Europa in Grande Sertão: Veredas Grande Sertão: Veredas in Europa
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Internationale Forschungen zur Allgemeinen und ...
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Europa in Grande Sertão: Veredas Grande Sertão: Veredas in Europa
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Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft
In Verbindung mit Norbert Bachleitner (Universität Wien), Dietrich Briesemeister (Friedrich Schiller-Universität Jena), Francis Claudon (Université Paris XII), Joachim Knape (Universität Tübingen), Klaus Ley (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), John A. McCarthy (Vanderbilt University), Alfred Noe (Universität Wien), Manfred Pfister (Freie Universität Berlin), Sven H. Rossel (Universität Wien) herausgegeben von
Alberto Martino (Universität Wien)
Redaktion: Ernst Grabovszki Anschrift der Redaktion: Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft, Berggasse 11/5, A-1090 Wien
Europa in Grande Sertão: Veredas Grande Sertão: Veredas in Europa
Stefan Kutzenberger
Amsterdam - New York, NY 2005
Le papier sur lequel le présent ouvrage est imprimé remplit les prescriptions de “ISO 9706:1994, Information et documentation - Papier pour documents Prescriptions pour la permanence”. The paper on which this book is printed meets the requirements of “ ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents - Requirements for permanence”. ISBN: 90-420-1605-1 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2005 Printed in The Netherlands
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Vorwort
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I. Forschungsstand 1. Die ersten Jahrzehnte 2. Das letzte Jahrzehnt
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II. João Guimarães Rosas intellektuelle Biographie 1. João Guimarães Rosa als Autor 2. João Guimarães Rosa und die deutsche Kultur 2.1. Guimarães Rosas Zeit als Vizekonsul in Hamburg 2.2.1. Briefe aus Hamburg 2.1.2. João Guimarães Rosa und der Nationalsozialismus 2.2. Guimarães Rosa und der Verlag Kiepenheuer & Witsch 3. Rezeption in Deutschland
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III. Curt Meyer-Clason als Übersetzer 1. Grande Sertão: Veredas in anderen Sprachen 1.1. Bisherige Übersetzungen von Grande Sertão: Veredas 1.2. João Guimarães Rosas Beziehung zu seinen Übersetzern 2. Übersetzungskritik der deutschen Version 2.1. Redewendungen und Gemeinplätze in „Grande Sertão“
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IV. Erzähltechnik in Grande Sertão: Veredas
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V. Der Teufel 1. Die Namen des Teufels 1.1. Etymologie 1.1.1. Satan 1.1.2. Teufel, Diabo 1.2. Teufelsnamen in Grande Sertão: Veredas 1.2.1. Folklorenamen 1.2.1.1. Anhangão 1.2.1.2. Romãozinho 1.2.2. Teufelsnamen aus dem Neuen Testament 1.2.2.1. Satanás 1.2.2.2. O Maligno 1.2.2.3. Belzebu 1.2.2.4. O tentador 1.2.2.5. O Pai da mentira 1.2.2.6. A antiga Serpente – A cobra 1.2.2.7. O inimigo 1.2.3. Zwischen Bibel und Folklore 1.2.3.1. O Cão 1.2.3.2. Lucifer 1.2.4. Diadorim 1.2.5. Hermógenes 1.2.6. Die Vermeidung: „desfalar no nome dele“
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2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.1.5. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 4. 4.1. 4.2. 4.3.
Die Gestalt des Teufels Das Äußere des Teufels in Grande Sertão: Veredas Der Teufel als Kalb Der Teufel als Ziegenbock Coruja – Die Eule O diabo na rua no meio do redemoinho Das Äußere Hermógenes’ Das Wirken des Teufels Alttestamentarische Aspekte in Grande Sertão: Veredas Neutestamentarische Aspekte in Grande Sertão: Veredas Das Wirken des Teufels in Grande Sertão: Veredas Die Zweideutigkeit Der Gegensinn der Urworte Die Sorge Dämonen und Geister Etymologie Dämonen und Geister im Alten Testament Dämonen und Geister im Neuen Testament
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VI. Der Pakt 1. Bündnisse im Alten Testament 1.2. Der Bund Israels 1.3. Andere Bünde im Alten Testament 2. Bündnisse im Neuen Testament 2.1. Die Versuchungsgeschichte als Bund 2.2. Christi Sühneopfer 2.2.1. Diadorim: Dämon oder Unschuld? 2.3. Andere Bündnisse im Neuen Testament 3. Der Pakt im Mittelalter 3.1. Der Dämonenpakt bei Augustinus 3.2. Das Theophilusmirakel 3.3. Der Teufelspakt der Hexen 3.3.1. Der Hexenhammer (Malleus Maleficarum) 4. Riobaldo und Faust 5. Hermógenes’ Pakt 6. Riobaldos Pakt 6.1. Verschiedene Paktinterpretationen 6.2. Der Pakt mit dem Bösen gegen das Böse 6.3. Der Pakt als besondere Form des Auserwähltseins 7. Leben Tauschen
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VII. Riobaldos Konzept der Zeit 1. Die Freudsche Urhorde – Außerhalb der Zeit 2. Erinnerung an die Zukunft 3. Die Wiederholungstheorie Riobaldos 3.1. Die zyklische Zeit bei Borges 3.2. Archetypen
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4. 4.1.
Die platonische Ewigkeit Borges’ persönliche Ewigkeitstheorie
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VIII. Die Philosophie Søren Kierkegaards in Grande Sertão: Veredas 1. João Guimarães Rosa und Søren Kierkegaard 2. Biographische Parallelen zwischen Kierkegaard und Riobaldo 2.1. Des Vaters Gottesfluch – Riobaldos Pakt 2.2. Regine Olsen – Maria Deodorina da Fé Bettancourt Marins 3. Kierkegaards Philosophie der Lebensstadien 3.1. Allgemeine Bemerkung zu Kierkegaards Schriften 3.2. Die „travessia“ Riobaldos 3.3. Das ästhetische Stadium 3.4. Das ethische Stadium 3.4.1. Riobaldos Pakt als Wahl 3.4.2. Die Ehe als Erfüllung des allgemein Menschlichen 3.5. Das religiöse Stadium 4. Die Wiederholung als philosophische Kategorie 4.1. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie 4.2. Gedächtnis versus Erinnerung 4.3. Das erzählte Leben als Wiederholung 4.4. Annäherung an das religiöse Stadium 4.5. Der Glaube als Sprung ins Absurde 4.5.1. Das Paradox 4.5.2. Suspension des Ethischen 4.5.3. Der tragische Held 4.6. Ethische Konsequenzen einer erzählten Wiederholung
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IX. Conclusio
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X. Briefwechsel zwischen João Guimarães Rosa, seinen Erben und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch
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Bibliographie João Guimarães Rosa Primärwerke Sekundärliteratur zu João Guimarães Rosa Søren Kierkegaard Primärwerke Sekundärliteratur zu Søren Kierkegaard Sekundärliteratur zu Pakt und Teufel Weitere Primärliteratur Weitere Sekundärliteratur Nachschlagewerke, Bibliographien und Wörterbücher Elektronische Medien
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Vorwort
Grande Sertão: Veredas ist einer der vielschichtigsten und perspektivenreichsten Romane des 20. Jahrhunderts. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dieser Roman zahlreiche und divergierende Interpretationen erfahren hat. Sowohl in der brasilianischen als auch in der europäischen Literaturkritik wird immer wieder darauf hingewiesen, wie diffizil, wenn nicht gar unlesbar, João Guimarães Rosas Roman Grande Sertão: Veredas sei: Desde que foi publicado, em 1956, Grande Sertão: Veredas foi tido como um livro difícil. Seus leitores, na maior parte das vezes, diziam-se vencidos e não passavam das cinqüenta primeiras páginas, repelidos pelo vocabulário estranho, freqüentemente desconhecido, bem como pela sintaxe inusitada, às vezes emprestada de outros idiomas, compondo o texto de um longo monólogo, sem capítulos, sem interrupções.1
Andererseits sind es wohl immer gerade diejenigen Romane, denen der Ruf der Unlesbarkeit voraneilt, die die Möglichkeiten des Genres erweitern und die durch gewagte psychologische Darstellungen die größten Leseabenteuer garantieren. Jeder Text, der die lateinischen Schriftzeichen verwendet, sollte für den alphabetisierten okzidentalen Menschen lesbar sein. Für Roland Barthes sind demnach diejenigen Texte lesbar, „die dem geschlossenen System des Abendlandes verpflichtet, den Zwecken dieses Systems entsprechend fabriziert und dem Gesetz des Signifikats ergeben sind [...].“2 So gesehen wären dann eigentlich nur die so genannten unlesbaren Texte interessant und lesenswert, wie Thomas Pekar in seiner Studie zu Robert Musil bemerkt.3 Falls Guimarães Rosas Werken und besonders seinem Roman Grande Sertão: Veredas tatsächlich Unlesbarkeit nachgesagt wird, so sollte diese auf jeden Fall jene positive Unlesbarkeit bedeuten, die dem lesenden Menschen durch eine überbrodelnde Masse an Lebendigkeit, an Sinnmöglichkeiten und an Sprachverdrehungen, die Suche nach einem einheitlichen Sinn verbieten. Man muss sich also der Offenheit des Textes stellen. Um aber überhaupt etwas sagen zu können, muss man sich für einen bestimmten Weg in dieser unüberschaubaren Weite entscheiden. Der hier gewählte Weg versucht eine Darstellung der europäischen Einflüsse auf den Roman Grande Sertão: Veredas. Allein die Biographie des Autors zeigt, dass dieser durch langjährige Aufenthalte in Europa ohne Zweifel dessen literarische Traditionen gut kennen gelernt hat. Der Beziehung zwischen João Guimarães Rosa und Deutschland ist der erste Teil dieser Studie gewidmet, in dem nicht nur das persönliche Verhältnis des Autors zu Deutschland behandelt wird, sondern vor allem der Rezeptionsgeschichte seiner Werke eine genauere Analyse gewidmet ist. Die wenigen vom Autor überlieferten Aussagen zu seinem Werk und schließlich der Roman selbst bestätigen die These, dass in den vielen sich kreuzenden Sinnsystemen, Dis-
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Heloisa Vilhena de Araújo, O roteiro de Deus (São Paulo: Editora Mandarim, 1996), p. 6. Roland Barthes, S/Z (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987), p. 12. Vgl. Thomas Pekar, Robert Musil zur Einführung (Hamburg: Junius, 1997), p. 7.
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kursen und Sprachen in diesem so brasilianisch anmutenden Romanungetüm Grande Sertão: Veredas durchaus viele europäische Stimmen hörbar sind. Es gibt eine Strömung in der Sekundärliteratur, die eine Interpretation von Riobaldos Jagunçoleben als Initiationsreise sieht, was mit Hilfe von esoterischen Auslegungen zwar überraschende Einsichten bringen kann, dabei jedoch oft sehr aufwendig ist.4 Diese Arbeiten übersehen, dass es sich bei Grande Sertão: Veredas um einen zutiefst religiösen Roman handelt, der vorerst nach einer christlich-okzidentalen Leseweise verlangt, worauf aufbauend man immer noch weiterreichende Spekulationen anschließen kann. Die Sekundärliteratur hat das Werk jedoch zu oft entweder als reine Studie des Sertãos oder als esoterische Selbstfindung nach astrologischen und fernöstlichen Gesichtspunkten gedeutet. Das Herausarbeiten der Motive, Philosophien und Theologien des auch geographisch in der Mitte liegenden okzidentalen Kulturkreises soll das Hauptanliegen dieser Arbeit sein. Da Guimarães Rosa und auch Riobaldo, der Protagonist des zu untersuchenden Romans, den christlichen Religionen verpflichtet sind, werden einzelne Motive und Namen aus der Bibel, die ihre Spur im Text hinterlassen haben, untersucht werden. Vor allem soll dabei gezeigt werden, dass der so präsente und doch ungreifbare Teufel des Romans große Gemeinsamkeiten mit dem ebenso unbestimmten Satan der Bibel aufweist. Diese Art der Interpretation, besonders der die Arbeit abschließende Vergleich der Philosophie Søren Kierkegaards mit der Weltsicht Riobaldos, soll den Text nicht noch geheimnisvoller und komplizierter machen, wie es bei vielen Auslegungen von Grande Sertão: Veredas leider geschieht, sondern ganz im Gegenteil einen schmalen Pfad durch den unüberschaubaren Text bahnen, eine „Vereda“ durch den „großen Sertão“. Es bleibt die Hoffnung, dass dieser Weg kein Holzweg ist. Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation an der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien eingereicht. Für die Druckfassung wurde sie aktualisiert und leicht überarbeitet. Meinem verehrten Lehrer und Doktorvater Prof. Alberto Martino, der die Entstehung dieser Arbeit mit Geduld, Zuversicht und wenn nötig auch mit Strenge begleitet hat, sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
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Serra Costa braucht in ihrer Studie beispielsweise sieben Mandalas um Riobaldos soziale Stellung in der Jagunçogemeinschaft zu erklären. Vgl. Tania Rebelo Serra Costa, Riobaldo Rosa. A Vereda Junguiana do Grande Sertão (Brasília: Thessaurus, 1990).
I. Forschungsstand
1. Die ersten Jahrzehnte Als Grande Sertão: Veredas 1956 erscheint, ist die Kritik so überwältigt von dessen linguistischen und strukturellen Innovationen, dass sich die Studien der folgenden Jahre vor allem mit diesen Themen auseinandersetzen und den Inhalt des Romans vernachlässigen.5 Dies ändert sich im Laufe der Jahre, führt aber zur weit verbreiteten Annahme der Literaturkritik, „that Rosa’s preoccupation with form was so strong that he had subordinated everything in his novel to it and disregarded the social or historical context which had served as a point of departure.“6 Guimarães Rosa meint dagegen in dem einzigen längeren Interview, das er jemals gegeben hat, dass Form und Inhalt in seinem Werk nicht trennbar seien, denn „a linguagem e a vida são uma coisa só.“7 Die sich auf die Sprache konzentrierenden Studien zu den Texten Guimarães Rosas fügen durch nahezu kabbalistische Auslegungen der linguistischen Interpretation sehr bald schon eine stark esoterische Komponente hinzu. Augusto de Campos ist dabei einer der ersten, der versucht, einzelne Buchstaben in Grande Sertão: Veredas mit verschiedenen Sinneinheiten zu verbinden.8 Der aus Deutschland stammende und an der Universidade de São Paulo lehrende Literaturwissenschaftler Willi Bolle steht diesen transzendierenden Auslegungen sehr kritisch gegenüber und ist wie Coutinho der Meinung, dass sich die Forschung bis jetzt oft nicht auf die richtigen Aspekte in Rosas Werk konzentriert hat. Er meint in einem Artikel,9 dass sich die Literaturkritik und Literaturwissenschaft in den vier Jahrzehnten, die seit dem Erscheinen von Grande Sertão: Veredas vergangen sind, mit wenigen Ausnahmen entweder getäuscht oder sich dem Roman entzogen haben. Seiner Meinung nach sei der Roman eine reescritura von Euclides da Cunhas „Os Sertões“, worauf Antonio Candido schon 1958 hinwies.10 Genauer führt Wille Bolle diese Idee in dem Artikel „Grande Sertão: Cidades“11 aus. Bolles Feststellung, dass vier Jahrzehnte intensiver Auseinandersetzung mit dem Werk von João Guimarães Rosa nur wenig an Erkenntnis gebracht hat, mag sehr harsch erscheinen Vgl. hierfür zum Beispiel Cavalcânti Proenças frühe Studie: Manuel Cavalcânti Proença, ‘Alguns aspectos formais de Grande Sertão: Veredas’, Revista do livro, 2, (1957), pp.37-54. Auch: Oswaldino Marques, A seta e o alvo (Rio de Janeiro: 1957). 6 Eduardo Coutinho, The Synthesis Novel in Latin America. A study on João Guimarães Rosa’s Grande Sertão: Veredas (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1991), p. 99. 7 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, in: João Guimarães Rosa, Ficção Completa. 2 vols (Rio de Janeiro: Nova Aguilar, 1994), I, pp.27-61 (p.47). 8 Vgl. Augusto de Campos, ‘Um lance de “dês” do Grande sertão’, in Coleção Fortuna Crítica vol. 6: Guimarães Rosa, hg. von Eduardo F. Coutinho (Rio de Janeiro/Brasília: Civilização Brasileira/Instituto Nacional do Livro, 1983), pp.321-349. 9 Willi Bolle, ‘O pacto no Grande Sertão – Esoterismo ou lei fundadora?’, Revista USP, 36, (dezembro, janeiro, fevereiro 1997-98), 26-45. 10 Antontio Candido, ‘O Sertão e o Mundo’, Diálogo, 8, (1958), 5-18. 11 Willi Bolle, ‘Grande Sertão: Cidades’, Revista USP, 24, (dezembro, janeiro, fevereiro 1994-95), 80-93. 5
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und trifft auch nur bedingt zu. Arbeiten, die Guimarães Rosas Werk in eine brasilianische Literaturtradition einordnen wollen oder gar komparatistische Aspekte untersuchen, sind jedoch tatsächlich rar. Oft werden seine Texte als plötzlich auftretende Erscheinungen hingenommen und isoliert betrachtet: „Dieses Buch verschließt sich jedem Vergleich; es steht nicht nur außerhalb aller gängigen Formen europäischer Literatur, es findet auch in Lateinamerika nichts, was man nur annäherungsweise zur Erklärung heranziehen könnte.“12 Auffällig ist, dass sich die bisherigen Interpretationen von Grande Sertão: Veredas neben den stilkritischen Arbeiten deutlich in historisch-soziologische und esoterischmetaphysische aufteilen lassen. In die erste Gruppe fällt zum Beispiel Walnice Nogueira Galvãos 1972 erschienene Studie „As Formas do Falso“,13 die den Roman in einer historischen Sichtweise betrachtet und Riobaldos Monolog als ein Portrait Brasiliens sieht. Wesentliche Betrachtungen über linguistische, stilistische und strukturalistische Probleme des Romans bieten unter anderem folgende Analysen: Donaldo Schüler, ‘Significante e Significado em Grande Sertão: Veredas’, in Organon, 12 (1966), 65-76. Mary Lou Daniel, João Guimarães Rosa: Travessia Literária (Rio de Janeiro: José Olympio, 1968). Eduardo Coutinho, The Synthesis Novel in Latin America. Einige Arbeiten konzentrieren sich speziell auf die Sprache des Sertãos und versuchen, regionalistische Oralität und Neologismen Guimarães Rosas auseinander zu halten. Bis heute ist jedoch in vielen Fällen noch nicht entschieden, ob es sich um Regionalismen oder literarische Wortschöpfungen des Autors handelt. Vgl. dazu: Ivana Versiani, ‘Derivados Regressivos em Grande Sertão: Veredas’, Suplemento Literário do Estado de Minas Gerais, 9. 10. 1971. Ivana Versiani, ‘Eu Militão, Ele Guerreiro’, Suplemento Literário do Estado de Minas Gerais, 15. 1. 1972. Teresinha Souto Ward, O Discurso Oral em Grande Sertão: Veredas, (São Paulo/Brasília: Duas Cidades/INL – Fundação Pró Memoria, 1984). In den 90er Jahren überwogen die esoterischmetaphysischen Studien, wie zum Beispiel: Tania Rebelo Costa Serra, Riobaldo Rosa. Kathrin Rosenfield, Os Descaminhos do Demo: tradição e ruptura em Grande Sertão: Veredas. (São Paulo: Edusp, 1992). Francis Utéza, João Guimarães Rosa Metafísica do Grande Sertão (São Paulo: Edusp, 1994). Heloisa Vilhena de Araújo, O Roteiro de Deus.
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Günter Lorenz, ‘Eine Welt in ihrem Urzustand’, Die Welt der Literatur, 14, (1964), p. 401. Walnice Nogueira Galvão, As Formas do Falso: um estudo sobre a ambigüidade (São Paulo: Perspectiva 1972).
Diese Studien schließen die brasilianische Wirklichkeit und historische Situation gewöhnlich aus, ohne jedoch den Roman in eine andere literarische Tradition zu stellen. Gegen diese Ausgrenzung der Geschichte will Willi Bolle eine Interpretation liefern, die aus den esoterisch, metaphysischen Zeichen eine historisch, soziologisch motivierte Weltsicht herausarbeitet. Diese Betrachtungsweise bringen laut Bolle nicht nur empirische Fakten zum Ausdruck (República Velha, jagunçagem, coronelismo, processo de modernização), sondern werden auch durch die archaischen Wurzeln und die durch Riobaldo entwickelte Theorie der Geschichte aufgezeigt.14 Walnice Galvão meint zwar auch, dass Grande Sertão: Veredas die tiefgründigste und vollständigste Dokumentation des Lebens im brasilianischen Sertão darstellt, schränkt aber gleichzeitig ein, dass der Roman andererseits „a mais profunda e mais completa idealização dessa mesma plebe“15 sei. Auch zweifelt sie die von Bolle herausgestrichenen historischen Fakten an, indem sie meint, Rosa „dissimula a História, para melhor desvendá-la.“16 Eine andere, sehr anschauliche Methode, den realen Sertão mit dem im Roman dargestellten zu vergleichen, liefert Alan Viggiano, indem er auf verschiedenen Landkarten den Weg, den Riobaldo im Laufe seines Lebens zurückgelegt hat, nachzuzeichnen versucht. Von den nahezu 230 im Roman erwähnten Orts- und Landschaftsnamen kann er mehr als 180 identifizieren und lokalisieren.17 Anthropologisch unterstützte Arbeiten, die das im Roman dargestellte Leben in den Weiten des Sertãos mit den tatsächlichen Traditionen und Strukturen des dort lebenden Volkes vergleichen, sind bis jetzt jedoch noch immer nicht erschienen. Leonardo Arroyos Versuch diese Lücke zu schließen ist sehr bewundernswert, aber leider nur teilweise geglückt, denn auch seine Studie scheitert letztlich am Mangel wissenschaftlichen Materials zu Bräuchen, Philosophien und Folklore im Sertão.18 Georg Rudolf Lind, einer der ersten deutschsprachigen Kommentatoren von Guimarães Rosas Werk, erkennt bereits kurz nach der Veröffentlichung der deutschen Version des Romans, dass diejenigen Stimmen, die Grande Sertão: Veredas als völlig eigenständiges, aus keiner Tradition kommendes Kunstwerk betrachten, übersehen, dass der Roman sehr wohl Gemeinsamkeiten mit den wichtigsten brasilianischen Literaturströmungen des zwanzigsten Jahrhunderts, dem Regionalismus und dem Modernismus, aufweist.19 Was die Verunsicherung der Rezeption ausgelöst haben könnte, ist jedoch die „Erneuerung der Sprache, die entschlossene Wendung zum offenen Roman und die – an verwandte Bestrebungen von James Joyce, Thomas Mann oder Hermann Broch erinnernde – Einbeziehung mythischer Elemente.“20
Vgl. Willi Bolle, O pacto no Grande Sertão, p. 28. Galvão, Walnice Nogueira: As Formas do Falso, p. 74. Ebd., p. 62. Alan Viggiano, Itinerário de Riobaldo Tatarana (Rio de Janeiro/Brasília: José Olympio/Instituto Nacional do Livro, 1978). 18 Vgl. Leonardo Arroyo, A Cultura Popular em Grande Sertão: Veredas. Filiações e sobrevivências tradicionais, algumas vezes eruditas (Rio de Janeiro/Brasília: José Olympio/INL-MEC, 1984). 19 Vgl. Georg Rudolf Lind‚ Regionalismus und Universalität im Werk João Guimarães Rosas’, GermanischRomanische Monatsschrift, Neue Folge, 21 (1971), 327-343 (p.329). 20 Ebd., p. 343. 14 15 16 17
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Auf die Verwandtschaft von Grande Sertão: Veredas mit den großen europäischen Romanen der genannten Autoren wird oft hingewiesen, meist bleibt es jedoch dabei. Auch in der vorliegenden Arbeit wird dieses Thema nicht weiter ausgeführt, da es offensichtlich ist, dass es sich beim zu untersuchenden Text um einen Roman der klassischen Moderne handelt, die in Brasilien durch den Modernismus schon rezipiert wurde und eine eigenständige brasilianische Ausprägung fand. Der Einfluss von außerbrasilianischen Strömungen auf die brasilianische Literatur auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg ist in der Zwischenzeit selbst von der teilweise stark patriotisch gesinnten brasilianischen Literaturkritik anerkannt worden, wie Mark Dineen in seiner Studie über Ariano Suassuna und der Populärkultur des Nordwestens klar ausdrückt: As has been argued, it makes little sense to speak in terms of pure Brazilian forms and to deny the influence of external models and techniques in the development of Brazilian literature. On the contrary, the most powerful works of contemporary Brazilian fiction, perhaps typified by Grande Sertão: Veredas by Guimarães Rosa, have derived much of their success from their free incorporation of cosmopolitan currants and vanguard forms, reworking them to provide new tools for analysing Brazilian reality through fiction.21
Es bleibt jedoch aufzuzeigen, dass sich der Roman nicht nur formal in eine europäische literarische Tradition einordnen lässt: Auch in der in ihm entwickelten Philosophie ist er der europäischen Geisteswelt verpflichtet. In dem bereits zitierten Aufsatz von Georg Rudolf Lind meint dieser, im von Riobaldo leitmotivisch wiederholten „das Leben ist eine gefährliche Sache“, die Quintessenz von Riobaldos und Guimarães Rosas Lebensphilosophie zu sehen. Er fährt jedoch, in europäische Brasilienklischees verfallend, fort: Es ist dies jedoch nur die eine Seite seiner Lebensbetrachtung; die andere, untrennbar zugehörige bildet die Freude, und gerade diese starke Lebensbejahung unterscheidet vielleicht am deutlichsten den Brasilianer von den europäischen Erzählern seiner Zeit. „Das Leben“, meint Riobaldo, „müsste wie eine Theaterbühne sein, auf der jeder seine Rolle mit Genuss und Gusto spielt.“ An anderer Stelle heißt es: „Die Furt der Welt ist die Freude.“ Und abermals, mit einer Wendung ins Theologische: „Aber heute finde ich, dass Gott Freude ist und Mut, dass Er vor allem anderen Güte ist.“22
Diese stereotype brasilianische Lebensfreude ist dem Bewohner des Sertãos, wie man unschwer aus der regionalistischen Literatur der Generation von 1930 herauslesen kann, fremd. Dagegen lassen sich in Romanen wie der „Blechtrommel“, „Ulysses“ oder auch dem „Mann ohne Eigenschaften“ ohne Zweifel ebenso positive Aussagen finden. Riobaldos lebensbejahende Äußerungen dürfen nicht als Ausdruck eines typisch brasilianischen Frohmuts gesehen werden, sondern vielmehr als Ergebnis eines sehr bewussten intellektuellen Gewaltakts, dessen Zeugnis der Roman liefert. Die Freude, die Riobaldo in obigen Zitaten ausdrückt, resultiert aus einer anderen leitmotivisch verwendeten Formel aus dem Roman, der „travessia“. Wie diese „Überfahrten“ Riobaldos Leben schließlich in den Hafen der Zufriedenheit führen, wird in vorliegender Arbeit an Hand von Kierkegaards Stadientheorie untersucht werden.
