzend [01.37.19]. Am Ende der Geschichte sind Adas Gesichtszüge voll und weich, von lebendiger Farbigkeit und Kontur. Für die Gestaltung von Adas Frisur kann ebenfalls ein Veränderungszyklus beschrieben werden: Über weite Strecken der Erzählung trägt sie eine strenge Knotenfrisur, seitlich von zwei geflochtenen und festgesteckten Zöpfen umrahmt. Als sie zum ersten Mal mit Baines eine innige erotische Begegnung erlebt hat, haben sich die strengen Zöpfe gelöst. Noch später sieht man Ada dann zum ersten Mal mit offenen Haaren. Im weiteren Filmverlauf trägt sie ihre Hochsteckfrisur lockerer und ohne die strengen Zöpfe. Während der folgenden Ereignisse ist Ada wiederholt mit offenem Haar zu sehen. Am Ende trägt sie eine weich geschwungene Knotenfrisur, von einem schmalen, seitlichen Zopf verziert. Erstmals schmückt sie sich mit Ohrringen. Das Piano spielt in historischer Zeit und historischen Kostümen. Vergleicht man die Beschaffenheit von Adas Kostüm mit dem Verlauf ihrer inneren Veränderung, so kann in ihrer Bekleidung auch eine Metapher für ihren langen und schwierigen Weg 262
zur inneren und äußeren Freiheit gesehen werden. Ihr Kostüm besteht aus vielen Schichten, es schnürt sie sehr ein und behindert sie an der Bewegung. Es sind diese vielen Schichten und Hüllen, die sie auf dem Weg zu sich selbst ablegen muss und die Baines überwinden muss, um sie berühren und ihre Gefühle wecken zu können. In Betty Blue ändert sich die Gestaltung von Kostüm und Maske sukzessive aber eher wenig auffällig: Zunächst wird ihre Kleidung von hellen und kräftigen Farben geprägt. Im letzten Drittel der Erzählung verschwinden die Farben rot, blau und rosa aus dem Kostüm; am Ende ist Betty in das weiße Krankenhaushemd gekleidet. Grundlegend verändert sich auch Bettys Frisur im letzten Drittel der Geschichte. Sie trägt die meiste Zeit mittellange Haare, mal offen, mal locker hochgesteckt oder als Pferdeschwanz. Nach ihrer zweiten autoaggressiven Handlung muss Zorg ihre völlig verfilzten Haare abschneiden [01.33.39]. Auch Bettys Maske zeigt prozesshafte Gestaltungsmuster: Zunächst ist ihr Gesicht stets leicht geschminkt und von lebendiger Farbe. Im letzten Erzählabschnitt ist sie ungeschminkt und ihr Gesicht ist blass. Wenn sie im Krankenhaus liegt, ist ihr Gesicht bleich und über einer Gesichtshälfte liegt ein großer weißer Verband [01.38.30]. In Kleine Fluchten erscheinen die prozesshaften Gestaltungsmuster von Kostüm und Maske im Vergleich zu den anderen sieben Beispielfilmen am wenigsten ausgearbeitet, leichte Veränderungen zeigt vor allem der Grad der Helligkeit: Im Verlauf seiner Unternehmungen, in denen er seinen Aktionsradius erweitert, wie auch in Szenen während der Arbeit trägt Pipe zunehmend hellere Hemden. Nach dem Mopedunfall ist seine Kleidung hingegen grau und dunkel [01.41.18]. In den folgenden Szenen wird seine Kleidung wieder kontrastreicher und farbiger. Die Gestaltung von Maske und Frisur spielt bei der Visualisierung von Pipes Veränderung kaum eine Rolle. In seinem alten Gesicht spiegeln sich Emotionen und seine Lebendigkeit. Nur kurz nach seinem Unfall ist Pipe blass, krank und ausdruckslos [01.41.18]. Der deutlichste visuelle Hinweis auf seinen inneren Entwicklungsprozess wird über ein Regelsystem in Bezug auf sein Kostüm visualisiert: Pipe besitzt einen Sonntagsanzug und ein Arbeitsgewand. Gleich zu Beginn der Geschichte durchbricht er diese Kleiderordnung [00.02.19]: Wenn er mit seinem Moped unterwegs ist, trägt er unabhängig vom Wochentag seinen Sonntagsanzug. Wenn er das letzte Mal mit seinem Moped zu tun hat, macht er es vorsätzlich kaputt. Dabei trägt er sein Arbeitsgewand [01.42.13]. 7.4 Prozesshafte Gestaltung der Körpersprache (Hauptfigur) Die Gestaltung der Körpersprache der Hauptfiguren wird in allen acht Filmen prozesshaft inszeniert. Es lassen sich, je nach Relevanz des körpersprachlichen Ausdrucks als gestaltendem Faktor, drei Gruppen unterscheiden: In Dead Man, Breaking Glass, Das Piano und Rocco und seine Brüder wird die Körper263
sprache der zentralen Figuren als markanter visueller Indikator der inneren Entwicklung eingesetzt. In Taxi Driver und Betty Blue wird in der Gestaltung des nonverbalen Ausdrucks der Protagonisten keine deutlich prozesshafte Struktur etabliert, sondern ein sprunghafter Wechsel. Auch lassen sich in der Figureninszenierung beider Filme Veränderungen in Mimik und Gestik feststellen, wenngleich mit nur geringer Auffälligkeit. Die dritte Gruppe bilden Der mit dem Wolf tanzt und Kleine Fluchten, in denen die Inszenierung des körpersprachlichen Ausdrucks nur schwach inszeniert wird. Vielmehr wird das körpersprachliche Repertoire der Figuren im Verlauf der Handlung durch neue nonverbale Muster erweitert. Im Folgenden werden prozesshafte Gestaltungsmuster der Inszenierung körpersprachlichen Ausdrucks, die einen relevanten Anteil an der Visualisierung des charakterlichen Wandlungsprozesses leisten, beispielhaft erläutert. Die Inszenierung von Blakes körpersprachlichem Verhalten kennzeichnet ein grundlegender Wandel, der sukzessive durch den Einsatz visueller Elemente erfolgt. Der Veränderungsprozess wird zweifach inszeniert: In allgemeinen Veränderungen von Blakes sozialem Interagieren sowie im Wandel seiner Körpersprache. In der ersten Hälfte des Films ist Blakes Körpersprache ängstlich und schreckhaft, der Duktus zögerlich und in der Interaktion verspätet. In Konflikten kann er sich nicht behaupten. Auf der Flucht wird sein Verhalten nach und nach selbstsicherer, spontan, reaktionsschnell und zielstrebiger. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn er aus Notwehr Menschen tötet – die Entwicklung seiner Körperhaltung zeigt dabei ein markantes Profil: In der ersten relevanten Szene liegt Blake im Bett [00.24.50], in der nächsten hockt er geduckt am Boden [00.56.56]. Im weiteren Verlauf richtet er seinen Körper immer weiter auf [00.24.57; 00.56.56; 1.12.19], am Ende steht er aufrecht, wenn er auf seine Verfolger schießt. Auch die Waffe führt Blake von Mal zu Mal geschickter. (vgl. 5.8, 7.4, 7.5, 8.6) In Breaking Glass wird durch Gestaltung des körpersprachlichen Verhaltens der zentralen Figur ein ähnlich deutlicher Veränderungsprozess inszeniert. Diese prozesshaften Gestaltungsmuster sind in zwei verschiedene Bereiche gegliedert: Kates Körpersprache in privaten Situationen und die Choreografie ihrer öffentlichen Auftritte. Ihr Verhalten in Alltagssituationen ist geprägt von Impulsivität und einer offenen Körpersprache. Kates Mimik ist lebhaft und ihr emotionales Erleben an ihren Gesichtszügen ablesbar. Nach dem traumatisierenden Ereignis weichen Fröhlichkeit, Impulsivität und Offenheit aus ihrem Verhalten und ihrer Mimik. Kate wirkt müde, ernst und bedrückt, ihr Gesicht wird zunehmend ausdruckslos. Erst am Ende der Geschichte zeigt es wieder den Anflug eines Lächelns [01.34.20]. Auch für die Körpersprache bei Kates öffentlichen Auftritten lässt sich eine prozesshafte Entwicklung beschreiben. Ihre Bewegungen auf der Bühne zeigen während der ersten Konzerte kein choreografisches Konzept [00.07.00, 00.18.55, 00.28.15, 00.37.06, 00.48.28, 264
00.59.06] – zwar akzentuiert sie in Mimik und Gestik einzelne Textpassagen, doch sind ihre Bewegungen zur Musik eher spontan. Bei späteren Auftritten, nun unter dem Einfluss der Plattenfirma und Bob Woods’, weichen Natürlichkeit und Spontaneität einer festen Choreografie. Am Beginn der Geschichte erzählt Kate Dany, dass sie mit Roboterbewegungen für ihre Konzertauftritte experimentiert [00.06.19], am Ende wirkt dann ihr körpersprachlicher Ausdruck in der Tat automatisiert und schablonenhaft. Auch Das Piano zeigt eine sukzessive Veränderung von Mimik und Körpersprache der Hauptfigur. Zwar sind diese Gestaltungsmuster hier weniger markant als in Breaking Glass, aber doch deutlich visualisiert. Ada drückt mit ihrer Körpersprache eine sehr abweisende Haltung, Verschlossenheit und Steifheit aus. Sie vermeidet Berührungen und Körperkontakt, nur ihrer Tochter wendet sie sich zärtlich zu. Ihr Verhalten wirkt sehr beherrscht und zurückhaltend. Wenn sie etwas unbedingt erreichen will oder wenn sie in Wut gerät, zeigt sie sich jedoch auch in der Körpersprache sehr ausdrucksstark. In den meisten Szenen ist ihr Gesichtsausdruck ernst, traurig und still – ihr emotionales Repertoire ist reduziert auf Traurigkeit, Ernst, Zorn und Enttäuschung. Bei den Begegnungen mit Baines werden Adas Gesichts- und Körperausdruck nach und nach lebhafter und vielschichtiger. Zu Beginn ihrer Liebesbeziehung sieht man Ada einige Male lächeln [z. B. 01.17.29] und einmal sogar ausgelassen mit ihrer Tochter lachen [01.18.05]. Am Ende ist Adas körpersprachlicher Ausdruck von deutlicher Willensstärke und Offenheit, zugleich aber auch von Weichheit und Gelöstheit geprägt. Sie muss nun ihren Körper nicht mehr vor Berührungen schützen. Adas Gestik und Mimik vermitteln Freude, Heiterkeit und Zuneigung. Auch in der Inszenierung des körpersprachlichen Ausdrucks Simones in Rocco und seine Brüder wird eine visuelle Prozesshaftigkeit etabliert, wenn sich im Verlauf der Ereignisse eine deutliche Veränderung seiner Körperhaltung, seiner Ausdrucksbewegungen und seiner Mimik abzeichnet. Am Beginn ist Simones Körpersprache impulsiv und jungenhaft, sein Gesicht zeigt Offenheit, Neugier und jugendliche Naivität, seine Körperhaltung ist leicht gebeugt und seine Bewegungen sind von einer gewissen Trägheit, die jedoch jeden Moment von spontanen Handlungen unterbrochen werden kann. Im weiteren Verlauf wird seine Körperhaltung zusehends gebeugter, er zieht seine Schultern immer weiter hoch und trägt den Kopf gesenkt. Seine vormals hellen und glatten Gesichtszüge wirken zunehmend müde und von Alkohol und Nikotin aufgedunsen. Sah man zu Beginn Simone oft lächeln, lachen und impulsiv agieren, ist seine Mimik und Gestik am Ende geprägt von Hass, Wut, Verzweiflung und Resignation. Auch in Taxi Driver und Betty Blue werden Veränderungen in der Inszenierung von Körpersprache und Mimik der Protagonisten als visuelle Argumentation des charakterlichen Entwicklungsprozesses eingesetzt, doch verläuft die Veränderung im 265
Vergleich zu den bereits beschriebenen Filmen nicht linear und stufenweise, sondern sprunghaft oder in Brüchen. Bettys Körpersprache kennzeichnen Impulsivität und Dynamik – ihre Mimik zeigt Willensstärke, aber auch Fröhlichkeit und Unbekümmertheit. Im Verlauf der Erzählung zeigt Betty vermehrt körpersprachlich unkontrollierte und aggressive Verhaltensweisen, der Ausdruck von Wut und Verzweiflung in Schreien und Weinen nimmt zu. Im letzten Erzählabschnitt kommt es zum Bruch: Bewegungs- und ausdruckslos liegt Betty im Krankenhausbett. In Taxi Driver wird eine sprunghafte Veränderung des körpersprachlichen Verhaltens des Protagonisten inszeniert. Zunächst scheint sein Agieren langsam und kontrolliert. Plötzlich aber wandelt sich seine Körpersprache zu impulsiver Aktivität und lebhaft-aggressiver Gestik. Waren Travis’ Gesichtszüge zu Beginn von Müdigkeit, Freudlosigkeit und Unsicherheit gekennzeichnet, wird seine Mimik in den Begegnungen mit Betsy lebendiger und offener. Im letzten Teil sind seine Gesichtszüge dann deutlich verkrampft, müde und abgehärmt. In Der mit dem Wolf tanzt und Kleine Fluchten haben die Gestaltungsfaktoren Körpersprache und Mimik keine besondere Funktion bei der Visualisierung der charakterlichen Wandlung. Eine gewisse Prozesshaftigkeit in Form einer sukzessiven Erweiterung lässt sich dennoch beschreiben. Am Beginn werden beide Figuren mit einem eingeschränkten Repertoire körpersprachlichen Ausdrucks eingeführt. In einigen Momenten deutet sich aber an, dass ihnen eine größere Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung steht – diese Palette emotionaler Dynamiken in Mimik und Gestik wird nach und nach im Agieren der Figuren etabliert.
7.5 Visuelle Bezüge zwischen Kostüm, Maske, Mimik und Körpersprache (alle Figuren) Visuelle Bezugssysteme zwischen der äußeren Erscheinung der Protagonisten und anderer Figuren repräsentieren Aspekte der charakterlichen Wandlung. Dies zeigt ein Vergleich von Gestaltungsfaktoren der äußeren Erscheinung des vollständigen Figurenprogramms. Diese komplexen visuellen Bezüge ließen sich jedoch nur in einer Detailuntersuchung herausarbeiten, welche diese vorwiegend deskriptiv arbeitende Studie nicht zu leisten vermag. An dieser Stelle können nur ausgewählte Aspekte dargestellt werden, um beispielhaft vorzuführen, wie diese Bezüge als Visualisierungsmuster zur Präsentation der charakterlichen Wandlung eingesetzt werden. Aufgrund der genannten Einschränkungen können die acht Beispielfilme unter diesem Aspekt nicht zu Gruppen zusammengefasst werden. Anzumerken ist jedoch, dass schon beim kursorischen Blick in sechs Filmen (nicht in Betty Blue und Taxi 266
Driver) visuelle Bezüge in der Ausstattung der Kostüme auffallen. Zudem lassen sich in einzelnen Beispielfilmen bedeutungsschaffende Relationen zwischen der Physiognomie, dem körpersprachlichen Ausdruck und der Maske der Protagonisten und anderer Figuren feststellen. Betty Blue und Taxi Driver zeigen bei dieser Stichprobe zwar gewisse Beziehungen zwischen der visuellen Erscheinung einzelner Figuren, doch können keine deutlich prozesshaften und für die Visualisierung der charakterlichen Wandlung relevanten Gestaltungsmuster herausgearbeitet werden. Im Folgenden werden ausgewählte Beispiele beschrieben. Das Figurenprogramm von Dead Man zeigt in dieser Perspektive ein vergleichsweise komplexes gestalterisch-visuelles Bezugssystem. So wird im Kostüm am Beginn ein visueller Kontrast aufgebaut: Ähnelt der Kleidungsstil der Fahrgäste anfangs noch Blakes eigenem Kostüm [00.00.23], entsteht durch mehrmaligen Wechsel der Mitreisenden ein immer stärkerer Kontrast zwischen den Kostümen [00.01.04]. Am Ziel wirkt Blake schließlich in seinem karierten Anzug zwischen den mit zotteligen Fellmänteln und Mützen bekleideten und Gewehre tragenden Trappern völlig deplaziert [00.03.49]. An dieser Stelle beginnt ein Entwicklungsbogen, der sich über die gesamte Erzählung spannt: Blakes Kostüm verändert sich im Laufe der Ereignisse sukzessive. Am Ende ähnelt seine Kleidung jener der Trapper, mit denen er am Beginn der Geschichte aus dem Zug gestiegen ist. Auch Blake trägt nun einen zotteligen Fellmantel und hat seine Waffen stets griffbereit [01.33.00, 01.34.55]. Auf der körpersprachlichen Ebene wird ein vergleichbarer Kontrast inszeniert, der sich im Laufe der Ereignisse mehr und mehr aufhebt. Im Gegensatz zu Blakes schreckhaftem Verhalten steht die ruhige Haltung des Heizers, der Blake auf seiner Zugreise anspricht [00.04.33]. Er sitzt von Schießerei und Geschrei ungerührt Blake gegenüber und führt das Gespräch unbeeinflusst von der ihn umgebenden Aufruhr. Blake hingegen zuckt bei jedem Schuss zusammen und versucht sich hinter seinem Koffer oder unter der Bank zu verstecken. Vergleichbare Kontraste zwischen Blakes körpersprachlichem Verhalten und dem der anderen Figuren werden wiederholt im ersten Drittel der Erzählung inszeniert, zum Beispiel bei Blakes Begegnungen mit dem Bürovorsteher [00.12.45] oder auch in der Interaktion zwischen Blake und Dickinson [00.14.53]. Im letzten Drittel des Films ist Blakes Körpersprache völlig verändert: Er agiert souverän und angstfrei, seine Reaktionen wirken selbstverständlich und manchmal sogar stoisch. Ein weiteres sich dynamisch veränderndes Bezugssystem besteht zwischen der äußeren Erscheinung Blakes und der des Indianers Nobody. In Physiognomie, körpersprachlichem Ausdruck und Kostüm besteht zwischen beiden ein starker Kontrast: Blake ist von eher schmaler Statur, Nobody hingegen ist groß und kräftig. Blake handelt sehr zögerlich und ängstlich, Nobody hingegen überlegt, ruhig und unerschrocken. Im Laufe der Handlung ändert sich Blakes Verhalten mehr und mehr und ähnelt schließlich dem Nobodys, auch gleicht sich die Sprechweise der beiden Protagonisten 267
einander an. Blake äußert zu Anfang oft sein Unverständnis über viele Aussagen Nobodys [00.33.38], er verlangt von dem Indianer mehr Informationen und Erklärungen. Im weiteren Verlauf übernimmt Blake dann mehr und mehr Nobodys Sprechweise [01.12.19, 01.28.05. 01.37.27]. Zwischen dem Kostüm der beiden besteht ein deutlicher Hell-Dunkel-Kontrast: Nobodys Kleidung ist mit Ausnahme seines Federschmucks durchweg hellgrau und weiß. Auch sein Pferd ist weiß. Blakes Kostüm dagegen ist schwarz bzw. dunkelgrau gemustert, sein Pferd schwarz-weiß gescheckt. Am Ende zeigt sich Blakes Kostüm ganz verändert und ebenso hell wie Nobodys Kleidung. Die oben beschriebenen visuellen Bezüge und Veränderungen präsentieren die Anfangs- und Endpunkte einer Entwicklung. Die Veränderungen in Blakes Erscheinung und visuelle Bezüge zu Physiognomie, Kostüm, Körpersprache u.ä. der anderen Figuren verbildlichen den Ausgangspunkt und die Entwicklungsphasen seiner inneren Wandlung. In Das Piano werden verschiedene Bezugssysteme der Kostümgestaltung etabliert und ein teilweiser Kontrastbezug zwischen Baines’ und Stewarts Kleidung inszeniert: Stewart ist meist korrekt gekleidet in Anzughose, Frack und Zylinder. Sein Haar trägt er kurz und pomadisiert [00.09.40], Baines dagegen trägt einfache Kleidung, ein heller Schlapphut hängt an einem Band auf seinem Rücken. Seine lockigen Haare sind stets zerzaust [00.09.50]. Im Laufe der Handlung strebt Ada weg von Stewart hin zu Baines. Wofür und wogegen sie sich mit ihrer Wahl entscheidet, wird im Kostüm der Männer angedeutet: Ein streng reglementiertes Leben tauscht sie gegen ein freieres Dasein. Noch auf ein weiteres Bezugssystem in der Kostümgestaltung von Stewart und Baines ist hinzuweisen: Wer von ihnen bei den verschiedenen Begegnungen wechselweise „den Hut auf hat“ [00.23.10, 00.29.05, 00.49.17], wird auch im Bild dargestellt. Am Ende ähnelt Baines’ Kostüm dem Stewarts vom Beginn [00.11.21]: Nun trägt Baines Frack und Zylinder [01.43.10]. Er hat Stewarts Stelle bei Ada eingenommen. Ein weiterer plakativer Kontrast wird in zwei Szenen von opening und ending inszeniert: Die Skipper, die zu Beginn Ada und ihre Tochter an den Strand tragen, sind in zerlumpte Hosen und Hemden gekleidet [00.04.37]. Die Maori, die am Ende das Kanu mit Ada, ihrer Tochter und Baines steuern, tragen nur einen Lendenschurz [01.44.10]. Auch dies lässt sich als Metapher für Adas Wandlung interpretieren. In ihrer Beziehung zu Baines wird ihre Sexualität lebendig. Zuletzt sei noch auf das Kostüm von Adas Tochter hingewiesen: Veränderungen des Kostüms verbildlichen die emotionale Entwicklung zwischen Baines und Ada; Veränderungen an Floras Kleidung korrespondieren dabei mit der emotionalen Stimmungslage ihrer Mutter. Wenn Ada von Baines an den Strand gebracht wird und auf dem Klavier spielt, tanzt ihre Tochter im weißen Unterkleid radschlagend zur Musik [00.23.45]. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Neuseeland sieht man Ada in dieser Szene mit einem Lächeln und mit freierer Gestik. Ähnliches zeigt sich am Ende der 268
Geschichte: Wenn Ada in zärtlicher Umarmung mit Baines auf der Veranda steht, sieht man die Tochter im weißen bauschigen Unterkleid im Garten ein Rad schlagen [01.50.30]. Hier noch einige Beispiele der Korrespondenz zwischen den Veränderungen in Floras Kostüm und den Stimmungslagen zwischen Ada und Baines: Floras Hut ist stets ganz schwarz. Als ihre Mutter Baines bittet, sie beide an den Strand zu bringen, weist er zum ersten Mal ein weißes Futter auf [00.21.45]. Wenn Baines und Stewart über das Klavier bzw. über Klavierstunden und ein Stück Land verhandeln, trägt Flora eine weiße Spitzenhaube und eine weiße Schürze [00.29.10]. Kurz vor Adas erster Klavierstunde für Baines sieht man Flora neben ihr im Gras liegen [00.32.50] – sie trägt nun ein hell gemustertes Kleid, an dessen Saum ihre weiße Spitzenunterhose hervorlugt. Deutlich hervorgehoben wird dieses Stückchen Wäsche durch einen Lichtreflex. Während Adas erster Klavierstunde für Baines trägt Flora einen hellen Strohhut mit hellem Futter und weißer Schleife [00.33.29]. Während des zweiten Besuchs spielt das Mädchen vor der Hütte mit seinem Hund. Dabei ist ein rotes Tuch [00.36.37] im Spiel. In der Hütte treffen Ada und Baines währenddessen ihren Handel: Berührungen gegen Pianotasten. Während Adas dritten Aufenthalts bei Baines trägt Flora einen roten Umhang [00.39.58]. Im weiteren Verlauf tritt Flora in weißem Kostüm und mit weißen Engelsflügeln auf [00.48.35]. Nach der siebten Begegnung zwischen Ada und Baines, in der sich zum ersten Mal die nackten Körper der beiden berühren, beschmutzt Flora ihre weiße Schürze, bei Erfüllung der Strafaufgabe ihres Stiefvaters [01.02.33]. Die Begegnungen zwischen Ada und Baines sind kein unschuldiges Spiel mehr. In Der mit dem Wolf tanzt wird zwischen Kostümgestaltung und Physiognomie des Hauptprotagonisten und anderer Figuren ein visueller Kontrast etabliert: Dunbar begegnet in Fort Haze dem dortigen Major. Nachdem er Dunbar befohlen hat, Fort Sedgewick zu übernehmen, erschießt sich der Major [00.17.12]. Physiognomie und Verhalten dieser Figur stehen in starkem Kontrast zu Dunbar: Der Major ist dick und aufgeschwemmt und benimmt sich unbeherrscht [00.13.00]. Dunbars Wunsch war es, nach Westen zu gelangen, der Major ist hier verrückt geworden und hat sich aufgegeben, Dunbar wird hier zu sich finden. Kontrast und Analogie kündigen die innere Wandlung der Hauptfigur an. Physiognomie, Körpersprache, Mimik und Kostüm des Trappers, welcher Dunbar mit seiner Kutsche nach Fort Sedgewick bringt, stehen in starkem Kontrast zur Hauptfigur [00.17.50]. Der gepflegte und trainierte Dunbar hebt sich stark von dem ungepflegten, unflätigen und dicken Mann ab. In Maske und Kostüm von Dunbar und Wind-in-seinem-Haar lassen sich weitere Bezüge erkennen, die eine prozesshafte innere Entwicklung vorankündigen. Bei ihrer ersten Begegnung korrespondieren ihre Masken im markanten Schwarz-Weiß-Kontrast [01.04.05]: Dunbar hat weißen Rasierschaum um Mund und Kinn, die obere Gesichtshälfte von Wind-in-seinem-Haar ist weiß bemalt, Mund und 269
Kinnpartie sind dagegen schwarz. Über diese kleine visuelle Korrespondenz kündigt sich bereits an, dass beide Charaktere zueinander in Beziehung stehen. In der Folge wird dieser Bezug mit Hilfe der Kostümgestaltung noch deutlicher: Dunbar tauscht seine Uniformjacke gegen den kostbaren Brustschmuck von Wind-in-seinem-Haar [01.59.20]. Im weiteren Verlauf tragen beide Männer diese Kleidungsstücke, was ihre Freundschaft symbolisiert. Eine mehrphasige Entwicklung zeigt der Vergleich der Kostüme von Dunbar und Strampelnder-Vogel: Beim ersten Zusammentreffen der beiden wird hier ein starker Gegensatz visualisiert: Dunbar ist völlig nackt, Strampelnder-Vogel trägt sein traditionelles Gewand [00.52.15]. Hier beginnt ein visueller Entwicklungsbogen, der erst mit dem letzten Bild endet, wenn beide Protagonisten sich in indianischer Kleidung gegenüber stehen [03.32.30]. In dieser Szene wird zugleich ein visueller Kontrast zwischen beiden Figuren aufgebaut: Dunbar trägt das Büffelfell mit der weißen Haut nach außen, der umgeschlagene Kragen zeigt das braune Fell. Das Büffelfell von Strampelnder-Vogel ist nach außen gewendet, am umgeschlagenen Kragen wird die weiße Haut sichtbar. Dazwischen liegen mehrere Entwicklungsstufen, welche die Veränderung von Dunbars Kostüm visualisieren. Im letzten Erzählabschnitt, kurz vor der Gefangennahme Dunbars, korrespondieren Kostüm und Maske von Dunbar und Strampelnder-Vogel besonders stark: Beide tragen indianische Kittel, die jedoch farblich kontrastieren – Dunbars Kittel ist orange, der von Strampelnder-Vogel grün [02.56.33]. Dunbars Haartracht ähnelt in dieser Szene sehr der seines Freundes. Wie dieser trägt auch er nun langes Haar, an seiner Stirn stehen einige Büschel etwas hoch. In Anlehnung an den indianischen Kopfschmuck von Strampelnder-Vogel trägt Dunbar zwei Federn im Haar, die auch bei ihm schräg vom Kopf abstehen. Die Veränderungen an Dunbars Kostüm und Bezüge zum Kostüm anderer Figuren visualisieren Annäherung, Identitätswechsel und charakterliche Wandlung der Figur. In Kleine Fluchten werden die visuellen Bezüge der äußeren Erscheinung der Figuren nur wenig ausgeformt. Ein prozesshaftes Gestaltungsmuster in Beziehung zu Pipes Entwicklung zeigt das Kostüm der Bäuerin Rose. Die Farbgestaltung von Roses Kleidung spiegelt sowohl Stimmungen Pipes wie auch der sozialen Gruppe: Am Beginn der Geschichte, wenn Pipe sein Moped vom Bahnhof holt, trägt Rose eine rotkarierte Schürze über einem beigefarbenen Kleid mit Blumenmuster [00.01.10]. Diese Schürze wird sie erst am Ende der Erzählung wieder tragen, wenn Pipe in der Photographie eine neue Form des Ausdrucks gefunden hat [01.52.59]. Während Pipe seine Ausflüge unternimmt, trägt Rose eine schwarz-weiß gestreifte Schürze und darunter Kleider in gedeckten Farben [00.35.18, 00.56.47, 01.13.47, 01.37.10], nur zur Feier von Luigis Geburtstag trägt sie einmal eine weiße Schürze mit Blumenstickerei [01.04.30]. Nach Pipes Unfall sieht man Rose in schwarzer Strickjacke, dunkelgrauer Schürze, grauen bzw. schwarzen Kleidern und einem schwarz-weiß 270
gemusterten Rock [01.41.18]. Wenn Pipe nach seiner Krise wieder zu sich findet, spiegelt sich auch dies in Roses Kostüm wider: Sie trägt wieder die rotkarierte Schürze über einem leuchtend hellblauen Kleid. Zuletzt sei noch eine korrespondierende Kostümgestaltung aller Figuren genannt: Wenn Pipe von der Gendarmerie nach seinem Unfall zurück zum Hof gebracht wird, tragen alle außer ihm blaue Kleider [01.36.49]. Wenn der Bauer kapituliert und den Hof seinem Sohn übergibt, sind die Kostüme aller Figuren im Bild blau [02.06.10]. Beide Szenen signalisieren das Ende einer Entwicklung oder einer Krise und zugleich einen Neubeginn. In Rocco und seine Brüder besteht ein deutlicher Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen den Kostümen Roccos und Simones, welcher am Ende der Geschichte umgekehrt wird: Im ersten Filmdrittel trägt Simone helle bis mittelgraue und gemusterte Kleidungsstücke, Roccos Kostüm ist vorwiegend schwarz mit dazu kontrastierenden applizierten weißen Ornamenten und Schriftzügen. Ebenso kombiniert er die schwarzen Teile seines Kostüms mit weißen Kleidungsstücken. Auch zwischen der Trainingskleidung der beiden besteht ein Schwarz-Weiß-Kontrast. Im Verlauf der Erzählung „verdunkelt“ sich Simones Kostüm nach und nach: Bei dem langen Kampf der Brüder ist Simones Kostüm bereits dunkler als Roccos [01.41.20]. Bei ihrer letzten Begegnung, wenn Simone Rocco die Ermordung Nadjas gesteht, ist er ganz schwarz und Rocco ganz weiß gekleidet [02.40.11]. Die Beziehung zwischen den Brüdern und Simones Abstieg werden in einer dynamischen Kostümgestaltung durch den Wechsel der Hell-Dunkel-Kontraste symbolisiert. Wie bereits in 7.3 ausgeführt, trägt die Kostümgestaltung in Breaking Glass wesentlich zur Visualisierung von Kates innerer Wandlung bei. Darüber hinaus lässt sich für die Kostümgestaltung des gesamten Figurenprogramms eine schrittweise Veränderung der Farbgestaltung feststellen, die mit Kates Entwicklung korrespondiert: Die Kostüme der Bandmitglieder sind zunächst im Schwarz-Weiß-Kontrast gehalten. Andere Farben (violett, dunkelblau) der Kleidung sind stets sehr dunkel und fügen sich unauffällig in den dominierenden Schwarz-Weiß-Kontrast ein. Den ersten Farbakzent setzt ein blaues Hemd des Gitarristen, welches er beim ersten Streit der Bandmitglieder trägt [00.45.15]. Er verlangt in der Auseinandersetzung von den Bandmitgliedern mit ihrer Arbeit finanziellen Gewinn anzustreben. Kate will diesen Weg jedoch nicht gehen. Ab diesem Moment werden die Kostüme der Bandmitglieder zusehends farbiger: Kate trägt während des Konzerts in der Music Machine ein rotgemustertes Kostüm [00.48.25], auch die Hemden der beiden Gitarristen sind rot. Während der ersten Aufnahme im Studio von Overlord Records tragen alle Bandmitglieder verschiedenfarbige Kostüme [00.55.40]. Die Kostüme von Mick und Ken sind zwar ebenfalls farbig, entsprechen aber noch immer dem ursprünglichen Schwarz-Weiß-Kontrast. Diese Veränderung des Farbprogramms spiegelt die Entwicklung der Band wie auch Kates Entwicklung. Der ursprünglich homogene 271
Schwarz-Weiß-Kontrast der Kostüme entwickelt sich zu individueller Farbigkeit. Mit zunehmendem kommerziellen Erfolg verliert die Band ihren Zusammenhalt: Mick und Ken halten am ursprünglichen Konzept und den gemeinsamen Idealen fest und verlassen nacheinander die Band.
7.6 Visuell-prozesshafte Veränderung zentraler Gegenstände In den ausgewählten Filmen fallen einzelne Ausstattungsgegenstände in der visuellen Präsentation auf, die prozesshaften Veränderungen unterliegen. Inszenierung und visuelle Präsentation dieser Gegenstände visualisieren Entwicklung und Wandlung. In fünf der untersuchten Filme lassen sich prozesshafte Inszenierungsweisen beschreiben (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Breaking Glass, Der mit dem Wolf tanzt). Diese Filme können in zwei Gruppen eingeteilt werden: In Das Piano und Kleine Fluchten ist es jeweils ein einzelner Gegenstand, der sowohl im Handlungsraum als auch in Interaktionen und Dialogen präsent ist und eine zentrale erzählerische Funktion in Bezug auf die charakterliche Wandlung besitzt. In den übrigen Filmen sind es mehrere Ausstattungsgegenstände, die mehrmals eingesetzt und dabei verändert werden. Diese Gegenstände sind jedoch ohne Funktion für Handlung und Dialog. Vielmehr schafft ihre Präsentation in szenischen Zusammenhängen eine visuelle Bedeutungskette, welche die Entwicklungen auf der Handlungsebene ähnlich einem Subtext begeleitet und kommentiert. In Taxi Driver und Rocco und seine Brüder wird vergleichbar verfahren, doch werden die Veränderungen hier weniger auffällig gestaltet. Die Veränderungen visualisieren zwar prozesshafte Aspekte in Bezug zur Dynamik des charakterlichen Wandlungsprozesses; in diesen beiden Filmen dominieren jedoch andere Gestaltungsmuster. Betty Blue zeigt in der Stichprobe keine prozesshafte Inszenierung von Gegenständen mit Bezug zur inneren Wandlung der Hauptfigur. In Das Piano und Kleine Fluchten spielt jeweils ein bestimmter Gegenstand eine zentrale Rolle in der erzählerischen Konstruktion: Ein Musikinstrument und ein Moped. Die Inszenierungsweisen, in denen diese Objekte ins Bild gesetzt und in das Handlungsgeschehen integriert werden, verändern sich prozesshaft. Dabei werden sie zu visuellen Elementen der Darstellung des Wandlungsprozesses. Neben den zentralen Gegenständen fallen bei der Gestaltung der gegenständlichen Welt in diesen Erzählungen noch weitere Objekte und Objektgruppen auf, die eine veränderte Behandlung erfahren. Dabei werden ihre visuelle Präsentation und ihre Einbindung in das szenische Geschehen modifiziert. Eine deutlich visuell-prozesshafte Inszenierung zeigen Szenen, in denen das Piano im Zentrum steht: Zunächst ist das Instrument in eine Kiste gepackt [00.05.50]. Als Baines es stimmen lässt, ist sein Holz von rötlich-warmer Farbe [00.32.04]. In 272
ebenso warme Farben und Licht sind Szene und Instrument getaucht, wenn Baines nackt um das Instrument herum geht und es berührt [00.42.45]. Auch während der Begegnungen zwischen Baines und Ada in den ersten Klavierstunden wird das Musikinstrument zunächst in warmes Licht gehüllt, das seine Körperlichkeit betont [00.33.29, 00.37.00, 00.41.00]. Im Laufe der Annäherung der beiden Protagonisten rückt das Instrument jedoch visuell immer weiter in den Hintergrund. Von der Lichtdramaturgie wird es kaum mehr mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht [00.44.15, 00.46.44, 00.50.35, 00.58.10]. Wenn die Maoris das Instrument durch den Dschungel zurück zu Stewarts Haus tragen, prägt die Szene diffuses, farbentsättigtes Licht. Das Klavier ist von stumpfem, schwarz-braunem Ton. In Stewarts Haus steht es in neutralem Licht [01.06.40], die Farben Schwarz und Braun dominieren. Ohne schützende Umhüllung wird es bei Adas Abreise auf dem Kanu festgezurrt [01.44.05]. Das Sonnenlicht zeigt die hellbraun-rötliche Farbe des Holzes. Wenn es im Meer versinkt, verliert das Instrument seine warme Farbigkeit und wird zu einem stumpf-schwarzen, konturlosen Gegenstand [01.47.23]. Für die Handlung in Das Piano ist zunächst der Klang des Pianos das wichtigste Element dieses Gegenstandes: Ada drückt sich darin aus – das Klavierspiel ist ein wichtiger Faktor ihres Gefühlslebens. Dann rückt die Körperlichkeit des Instruments immer mehr in den Vordergrund: Das Piano wird wie ein lebendiges Wesen behandelt. Der Klavierstimmer befühlt und beriecht es wie einen begehrenswerten Körper [00.32.04], Ada und Baines streicheln und betasten das Instrument ebenfalls [00.42.51, 00.51.15, 01.09.02]. Im weiteren Verlauf tritt das Instrument dann in den Hintergrund: Das Instrument erfährt kaum noch Beachtung, vielmehr ereignen sich die Berührungen nun zwischen den menschlichen Körpern. Das Piano wird zunehmend roh behandelt: Die Eingeborenen lassen es fallen und hauen auf die Tasten [00.31.31, 01.20.00]. Ada trennt eine der Tasten heraus und schickt sie Baines [01.29.00]. Stewart stößt Ada im Zweikampf hart gegen das Instrument [01.33.15]. Zuletzt wird es auf Adas Wunsch hin im Meer versenkt und so zerstört [01.46.20]. Dieser Wandel in der Behandlung des Klaviers spiegelt auch seine sich ändernde Ausleuchtung wider: Wird es in der ersten Hälfte des Films vom Licht in rötlichgoldene Farbtöne gehüllt und so mit Ausstrahlung und Wärme aufgeladen, erscheint es in der zweiten Hälfte zunehmend schwarz-braun und matt. Beim Sturz ins Meer verliert es Farbe und Glanz und wird zu einem schwarzen Kasten. Auch Finger und Hände werden als wichtige Handlungs- und Bedeutungsträger in dieser Erzählung inszeniert. Zwar keine Gegenstände im eigentlichen Wortsinn, werden sie jedoch hier so in Szene gesetzt, dass sie ein Eigenleben erhalten: Adas Hände berühren das Piano und ihre Tochter Flora [00.07.24], andere Berührungen hingegen vermeiden sie. Während der Verhandlungen mit Baines zeigt Ada mit den Fingern die Zahl der Pianotasten, die sie für die Gewährung bestimmter körperlicher 273
Berührungen fordert [00.47.42], dabei entsteht auch eine visuelle Analogie zwischen Fingern und Tasten. Für das Ausziehen ihres Oberteils verlangt Ada so viele Tasten, wie Finger an ihrer Hand sind [00.51.26]. Nackt beieinander Liegen misst sie den Preis aller zehn Finger zu [00.59.45]. Später trennt sie eine Taste aus dem Instrument heraus und sendet so eine Liebesbotschaft an Baines [01.29.00]. Zur Strafe hackt ihr Ehemann ihr daraufhin einen Finger ab [01.33.30]. Wie zuvor die Pianotaste mit der Liebesbotschaft, wird nun der abgehackte Finger in ein Tuch gewickelt und von Flora zu Baines gebracht [01.35.00]. Später sieht man Ada mit einer silbernen Fingerprothese Klavier Spielen und die Tasten Berühren [01.49.40]. Dieses Bild und eine mit ihm korrespondierende Szene im ersten Teil des Films bilden die Anfangs- und Endpunkte der Veränderungsdynamik in der visuellen Inszenierung von Fingern und Händen: Das Piano steht am Beginn in einer Holzverschalung am Strand. Ada sitzt davor, greift durch den Spalt eines gebrochenen Holzbretts und spielt einige Töne [00.07.45]. Das Auge der Kamera kriecht zusammen mit Adas Hand in die Holzkiste und zeigt die intime und zärtliche Berührung der Tasten im warmen Licht. Am Ende sieht man Adas Hand mit der Fingerprothese beim Spielen auf den Tasten eines neuen Klaviers in einem hellen, großen Raum bei neutralem Licht. Kleine Fluchten ist der zweite in der Gruppe analysierter Filme, in dem ein zentraler Gegenstand als wichtiger erzählerischer Baustein der gesamten Geschichte präsentiert wird: Pipes Moped. Das szenische Agieren Pipes und anderer Figuren sorgt im Verlauf der Erzählung für einen steten Wandel in der Behandlung dieses Objekts: Das Moped wird als Bahnfracht geliefert [00.03.00], Pipe betastet es zärtlich, dann schiebt er es nach Hause und stellt es in sein Zimmer [00.06.30]. Er lernt mit Luigis Hilfe das Fahren und tankt das Moped zum ersten Mal auf [00.17.31, 00.20.53, 00.41.57]. Er rast damit durch das Dorf und kämpft sich mit ihm über Stock und Stein eine Bergkuppe hinauf, um den Flug eines Segelfliegers verfolgen zu können [00.48.24]. Der Bauer betrachtet Pipes Moped und seine Ausflüge damit mit großer Skepsis. Während er mit dem Melkschemel im Kuhmist feststeckt, fährt Pipe zur Besichtigung der Schokoladenfabrik, in der Josianne arbeitet [01.07.28]. Nach seinem Unfall heben die Gendarmen das Moped aus dem Streifenwagen und verbieten Pipe das weitere Fahren [01.38.00]. Das Moped steht nun in einem Schuppen [01.41.51] und wird von Pipe verbrannt und zerhackt [01.42.13]. Über die gesamte Erzählung verteilt werden verschiedene Fahrzeuge als wichtige szenische Gegenstände ins Bild gesetzt: Josiannes Moped, das Auto des Bauern, Alains Motorrad, die Moto-CrossMaschinen, Stefans Dreirad, der Traktor des Bauern, das Segelflugzeug. Am Beispiel des Traktors sei kurz erläutert, wie dieser Gegenstand in verschiedenen Szenen in Beziehung zu Pipes Wandlung steht: Nachdem Pipe sich endgültig gegen den Bauern durchgesetzt hat, ist er zu Fuß unterwegs [01.54.40]. Der Bauer sitzt hoch auf dem Traktor und stellt ihn zur Rede. Pipe erscheint schmächtig und klein neben den 274
großen Hinterrädern des Traktors, doch sagt er dem Bauern seine Meinung und geht entschlossen seines Wegs. Wenn der Bauer den Hof übergibt, fährt er mit dem Traktor in die Szene seiner Kapitulation hinein [02.04.50] – er hält das Fahrzeug an und steigt herab von seinem hohen Sitz. Auch er muss – wie Pipe – am Ende eines Prozesses sein Fahrzeug aufgeben. In Dead Man, Breaking Glass und Der mit dem Wolf tanzt gibt es keine vergleichbar zentralen Gegenstände wie in Das Piano und Kleine Fluchten, die zentrale erzählerische Zusammenhänge des Wandlungsprozesses herstellen. Doch fallen verschiedene visuelle Elemente in der Ausstattung dieser Filme auf, die prozesshaft im szenischen Raum inszeniert werden und so zur Visualisierung des charakterlichen Wandlungsprozesses beitragen. In Dead Man ist es das Papier, welches in ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen in die Handlungen integriert wird: Blake zeigt dem Heizer sein Einstellungsschreiben [00.06.20]. Der prophezeit ihm, dass auf Papier geschriebene Worte an dem Ort, zu dem Blake reist, keine Bedeutung haben werden. Thel stellt aus Papier Blumen her, um sie zu verkaufen [00.19.19]. Als sie mit ihrem Blumenkorb in den Schlamm fällt, liegen die weißen Papierblüten um sie herum verstreut. Auch Blake stürzt später in einem Regen aus weißen Blüten in den Schlamm [00.25.15]. Auf der Flucht verliert er sein Einstellungsschreiben [00.33.18] zwischen den kahlen Steinen des Outback. Dickinson diktiert seinem Bürovorsteher ein Telegramm, das Blakes Verfolgung auslöst [00.32.48]. Blake wird steckbrieflich als Mörder gesucht, dabei werden in der Bildunterschrift falsche Behauptungen aufgestellt. Blake zerreißt wütend den Steckbrief [00.58.34]. Nobody hat während seines Exils Texte William Blakes gelesen und daraus Kraft und Mut geschöpft [00.47.28]. Die Worte des Dichters, einst auf Papier geschrieben und gedruckt, haben eine Wirkung entfaltet, die weit über den Moment des ersten Lesens hinaus reicht. Blake schenkt Nobody als Erinnerungsstück einen Steckbrief mit seinem Bild [01.30.00]. Dem Händler, der, um Blake zu täuschen, ihn um ein Autogramm auf einem Steckbrief bittet, durchbohrt Blake die Hand mit dem Federhalter [01.33.37]. Das Papier ist nun blutverschmiert. Die metaphorische Bedeutung des Papiers verändert sich von Szene zu Szene. Die Handlung spielt in einer Gegend, in der Papier und geschriebene Worte kaum eine Bedeutung haben. Der gedruckte Steckbrief jedoch, der noch dazu Unwahrheiten behauptet, hat fatale Folgen für Blake. Die Dichtung, die auf Papier tradiert wird, entfaltet in der Geschichte ebenfalls eine große Wirkung: Die Worte William Blakes verbinden seinen Namensvetter und den Indianer Nobody. Blake nimmt die ihm von Nobody gebotenen Worte des Dichters als Metaphern für sein Schicksal an. Ähnlich dem Papier wird in Dead Man auch der Tabak inszeniert: Ein glimmender Zigarillo liegt im Aschenbecher auf Dickinsons Schreibtisch [00.14.53], wenn Blake sich dort umsieht. Plötzlich steht Dickinson mit angelegtem Gewehr und dem Zigarillo zwischen den 275
Zähnen hinter ihm. Nach dieser Szene begegnet uns Tabak über weite Strecken des Films nur in Dialogen: Blake wird wiederholt gefragt, ob er Tabak besitze. Er verneint dies stets und erklärt, er sei Nichtraucher. Im letzten Filmdrittel ist es dann erstmals Blake selbst, der vom Händler Tabak verlangt [01.32.30]. Nun ist der Tabak erneut im Bild zu sehen. In seinem Sterbekanu schließlich greift Blake nach einer Rolle Tabak und zeigt sie Nobody [01.49.10]. Blake erwähnt dabei erneut, dass er nicht rauche, doch lässt sein Mienenspiel eine leise Ironie erkennen. Er lehnt den Tabak nicht mehr ab, sondern nimmt ihn als kultisches Objekt seines Sterberituals an. Breaking Glass benennt das Objekt, das in verschiedenen Szenen eine Rolle spielt, bereits im Titel: Glas und Spiegel. Und auch hier lässt sich eine sich prozesshaft verändernde Inszenierungsweise beschreiben: Die Kamera blickt durch die U-BahnFenster auf Kate [00.00.07] und tastet die Fassade von Kates Wohnhaus ab, bis sie auf ihrem Fenster verweilt [00.10.19]. Der erste Kontakt der Band mit der Konzertagentur wird zunächst durch die Fensterscheibe des Agenturbüros beobachtet [00.26.33]. Der Dialog mit einem Bahnbeamten wird durch die Scheibe des Zugfensters geführt [00.40.30]. Bei den Aufnahmen für ein Demotape sind alle Bandmitglieder in einem winzigen Aufnahmeraum zusammengedrängt, der Studiotechniker sitzt hinter der Scheibe [00.24.29]. Die Büroräume von Overlord Records sind zum Gang hin verglast [00.22.56], bei der ersten Produktion im Studio dieser Firma werden die Musiker und Kate durch mehrere verglaste Stellwände voneinander getrennt [00.55.40]. Die Manager sprechen hinter schallisolierenden Studioscheiben schlecht von der Band und ihrem Manager Dany [00.57.03]. Bob Woods beobachtet Kate, wenn sie in seinem Garten am Seeufer steht, durch die große Scheibe seines Wohnzimmers [01.05.30]. Wenn Ken sich entscheidet zu gehen, da sein Instrument für die Aufnahme gestrichen wurde, gelingt es ihm nicht, sich gegenüber Kate hinter der Studioglasscheibe bemerkbar zu machen [01.08.30]. Wenn Dany und Kate zum ersten Mal in Streit geraten, ist nur Kates Spiegelbild zu sehen [01.10.35]. Während einer Backstage-Party zerschlägt sie versehentlich mit ihrem Absatz den Glasrahmen der goldenen Schallplatte [01.21.05]. Die letzte Szene, in deren Szenenbild Glas eine wichtige Rolle spielt, zeigt Kate vor einem Auftritt in ihrer Garderobe: Sie steht zwischen zwei Spiegeln [01.27.42], so dass ihr Bild unendlich vervielfacht erscheint. Die Verwendung von Glas und Spiegeln in Breaking Glass lässt sich in einen inhaltlichen Entwicklungsbogen übersetzen: Bereits Filmtitel und Bandname künden von der Zerstörung des Objekts und kündigen damit metaphorisch das Auseinanderbrechen der Gruppe an. Schon am Beginn der Zusammenarbeit mit der Musikindustrie werden die Bandmitglieder bei Studioaufnahmen durch Glasscheiben voneinander getrennt. Wenn das Glas im Bilderrahmen berstet, hat sich bereits ein grundlegender Bruch zwischen den Bandmitgliedern ereignet. Doch nicht nur die Band zerbricht auf ihrem Weg zu kommerziellem Erfolg, sondern auch Kate. Am Ende der 276
Geschichte wird sie als Roboter inszeniert, die beliebig vervielfältigt werden kann und die willenlos den Manipulationen der Musikindustrie folgt. Noch zwei weitere Bausteine des Szenenbilds fallen durch eine sich wandelnde Verwendungsweise auf: Mediale Abbilder Kates und der Schriftzug des Bandnamens. Kates Abbilder werden zunehmend vielfältiger und zahlreicher: Zunächst sieht man in Kates Privatwohnung ein Schwarz-Weiß-Foto von ihr selbst [01.10.50], wenig später hängt diese Fotografie Kates auch im Besprechungsraum der Plattenfirma [01.21.35]. Nach der Ermordung des Jungen wird ein Bild Kates in der Zeitung gezeigt [01.01.23]. Während der Videoproduktion sieht man das Kamerabild Kates auf mehreren Kontrollmonitoren [01.09.33]. Eine große Pappfigur mit einer Ganzkörperfotografie Kates wird an einer Hauswand befestigt [01.18.00]. Bei einem Fototermin mit Journalisten werden von ihr neben der Zapfsäule einer Tankstelle zahlreiche Aufnahmen gemacht [01.19.54]. Während der Autogrammstunde drängen sich die Fans mit Kates neuer Platte in der Hand, um diese signieren zu lassen [01.26.16]. Das Cover zeigt Kates Gesicht in Großaufnahme. Der Schriftzug der Band verändert sich grafisch und typografisch, dabei wandelt sich der Stil grundlegend. Zunächst erscheint der Schriftzug mit dickem weißen Pinsel und nachlässig gezogenen Buchstaben auf dem klapprigen Tourbus der Band. Später wird der Bandname mit roten Neonröhren in streng geometrischen Lettern dargestellt. Im Laufe des zunehmenden kommerziellen Erfolgs tritt der Bandname dann in den Hintergrund. Presse und PR der Band kennen nur noch den Namen des Stars – Kate. Der dritte Film in dieser Gruppe ist Der mit dem Wolf tanzt. Hier treten nur wenige spezifische Inszenierungsweisen szenischer Gegenstände mit prozesshaftem Muster auf. Die deutlichsten Entwicklungen lassen sich für Kostüm und Maske erkennen (vgl. 7.3, 7.5). Die szenische Präsentation zweier Gegenstände, Dunbars Sattel und sein Tagebuch, etablieren relevante visuelle Veränderungsmuster. Dunbar reitet zum ersten Mal ohne Sattel, wenn er von Fort Sedgewick aus die Gegend erkundet [00.47.22]. Wenn er mit Zisko los reitet, trabt der Wolf den beiden eine kurze Strecke hinterher. Dunbar reitet in dieser Szene wie ein Indianer, zugleich kommt es zu einer weiteren Annäherung an das wilde Tier. Während der Büffeljagd jedoch sitzt Dunbar im Sattel [01.50.55]. Während des Kampfes gegen die Indianer springt er auf das Pferd und reitet ohne Sattel. Danach sieht man ihn nur noch ohne Sattel reiten. Sein Tagebuch wird ebenfalls wiederholt in Szene gesetzt: In ihm notiert Dunbar seine Gedanken zu den Ereignissen in und um Fort Sedgewick. Er schreibt von seiner Bewunderung für die Indianer, von den Begegnungen mit ihnen und von seiner Liebe zu Steht-mit-einer-Faust [00.34.00, 00.49.09, 00.53.01, 00.57.10, 01.29.50, 02.06.32, 02.28.40]. Das Tagebuch selbst wird im Verlauf der Handlung sehr verschieden behandelt: Vor dem Aufbruch der Indianer ins Winterlager will Dunbar es aus Fort Sedgewick holen, damit es nicht der U. S. Army in die Hände fällt 277
[03.04.45]. Als er zu seinem alten Posten zurückkehrt, wird er gefangen genommen – ein Soldat hatte das Tagebuch bereits gefunden. Er reißt einige Blätter heraus und reicht sie einem Soldatenkameraden als Toilettenpapier [03.14.30]. Als Dunbar von den Indianern befreit wird, findet der Kampf an der Furt eines Flusses statt. Nach Ende des Kampfes zeigt die Kamera, wie das Tagebuch den Fluss hinunter treibt [03.25.08]. In der letzten Szene überreicht der Indianerjunge Lächelt-viel Dunbar zum Abschied das Tagebuch. Offensichtlich hatte der Junge es gefunden und aufbewahrt. Das Schicksal des Tagebuchs verbildlicht einzelne Aspekte der charakterlichen Veränderung und des Identitätswechsels Dunbars. Rocco und seine Brüder und Taxi Driver können in Bezug auf Gestaltungsmuster der Inszenierungsweisen von Gegenständen zu einer dritten Gruppe zusammengefasst werden. In beiden Filmen wird die Inszenierung von Teilen der Ausstattung stufenweise verändert. Diese Veränderungen sind jedoch unauffällig und selten. Auch bleibt der Bezug zur charakterlichen Wandlung nur sehr indirekt und wenig deutlich. In Rocco und seine Brüder zeigen sich deutliche Veränderungen in der Art der Räumlichkeiten und der Ausstattung der verschiedenen Wohnungen der Familie Parondi. So werden Verstädterung und sozialer Aufstieg des Familienverbunds inszeniert. Zudem werden relativ oft Gitter, Türen und Treppen gezeigt, doch lassen sich diese Elemente nicht eindeutig mit Simones innerer Entwicklung verknüpfen. Insgesamt gibt es in diesem Film nur wenige prozesshafte Gestaltungsmuster der Inszenierung von Ausstattungsgegenständen. Vereinzelt jedoch werden Gegenstände inszeniert, die in einen Bezug zu Simones Veränderungsprozess gesetzt werden können: Nach einem Boxkampf wird Simone von seinem Betreuer verarztet. Ein Bekannter sitzt daneben und erzählt ihm, dass Rocco und Nadja ein Paar geworden seien. Im Vordergrund des Bildes sieht man, wie dieser Bekannte mit einer Injektionsspritze herumspielt – dabei quellen aus der Nadel einige Tropfen heraus [01.31.35]. Die Nachricht trifft Simone tief. Er fühlt sich verletzt und setzt wenig später seine Hass- und Rachegefühle in die Tat um. In Taxi Driver werden verschiedene Gegenstände und Farben bestimmten Protagonisten zugeordnet. Betsy trägt entweder rein weiße oder auffällig weiß-rot gemusterte Kleidung [00.09.44]. Der Fußboden des Wahlkampfbüros ist rot [00.10.07]. Weiß-rote Gegenstände, zum Beispiel ein Coca-Cola Becher, stehen auf dem Schreibtisch [00.11.07]. In der Phase der Annäherung zwischen Betsy und Travis befinden sich auch rot-weiße Gegenstände in Travis’ Zimmer (z. B. Lebensmittelkartons, Coca-Cola Becher). Als Betsy den Kontakt abbricht, verschwinden die rot-weißen Gegenstände aus Travis’ Umgebung. Bei der stichprobenartigen Analyse wird deutlich, dass bei der visuellen Gestaltung von Szenenbild und Gegenständen wenig prozesshafte Gestaltungsmuster eingesetzt werden – ein Bezug dieser Elemente zu Travis’ charakterlicher Veränderung kann nicht festgestellt werden. 278
Auch für Betty Blue lassen sich solche Gestaltungsmuster der Inszenierung von Gegenständen zeigen. Jedoch wird mit Hilfe dieser Elemente keine spezifische Dramaturgie aufgebaut, die einen Anteil an der Visualisierung von Bettys Wandlung hätte.