Mark Dineen, Listening to the people´s voice: erudite and popular literature in North East Brazil (London: Kegan Paul International, 1996), p. 279. 22 Georg Rudolf Lind, Regionalismus und Universalität, p. 329. 21
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2. Das letzte Jahrzehnt In den späten 1990er Jahren verlagert sich das Hauptaugenmerk der Sekundärliteratur zu Guimarães Rosas Werk vom reinen Personenkult um den großen sprachgewaltigen Schriftsteller hin zu einer vertiefenden Leseweise, die Interesse für das Philosophische im Roman zu haben scheint. Dies ist sehr zu begrüßen, da der Wert eines Buches wie Grande Sertão: Veredas doch gerade darin liegt, dass seine Problematik sich in die großen Fragen der Philosophiegeschichte eingliedert. Nach der anfänglichen reinen sprachlichen Analyse verlagerte sich das Paradigma der Forschung auf die Metaphysik dieses brasilianischen Romanmonuments. Seit einiger Zeit versucht man aber immer wieder, den Roman in einen größeren Kontext zu stellen und nun ist es schon eine allgemein akzeptierte Tatsache, „que a obra de Guimarães Rosa tem raízes profundas na tradição cultural ocidental [...].“23 Endlich werden auch vereinzelt komparatistische Elemente berücksichtigt. PUC Minas (Pontífica Universidade Católica de Minas Gerais), die Universität von Belo Horizonte, veranstaltete 1998 unter der Leitung von Lélia Parreira Duarte einen internationalen Kongress zu João Guimarães Rosa. Unter den 250 Vortragenden befanden sich die wichtigsten Vertreter der brasilianischen Literaturwissenschaft, aber auch der Brasilienstudien des Auslands sowie der deutsche Übersetzer Curt Meyer-Clason und der mozambikanische Schriftsteller Mia Couto, über dessen literarische Beziehung mit Guimarães Rosa schon einige Arbeiten geschrieben wurden. Zu diesem Kongress ist 1998 eine Sondernummer der Zeitschrift „Scripta“ 24 erschienen, deren Artikelzusammenstellung einen sehr schönen Überblick über den Stand der Forschung bietet: Man erkennt deutlich, dass sich esoterische Auslegungen mit sprachwissenschaftlichen und philosophischen Interpretationen in etwa die Waage halten. Auch gibt es bereits erste Arbeiten über die Entstehungsgeschichte des Werks und Studien über die Rezeption im Ausland sowie Übersetzungskritiken. Wenn die meisten Texte auch nur kurz sind und dadurch ihr angekündigtes Thema nicht in aller Tiefe ausschürfen können, ist diese Themenvielfalt trotzdem der Beweis, dass die RosaForschung sehr lebendig ist und gerade in den letzten Jahren versucht wird, dem Werk durch komparatistische Ansätze eine neue Dimension zu verleihen. Auch Willi Bolle, der einer soziohistorischen Interpretation anhängt, versucht durch die Einbeziehung der Philosophie Walter Benjamins, eine weitere Dimension in der Auslegung der Texte Guimarães Rosas zu erreichen. Er meint, dass sich Rosa gegen die Dichotomie Großstadtliteratur/Regionalismus stellt. Statt sich an der von europäischen Traditionen und Moden geprägten Kultur der Küste zu orientieren, wendet er sich dem Landesinneren zu. Er geht jedoch über den provinziellen Regionalismus weit hinaus und dringt radikal nach Westen vor, bis er, wie Borges und Paz, im Orient den Ursprung der Schriftkultur neu entdeckt.25 Im Jahr 2000 erschien eine erweiterte Artikelzusammenstellung zum ersten „Seminário Internacional Guimarães Rosa“, die auf über 650 Seiten in kurzen Beiträgen den bisher Heloisa Vilhena de Araújo, O espelho: contribuição ao estudo de Guimarães Rosa. (São Paulo: Editora Mandarim,1998), p. 12 f. 24 Scripta, Revista do Programa de Pós-Graduação em Letras e do Centro de Estudos Luso-afro-brasileiros da PUC Minas vol. 2, no. 3 – número especial Guimarães Rosa (Belo Horizonte: 1998). 25 Willi Bolle, ‘Physiognomik der modernen Metropole. Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin’, Europäische Kulturstudien, 6 (1994), pp.271-312. 23
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besten Überblick über die gegenwärtigen Strömungen in der Rosa-Forschung liefert, auch wenn die Artikeln durch ihre knappe Form keine echten wissenschaftlichen Studien darstellen. Über 20 Titel aus diesen 146 Beiträgen lassen sich komparatistischen Themen zuordnen, was auf ein erwachtes Interesse der Rosa-Forschung an der vergleichenden Literaturwissenschaft hinweist. Vor allem der mögliche Einfluss von Guimarães Rosa auf den schon erwähnten mozambiquanischen Autor Mia Couto scheint inzwischen gut erforscht zu sein. Auch philosophische Studien oder sogar gezielte Vergleiche mit den Weltanschauungen bestimmter Philosophen sind in der Betrachtung des Werkes von Guimarães Rosa keine Seltenheit mehr. Sprachtheoretische Untersuchungen und genauere Betrachtungen der Erzählsituation sind dagegen nur mehr selten Thema eines Artikels. Esoterische Interpretationen, die in Nachfolge von Francis Utézas metaphysischer Sichtweise des Sertãos als Kombination von „Ser“ und „Tao“ stehen, finden sich auch nicht mehr allzu häufig, während hingegen rezeptionsästhetische Ansätze noch nicht sehr zahlreich sind. Ein erstes Interesse an dieser Thematik ist aber erkennbar, so sind erstmals, wenn auch nur wenige, Arbeiten über literarische Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und dem Werk von Guimarães Rosa vertreten. Wie viele Texte sind jene dem Titel nach zwar sehr interessant, in ihrer Argumentation bieten sie dann jedoch, wahrscheinlich aus Platzgründen, leider oft nur wenig Informationen. Beispielgebend für eine rezeptionsgeschichtliche Studie ist der Text von Piers Armstrong, in dem sich ein überraschend kritischer Ansatz zu Guimarães Rosas Haltung findet, seinen Übersetzern, über Worterklärungen hinaus, mit Stilfragen in der Zielsprache zu helfen, „sem entender que ele mesmo [...] não tinha intuição certa para sentir os sotaques poéticos de palavras na língua estrangeira.“ 26 Ebenso wird der ungewöhnliche Streit erwähnt, ob denn nun die italienische, die spanische oder die deutsche Übersetzung die beste sei, Guimarães Rosa hat zumindest seinem italienischen und seinem deutschen Übersetzer entsprechendes versichert. Armstrong führt diese Gedanken in jenem Artikel nicht weiter aus, versichert jedoch, dies an anderer Stelle einmal zu tun. Wesentlich an solchen Stimmen ist, dass sie zeigen, dass es in den letzten Jahren nun endlich ein Interesse an der Rezeption der Texte Guimarães Rosas gibt und dass sich die Forschung auf eine genaue Analyse der Rezeptionsgeschichte einlässt, auch unter der Gefahr, Mythen, wie den des fast alle Sprachen sprechenden brasilianischen Nationalautors und den der dem Original mindestens gleichwertig gegenüberstehenden deutschen Übersetzung, zu stürzen. Eine wesentliche Grundlage für alle weiteren Studien wäre aber eine, gerade für einen so komplexen Autor wie Guimarães Rosa nahezu unersetzbare, kritische Ausgabe seiner Texte. Vilma Guimarães Rosa, die Nachlassverwalterin ihres Vaters João, meint, dass ein derartiges Projekt im Entstehen begriffen ist und noch vor 2004 in Brasilien erscheinen solle,27 was bis dato jedoch nicht passiert ist. Wille Bolle berichtet ebenfalls von einer kritischen Ausgabe von Grande Sertão: Veredas zu der er schon 1996 ein Vorwort geschrieben hätte und die, von Walnice N. Galvão herausgegeben, in Paris in der Sammlung „Archives“ Piers Armstrong, ‘Tradução e diplomacia: Filosofias e práticas de Guimarães Rosa e de seus tradutores’, in Seminário Internacional Guimarães Rosa 1998-2000: Veredas de Rosa (Belo Horizonte: PUC Minas/ CESPUC 2000), pp.577-582 (p.578). 27 Nach einem persönlichen Gespräch mit Vilma Guimarães Rosa am 13. September 2000 in der Brasilianischen Botschaft in London. 26
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erscheinen sollte.28 Die „edição genético-crítica“ wird erstmals auf Textvarianten der Entstehungsgenese des Romans eingehen können, da Aracy M. de Cavalho, Guimarães Rosas Witwe, bereit war, Skizzen und Entwürfe zur Verfügung zu stellen. Auch der Verlag Olympio hat sich nun endlich entschlossen sein Archiv zu öffnen und das Originalmanuskript mit allen Korrekturen und Notizen der Wissenschaft zugänglich zu machen. Die kritische Edition wird darüber hinaus mit einem Glossar und einem speziellen Wörterbuch zu Fauna und Flora bestückt sein. Erklärende Fußnoten und eine Bibliographie sollen das Projekt abrunden.29 Das Erscheinen dieser Ausgabe scheint also nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Unterdessen wurde im August 2001 in Belo Horinzonte aufgrund des großen Erfolges des ersten Kongresses das zweite „Seminário Internacional Guimarães Rosa“ durchgeführt. Inhaltlich war erneut die Breite der vertretenen Disziplinen und behandelten Themen auffällig. Marcel Vejmelka schreibt in einem ausgezeichneten Artikel über diesen Kongress, dass ein immer größer werdendes Interesse an der Rezeption Guimarães Rosas in anderen Ländern zu beobachten ist. Während des Kongresses wurde ein Forschungs- und Dokumentationszentrum über die weltweite Rezeption des Autors vorgestellt, das an der „Universidade Federal de Minas Gerais“ (UFMG) in Belo Horizonte seine Arbeit aufgenommen hat. Besonders interessant scheint in diesem Zusammenhang die von Georg Otte (UFMG) geplante Edition der Tagebücher Guimarães Rosas, die während dessen Aufenthalts als Vizekonsul in Hamburg entstanden sind. 30 Besonders bemerkenswert ist dieses Projekt, weil Vilma Guimarães Rosa als Besitzerin der Rechte auf das Werk ihres Vaters vor kurzem noch eine Publikation von Briefen verhindert hat, weil sie selbst so viel wie möglich aus dem Nachlass herausgeben möchte. Einen Großteil der an sie gerichteten Briefe ihres Vaters, veröffentlichte sie in der 1983 erschienenen Biographie über ihren „pai“. Das Buch wurde 1999 in erweiterter Form neu aufgelegt.31 Die Briefe, die João Guimarães Rosa an seine erste Frau, Lygia Cabral Penna, geschrieben hat, sind ebenso alle im Besitz derer Tochter Vilma, doch werden diese wohl noch für längere Zeit unveröffentlicht bleiben, denn: „Meus pais sempre abominaram sensacionalismo. Mamãe deu-me todas as cartas que papai lhe escreveu, mas fez com que eu lhe prometesse jamais publicá-las.”32 Mit der Herausgabe einer kritischen Ausgabe des Werkes von João Guimarães Rosa, der Edition seiner Tagebücher und dem langsamen Zugänglichwerden seiner Briefe, scheint sich die Forschung in Zukunft auf immer mehr Material berufen zu können, was sehr viel zum Verständnis seiner literarischen Texte beitragen wird. Für vorliegende Arbeit wurde in wissenschaftlichen Bibliotheken von Wien, Lissabon, Berlin, London, Manchester und São Paulo geforscht. Mit Vilma Guimarães Rosa und Curt Meyer-Clason wurden im Laufe der Arbeit einige sehr fruchtbare Gespräche geführt. Vor Vgl. Willi Bolle, O pacto no Grande Sertão, p. 28, Anmerkung 2. Einen ersten kurzen Einblick in die Arbeit an der kritischen Ausgabe gibt: Cecília de Lara, ‘Grande Sertão: Veredas. Processos de criação’, in Scripta, 3, (1998), pp.41-49. 30 Vgl. Marcel Vejmelka, ‘Gelebte Wissenschaft und ein unerschöpfliches Werk. Zum „II Seminário Internacional Guimarães Rosa“ an der PUC-Minas in Belo Horizonte’, Tranvía – Revue der Iberischen Halbinsel, 63, (Dezember 2001), 37-38 (p.38). 31 Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos: João Guimarães Rosa, Meu Pai. 2ª edição revista e ampliada. (Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1999). 32 Vilma Guimarães Rosa in einem persönlichen Gespräch am 2. Juni 2000 in London. 28 29
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allem der Kiepenheuer und Witsch Verlag erwies sich als äußerst großzügig und stellte mit freundlicher Genehmigung den Briefwechsel zwischen João Guimarães Rosa und dem Verlag zur Verfügung.
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II. João Guimarães Rosas intellektuelle Biographie
„Creio que minha biografia não é muito rica em acontecimentos. Uma vida completamente normal.“33 Vielleicht ist es diese Einstellung Guimarães Rosas, dass sein Leben vollkommen normal sei, die bewirkt hatte, dass seine Biographie tatsächlich sehr selten Gegenstand der Forschung wurde. Für einen Autor seines Ranges ist es erstaunlich, wie wenig biographisches Material zu Verfügung steht. Außer der schon erwähnten Biographie seiner Tochter Vilma Guimarães Rosa34 gibt es noch ein Buch über die Kindheit und Jugend des Autors, geschrieben von seinem Onkel Vicente.35 Die Aufarbeitung des Lebens von João Guimarães Rosa bleibt demnach ein Monopol seiner engsten Familie. 36 Dementsprechend anekdotisch und wenig ergiebig reduzieren sich diese Biographien über weite Strecken auf die Verklärung eines nationalen Genies. Interessant werden sie jedoch dann, wenn Originaldokumente und Briefe zitiert werden. Da die Briefe des Autors bis jetzt noch nicht in anderer Form vorliegen, wird in diesem Kapitel ausführlich aus jenen zitiert, besonders, wenn sie sich auf João Guimarães Rosas Zeit im nationalsozialistischen Deutschland (193842) beziehen, da diese Epoche in seinem Leben noch kaum erforscht wurde. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die 1987 vom brasilianischen Außenministerium zum Gedenken an den 20. Todestag des Autors veröffentlichte Studie der Literaturwissenschaftlerin und Diplomatin Heloísa Vilhena de Araújo über Guimarães Rosas Leben als Diplomat.37 Auch hier erweist sich besonders der Anhang als interessant, weil er Originaldokumente aus seiner diplomatischen Karriere zitiert. Der am 27. Juni 1908 als erster Sohn eines Gemischtwarenhändlers in Cordisburgo (Minas Gerais) geborene João Guimarães Rosa lernt schon in seiner Grundschulzeit durch einen Franziskanermönch Französisch und wenig später durch einen holländischen Geistlichen Niederländisch. Im Alter von neun Jahren kauft er sich eine deutsche Grammatik und beginnt das Studium der deutschen Sprache, wie er in seinem Beitrag „Rhein und Urucuia“ zur Festschrift zum 60. Geburtstags seines deutschen Verlegers Joseph C. Witsch berichtet: Dort, in Minas Gerais, setzte ich neunjährig die Meinen in nicht geringes Erstaunen, als ich eigenhändig eine deutsche Grammatik kaufte, um sie allein am Straßenrand hockend, zu studieren, wenn meine Spielkameraden und ich beim Straßenfußball eine Pause einlegten. Und das geschah nur aus angeborener Liebe zu den von genauen Konsonanten umrissenen Wörtern wie Kraft und sanft, Welt und Wald und Gnade und Pfad und Haupt und Schwung und Schmiß. Nicht umsonst sollte ich später Medizin auch an Hand von deutschen Büchern stu-
Günter Lorenz, Diálogo com Guimarães Rosa, p. 31. Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos. Vicente Guimarães, Joãozito. Infância de João Guimarães Rosa. (Rio de Janeiro/Brasília: José Olympio/INLMEC 1972). 36 Es wurde sogar der Briefwechsel zwischen João Guimarães Rosa und seinen Enkelinnen Vera und Beatriz, zur Zeit des Todes des Autors vier und fünf Jahre alt, veröffentlicht: João Guimarães Rosa, ‘Ooó do Vovô’ – Correspondência de João Guimarães Rosa, vovô Joãozinho, com Vera e Beatriz Helena Tess, hg. von Vera Tess (Belo Horizonte: Edusp – Editora da PUC Minas, 2003). 37 Heloísa Vilhena de Araújo, Guimarães Rosa: Diplomata (Brasilia: Ministério das Relações Exteriores, 1987). 33 34 35
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dieren, Schiller, Heine, Goethe lesen und mich mit Vorliebe in blonde Mädchen deutscher Abstammung verlieben.38
In diesem Aufsatz legt er auch dar, dass er mütterlicherseits aus der alten portugiesischen Stadt Guimarães stamme, die früher Guimaranes hieß und die Hauptstadt eines suebischen Staates war. Viele Nordportugiesen waren die ersten Siedler in Brasilien, darunter auch viele Guimaraner, von denen einige als Literaten Bekanntheit erlangten: Der Romancier Bernardo Guimarães landete vor allem mit seinem Feuilletonroman „A escvrava Isaura“ (1875) einen großen Publikumserfolg und auch Alphonsus de Guimaraens behauptet als mystischer Dichter und früher Übersetzer Heines seinen Rang in der brasilianischen Literaturgeschichte. João Guimarães Rosas Geburtsort Cordisburgo wiederum ist eine Gründung deutscher Ansiedler, wodurch man seine Beziehungen zum Deutschtum schon fast als schicksalhaft bezeichnen könnte. Die zwei Journalisten Luis Harss und Barbara Dohmann, die Guimarães Rosa einmal für ein Interview in seinem Büro in Rio besuchten, betonen ebenso dessen starke Beziehung zum Deutschtum und mehr noch, dessen germanisch wirkendes Auftreten im Allgemeinen. Rosa empfängt die zwei Reporter „with twinkling eyes and solemn stride, a Brazilian sage of Weimar, the universal man, at large in the world and at ease with himself.“39 Aber nicht genug damit, Guimarães Rosas suebische Vorfahren zeigen sich anscheinend noch immer sehr deutlich auf dessen Angesicht: Physically and temperamentally he carries his German ancestry clearly written on him. He is a ponderer. He shows us his Teutonic features: his flat occipital, his green eyes. German, with its infinite subtleties, is the foreign language he seems to speak best, from natural preference. We mix it with English, French, his battered Spanish, our broken Portuguese. He is a great linguist, philologist, etymologist, semanticist, who, besides Portuguese and, of course, the basics – German, French, English – reads Italian, Swedish, Serbo-Croatian, and Russian, and has studied or dabbled in the grammars and syntaxes of most of the other main languages of the world, including such tongue twisters as Hungarian, Malayan, Persian, Chinese, Japanese, and Hindi.40
Seine Sprachkenntnisse sind offensichtlich auf passives Leseverständnis ausgerichtet, denn anders ist es nicht zu erklären, warum er das Interview mit Harss und Dohmann nicht auf Spanisch oder Englisch führen könnte. Guimarães Rosa bestätigt seine Vielsprachigkeit, mit der Einschränkung alle Sprachen nur schlecht zu beherrschen, in einem Brief an seine Cousine Lenice Guimarães, welche ihm brieflich für ein Schulprojekt eine Liste mit Fragen geschickt hatte. Der Autor beantwortet alle ausführlich und schreibt seine Sprachkenntnisse betreffend: Falo: português, alemão, francês, inglês, espanhol, italiano, esperanto, um pouco de russo; leio: sueco, holandês, latim, e grego (mas com dicionário agarrado); entendo alguns dialetos alemães; estudei a gramática:
João Guimarães Rosa, ‘Rhein und Urucuia’, in Gratulatio für Joseph Caspar Witsch zum 60. Geburtstag am 17. Juli 1966 (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1966), pp. 245-251 (p.245). 39 Luis Harss und Barbara Dohmann, ‘João Guimarães Rosa, or the Third Bank of the River, in Into the Mainstream. Conversations with Latin-American Writers’, hg. von dens. (New York: Harper & Row, 1967), pp.137-172 (p.144). 40 Ebd., p. 145. 38
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do húngaro, do árabe, do sânscrito, do lituâno, do polonês, du tupi, do hebraico, do japonês, do tcheco, do finlandês, do dinamarquês; bisbilhotei um pouco a respeito de outras. MAS, TUDO MAL.41
Viele dieser Sprachen lernt Guimarães Rosa schon in seiner Schulzeit oder während seines Medizinstudiums in Belo Horizonte (1925-1930). Deutsch dürfte dabei tatsächlich immer schon seine Lieblingssprache gewesen sein und auch die Sprache, die er am besten beherrscht, wenigstens handelt es sich bei der ersten Publikation des Autors um eine Übersetzung aus dem Deutschen: 1928 veröffentlicht die Zeitung „Minas Gerais“ den Artikel „A organização científica em Minas Gerais“ des deutschen Professors O. Quelle in der brasilianischen Übertragung des damals zwanzigjährigen Guimarães Rosa. 42 Zu den „dialetos alemães“, die er nach seinem Aufenthalt in Hamburg zu verstehen vorgibt, zählt er sicherlich auch das Österreichische, wie er im Interview mit Lorenz beweist, wo er einen österreichischen Ausdruck verwendet und auch als solchen markiert: „Eu [...] pude descrever um estado de alma para o qual conheço outra expressão alemã, Allerseelenstimmung, creio que provém da Áustria, não é?“43 In diesem Interview geht Lorenz auch auf die Vielsprachigkeit des Autors ein und fragt: „Quantas línguas você domina?“ Worauf Guimarães Rosa bescheiden antwortet: „Dominar é muito. Sei lê-las; para isso as aprendi. Falar, só com grande dificuldade.“44 Aber lesen könne er acht Sprachen, „talvez algumas mais.“45 Es ist eine weit verbreitete Tatsache, dass Guimarães Rosa „dänisch lernte, um Kierkegaard zu lesen, und russisch, um Berdiajew zu verstehen.“46 Dem steht gegenüber, dass in allen zugänglichen Listen von Guimarães Rosas Bibliothek nur sehr wenige Bücher in Originalsprachen erhalten sind. Der Großteil der Texte reduzieren sich auf Ausgaben in Portugiesisch und Französisch und dann noch, weniger häufig, auf Editionen in deutscher und englischer Sprache. In Suzi Frankl Sperbers Aufzählung der Bücher aus der Bibliothek des Schriftstellers findet man Kierkegaard nur auf Französisch47 und Nicolas Berdiajew auf Englisch (Nicolas Berdyaev, Spirit and Reality, London 1946). Dieser Band findet sich auch in dem 246 Objekte umfassenden Katalog zu einer Ausstellung aus dem Nachlass des Dichters48 wieder, jedoch keine Werke in den jeweiligen Originalsprachen. Da man so wenige Informationen zu den Lesegewohnheiten des Autors hat, kann dieser offensichtliche Widerspruch nicht weiter gedeutet werden. In Belo Horizonte lernt der junge Guimarães Rosa aber nicht nur Fremdsprachen, sondern auch seine erste Frau, die damals erst achtzehnjährige Lygia Cabral Penna, Tochter aus gutem Haus, kennen, die er am 27. Juli 1930 heiratet. Das junge Ehepaar zieht bald in das kleine Dorf Itaguara (Minas Gerais), wo Guimarães Rosa als Dorfdoktor hart arbeitet. Am 41 42 43 44 45 46 47 48
João Guimarães Rosas in einem Brief an seine Cousine Lenice, Rio, 19. Oktober 1966, zitiert nach deren Vater: Vicente Guimarães, Joãozito, p. 173. Jornal Minas Gerais, Belo Horizonte, 5 de out. de 1928, nach: ‘Bibliografia de João Guimarães Rosa’, in: João Guimarães Rosa, Ficção Completa, pp.183-189 (p.183). Günter Lorenz, Diálogo com Guimarães Rosa, p. 47. Ebd., p. 46. Ebd. Werner Rosenfeld, ‘Guimarães Rosa und die deutsche Kultur’, Staden Jahrbuch, 21/22 (1973/74), 21-33 (p.30). Siehe das Kierkegaard-Kapitel in vorliegender Arbeit. Confluências: Trilhas de vida e de criação, hg. von Fundação Casa de Rui Barbosa (Rio de Janeiro: Fundação Casa de Rui Barbosa, 1984), p. 27.