7.7 Kameraarbeit: Prozesshafte Veränderungen in der Bildgestaltung Diese Studie liefert keine umfassende Analyse der verschiedenen Gestaltungsfaktoren der Kameraarbeit, sie integriert jedoch in einigen Untersuchungsschritten analytische Perspektiven auf Aspekte der kameraseitigen Bildgestaltung. So zeigt etwa die Analyse der verwendeten levels of narration wesentliche Gestaltungsfaktoren der Kameraarbeit (vgl. 6.2 bis 6.3). Damit können prozesshafte Dynamiken in diesen Mustern und ihre Korrespondenz mit der visuellen Präsentation des charakterlichen Wandlungsprozesses beschrieben werden. Auch werden bei der Betrachtung filmischer Mittel der Zeitdarstellung und -manipulation für die Visualisierung der charakterlichen Wandlung relevante Aspekte der kameraseitigen Bildgestaltung erläutert (vgl. 5.6). Eine weitere Untersuchung von Gestaltungsparametern des filmischen Blicks findet sich in der Analyse des POV-Einsatzes (vgl. 6.4). Neben diesen bereits analysierten Faktoren der Kameraarbeit lassen sich noch drei weitere für die Visualisierung charakterlicher Wandlung relevante Parameter der Gestaltung des filmischen Blicks beschreiben. Zunächst fällt in sechs Filmen der vermehrte Einsatz von Großaufnahmen der zentralen Figur auf. In zwei Filmen sind prozesshafte Gestaltungen der Einstellungen und der dabei entstehenden räumlichen Relationen zwischen der zentralen Figur und den übrigen Figuren erkennbar. Schließlich ist zu beobachten, dass in drei Filmen die Kameraarbeit in einigen Dialogszenen prozesshafte Veränderungen aufweist. In sechs Filmen werden auffallend oft Großaufnahmen vom Gesicht der Hauptfiguren eingesetzt (Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Taxi Driver, Breaking Glass): In Momenten intensiven Erlebens oder Momenten von Nachdenklichkeit nähert sich der filmische Blick Adas [00.14.13, 00.19.30, 00.32.50, 01.08.42] und Dunbars Gesicht [00.33.00, 02.05.48, 02.23.27]. Auch Kate ist einige Male in Großaufnahme zu sehen [z. B. 01.05.20]. Das aktuelle Geschehen in diesen Momenten beeinflusst wesentlich ihre innere Entwicklung. Pipes Mimik wird gezeigt, während er konzentriert und intensiv beschäftigt ist [00.02.19], aber auch bei Traurigkeit, Freude und in Momenten des Genießens [00.21.15, 00.54.22, 01.17.25, 01.56.45] – bei emotionalen Zuständen also, die wesentliche Momente in Pipes charakterlicher Reifung markieren. Wie bereits in 6.4 bzw. 7.7 beschrieben, kommt der Blick der Kamera Blakes Gesicht oft sehr nahe, als versuche sie, die Haut des Protagonisten zu durchdringen, um das Innenleben der Figur zeigen zu können [00.21.38, 279
00.32.05, 01.20.49, 01.42.10, 01.44.04]. Travis’ Gesichtsausdruck wird auf ähnliche Weise präsentiert, jedoch nicht so oft wie in Dead Man – vor allem in nachdenklichen Momenten [00.16.00, 01.06.33, 01.30.20] und während seiner Gewaltfantasien [01.02.39] wird sein Gesicht in Großaufnahme gezeigt. In all diesen Fällen wird der Zuschauer animiert, vom Gesichtsausdruck der Figur auf ihr Seelenleben zu schließen. Kamera- und Schauspielarbeit erweisen sich so als wichtige Faktoren zur Visualisierung charakterlicher Veränderungsprozesse. In Rocco und seine Brüder fokussiert der filmische Blick in Großaufnahmen eher Rocco als Simone, dem Gesicht Bettys kommt die Kamera nicht besonders nahe. Der zweite kameraseitige Gestaltungsfaktor, dessen Dynamik in zwei Filmen (Das Piano, Breaking Glass) auffällt, resultiert aus dem kombinierten Einsatz verschiedener Einstellungsgrößen und der Gestaltung räumlicher Distanz zwischen den Figuren. Ein Vergleich des opening und ending von Das Piano verdeutlicht die grundlegende Veränderung in Ausschnittswahl und Figurenchoreografie: Das opening beginnt und das ending endet mit ganz konträren Einstellungsgrößen: Das erste Bild des Films zeigt eine Detailaufnahme ohne räumliche Tiefe [00.00.37], das letzte eine Supertotale eines nahezu unbegrenzten Raums [01.51.55]. Umgekehrt verhält es sich in den anderen Bildern und Bildfolgen von opening und ending: Im opening ist die Kamera von den Figuren überwiegend weit entfernt – die Darsteller umgibt ein großer weiter Raum. Auch sind die räumlichen Entfernungen zwischen den gleichzeitig im Bild befindlichen Figuren relativ groß, was sie vereinzelt und verloren wirken lässt [00.04.37, 00.05.50, 00.10.32]. Es kommt daher auch kaum zu direkten Berührungen zwischen ihnen. Diese Aspekte der Gestaltung von Einstellungsgrößen und Abständen zwischen den Figuren erscheinen im ending dann grundlegend verändert: Die Kamera distanziert sich hier höchstens bis zur engen Totalen von den handelnden Figuren [01.44.05], der szenische Raum ist deutlich begrenzt [01.44.50]. Die überwiegende Zahl der Einstellungen ist nah oder „amerikanisch“, der Abstand zwischen Ada und anderen Figuren ist nun sehr gering [01.45.09]. Die Protagonistin wird umgeben von anderen Figuren, die in ihrer nächsten Nähe agieren. Ihre Körper berühren sich dabei [01.48.15]. Dieser Kontrast in der Kameraarbeit visualisiert Adas innere Veränderung – war sie zunächst anderen Menschen gegenüber verschlossen, unfähig zur intensiven Berührung und auf ihr Piano fixiert, erscheint sie nun offen und gelöst; sie ist zu innerer wie äußerer Nähe zu anderen Menschen fähig. In Breaking Glass findet man in der Kameraarbeit zwei weitere Faktoren sich prozesshaft ändernder Muster der Bildgestaltung: Die Räume, in denen die Band sich aufhält oder arbeitet, werden immer größer (vgl. 7.1: 246 ff.). Der filmische Blick auf Räume und Figuren erfasst den sich auflösenden Zusammenhalt der Bandmitglieder. Dies wird zugleich in einer veränderten Figurenchoreografie inszeniert. Dieser Prozess verläuft über mehrere Szenen eines längeren Abschnitts des Films. Dabei nimmt 280
der räumliche Abstand zwischen den Figuren zu und Kate tritt immer stärker in den Vordergrund. Sie wird immer häufiger allein, räumlich von den anderen getrennt, gezeigt. Eine dritte Veränderung der Figurenchoreografie bezieht sich auf die verschiedenen Personen, die Kate im Filmverlauf räumlich nahe kommen: Im ersten Drittel sind dies die übrigen Bandmitglieder, im letzten Drittel dagegen immer häufiger die Manager der Plattenfirma oder Groupies. Im Folgenden werden einige Beispiele dieser Prozesshaftigkeit geschildert: Die Probevorspiele finden in Kates Wohnung statt [00.14.39]. Ken, der Saxophonist, wird von Kate und Dany ausgewählt [00.15.16]. In einem kleinen Proberaum schließen sich die beiden Gitarristen an [00.17.01]. Als Letzter kommt Mick, der Schlagzeuger, dazu [00.18.30]. Die Kamera zeigt oft alle fünf Bandmitglieder gemeinsam im Bild. Der Abstand zwischen den Protagonisten ist meist sehr gering. Bei einer Probe in dem kleinen Probenraum kommt überraschend die Polizei und bedrängt Mick [00.33.38]. Alle Bandmitglieder stehen relativ nah beisammen und Kate hat zu allen direkten Blickkontakt. Die Aufnahme eines Demotapes wird in einem sehr kleinen Aufnahmestudio [00.24.29] erstellt. Dabei stehen alle Figuren eng gedrängt und haben Körperkontakt. Nach der Aufnahme umringen sie in dem ebenso engen Technikraum den Studiotechniker und diskutieren mit ihm lebhaft die Qualität der Aufnahme. Bei der Vertragsunterzeichnung in der Konzertagentur bildet die Gruppe eine visuell-räumliche Einheit, die am Beginn der Sequenz von den beiden Managern eingerahmt wird [00.36.26]. In der Montagesequenz von Bildern der ersten Konzerttour sieht man die Bandmitglieder gemeinsam auf der Bühne [00.37.06]. Die Kamera zeigt alle wieder gemeinsam in einem Bildausschnitt, wenn sie zum Zug rennen und einsteigen [00.40.06]. Als während des Konzerts in der Konzerthalle der Strom ausfällt, richten sich Licht und Kamera hingegen fast nur auf Kate [00.49.00]. Es kommt zu einer ersten Veränderung der Figurenchoreografie. Wenn die Bandmitglieder sich zu einem ersten Gespräch im Besprechungsraum der Plattenfirma aufhalten, werden wieder alle Figuren gleichberechtigt vom Bildausschnitt behandelt [00.53.15]. Dabei greift die Figurenchoreografie späteren Ereignissen voraus: Kamen zu Beginn der Formierung von „Breaking Glass“ erst Ken und dann Mick zur Gruppe hinzu, so gehen diese beiden nun in umgekehrter Reihenfolge und gegen die Plattenfirma protestierend aus dem Raum [00.54.58]. Deren Aufnahmestudio ist wesentlich größer als die bisherigen Übungs- und Aufnahmeräume der Band [00.55.40], und so ist auch der Abstand zwischen den Bandmitgliedern größer als bisher – und die Musiker werden durch Stellwände voneinander getrennt. Während des Konzerts in Notting Hill geht die Distanzierung weiter: Während Kate sich der demonstrierenden Menge zuwendet, ziehen sich die anderen Bandmitglieder immer weiter auf den Wagen zurück [00.59.06]. Bei der nächsten Studioaufnahme und während der Produktion des Mu281
sikvideos mit Bob Woods wächst der Abstand zwischen den Bandmitgliedern noch weiter [01.08.20]: In der Tiefe des riesigen Studio stehen die Gitarristen und Mick, der Schlagzeuger, sitzt weit entfernt im Hintergrund, während Kate von der Kamera in Großaufnahme verfolgt wird [01.09.33]. Ken hat das Studio bereits verlassen, da sein Instrument aus der Komposition gestrichen wurde. Bei der nächsten Tour zeigt die Kamera Kate sowohl auf der Bühne als auch im Bus allein, ohne Kontakt zu anderen Bandmitgliedern [01.11.45, 01.12.44]. Im Streit zwischen Dany und Bob Woods schafft die Figurenchoreografie eine Front gegen Dany [01.14.09], Kate steht auf der Seite von Woods und des Managers der Plattenfirma. Wenn Dany die Band verlässt, visualisiert die Stellung der Figuren ihre Vereinzelung und die fortschreitende Auflösung der Band sehr deutlich. Im Tourbus sitzen alle getrennt voneinander in verschiedenen Sitzreihen [01.15.16]. Während des Streits blicken sie einander nicht an. Im folgenden Konzert verlässt Mick als nächster die Band [01.20.01]. Beim Fotoshooting mit der Presse drängen sich die Manager der Musikindustrie eng an Kate, die eine goldene Schallplatte überreicht bekam [01.20.51]. Dieses Bild steht am Ende eines Entwicklungsbogens: Während sich im ersten Drittel des Films die Band im Tonstudio eng um Kate drängt, sind es im analog inszenierten Gruppenbild im letzten Drittel nun diejenigen, die Kate vermarkten, sie manipulieren und von ihr profitieren. Während Kates letztem Konzert wird ihre Isolation durch ihre Positionierung im Raum betont: Eine Hebebühne hebt Kate – von der nur die Silhouette wahrzunehmen ist – hoch über das Publikum und die Bühne [01.31.30]. Am Ende des Films ändert sich die Figurenchoreografie erneut: Dany besucht Kate in ihrem Krankenzimmer. Die erste Begegnung der beiden stand am Beginn der Geschichte – nun kommen sie sich in der Umarmung körperlich wieder sehr nah. [01.34.32]. In Taxi Driver, Der mit dem Wolf tanzt und Dead Man lässt sich eine auffällige und sich prozesshaft verändernde Wahl der Einstellungsgrößen und Montagen von Szenen und Dialogen der Protagonisten beobachten. Die Inszenierung von Begegnungen und Dialogen zwischen Travis und anderen Figuren etabliert die visuelle Isolierung des Protagonisten. Sieht man Travis gemeinsam mit seinem Gesprächspartner in Zweier-Einstellungen oder auch in over-shoulder aus Travis’ Perspektive, so wird er selbst meist in Nahaufnahme und ohne andere Figuren im Bild gezeigt. Deutlichstes Beispiel dieser besonderen Dialog-Kadrierung ist das Gespräch zwischen Travis und seinem Kollegen Wizard [00.45.00]. Weitere Beispiele wären Szenen zwischen Travis und Betsy und zwischen Travis und Iris. Eine weitere Variante der Inszenierung von Isolation und misslingenden Kontakten liefern die Dialogszenen während Travis’ Taxifahrten. Position und Ausrichtung der Protagonisten im Taxi machen eine klassische Auflösung im Schuss-GegenschussVerfahren unmöglich [00.26.50, 00.38.15, 01.43.10], denn die Figuren können sich nicht direkt ansehen. Travis kann seine Fahrgäste nur im Rückspiegel anschauen, die282
se wiederum blicken nur auf Travis’ Hinterkopf oder auf seine Augen im Rückspiegel. Wenn sich Travis vor dem Spiegel in seiner Wohnung seinen Gewaltfantasien hingibt, hat er direkte Blickbeziehungen mit sich selbst [01.02.39]. In diesen Szenen, wie auch im Schießstand [00.55.20] und während des Attentats [01.34.05], findet das Schuss-Gegenschuss-Verfahren Anwendung. In Der mit dem Wolf tanzt wird die Wahl der Einstellungsgröße in Dialogszenen genutzt, um die Entwicklung zwischen den einander begegnenden Figuren zu visualisieren. Die variable emotionale Distanz bzw. Nähe in den Begegnungen Dunbars mit anderen Figuren wird durch die Veränderung der Einstellungsgrößen und durch die Figurenchoreografie inszeniert. Die Auflösung in Einstellungsgrößen und im SchussGegenschuss-Verfahren verweist auf den emotionalen Grundton in den Begegnungen Dunbars mit den Indianern. Zugleich werden so die prozesshafte Annäherung der Protagonisten und Dunbars sukzessive Integration in die Gemeinschaft der Indianer visualisiert – so verändert sich beispielsweise der Abstand des Kamerablicks und damit auch die Konstellation der Figuren in den Szenen des ersten und des zweiten Besuchs Dunbars bei den Indianern. Beim ersten Mal wird Dunbar in nah bzw. amerikanisch gezeigt, die Gruppe der Indianer hingegen in der Totalen bzw. Halbtotalen [01.13.15]. Erst wenn sich Dunbar abwendet und fort reitet, zeigt die Kamera eine Gruppe von Indianern gemeinsam mit Strampelnder-Vogel und Wind-in-seinem-Haar in Amerikanisch und weiter Nahaufnahme [01.14.54]. Bei Dunbars zweitem Besuch wird er in der Totalen gezeigt, wie er von der entgegen kommenden Gruppe der Indianer aufgenommen wird [01.30.24]: Dunbar ist visuell bereits in die Gemeinschaft integriert. Die folgenden Bilder zeigen ihn und Strampelnder-Vogel in gleichberechtigter Nah- und Großaufnahme [01.30.53]. Ein weiteres Beispiel für die prozesshaften Veränderungen der Dialog-Kadrierung zeigt ein Vergleich der Szenen, in denen die Indianer Dunbar in Fort Sedgewick besuchen. Die sich ändernden Einstellungsgrößen verweisen auf die emotionale Dynamik der Begegnung und die sich langsam entwickelnde Annäherung. Die Inszenierung dieses Prozesses durch die Kameraarbeit findet man ebenso in Szenen mit Dunbar und dem Wolf (vgl. 5.8 und 7.7). In Dead Man zeigt sich eine ähnlich prozesshafte Dynamik der Dialoginszenierung zwischen Blake und Nobody: In ihren Begegnungen und Gesprächen wird Blake im Schuss-Gegenschuss-Verfahren vermehrt aufsichtig, und Nobody dagegen eher untersichtig gezeigt. Diese Tendenz erreicht ihren Höhepunkt in dem Moment, wenn sich die beiden erstmals streiten [00.59.15]. Verflochten mit dieser gestalterischen Komponente ist eine weitere dynamische Gestaltung der dialogischen Szenen mit diesen beiden Figuren. Während aggressiver Wortwechsel später im Film ändert sich der Kamerablick auf Blake und zeigt ihn in Normalsicht, also in Augenhöhe, oder sogar in leichter Untersicht [z. B. 01.25.00]: Die Kamera verändert ihren Blick auf Blake, wenn er sich nicht mehr ängstlich, schreckhaft und schüchtern 283
verhält, sondern aggressiv und dominant. Die Einstellungsgrößen der Inszenierung von Schuss-Gegenschuss-Positionen werden hier meistens ungleich gestaltet: Beim Abschiedsdialog hingegen ist die Einstellungsgröße zwischen Blake und Nobody identisch, doch präsentiert sich im Blick der beiden aufeinander ein letztes Mal die bereits wiederholt eingesetzte Auf-und-Untersicht-Relation [01.48.13]. Nach Blakes Reifungsprozess sind die beiden einander nun ebenbürtig. Doch liegt der eine im Sterben und der andere begleitet ihn auf dem letzten Abschnitt seines Wegs.
284
8. Visualisierung charakterlicher Wandlung durch Prozesshaftigkeit in der Figurenkonstruktion
Im Rahmen des letzten großen Untersuchungskomplexes gilt das Interesse der Frage, ob Elemente der Figurenkonstruktion prozesshafte Gestaltungsmuster zeigen und ob sie zur Visualisierung der charakterlichen Wandlung beitragen. Dazu werden zunächst die Rollen benannt, welche die Hauptfigur im Verlauf der Handlung übernimmt. Es wird zu klären sein, welche davon genrebedingt und welche als soziale Handlungsrollen angelegt sind. Das Profil dieser Rollen wird über den gesamten Filmverlauf hinweg beobachtet und nach strukturellen Veränderungen befragt. Anschließend werden die Platzhalter des jeweiligen Rollenschemas von zwei oder drei zentralen Handlungsrollen der Protagonisten untersucht und es wird beschrieben, welche typischen goals und desires (Bordwell/Thompson 1986: 90 ff., Branigan 1992: 14 ff., Mikos 2003: 155 ff.), schematisierten Verhaltensweisen, Interaktionen und damit verbundenen Emotionsstrukturen hier fixiert werden. Mit Hilfe dieses Schemas lässt sich zeigen, welche Gestaltungselemente der zentralen Handlungsrollen mit dem zugrunde liegenden Schema konform, und welche abweichend oder kontrastiv verwendet werden. Dabei werden Abweichungen vom Rollenschema in Bezug auf inszenierte Emotionsstrukturen und zugrunde liegende goals und desires untersucht. Ist in der Figurenkonstruktion ein deeper schema (Branigan 1992: 31 ff.) erkennbar, wird es auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse beschrieben. Anschließend wird gefragt, ob einzelne Bausteine der Konstruktion der Protagonisten zu Handlungsrollen anderer Figuren in Beziehung stehen. Das Analyseraster des nächsten Schritts bilden die vier Kategorien der moments of expression (Chatman 1978 [1993]: 130) (vgl. 3.3: 73) – mit Hilfe ihrer Definitionen können Beispiele szenischer Momente herausgearbeitet werden, in denen zentrale Informationen zu Charakter und Psyche der Figuren inszeniert werden. Darauf folgt eine Beschreibung des paradigm of trait (Chatman 1978 [1993]: 126) der acht Hauptfiguren aus den untersuchten Filmen. Dazu werden konkrete trait names (Chatman 1978 [1993]: 123 ff.) nach den Definitionen Chatmans gebildet (vgl. 3.3: 77) und die so benannten Charakterzüge nach dem Modell Branigans in einer list of traits (Branigan 1992: 208 ff.) dargestellt. So wird es möglich, ein thematisches Zentrum zu benennen, dem alle Charakterzüge innerhalb der Figurenkonstruktion zugeordnet sind. In einem Vergleich von opening und ending 285 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
(Bordwell/Thopson 1986: 29 f.) lassen sich zudem Umstrukturierungen der Charakterkonstruktion und prozesshafte Umformungen des paradigm of trait beschreiben.
8.1 Prozesshaft im Profil der Handlungsrolle (Hauptfigur) Mit Blick auf die Rollenzahl der Protagonisten lassen sich zwei Gruppen bilden: In fünf Filmen übernimmt die zentrale Figur relativ viele Handlungsrollen, dabei weißt die Figur Dunbar in Der mit dem Wolf tanzt das größte Rollenrepertoire auf, in Rocco und seine Brüder, Kleine Fluchten und Dead Man liegt die Zahl der Rollenprofile schon deutlich niedriger. Auffällig ist an diesen drei Filmen, dass die Protagonisten nur jeweils drei bis fünf differenziert gestaltete Handlungsrollen über einen längeren Abschnitt hinweg einnehmen. Zwar treten hierzu einige weitere Handlungsrollen, sie bleiben jedoch von nachgeordneter Bedeutung und wenig differenziert. Das Rollenprofil Adas (Das Piano) kennzeichnet eine ebenfalls überschaubare Zahl differenzierter zentraler Handlungsrollen. Daneben werden in diesem Film nur wenige, hierarchisch nachgeordnete Rollen inszeniert. Mit Blick auf die Zahl der Handlungsrollen lassen sich Taxi Driver, Betty Blue und Breaking Glass zu einer zweiten Gruppe zusammenfassen, in der die Hauptfiguren maximal drei deutlich differenzierte Handlungsrollen, ergänzt nur von einer kleinen Zahl hierarchisch nachgeordneter Rollen, übernehmen. Die nächste Perspektive richtet sich auf das Gesamtprofil der Handlungsrollen der Protagonisten und der Veränderungen in Konfiguration und Abfolge aller Rollen. Dabei werden drei verschiedene Muster erkennbar: Eine Form struktureller Veränderungen des Rollenprofils ist die über den Filmverlauf verteilte sukzessive Etablierung neuer Handlungsrollen: Bestimmte Rollen der Hauptfigur fallen weg, neue Handlungsrollen werden etabliert. Dieser Wechsel geschieht entweder abrupt oder es gibt eine mehr oder weniger lange Übergangsphase, bis der Wechsel vollständig abgeschlossen ist. Die zweite Form prozesshafter Strukturgestaltung resultiert aus der schrittweisen Veränderung verschiedener Faktoren einzelner Handlungsrollen. Dabei werden wesentliche Aspekte der Interaktions- und Emotionsstrukturen transformiert – Motivationen, Verhaltensweisen und emotionale Zusammenhänge erfahren einen grundlegenden Wandel. Ein drittes prozesshaftes Gestaltungsmuster zeigen die Integration der zentralen Handlungsrolle in andere szenische Kontexte und der grundlegende Wandel der Situation durch Vernetzungen mit rollenfremden Handlungsstrukturen. Die untersuchten Filme können dabei wie folgt unterschieden werden: In zwei Filmen werden parallel drei prozesshafte Gestaltungsmuster des Rollenprofils eingesetzt (Das Piano, Dead Man), in fünf Filmen finden sich dynamische Veränderungen 286
in zwei verschiedenen Mustern (Rocco und seine Brüder, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Taxi Driver, Breaking Glass). In vier Filmen wird ein direkter Wechsel von einer Handlungsrolle zur nächsten inszeniert (Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Das Piano, Taxi Driver). In drei Filmen erfolgt als zweites prozesshaftes Gestaltungsmuster eine grundlegende Veränderung im situativen Kontext einer Handlungsrolle (Breaking Glass, Dead Man, Das Piano). In Kleine Fluchten kommt es zudem zu einer sukzessiven Einführung neuer Handlungsrollen. Für Betty Blue schließlich können im Rollenprofil der Hauptfigur keine deutlich prozesshaften Veränderungsstrukturen ausgemacht werden: Im letzten Drittel des Films kommt es zu einem abrupten Bruch im Rollengefüge. Betty behält nur ein einzelne, zentrale Rolle und übernimmt zugleich eine einzelne, neue. Alle weiteren Handlungsrollen fallen weg. Im Folgenden werden verschiedene Beispiele für Veränderungen des dynamischen Profils der Handlungsrollen angeführt: Dead Man und Das Piano etablieren die komplexesten prozesshaften Gestaltungsmuster der Rollenprofile ihrer Protagonisten. Abfolge und Ausformung des Rollenprofils zeigen jeweils drei verschiedene dynamische Strukturzusammenhänge: Verschiedene zu Beginn des Films etablierte Rollen der Hauptfigur fallen im Lauf der Entwicklung weg, neue Rollen kommen hinzu. So lässt Blake den Buchhalter und Liebhaber hinter sich und übernimmt neue Rollen: Outlaw, Freund eines Indianers, am Ende die des Sterbenden. Im mittleren Erzählabschnitt findet man ein abweichendes Veränderungsmuster: Blake handelt in dieser Phase in mehreren Rollen relativ kontinuierlich: Als steckbrieflich gesuchter Outlaw, als Freund Nobodys und als Sterbender, doch sukzessive verändern sich verschiedene Handlungsweisen und Bedeutungszusammenhänge in den Interaktions- und Emotionsstrukturen. Ein drittes Muster dynamischer Veränderung zeigt sich in Blakes Rolle als Reisender. Diese zentrale Handlungsrolle bleibt während des Films unverändert, doch verändert sich mehrmals ihr Kontext: Blake reist nach Machine, um dort als Buchhalter zu arbeiten. Er wird Opfer eines Eifersuchtsdramas und tötet in Notwehr den Mörder und früheren Liebhaber der Prostituierten Thel – seine Reise wird zur Flucht. Im letzten Filmabschnitt begleitet Nobody den sterbenden Blake auf seinem letzten Weg. In Das Piano vollzieht sich der zentrale Rollenwechsel der Hauptfigur während einer langen Phase, in der Ada von Stewart zu Baines wechselt. Ähnlich vollzieht sich der Wechsel der Kernrollen im Rollenprofil Dunbars (Der mit dem Wolf tanzt). Die zweite prozesshafte Entwicklung in Adas Rollenprofil betrifft ihre Rolle als Klavierlehrerin – drei Mal wird hier der Kontext verändert: Zunächst sieht man Ada als Lehrerin ihrer Tochter vor der in den Küchentisch eingeritzten Übungstastatur, später soll sie Baines nicht selbst, sondern allein durch Vorspielen unterrichten, bevor die Klavierstunden schließlich nur noch den Rahmen ihrer erotischen Begegnungen liefern. Einen letzten Kontextwechsel bringt das Ende des Films, wobei situative 287
Elemente zur typisierten Handlungsrolle Klavierlehrerin rollenkonform zusammengefügt werden – allein Adas silberne Fingerprothese widerspricht diesem Rollenschema. In Rocco und seine Brüder lässt sich am Beispiel Simones, der im Verlauf der Handlung verschiedene neue Rollen übernimmt, die Verwendung des ersten und dritten prozesshaften Gestaltungsmusters zeigen: Simone wird Boxer, Nadjas Geliebter und schließlich ein Krimineller und Mörder. Auch hier entfallen im Verlauf der Handlung mehrere dieser Rollen: Simone gibt das Boxen auf und wird zwei Mal von Nadja verlassen. Seine zentralen Rollen aber sind die des Bruders und Sohnes. Diese Rollen weisen dynamisches Gestaltungsmuster über die Veränderung ihre Interaktions- und Emotionsstrukturen auf. Das plakativste Beispiel eines veränderten Kontexts bei gleich bleibender Handlungsrolle liefert Breaking Glass – nur mit wenigen Handlungsrollen wird die Protagonistin in der Handlung etabliert. Die wichtigste ist die der Rocksängerin: Diese Handlungsrolle trägt Kate während des gesamten Erzählverlaufs, Handlungs- und Figurenkontext unterliegen jedoch einem permanenten Wandel. In der ersten Hälfte des Films ist Kate in den Kreis ihrer Bandmitglieder eingebunden: Sie üben, konzertieren und reisen gemeinsam. In der zweiten Hälfte ändern sich sowohl situativer als auch personaler Kontext von Kates Handlungsrolle. An die Stelle der Bandmitglieder treten nach und nach die Manager der Plattenfirma, nur während der Konzerte kommt es noch zu Interaktionen zwischen Kate und den übrigen Musikern. In Taxi Driver sind nur wenige, aber sehr auffällige Veränderungen im dynamischen Rollenprofil des Protagonisten zu erkennen: Travis behält seine Rolle als Taxifahrer über den gesamten Filmverlauf, doch die Handlungsrolle des jungen Mannes, der versucht, eine Frau kennen zu lernen, wechselt abrupt mit der Rolle des Waffenträgers, Kämpfers und Mörders. Nach seinem ersten Mord baut sich Travis eine weitere Rolle auf – eine Abwandlung der früheren: Die des jungen Mannes, der eine Frau kennen lernen möchte. Dabei wird gezeigt, wie er Kontakt zu einer jungen Prostituierten sucht, nicht, um zu ihr eine Beziehung aufzubauen, sondern um sie aus ihrem Umfeld zu befreien. Dazu übernimmt er wieder die Rolle des Kämpfers.
8.2 Bezüge zwischen sozial- und genrebedingt typisierten Handlungsrollen In vier untersuchten Filmen werden die Rollen vornehmlich sozial typisiert (Kleine Fluchten, Das Piano, Taxi Driver, Rocco und seine Brüder), in den vier anderen wird jeweils eine zentrale Rolle der Hauptfiguren genrestereotyp inszeniert und steht im Kontrast zu anderen, ebenfalls wesentlichen, jedoch sozial typisierten Rollen (Betty Blue, Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Breaking Glass). Dieses Kontrastsystem ist ein relevantes Visualisierungsmuster der charakterlichen Wandlung. 288
In Betty Blue wird das Genrestereotyp der erotischen Geliebten kontrastiert mit Bettys Handlungsrollen als Gelegenheitsarbeiterin, Leserin von Zorgs Manuskript und als Kellnerin. Im Zusammenhang dieser sozial typisierten Rollen ereignen sich ihre aggressiven Ausbrüche. Diese Aspekte der Rolleninszenierung weisen auf Bettys charakterliche Veränderung hin. In Der mit dem Wolf tanzt verkörpert Dunbar das genrebedingte Rollenstereotyp eines Soldaten der U. S. Army in einem Western. Kontrastiert wird diese Rolle zunehmend von sozial typisierten Handlungsrollen, die der Protagonist während seines Aufenthalts in Fort Sedgewick und während der Annäherung an die Indianer einnimmt. Dunbar sucht den Kontakt zu den Indianern und es gelingt ihm auch, freundschaftliche Beziehungen herzustellen. Schließlich heiratet er Steht-mit-einerFaust. Kein Aspekt dieser sozial typisierten Rollen spiegelt sich in der genrebedingt typisierten Rolle eines Officers der U. S. Army wider. Diese Rolle gibt Dunbar im Verlauf der Erzählung dann auch völlig auf. Ein ähnliches Kontrastsystem besteht in Dead Man, jedoch mit umgekehrten Vorzeichen: Die Inszenierung von Blakes sozialen Handlungsrollen als Reisender, Buchhalter und Liebhaber baut ein Kontrastsystem in Bezug zu Rollenstereotypen des Western- und Indianerfilms auf. Im Laufe der Handlung übernimmt der Protagonist sukzessive die genrebedingt typisierte Handlungsrolle des Outlaws, parallel entwickelt sich die sozial typisierte Rolle des Freundes. Im letzten Erzählabschnitt verlässt Blake die genrebedingte Handlungsrolle und handelt nur noch in sozial typisierten Rollen. Er ist der Freund Nobodys und ein Sterbender. Kontrast und Wechsel zwischen beiden Rollenkategorien visualisieren Aspekte seiner charakterlichen Wandlung. In den drei beschriebenen Filmen vollzieht sich innerhalb des Kontrastsystems zwischen den Handlungsgrollen ein sukzessiver Rollenwechsel: Das Genrestereotyp wird aufgegeben und die Figur übernimmt nur noch sozial typisierte Handlungsrollen. Handelt die Figur zunächst nach stereotypen Genrekonventionen, kommt es im Verlauf des Wechsels zunehmend zu Handlungsweisen, die über gesellschaftliche und soziale Konventionen definiert sind. Dieser Veränderungsprozess visualisiert Aspekte der inneren Wandlung. In Breaking Glass trägt Kate die genrebedingt typisierte Rolle der Rocksängerin in einem Musikfilm. Es wird kein Kontrast zwischen genrebedingt und sozial typisierten Handlungsrollen aufgebaut. Vielmehr besteht eine prozesshafte Dynamik der Inszenierungsweise der zentralen, genrebedingten Rolle: Kates Handlungsrolle als Rockmusikerin ist während des gesamten Films präsent und wird genrestereotyp inszeniert. Über die stufenweise Etablierung des Rollenklischees einer kommerziell erfolgreichen Rocksängerin visualisiert sich zugleich Kates innere Veränderung. Ein Grund für ihren Wandel liegt in dem traumatischen Erlebnis, als sie miterleben muss, wie ein junger Konzertbesucher vor ihren Augen ermordet wird. Am Ende 289
des Films wird das Rollenklischee des erfolgreichen Popstars abrupt zerstört. Übrig bleiben die Rolle der Patientin und die der Freundin Dannys.
8.3 Schematisierte Interaktionsstrukturen der Handlungsrollen und Inszenierung des Figurenverhaltens In diesem Abschnitt werden zentrale Handlungsrollen der Hauptfiguren einer näheren Betrachtung unterzogen, um ihre konkreten Inszenierungsweisen mit den ihnen zugrunde liegenden Rollenschemata vergleichen zu können. Dabei wird gefragt, ob die Differenzen zwischen Rollenschema und jeweiliger Inszenierung zu prozesshaften Gestaltungsstrukturen führen. Betty Blue wird unter dieser Perspektive nicht untersucht, da in den zentralen Handlungsrollen der Hauptfigur keine wesentlichen Veränderungen zwischen Schema und Rolle erkennbar sind. In den sieben übrigen Filmen folgen Rollenschemata und Inszenierung der zentralen Handlungsrollen verschiedenen Bezugssystemen – Aspekte des charakterlichen Wandlungsprozesses werden in dynamischen Strukturen visualisiert. Drei verschiedene Muster lassen sich beschreiben: Das deutlichste prozesshafte Gestaltungsmuster ist der Einsatz von Rollenbrüchen. Diese Rollenbrüche verlaufen in zwei verschiedene Richtungen. Der Protagonist verhält sich zu seiner zentralen Handlungsrolle entweder vorwiegend konform oder inkonform. Rollenkonformität entwickelt sich über zunehmend abweichende Inszenierung vom Rollenschema stufenweise zu einem Rollenbruch. Ist die Inszenierung vornehmlich inkonform zum Rollenschema etabliert, kommt es durch eine schrittweise Zunahme an schemakonformen Handlungsweisen zur Erfüllung des Rollenschemas. Die Veränderungen des Rollenprofils der Hauptfigur führen in den untersuchten Filmen zu drei unterschiedlichen Ergebnissen: Zur allmählichen Erfüllung einer Rolle durch vermehrte Inszenierung der entsprechenden Interaktions- und Emotionsschemata des Figurenverhaltens, zur sukzessiven Aufgabe einer Rolle oder zur konstanten Erfüllung des Rollenschemas, wobei sich jedoch im Verlauf der Handlung über mehrere Entwicklungsstufen rollenbrüchigen und -konformen Verhaltens der Hauptfigur verschiedene Interaktions- und Emotionsstrukturen neu etabliert und das ursprüngliche Rollenschemata grundlegend verändert haben. Allmähliche Rollenerfüllung bzw. schrittweise Nicht-Erfüllung und schließlich Aufgabe einer Rolle findet man in Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano, Rocco und seine Brüder, Dead Man und Kleine Fluchten. Dabei kennzeichnet eine Kombination beider Inszenierungsprinzipien die Rollenprofile in Das Piano und Der mit dem Wolf tanzt, während für Dead Man nur die sukzessive Rollenerfüllung und Aufgabe von Rollen zu konstatieren sind. 290
Auch in Kleine Fluchten werden einige Rollen der Hauptfigur in Richtung einer sukzessiven Erfüllung inszeniert. Hier kommt auch die dritte Form einer prozesshaften Veränderung zum Einsatz: Pipe behält die Rolle des Knechts während des Filmverlaufs. Sein Verhalten in dieser Handlungsrolle zeigt Schemabrüche im Wechsel mit rollenkonformem Agieren. Dabei kommt es zu einer Umstrukturierung des Rollenschemas. Ähnlich verläuft in Rocco und seine Brüder die Umstrukturierung zweier zentralen Rollen der Hauptfigur: Simone behält während des gesamten Filmverlaufs die Rollen des Bruders und Sohnes, doch verändern sich innerhalb dieser Rollen als Familienmitglied seine Interaktionen und Emotionsstrukturen grundlegend. Mit Blick auf die Inszenierung von Schema und Schemabruch in Breaking Glass und Taxi Driver kann ein weiteres prozesshaftes Inszenierungsmuster in der Struktur einer Handlungsrolle beschrieben werden. Diese Veränderung führt aber nicht zu einer grundlegenden Umstrukturierung des Rollenschemas, sondern zur Unter- bzw. Übererfüllung einer Handlungsrolle, wobei das prozesshafte Gestaltungsprinzip der Rolleninszenierung ohne Rollenbrüche oder wesentliche Differenzen zwischen Schema und konkreter Ausformung einer Rolle aufgebaut wird. Vielmehr kennzeichnet das Figurenverhalten eine Dynamik innerhalb des Rollenschemas. Die etablierte Handlungsrolle bietet dabei innerhalb des Schemas mehrere Varianten der Ausformung. Die verschiedenen Segmente rollenkonformer Interaktionen innerhalb der Gesamtstruktur einer Handlungsrolle werden neu kombiniert und in Zahl und Art verändert, was sich an den Handlungen der Figur ablesen lässt. Dabei ist das Figurenverhalten überwiegend rollenkonform und die Figur agiert stets innerhalb derselben Rolle. Weder fällt die Rolle weg, noch wird das Rollenschema vollständig erfüllt. Zwischen der Palette der möglichen Interaktionsstrukturen im Rollenschema und den Veränderungen in Art, Zahl und Kombination konkreter Verhaltensweisen wird ein dynamisches Gestaltungsmuster etabliert: Die Figur übernimmt mehr und mehr rollenbezogene Interaktions- und Handlungsweisen oder legt nach und nach welche davon ab. Im Folgenden werden diese Gestaltungsprinzipien beispielhaft erläutert, um die Prozesshaftigkeit der eingesetzten Muster und ihren Bezug zur Visualisierung charakterlicher Wandlungsprozesse zu verdeutlichen. Ehefrau und Geliebte sind die zentralen Rollen der Protagonistin Ada in Das Piano, deren Interaktions- und Emotionsstrukturen während des Verlaufs der Handlung wiederholt tiefgreifende Bedeutungs- und Kontextverschiebungen erfahren. Verschiedene Verhaltensweisen Adas in ihrer Rolle der Ehefrau entsprechen während der beiden ersten Drittel des Films noch dem Rollenschema, in anderen hingegen erfüllt sie dieses Rollenschema nur fragmentarisch – Ada entzieht sich als Ehefrau zunächst Stewarts Annäherungsversuchen. Später wendet sie sich ihrem Mann scheinbar zu, er aber darf diese Annäherung nicht erwidern: Ada erfüllt nicht das Rollenklischee der Ehefrau. Zudem kommt es im Kontext dieser Handlungs291
rolle zu Brüchen: Ada wird als Ehefrau mehrmals Opfer aggressiver Handlungen Stewarts. Im Verlauf der Handlung werden die Rollenbrüche drastischer, zugleich gibt es immer weniger rollenkonforme Interaktionen und Handlungen, ehe Ada im letzten Drittel des Films die Rolle der Ehefrau ganz aufgibt. In ihrer Rolle der Geliebten Baines’ kommt es ebenfalls zu tiefgreifenden Veränderungen der Interaktionsund Emotionsstrukturen: Zunächst folgen diese Interaktionen – Baines’ körperliche Annäherungen und Adas passive Haltung – dem Anschein nach rollenkonformen Verhaltensweisen von Geliebten. Dabei wird das Rollenschema aber nur als leerer Rahmen um den Handel zwischen Ada und Baines inszeniert, ohne ein rollenkonformes Verhalten Adas. Die Annäherung zwischen Mann und Frau wird allein in Baines’ Verhalten inszeniert – Ada hingegen erfüllt dieses Rollenklischee nicht, sondern lässt Baines’ Annäherungen nur zu, um ihr Piano zurück zu erhalten: Ada ist die Verhandlungsführerin. Dabei handelt sie wiederum rollenkonform; in dieser Rolle zeigen die Interaktionsstrukturen keine prozesshaften Veränderungen. Adas Rolle als Verhandlungsführerin wirkt wie ein Katalysator auf die Begegnung der beiden. Ersetzt wird sie später durch die der Geliebten: Während der weiteren Begegnungen mit Baines zeigen sich in Adas Verhalten und in den zugeordneten Interaktions- und Emotionsstrukturen allmähliche Veränderungen und Bedeutungswandel. Nach und nach erfüllt Ada die Rollenschemata der Geliebten und später der Lebensgefährtin von Baines. Die Rolle der Verhandlungsführerin dagegen gibt sie nach und nach auf. Hier sei noch kurz die Inszenierungsweise einer weiteren wichtigen Handlungsrolle Adas beschrieben, die weitere prozesshafte Gestaltungsmuster in ihrem Rollenprofil etabliert: Ihre Rolle der Klavierlehrerin wird zunächst in Brüchen des Rollenschemas inszeniert. Das Rollenschema setzt einen fast leeren Interaktionsrahmen, in dem sich erst gegen Ende schemakonforme Interaktionsstrukturen abzeichnen. Ada unterrichtet ihre Tochter mit Hilfe einer in den Küchentisch geritzten Tastatur, sie geht zu Baines in ihrer Rolle als Klavierlehrerin. Baines will jedoch gar nicht von ihr unterrichtet werden. Die Handlungsrolle der Klavierlehrerin bleibt während der Begegnungen mit Baines über weite Teile des Filmverlaufs bestehen, obwohl kaum schemakonforme Interaktionen inszeniert werden. Erst am Ende der Erzählung handelt Ada dem Rollenschema gemäß: Sie unterrichtet als Klavierlehrerin in Cape Nelson. In dem Film Kleine Fluchten übernimmt Pipe im Rahmen seines Rollenprofils neue Handlungsrollen, die für seine innere Entwicklung von zentraler Bedeutung sind. Diese Rollen werden als Rahmen gesetzt, der zunächst nahezu ereignisleer bleibt bzw. eher über schemabrüchiges Verhalten von Pipe inszeniert ist. Schemakonformes Handeln zeigt er in dieser Phase der Rolleninszenierung kaum, doch nehmen die rollenkonformen Interaktionen und Handlungsweisen im Verlauf der Handlung zu. Ein zentrales Beispiel für dieses Inszenierungsmuster ist die Rolle Pipes als Mopedfahrer. Die wechselweise Inszenierung von rollenkonformem und -inkonformem Verhalten etabliert 292
eine prozesshafte Entwicklungslinie mit markanten Stationen. Am Beginn herrscht Stillstand: Pipe lässt sein Moped noch unberührt im Zimmer stehen. Dann nimmt er Unterricht bei Luigi und lernt unter Schwierigkeiten das Fahren. Als er es beherrscht, versucht Pipe die Grenzen des Fahrens zu durchbrechen: In seiner Fantasie wird er während der Fahrt zu einem Flieger. Später versucht er mit seinem Moped, ein Segelflugzeug zu verfolgen. Dabei kämpft er sich mit dem Gefährt einen steilen und unwegsamen Bergrücken hinauf. In der nächsten Phase erfüllt Pipe das Rollenklischee des Mopedfahrers, indem er kleine Ausflüge zur Schokoladenfabrik, in der Josianne arbeitet, oder zu einem Moto-Cross-Rennen unternimmt. Das Ende dieser Rolle kommt abrupt: Pipe verursacht betrunken einen Unfall. Ihm wird der Führerschein abgenommen. Dagegen behält er die Rolle des Knechts während des gesamten Films. Diese Rolle wird nach dem dritten oben beschriebenen prozesshaften Gestaltungsprinzip inszeniert: Die Rolle des Knechts bestimmen wechselweise schemakonforme und inkonforme Handlungen, eine prozesshafte Veränderung in der Rollenkonstruktion markierend. Pipes zunächst als Rollenbrüche inszenierte Handlungen werden sukzessive in das Rollenschema integriert. Seine wiederholte Abwesenheit während der Arbeitszeit verstößt gegen die geltenden Regeln. Der Bauer fordert deren Einhaltung und droht Pipe mit dem Rauswurf. Pipe aber setzt sich über das Verbot hinweg, ignoriert die Drohung des Bauern und erklärt ihm gegenüber die Regel für ungültig. Er geht seiner Wege, ohne seine Arbeit zu vernachlässigen. Das Mopedfahren wird auf dem Hof als abweichendes Verhalten von Pipes Rolle als Knecht gewertet, doch Pipe lässt sich nicht beirren. Allmählich werden so Pipes Abwesenheiten während der täglichen Arbeitszeit und sein Mopedfahren als rollenkonformes Verhalten etabliert. Die Geräte zum Transport der schweren Getreidesäcke nutzen Pipe und Luigi kreativ, um ihre Arbeit zu bewältigen. Das stößt zwar beim Bauern auf Widerstand, da eigenmächtiges Handeln gegen die Rolle des Knechts verstößt, doch Pipe und Luigi benutzen die Maschinen weiter. Pipes Rolle des Fotografen ist ganz neu und wird im Rahmen der Handlungsrolle des Knechts als schemafremd inszeniert, jedoch im Verlauf der Handlung in dieses Rollenschema integriert. Deutlich wird das bei der Frage der Bäuerin, ob Pipe nun doch wieder fotografieren würde. Insgesamt folgt in Kleine Fluchten die Rolleninszenierung einem dynamischen Muster. Dabei werden dem ursprünglichen Rollenschema nicht entsprechende Verhaltensweisen integriert. Durch Pipes Regelbrüche entstehen neue Interaktionsmuster und Emotionsstrukturen innerhalb seiner Rolle als Knecht. Die Mischung aus rollengerechtem Verhalten und Rollenbrüchen führt im weiteren Verlauf zu einer grundlegend veränderten Rollenstruktur: Der Regelbruch wirkt als Katalysator. Pipe dringt in neue Handlungsräume vor – sein Verhalten unterläuft dabei die etablierten Rollenschemata. Seine spielerische Neugier und seine heitere, offene Wesensart werden in diesem nichtkonformen Verhalten inszeniert: Pipe genießt es, im Regen mit dem Moped unterwegs 293
zu sein. Er setzt sich zu der Gruppe junger Biker und beginnt mit ihnen ein Gespräch, obwohl er ihre Sprache nicht beherrscht. Gemeinsam mit Luigi konstruiert er eine Maschine für den Transport der schweren Kornsäcke. Dem Sieger des Moto-CrossRennens schenkt er einen Apfel. Später sitzt er mit am Tisch der Motorsportler und feiert mit ihnen den Sieg. Ein im Vergleich zu diesen Rollenbrüchen höheres Maß der Nonkonformität zeigen die schemainkonformen Handlungsweisen Pipes, die ihn in Konflikt mit anderen Protagonisten geraten lassen: Er fährt in halsbrecherischem Tempo durch das Dorf und kollidiert dabei beinahe mit einem anderen Mopedfahrer. Er muss der Forderung des Bauern nachgeben und seine Ausflüge auf die Sonntage beschränken, um an den Arbeitstagen anwesend zu sein. Als er in einem Lokal eine Frau mit Senf bespritzt, wird er hinaus geworfen. Diese Regelbrüche führen zu Konflikten, die für Pipe jedoch ohne Konsequenzen bleiben. Als er aber betrunken einen Unfall mit dem Moped verursacht, hat sein regelbrüchiges Verhalten gravierende Folgen. Sein Freiraum wird stark eingegrenzt, denn er kann nun nicht mehr mit dem Moped fahren. In einigen Situationen mit rollenbrüchigem Verhalten scheitert Pipe, in anderen kommt er gerade deshalb weiter, weil er Regeln bricht. Durch solche Regelbrüche gelingt es ihm, sich aus seiner eingeengten Situation herauszubewegen, sich zu entfalten und ein eigenes Profil zu entwickeln. Die Differenzen zwischen den etablierten Verhaltensschemata und Pipes Agieren in seinen verschiedenen Rollen visualisieren verschiedene Momente und Schritte seiner charakterlichen Entwicklung. Auch anhand von Simones Rollenprofil (Rocco und seine Brüder) lässt sich zeigen, wie die Veränderungsdynamik von Interaktions- und Emotionsstrukturen innerhalb einer Rolle als Visualisierungsmuster der inneren Wandlung eingesetzt wird. Zwei der oben beschriebenen prozesshaften Inszenierungsweisen finden sich hier: In Simones Rollen als Boxer und als Liebhaber von Nadja kommt es nach einer Phase des schemakonformen Rollenverhaltens zu immer häufigeren Rollenbrüchen. Die Rollen werden immer weniger erfüllt, schließlich verliert Simone beide Rollen. Seine Handlungsrolle des Boxers wird zunächst in schemakonformen Interaktionen dargestellt: Simone wird im Boxstudio von einem Manager als Talent entdeckt. In seinem ersten größeren Kampf siegt er in der ersten Runde. Den Aussagen seines Trainers ist zu entnehmen, dass er es jedoch mit dem Training nicht sehr ernst nimmt. Hier geschieht der erste Rollenbruch. Simone ist auch weiterhin wenig diszipliniert, lebt ungesund und exzessiv und muss Niederlagen einstecken. Im letzten Viertel des Films hat er die Rolle des Boxers aufgegeben. Seine Rolle des Familienmitglieds bringt eine zweite prozesshafte Inszenierungsweise. In seinen Rollen als Sohn und Bruder wächst im Wechsel von rollenkonformem Verhalten und steter Zunahme von Rollenbrüchen ein Prozess, der wesentliche Aspekte der schematisierten Rollenstrukturen betrifft. Simone handelt zunächst als Sohn und Bruder, der emotional in den Familienverband integriert ist. Doch Schritt für Schritt ändern sich sein Verhalten und seine Gefühle für seine Brüder und 294
die übrige Familie: Er wird gewalttätig, prügelt sich mit Rocco und erpresst die Familie wiederholt, ihn finanziell zu unterstützen. Im weiteren Verlauf ändern sich Motivationen, Verhaltens- und Interaktionsweisen und emotionale Strukturen seiner Rollen des Sohnes und Bruders grundlegend, verlagert sich seine Position im schematisierten Rahmen des Familienverbands vom Zentrum zunächst an den Rand, bis Simone schließlich außerhalb steht. Um zu klären, wie sich die prozesshafte Rolleninszenierung in Breaking Glass von der in Das Piano, Kleine Fluchten und Rocco und seine Brüder unterscheidet, wird im Folgenden die Gestaltung von Kates Rolle als Musikerin beispielhaft analysiert. Diese Inszenierung zeigt weder deutliche Rollenbrüche, noch eine grundlegende Umstrukturierung des Rollenschemas. Dennoch ist auch hier ein dynamischer Prozess in der Beziehung zur Visualisierung von Kates charakterlicher Wandlung zu erkennen. Das Inszenierungsschema von Kates Rolle als Musikerin besteht aus verschiedenen Segmenten möglicher schemakonformer Verhaltensweisen. Zahl und Art von Kates Interaktionen, die sie in Bezug auf die Menge der möglichen Segmente des Rollenschemas tatsächlich aktiv ausübt, verändern sich im Laufe der Handlung. Kate wird zunächst als Musikerin mit Idealen und einer klaren politischen Einstellung gezeigt, die ihrer Band emotional sehr verbunden ist und mit den Bandmitgliedern gemeinsam leidenschaftlich für ihre Kunst arbeitet. Im Fortgang der Handlung wechselt Kates Verhalten in dieser Rolle zu davon verschiedenen, jedoch gleichfalls schemakonformen Interaktionsstrukturen. Ihre Ideale und politischen Überzeugungen scheint sie aufgegeben zu haben, ihre Verbundenheit mit den übrigen Bandmitgliedern löst sich und sie absolviert die kräftezehrenden Konzerttouren wie am Fließband. Ein zentrales Motiv bleibt jedoch unverändert: Sie will als Sängerin arbeiten und sich in ihrer Kunst mitteilen; der Kontext, in dem sie dieses Ziel verfolgt, ändert sich dabei jedoch grundlegend. Am Ende des Films wird eine ganz andere Ausformung von Kates Handlungsrolle als Sängerin als am Beginn inszeniert. In Taxi Driver werden zwei Dynamiken der Inszenierung von Travis’ zentralen Handlungsrollen kombiniert. Die erste Dynamik wird mit einem plötzlichen Wechsel zwischen rollenkonformem und -inkonformem Verhalten etabliert, zu beobachten in Travis’ Rollen als potenzieller Freund Betsys und als potenzieller Kunde von Iris. Die zweite Veränderung zeigt sich in der Rolleninszenierung nach diesen plötzlichen Wechseln. Die Inszenierung extremer Rollenbrüche ließe eine Aufgabe der Rolle erwarten. Dazu kommt es jedoch nicht, vielmehr werden diese Handlungsrollen mit sehr verschiedenem Handlungsrepertoire weiter geführt und mit verändertem Figurenverhalten ausgeformt. In diesem Erzählabschnitt werden andere und zudem deutlich weniger Segmente schemakonformer Interaktionsweisen von der Figur innerhalb der Rollen ausgeführt als am Beginn. Die Reduzierung der möglichen Interaktionsstrukturen führt zur Nichterfüllung der Rollen. Der Protagonist handelt rollenbezogen nur noch aggressiv und gewalttätig. Die Ausformung der Rollen bekommt eine andere 295
Richtung. Insgesamt ist jedoch in den Inszenierungsweisen der zentralen Rollen von Travis keine deutlich prozesshafte Veränderungsdynamik installiert. Die Darstellung der sich ändernden Interaktionsstrukturen im Vergleich mit den Rollenschemata führt über abrupte Brüche, statt über eine stufenweise Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung oder eine schrittweise Veränderung der Rollenstruktur.
8.4 Veränderungsmuster in Emotionsstrukturen der Handlungsrollen In diesem Abschnitt richtet sich der Fokus auf die Inszenierung der Emotionsstrukturen. Die Inszenierung des Innenlebens einer Figur folgt schematisierten goals und desires der Handlungsrolle sowie den davon abhängigen Handlungsmotivationen. Im Folgenden werden diese erzählerischen Bausteine vertiefend betrachtet. Dabei zeigen sich prozesshafte Gestaltungsmuster in der Inszenierung von Emotionsstrukturen, die mit der charakterlichen Wandlung der Protagonisten korrespondieren. In allen untersuchten Filmen werden emotionale Konfliktmuster in den zentralen Handlungsrollen der Hauptfiguren inszeniert, markiert von zentralen Ereignissen im Prozess der charakterlichen Wandlung. Art und Konstellation der Konfliktmuster machen deutliche Unterschiede zwischen Geschichten der Reifung und solchen des Scheiterns beschreibbar. Unter diesem Aspekt können zwei Gruppen zusammengefasst werden: In Filmen, die von einem Reifeprozess erzählen, wird der Konflikt zwischen Motivation und desire der Figur und den äußeren Bedingungen und Interaktionsstrukturen ihrer jeweils zentralen Handlungsrollen aufgebaut (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man). Im Erzählverlauf wird eine stufenweise Lösung des Konflikts inszeniert. Parallel dazu verläuft die charakterliche Reifung der Figur. Dabei entsteht nach und nach ein Gleichstand zwischen ihrem konfliktbeladenen Innenleben und ihrer Lebenssituation: Innen und Außen entsprechen einander. In Filmen einer Reifung entzündet sich der Konflikt an den interpersonellen Strukturen der Rolle: Die desires und goals der Figur stehen in Konflikt zu den schematisierten Interaktionsstrukturen, wodurch es wiederholt zu tiefgreifenden Konflikten im interpersonellen Handeln der Figur kommt. Drei verschiedene stufenweise Veränderungsprozesse, die zur Auflösung dieser konflikthaften Dynamiken führen, können mit Hilfe der Inszenierungsmuster skizziert werden: 1. Der Veränderungsprozess erfolgt über einen stufenweisen Rollenwechsel – die Figur verlässt eine Rolle und strebt einer neuen zu, deren goals und desires besser zu ihrem Innenleben passen. 2. Die Figur passt ihr Verhalten den Rollenbedingungen an und übernimmt sukzessive die schematisierten goals, desires und Interaktionsmotive der Handlungsrolle. 296
3. Die Strukturen der Handlungsrolle werden modifiziert: Während der konflikthaften Ereignisse ändern sich die schematisierten Rollenstrukturen grundlegend und die ursprünglich rollenbrüchigen desires, goals und Handlungsmotive der Figur werden in die neuen Rollenstrukturen integriert. Alle drei Veränderungsprozesse führen zu einem Ausgleich zwischen der emotionalen Situation und dem Handlungs- und Interaktionsrahmen der Rolle. Wird dieser Handlungsfluss in der Rolleninszenierung zunächst noch unterbrochen, entwickelt sich im weiteren Verlauf ein kontinuierlicher Zyklus von desire, goal, Handlungsmotivation und Interaktion. In Geschichten einer Reifung erfüllen sich gegen Ende die mehr oder weniger modifizierten Emotionsstrukturen und ihre Wirkungszusammenhänge in der Inszenierung der Handlungsmuster der Figur. In Geschichten eines Scheiterns werden die Konfliktmuster auf andere Weise konstelliert (Taxi Driver, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder, Betty Blue): Der zentrale Konflikt wird innerhalb des Emotionszyklus’ einer Handlungsrolle inszeniert. Zur Verdeutlichung soll an dieser Stelle noch einmal das Modell der Handlungsrollen in Bezug auf die schematisierten Zusammenhänge von goal, desire, Emotion und Handlungsmotivation vor Augen geführt werden. Das Schema einer Handlungsrolle enthält schematisierte goals. Darüber definieren sich wiederum schemakonforme desires und Handlungsmotivationen, die das Raster zur Inszenierung von Emotionalität bilden. Hieraus resultieren mögliche rollenkonforme Verhaltensweisen innerhalb der schematisierten Interaktionssituationen einer Handlungsrolle. In den hier untersuchten Geschichten eines Scheiterns wird dieser Zusammenhang innerhalb der Handlungsrolle unterbrochen: Der Konflikt besteht jedoch nicht aus einer Kollision der inneren Bedürfnisse der Figur mit den äußeren Rahmenbedingungen und rollenbedingten Interaktionsstrukturen. Vielmehr ist hier der Wirkungszyklus zwischen goal, desire, den daraus resultierenden Handlungsmotivationen und dem schlussendlichen Agieren der Figur aufgebrochen: Handlungen und Interaktionen der Figur richten sich nun gegen die rollenkonformen Ziele. Die angestrebte Übernahme einer anderen Rolle führt nicht zur Lösung des grundlegenden Konflikts, sondern das Konfliktmuster wird auf die andere Rolle unverändert übertragen. In den Geschichten eines Scheiterns gelingt es den Protagonisten nicht, die so entstandenen Fragmente innerhalb der Emotions- und Interaktionsstrukturen der zentralen Handlungsrollen wieder schlüssig zusammen zu fügen. In den Geschichten eines Scheiterns wird der Zyklus von goal, desire, Handlungsmotivation und tatsächlichem Handeln dauerhaft unterbrochen. Es kommt nicht zu einer Lösung des Konflikts. Im Folgenden werden zunächst an Beispielen aus Filmen, die einen Reifeprozess beschreiben, die verschiedenen Konfliktstrukturen und ihre Lösungen beschrieben. Anschließend folgen Beispiele aus den Darstellungen eines Scheiterns. In Das Piano decken sich die goals der zentralen Handlungsrollen Adas nicht mit ihren Wünschen und Sehnsüchten: Weder ihrem Ehemann Stewart will sie sich zuwen297
den, noch will sie Baines’ Klavierlehrerin oder Geliebte sein. Ihre Motivationen und ihr Handeln resultieren aus dem goal, sich möglichst unberührt und losgelöst von anderen Personen und Beziehungen ausschließlich ihrer Tochter zuwenden und dem Klavierspiel hingeben zu können. Dies führt zu irritierenden Handlungen in den Interaktionsstrukturen von Adas Handlungsrollen als Ehefrau, Klavierlehrerin und Geliebte. In der Phase vor der eigentlichen Veränderung zeigen sich in Adas Interaktionen in den Rollen der Lehrerin und der Geliebten von Baines scheinbar rollenkonforme Handlungsweisen. Ihre Handlungsmotivation bildet jedoch unverändert das Bestreben, das Piano wieder in ihren Besitz zu bringen und möglichst keine Beziehung mit den Menschen in ihrer Umgebung eingehen zu müssen. Während der weiteren Ereignisse verändert sich Adas goal und damit die emotionale Motivationsbasis ihrer Handlungen. Ada sehnt sich immer weniger nach dem Instrument und immer stärker nach Baines. In ihrer Rolle der Ehefrau Stewarts sind zunächst noch einige wenige rollenkonforme Verhaltensweisen zu erkennen. Als sie sich mehr und mehr zu Baines hingezogen fühlt, verändern sich Motivationsbasis und Handeln in den Interaktionsstrukturen dieser Rolle. Sie verweigert nun die dem Rollenschema entsprechenden Verhaltensweisen in Gänze und strebt aktiv aus der Rolle heraus. Gleichzeitig gibt sie ihre Rolle als Baines’ Klavierlehrerin auf – dieser Rahmen entspricht nicht mehr den Interaktions- und Emotionsstrukturen zwischen den beiden Protagonisten. Ada öffnet sich der Liebesbeziehung zu Baines und übernimmt mehr und mehr die rollenkonformen goals und desires der Geliebten. Die Inszenierung dieser Rolle entfaltet einen schlüssigen und konfliktfreien Zyklus von goal, desire, emotionaler Handlungsmotivation und tatsächlichem Verhalten. In Kleine Fluchten kollidieren die goals und desires des Protagonisten Pipe mit den Rahmenbedingungen und Interaktionsstrukturen seiner zentralen Handlungsrolle des Knechts. Pipe wählt neue, seinen Sehnsüchten besser entsprechende Rollen: Mopedfahrer und Ausflügler. Jedoch kann er die Rolle des Knechts, die sein Auskommen sichert, nicht einfach verlassen. Pipes Regelbrüche indizieren sein Streben nach Freiheit und Veränderung. Rollenkonforme Interaktionen und Verhaltensweisen hingegen resultieren aus der Angst, diese zentrale Rolle, die seine Existenz sichert, zu verlieren. Pipe erfährt sowohl gelingenden Aufbruch und neue Freiheiten, als auch Grenzen und Scheitern. Er durchschreitet diesen Zyklus mehrfach. Es gelingt ihm, seine Wünsche und Bedürfnisse dabei nicht aufzugeben, sondern diese über neue und alternative Handlungsaktionen weiter zu verfolgen. Dabei modifiziert er das Verhaltensrepertoire seiner zentralen Rolle des Knechts, so dass seine goals und desires mit den emotionalen Motivationen und tatsächlichen Handlungen in Einklang kommen. Pipes Motivationsbasis schwankt zwischen Freiheitsdrang und Mut, Angst und Frustration. In seiner Rolle als Knecht gelingt es ihm immer wieder, einen Mittelweg zu finden. Dabei gelangt er zu innerer Einsicht und gewinnt äußere und innere Freiheit. Am Ende des Films handelt Pipe in einer dem Zyklus von desire, goal, Emotion, Handlungsmotivation und Interaktion entsprechenden, ausgeglichenen Rollenstruktur. 298
In Dead Man richtet der Protagonist seine Handlungsmotivationen auf das Ziel, als Buchhalter zu arbeiten: Er reist an den Ort, an dem er seine Arbeit beginnen soll, und geht in das dortige Büro. Parallel zu diesen zielorientierten Aktionen formulieren Blakes Handlungsweisen jedoch ein tieferes Bedürfnis, das für die meisten seiner Verhaltensweisen die bestimmende emotionale Motivation ist. Blake versucht, die Interaktionen innerhalb seiner Rollen konfliktfrei zu gestalten, darum wahrt er zu den ihn umgebenden Personen grundsätzlich Distanz. In seinen Rollen als Reisender und als arbeitsuchender Buchhalter vermag er dieses desire noch mit den goals in Einklang zu bringen, doch wird er in beiden Rollen im Erreichen der Ziele scheitern. Die Rolle als Thels Liebhaber übernimmt er eher zufällig und ohne Eigenmotivation. Durch dramatische Ereignisse verliert Blake alle mit seinen Handlungsrollen verbundenen goals: Die Schießerei mit Charlie zwingt ihm ganz neue Handlungsrollen und goals auf – er wird zum Outlaw und muss sich von nun an vor seinen Verfolgern retten. Die mit diesem Rollenschema verbundenen desires, goals, Emotionen und Handlungsmotivationen bilden einen starken Kontrast zu Blakes zuvor inszenierter Persönlichkeitsstruktur und Verhaltensweise. Die Rolle als Sterbender wiederum kontrastiert stark mit Blakes Lebensalter, seiner fehlenden Reife und Lebenserfahrung. Der Indianer Nobody nimmt sich des schwerverletzten und orientierungslosen Blake an. In dieser Abhängigkeit gibt Blake seine Distanz auf, er öffnet sich und es entwickeln sich emotionale Nähe, Freundschaft und Vertrauen zwischen den beiden. Innerhalb seiner neuen Rollen des Outlaws, des Freundes von Nobody und des Sterbenden wird Blake allmählich fähig, die desires, goals und emotionalen Handlungsmotivationen der schematisierten Interaktionsstrukturen zu entwickeln oder anzunehmen. Er muss dafür seine Angst, seine Distanz und sein ausweichendes Konfliktverhalten aufgeben und, um sein Leben zu retten, bei Angriffen seiner Verfolger die direkte Konfrontation suchen. Als Sterbender kann er dem Wissen um das bevorstehende Ende nicht ausweichen. Der existenzielle Druck seiner neuen Lebenssituation verändert Blakes ursprüngliches Streben nach Distanz, Nicht-Involviert-Sein und Ruhe, das zeigt der sich allmählich schließende Zyklus von goal, desire, emotionaler Handlungsmotivation und Handeln in seinen zentralen Rollen im Haupt- und Schlussteil des Films. Der mit dem Wolf tanzt zeigt das vergleichsweise strengste lineare Veränderungsmuster in den Konfliktstrukturen zwischen desires und goals der Figur und Interaktionsstrukturen ihrer zentralen Rollen. Während des ersten Teils werden nach und nach Dunbars eigentliche rolleninkonformen goals und desires deutlich und so seine Handlungsmotivationen nachvollziehbar. Dabei bauen sich grundlegende Konflikte zwischen diesen desires und goals und den Zielen und Rahmenbedingungen seiner Rolle als Angehöriger der U. S. Army auf: Dunbars eigentliche Handlungsmotivationen sind mit den Interaktionsstrukturen dieser Rolle unvereinbar. So gibt er diese Rolle schließlich auf. In seiner neuen Rolle als Teil der indianischen Lebensgemeinschaft 299
stimmen seine desires und goals mit den neuen Interaktions- und Emotionsstrukturen und Rahmenbedingungen überein. Filme, die vom Scheitern der Hauptfigur erzählen, inszenieren Brüche im Wirkungszyklus von goal, desire, emotionaler Handlungsmotivation und Handlung in einer Handlungsrolle. Sehr deutlich wird dies in Rocco und seine Brüder und Taxi Driver. Simones Verhalten in seinen zentralen Rollen des Familienmitglieds und Bruders, des Boxers und des Liebhabers von Nadja folgen den schematisierten goals: Er will ein aktives und gleichberechtigtes Mitglied des Familienverbands sein, konkurriert mit seinen Brüdern und strebt dabei vor allem nach Roccos Anerkennung, Verständnis und Zuneigung. Als Neuling im Boxbusiness wünscht er sich Erfolg, als Nadjas Liebhaber verlangt er von ihr Bewunderung und bedingungslose Liebe. Im Verlauf der Handlung wird jedoch deutlich, dass seine emotionalen Motivationen und sein daraus resultierendes Verhalten oft nicht den schematisierten desires und goals dieser Rollen folgen: In seinen Rollen als Liebhaber und als Boxer erfährt Simone Scheitern, Ablehnung und Frustration. Eifersucht, verletzter Stolz und wiederholte Kränkungen machen ihn aggressiv und gewalttätig. Es kommt zu irritierendem Verhalten in rollenspezifischen Interaktionen, die schematisierten Ziele werden verfehlt. Diese irritierenden und disparaten Aktionen resultieren aus Brüchen in den Zyklen von goal, desire, emotionaler Handlungsmotivation und Interaktion in diesen verschiedenen Handlungsrollen Simones. Auch in den Rollen des Bruders und des Familienmitglieds kommt es zu Brüchen in den Emotionsstrukturen: Hasserfüllt vergewaltigt Simone vor den Augen seines Bruders Rocco dessen Freundin Nadja. Danach greift er ihn an und schlägt sich mit ihm bis zur Erschöpfung. Auch nach dieser zerstörerischen Tat aber erwartet Simone, dass seine Familie und auch Rocco weiterhin zu ihm halten und ihn finanziell unterstützen. Die Brüche in der emotionalen Motivation und den Zielen von Simones Handeln in zentralen Handlungsrollen sind eklatant und in Form von Kippfiguren inszeniert. Grundsätzlich strebt Simone nach den schematisierten goals seiner Handlungsrollen, ausgelöst von den korrespondierenden desires. Entstehen aber Konflikte auf dem Weg zu diesen goals, verliert seine emotionale Motivationsbasis ihr Ziel und er handelt affektiv. Dabei entsteht eine extreme Diskrepanz zwischen schematisierten Emotionsstrukturen und den sein Handeln in rollenbezogenen Interaktionen steuernden Affekten. Statt sozial integriert und verantwortungsvoll im Kreise der Familie zu agieren, verübt Simone Verbrechen und zerstört familiäre Strukturen, besteht jedoch weiterhin auf finanzieller Unterstützung und Rückhalt durch die Familie. Seine Wünsche und Ziele nach sozialem und beruflichem Erfolg untergräbt er durch seine kriminellen Taten immer mehr. In seiner Rolle des Liebhabers von Nadja und in entsprechend schematisierten Interaktionsstrukturen wird von Beginn an ein Bruch der Emotionsstrukturen inszeniert: Nadja ist Prostituierte und verkauft sich an Simone. Der aber will Nadjas Liebe. Die Bedingungen der Emotionsstrukturen in Simones Rolle als Liebhaber sind 300
auf dieser Basis asymmetrisch und auch paradox. In rollenbezogenen Interaktionssituationen kommt es vermehrt zu irritierenden Handlungen und Interaktionen Simones. Gekränkt und eifersüchtig wird er gegen Nadja gewalttätig. Weil sie ihn nicht liebt, bringt er sie schließlich um. In Rocco und seine Brüder werden die Brüche der emotionalen Wirkungszyklen in Simones zentralen Handlungsrollen deutlich ausformuliert: Die vom Protagonisten ausagierten Affekte führen zu paradoxem Rollenverhalten. Die angestrebten Ziele können auf diese Weise nicht erreicht werden. In Taxi Driver werden die Brüche in den emotionalen Zyklen der zentralen Handlungsrollen ähnlich gestaltet: Travis’ Handlungen basieren auf widersprüchlichen Handlungsmotivationen in seinen verschiedenen Handlungsrollen. Er sucht Kontakt, um sich aus seiner Isolation zu befreien, verhält sich jedoch generell deutlich distanziert zu seinen Mitmenschen. Auch im Kreis der Kollegen ist er ein Außenseiter, beteiligt sich kaum an ihren Gesprächen und unternimmt nichts, um näheren Kontakt herzustellen. Gleichzeitig hegt er extreme Aversionen gegen Schwarze, sozial Schwache und Kriminelle. In der Rolle des Taxifahrers sind diese widersprüchlichen Anteile in Travis’ Verhalten deutlich inszeniert: Zwangsläufig hat er hier direkten Kontakt mit vielen verschiedenen Menschen. Dieser Kontakt entsteht jedoch in einer professionellen Dienstleistungssituation und bleibt distanziert. Travis’ Verhalten prägt der grundsätzliche Konflikt zwischen widersprüchlichen Bedürfnissen: Nähe zu anderen Menschen und Streben nach Distanz. In seinen zentralen Handlungsrollen pendeln die Handlungsmotivationen und Aktionen zwischen diesen beiden Polen. Bei seiner Begegnung mit Betsy wird sein Handeln zunächst vom Bedürfnis, diese Frau näher kennen zu lernen und ihre Zuneigung zu gewinnen, motiviert. Wenn Travis Betsy in ein Pornokino ausführt, verhält er sich jedoch gegen sein eigentliches Ziel und stößt auf Ablehnung. Ein ähnlicher Widerspruch besteht, wenn Travis die junge Prostituierte Iris anspricht: Er will keinen Sex, sondern sie aus ihrer Situation befreien. Als sie darauf nicht eingeht, setzt er sein Vorhaben mit Gewalt durch. In beiden Handlungsrollen wird der Wirkungszyklus zwischen goal, desire, emotionaler Handlungsmotivation und Handlungsaktion durch den Konflikt zwischen den desires gestört. Im mittleren Abschnitt des Films ereignet sich eine zentrale Kippfigur in Bezug auf Travis’ widerstreitende emotionale Bedürfnisse. Er strebt nicht mehr nach Nähe und Kontakt, im weiteren Verlauf prägen vor allem Ablehnung und Distanzierung sein Handeln. Er trainiert exzessiv und übt sich an der Waffe. Er erschießt einen Ladenräuber. Ambivalente Motive prägen auch sein Verhalten während des Amoklaufs: Er agiert dabei seine gewalttätigen Impulse aus und ermordet mehrere Menschen. Motiviert sind seine Taten zugleich dadurch, dass er Iris vor ihrem elenden Schicksal als minderjährige, drogenabhängige Prostituierte retten will. Zu einer Lösung des Konflikts zwischen diesen emotionalen Handlungsmotivationen kommt es nicht. In Breaking Glass wird der Bruch im emotionalen Wirkungszyklus der Emotionsstrukturen der zentralen Handlungsrolle nach anderem Muster inszeniert: Während 301
Simones und Travis’ emotionale Handlungsmotivationen und Verhaltensweisen zu deutlich konflikthaften Konstellationen der Emotionsstrukturen ihrer Handlungsrollen und zu Brüchen der Wirkungszyklen führen, entsteht solch ein Bruch in Kates zentraler Rolle als Musikerin durch ein plötzliches emotionales Vakuum. Kates emotionale Handlungsmotivationen werden durch das traumatisierende Erlebnis der Ermordung eines jungen Konzertbesuchers zum Teil außer Kraft gesetzt. Vor diesem Ereignis waren ihre Handlungen als Musikerin vom Streben nach Unabhängigkeit, eigenständigem künstlerischem Ausdruck und Zusammenhalt in der Gruppe bestimmt. Auch waren ihr die politischen und gesellschaftskritischen Aussagen ihrer Texte sehr wichtig. Nach dem traumatisierenden Erlebnis gibt sie diesen Teil ihrer künstlerischen Existenz völlig auf. Der Wirkungszyklus des zielorientierten Agierens im Rahmen ihrer zentralen Handlungsrolle ist dadurch in wesentlichen Teilen gebrochen und aufgelöst. In diese emotionale Leere dringt nun der Einfluss der Musikmanager, die Kate Ziele vorgeben und ihr Verhalten beeinflussen. Ihre Rolle als Musikerin wird immer weniger nach ihren früheren Vorstellungen und Zielen geformt. In einigen Momenten jedoch kommen die paralysierten Handlungsmotivationen emotional zum Tragen, ohne dass sich Kates Verhalten änderte. Erst am Ende des Films folgt sie wieder einem emotionalen Impuls und handelt autonom, ausgerichtet an ihren ursprünglichen Bedürfnissen und Zielen. In Betty Blue prägen die Handlungen der Hauptfigur ähnliche Momente des emotionalen Umschlags wie in Taxi Driver: In beiden Filmen überträgt sich das emotionale Konfliktmuster der Protagonisten von einer Handlungsrolle auf die nächste. Alle Handlungsrollen der Hauptfigur etablieren sich in klaren Zyklen von goals, desires, den entsprechenden emotionalen Handlungsmotivationen und tatsächlichem Handeln, doch entstehen im Verlauf der Erzählung wiederholt Schieflagen zwischen Bedürfnis und Handlungsmotivation: An die Stelle der zielorientierten Handlungsmotivation treten angesichts unüberwindbar scheinender Grenzen Frustration und Wut. Diese Emotionen führen zu Affekten, die über aggressive und autoaggressive Verhaltensweisen ausagiert werden. Die Wirkungskette goal, desire, Handlungsmotivation und tatsächliches Verhalten in Bettys zentralen Handlungsrollen ist in diesen Momenten unterbrochen. Dieser Bruch und zentrale Konflikt in Bettys emotionalen Motivationen bleibt in der Geschichte ungelöst.
8.5 Prozesshaftigkeit in Bezügen zwischen Handlungsrollen (Hauptfigur und Nebenfiguren) Im Mittelpunkt der folgenden Analysen steht, welche Bezüge die Handlungsrollen der Hauptfigur in das gesamte Figurenprogramm bzw. die darin repräsentierten Hand302
lungsrollen integrieren. Prozesshafte Strukturen in diesen Gestaltungselementen weisen auf Aspekte der Visualisierung des charakterlichen Wandlungsprozesses hin. In Bezug zu den Handlungsrollen der Hauptfigur sind Analogien, Kontraste und zwei prozesshafte Muster – stufenweise Entwicklungen und Wechsel – innerhalb des Rollenprofils des gesamten Figurenprogramms aufgebaut. In vier Beispielfilmen werden drei dieser Bezugsweisen – Analogien, Kontraste und die stufenweise Entwicklung – miteinander kombiniert: Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Das Piano, Rocco und seine Brüder. Mit Einschränkungen kann auch Kleine Fluchten zu dieser Gruppe gezählt werden. In drei Filmen werden Analogien, Kontraste und Wechsel miteinander kombiniert (Breaking Glass, Taxi Driver, Betty Blue), wobei hier die Bezugssysteme innerhalb der Handlungsrollen der Figuren als Visualisierungsmuster der charakterlichen Wandlung weniger relevant sind als in den vier bereits genannten Filmen. Im Folgenden werden an einigen Beispielen die Gestaltungsmuster beschrieben. In Der mit dem Wolf tanzt ist sehr deutlich ein prozesshaftes Bezugssystem zwischen den Handlungsrollen der Hauptfigur und anderer Figuren zu erkennen. Die Ausformungen der Handlungsrollen anderer Figuren dienen als ein Gegenpart zum Rollenprofil Dunbars. Facetten von Dunbars Persönlichkeit und Verhaltensweisen spiegeln sich in der Rolleninszenierung anderer Figuren wider oder werden dadurch kontrastiert. Ebenso werden Aspekte prozesshafter Veränderungen in Dunbars Wesensart in diesem Bezugssystem inszeniert, wobei eine besondere Form Beachtung verdient: Nicht allein in Handlungsrollen menschlicher Akteure spiegelt sich das Charakterprofil des Protagonisten, sondern auch in denen tierischer Darsteller. Hier einige wenige Beispiele für Kontrast- und Analogiebezügen im Gesamtbild der Handlungsrollen: Hinter der Stellung liegend sinniert Dunbars Kamerad über den Stillstand der militärischen Lage [00.04.19]. Dunbar dagegen wird aktiv und provoziert mit seinem selbstmörderischen Ritt durch die Frontlinien die entscheidende Schlacht. Nach dieser wagemutigen Tat lässt er sich nach Westen versetzen, um in diesem Land nach einem sinnvollen Leben zu suchen [00.11.06]. Der schon einige Zeit im Westen lebende Major in Fort Haze hingegen scheint an dieser Gegend verrückt geworden zu sein [00.16.24] und bringt sich um. Auch Dunbar entzieht sich seiner Rolle als Soldat der U. S. Army – dies jedoch in Form einer bewussten und schrittweisen Desertion und gleichzeitiger Annäherung an die Indianer. Im Kontrast zum Kutscher und Fallensteller, der Dunbar nach Fort Sedgewick bringt, einem unflätigen und rohen Kerl [00.19.35], wird Dunbar als Mann mit Format und Manieren, mit Willensstärke, Gelassenheit und einem Sinn für die Natur inszeniert. Im Umgang mit Tieren werden seine starke Intuition, Fürsorge und Verlässlichkeit deutlich [00.23.50, 00.49.30, 01.03.22, 01.27.56]. Die Begegnungen mit Indianern zeigen jene Aspekte von Dunbars charakterlicher Entwicklung, die seinen Identitätswechsel motivieren. In den Handlungsrollen der indianischen Akteure und in entsprechenden Interaktionen mit Dunbar werden Analogien 303
dazu sichtbar: In seiner Beziehung zu dem weisen Priester Strampelnder-Vogel zeigen sich Dunbars Reflexionsfähigkeit, seine Lebensklugheit und seine Fähigkeit, verantwortungsvoll zu handeln. Seine Impulsivität und das Vermögen zu tiefer freundschaftlicher Zuneigung illustriert die Begegnung mit dem Krieger und Jäger Wind-in-seinemHaar. Seine große Lernbereitschaft und sein Respekt vor Alter und Erfahrung wird gegenüber dem Stammesweisen Steinkalb deutlich. Dunbars Liebesfähigkeit schließlich zeigt sich in der Beziehung zu Steht-mit-einer-Faust. In der Rolleninszenierung dieser Figur ist eine weitere Facette von Dunbars Identitätswechsel als Analogie angelegt: Steht-mit-einer-Faust geriet als Kind von Siedlern in die indianische Gemeinschaft und wurde als Indianerin erzogen; Dunbar hingegen kommt zu ihnen aus freiem Willen. Die Bezüge zwischen den verschiedenen Rollen offenbaren nach und nach Dunbars Charaktereigenschaften, Facetten seiner Persönlichkeit und deren Wandlung. In Dead Man und Rocco und seine Brüder vollzieht sich mit Hilfe von Analogien und Kontrasten in den Handlungsrollen eine prozesshafte Entwicklung. Zunächst Beispiele hierfür aus Dead Man: Sowohl Kontraste wie Analogien zwischen den Handlungsrollen Blakes und anderer Figuren nehmen im Handlungsverlauf zu. Während der Zugfahrt wächst der Kontrast zwischen Blake und den wechselnden Mitreisenden [00.00.23]. Die Menschen in Machine haben dann gar nichts mehr gemein mit dem jungen, schüchternen Mann im großkarierten Anzug [00.09.17]. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet die Begegnung Blakes mit dem Indianer Nobody [00.26.31] – an dieser Stelle beginnt eine sich prozesshaft reziprok entwickelnde Beziehung zwischen den Handlungsrollen der beiden Figuren. Im Verlauf der Handlung nimmt die Zahl der Analogien zwischen den Interaktions- und Emotionsstrukturen ihrer Handlungsrollen zu. Ausgehend von zahlreichen Kontrastbezügen zwischen diesen beiden Figuren visualisiert die steigende Zahl von Ähnlichkeiten unterschiedliche Aspekte in Blakes charakterlichem Wandlungsprozess. Zu unterscheiden ist dabei zwischen implizit und explizit inszenierten Kontrasten: Beide Protagonisten stammen aus verschiedenen Kulturkreisen und sind von unterschiedlichem Charakter. Vor dem Hintergrund dieser Differenzen zeigen sich mehr und mehr Ähnlichkeiten: Beide hat ein ähnliches Schicksal ereilt – sie wurden gewaltsam aus ihrem ursprünglichen Lebensumfeld gerissen und dadurch zu Außenseitern. Beide haben sich danach so sehr verändert, dass sie sich nicht mehr in eine soziale Gemeinschaft zu integrieren vermögen: Nobody plante die Flucht aus seiner Gefangenschaft und fand innere Kraft bei dem englischen Dichter William Blake [00.47.28]. Dessen Namensvetter gelingt es – auch dank der Begegnung mit Nobody – seinen neuen Weg zu finden. Nobody legt dem jungen Blake Gedanken des Dichters nahe, die er mit indianischen Weisheiten verflicht [00.35.38, 00.36.40]. Es entwickelt sich allmählich eine gemeinsame Ebene der Verständigung und freundschaftliche Zuneigung. In den dynamischen Interaktions- und Emotionsprozessen wird ein Teil von Blakes charakterlichem Wandel inszeniert. 304
Im Fall von Rocco und seine Brüder ist es das Bezugssystem zwischen den Handlungsrollen Simones und Roccos, das wachsende Kontraste zwischen den Ausformungen der Handlungsrollen kennzeichnet: Während Simone nimmt, gibt Rocco. Das zeigt sich schon in kleinen Handlungen am Beginn der Erzählung: Bei der Familienfeier der Ginellis nimmt sich Simone eine Handvoll Bonbons von einer silbernen Platte [00.09.46], während Rocco Orangen aus seinem Beutel an die Anwesenden verteilt. Dieser Gegensatz in den Handlungsrollen beider Brüder wird noch stärker: Simone verlangt von seiner Familie immer nachdrücklicher Unterstützung und Geld, Rocco hingegen lässt sich mehr und mehr vereinnahmen. Bei einem letzten Versuch, Simone vor den Konsequenzen seiner Taten zu bewahren, gibt Rocco sogar seine eigenen Ziele auf [02.16.45]. Die Veränderungen in den Interaktionen beider Handlungsrollen sind eng miteinander verknüpft. Und stets agiert Simone, während Rocco reagiert. Und umso krimineller und skrupelloser die Taten Simones werden, desto idealistischer sind Roccos Reaktionen. Auf ein weiteres Beispiel prozesshafter Bezüge zwischen Handlungsrollen verschiedener Figuren in diesem Film sei ebenfalls noch hingewiesen: Die jeweiligen Paarbeziehungen der vier Brüder. Dabei zeigen sich verschiedene Konstellationen zwischen Mann und Frau: Zwei Beziehungen – Vince und Ginetta, Ciro und Franca – orientieren sich an bürgerlichen Rahmenbedingungen und nehmen einen entsprechenden Verlauf: Verlobung, Heirat, Familie. Eine Konstellation fällt hingegen völlig aus dem bürgerlichen Rahmen: Die Beziehung zwischen Simone und der Prostituierten Nadja. Die vierte Paarbeziehung, zwischen Rocco und Nadja, strebt nach einem Wandel hin zur bürgerlichen Basis. Dies misslingt jedoch. Beide streben erfolglos nach einer Verbesserung ihrer Lage. Die vier Paare illustrieren sowohl gelingende wie scheiternde Verbindungen im Kontext gesellschaftlich-sozialer Rahmenbedingungen. Die starke Verflechtung von Simones und Roccos Handlungsrollen zeigt sich auch in diesem Bezugssystem innerhalb des Figurenprogramms: Beide haben zeitweise eine Beziehung mit Nadja, beide scheitern aus unterschiedlichen Gründen. In Kleine Fluchten dagegen findet man eine andere prozesshafte Dynamik: Pipes Entwicklung spiegelt sich im Verhalten der anderen Figuren in parallel erzählten Handlungsrollen. Dabei besteht kein direkter Interaktionszusammenhang zwischen den anderen Figuren zu Pipes Rollen. In den Interaktions- und Emotionsstrukturen der Handlungsrollen anderer Figuren spiegeln sich Aspekte seines charakterlichen Veränderungsprozesses in Kontrasten oder verschiedenen Analogien. Die Ausformungen der Handlungsrollen des Bauern und des zweiten Knechts Luigi stehen in Kontrast zu Pipes Auflehnung und seinem Streben nach Veränderung. Der Bauer John wehrt sich vehement gegen alle Anzeichen von Veränderung und Entwicklung in seiner Umgebung [00.36.33]. Von Luigi gehen keine Impulse aus – er passt sich an und reagiert auf Anforderungen. Es gibt keine Entwicklung und am Ende der Geschichte muss er den Hof verlassen [02.02.49]. Analogien zu Pipes Veränderungsprozess finden eine 305
teilweise Entsprechung in den Handlungsrollen von Alain, Josianne und Marianne: Josianne lehnt sich gegen ihre Rolle als Mutter und Bauerstochter auf. Über lange Phasen der Erzählung opponiert sie gegen ihr soziales Umfeld auf dem Hof, unternimmt aber keine Schritte zur Veränderung. Diese Figur spiegelt die ängstlichen, zögerlichen und auch rückschrittlichen Momente von Pipes Wandlung. Gegen Ende jedoch trifft sie eine Entscheidung, die ihre Situation grundlegend verändern wird: Sie legt die Rolle der Bauerstochter ab [02.03.31]. Ihre Rolle als Mutter gibt sie jedoch nicht auf. Vergleichbar hierzu gibt Pipe seine Rolle des Knechts ebenfalls nicht auf, doch gelingt es ihm, seine Position grundlegend zu verändern. Alain setzt seine Pläne, Hof und Betrieb zu reformieren, gegen den Willen des Vaters durch und lässt sich auch mit Drohungen nicht davon abbringen [00.37.30]. Hierin spiegelt sich Pipes unermüdliche Kraft und Kreativität bei seiner Rebellion und Freiheitssuche. Als Rose erkrankt, wechselt Marianne abrupt ihre Handlungsrolle: Von der jungen Krankenschwester aus der Stadt wird sie zur Bäuerin [01.45.13]. Dieser grundlegenden Veränderung entspricht Pipes Entwicklung vom unfreien Knecht zum freien Knecht mit Bleiberecht. In Rose Handlungsrolle und Erkrankung spiegeln sich Pipes Krise und das drohende Scheitern seiner Entwicklung. In Bezügen der Handlungsrollen verschiedener Figuren wird in Das Piano ein Geflecht aus Analogien und Kontrasten hergestellt. Einige der kontrastiven wie der analogen Strukturen bleiben unverändert, einige Zusammenhänge zeigen eine prozesshafte Entwicklung. Hier verschiedene Beispiele: Zwischen den Frauen in Adas Umfeld bestehen Kontrast- und Analogiebezüge. Die Siedler- und die Maorifrauen zeigen zwei sehr verschiedene Ausformungen ihrer Handlungsrollen, in denen Aspekte von Adas Persönlichkeit und Emotionsstrukturen gespiegelt werden. Die Siedlerfrauen gehen eindeutig konform mit ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie handeln sehr kontrolliert und wirken dabei recht verkrampft [00.16.23, 01.25.40]. Wider Willen muss zunächst auch Ada diesem Kodex entsprechen. Die Maorifrauen kleiden sich zwar ähnlich wie die Siedlerfrauen, jedoch ohne Reifröcke und Korsetts. Ihr Verhalten ist wesentlich freier und impulsiver, ihr Handeln entspricht nicht dem bürgerlichen Kodex [00.11.26, 00.12.58, 00.15.35]. Diese Inszenierungen spiegeln die Pole von Adas Bedürfnissen und Handlungen, die sie zu einem freieren, selbstbestimmten Leben außerhalb einengender gesellschaftlicher Regeln führen. Ein deutliches Kontrastpaar bilden auch Stewart und Baines: Ihre Lebensweise und ihr Verhalten sind grundverschieden – der Farmer Stewart rodet Teile des Urwalds, während Baines sehr naturverbunden darin lebt. Stewart ist zu Verhandlungen nicht fähig, sondern will sich in Konflikten mit Ada oder mit den Maoris ohne Kompromisse durchsetzen [00.30.31, 00.49.17], Baines hingegen verhandelt fair und kompromissbereit [00.15.25, 00.37.33, 00.59.38]. Die Handlungsdynamiken dieser Dreieckskonstellation spiegeln Adas Entwicklung: Sie wendet sich von Stewart ab und Baines zu. Dabei ändert sich auch die Beziehung zu ihrer Tochter Flora: Den anfänglichen Stillstand 306
spiegelt das Verhältnis zwischen Stewarts Schwester und ihrer erwachsenen Tochter. Beide Beziehungen werden jedoch mit leicht versetzten Vorzeichen inszeniert: Ada kann nicht sprechen – ihre Tochter ist ihr Sprachrohr [00.11.58], weshalb sie sie stets in ihrer Nähe behält. Stewarts Schwester dominiert ihre Tochter und schneidet ihr das Wort ab [00.27.12, 01.24.40]. Später wandelt sich die Beziehung zwischen Ada und ihrer Tochter, die große Nähe zwischen ihnen löst sich auf, die Beziehung wird distanzierter: Als sie zu Baines geht, schickt Ada ihre Tochter weg [01.10.01] – Flora ist nun immer weniger ihr Sprachrohr. In Breaking Glass und Taxi Driver visualisieren Wechsel in den Beziehungen zwischen den Handlungsrollen der Hauptprotagonisten und anderer Figuren Anteile der intrapersonellen Wandlung. Zugleich wird in den Gestaltungsmustern dieser Wechsel ein Kontrast aufgebaut: Kate interagiert in den ersten beiden Dritteln der Erzählung mit den Mitgliedern ihrer Band und mit Dany, ihrem Freund und Manager. Im letzten Drittel des Films wird Kate entweder im Konzert, mit ihrem Produzenten Bob, den Managern ihrer Plattenfirma oder bei PR-Aktionen gezeigt – die Präsenz der mit Kate interagierenden Figuren wie auch die sozialen Konnotationen verändern sich. Das Verhalten der Manager wird dabei in zwei sehr unterschiedlichen Rollenausformungen gezeigt. Zwischen Kate und der Band besteht ein reger Kontakt und Austausch, Dany tritt als ihr Manager nicht besonders hervor, vielmehr fügt er sich in die Gruppe ein [00.36.26, 00.45.15] und nimmt auch keinen Einfluss auf Form und Inhalt der Musik. Der Wechsel im Miteinander zwischen Kate und den anderen vollzieht sich, als sie mit dem Produzenten Bob Woods und den Managern der Plattenfirma zu arbeiten beginnt [01.08.20]. Der Kontakt zwischen den Bandmitgliedern löst sich allmählich auf, der Austausch zwischen ihnen lässt nach. Produzent und Management der Plattenfirma nehmen Einfluss auf ihre Texte und ihren Musikstil [00.54.48]. Die Interaktionen zwischen Produzent, Management und Kate unterscheiden sich fundamental von denen zwischen Kate der Band und Manager Dany: Es gibt kaum Gespräche oder Verhandlungen über Entscheidungen – Kate wird von Konzert zu Konzert und von einer PR-Veranstaltung zur nächsten transportiert. Auch in Taxi Driver werden wechselnde Bezüge zwischen den Handlungsrollen der Hauptfigur und denen anderer Figuren inszeniert. Travis trifft in seinen Rollen als Taxifahrer und als isoliert lebender Mann auf Handlungsrollen ganz verschiedener sozialer Milieus. Die Figuren seiner Interaktionen sind über Handlungsrollen aus dem Bürgertum als auch dem Milieu von Prostitution, Kriminalität und Drogenszene inszeniert. Einzelne Figuren aus diesen Gruppen sind wie Gegensatzpaare zu einander in Beziehung gesetzt: Der Angehörige des Civil Service und der Waffen- und Drogenhändler [00.18.55, 01.11.51, 00.58.55, 00.51.53], der Kandidat Palantine, der sich jovial mit Travis unterhält und ihm – ganz Wahlkämpfer – seine Wertschätzung versichert [00.26.50], und der Fahrgast, der Travis zwingt, anzuhalten und mit ihm gemeinsam zu warten [00.38.15]. Dabei erzählt er ihm von seinen Gewaltfantasien – er will sei307
ne untreue Frau umbringen. Und auch die beiden Frauen, die Travis im Verlauf des Films kennen lernt, stammen aus ganz verschiedenen Milieus. Travis’ Gespaltenheit, die Gleichzeitigkeit von sozialem, um Kontakt bemühten Verhalten auf der einen, aggressiv-feindseligem und gewalttätigem Handeln auf der anderen Seite, spiegelt sich auch in der Verschiedenartigkeit der Figuren, mit denen er interagiert, sowie im jeweiligen Milieu ihrer Handlungsrollen. Travis selbst „probiert“ Rollen aus beiden Welten aus: Er erscheint im Anzug zum Rendezvous mit Betsy [00.22.06]. Er besucht eine Prostituierte, jedoch nur, weil er sie aus ihrer Situation befreien will [01.15.20]. Er erschießt einen Ladenräuber [01.05.03]. Hier geschieht ein abrupter Wechsel in den Interaktionen Travis’ mit anderen Figuren: Nach der Tat kommt es zu keinen Interaktionen mehr zwischen Travis und Figuren aus bürgerlichem Milieu. Dieser plötzliche Umschwung markiert die Veränderung in Travis’ Emotions- und Motivationsstrukturen. Die emotionale Kippfigur, die bis zu diesem Moment mehrmals hin und her gependelt ist, ist nun endgültig zu einer Seite gefallen. Ein Teil seiner Persönlichkeit hat die Oberhand behalten. Betty Blue zeigt keine auffällige Prozesshaftigkeit der Bezüge zwischen den Handlungsrollen. Zwar werden Bezugssysteme in Form deutlicher Analogien und Kontraste aufgebaut, doch sind keine prozesshaften Veränderungen erkennbar.
8.6 Visuelle Inszenierung von Wandlungsdynamik durch Emotionen und Affekte in Mimik und Gestik Die Inszenierung von Affekten oder Emotionen im mimischen Ausdruck des Schauspielers ist ein Element der Figurenkonstruktion. In 7.4 und 7.5 wurden Körpersprache und Mimik der Hauptfiguren auf prozesshafte Gestaltungsmuster hin untersucht. Die Analyseperspektive gilt nun den visuellen Elementen der Bildgestaltung, welche Affekte und Emotionen in der schauspielerischen Ausdrucksarbeit präsentieren. Zwei Faktoren werden auf prozesshafte Veränderungen hin untersucht: Art und Weise der Ausdrucksarbeit, in der sich der Wandel vollzieht, und ob sich die visualisierten Affekte und Emotionen selbst im Laufe der Ereignisse verändern. Auf diese Weise lässt sich der Anteil an der Visualisierung intrapersoneller Wandlungsprozesse beschreiben, der über unmittelbare Demonstration seelischer Prozesse in der schauspielerischen Arbeit inszeniert ist. In fünf Filmen hat der mimische Ausdruck der Darsteller wesentlichen Anteil an der Visualisierung intrapersoneller Wandlungsprozesse (Breaking Glass, Betty Blue, Rocco und seine Brüder, Das Piano, Dead Man). In drei Filmen verändern sich sowohl Ausdrucksweisen wie dargestellte Emotionen (Breaking Glass, Betty Blue, Dead Man). In zwei Filmen werden charakterliche Entwicklung und Wandlung nur in Veränderungen der 308
Emotionen visualisiert (Das Piano, Rocco und seine Brüder). Taxi Driver zeigt statt stufenweiser kontinuierlicher Veränderungen des mimischen Ausdrucks eher sprunghafte Wechsel zwischen Ausdrucksweisen und Emotionsarten. Kleine Fluchten und Der mit dem Wolf tanzt zeigen kaum prozesshafte Veränderungen des darstellerischen Ausdrucks. Eine deutlich prozesshafte Entwicklung jedoch bieten beide Filme in Bezug auf die mimisch visualisierten Emotionen der Figuren. Beispiele für deutlich prozesshafte Veränderungen von Ausdruck und Emotion in der Darstellung werden für zwei Filme aus der ersten Gruppe beschrieben, Breaking Glass und Betty Blue. In Breaking Glass werden Kates Gefühle in den ersten zwei Dritteln des Films mit Hilfe der ausdrucksstarken Mimik der Schauspielerin inszeniert. Erkennbar werden Freude, Zorn, Angst, Frustration, Sorge und Mitgefühl [00.08.50, 00.09.50, 00.14.00, 00.28.35, 00.43.19]. Nach dem traumatisierenden Erlebnis verändert sich der mimische Ausdruck der Figur sehr stark hin zu Trauer, Verzweiflung, Verunsicherung und Verwirrung, während Lachen und Freude, Wut und Frustration aus dem Emotionsrepertoire der Figur verschwunden sind. Und auch der Ausdruck ändert sich: Impulsivität und Prägnanz der Emotionen weichen einem immer maskenartigeren Ausdruck, Kate verliert die Lebendigkeit des mimischen Ausdrucks, sie wirkt wie paralysiert – Emotionen lassen sich nicht mehr eindeutig an Ihrer Mimik ablesen. Im letzten Filmdrittel zeigt ihr Gesicht vor allem Verwirrung und Starrheit, am Ende liegt sie mit leerem Gesichtsausdruck im Krankenzimmer. Erst als Dany sie besucht, zeigt sie wieder ein Lächeln. In Betty Blue wird mit Hilfe der Mimik der Hauptdarstellerin der Wandel von Ausdruck und Emotionen inszeniert: Bettys lebhafte Mimik spiegelt ihre Empfindungen unmittelbar wider. Körpersprache und Mimik der Schauspielerin drücken ihre Liebe zu Zorg [00.23.40], ihren Zorn [00.20.12] und ihre Aggressionen [00.25.19] aus. Betty reagiert impulsiv auf die Ereignisse, die sie in Situationen mit anderen Akteuren erlebt. Während Bettys aggressiven und tätlichen Ausbrüchen zeigt ihr Gesicht auch Hilflosigkeit und Verwirrung – sie verliert nach und nach die Kontrolle über sich selbst [01.11.42, 01.12.31]. Nach dem negativen Ergebnis des Schwangerschaftstests wandelt sich ihre Mimik deutlich: Zunächst zeigt sie Trauer, Resignation und Niedergeschlagenheit, ehe sie ausdruckslos wird. Wenn Betty am Ende betäubt im Krankenhausbett liegt, ist ihre Mimik unbewegt, Ausdruck und Emotion sind daraus gewichen. In Das Piano und Rocco und seine Brüder ist die mimische Arbeit der Hauptdarsteller ebenfalls wichtig für die Visualisierung intrapersoneller Wandlung, doch kommt es hier nur zum Wandel verschiedener Emotionen, während sich Art und Weise des Ausdrucks nicht ändern. Die Gesichter Adas und Simones spiegeln im Verlauf der szenischen Ereignisse und Interaktionen deutlich Gefühlsleben und Affekte der beiden Charaktere. Diese Deutlichkeit der Darstellung bleibt während der gesamten Erzählung in etwa konstant, doch ändern sich die dargestellten Emotionen: In beiden Filmen 309
verläuft dieser Wandel in drei Stufen, wobei die Mimik der Protagonistin in Das Piano dabei im Vergleich zu den übrigen Filmen die meisten Informationen liefert. Ada ist stumm, weshalb Mimik und Gestik von zentraler gestalterischer Bedeutung für die Figurenkonstruktion sind. Ihre Mimik vermittelt im ersten Drittel des Films neben Verkrampftheit und Verschlossenheit, Zorn und Angst auch Traurigkeit und Einsamkeit. Nur im Kontakt mit ihrer Tochter und beim Klavierspiel ist Adas Gesichtsausdruck fröhlich entspannt. Im Miteinander mit Baines werden neue Elemente des emotionalen Ausdrucks etabliert: Ambivalenz und widerstreitende Gefühle werden an ihren Gesichtszügen ablesbar, auch Neugier und Ablehnung, Zuwendung und Rückzug, Genuss und Angst. Am Ende zeigen sich ihre hinzu gewonnenen emotionalen Qualitäten in ihrer veränderten Mimik und Körpersprache, von der sich nun Offenheit, Gelöstheit, Tatkraft, Optimismus, Bestimmtheit und Freude ablesen lassen. In Rocco und seine Brüder wird gleichbleibend die Ausdrucksintensität Simones in der schauspielerischen Arbeit gestaltet, während sich die Emotionen stark ändern. Dieser Prozess verläuft in drei Phasen: Simones Mimik und Körpersprache zeigen im ersten Filmdrittel Neugier, Fröhlichkeit, Freude, Begeisterung und auch liebevolle Zuneigung; später überwiegen Verletztheit, Scham, Frustration, Aggression, Neid und Rache, am Ende zeigt Simones Gesicht nur noch Hass, Verzweiflung, Angst und Trauer. In Taxi Driver zeigen die Veränderungen im mimischen Ausdruck und in den Gefühlsarten der Hauptfigur keine abgestuft prozesshafte Entwicklung, sondern mehrere sprunghafte Wechsel: In vielen Szenen sind die interaktions- und situationsbezogenen Empfindungen deutlich an Travis’ Mimik abzulesen, so im Gespräch mit dem Taxiunternehmer [00.02.04] und bei den Begegnungen mit Betsy [00.18.55, 00.22.16]. Damit kontrastieren Szenen, in denen Mimik und Körpersprache der Hauptfigur gekünstelt und aufgesetzt wirken, etwa in der Begegnung mit dem Angehörigen des Civil Service [00.58.55] und in der Szene mit dem Zuhälter Sport [01.12.11]. Gegenüber Iris wiederum zeigt Travis’ Mimik deutlich seine Emotionen. Der sprunghafte Wechsel zwischen authentischem und vorgetäuschtem Gefühlsausdruck wechselt im Verlauf der Handlung wiederholt. Am eindrücklichsten wird dieser Wechsel dargestellt, wenn Travis vor dem Spiegel aggressive Auseinandersetzungen imaginiert [01.02.39]. Während seines Amoklaufs ist Travis’ Mimik verzerrt – er wirkt ent- und verrückt. Manche der dargestellten Emotionen widersprechen den emotionalen Qualitäten der jeweiligen Handlung. Noch am Rande der Wahlkampfkundgebung [01.30.38] lächelt Travis, während des Schusswechsels ist sein Gesicht abwechselnd ausdruckslos, angst- oder schmerzverzerrt und schließlich hasserfüllt [01.35.11, 01.35.51, 01.36.19]. Am Ende sitzt er blutüberströmt und ganz ruhig auf dem Sofa [01.37.43], als die Polizei in das Zimmer eindringt – lächelnd formt Travis mit der Hand eine imaginäre Pistole, setzt sie sich an die Schläfe und ahmt das Geräusch von Schüssen nach [01.37.58]. 310
In Kleine Fluchten und Der mit dem Wolf tanzt zeigt der mimische Ausdruck der Darsteller keine wesentlichen Veränderungen. Bei mimischem Ausdruck starker Emotionen ruht der filmische Blick oft sehr nah auf den Gesichtern der Protagonisten. Die Mimik der beiden Darsteller vermittelt dabei lebendige und vielschichtige Emotionen, doch vollzieht sich in beiden Filmen kein prozesshafter Wandel über diese Darstellungsmuster. Mimik und Körpersprache der beiden Hauptdarsteller visualisieren die emotionale Lebendigkeit der Charaktere und vermitteln die Intensität ihrer Empfindungen. Diese Aspekte der Figuren werden über den Handlungsverlauf Schritt für Schritt vermittelt. Das hier aufgebaute Entwicklungsmuster gleicht dem Auffalten eines Fächers.
8.7 Dynamik im Zentrum der MJTUPGUSBJUT – Veränderung der Konstellationen konflikthafter USBJUT Mit Hilfe des Modells von Chatman (Chatman 1978 [1993], 3.3: 73 ff.) lässt sich für jede Hauptfigur der Aufbau der Charakterkonstruktion durch die im filmischen Material enthaltenen moments of expression beschreiben. Dabei vermittelt die Inszenierung ihrer Verhaltensweisen Hinweise auf die Charakterstruktur der Figur. Diese Informationen werden vom Zuschauer in einem process of nomination zu einem Charakterparadigma der fiktiven Figur (paradigm of trait) zusammen gefügt. Die Charakterkonstruktion einer mehrdimensionalen Figur erfolgt dabei über mehrere aufeinander folgende szenische Sequenzen. Es werden im Handlungsverlauf moments of expression gestaltet, deren Inszenierung Teilaspekte der Charaktereigenschaften der Figur vermitteln: zentrale Persönlichkeitseigenschaften, antagonistische Charakterzüge und auch widersprüchliche Verhaltensweisen. Es werden die inneren Konflikte der Figur und deren direkten Auswirkungen erkennbar. Der stufenweise Aufbau des paradigm of trait ist ein generelles Gestaltungsmuster zur Darstellung mehrdimensionaler Figuren in filmischen Erzählungen. Zur Untersuchung der Gestaltungsfaktoren einer Charakterkonstruktion, welche zur Visualisierung von intrapersonellen Wandlungsprozessen dienen, muss ein darauf aufbauendes Modell zur filmischen Charakterkonstruktion eingesetzt werden. Hier erweist sich Branigans Modell der (vgl. 3.3: 77 f.) list of traits als hilfreich: Die in verschiedenen moments of expression inszenierten Charakterzüge einer Figur können nach Branigan in einer um ein thematisches Zentrum organisierten Liste der Persönlichkeitseigenschaften zusammengefasst werden. Dieses Zentrum enthält ein übergreifendes Thema, auf das sich die einzelnen Charakterzüge beziehen (Branigan 1992: 19). Mit Branigans Modell kann für jeden Protagonisten der untersuchten Filme eine list of traits erstellt werden, wobei das tatsächliche Handeln der Figuren vor dem Hintergrund der schematisierten Interaktions- und Emotionsstrukturen ihrer Handlungsrollen zur 311
Formulierung der trait names dient. Wendet man dieses Modell der list of traits und ihrer centers auf die Charakterkonstruktionen in den Beispielfilmen an, wird ein wesentliches prozesshaftes Gestaltungsmuster zur Visualisierung intrapersoneller Wandlungsprozesse erkennbar. Für die Charakterkonstruktionen lassen sich thematisch zentrale Beziehungen beschreiben. Das thematische center der list of traits (Branigan 1992: 19 ff.) bildet die Konfliktstruktur widersprüchlicher und widerstreitender Charakterzüge, wobei es sich nicht allein um paarweise Konstellationen von jeweils zwei Charakterzügen handelt, sondern es werden auch mehrere zentrale Charaktereigenschaften über konflikthafte Beziehungen zu einer Konstruktion zusammengefügt. Das center der list of traits ist zugleich der Punkt, um den herum sich der Prozess der intrapersonellen Wandlung dreht. Die in diesem center wirkenden Prozesse führen zu einer veränderten Ordnung der Charakterkonstruktion und am Ende stets zu einer Auflösung der Konflikte zwischen widersprüchlichen Charakterzügen. Diese Auflösung erfolgt auf verschiedene Weise – für die untersuchten Filmen können vier verschiedene dynamische Veränderungsprinzipien beschrieben werden: Erstens der Wechsel von Dominanzverhältnissen zwischen widerstreitenden Charakterzügen – sind die konflikthaft konstellierten Persönlichkeitsmerkmale zunächst noch gleichberechtigt, so gewinnt im Verlauf der Handlung ein Charakterzug die Oberhand. Dadurch löst sich der Konfliktbezug auf. Dieser Prozess zeigt sich in der list of traits von Simone, Kate, Travis und Betty. Die zweite, damit häufig kombinierte dynamische Prozesshaftigkeit verringert die Zahl der Charakterzüge. Der dominante Teil der Persönlichkeit weitet sich aus und verdrängt die dazu in Konflikt stehenden Charaktereigenschaften. In den Charakterkonstruktionen Simones, Kates, Dunbars, Blakes, Travis’ und Bettys löst sich der Konflikt auf diese Weise. Als dritte Veränderungsform lässt sich das Prinzip des prozesshaften Wandels beschreiben. Dabei kommt es weder zu einer Veränderung von Dominanzverhältnissen, noch zu einer Reduzierung der Zahl von Persönlichkeitseigenschaften, vielmehr wandelt sich eine der beiden widersprüchlichen Wesensarten grundlegend in eine andere, während die damit in Konflikt stehenden Wesensarten unverändert bleiben. Der Konflikt der antagonistischen Persönlichkeitseigenschaften ist in der gewandelten Charakterkonstruktion aufgelöst. Dieses Muster zeigen die Charakterkonstruktionen Adas und Blakes. Die vierte Form liefert eine Erweiterung der list of traits, wobei sich im Verlauf der Handlung neue wesentliche Charakterzüge in der Persönlichkeitskonstruktion abzeichnen, während alte Charaktereigenschaften fort bestehen. Die konflikthaften Konstellationen widersprüchlicher Wesensarten werden aufgelöst und es entstehen veränderte Beziehungen zwischen den ursprünglichen und den neuen Charaktereigenschaften. Dies lässt sich in der Charakterkonstruktion von Pipe, Blake und Dunbar erkennen. Die Mehrzahl der untersuchten Filme kombiniert zwei dieser Prinzipien. Es fällt auf, dass in allen Filmen, die vom Prozess des Scheiterns erzählen, die beiden ersten Veränderungsprinzipien miteinander kombiniert werden. 312
Nacheinander wirken sie in den Charakterkonstruktionen von Kate, Simone, Betty und Travis: Zunächst wird das Bezugssystem im center der list of traits durch veränderte Dominanzverhältnisse umgebildet, ehe im weiteren Ereignisverlauf das zweite Veränderungsprinzip wirkt und sich die Zahl der Charakterzüge der Protagonisten reduziert. Filme, die von einer Reifung handeln, zeigen hingegen ein heterogenes Profil in Art, Zahl und Kombination der Veränderungsprinzipien. In Das Piano und Kleine Fluchten wird nur jeweils ein Prinzip angewendet: Einige Elemente von Adas Persönlichkeit wandeln sich, und Pipes Charakterkonstruktion erweitert sich um neue Aspekte. In Der mit dem Wolf tanzt wird die Kombination gegensätzlicher Veränderungsprinzipien in der Umbildung der list of traits erkennbar. Eine zentrale Eigenschaft von Dunbars Persönlichkeit fällt aus und im Verlauf der Handlung erweitert sich der Charakter durch neue Eigenschaften. Im vierten Film einer charakterlichen Reifung, Dead Man, wird die Charakterkonstruktion des Protagonisten von drei kombinierten Veränderungsprinzipien beeinflusst: Blake verliert zentrale Persönlichkeitseigenschaften – einige wandeln sich grundlegend, zugleich erweitert sich seine Charakterstruktur durch neu entwickelte charakterliche Eigenschaften. Im Folgenden werden an verschiedenen Beispielen die vier Veränderungsprinzipien der list of traits veranschaulicht. Zunächst gilt es, die Prinzipien in den vier Erzählungen von scheiternden Protagonisten zu beschreiben. In der Charakterkonstruktion Simones wird das Prinzip wechselnder Dominanzverhältnisse besonders deutlich – seine list of traits kennzeichnen ganz widersprüchliche Charakterzüge: Simone strebt nach Erfolg, ist dabei jedoch willensschwach, undiszipliniert und träge, was aber in plötzliche Aktivität und unmoderierte Impulsivität umschlagen kann. Er verlangt nach Anerkennung, will geliebt und akzeptiert werden, handelt jedoch gegenüber anderen gewissenlos. Sein mangelndes Selbstwertgefühl trifft auf einen leicht verletzbaren Stolz. Da Simone nicht bereit ist, seine Lage realistisch zu beurteilen, Grenzen zu akzeptieren und nach Alternativen zu suchen, entwickelt er auch keine Bewältigungsstrategien. Stößt er an Grenzen, ist er schnell frustriert und reagiert aggressiv und zerstörerisch. Erfolg sucht er zu erreichen über kriminelle Handlungen. Zielstrebiges Verhalten erfordert jedoch mentales Probehandeln: das Abwägen von Handlungsweisen, Emotionen und Affekten. Simone sabotiert seine eigenen Ziele. Seine Unbeherrschtheit, Gewissenlosigkeit, das Verdrängen der Realität und sein unreflektiertes und affektives Verhalten gewinnen die Oberhand. Ähnlich verhält es sich mit Persönlichkeitskonstruktion und Veränderungen Bettys. Auch hier dominieren nach und nach verschiedene antagonistische Charakterzüge und es reduziert sich in der Folge die Zahl der Charaktereigenschaften der Figur. Betty ist sehr begeisterungsfähig, dabei willensstark, zielstrebig und ausdauernd, zugleich hegt sie sehr große Erwartungen. Dagegen stehen ihre Ungeduld und Unbeherrschtheit – stößt sie auf Grenzen, dann sucht sie keine Kompromisse oder 313
alternativen Wege, sondern reagiert mit Wut, Enttäuschung und Frustration, zerstört Gegenstände oder reagiert aggressiv auf andere. Schließlich richten sich ihre Aggressionen gegen sich selbst. Ungeduld, Unbeherrschtheit und Unfähigkeit zu Kompromissen bestimmen zunehmend ihr Handeln und verdrängen dabei nach und nach die übrigen Seiten ihrer Persönlichkeit. Bettys Willensstärke, Zielstrebigkeit, Ausdauer und Liebesfähigkeit gehen verloren. In den Umstrukturierungen des thematischen Zentrums von Kates list of traits wirken beide Veränderungsprinzipien – Dominanzwechsel und Reduzierung der Persönlichkeitsmerkmale. Kate besitzt einen starken künstlerischen Ausdruckswillen und strebt zugleich nach größtmöglicher Selbstbestimmung. Die Beziehungen zu den übrigen Bandmitgliedern sind ihr sehr wichtig. Ihr Handeln prägen politische und gesellschaftskritische Überzeugungen, geht es jedoch um Rahmenbedingungen ihrer Karriere, so lässt sie sich leicht beeinflussen. Kate wird von der Tötung eines jungen Konzertbesuchers in ihrer direkten Nähe traumatisiert – ihre Willenskraft ist von da an weitgehend gelähmt, sie lässt ihr Leben und ihre Arbeit mehr und mehr manipulieren, verliert ihre Überzeugungen und kümmert sich nicht mehr um den Zusammenhalt in der Band. Auch Kates private Beziehungen zerbrechen. Einzige Antriebskraft bleibt ihr Streben nach künstlerischem Ausdruck. Zugleich verstärkt sich ihre Willenlosigkeit und die Zahl der ins Bild gesetzten Emotionen wird stark reduziert: Sie verliert ihre Durchsetzungsfähigkeit, ihren Willen zur Selbstbestimmung und zugleich ihre moralischen Überzeugungen, die bisher ihr Handeln leiteten. Diese Situation nutzen andere, um sie zu manipulieren und fremd zu steuern. Im thematischen Zentrum von Travis’ list of traits wird die Zahl der Charakterzüge deutlich reduziert. Diese Reduzierung wird nicht von einem Dominanzwechsel wie im Falle Bettys oder Simones begleitet, sondern Travis’ konfliktträchtige Wesensmerkmale fallen abrupt aus dem Repertoire. Er sehnt sich nach dem Kontakt zu anderen Menschen und nach der Beziehung zu einer Frau. So zeigt er sich gegenüber Betsy charmant und zugewendet. Er verhält sich feindselig gegenüber Farbigen und Mitgliedern gesellschaftlicher und sozialer Randgruppen. Er strebt danach, anderen Gutes zu tun und die Welt zu verbessern, doch scheitern seine Versuche an seinem gestörten Sozialverhalten. Auf wiederholte Zurückweisungen reagiert Travis aggressiv und feindselig. Im Zentrum von Travis’ Charakterkonstruktion fehlt ein die verschiedenen Persönlichkeitsanteile moderierendes Moment. Über das jeweils thematische Zentrum der list of traits können die typologischen Veränderungsprozesse in den Charakterkonstruktionen der Protagonisten, welche charakterliche Reifungsprozesse erleben, beschrieben werden. Im Zentrum von Adas Charakterkonstruktion steht das Prinzip der Wandlung. Adas zentrale Charaktereigenschaften sind Willensstärke, Kreativität und Leidenschaft. Dazu im Widerspruch stehen Verschlossenheit und abweisendes 314
Verhalten, Selbsteinschränkungen und Unberührbarkeit. Diesen Persönlichkeitsanteil gibt sie im Verlauf der Handlung auf und verbindet ihre Willensstärke und Kreativität nach und nach mit Ausdruck und Selbstentfaltung, sie wird liebesfähiger und sehnt sich nach dem Mann ihrer Wahl. Der Wandel ihres Charakters zeigt sich in Adas Reifeprozess. An die Stelle von Unberührtheit, Introvertiertheit und Isolation tritt die Fähigkeit, Nähe und Berührungen zuzulassen, sich aktiv über ihre Bedürfnisse zu äußern und emotional am Leben teilzunehmen. Pipes Charakterrepertoire wird erweitert, die Konstellation verändert sich: Die konflikthaften Charakterzüge gehen mit hinzu kommenden Fähigkeiten und Eigenschaften neue, konfliktfreie Verbindungen ein. Sein Verhalten wird von widersprüchlichen Charakterzügen bestimmt: Sein Streben nach Gehorsam und Anpassung trifft auf eine seinen Aktionsradius stark einschränkende Ängstlichkeit. Andere Handlungen Pipes dagegen zeugen von großer Willenskraft und Impulsivität. Seiner Ängstlichkeit stehen zudem große Kreativität, Genussfähigkeit, sehr viel Neugier und ein starker Freiheitsdrang gegenüber. Anpassungswille und Gehorsam werden von Unbeherrschtheit, großer Ungeduld und stets drohendem Kontrollverlust unterminiert. Im Verlauf der Handlung werden in Pipes Charakter neue Aspekte erkennbar, welche die antagonistischen Persönlichkeitsanteile moderieren. Pipe entwickelt Ausdauer und Durchhaltevermögen. In seinem Streben nach Freiheit stößt er in Folge seines Überschwangs, seiner Uneinsichtigkeit und Unbeherrschtheit wiederholt an Grenzen. Durch diese neuen Erfahrungen gewinnt er die Fähigkeit zu Einsicht und Kompromissfindung. Seine Erkenntnisfähigkeit ermöglicht ihm im Konfliktfall die Entwicklung tragfähiger Bewältigungsstrategien. Die widersprüchlichen Beziehungen innerhalb seines Charakters lösen sich auf, neue Verknüpfungen entstehen. Aus den verschiedenen Konflikten geht Pipe als gereifte Persönlichkeit hervor. In Dunbars Charakterkonstruktion sorgen zwei gegensätzliche Veränderungsprinzipien für eine Umstrukturierung der list of traits: Die Zahl der inszenierten Charakterzüge Dunbars wird reduziert, zugleich erweitern und entfalten sich neue Teile seines Repertoires. In diesem Prozess bedingt eine Veränderung die nächste. Dunbars Charakter kennzeichnen Willens- und Entscheidungsstärke, Impulsivität und Tatkraft. Seine impulsiven Handlungen sind ziemlich ziellos und selbstzerstörerisch. Im Lauf der Ereignisse lernt er, seine Impulsivität zu moderieren und in neuen Lebenszielen Orientierungspunkte für seine Willens- und Tatkraft zu finden. Nach und nach verschwinden Ziellosigkeit und selbstzerstörerische Impulse aus seinem Wesen. In den auf seine zentralen Lebensziele gerichteten Handlungen zeigt er neue Fähigkeiten und Eigenschaften: Er wird liebesfähig, einsichtsfähig und handelt überlegt. In der Charakterkonstruktion William Blakes werden drei Veränderungsprinzipien wirksam: Im Verlauf der Handlung fallen verschiedene Charakterzüge und Eigenschaften weg, während sich neue entfalten. Weitere Aspekte von Blakes Per315
sönlichkeit wandeln sich, manche bleiben unverändert. Am Ende steht eine neue Gesamtkonstruktion von Blakes Persönlichkeit: Ursprünglich konflikthaft konstellierte Persönlichkeitsanteile fallen aus, werden verändert oder gehen mit neuen Charakterzügen harmonische Konstellationen ein. Nach und nach verliert er seine Schreckhaftigkeit und Ängstlichkeit; seine Neigung, Konflikten und Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, weicht einer aktiven Konfliktfähigkeit und der Bereitschaft, sich mit anderen Menschen auseinander zu setzen. Dabei bleibt ihm aber seine ruhige und zurückhaltende Art erhalten, seine Distanziertheit löst sich auf und er wird zu zwischenmenschlicher Nähe und Freundschaft fähig. Auch entwickelt Blake Erkenntnisfähigkeit. Am Ende sind die Elemente von Blakes Wesensart und Charakter harmonisch konstelliert. In den filmischen Geschichten charakterlicher Reifungsprozesse ist Lebensbewältigung das zentrale Thema in den Prozessen der lists of traits. Die Charaktere lernen im Verlauf der Handlung, ihren Zielen und Bedürfnissen gemäß zu handeln. Die Figuren werden einsichtsfähig, lernen mit Grenzen umzugehen, sie zu akzeptieren oder nach alternativen Zielen zu streben. So erweitern und verwandeln sich ihre Charakterkonstruktionen wesentlich. Dies gilt vor allem für Pipe und Blake, während Ada und Dunbar vornehmlich die Freisetzung charakterlicher Potenziale und von vormals an selbstzerstörerisches Verhalten gebundener Aspekte gelingt: Sie finden eigene Wege, erreichen zentrale Ziele und erfüllen sich ihre sehnlichsten Wünsche. Der Lebensweg besteht aus einem Wechsel von Gelingen und Scheitern. In Bewegung zu bleiben, Frustrationen zu ertragen, Grenzen zu erkennen, Alternativen zu finden und die Akzeptanz von Abschieden und Verlusten ermöglichen es dem Menschen, charakterlich zu reifen. In den Filmen des Scheiterns reduzieren sich die Facetten der Charakterkonstruktion. Die dabei entstehenden Leerstellen werden nicht von neuen Fähigkeiten oder Charakterzügen gefüllt. In den hier untersuchten Filmen fehlt den scheiternden Figuren stets eine zentrale Fähigkeit zur Lebensbewältigung: Keiner gelingt es, innere wie äußere Grenzen zu akzeptieren und damit umzugehen. Besonders deutlich inszeniert wird dies im Falle Simones, Bettys und Travis’. Sie sind nicht zur Suche nach Kompromissen oder Alternativen in der Lage. Frustrationen führen unmittelbar zu affektiven Handlungen. Keine von ihnen erlernt den Zyklus von Versuch, Scheitern, Suche nach Alternativen und erneutem Versuch. Dieser Mangel besiegelt ihr Scheitern.