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5. Juni 1931 kommt Vilma als erste Tochter von João und Lygia zur Welt. Großgrundbesitzer und reiche Industrielle unternehmen 1930 einen Aufstand gegen den Diktator Getúlio Vargas, woraufhin sich der junge Arzt 1932 freiwillig als Militärarzt zu den Rebellentruppen meldet, aber bereits nach wenigen Monaten ins Lager der „Legalisten“ zurückkehrt, weil er erkannt hatte, dass das wahre Motiv der Aufständischen die Beseitigung der neuen Sozialgesetzgebung war. Von 1933 bis 1935 arbeitet er für die Organisation „Serviço de Proteção ao Indio“, nicht nur als Arzt sondern gleichzeitig auch als Veterinär, Biologe und Anthropologe. Am 17. Jänner 1934 kommt Agnes, die zweite Tochter der jungen Familie zur Welt. In dieser Zeit beschließt er seine Karriere als Arzt zugunsten einer Diplomatenkarriere aufzugeben. Vilma Guimarães Rosa verrät warum: „De minha mãe eu soube o motivo que levou papai a abandonar a Medicina: sua frustração de não conseguir salvar os seus pacientes, em alguns casos.“49 Deswegen stellt er sich 1934 der Prüfung in der Diplomatenakademie, die er als zweitbester seines Jahrgangs besteht. Ein Faktum, auf das sein Onkel sehr stolz ist.50 Danach tritt er in den diplomatischen Dienst ein und es setzt sich die Beziehung zur deutschen Kultur durch seine Bestellung als Vizekonsul nach Hamburg fort, wo er von 1938-1942 bleibt und seine zweite Ehefrau, Aracy Moebius de Carvalho, die Assistentin des Botschafters in Berlin,51 kennen lernt, die er nach dem Zweiten Weltkrieg in Mexiko heiraten sollte.52 Während des Krieges zieht sich Guimarães Rosa das Missfallen der Reichsregierung zu, weil er verfolgten Juden im Gebäude des brasilianischen Konsulats Asyl gewährt. Als Brasilien 1942 an Deutschland den Krieg erklärt, wird er mit anderen brasilianischen Diplomaten mehrere Monate lang in Baden-Baden in einem Luxushotel interniert, bis sie im Austausch mit deutschen Gefangenen die Heimfahrt nach Brasilien antreten können. Die Regierung Vargas schickt ihn nach seiner Rückkehr nach Brasilien weiter nach Bogotá, von wo er 1946 nach Paris versetzt wird. 1948 kehrt er für kurze Zeit nach Kolumbien zurück, um schließlich von 1948 bis 1951 wieder in Paris zu arbeiteten, zuerst als erster Botschaftssekretär, dann als Botschafter bei der UNESCO. Am 29. März 1951 kommt er nach Brasilien heim,53 wo er weiterhin im diplomatischen Dienst bleibt, 1953 zum Chef der „Divisão de Orçamento do Ministério das Relações Exteriores“ ernannt und 1958 zum „Ministro de Primeira Classe“, was den Rang eines Botschafters bedeutete, befördert wird.
Vilma Guimarães Rosa in einem persönlichen Gespräch am 3. September 2000 in London. Vgl. die genaue Beschreibung dieser Prüfung in: Vicente Guimarães, Joãozito, pp.90-96. João Guimarães Rosa beschreibt diese Prüfung selbst in einem Brief vom 6. Juli 1934 an seine erste Ehefrau Lygia, in: Vilma Guimarães Rosa: Relembramentos, p. 311-317. 51 Aracy Moebius de Carvalho-Guimarães Rosa wurde für ihre Aktivitäten als Diplomatin während des Zweiten Weltkriegs von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit nur 17 anderen Diplomaten als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt. 52 Nach einem persönlichen Gespräch mit Vilma Guimarães Rosa am 4. September 2000 in London. 53 Julio Cortázar kommt im Herbst 1951 mit einem Stipendium der französischen Regierung nach Paris und beginnt im folgenden Jahr in der UNESCO als Übersetzer zu arbeiten. Beinahe hätten sich die beiden großen Autoren dort beruflich treffen können. 49 50
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1. João Guimarães Rosa als Autor Die literarische Laufbahn João Guimarães Rosas beginnt mit der Veröffentlichung einiger, seither nicht mehr aufgelegten, Erzählungen in Tageszeitungen, im Jahr 1936, als die Academia Brasileira de Letras einen Wettbewerb für Lyrik und Erzählungen ausschreibt. Er sendet seinen Gedichtband „Magma“ und die Erzählungen, welche später, in umgearbeiteter Form, unter dem Titel „Sagarana“ erscheinen sollten, ein. Die Erzählungen werden nicht weiter erwähnt, aber seine Lyrik gewinnt den ersten Preis mit so großem Vorsprung, dass die Jury auf die Vergabe eines zweiten Preises verzichtet. „Magma“ wurde zu Lebzeiten des Autors nie veröffentlicht. Erst 1997 erschien der Gedichtsband im Verlag „Editora Nova Fronteira“ zusammen mit der Urteilsbegründung der Wettbewerbskommission und der Dankesrede des 28-jährigen Autors bei der Übernahme des Preises.54 Während seiner ersten Jahre als Diplomat, veröffentlicht Guimarães Rosa keine literarischen Schriften. Im Internierungslager Baden-Baden zeigt er dem ebenfalls internierten brasilianischen Maler Cícero Dias das Originalmanuskript von „Sagarana“. Diesem gefallen die Erzählungen außerordentlich gut und er ermutigt den Schriftsteller sie zu veröffentlichen. Guimarães Rosa entschließt sich aber erst 1946 zur Herausgabe der stark überarbeiteten Erzählungen von „Sagarana“, die von der Kritik zwar unterschiedlich aufgenommen wurden, aber doch einen großen Erfolg für den Autor bedeuten. Wichtig für seine weitere Laufbahn als einer der großen Autoren des Sertãos ist seine im Mai 1952 durchgeführte Reise ins Innere von Minas Gerais. Dies ist sein erstes Wiedersehen mit der von ihm so geliebten Landschaft des Hinterlands, die er viele Jahre zuvor verlassen hatte, um in Belo Horizonte zu studieren. Zehn Tage lang begleitet er die Viehherde von Manoel Nardy,55 der in der literarischen Figur des Manuelzão aus „Corpo de Baile“ verewigt werden würde. Guimarães Rosa füllt auf dieser Reise zwei Tagebücher mit Aufzeichnungen über Fauna und Flora, Gewohnheiten und Sprache der Viehtreiber und die von ihnen erzählten Geschichten und Lieder.56 Das am 19. Mai 1952 begonnene Tagebuch endet zehn Tage später am Zielpunkt der Viehherde auf der Fazenda São Francisco.57 Dieses Gut dürfte als Vorbild für den Alterswohnsitz von Riobaldo gedient haben. Erst zehn Jahre nach der Veröffentlichung von „Sagarana“ gelingt Guimarães Rosa dann der wirkliche literarische Durchbruch als er im Jänner 1956 „Corpo de Baile“ veröfVgl. João Guimarães Rosa, Magma (Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1997). Manoel Nardy starb am 5. Mai 1997 im Alter von 92 Jahren, wovon sogar die New York Times berichtete, obwohl die Präsenz João Guimarães Rosas in der literarischen Landschaft Nordamerikas sonst nicht sehr groß ist: Robert Mc G. Thomas Jr., ‘Manuel Nardy, 92, Brazilian Character in Life and Literature’, The New York Times, May 9, 1997, p. 12. 56 Zum genauen Verlauf dieser Reise und ihre Bedeutung für die Figur des Manoelzão, vgl.: Sandra Guardini Teixeira Vasconselos, Puras Misturas, Estórias em Guimarães Rosa (São Paulo: Hucitec 1997). 57 Die zwei Tagebücher „A boiada 1“ und „A boiada 2“ befinden sich im „Arquivo João Guimarães Rosa“ im „Instituto de Estudos Brasileiros, Universidade de São Paulo“. Souto Ward zitiert im Anhang ihrer Studie zur Oralität in „Grande Sertão: Veredas” Aufzeichnungen Guimarães Rosas über das Leben der Viehtreiber, welche wahrscheinlich jenen Tagebüchern entnommen sind. Vgl. Teresinha Souto Ward, ‘Apêndice: Exemplos da amostra recolhida no trabalho de campo’, in O Discurso Oral em Grande Sertão: Veredas, dies. (São Paulo/Brasília: Duas Cidades/INL – Fundação Pró Memoria, 1984), p. 133-141. 54 55
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fentlicht und schon im Mai darauf Grande Sertão: Veredas folgen lässt. „[I]t is not known whether Guimarães Rosa worked simultaneously on these tales [„Corpo de Baile“] and on Grande Sertão: Veredas or whether he finished the first and then began the other.“58 Vor allem sein Roman macht ihn über die Landesgrenzen hinaus berühmt. Seine später erschienenen Erzählbände können an den Erfolg von Grande Sertão: Veredas nicht anschließen, festigen jedoch seine Position als einer der größten brasilianischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. 1964 nimmt Guimarães Rosa am lateinamerikanisch-deutschen Schriftstellertreffen in Westberlin teil. Ein Jahr später wählt ihn der in Genua gegründete Lateinamerikanische Schriftstellerverband zu seinem Vizepräsidenten. Diese Funktion legt er im Mai 1967 während eines Kongresses der lateinamerikanischen Schriftsteller in Mexiko wegen der Kritik der Vertreter Panamas und Cubas an der amerikanischen Regierung zurück. Am 19. November 1967 erliegt João Guimarães Rosa drei Tage nach seiner offiziellen Aufnahme in die „Academia Brasileira de Letras“, an seinem Schreibtisch während der Arbeit an einer Erzählung, den Folgen eines Herzinfarkts.59 Im Jornal da Tarde (São Paulo) erscheint am Tag darauf die Titelseite mit der Schlagzeile: „Morreu o maior escritor“60 Fast alle Nachrufe zitieren seine nur drei Tage zuvor in der Akademie ausgesprochenen Worte: „As pessoas não morrem, ficam encantadas.“61
2. João Guimarães Rosa und die deutsche Kultur 2.1. Guimarães Rosas Zeit als Vizekonsul in Hamburg Nach der erfolgreichen Absolvierung der Diplomatenakademie wird João Guimarães Rosa am 11. Juli 1934 zum „Cônsul de Terceira Classe“ ernannt, was den Beginn seiner diplomatischen Karriere bedeutet. Seine erste Mission ins Ausland führt ihn gleich nach Deutschland: Am 4. Mai 1938 kommt er mit dem Schiff „General Artigas“ in Bremerhaven an und wird am 5. Mai 1938 zum „Cônsul-Adjunto“ in Hamburg nominiert, von wo er am 16. Mai einen ersten Brief an seinen Vater nach Hause schickt. Bis zur Veröffentlichung seiner Tagebücher aus der Hamburger Zeit ist man auf die wenigen bereits erschienenen Briefe aus Deutschland angewiesen, um erahnen zu können, wie sich der brasilianische Autor und Diplomat in Nazi-Deutschland zurechtfand und inwieweit er Zeit und MöglichJon S. Vincent, ‘João Guimarães Rosa’, in Dictionary of Literary Biography, Volume 113: Modern LatinAmerican Fiction Writers, First Series (Detroit/London: Gale Research Co., 1992), pp.256-269 (p.258). 59 Dieser kurze biographische Abschnitt folgt vor allem: Sonia Van Dijck Lima, ‘Cronologia de vida e obra’, in Confluências: Trilhas de vida e de criação, pp.35-40; Günter Lorenz, Dialog mit Lateinamerika (Tübingen/Basel: Erdmann 1970), pp.483-485; Renard Perez, ‘Guimarães Rosa’, Revista de cultura brasileña, 21 (junio 1967), pp.100-106; Paulo Rónai, ‘Itinerario de João Guimarães Rosa’, Revista de cultura brasileña, 35 (Mayo 1973), pp.21-36; Luis Harss und Barbara Dohmann, ‘João Guimarães Rosa’, pp.137-172; Vilma Guimarães Rosa, ‘Guimarães Rosa meu pai’, Manchete, 843, (15 de Junho de 1968), pp.152-155; Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos; und Aufzeichnungen einer mehrteiligen Interviewserie mit der Tochter des Autors im Juni, August und September 2000 in London. 60 Nach: Martin Münchschwander, Grande Sertão: Veredas – Form und Figur (Köln: Dissertation 1972), p. 133. 61 João Guimarães Rosa, ‘O Verbo & o Logos – Discurso de Posse’, in Em Memória de João Guimarães Rosa (Rio de Janeiro/Brasília: José Olympio, 1968), pp.55-88 (p.87). 58
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keit hatte, die positivere Deutsche Kultur kennen zu lernen. In einem Gespräch mit Curt Meyer-Clason deutet er jedoch an, dass der Nationalsozialismus sein idealisiertes Deutschlandbild nicht zerstören hat können, für ihn bleibt die Hansestadt auch trotz des Kriegs eine der schönsten Städte der Welt: „dort lernte ich im Verlauf von vier Jahren Deutschland, das konkrete und abstrakte, kennen – die Leute, die Musik, das solid, das tief, die Kultur, die alles durchtränkt und durchdringt, die deutsche Wesensart und ihr fortschrittliches Denken.“62 Rosa geht in seiner Verehrung des Deutschtums sogar so weit, dass er meint, dass seine Bücher in erster Linie für Deutsche geschrieben wurden, „von Lesern nämlich, die in der Tat die befähigsten wären, alles in ihnen zu sehen.“63 Er begründet dies damit, dass der deutsche Leser ein entschiedenes, leidenschaftliches Gefühl für die Natur habe und dass er sich alle Augenblicke metaphysisch absichern müsse. In einem Brief an seinen Freund Paulo Dantas fasst Guimarães Rosa seine Zeit als Vizekonsul in Hamburg etwas lakonischer in einem Satz zusammen: „seguiu para Hamburgo, 1o posto: lá teve ano e pouco de paz e dois anos e tanto de guerra, bombardeios aéreos, o diabo; veio, na troca dos diplomatos [...].“64 Die Briefe, die Guimarães Rosa direkt aus Hamburg nach Brasilien geschrieben hatte, waren ausführlicher, wenn auch nicht immer ergiebiger. Trotzdem ist es für den heutigen Leser interessant zu sehen, wie der damalige Vizekonsul seine Hamburger Zeit an seine Familie vermittelte. Im nächsten Kapitel werden alle bisher veröffentlichten Briefe aus dem Zeitraum von 1939 bis 1942 zusammengefasst und kurz erläutert.
2.2.1. Briefe aus Hamburg In der folgenden Briefzusammenfassungen wird der Ort, in der Originalschreibweise von Guimarães Rosa, das Datum und der Empfänger vorangestellt:
Hamburg, 16. 05. 1938. An seinen Vater: Nach einem kurzen Abriss über das Leben an Bord der „General Artigas“ und dessen Reiseroute, beschreibt Guimarães Rosa seinen ersten Eindruck von Deutschland, im Besonderen von Hamburg. In den ersten zehn Tagen als Vizekonsul hatte er sehr viel zu tun, vor allem da der Konsul erkrankt war und er nicht nur dessen Arbeit teilweise übernehmen musste, sondern auch noch in seiner Freizeit als dessen Arzt bereitzustehen hatte. Trotzdem hatte er genug Zeit eine imagologisch interessante Studie über das Hamburg der späten 30er Jahre zu schreiben. Es scheinen sich in diesem Abschnitt des Briefes viele Stereotype Deutschlands zu bestätigen, während aber die Realität doch auch eine durchaus überraschende sein kann und alles erwartete in den Schatten stellt. Da es sich hierbei um eine der 62 63 64
Nach: Curt Meyer-Clason, ‘João Guimarães Rosa und die Deutsche Sprache’, p. 76. Ebd. João Guimarães Rosa in einem Brief an Paulo Dantas, Rio de Janeiro, am 19. 1. 1957, nach: Paulo Dantas, Sagarana emotiva. Cartas de J. Guimarães Rosa. (São Paulo: Duas Cidades, 1975), p. 54.
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längsten bisher veröffentlichten geschlossenen Stellen handelt, in denen der brasilianische Autor über seine Hamburger Zeit schreibt und die Biographie Vilma Guimarães Rosas in deutschsprachigen Ländern nicht leicht erhältlich ist, sei hier ein längerer Abschnitt aus diesem ersten Brief aus Hamburg zitiert: Quanto a Hamburgo, suas bellezas e sua alegria de vida são indiziveis! Mesmo eu, que já tinha lido dezenas de livros sobre Alemanha, que já convivi com allemães, que já tinha conversado, principalmente nas vesperas da viagem, com funccionarios do Ministerio vindos da terra germanica, mesmo eu, repito, não tinha uma idéia verdadeira do que é isto! E a minha imaginação, que não é das mais fracas, foi batida e humilhada: a Alemanha é qualquer coisa de formidavel! Belezas naturaes, ordem, limpeza, trabalho, vida, alegria. Principalmente, todos aqui se divertem. Ninguem se incommoda com os actos e as vestimentas dos demais. Ninguem receia o ridiculo. Em cada quarteirão ha 3, 4, 5 cabarets, casinos, salões de dansa, restaurantes com musica, etc. De varios preços, desde os frequentados por criadas de servir até os ultra-chics. Todos cantam, dansam (até em cima das mesas, em determinadas cervejarias bavaras), dirigem a palavra, amigavelmente, aos desconhecidos, estabelecendo a cordialidade e communicabilidade instantaneas. [...] Enfim, Hamburgo seria um paraiso, si não fôsse o clima: frio; humido, aspero, desigual, inconstante, terrivel; e o custo da vida, que é carissima, obrigando o estrangeiro a restringir muito o orçamento. Aqui usase capote e luvas constantemente. Ha capotes de inverno, de pelles; de primavera; de outomno; e até de verão. Estamos em Maio, que é considerado o mez mais bonito. Pois bem, até antes-de-hontem, estava eu de capote e dormindo com o aquecedor aberto, apezar dos enormes édredons. Practicamente, temos aqui um inverno de 7 mezes e, fóra disso, ainda chove quasi sempre. Já me esfrio todo, só de pensar que terei ainda de aguentar -18º (menos dezoito gráus)! Também os preços das cousas são tão altos que, quando a gente faz o calculo em mil réis, até se assusta. Afinal, nem tudo póde ser totalmente bom, e já me dou por feliz de conhecer a lingua, que, para outros collegas, consiste difficuldade invencivel e causa de dissabores sem conta.65
Dass in Deutschland bereits ein nationalsozialistisches Regime herrschte und das Land am Vorabend des Weltkrieges stand, wird in diesen Brief nicht erwähnt. Zu überraschend sind die unerwartete Lebensfreude und der ausgeprägte Individualismus der Stadtbevölkerung. Es ist dieser gelebte Individualismus ohne Angst vor der eigenen Lächerlichkeit noch heute einer der zentraleuropäischen Eigenschaften, die den brasilianischen Besuchern am ehesten auffallen. Das portugiesische „individualismo“ hat demzufolge auch keine positive Konnotation sondern ist vielmehr ein Synonym für „egoísmo“. 50 Jahre nach Guimarães Rosas Aufenthalt in Hamburg ist der brasilianische Schriftsteller João Ubaldo Ribeiro ein Jahr lang mit einem Stipendium des DAAD in Berlin. In dieser Zeit schreibt er Kolumnen für die „Frankfurter Rundschau“, in denen er seine Erfahrungen als Brasilianer in Berlin auf humorvolle Weise zum Besten gibt. Viele Beobachtungen darin ähneln sehr denen seines älteren Kollegen Guimarães Rosa. Besonders beeindruckt ihn die Umkehrung der Stereotype, des leidenschaftlichen und unzüchtigen Brasiliens und des keuschen und verklemmten Deutschlands. In Wirklichkeit erweist sich, dass Nacktheit in Deutschland als etwas völlig Normales gesehen werde, während öffentliche Nacktheit in Brasilien undenkbar wäre. Ubaldo Ribeiro erklärt seinem Sohn, „hier auf der Straße nackt zu sein, sei nicht dasselbe wie in Brasilien, hier sei das normal, dort sei es
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João Guimarães Rosa, Brief an seinen Vater vom 16. Mai 1938, nach: Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos, pp.172-177, (pp.174-75)
unanständig, die Leute hier legten sich eben gern ein bisschen in die Sonne und tauschten in aller Öffentlichkeit ein paar freundschaftliche Küsse aus.“66 Gleichzeitig beobachtet er aber auch die bekannte Korrektheit der Deutschen: „Schließlich sind die Deutschen organisiert, ein Schande, dass wir die Dinge nicht so gut planen können wie sie.“ 67 Natürlich ist aber auch, wie in Guimarães Rosas Brief, der deutsche Winter für einen Brasilianer etwas ganz Besonderes: „Und überhaupt haben wir in diesem Winter ein Wunder nach dem andern entdeckt. Wir sind Schlittschuh gelaufen, Schlitten gefahren, haben Schneemänner gebaut, unsere Erfahrungen mit langen Unterhosen ausgetauscht [...], wir haben gelernt, was Winter ist.“68 Hamburgo, 16. 05. 1938. An Vilma: Ein Aufruf an die fast siebenjährige Tochter doch bald schreiben zu lernen, um ihm von daheim berichten zu können.69 Hamburgo, 19. 11. 1938. An Tio Vicente: Guimarães Rosa war nur zwei Jahre jünger als sein Onkel Vicente, der selbst ein bekannter Kinderbuchautor und ein guter Freund seines Neffen und dessen Familie war. Nach ein paar Bemerkungen über Vicentes Arbeit in Brasilien und den Tod eines gemeinsamen Freundes berichtet Guimarães Rosa, wie schon im vorher zitierten Brief, über den dunklen, kalten, feuchten Hamburger Herbst und seiner Angst davor, dass es bald schon minus 18º haben würde. Stolz erzählt er davon, den Führerschein gemacht und sich daraufhin einen Mercedes-Benz gekauft zu haben. Bald hätte er auch vor, das Schlittschuhlaufen zu erlernen. Die einzige Anspielung auf die gespannte politische Situation im nationalsozialistischen Deutschland verpackt er in eine kleine Anekdote: „Alem dessas coisas, apprendi tambem, nos dias em que a situação internacional andou tensa, a servir-me da mascara-contra-gases; aliás, não é nada facil a gente lidar com as taes ‘focinho-de-porco’. Vou mandar uns retratos, gosadissimos.“70 Anschließend daran folgt eine Tirade gegen das unerträgliche deutsche Essen, das schlichtweg „intragavel“71 sei. Wahrscheinlich auf eine Frage seines Onkels antwortend, ob es in Deutschland Bücher gäbe, die ihn interessieren könnten, antwortet Guimarães Rosa, dass er noch nichts in diese Richtung gefunden hätte und begründet dies mit einer kurzen 66
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João Ubaldo Ribeiro, ‘Sexy Berlin’, Frankfurter Rundschau, 4. 7. 1990, nach: ders., Ein Brasilianer in Berlin, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ray-Güde Mertin (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994), pp.17-21 (pp.20-21). João Ubaldo Ribeiro, ‘Organisiertes Leben’, Frankfurter Rundschau, 20. 10. 1990, nach: ebd., pp.32-36. (p.36). João Ubaldo Ribeiro, ‘Der Winter, unbekannt’, Frankfurter Rundschau, 6. 4. 1991, nach: ebd., pp.52-56. (p.55). Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos, p. 251. João Guimarães Rosa, Brief an seinen Onkel Vicente vom 19. November 1938, nach: Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos, pp.239-242 (p.241). Ein Abdruck dieses Briefes befindet sich ebenso (mit kleinen orthographischen Variationen) in: Vicente Guimarães, Joãozito, pp.154-157. Ebd.