316
Teil III Diskussion: Analyseergebnisse und Arbeitshypothese
Die Untersuchungsergebnisse werden jeweils in der Perspektive der drei Ausgangsthesen gelesen, diskutiert und zusammengefasst. Als Ziel dieser Ergebnisdiskussion steht die Entwicklung einer eigenen Typologie besonders signifikanter ästhetischer Gestaltungsweisen bei der filmischen Visualisierung von intrapersonellen Wandlungsprozessen. Für die erste Ausgangsthese wird für die Gruppe aller möglichen Gestaltungsmuster zur visuellen Präsentation charakterlicher Wandlung angenommen, dass sie sich auf einer Achse zwischen zwei idealtypischen Inszenierungsweisen jeweils definierbaren Bezugspunkten zuordnen lassen:
Abbildung 7: Idealtypische Inszenierung charakterlicher Wandlung Einen Pol dieser beiden gegensätzlichen Visualisierungsweisen definieren die Gestaltungsmittel, die sich auf die rein visuell-körperhafte Präsentation der Figur durch einen Schauspieler bzw. eine Schauspielerin beziehen. Dazu zählen die schauspielerische Darstellungsarbeit (Verhaltensweisen, Körpersprache, Mimik, Sprechweise u. A. m.) sowie die Gestaltung der visuellen Erscheinung (Physiognomie, Kostüm, Maske). Dem entgegengesetzten Pol sind alle filmischen Gestaltungsmuster zugeordnet, die nicht durch die visuelle Erscheinung der Figur etabliert werden (Raumgestaltung, Gegenstände, Rollen- und Handlungsinszenierung, Kamerablick und Wissensgabe, formal-visuelle Strukturen, kausale und zeitliche Konstruktion, narrative Ordnungsund Konstruktionsprinzipien). Die gewonnenen Analysedaten werden zur Beantwortung der ersten Arbeitshypothese in Gruppen zusammengefasst und bestimmten Positionen auf der Achse 317
A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3,_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
zugeordnet. So ergibt sich ein Interpretationsprofil der herausgearbeiteten Gestaltungsmuster gemäß ihrer Zuordnung zu verschiedenen Achsensegmenten. Mittels der zweiten Arbeitshypothese wird angenommen, dass sich ein charakterlicher Wandlungsprozess in mehreren Phasen entwickelt – die Arbeitshypothese geht davon aus, dass ein zentrales Phänomen der verwendeten Gestaltungsmuster ihre strukturelle Prozesshaftigkeit ist. So werden die von deutlicher Prozesshaftigkeit gekennzeichneten Gestaltungsmuster beschreibbar. Zugleich zeichnet sich dabei ab, welche zur Visualisierung der charakterlichen Wandlung relevanten filmischen Mittel nicht von prozesshaften Strukturen und Verwendungsweisen gekennzeichnet sind. Das Maß der Prozesshaftigkeit und die Häufigkeit eines Gestaltungsmusters bilden die Orientierung bei der Aufstellung der Typologie filmischer Visualisierungsmuster zur Darstellung intrapersoneller Wandlung. Ausgehend von der dritten Arbeitshypothese wird das Ergebnisprofil einer abschließenden Lesung unterzogen. Dabei wird nach den Unterschieden zwischen den Visualisierungsmustern gefragt, die in Erzählungen einer charakterlichen Reifung oder des Scheiterns der Hauptfigur eingesetzt werden. In dieser Perspektive lassen sich aus den Analyseergebnissen drei Interpretationsprofile herausarbeiten: Erstens wird erkennbar, wie groß die jeweilige Anzahl der Gestaltungsweisen für charakterliche Wandlungsprozesse ist, welche sich in den beiden verschiedenen Filmgruppen wiederfinden. Zudem lässt sich zeigen, welches Maß an deutlich prozesshaften Visualisierungsmustern in den thematisch unterschiedlich ausgerichteten Beispielfilmen jeweils feststellbar ist. Als drittes Teilergebnis werden die Gruppen von Gestaltungsmustern beschreibbar, die jeweils typologisch für die Visualisierung einer der beiden unterschiedlichen charakterlichen Veränderung sind.
9. Visualisierungsmuster charakterlicher Wandlung - zwischen zwei idealtypischen Inszenierungsweisen Eine erste Zusammenfassung und Interpretation der Analyseergebnisse erfolgt durch ihre Positionierung auf der Achse zwischen den beiden oben beschriebenen Polen. So wird erkennbar, welche Anteile der Visualisierung des Wandlungsprozesses direkt durch die Gestaltung der körperlichen Erscheinung der Figur inszeniert, und welche visuellen Bausteine des charakterlichen Entwicklungsprozesses durch Gestaltungsstrukturen in der filmischen Narration aufgebaut werden. Die Visualisierung intrapersoneller Wandlung etabliert sich sowohl durch den Einsatz filmischer Mittel, die eine große Nähe zu den beiden idealtypischen Inszenierungsweisen kennzeichnet, als auch durch Verwendung von Gestaltungsmustern, die aus Mischformen der beiden Idealtypen einer Inszenierung bestehen. 318
319
Abbildung 8: Filmische Gestaltungsmuster zur Visualisierung charakterlicher Wandlung
Die Zuordnung der Analyseergebnisse zur angenommenen Achse ergibt eine Unterteilung in insgesamt sechs Segmente. Die Gruppierungen der Visualisierungsmuster in der Abfolge dieser sechs Segmente kennzeichnet eine abnehmende Graduierung in Bezug auf die Sichtbarkeit der Gestaltungsprinzipien im Filmbild. Die Gestaltungsweisen der Körperlichkeit der Figur und die Präsentation von Gegenständen und Räumen im Filmbild bestimmt eine einfache, unmittelbare Sichtbarkeit für den Zuschauer. Diese beiden Gruppen von Visualisierungsmustern befinden sich nahe des einen Pols. Verändert sich etwas an der visuellen Erscheinung dieser Elemente im Filmverlauf, so sind diese Veränderungsstufen unmittelbar sichtbar, da sie im Filmbild präsent sind. In größerer Nähe zum entgegengesetzten Pol bilden sich drei Gruppen visueller Gestaltungsmittel mit nur mittelbarer, indirekter Sichtbarkeit heraus. Dies sind Gestaltungsmuster des discourse (Chatman 1978 [1993], Branigan 1992:86), filmische Mittel der Zeitdarstellung und formale Ordnungsprinzipien für erzählerische Informationen sowie Gestaltungsmuster der narrativen Konstruktion. Die Strukturen erzählerischer Vermittlung einer Geschichte sind nicht direkt und unvermittelt sichtbar, da ihnen die körperliche dreidimensionale Präsenz im Filmbild fehlt. Vielmehr bestimmen diese Gestaltungsmittel das filmische Bild in seinen präsentativen Parametern und seiner Sichtbarkeit für den Zuschauer. Auch sind die Konstruktionsprinzipien des erzählerischen Inhalts nicht direkt im Filmbild sichtbar, durchaus aber am Prozess der Sichtbarwerdung der Geschichte beteiligt. Die wirksame Gesamtheit gestalterischer Strukturen intrapersoneller Wandlung, im dritten Segment auf der Achse positioniert, weist eine teilweise direkte, zu Teilen aber auch nur indirekte implizite Sichtbarkeit innerhalb des Filmbilds auf. Die szenischen Handlungen und Interaktionen der Figur sind zwar direkt im Bild sichtbar, implizieren jedoch zahlreiche erzählerische Informationen über eine Handlungsrolle, über emotionales Erleben der Figur und über deren Charakterkonstruktion, die in der story (Chatman 1978 [1993], Bordwell 1977) gelagert bzw. als schematisiertes Zusammenhangswissen im Verstehensprozess des Zuschauers zu sichtbaren Elementen ergänzt werden. Innerhalb der Visualisierungsstrukturen von Handlung und Rolle der Figur aufgebaute prozesshafte Gestaltungsmuster zur Präsentation von intrapersoneller Wandlung kennzeichnet demnach in Relation zu den beiden idealtypischen Inszenierungsweisen ein mittlerer Grad von Sichtbarkeit.
9.1 Figur und Figureninszenierung In den ersten drei Achsensegmenten sind Gestaltungsweisen und Inszenierungsmuster gruppiert, die sich mehr oder weniger direkt auf die visuelle Präsentation der Figur über die schauspielerische Arbeit und Körperlichkeit beziehen. Das erste dieser Segmente umfasst alle Gestaltungsweisen, die direkt in der äußeren, körperli320
chen Erscheinung der Figur sichtbar werden (Physiognomie, Körpersprache, Mimik, Kostüm, Maske) und deren Veränderungsprozesse in einem Bezug zum Geschehen der intrapersonellen Wandlung stehen. Im zweiten Achsensegment, sind die Gestaltungsmuster von Gegenständen und Räumen positioniert, für die ein direkter Bezug zu den Handlungen der Figur besteht. Die Gegenstände sind in der unmittelbaren Umgebung der Figur sichtbar und sind zudem in ihre szenischen Interaktionen integriert. Über die Bewegung der Figur von einem sichtbaren Schauplatz zum anderen entsteht innerhalb eines Films ein zusammenhängendes Raumsystem. Die szenischen Gegenstände in der Ausstattung und das Raumsystem weisen Gestaltungsmuster auf, die zur Darstellung der intrapersonellen Wandlung beitragen. Im dritten Achsensegment werden Visualisierungsmuster zusammengefasst, die in der filmischen Rolleninszenierung der Figur gründen. Ebenso sind diesem Segment Gestaltungsmuster in szenischen Handlungen und Interaktionen der Figur zugeordnet, die Hinweise auf ihr emotionales Erleben liefern. Diese Inszenierungselemente präsentieren Aspekte der Veränderung innerhalb der Charakterkonstruktion. Dieses dritte Segment von Visualisierungsmustern intrapersoneller Wandlung befindet sich auf der Mitte der Achse zwischen den beiden Polen idealtypischer Inszenierungsweisen. Die darin zusammengefassten Gestaltungsmuster von Handlungsrollen, Interaktions- und Emotionsstrukturen bzw. Charakterkonstruktionen bestehen aus einer Kombination ästhetischer Visualisierungsmuster der beiden idealtypischen Inszenierungsweisen. Dabei werden einige Elemente von Rolle, Interaktions- und Emotionsstrukturen direkt durch die körperliche Erscheinung und die im plot sichtbaren Ausdrucks- und Handlungsweisen der Figur inszeniert. Andere Aspekte einer Rollenkonstruktion vermitteln sich hingegen durch filmästhetische Wirkungsphänomene und den Zusammenhang von story und plot: So verknüpft und ergänzt der Zuschauer die im plot unmittelbar sichtbaren Informationen über Rollen und Handlungsrahmen der Figur mit seinem schematisierten Wissen über lebensweltliche und genrespezifische Rollenschemata. Bestimmte visuelle Elemente der Rolleninszenierung der Figur liefern dem Zuschauer Hinweise, auf deren Basis er Hypothesen über die inneren Handlungsmotivationen, Emotionsstrukturen und die Charakterkonstruktion der Figur bildet. Innerhalb der story-Konstruktion, welche der Zuschauer während der Filmrezeption aufbaut, bilden sich erzählerische Informationen über Wirkungszyklen zwischen den Emotions- und Motivationsstrukturen und über grundlegende emotional-charakterliche Konfliktmuster und Veränderungsprozesse der Figur. Diese inhaltlichen Aspekte sind nur mittelbar und implizit in den sichtbaren Elementen des Filmbilds vorhanden. Ebenso werden diejenigen Gestaltungsmuster dem dritten Segment zugeordnet, die nach dem PKS-Modell definiert sind und Anteil an der Visualisierung der intraper321
sonellen Wandlung haben. Mittels der im PKS-Modell definierten filmischen Gestaltungsmuster lassen sich bestimmte visuelle Elemente der Handlungen einer Figur verschiedenen Strukturebenen zuordnen, jeweils gemäß ihrer unterschiedlichen Wirkungen auf die Wahrnehmungsleistungen des Zuschauers: Während eines Filmverlaufs bauen sich verschiedene Bezüge zwischen den Handlungsereignissen und Informationen auf den verschiedenen Ebenen auf. Diese Zusammenhangssysteme lassen sich als prozesshafte Gestaltungsmuster bezeichnen, deren präsentative Wirkung Anteil an der visuellen Schilderung der intrapersonellen Wandlung hat. Diese Gestaltungsmuster bestehen aus einem Geflecht sichtbarer Anteile im Filmbild sowie filmästhetischer Wirkungsphänomene, die nur sehr mittelbar im Filmbild sichtbar sind.
9.1.1 Prozesshafte Veränderung in der körperlichen Erscheinung der Figur In allen Beispielfilmen weist die Gestaltung von Körpersprache und Mimik Veränderungsmuster auf, welche einen Beitrag zur Visualisierung der intrapersonellen Wandlung der Hauptfiguren leisten. Während eines Filmverlaufs kommt es zu deutlichen Veränderungen in der Art der Körpersprache der Figuren. Die körpersprachliche Ausdrucksarbeit der Darstellerin oder des Darstellers weist dabei verschiedene Entwicklungsmuster auf. Eine Dynamik zeigt sich im Verlauf der Ereignisse und Handlungen durch die stete Erweiterung des körpersprachlichen Repertoires der Hauptfigur (Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten). Eine andere Form der Prozesshaftigkeit wird durch beinahe abruptes Verschwinden von bestimmten Bewegungs- und Haltungsmustern gestaltet, die zunächst als charakteristische Eigenarten der Figur visualisiert werden (Taxi Driver, Breaking Glass). Die Dynamik einer sukzessiven Veränderung der körpersprachlichen Ausdrucksweise wird auch eingesetzt zur Visualisierung von Wandlung. Dabei werden im Ausdrucksrepertoire der Figur Muster des Gebarens überformt, aufgegeben und durch neuartige körpersprachliche Elemente ersetzt (Dead Man, Breaking Glass, Das Piano, Rocco und seine Brüder). Im Mienenspiel der Darstellerinnen und Darsteller lassen sich in allen acht Erzählungen gestalterische Veränderungsmuster feststellen, die zur Visualisierung des charakterlichen Wandlungsprozesses beitragen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ausdrucksarbeit der Mimik immer im direkten Bezug zu den übrigen körpersprachlichen Elementen steht und eine Kombination beider Faktoren am Gesamteindruck der körperhaften Erscheinung beteiligt ist. Dennoch wird bei der Analyse dieser Gestaltungsfaktoren die Mimik als gesondertes Visualisierungsmittel betrachtet, auch weil in allen Filmen – jeweils unterschiedlich häufig – in Großaufnahmen die Mimik der Darsteller gezeigt wird, während ihr Körper in solchen Momenten nicht sichtbar ist. In diesen szenischen Situationen erhält das Mienenspiel der Figur als visuelles 322
Darstellungsmuster intrapersoneller Veränderung einen höheren Stellenwert im Vergleich zu ihrem gesamten körpersprachlichen Gebaren (Breaking Glass, Betty Blue, Rocco und seine Brüder, Taxi Driver, Dead Man, Das Piano). Bei der Gestaltung des mimischen Ausdrucks sind dabei zwei verschiedene prozesshafte Prinzipien wirksam. Zum einen verändert sich die Art und Weise der Ausdrucksarbeit im Filmverlauf in Bezug auf die Intensität ihrer Ausprägung. Zum anderen wandelt sich das Profil des Repertoires mimisch dargestellter Gefühlsarten in Anzahl und Mannigfaltigkeit (Das Piano, Rocco und seine Brüder, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten). Beide Veränderungsprinzipien kommen in Breaking Glass, Betty Blue, Dead Man und Taxi Driver zum Einsatz. In zwei weiteren Gestaltungsmitteln, Kostüm und Maske, die direkt die körperliche Erscheinung der Figur im Filmbild manifestieren, sind in allen Beispielfilmen Veränderungsmuster etabliert, welche die intrapersonelle Wandlung visualisieren. Dabei sind in fünf der filmischen Erzählungen sehr ausgeprägte prozesshafte Visualisierungsmuster der Gestaltung von Kostüm und Maske festzustellen (Breaking Glass, Taxi Driver, Rocco und seine Brüder, Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man). In den übrigen drei der analysierten Filme können zwar ebenso Veränderungsmuster innerhalb dieser Visualisierungselemente beschrieben werden, deren Deutlichkeit und Häufigkeit ist jedoch wesentlich geringer (Das Piano, Kleine Fluchten, Betty Blue). Die gestalterische Prozesshaftigkeit von Kostüm und Maske weist in den verschiedenen Filmen zwei unterschiedlich komplexe Strukturprofile auf. Diese visuellen Gestaltungselemente erfahren dabei über den Erzählverlauf verteilt entweder eine lineare, schrittweise Veränderung, oder es wird mit Hilfe dieser Bausteine des Filmbilds eine komplexe, sich dynamisch verändernde visuelle Argumentation aufgebaut. Dabei kommt es in der Gestaltung von Kostüm und Maske zu mehreren Dekonstruktions- und teilweisen Rekonstruktionszyklen des zu Beginn einer Erzählung etablierten Grundkostüms der Figur (Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man). Im Verlauf dieser Zyklen etablieren sich wiederum bleibende Veränderungsmomente. Umformungen der visuellen Gestaltung von Kostüm und Maske stehen dabei sowohl in Bezug zu momentgebundenen emotionalen Stimmungslagen der Figur, wie auch zu Schritten in der voranschreitenden charakterlichen Veränderung. Mit Blick auf die Ausgestaltung von Körpersprache, Mimik, Kostüm und Maske der Figur können noch weitere Visualisierungsmuster beschrieben werden, die an der Repräsentation der charakterlichen Wandlung beteiligt sind. Diese Darstellungsweisen sind im Verhältnis zwischen der direkten körperlichen Erscheinung der Figur und der Körperlichkeit anderer Figuren innerhalb eines Films aufgebaut. Am deutlichsten und häufigsten zeigen sich solche Bezüge zwischen den visuellen Ausgestaltungen der Kostüme der verschiedenen Figuren. Etwas seltener, aber dennoch prägnant häufig können Bezüge zwischen der Gestaltung von Physiognomie und Körpersprache der verschiedenen Figuren beschrieben werden, deren Zusammen323
hänge schrittweise Veränderungsstrukturen aufweisen und so zur Visualisierung der intrapersonellen Wandlung beitragen. In sechs der Beispielfilme zeigt sich ein komplexes visuelles Bezugssystem zwischen den Ausformungen von Kostüm und Maske der Hauptfigur und anderer Figuren (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Kleine Fluchten, Rocco und seine Brüder, Breaking Glass). Hier lassen sich die Bezugsarten Kontrast und Analogie beschreiben, in deren beider Systeme sich schrittweise Veränderungsdynamiken etablieren. Durch visuelle Referenzen im äußeren Erscheinungsbild der verschiedenen Figuren und durch die Umformungen dieser Verhältnisse werden Aspekte des intrapersonellen Wandlungsprozesses der Hauptfigur visualisiert. Auch können für drei der Filme Visualisierungsmuster der intrapersonellen Wandlung beschrieben werden, die durch Bezüge zwischen Physiognomie und Körpersprache verschiedener Figuren aufgebaut werden (Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Rocco und seine Brüder). Hier kommt es ebenfalls zur Installation visueller Ähnlichkeiten oder Kontrastbezüge, die teilweise eine prozesshafte Veränderungsdynamik kennzeichnet.
9.1.2 Dynamik der Bezüge zwischen Gestaltungsstrukturen im filmischen Bild (Raum, Gegenstand, Figur) In den Bezugsystemen zwischen den im Filmbild sichtbaren Elementen – Raum, Objekt und Figur – werden visuelle Hinweise auf den intrapersonellen Wandlungsprozess repräsentiert. Die Bewegungen der Figur in den räumlichen Gegebenheiten der Geschichte verbinden die verschiedenen Schauplätze zu einem Zusammenhangssystem. Dabei entstehen innerhalb der acht Beispielfilme bestimmte Konfigurationsweisen zwischen Orten und Figurenbewegung. Eines von zwei zentralen Grundmustern bildet dabei die Verknüpfung des filmischen Raums zu einer linearen Reihung (Dead Man, Betty Blue, Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano). Dabei bewegt sich die Figur in steter Progression von einem Schauplatz zum nächsten. In zwei der Erzählungen (Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano) kommt es im Verlauf dieser linearen Fortbewegung zu Phasen von Vor- und Rückbewegungen zwischen einzelnen Schauplätzen. Das zweite Grundmuster räumlicher Verkettung durch Bewegungen der Figur besteht in einem zentralen Handlungsort, den die Figur immer wieder in Richtung anderer Schauplätze verlässt und zu dem sie stets zurückkehrt (Kleine Fluchten, Taxi Driver). Daraus resultiert eine sternförmige Anordnung der Schauplätze um einen zentralen Ausgangspunkt. Das zweite zentrale Gestaltungsmuster wird vom Prinzip der Steigerung bestimmt: Die im Verlauf der Erzählung von der Figur betretenen Räume kennzeichnet dabei eine Steigerung ihrer Dimensionierung. Zwei Arten solcher Steigerungen können anhand der Beispielfilme beschrieben werden: Zum einen 324
nimmt die Größe der Räume stetig zu (Betty Blue, Rocco und seine Brüder), zum anderen zeigt sich eine Steigerung der topographischen Höhe der Handlungsorte (Kleine Fluchten). Diese Bezugssysteme zwischen Figurenbewegung und Raumsystem weisen in ihren Profilen prozesshafte Veränderungen auf und stehen dabei in einem spezifischen Kontext zur charakterlichen Veränderung der Hauptfigur. Ein weiteres Bezugssystem zwischen Figur und Raum entsteht durch die Form, in der die Ausgestaltung eines Schauplatzes mit den Handlungen und Interaktionen der Figur korreliert. Nach Chatmans Definitionen der Bezugsarten zwischen Szenenbild und Handlungen einer Figur zeigen die Analysedaten eine deutliche Relevanz der Schauplätze: Zwei Bezugsarten zwischen Raum und Figur – die symbolische Funktion eines Schauplatzes (symbolic function) und die Darstellung der inneren Vorstellungswelt der Figur im Zeigen der räumlichen Szenerie (countries of mind/emotional state) – visualisieren in den Beispielfilmen wesentliche Aspekte der intrapersonellen Veränderungen. Sechs Filme zeigen eine signifikante Häufung im Einsatz der symbolischen Funktion (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Breaking Glass, Dead Man, Rocco und seine Brüder). Dabei kommt es in vier Filmen (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Breaking Glass) durch die Verknüpfung von Szenenbild und Handlungsgeschehen zu einer bedeutungsschaffenden Zeigefunktion im Hinblick auf prozesshafte Ereignisse im Verlauf der charakterlichen Wandlung. In zwei Filmen (Dead Man, Rocco und seine Brüder) wird die symbolische Funktion der Schauplätze weniger zur Visualisierung prozesshafter Schritte der intrapersonellen Wandlung eingesetzt, als zur Vorankündigung oder Darstellung der Folgen wesentlicher charakterlicher Veränderungsvorgänge. Die zweite Bezugsart zwischen Szenerie und Handlung, die das innere Erleben der Figur durch das Zeigen von räumlichen Szenerien visualisiert, wird nur in zwei Filmen vermehrt zur Darstellung dynamischer Momente des Wandlungsgeschehens verwendet (Kleine Fluchten, Das Piano). In nur einem Film (Betty Blue) kommt es zum Einsatz der scheinbaren Beliebigkeit bzw. der ironischen Kommentierung von Handlungsereignissen durch Art und Ausgestaltung der szenischen Schauplätze. In mehr als der Hälfte der untersuchten Filme werden Aspekte der charakterlichen Wandlung der Hauptfigur durch die visuelle Einbettung von dreidimensionalen Objekten im Szenenbild visualisiert (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Breaking Glass, Der mit dem Wolf tanzt). Dabei kommt es in zwei Filmen zu einer sehr deutlichen Anbindung dieser Gegenstände an Verhaltensweisen und interpersonelle Handlungen der Figur (Das Piano, Kleine Fluchten). Die Gegenstände spielen sozusagen eine zentrale „Rolle“ in den Situationen, in welche die Figur involviert ist. Im Verlauf dieser Situationen wird eine sukzessive Veränderung der Behandlungsart des Objekts durch die Figur inszeniert. Mit Hilfe dieser prozesshaften Dynamiken werden Aspekte des intrapersonellen Wandlungsprozesses dargestellt. In den üb325
rigen drei Filmen dienen gleichfalls visuelle Veränderungen von Gegenständen im Handlungsraum der Figur der Visualisierung von Aspekten charakterlicher Wandlung (Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Breaking Glass). Die meisten Gegenstände, die einer dynamischen Veränderung unterliegen, gehören zum sichtbaren, unmittelbaren Handlungsumfeld der Figur, doch sind sie nur teilweise direkt in Handlungen der Hauptfigur eingebunden. In zwei der untersuchten Filme finden sich prozesshafte Veränderungen in der Ausgestaltung von szenischen Objekten nur auf äußerst subtile Weise (Taxi Driver, Rocco und seine Brüder). In diesen Fällen erfährt eine begrenzte Zahl von Objekten, die sich zwar in der räumlichen Umgebung der Figur befinden, dabei aber nicht direkt in Handlungen oder Handlungszyklen eingebunden sind, eine gestalterische Veränderung im Szenenbild.
9.1.3 Prozesshafte Inszenierung szenischen Verhaltens und interpersoneller Handlungen Dem dritten Achsensegment werden diejenigen Gestaltungsmuster zugeordnet, die durch Inszenierung von Verhaltensweisen sowie durch Handlungs- und Rolleninszenierungen der Figur Informationen über ihren charakterlichen Wandlungsprozess vermitteln. Die filmische Präsentation dieser Informationen besteht aus einer Kombination von Elementen der beiden idealtypischen Visualisierungsmöglichkeiten. Verhalten und Interaktionen der Figur sind direkt sichtbar im Filmbild inszeniert. Diese Gestaltungsmuster liefern komplexe erzählerische Informationen über Veränderungen im Erleben, Wesen und Charakter einer Figur und können nur beschrieben werden, indem die „unsichtbaren“ Auswirkungen sichtbarer Informationselemente im Verstehensprozess des Zuschauers als implizite gestalterische Merkmale anhand des sichtbaren Materials definiert werden. Prozesshafte Phänomene manifestieren sich an der Verbindung zwischen einem sichtbaren Element im Filmbild und der Verarbeitungsweise einer solchen Information in der Wahrnehmung des Zuschauers. Bereits während der Wahrnehmung sichtbarer Veränderungsprozesse in der Gestaltung von Mimik, Kostüm, Maske, Szenerie und Gegenständen werden Verstehensleistungen beim Zuschauer ausgelöst, die Voraussetzung dafür sind, dass die gestalteten Veränderungsstufen als solche auch wahrgenommen und verstanden werden. Der Zuschauer erinnert etwa die verschiedenen Erscheinungsweisen der äußeren Gestalt einer Figur, die zu verschiedenen Zeitmomenten während eines Filmverlaufs zu sehen sind. Im ständigen Abgleich der Gedächtnisinhalte dieser direkt sichtbaren Gestaltungselemente erkennt er den Veränderungsprozess. Dank einer ähnlichen Erinnerungsleistung bildet der Zuschauer für den Nachvollzug räumlicher Zusammenhänge einer Geschichte auf der Basis 326
der sichtbaren Blicke in die verschiedenen Räume ein virtuelles Raumsystem. Dabei ergänzt er die sichtbaren Teilperspektiven einer filmischen Erzählung zu einer dreidimensionalen, kausalen Zusammenhangsstruktur. Für das Verstehen von Handlungen, Verhaltensweisen, Rolleninszenierung und emotionalem Erleben einer Figur sind wesentlich komplexere Bewusstseinsleistungen erforderlich, die mittels ebenso komplexer Gestaltungsmuster im Filmbild hervorgerufen und gesteuert werden. Im PKS-Modell werden visuelle Gestaltungsmuster, welche die Handlungen der Figur im Filmbild manifestieren, nach der Art der initiierten Lernleistung im Wahrnehmungsprozess des Zuschauers unterschieden (Wuss 1993: 62 ff.). Die Handlungstheorie von Mikos unterscheidet die sichtbaren Elemente einer Figureninszenierung nach der Art des Wissen des Zuschauers, das er zum Verständnis der verschiedenen Elemente des Figurenverhaltens aus vorhandenen Gedächtnisinhalten abrufen muss (Mikos 2003: 155 ff.). Durch diese Bezüge, die der Betrachter auf Basis verschiedener visueller Elemente im Filmbild zu Wissenssegmenten außerhalb der Leinwand aufbaut, entstehen erzählerische Informationen über die prozesshaften intrapersonellen Ereignisse während der charakterlichen Veränderung. Aufgrund dieser Entwicklung figurenbezogener Informationen aus der Verbindung von filmisch-visuellen Elementen der Figureninszenierung mit dem Vorwissen des Zuschauers über die menschliche Lebenswelt und über film- und genrebedingte Informationseinheiten kann von einer nur indirekten Sichtbarkeit dieser erzählerischen Inhalte auf der Leinwand gesprochen werden. Topikreihen und Kausalketten – Verschiebung von Handlungselementen Die Untersuchungsergebnisse der figurenbezogenen Handlungselemente und deren Verteilung auf die drei verschiedenen filmischen Strukturebenen gemäß dem PKSModell weisen folgendes Profil auf: In allen Filmen sind die Handlungsweisen der Figur, welche die deutlichsten Hinweise auf den Prozess charakterlicher Wandlung geben, auf der perzeptionsgeleiteten Ebene gelagert. Diese Handlungselemente werden als wenig auffällige Verhaltensweisen und Gesten inszeniert, die vermehrt nebenbei geschehen und nur in einem indirekten kausalen Zusammenhang zur Haupthandlung stehen. Diese Verhaltensweisen fügen sich zu Topikreihen (Wuss, 1993: 119) zusammen, die in der Gesamtschau den charakterlichen Veränderungsprozess abbilden. Betrachtet man das Gesamtprofil der Handlungselemente, wie es sich im Filmverlauf in Verteilung auf die drei Strukturebenen gestaltet, so zeigt sich in sieben Filmen die selbe prozesshafte Veränderungsdynamik. Zwischen opening und ending der Erzählungen kommt es dabei zu einer sukzessiven Verschiebung dieser wandlungsrelevanten Figurenhandlungen von der perzeptions- zur konzeptgeleiteten Ebene. Der Zuschauer versteht die Impulse und 327
Aspekte des Figurenverhaltens, die das charakterliche Wandlungsgeschehen andeuten, zunächst durch Wahrnehmungslernen: In den Verhaltensweisen geschieht Neues, Unerwartetes, das sich noch nicht zu den bereits erhaltenen Informationen hinzufügen lässt. Erst im Bezug zwischen diesen neuen und unerwarteten Handlungsmomenten im Verhalten der Figur entstehen eine neue Bedeutung und ein neuer Sinn. Ist der intrapersonelle Wandel vollzogen, manifestieren sich die gewandelten Wesensarten und Handlungsweisen der Figur als direkt kausal nachvollziehbare Handlungszusammenhänge auf der konzeptgeleiteten Ebene. Topikreihen und Stereotype - Kontraste und Analogien zwischen Handlungselementen Ein zweites prozesshaftes Gestaltungsmuster kann für alle Filme herausgearbeitet werden. Es besteht im Aufbau einer bestimmten Bezugsweise zwischen den figurenbezogenen Handlungselementen auf perzeptions- und stereotypgeleiteter Ebene, die sich im späteren Filmverlauf verändert. In sechs Filmen (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Betty Blue, Rocco und seine Brüder) besteht zwischen den beiden Ebenen ein Kontrastbezug. Dieser Gegensatz zwischen den Handlungselementen auf beiden Ebenen verändert sich im Filmverlauf auf zwei verschiedene Weisen. Dabei kommt es zu einer sukzessiven Verminderung oder plötzlichen Aufhebung des Kontrasts. Innerhalb dieser prozesshaften Veränderung des Kontrastbezugs wird der intrapersonelle Wandel der Figur abgebildet. In den beiden weiteren untersuchten Filmen ist ebenfalls ein Bezug zwischen der perzeptions- und der stereotypgeleiteten Ebene aufgebaut. Hier wird jedoch eine andere Bezugsart repräsentiert: Zwischen den Handlungselementen auf den beiden Ebenen entsteht eine deutliche Analogie (Taxi Driver) bzw. ein thematisches Zusammenwirken (Breaking Glass). Sozial und genrebedingte Rolleninszenierung – Analogien und Kontraste Die Figuren werden in den Beispielfilmen mittels einer mehr oder weniger großen Zahl unterschiedlicher Handlungsrollen inszeniert. Es fällt dabei auf, dass in vier Filmen alle Handlungsrollen der Hauptfigur sozial typisiert sind (Das Piano, Kleine Fluchten, Taxi Driver, Rocco und seine Brüder), während in den übrigen jeweils eine der Handlungsrollen der Figur genrebedingt typisiert inszeniert wird (Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Betty Blue, Breaking Glass). Diese, einem bestimmten Filmgenre entlehnte Rolle wird dabei wiederum mit deutlichem Kontrastbezug zu den sozial typisierten Rollen der Figur inszeniert. Im Verlauf der vier Erzählungen zeigt sich eine sukzessive Wandlung und Auflösung des Gegensatzbezuges zwischen den beiden Rollenarten. Durch einen Vergleich der Handlungsrollen aller in einer Erzählung auftretenden Figuren mit den Rollen der Hauptfigur können mit Fokus auf das Rollenprofil der Hauptfigur 328
zwei verschiedene Bezugsweisen innerhalb der Beispielfilme herausgearbeitet werden. Zwischen Handlungsrollen anderer Figuren und dem Rollenprofil der Hauptfigur etablieren sich dabei sowohl thematische Kontraste als auch Analogien. Diese Konstellationen zwischen Handlungsrollen sind in den filmischen Inszenierungen von zwei verschiedenen Veränderungsdynamiken bestimmt und liefern damit Elemente zur Visualisierung der charakterlichen Veränderung. Dabei kommt es entweder zu einem sukzessiven Wandel von Kontrast- zu Analogiebezug et vice versa (Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Das Piano, Kleine Fluchten, Rocco und seine Brüder), oder es ergibt sich ein abrupter Wechsel zwischen den gegensätzlichen Bezugsarten (Breaking Glass, Taxi Driver, Betty Blue). Dynamik in den Rollenprofilen Die Abfolge zentraler Handlungsrollen und die Rollenprofile der Hauptfigur während des Filmverlaufs sind von prozesshaften Veränderungsmustern gekennzeichnet, die einen wichtigen Teilbeitrag zur Visualisierung intrapersoneller Wandlung leisten. Die Rollenprofile folgen dabei vier Veränderungsprinzipien: 1. Es kommt zur sukzessiven Neuetablierung von Rollen, und dabei zu einer allmählichen Erweiterung des Rollenrepertoires der Figur (Kleine Fluchten). 2. Die Veränderungsdynamik manifestiert sich in einem Rollenwechsel, wobei die Gesamtzahl der zentralen Rollen gleich bleibt (Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano, Dead Man, Taxi Driver). Die Figur gibt eine Handlungsrolle auf und wechselt zu einer anderen. Dieser Rollenwechsel vollzieht sich in den Beispielfilmen in einem fließenden Übergang. Nur in einem Film erfolgt diese Veränderungsdynamik plötzlich und abrupt (Dead Man). 3. Die Veränderungsdynamik etabliert sich innerhalb der Elemente einer einzelnen Handlungsrolle der Hauptfigur, d. h. die Konstellation von Interaktions- und Emotionsstrukturen innerhalb einer Handlungsrolle verändert sich sukzessive. Diese Prozesshaftigkeit findet sich außer in Betty Blue in allen hier untersuchten Filmen. 4. Eine weiteres prozesshaftes Gestaltungsmuster der Rolleninszenierung manifestiert sich durch Veränderungen des Rollenkontexts: Im situativen Kontext einer Handlungsrolle der Hauptfigur kommt es zu grundlegenden Veränderungen. Die Ereigniszusammenhänge einer Handlungsrolle erfahren eine Umformung, wodurch es zu einer Umstrukturierung der Rolle innerhalb der entsprechenden Interaktionszusammenhänge kommt (Das Piano, Dead Man, Breaking Glass). Rolleninszenierung – rollenkonform oder rollenbrüchig Die Inszenierung einer Handlungsrolle in einer filmischen Erzählung kann auf zwei idealtypische Weisen erfolgen. Definiert wird eine Handlungsrolle durch das jeweilige Rollenschema, das aus einer Konstruktion typisierter Interaktions-, Motivations- und 329
Emotionsstrukturen besteht. Wird zu Beginn einer Rollenübernahme durch die Figur dieser schematisierte Rahmen etabliert, kann im weiteren Erzählverlauf die Repräsentation der Rolle entweder konform mit dem Rollenschema oder in schemabrüchigen Handlungsweisen der Figur inszeniert werden. In Bezug auf diese beiden möglichen Inszenierungsarten zeigen die Analysedaten der Beispielfilme folgendes Profil gestalterischer Muster und prozesshafter Dynamiken: In fünf von acht Filmen werden beide Inszenierungsweisen eingesetzt (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Rocco und seine Brüder, Dead Man). Dabei werden Handlungsrollen entweder vermehrt durch rollenkonformes oder rollenbrüchiges Verhalten inszeniert. Ausgehend von der zu Beginn etablierten Inszenierungsweise kommt es im Ereignisverlauf zu fünf verschiedenen Veränderungsdynamiken: 1. Eine Rolle wird zunächst durch rollenkonformes Verhalten aufgebaut. Das Verhalten der Figur verändert sich dann zu zunehmend schemabrüchigem Handeln bis hin zur Aufgabe der gesamten Rolle. 2. Eine weitere Veränderungsdynamik etabliert sich durch Einführung einer Rolle mit tendenziell eher rollenbrüchigem Verhalten, das sukzessive weiter zunimmt und ebenfalls in der Aufgabe der Rolle mündet. 3. Ein dritter Wechsel zwischen den Inszenierungsarten vollzieht sich in der Wende von rollenbrüchigem Verhalten zu zunehmend schemakonformem Handeln bis zur gänzlichen Erfüllung des schematisierten Rollenrahmens. 4. Das nächste Veränderungsprinzip der Rolleninszenierung etabliert sich in einer Kombination aus rollenkonformem und rollenbrüchigem Verhalten. Im Lauf der Ereignisse kommt es dabei zu einer sukzessiven Neuetablierung des Rollenschemas, d. h. das Repertoire aller Handlungen und Interaktionen innerhalb der Rolle zeigt sich in einem neuen Profil. 5. In zwei Filmen ist ein weiteres Veränderungsprinzip in der Rolleninszenierung festzustellen, das sich nicht über Wechseldynamiken rollenkonformen und rollenbrüchigen Verhaltens aufbaut (Breaking Glass, Taxi Driver): Die wesentlichen Veränderungsmomente dieser Umformungsdynamik entfalten sich innerhalb der schematisierten Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten einer Handlungsrolle. Dabei wird das jeder Handlungsrolle eigene Repertoire möglicher und schemakonformer Verhaltensweisen im Ereignisverlauf in immer geringer werdendem Ausmaß durch Handlungen und Verhaltensweisen der Figur aktiv vollzogen. Der Anteil der konkret inszenierten schemakonformen Handlungsweisen und Interaktionen innerhalb einer Handlungsrolle erfährt so eine deutliche Reduzierung. Konfliktkonstellationen der Interaktions- und Emotionsstrukturen Die Inszenierungsweisen der Interaktions- und Emotionsstrukturen der zentralen Handlungsrollen einer Figur zeigen zwei weitere Gestaltungsmuster der Rollenin330
szenierung, die einen wesentlichen Beitrag zur Visualisierung der intrapersonellen Wandlung leisten. Dabei handelt es sich um zwei verschiedenartige Konfliktbeziehungen. Die Emotionsstrukturen einer Handlungsrolle bestehen aus verschiedenen schematisierten Elementen und einem Zusammenhangs- und Wirkungszyklus. Die Hauptelemente dieses Zyklus’ sind das zentrale goal der rollentragenden Figur, die darauf basierenden Bedürfnisse und emotional-situativen Erlebnisqualitäten sowie die Handlungsmotivationen (Mikos 2003: 165 f.). Die Inszenierung dieses Wirkungszusammenhangs ergibt in den Beispielfilmen zwei verschiedenartige Konfliktkonstellationen: 1. In vier Filmen besteht das Konfliktverhältnis zwischen den schematisierten Rahmenbedingungen und Interaktionsstrukturen der Handlungsrolle sowie den tatsächlichen goals, desires und Handlungsmotivationen der Figur (Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Das Piano, Dead Man): Hier kristallisieren sich über schemabrüchige Verhaltensweisen innerhalb einer oder mehrerer Handlungsrollen Ziele und Bedürfnisse der handelnden Figur heraus, die anders geartet sind, als die gemäß der schematisierten Emotionsstrukturen der Rollen, welche die Figur übernimmt. Dieser Konflikt wird durch drei verschiedene Veränderungsprozesse gelöst: (A) Entweder entwickelt sich ein sukzessiver Rollenwechsel bzw. es kommt zu einer schrittweisen Neuetablierung zentraler Handlungsrollen der Figur. In der oder den neuen Rolle(n) kommt es zu einer Angleichung der äußeren Rahmenbedingungen und schematisierten Interaktionsstrukturen an die ursprünglich konflikthaften Emotionsstrukturen. Im Verlauf der zweiten Entwicklungsdynamik findet kein Rollenwechsel statt. (B) Vielmehr löst sich der Konflikt zwischen Rollenbedingungen – den Interaktionsstrukturen und den Emotionsstrukturen in ein und derselben Rolle – durch eine allmähliche Angleichung der goals und desires der Figur an die entsprechenden Emotionsstrukturen gemäß dem Rollenschema. In der dritten Art prozesshafter Veränderung löst sich der Konflikt ebenfalls nicht durch einen Rollenwechsel, sondern (C) durch eine sukzessive Modifizierung der schematisierten Rollenbedingungen und eine damit in Wechselwirkung stehende bzw. parallel verlaufende Umstrukturierung der goals und desires der rollentragenden Figur. Im Laufe dieser Veränderungsprozesse löst sich die konflikthafte Konstellation zwischen den Rollenparametern auf. 2. In den übrigen vier Filmen liegt das Konfliktmuster innerhalb des Wirkungszyklus’ der Emotionsstrukturen (Taxi Driver, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder, Betty Blue): Es bestehen Konflikte zwischen den einzelnen Elementen der Emotionsstrukturen – goal, desire und emotionale Handlungsmotivation – einer Handlungsrolle. Der Wirkungszusammenhang innerhalb der Emotionsstrukturen ist aufgebrochen, die Figuren agieren auf Basis von emotionalen Affekten. Die dadurch motivierten Handlungen sind oft widersprüchlich und richten sich gegen die erklärten Ziele, oder der konflikthafte Bruch innerhalb der Emotionsstrukturen wird durch widersprüchliche 331
Bedürfnisse etabliert. Beim Wechsel in eine andere Rolle kommt es zur Übertragung der konflikthaften Strukturen; so weisen auch die Emotionsstrukturen der neuen Rolle einen gebrochenen Wirkungszyklus auf. Diese konflikthaften Brüche innerhalb des Wirkungszusammenhangs der Emotionsstrukturen werden in den untersuchten Beispielfilmen nicht aufgelöst. Der Wirkungszyklus zwischen goal, desire, emotionalem Erleben und Handlungsmotivation bleibt gestört. Veränderungsdynamik in der Charakterkonstruktion Als letzte Gruppe der für die Visualisierung intrapersoneller Wandlung relevanten Gestaltungsmuster werden dem dritten Achsensegment Gestaltungsstrukturen und -prinzipien zugeordnet, in denen sich Veränderungen in der Charakterkonstruktion der manifestieren. Die Hypothesenbildung des Zuschauers über Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsstruktur der Figur findet durch das Zusammenwirken verschiedener Gestaltungsfaktoren in der Inszenierung der visuellen Erscheinung der Figur statt. Alle figurenbezogenen visuellen Gestaltungsmuster und -elemente, die den ersten drei Achsensegmenten zugeordnet sind, werden vom Zuschauer in Bezug auf ihren Informationswert zu Charakterzügen und Wesensart der Figur evaluiert. Die Charakterzüge und Persönlichkeitseigenschaften, die vom Zuschauer auf diese Weise benannt werden können, fügen sich nach Branigan zu einer Liste, list of traits (Branigan 1992: 8,19,101,208), zusammen, deren Ordnungsstruktur in Bezug auf ein thematisches Zentrum organisiert ist. Diese Visualisierungsmuster können nur als implizit sichtbar im Filmbild bezeichnet werden, da sie durch das Zusammenwirken zahlreicher visueller Elemente und damit verbundener Wahrnehmungskonditionen auf einer abstrakten Ebene im Bewusstsein des Zuschauers gebildet werden. Innerhalb der list of traits können folgende Gestaltungsprinzipien und Veränderungsstrukturen, die einen wesentlichen Beitrag zur visuellen Präsentation eines intrapersonellen Wandlungsprozesses leisten, beschrieben werden: Die wesentlichen Charakterzüge der Hauptfigur werden in den Beispielfilmen jeweils über einen Grundkonflikt zueinander konstelliert. Dieser Konfliktbezug bildet jeweils das Zentrum der list of traits. Für die Beispielfilme lassen sich insgesamt vier Veränderungsprinzipien beschreiben, nach denen sich dieses konflikthafte Bezugssystem zwischen den Charakterzügen verändert. Durch die verschiedenen Entwicklungsdynamiken wandelt sich die Charakterkonstruktion in eine Konstellation, die keine Widersprüche mehr zwischen den einzelnen Charakterzügen aufweist. 1. Mittels des ersten Veränderungsprinzips kommt es zu einer Wandlung im Dominanzverhältnis der konflikthaft zueinander konstellierten Charakterzüge. Eine der beiden Persönlichkeitseigenschaften bekommt die Oberhand und dominiert den anderen Charakteraspekt – die konflikthafte Konstellation löst sich auf. 332
2. Das zweite Entwicklungsprinzip führt zum Wegfall desjenigen Charakterzugs, der in widersprüchlicher Beziehung zu einem anderen steht (Der mit dem Wolf tanzt). Das erste und das zweite Prinzip werden in Taxi Driver, Rocco und seine Brüder, Betty Blue und Breaking Glass miteinander kombiniert. Die konflikthaften Beziehungen zwischen Charakterzügen lösen sich in diesen Entwicklungsdynamiken auf. Dabei wird insgesamt die Zahl der Charaktereigenschaften der fiktiven Persönlichkeit reduziert. 3. Die dritte Entwicklungsweise innerhalb des Zentrums der list of traits besteht in der Umwandlung eines Charakterzugs in eine modifizierte Form der ursprünglichen Persönlichkeitseigenschaft (Dead Man, Das Piano). Durch diese Umformung steht dieses Wesensmerkmal nicht mehr in Konflikt zu der anderen Eigenschaft. 4. Den Zugewinn von einem oder mehreren neuen Charakterzügen stellt das vierte Entwicklungsprinzip in der Charakterkonstruktion der Figuren dar. Die Verbindungen zwischen widersprüchlichen Charakterzügen lösen sich auf und es entstehen veränderte, nicht-konflikthafte Konstellationen zwischen den ursprünglichen und den neu entwickelten Persönlichkeitseigenschaften (Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt).