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Charakterisierung des deutschen Volkes: „este povo é pobre, conservador e quasi que só se interessa por carros blindados e aviões de bombardeio.“72 Woraufhin der Brief mit vielen Grüßen schließt. Hamburg, 26. 05. 1939. An seinen Bruder: Auch der vierte veröffentlichte Brief aus Hamburg in die ferne brasilianische Heimat ist, im Anbetracht der prekären historischen Situation, von erstaunlicher Unbekümmertheit. Er beschränkt sich auf generelle Beschreibungen des Klimas und des Essens. Trotzdem sei auch hier ein größerer Abschnitt zitiert, um Guimarães Rosas Eindrücke vom Frühling 1939 in aller Unschuld nachvollziehen zu können: Parto, agorinha mesmo, para Berlim, onde vou passar o „week-end“. São 5 horas de auto, eu na direção, bem entendido, porque já não estou mais muito “barbeiro” no volante. Estamos em plena primavéra, aliás maravilhosa. Ha luz do dia até ás 10 horas da noite, e ás 2 da madrugada, já o sol si as cortinas não estiverem fechadas, começa a incomodar a gente. As cegonhas, que tinham passado o inverno nos paízes do Mediterraneo – no Egypto, na Syria, na Libya -, já regressaram aos seus velhos ninhos, installados junto ás chaminés dos chalets. O rouxinol canta, a noite inteira, nos galhos dos castanheiros-bravos, onde esplendem, em candelabros minúsculos, os cachos das flôres alvissimas. E o povo se alegra e enche as ruas, os parques, os cafés ao ar livre, todos os lugares, enfim. É um não-acabar de belezas. As noites ainda são frias, e, principalmente, húmidas. E a unica coisa desagradavel, é a gente saber que a bôa estação é curta demais. Na Páscoa, fui á Tchecoslovaquia, atravessando a Allemanha de norte a sul, para isso. Infelizmente, não tenho passado bem ultimamente, com uma inflamação no ouvido. Estou em tratamento com um especialista. No mais, tudo bem. Depois que se abriu aqui um restaurante italiano, libertei-me da detestavel comida da terra, e devóro spaghetti e macarroni, diariamente, em dóses tremendas. Tanto, que já estou engordando demais, apesar de trabalhar demasiado no Consulado.73
Fast hat man den Eindruck, es handelt sich hier um einen Brief an ein Kind, was auch das vollständige Fehlen jeglicher Bemerkung zur politischen Lage erklären würde. Da João Guimarães Rosa das älteste von sechs Geschwistern ist, und der an „Caro irmão“ adressierte Brief mit den Worten, „[e]screva-me, contando como vão os seus estudos“ 74 abschließt, scheint es sich bei diesem Bericht aus Hamburg tatsächlich um einen Brief an ein Schulkind zu handeln. Es ist aber interessant, dass Guimarães Rosa Ostern 1939 in der Tschechoslowakei war,75 die im März 1939 von Deutschland besetzt worden war. Spätestens zu jenem Zeitpunkt war der imperialistische Charakter der deutschen Außenpolitik nicht mehr zu leugnen. Da es sich bei Guimarães Rosas Reise in die Tschechoslowakei wahrscheinlich nicht nur um einen privaten Osterausflug, sondern auch um eine diplomatische Mission gehandelt hat, ist anzunehmen, dass er zu den Inhalten der Reise mit Schweigepflicht belegt wurde.
Ebd., p. 242. João Guimarães Rosa, Brief an seinen Bruder vom 26. Mai 1939, nach: Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos, pp.177-178 (pp.177-178) 74 Ebd., p. 178. 75 Der Ostersonntag 1939 fiel auf den 9. April. 72 73
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Hamburgo, 1938-39. An Tio Vicente: Guimarães Rosa schreibt seinem Onkel über dessen Kinderbuch „O Pequeno Pedestre“ und verspricht ihm, in den Buchhandlungen Hamburgs nach interessanter Kinderliteratur zu suchen. Dann folgt der unvermeidbare Hinweis auf den so exotischen norddeutschen Winter: „E, também, para amenizar os rigores do calor que vocês devem estar sentindo aí, uma vista do inverno hamburguês, que, ora nos castiga com bárbaras quedas termométricas, ora nos deslumbra com a indescritível beleza da neve e dos canais e lagos gelados.“76 Hamburgo, 03. 06. 1939. An Tio Vicente: Da in Deutschland der Tag der Verwandten ist, schreibt Guimarães Rosa an seinen Onkel und berichtet, was er durch andere Briefe über andere Verwandten weiß und fragt nach mehr Informationen. Er entschuldigt sich dafür, die versprochenen Bücher noch nicht geschickt zu haben, da er in Hamburg nichts Interessantes hat finden können. Er hofft bald nach Leipzig zu fahren, wo es mehr und bessere Buchhandlungen gäbe. Vielleicht würde er aber in den Ferien sogar nach London oder Paris kommen, wo er sicher interessantes Material würde entdecken können. Endlich gibt Guimarães Rosa einen Grund an, warum er in seinen Briefen gar so harmlos schreibt, dies gebiete ihm die Schweigepflicht, der er als Vizekonsul unterworfen sei: „Você me pede que lhe fale da minha situação como Cônsul. Mas a matéria referente ao assunto é, nas coisas interessantes, eminentemente reservada, secreta mesmo, de tal maneira que não me arriscaria a dizer a mínima palavra a respeito numa carta.“77 Er schränkt aber ein, dass es ohnehin nichts Aufregendes zu berichten gäbe. „Também, sucessos notáveis não tem havido, daqueles que se prestam à retumbância.“78 Anstatt über Politik schreibt er demzufolge über seinen Ausflug in die Tschechoslowakei, den er in seinem Mercedes Benz zu Ostern gemacht hätte. Am Heimweg fuhr er in Weimar vorbei, um dort die Häuser von Goethe und Schiller zu besichtigen. Aber auch dieses für den Schriftsteller im Vizekonsul so großartige Ereignis wird in dessen Nacherzählung auf einen harmlosen Satz beschränkt: „Em Weimar, visitei a casa de Goethe e a casa de Schiller, conservadas tal e qual eram por ocasião da vida dos dois; foi uma das minhas grandes emoções nesta terra, fazendo-me enorme bem.“79 Hamburgo, 09. 08. 1939. An Tio Vicente: Endlich hat Guimarães Rosa ein Kinderbuch gefunden, das seinen Onkel interessieren könnte. Es handelt sich dabei um das Buch „Du bist sofort im Bilde“, das er folgendermaßen beschreibt: João Guimarães Rosa, Brief an seinen Onkel Vicente, datiert 1938-3, nach: Vicente Guimarães, Joãozito, pp.157-158 (p.158). 77 João Guimarães Rosa, Brief an seinen Onkel Vicente, datiert 3. Juni 1939, nach: Vicente Guimarães, Joãozito, pp.158-164 (p.161). 78 Ebd. 79 Ebd., p. 163. 76
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Como você verá, contém o livro, em ilustrações e texto, uma súmula perfeita da organização administrativa, social, industrial, etc., do Reich alemão. Bandeiras; insígnas militares; ramificações da polícia; atribuições dos diferentes ministérios; educação da mocidade; mecanismo de uma ação de penhora, desde a cobrança inicial; impostos; geografia; história da Alemanha ... há de tudo, enfim.80
Er rät seinem Onkel, ein ähnliches pädagogisches Buch über sein Heimatland für brasilianische Kinder zu schreiben, mit einem geschichtlichen Überblick, Statistik und Biographien berühmter Söhne und Töchter. Es ist jedoch anscheinend nie zu einem ähnlichen Buchprojekt von Vicente Guimarães, der als „Vovô Felício“ ein bekannter Kinderbuchautor geworden ist, gekommen. Hamburgo, 13. 03. 1940. An Vilma: Guimarães Rosa erkundigt sich, nachdem er vom beginnenden Frühling erzählt hat, genau nach den Fortschritten in der Schule und berichtet, dass er bald im „WittembergerFährhaus“ Tee trinken würde, wo es im Garten zwei zahme Seehunde geben würde.81 Hamburgo, 19. 02.1941. An Agnes: Ein Brief an die siebenjährige Tochter Agnes, ob sie seine Geburtstagskarte bekommen hätte und eine Deklaration wie sehr er sie vermisse.82 Lisboa, Juni 1941. An Vilma: Guimarães Rosa sendet seiner Tochter Glückwünsche zum 10. Geburtstag. Er befindet sich gerade in diplomatischer Mission in Lissabon, was er Vilma in kurzen Worten berichtet: „Eu vim aquí como correio diplomático da Embaixada nossa em Berlim, e volto, no dia 7, de avião. Voarei até Madrid, onde passarei uma tarde e uma noite, e depois pégo outro avião, para Berlim.“83 Es gibt von dieser Dienstreise des brasilianischen Vizekonsuls von Hamburg jedoch auch noch ein ausführlicheres Dokument: Heloísa Vilhena de Araújo legt im Anhang zu ihrem Essay über Guimarães Rosa als Diplomat dessen elfseitigen Bericht vom 13. Juni 1941 an den brasilianischen Botschafter in Berlin über jene Reise bei. Darin beschreibt er die Eindrücke, die er von der politischen und ökonomischen Situation in Portugal und Spanien gewonnen hat: Die beiden Länder der iberischen Halbinsel [p]racticam uma política de recíproca ajuda, e cultivam uma amizade compensadora, realizando, sem atritos, a osmose adaptativa, entre dois regime, autoriatários mas de diferente colorido totalitário conforma a pitoresca disposição, no mapa, das ditaduras européias, que se escalonam, de leste para oeste, numa seriação decrescente de radicalismo.84 80 81 82 83 84
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João Guimarães Rosa, Brief an seinen Onkel Vicente, datiert 9. August 1939, nach: Vicente Guimarães, Joãozito, pp.164-165 (p.165). Ebd., p. 248–252. Ebd., p. 252–254. Ebd., p. 256. João Guimarães Rosa, ‘Memorandum’, nach: Heloísa Vilhena de Araújo, Guimarães Rosa: Diplomata, (p.50).
Die politische Situation in Portugal erscheint ihm ruhig und stabil, auch wenn die Bevölkerung durch die lange Dauer des Krieges ökonomisch schon zu leiden beginne. Die Möglichkeit einer deutschen Invasion in Portugal beunruhigt viele Menschen, auch wenn dies von vielen noch immer lieber gesehen würde als von den „Gangsters americanos“ 85 beherrscht zu werden. Über das Deutschlandbild der Portugiesen berichtet er folgendermaßen: Em Portugal, o povo tem uma opinão um pouco exagerada dos resulados dos bombardeios da RAF86 em território alemão, e há também um puco de axagero na idéia que ali se faz a respeito das restrições alimentares neste país. Quase ninguém mais se interessa pelo “caso Hess”, o qual, pelo sagrado mutismo que ultimamente tem merecido, tanto da parte da Propaganda inglesa como da alemã, já vai sendo relegado ao limbo dos grandes mistérios históricos.87
Guimarães Rosa nimmt seine Arbeit als Diplomat eines neutralen Landes offensichtlich sehr ernst und schreibt demzufolge auch einen sehr neutralen Bericht, in dem er mit keinem Wort auf etwaige Gräuel in einer der erwähnten Diktaturen zu sprechen kommt. Hält er sich in jenem Bericht an seinen Vorgesetzen, dem Botschafter Brasiliens in Berlin wahrscheinlich aus diplomatischen Gründen zurück und vermeidet jede private Meinung zum herrschenden Krieg, so versucht er in den Briefen an seine Töchter die Folgen des Krieges aus väterlichen Motiven herunterzuspielen. Anfang Mai 1941 wurde das brasilianische Konsulat in Hamburg durch einen Luftangriff schwer beschädigt. Wie das brasilianische „Journal do Commercio“ in seiner Ausgabe vom 14. Mai 1941 berichtet, dringen der Konsul, der Vize-Konsul und andere Angestellten trotz der großen Gefahr weiterer Bomben in das zerstörte Haus ein, um wertvolle diplomatische Dokumente und das Archiv des Konsulats zu retten.88 In seinem Brief an Vilma klingt dies bewusst unaufgeregt: „Como Vocês já devem ter lido nos jornais, caíu uma bomba no nosso Consulado, que ficou bem estragadinho. Mas nada sofremos, graças a Deus.“89 Beruhigend fügt er hinzu: „Tudo irá bem, espero, e Você não precisa de se assustar por causa do Papai.“90 Aus den Briefen, die der spätere Autor von “Grande Sertão: Veredas” während seines Aufenthalts in Hamburg nach Brasilien geschickt hat, erfährt man also nur sehr wenig über seine Einstellung zum Krieg, dessen Augenzeuge er zufälligerweise geworden war. Es bleibt die Hoffnung, dass die von Georg Otte geplante Edition der Tagebücher Guimarães Rosas aus jener Zeit mehr Einblick in die Gedankenwelt des Autors geben. Auffällig ist auch die vollständige Absenz jeglicher Andeutung von literarischer Produktion oder auch nur Lektüre oder Gedanken zur Literatur. Auch hier bleibt der Verweis auf die Tagebücher.
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Ebd., p. 54. Royal Air Force. Ebd., p. 57f. Nach: Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos, p. 328f. Ebd., p. 256. Ebd.
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2.1.2. João Guimarães Rosa und der Nationalsozialismus Als Guimarães Rosa nach dem Krieg nach Europa zurückkehrt, braucht er keine Zensur eines autoritären Regimes mehr zu fürchten. Trotzdem bleiben seine politischen Bemerkungen weiterhin denkbar kurz. In einem Brief aus Paris an seine beiden Töchter, beschreibt er in ein paar Sätzen eine kurze Fahrt, die er durch das schwer bombardierte Nachkriegsbayern gemacht hat. Trocken fügt er hinzu: „Em Nuremberg, estive na sala do julgamento dos criminosos de guerra nazistas.“91 An dieser Stelle bleibt es bei dieser Feststellung, eine genauere Erzählung der dort erlebten Dinge folgte wahrscheinlich mündlich. Wieder in Südamerika, scheint Guimarães Rosa seine Hamburger Zeit, folgt man seinen bisher veröffentlichten Briefen, fast schon wieder vergessen zu haben. In einem einzigen Satz erwähnt er die deutsche Stadt in einem Brief aus Botogá: „A vida é que é cara, caríssima, pelo menos 6 vêzes mais cara do que em Hamburgo ... Se é que em Hamburgo agora ainda haverá vida ...“92 Dies beweist nicht nur die auffällige Wirtschaftsstärke Südamerikas während des Zweiten Weltkriegs, sondern auch, dass er durchaus den härter werdenden Krieg verfolgt hat und die sich für das nationalsozialistische Deutschland so verheerend auswirkende Kriegswende 1942/43 schon erahnt hat. Aus den wenigen veröffentlichten Briefen Guimarães Rosas kann man kaum eine politische Stellungnahme lesen, sei sie für oder gegen das in Deutschland herrschende Regime. Zu sehr war der Schriftsteller Diplomat seines Landes, das sich bis 1942 neutral verhielt und dann dem Druck der Vereinigten Staaten nachgab und Deutschland den Krieg erklärte.93 In Rio de Janeiro erinnert heute am Strand von Flamengo ein großes Denkmal in Form eines römischen Zweiers (II) an die brasilianischen Gefallenen des Zweiten Weltkriegs. Guimarães Rosa hielt sich in Hamburg als Diplomat politisch sehr zurück, was durchaus auch seiner Auffassung als Schriftsteller, dessen Aufgabe viel wichtiger als die Politik sei,
João Guimarães Rosa, Brief an Vilma und Agnes, Paris, 3. September 1946, nach: ebd., pp.265-269 (p.266). Ebd.: Brief an Tio Vicente, datiert Bogotá, 21. 09. 1942, nach: Vicente Guimarães, Joãozito, pp.166-168 (p.166). 93 Ursprünglich war sowohl das offizielle Brasilien unter dem seit 1930 herrschenden Diktator Getúlio Vargas als auch ein Großteil der Bevölkerung nach Kriegsbeginn in Europa auf Seiten der Achsenmächte. Dies könnte seine Ursache unter anderem auch unter den ca. fünf Millionen deutschsprachigen Siedlern und mehr als 4 Millionen Bürger italienischer Abstammung haben. Darüber hinaus war Vargas ein erklärter Befürworter und Freund der Politik Mussolinis und Deutschland der wichtigste Handelspartner Brasiliens. Doch die USA bedrängten Brasilien immer mehr, sich auf die Seite der Alliierten zu stellen, vor allem, da Brasilien als Basis für die amerikanische Luftwaffe im Krieg gegen Rommel in Afrika sehr wichtig war. Kurz vor Kriegseintritt Brasiliens wurden rund zwanzig brasilianische Handelsschiffe von deutschen U-Booten versenkt, was die offizielle Kriegserklärung Brasiliens an das Deutsche Reich am 31. August 1942 bedeutete. Deutschland leugnet jedoch bis heute die Entsendung jener U-Boote, was die Vermutung offen lässt, dass hinter der Attacke in Wahrheit amerikanische U-Boote standen, die im Auftrag der US-Amerikanischen Regierung den Kriegswillen Brasiliens gegen Nazideutschland forcieren wollten. Brasilien entsendete etwa 7000 Soldaten der so genannten „Força Expedicionária Brasileira“ zur Befreiung Italiens, 400 davon sollten in den Schlachten fallen. (Vgl. Karl Ilg, Heimat Südamerika. Leistung und Schicksal deutschsprachiger Siedler (Innsbruck: Tyrolia, 1982); Jürgen Müller, Nationalsozialismus in Lateinamerika. Die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko (Stuttgart: Heinz, 1997); Nicolas Forster, Deutsche in den USA und Brasilien während des Zweiten Weltkriegs (Wien: Seminararbeit, Institut für Geschichte der Universität Wien, 2001). 91 92
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entsprach. „[A] política nos toma um tempo valioso.“94 1965 sollte er in Genua als Vizepräsident des neugegründeten „Lateinamerikanischen Schrifstellerverbandes“ für einen kleinen Skandal sorgen, weil er den Tagungssaal verließ, als die Rede auf die politischen und sozialen Verhältnisse in Lateinamerika und den möglichen Beitrag des Schriftstellers zur Lösung dieser Probleme kam. Er hätte dies jedoch nicht als Protest gemeint, sondern ist aus reiner Langeweile gegangen: „Saí simplesmente porque achei monótono.“95 In einem Vortrag vor Studenten vertrat er noch kurz vor seinem Tod eine ähnliche Einstellung: „Ideologien sind persönliche Probleme und haben keinen Platz unter meinen Ideen.“96 Wenn die Politik in ihrer Ideologie jedoch unmenschlich wird, dann stellt sich der Humanist Guimarães Rosa sehr wohl gegen sie. Günter Lorenz spricht den Schriftsteller darauf an, dass dieser angeblich in Hamburg vielen Juden gerettet hat: „Sabe-se também que como diplomata e exercendo as funções de cônsul geral do Brasil em Hamburgo, você provocou Hitler fora das normas da diplomacia, e salvou a vida de muitos judeus [...].97 Der Schriftsteller geht darauf jedoch nicht ein, sondern fährt in einer Zusammenstellung von Motiven, die seine innere Welt geformt haben, fort: „Tudo isso é verdade, mas não se esqueça de meus cavalos e de minhas vacas. As vacas e os cavalos são seres maravilhosos.“98 Immerhin bestätigt er jedoch den Wahrheitsgehalt der von Vilma Guimarães Rosa folgendermaßen zusammengefassten Episode: „O jovem cônsul brasileiro, em seus relatórios, descria. Protegia aqueles que desejavam emigrar para o Brasil, judeus e não-judeus. Sentia uma piedade enorme dos persegueidos.“99 Auch Werner Rosenfeld weist darauf hin, dass sich Guimarães Rosa in seiner Funktion als Vizekonsul „für die vom Naziregime verfolgten Juden einsetzt.“100 Er erwähnt in seinem Artikel aber auch Guimarães Rosas kleine in Ich-Form geschriebenen Erzählung „O mau humor de Wotan“, die erstmals in der brasilianischen Tageszeitung „Correiro da Manhã“ vom 29. Februar 1948 erschien. Sie wurde in die 1970 posthum unter dem Titel „Ave, Palavra“ erschienene Sammlung von Reisenotizen, Artikeln und Erzählungen aufgenommen. In „O mau humor de Wotan“ berichtet er von einem jungen Ehepaar, mit dem er in Hamburg befreundet war. Der den nationalsozialistischen Ideen sehr ablehnend gegenüberstehende Hans-Helmut Heubel, „o menos belicoso dos homens“,101 hat den Frankreichfeldzug mitgemacht und sich für französische Weine und Lebensart begeistert. In einer Abendgesellschaft unter Freunden antwortet er, über seine Ansicht zum Krieg befragt: „Da guerra, vi apenas cavalos e cachorros, mortos, felizmente [...].“102 Doch diese leichtfertige Aussage wird ihm zum Verhängnis. Zwei der „Freunde“ der Abendgesellschaft erweisen sich als äußerst regimetreu und zeigen Hans-Helmut an. Dieser wird noch einmal eingezogen und zwar zu der Kompanie, die der Hauptmann, der ihn denunziert hatte, befehligt. Da der junge Lebemann Hans-Helmut offensichtlicher Weise zum Heeresdienst völlig ungeeignet ist, 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Günter Lorenz, Diálogo com Guimarães Rosa, p. 27. Ebd. Nach: Curt Meyer-Clason, Ilha Grande. Essay. (Weitra: Verlag der Provinz, 1998), p. 23. Ebd., p. 32. Ebd. Vilma Guimarães Rosa, Relembramentos, p. 62. Werner Rosenfeld, Guimarães Rosa und die deutsche Kultur, p. 22. João Guimarães Rosa, ‘Ave, Palavra’, in: ders.: Ficção Completa, pp.915-1188 (p.917). Ebd., p. 920.
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fällt er schon am ersten Tag an der Front. Die Erzählung endet mit den Sätzen: „Ninguém fale, porém, que ele mais não existe, nem que seja inútil hipótese sua concepção do destino e da vida. Ou que um dia não venham a ser bemaventurados os mansos, porque eles herdarão a terra“.103 Auch in dieser kleinen Erzählung richtet Guimarães Rosa nicht über die Nazidiktatur, doch es wird offensichtlich, dass seine Sympathien auf Seiten des jungen Hans-Helmut liegen. Die Objektivität der Schilderung kann ihm nicht als Mangel an Engagement vorgeworfen werden, denn die letzten Sätze öffnen plötzlich ein Tor in eine andere, wohl bessere Welt. In dieser sonst so realistischen Erzählung schafft es der Autor durch diese abschließenden Sätze, plötzlich ein phantastisches Element einbrechen zu lassen, das sogar einer so schweren Thematik wie den Zweiten Weltkrieg eine schwebende Ungewissheit zu geben vermag, indem die Erzählung einfach die Grenzen unseres Lebens nicht zu akzeptieren bereit ist. Die strenge und hierarchische Welt des Nationalsozialismus wird plötzlich in einer scheinbar unerklärbaren Verbindung mit dem transzendenten Reich der Religion verbunden, wodurch der Leser unschlüssig zurückbleibt, was ziemlich genau der etwas engen Gattungsdefinition des Phantastischen bei Todorov entspricht. 104 Diese kurze Erzählung Guimarães Rosas bestätigt auch Michael Rössners Überzeugung, dass vor allem im nach Grande Sertão: Veredas entstandenen Werk des Autors „die Nähe zur phantastischen Literatur [...] vollends unbestreitbar“105 sei. Guimarães Rosa sei bisher etwas voreilig unter die brasilianische Abart des magischen Realismus eingeordnet worden, was wohl auch daran liege, dass „die meisten Autoren der phantastischen Literatur ihre Geschichten in Städten der historisch klar definierten Gegenwart spielen lassen“, 106 das Werk Guimarães Rosas dagegen jedoch gewöhnlich so wie die Geschichten des lateinamerikanischen magischen Realismus in einem unbestimmten Raum oft unter einer archaischen Landbevölkerung angesiedelt ist. Die Protagonisten in „O mau humor de Wotan“ sind wahrscheinlich tatsächliche Freunde des Autors, der diese in einem klar definierten Raum zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt auftreten lässt. Durch diese realitätsnahe Beschreibung gewinnt der Leser den Eindruck einen persönlichen Bericht aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu lesen, erst die letzten Sätze konfrontieren ihn dann plötzlich mit einer transzendenten Welt, die stark mit der zuvor beschriebenen, grausamen und ungerechten Realität kontrastiert. Diese phantastische Wendung könnte auch als Guimarães Rosas Stellungnahme zum Nationalsozialismus gelesen werden, dass die pazifistische Einstellung seines Freundes auch über dessen Tod hinaus Wirkung habe und zum Sieg über den Nationalsozialismus beigetragen hat. Hans-Helmut fragt in der kurzen Erzählung einmal den Erzähler dieser: „Sulamericano, você deseja a vitória dos países conservadores. Mas, nós, alemães, mesmo
103 Ebd., p. 925. 104 Vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, aus dem Französischen von Karin Kersten,
Senta Metz und Caroline Neubaur (Frankfurt am Main: Fischer, 1992), vor allem: p. 25-39. 105 Michael Rössner, ‘„Literatura fantástica“ in Brasilien? Die phantastische Kurzerzählung bei João Guimarães
Rosa’, in: Canticum Ibericum. Neuere spanische, portugiesische und lateinamerikanische Literatur im Spiegel von Interpretation und Übersetzung. Georg Rudolf Lind zum Gedenken, hg. von Erna Pfeiffer und Hugo Kubarth (Frankfurt am Main: Vervuert, 1991), p. 244-256 (p.246). 106 Ebd., p. 248.