9.2 Bildgestaltung in der Kameraarbeit und Formen der Wissensgabe Im vierten Achsensegment werden Gestaltungsmuster der Visualisierung intrapersoneller Wandlung zusammengefasst, welche den Gestaltungsprinzipien des discourse folgen. Diese Elemente sind nicht direkt im Filmbild sichtbar, doch bestimmen sie die Art der Sichtbarkeit der Bildinhalte. Hierzu gehören die Gestaltungsweisen des Kamerablicks, der die Ereignisse präsentiert. In der Zusammenfassung der Ergebnisse werden die Gestaltungsmuster des Kamerablicks in zwei Gruppen aufgeteilt; diese Aufteilung orientiert sich an der relativen Sichtbarkeit der Gestaltungsmuster: In der ersten Gruppe werden der Einsatz von Einstellungsgrößen, Blickperspektiven und Kamerabewegungen beschrieben. Alle diese Gestaltungsfaktoren sind unmittelbar im Filmbild ablesbar. Es sind Verwendungsweisen dieser Gestaltungsmittel von visueller Auffälligkeit im Filmverlauf festzustellen, welche besonders markant auf Momente mit Bezug zur Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses hinweisen. Zur zweiten Gruppe gehören Mittel der Bildgestaltung, welche die Formen der Wissensgabe bestimmen. Bei der Interpretation der Blickgestaltung im Kontext der erzählerischen Informationen bildet der Rezipient Vorstellungen darüber, welche Erzählinstanzen jeweils die Inhalte präsentieren und wie dabei der Wissenszugang gestaltet wird. Diese Vorstellungen des Zuschauers entstehen nicht durch die Wahrnehmung im Bild sichtbarer einzelner Gestaltungselemente. Vielmehr gelingt die Hypothesenbildung des Zuschauers in Folge eines komplexen Wahrneh333
mungsprozesses verschiedener Gestaltungsfaktoren des Kamerablicks. Relevante Gestaltungsmuster zur Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses, welche auf deren Wirkungsmomente im Verstehensprozesses gründen, können nur als sehr bedingt und indirekt sichtbar bezeichnet werden. Zur ersten Gruppe dieser Gestaltungsmuster zählt die Einsatzweise verschiedener Kameratechniken zur Blickmanipulation (Einstellungsgröße, Blickstandpunkt, Ausschnittswahl, Brennweite, Blickbewegung, Aufnahmegeschwindigkeit u. A. m.). Bei der Wahl der Einstellungsgrößen sind es drei Gestaltungsmuster, die sich in den untersuchten Filmen als relevant bei der Visualisierung charakterlicher Wandlung erweisen. In sechs Filmen lässt sich der häufige Einsatz von Großaufnahmen der Gesichter der Hauptfiguren feststellen (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Dead Man, Taxi Driver, Breaking Glass). Der nahe Kamerablick auf den mimischen Ausdruck des Darstellers oder der Darstellerin präsentiert szenische Momente intensiven emotionalen Erlebens der Figuren. In vier Filmen wird der Wechsel von Distanziertheit zu Nähe zwischen Blickstandpunkt und Geschehen et vice versa genutzt, um Prozesse im Innenleben der Figur anzudeuten (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Breaking Glass). Durch den Wechsel von Kamerastandpunkten werden dabei die Verhältnisse der Positionierung von Figur zu Figur und von Figur(en) im Raum verändert. Diese Veränderungen werden als Visualisierungsfaktoren bei der Präsentation der intrapersonellen Wandlung eingesetzt. Dabei kommt es im Filmverlauf zu mehreren Wechseln zwischen Nähe und Distanz des Blicks auf die zentrale Figur bzw. zu Annäherungs- und Distanzierungsschritten des Kameraauges. Zugleich ändert sich durch den Wechsel der Kamerapositionen das Verhältnis von Nähe und Distanz des filmischen Blicks zum szenischen Geschehen zwischen mehreren Figuren, die mit der zentralen Figur interagieren. Dabei entstehen sowohl mehr oder weniger Raum zwischen der/den Figur(en) und dem filmischen Blick wie auch mehr oder weniger Raum zwischen den Figuren innerhalb der Szenerie. In drei Filmen weist besonders die Kameragestaltung während der Dialogszenen zwischen der Hauptfigur und anderen Figuren bestimmte Gestaltungsmuster bzw. prozesshafte Veränderungen auf und hat so Anteil an der Visualisierung der charakterlichen Veränderung (Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Taxi Driver). Auffallende Gestaltungsmuster in der Dialogkadrierung über das Schuss-Gegenschuss-Verfahren sind dabei zum einen ungewöhnliche Konstellationen zwischen der zentralen Figur und der Kamera, zum anderen eine prozesshafte Veränderungsdynamik in Bezug auf Nähe und Distanz des Kamerastandpunkts zu beiden interagierenden Figuren. Im Allgemeinen kennzeichnet die Kameragestaltung in allen acht Beispielfilmen ein geringer Einsatz verfremdender, kameraästhetischer Mittel. Die Gestaltung des Blicks auf die szenischen Ereignisse führt überwiegend dazu, dass das Geschehen auf der Leinwand direkt sichtbar ist. Nur in drei Filmen findet man wiederholt Be334
grenzungen des Blicks bei der Präsentation verschiedener szenischer Begebenheiten mit besonderer Relevanz zum charakterlichen Veränderungsprozess (Kleine Fluchten, Taxi Driver, Dead Man). Darüber hinaus zeigt sich in vier Filmen, dass in bestimmen Momenten des Filmverlaufs der Einsatz kameratechnischer Manipulationen bei der Gestaltung des filmischen Blicks eine bedeutungsschaffende Funktion für die Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses hat (Das Piano, Dead Man, Betty Blue, Taxi Driver). In diesen Momenten präsentieren sich wichtige Aspekte in Zusammenhang mit dem Prozess intrapersoneller Wandlung durch das Zusammenwirken deutlich blickverfremdender Verfahren und der gleichzeitigen Vermittlung bestimmter inhaltlicher Informationen. Die Manipulationen des filmischen Blicks durch kameratechnische Effekte liefern dabei vor allem visuelle Äquivalenzen für das emotionale Erleben der Figur. Dabei ist besonders bemerkenswert, wie in vielen solchen Momenten durch das Zusammenwirken gestalterischer Mittel starke Verfremdungen bei der Darstellung des erzählerischen Zeitflusses entstehen (vgl. 5.6: 133 ff., 6.4: 225 ff., 7.7: 279 ff.), wobei verschiedene Parameter von Blickmanipulationen in diesen bedeutungsschaffenden Momenten eingesetzt werden: Zeitlupe, also verlangsamte Bewegungswiedergabe durch erhöhte Bildfrequenz bei der Aufnahme, Auf- und Abblenden aus dem Schwarzen und ins Schwarze sowie ungewöhnliche Kamerastandpunkte und -bewegungen. Die mittels dieser kameraseitigen Gestaltungselemente erzeugten, bedeutungsbildenden Wirkungsweisen werden stets im Zusammenwirken mit Techniken der Bildmontage etabliert. Die zweite Gruppe der im vierten Segment zusammengeführten Gestaltungsmittel enthält die Parameter des filmischen Blicks, welche die Präsentationsweisen erzählerischen Wissens formen. Dabei kann zwischen verschiedenen Erzählpositionen des Kamerablicks auf die Ereignisse und diversen Formen der Wissensgabe unterschieden werden. In fünf Beispielfilmen wird in szenischen Momenten, die einen Bezug zur charakterlichen Wandlung haben, häufig die Erzählposition aus der Blickperspektive der Hauptfigur – POV (Branigan 1992: 51, 70, 115) – eingesetzt (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Taxi Driver, Breaking Glass). Im gesamten Einsatzprofil der verschiedenen Erzählpositionen – levels of narration (ebd.: 86 ff., 96, 103 f.) – zeigen sich drei verschiedene, für die Visualisierung intrapersoneller Wandlung relevante Gestaltungsmuster. In fünf der ausgewählten Filme werden durch parallelen Einsatz hierarchisch sehr unterschiedlicher levels of narration wesentliche Momente charakterlicher Veränderung präsentiert (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Taxi Driver). Filmische Informationsgabe welche dieses Profil von Erzählpositionen aufweist, beeinflusst in hohem Maße die Lesart des Zuschauers; dabei tritt in zwei Filmen diese Methode vor allem im opening und ending in den Vordergrund 335
(Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano), während in einem dritten Film ihre Verwendung prozesshaft während des Filmverlaufs zunimmt (Kleine Fluchten). In den beiden weiteren Filmen kommt es über den Filmverlauf verteilt zu einem mehr oder weniger häufigen Einsatz parallel sehr unterschiedlich hierarchischer levels of narration (Breaking Glass, Rocco und seine Brüder). Diese Gestaltungsmomente mit verändertem Profil der levels of narration treten in Form intermittierender Einschübe innerhalb der zu Beginn der Erzählungen etablierten method of distribution (Branigan 1992: 139) auf. Bei zwei untersuchten Filmen lässt sich für das Profil der Erzählpositionen kaum ein paralleles Operieren hierarchisch unterschiedlicher levels of narration feststellen (Betty Blue, Dead Man) – hier wird in den Filmverläufen die allgemeine method of distribution durch Erzählpositionen mittlerer Hierarchie gestaltet. Dabei fallen die Änderungen dieser Präsentationsweise an einigen Stellen des Filmverlaufs auf, wenn erzählerische Informationen von besonderer Relevanz für die Schilderung des intrapersonellen Wandlungsprozesses durch den vermehrten Einsatz von Erzählpositionen höherer Hierarchiestufen vermittelt werden. Solche Veränderungen der method of distribution besitzen für diese szenischen Momente eine besondere Zeigefunktion. In Taxi Driver wird durch das Einsatzprofil der levels of narration ein außergewöhnlicher Effekt etabliert: Die Erzählpositionen wechseln sehr oft zwischen mehr oder weniger stark differierenden Hierarchiestufen, wodurch die Trennungen zwischen den Erzählpositionen immer stärker verwischt werden. Branigan definiert eine Sonderform im Einsatz der verschiedenen Erzählpositionen – pure movement of narration (ebd.: 81): Hier wird der Wechsel der Erzählpositionen nicht von Ereignissen im szenischen Geschehen motiviert, sondern ist Ausdruck von Eigenaktivität der erzählerischen Präsentationsinstanz. Zudem wechselt die Erzählposition zu einer meist hierarchisch höheren Vermittlungsfunktion. Diese Eigenaktivität des discourse wirkt in allen acht Beispielfilmen. Die erzählerischen Informationen, die in dieser Vermittlungsfunktion präsentiert werden, haben eine zentrale Bedeutung für den charakterlichen Wandlungsprozess der Hauptfigur. In vier Filmen ist der Einsatz von pure movement of narration relativ häufig und deutlich (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Taxi Driver, in den übrigen vier Beispielfilmen seltener und wesentlich subtiler gestaltet (Dead Man, Betty Blue, Rocco und seine Brüder, Breaking Glass). Die Zusammenfassung der Analysedaten zum Einsatzprofil der levels of narration und der Verwendung von pure movement of narration in einem Film lässt auf das Maß der Einflussnahme schließen, welche die Erzählfunktionen auf den Zuschauer nehmen. In vier Filmen wirken durch die spezifische Verwendung der Erzählpositionen verstärkt interpretierende Zeigefunktionen (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Rocco und seine Brüder). Im Zusammenwirken des präsentierten erzählerischen Inhalts und der vermittelnden Zeigefunktionen entstehen dabei eigenständige 336
inhaltliche Informationen zur Darstellung wichtiger Aspekte der intrapersonellen Wandlung. Dies kennzeichnet die Filme mit einem sehr hohen Maß an klar interpretierenden Erzählfunktionen. In drei untersuchten Filmen ist das Maß der Einflussnahme nur in bestimmten szenischen Momenten oder in einigen Teilabschnitten des Filmverlaufs hoch, im übrigen Filmverlauf aber geringer ausgeprägt (Dead Man, Taxi Driver, Betty Blue). Auch in diesen Filmen werden in bestimmten Momenten Aspekte szenischer Ereignisse durch die Form der erzählerischen Vermittlung besonders betont und es bilden sich durch diese Wechsel der Erzählpositionen inhaltliche Aspekte zur charakterlichen Wandlung. In diesen Filmen kommt es in Bezug zur intrapersonellen Wandlung der Hauptfigur zu einer abschnittweisen Beeinflussung der Lesart des erzählerischen Wissens. Jedoch wird hier die Interpretation der Ereignisse im Vergleich zu den übrigen Filmen nicht so dominant und durchgängig beeinflusst. Durch das spezifische Einsatzprofil der levels of narration bildet sich jedoch in zwei Filmen ein weiteres inhaltlich wirksames und für die Visualisierung intrapersoneller Wandlungsprozesse relevantes Gestaltungsphänomen heraus (Dead Man, Taxi Driver): In diesen Filmen wird ein erzählerischer Duktus, eine Erzählhaltung zu den Ereignissen aufgebaut. Dabei ist der Wirkungsgrad dieser Gestaltungsmuster zwar geringer als eine direkt sinnhafte Beeinflussung der Lesart erzählerischer Informationen, doch durch diesen erzählerischen Duktus entsteht in den Erzählungen eine thematisch-inhaltliche Korrespondenz zur Eigenart der charakterlichen Entwicklung der Hauptfigur. Die inhaltliche Korrespondenz, die sich in dieser Erzählhaltung ausdrückt, bildet auf diese Weise eine thematische Analogie zum prozesshaften Duktus des Wandlungsgeschehens. Im Rahmen der Studie werden zusätzlich zum Analyseinstrumentarium der levels of narration dazu weit gröber gefasste Begriffe zur Erforschung des discourse verwendet. Hier wird nur zwischen drei Arten der Wissensgabe unterschieden: Dabei ist entweder die Informationsgabe auf den Wissenshorizont einer oder mehrerer Figuren beschränkt – restricted – oder die Quellen erzählerischen Wissens sind omniscient (Bordwell 1985: 65). Auch wird der generelle Umfang des erzählerischen Wissens einer Geschichte betrachtet und dabei die Tiefe des Einblicks definiert, der durch Wissensgabe in das Innenleben der Figur gewährt wird. Über eine weitere analytische Teilperspektive wird anhand der Gestaltungsmuster des discourse herausgearbeitet, ob die Wissensvermittlung eher von ungehinderter Informationsgabe oder von Wissensverweigerung geprägt wird. Im Folgenden werden die Ergebnisdaten zusammenfassend dargestellt. Mit Ausnahme von Rocco und seine Brüder gilt für alle hier diskutierten Filme, dass das meiste für die Schilderung des Wandlungsprozesses relevante Wissen in den Wissenshorizont der Hauptfigur integriert ist. In Bezug auf die verschiedenen Wissenshorizonte lassen sich folgende Gesamtprofile beschreiben: In zwei Filmen ist das erzählerische Wissen bis auf sehr wenige Ausnahmen auf den Wissenshorizont der 337
zentralen Figur beschränkt (Taxi Driver, Betty Blue). In zwei weiteren Beispielfilmen werden die erzählerischen Informationen auf die Wissenshorizonte verschiedener Figuren verteilt (Das Piano, Dead Man). Die gesamte Menge des Wissens ist relativ groß, dennoch beziehen sich fast alle Ereignisse, an welchen die Hauptfigur nicht direkt beteiligt ist, sehr auf ihre Situation und das Geschehen um sie herum. In vier Filmen wird das Wissen sowohl durch den Wissenshorizont der Hauptfigur, als auch durch den der übrigen Figuren gegeben (Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder). Doch ist in diesen Erzählungen noch eine dritte Quelle erzählerischer Informationen wirksam: Eine allwissende Instanz, deren Wissenshorizont in Bezug auf die Erzählung unbeschränkt scheint. Etwa proportional zur Zahl der Wissenshorizonte, durch die das Wissen zugänglich ist, ist das Verhältnis der Menge des Wissens, welches innerhalb einer Erzählung vermittelt wird. Die Filme, deren Wissensquelle auf den Horizont der Hauptfigur beschränkt ist, zeigen den kleinsten Umfang erzählerischer Gesamtinformationen (Taxi Driver, Betty Blue), während Erzählungen, die durch die Wissenshorizonte verschiedener Figuren und durch eine allwissende Instanz geprägt werden, die vergleichsweise größte Menge erzählerischen Wissens aufweisen (Das Piano, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder). Das Maß an Wissenszugang zum inneren Erleben der Hauptfigur wird im Modell von Bordwell als depth of knowledge (Bordwell/Thompson 1986: 94) definiert. Für sechs untersuchte Filme lässt sich die Gestaltung eines ausführlichen und tiefen Einblicks in das innere Erleben der Hauptfiguren feststellen (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Taxi Driver, Breaking Glass). Zwei Filme heben sich von dieser Art der Wissensgabe deutlich ab und liefern fast oder gar keinen Einblick in das innere Erleben der Hauptfigur (Rocco und seine Brüder, Betty Blue). In Bezug auf die allgemeine Grundtendenz bei der Wissensgabe, d. h. in Richtung einer ungehinderten Gabe oder einer deutlichen Verweigerung erzählerischer Informationen, liefern die Analysedaten folgendes Profil: In vier Filmen wird Wissensverweigerung als dominantes Gestaltungsmuster eingesetzt (Taxi Driver, Rocco und seine Brüder, Betty Blue, Breaking Glass). Dabei betrifft diese Verweigerung gerade solche erzählerischen Informationen, die das Geschehen der intrapersonellen Wandlung näher erklären oder deren Gründe offen legen würden. In einem dieser Filme (Taxi Driver) wird ein Wechselsystem zwischen Verweigerung und vermeintlich offener Gabe von Wissen installiert: Wesentliche Informationen über Umstände und Hintergründe der charakterlichen Veränderung der Hauptfigur werden jedoch verweigert. In Rocco und seine Brüder ist der Einsatz von Wissensverweigerung zwar relativ groß, die Ursache hierfür wird aber von der erforderlichen Erzählökonomie bedingt. Hier entfaltet das Gestaltungsmuster der Wissensverweigerung eine wenig bedeutungsbezogene Wirkung im Rahmen des charakterlichen Wandlungsprozesses. In den 338
anderen vier Filmen kennzeichnet communicativeness (Bordwell 1985: 59) die dominante Art der Wissensgabe: Die Informationsvermittlung über die intrapersonelle Entwicklung geschieht hier über die offene und meist ungehinderte Gabe des erzählerischen Wissens (Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Das Piano, Dead Man).
9.3 Gestaltungsmuster der Narration Im fünften und sechsten Segment des Modells (Abb. 8: 319), nahe des Pols der idealtypischen und nur implizit sichtbaren Inszenierungsweisen, werden solche Gestaltungsmuster eingruppiert, die als visuelle Strukturen weder direkt auf der Leinwand, noch im filmischen Blick sichtbar werden, an der Genese der visuellen Vermittlung des intrapersonellen Wandlungsprozesses jedoch wesentlichen Anteil haben. Dabei handelt es sich um die verschiedenen Ordnungsprinzipien, nach denen das erzählerische Material einer Geschichte in eine mehrdimensionale Konstruktion zusammengefügt wird. Einzelne inhaltliche Informationen sind direkt im Filmbild sichtbar und können anhand ihrer visuellen Gestaltungsaspekte beschrieben werden. Die Gestaltungsmuster der narrativ-dramaturgischen Konfiguration dieser Informationen sind jedoch keine sichtbaren Elemente des Filmbilds oder der Bildsequenz und können nur durch die Definition narrativer Strukturen auf inhaltlicher Ebene des „Erzähltextes“ des Films beschrieben werden.
9.3.1 Zeitdarstellung und formale Ordnungsprinzipien Der ersten Gruppe innerhalb des fünften Segments werden solche Konfigurationsprinzipien narrativer Konstruktion einer Geschichte zugeordnet, die zeitliche Verknüpfungen erzählerischer Inhalte herstellen, wobei Montagetechniken zur Manipulation von Zeitabläufen eingesetzt werden. Zur zweiten Gruppe dieses Segments zählen Gestaltungsmuster der Narration, die sich als Reihungen erzählerischer Informationen manifestieren. Solche Verbindungen szenischer Momente entstehen nicht mit Hilfe schematisierter Konfigurationen eines narrative schema (Branigan 1992: 13 ff.) oder inhaltlicher Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, sondern durch visuellformale Bezugsprinzipien: In unterschiedlichen szenischen Handlungen werden verschiedene im Bild sichtbare Elemente durch formale Verkettungen – Wiederholung, Ähnlichkeit, Variation und Veränderung bzw. Kontrast – zueinander in Beziehung gesetzt. Die erzählerischen Informationen innerhalb einer solchen Reihung werden an verschiedenen Stellen des Filmverlaufs situiert. Durch die genannten formalen Verknüpfungsprinzipien entstehen Verkettungen zwischen diesen erzählerischen 339
Momenten in Form von Sequenzen, Trilogien und paarweisen Konstellationen. Eine Zusammenschau dieser Konfigurationen zeigt, dass innerhalb der erzählerischen Bausteine bestimmte inhaltliche Informationen, die jeweils ein gemeinsames Thema auf unterschiedliche Weisen behandeln, in einen Zusammenhang gebracht werden. Nach Branigan handelt es sich dabei um das zentrale Thema einer Erzählung, den initial term (Branigan 1992: 5). Es lässt sich mit Hilfe dieser Gestaltungsstrukturen für die untersuchten Filme zeigen, dass der Begriff bzw. das Thema eines initial term in direktem inhaltlichen Bezug zum intrapersonellen Wandlungsgeschehen steht. Zeitsprung und –raffung, Zeitdehnung, Flashback und Parallelmontage Innerhalb der Gestaltungsstrukturen, welche die zeitlichen Zusammenhänge einer Geschichte definieren, kann für alle untersuchten Filme der Einsatz filmischer Zeitmanipulationstechniken beschrieben werden, welcher mit der Schilderung intrapersoneller Wandlung korrespondiert. Es können vier verschiedene Gestaltungsmuster der Darstellung von Zeitfluss und Zeitmanipulation herausgearbeitet werden. Diese vier Techniken – Zeitsprung bzw. -raffung, Zeitdehnung, Flashback und Parallelmontage – werden in den untersuchten Filmen unterschiedlich oft verwendet: Es dominieren mehrheitlich Zeitsprünge und Zeitraffungen, und zwar in allen untersuchten Filmen außer Betty Blue. Zwischen der Art der Zeitmanipulation und dem intrapersonellen Wandlungsprozess werden in den filmischen Erzählungen vier verschiedene Bezugsarten aufgebaut, dabei in drei Filmen eine Parallelität zwischen Zeitsprung und Veränderungsschritt innerhalb der charakterlichen Entwicklung (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Rocco und seine Brüder). Je größer die übersprungene Zeitspanne, desto deutlicher zeigt sich beim nächsten Auftritt der Hauptfigur ein weiterer Veränderungsschritt ihrer intrapersonellen Wandlung. In zwei weiteren Filmen werden mit Hilfe der Zeitraffung Veränderungen der Wahrnehmungsweise der Hauptfiguren geschildert (Dead Man, Taxi Driver): Die visuell veränderte Art der filmischen Inszenierung subjektiver Wahrnehmung ist dabei Anzeichen des inneren Veränderungsprozesses. In Dead Man und Kleine Fluchten kommt es jeweils zu einem paradoxen Bezug zwischen dem Einsatz von Zeitsprüngen und dem Zeitfluss der Erzählung: Die erzählten Ereignisse spielen sich in einem sehr kurzen Zeitraum ab, in der Zeitdarstellung jedoch wird das Vergehen langer Zeitverläufe inszeniert. Die Dimensionen der filmisch inszenierten Zeitsprünge im Kontrast zur wirklichen Dauer der erzählten Zeitläufe bilden hier ein inhaltliches Äquivalent zum Ausmaß des inneren Wandlungsprozesses der Figur (Dead Man). In Kleine Fluchten wird mit Hilfe der Zeitraffung die rasch voranschreitende innere Wandlung der Figur gespiegelt. Zugleich baut die schnelle Bildfolge einen Kontrast zum Stillstand der äußeren Handlung in Momenten der größten charakterlichen Veränderung auf. 340
Retardierung und Zeitdehnung werden in den untersuchten Filmen relativ oft eingesetzt. Beide Gestaltungsmuster werden in fünf Filmen in zentralen szenischen Momenten charakterlicher Veränderung eingesetzt (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Taxi Driver). Die Effekte gedehnter Zeitdarstellung ergeben sich durch den kombinierten Einsatz von drei verschiedenen Gestaltungsmitteln: Die Montage verbindet slow motion mit ungewöhnlichen Kameraperspektiven und bewegungen für eine stark verfremdete Zeitdarstellung. Durch diese Visualisierungsmuster werden in den untersuchten Filmen verschiedene inhaltliche Bezüge zur intrapersonellen Wandlung aufgebaut; durch diese Veränderungen der Zeitdarstellung werden subjektives Erleben und Wahrnehmung der Hauptfiguren gestaltet. Dabei zeigt sich zum einen eine schrittweise Veränderung dieser Wahrnehmungsvorgänge als Indiz charakterlicher Wandlung (Dead Man, Taxi Driver), zum anderen gestalten diese Techniken gedehnter Zeitdarstellung Momente intensiven Empfindens der Figuren, die den charakterlichen Veränderungsprozess prägen (Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten). Auch sind szenische Situationen durch diese Art der Zeitmanipulation aus dem linearen Zeitfluss herausgehoben, indem die Figur innere Entscheidungen entwickelt, die sich auf ihr späteres Handeln auswirken und so Stufen der intrapersonellen Veränderung ins Bild setzen (Das Piano). Nur in drei Filmen wird der flashback als Gestaltungsmittel eingesetzt. In Breaking Glass wird so ein direkter Vergleich szenischer Momente inszeniert, die den Veränderungsprozess der Figur deutlich vor Augen führen. In den beiden anderen Filmen wird im zusammenfassenden Rückblick jeweils die Geschichte einer anderen als der Hauptfigur präsentiert, die eine große Wandlung und Veränderung durchlebt hat (Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man). Diese Schilderungen spiegeln das Wandlungsgeschehen der Hauptfigur. Parallelmontagen werden nur in zwei untersuchten Filmen eingesetzt, um Entwicklungen des inneren Veränderungsprozesses der Figuren zu visualisieren (Der mit dem Wolf tanzt, Rocco und seine Brüder). In Der mit dem Wolf tanzt wird dieses Mittel sehr oft verwendet – dabei werden parallele Ereignisse gezeigt, die alle das Moment prozesshafter Entwicklung aufweisen. Die Parallelmontage betont das Phänomen stufenweiser Veränderungen. In Rocco und seine Brüder wird sie im Moment des letzten Wandlungsschrittes der Figur eingesetzt. Das parallele Zeigen zweier verschiedener Handlungssituationen etabliert eine Metapher für das Geschehen der charakterlichen Veränderung. Erzählerische Elemente in Reihungen, Trilogien und paarweise Konstellationen Einer zweiten Gruppe innerhalb des fünften Segments sind Gestaltungsmuster der Narration zugeordnet, die erzählerische Informationen in thematische Reihungen, Trilogien und paarweisen Konstellationen organisieren. Die Verknüpfungsprinzipien 341
und die Konfigurationen der szenischen Momente korrespondieren dabei mit der Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses. Diese erzählerischen Konfigurationsprinzipien finden sich außer in Breaking Glass in allen hier untersuchten Filmen. Die Verkettungen in Reihungen, Trilogien und paarweisen Konstellationen werden an unterschiedlichen Momenten des Filmablaufs installiert. In diesen Filmen kann aus den verschiedenen Konfigurationen des filmischen Materials jeweils eine zentrale Reihung erzählerischer Momente herausgearbeitet werden, die direkt in Korrespondenz mit dem intrapersonellen Wandlungsgeschehen steht. Bis zu 14 szenische Momente werden in dieser zentralen Reihung miteinander verknüpft, verbunden durch die jeweilige szenische Handlung und den formalen Prinzipien der Wiederholung bzw. Ähnlichkeit in Kombination mit einer schrittweisen Entwicklung von Differenz und Kontrast folgend. Diese formalen Verkettungen etablieren das Phänomen prozesshafter Veränderung in Reihungen von Handlungen und Interaktionen. Die Grundelemente der Reihungen unterscheiden sich: In drei untersuchten Filmen ist zu Beginn der Reihungen eine bestimmte Handlung am wiederkehrenden Schauplatz das verbindende Moment (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Taxi Driver). Im weiteren Verlauf verändert sich nun die Art der Handlung bzw. des Ereignisses in mehreren Veränderungsschritten grundlegend, während der Schauplatz identisch bleibt. Hier ist die erzählerische Organisation bestimmter Handlungssituationen in einer zentralen Reihung besonders deutlich ausgeprägt und daher auffällig. In vier untersuchten Filmen verändert sich hingegen nicht die Handlungsart, sondern die Ausführungsweise derselben Art von Handlung und Interaktion bzw. deren Ereigniskern (Dead Man, Kleine Fluchten, Rocco und seine Brüder, Betty Blue): Zu Beginn führt die Figur dieselbe Handlung auf eine bestimmte Weise aus. Bis zum letzten szenischen Moment einer Reihung erfolgt in mehreren Schritten eine völlige Umwandlung dieser Ausführungsweise, wobei die Schauplätze dieser Veränderungssequenzen wechseln. In diesen Filmen sind die jeweils zentralen Reihungen weniger auffällig, jedoch vergleichbar konsequent durchkomponiert wie die Reihungen in den übrigen Beispielfilmen. Über diese zentralen Reihungen hinaus lassen sich für alle Filme Konfigurationen erzählerischer Bausteine in Sequenzen, Trilogien und paarweisen Konstellationen beschreiben, die in Bezug zur Visualisierung der charakterlichen Wandlung stehen. Auch hier ist stets eine Handlung der Hauptfigur zentrales Bindeglied. In drei Filmen lassen sich diese Konfigurationen in großer Zahl und mit deutlicher Ausprägung feststellen (Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Dead Man). In vier weiteren Filmen finden sich die verschiedenen Konstellationen Reihung, Trilogie und paarweise Zuordnung jeweils unterschiedlich oft und insgesamt gesehen seltener (Das Piano, Rocco und seine Brüder, Breaking Glass, Taxi Driver). Auch Auffälligkeit und Ausprägung der Konfigurationen sind in diesen Filmen schwächer. Dennoch lassen sich auch in diesen vier Filmen Konstellationen mit Bezug zum charakterlichen Veränderungsprozess der 342
Hauptfigur nachweisen. Innerhalb der Trilogien werden die formalen Prinzipien Wiederholung und Ähnlichkeit bzw. Variation mit development (Bordwell/Thompson 1986: 38 f., 90 f.) und Kontrast kombiniert. In den ersten beiden szenischen Elementen einer Trilogie zeigen sich Wiederholung und Ähnlichkeit bzw. Variation, während das dritte Element in den meisten Fällen eine sprunghafte Veränderung der Handlungsweise bringt, die mit dem ersten szenischen Element der Konfiguration im Kontrast stehen kann. Dieses Phänomen einer sprunghaften Veränderung zwischen zweitem und drittem Element lässt sich für die meisten Trilogien feststellen. Innerhalb der paarweisen Konstellationen szenischer Handlungsmomente werden die Verknüpfungsprinzipien Wiederholung und Ähnlichkeit und damit kombiniert development und Kontrast wirksam: Aspekte der wiederholten Handlungs- bzw. Interaktionssituation zeigen sich im Vergleich von erstem und zweitem Element stark verändert oder sogar ins Gegenteil verkehrt. Betrachtet man die zentralen Reihungen und einige der Trilogien und Doppelungen in den untersuchten Filmen in der Gesamtschau, so zeigt sich, dass in den hier etablierten handlungsbezogenen Veränderungsprozessen jeweils ein bestimmtes inhaltliches Thema bzw. ein Aspekt der intrapersonellen Wandlung akzentuiert wird. Dabei vollziehen sich die Veränderungsprozesse innerhalb der beschriebenen Konfigurationen in den inszenierten Handlungsarten, den Ausführungsweisen von Handlungen, Interaktionssituationen und ihren Rahmenbedingungen. Innerhalb der weiteren Elemente einer Reihung, Trilogie oder paarweisen Konstellation wiederholt sich ein Ereigniskern, der aus einer Handlungseinheit – der Grundfigur eines Tuns bzw. Handlungsvorgangs – besteht. Dieser handlungsbezogene inhaltliche Kern der einzelnen Elemente dieser Konfigurationen erfährt mehrere Transformierungen. Das Phänomen der mehrfachen Transformation dieser in den einzelnen Elementen wiederholten Ereignisfigur kann mit Branigans Begriff des initial term und den damit verbundenen transformations beschrieben werden (Branigan 1992: 6 f.). Durch formale Verknüpfungsprinzipien innerhalb der Konfigurationen werden bestimmte inhaltliche Informationen in einen Zusammenhang gebracht, die jeweils äquivalent mit zentralen Geschehnissen und Aspekten des charakterlichen Wandlungsprozesses sind. Nach Branigans Modell kennzeichnen eine Erzählung der zentrale initial term und fünf Transformationen dieses erzählerischen Kernereignisses. In den untersuchten Filmen lassen sich Inszenierungen von bis zu drei (Das Piano) solcher zentralen Ereignisfiguren mit mehr als fünf Transformierungen beschreiben. In sechs Filmen können je zwei initial terms benannt werden (Betty Blue, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder, Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt). In drei Filmen (Kleine Fluchten, Dead Man, Betty Blue) sind es zwei zentrale Vorgangsfiguren, um die sich die transformations konfigurieren. Bei drei weiteren Filmen (Breaking Glass, Rocco und seine Brüder, Der mit dem Wolf tanzt) können ebenfalls zwei initial terms herausge343
arbeitet werden. Hier ist jedoch auf eine begriffliche Differenz hinzuweisen: Einer der beiden zentralen initial terms besteht aus dem Grundelement eines Vorgangs, der zweite hingegen aus einem thematischem Überbegriff auf abstrakterem Niveau als die Kernfigur einer Handlung oder eines Ereignisses.
9.3.2 Kausale und hierarchische Ordnungsstrukturen in der Narration Dem sechsten und letzten Segment auf der Achse werden narrative Ordnungsprinzipien zugeordnet, die in einer Geschichte kausale Zusammenhänge von Ursache und Wirkung aufbauen und so eine Hierarchie von Haupt- und Nebenereignissen erstellen. Zu diesem Segment filmgestalterischer Mittel gehören auch die Funktionen erzählerischer Elemente, die mit Blick auf den Ausgang der Geschichte als Rätseloder Lösungsaspekte wirken. Auch werden hier Gestaltungsmuster eingeordnet, die innerhalb der Narration als kausale und hierarchische Ordnungsprinzipien wirken. Die cause-effect chain (Bordwell/Thompson 1986: 98 f.) einer Geschichte ergibt sich aus der logischen Zusammenhangsstruktur von Ursache und Wirkung aller Ereignisse und aus der Summe der erzählerischen Informationen, die entweder unmittelbar im plot (ebd.: 83-87) gezeigt oder dort nur impliziert und dafür in der story (ebd.: 24, 84-87) gelagert werden. Untersucht man die Aufteilung der inhaltlichen Elemente, welche die Kausalkette der narrativen Schilderung charakterlicher Wandlungsprozesse bilden, auf plot und story, ergibt sich ein unterschiedliches Verteilungsprofil innerhalb der Beispielfilme: In vier Filmen werden alle wesentlichen Zusammenhänge der charakterlichen Wandlung im plot inszeniert (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt) – zentrale Ereignisse im Umfeld der Hauptfigur, ihr inneres Erleben sowie die entscheidenden Momente während des charakterlichen Veränderungsprozesses werden durch Informationen vermittelt, die im plot gezeigt werden. Auch werden hier die Auswirkungen der intrapersonellen Wandlung im plot dargestellt. In den anderen vier Filmen (Taxi Driver, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder, Betty Blue) werden die betreffenden erzählerischen Informationen dagegen anders aufgeteilt, indem vermehrt allein die Auswirkungen des voranschreitenden intrapersonellen Wandlungsprozesses im plot gezeigt werden. Auslöser und Gründe der prozesshaften Veränderung sowie die damit verbundenen entscheidenden Ereignisse, Handlungen und inneren Erlebensprozesse der Figur werden in diesen Erzählungen verstärkt in die story verlagert und nur implizit im plot vermittelt. Um ein weiteres Gestaltungsmuster der narrativen Strukturen beschreiben zu können, das bei der Visualisierung intrapersoneller Wandlung verwendet wird, wird eine Hilfskonstruktion in Bezug auf die Verkettung zwischen Ursache und Wirkung aufgebaut, wonach zwischen einem äußeren und einem inneren Ereignisgang unterschieden 344
wird, anders gesagt: Zwischen äußerer und innerer cause-effect chain. Die Ereignisse und erzählerischen Informationen mit direktem Bezug zu Entwicklungsschritten der intrapersonellen Wandlung werden als Elemente einer inneren Kausalstruktur bezeichnet, dagegen werden alle übrigen Ereignisse innerhalb der Erzählung durch Ursache- und Wirkungsverknüpfungen in eine Verknüpfung äußerer Ereignisse verbunden. Die Analysedaten zeigen folgende Bezugsweisen zwischen diesen beiden Strängen inhaltlicher Kausalität: In sechs Beispielfilmen ist eine analoge Korrespondenz zwischen der cause-effect chain der äußeren Handlungszusammenhänge und den kausalen Verknüpfungen der verschiedenen Phasen der charakterlichen Veränderung gegeben (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder), in zwei Filmen wird eine solche Analogie nur abschnittsweise hergestellt und in anderen Filmsegmenten sind die innere und äußere cause effect chain über einen Kontrastbezug (Taxi Driver, Betty Blue) konstelliert. Generell fehlt in diesen beiden Filmen in weiten Teilen der erzählerischen Konstruktion eine solche Verknüpfung zwischen innerer und äußerer Kausalstruktur. Ein weiteres Verhältnis innerhalb kausaler Strukturen, die als Gestaltungsmuster bei der Visualisierung charakterlicher Wandlungsprozesse eine Rolle spielen, lässt sich beschreiben: Durch Verflechtung von proairetischer und hermeneutischer Linie (Thompson 1995: 56) entsteht während des Filmverlaufs von einem szenischen Moment zum anderen eine Ursache-Wirkungs-Kette, während eine zweite erst retrospektiv als Gesamtstruktur der kausalen Zusammenhänge erkennbar wird (Chatman [1978] 1993: 56). Für diese beiden Strukturen können wiederum zwei verschiedene Relationen in den untersuchten Filmen herausgearbeitet werden: Im Fokus stehen dabei stets kausale Konstruktionen erzählerischer Informationen, die in Beziehung zum intrapersonellen Wandlungsprozess stehen. In vier Beispielfilmen sind der Verlauf von Ursache und Wirkung sowie die kausal verknüpfte Endkonstruktion der Geschichte ähnlich strukturiert (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Rocco und seine Brüder): Hier gleicht die Verknüpfung von Ursache und Wirkung in ihrem Verlauf der kausalen Konstruktion, wie sie erst retrospektiv erkennbar wird. Drei andere Filme zeigen dagegen einen deutlichen Unterschied zwischen dem Verlauf von Ursache und Wirkung und den Strukturen der kausalen Gesamtkonstruktion (Taxi Driver, Breaking Glass, Betty Blue): Während des sukzessiv erfolgenden Aufbaus von Ursache und Wirkung dominiert in diesen Filmen die hermeneutische Linie, d. h. viele Informationen werden als rätselhafte Elemente gegeben, für die sich im Moment ihrer Präsentation noch keine klare Verkettung von Ursache und Wirkung erkennen lässt. Erst am Ende der Erzählung fügen sich retrospektiv die inhaltlichen Informationen zu einer kausal schlüssigen Gesamtkonstruktion. Im Folgenden werden als weitere Gestaltungsfaktoren im sechsten Segment Analyseergebnisse zusammengefasst, die zur kausal-hierarchischen Gesamtkonstruktion 345
der Beispielfilme in Beziehung stehen. Dabei wird erkennbar, auf welche Weise die Strukturierung der erzählerischen Informationen in Haupt- und Nebenereignisse – kernels und satellites (Chatman [1978] 1993: 53-56) – zur Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses in Beziehung steht: Es zeigt sich, dass den satellites eine wesentliche Funktion bei der Vermittlung von Informationen über den intrapersonellen Wandlungsprozess zukommt – die erzählerischen Informationen dieser satellites haben in Bezug auf das charakterliche Entwicklungsgeschehen zwar eine bedeutungstragende Funktion, zugleich aber für den Gang der Ereignisse in den kernels keine ausschlaggebende Bedeutung. In drei untersuchten Filmen werden die satellites im Zusammenhang mit dem intrapersonellen Wandlungsprozess zur Vermittlung von drei verschiedenen Informationsarten genutzt (Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Das Piano): Einmal werden in den Nebenhandlungen Informationen über solche Aspekte der Hauptfiguren gegeben, die Potenzial oder Auslöser des intrapersonellen Veränderungsprozesses in sich bergen (Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten). Daneben werden in satellites Nebenhandlungen präsentiert, die selbst ein prozesshafter Entwicklungsgang kennzeichnet (Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten). Durch diese Dynamik wird eine bedeutungsbezogene Korrespondenz mit dem Veränderungsprozess innerhalb des intrapersonellen Wandlungsgeschehens aufgebaut. In einer dritten Form der Informationsgabe werden in den satellites Interpretationen einzelner Entwicklungsschritte innerhalb der charakterlichen Veränderung präsentiert (Das Piano). In vier anderen Filmen dienen die satellites zwar ebenso der Vermittlung von Informationen über den intrapersonellen Wandlungsprozess, doch korrespondiert hier nur jeweils eine einzige inhaltliche Äquivalenz mit der charakterlichen Entwicklung: In Dead Man wird in den satellites der, den Veränderungsprozess vorantreibende, dynamische Duktus aufgebaut. In Taxi Driver dienen die satellites zur Etablierung einer Metapher für die Kerndynamik des Veränderungsprozesses. In Betty Blue wird die Kernereignisfigur des Veränderungsprozesses selbst in zahlreich variierter Form in Szenen der Nebenhandlungen dargestellt, während in Breaking Glass über eine gewisse Dauer des Filmverlaufs verschiedene szenische Interaktionen innerhalb der satellites geschildert, ab einem bestimmten Zeitpunkt des Films – dem zentralen dynamischen Wendepunkt der intrapersonellen Wandlung – aber nicht weitergeführt werden. Rocco und seine Brüder nimmt hier nun eine Sonderstellung ein: Der Erzählstrang zur Figur Simone liefert nur eine Teilgeschichte innerhalb der Gesamterzählung. Die Hierarchie innerhalb der erzählerischen Informationen von kernels und satellites weist daher insgesamt eine abweichende Struktur und Funktion auf. Dabei kommt es zu keiner inhaltlichen Korrespondenz zwischen den satellites und dem intrapersonellen Wandlungsgeschehen. Eine von der oben beschriebenen abweichende hierarchische Ordnungsstruktur wird vom narrative schema (Branigan 1992: 13-17) festgelegt: Mit Hilfe verschiedener 346
Kategorien innerhalb dieses Modells werden die inhaltlichen Informationen einer Geschichte nach den verschiedenen Ereignisarten eingeteilt, die zueinander wiederum durch schematisierte Konfigurationsweisen zur narrativen Gesamtkonstruktion einer Geschichte in Beziehung stehen. In den Strukturen der acht untersuchten Erzählungen können nach den Kategorien des narrative schema folgende Gestaltungsmuster beschrieben werden, die eine Funktion bei der Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses haben. Die zentralen goals (ebd.: 116, 121) der Hauptfiguren etablieren bzw. verändern sich auf drei verschiedene Weisen. In vier Filmen wird zu Beginn ein goal der Hauptfigur aufgebaut, das in der Folge der Ereignisse eine schrittweise Umwandlung bzw. Entwicklung – development (Bordwell/Thompson 1986: 38 f., 90 f.) – in ein anderes goal erfährt (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt). Dabei tritt in zwei Filmen ein weiteres Veränderungsprinzip in Kombination mit dem beschriebenen hinzu: Der jähe Wechsel vom ursprünglichen goal der Hauptfigur zum nächsten (Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt). In zwei weiteren Filmen kommt dieses Prinzip des jähen Wechsels zentraler goals auch ohne Kombination mit einem anderen zum Einsatz (Rocco und seine Brüder, Taxi Driver). Ein über den gesamten Erzählverlauf gleich bleibendes goal der zentralen Figur liefern Breaking Glass und Betty Blue. Für die initiating events (Branigan 1992: 14 ff.) lassen sich in den untersuchten Filmen zwei unterschiedliche Einsatzarten zeigen: In vier Filmen werden diese eine Richtungsänderung des Geschehens initiierenden Ereignisse ohne aktives Eingreifen der Hauptfiguren entweder durch das Handeln anderer Figuren ausgelöst oder entstehen aufgrund äußerer Umstände (Das Piano, Dead Man, Breaking Glass, Betty Blue). In den übrigen vier Filmen sind es die Hauptfiguren selbst, deren Handeln die Entwicklung zentraler, szenischer Situationen beeinflusst (Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Rocco und seine Brüder, Taxi Driver). In beiden Fällen fungieren bestimmte szenische Ereignisse im weiteren Erzählverlauf als complicating actions (ebd.), die als Folge der initiating events in Bezug auf das zentrale goal der Figuren etabliert werden. Das Verhalten der zentralen Figuren in diesen complicating actions eröffnet im weiteren Verlauf zentrale Aspekte auf Visualisierung und Schilderung des intrapersonellen Wandlungsprozesses. Dieser Darstellungsmodus ist in allen Beispielfilmen zu beobachten, unabhängig davon, ob die initiating events durch aktives Handeln der Hauptfiguren in das erzählerische Geschehen eintreten, oder ob diese richtungsändernden Ereignisse durch andere Figuren oder Kräfte von außen initiiert werden.
347
10. Visualisierungsmuster charakterlicher Wandlung – Phänomen Prozesshaftigkeit
In der zweiten Arbeitshypothese dieser Studie wird angenommen, dass die Visualisierung intrapersoneller Wandlung in den untersuchten Filmen durch Gestaltungsstrukturen mit prozesshaften Eigenschaften oder Erscheinungsprofilen aufgebaut sein müsste (vgl. 1.3: 23 f.). Diese Annahme stützt sich auf das Verständnis der charakterlichen Entwicklung als ein an sich unsichtbares prozesshaftes Geschehen. Es werden besonders solche filmästhetischen Mittel untersucht, deren modellhafte Definitionen prozesshafte Phänomene der formalen Gestaltung filmischer Ästhetik fassen und abstrakt umschreiben. Aus den Theoriemodellen werden Begriffe gewählt, die prozesshafte Gestaltungsphänomene filmästhetischer Mittel definieren (z. B. Transformation des initial term, cause-effect chain in time and space u. A. m.). Zudem werden Einsatzprofile filmischer Gestaltungsmuster während des Filmverlaufs daraufhin betrachtet, ob sich in ihnen prozesshafte Strukturen abbilden (z. B. das Verteilungsprofil erzählerischer Elemente auf den drei Strukturebenen des PKSModells, das Einsatzprofil der levels of narration während des Filmverlaufs u. A. m.). Die Analyseergebnisse liefern für die zweite Arbeitshypothese drei unterschiedliche Erkenntnisse zur Beantwortung der zentralen Forschungsfrage: Für die erste Erkenntnis müssen die untersuchten filmästhetischen Mittel in zwei verschiedene Gruppen zusammengefasst werden: für circa zwei Drittel der untersuchten Gestaltungsmuster können deutlich prozesshafte Strukturen in Aufbau bzw. Verwendungsweise herausgearbeitet werden, während die übrigen keine so deutlich prozesshaften Strukturen in Beschaffenheit bzw. Einsatzprofil aufweisen. Die Summe der wesentlichen Bausteine zur Visualisierung charakterlicher Wandlung umfasst jedoch Gestaltungsmuster aus beiden Gruppen: Gestalterische Phänomene mit zentraler Bedeutung für die Darstellung des intrapersonellen Entwicklungsgeschehens zeigen zu größeren Teilen prozesshafte Gestaltungsstrukturen und entsprechend zu geringeren Teilen nicht-prozesshafte. Eine zweite Teilerkenntnis ergibt sich aus der Anordnung der Analyseergebnisse auf der Achse zwischen den beiden idealtypischen Inszenierungsweisen: Gestaltungsmuster, die den drei Segmenten links vom Achsenmittelpunkt zuzuordnen sind, weisen bis auf wenige Ausnahmen stets prozesshafte Strukturen und Einsatzprofile auf. Mit Blick auf Struktur und Verwendungsweisen filmischer Gestaltungsmittel, die in den drei Segmenten rechts vom Achsenmittelpunkt zusammengefasst sind, 349 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
können in den Beispielfilmen nur vereinzelt prozesshafte Phänomene festgestellt werden. Aus dieser Beobachtung lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens wird die Prozesshaftigkeit des intrapersonellen Veränderungsgeschehens vorwiegend durch die Gestaltung der Erscheinung der Figur, ihrer Umgebung und ihrer Handlungen und Interaktionen ins Bild gesetzt. Zweitens werden zentrale Aspekte der intrapersonellen Entwicklung durch die Gestaltungsmuster des discourse, der story bzw. der narration vermittelt. Der Einsatz dieser Gruppe filmischer Mittel ist dabei zumeist nicht-prozesshaft. Für die Prozesse in Struktur und Verwendungsweise filmischer Gestaltungsmittel lässt sich darüber hinaus noch eine dritte Teilantwort auf die zentrale Forschungsfrage formulieren: In den Beispielfilmen, welche die Geschichte einer charakterlichen Reifung erzählen, finden sich auffällig oft deutlich prozesshafte Strukturen und Verwendungsweisen der untersuchten Gestaltungsmittel. In den Filmen, die ein Scheitern der Hauptfigur darstellen, ist diese Prozesshaftigkeit dagegen wesentlich geringer ausgeprägt. Dieser auffällige Unterschied verweist auf die in der dritten Arbeitshypothese formulierte Annahme, an der sich auch die Auswahl der Beispielfilme orientierte. Dabei wird davon ausgegangen, dass filmische Erzählungen, die den intrapersonellen Reifungsprozess der Figur zeigen, andere gestalterische Phänomene und Inszenierungsmuster aufweisen als Filme, welche die charakterliche Entwicklung der Hauptfigur als Weg eines Scheiterns vermitteln.
10.1 Verschiedene Formen der Prozesshaftigkeit Die Analyse filmischer Mittel, deren Strukturen und Einsatzprofile prozesshafte Gestaltungsmuster aufweisen, erlaubt die Definition von vier möglichen Entwicklungen bzw. Veränderungsprozessen: Während eines Filmverlaufs zeigen die gestalterischen Elemente und Strukturen 1. eine schrittweise Zunahme oder 2. eine ebensolche Verringerung. Die Summe bestimmter gestalterischer Elemente (Handlungsrollen, ansteigende Raumdimensionierung u. A. m.) wird also entweder größer, oder aber einzelne Gestaltungselemente fallen Schritt für Schritt aus dem Kontext heraus und es kommt zu einer Verringerung der Zahl filmischer Mittel (z. B. weniger Rollenbrüche, Reduzierung der Zahl von Charakterzügen). Eine 3. mögliche Prozessform ist der sukzessive Austausch, wobei ein etabliertes Gestaltungselement durch ein anderes ersetzt wird. Dies verläuft in mehreren Phasen, bis das neue Element schließlich den Platz des alten einnimmt (z. B. die schrittweise Veränderung des Kostüms einer Figur bis zu einer gänzlich neuen Erscheinung oder ihre voranschreitende Verwandlung in eine neue Rolle). Transformation definiert die vierte Prozessform: Dabei kommt es zur 350
Verschmelzung oder Neukombination verschiedener alter und neuer Eigenschaften einzelner Elemente (Wandlung eines ursprünglichen Charakterzugs, Umformung des körpersprachlichen Ausdrucks einer Figur u. A. m.). Auf dieser Grundlage sind nun die Definitionen der fünf gestalterischen Prinzipien des Neoformalismus neu zu betrachten und zu diskutieren (Bordwell/Thompson 1986: 35 ff.). Die oben erarbeiteten vier Prozessformen ergänzen diese Definitionen sinnvoll, indem sie der abstrakten Beschreibung von Prozesshaftigkeit in Gestaltungsstrukturen einen präziseren Rahmen geben. Vier der neoformalistischen Begriffe similarity und repetition, difference und variation, unity/disunity und parallelism beschreiben Verknüpfungsstrukturen zur Anordnung gestalterischer Elemente in Motif-Reihen (ebd.: 37 f.). Von diesen Definitionen des Neoformalismus werden jedoch die unterschiedlichen Formen prozesshafter Entwicklung, die diese Verknüpfungen generieren, nicht differenziert erfasst: Development, das vierte formale Prinzip des neoformalistischen Modells, definiert etwa ganz allgemein das Phänomen der Prozesshaftigkeit als eine von insgesamt fünf Bezugsarten, die einer Motif-Reihe zugrunde liegen können. Bei der Interpretation der Ergebnisse dieser Studie wird development hingegen nach den vier verschiedenen Arten von Prozesshaftigkeit – Zunahme, Verringerung, Austausch und Umformung – unterschieden. Diese verschiedenen Prozessformen können zudem durch similarity und repetition, difference und variation oder parallelism zu Reihen gestalterischer Elemente verknüpft werden. Nach den hier vorgelegten Ergebnissen muss development also so verstanden werden, dass sich das Phänomen von Prozesshaftigkeit mit Hilfe von Verknüpfungsstrukturen der drei übrigen Prinzipien – similarity und repetition, difference und variation, parallelism – aufbaut und dabei jeweils eine der vier Grundformen von Prozesshaftigkeit – Zunahme, Verringerung, Austausch oder Umformung – aufweist. Das vierte formale Prinzip des neoformalistischen Modells – unity/disunity – verlangt aufgrund der Analyseergebnisse vorliegender Studie eine gesonderte Beschreibung: Werden gestalterische Elemente mittels des Prinzips unity aneinander geknüpft, kann sich keine prozesshafte Entwicklung aufbauen, da in diesem Fall Einheitlichkeit die Gestaltungsstrukturen dominiert. Werden gestalterische Bausteine der filmischen Visualisierung durch das Prinzip disunity zueinander in Beziehung gesetzt, dann dank ihrer jeweiligen Gegensätzlichkeit. Die Abfolge der verknüpften Elemente visualisiert Veränderungen der Formen von Wechsel oder Kontrast – die Visualisierung von Veränderungen mittels disunity geschieht ohne Zwischenstufen und ist daher nicht als prozesshaft zu bezeichnen. Im Rahmen dieser Studie wird das Prinzip des Wechsels jedoch als prozesshaftes Phänomen verstanden und daher als fünfte Kategorie von Prozesshaftigkeit beschrieben. Mit Blick auf die zweite Arbeitshypothese zeigt die Analyse, dass sich die Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses im filmischen Material in vier verschie351
denen Arten von Prozesshaftigkeit, welche die Entwicklung bzw. Veränderung in drei oder mehr Phasen darstellen, manifestiert. Hinzu tritt als fünftes Verknüpfungsprinzip der Wechsel bzw. Gegensatzbezug zwischen gestalterischen Elementen. Betrachtet man die beiden thematisch verschiedenen Gruppen der ausgewählten Filme, so lassen sich unterschiedliche Formen der Verwendung prozesshafter Strukturen bzw. Gegensatzbezüge zeigen. Filme, die eine Geschichte der Reifung schildern, etablieren in den gestalterischen Strukturen sowohl die vier beschriebenen Arten prozesshafter Entwicklung als auch Verknüpfungen durch Wechsel- bzw. Gegensatzbezüge. Filme, die vom Scheitern der Hauptfigur erzählen, zeigen einen geringeren Einsatz der vier Prozessarten und dafür eine stärkere Verwendung von disunity bei der Darstellung von Veränderungen. Weitere grundsätzliche Unterschiede der Gestaltungsmuster, die sich mit Hilfe der Analyseergebnisse für beide Gruppen zeigen lassen, werden in 11. näher erläutert und systematisch dargestellt.
10.2 Gestaltungsstrukturen mit hohem Maß an Prozesshaftigkeit Bei den Gruppen von Gestaltungsmustern, die der linken Hälfte der Achsenmodells zwischen den Polen idealtypischer Inszenierungen zugeordnet sind, weisen die Einsatzprofile jeweils ein hohes Maß prozesshafter Strukturen auf: Gestaltungselemente, die ein hoher Grad unmittelbarer Sichtbarkeit im Filmbild kennzeichnet, etablieren im filmischen Material der untersuchten Filmen deutlich prozesshafte Strukturen. In Folge der prozesshaften gestalterischen Dynamik beim Einsatz dieser Mittel manifestieren sich wesentliche Anteile der Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses. Hingegen lassen sich für die Gruppen der Gestaltungselemente, die der rechten Hälfte der Achse zugeordnet sind, nur für wenige filmische Mittel prozesshafte Verwendungsweisen herausarbeiten. Die wenigen Gestaltungsmuster des discourse und der narrativen Konstruktion wiederum, die ein prozesshaftes Einsatzprofil aufweisen, kennzeichnet auffälligerweise eine ausgeprägtere Dynamik; diese filmischen Strukturen tragen wesentlich zur Visualisierung charakterlicher Veränderung bei. Im Folgenden werden die Gestaltungsmuster mit prozesshaften Strukturen zusammengefasst und mit Blick auf ihre Verwendung in den acht Beispielfilmen erläutert. Filmische Gestaltungsmittel, welche die Erscheinung der zentralen Figur im Filmbild manifestieren und den szenischen Raum, der in direkter Beziehung zu den Handlungen dieser Figur steht, etablieren, lassen sich zu einer ersten Gruppe mit deutlich prozesshaften Einsatzprofilen zusammenfassen. In allen acht untersuchten Filmen sind diese filmischen Mittel von deutlicher Prozesshaftigkeit gekennzeichnet. Kostüm und Maske, Körpersprache und Mimik der acht Hauptfiguren verändern 352
sich während des Filmverlaufs sukzessive. Zudem entwickeln sich prozesshafte Bezüge zwischen diesen Faktoren der Erscheinung der Hauptfigur und den sich ebenfalls verändernden Gestaltungsprofilen anderer Figuren innerhalb einer Erzählung. Die Raumkonstruktion gestaltet sich durch die Bewegungen der zentralen Figur vom einen Schauplatz zum anderen und durch ihren Aufenthalt in verschiedenen Räumen. Mit Ausnahme von Taxi Driver unterliegen die Entwicklungsstrukturen der untersuchten Filme im Bau der cause-effect chain in space einer deutlich prozesshaften Dynamik. Zur Inszenierung von Raum und gegenständlicher Ausstattung können für sieben der acht Filme (die Ausnahme hier ist Betty Blue) prozesshafte Gestaltungsweisen von Gegenständen als visuelle Bildelemente herausgearbeitet werden: Dabei verändert sich die Einbindung zentraler Gegenstände in das Szenenbild entweder sukzessive oder es kommt zur mehrphasigen Wandlung ihrer Anordnung bzw. Form im Bild. Zu einer zweiten großen Gruppe mit deutlich prozesshaften Gestaltungsdynamiken werden filmische Mittel zusammengefasst, deren visuelle Elemente Handlungen und Rollenstrukturen der Figur im Filmbild manifestieren. In sieben Filmen (Betty Blue ist auch hier die Ausnahme) zeigen ihre Profile und Inszenierungsweisen deutlich ausgeprägte prozesshafte Entwicklungs- und Veränderungsstrukturen. Betrachtet man dies in Bezug auf die jeweiligen Emotionsstrukturen, so ergibt sich nach Analyse der Prozesshaftigkeit dieser Gestaltungselemente eine Aufteilung der Beispielfilme in zwei Gruppen: In Geschichten eines Reifungsprozesses der Hauptfigur etabliert die Inszenierung dieser Emotionsstrukturen eine prozesshafte Entwicklung, während sich für die Rollen scheiternder Protagonisten keine prozesshafte Dynamik zeigen lässt. Betrachtet man nun das Gesamtprofil aller Handlungsrollen eines Films mit Blick auf das Rollenprofil der Hauptfigur, so wird zwischen einzelnen Aspekten der rollenbezogenen Inszenierungsmuster ein Bezugssystem prozesshafter Veränderung erkennbar. Mit Hilfe des handlungszentrierten Analyserasters des PKS-Modells (Wuss 1993: 62 ff.) können weitere prozesshafte Gestaltungsprofile der szenischen Handlungen der Protagonisten herausgearbeitet werden. Dabei zeigen außer Breaking Glass alle Filme eine dynamische Verteilung handlungsbezogener Gestaltungselemente auf den drei Strukturebenen. Auch ist zwischen den Verhaltensweisen der Hauptfigur und den Handlungen anderer Figuren, die auf der perzeptions- und stereotypgeleiteten Ebene liegen, ein Bezugssystem aufgebaut, das im Filmverlauf einem stufenweisen Veränderungsprozess unterliegt. Ein letztes prozesshaftes Gestaltungsphänomen auf Basis der visuellen Figureninszenierung wird ebenfalls der hier beschriebenen Gruppe von Visualisierungsmustern zugeordnet: Der Zuschauer bildet sich eine Vorstellung von der Charakterstruktur der Hauptfigur auf Basis der Gesamtheit aller figurenbezogenen visuellen Gestaltungselemente. Nach Branigan lässt sich diese Annahme in Form einer Liste von Charakterzügen beschreiben, der list of traits (Branigan 1992: 208), die um ein 353
thematisches Zentrum – center (ebd.: 19) – organisiert ist. Mit Hilfe der Analyseergebnisse lässt sich zeigen, dass im Zentrum dieser Charakterkonstruktion jeweils ein konflikthafter Bezug steht, der sich in allen Beispielfilmen in einer prozesshaften Entwicklung auflöst. Drei von vier Veränderungsdynamiken finden sich in den Definitionen der in 10.1 beschriebenen Formen von Prozesshaftigkeit wieder. Die Liste der Charakterzüge erfährt während der Auflösung der konflikthaften Konstellation eine Reduzierung/Verringerung, Erweiterung/Zunahme oder Umwandlung/Umformung. Die vierte Dynamik im konflikthaften center der list of traits zeigt ein Profil, das bisher nicht als eigene Erscheinungsform von Prozesshaftigkeit definiert wurde: Die Veränderung des Dominanzverhältnisses zwischen einander konflikthaft gegenüber stehenden Charakterzügen. Ist dieses Verhältnis zunächst gleichberechtigt und horizontal, so verändert es sich im Verlauf des Veränderungsprozesses stufenweise zu einer vertikalen Hierarchie. Die dritte Gruppe von Gestaltungsmustern mit eindeutig prozesshaftem Einsatzprofil findet sich in den drei Segmenten auf der rechten Achsenhälfte. Hier sind die Gestaltungsmittel des discourse und der narrativen Konstruktion eingeordnet. Bei der überwiegenden Zahl der filmischen Mittel in diesem Abschnitt lassen sich keine prozesshaften Verwendungsweisen erkennen. Nur für bestimmte Prinzipien innerhalb der hierarchischen Ordnungsstrukturen erzählerischer Elemente sowie für einige Faktoren des narrative schema können solche Dynamiken beschrieben werden. Mit Hilfe des Untersuchungsmusters von kernels und satellites können für die Beispielfilme Ereignisketten herausgearbeitet werden, die nicht der Hauptlinie von Ursache und Wirkung zugeordnet sind, aber durchaus wesentliche Informationen über die intrapersonelle Wandlung vermitteln und dabei eine deutlich prozesshafte Gestaltungsdynamik zeigen. Die Gestaltungsmuster der cause-effect chain können auf Basis der Analyseergebnisse nicht als zentrale und relevante Visualisierungsmuster intrapersoneller Wandlung bezeichnet werden, da sie Bestandteil eines jeden Spielfilms sind. In allen analysierten Filmen findet sich jedoch eine Art zweiter cause-effect chain, parallel zur Hauptverknüpfungslinie von Ursache und Wirkung anhand bestimmter Ereignismomente aufgebaut. Diese Handlungsmomente sind gemäß der Typisierung erzählerischer Element nicht kernels, sondern satellites. In diesem Zusammenhang lässt sich von zwei Ereignisketten – einer äußeren und einer inneren Handlung – sprechen. In allen untersuchten Filmen sind zwei solche kausalen Linien aufgebaut. Die Verwendung der satellites als narrative Organisationsstrukturen hat dabei für die Präsentation prozesshafter Visualisierungsmuster intrapersoneller Wandlung zentrale Bedeutung. Das Einsatzprofil der satellites selbst ist aber nicht prozesshaft, vielmehr werden durch satellite-Reihen kausal verknüpfte erzählerische Informationen vermittelt und prozesshafte Entwicklungen präsentiert, die mit der Hauptlinie von Ursache und Wirkung nicht direkt verbunden sind. Diese prozess354
haften inhaltlichen Zusammenhänge korrespondieren deutlich mit Veränderungen im Rahmen der intrapersonellen Wandlung. Durch die in den satellites vermittelten erzählerischen Informationen bildet sich ein Subtext, in dem sich Metaphern und Kommentierungen der charakterlichen Veränderung manifestieren. In sechs Filmen wird eine Analogie zwischen beiden Ereignisketten aufgebaut: Ereignisse und Veränderungen in der äußeren Handlung stehen hier in einem indirektem Bezug mit der prozesshaften Entwicklung der intrapersonellen Veränderung (Das Piano, Kleine Fluchten, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder). In zwei Filmen findet man zwar keine solche Analogie, doch wird auf der zweiten kausalen Ebene der Charakter des jeweiligen Wandlungsprozesses thematisiert (Taxi Driver, Betty Blue). Vergleichbar mit der Relevanz der satellites für die Visualisierung des charakterlichen Veränderungsprozesses zeigt sich die besondere Bedeutung narrativer Ordnungsmuster – Reihungen, Trilogien und Doppelungen – für den Aufbau prozesshafter Gestaltungsstrukturen im filmischen Material. Der Einsatz dieser Muster selbst kann nicht als prozesshaft bezeichnet werden, doch bilden Reihungen, Trilogien und Doppelungen visueller Elemente Konfigurationen, deren Folge und Gestaltungsstruktur prozesshafte Veränderungen aufweisen. In sieben Filmen (nicht in Breaking Glass) manifestieren handlungs- und schauplatzbasierte Visualisierungsmuster gestalterische Veränderungen, die zur Vermittlung des intrapersonellen Wandlungsprozesses beitragen. Auch mit Blick auf die Begriffe initial term und dessen transformations (Branigan 1992: 4-9) bestätigen die Analyseergebnisse die zweite Arbeitshypothese: Bereits das theoretische Verständnis dieser beiden Begriffe erfasst in den abstrakten Definitionen der Strukturmerkmale das Phänomen der Prozesshaftigkeit. Die Gestaltungsmuster des initial term und seiner Transformationen weisen ausgeprägte prozesshafte Strukturen auf und leisten einen wesentlichen Beitrag zur Darstellung des intrapersonellen Wandlungsprozesses. In den inszenatorischen und inhaltlichen Elementen, auf deren Basis sich der initial term etabliert, präsentiert sich das Kerngeschehen: Die zentrale Veränderungsdynamik und dramaturgische Kernfigur des charakterlichen Wandlungsprozesses. Zwei erzählerische Elementtypen des narrative schema – complicating action und goal – sind weitere Gestaltungsmuster der Narration, für die mit Hilfe der Analyseergebnisse prozesshafte Strukturen beschrieben werden können. Aktion und Reaktion der Protagonisten in Bezug auf die Ereignistypen der complicating actions verändern sich im Handlungsverlauf aller acht Filme sukzessive und grundlegend. Die prozesshafte Veränderung des Verhaltens der zentralen Figuren bei konflikthaften Ereignissen visualisiert wesentliche Aspekte intrapersoneller Veränderung. Der Einsatz des goal als Element des narrative schema zeigt in vier Beispielfilmen deutlich prozesshafte Strukturen. In den Geschichten einer Reifung können prozesshafte Veränderungen in 355
Bezug auf Abfolge und Veränderung der goals der Hauptfigur gezeigt werden. Filme, die vom Scheitern der Hauptfigur erzählen, zeigen hingegen keine prozesshaften Gestaltungsstrukturen der in der narrativen Konfiguration etablierten goals. Bei zwei Filmen wirken stufenlose Wechseldynamiken zwischen verschiedenen goals, die daher nicht als genuin prozesshaft bezeichnet werden können und zudem in extremem Kontrast zueinander stehen (Rocco und seine Brüder, Taxi Driver). Bei zwei weiteren Geschichten eines Scheiterns kommt es zu keiner Dynamik in Bezug auf die etablierten goals der Hauptfigur (Breaking Glass, Betty Blue). Die einmal aufgebauten goals bleiben hier über den gesamten Handlungsverlauf hinweg unverändert.