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padecendo o Nazismo, como podemos querer a derrota?“107 Borges gibt darauf an anderer Stelle die Antwort: „Ser nazi [...] es, a la larga, una imposibilidad mental y moral. [...] Hitler quiere ser derrotado.“108
2.2. Guimarães Rosa und der Verlag Kiepenheuer & Witsch Das deutsche Außenministerium lud 1962 eine Gruppe von lateinamerikanischen Schriftstellern zu einer Deutschlandreise ein. Guimarães Rosa war einer davon. Auf der Frankfurter Buchmesse kam es zu einem Treffen zwischen ihm und dem Verleger Joseph Caspar Witsch, der sich von Anfang an vom brasilianischen Autor sehr beeindruckt zeigte. So wurde ein längeres und intensiveres Treffen in Wiesbaden organisiert, das ein paar Tage später stattfand. Guimarães Rosa erzählte dem deutschen Verleger von seiner Zeit als Konsul in Hamburg und von seiner großen Liebe zur deutschen Kultur. Durch diese erwartete er sehnlichst eine Art Wiedergeburt seines Werkes in Form der deutschen Übersetzung. Ohne je einen Satz von Guimarães Rosa gelesen zu haben, entschloss sich Dr. Witsch, auf Grund der ihn faszinierenden Persönlichkeit des Autors und dessen Erzählung von seinem Roman Grande Sertão: Veredas, dessen Werk zu verlegen. Er schloss jedoch nicht nur einen Vertrag über diesen Roman ab, sondern bereitete gleich einen Generalvertrag vor, das heißt, eine Garantie, alle Werke des Autors auf deutsch zu verlegen.109 Eine Verpflichtung, die der Kiepenheuer & Witsch Verlag beinahe erfüllte, nur der posthum erschienene Band „Ave, palavra“ und der erst 1997 auf Portugiesisch erschienene Gedichtsband „Magma“ erschienen (noch) nicht auf deutsch. Curt Meyer-Clason hat „Magma“ übersetzt und dem Verlag auch angeboten, doch Reinhold Neven Du Mont, seit 1969 Verlagsleiter von Kiepenheuer & Witsch, fand sich nicht bereit, die frühen Gedichte des brasilianischen Autors zu publizieren.110 Nachdem sich der Autor und sein deutscher Verleger auf Anhieb so gut verstanden, lag es jetzt nur mehr am Übersetzer, das Projekt, Guimarães Rosa auf Deutsch erscheinen zu lassen, zu verwirklichen. Mit Curt Meyer-Clason stand der ideale Übersetzer von Anfang an fest, denn dieser hatte schon in einem Brief von 23. Jänner 1958 Guimarães Rosa über sein Interesse, dessen Werk zu übersetzen, informiert und um Übersendung der in Europa nicht erhältlichen Bücher gefragt. Im Februar des folgenden Jahres bekam Meyer-Clason die Bücher und einen Brief, der Rosas allergrößtes Interesse an einer deutschen Übersetzung bekundet. Schon in diesem ersten Brief schreibt der brasilianische Autor, wie überzeugt er von der Wichtigkeit einer deutschen Version seines Werks ist: „A tradução e publicação em alemão me entusiasma, por sua alta significação cultural, e porque julgo esse
107 João Guimarães Rosa, ‘Ave, Palavra’, p. 920. 108 Jorge Luis Borges, ‘Anotación al 23 de agosto de 1944’, in Obras Completas, 2, (Barcelona: Emecé, 1989), p.
105-106 (p.106). 109 Nach einer Rede von Joseph C. Witsch über João Guimarães Rosa. Aus dem Historischen Archiv der Stadt
Köln, ohne Quellenangabe und Jahr, wahrscheinlich 1964. 110 Nach einem persönlichen Telefonat mit Curt Meyer-Clason vom 20. Juni 2001.
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idioma o mais apto a captar e refletir todas as nuances da língua e do pensamento em que tentei vazar os meus livros.”111 Der Kontakt zwischen Curt Meyer-Clason und João Guimarães Rosa wurde durch den brasilianischen Konsul in München, Frank Henri Mesquita de Teixeira hergestellt, der dem Übersetzer vorschlug, den als schwierige Texte produzierenden bekannten Brasilianer zu kontaktieren.112 Bei der Realisierung einer deutschen Version des Werkes des brasilianischen Autors zeigte sich sehr bald, dass sich die fast magische Beziehung zwischen Guimarães Rosa und Joseph Witsch in der Harmonie zwischen Autor und Übersetzer sogar noch steigerte. Schon nach den ersten Leseproben stand fest, dass die deutsche Übersetzung das Maß für alle folgenden Übertragungen werden würde und dass Curt Meyer-Clason dem Autor nahezu gleichwertige Arbeit leistete. Die offensichtlich kongeniale deutsche Version des Werkes von Guimarães Rosa verlangte nach einer Sonderbehandlung des Übersetzers, der diese vom Verlag auch zugestanden bekam. Die Genese von Guimarães Rosas deutschsprachiger Edition ist in einmaliger Weise im Briefwechsel, den er mit dem Kiepenheuer & Witsch Verlag führte, nachvollziehbar. Der Verlag hat mir freundlicher Weise den Briefwechsel zwischen Guimarães Rosa, seiner Familie und Dr. Joseph C. Witsch, beziehungsweise dem Lektorat des Verlages zur Verfügung gestellt.113 Da diese Briefe bis jetzt unveröffentlicht waren und einen sehr wertvollen Einblick in die entstehende Rezeption eines Werkes liefern, sind sie im Anhang dieser Arbeit vollständig (soweit erhalten) abgedruckt. Es handelt sich um 69 Briefe, einige davon sind unvollständig, andere fehlen offensichtlich. Dieser umfangreiche Briefwechsel zwischen Guimarães Rosa, seinen Erben und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch gibt einen sehr schönen Einblick, wie es möglich ist, einen zuerst noch unbekannten Autor in einen fremden Kulturraum einzuführen. Durch die Briefe kann man an der positiven Stimmung im deutschen Verlagshaus, das großen Anteil am Boom der lateinamerikanischen Literatur im deutschsprachigen Raum hatte, teilhaben. Deutlich spürt man die Begeisterung des Projekts „wir machen jetzt Lateinamerika auf deutsch“, das vor allem vom Verlagsleiter Dr. Witsch selbst getragen wurde. Dessen Loyalität zu Guimarães Rosa geht sogar so weit, dass er sowohl die Lektorin Alexandra von Miquel als auch den Autor selbst überstimmt und beschließt, dass „Corps de Ballet“, wie ursprünglich von Guimarães Rosa erwünscht, in nur einem Band erscheinen soll, obwohl sich Rosa mit der leichter verkaufbaren zweibändigen Version seines Romanzyklus leicht anfreunden hatte können (vgl. Brief vom 18. 5. 1965). Wie der Autor überhaupt immer auf die Vorschläge des Verlags eingeht, seien es Titeländerungen oder die Reihenfolge der Veröffentlichungen. Guimarães Rosa scheint sich über den offensichtlichen Vermittlungs111 João Guimarães Rosa, Carta de 18. 2. 1959, nach: João Guimarães Rosa, Correspondência com seu tradutor
alemão Curt Meyer-Clason, hg. von Maria Apparecida Faria Marcondes Bussolotti (Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 2003), pp. 68-70 (p.70). 112 Curt Meyer-Clason, Ilha Grande, p. 16; ebenso: Carl-Wilhelm Macke, ‘Die Übersetzung der Fremde. Ein Gespräch mit Curt-Meyer Clason über lateinamerikanische Literatur’, Frankfurter Rundschau, 8. Oktober 1994. 113 An dieser Stelle sei besonders Marco Verhülsdonk vom Lektorat des Verlags Kiepenheuer & Witsch gedankt, der sich in ungemein liebenswürdiger Art dafür einsetzte, dass der Briefwechsel kopiert und mir zur Verfügung gestellt wurde. Danke.
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willen des Verlags zu freuen und gesteht ihm zu, die Gesetze des deutschen Marktes besser zu kennen. Sogar der Kürzung seines Honorars stimmt er ohne weiteres zu, was notwendig wurde, da Curt Meyer-Clason für seine Übersetzung ein so großes Honorar herausgehandelt hat, wie noch nie ein Übersetzer in Deutschland vor ihm. Meyer-Clason ist der eigentliche Star dieses Briefwechsels, ihm wird nie widersprochen und alle seine Wünsche werden berücksichtigt. Sowohl der Autor als auch der Verlag sind überzeugt, in ihm den geeigneten und kongenialen Übersetzer gefunden zu haben, noch bevor er eigentlich zu übersetzen begonnen hatte (vgl. z. B. die Briefe vom 7. 12. 1963 und 16. 1. 1964). Guimarães Rosas sehr bemühtes aber doch unsicheres Deutsch (z. B. im Brief vom 12. 11. 1964) zeigt zwar von seiner Liebe für den deutschen Kulturraum, lässt jedoch den Verdacht aufkommen, dass sein so überschwängliches Lob der deutschen Übersetzung vielleicht doch mehr von persönlicher Sympathie zu Meyer-Clason als von einer tiefen Sprachkenntnis getragen wurde. Auffällig ist ebenso, dass seine zweite Frau Aracy anscheinend zweisprachig aufgewachsen ist und hervorragend Deutsch kann. Nach den berührenden Briefen über den Tod von zuerst Dr. Witsch und dann Guimarães Rosa beginnt sofort der ernüchternde Kampf um die Rechte, den Vilma, die erste Tochter des Autors, für sich und ihre Schwester Agnes gewinnen kann. Beide sind auch heute noch die Inhaberinnen der Autorenrechte. Die von Dr. Witsch selbst organisierte Werbekampagne für Guimarães Rosa hat vor allem für den Roman „Grande Sertão“ gut funktioniert, das Buch verkaufte sich sogar besser als erwartet und man hielt innerhalb eines Jahres bei drei Auflagen. Viele Zeitungsrezensionen übernahmen die vom Verlag vorgegebene exotistische Sichtweise vom großen Mystiker aus dem unbestimmten Sertão. Ohne den realen Sertão zu erklären, wurde dem deutschen Publikum der mystische Sertão präsentiert, wie schon im bewusst rätselhaft und exotisch klingenden deutschen Titel „Grande Sertao“ zum Ausdruck kommt. (Vgl. dazu den Brief vom 25.3.1964). Doch die Präsentation des Buches ist von sehr großer Begeisterung geprägt, so ist etwa der Klappentext der Erstausgabe zwei engbeschriebene Spalten lang und versucht den Roman in allen Dimensionen gerecht zu werden: Der Sertão wird darin als eine brasilianische Hochlandsteppe beschrieben, in welcher „der Mensch dem Menschen, der Natur und dem Bösen ausgeliefert ist“. Das Buch ist „zugleich Abenteurer- und Entwicklungsroman“ in dem von Kopfjägern bis zur Liebe alles vorkomme. „Riobaldo ist ein brasilianischer Faust. Aus ihm spricht der Sertanejo, der Ureinwohner des Sertão, des Buschs, gleichsam aus der Erfahrung des ersten Schöpfungstages.“ Es wird besonders auf diese „Ursprungswelt“ hingewiesen, die in einer eigenwilligen Sprache vermittelt wird: „Rosas Sprache ist tropisch reich, musikalisch barock.“ Gleichzeitig wird aber auch ein französischer Literaturkritiker zitiert: „Rosa wurzelt in der lateinischern Tradition Cervantes’ und Tirso de Molinas.“114 In der ersten großen Rezension des Romans kehren diese Elemente wieder, sowohl Cervantes als auch Tirso de Molina, als auch der im Klappentext ebenfalls erwähnte Goya werden angeführt, die Nähe zu Faust, Don Juan, Simplicissimus und dem Buscón strapaziert, jedoch nicht näher erläutert. Die Übersetzung von Curt Meyer-Clason wird als „großartige Leistung“115 gewürdigt. Alle folgenden Zeitungsrezensionen sind von derselben Be114 Klappentext zu: João Guimarães Rosa, Grande Sertão (Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1964). 115 Günter W. Lorenz, ‘Eine Welt in Ihrem Urzustand’, p. 401.
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geisterung geprägt, eine Welt in ihrem „Urzustand“ entdeckt zu haben. Als zur Neuauflage des Romans, im Rahmen des Themenschwerpunkts „Brasilien“ der Frankfurter Buchmesse, „Grande Sertão“ 1994 neu aufgelegt wurde, wurde der Roman auch wieder neu für die Zeitungen rezensiert, doch diesmal viel kühler und unengagierter. Nun, 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung, reduziert man sich meistens auf Inhaltszusammenfassungen und einer kurzen Beschreibung des Autors. Manchmal wird die sprachliche Eigenwilligkeit des Romans erwähnt, doch niemand wagt mehr, nicht einmal eine exotistisch einseitige, Interpretation des vielseitigen Textes. Auf die schon in den 60er Jahren stattgefundene Entdeckung des Autors wird kaum eingegangen, einmal wird erwähnt: „Rosa erntete bei uns hohes Lob von der Kritik, er fand aber – trotz der guten Lesbarkeit seiner Bücher – bis heute nicht den Weg zum breiten Publikum.“116 Auch der Verlag scheint nach dem Tod von Dr. Witsch sein großes Interesse an Guimarães Rosa verloren zu haben. Der Klappentext der Neuauflage ist nur mehr eine halbe Spalte lang und erschöpft sich in einer knappen Präsentation von Riobaldos Monolog, der unter anderem „seine Abenteuer und Begegnungen mit Kopfjägern, Gutsherren und Viehtreibern“117 erzählt. Selbst die Presseaussendung des Verlages für die 1987 erschienene Neuauflage beschränkt sich auf ein paar Zeilen, in denen hingewiesen wird, dass das Buch 1964 „ein Erfolg bei Lesern und Kritik“ 118 war. Der Boom war offensichtlich schon vorüber, brasilianische Literatur nicht mehr allein durch engagierte und enthusiastische Darstellung verkaufbar. Doch diese Begeisterung wurde durch nichts anderes ersetzt, und dadurch ist heute kein einziges Buch von Guimarães Rosa im deutschsprachigen Raum mehr lieferbar. Einen kurzen Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Romans „Grande Sertão“ in Europa sollen die nächsten Kapiteln liefern.
3. Rezeption in Deutschland João Guimarães Rosa ist in den deutschsprachigen Ländern, außerhalb von spezialisierten Kreisen, heute so gut wie unbekannt. Trotz des anfänglichen Erfolgs von „Grande Sertão“, der sich auch in den Verkaufszahlen widerspiegelte, konnte sich sein Werk nicht einmal bei einer spezialisierten kleinen Leserschaft dauerhaft durchsetzen. Georg Lind meint, dass Rosas Roman in Deutschland in etwa 100.000 Exemplaren verbreitet ist, was jedoch eine positive Auslegung der Verlagsrealität zu sein scheint.119 Da Verlage Auflagenzahlen nicht
116 Hans-Jürgen Heise, ‘Ein Schaltplan des Wunderbaren. Geheimnisvoll, vital und suggestiv: João Guimarães
Rosa – ein brasilianischer Erzähler von Weltgeltung’ in Welt, 4. Oktober 1994. 117 Klappentext zu: João Guimarães Rosa, Grande Sertão (Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1994). 118 Pressetext von Kiepenheuer & Witsch, in: Das gute Buch. Lesezirkel Bücherdienst 1987. Das Innsbrucker
Zeitungsarchiv (IZA) hat eine gute Dokumentation der Zeitungsartikel zu Guimarães Rosa für die Zeit ab 1967, die Zeit davor ist nur bruchstückhaft erfasst. Zu Rezensionen, die zu den Neuauflagen von Rosas Werk, besonders für den Themenschwerpunkt Brasilien der Frankfurter Buchmesse 1994, erschienen sind, hat auch die Zeitungsausschnittsammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart eine sehr umfangreiche Dokumentation. 119 Georg Rudolf Lind, Zeitungsartikel in O Estado de S. Paulo, vom 14. 8. 1973, nach: Werner Rosenfeld, ‘Guimarães Rosa und die deutsche Kultur’, p. 25.
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gerne zur Verfügung stellen, ist eine Ermittlung der genauen Auflagenzahl nur sehr schwer möglich, doch scheint diese weit von den erwähnten 100.000 Exemplaren entfernt zu sein: Gustav Siebenmann nennt in seiner den Zeitraum bis 1969 einfassenden Studie eine Gesamtauflage von 27.800.120 Der Verlag Kiepenheuer & Witsch trägt dazu 5.600 Exemplare für die erste Auflage, 4.700 für die zweite (beide 1964) und 1000 für die dritte (1965) bei.121 1500 Exemplare entfallen auf die Buchgemeinschaft Ex Libris (Zürich 1966) und herausragende 15.000 auf die Büchergilde Gutenberg. Klaus Küppers nennt dagegen für die Büchergilde Gutenberg eine Auflagenzahl von 7.500, erfasst die bei Siebenmann nicht genannte DDR Ausgabe vom Aufbau-Verlag mit 5.000 gedruckten Exemplaren, nennt dafür aber keine Zahlen für Ex Libris. Damit kommt er mit den Zahlen für den Kiepenheuer & Witsch Verlag – 5000 für die erste, ebenso 5000 für die zweite und 1000 für die dritte Auflage – für den Zeitraum bis 1969 auf die Auflagenzahl von 23.500, was in der Größenordnung von Siebenmanns Berechnung liegt. Für die Zeit danach erfasst Küppers 4.000 Exemplare für die Neuauflage 1987 und keine Zahl für die Auflage zum Themenschwerpunkt Brasilien der Frankfurter Buchmesse 1994. Die Auflage für die Taschenbuchausgabe beim Deutschen Taschenbuchverlag von 1992 bleibt auch unbekannt, doch wurden diese Bücher bald als Mängelexemplare verramscht. Es kann also angenommen werden, dass die von Lind behaupteten 100.000 Exemplare von „Grande Sertão“ im deutschen Sprachraum nicht erreicht worden sind. Momentan ist kein einziger Titel Guimarães Rosas auf Deutsch lieferbar. Obwohl sowohl der deutsche Übersetzer als auch die deutschsprachigen Kritiker und Philologen zum internationalen Ruhm des brasilianischen Autors beigetragen haben, scheint deren Arbeit in keiner Relation mit der deutschsprachigen rezeptionssoziologischen Realität zu stehen, wofür Franzbach „vielschichtige soziale, politische und kulturelle Gründe“122 sieht. Selbst Guimarães Rosa lag in der Einschätzung des deutschsprachigen Publikums falsch, wenn er meinte, seine Bücher würden so lange arm an Bedeutung bleiben, bis sie die Sanktion der deutschen Leser empfangen hätten, „von Lesern nämlich, die in der Tat die befähigsten wären, ‚alles in ihnen zu sehen’.“123 Wenn auch diese Bemerkung zum 60. Geburtstag seines deutschen Verlegers als schmeichelndes Kompliment gedeutet werden kann, so hat er diese Idee doch, wenn auch abgeschwächt, ähnlich an anderer Stelle wiederholt: In einem Brief an Curt Meyer-Clason versucht Guimarães Rosa eine Unterscheidung zwischen dem deutschen und dem nordamerikanischen Leser durchzuführen: A meu ver, em três particularidades, pelo menos, o leitor alemão se diferencia do leitor norte-americano, com relação a um romance dêstes: 1. quanto ao pensamento metafísico; 2. a visão mais minuciosa das paisagens,
120 Gustav Siebenmann, Die neuere Literatur Lateinamerikas und ihre Rezeption im deutschen Sprachraum
(Berlin: Colloquium, 1972), p. 76. 121 Alexandra von Miquel berichtet in einem Brief vom 15. November 1966 an Guimarães Rosa von folgenden
Auflagenzahlen (vgl.: p. 60 vorliegender Arbeit): 1. Auflage: Herbst 1964, 4500 Exemplare. 2. Auflage: Herbst 1964, 4500 Exemplare 3. Auflage 1965: 1000 Exemplare. 122 Martin Franzbach, ‘João Guimarães Rosa’, in Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen, hg. von Wolfgang Eitel (Stuttgart: Kröner, 1978), pp.156-169 (p.168). 123 João Guimarães Rosa, ‘Rhein und Urucuia’, p. 246.
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da natureza; 3. a poesia implícita. Creio crer que, quanto a êsses três pontos, o alemão (assim como os escandinavos, etc.) reage de modo positivo; emquanto que, os norte-americanos, reagem mais para o meionegativamente. Estou certo?124
Anscheinend erfüllte das deutschsprachige Publikum diese hohe Erwartung des brasilianischen Autors nicht. Die Ursachen dafür könnten in der teilweise oberflächlichen Vermittlung des Werkes, oft unter einer exotistischen Konsumhaltung sein, wobei „die deutsche Rezeption auf den Spuren von Günter Lorenz zeigt, daß dies wenigstens hierzulande sogar der Regelfall war.“125 Dadurch, dass das Werk Guimarães Rosas sprachlich sehr komplex ist und inhaltlich, vor allem unter der Oberfläche, eine ungemein tiefe Philosophie entwickelt, versuchten Vermittler und Verlage in Deutschland den lateinamerikanischen „Boom“ der sechziger und siebziger Jahre auszunutzen und es „zur Verkaufsförderung etwas zugänglicher zu präsentieren und zu gestalten.“126 In Brasilien war Guimarães Rosa ohne solche Maßnahmen des Verlags ein Verkaufserfolg. Obwohl der portugiesischsprachige Buchmarkt klein ist, 127 wird das Werk immer wieder neu Aufgelegt und hält in der Zwischenzeit bei der 32. Auflage. Die ersten Rezensionen zu Grande Sertão: Veredas waren jedoch nicht nur euphorisch, so berichtet Guimarães Rosa in einem Brief an seinen Freund Paulo Dantas aufgebracht von einer Zeitungskritik von Marques Rebelo, der darin behauptet: „Acho que a obra de Guimarães Rosa não tem significado alguma.“128 Im „Jornal de Letras“ erscheint in derselben Woche eine Rezension mit dem Titel „Guimarães Rosa: um Equívoco Literário“. 129 Aber noch über zehn Jahre später ist es einem Leser einen Brief an die Redaktion des „Jornal de Brasil“ wert, seinen Unmut über das Werk von Guimarães Rosa kundzutun: „Ninguém lê Guimarães Rosa, e se esgotam as sucessivas edições de Jorge Amado. – Aconselhamos à meia dûzia de amigos de Guimarães Rosa a silenciarem. Caso contrário, dentro de pouco tempo nada mais restará do escritor mineiro.“130 Dieser enttäuschte Leser hatte offensichtlich Unrecht, was die Stellung Guimarães Rosas in Brasilien, aber auch in vielen anderen Ländern betrifft. Recht hatte er aber sicherlich für den deutschen und den englischen Sprachraum. In beiden Kulturräumen sind seine Werke nicht mehr lieferbar und in England gibt es die englischen Übersetzungen seiner Bücher nicht einmal in den größten Universitätsbibliotheken oder in der sonst so gut bestückten British Library. In den deutschsprachigen Bibliotheken gibt es sehr wohl noch die deutschen Versionen der Werke von Guimarães Rosa, im Buchhandel jedoch nicht mehr. Daran hat wahrscheinlich die nicht ganz unproblematische Übersetzung Meyer-Clasons ihren Anteil. Diese soll in den nächsten Kapiteln genauer untersucht werden. 124 João Guimarães Rosa, ‘Briefe an seinen deutschen Übersetzer’, herausgegeben, übersetzt und erläutert von
Curt Meyer-Clason, Poetica, 3 (Januar-April 1970), pp.250-283, (p.252). 125 Michael Rössner, ‘„Literatura fantástica“ in Brasilien?’, p. 248. 126 Marcel Vejmelka, ‘Gelebte Wissenschaft und ein unerschöpfliches Werk’, p. 37. 127 Obwohl Brasilien 165 Millionen Einwohner hat und Portugal 10 Millionen, rechnet man am Buchmarkt mit
gleich großen Auflagenzahlen für die beiden Länder. (Nach einer Informationsbroschüre der Editora Paz Lisboa/Rio de Janeiro, 1997). 128 Guimarães Rosa in einem Brief vom 14. 9. 1957, in: Paulo Dantas, Sagarana emotiva, p. 77. 129 Ebd., Anm. 7. 130 Abílio de Souza Marquez, Leserbrief im Jornal de Brasil am 19. 1. 1968, nach: Martin Münchschwander, Grande Sertão: Veredas – Form und Figur, p. 22.