10.3 Gestaltungsstrukturen ohne deutliche Prozesshaftigkeit Im nun Folgenden werden Gestaltungsmuster zusammengefasst, die nach den Analyseergebnissen relativ häufig eingesetzt werden, deren Strukturen und Einsatzprofile jedoch keine prozesshafte Entwicklungs- oder Veränderungsdynamik aufweisen. Sie spielen aber dennoch bei der Visualisierung intrapersoneller Wandlung eine wichtige Rolle. Auffällig ist an dieser Gruppe filmischer Mittel, dass sich nur sehr wenige in den drei Segmenten auf der linken Achsenhälfte finden. Die meisten zentralen Gestaltungsmuster zur Visualisierung charakterlicher Wandlung ohne prozesshafte Strukturen befinden sich in den drei Segmenten der rechten Achsenhälfte. Für die zentrale Frage dieser Studie ergeben sich daraus nun zwei Erkenntnisse: Einmal wird deutlich, dass unmittelbar sichtbare filmische Mittel visuell prozesshafte Strukturen manifestieren – die Prozesshaftigkeit der charakterlichen Entwicklung wird durch den spezifischen Einsatz dieser Gestaltungsmuster ins Bild gesetzt. Zum anderen zeigen die filmischen Mittel, die eine indirekte bzw. implizite Sichtbarkeit kennzeichnet, in ihrer Verwendungsweise keine prozesshaften Strukturen. Dies betrifft die meisten filmischen Mittel des discourse und einige narrative Ordnungsprinzipien. Mit Hilfe weniger nicht-prozesshafter Gestaltungsmuster der Figureninszenierung und des Szenenbilds werden Aspekte der Charakter- und Persönlichkeitsstruktur der Hauptfigur sowie einzelne Bedeutungsaspekte des charakterlichen Veränderungsprozesses vermittelt. So entstehen durch Kontraste und Analogien zwischen der äußeren Erscheinung (Kostüm, Maske, Physiognomie) der Hauptfigur und anderen Figuren Bezugssysteme, die einzelne Aspekte des Charakters der Hauptfigur deutlich hervortreten lassen. Durch Platzierung zahlreicher Verhaltensweisen der Hauptfigur auf der perzeptionsgeleiteten Ebene werden die Elemente der Charakterkonstruktion zusammen gefügt, die im Filmverlauf zu zentralen Aspekten des intrapersonellen Entwicklungsgeschehens werden. 356
Die große Differenz in Bezug auf die Rollenanzahl der Hauptfiguren in den untersuchten Filmen weist auf deutliche Unterschiede in der Figureninszenierung hin: Figuren, die einen Reifungsprozess absolvieren, werden mit einer großen Zahl von Rollen inszeniert. Figuren hingegen, deren intrapersonelle Veränderung zu einem Scheitern führt, haben nur wenige Rollen inne. Die Bezüge zwischen Szenenbild und den Handlungen der Figur sind nicht prozesshaft. In den hier behandelten Filmen entstehen Bezüge zwischen den Schauplätzen, den sich auf ihnen abspielenden Ereignissen und den Handlungen der zentralen Figur: Art und Ausstattung verschiedener szenischer Räume visualisieren übergreifende Themen, die als Metaphern für Teilaspekte der charakterlichen Wandlung stehen. Zudem spiegeln die szenischen Räume Aspekte des charakterlichen Veränderungsprozesses, die zum Innenleben der Figur in Beziehung stehen. Im nächsten Abschnitt werden solche Gestaltungsmuster des discourse beschrieben, die für die Visualisierung von Wandlungsprozessen relevant sind, ohne dass sie selbst prozesshafte Strukturen aufweisen. Der allgemeine Duktus der Wissensgabe – relativ ungehinderte Vermittlung von Wissen oder überwiegende Wissensverweigerung – weist in den Beispielfilmen folgendes Einsatzprofil auf: In allen Erzählungen einer charakterlichen Reifung verläuft die Vermittlung des erzählerischen Wissens relativ ungehindert und offen. In den Geschichten vom Scheitern der Hauptfigur ist dagegen das Maß an Wissenszurückhaltung und -verweigerung hoch. Diese Gestaltungsprofile innerhalb beider Gruppen spiegeln sich wider in den Verflechtungen von proairetischer und hermeneutischer Linie bzw. aus retrospektiver Schau in den Strukturen der kausalen Zusammenhänge der analysierten Erzählungen. Eine dichte Folge von Rätsel und Lösung bieten drei Filme einer Reifung (Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt, Das Piano) und in einem Film eines Scheiterns (Rocco und seine Brüder) – rätselhafte erzählerische Zusammenhänge werden durch zeitnahe Gaben weiterer Informationen aufgelöst. Dabei zeigen Kausalstruktur und logische Konstruktion der erzählerischen Zusammenhänge aus retrospektiver Schau eine geringe bis gar keine Differenz. In drei Filmen eines Scheiterns und in einem Film einer Reifung ist die hermeneutische Linie innerhalb der Erzählweise vorherrschend (Taxi Driver, Betty Blue, Breaking Glass und Dead Man). Die Menge verrätselter Informationen ist hier insgesamt größer. Von den dabei entstehenden Fragen werden im Filmverlauf nur wenige durch weitere Informationsgaben in recht großer zeitlicher Distanz (in Bezug auf die Filmlaufzeit) zur Entstehung des Rätsels beantwortet. Viele ungeklärte Zusammenhänge und Fragen bleiben bestehen. Die Profile der Kausalkonstruktionen während des Filmverlaufs und aus retrospektiver Sicht unterscheiden sich in diesen Filmen deutlich. Betrachtet man die Weisen der Wissensvermittlung, zeigt sich folgendes Einsatzprofil: Bei der Mehrzahl der analysierten Filme rankt sich die gesamte Wissensmenge 357
– range of knowledge (Bordwell/Thompson 1986: 92, 111) – eng um die Hauptfigur. Nur in zwei Filmen reicht der Wissensumfang teilweise über diese Begrenzung hinaus (Das Piano, Kleine Fluchten), doch beziehen sich dabei die inhaltlichen Aspekte dieses umfangreicheren Gesamtwissens wesentlich auf den zentralen Ereigniskern. In sieben Filmen (nicht in Rocco und seine Brüder) wird ein großer Teil der erzählerischen Informationen im auf die zentrale Figur beschränkten Wissenshorizont vermittelt, also aus einer restricted position (Bordwell 1985: 65). Ein weiteres Visualisierungsmuster intrapersoneller Wandlung zeigen die Gestaltungsstrukturen der depth of knowledge (ebd.: 94 f.). In sechs untersuchten Filmen wird durch die Inszenierung mehrerer szenischer Momente ein tieferer Einblick in das Innenleben der zentralen Figur gestaltet (Taxi Driver, Der mit dem Wolf tanzt, Dead Man, Kleine Fluchten, Das Piano, Breaking Glass). In zwei Erzählungen eines Scheiterns wird dagegen kaum ein solcher Einblick ermöglicht (Rocco und seine Brüder, Betty Blue). Spezifische Verwendungsweisen der levels of narration werden in den Filmen eingesetzt, um bestimmte Aspekte des Verhaltens der zentralen Figur während des Filmverlaufs hervorzuheben. In diesen Szenen werden wesentliche Momente des charakterlichen Wandlungsprozesses präsentiert, wobei sich die Gestaltungsmuster der filmischen Vermittlung dieser erzählerischen Aspekte auffallend von Gestaltungsstrukturen in anderen großen Teilabschnitten des Filmverlaufs unterscheiden. In allen Beispielfilmen werden bestimmte szenische Momente durch den parallelen Einsatz hierarchisch sehr unterschiedlicher levels of narration und von pure movement of narration (Branigan 1992, S, 81) inszeniert. Diese Erzählfunktionen lassen erzählerische Inhalte mit Bezug zum intrapersonellen Wandlungsprozess deutlich aus dem Gesamtfluss der Informationen hervortreten. In zwei Filmen etabliert das Einsatzprofil der levels of narration zudem eine spezifische Präsentationshaltung, die wiederum erzählerische Informationen mit Bezug zur intrapersonellen Wandlung vermittelt (Taxi Driver, Dead Man). Ebenfalls in zwei Filmen (Kleine Fluchten, Taxi Driver) lässt sich eine phasenweise prozesshafte Zunahme des parallelen Einsatzes hierarchisch unterschiedlicher levels of narration bzw. pure movement of narration konstatieren. Die filmischen Blicke auf das Geschehen vor der Kamera erfolgen in allen acht Filmen überwiegend aus einer für das Zeigen der Handlungen und Ereignisse idealen Perspektive, dem perfect view (ebd.:137). Die Verwendung ungewöhnlicher Kamerapositionen – eccentric angle (ebd.: 138 f.) – findet man in vier Filmen (Das Piano, Dead Man, Betty Blue, Taxi Driver). In diesen auffälligen Blickpositionen und -perspektiven werden vor allem szenische Momente präsentiert, die Ereignisaspekte des intrapersonellen Wandlungsprozesses beinhalten. In zwei Filmen (Kleine Fluchten, Taxi Driver) kommt es bei der Vermittlung wandlungsrelevanter Informationen zu einer Beschränkung des Blicks. In Breaking Glass wird diese Beschränkung des 358
Blicks – restricted view (Bordwell/Thompson 1986: 110) – sogar als zentrales Visualisierungsmuster zur Darstellung des charakterlichen Wandlungsprozesses eingesetzt. In fast allen untersuchten Filmen werden häufig Großaufnahmen verwendet (die Ausnahme ist Betty Blue). In szenischen Momenten mit Bezug zur intrapersonellen Wandlung fokussiert die Kamera auf das Gesicht der Hauptfigur. Die filmische Blickinszenierung aus der Perspektive der Hauptfigur – POV (Branigan 1992: 70, 139, 142, 162 f.) – visualisiert in den untersuchten Filmen vor allem Momente emotionalen Erlebens der Protagonisten sowie Ereignisse in ihrem charakterlichen Veränderungsprozess. Blicke auf Ereignisse und Situationen aus dem POV der Hauptfiguren werden in vier Filmen häufig eingesetzt (Dead Man, Taxi Driver, Kleine Fluchten, Der mit dem Wolf tanzt), wobei sich in drei Filmen ein sehr deutlicher Bezug zwischen dem Einsatz des POV und der Visualisierung wandlungsrelevanter Inhalte (Dead Man, Taxi Driver, Kleine Fluchten) abzeichnet. In Der mit dem Wolf tanzt existiert ein ebensolches Bezugssystem, das jedoch nur in wenigen szenischen Momenten installiert wird. In zwei anderen Filmen (Das Piano, Breaking Glass) kommt es nur in relativ wenigen Momenten zu einem vergleichbaren Einsatz des POV aus der Perspektive der zentralen Figuren. Die so vermittelten erzählerischen Informationen beziehen sich direkt auf das innere Erleben der Hauptfigur während entscheidender Momente ihrer Wandlung. Durch variable Einstellungsgrößen, etwa von Nähe oder Distanz der Blickposition zur Hauptfigur, werden in verschiedenen Passagen visuelle Hinweise auf Vorgänge und Veränderungen ihres Innenlebens gegeben. Auch wird die Gestaltung der Bezüge zwischen den räumlichen Positionen der Figuren dazu genutzt, visuelle Anmutungen der Veränderung zu präsentieren. Gestaltungsmuster narrativer Ordnungsprinzipien, die das zeitliche System einer filmischen Erzählung strukturieren, spielen eine zentrale Rolle bei der Visualisierung der intrapersonellen Wandlung. Die Verwendung dieser Gestaltungsmittel weist im jeweiligen Verlauf der hier untersuchten Filme jedoch keine prozesshaften Muster auf. Durch Auslassung zeitlicher Abschnitte – Überspringen bzw. Raffen – und rückblickende Zeitsprünge – flashback – werden in den filmischen Erzählungen die zentralen Eigenarten der intrapersonellen Veränderungsprozesse dargestellt. Dieser Entwicklungsvorgang vollzieht sich in Phasen und über eine längere Zeitspanne hinweg. Durch Auslassung, Raffung sowie Vor- und Rücksprünge entsteht ein Vergleichsmoment zwischen den im plot visualisierten und zusammen gefügten Zeitabschnitten der Wandlung. Dabei werden deutlich verschiedene Veränderungsgrade erkennbar. Ein zweites wesentliches Mittel filmischer Zeitdarstellung, die Zeitdehnung, ist für sechs Filme bei der Visualisierung des intrapersonellen Wandlungsprozesses zu verzeichnen. Für den intrapersonellen Entwicklungsprozess der Protagonisten zentrale Momente werden vermehrt durch Zeitdehnungseffekte visualisiert (Dead Man, Der 359
mit dem Wolf tanzt, Das Piano, Kleine Fluchten, Taxi Driver, Breaking Glass). Dabei werden emotionale Erfahrungen und Momente der Entschlussfassung als subjektive Erlebnisse der Hauptfiguren losgelöst vom linearen Zeitfluss inszeniert.
360
11. Visualisierungsmuster charakterlicher Wandlung – Unterschiede zwischen Reifung und Scheitern
Die für diese Studie ausgewählten filmischen Erzählungen sind zwei thematisch unterschiedlichen Gruppen zuzuordnen. Zur ersten Gruppe zählen die vier Filme, die einen charakterlichen Reifungsprozess schildern. Dabei verändert sich die Lebenssituation der Hauptfigur positiv – die Lebensbewältigung gelingt ihr um einiges besser (Das Piano, Dead Man, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten). In der zweiten Gruppe werden vier Geschichten erzählt, in deren Verlauf die Hauptfigur scheitert (Taxi Driver, Rocco und seine Brüder, Betty Blue, Breaking Glass). Die charakterliche Wandlung führt zu einer Verschlechterung der Lebenssituation – die Lebensbewältigung wird zunehmend problematischer. Die dritte Arbeitshypothese ging von einer signifikanten Verschiedenheit der filmischen Gestaltungsmuster zur Visualisierung dieser grundlegend unterschiedlichen intrapersonellen Wandlungsprozesse aus (vgl. 1.3: 23 f.). Die Untersuchungsergebnisse bestätigen diese Annahme deutlich. Anhand der Gestaltungsstrukturen der Erzählungen, die eine charakterliche Reifung oder eine intrapersonelle Dekonstruktion präsentieren, lassen sich drei grundlegende Erkenntnisse über die Unterschiedlichkeit der Visualisierungsmuster gewinnen.
11.1 Menge der eingesetzten Gestaltungsmuster Die erste Erkenntnis bezieht sich auf die Verschiedenheit des Umfangs bzw. der Anzahl der verwendeten Gestaltungsmuster in den beiden Filmgruppen. Filme, welche die charakterliche Reifung ihrer Hauptfigur schildern, weisen eine größere Menge an Gestaltungsmitteln zur Visualisierung der intrapersonellen Wandlung auf als die Erzählungen vom Scheitern. Zudem können verschiedene filmische Mittel herausgearbeitet werden, die jeweils nur zur Visualisierung einer der beiden charakterlichen Veränderungsprozesse – Reifung oder Scheitern – dienen. Eine relativ große Menge von Gestaltungsmustern wird in beiden Filmgruppen auf ähnliche Weise eingesetzt. (Abbildung 9)
361 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Abbildung 9: Menge der eingesetzten Gestaltungsmuster für Reifung und Scheitern Abbildung 9 gibt einen Überblick über den Einsatz der Gestaltungsmuster in den beiden Filmgruppen. Dabei zeigen sich auffällige Unterschiede bei den Elementen Kostüm, Maske, Körpersprache, Mimik und emotional-affektiver Ausdrucksarbeit der Figureninszenierung: In filmischen Erzählungen von scheiternden Charakteren ist die Zahl dieser unmittelbar sichtbaren Gestaltungsstrukturen deutlich größer – die gut sichtbaren filmischen Mittel werden wesentlich häufiger zur Visualisierung des Scheiterns eingesetzt als zur Präsentation einer Reifung. Die übrigen in beiden Gruppen eingesetzten Gestaltungsmuster werden in Filmen über das Scheitern seltener verwendet.
362
Abbildung 10: Häufigste Gestaltunsmittel zur Visualisierung der charakterlichen Wandlung in Geschichten der Reifung
Abbildung 11: Häufigste Gestaltunsmittel zur Visualisierung der charakterlichen Wandlung in Geschichten des Scheiterns 363
Abbildung 12: weitere relativ häufig eingesetzte Gestaltunsmittel in Geschichten der Reifung
Abbildung 13: weitere relativ häufig eingesetzte Gestaltunsmittel in Geschichten des Scheiterns 364
11.2 Gestaltungsmuster - jeweils spezifisch für Reifung oder Scheitern In Tabelle 5 werden Gestaltungsmuster aufgeführt, die jeweils nur in einer der beiden thematisch gegensätzlichen Filmgruppen der Visualisierung von Wandlungsprozessen zum Einsatz kommen.
Tabelle 5: Filmische Gestaltungsmuster – jeweils spezifisch für Reifung oder Scheitern
365
11.3 Art und Maß der Prozesshaftigkeit in Gestaltungsstrukturen beider Themen (Reifung und Scheitern) Die zweite Erkenntnis zur Differenz der Visualisierungsmuster betrifft den Einsatz prozesshafter Gestaltungsstrukturen. Insgesamt können fünf verschiedene Formen von Prozesshaftigkeit herausgearbeitet werden (vgl. 10.1: 350): Zugewinn, Verringerung, sukzessiver Austausch, Umformung und Wechsel. In Bezug auf die Verwendung dieser prozesshaften Gestaltungsprinzipien können zwei aufeinander aufbauende Teilerkenntnisse beschrieben werden: 1. In den beiden thematisch getrennten Gruppen filmischer Erzählungen fällt eine unterschiedliche Verteilung im Einsatz dieser fünf Arten prozesshafter Gestaltungsstrukturen auf – für die filmische Präsentation einer charakterlichen Reifung kommen alle fünf Arten prozesshafter Dynamiken zum Einsatz, doch überwiegen Zugewinn, Verringerung, sukzessiver Austausch und Umformung, während Wechsel nur selten eingesetzt werden. Bei Filmen, welche die Geschichte eines Scheiterns vermitteln, werden hingegen Zugewinn, Verringerung, sukzessiver Austausch und Umformung in geringerem Maße eingesetzt – hier findet sich wesentlich häufiger das Prinzip des Wechsels. 2. Die zweite Teilerkenntnis im Zusammenhang mit dem Begriff der Prozesshaftigkeit bezieht sich auf das Gesamtmaß dieser dynamischen Prinzipien in beiden Gruppen: Eine größere Zahl prozesshafter Gestaltungsmuster und Verwendungsweisen gestalterischer Mittel zeigt sich in Filmen, welche die Entwicklung einer Reifung präsentieren. In Erzählungen vom Scheitern der Hauptfigur ist das Maß an Prozesshaftigkeit in den Visualisierungsmustern dagegen deutlich geringer. In der folgenden tabellarischen Darstellung werden nur Gestaltungsmuster aufgeführt, die eine deutliche Differenz im Vergleich der Prozesshaftigkeit aufweisen.
366
Tabelle 6: Gestaltungsmuster der Visualisierung von Reifung oder Scheitern und deren Maß an Prozesshaftigkeit 367
11.4 Visuelle Auffälligkeit, strukturelle Prägnanz und Komplexität – Unterschiede in den Gestaltungsstrukturen von Reifung und Scheitern Die dritte grundlegende Erkenntnis in Bezug auf Verschiedenheiten zwischen beiden Gruppen betrifft die visuelle Auffälligkeit und die strukturelle Prägnanz der zur Visualisierung von Wandlungsprozessen relevanten Gestaltungsmuster: In den Filmen, die einen Reifungsprozess präsentieren, ist die Mehrzahl der betreffenden Visualisierungsmuster strukturell prägnant aufgebaut und formal dominant. Die Darstellungen des Scheiterns der Hauptfigur weisen dagegen einen weniger auffälligen Einsatz relevanter Gestaltungsmuster auf. Die gestalterische Strukturierung dieser filmischen Mittel ist zwar ebenfalls formal systematisiert, im Vergleich zur anderen Gruppe jedoch weniger konsequent und komplex.
368
Tabelle 7: Visuelle Auffälligkeit, strukturelle Prägnanz und Komplexität – Unterschiede in den Gestaltungsstrukturen von Reifung und Scheitern
11.5 Reifung und Scheitern - Unterschiede in Inhalt und filmischer Visualisierung Zwischen den beiden thematisch gegensätzlichen Gruppen ergibt sich ein prägnantes Profil von Differenzen der Gestaltungsstrukturen. Damit können wichtige Aspekte der Ausgangsfragen beantwortet werden. 1. Darstellungen eines Reifeprozesses weisen eine größere Zahl an Gestaltungsmustern auf als Darstellungen eines Scheiterns. 2. Anhand des Materials können fünf Arten von Prozesshaftigkeit beschrieben werden: Während in Darstellungen eines Reifeprozesses alle fünf Arten – Zugewinn, 369
Verringerung, sukzessiver Austausch, Umformung, Wechsel – eingesetzt werden, kommt in Darstellungen eines Scheiterns der Wechsel signifikant häufiger zum Einsatz. 3. Darstellungen einer Reifung zeigen ein höheres Maß prozesshafter Gestaltungsmuster als Darstellungen eines Scheiterns. 4. Einige der untersuchten Gestaltungsmuster sind für nur jeweils eine der beiden Filmgruppen als typologisch zu bezeichnen. 5. Insgesamt sind visuelle Auffälligkeit und strukturelle Prägnanz in Darstellungen einer Reifung höher als in Darstellungen eines Scheiterns. Einer der wichtigsten Unterschiede bei der Präsentation von Veränderungsprozessen zwischen beiden Filmgruppen sei hier noch einmal erläutert: Die Aufteilung erzählerischer Inhalte auf story und plot zeigt für beide Gruppen ein jeweils eigenes Profil. In allen Filmen, die Prozesse eines Reifens der Hauptfigur darstellen, werden zentrale Faktoren dieser charakterlichen Entwicklung im plot inszeniert. Auslöser und Verlauf der Veränderungszyklen werden durch die Inszenierung ihres Innenlebens und ihrer Handlungen und deren Folgen präsentiert. In drei Geschichten eines Scheiterns werden dagegen wesentliche Teile des Veränderungsprozesses nicht im plot inszeniert (Betty Blue, Taxi Driver, Breaking Glass). Viele Faktoren und Gründe des Scheiterns der Hauptfiguren werden in diesen Filmen offen gelassen und nur andeutungsweise in der story impliziert: Warum handelt Betty so unbeherrscht (Betty Blue) und warum nimmt dieses Verhalten immer mehr zu? Warum reagiert Travis als Folge seiner Erlebnisse und situativen Entwicklungen mit einer Gewalttat (Taxi Driver)? Was lässt Kate immer stärker gegen ihre Ideale handeln (Breaking Glass)? Die Antworten auf diese Fragen oder eine erzählerische Vermittlung der Gründe des Scheiterns bleiben in diesen Fällen aus oder werden nur angedeutet. Es bleibt der Hypothesenbildung des Zuschauers überlassen, diese Zusammenhänge des Veränderungsprozesses zu imaginieren und zu verknüpfen. Die intrapersonellen Veränderungsvorgänge, ihre Auslöser und die Phasen des Prozesses werden in den Darstellungen eines Scheiterns weniger explizit inszeniert. Anders verhält es sich hingegen in filmischen Erzählungen charakterlicher Wandlungsprozesse, die zu einer Reifung führen: Innere Wandlungen und Veränderungsstufen werden im Laufe des Reifungsprozesses durch im plot präsentierte Ereignisse und Handlungen sowie durch die Inszenierungsweise deutlich nachvollziehbar. Diese deutliche Differenz spiegelt sich auch in der Zahl der Gestaltungsmuster und dem Maß an Komplexität und Prägnanz wider. Wie lauten nun die zentralen erzählerischen Themen der untersuchten Filme, auf die sich die Hauptschritte der Entwicklungswege beziehen? Es lassen sich zwei solcher Kernthemen beschreiben: Das erste Kernthema gilt dem Gelingen oder Scheitern der Liebe. In den Geschichten einer Reifung wachsen und gelingen zwischenmenschlicher Kontakt, 370
Freundschaft und Liebe zwischen den Protagonisten und anderen Figuren. Zentrales goal der Handlung ist die Suche nach sich selbst und die Beziehung zu anderen. Der Prozess einer Reifung vermittelt sich im Werden und Gelingen zwischenmenschlicher Beziehungen und in der gelingenden Beziehung zu sich selbst (Das Piano, Der mit dem Wolf tanzt, Kleine Fluchten, Dead Man). Das Scheitern der Hauptfigur an ihren Zielen vermittelt sich über Misslingen der Kontakte zu anderen Menschen, über Verlust von Bindungen und ihre zunehmende Isolation (Taxi Driver, Breaking Glass, Rocco und seine Brüder, Betty Blue). Als extreme Form misslingenden Kontakts zu anderen oder zu sich selbst stehen Mord und Selbstmord am Ende einer Entwicklung des Scheiterns (Rocco und seine Brüder, Taxi Driver, Betty Blue). Das zweite allen untersuchten Filmen gemeinsame große Thema behandelt die zentralen Aufgaben und Prinzipien der Lebensbewältigung. Die Geschichten eines intrapersonellen Reifens oder Scheiterns erzählen vom Umgang mit den Widrigkeiten und Grenzen des Lebens. Durch eigenes oder fremdes Handeln sowie durch Konfrontation mit schicksalhaften Geschehnissen erfahren die Protagonisten Aspekte einer Reifung oder eines Scheiterns. Beide Filmgruppen präsentieren ihre Hauptfiguren beim Umgang mit solchen Situationen, mit unvorhersehbaren Widrigkeiten und unüberwindbaren Grenzen, Misserfolgen und Schicksalsschlägen und vermitteln so Erfolg oder Misserfolg der intrapersonellen Entwicklung. Gelingt es den Figuren, unerreichbare Ziele aufzugeben und nach Alternativen zu suchen oder an erreichbaren Zielen festzuhalten, zeigt sich darin ihre Fähigkeit zu einer Strategie gelingender Lebensbewältigung. Die Unfähigkeit, alternative Ziele zu suchen, Grenzen zu akzeptieren und machbaren Zielen treu zu bleiben, führt zu einem Scheitern. Der Reifeprozess durchläuft einen Zyklus von Versuch, Scheitern, erneutem Versuch und der Suche nach Alternativen. Nur das erneute und wiederholte Durchschreiten dieses Zyklus’ führt zu Erkenntnisgewinn und alternativen Wegen, die Gelingen und Reifung ermöglichen. Aus dem Wechsel von Scheitern und Gelingen wird in Filmen einer Reifung dieser Wandlungsprozess aufgebaut. Besonders deutlich wird dieser Zyklus in Kleine Fluchten und Dead Man inszeniert; weniger deutlich, aber nicht weniger zentral vermitteln Das Piano und Der mit dem Wolf tanzt Scheitern und Gelingen. Im Handlungszyklus der zentralen Figuren in Geschichten eines Scheiterns findet sich innerhalb des beschriebenen Zyklus’ eine Leerstelle: Das Ablassen von nicht erreichbaren Zielen und die Suche nach Alternativen fehlen. Diese Leerstelle führt zum Scheitern der Protagonisten.
371
Teil IV Conclusio 12. Typologie, Theoriebildung und Ausblick
Im ersten Teil der Conclusio dieser Forschungsarbeit wird eine abschließende Interpretation der Untersuchungsergebnisse gegeben. Es gelingt dabei die Zusammenfassung von typologischen Gestaltungsmustern für die filmische Visualisierung intrapersoneller Wandlungsprozesse in Form einer definierten Typologie. Im zweiten Teil der Conclusio werden die Forschungsergebnisse im Rückbezug auf die eingesetzten Theorieansätze und deren Begriffsmodelle diskutiert. Ergebnisse dieser Theoriekritik bestehen aus Neubildung und Ausdifferenzierungen einzelner Begriffsdefinitionen und Korrekturen in der Konstruktion theoretischer Argumentationsstrukturen. Die neuen theoriebildenden Erkenntnisse der vorliegenden Studie bedeuten für verschiedene filmwissenschaftliche Forschungsperspektiven grundlegende Veränderungen in deren Voraussetzungen. Welche neue Frage- und Forschungsperspektiven sich dabei in bestimmten Teilbereichen der Filmwissenschaft eröffnen und einfordern, wird im letzten Abschnitt der Conclusio diskutiert.
12.1 Typologie: Filmische Bilder der Wandlung Die Typologisierbarkeit der untersuchten filmischen Gestaltungsmittel lässt sich mit Fokus auf die zentrale Forschungsfrage dieser Studie aufgrund der Häufung ihres Vorkommens in der Gruppe der Beispielfilme bestimmen. Als typologisch ist ein Gestaltungsmittel im Sinne des Erkenntnisinteresses der Untersuchung zu bezeichnen, wenn es in seiner Grundform in mehr als der Hälfte der Filme zum Einsatz kommt, d. h. in mindestens fünf der insgesamt acht untersuchten Beispielfilme. Dabei ist die Voraussetzung dafür, dass ein Gestaltungsmittel für beide, thematisch verschiedenen Gruppen der Beispielfilme als typologisch definiert wird (Reifung/Scheitern), dass es mindestens in zwei der vier Filme innerhalb einer der beiden Gruppen vorkommt (z. B. lässt sich ein als typologisch zu bezeichnendes Gestaltungsmuster in zwei Filmen über die Geschichte eines Scheiterns und in drei Filmen über einen Reifungsprozess feststellen oder umgekehrt.) Zeigt sich ein Gestaltungsmuster nur in einem 373 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
der Filme innerhalb der einen Gruppe, in der anderen Gruppe jedoch bei allen vier Filmen, so ist dieses filmische Mittel nicht für beide Filmgruppen als typologisch zu bezeichnen, sondern nur für eine der beiden thematischen Entwicklungsarten (Reifung/Scheitern).
12.1.1 Generelle Gestaltungsprinzipien und strukturelle Eigenheiten in beiden Filmgruppen (Reifung/Scheitern) Folgende allgemein formal-gestalterische Prinzipien können in den Einsatzweisen der untersuchten filmischen Gestaltungsmuster als typologisch bezeichnet werden. Bei der Visualisierung intrapersoneller Wandlung sind die Bezugsprinzipien zwischen visuellen, gestalterischen Elementen im Allgemeinen von folgenden Verknüpfungen und Bezügen gekennzeichnet. Die visuellen Elemente sind über die Zusammenhänge eines Kontrastes in Kombination mit den Prinzipien Ähnlichkeit oder Analogie verbunden. Über diese Verknüpfungsprinzipien zwischen gestalterischen Elementen etabliert sich über den zeitbasierten Aufbau der filmischen Form ein komplexes Bezugssystem. Innerhalb dieses Systems kommt es während des Filmverlaufs zu dynamischen Verschiebungsschritten in den Verknüpfungsarten der visuell-gestalterischen Elemente. Diese prozesshaften Dynamiken erweisen sich als typologische Gestaltungsmuster bei der Visualisierung intrapersoneller Wandlung. Für die Typologie können fünf verschiedene Kategorien von Prozesshaftigkeit definiert werden, die sich mit folgenden Begriffen benennen lassen: Zugewinn, Reduzierung, sukzessiver Austausch oder Umwandlung und Wechsel. Die Erkenntnis über die Dominanz prozesshafter Dynamiken in den gestalterischen Strukturen der Beispielfilme ermöglicht den Blick auf eine weitere generalisierbare, strukturelle Eigenheit in Bezug auf die angestrebte Typologie filmischer Gestaltungsmuster zu. Betrachtet man die Zuordnung der filmischen Mittel auf der Achse zwischen den beiden als idealtypisch bezeichneten Inszenierungsweisen intrapersoneller Wandlung, so zeigt sich hier eine deutliche Unterschiedlichkeit in der Häufung prozesshafter Verwendungsweisen. Die überwiegende Mehrzahl der Gestaltungsmuster der drei Segmente links des Achsenmittelpunktes weisen prozesshafte Verwendungsweisen auf. In der Gruppe der filmischen Mittel in den drei Segmenten rechts neben dem Mittelpunkt der Achse sind die Einsatzweisen in der Mehrzahl nicht-prozesshaft. In der Summe der als typologisch zu bezeichnenden Gestaltungsmittel ergibt sich daraus ein Verhältnis von zwei Dritteln mit prozesshafter und einem Drittel mit nicht-prozesshafter Struktur und Einsatzweise. Die These zur direkten bzw. nur impliziten Sichtbarkeit filmischer Gestaltungsmittel ermöglicht die Typologisierung einer weiteren strukturellen Eigenart filmi374
scher Gestaltung charakterlicher Wandlung. Diejenigen filmischen Mittel, die von einer unmittelbaren und direkten bzw. einer teilweise impliziten Sichtbarkeit gekennzeichnet sind, weisen nahezu alle prozesshafte Dynamiken in Verwendungsweisen und Bezugsprinzipien der gestalterischen Elemente auf. Diese typologische Eigenart trifft für die Gestaltungsmuster in den drei Segmenten links des Achsenmittelpunktes zu, d. h. bei der Darstellung der visuellen Erscheinung der Figur, bei der filmischen Gestaltung des szenischen Raumes und der Handlungs- und Rolleninszenierung. Diejenigen filmischen Mittel, die von einer rein impliziten, d. h. indirekten Sichtbarkeit gekennzeichnet sind, weisen zumeist keine prozesshaften Einsatzweisen und Strukturen auf. Diese Eigenart trifft für die Gestaltungsmuster zu, die den drei Segmenten rechts des Achsenmittelpunktes zugeordnet sind, d. h. den filmischen Mitteln des discourse und der narrativen Konstruktion.
Tabelle 8: Generelle Visualisierungsmuster für charakterliche Wandlung in beiden Filmgruppen (Reifung und Scheitern) Aus dem Zusammenhang zwischen dem Grad der Sichtbarkeit filmischer Mittel und deren prozesshaften bzw. nicht-prozesshaften Verwendungsweisen und Strukturen ergibt sich eine allgemeine Schlussfolgerung zur Typologie. Diese Schlussfolgerung fußt auf einer der zentralen Annahmen dieser Studie: Eine charakterliche Wandlung 375
als dramatische Kernfigur einer filmischen Erzählung ist an sich unsichtbarer, da intrapersoneller Vorgang. Ein solches Geschehen ist in seiner Eigenart unfilmisch und als Entwicklungsprozess von einem eklatanten Mangel an Sichtbarkeit gekennzeichnet. In der Studie wird erforscht, wie der Mangel an Sichtbarkeit eines solchen erzählerischen Kernereignisses bei der Umsetzung in eine filmische Visualisierung kompensiert wird. Es zeigt sich anhand der Analysedaten, dass die Visualisierung der intrapersonellen Veränderung und deren Dynamik über die prozesshaften Strukturen und Verwendungsweisen derjenigen filmischen Mittel dargestellt wird, die von einer deutlichen und unmittelbaren Sichtbarkeit gekennzeichnet sind. Auch die Gestaltungsmuster, die in ihrer Erscheinungsweise nur teilweise direkt bzw. implizit sichtbar sind, sind in den Beispielfilmen als Visualisierungsmuster prozesshafter Dynamik eingesetzt. Die eigentlich unfilmische Unsichtbarkeit des zentralen erzählerischen Vorgangs wird also in den untersuchten Filmen über die prozesshaften Profile der eingesetzten filmischen Mittel und deren Verwendungsweisen kompensiert, die von einer unmittelbaren und deutlichen Sichtbarkeit gekennzeichnet sind. Über diese direkt sichtbaren filmischen Gestaltungsstrukturen wird eine Art visuelle Äquivalenz für die Eigenart und Dynamik des unsichtbaren Geschehens aufgebaut.
Abbildung 14: Maß an Sichtbarkeit und Prozesshaftigkeit der Gestaltungselemente im Verhältnis zur Position zwischen den zwei Polen idealtypischer Inszenierung charakterlicher Wandlung 376
12.1.2 Generelle strukturelle Unterschiede zwischen Reifung und Scheitern Die Summe der verwendeten filmischen Mittel in Art und Häufigkeit des Einsatzes ist in den beiden Filmgruppen unterschiedlich groß. Filmische Visualisierungen, die eine Geschichte der Reifung präsentieren, sind, wie in 11.1 bereits erläutert, von einer größeren Zahl eingesetzter Gestaltungsmittel gekennzeichnet. Erzählungen über eine Entwicklung des Scheiterns weisen eine dazu im Vergleich geringere Gesamtzahl filmischer Mittel und Gestaltungsweisen auf. Betrachtet man das gestalterische Phänomen der Prozesshaftigkeit in Art und Verwendung der untersuchten filmischen Mittel, so kann eine zweite, grundlegende Unterschiedlichkeit zwischen den beiden Filmgruppen beschrieben werden. Die filmischen Visualisierungen von Geschichten des Reifens sind von einer deutlich größeren Häufung prozesshafter Gestaltungsstrukturen gekennzeichnet. Die filmischen Darstellungen der Entwicklung zu einem Scheitern weisen wesentlich weniger prozesshafte filmische Mittel und dergleichen formal-visuelle Strukturen auf. Auch die Häufigkeit der fünf Arten von Prozesshaftigkeit ist in den gestalterischen Strukturen der zwei Gruppen der Beispielfilme deutlich unterschiedlich. In Filmen über Geschichten einer Reifung zeigt das Profil der prozesshaften Gestaltungselemente und Verknüpfungsstrukturen einen etwa gleich häufigen Einsatz aller fünf Kategorien von Prozesshaftigkeit (Zugewinn, Reduzierung, sukzessiver Austausch, Umwandlung, Wechsel). In den filmischen Erzählungen über ein Scheitern zeigt sich hingegen eine wesentlich geringere Häufung von vier der fünf Kategorien, d. h. Zugewinn, Reduzierung, sukzessiver Austausch oder Umwandlung. Zugleich ist in diesen Filmen eine auffällig große Häufung im Einsatz des prozesshaften Prinzips des Wechsels festzustellen. Zudem sind einige Gestaltungsmuster, die in der Visualisierung einer Reifung von hoher Prozesshaftigkeit gekennzeichnet sind, in den Filmen über ein Scheitern in ihrer Verwendungsweise gänzlich nicht-prozesshaft (Etablierung von goals und Wirkungszyklus zwischen goals, desire und motivation; Bezugsarten im System aller Handlungsrollen). Hier in Kurzübersicht die bisher beschriebenen, generellen Verschiedenheiten zwischen den beiden Filmgruppen: In den filmischen Erzählungen über den Entwicklungsgang eines Scheiterns ist die Summe der eingesetzten Gestaltungsmuster geringer als in den anderen Filmen. Die Visualisierungsmuster in der filmischen Vermittlung einer solchen charakterlichen Veränderung weisen eine geringere Menge prozesshafter Gestaltungsmittel und -strukturen auf als die Erzählungen über eine Reifung. In den Geschichten über ein Scheitern ist das formale Verknüpfungsprinzip eines Wechsels wesentlich häufiger eingesetzt als in den Filmen über eine charakterliche Reifung. In diesen Filmen kommen hingegen alle fünf Kategorien prozesshafter Veränderungsweisen zum Einsatz. Die strukturelle Eigenart eines Wechselprinzips präsentiert immer nur zwei Stufen einer prozesshaften Entwicklung, wohingegen die anderen vier Kategorien von Prozesshaftigkeit mehrphasige Dynamiken über mehr als zwei Stufen visualisieren. 377
Insgesamt ergibt sich aus diesen drei Unterschieden eine übergeordnete typologische Eigenart, die den beiden Filmgruppen mit jeweils umgekehrten Vorzeichen zugeordnet werden kann. Die strukturelle Prägnanz, Komplexität und visuelle Auffälligkeit der gesamten Gestaltungsstrukturen, die im Rahmen dieser Studie als typologisch zu bezeichnen sind, sind in den Filmen über eine Reifung hoch und umfangreich. In der Filmgruppe der Geschichten über ein Scheitern hingegen sind sie niedriger und weniger umfangreich. Eine wichtige Ursache für diese und weitere typologische Verschiedenheiten liegt in der in beiden Filmgruppen unterschiedlichen Aufteilung der erzählerischen Inhalte auf die Bereiche story und plot. In den Erzählungen über einen Reifungsprozess sind viele der wesentlichen wandlungsrelevanten Informationen im plot visualisiert. In den Erzählungen über ein Scheitern werden diese Informationen zu größeren Teilen von der story impliziert und sind nur in geringerer Menge im plot inszeniert. D. h., dass die typologischen Phänomene der geringeren Menge an Gestaltungsmustern, geringerer Prozesshaftigkeit und geringerer Prägnanz und Komplexität in den Filmen über ein Scheitern unter anderem dadurch verursacht sind, dass insgesamt weniger wandlungsrelevante Inhalte dieser Werke im plot präsentiert sind. Typologie: Bilder der Wandlung - Generelle Unterschiede im Einsatz von Visualisierungsmustern
Geschichte einer Reifung
Geschichte eines Scheiterns
Gesamtmenge der eingesetzten Gestaltungsmittel
größer
geringer
Prozesshaftigkeit in Art und Verwendung der filmischen Mittel
höheres Maß
geringeres Maß (einige Gestaltungsmuster gänzlich ohne prozesshafte Verwendungsweisen)
Einsatz der fünf Kategorien prozesshafter Dynamik (Zugewinn, Reduzierung, Austausch, Umwandlung, Wechsel)
alle fünf Kategorien in ähnlicher Häufigkeit eingesetzt
vier Kategorien in geringerer Häufung eingesetzt (Zugewinn, Reduzierung, Austausch, Umwandlung) eine Kategorie (Wechsel) in größerer Häufung eingesetzt
strukturelle Prägnanz, Komplexität und visuelle Auffälligkeit der eingesetzten filmischen Gestaltungs-mittel
ausgeprägt, umfangreich und hoch
weniger ausgeprägt, weniger umfangreich und niedriger
wandlungsbezogene Informationen in ihrer Verteilung auf story und plot
vermehrt im plot präsentiert
vermehrt in der story impliziert
Tabelle 9: Unterschiede im Einsatz typologischer Visualisierungsmuster (Reifung oder Scheitern) 378
12.1.3 Bilder der Wandlung: Typologie filmischer Mittel bei der Visualisierung von Reifung und Scheitern In der Typologie gliedern sich die untersuchten filmischen Gestaltungsmittel in vier Gruppen. Gruppe 1: Hier werden alle Gestaltungsmuster der körperlichen Erscheinung der Figur und die Ausgestaltung von Raum und Gegenstand als typologische Visualisierungsmittel intrapersoneller Wandlung subsumiert. Die Gestaltungselemente der visuellen Erscheinung der Figur (Maske, Kostüm, Ausdrucksarbeit von Körpersprache und Mimik) werden genutzt, um das lineare Fortschreiten des Veränderungsprozesses sowie komplexe Entwicklungszyklen des intrapersonellen Wandlungsgeschehens zu visualisieren. Über ein visuelles Bezugssystem zwischen den Gestaltungsmustern der äußeren Erscheinung der Hauptfigur und der anderer Figuren etablieren sich visuelle Äquivalenzen für einzelne Aspekte der charakterlichen Veränderungen. Die Gestaltungsmuster für szenische Räume und Gegenstände werden eingesetzt, um Phänomene von Progression und Faktoren einer komplexen Entwicklung zu bebildern. Typologisch für die Visualisierung intrapersoneller Wandlung erweisen sich dabei Gestaltungsmuster der Dimensionierung szenischer Räume und deren Konfigurationsweisen in der Gesamtkonstruktion des plot space. Zudem etabliert sich zwischen der Ausgestaltung eines Schauplatzes und den sich dort abspielenden Handlungen der Figur ein Bezugssystem, das für die Vermittlung von Ereignissen intrapersoneller Veränderung eine symbolische Funktion hat. Über die visuelle Gestaltung und Inszenierung von Gegenständen im Handlungsumfeld der Hauptfigur werden visuelle Anhaltspunkte für Aspekte der intrapersonellen Veränderung und Entwicklung aufgebaut. Typologie: Bilder der Wandlung
1. Gruppe
Visualisierung von fortschreitendem Veränderungsprozess und komplexen Entwicklungszyklen über die visuelle, körperliche Erscheinung der Figur: Maske, Kostüm, Ausdrucksarbeit von Körpersprache und Mimik Visualisierung von Aspekten der intrapersonellen Wandlung über Gestaltungsmuster szenischer Räume und Gegenstände, die als Faktoren komplexer Entwicklung und Progression aufgebaut sind - Konfigurationsweise des filmischen Raumsystems und Dimensionierung der Räume - Symbolische Funktionen der szenischen Räume in Bezug zur Figur
Tabelle 10: Typologie filmischer Mittel der Visualisierung: Bilder der Wandlung Gruppe 1
379
Gruppe 2: In dieser Gruppe der Typologie werden filmische Mittel zusammengefasst, die als Gestaltungsmuster der Rolleninszenierung und Charakterkonstruktion und bei der Visualisierung von Handlungen und Verhaltensweisen der Hauptfigur eingesetzt sind. Als typologisch zu definieren ist die Etablierung von Topikreihen über Verhaltensweisen der Figuren, die während des charakterlichen Entwicklungsprozesses eine Veränderung durchlaufen. Die Elemente dieser Topikreihen geben Hinweise auf sich wandelnde Eigenschaften und Wesensarten der Figur und werden gegen Ende der Erzählungen mehr und mehr auf der konzeptgeleiteten Ebene und mittels Kausalketten konfiguriert. Zudem bilden sich zwischen den figurenbezogenen Handlungselementen auf der perzeptionsgeleiteten und der stereotypgeleiteten Ebene semantische Bezugsweisen, die mit inhaltlichen Aspekten des charakterlichen Veränderungsprozesses in Zusammenhang stehen. Diese Bezüge verändern sich im Filmverlauf über prozesshafte Dynamiken und bilden dabei visuelle Äquivalenzen zu Dynamik und Geschehen der intrapersonellen Wandlung. Vergleichbar hiermit sind zwischen den Typisierungen der Handlungsrollen der zentralen Figur und der anderer Figuren Kontraste und Analogien aufgebaut, deren Bezugsweisen sich dynamisch verändern. Im Abfolgeprofil der Handlungsrollen der Hauptfigur können vier verschiedene Veränderungsdynamiken als typologische Gestaltungsweisen intrapersoneller Wandlung definiert werden. Inhaltliche Faktoren und Prozesshaftigkeit der charakterlichen Wandlung visualisieren sich dabei erstens über Neuetablierung von Rollen (Erweiterung der Rollenzahl), zweitens über Rollenwechsel, drittens über Veränderungen in den Interaktions- und Emotionsstrukturen einer Rolle bzw. viertens über Umformungen eines Rollenkontexts (Ereigniszusammenhänge einer Handlungsrolle). Prozesshafte Inszenierungsmuster bei der Darstellung verschiedener Handlungsrollen der Figur sind weitere Bausteine der Typologie. Zwischen den beiden Polen rollenkonformer und rollenbrüchiger Handlungsinszenierung entfalten sich dabei prozesshafte Dynamiken, die in Bezug zur intrapersonellen Wandlung stehen. Es kommt dabei zur Aufgabe oder zur Erfüllung von Handlungsrollen, zur Umformung und Neuetablierung von Rollenschemata und zu Veränderungen im schemakonformen Repertoire der Handlungen und Interaktionen einer Rolle. Eine weitere typologische Visualisierungsweise für charakterliche Wandlung etabliert sich über die Inszenierung der Emotionsstrukturen der Handlungsrollen. Dabei werden zwischen den Inszenierungselementen der Emotionsstrukturen einer Rolle bzw. auch über deren Einbettung in den Handlungskontext Konfliktbeziehungen aufgebaut. In Filmen über einen Reifungsprozess weisen diese Konfliktbeziehungen dynamische Veränderungen auf, die zu deren Lösung führen. In Geschichten über ein Scheitern bildet sich darin keine Prozesshaftigkeit und Konfliktlösung ab. 380
Folgende Gestaltungsmuster in der Charakterkonstruktion können für die Visualisierung intrapersoneller Wandlung als typologisch definiert werden. Im Zentrum der list of traits steht ein konflikthafter Bezug zwischen einzelnen Charakterzügen. Im Filmverlauf erfahren diese Konfliktbeziehungen eine sukzessive Veränderung. Diese Dynamiken etablieren sich über vier verschiedene Veränderungsprinzipien, d. h. Dominanzwechsel, Reduzierung, Erweiterung und Umwandlung. Typologie: Bilder der Wandlung
2. Gruppe
Etablierung von Topikreihen über wandlungsrelevante Verhaltensweisen der Figur - Sukzessiver Wechsel dieser erzählerischen Elemente von der perzeptions- zur konzeptgeleiteten Strukturebene - Semantische Bezugsweisen zwischen den Elementen auf der perzeptions- und konzeptgeleiteten Strukturebene - Prozesshafte Veränderungsdynamiken innerhalb dieser Bezugsweisen Kontraste und Analogien zwischen der Typisierung von Handlungsrollen der Figur und den Typisierungen der Rollen anderer Figuren - Dynamische Veränderungen dieser Bezugsweisen bilden visuelle Äquivalenzen zum Wandlungsgeschehen Vier Veränderungsdynamiken im Abfolgeprofil der Handlungsrollen: Erweiterung der Rollenzahl, Rollenwechsel, Veränderung der Interaktions- und Emotionsstrukturen einer Handlungsrolle, Umformung des Rollenkontextes Veränderungsdynamiken in der Rolleninszenierung über rollenkonforme und rollenbrüchige Handlungs-weisen: Aufgabe oder Erfüllung von Handlungsrollen, Umformung und Neuetablierung von Rollenschemata, Veränderungen im schema-konformen Repertoire der Handlungen und Interaktionen Aufbau von Konfliktbeziehungen über die Inszenierung der Emotionsstrukturen der zentralen Handlungsrollen der Figur: Konfliktbezüge zwischen den Elementen der Emotionsstrukturen oder zwischen Emotionsstrukturen und Handlungskontext Konfliktbeziehungen innerhalb der Charakterzüge der list of traits: vier Veränderungsdynamiken dieser Konfliktbeziehungen: Dominanzwechsel, Reduzierung, Erweiterung und Umwandlung
Tabelle 11: Typologie filmischer Mittel der Visualisierung: Bilder der Wandlung Gruppe 2 Gruppe 3: Die filmischen Mittel der erzählerischen Vermittlung (discourse) und Gestaltungsmuster der zeitliche Ordnungsprinzipien innerhalb der Organisation des erzählerischen Materials werden zur dritten Gruppe der Typologie zusammengefasst. Ein typologisches Visualisierungsmuster der intrapersonellen Wandlung ist der Einsatz der Großaufnahme. Dabei werden über die Nähe des filmischen Blicks zur Mimik der Hauptfigur deren emotionale Regungen in wandlungsrelevanten Hand381
lungsmomenten präsentiert. Die Gestaltung des Kamerablicks nach den Regeln des POV kann ebenso als typologisches Gestaltungsmuster definiert werden. Einige wesentliche Informationen, die im Bezug zum Wandlungsgeschehen stehen, werden über subjektive Blickperspektiven der Hauptfigur präsentiert. Eine relativ umfangreiche Wissensgabe über das innere Erleben und Wahrnehmen der Hauptfigur (depth of knowledge) ist ein häufig eingesetztes filmisches Mittel bei der Visualisierung intrapersoneller Wandlung. Dieser tiefe Einblick ist über Kombinationen verschiedener filmischer Mittel inszeniert: POV, landscape of mind, Zeitdehnung, paralleles Operieren von hierarchisch unterschiedlichen levels of narration und pure movement of narration, excentric angel u. a. Anhand des Einsatzprofils der verschiedenen levels of narration können zwei weitere Gestaltungsmittel des discourse als typologisch definiert werden. Zum einen kommt es bei der filmischen Darstellung zentraler, szenischer Momente des intrapersonellen Wandlungsgeschehens zum parallelen Operieren hierarchisch unterschiedlicher Erzählpositionen innerhalb des erzählerischen Materials. Zum anderen ist bei der filmischen Präsentation zentraler Informationen über die charakterliche Veränderung der Einsatz von pure movements of narration festzustellen. Durch diese beiden Gestaltungsmuster des discourse etabliert sich über das Verlaufsprofil der filmischen Vermittlung eine hohe Beeinflussung in der Lesart der zentralen erzählerischen Informationen über die charakterliche Wandlung. Aus der Menge der möglichen filmischen Mittel von Zeitdarstellung und -manipulation stellen sich anhand der Analysedaten Zeitsprung bzw. Zeitraffung und Zeitdehnung als typologische Visualisierungsmuster intrapersoneller Wandlung heraus. Zeitsprünge werden dabei als Verdeutlichung und Äquivalenzen für Art und Weise der Abfolge intrapersoneller Veränderungsschritte über eine gewisse Zeitspanne hinweg inszeniert. Zudem fällt eine paradoxe Verwendungsweise von Zeitsprüngen in szenischen Situationen auf, die für den Verlauf der intrapersonellen Veränderung eine zentrale Bedeutung haben. Es werden dabei Auslassungen von relativ kurzen Abschnitten der storytime über einen Einsatz bestimmter filmischer Mittel des Zeitsprungs inszeniert, sodass die Wirkung entsteht, als ob zwischen den gezeigten Momenten im plot große Zeitabschnitte verstrichen wären. Über diese vermeintlich großen Zeitsprünge wird eine Äquivalenz zu den großen und wesentlichen Entwicklungsschritten innerhalb der intrapersonellen Wandlung aufgebaut, die sich in sehr kurzer Zeit (storytime) ereignen, aber grundlegende Veränderungen mit sich bringen. Intensität und Dynamik des charakterlichen Wandlungsprozesses werden dabei durch die Paradoxie in der filmischen Zeitdarstellung vermittelt und als ein Phänomen visualisiert, das sich nicht direkt proportional zur Linearität der zeitlichen Verläufe ereignet. Noch deutlicher wird dieser Effekt durch den Einsatz des entgegen gesetzten filmischen Mittels in der Zeitmanipulation, der Zeitdehnung, inszeniert. 382
Diese filmische Technik verfremdender Zeitdarstellung ist ein typologisches Visualisierungsmuster bei der Schilderung zentraler Momente des Wandlungsgeschehens. Es werden erzählerische Informationen über das innere Erleben und Wahrnehmen der Hauptfigur in zentralen Momenten des Wandlungsgeschehens in einer Art Loslösung vom linearen Zeitfluss inszeniert. Diese Gestaltungsmittel der Zeitdehnung sind oftmals mit einem Kamerablick in Form des excentric angle (Blickperspektive bzw. Standpunkt und Bewegung) kombiniert.
Tabelle 12: Typologie filmischer Mittel der Visualisierung: Bilder der Wandlung Gruppe 3 Gruppe 4: Filmische Mittel in der narrativen Konstruktion der Informationen (story) und formale bzw. kausal-hierarchische Ordnungsprinzipien innerhalb der Narration bilden die vierte und letzte Gruppe typologischer Gestaltungsmuster. In den meisten Beispielfilmen ist ein Bezug zwischen der äußeren, offen sichtbaren Handlung der Geschichte, cause-effect chain, zu der Verknüpfung von Ursache und Wirkung innerhalb des intrapersonellen Wandlungsgeschehens etabliert - in der Studie als innere cause-effect chain bezeichnet. Als typologisch für die Korrespondenz zwischen diesen beiden Ursache- und Wirkungsketten lässt sich die Form der Analogie in Kombination mit der des Kontrasts kategorisieren. In der hierarchischen Ordnung des erzählerischen Materials über kernels und satellites ist ein weiteres typologisches Gestaltungsmittel innerhalb der narrativen Konstruktionsmuster etabliert. Über satellites sind im Filmverlauf bestimmte Handlungszusammenhänge als kausal verknüpfte Ereignisse aufgebaut, die jedoch auf den 383
Verlauf der Haupthandlung keinen Einfluss haben. Allerdings stehen diese kausal verknüpften erzählerischen Inhalte der satellites zu den Entwicklungen innerhalb des intrapersonellen Wandlungsprozesses in Bezug. In diesen Szenen werden verschiedene Informationen oder auch thematische Aspekte visualisiert, die Hinweise über die charakterliche Veränderung geben. Dabei kommt es über die satellites zum einen zur Vermittlung von Informationen über die sich wandelnden Wesensarten der Hauptfigur. Zum anderen werden in diesen Nebenhandlungen prozesshafte Dynamiken inszeniert, die in Entwicklung und Thematik zu dem charakterlichen Wandlungsprozess in Bezug stehen. Ebenfalls visualisiert über satellites sind Inszenierungen von Metaphern und deren Variationen für die Entwicklungsweise und die dramatische Kernfigur der intrapersonellen Wandlung. Zwei Grundelemente des narrative schema und deren Verwendungsweisen werden als weitere relevante Gestaltungsmuster dieser Typologiegruppe zugeordnet. Zum einen werden über Veränderungsdynamiken bei der Etablierung der zentralen goals der Hauptfigur Hinweise über deren charakterliche Wandlung inszeniert. Zum anderen visualisieren sich über die szenischen Ereignisse und Interaktionen der complicating actions zentrale Aspekte der intrapersonellen Veränderung. Die Reihung bestimmter szenischer Elemente über formale Verknüpfungsprinzipien ist als weiteres typologisches Visualisierungsmuster innerhalb der vierten Gruppe der Typologie zu definieren. Innerhalb dieser Reihungen formieren sich erzählerische Inhalte, Handlungsaspekte und szenische Orte über die Bezugsarten von Wiederholung, Ähnlichkeit und schrittweiser Entwicklung zu Unterschiedlichkeit und Kontrast. Für die Typologie können zwei verschiedene Grundformen solcher Reihungen benannt werden. Die erste dieser beiden typologischen Formen einer Reihung etabliert sich im Filmverlauf über die Wiederholung desselben Schauplatzes und einer damit verknüpften Handlungsart. Im Laufe der Reihung wandelt sich die Handlungsart schrittweise zu einer grundlegend anderen. In der zweiten Grundform einer Reihung konfigurieren sich szenische Momente über die Wiederholung ein und derselben Handlungsart an wechselnden Orten. In der Abfolge der Reihenelemente verändert sich sukzessive die Ausführungsart der sich wiederholenden Handlung. Zusätzlich zu diesen beiden Grundformen von Reihungen szenischer Elemente über formale Verknüpfungsprinzipien fällt eine große Anzahl weiterer Reihungen, Trilogien und Doppelungen im erzählerischen Material der Beispielfilme auf. Die Bindeglieder innerhalb dieser Konfigurationen sind immer Handlungsaspekte, die sich an unterschiedlichen Stellen des Filmverlaufs befinden. Diese szenischen Elemente sind zu Reihungen, Trilogien oder Doppelungen über die formalen Prinzipien von Wiederholung und Variation in Kombination mit einer stufen- oder wechselweisen Entwicklung zu Verschiedenheit bzw. Gegensätzlichkeit verknüpft. Die Etablierung eines oder mehrerer initial terms innerhalb der filmischen Erzählungen 384
gehört als letztes filmisches Mittel der vierten Gruppe der Typologie an. Zentraler Inhalt eines initial terms ist dabei die Grundfigur einer Tätigkeit oder ein einfacher Handlungsvorgang. Dieses Handlungselement erfährt mehrere kontext- und bedeutungsverändernde Transformationen während des Filmverlaufs, über die sich die Dynamiken der charakterlichen Wandlung darstellen. Das Kernelement des initial terms bleibt dabei jedoch unverändert.