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III. Curt Meyer-Clason als Übersetzer
Curt Meyer-Clason, 1910 in Ludwigsburg geboren, arbeitet nach der Kaufmannslehre von 1937-1954 für eine amerikanische Baumwollfirma in Frankreich, Argentinien und Brasilien, wo er kurz vor Kriegsende interniert wurde.131 Er bildet sich autodidaktisch weiter und übersetzt, in München lebend, Werke der lateinamerikanischen, vor allem aus der brasilianischen, Literatur. 1969-1976, in der Zeit der zu Ende gehenden Salazar-Diktatur und auch noch während und nach der Revolution ist er Direktor des Goethe-Instituts in Lissabon. Seit seiner Pensionierung 1976 lebt Meyer-Clason wieder in Deutschland, wo er als Übersetzer, freier Lektor und Schriftsteller132 tätig ist. Der deutsche Leser besitzt den Vorzug, Rosa in der Übersetzung von Curt Meyer-Clason kennenzulernen, die der Autor selbst in einem Interview von 1965 als ausgezeichnet lobte und aus der (man muß dazu wissen, daß Rosa unter dem Dutzend Sprachen, die er beherrschte, sich auch vorzüglich des Deutschen zu bedienen wuss-
131 Sofort nach Kriegseintritt Brasiliens wurde per Erlass die Benützung der deutschen Sprache verboten, was
besonders in den südlichen Bundesstaaten, wo die Mehrzahl der deutschsprachigen Bevölkerung beheimatet war, eine enorme Einschränkung des öffentlichen Lebens bedeutete. Schon etwa zwei Wochen nach der brasilianischen Kriegserklärung an das deutsche Reich wurden die ersten Personen in verschiedene Lager gebracht. Schlecht ausgebildete Hilfspolizisten begannen die Internierungsaktionen in den südlichen Bundesstaaten, schließlich aber in ganz Brasilien. Verdächtig war jeder deutschsprachige Mensch. Die Zahl der in Brasilien Internierten lässt sich heute nur schwer eruieren, man geht aber von etwa 15.000 Personen aus. (Vgl. Karl Ilg, Heimat Südamerika; Jürgen Müller, Nationalsozialismus in Lateinamerika; Nicolas Forster, Deutsche in den USA und Brasilien. Einer dieser Internierten war auch Curt Meyer-Clason, was also überhaupt nichts mit etwaigen nationalsozialistischen Verstrickungen zu tun haben musste. Dr. Schubert, der in den 1970er Jahren als österreichischer Botschafter in Lissabon stationiert war, erzählt aber von einer etwas unglücklichen Figur, die der damalige Direktor des Goethe-Instituts Meyer-Clason während des Zweiten Weltkrieges in Brasilien gemacht hätte, was dieser durch eine, oft theatralisch zur Schau gestellten, linken politischen Einstellung zu kompensieren versucht hätte. (Aus einem privaten Gespräch mit Dr. Schubert, geführt am 16. Februar 1998 in Coimbra). Curt Meyer-Clason beschreibt seine interessante Lissabonner Zeit in: Ders.: Portugiesische Tagebücher. (Wien: A1-Verlag, 1997). Priscila Perazzo, von der Universität São Paulo, untersucht seit Jahren die Rolle Curt Meyer-Clasons während des Zweiten Weltkriegs. Für sie steht fest, dass er zu einem deutschen Spionagering gehörte, über dessen Mitarbeiter man jedoch sehr wenig weiß. „Bei Meyer-Clason war man aber sicher. Würde er heute alles über die betreffende Zeit offen legen, täte er den Historikern Brasiliens einen Riesengefallen.“ (Nach: Klaus Hart, Unter dem Zuckerhut. Brasilianische Abgründe (Wien: Picus, 2001), p. 79. 132 Curt Meyer-Clasons literarische Werke umfassen folgende Texte: 1978: Erstens die Freiheit. Tagebuch einer Reise durch Argentiniern und Brasilien. 1979: Portugiesische Tagebücher. (Erweitert wiederaufgelegt: 1987, 1997). 1986: Äquator (Autobiographischer Roman). 1989: Unterwegs. Erzählungen. 1990: Die Menschen sterben nicht. Essays. 1998: Ilha Grande. Essay. 1999: Der Unbekannte. Erzählungen. 2001: Bin gleich wieder da. Kurzgeschichten.
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te) Rosa nach eigenen Angaben eine Metapher, die er für gelungener hielt als die Vorlage im Original, in die folgende brasilianische Neuauflage seines Romans Grande Sertão: Veredas einfügte.133
Das erwähnte Interview, in dem Rosa die deutsche Übersetzung so lobt, ist das wichtige und ausführliche Gespräch, das der brasilianische Autor mit dem deutschen Journalisten Günter Lorenz 1965 im Rahmen des Lateinamerikanischen Schriftstellerkongress’ in Genua führte. Dieses Gespräch ist das einzige von so großem Umfang, zu dem sich Rosa jemals bereit gefunden hat. Tatsächlich lobt er darin seinen deutschen Übersetzer Curt MeyerClason über alle Maßen: Estimo muito Meyer-Clason; admiro-o como homem da língua, admiro suas qualidades. É o melhor de todos os meus tradutores, provavelmente um dos melhores que há no mundo. Um homem que se estima tanto não é tempo perdido. Confesso com muito prazer que Meyer-Clason me convenceu de que uma passagem de meu romance – na realidade se tratava de uma metáfora – era mais convincente na tradução alemã que em meu original. É claro que aceito isso, e em uma nova edição brasileira pretendo adaptar esta passagem à versão que Meyer-Clason encontrou em alemão. A isto eu chamo cooperação, co-pensamento.134
Solchen Urteilen, sozusagen von höchster Instanz, kann man nur schwer widersprechen. Dementsprechend schnell hat sich auch die Feststellung, die deutsche Übersetzung von Grande Sertão: Veredas sei die beste und der Übersetzer dem Autor nahezu ebenbürtig, nicht nur in der deutschen Forschung durchgesetzt. In den folgenden Kapiteln wird trotzdem versucht werden, die Schwächen der Meyer-Clason Übertragung herauszustreichen und zu hinterfragen, wie es zu diesem so weit verbreiteten Mythos der perfekten Übersetzung hat kommen können.
1. Grande Sertão: Veredas in anderen Sprachen 1.1. Bisherige Übersetzungen von Grande Sertão: Veredas Englische (amerikanische) Übersetzung: The devil to pay in the backlands, Alfred A. Knopf, New York, Übersetzung von. James L. Taylor und Harriet de Onís. 1963. Vergriffen. Deutsche Übersetzung: Grande Sertão, Kiepenheuer & Witsch, Köln. Übersetzung von Curt Meyer-Clason. 1964, 1987, 1994. Vergriffen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1992. Vergriffen. Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg, 1966. Vergriffen. Lizenzausgabe für Ex Libris, Zürich 1966. Vergriffen.
133 Richard Schwaderer, ‘Tradition und Innovation in João Guimarães Rosas Roman Grande Sertão: Veredas’,
Iberoromania, 11, Neue Folge (1980), pp.155-174, p. 157. 134 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 60.
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Lizenzausgabe für die DDR: Mit einem Vorwort versehen von Anna Seghers. AufbauVerlag, Berlin-Weimar, 1969. Vergriffen.135 Italienische Übersetzung: Grande Sertão, Feltrinelli Editore Milano. Übersetzung von Edoardo Bizzarri. 1964, 1970, 1976, 1985, 1996. Lieferbar. Französische Übersetzungen: Diadorim – Le diable dans la rue, au milieu du tourbillon, Éditions Albin Michel. Übersetzung von Jean – Jacques Villard. 1965. Vergriffen. Diadorim, Éditions 10/18. Domaine étranger, Paris. Übersetzung von Maryvonne LapougePettorelli. 1991. Lieferbar. Spanische Übersetzung: Grande Sertón: Veredas, Editorial Seix Barral, Barcelona. Übersetzung von Ángel Crespo. 1967, 1985. Vergriffen. Alianza Editorial, Madrid 1999. Lieferbar. Tschechische Übersetzung: Velká Divocina, Odeon, Praha. Übersetzung von Pavla Lidmilová. 1971. Vergriffen. Schwedische Übersetzung: Livet är farligt, senhor Banditen. Riobaldos äventyr, Forum, Stockholm. Übersetzung von Jan Sjörgen. 1974. Vergriffen. Niederländische Übersetzung: Diepe wildernis: de wegen, J. M. Meulenhoff Nederland Editie, Amsterdam. Übersetzung von August Willemsen. 1993. Lieferbar.136
135 Marcel Vejmelka verweist in seiner Studie zu Grande Sertão: Veredas auf die interessanten Unterschiede in
der Rezeption des Romans in der BRD und DDR. Während in der Bundesrepublik der mythologische Aspekt des Werks betont wird, ist Guimarães Rosa in Ostdeutschland „ein realistischer Autor, dessen Gesellschaftskritik ein sicheres Gespür für die entscheidenden Fragestellungen seiner Zeit erkennen lässt.“ (Erhard Engler, ‘Nachwort’, in: João Guimarães Rosa, Sagarana (Weimar/Berlin: Aufbau, 1984), p. 382, nach: Marcel Vejmelka, João Guimarães Rosas Grande Sertão: Veredas und Thomas Manns „Doktor Faustus“ im interkulturellen Vergleich (Berlin: Inaugural-Dissertation im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin, 2003, p. 74). 136 Für diese Aufstellung wurden Buchhandlungen und Verlage in ganz Europa, ein internationales Verzeichnis lieferbarer Bücher der British Library und folgende Bibliographien konsultiert: Brazilian authors translated abroad. (Rio de Janeiro: Fundação Biblioteca Nacional, 1994); Bibliographie der brasilianischen Literatur. Prosa, Lyrik, Essay und Drama in deutscher Übersetzung, hg. von Klaus Küpper (Frankfurt am Main: TFM, Ferrer de Mesquita, 1994).
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1.2. João Guimarães Rosas Beziehung zu seinen Übersetzern Guimarães Rosa war sich der Probleme aller Übertragungen bewusst und hatte vor allem mit seinem italienischen Übersetzer Edoardo Bizzari einen intensiven Briefaustausch, in dem er sich immer wieder bemühte, einzelne Ausdrücke und Wortwendungen zu erklären. Bizzari hat ein ganzes Buch über seinen Briefwechsel mit Guimarães Rosa herausgegeben.137 Im Gegensatz dazu, hat Meyer-Clason nur einen kleinen Teil der von ihm angegebenen 52 (von Februar 1959 bis August 1967) zwischen Guimarães Rosa und ihm gewechselten Frage- und Antwortbriefe veröffentlicht. 138 Der Literaturwissenschaftler Benedito Nunes bedauert dies: „As cartas trocadas com o tradutor italiano Edoardo Bizzarri e, posteriormente, transformadas em livro, são excelentes, extremamente reveladoras. Sendo Clason o melhor dos tradutores de Rosa, obviamente a publicação desse material iria trazer mais pontos de vista a um autor que jamais foi unilateral.“139 Auffällig an diesem Aufruf zur Veröffentlichung der Briefe ist, wie kanonisiert das Klischee von Meyer-Clasons Übersetzung, als die beste nur vorstellbare, auch in der brasilianischen Forschung noch verwurzelt ist. Natürlich scheint es obsolet, diese Feststellung in Frage zu stellen, wo doch der Autor selbst Meyer-Clason zu seinem besten Übersetzer erkoren hat: „Verdade mesmo, ele é um diabo de homem, um génio da tradução, o melhor tradutor que eu conheço.“ 140 Bei genauerer Betrachtung erweist sich jedoch, dass Guimarães Rosa auch von seinen anderen Übersetzern oftmals sehr begeistert war und ähnliches behauptet hat. 137 Edoardo Bizzari, J. Guimarães Rosa: correspondência com seu tradutor italiano (São Paulo: Instituto
Cultural Italo-Brasileiro, 1981). 138 1970 veröffentlichte Meyer-Clason zwei ganze Briefe und mehrere Brieffragmente Guimarães Rosas in einem
Artikel: ‘João Guimarães Rosa, Briefe an seinen deutschen Übersetzer. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Curt Meyer-Clason’. Der Kommentar zu diesen Briefen erschien getrennt ebenso unter: Curt MeyerClason, ‚João Guimarães Rosa und die deutsche Sprache’. Eine sehr ähnliche Auswahl an Briefausschnitten erschien noch einmal unter: Curt Meyer-Clason, ‘João Guimarães Rosa und der Sertão’, in: ders., Die Menschen sterben, nicht, sich werden verzaubert (München: Piper, 1990), p. 63-85; und auf Portugiesisch in: Curt Meyer-Clason, ‘João Guimarães Rosa e a língua alemã’, Scripta, 2, nr. 3, 1998, pp.59-70. In einem persönlichen Telefoninterview am 20. Juni 2001 mit dem Übersetzer meinte dieser, den gesamten Briefverkehr für eine Doktorarbeit an der Universidade de São Paulo zur Verfügung gestellt zu haben. (Maria Apparecida Faria Marcondes Bussolotti, Proposta de edição da correspondência inédita entre João Guimarães Rosa e seu tradutor alemão, Curt Meyer-Clason, UNESP 1997). Dieselbe zitiert Auszüge aus einigen dieser Briefe für einen Artikel unter demselben Namen in: Veredas de Rosa, pp.409-413. In einem Interview mit Sheila Grecco bekennt Curt Meyer-Clason jedoch, dass er noch zahlreiche unbekannte Briefe besitzt, die er seit Jahren veröffentlichen will, durch die passive Haltung der brasilianischen Verlage jedoch bis jetzt noch nicht zu einem Vertragsabschluss gekommen ist. (In: Sheila Grecco, ‘Alemanha tem cartas inéditas de Guimarães Rosa’, O Estado de São Paulo, Domingo, 2 de setembro de 2001). Er lässt schließlich die Zeitung Ausschnitte aus einem bisher unveröffentlichten Brief vom 14. Februar 1964 abdrucken. Curt Meyer-Clason will seine interessante Korrespondenz mit dem brasilianischen Autor über einen kommerziellen Verlag veröffentlichen und 2003 ist es so weit: Die „Editora Nova“ gibt in Co-Produktion mit der „Academia Brasileira de Letras“ und der „Editora UFMG“ den Briefwechsel zwischen João Guimarães Rosa und Curt-Meyer Clason heraus. (João Guimarães Rosa, Correspondência com seu tradutor alemão Curt Meyer-Clason, 1958-1967, hg. von Maria Apparecida Faria Marcondes Bussolotti. Rio de Janeiro: Nova Fronteira, Academia Brasileira de Letras; Belo Hoirzonte, MG: Ed. da UFMG, 2003). 139 Nach: Sheila Grecco, ‘Alemanha tem cartas inéditas de Guimarães Rosa’. 140 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 36.
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In einem Brief an Ángel Crespo, dem spanischen Übersetzer von Grande Sertão: Veredas, schreibt Guimarães Rosa: „Até agora, já saíram do Grande sertão: veredas as edições: em inglês (The devil to pay in the backlands, pela editora Alfred Knopf Inc., New York, 1963) e em alemão (Grande sertão, editora Kiepenheuer & Witsch, Colônia, 1964). A norteamericana é regular. A alemã é muito boa.“141 Die englische Übertragung ist also nur mäßig im Vergleich mit der sehr guten deutschen. In einen Brief an den Kiepenheuer & Witsch Verlag traut er sich ein gutes Jahr zuvor noch kein endgültiges Urteil über die amerikanische Version zu fällen: „A tradução está boa, até onde posso julgar.“142 Curt Meyer-Clasons Arbeit schätzte er von Anfang an außerordentlich, wie viele Zitate bezeugen. Zur deutschen Übersetzung seiner Kurzgeschichten durch José Neistein wagt Guimarães Rosa kein Urteil zu geben: „Sobre o mérito, em si, das traduções, não me cabe, evidentemente, pronunciar.“ 143 Es scheint zwischen den Zeilen durchzuklingen, dass er sich jedoch nicht mangels Sprachkenntnissen eines Urteils enthebt, sondern, dass es der Diplomat in ihm ist, der hier lieber schweigt. Am Anfang der weltweiten Rezeption seines Werkes freut sich der Autor noch über jede Übersetzung und ist bereit, für die Verbreitung seines Werkes auch weniger geglückte Versionen seiner Ideen in Kauf zu nehmen: „[R]econheço que os tradutores merecem meu aplauso e gratidão, pelos enormes esforços com que operaram, dando ao mundo o Grande Sertão em inglês, abrindo para êle um grande caminho, se Deus quiser.“144 Dem weiter oben zitierten Brief an seinen spanischen Übersetzer fügt Guimarães Rosa fünf Tage später einen Anhang bei, in dem er Ángel Crespo vor allem die italienische Übertragung von „Corpo de Baile“ nahe legt: „Estou cada vez mais entusiasmado, com a tradução italiana do ‘Corpo do Baile’, lançado agora pela Feltrinelli Editore, de Milão. É ‘fabulosa’! Você não deve deixar de vê-la, se lê italiano.“145 Guimarães Rosa hat seinem italienischen Übersetzer seine Hochachtung jedoch nicht verschwiegen und diesem auch selbst geschrieben, wie sehr er ihn und seine Übersetzungen schätzt: „Pois, Você, meu caro Bizzari, é para mim uma das pessoas mais importantes, Você ocupa um dos primeiríssimos lugares, na minha gratidão, admiração, esperança e amizade.“146 Ángel Crespo sollte später vor allem als Übersetzer der „Divina Commedia“ Ruhm erlangen, hatte also durchaus die Möglichkeit, Edoardo Bizzaris Version zu lesen. Durch die Nähe des Kastilianischen zum Portugiesischen brauchte er aber wahrscheinlich gar nicht auf die italienische Übertragung zurückgreifen, denn er behauptet, wahrscheinlich ungewohnt für Guimarães Rosa, „no he encontrado demasiadas dificultades: el espíritu del relato y el idioma empleado en él me han envuelto con facilidad.“147 Den brasilianischen Autor 141 João Guimarães Rosa, Brief an Ángel Crespo vom 9. 12. 1964, nach: Elza Miné, ‘Ángel Crespo, tradutor de
Guimarães Rosa’, in Scripta, 2, nr. 3, 1998, 89-99 (p.94). 142 João Guimarães Rosa, Brief an den Kiepenheuer & Witsch Verlag vom 23. 4. 1963, vgl. p. 196 vorliegender
Arbeit. 143 João Guimarães Rosa, Brief an den Kiepenheuer & Witsch Verlag vom 7. 12. 1963, vgl. p. 199 vorliegender 144 145 146 147
Arbeit. João Guimarães Rosa, ‘Briefe an seinen Übersetzer’, p. 256. João Guimarães Rosa, Brief an Ángel Crespo vom 14. 12. 1964, nach: Elza Miné, ‘Ángel Crespo’, p. 95. João Guimarães Rosa, Brief an Bizzarri vom 7. 3. 1965, in: Edoardo Bizzarri, ‘Correspondência’, p. 117. Ángel Crespo, Brief an João Guimarães Rosa, Dezember 1965, in: Elza Miné, ‘Ángel Crespo’, p. 95.
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schien diese Leichtigkeit in der Arbeitsweise zu überzeugen. Nach der Veröffentlichung von „Grande Sertón: Veredas“ zeigt sich Guimarães Rosa von dieser Version seines Romans begeistert und bringt so einen dritten Kandidaten mit ins müßige Spiel, welche Übertragung die gelungenste sei: Escrevo-lhe na maior emoção, alegria, depois de ler o nosso livro [...]. Creia, a cada página, cada linha, pulam em mim, mais altas, a enorme admiração e gratidão – pelo fabuloso, formidável Tradutor. [...] Seu poder é mágico, Ángel Crespo, no ímpeto e na finura, no denso e no sutil, em cintilação de faces e âmbito de profundura. Enfim, faltam-me as palavras, para louvar, aplaudir e agradecer.148
Die spanische Übersetzung verzichtet auf herkömmliche Redewendungen und findet für von Guimarães Rosa erfundene Phrasen eigenständige spanische Analogien. Nicht nur deswegen gilt sie als eine der besten Übertragungen von Grande Sertão: Veredas: „Traducción tan rica y equilibrada, tan libre en las soluciones como fiel en la reproducción del clima, que, com razón, merece el título de Gran Sertón: Veredas, porque conserva intacto el mundo del sertón brasileño del que muestra la otra faz mediante el uso creador del castellano.“149 Es ist offensichtlich, dass die Übersetzungen alleine durch die unterschiedlichen Zielsprachen verschieden sein müssen und alle ihre Vorzüge und Nachteile haben. Bis jetzt gibt es, außer kleineren Studien, erst wenige übersetzungskritische Arbeiten. In Brasilien sind jedoch schon, von Frauen mit schönen langen Namen, größere Studien zur Übersetzbarkeit der von Guimarães Rosa kreierten Neologismen verfasst worden.150 Allgemein gilt, wie bereits erwähnt, die deutsche Übersetzung als die beste, die nordamerikanische als die schlechteste. Die englische Version betreffend, spricht Jon Vincent sogar von einem Verrat am Original, wenn auch von einem gut gemachten: „The Devil to Pay in the Backlands is an admirably competent betrayal of the original from the title on [...]“151. Die englische Übersetzung wird in allen Kommentaren als eine Reduzierung auf eine Cowboygeschichte empfunden. James L. Taylor und Harriet de Onís folgen zwar meist den Satzlängen des Originals, aber nicht der ursprünglichen Struktur, sie glätten die Sprache und reduzieren sie auf ein alltägliches Englisch. „Todo el primitivismo, la ingenuidad definidora [...] del Grande Sertão, se disuelven como por encanto en la cuidadosa versión inglesa.“152 Die italienische Übertragung von Edoardo Bizzarri ist die von der Sekundärliteratur am öftesten analysierte. Sogar der Briefwechsel zwischen Autor und Übersetzer ist schon Gegenstand einer Studie geworden,153 aber vor allem die Entstehung der Texte154 und die ita-
148 João Guimarães Rosa, Brief an Ángel Crespo vom 21. 2. 1967, in: ebd., p. 96. 149 Pilar Goméz Bedate, ‘Notas sobre las versiones y traducciones de Grande Sertão: Veredas’, Revista de
cultura brasileña, 6, Junio 1967, número 21, 188-208 (p.203). 150 Eliana Amarante de Mendonça Mendes, A tradução dos neologismos de Grande Sertão: Veredas (São Paulo:
Tese de Doutorado, Universidade de São Paulo, 1991). Patrizia Giorgina Enricanna Collina Bastianetto, A tradução dos neologismos rosianos na versão italiana de “Grande Sertão: Veredas”, de João Guimarães Rosa (Belo Horizonte: Dissertação de Mestrado, Universidade Federal de Minas Gerais, 1998). 151 Jon S. Vincent, Joao Guimaraes Rosa (New York: Twayne 1978), p. 71. 152 Pilar Goméz Bedate, ‘Notas’, p. 195. 153 Ana Maria de Almeida, ‘As Bordaduras do texto’, in: Quadrant (Montpellier: 1988), 109-129.
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lienischen Entsprechungen der Neologismen Rosas wurden eingehend analysiert. Von den 942 in Grande Sertão: Veredas auftretenden Wortneuschöpfungen findet Bizzari für 937 originelle und stimmige italienische Entsprechungen, nur fünf bleiben unübersetzt. 155 Bizzaris Übersetzung gilt als sehr gelungen und dem Originaltext äußerst treu verbunden: „O texto traduzido é marcado pela manutenção dos significados e, na maioria das vezes, também dos efeitos estilísicos do texto original. [...] Bizzarri penetra no texto rosiano e desbrava, com segurança, seus meandros lingüísticos.“156 João Guimarães Rosa selbst sieht das ähnlich, jedoch viel enthusiastischer, für ihn ist die Übertragungsgabe des italienischen Übersetzers ein Rätsel, das ihn vor Ehrfurcht erschauern lässt: „Você é um mistério. V., em tudo, me permite o puro prazer de a d m i r a r . Não há linha, nem coisinha, de sua lavra, que não me dê o ‘frêmito’.“157 Die einzige Sprache, die schon zwei verschiedene Versionen von Grande Sertão: Veredas vorweisen kann, ist Französisch. Die erste Übersetzung von Jean-Jacques Villard ist nicht so glättend und verniedlichend wie die amerikanische Ausgabe des Romans, hat aber nicht die komplexe Struktur und Treue der italienischen Übertragung. Von Guimarães Rosa neu geschaffene Redewendungen und Phrasen werden nicht als solche erkannt und als herkömmliche geflügelte Worte übersetzt: „Lo que más inmediatamente llama la atención en este fragmento de la traducción francesa es la abundancia de frases hechas y de giros tan habituales en la conversación ordinaria que ya, literariamente, poseen muy escaso valor [...].“158 Die zweite französische Übersetzung von Maryvonne Lapouge-Pettorelli hat laut Piers Armstrong in Frankreich sehr gute Kritiken bekommen und zählt zu den besten Übertragungen von „Grande Sertão: Veredas“.159 Guimarães Rosa selbst hat sich, wie gezeigt, aktiv an diesem merkwürdigen Bewerb um die beste fremdsprachige Version eingebracht und alle seinen Übersetzern geholfen und sie ermutigt und motiviert. Keinen hat er aber so deutlich in einem direkten Vergleich über alle anderen Übersetzer gestellt, wie den Italiener Edoardo Bizzarri in einen Brief vom 6. November 1963: Tenho recebido, já editadas ou ainda datilografadas, peças de tradutores meus, em francês, italiano, inglês, norte-americano, alemão, “austríaco”, espanhol e “uruguaio-argentino”, (platenho); tudo bom, em geral, mas sem transmitir-me essa imediata sensação de invulnerabilidade e plenitude, de façanha acabada e perfeita, ida ao limite – que o que V. escreve me traz.160
Guimarães Rosa ist also nicht nur von Meyer-Clasons Arbeit überzeugt, sondern hat das Prädikat „o melhor de todos os meus tradutores“161 mehrfach vergeben. Trotzdem ist es 154 Giulia Lanciani, ‘A metodologia da tradução e o texto de Guimarães Rosa’, Revista do Instituto de Estudos
Brasileiros, Universidade de São Paulo, 31 (1990), 27-33. Vgl. Eliana Amarante de Mendonça Mendes, ‘Neologismos’. Patrizia Giorgina Enricanna Collina Bastianetto, ‘A tradução’, p. 560. João Guimarães Rosa, Brief an Bizzarri vom 6. 11. 1963, in: Edoardo Bizzarri, ‘Correspondência’, p. 36. Goméz Bedate, ‘Notas’, p. 200. Vgl. Piers Armstrong, ‘Tradução e diplomacia: Filosofias e práticas de Guimarães Rosa e de seus tradutores’, in: Veredas de Rosa, pp.577-582 (p.579). 160 Edoardo Bizzarri, Correspondência, p. 36-37. 161 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 60. 155 156 157 158 159
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Curt Meyer-Clason, der diesen Titel am öftesten zu hören bekommt, widerstandslos ist er von der brasilianischen Akademie und der europäischen Kritik als bester Rosa-Übersetzer aufgenommen und immer wieder zitiert worden. Piers Armstrong ist einer der wenigen Kritiker dieser so selten untersuchten Schulmeinung, geht dabei aber wahrscheinlich etwas zu weit, indem er die deutsche Übersetzung mit der amerikanischen vergleicht und zu dem Schluss kommt: „Estas duas traduções na realidade têm muito a ver pois a americana serviu de base à alemã.“162 Es stimmt, dass Meyer-Clason die amerikanische Version zur Verfügung hatte, wie aus einem Brief von Alexandra von Miquel an Guimarães Rosa herauszulesen ist: „[I]ch lese gerade mit großer Passion und voller Begeisterung die amerikanische Ausgabe Ihres Werkes, THE DEVIL TO PAY IN THE BACKLANDS, die wir soeben bekommen haben. Ich gebe sie dann weiter an Herrn Meyer-Clason.“163 Das von Armstrong gewählte Beispiel zeigt tatsächlich eine auffällige Übereinstimmung der beiden Übersetzungen im Vergleich zu anderen Versionen und zum Original: Original (449): francês (486): inglês (481): alemão (538):
O senhor me socorre. Venez-moi en aide. God help me. Gott helfe mir.164
Ergänzend kann man an dieser Stelle noch die spanische Version: „Socórrame usted“,165 die italienische Übertragung: „Vossignoria mi aiuti.“166 und die niederländische Übersetzung: „Helpt u mij“167 beifügen, die ebenfalls alle drei auf eine Übersetzung von „o senhor“ mit „Gott“ verzichten. Ob es sich hierbei um einen Zufall handelt, ist schwer zu ermitteln, es hat jedoch Guimarães Rosa selbst Meyer-Clason vorgeschlagen, die englische Übertragung als Stütze zu verwenden: „[A]cho que, o Amigo, dispondo já dêsse primeiro arrimo, poderá realizar tradução muitíssimo melhor e maior.“168 Armstrong vermutet, dass Guimarães Rosa seinen deutschen Übersetzer bewusst mit Lob manipuliert hat, um von ihm schnellere und bessere Arbeit zu erhalten. Wie aus einem Brief von Alexandra von Miquel hervorgeht, hatte Meyer-Clason am Beginn seines Kontaktes mit Guimarães Rosa sehr viel zu tun und konnte erst im Herbst 1963 mit der Übersetzungsarbeit beginnen.169 Es kann also tatsächlich der Fall sein, dass Guimarães Rosa seinen deutschen Übersetzer zu schnellerer Arbeit motivieren wollte, um früher in Europa rezipiert werden zu können. Tatsächlich schreibt der Autor an seinen deutschen Übersetzer noch bevor dieser mit seiner eigentlichen Arbeit begonnen hat: „De todas, será a alemã a versão mais bem realizada, a melhor – tenho certeza.“ 170 Auch wenn sich Guimarães Rosa bereits auf kurze Probeübersetzungen Meyer-
162 163 164 165 166 167 168 169 170
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Piers Armstrong, ‘Tradução e diplomacia’, p. 580. Brief von Alexandra von Miquel vom 16. 4. 1963 an Guimarães Rosa, vgl. p. 195 vorliegender Arbeit. Armstrong, Piers, ‘Tradução e diplomacia’, p. 580. João Guimarães Rosa, Gran Sertón: Veredas (Madrid: Alianza Editorial, 1999), p. 592. João Guimarães Rosa, Grande Sertão (Milano: Feltrinelli, 1996), p. 483. João Guimarães Rosa, Diepe wildernis: de wegen (Amsterdam: Meulenhoff, 2000), p. 511. João Guimarães Rosa, ‘Briefe an den deutschen Übersetzer’, p. 256. Vgl. Brief von Alexandra von Miquel vom 30.11.1962, p. 192 vorliegender Arbeit. Brief von Guimarães Rosa vom 14. 10. 1963, nach: Piers Armstrong, ‘Tradução e diplomacia’, p. 581.
Clasons berufen konnte, von denen er sagte: „gostei muito dessas amostras da tradução“,171 zeigen diese wenigen Beobachtungen vor allem auf, wie wichtig es ist, diese überbrachten Klischees zu hinterfragen und die Übersetzungen einmal vertiefend zu untersuchen.
2. Übersetzungskritik der deutschen Version Schreibt man kritisch über Curt Meyer-Clasons Übersetzung, so stellt man sich damit nicht nur gegen die Meinung Guimarães Rosas, sondern, wie schon im letzten Kapitel erwähnt, auch gegen den allgemeinen Grundkonsens der Forschung, wobei jedoch fast jeder der Kommentatoren die Meinung des Autors übernommen hat, ohne selbst eine Übersetzungsanalyse versucht zu haben. In diesem Kapitel soll an Hand von Redewendungen im Roman untersucht werden, in wie weit die deutsche Version dem brasilianischen Original entsprechen kann. „Klischee, Gemeinplatz, das Schon-Gehörte, Schon-Gesehene – all das ist Rosa zuwider [...].“172 hält Meyer-Clason in einem Artikel über seinen Briefwechsel mit dem brasilianischen Autor fest. In der Erzählung „A benfazeja“ schreibt Guimarães Rosa: „Tudo se compensa. Por que, então, invocar, contra as mãos de alguém, as sombras de outroras coisas?“ 173 Meyer-Clason übersetzt die Stelle ursprünglich folgendermaßen: „Eine Hand wäscht die andere. Warum dann gegen die Hände eines Menschen die Schatten früherer Dinge in die Waagschale werfen?“ 174 Guimarães Rosa erkennt die Redewendung „eine Hand wäscht die andere“ und äußert seinen Unmut darüber in einem Brief, den MeyerClason übersetzt veröffentlicht hat: Eine Hand wäscht die andere“: Verzeihen Sie, aber das gefällt mir ganz und gar nicht (auch nicht mit dem Wortspiel des nächsten Satzes). B i t t e ä n d e r n S i e e s a b. Es muß die Lösung einer Formulierung geben, die ohne einen-so-bärtigen [in deutsch geschriebenen] Gemeinplatz auskommt. Etwas auf der Linie: „Das gewogene wiegt die Waage.“ Zum Beispiel. Oder wörtlich übersetzen.175
Meyer-Clason geht auf die Kritik des Autors ein und ändert die betreffende Stelle um. Sie lautet nun: „Alles gleicht sich aus. Warum dann gegen die Hände eines Menschen die Schatten früherer Dinge aufrufen?“176 Warum nicht gleich, ist man versucht zu fragen. Dass in der ursprünglichen Übersetzung nicht „nur eine Hand wäscht die andere“, sondern auch „in die Waagschale werfen“ eine unnötige Redewendung gewesen wäre, ist anscheinend weder dem Autor noch dem Übersetzer aufgefallen. Trotz dieser deutlichen Kritik Rosas an der verwendeten Redewendung, trotz der bekannten Aversion des Brasilianers gegenüber abgenützten, nichts mehr bedeutenden Gemeinplätzen, verwendet Meyer-Clason immer wieder, auch wenn es überhaupt nicht notwendig ist, in seinen Übersetzungen deutsche 171 Guimarães Rosa in einem Brief vom 11. 11. 1959, nach: Maria Apparecida Faria Marcondes Bussolotti, 172 173 174 175 176
‘Proposta de edição’, p. 412. João Guimarães Rosa, ‘Briefe an seinen deutschen Übersetzer’, p. 279. João Guimarães Rosa, ‘A Benfazeja’, in: ders., Ficção Completa. Volume II, pp.475-481 (p.475). Curt Meyer-Clason: ‘João Guimarães Rosa und die Deutsche Sprache’, p. 83. João Guimarães Rosa, ‘Briefe an seinen deutschen Übersetzer’, p. 279. Ebd.
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Redewendungen. In „Grande Sertão“ sogar so viele, dass man denken könnte, der Originaltext strotze vor zitierten Sprichwörtern und abgenutzter Klischees. Anscheinend hat Guimarães Rosa trotzt seiner guten Deutschkenntnisse viele dieser Redewendungen nicht gekannt und deshalb als gelungene Neuerfindungen Meyer-Clasons gewertet. In einem Brief vom 9. Februar 1965 wiederholt Guimarães Rosa seine Maxime sehr bestimmt: „Cortar todo lugar-comum, impiedosamente.“177 Obwohl in „Grande Sertão“ viele dieser Gemeinplätze offensichtlicher Weise nicht ausgemerzt wurden, schätzt Guimarães Rosa Curt Meyer-Clasons Übertragung, wie schon weiter oben genauer ausgeführt, über alles. In einen Brief an den Übersetzer schreibt er: „já li, 3 vêzes, de A bis Z, o Grande sertão; e, a cada vez, gosto mais, admiro ainda mais a sua magistral tradução.“178 Im nächsten Kapitel sollen einige deutsche Redewendungen aufgezeigt werden, die anscheinend sowohl dem Autor als auch dem Übersetzer entgangen sind.
2.1. Redewendungen und Gemeinplätze in „Grande Sertão“ Folgende Liste vergleicht Redewendungen in der deutschen Übersetzung mit den Originalfrasen von Guimarães Rosas. Die Aufzählung ist eine zwar umfangreiche, jedoch trotzdem nur kleine, eher zufällig gewählte Auswahl aus dem Text.
Grande Sertão: Veredas [...] quem mói no asp’ro, não fantaseia. (p. 3) Wie ein Sprichwort klingende Eigenkreation Rosas, nicht geläufig aber unmittelbar verständlich.179 Essas melancolias. (p. 3) Normaler Satz, der durch seine Kürze geheimnisvoll wirkt. Lá como quem diz: nas escorvas. (p. 8) Eigenkreation, „in der Pulverpfanne sein“, unmittelbar als, „am Ende sein“ ver-ständlich.
Grande Sertão [...] wenn Schmalhans Küchenmeister ist, hat einer keine Muße zum Träumen. (p. 9) Die Wendung „jemandem ist Schmalhans Küchenmeister“ ist seit dem 17. Jahrhundert geläufig.180 Man hats eben schwer! (p. 9) Umgangsprachlicher Ausruf. Wie man sagt: Bald werde ich ins Gras beißen. (p. 15) „Ins Gras beißen“ Redewendung nach der antiken Vorstellung, dass der Kämpfer beim Todeskampf in die Erde oder in das Gras beißt.
177 João Guimarães Rosa, ‘Briefe an seinen deutschen Übersetzer’, p. 266. 178 Ebd., p. 268. 179 Die Wendungen Guimarães Rosas wurden in den großen portugiesischen Wörterbuchern gesucht und konnten
nicht als herkömmliche Redewendungen identifiziert werden. Bei der Markierung von Neologismen und der Analyse der unmittelbaren Verständlichkeit der Rosaschen Kreationen war Cristina Vejmelka von ungemein großer Hilfe. 180 Alle deutschen Redewendungen und Gemeinplätze sind im großen Duden als solche markiert. Vgl. Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1989.
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Dúvido dez anos. (p. 30) Normaler kurzer Satz.
Desemendo. (p. 82) Von „emendar“ ausgehender Neologismus. Eu tinha o medo imediato. (p. 88) Kein Neologismus, jedoch kreativ in der Verwendung des Adjektivs statt des Adverbs. Ah, tinham roubado, saqueado muito, grassavam. (p. 143) Keine Redewendung, “grassar” im Sinn von “wüten” verwendet.
Sobrefiz. (p. 146) Neologismus, verständlich als „erfüllen“. A bronzes. (p. 146) Ein Neologismus, der im Zusammenhang mit der Gleichsetzung von Hermógenes und dem Teufel verstanden werden muss. Hermógenes soll mit einer bronzenen Kugel getötet werden, was eine Anspielung auf den Werwolf ist, der in der Volksvorstellung mit einer Silberkugel zu töten ist. “Vem, tu vem, que estamos no amém estreitos!” – que, enfezado, o Hermógenes chamou. (p. 140) Eine kreative Umdrehung der gebräuchlichen Wendung: „Estamos estreitos no amém“. [...] mas Diadorim me vigiava. (p. 166) Normaler Satz.
No ferrenho, tive um tempo de coisa,
Darüber zerbreche ich mir seit zehn Jahren den Kopf. (p. 37) „Sich den Kopf zerbrechen“, umgangssprachliche Redewendung. Ich verliere oft den Faden (p. 90) „Den Faden verlieren“, Redewendung. Ich war nur noch Angst, von den Haarwurzeln bis zu den Fußspitzen. (p. 97) „Von den Haarwurzeln bis zu den Fußspitzen“, umgangssprachliche Rede-wendung. Alles war gestohlen, man plünderte und powerte das Land ringsum nach Strich und Faden aus. (p. 152) „Power“ im Sinn von „armselig, ärmlich“ (von lat. „pauper“) entspricht nicht dem Vokabular eines Jagunços. „Strich und Faden“ ist eine Redewendung aus der Webersprache, wo bei der Prüfung eines Gesellenstücks der gewebte Faden und der Strich geprüft werden. Ich hielt Wort. (p. 155) „Wort halten”, kurze Redewendung. Tod und Teufel. (p. 156) Ein gebräuchlicher Fluch.
“Los, Mann, sonst kommen wir in Teufels Küche!” brummte Hermógenes böse. (p. 196) „Jemanden in Teufels Küche bringen“, Redewendung. In diesem Buch, gerade an dieser Stelle, sollte man mit Teufelsandeutungen besonders sensibel sein. [...] aber Diadorim bewachte mich mit Argusaugen. (p. 176) „Jemanden mit Argusaugen bewachen“ ist ein bildungssprachlicher Begriff, nach dem hundertäugigen Riesen des griechischen Mythos. Mitten im Kugelregen kams über mich, eine 53
espécie de mais medo, o que um não confessa: vara verde, ver. (p. 184) Kreative Umformung der Redewendung “tremer como varas verdes.“ (“Wie Espenlaub zittern”).
Angst, die keiner eingesteht: ich zitterte wie Espenlaub. (p. 195) Verwendung der Redewendung, ohne die Umformung mitzuübersetzen.
„Tu, Tatarana, Riobaldo: agora é a má hora!” – era o Hermógenes prevenindo. – “Demo!” – eu repontei. (p. 186) “A má hora”, normaler, gebräuchlicher Ausdruck für „dunkle Stunde“.
“Hör, Feuersalamander, Riobaldo, wir sind im Eimer”, warnte Hermógenes. „Teufel!“ gab ich zurück. (p. 197) „Im Eimer sein“, saloppe Formulierung für „kaputt oder verloren sein“, gemeint ist der Abfalleimer.
Demarcava que iam acontecendo grandes fatos. (p. 229) Normaler Satz.
Es sah aus, als sollte jeder sein blaues Wunder erleben. (p. 241) „Sein blaues Wunder erleben“, umgangssprachliche Redewendung.
Mas descemos no canudo das desgraças, ei, saiba o senhor. (p. 263) Kein gebräuchlicher Ausdruck, jedoch leicht verständliche Metapher.
Aber – ich muß sagen, Senhor – wir wurden von einer Pechsträhne verfolgt, die sich gewaschen hatte. (p. 276) „Sich gewaschen haben“, umgangssprachliche Wendung für „von beeindruckender (oder unangenehmer) Art sein.“
O senhor pense, o senhor ache. O senhor ponha enredo. (p. 270) „Por enredo“ gebräuchliche Formulierung für „die Dinge in Ordnung bringen“.
Denken Sie nach, stellen Sie sich alles vor, suchen Sie den roten Faden. (p. 283) „Der rote Faden“: Bild für einen verbindenden Grundgedanken, nach Goethes „Wahlverwandtschaften“, wo eine alles verbindende Hauptidee mit dem durch-laufenden roten Faden im Taufwerk der englischen Marine verglichen wird.
Estou dando batalha. (p. 273) „Dar batalha“ ist eine Eigenkreation Rosas, die leicht als „kämpfen“ verständlich ist. [...] e eles, cães aqueles, sem temor de Deus nem justiça de coração, se viravam para judiar e estragar, o rasgável da alma da gente – no vivo dos cavalos, a torto e direito, fazendo fogo! (p. 297) “Rasgável” ist eine aus “rasgar” gebildete Kreation. „A torto e direito“ ist ein ge-
Ich halte den Kopf hin. (p. 286) „Den Kopf hinhalten müssen“, umgangssprachliche Redewendung, „für etwas geradestehen müssen“. [...] die Bluthunde, ohne Angst vor Gott und der Gerechtigkeit des Herzens, schossen blindlings in sie hinein, daß es einen durch Mark und Bein ging. (p. 310) „Durch Mark und Bein gehen“, umgangssprachliche Redewendung.
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bräuchlicher Ausdruck für „kreuz und quer“. „Riobaldo, você teme?“ (p. 328) Normaler Satz. Isso, de arrevés, eu li com hagá; (p. 328) “Ler com hagá”, Eigenkreation für, “überinterpretieren, mehr hineinlesen, als da ist.”
...vamos embora da jagunçagem, [...] (p. 328) Normaler Satz. Tu diz missa, Diadorim. (p. 329) „Dizer missa”, keine Redewendung, normaler Ausdruck für, „die Messe lesen”.
E foi que dali acabamos de surgir – da arrepoeira e fumaça de estrume, e o corusco de labareda alguma, e a mormaceira. (p. 345) “Da arrepoeira”, aus “arredar, levantar poeira” gebildete Neukreation, an die Sprechweise im Hinterland angelehnt. Virgem! – digo ao senhor: o interior dela dava pena, nunca vi nada tão remexido e roubado. Total o que era de jeito de se carregar, o em arcas e em trouxas, e que no comum duma casa remediada se acha, faltava. [...] Tinham limpado a carne daquele costelame. (p. 349) Normaler Satz.
Alguém estiver com medo, por exemplo, próximo, o medo dele quer logo passar
„Riobaldo, bist du ein Angsthase?“ (p. 340) „Angsthase“, stehender Begriff für „Feigling“. Ich sah, daß er mit etwas hinterm Berg hielt; (p. 340) „Hinter dem Berg halten“, umgangssprachliche Redewendung, aus dem militärischen, von Truppen oder Geschützen, die hinter einem Berg dem Blick des Gegners entzogen waren. Wir wollen den Jagunço an den Nagel hängen, [...] (p. 340). „An den Nagel hängen“, umgangssprachliche Redewendung. Du willst mir die Leviten lesen, Diadorim. (p. 341) “Jemandem die Leviten lesen”, umgangssprachliche Redewendung für “Jemandem nachdrücklich zur Rede stellen”. Ursprünglich: aus den levitischen Gesetzen im Buch Levitikus vorlesen. Schließlich kamen wir aus dem feuchtheißen Gewölk aus Staub und Dungrauch, durch das dann und wann eine Flamme sprang, mit heiler Haut heraus. (p. 357) „Mit heiler Haut herauskommen“, umgangs-sprachliche Redewendung. Heilige Jungfrau! Ich kann Ihnen sagen: drinnen sah es grauenvoll aus, ich habe nie ein so auf den Kopf gestelltes und ausgepowertes Haus gesehen. Alles, was man in einem einigermaßen eingerichteten Haus gewöhnlich findet und was nicht niet- und nagelfest war, hatten die Halunken mitgeschleppt. [...] Die Diebe hatten reinen Tisch gemacht. (p. 361). „Ausgepowert“, bildungssprachlicher Ausdruck. „Auf den Kopf stellen“, „niet- und nagelfest“, „reinen Tisch machen“: alle umgangssprachliche Redewendungen. Stünde hier, nahebei, ein Angsthase, seine Angst würde sogleich auf Sie übergehen 55
para o senhor; (p. 351) Normaler Satz. Pois Zé Bebelo, que sempre se suprira certo de si, tendo tudo por seguro, agora bambeava. (p. 352) Normaler Satz. “agora bambeava” etwa “jetzt schwankte er”, “jetzt war er unsicher auf den Beinen”. „Que os carregue!“ (p. 373) Verkürzter Ausruf von „Que o diabo os carregue!” Rosa lässt das Wort Teufel hier aus. – „Riobaldo, tu é um homem de estúrdia valia [...].” (p. 375) Normaler Satz. Tudo eu palpava com os pés, nisso eu respingava um tardar. (p. 376) Ungewöhnliche Formulierung, jedoch keine Redewendungen.
Agravei o branco em preto. (p. 376) Kreative Gestaltung des gebräuchlichen “preto no branco” – “die Dinge klarstellen”.
Certo, deviam de estar com invejas. Fosse! E a mãe!... (p. 379) Normaler Satz, der Plural “invejas” ist ungewöhnlich.
„Mas, você é outro homem, você revira o sertão...” (p. 386) Normaler Satz. Só eu sei. (p. 415) Normaler Satz. 56
wollen. (p. 363) „Angsthase“, umgangssprachlicher, stehender Begriff. Zé Bebelo, den bisher nichts aus der Ruhe bringen, nichts erschüttern konnte, fiel auf einmal das Herz in die Hosen. (p. 363) „Das Herz in die Hose fallen“, oft scherzhaft verwendete Redewendung für „den Mut verlieren“. „Zum Teufel mit euch!“ (p. 384) Hier wird die ganze Redewendung wiedergegeben, gleich nach dem Pakt das Wort „Teufel“ also schon wieder ausgesprochen. „Riobaldo, du bist einer von echtem Schrot und Korn [...].“ (p. 386) „Von echtem Schrot und Korn“, Redewendung. Ich trat allen auf die Hühneraugen und erreichte damit nur, daß der Abstand zwischen mir und ihnen immer größer wurde. (p. 387) „Jemandem auf die Hühneraugen treten“, umgangssprachliche Redewendung für, „jemanden mit einer Äußerung, einem bestimmten Verhalten an einer empfindlichen Stelle treffen.“ Ich machte aus meinem Herzen keine Mördergrube. (p. 387) „Aus seinem Herzen keine Mördergrube machen“, umgangssprachliche Redewendung für „mit seiner Meinung nicht zurückhalten.“ Sicherlich waren sie neidisch auf mich. Und wenn schon! Zum Teufel mit ihnen...! (p. 390) „Zum Teufel mit ihnen“, der Teufel wird hier direkt in einer Redewendung angesprochen. Im Original ist er nur angedeutet. „Du bist ein anderes Kaliber, du stellst den Sertão auf den Kopf.“ (p. 396) „Ein anderes Kaliber sein“, umgangssprachliche Redewendung. Ich kann ein Lied davon singen. (p. 425) „Ein Lied davon singen können“, umgangs-
Desgraçado desse homem, pelo que em sua vida ia ser, pelo que seus aspectos indicavam. (p. 417) Normaler Satz. Sabia que eu estava até com enjôo da situação daquele homem da égua, meu gosto era permitir que ele fosse s’embora, forro de qualquer castigo. (p. 418) Normaler Satz, “forro de qualquer castigo” ist keine Redewendung. Ah, não! [...] A cachorrinha se latia. (p. 419) Normaler Satz. „se latia“ als Verstärkung, typische Redeweise der Region.
A cachorrinha perturbava os cavalos. (p. 419) Normaler Satz.
Mas que, porém, beleza a elas também não faltava, isto sim. (p. 464) Normaler Satz. Tudo isto, para o senhor, meussenhor, não faz razão, nem adianta. (p. 468) Normaler Satz. „Não faz razão” – „es ist sinnlos”.