Tabelle 13: Typologie filmischer Mittel der Visualisierung: Bilder der Wandlung Gruppe 4
12.1.4 Bilder der Wandlung: Typologie filmischer Mittel – jeweils spezifisch für Reifung und Scheitern Filmische Mittel, die nur für jeweils eine der beiden Filmgruppen als typologisch zu bezeichnen sind, werden auf der Basis folgender Häufungen innerhalb der Analysedaten definiert. Diese Gestaltungsmuster müssen in mindestens drei der vier Wer385
ke einer Filmgruppe nachweisbar sein und dürfen zugleich nur in höchstens einem Werk der anderen Filmgruppe zum Einsatz kommen. Im Vergleich zur Gesamtmenge filmischer Mittel, die sich als typologisch für die Visualisierung von beiden Entwicklungsgängen eines intrapersonellen Wandlungsprozesses erweisen, zeigt sich, dass insgesamt nur eine kleine Anzahl von Gestaltungsmustern für nur je eine der beiden Filmgruppen als typologisch zu bezeichnen ist. Diese beiden Untergruppen der gesamten Typologie werden hier nun beschrieben. Die typologischen Visualisierungsmuster über dreidimensionale Objekte, zeigen eine generelle strukturelle Eigenart, die in den beiden Filmgruppen deutlich unterschiedlich gestaltet ist. In 12.1.2 wird die größere (Reifung) bzw. geringere (Scheitern) Häufung von prozesshaften Strukturen als jeweils entsprechend typologisch definiert. Nur bei den Visualisierungsmustern dreidimensionaler Objekte im Filmbild gibt es eine deutliche Umkehrung dieses Verhältnisses. Die Gestaltungsmuster der visuellen Erscheinung der Hauptfigur (Maske, Kostüm, Ausdrucksarbeit von Körpersprache und Mimik) weisen in den Filmen über ein Scheitern eine deutlich größere Häufung prozesshafter Strukturen und Einsatzweisen auf als in den Filmen über eine Reifung. Die visuelle Prägnanz und Komplexität dieser Visualisierungsmuster ist parallel dazu bei den filmischen Erzählungen über ein Scheitern deutlich größer als in den Filmen über eine Reifung. Spezifische Verwendungsweisen filmischer Mittel, die in ihrer Grundform für beide Filmgruppen als typologisch kategorisiert wurden (vgl. 12.1.3: 379 ff.), müssen hier nun detaillierter herausgestellt werden. Bestimmte Ausformungen dieser Gestaltungsmuster sind in Bezug auf ihre Typologisierbarkeit für nur je eine der beiden Filmgruppen zu kategorisieren. Dies betrifft Gestaltungsmuster von Handlungs- und Rolleninszenierung, Charakterkonstruktion sowie einige filmische Mittel der formalen Ordnungs- und zeitlichen Konstruktionsprinzipien in der Narration bzw. filmische Mittel des discourse. Bei den Inszenierungsmustern von Handlungen und Handlungsrollen der Hauptfigur zeigen sich folgende Unterschiede in der filmischen Darstellung einer Reifung oder eines Scheiterns. In beiden Filmgruppen zeigt sich, dass filmische Elemente, die Informationen über Verhaltensweisen und Wesensarten der Hauptfigur vermitteln, auf der perzeptionsgeleiteten Ebene gelagert sind. Ebenso ist in beiden Filmgruppen ein inhaltlich-thematisches Bezugsverhältnis zwischen den figurenbezogenen Informationen auf der perzeptionsgeleiteten und den erzählerischen Inhalten auf der stereotypgeleiteten Ebene etabliert. Die Arten der Bezüge zwischen den Elementen auf den genannten Ebenen sind jedoch in den beiden Filmgruppen deutlich unterschiedlich. In den Erzählungen über einen Reifungsprozess ist in allen vier Beispielfilmen zwischen diesen filmischen Strukturen ein Kontrastbezug aufgebaut. In den Erzählungen über ein Scheitern ist hingegen nur in einem der Filme 386
ein Kontrast zwischen den beiden Ebenen etabliert. In den anderen Filmen dieser Gruppe zeigen sich Bezugsprinzipien in Form von semantischen Analogien und Kooperationen zwischen den beiden Strukturebenen. Die Inszenierungsmuster der Emotionsstrukturen innerhalb der Handlungsrollen der Hauptfiguren weisen eine weitere grundsätzliche Verschiedenheit in den Erzählungen über Reifung und Scheitern auf. Die im Zusammenhang mit den Emotionsstrukturen etablierte Konfliktbeziehung ist in beiden Filmgruppen unterschiedlich. In den Geschichten über eine Reifung ist der Konflikt zwischen den Rahmenbedingungen der Interaktionsstrukturen einer Handlungsrolle der Figur und den Wünschen und Zielen der entsprechenden rollenspezifischen Emotionsstrukturen aufgebaut. In den Filmen über ein Scheitern befinden sich die Konfliktbeziehungen innerhalb der Emotionsstrukturen einer Handlungsrolle. Der Wirkungszusammenhang zwischen goal, desire und motivation ist hier konflikthaft und widersprüchlich. In den filmischen Mitteln der Charakterkonstruktion über die list of traits und den darin aufgebauten Konflikbezügen bzw. prozesshaften Dynamiken zeigt sich ebenfalls eine typologische Verschiedenheit zwischen den beiden Filmgruppen. In den Veränderungsprozessen der Charakterkonstruktion hin zu einer Reifung sind überwiegend die Entwicklungsprinzipien Umwandlung und Erweiterung eingesetzt. Hier kommt es nur in den seltensten Fällen zum Wegfall eines Charakterzuges. In den Erzählungen über ein Scheitern hingegen kommen bei der Wandlung der Charakterkonstruktion Dominanzwechsel, Reduzierung und Wegfall als prozesshafte Prinzipien zum Einsatz. Innerhalb der beiden Filmgruppen zeigen sich während der Erzählungen im Wechsel zwischen der proairetischen und der hermeneutischen Linie (Thompson 1995: 56) unterschiedliche Verlaufsprofile. In den Geschichten über einen Reifungsprozess ist die Wechselstruktur zwischen beiden Linien kurzphasig und eng aufeinander folgend. Es herrscht eine Art Gleichberechtigung zwischen der Gabe von verrätselten inhaltlichen Informationen und der Gabe von Informationen zur Klärung der Rätsel. In den Erzählungen über ein Scheitern hingegen lässt sich eine Dominanz der hermeneutischen Linie feststellen. Der wechselweise Einsatz der beiden Linien ist hier um einiges langphasiger. Einige der verrätselt präsentierten Informationen erhalten keine Klärung. In diesen Filmen besteht eine Differenz zwischen dem Verlaufsprofil der hermeneutischen und proairetischen Linie und der Konstruktion von Ursache und Wirkung aus retrospektiver Schau auf die Geschichten. In den Erzählungen über eine Reifung gleichen sich hingegen das Profil des Verlaufs der beiden Linien und das Profil der Ursache- und Wirkungskette aus Sicht der Retrospektive. In Bezug auf die Konstruktion der goals der Hauptfigur als Elemente des narrative schema zeigen sich jeweils unterschiedliche Gestaltungsmuster in den beiden 387
Filmgruppen. In Erzählungen über einen Reifungsprozess sind deutlich prozesshafte Dynamiken über mehrere Phasen bei der Etablierung und Veränderung der goals eingesetzt. In den Erzählungen über ein Scheitern bleiben die einmal etablierten goals durch den Filmverlauf entweder unverändert dieselben, oder es erfolgt ein abrupter, übergangsloser Wechsel von einem goal zu einem anderen. Folgende Unterschiede können in Bezug auf filmische Mittel des discourse zwischen den beiden Filmgruppen als typologisch definiert werden. Die Menge der Informationen über den intrapersonellen Wandlungsprozess, die im plot präsentiert wird, ist in den Erzählungen über eine Reifung größer als in den Filmen über ein Scheitern. Umgekehrt verhält es sich bei der Menge solcher Informationen, die implizit in der story vermittelt werden. Der allgemeine Duktus der Wissensgabe ist in den Filmen über eine Reifung durch communicativeness geprägt, in der anderen Filmgruppe hingegen vermehrt durch suppressiveness. Damit korrelieren jeweils die grundlegenden Formen der Wissensgabe pro Filmgruppe. In den Filmen über eine Reifung kommt eine eher ausgeglichene Kombination von restricted position und unrestricted position zum Einsatz. In den Erzählungen über ein Scheitern erfolgt die Wissensgabe zu größeren Teilen über eine restricted position und nur an wenigen Stellen über eine unrestricted position.
388
Tabelle 14: Typologie: Bilder der Wandlung – Typologische Visualisierungsmuster jeweils spezifisch für Reifung und Scheitern
389
12.2 Theoriebildung Im Rahmen dieser Studie wurde davon ausgegangen, dass typologische filmische Gestaltungsmuster für charakterliche Wandlung vor allen Dingen in Form von gestalterischen Veränderungsdynamiken und prozesshaften Gestaltungsmustern im filmischen Material aufzufinden sind. Deshalb wurden ausgewählte Theoriemodelle mit Fokus auf darin enthaltene Definitionen und Begriffe für prozesshafte filmästhetische Phänomene diskutiert. Es wurde nach den Bausteinen eines Theoriegebäudes geforscht, das prozesshafte Dynamiken und deren allgemeine und spezifische Ausformungen in filmischen Gestaltungsmustern in sich fasst. Dieses Verfahren mündete in der Aufstellung eines methodischen Rasters von Begriffen und Kategorien für filmästhetische Phänomene, die vom Faktor der Prozesshaftigkeit gekennzeichnet sind. Das analytische Operieren mit den theoretischen Begriffen und Definitionen hat nicht nur zu Erkenntnissen über die Schlüssigkeit und Anwendbarkeit der diskutierten Ansätze geführt, sondern auch neue, theoriefähige Einblicke in filmästhetische Gestaltungsprinzipien ermöglicht. Aus der Anwendung des Begriffsmodells dieser Studie entsteht ein neuer filmtheoretischer Ansatz, der als „Theorie der Prozesshaftigkeit“ bezeichnet wird. Zum einen besteht dieser neue Ansatz aus genuin in der Studie erarbeiteten Ergebnissen, die eine neue Theorieperspektive im filmwissenschaftlichen Diskurs darstellen. Zum anderen führt die Studie zu Erkenntnissen über definitorische Modifikationen und Ergänzungen der diskutierten filmwissenschaftlichen Theorien und Ansätze.
12.2.1 Grundlegende Definitionen: Theorie der Prozesshaftigkeit filmischer Gestaltung Drei der zentralen Erkenntnisse dieser Studie führen zu filmwissenschaftlicher Theoriebildung. Hier zeigen sich Ergebnisprofile, deren wissenschaftliche Erfassung eine eigene theoretische Begriffsbildung erfordert. Dabei werden Bausteine eines neuen Theoriemodells der Prozesshaftigkeit filmischer Gestaltungsmittel gebildet. Eines der drei theoriefähigen Ergebnisprofile bezieht sich auf den Grad der Sichtbarkeit eines filmischen Gestaltungsmittels. Das zweite Ergebnisprofil bildet das Maß der Prozesshaftigkeit in den Verwendungsweisen von Gestaltungselementen ab. Die dritte theoriefähige Erkenntnis bezieht sich auf die verschiedenen Eigenschaften prozesshafter Dynamiken, die in filmischen Gestaltungsmustern der Beispielfilme kategorisiert werden konnten. Für die drei benannten Forschungserkenntnisse werden abstrakte Definitionen gebildet, da sie zentrale Phänomene prozesshafter Gestaltungsmuster in Spielfilmen 390
abbilden. Für keines der drei analysierten Phänomene filmischer Ästhetik sind in den diskutierten Theorien Definitionen oder abstrakte Kategorisierungen enthalten. Die aus den Theoriemodellen exzerpierten theoretischen Begriffe für filmische Gestaltungsmuster wurden nach der Art ihrer Definitionen ausgewählt. Dabei wurde auf zwei Aspekte geachtet, die sich auf Prozesshaftigkeit beziehen. Zum einen erfassten bestimmte Begriffsdefinitionen verschiedener Gestaltungselemente selbst bereits das Phänomen der Prozesshaftigkeit (Beispiele: cause-effect chain, Motif-Reihen, Definitionen der fünf formalen Prinzipien, transformation des initial terms, Wechselprofil der drei Strukturebenen im PKS-Modell u. Ä.). Zum anderen konnte für bestimmte Gestaltungsmuster aufgrund ihrer Definitionen davon ausgegangen werden, dass diese filmischen Mittel vor allem in prozesshaften Verwendungsweisen im untersuchten filmischen Material aufzufinden sind (Beispiele: Einsatzweisen der visuellen, dreidimensionalen Elemente im Szenenbild, Gegenständen, Kostüm und Maske, Verwendungsweisen der levels of narration, Inszenierungsweisen der Elemente der Handlungsrollen, Einsatz der filmischen Mittel der Raum- und Zeitdarstellung u. a.). Nach dem Herausarbeiten dieser Definitionen und Begriffe aus den diskutierten Modellen war es zur Beantwortung der zentralen Forschungsfrage erforderlich, ein systematisiertes Untersuchungsraster daraus zu bilden. Hierfür wurden Definitionen zweier idealtypischer Inszenierungsweisen für intrapersonelle Wandlungsprozesse als Orientierung entwickelt, die sich an zwei gegensätzlichen Polen einer Achse befinden. Alle für das Untersuchungsraster ausgewählten Definitionen filmischer Gestaltungselemente wurden auf der Achse zwischen diesen beiden Polen positioniert. (vgl. 9: 319) Gradation der Sichtbarkeit filmischer Gestaltungsmittel Über die Anordnung der Begriffe für filmische Gestaltungsmuster auf der Achse bildete sich ein grundlegendes abstraktes Phänomen filmischer Mittel ab, das in keiner der diskutierten Theorien in entsprechender Form reflektiert und definiert wird. Anhand der verschiedenen Definitionen von Gestaltungselementen und ihrer Position auf der Achse kann ein jeweils spezifischer Grad von Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit dieser filmischen Mittel im Filmbild zugeordnet werden. Die Veränderung in der Gradation der Sichtbarkeit verhält sich zur Achse in einer geradlinigen Proportionalität. Der Grad der Sichtbarkeit der filmischen Mittel ist am linken Pol der Achse am höchsten und nimmt sukzessive entlang der Achse in Richtung zum rechten Pol ab. Die dort verorteten filmischen Gestaltungsweisen sind von einer nahezu unsichtbaren Erscheinungsweise im filmischen Bild gekennzeichnet. (vgl. 12.1.2: 377 ff.) Für die Benennung der jeweils spezifischen Gradation eines filmischen Gestaltungsmusters ist es erforderlich, begriffliche Definitionen zu entwickeln, die dies präzise fassen. Im neoformalistischen Modell wird nur grob unterschieden zwischen einer 391
generellen Sichtbarkeit aller auf der Leinwand präsentierten Elemente im plot und den nicht auf der Leinwand sichtbaren Elementen in der story. Für das Vorhaben, eine Kategorisierung der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit filmischer Gestaltungsmuster zu entwickeln, geben die Definitionen der kognitiven Bewusstseinstätigkeiten und -leistungen, zu denen der Zuschauer durch die verschiedenen filmischen Gestaltungsmittel veranlasst wird, gute Orientierung. Es wird folgende Hypothese aufgestellt: Je mehr und komplexer die Bewusstseinstätigkeit des Zuschauers bei der Rezeption eines filmästhetischen Phänomens ist, umso geringer ist der Grad an Sichtbarkeit dieses filmischen Gestaltungsmusters. Wuss spricht hiermit vergleichbar von einer Zunahme von Abstraktheit und Niveau einer für das Filmverstehen erforderlichen Denkleistung. (Wuss 1993: 274 ff., 343) Er trifft jedoch in diesem Zusammenhang keine Aussagen über eine direkte bzw. nur implizite Sichtbarkeit der filmischen Gestaltungselemente, die diese Denkleistungen hervorrufen und steuern. Auch die Erläuterungen Branigans zu den Bewusstseinsleistungen des Zuschauers bei dem Nachvollzug der Mittel des discourse und der verschiedenen levels of narration dienen als Orientierung für die Zuordnung eines Grades von Sichtbarkeit verschiedener filmischer Gestaltungsmuster. (Branigan 1992: 64 ff.) Die Bewusstseinsleistungen für die Mittel des discourse sind relativ komplex. Auf dem Achsenmodell zwischen den beiden Polen sind die Gestaltungsmuster des discourse nahe dem rechten Pol positioniert, d. h. von einer nur impliziten Sichtbarkeit gekennzeichnet. Die Definitionen nach Mikos, mittels welcher Schemata und Denkleistungen der Zuschauer die Inszenierung von Handlungsrollen im Prozess des Filmablaufs nachvollzieht, weist auf einen mittleren Grad an Komplexität dieser Bewusstseinsleistungen hin. (Mikos 2003: 161 ff.) Diese Gestaltungselemente befinden sich nahe dem Mittelpunkt auf der Achse und sind von einem mittleren Grad an Sichtbarkeit gekennzeichnet. Den höchsten Grad an Sichtbarkeit weisen die Elemente des Filmbildes auf, die direkt in der abgebildeten Dreidimensionalität des szenischen Raumes vor der Kamera erscheinen (szenischer Raum, Gegenstand, Körperlichkeit der Darsteller, Kostüm, Maske). Um die Gradation einer Sichtbarkeit bzw. Nicht-Sichtbarkeit filmischer Gestaltungsmuster zu kategorisieren, muss die Definition mindestens aus vier verschiedenen Abstufungen bestehen: unmittelbar sichtbar, teilweise direkt und teilweise implizit sichtbar, indirekt d. h. nur mittelbar sichtbar und nur implizit sichtbar. Unmittelbar sichtbare Elemente im Filmbild sind direkt und einfach wahrnehmbar. Teilweise implizite Gestaltungsmittel verursachen beim Zuschauer bestimmte Verstehensleistungen über Schemata und eigenes Erfahrungswissen während der Rezeption. Informationen, die über nur indirekt sichtbare filmische Mittel präsentiert werden, erfordern komplexere kognitive Verstehensprozesse bei deren Wahrnehmung. Nur mittelbar sichtbare Gestaltungsmuster werden vom Zuschauer mittels sehr komplexer Bewusstseinsleistungen nachvollzogen. Die Verstehensleistungen für vollständig 392
implizite filmische Mittel, die den geringsten Grad an Sichtbarkeit aufweisen, können nur über Informationsverarbeitungsprozesse von großer Komplexität nachvollzogen werden. (Abbildung 15) Das zweite und dritte Ergebnisprofil aus den Untersuchungsergebnissen, das eine neue Begriffsbildung erforderlich macht, bezieht sich auf die Prozesshaftigkeit in der Verwendungsweise verschiedener filmischer Mittel. Hier sind es zwei Faktoren, die eine neue Theoriebildung erfordern. Zum einen ist es das Maß der Prozesshaftigkeit in den Verwendungsweisen filmischer Mittel, das kategorisiert werden muss. Zum anderen sind es verschiedene Arten von Prozesshaftigkeit, die sich anhand der Analyseergebnisse als typologische Gestaltungsmuster herausgestellt haben. Maß der Prozesshaftigkeit Das Maß der Prozesshaftigkeit, das sich in den verschiedenen filmischen Mitteln innerhalb der Beispielfilme präsentiert, verhält sich direkt proportional zum Grad der Sichtbarkeit der Gestaltungselemente. D. h., dass die Gestaltungsmuster nahe des linken Pols auf der Achse von einem hohen Maß der Prozesshaftigkeit gekennzeichnet sind und diejenigen in der Nähe des rechten Pols von einer sehr geringen bis keiner. (vgl. 12.1.2, Abbildung 14: 376) Für das Maß der Prozesshaftigkeit werden keine einzelnen Begriffe gebildet. Vielmehr sollten hier bei der Darstellung von entsprechenden Analyseergebnissen Formulierungen wie „hohes Maß“, „mittleres Maß“ und „niedriges Maß“ verwendet werden. Die zentrale neue theoretische Erkenntnis wird beschrieben wie folgt. Auf Basis der Forschungsdaten wird für jede Gruppe der filmischen Gestaltungsmuster, die in den sechs Segmenten auf der Achse angeordnet sind, ein jeweils spezifisches Maß an Prozesshaftigkeit definiert. Über filmische Mittel der Figuren- und Rolleninszenierung und der Ausgestaltung des szenischen Raumes sind höhere prozesshafte Dynamiken im filmischen Material etabliert als über die Gestaltungsmuster des discourse und der Narration. Kategorien prozesshafter Dynamik Die dritte theoriefähige Erkenntnis basiert auf den Untersuchungsergebnissen, welche die Arten prozesshafter Dynamiken erfassen. Das Verständnis und die Definitionen der Neoformalisten zu den fünf formalen Prinzipien erwiesen sich mit Blick auf die Analyseergebnisse als grundlegend zutreffend. (Bordwell/Thompson 1986: 35 ff. und vgl. 2.1: 32) Alle fünf formalen Prinzipien sind innerhalb der formalen Verknüpfung von filmgestalterischen Elementen in den verschiedenen Beispielfilmen eingesetzt. Für die Visualisierung von intrapersonellen Wandlungsprozessen zeigte sich dabei eine große Relevanz der Prinzipien disunity in Kombination mit similarity, 393
394
Abbildung 15: Grad der Sichtbarkeit filmischer Gestaltungsmuster und Art der Wahrnehmensleistung im Verhältnis zur Position zwischen den zwei Polen idealtypischer Inszenierung charakterlicher Wandlung
difference, variation (auch verstanden als Analogie) und development. Bei eingehender Untersuchung der verschiedenen Verknüpfungen von Gestaltungselementen mittels dieser formalen Prinzipien stellte sich heraus, dass sich in den damit aufgebauten Bezugssystemen (Motif-Reihen) eine begrenzte Anzahl bestimmter Arten prozesshafter Veränderungsdynamiken erkennen lässt. Im neoformalistischen Modell wird zwar das formale Verfahren development definiert, als ein allgemeines principle of progression (Bordwell/Thompson 1986: 39), jedoch erfolgen keine Ausdifferenzierungen, in welchen unterschiedlichen Arten diese Entwicklungsprozesse ausgeformt sein können. Festgestellt wird dort lediglich, dass Filme meist aus mehreren developmental patterns komponiert sind. (ebd.) Diese Ansicht der Neoformalisten muss eine wesentliche Erweiterung erfahren, da sonst zentrale Phänomene ästhetischer Gestaltung in Filmen nicht erfasst werden können. Als theoriefähiges Forschungsergebnis der vorliegenden Studie können fünf verschiedene Arten prozesshafter Veränderungsdynamiken kategorisiert werden, die sich innerhalb der Gestaltungsstrukturen der untersuchten Filme präsentieren. Aufgrund der Häufung dieser strukturellen Muster kann von einer hohen Eindeutigkeit der Analyseergebnisse und dadurch von deren Verallgemeinerbarkeit ausgegangen werden. Es werden fünf Arten von prozesshaften Veränderungsdynamiken definiert: Zugewinn, Reduzierung, sukzessiver Austausch, Umwandlung und Wechsel. (vgl. 10.1: 350 ff.) Es ist davon auszugehen, dass diese fünf Arten prozesshafter Dynamiken generell in den Gestaltungsstrukturen von Spielfilmen aufzufinden sind. Hier sei noch eine Teilerkenntnis in Bezug zum Einsatz der fünf verschiedenen Kategorien formaler Veränderungsprozesse mit Fokus auf die zentrale Forschungsfrage dieser Studie beschrieben, da sich daraus eine verallgemeinerbare Erkenntnis über die Präsentation erzählerischer Inhalte in Form von filmischen Erzählungen ableiten lässt. Anhand der Untersuchungsergebnisse stellte sich heraus, dass es eine deutliche Verschiedenheit im Einsatz der fünf Gestaltungskategorien zwischen den beiden Filmgruppen (Reifung/Scheitern) gibt. (vgl. 11.3, 11.4) In den Geschichten über eine Reifung sind alle fünf Arten prozesshafter Dynamik eingesetzt. In den Erzählungen über ein Scheitern ist das Prinzip des Wechsels in deutlicher Häufung repräsentiert, die vier anderen Arten von Veränderungsdynamiken sind hingegen wesentlich seltener anzutreffen. Daraus können einige Schlussfolgerungen gezogen werden. Der Prozess eines Scheiterns wird über die Dynamik von Wechselstrukturen weniger als stufenweiser Prozess präsentiert, sondern vielmehr als ein Geschehen, dass sich wie ein punktueller Wechsel, eine Art Kippen ereignet. Durch den gleich häufigen Einsatz aller fünf Arten prozesshafter Dynamiken wird in die stufenweisen Phasen und Schritte des Entwicklungsgangs einer Reifung wesentlich mehr Einblick gegeben. Für den Zuschauer steht auf diese Weise eine größere Informationsmenge in Bezug auf die Prozesshaftigkeit des Geschehens zur Verfügung. 395
Die Informationsmenge für das Verständnis des prozesshaften Ereignisgangs eines Scheiterns ist geringer. Auf Basis dieser Forschungsergebnisse kann eine Hypothese verallgemeinert werden, die für andere filmwissenschaftliche Fragestellungen als wichtige Orientierung dient. Im Rahmen einer filmwissenschaftlichen Untersuchung zu ästhetischen Phänomenen soll zunächst festgestellt werden, von welcher Art die inhaltliche Kernfigur bzw. der Kerngedanke über das menschliche Leben ist, der im Zentrum der Erzählung steht. Bezieht sich dieser Kerngedanke auf vergleichbare Prozesse wie eine Reifung oder ein Scheitern, so kann danach geforscht werden, wie groß die Wissensmenge über diese sukzessiven Vorgänge darin ausgestaltet ist und wie zugänglich die Schritte dieser Entwicklungen präsentiert sind. Man kann davon ausgehen, dass z. B. in einer filmischen Erzählung über einen Wettkampf, der den Vorgang des Verlierens in den Vordergrund stellt, die filmische Visualisierung dieses Vorgangs weniger differenziert und umfangreich ausfällt als in einem Film, der die Entwicklung des Siegers erzählt. Resümee zur Begriffs- und Modellbildung: Theorie der Prozesshaftigkeit Alle drei theoretischen Erkenntnisse, die hier beschrieben wurden, können als Untersuchungsmethoden für die Bearbeitung anderer filmwissenschaftlicher Fragestellungen eingesetzt werden, da es sich um theoretische Erkenntnisse über allgemeine strukturelle Phänomene filmästhetischer Gestaltung handelt. Die Übertragung der Erkenntnisse auf die Erarbeitung anderer filmwissenschaftlicher Fragestellungen ist in mehrfacher Hinsicht sinnvoll. Die Untersuchung der Phänomene von Maß und Art der Prozesshaftigkeit filmischer Gestaltungsstrukturen können für andere Forschungsperspektiven wesentliche Erkenntnisse hervorbringen. Ebenso kann man für andere filmwissenschaftliche Fragestellungen die neue Modellkonstruktion, die in dieser Studie in Bezug auf Abstufungen der Sichtbarkeit filmischer Gestaltungsmuster entwickelt wurde, an das jeweilige Untersuchungsmaterial herantragen. Auch die Verhältnismäßigkeit zwischen Sichtbarkeit und prozesshaften Dynamiken in den Einsatzweisen filmischer Gestaltungsmuster, die in dieser Studie erforscht wurde, bildet eine grundlegende Erkenntnis für andere filmwissenschaftliche Fragestellungen, die nach ästhetischen Phänomenen auf der Nahtstelle zwischen der visuellen Repräsentanz eines erzählerischen Inhaltes und dessen narrativen Strukturen fragen. Bei Untersuchungsvorhaben, die sich auf die Analyse filmästhetischer Phänomene fokussieren, die in den sechs Segmenten auf der Achse zwischen den beiden Polen einer idealtypischen Inszenierung positioniert sind, können die Forschungsergebnisse über den Grad der Sichtbarkeit, das Maß der Prozesshaftigkeit und die Art der Veränderungsdynamik als Vorannahmen und hilfreiche Ausgangsthesen über strukturelle Eigenschaften und Verwendungsweisen bestimmter filmischer Mittel dienen. 396
12.2.2 Neue Begriffe und definitorische Ergänzungen verschiedener Theoriemodelle Die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Forschungsarbeit führen zu Veränderungen und Ergänzungen in der wissenschaftlichen Betrachtung filmästhetischer Phänomene. Anhand der Forschungsergebnisse dieser Studie verdeutlichen sich erforderliche Erweiterungen und Veränderungen bestimmter Begrifflichkeiten aus den diskutierten Modellen der Narrationstheorie und der Theorie zur Figur. In diesen Ansätzen finden sich Begriffsdefinitionen und Modelle für prozesshafte, filmgestalterische Phänomene, jedoch leisten es diese Kategorien für bestimmte Aspekte dynamischer Veränderungsmuster im visuellen Material nicht, diese allgemein zu erfassen. Bei der kombinierten Anwendung der Methodik und Begrifflichkeiten dieser Ansätze innerhalb des Untersuchungsrasters dieser Studie wurden verallgemeinerbare Analyseergebnisse greifbar, die im Rückblick auf die einzelnen Ansätze dort nicht entsprechend theoretisch beschrieben sind. Diese Erkenntnisse weisen auf andersartige Funktionen von Begriffen und Kategorien innerhalb der angewendeten Modelle hin, die über erweiterte und neue Definitionen erfasst und benannt werden müssen. Narrationstheorie Trilogien und Doppelungen Für das Begriffsmodell der Motif-Reihe, das im neoformalistischen Modell aufgestellt ist, wird auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse eine Erweiterung und Konkretisierung erforderlich. (Bordwell/Thompson 1986: 37) Motif-Reihen sind definiert als Grundform der formalen Organisation eines Kunstwerkes. Ein motif ist das einzelne Gestaltungselement, das über den Einsatz der fünf formalen Prinzipien mit anderen Elementen verknüpft ist. Die Anzahl der Elemente einer solchen MotifReihe kann unterschiedlich groß sein. Als eine Erweiterung dieses Verständnisses einer Motif-Reihe müssen aufgrund der Forschungsergebnisse zwei Organisationsstrukturen ergänzend benannt werden, deren Elementanzahl klar definiert ist. Es handelt sich hierbei um die Konfigurationen von motifs in Trilogien und Doppelungen bzw. Paaren d. h. zu Verknüpfungen von drei oder zwei Elementen. Die äußerst große Häufung dieser formalen Ordnungsprinzipien in den untersuchten Filmen belegt die Theoriefähigkeit dieser Ergebnisprofile. Innerhalb der Analyseergebnisse ist das zentrale gestalterische Element, über das sich diese Konfigurationen verknüpfen, ein Handlungsaspekt. Dieses Ergebnis ist im Untersuchungsdesign und in der zentralen Fragestellung der Untersuchung begründet. Würde eine andere Arbeitshypothese an filmisches Material herangetragen, so wäre davon auszugehen, dass Trilogien und 397
Doppelungen, die über andersartige filmgestalterische Elemente etabliert sind, in den Ergebnisprofilen deutlich werden. Motif-Reihen von Handlung und Schauplatz Zusätzlich zu den beiden neuen Begriffen für narrative Ordnungsprinzipien in filmischen Formen wird eine Ergänzung der Definition einer Motif-Reihe erforderlich. In den Untersuchungsergebnissen bildet sich ein deutliches Profil heraus für die Konfiguration bestimmter filmgestalterischer Elemente zu Motif-Reihen. Diese Häufungen lassen auf die Verallgemeinerbarkeit dieser filmästhetischen Phänomene schließen. Es handelt sich um die Verknüpfung von Handlung und Schauplatz in mehrteilige Motif-Reihen. Es können zwei Grundformen solcher Motif-Reihen benannt werden. Die erste besteht aus einer bestimmten Handlungsart, die sich an ein und demselben Schauplatz mehrmals über den Filmverlauf verteilt oder wiederholt, wobei es zu einer sukzessiven Veränderung der Handlungsart kommt. In einer zweiten Grundform mehrteiliger Motif-Reihen wiederholt sich ein und dieselbe Handlungsart an verschiedenen Schauplätzen. Sukzessive verändert sich in der Wiederholungsreihe die Ausführungsweise der Handlung. Die Erforschung dieser formalen Verknüpfung von Handlungselementen und Schauplätzen und deren konkreter Ausformung in filmischem Untersuchungsmaterial kann auch im Fokus anderer Fragestellungen von Relevanz sein. Die deutliche Häufung solcher narrativen Ordnungsprinzipien stellt ein grundlegendes filmgestalterisches Phänomen dar. Hierbei steht nur die über formale Prinzipien gebildete Verknüpfung von Handlungsart und Schauplatz in Form von Motif-Reihen im Zentrum der Betrachtung. Die Definition eines inhaltlichen Bezuges zwischen szenischer Handlung und Schauplatz nach Chatman ist hier nicht gemeint. (Chatman 1978 [1993]: 143) Funktion von subkausalen und thematischen satellites Die Funktion der satellites innerhalb einer narrativen Konstruktion, wie sie sich anhand der Untersuchungsergebnisse dieser Studie zeigt, erfordert eine Neudefinition. Nach Chatmans Definition beinhalten satellites erzählerische Informationen, die in kausalem Bezug zu den Inhalten der Kernhandlung, kernels, stehen, aber keinen Einfluss auf deren Verlauf nehmen. (Chatman 1978 [1993]: 53 ff.) Anhand der Untersuchungsergebnisse dieser Studie zeigt sich, dass in den satellites erzählerische Informationen über den intrapersonellen Wandlungsprozess enthalten sind, die in einem eigenständigen, subkausalen und thematischen Bezug zueinander stehen. Über die handlungsbasierten Inhalte der satellites sind in den Beispielfilmen Metaphern für das Wandlungsgeschehen, Informationen über die Entwicklungsweise dieser dramatischen Kernfigur und Kommentare darüber aufgebaut. D. h., dass sich wichtige Informationen in diesen filmischen Erzählungen über charakterliche Entwicklung 398
nicht auf der Ebene der Haupthandlung, sondern auf einer Art subkausalen Linie befinden. Definiert man diese dort verorteten erzählerischen Informationen über den Begriff satellites, so wird hierbei die spezifische Funktion nicht erfasst, die diese Inhalte im Rahmen der Konstruktion von Erzählungen über intrapersonelle Wandlung haben. Nimmt man die Definition von cues (Bordwell/ Thompson 1986: 24 ff.) oder excess (Thompson 1986: 130-142; Bordwell 1990: 53) aus dem neoformalistischen Modell zu Hilfe, ist immer noch nicht die eigene kausale Funktion, die sich zwischen den satellites innerhalb der Beispielfilme gezeigt hat, ausreichend erfasst. Cues beziehen sich immer auf vorausgegangene oder noch folgende Ereignisse und Zusammenhänge der Haupthandlung, jedoch nicht direkt aufeinander. Die Definition erzählerischer Informationen, die ein narratives Element von excess darstellen, gibt keine Kategorie dafür vor, wie diese Inhalte in Bezug zueinander oder zur zentralen Kausalkette stehen. Im Rahmen der notwendigen Neudefinition des Begriffs satellites kann das Modell von Wuss hilfreiche Orientierung geben. Wuss spricht von einer Tiefenstruktur (Wuss 1986: 9 ff.) in einer filmischen Erzählung, über die bestimmte erzählerische Informationen gegeben werden. In der späteren Weiterentwicklung seines Ansatzes nennt er diese Tiefenstruktur „perzeptionsgeleitete Ebene“. (Wuss 1993: 12 ff.) Die inhaltliche Verknüpfung, die zwischen Informationen auf der perzeptionsgeleiteten Ebene entsteht, bezeichnet er jedoch nicht direkt als kausal oder thematisch. Im filmischen Material auf der perzeptionsgeleiteten Ebene befinden sich Strukturen von Ähnlichkeiten, Wiederholungen oder Analogien, jedoch keine deutlich aufgebauten inhaltlich kausalen Zusammenhänge. (Wuss 1986: 14 f. und Wuss 1993: 12 f., 56 ff.) Diese Strukturen werden über Verstehensleistungen des Zuschauers auf der Ebene des Wahrscheinlichkeitslernens verknüpft. Die strukturellen Zusammenhänge, die dabei entstehen, sind subkausaler und thematischer Art. Die auf diese Weise vermittelten Informationen sind von zentraler Bedeutung in der narrativen Konstruktion der charakterlichen Wandlung. Wären sie jedoch in den kernels verortet, würden sie den Ablauf der Haupthandlung stören. In der Kausalkette der kernels ist eine Handlung, d. h. erzählerische Information, jeweils durch die vorhergehende Ereignisentwicklung motiviert. Subkausale, thematisch verknüpfte Informationen würden den Ursache- und Wirkungsablauf der Erzählung stören und hindern bzw. in seiner Stringenz unmöglich machen. Die charakterliche Wandlung selbst kann nicht Gegenstand der kernels sein, sonst würde die äußere Handlung der Geschichte nicht stattfinden bzw. der Ablauf von Ereignissen gestört werden. Die für den Gesamtzusammenhang der Erzählung äußerst wichtigen Informationen über die intrapersonelle Wandlung liegen daher, wie eine Art Subtext, eine Schicht tiefer als die Haupthandlung in den kernels. Diese erzählerischen Elemente, die einen eigenen Strang von inhaltlichen Zusammenhängen bilden, werden im Rahmen der Forschungsarbeit als 399
subkausale, thematische satellites definiert. Der Zusammenhang zwischen den Inhalten dieser satellites ist von einer Ursache- und Wirkungsverknüpfung gekennzeichnet und von einem ihnen übergeordneten thematischen Bezug. Zum Ablauf der Haupthandlung stehen die erzählerischen Informationen dieser subkausalen, thematischen satellites nur in einem übergeordneten, themenbezogenen Zusammenhang und nicht in einem kausalen Bezugssystem. Die hier aufgestellte Neudefinition des Begriffs satellites erfasst Verhältnismäßigkeiten der satellites zueinander und deren Bezug zu den kernels, die in keinem der diskutierten Theoriemodelle als Definitionen erzählerischer Ordnungselemente ausreichend abgebildet sind. Kategorien für Veränderungsdynamiken bei der Etablierung von goals Für das Modell des narrative schema (Branigan 1992: 13 ff.) entsteht anhand der Analyseergebnisse dieser Studie eine notwendige Erweiterung des Begriffs goals. Branigan konstatiert in seinem Modell, dass in jeder Erzählung ein oder mehrere goals etabliert werden. Über welche prozesshaften Dynamiken die goals etabliert werden bzw. Veränderung erfahren, wird in Branigans Definition nicht erfasst. In den Ergebnissen dieser Studie zeichnet sich deutlich ab, dass die Etablierung und Veränderung von goals einhergeht mit bestimmten prozesshaften Dynamiken. Dieses Phänomen gilt es, theoretisch zu verallgemeinern und in der entsprechenden Begriffsdefinition zu ergänzen. Zu unterscheiden sind hierbei drei Einsatzweisen von goals für die erweiterte Defnition des narrative schema. Im ersten Fall wird ein goal etabliert und dieses bleibt durch den Filmverlauf unverändert. Über eine zweite Verwendungsweise wird zunächst ein goal etabliert, jedoch erfährt dieses eine sukzessive Veränderung. Das veränderte goal ist vom ursprünglichen verschieden und kann zu diesem in einem gegensätzlichen Verhältnis stehen. Die dritte Kategorie einer Veränderungsdynamik besteht aus einem punktuellen Wechsel eines etablierten goals zu einem neuen, anderen. Dieser Wechsel vollzieht sich ohne Stufen eines Übergangs. Die drei neuen Kategorien, die den Begriff des goals im narrative schema ergänzen, sind folgende: Kontinuität des etablierten goals, sukzessive Veränderung des etablierten goals zu einem neuen und punktueller Wechsel von einem etablierten goal zu einem anderen. Dominanzverhältnis zwischen Narration und Dramaturgie - Filmische Gestaltungsmuster in Momenten dramaturgischer Verdichtung Auffällige Phänomene, die sich in der Verwendung mehrerer typologischer Gestaltungsmuster auf vergleichbare Weise wiederholen, werden im folgenden Abschnitt zusammengefasst dargestellt und für theoriebildende Neudefinitionen diskutiert. Die formalen Manifestationen bestimmter filmischer Gestaltungsmuster im Untersuchungsmaterial weisen extreme und paradoxe Verwendungsweisen auf: die Hierarchiestrukturen zwischen kernels und satellites, Techniken der Zeitdarstellung, 400
Elemente der kameraspezifischen Bildgestaltung, das Operieren verschiedener levels of narration und die Inszenierung von POV. Die spezifischen Verwendungsweisen dieser filmischen Gestaltungsmuster, werden im Folgenden kurz aufgeführt. Alle diese Gestaltungsstrukturen sind in filmischen Momenten der Beispielfilme verortet, über die zentrale Aspekte der charakterlichen Wandlungsprozesse vermittelt werden. Im Einsatzprofil der kernels und satellites zeigt sich ein Auflösungsphänomen in Bezug auf die hierarchischen Grenzen zwischen diesen erzählerischen Elementen. Die Grenzen zwischen diesen beiden Bauelementen der Narration verwischen in bestimmten Momenten des Filmverlaufs. Zeitsprünge und Zeitraffung sind in der Visualisierung der charakterlichen Wandlung eingesetzt, um Abfolge und Stufen der charakterlichen Veränderung zu visualisieren. Beim Einsatz der filmischen Zeitmanipulationstechniken sind an diesen Stellen der Filmverläufe extreme Formen zu beschreiben, die eine paradoxe Wirkung hervorrufen. Es kommt dabei zum einen zur Darstellung von Zeitsprüngen, die von wesentlich größerer Dauer zu sein scheinen, als sie in der story time tatsächlich sind. Zum anderen kommt es in solchen filmischen Momenten zu einer Loslösung der Zeitdarstellung aus Linearität und Chronologie. Zudem sind in solchen szenischen Situationen vermehrt extreme Kamerapositionen und -bewegungen eingesetzt. Im Profil der levels of narration zeigt sich ebenso ein Auflösungsphänomen der Hierarchiestruktur. Die hierarchisch definierten Grenzen zwischen den einzelnen levels of narration lösen sich an bestimmten Momenten des Filmverlaufs auf. Die Einsatzweise der levels of narration ist hier von einer Art Parallelität ohne Hierarchie geprägt. Die phantasy of seeing auf Seiten des Zuschauers differenziert sich in diesen Momenten nicht mehr in die verschiedenen Erzählpositionen aus, sondern die levels of narration werden in einer Art Zusammenführung unterschiedlicher Erzählpositionen als eine wissensgebende Instanz wahrgenommen. In erzählerischen Momenten, die zur intrapersonellen Wandlung in starkem Bezug stehen, weist die visuelle Inszenierung von internal focalization depth bzw. der Wissensgabe in Form von depth of knowledge einen gleichzeitigen Einsatz einer großen Anzahl verschiedener filmischer Mittel auf. Verwendet werden dabei Techniken der Zeitmanipulation, paralleles Operieren verschiedener levels of narration, pure movements of narration, extreme Kamerapositionen und -bewegungen, POV und der Einsatz des Szenenbildes als landscape of mind. Die filmischen Momente innerhalb der Beispielfilme, die von einem solchen Einsatz filmgestalterischer Mittel gekennzeichnet sind, beinhalten zentrale Informationen über den intrapersonellen Wandlungsprozess, d. h. diese Momente haben zentrale dramaturgische Bedeutung in der gesamten Geschichte. In jeder filmischen Erzählung sind zwei Prozesse parallel aufgebaut, der Prozess der Narration und der Prozess der Dramaturgie. Beide Prozesse sind parallel wirksam. Die oben beschriebenen, spezifischen und extremen Verwendungsweisen filmischer Gestaltungsmittel 401
sind alle in Abschnitten des Filmverlaufs eingesetzt, die von einer hohen dramaturgischen Verdichtung bei der Darstellung von Informationen über die charakterliche Wandlung gekennzeichnet sind. In diesen Momenten der Erzählungen, über die Inhalte von großer dramaturgischer Bedeutung vermittelt werden, kann man aufgrund der festgestellten Gestaltungsphänomene von einem Sieg der Dramaturgie über die Narration sprechen. Die Einsatzarten der filmischen Mittel dienen hier überwiegend zum Aufbau der dramaturgischen Wirkungsweisen und dominieren die Strukturen der Narration. Dies zeigt sich in den oben beschriebenen Verwendungsweisen der Gestaltungsmuster, deren Strukturen nicht mehr den in der Narrationstheorie definierten Parametern entsprechen. Es kommt zu Mischformen, extremen Verwendungsweisen, Auflösungsphänomenen klarer Hierarchien und Abgrenzungen zwischen einzelnen Gestaltungselementen. Zudem zeigt sich in diesen Momenten hoher dramaturgischer Verdichtung der Einsatz einer hohen Anzahl verschiedener filmischer Gestaltungsmuster. Diese szenischen Situationen im Filmverlauf beinhalten die Kernfigur des zentralen Themas, einer charakterlichen Veränderung. Dieses Ereignis wird über Konfliktprozesse vermittelt. Damit die Darstellung dieser Konflikte mittels der Narration gelingt, dominiert an diesen Stellen die Dramaturgie die Gestaltungsstrukturen der Narration. In der Narrationstheorie fehlt es an einem Erklärungsmodell, welches über eine theoretische Begrifflichkeit die verschiedenen Phänomene der fortlaufenden Parallelität sowie des Zusammenwirkens von Dramaturgie und Narration erfasst. Ebenso fehlen in den narrationstheoretischen Modellen Definitionen, die das Phänomen der Dominanzverhältnisse zwischen Dramaturgie und Narration erfassen können. Diese Schwachstellen innerhalb der Narrationstheorie gilt es zu schließen. Einige Begriffe aus den diskutierten Theoriemodellen können als Ansätze zu einer Lösung dieser definitorischen Defizite eingesetzt werden. Die narrationstheoretischen Definitionen der Beeinflussung der Lesart erzählerischer Informationen durch den Zuschauer, die von filmischen Gestaltungsfaktoren gesteuert werden kann, eröffnet das Tor zur Diskussion und Entwicklung einer neuen filmtheoretischen Definition für die oben beschriebenen bildästhetischen und narrativen Gestaltungsphänomene. Bordwell spricht in diesem Zusammenhang von judgemental attitude (Bordwell, 1985: 57-61 nach Branigan, 1992: 73), einer die erzählerischen Inhalte interpretierenden Erzählweise, die durch die Wahl der eingesetzten Mittel des discourse innerhalb eines Spielfilms aufgebaut wird. Judgemental attitude entsteht auf der gestalterischen Ebene des discourse und ist wirksam auf der inhaltlichen Ebene der story. Bordwell bezeichnet das Phänomen einer die Inhalte interpretierenden Beeinflussung als tone. (Bordwell 1985: 5761 nach Branigan 1992: 73 und Bordwell 1985: 62), der durch das Zusammenspiel der verschiedenen levels of narration entsteht: „The splitting into many voices is the voice.“ (Branigan 1992: 191) Die Definition der stylistic metaphor (Branigan 1992: 61 f., 402
177 ff.) von Branigan bildet die dritte Orientierung für eine neue Theorieperspektive auf die oben beschriebenen Gestaltungsphänomene. Als stylistic metaphor bezeichnet Branigan einen filmgestalterischen Zusammenklang von Gestaltungsmittel des stylistic system und des discourse in Bezug auf Inhalte der story. Er beschreibt anhand mehrerer Beispiele, wie der Einsatz der levels of narration mit anderen formal-ästhetischen Strukturen der Bildgestaltung interagiert und dabei visuelle Metaphern aufgebaut werden, die in einem komplexen inhaltlichen Bezug zum erzählerischen Inhalt einer Szene, Szenenfolge oder der ganzen Geschichte stehen. (Branigan 1992: 137, 138) Alle hier aufgeführten Begriffsdefinitionen versuchen Phänomene von dramaturgischer Verdichtung und Dominanzverhältnissen zwischen Narration und Dramaturgie in filmgestalterischen Strukturen abstrakt zu erfassen. Verschieden große Anzahl von initial terms und transformations Auf Basis der Untersuchungsergebnisse dieser Studie wird deutlich, dass die Begriffsdefinition des initial terms (Branigan 1992: 5 f.), so wie sie in Branigans Theoriemodell gegeben ist, erweitert werden muss. Branigan spricht von einem einzelnen initial term, der innerhalb einer Geschichte mehrere Transformationen durchläuft. Anhand der Untersuchungsergebnisse verdeutlicht sich, in den untersuchten Geschichten mehr als nur ein einzelner initial term aufzufinden ist. In den einzelnen Beispielfilmen sind bis zu drei solcher inhaltlichen Kernfiguren eines Tuns benennbar. Beinhaltet ein Film mehr als einen initial term, so sind diese sehr unterschiedlich und zueinander in einer hierarchischen Abstufung geordnet. In einigen der Beispielfilme kann ein hierarchisches Verhältnis zwischen einem zentralen initial term und bis zu zwei weiteren, zu diesem untergeordneten, inhaltlichen Kernfiguren festgestellt werden. In einigen der Beispielfilme kann eine davon verschiedene Bezugsart zwischen einem zentralen initial term und ein bis zwei weiteren solcher Kernfiguren beschrieben werden. Eine der zwei oder drei inhaltlichen Kernfiguren weist einen hohen Grad an inhaltlicher Abstraktheit auf. Deren inhaltliche Bedeutung steht jedoch dabei thematisch in deutlichem Zusammenhang zu den anderen initial terms in dieser Erzählung. Die größere Anzahl der initial terms lässt sich anhand des Dramaturgiemodells von Linda Seger (Seger 1994) und anhand der Begriffsdefinition des goals erklären. Seger spricht von dem „zentralen Thema“ (Seger 1994: 159), das sich in jeder Spielfilmgeschichte benennen lässt. Zudem gibt es eine „zentrale Frage“ (Seger 1994: 13 f. und Field 1984: 52 ff.), die im Rahmen der erzählten Ereignisse behandelt und auch beantwortet wird. Der Begriff goal wird von Mikos definiert als das Ziel, das eine Figur im Rahmen einer Handlungsrolle hat. (Mikos 2003: 155 ff.) Branigan fasst den Begriff im Rahmen seines narrative schema (Branigan 1992: 14-17) und benennt damit das zentrale Ziel, das sich für eine Figur aus der Ausgangssituation einer Geschichte ergibt. Branigans Begriffsverständnis des initial terms bildet eine Schnittmenge von den hier aufgeführ403
ten Elementen narrativer Dramaturgie und Struktur. Darin gründet das Erfordernis, die Definition des initial terms wie beschrieben, zu ergänzen und zu erweitern. Theorie der fiktiven Figur Verschiebungsdynamiken zwischen den drei Ebenen des PKS-Modells Auf der Basis der Untersuchungsergebnisse dieser Studie kann das Modell von Wuss um zwei definitorische Komponenten erweitert werden. Das PKS-Modell ist in seiner Methodik auf die Handlungen einer filmischen Erzählung als Untersuchungsgegenstand fokussiert. Wuss selbst spricht davon, dass die Verteilung der erzählerischen Informationen der Handlung auf den drei Strukturebenen in jedem Film über dessen Verlauf hinweg ein spezifisches Profil aufweist (Wuss 1993: 192). Die Verteilung der handlungsbezogenen Informationen auf die drei Strukturebenen ist im Rahmen der Analyseergebnisse dieser Studie von bestimmten Verschiebungsdynamiken gekennzeichnet. Diese Veränderungsprozesse in den Verlaufsprofilen weisen signifikante Häufungen auf, sodass eine Typologisierung dieser Gestaltungsstrukturen möglich wird. Es gilt daher, die allgemeine These in Wuss’ Modell zu ergänzen wie folgt: in der Zugehörigkeit von handlungsbezogenen Informationen zur perzeptionsgeleiteten, konzeptgeleiteten oder stereotypgeleiteten Ebene sind in Spielfilmen spezifische Verschiebungsdynamiken gestaltet. D. h. Handlungen, die einer bestimmten Ereignisgruppe angehören, befinden sich während eines bestimmten Abschnitts des Filmverlaufs auf einer der drei Strukturebenen und danach kommt es zu einer Verschiebung dieser Handlungselemente auf eine andere der drei Ebenen. Diese allgemeine These kann anhand der vorliegenden Analyseergebnisse in Form einer typologisierbaren Verschiebungsdynamik ausdifferenziert werden. Die Verhaltensweisen der Hauptfigur, die sich im späteren Verlauf der Erzählung wandeln werden, sind bis über die Hälfte des Filmverlaufs auf der perzeptionsgeleiteten Ebene gelagert und verknüpfen sich dort zu Topikreihen. Im letzten Drittel der Geschichten kommt es zu einer Verschiebung dieser Handlungselemente auf die konzeptgeleitete Ebene. Die dort gelagerten, handlungsbezogenen Informationen verknüpfen sich dann zu Kausalketten. Eine zweite, neue Annahme, die das PKSModell ergänzt, bezieht sich auf die sinnhaften Bezugsweisen zwischen den Informationselementen auf den drei Strukturebenen. In Wuss’ Modell werden hierfür drei Bezugsarten definiert: semantische Kooperation, semantische Substitution oder semantischer Konflikt (Wuss 1993: 193 f.). Anhand der Untersuchungsergebnisse dieser Studie lässt sich die allgemeine Annahme aufstellen, dass sich innerhalb dieser Bezugsarten bestimmte Veränderungsdynamiken im Ablauf eines Filmes definieren lassen. Einer dieser allgemein kategorisierbaren Veränderungsprozesse zeigt sich anhand der Analyseergebnisse im Kontrastverhältnis zwischen den Handlungselemen404
ten auf der perzeptions- und der stereotypgeleiteten Ebene. Über den größten Teil des Filmverlaufes ist diese Kontrastbeziehung wirksam, löst sich jedoch gegen Ende der Erzählung auf. Diese definitorischen Ergänzungen in Wuss’ Modell könnten in einer eigens darauf spezialisierten Studie näher erforscht und dabei ausdifferenziert werden. Betrachtet man die sinnhaften Bezugsarten zwischen den drei Ebenen mit Fokus auf verschiedene Filmgenres, so lässt sich vermuten, dass sich dabei genrespezifische Bezugsprofile und dazugehörige Verschiebungsdynamiken feststellen lassen. Dynamiken in der Abfolge von Handlungsrollen Für Mikos’ Modell der Handlungsrollen können auf Basis der Untersuchungsergebnisse dieser Studie einige definitorische Ergänzungen aufgestellt werden. Alle diese begrifflichen Erweiterungen beziehen sich auf prozesshafte Gestaltungsphänomene innerhalb der nach Mikos definierten Faktoren der Rolleninszenierung. Die erste theoriefähige Erkenntnis bezieht sich auf das Rollenprofil einer Figur in Bezug auf den Gesamtverlauf einer Erzählung. Mikos erläutert, dass sich für jede Figur innerhalb einer Erzählung ein spezifisches Rollenprofil analysieren lässt (Mikos 2004: 162 f.). Innerhalb dieses Rollenprofils zeigt sich eine Hierarchie in Bezug auf die dramaturgischen Funktionen, welche die verschiedenen Funktions- und Handlungsrollen einer Figur transportieren. Anhand der Untersuchungsergebnisse kann ein weiteres Gestaltungsphänomen auf allgemeiner Ebene definiert werden, das anhand des Rollenprofils einer Figur erkennbar wird. Beobachtet man die Rollen der Hauptfiguren in den untersuchten Filmen, so zeigt sich zum einen ein jeweils spezifisches Abfolgeprofil während des Filmverlaufs. D. h. eine Figur hat alle Rollen, die sie übernimmt, nicht gleichzeitig inne, sondern verschieden viele davon zu jeweils unterschiedlichen Momenten im Ereignisverlauf der Geschichte. Zum anderen können in diesen Abfolgeprofilen bestimmte Veränderungsdynamiken herausgearbeitet werden, über die sich das Abfolgeprofil aufbaut. Insgesamt können fünf verschiedene Arten solcher Veränderungsprozesse kategorisiert werden. Erstens kommt es zur Neuetablierung oder zweitens zum Wegfall von Rollen einer Figur. Dadurch erweitert oder verringert sich jeweils die Gesamtzahl aller Rollen eines Protagonisten. Das dritte Veränderungsprinzip ist das eines Rollenwechsels. D. h. im Rollenprofil der Figur wechselt sich eine bestimmte Rolle mit einer neuen ab. Hier bleibt die Anzahl der Rollen insgesamt gleich groß. Die vierte und fünfte Entwicklungsdynamik im Rollenprofil etabliert sich innerhalb einer einzelnen Rollenkonstruktion. Es kann dabei zum einen zu Veränderungen innerhalb der Interaktions- und Emotionsstrukturen einer Rolle kommen. Zum anderen manifestieren sich schrittweise Veränderungen in der situativen Einbettung einer Rolle in den erzählerischen Kontext. 405
Dynamische Muster in der Rolleninszenierung Eine zweite theoriefähige Erkenntnis kann für Mikos’ Modell in Bezug auf bestimmte Muster und deren Veränderungsdynamiken in der Inszenierung einzelner Rollen formuliert werden. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Inszenierung einer Rolle zwischen zwei idealtypischen Polen hin- und herpendelt. Eine Rolle kann dabei konform zu ihrem Rollenschema oder nichtkonform zu diesen Strukturen inszeniert sein. Auf der Grundlage der Analyseergebnisse dieser Studie können anhand der Inszenierungsweisen zwischen den beiden Polen vier Dynamiken kategorisiert werden. Diese prozesshaften Prinzipien lassen sich als allgemeingültige Faktoren in der Rollensinszenierung in Ergänzung zu Mikos’ Modell definieren. Vier solche Veränderungsdynamiken können benannt werden. Die Steigerung jeweils rollenkonformer oder nicht-rollenkonformer Inszenierungsfaktoren führt entweder zur Erfüllung oder zur Nichterfüllung bzw. gänzlichen Aufgabe einer Rolle. Das dritte Veränderungsprinzip manifestiert sich innerhalb des Rollenschemas selbst, das einer Handlungsrolle zugrunde liegt. Hier kommt es zu Umformungen und Neuetablierungen einzelner oder mehrerer der schematisierten Elemente und Zusammenhänge einer Rollenkonstruktion. Als vierte Entwicklungsdynamik kann die Veränderung im Einsatz verschiedener, möglicher Inszenierungselemente innerhalb des Schemas einer Rolle definiert werden. Hier kommt es zu einer Verschiebung der aktiven Sektoren innerhalb des schematisch festgelegten Handlungs- und Interaktionsrepertoires für die konkrete Ausformung der Rolleninszenierung. Diese theoretischen Definitionen für Gestaltungsphänomene einer Rolleninszenierung führen zu neuen Fragestellungen. So kann vermutet werden, dass die Verhältnismäßigkeiten zwischen rollenkonformen und rollenbrüchigen Inszenierungsweisen in verschiedenen Filmgenres sich als unterschiedlich erweisen werden. Am Beispiel der vorliegenden Studie zeigt sich, dass rollenkonforme Inszenierungsweisen unterrepräsentiert und rollenbrüchige Rollengestaltungen dominant sind. Dies ist erforderlich, um ein Spannungsfeld für die Entwicklungsmöglichkeiten und Veränderungen der Hauptfigur aufzubauen. Zwischen den beiden Polen idealtypischer Inszenierung muss daher ein konflikthaftes Potenzial aufgebaut werden. In einem Actionfilm hingegen werden vermutlich die rollenkonformen Inszenierungsweisen überwiegen. Im Rahmen eines ScienceFiction-Films sind wiederum eher konflikthafte Verhältnismäßigkeiten zwischen rollenkonformer und nicht-rollenkonformer Ausgestaltung der Handlungsrollen zu erwarten. Grundsätzlich ist bei der Analyse der Dynamiken in einer Rollensinszenierung zu fragen, welche Funktion diese Rolle für die Dramaturgie und die Konstruktion der Erzählung hat (z. B.: muss über eine Rolle ein Konflikt aufgebaut werden?). Von diesen Funktionen wiederum hängt es ab, ob die Inszenierung einer Rolle eher von Rollenkonformität oder von Nonkonformität geprägt ist.
406
Konfliktbezüge innerhalb der Emotionsstrukturen von Handlungsrollen Innerhalb des Begriffsmodells der Interaktions- und Emotionsstrukturen einer Rolle kann für Mikos’ Ansatz eine dritte Ergänzung auf der Basis der Ergebnisse dieser Studie formuliert werden. In den Analysen zeigte sich, dass in Bezug auf die Inszenierungselemente der Emotionsstrukturen Konfliktbeziehungen aufgebaut sind. Es können zwei Gestaltungsarten für diese Konfliktbeziehungen kategorisiert werden. In den Geschichten über ein Scheitern der Hauptfigur ist eine konflikthafte Konstellation zwischen den einzelnen Elementen der Emotionsstrukturen einer Rolle (goal, desire, motivation) und dem damit verbundenen Reaktionszyklus etabliert. In den Geschichten über eine Reifung ist ein Konflikt zwischen dem Zyklus der Emotionsstrukturen und dem erzählerischen Handlungskontext der Rolle aufgebaut. Hier kommt es zur schrittweisen Auflösung dieser Konfliktbezüge. In den Entwicklungen eines Scheiterns erfolgt keine Auflösung dieser Widersprüche und Gegensätze. Auf Basis dieser theoriefähigen Erkenntnisse kann eine Orientierung für die Erforschung anderer filmwissenschaftlicher Fragestellungen erfolgen. Grundsätzlich kann ein Spielfilm daraufhin untersucht werden, zwischen welchen Elementen der Interaktionsstrukturen ein Konflikt aufgebaut ist und ob es darin zu einer Lösung der konflikthaften Konstellationen kommt oder nicht. Es ist anzunehmen, dass sich unter dieser Analyseperspektive wiederum genrespezifische Unterschiede herausarbeiten lassen. Aber auch mit einer filmgeschichtlich ausgerichteten Forschungsperspektive lassen sich vermutlich bemerkenswerte Veränderungen im Einsatz der definierten Gestaltungsphänomene feststellen. Definition für das Zentrum der list of traits Auf der Grundlage der vorliegenden Studie wird eine theoriefähige Erkenntnis als Ergänzung zu Branigans Definition des Zentrums einer list of traits formuliert. Branigan geht in seinem Ansatz davon aus, dass die Inszenierungselemente einer Figur über eine list of traits, d. h. als verschiedene Charakterzüge und Wesensarten beschrieben werden können. Alle Faktoren der Charakterkonstruktion können in Form einer Liste benannt werden, deren Sortierung sich an einem gemeinsamen, thematischen Zentrum ausrichtet. (Branigan 1992: 8,19,101,208 und vgl. 3.3: 77 ff.) Branigan gibt in seinem Modell keine näheren Kategorien oder Definitionen an, wie das Zentrum der list of traits beschaffen sein könnte. Im Rekurs auf die Analyseergebnisse dieser Studie kann das Zentrum der list of traits folgendermaßen definiert werden: Es handelt sich um einen Konfliktbezug, der zwischen zentralen Elementen der Charakterkonstruktion aufgebaut ist. Sicherlich können davon verschiedene thematische Orientierungszentren einer Charakterkonstruktion definiert werden. Da Branigan solche Kategorien jedoch nicht entwickelt hat, könnte dies als Erkenntnisziel für eine andere filmwissenschaftliche Studie gewählt werden. Eine fruchtbare Ausrichtung könnte hier wiederum genrespe407
zifischer Art sein. Ergänzend zu der im Rahmen dieser Studie beschriebenen Definition für das Zentrum der list of traits können vier Veränderungsprinzipien kategorisiert werden, über die sich der zentrale Konfliktbezug innerhalb der Charakterkonstruktion verändert. Diese prozesshaften Veränderungen etablieren sich im erzählerischen Material in Form eines Dominanzwechsels zwischen den konflikthaften Charakterzügen, einer Reduzierung oder Erweiterung der Palette von Wesensarten oder einer Umwandlung bestimmter Charakterzüge in veränderte Merkmale.
12.3 Ausblick Aus dem Ergebnisprofil dieser Forschungsarbeit eröffnen sich neue wissenschaftliche Fragen, zu deren Beantwortung weiterführende Studien erforderlich sind. Zunächst werden die Forschungsdisziplinen und Teilbereiche beschrieben, innerhalb derer die fortführenden Studien situiert wären. Einige der neuen Fragestellungen werden im Anschluss daran näher erläutert. Ein Überblick der neuen, vertiefenden Fragestellungen zeigt, dass diese Forschungsperspektiven in Anknüpfung an diese Studie in vier verschiedenen Forschungsfeldern verortet sind. Eine davon ist werkanalytisch ausgerichtet, vergleichbar mit der Erforschung filmästhetischer Phänomene in der vorliegenden Studie selbst. Die zweite und größte Gruppe der sich neu stellenden Forschungsfragen richtet sich aus der Perspektive der Rezeptionsforschung auf den Gegenstand Film. Bestimmte Teilaspekte der vorliegenden filmwissenschaftlichen Erkenntnisse führen in ein drittes Forschungsfeld, das einer fortgesetzten Theoriebildung. Ein viertes Gebiet, innerhalb dessen die Ergebnisse dieser Studie fortführend diskutiert werden müssen, ist das der Filmpraxis. Im Rahmen der Erforschung filmästhetischer Phänomene entstehen auf Basis der Ergebnisse dieser Studie drei neue Fragestellungen, die vertiefend untersucht werden müssen. Als Erstes muss die Kernfrage der vorliegenden Forschungsarbeit erneut aus filmhistorischer Perspektive gestellt werden. Anhand ausgewählter Werke aus verschiedenen Zeitabschnitten der Filmgeschichte werden die Visualisierungsmuster für intrapersonelle Wandlungsprozesse analysiert. Zum einen kann im Vergleich zu den Ergebnissen der vorliegenden Studie herausgearbeitet werden, welche Gestaltungsmuster analog zu den erforschten typologischen filmischen Mitteln eingesetzt werden. Zum anderen können die Unterschiede in den Visualisierungsmustern beschrieben werden, über die eine charakterliche Wandlung inszeniert wird. Bei einer solchen Analyseperspektive wird von der These ausgegangen, dass die Mittel der Visualisierung für bestimmte inhaltliche Erzählfiguren im Lauf der Filmgeschichte 408
Änderungen unterworfen waren und sind. Ästhetische Gestaltungsformen sind von einem steten Wandel gekennzeichnet, der aus Dialektiken zwischen verschiedenen Faktoren der Filmgestaltung entsteht. Zum einen entwickeln die Kunstschaffenden im Filmbereich fortlaufend visionäre, filmästhetische und filmsprachliche Innovationen und streben deren Umsetzung in konkreten Werken an. Zum anderen stoßen sie dabei auf technologische Grenzen. Entsprechende Weiterentwicklungen der Filmtechnik werden dabei initiiert. Die Ästhetikgeschichte des Films spiegelt sich daher stets in der Technikgeschichte dieses Mediums und vice versa. Ein weiterer wesentlicher Einflussfaktor für die Veränderung filmästhetischer Gestaltungsweisen liegt in der Wandlung stilistischer Strömungen, die während unterschiedlicher Abschnitte der Filmgeschichte dominierenden Einfluss auf die Verwendung filmischer Mittel hatten und haben. Transtextuelle Einflüsse aus den verschiedenen Kunstgattungen Malerei, Bildhauerei, Fotografie, Grafikdesign, Internetdesign und Medienkommunikation, Musik, Theater und Architektur wirken auf die Schaffensprozesse in der Filmproduktion ein. Gestaltungsweisen im Film werden beeinflusst durch ästhetische Innovationen und neue Stilrichtungen, die in den genannten Bereichen künstlerischer Arbeit entstehen. Ebenso besteht eine transtextuelle Dialektik in Bezug auf ästhetische Phänomene der Filmgestaltung zwischen den verschiedenen Filmproduktionsformaten Kinospielfilm, Werbefilm, Musikvideo, Dokumentarfilm, Experimentalfilm, InternetTV, Gamesdesign, filmische Kommunikation im WWW und spezifischen Formen der Fernsehproduktion. Im Rahmen einer fortführenden Forschungsarbeit kann die Filmgeschichte nach dem klassischen Kanon der Filmgeschichtsschreibung in verschiedene Abschnitte eingeteilt werden, die jeweils von bestimmten ästhetischen Stilrichtungen dominiert sind. Für jede dieser stilgeschichtlichen Phasen gilt es erneut, die Frage zu beantworten, welche Visualisierungsmuster als typologisch zu bezeichnen sind für die filmische Präsentation charakterlicher Wandlung. Eine zweite Studie im Bereich der Erforschung filmästhetischer Phänomene sollte nach Modellen eines Genrebegriffs aufgebaut werden. Die Frage nach typologischen Visualisierungsmustern für charakterliche Wandlung wird hierbei in Bezug auf die verschiedenen Filmgenres gestellt. Untersucht wird, ob innerhalb unterschiedlicher Genres jeweils verschiedene filmische Mittel in der Inszenierung dieser erzählerischen Kernfigur eingesetzt werden oder ob genreübergreifende Typologien bestimmter Visualisierungsmuster herausgearbeitet werden können. Im Rahmen einer dritten, vertiefenden Analyse sollten die Ergebnisse der vorliegenden Studie einer Art Gegenprobe unterzogen werden. Der zentrale Gegenstand einer solchen Studie besteht aus filmischen Erzählungen, die einen Seinszustand einer Figur präsentieren, ohne dass sich während des Filmverlaufs grundlegende Entwicklungen oder Veränderungen in der Charakterkonstruktion vollziehen. Ebenso können Filme Gegenstand einer solchen Untersuchung sein, deren Hauptfiguren im 409
Rahmen von komplexen äußeren Handlungsereignissen agieren, jedoch in Bezug auf ihre Charakterzüge und ihre Persönlichkeit keine Veränderungen im Laufe der Ereignisse aufweisen. Bei dieser Art Gegenprobe kann evaluiert werden, welche Funktionen, die in den Filmen über charakterliche Wandlungsprozesse als typologisch definierten Gestaltungsmuster in einer Gruppe von Filmen mit den oben beschriebenen Erzählinhalten haben. Ebenfalls kann mittels einer solchen Studie herausgearbeitet werden, welche Visualisierungsmuster typologisch sind für die Inszenierung einer Figurenkonstruktion, deren Gestaltungsparameter sich im Verlauf der Handlungsabfolge einer Geschichte als relativ konstant erweisen. Das zweite große Forschungsfeld, welches im Anschluss an diese Studie für eine fortführende Bearbeitung des Ergebnisprofils betreten werden muss, ist das der Rezeptionsforschung. Wurde im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit mit Modellen, Begriffssystemen und Kategorien aus der filmwissenschaftlich orientierten Rezeptionsforschung operiert, um ästhetische Phänomene vor dem Hintergrund dieser Erklärungsmodelle zu erforschen, so muss für weiterführende Studien eine 180-Grad-Wendung in der theoriebasierten Ausrichtung der Forschungsperspektive unternommen werden. An dieser Stelle seien einige Phänomene aus dem Ergebnisprofil der vorliegenden Studie herausgegriffen, die eine Ausgangsbasis für neues Forschungsdesign bilden. Unter anderem wurden folgende Unterschiede in Bezug auf typologische Visualisierungsmuster für Reifung bzw. Scheitern herausgearbeitet: Filme, die Geschichten eines Scheiterns präsentieren, weisen im Gegensatz zur filmischen Darstellung einer Reifung eine geringere Gesamtmenge von eingesetzten filmischen Mitteln in der Visualisierung auf (vgl. 11.1, 12.1.2: 377 f.). Ebenso verhält es sich im Vergleich zwischen den beiden Filmgruppen in Bezug auf das Maß der Prozesshaftigkeit in der Einsatzweise der Gestaltungsmuster (vgl. 10.2, 10.3, 12.1.2: 377 f.). Lediglich diejenigen filmischen Mittel, über die sich die physische Erscheinung der Figur manifestiert, weisen in den Geschichten über ein Scheitern einen häufigeren Einsatz und zudem ein größeres Maß an Prozesshaftigkeit auf (vgl. 11.2, 11.3, 11.4, 12.1.4). Ein weiteres Untersuchungsergebnis, das zu rezeptionsanalytischen Fragestellungen führt, liegt in der graduell unterschiedlichen Sichtbarkeit der filmischen Mittel, die für die Visualisierung von charakterlicher Wandlung eingesetzt werden. Filmische Inszenierungen über den Prozess eines Scheiterns sind im Vergleich zu den Darstellungen einer Reifung von einem häufigeren Einsatz direkt sichtbarer filmischer Mittel gekennzeichnet (vgl. 11.2 bis 11.4 und 12.1.2, 12.1.4). Die hier beschriebenen Analyseergebnisse müssen in ihrer Auswirkung auf den Rezeptionsprozess des Zuschauers betrachtet werden. Erforscht werden soll, wie das emotionale Erleben des Zuschauers während der Wahrnehmung der filmischen Informationen gesteuert wird. Von besonderem Erkenntnisinteresse ist dabei, wie die Emotionen des Zuschauers durch die filmischen Darstellungsmuster für Reifung 410
oder Scheitern beeinflusst werden bzw. welche Faktoren den Verstehensprozess dieser spezifischen erzählerischen Inhalte bedingen. Die Bewusstseinsleistungen bei der Wahrnehmung der filmischen Gestaltungsmuster bilden hier nur einen von mehreren wirksamen Faktoren. Die Kernfrage eines solchen weiterführenden Forschungsdesigns muss aus drei unterschiedlichen Perspektiven analytisch erarbeitet werden. Eine erste Forschungsphase beschäftigt sich mit dem kulturellen und kulturphilosophischen Verständnis von Identität und charakterlicher Wandlung. Erforscht wird dabei, welche Lesarten menschlicher Entwicklungsprozesse in den Teilsegmenten eines Publikums vorhanden sind und über welche kulturellen, sozialen und psychologischen Konventionen diese im Rahmen von gesellschaftlichen und interpersonellen Kommunikationsprozessen etabliert sind. Vor dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse werden die Visualisierungsmuster, welche für die Darstellung von Entwicklungsprozessen zu Reifung oder Scheitern in den Filmen vorhanden sind, einer erneuten Betrachtung unterzogen. Dabei wird herausgearbeitet, ob sich in diesen Darstellungsformen kulturphilosophisch, sozial und psychologisch codierte Lesarten von Reifung und Scheitern widerspiegeln. In einer zweiten Forschungsphase werden ausgewählte medienbasierte Kommunikationsformen über die Themen Reifung und Scheitern erforscht. Hier stehen die intertextuelle Kommunikation über Filminhalte und die darin kommunizierten möglichen Lesarten von Reifung und Scheitern im Zentrum der Analysen. Untersucht werden Websites zu ausgewählten Spielfilmen und Pressestimmen zu diesen Werken aus Printmedien, Webkommunikation, Funk und Fernsehen. Ebenso analysiert werden Mitteilungen über die erzählerischen Inhalte der Filme, die über Chatrooms oder über vom Publikum initiierten Weblogs erfolgen. Die gesellschaftlichen Diskurse innerhalb dieser medienbasierten Kommunikationsforen werden daraufhin untersucht, welche Auffassungen über Reifung und Scheitern darin als codierte Lesarten herausgearbeitet werden können. Es wird dabei erforscht, welche sprachlichen Sinneinheiten und welche Bilder, sprachlich oder auch visuell, in diesen Mitteilungen eingesetzt werden, um über Prozesse von Reifung und Scheitern zu kommunizieren. Die Analyseergebnisse in Bezug auf die intertextuelle Kommunikation dienen zudem als Prüfinstrumentarium für die Forschungsergebnisse und Hypothesen über das kulturell und philosophisch bedingte Verständnis von Identität und charakterlicher Wandlung. Das Ergebnisprofil in Bezug auf den intertextuellen Diskurs und die kulturell codierten Lesarten von Reifung und Scheitern bildet die Ausgangsbasis für die dritte Forschungsphase im Rahmen einer rezeptionsanalytischen Studie. Es gilt nun, herauszuarbeiten, ob durch den Nachvollzug eines Spielfilms solche konventionalisierten Auffassungen und Lesarten von Reifung und Scheitern während des Rezeptionsprozesses des Zuschauers eine Veränderung erfahren können. Erforscht wird, ob Vorstellungswelten 411
des Zuschauers in diesem Zusammenhang sowie diesbezügliche Interpretationsleistungen in neuer Form etabliert werden können. Um diese Fragen beantworten zu können, ist die Analyse der emotionalen Prozesse zentral, welche das Erleben des Zuschauers während des Nachvollzugs eines Films prägen und steuern. Als Analyseinstrumentarien für diese Untersuchung werden Modelle und Begriffe aus Ansätzen der filmspezifischen Rezeptionsforschung eingesetzt. Im Folgenden wird ein kurzer Einblick in rezeptionstheoretische Begriffsmodelle und Thesen von Smith (Smith 1995), Lorenzer (Lorenzer 1986) und Mikos (Mikos 1992, 1994, 1995, 2003) gegeben, die für eine Bearbeitung der weiterführenden wissenschaftlichen Fragestellungen herangezogen werden können. Smith entwickelt in seinem Modell zur Rezeption von Filmfiguren Thesen über das Zustandekommen emotionaler Zu- bzw. Abwendung des Zuschauers in Bezug auf die Protagonisten einer Geschichte (Smith 1995: 62, 85, 102 f.). Nach Smith wird das Mitgefühl des Zuschauers für eine Figur, d. h. die emotional-moralische Evaluation eines Protagonisten, durch bestimmte Mittel der Filmgestaltung beeinflusst und gesteuert. Ob eine Figur während der Rezeption als sympathisch oder unsympathisch erlebt wird, entscheidet sich während der Wahrnehmung filmischer Gestaltungsmuster, über welche sich die moral structure (ebd.: 65, 87 f., 188-190, 216, 222 f.) bzw. die moral orientation (ebd.: 84, 90, 189 f., 216 f., 222) innerhalb einer Erzählung manifestiert. Smith geht dabei von zwei idealtypischen Charakterqualitäten aus, die in einer Erzählung angelegt sein können (ebd.: 89 f., 197, 200, 203). In einer manichean structure können Figuren eindeutig den beiden Kategorien „gut“ und „böse“ zugeordnet werden. In Erzählungen mit graduated moral structure (Smith 1995: 207) weisen die Figurenkonstruktionen keine scharfe Trennung zwischen guten und bösen Persönlichkeitsaspekten auf. Vielmehr sind die Protagonisten hier von Widersprüchen in Bezug auf Charakter und Wesensart gekennzeichnet. Smith spricht in diesen Fällen von character as alloy (Smith 1995: 209). Mikos benennt über Smiths Definitionen hinaus weitere wesentliche Einflussfaktoren, die das emotionale und moralische Verständnis des Zuschauers während der Wahrnehmung einer Erzählung und der darin agierenden Protagonisten steuern. Diese Rezeptionsfaktoren sind jedoch nicht im filmischen Datenmaterial manifestiert und können daher auch nicht auf der Basis von werkästhetischen Analyseergebnissen in Art und Wirkung beschrieben werden. Nach Mikos sind solche Wirkungselemente im Prozess einer moralischen Evaluierung erstens bedingt durch die moralische Position des Zuschauers, zweitens durch den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs zu Zeiten der Rezeption und drittens durch den eigenen, lebensweltlichen Kontext des Zuschauers. Erst unter Einbeziehung dieser Faktoren in die Erforschung des emotionalen Erlebens des Zuschauers können relevante Aussagen über diese Phänomene im Rezeptionsprozess verschiedener Rezipienten oder Rezipientengruppen getroffen werden (Mikos 2003: 155, 164 ff., 168 ff.). 412
Im Rahmen eines neuen Forschungsdesigns zur Analyse der emotionalen Reaktionen während einer Filmwahrnehmung hat Lorenzers Ansatz des „szenischen Verstehens“ (Lorenzer 1986: 26 ff. und König 194: 58 ff.) zentrale Bedeutung. Lorenzers Thesen stammen aus den Bereichen der Wahrnehmungspsychologie und der Psychoanalyse. Die Integrierbarkeit seines Modells in die filmwissenschaftliche Rezeptionsforschung wurde bereits von verschiedenen Film- und Medientheoretikern diskutiert (Salje 1979, 1981, Mikos 1995, König 1992, 1993, 1994, 1995). Nach Lorenzer greift der Zuschauer für den Nachvollzug sozialer Interaktionen auf vorsprachliche Wahrnehmungs- und Verstehensleistungen zurück. Um das inszenierte Geschehen in einem Spielfilm verstehen zu können, sucht der Zuschauer demzufolge nach jeweils passenden Erklärungsmodellen für die wahrgenommenen szenischen Interaktionen. Dies geschieht in Form eines ununterbrochenen emotionalen und mentalen Evaluationsprozesses. Der Zuschauer vergleicht die Zusammenhänge der fiktiven Handlungsereignisse mit der Palette von Interaktionsmodellen, die er innerhalb bewusster bzw. unbewusster Lebensentwürfe und innerhalb seines individuellen biografischen Dramas als Erklärungsmuster bereithält. In Ergänzung zu Lorenzers Ansatz soll das Modell des katathymen Bilderlebens von Leuner als rezeptionsanalytisches Instrumentarium diskutiert und als filmwissenschaftliches Analyseinstrumentarium evaluiert werden (Leuner 1985). Weitere filmtheoretische Ansätze und Thesen, die für die Erforschung der beschriebenen Fragestellung herangezogen werden sollen, werden Modellen von Eder (Eder 2005, 2006, 2007, 2009), Grodal (Grodal 1997, 2001), Singer (Singer 2001), Ohler (Ohler 2001, 2002) und Wuss entnommen (Wuss 2002, 2003). Die filmwissenschaftliche Theoriebildung ist das dritte Forschungsfeld, in dem weiterführende Fragestellungen auf der Grundlage der vorliegenden Studie verortet sind. Im Rahmen der werkanalytischen Forschungsergebnisse dieser Studie fallen unter anderem zwei verschiedene Phänomene auf, für die eigenständige filmtheoretische Begriffssysteme und Modelle entwickelt werden müssen. Diese beiden Ergebnisaspekte, die in einem theoriebildenden Diskurs fortgeführt werden sollen, werden im Folgenden kurz beschrieben. Momente eines Filmablaufs, über die zentrale Informationen und Entwicklungen im Rahmen eines charakterlichen Wandlungsprozesses vermittelt werden, sind von besonderen Gestaltungsweisen gekennzeichnet. Dies konnte im Rahmen der Beispielanalysen herausgearbeitet werden. Zum einen zeigt sich in diesen zentralen erzählerischen Momenten ein paralleler Einsatz von auffällig vielen verschiedenen filmischen Mitteln (vgl. 12.1.1, 12.1.3). Zum anderen konnte innerhalb derselben Zeitabschnitte des filmischen Materials eine Häufung extremer oder auch paradoxer Verwendungsweisen dieser Gestaltungsmuster herausgearbeitet werden (ebd.). Diese Analyseergebnisse wurden in der vorliegenden Studie als Phänomene dramaturgi413
scher Verdichtung bezeichnet (vgl. 12.2.2: 397 bzw. 400 ff.). In den erzählerischen Momenten, welche zentrale Ereignisse eines intrapersonellen Wandlungsprozesses präsentieren, kommt es zum Aufbau von Konflikten und Spannung. Dies erfolgt über den beschriebenen Einsatz inszenatorischer Mittel in Form von dramaturgischer Verdichtung. Für die verschiedenen Gestaltungsebenen und -strukturen und die spezifischen Verwendungsweisen filmischer Mittel innerhalb solcher erzählerischer Momente müssen theoretische Begriffe und Erklärungsmodelle entwickelt werden. Von zentraler Bedeutung ist die Entwicklung eines Theoriemodells für Phänomene dramaturgischer Verdichtung, um die daraus resultierenden Faktoren der Emotionssteuerung während des Rezeptionsprozesses erforschen zu können. Das zweite Forschungsergebnis dieser Studie, das für eine filmwissenschaftliche Theoriebildung bearbeitet werden muss, bezieht sich auf die Prozesshaftigkeit filmischer Gestaltungsmuster. Im Rahmen der Studie wurden aus den diskutierten Theorien diejenigen Begriffe für filmgestalterische Mittel und Muster exzerpiert, in deren Definitionen das Phänomen der Prozesshaftigkeit dieser inszenatorischen Gestaltungselemente konstatiert wird. Ziel dabei war es, für die Durchführung der vorliegenden Studie methodische Instrumente zu einem Untersuchungsraster zusammenzufügen, das besonders geeignet ist, prozesshafte Gestaltungsmuster in einer filmischen Erzählung zu untersuchen. Auf der Basis der aus den behandelten Theorien dafür entnommenen Begriffe und Kategoriensysteme kann im Rahmen einer weiterführenden Forschungsarbeit ein eigenständiges Theoriemodell entwickelt werden. In einem solchen Ansatz gilt es unter anderem, in Anlehnung an Chatmans Thesen zu process und stasis statement (Chatman 1978 [1993]: 31 f., 43, 146) Erklärungsmodelle für die Prozesshaftigkeit filmischer Gestaltungsstrukturen im Allgemeinen und generell gültige Kategorien für die prozesshafte Verwendungsweise filmischer Mittel aufzustellen. Das vierte und letzte Arbeitsgebiet, innerhalb dessen die Ergebnisse der vorliegenden Studie weiterführend bearbeitet werden können, ist das der Filmpraxis im Bereich von Dramaturgie, Regie und Kamera. Es gilt dabei, Gestaltungsrichtlinien und Hinweise zu formulieren, welche als Konsequenzen für die künstlerische Arbeit von Autoren, Dramaturgen, Regisseuren und Kameraleuten aus den vorliegenden Forschungsergebnissen hervorgehen.
414
Teil V Anhang Filmliste
Geschichten der Reifung Kleine Fluchten Regie: Yves Yersin Drehbuch: Yves Yersin, Claude Muret Kamera: Robert Alazraki Ton: Luc Yersin Montage: Yves Yersin Darsteller: Michel Robin, Fred Personne, Mista Préchac, Dore De Rosa, Fabienne Barraud, Laurent Sandoz, Nicole Vautier Produktionsfirma: Film et Vidéo Collectif/Saga, 1979 Schweiz/Frankreich Edition des Films, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt: Deutsche Synchronfassung TV-Aufzeichnung der Sendung des Films durch die Mediothek der Universität der Künste Berlin (Archivexemplar auf VHS), 01.08.1995, 3sat/Deutschland, 130 Min. Der mit dem Wolf tanzt Regie: Kevin Kostner Drehbuch: Michael Blake Kamera: Dean Semler Ton: Gregory H. Watkins Montage: William Hoyl, Chip Masamitsu, Steve Potter (Stephen Potter), Neil Davis Darsteller: Kevin Costner, Mary McDonnell, Graham Greene, Rodney A. Grant Produktionsfirma: Tig/Majestic, 1990/USA Edition des Films, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt: DVD-Edition im Archiv der Mediothek an der Universität der Künste Berlin, 1998/Chatsworth, Calif, Image Entertainment, 181 Min. Das Piano Regie: Jane Campion Drehbuch: Jane Campion Kamera: Stuart Dryburgh Ton: Lee Smith Montage: Veronika Jenet Darsteller: Holly Hunter, Anna Paquin, Harvey Keitel, Sam Neill Produktionsfirma: Jan Chapman Productions and CIBY 2000, 1993/Australien/Neuseeland/Frankreich
415 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Edition des Films, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt: VHS Edition: 1995/Deutschland, E.A.T. Medien GmbH, 116 Min. Dead Man Regie: Jim Jarmusch Drehbuch: Jim Jarmusch Kamera: Robby Müller Ton: Robert Hein, Bruce Pross, Coll Anderson u. A. Montage: Jay Rabinowitz Darsteller: Johnny Depp, Gary Farmer, Mili Avital, Lance Henriksen, Michael Wincott, Eugene Byrd, Robert Mitchum Produktionsfirma: Pandora Film, JVC, Newmarket Capital Group L.P., 12 Gauge, 1995/USA/ Germany/Japan Edition des Films, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt: VHS Edition: 1997/Deutschland, Arthaus Video, 120 Min.
Geschichten des Scheiterns Rocco und seine Brüder Regie: Luchino Visconti Drehbuch: Luchino Visconti, Vasco Pratolini Kamera: Guiseppe Rotunno Ton: Giovanni Rossi Montage: Mario Serandrei Darsteller: Alain Delon, Renato Salvatori, Katina Paxinou, Annie Girardot, Spiros Focás, Max Cartier, Rocco Vidolazzi, Roger Hanin Produktionsfirma: Titanus/Les Films Marceau/Cocinor, 1960/Italien Edition des Films, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt: rekonstruierte, deutsche Fassung des Films, hergestellt und gesendet durch das ZDF In dieser Fassung sind vormals gekürzte Teile des Films im italienischen Original ergänzt. TV-Aufzeichnung der Sendung dieses Films durch die Mediothek der Universität der Künste Berlin (Archivexemplar auf VHS), 28.03.1993, ZDF/Deutschland, 171 Min. Taxi Driver Regie: Martin Scorsese Drehbuch: Paul Schrader Kamera: Michael Chapman Ton: Richard Alexander, Les Lazarowitz, Verne Poore Montage: Marcia Lucas Darsteller: Robert De Niro, Cybill Shepherd, Jodie Foster, Peter Boyle, Harvey Keitel, Leonard Harris Produktionsfirma: Bill/Phillips, 1976/USA Edition des Films, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt: DVD-Edition: 1999/Culver City, Calif. USA, Columbia TriStar Home Video, 114 Min.
416
Breaking Glass Regie: Brian Gibson Drehbuch: Brian Gibson Kamera: Stephen Goldblatt Ton: Ian Fuller, Bruce White u. A. Montage: Michael Bradsell Darsteller: Hazel O’Connor, Phil Daniels, Jon Finch, Jonathan Pryce, Peter-Hugo Daly, Mark Wingett, Gary Tibbs Produktionsfirma: Allied Stars Ltd., Spring N.V, Film and General Productions, 1980/UK Editionen des Films, die der vorliegenden Studie zugrunde liegen: 1. TV-Aufzeichnung der Sendung dieses Films durch die Mediothek der Universität der Künste Berlin (Archivexemplar auf VHS) ohne Jahresangabe, ohne Angabe des ausstrahlenden Fernsehsenders, 100 Min. 2. VHS Edition: 2001/USA, Paramount Pictures (Paramount Homevideo), 94 Min. Betty Blue Regie: Jean-Jacques Beineix Drehbuch: Jean-Jacques Beineix Kamera: Jean-François Robin Ton: Pierre Befve, Dominique Hennequin Montage: Monique Prim Darsteller: Béatrice Dalle, Jean-Hugues Anglade, Gérard Darmon, Consuelo de Haviland Produktionsfirma: Constellation/Cargo Films, 1986/Frankreich Edition des Films, die der vorliegenden Studie zugrunde liegt: TV-Aufzeichnung der Sendung dieses Films durch die Mediothek der Universität der Künste Berlin (Archivexemplar auf VHS): 06.07.1996, ZDF/Deutschland, 116 Min.
417
Literatur Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.) (1979): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart. Altenburg, Christiane; Fließ, Ingo (2000): Jenseits von Hollywood – Drehbuchautoren über ihre Kunst und ihr Handwerk. Frankfurt/Main. Allport, Gordon W.; Odbert, Henry S. (1936): “Trait Names: A Psycholexical Study”. In: Psychological Monographs, Vol. 49. Princeton. ders. (1931): “What is a Trait of Personality?”. In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 25. Washington. Aristoteles (1961): Poetik. Übersetzt und eingeleitet von Olof Gigon. Stuttgart. Astre, Georges-Albert (1973); Univers du Western: Les sources, les structures, les données permanentes, les significations, les fonctions, la mythologie, les grandes époques. Paris. Barthes, Roland (1976): S/Z. Frankfurt/Main. Beller, Hans (Hrsg.) (1993): Handbuch der Filmmontage. München. Berg, Jan (Hrsg.) (1994): Natur und ihre filmische Auflösung. Eine Tagung des Kommunalen Kinos. Stuttgart/Marburg. Berghahn, Klaus; Hermand, Jost (Hrsg.) (2005): Unmasking Hitler: Cultural Representations of Hitler from the Weimar Republic to the Present. Oxford Blothner, Dirk (1999): Erlebniswelt Kino. Über die unbewusste Wirkung des Films. Bergisch Gladbach. Böhringer, Hannes (1998): Auf dem Rücken Amerikas: Eine Mythologie der neuen Welt im Western und Gangsterfilm. Berlin. Bordwell, David (1977): On the History of Film Style. Cambridge/Massachusetts/London. ders. (1985): Narration in the Fiction Film. Chicago/Illinois, USA. ders.; Thompson, Kristin (1986): Filmart. An Introduction. New York. ders. (1990): Narration in the Fiction Film. London, Wisconsin USA. (3. Auflage). ders. (1992): “Kognition und Verstehen. Sehen und Vergessen in ‘Mildred Pierce’”. In: montage/av, 1/1. Marburg, S. 5-24. ders. (2000): Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Frankfurt/Main. Booth, Wayne (1983): The Rhetoric of Fiction. Chicago USA. Branigan, Edward (1984): Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film. Berlin/New York/Amsterdam. ders. (1992): Narrative Comprehension and Film. London/New York. Brecht, Berthold (1968): Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt. Bronner, Vivien (2004): Schreiben fürs Fernsehen. Drehbuch-Dramaturgie für TV-Film und TV-Serie. Berlin. del Buono, Oreste; Eco, Umberto (Hrsg.) (1966): Der Fall James Bond 007 – ein Phänomen unserer Zeit. Dargestellt von Lietta Tornabuoni, Oreste Buono, Umberto Eco, Furio Colombo, Fausto Antonini, G. B. Zorzoli, Andrea Barbato, Laura Lilli. München. Bruzzi, Stella (1997): Undressing Cinema. Clothing and Identity in the Movies. London. Byers, Thomas (1996): “History Re-Membered: Forrest Gump, Postfeminst Masculinity, and the Burial of Counterculture.” In: Modern Fiction Studies, 42:2. Baltimore, S. 419-444. Campbell, Joseph (1978 [1949]): Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt. ders. (1989): Die Kraft der Mythen. Bilder der Seele im Leben des Menschen. Zürich, München. ders. (1992): Die Mitte ist überall. Die Sprache von Mythos, Religion und Kunst. München. Charney, Maurice; Reppen, Joseph (Hrsg.) (1987): Psychoanalytic Approaches to Literature and Film. London, Toronto. Chatman, Seymour (1989): Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca/London. ders. (1990): Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. London. ders. (1993 [1978]): Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca/London. Chumo, Peter (1995): “You’ve got to put the Past behind you before you can move on: Forrest Gump and National Reconciliation.” In: Journal of Popular Film and Television, 23. Washington, S. 2-7. Crane, Ronald (1953): The languages of criticism and the Structure of Poetry. Toronto.
418 A. Gschwendtner, Bilder der Wandlung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92734-3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Dadek, Walter (1968): Das Filmmedium. Zur Begründung einer Allgemeinen Filmtheorie. Basel/München. Dettmering, Peter (1984): Literatur, Psychoanalyse, Film. Aufsätze 1978-83. Stuttgart. Dijk van, Teun (1980): Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. München. Doane, Mary Ann (1994): “Film und Maskerade: Zur Theorie des weiblichen Zuschauers.“ In: Weissberg, Liliane: Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt/Main. dies. (1991): Femmes Fatales: Feminism, Film Theory, Psychoanalysis. New York. Dyer, Richard u. a. (Hrsg.) (1981): “Coronation Street.” In: BFI TV Monograph 13, London. Eberwein, Robert (1984): Film and the Dream Screen. Princeton USA. Eder, Jens (2005): “Die Wege der Gefühle. Ein integratives Modell der Anteilnahme an Filmfiguren.“ In: Brütsch, Matthias; Hediger, Vinzenz; von Keitz, Ursula; Tröhler, Margrit (Hrsg.): Kinogefühle. Emotion und Film. Zürcher Filmstudien, Bd. 7. Marburg, S. 225-242. ders. (2006): “Ways of Being Close to Characters.” In: Film Studies. An International Review 8. Manchaster, S. 68-80. ders. (2007): “Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie.“ In: Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte, Band 7. Hamburg. ders. (2008): Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg. Eliade, Mircea (1988): Ewige Bilder und Sinnbilder. Über magisch-religiöse Symbolik. Frankfurt/Main. Enckell, Mikael (1984): “A study in scarlet – Film and psychoanalysis II”. In: Scandinavian Psychoanalytic Review 7, S. 71-89. ders. (1985): “Citizen Kane and psychoanalysis – Film and psychoanalysis III”. In: Scandinavian Psychoanalytic Review 8, S. 17-34. Eschenbach, Ursula; Daniel, Rosemarie (1993): Archetypische Signaturen im unbewussten Malprozess. Fellbach-Offing. Fabregue, de La Hélène (1981): “La femme dans le films d’Ingmar Bergmann. Essai d’etude psychoanalytique.“ In: Bulletin de Psychologie Nr. 352, Band 34. Paris, S. 799-811. Feil, Georg (2006): Fortsetzung folgt. Schreiben für die Serie. Konstanz. Ferrell, William (2000): Literature and Film as Modern Mythology. Westport Conneticut/London. Fiedler, Manuela (1995): Heimat im Deutschen Film: Ein Mythos zwischen Regression und Utopie. Coppengrave. Field, Syd (1984): Das Handbuch zum Drehbuch. New York (1991 in deutscher Übersetzung, Frankfurt/Main). Filmschau und Symposion (Hrsg.) (1998): Frauen und Wahnsinn im Film. Wien. Fleishman, Avrom (1992): Narrated Films. Storytelling Situations in Cinema History. London. Franz, von Marie-Louise (1973): “Die aktive Imagination in der Psychologie C. G. Jungs.“ In: Bitter, Wilhelm (Hrsg.): Meditation in der Religion und Psychotherapie. München. Frick, Johannes (1993): Reisen und Flußreisen im Film. Berlin. Friedmann, Käthe (1965): Die Rolle des Erzählers in der Epik. Darmstadt. Frow, John (1986): “Spectacle Binding: On Character.“ In: Poetics Today, 7:2, S. 227-250. Garbowski, Christopher (1996): Krzystof Kieslowski’s ‘Decalogue’ Series: The Problem of the Protagonists and Their Self-Transcendance. New York. Gaube, Uwe (1978): Film und Traum. Zum präsentativen Symbolismus. München. Gennep, Arnold van (1999): Les rites de passage. Frankfurt/Main, New York (Erstausgabe 1908). ders. (1910): La formation des Légendes. Paris. Geraghty, Christine (1981): “The Continous Serial – A Definition.” In: Dyer, Richard (Hrsg.): Coronation Street. BFI TV Monograph 13. London.S. 9-26. Goldman, William (2000): Wer hat hier gelogen? Oder: Neues aus dem Hollywoodgeschäft. Bergisch Gladbach. Gordon, Robert M. (1987): The Structure of Emotions: Investigations in Cognitive Psychology. Cambridge. Grabinsky, Anne (2004): Thelma & Louise: Das Überschreiten der Geschlechtergrenzen. Rostock. Gregor, Ulrich; Patalas, Enno (1973): Geschichte des Films. Bd. 1-4. München/Gütersloh/ Wien. Greiner, Wilhelm (1998): Konstruktion von Körperlichkeit im neueren Hollywoodfilm. Alfeld. Grodal, Torben (1997): Moving Pictures. A New Theory of Film Genres, Feelings and Cognition. Oxford ders. (2001): “Film, Character Simulation, and Emotion”. In: Frieß, Jörg; Hartmann, Britta; Müller, Eggo (Hrsg.): Nicht allein das Laufbild auf der Leinwand … Strukturen des Films als Erlebnispotentiale. Berlin. S. 115-127
419
Hardison Jr., O. B.; Golden, Leon (1981): Aristotle’s Poetics. Tallahassee Florida. Hartmann, Britta; Wulff, Hans J. (1995): “Vom Spezifischen des Films. Neoformalismus – Kognitivismus – Historische Poetik“. In: montage/av, 4/1. Marburg, S. 5-22. Hembus, Joe (1979): Western-Geschichte: 1570-1894. Chronologie, Mythologie, Filmographie. München. Hickethier, Knuth (1993): Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart/Weimar. ders. (1998): Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart. Hiltunen, Ari (2001): Aristoteles in Hollywood. Das neue Standardwerk der Dramaturgie. Bergisch Gladbach. Holzer, Daniela (1999): Die deutsche Sitcom. Lübeck. Howard; David; Mabley, Edward (1996): Drehbuchhandwerk. Techniken und Grundlagen mit Analysen erfolgreicher Filme. Köln. Iser, Wolfgang; Hess, Wolfgang (Hrsg.) (1970): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz. ders. (1972): Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München. Jacobi, Jolande (1981): Vom Bilderreich der Seele. Wege und Umwege zu sich selbst. Olten. Jordan, Marion (1981): “Character Types and the Individual.” In: Dyer, Richard (Hrsg.): Coronation Street. BFI TV Monograph No. 13. London, S. 67-80. Jousse, Thierry; Paquot, Thierry (Hrsg.) (2005): La ville au cinema. Paris Jung, C.G. (1997): “Archetypen.” In: Jung, Lorenz: C. G. Jung. Taschenbuchausgabe in elf Bänden, 7. Auflage. München. Jung, Uli (1997): Dracula: Filmanalytische Studien zur Funktionalisierung eines Motivs der victorianischen Populärliteratur. Trier. Kaczmarek, Ludger (1996): “Verstehen Sie Film? Zwei neuere deutschsprachige Arbeiten zur kognitiven Filmpsychologie.“ In: montage/av 5/2. Marburg, S. 89-107 Kaplan, E. Ann (1990): “Motherhood and Representation: From Postwar Freudian Figurations to Postmodernism.” In: Psychoanalysis & Cinema. Beyond the Impasse? History and Psychoanalysis in Reading Selected Films. New York und London, S. 128-142. dies. (1992): Motherhood and Representation of the Mother in Popular Culture and Melodram. London. Karpf, Ernst (Hrsg.) (1995): ‚Getürkte Bilder’: zur Inszenierung von Fremden im Film. Marburg. Kaschube, Wolfgang (Hrsg.) (1989): Der deutsche Heimatfilm: Bildwelten und Weltbilder. Bilder, Texte, Analysen zu 70 Jahren deutscher Filmgeschichte. Tübingen. Kast, Verena (1988): Imagination als Raum der Freiheit. Dialog zwischen Ich und Unbewußtem. Olten. dies. (1990): Die Dynamik der Symbole. Aktive Imagination. Olten. Katz, Steven (1991): Film Directing – Shot by Shot. Visualizing from conzept to screen. Los Angeles USA (2001 in deutscher Übersetzung erschienen: Die richtige Einstellung). Keller, Otto; Hafner, Heinz (1990): Arbeitsbuch zur Textanalyse: Semiotische Strukturen, Modelle, Interpretationen München. Kirsner, Inge (1996): Erlösung im Film: Praktisch-theoretische Analysen und Interpretationen. Stuttgart. König, Hans-Dieter (1992): “Der amerikanische Traum. Eine tiefenhermeneutische Analyse gesellschaftlich produzierter Unbewußtheit.“ In: Hartmann, Hans; Haubl, Rolf (Hrsg.): Bilderflut und Sprachmagie. Fallstudien zur Kultur der Werbung. Opladen, S. 50-69. ders. (1993): “Die Methode der tiefenhermeneutischen Kultursoziologie.“ In: Jung, Thomas; Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): ‚Wirklichkeit’ im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt/Main, S. 190-222. ders. (1994): “Sexualität zwischen Lust und Tod. Tiefenhermeneutische Rekonstruktion des in dem Film ‚Basic Instinct’ inszenierten Geschlechterkampfs.“ In: Müller-Doohm, Stefan; Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.); Kulturinszenierungen – Kultureffekte. Vom Unbehagen zum Behagen in der Kultur. Frankfurt/Main. ders. (1994): “Mutter und Sohn und ein Mann aus Stahl. Tiefenhermeneutische Rekonstruktion von Terminator II.“ In: medien praktisch. Frankfurt/Main. Teil 1.: 1/94, S. 12-18; Teil 2.: 2/94, S. 45-49; Teil 3.: 3/ 94, S. 52-60.
420
ders. (1995): “Filmerleben und ästhetische Illusion. Zugleich eine Kritik gegen meine tiefenhermeneutische Medienanalyse von ‚Terminator 2’ erhobene Einwände.“ In: medien praktisch, 2/95. Frankfurt/Main, S.45-51. Kracauer, Siegfried (1960): Theorie des Films. Erstausgabe: New York (in deutscher Übersetzung: Frankfurt/Main 1964). ders. (1977): Das Ornament der Masse. Frankfurt/Main. ders. (1984 [1947]): Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Frankfurt/Main. Krah, Hans (1998): „Schwangerschaft und Geburt im Genre des Endzeitfilms - einige Thesen“. In: Medienwissenschaft / Kiel: Berichte und Papiere 2. S. 14-17. Kurowski, Ulrich (1972): Lexikon Film. München. Krusche, Dieter (1991): Reclams Filmführer. Stuttgart. Lajos, Egri (1960): The Art of Dramatic Writing. New York. Langenhorst, Georg (1998): Jesus ging nach Hollywood: Die Wiederentdeckung Jesu in Literatur und Film der Gegenwart. Düsseldorf. Leppin, Ralf (1997): Die postnukleare Endzeitvision im Film der achtziger Jahre. Köln. Leuner, Hans-Carl (1985): Lehrbuch des katathymen Bilderlebens: Grundstufe, Mittelstufe, Oberstufe. Bern. Lévi-Strauss, Claude (1967): Strukturale Anthropologie. Frankfurt/Main. Liddell, Robert (1947): Atreatise on the Novel, London. Lippmann, Max (1967): Film. Ein sozialpsychologisches Phänomen: Die Darstellung des jüdischen Menschen im Film. Wangen. Lorenzer, Alfred (1986): “Tiefenhermeneutische Kulturanalyse.“ In: Lorenzer, Alfred (Hrsg.): Kultur-Analysen – Psychoanalytische Studien zur Kultur. Frankfurt/Main, S. 11-98. Lubbock, Percy (1957): The Craft of fiction. New York. MacCarty, John (1993): Movie Psychos and Madmen: Film Psychopaths from Jekyll and Hyde to Hannibal Lecter. New York. MacKeane, Christopher (2002): Schritt für Schritt zum erfolgreichen Drehbuch. Berlin. MacKee, Robert (2000): Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin. MacKinnon, Keneth (1986): Greek Tragedy into Film. Cranbury. Manthey, Dirk (o. J. ca. 1980): “Helden und Mythen: Die Welt des Fantasyfilms.“ In: Cinema – Sonderband 5. Hamburg. Martin, Joel W. (Hrsg.) (1995): Screening the Sacred: Religion, Myth and Ideologie in Popular American Film. Boulder USA. Metz, Christian (1974): Film Language: A Semiotics of the Cinema. New York. Meyer, Petra Maria (2002): “Matrix: Körper- und Medieninszenierung im postmodernen Film.“ In: Felix, Jürgen (Hrsg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader. Marburg, S. 297-320. Meyer, Corinna (1996): Der Prozeß des Filmverstehens. Ein Vergleich der Theorien von David Bordwell und Peter Wuss. Alfeld. Merzeau, Louise; Weber, Thomas (2001): Les images d‘Hitler - confusion entre histoire et légitimation esthétique. Mémoire & Médias. Paris. Michelsen, Jens; Herrmann, Jörg (Hrsg.) (1999): Das Leben ist eine Baustelle. Spielfilme zu Lebensformen und Identität. Hamburg. Mikos, Lothar (1992): “Das Leben ist ein Roman.“ In: medien praktisch, 1/1992. Frankfurt/Main, S. V-X. ders. (1994): Es wird Dein Leben! Familienserien im Fernsehen und im Alltag der Zuschauer. Münster. ders. (1995): “Die Faszination des Cyborgs im Actionkino. Kritische Anmerkungen zur tiefenhermeneutischen Rekonstruktion von ‚Terminator 2’“. In: medien praktisch, 1/95, S. 47-53. ders. (1995): „Szenisches Verstehen als Rezeptionsaktivität“. In: Hartmann, Britta; Müller Eggo (Hrsg.) 7. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium/Potsdam 1994. Berlin ders. (2003): Film- und Fernsehanalyse. Konstanz. Mitchel, Lee Clark (1996): Western: Making the Man in Fiction and Film. Chicago.
421
Monaco, James (2000): Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der neuen Medien. Reinbek. Müller-Doohm, Stefan (1990): “Medienforschung als Symbolanalyse.“ In: Charlton, Michael; Bachmair, Ben (Hrsg.): Medienkommunikation im Alltag. München. Mulvey, Laura (1994): “Visuelle Lust und narratives Kino.“ In: Weissberg, Liliane: Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt/Main. Natali, Mauriza (1996): L’ image-paysage: Iconologie et cinema. Vincennes Saint-Denis. Nessel, Sabine (2003): “Kino und postmoderne Identität. Neuere Identitätskonzepte am Beispiel der Filme ‚En avoir (ou pas)’, ‚A vendre’ und ‚Love Me’ von Laetitia Masson.“ In: Rüffert, Ch.; Schenk, I. u. a. (Hg.): wo/man. Kino und Identität. Berlin, S.141-148. Neumann, Hans-Joachim (1986): Das Böse im Kino. Frankfurt am Main/Berlin. Nieding, Gerhild (1997): Ereignisstrukturen im Film und die Entwicklung räumlichen Denkens. Berlin. Plantinga, Carl; Smith, Greg (Hrsg.) (1999): Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion. Baltimore/London. Ohler, Peter; Nieding, Gerhild (2001): „Antizipation und Spieltätigkeit bei der Rezeption narrativer Filme“. In : Frieß Jörg; Hartmann, Britta; Müller, Eggo (Hrsg.): Nicht allein das Laufbild auf der Leinwand... Strukturen des Films als Erlebnispotentiale. Berlin. S. 13-30. Berlin Ohler, Peter; Nieding, Gerhild (2002): „Kognitive Filmpsychologie zwischen 1990 und 2000“. In: Sellmer, Jan; Wulff, Hans-Jürgen (Hrsg.): Film und Psychologie - nach der kognitiven Phase?. Marburg. S. 9-40 Pabst, Eckhard (1998): „They Came From Within“ - Schwangerschaft im Horrorfilm”. In: Medienwissenschaft / Kiel: Berichte und Papiere 2, S. 11-13. ders. (Hrsg.) (2005): Mythen, Mütter, Maschinen. Das Universum des James Cameron. Kiel Paul, Gerhard (2004): Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn Propp, Vladimir (1986 [1928]): Morphologie des Märchens. Frankfurt/Main. Rabenalt, Peter (1999): Filmdramaturgie. Berlin. Reisz, Karel; Millar, Gavin (1981): The Technique of Film Editing. London/Boston. Reynolds, Richard (1992): Super Heroes: A Modern Mythology. London. Riedel, Ingrid (1988): Bilder in der Therapie, Kunst und Religion. Stuttgart. Röll, Franz Josef (1998): Mythen und Symbole in populären Medien. Frankfurt/Main. Rosenstone, Robert (1995): Vision of the Past. The Challenge of Film to Our Idea of History. Washington. Rost, Andreas; Sandbothe, Mike (Hrsg.) (1998): Die Filmgespenster der Postmoderne. Frankfurt/Main. Rother, Rainer (Hrsg.) (1998): Mythen der Nationen. Völker im Film. München. Sadoul, Georges (1957): Geschichte der Filmkunst. Wien. Salje, Gunther (1979): Psychoanalyse und Film. Bremen. ders. (1981): “Psychoanalytische Aspekte der Film- und Fernsehanalyse.“ In: Leithäuser Thomas u. a.: Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins. Frankfurt/Main, S. 261-186. Schaubühne am Lehniner Platz (Redaktion) 1997: “Programminformationsheft zur Premiere von ‚Die Sprache der Vögel’ von Fariduddin ‘Attar. Berlin. Texte des persischen Dichters“, darin zitiert nach: Ritter, Hellmut (1955): Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Fariduddin ‘Attar. Leiden. Schmidt, Peggy (1999): “Rühren statt Schütteln. Identitätskonzepte und Rollenverhalten bei James Bond und der Clancy-Trilogie“. In: Medienwissenschaft/Kiel: Berichte und Papiere 6. 11. Kiel, S. 139-148. Schmökel, Hartmut (1992): Das Gilgamesch-Epos. Eingeführt, rhythmisch übertragen und mit Anmerkungen versehen von Hartmut Schmökel. 8. Auflage. Stuttgart/ Berlin/Köln. Schütte, Oliver (1999): Die Kunst des Drehbuchlesens. Bergisch Gladbach. Schütz, Jutta (1990): “Außenwelt – Innenwelt“. Thematische und formale Konstanten im Werk von Luis Buñuel. In: Saarbrücker Arbeiten zur Romanistik, Band 7, Frankfurt/Main/Bern/New York/Paris. Schumm, Gerhard (1989) Der Film verliert sein Handwerk. Montagetechnik und Filmsprache auf dem Weg zur elektronischen Postproduction. Münster.
422
Seger, Linda (1994 [2005]): Making a good Script great. Hollywood. (deutsch: 2005 Berlin) dies. (2001): Von der Figur zum Charakter – Überzeugende Filmcharaktere erschaffen. Berlin. Seeßlen, Georg (1979): Western-Kino: Geschichte und Mythologie des Western-Films. Reinbek bei Hamburg. ders. (1980): Kino der Gefühle: Geschichte und Mythologie des Film-Melodrams. Reinbek bei Hamburg. ders. (1980): Kino des Phantastischen: Geschichte und Mythologie des Horror-Films. Reinbek bei Hamburg. ders.; Roloff, Bernhard (1980): Kino des Utopischen. Geschichte und Mythologie des Science-fiction-Films. Reinbek bei Hamburg. ders. (1980): Der Asphalt-Dschungel: Geschichte und Mythologie des Gangster-Films. Reinbek bei Hamburg. ders. (Hrsg.) (1980): Kino der Angst. Geschichte und Mythologie des Film-Thrillers. Marburg. ders. (1982): Klassiker der Filmkomik: Geschichte und Mythologie des komischen Films. Reinbek bei Hamburg ders.; Berger, Rüdiger (1989): Mord im Kino. Geschichte und Mythologie des Dedektiv-Films. Marburg. ders. (1994): Der pornographische Film. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin. ders. (1994): Tanz den Adolf Hitler. Faschismus in der populären Kultur, Berlin 1994. ders.; Schifferle, Hans; Blumberg, Hans-Christoph (1999): Um sie weht der Hauch des Todes. Der Italowestern – die Geschichte eines Genres. Essays, Interviews und Register. Stuttgart. ders.; Metz, Markus (2002): Krieg der Bilder – Bilder des Krieges. Berlin. ders.; Jung, Fernand (2003): Science Fiction. Grundlagen des populären Films, 2 Bde. Marburg. ders.; Jung, Fernand (2006): Horror. Grundlagen des populären Films. Marburg. ders. (2007): Crime im Film - Thriller, Polizeifilm, Dedektive. Grundlagen des populären Films, 3 Bde. Marburg. Sharma, Shailja (1995): „Citizens of the Empire: Revisionist History and the Social Imaginary in Gandhi.“ In: The Velvet Light Trap No.35, Austin/USA. S.61-68 Silvermann, Kaja (1990): “Historical Trauma and Male Subjectivity.“ In: Psychoanalysis & Cinema. Beyond the Impasse? History and Psychoanalysis in Reading Selected Films. New York/London, S. 110-128. Singer, Ben (2001): Melodrama and modernity. Early sensational cinema and its contexts. New York Smith, Murray (1995): Engaging Characters. Fiction, Emotion and the Cinema. Oxford/New York. Sobchack, Vivian (Hrsg.) (1995): The persistence of history: cinema, television and the modern event. New York. Stanzel, Franz, K. (1995 [1979]): Theorie des Erzählens. 6. unveränderte Auflage. Göttingen. Strelka, Joseph (1989): Einführung in die literarische Textanalyse. Tübingen. Sturken, Marita (2000): Thelma & Louise. London. Sturm, Herta (1991): Fernsehdiktate. Die Veränderung von Gedanken und Gefühlen – Ergebnisse und Folgerungen für eine rezipientenorientierte Mediendramaturgie. Gütersloh. Suckfüll, Monika (1997): Film erleben. Narrative Strukturen und psychologische Prozesse – “Das Piano” von Jane Campion. Berlin. Sutton-Smith, Brian (1986): “Children’s Fiction Making”, in Theodore S. Sabrin (Hrsg.) Narrative Psychology. S. 67-90. New York Tieman, Manfred (2001): Jesus comes from Hollywood. Göttingen. Thompson, Kristin (1986): “The Concept of Cinematic Excess”. In: Rosen, Philip (Hrsg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader. New York, S. 130-142. dies. (1988): Breaking the glass armor. Neoformalist Film Analysis. Princeton/New Jersey. dies. (1995): “Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden.“ In: montage/av, 4/1. Marburg, S. 23-62. dies. (1999): Storytelling in the New Hollywood: Understanding Classical Narrative Technique. Cambridge/London. Todorov, Tzvetan (1971): “The Two Principles of Narrative.” In: Diacritics, Vol 1. Baltimore, S. 37-44. Toeplitz, Jerzy (1992): Geschichte des Films, Bd. 1-5. Berlin. Tormin, Ulrich (1996): Alptraum Großstadt: Urbane Dystopien in ausgewählten Science-Fiction-Filmen. Alfeld/Leine. Vale, Eugene (1972): Technique of Screenplay Writing. New York. Valentin, Joachim (Hrsg.); Müller, Matthias (2002): “Weltreligionen im Film. Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, Buddhismus“. In: Film und Theologie Band 3. Marburg.
423
Vienne, Maité (1995): La figure de l’ange au cinema. Paris. Vogler, Christopher (1998): Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt/Main. Vollmer, Ulrike (2003): “Love Me. Weibliche Identität zwischen Traum und Wirklichkeit.“ In: Martig, Charles; Karrer, Leo (Hrsg.): Traumwelten. Der filmische Blick nach innen. Film und Theologie Band 4. Marburg, S. 181-199. Voytilla, Stewart (1999): Myth and the Movies: discovering the mythic structure of 50 unforgettable films. Studio City CA. Wada; Maho (2005): Stille Gewalt. Inszenierungen des Todes in den Filmen von Takeshi Kitano. Berlin Wahrmann, Sabine (1992): Genre Kriegsfilm. US-amerikanische Filme über den Vietnamkrieg. Berlin. Wilson, George M. (1986): Narration in Light: Studies in Cinematic Point of View. Baltimore. Winter, Rainer (1996): “Zur König-Mikos Debatte. Kritische Bemerkungen zur Relevanz der Tiefenhermeneutik für die Medienforschung anläßlich der Interpretation von ‚Terminator 2’“. In: medien praktisch 1/96. Frankfurt/Main, S. 54-56. Wolff, Jürgen (1997): Sit Com – Ein Handbuch für Autoren. Köln. Wulff, Hans J. (1995): Psychiatrie im Film: Konzeptionen der psychischen Krankheit im Film. Münster. Wuss, Peter (1986): Die Tiefenstruktur des Filmkunstwerks. Zur Analyse von Spielfilmen mit offener Komposition. Berlin. ders. (1992/1): “Filmwahrnehmung – Kognitionspsychologische Modellvorstellungen bei der Filmanalyse.“ In: medien praktisch 3/92, Artikelserie: Workshop Filmarbeit/IV „Kino und Postmoderne“. Frankfurt/Main, S. VI-X. ders. (1992/2): “Woran erkennt man die Postmoderne im Kino? Ein stilistischer Vergleich.“ In: medien praktisch 3/92. Frankfurt/Main, S. X-XIII. ders. (1993): Filmanalyse und Psychologie. Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess. Berlin. ders. (2002): „Analyzing the Reality Effect in Dogma Films“. In: The Journal of Moving Image Studies. Heft 1+2. Kansas City ders. (2003): Dreamlike Images in Fellini’s 8 ½ and Tarkovsky’s The Mirror. A Cognitive Approach. In: The Journal of Moving Image Studies. Heft 1+2. Kansas City Yalom, Irvin D. (2000): “Trauer-Therapie: Sieben Lektionen zur Bewältigung von Leid“. In: Die Reise mit Paula (Originaltitel: Momma and the Meaning of Life. Tales of Psychotherapie. New York 1999). München, S. 112-202. Zag, Roland (2005): Der Publikumsvertrag. Emotionales Drehbuchschreiben mit “the human factor”. München. Zeul, Mechthild (1988): “Psychoanalytische Kriterien der Filmbeurteilung“. In: Arnoldshainer Filmgespräche, Bd. 5. Frankfurt/Main, S. 62-64. dies. (1988): “Der unmögliche Dialog. Versuch einer psychoanalytischen Deutung von Kramer gegen Kramer.“ In: Arnoldshainer Filmgespräche Bd. 5. Frankfurt/Main, S. 66-75. dies. (1989): “John Hustons ‚Freud’-Film (1961)“. In: Psyche 10, 43. Jahrgang. Stuttgart, S. 952-966. dies. (1994): “Bilder des Unbewußten. Zur Geschichte der psychoanalytischen Filmtheorie.“ In: Psyche 11, 44. Jahrgang. Stuttgart, S. 975-1003. dies. (1997): Carmen und Co: Weiblichkeit und Sexualität im Film. Stuttgart.
424