“Pau de fogo, minha gente!“ – eu procedi. (p. 493) “Pau de fogo”, ein von Guimarães Rosa kreierter Ausruf. Mesmo assim eu queria e visava, dali não saí, do vão aberto, não dando de meu poder. Desfechei bem. Por mim, meu
sprachliche Redewendung für, „aus eigener unangenehmer Erfahrung zu berichten wissen.“ Nach seinem Aussehen zu schließen, was konnte so ein armer Teufel vom Leben erwarten? (p. 427) „Armer Teufel“ stehende Wendung, unnötige Erwähnung des Teufels. Er wußte, daß mir der Zustand des Stutenreiters sogar an die Nieren ging und daß ich ihn am liebsten ungerupft ziehen lassen würde. (p. 427) “An die Nieren gehen” und “ungezupft ziehen lassen”, umgangssprachliche Redewendungen. Verdammt noch eins! [...] Das Hündchen kläffte sich die Kehle aus dem Leib. (p. 429) „Verdammt noch eins!“, dezidierter Fluch statt dem unbestimmten „ah, não!“, „sich die Kehle aus dem Leib schreien“, umgangs-sprachliche Redewendung. Der Köter brachte allmählich die Pferde in Harnisch. (p. 429) „In Harnisch bringen“, umgangssprachliche Redewendung für „jemanden reizen“. Im vorigen Satz wird „cachorrinha“ mit „Hündchen“ übersetzt, nun mit „Köter“. Aber auch sie brauchten ihre Reize nicht unter den Scheffel zu stellen. (p. 474) „Unter den Scheffel stellen“, Redewendung für: „Etwas aus Bescheidenheit verbergen“. All das wird Ihnen, Senhor, ziemlich spanisch vorkommen, und hat für Sie auch wenig Sinn. (p. 478) „Spanisch vorkommen”, Redewendung, deren portugiesische Entsprechung „falar grego” wäre. „Gib ihm Saures!” brüllte ich. (p. 502) „Gib ihm Saures!“, umgangssprachlicher Ausruf. Aber auch so blieb ich am offenen Fenster stehen, ich ließ mich nicht ins Bockshorn jagen, visierte und schoß weiter und küm57
desprezo, como essas assoviantes deles varejavam... Eu não estava caçando a morte – o senhor bem me entenda. (p. 521 f.) Normale Sätze ohne Redewendungen. „Assoviantes“, Neologismus für „Kugeln, die pfeifen“.
Deus esteja. (p. 1) Gebräuchlicher Ausdruck. Deus esteja (p. 187). Tem cisma não. (p. 538) Gebräuchlicher Ausdruck.
merte mich nicht um die flitzenden Kugeln. Nicht, daß ich mit dem Tod geliebäugelt hätte, da sei Gott vor, verstehen Sie mich recht. (p. 530) „Ins Bockshorn jagen“, Redewendung, vielleicht aus dem alten Haberfeldtreiben, bei dem der Gerügte in ein Bocksfell gezwängt wurde (-horn umgedeutet aus dem mittelhochdeutschen „hame“ = „Hülle“). Da sei Gott vor, Redewendung, von MeyerClason auch verwendet um „deus esteja“ zu übersetzen. In diesem Fall einfach so eingefügt. [...] da sei Gott vor. (p. 7) Das walte Gott! (p. 198) Lassen sie sich keine grauen Haare wachsen. (p. 546) Redewendung.
Wie diese lange Aufzählung, die beliebig verlängert werden könnte, deutlich zeigt, ist der bereits zitierte Wunsch des Autors: „Cortar todo lugar-comum, impiedosamente“ 181 von seinem deutschen Übersetzer offensichtlicher Weise nicht erfüllt worden. Curt Meyer-Clason ist sich bewusst, dass seine Übersetzungen zu kontroversiellen Meinungen führen können und beschreibt das Übersetzen als „ein Handwerk, über dessen Ausübung selbst unter Handwerkern keine Übereinstimmung besteht.“182 Er widerspricht sich jedoch in einem im Jänner 1991 am Institut für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung Graz gehaltenen Vortrag selbst, indem er nun das Übersetzen sehr wohl als Kunst und nicht als Handwerk betrachtet: „außerdem ist es für den Übersetzer immer befriedigender, an einer großen Aufgabe zu scheitern, als sich mit einer handwerklichen Verdeutschung zu bescheiden, die weder als gleichwertig, noch als Kunstwerk gewertet zu werden verdient.“183 Es bleibt einer größer angelegten Übersetzungskritik von „Grande Sertão“ überlassen, zu beurteilen, ob Meyer-Clason die Befriedigung eines Scheiterns erfahren darf. Auch wenn die deutsche Übersetzung in ihrer Übertragung von Riobaldos unbestimmter und schwebender Sprache glättend und herkömmlich wirkt, so ist sie doch in ihrer inhaltlichen Vertrautheit mit dem Original eine große Hilfe für alle deutschsprachigen Rosa-Leser und auch für andere Übersetzer. Curt Meyer-Clason hat nahezu für jeden Satz eine Übersetzungsmöglichkeit gefunden, nur wenig inhaltliche Fehler begangen und nur sehr wenig weggelassen, 181 João Guimarães Rosa, ‘Briefe an seinen deutschen Übersetzer’, p. 266. 182 Nach: Claudia Maria Treiber, Umgangssprache in der literarischen Übersetzung. Betrachtungen zu diesem
Thema anhand des Werkes „Los Santos Inocentes“ von Miguel Delibes in Curt Meyer-Clasons Übersetzung „Die Heiligen Narren“ (Graz: Diplomarbeit der Universität Graz, 1994), p. 108. 183 Ebd., p. 109.
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was beim Verständnis des Originals hilfreich sein kann. Ideal wäre demzufolge eine zweisprachige Ausgabe, wie sie dem Autor auch vorschwebte: „Kein Wunder, daß ihm eine zweisprachige Ausgabe, deren deutsche Fassung alle Ungereimtheiten und Verstiegenheiten des Originals wiedergegeben hätte, am liebsten gewesen wäre.“184 Zu so einem Buchprojekt, in dem Meyer-Clason mehrere Übersetzungsvarianten hätte anführen können, ist es jedoch nie gekommen. In seiner deutschen Version musste er sich für eine bestimmte Interpretation von Riobaldos so offener und zweideutiger Weltsicht entscheiden. Dabei hat er oft die glättende und vereinfachende Möglichkeit gewählt. Peter Poulsen, der Übersetzer der, noch unveröffentlichten, dänischen Version von Grande Sertão: Veredas fasst die Schwächen und Vorzüge der deutschen Übertragung in einem Interview schön zusammen. Auf die Frage hin, ob ihm die deutsche Übersetzung von Curt Meyer-Clason bei seiner Arbeit hilfreich gewesen sei, antwortet er: A magnífica tradução de Meyer-Clason foi de grande utilidade, mas mais no sentido da compreensão do que propriamente no que tange aos aspectos dialeto-lógicos, porque Meyer-Clason, mais do que eu, preferiu descomplicar e normalizar Riobaldo, tornando-o em termos lingüísticos mais palatável em alemão do que na versão roseana original.185
184 Curt Meyer-Clason, ‚João Guimarães Rosa und die deutsche Sprache’, p. 80. 185 Per Johns, ‘Encontro de Per Johns com Peter Poulsen na Ilha de Bornholm, Mar Báltico’, Jornal de Poesia-
Revista de cultura, 6 (ago/set 2000).
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IV. Erzähltechnik in Grande Sertão: Veredas
Auf den ersten Blick scheint Riobaldos langer Monolog große Ähnlichkeiten mit einem inneren Monolog zu haben. Vladimir Tumanov unterscheidet zwischen dem „framed direct interior monologue“ und dem „unframed direct interior monologue“. Ersterer ist in den Diskurs eines Erzählers eingebunden, der die externe Realität darstellt, um dem inneren Monolog eine logische Erklärung zu geben. Dieser Erzähler erklärt die externe Welt, was vom Denker oder Monologsprecher nicht erwartet werden kann.186 Von einem „unframed direct interior monologue“ spricht Tumanov hingegen, wenn der Monolog ohne einen narrativen Kontext erscheint und die Erzählung sich aus dem Monolog selbst ergeben soll. Wenn der innere Diskurs ganz auf sich allein gestellt ist, ohne Unterstützung eines Kontextes, liegt eindeutig ein „unframed direct interior monologue“ vor, der dem Leser nur die subjektive Wahrnehmung des Sprechers oder Denkers liefert. Der weggefallene auktoriale Erzähler wird jedoch nicht einfach durch einen Ich-Erzähler ersetzt, sondern durch den inneren Diskurs dieses Ichs, welcher nichtnarrative Beziehungen im Prozess der Selbstkommunikation wiedergibt, wodurch eine ständige Spannung entsteht. 187 Dieser Diskurs kann auch bei Riobaldo oft spontan und ungeordnet erscheinen, ist jedoch nie mit einem „stream of consciousness“ zu verwechseln, wie es einige Studien tun,188 da sein Bewusstseinsstrom ein Sprachstrom ist und daher einer ausformulierten Sprache bedarf, wie Chiampi Cortez aufzeigt: Ya se observó que Grande sertão no es un flujo de la consciencia, pues el diálogo instaura la “objetivación de las relaciones por medio de la lengua hablada” [...]. Al ser flujo oral, se aparta del irracionalismo de los estados preconscientes para ser lenguaje de la conschiencia – formulada – y cuyo sentido surge de la scuencia de los segmentos [...].189
Dadurch, dass in Grande Sertão: Veredas kein auktorialer Erzähler aufscheint und der Zuhörer oder Leser ganz auf Riobaldos subjektives Wahrnehmungsempfinden angewiesen ist, hat dessen, mit zahlreichen nichtnarrativen Elementen durchzogener Monolog, vieles mit einem „unframed direct interior monologue“ gemein. Anderseits ist es Riobaldo selbst, 186 Vgl. Vladimir Tumanov, Mind Reading: Unframed Direct Interior Monologue in European Fiction, Inter-
nationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Band 19, hg. von Alberto Martino. (Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1997), p. 4. 187 Ebd., p. 6f. Vgl. zur Erzählperspektive im Allgemeinen auch: Barbara Drucker, Vergleich James Joyce (Ulysses) und Arthur Schnitzler (Fräulein Else), (Wien: Seminararbeit, Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien, 2001). 188 Vgl. Bernardo Gersen, ‘Veredas no Grande Sertão’, in Coleção Fortuna Critica, vol. 6: Guimarães Rosa, hg. von Eduardo Coutinho (Rio de Janeiro: Civilização Brasileira, 1983), pp.350-359. Und: Donaldo Schüler, ‘Grande Sertão – Estudos’, ebd. pp.360-377. Beide vergleichen Riobaldos Monolog mit dem joyceschen “stream of consciousness”. 189 Irlemar Chiampi Cortez, ‘Narración y metalenguaje en Grande Sertão: Veredas’, Revista Iberoamericana, 43, números 98-99 (enero – junio de 1977), 199-225 (p.205).
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der seinem Monolog einen logischen Rahmen gibt, denn durch die Präsenz des Zuhörers von der Küste obliegt es dem monologisierenden Ex-Jagunço, diesem die externe Welt zu erklären, um so seinen Redefluss gewordenen Gedankenstrom verständlich werden zu lassen. Durch den anwesenden Gast übernimmt Riobaldo die Funktion eines klassischen IchErzählers, der versucht, die äußere Welt möglichst objektiv darzustellen, um so einen verständlichen Rahmen zu seinem privaten Diskurs bilden zu können. Dadurch, dass jedoch der stumme Zuhörer, wie man Riobaldos Bemerkungen entnehmen kann, gar nicht so schweigsam ist, sondern er Riobaldo sehr wohl mit eigenen Bemerkungen unterbricht („O senhor não acha? Me declare, franco, peço. Ah, lhe agradeço. Se vê que o senhor sabe muito, em idéia firme, além de ter carta de doutor. Lhe agradeço por tanto.”190) und er sogar im Begriff steht, selbst Fragen zu stellen („E Diadorim, o senhor perguntará“ – GS:V, p. 175; „Agora – e os outros? – o senhor dirá.“ – GS:V, p. 240), wird die isolierte Form des Monologs hier klar durchbrochen. Roberto Schwartz war der erste, der schon in einem Aufsatz aus dem Jahr 1960 festhielt, dass es sich bei Riobaldos Monolog um die Hälfte eines Dialogs handelte: „Poderíamos falar, então, em diálogo, pela metade, ou diálogo visto por uma face.“191 Obwohl der Interlokutor nie spricht, reicht seine stille Anwesenheit, die sich durch Riobaldos Anmerkungen immer wieder bestätigt, aus, um den Monolog als halben Dialog zu qualifizieren: „Desde a primeira sentença há uma sugestão de diálogo mimetizada na situação real de conversação [...].“192 Coutinho weist genauer auf die hybride Gestalt von Riobaldos Redeschwall hin, der durch seine Nähe zum inneren Monolog, dem Leser eine sehr intime und intensive Auseinandersetzung mit den ethischen Problemen des Sprechers ermöglicht, aber gleichzeitig durch den im Hintergrund immer präsenten Zuhörer eine Identifikationsfigur für den Leser bietet: It is true that by abandoning the pure interior monologue Guimarães Rosa transcended the excessive subjectivism so much criticized, especially by Marxist-oriented scholars, in the works of his contemporaries – particularly European and North American novelists – and moved a step forward as regards the craft of the genre, but the consequences of his use of a hybrid technique are not restricted to that. By preserving some of the aspects characteristic of the interior monologue, the author enables the reader to accompany more closely and with greater intensity the conflicts of the narrator-protagonist, and also paradoxically contributes to the dialectical
190 João Guimarães Rosa, Grande Sertão: Veredas (Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1997), p. 17. In Folge:
„GS:V”. Dies ist die sowohl in Brasilien als auch in Portugal sich im Handel befindliche 32. Auflage des Romans. 2001 erschien eine vollkommen neu gestaltete, 624 Seiten dicke Neuauflage, jedoch wieder ohne textkritische oder erklärende Anmerkungen. Bis 1986 wurde das Buch bei José Olympio aufgelegt. Die unterschiedlichen Auflagen haben zum Teil sehr verschiedene Paginierungen, was bei Zitaten in der Sekundärliteratur oft sehr verwirrend sein kann. Kathrin Holzermayr Rosenfield hat dem entgegengewirkt und eine Seitenkonkordanz der 1., 2., 12., 15. und 21. Auflage erstellt. (Kathrin Holzermayr Rosenfield, Grande Sertão: Veredas. Roteiro de leitura (São Paulo: Ática,1992), pp.92-105. Die in vorliegender Arbeit verwendete 32. Auflage hat jedoch wieder eine von den übrigen Editionen abweichende Paginierung. 191 Roberto Schwarz, ‘Grande Sertão: a Fala’, in Coleção Fortuna Critica, 6, pp.378-382 (p.379). 192 Teresinha Souto Ward, ‘O Discurso oral’, p. 94; vgl. auch: Elizabeth Lowe, ‘Dialogues of Grande sertão: veredas’, Luso-Brazilian Review, 13, (Winter 1976), pp.231-43; und die bisher umfangreichste Studie zum Thema des “monodialogos”: Carlos Pacheco, ‘El monodialogo como estrategia narrativa oral en João Guimarães Rosa’, in: ders.: La comarca oral. La ficcionalización de la oralidad cultural en la narrativa latinoamericana contamoránea (Caracas: La Casa de Bello, 1992), pp.105-127.
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continuity of the narrative, by permitting greater identification between the reader and the interlocutor, who, through his silence, is transformed into a kind of projection of the reader himself.193
Der Zuhörer erscheint dadurch, dass man ihn im Text nie direkt sprechen hört, stumm, wie Coutinho erwähnt, doch deutet Riobaldo öfters an, dass der Doktor von der Küste sehr wohl seine Kommentare zu seinem Redefluss beisteuert: „Eh! – o que o senhor quer indagar, eu sei. Porque o senhor está pensando alto, em quantidades.“ (GS:V, p. 444). Dadurch, dass diese Äußerungen des Gastes jedoch nicht in den Text integriert sind, wird für den Leser die Illusion, an Stelle des fiktiven Zuhörers zu treten, verstärkt.194 Andererseits ist die Figur des Zuhörers in Grande Sertão: Veredas so angelegt, dass sie auch auf den realen Autor João Guimarães Rosa hinweist. Dieser spiegelt sich im gebildeten Doktor von der Küste, der den Sertão mit dem Notizheft in der Hand durchstreift, selbst: „[T]he interlocutor is presented in the narrative as a double-figure: on the one hand, he is the one who listens to the story – that is, a representative of the reader, and on the other he is also an image of the writer, who, having taken notes while listening, will transmit the story to others in the form of a book.“195 Manoel Nardy, der Viehtreiber, der Guimarães Rosa im Mai 1952 durch den Sertão führte, berichtet davon, dass der Autor ständig seinen Notizblock bei der Hand hatte und jede Kleinigkeit darin verewigte: „Ele panhou os dado, que ele trouxe uma ruma assim de caderno espiral, pendurava aqui no pescoço. Um lápis também pendurado junto com o caderno. Tudo que ele via ele perguntava. Uma pessoa contava uma estória, ele tomava nota. Qualquer piada que saisse ele tomava nota daquilo.“196 Luiss Harss zeichnet ein ähnliches Bild vom immer Notizen nehmenden Schriftsteller: Guimarães Rosa traf in Rio de Janeiro einmal zufällig einen Taxifahrer aus der Nähe seiner Heimatstadt Cordisburgo. Begierig schreibt er dessen Lebensgeschichte auf: „I took the man to have a drink with me,“ Guimarães Rosa tells us, „and we sat and talked all evening.“ They not only got along famously but went on something of a binge together. He had the man tell him his life, while he sat with a glint in his eye, taking piles of notes. Similarly inclined, presumably, is the listener in Grande Sertão.197
Genauso wie Guimarães Rosa während seiner Studienreise den Doktor aus der Stadt im Sertão repräsentiert und der Taxifahrer den Sertão in der Stadt darstellt, ist die Erzählsituation in Grande Sertão: Veredas ein Dialog zwischen Stadt und Land. Der Monolog Riobaldos ist ein virtueller Dialog mit dem städtischen Zuhörer, der eine Identifikationsfigur des Lesers und eine Karikatur des Autors ist. Mary Lou Daniel bemerkt, dass Rosa den Roman in zwei Teilen angelegt hat: „Foi concebido como a primeira metade de uma obra em duas pares, a segunda das quais ia ser intitulada Grande Sertão: Cidades“.198 Wo193 Coutinho, Eduardo, The „synthesis“ Novel in Latin America, p120f. 194 Vgl. Gabriela Hoffmann-Ortega Lleras, Die produktive Rezeption von Thomas Manns ‚Doktor Faustus’,
(Heidelberg: C. Winter, 1995), p. 23. 195 Eduardo Coutinho, ‘The committed character of Guimarães Rosa’s aesthetic revolution’, Ideologies & Litera-
ture. Journal of Hispanic and lusophone discourse analysis, 3, No. 2 (Fall 1988), 197-216 (p.213). 196 Teresinha Manoel Nardy nach: Souto Ward, O discurso oral, p. 83. 197 Luis Harss and Barbara Dohmann, ‘Guimarães Rosa’, p. 165. 198 Mary Lou Daniel, João Guimarães Rosa: Travessia Literária (Rio de Janeiro: José Olympio, 1968), p. 9.
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her sie diese Information hat, gibt sie leider nicht an. Ob das Romanprojekt vom Autor später verworfen wurde oder er es nur verschoben hatte, bleibt ebenso ungeklärt, denn obwohl Guimarães Rosa seinen Lesern noch viele Geschichten angekündigt hatte, sollte der Tod dazwischen kommen: „Não me posso permitir uma morte prematura, pois ainda trago dentro de mim muitas, muitíssimas estórias. Mas nasci em Cordisburgo, e lá às vezes as pessoas chegam a ficar muito velhas.“199 Willi Bolle ist dagegen der Meinung, dass der große brasilianische Stadtroman ohnehin schon geschrieben wurde und einfach eine andere Lesart von Grande Sertão: Veredas erfordere: „arrisco-me a experimentar a hipóptese de que Grande Sertão: Veredas é também um romance urbano.“200 Darauf hin liefert er eine Interpretation des Romans als eine Erforschung der Fundamente der brasilianischen Zivilisation, die sich in einem Stadt-Land-Konflikt darstellen lässt und so zu einem Konzept der Zivilisation im Allgemeinen wird.
199 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 6. 200 Willi Bolle, ‘Grande Sertão: Cidades’, p. 80.
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V. Der Teufel
Der Teufel ist eine vielfältig benannte, omnipräsente und doch nie auftretende Hauptfigur in Grande Sertão: Veredas. Trotz dieser unübersehbaren Allgegenwart des Bösen, ist noch immer keine größere Studie des Teufelsbilds in diesem Roman erschienen. Weder seine Form noch seine Funktion sind zufrieden stellend erforscht. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Riobaldo so beschäftigende Teufel dem christlichen Teufel sehr ähnlich ist. Guimarães Rosa ist offensichtlich mit der Kultur des Sertãos sehr gut vertraut und Riobaldo selbst ist ja auch ein Kind dieser Landschaft, weshalb in Anekdoten und Anspielungen oft Teufelsfiguren und Traditionen des Sertãos erwähnt werden. Riobaldo erwähnt zum Beispiel zu Beginn seiner Erzählung einen Menschen aus der Umgebung, der an drei bestimmten Orten immer dem Teufel begegnen würde und von einem anderem, dem nachgesagt wird, er habe einen Teufel bei sich zu Hause eingesperrt, der ihm zu Reichtum verholfen habe (vgl. GS:V, p. 2).201 Diese eingeschobenen Anekdoten entspringen dem Teufelsbild des Sertãos. Es ist jedoch nicht jener phantastische und schwankhafte Teufel, der Riobaldo so beunruhigt, die Ausprägungen der Volkskultur tut er leichtfertig als Hirngespinste ab: „Doideira, A fantasiação.“ (GS:V, p. 2). Der Teufel, der ihn so sehr verfolgt und der sein Leben bestimmt, hat einen ganz anderen Charakter als das verkörperte Böse der Volkssagen: Riobaldos Vorstellung vom Teufel ist viel ungreifbarer, unbestimmbarer und definiert sich gerade durch diese Uneindeutigkeit, die jenen umso bösartiger und gefährlicher werden lässt. In diesem Kapitel soll aufgezeigt werden, dass dieser Teufel eindeutig aus einer biblischen Tradition entspringt, die noch nicht mit den Märchen und Überlieferungen des Sertãos vermischt worden ist. Schon alleine durch seine oft biblische Namensgebung ist der Teufel, von dem Riobaldo berichtet, deutlich der christlichen Tradition verbunden, wogegen sich afrikanische oder indianische Einflüsse kaum feststellen lassen. Auch die nur erahnbare äußere Darstellung des Teufels im Roman, lässt sich sehr schlüssig durch christlich-okzidentale Symbole erklären. Abschließend soll in diesem Kapitel nach der Form auch die Funktion des Teufels in Grande Sertão: Veredas, im Vergleich mit dem Wirken Satans in der Bibel und im europäischen Mittelalter, gedeutet werden.
201 Auch in Jorge Amados Roman „Terra do sem fim“ heißt es von einem Kaukaubaron, er habe im Tausch für
seine Seele einen Teufel in einer Flasche gefangen, der ihm gehorchen und helfen müsse.
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1. Die Namen des Teufels 1.1. Etymologie 1.1.1. Satan Das hebräische Wort „satan“ bedeutete ursprünglich einfach „Feind“, „Widersacher“ oder „böser Engel“202. So haben die Philisterfürsten etwa Angst, dass ihnen David im Kampf zum „satan“ werden könnte, was in der deutschen Einheitsübersetzung mit „Schick den Mann zurück! Dann kann er sich in der Schlacht nicht gegen uns wenden“ (1 Samuel 29, 4) wiedergegeben wird. Später meinte dann „satan“ im engeren Sinn Widersacher vor Gericht, den Prozessgegner oder Ankläger. „Sein Frevel stehe gegen ihn auf als Zeuge, ein Ankläger trete an seine Seite“ (Psalm 109, 6).203 Im Neuen Testament wird Satan meist als eines der Synonyme für den Teufel gebraucht: Damit ich mich wegen der einzigartigen Offenbarungen nicht überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen: ein Bote Satans, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. (2 Korinther 12,7). Wenn also der Satan den Satan austreibt, dann liegt der Satan mit sich selbst im Streit. Wie kann sein Reich dann Bestand haben? (Matthäus 12, 26). Da sagte er zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. (Lukas 10, 18).
1.1.2. Teufel, Diabo Mehr als dreihundert Jahre vor Christus hatten die alexandrinischen Juden, die in der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus zu einer Weltreligion herangewachsen waren, das Alte Testament ins Griechische übersetzt. Diese Übersetzung ist die Septuaginta. Sie übersetzten das hebräische „Satan“ (Feind, Widersacher) mit „diabolos“ (griechisch für Ankläger, Verleumder). Im Alten Testament bedeutet „diabolos“ deshalb Widersacher, Feind oder auch Ankläger und Verleumder, wogegen „diabolos“ im Neuen Testament schon für Teufel steht. Das griechische Wort ist eine Bildung zu „dia-bállein“, was so viel wie „durcheinanderwerfen, entzweien, verfeinden“, aber auch „schmähen“ und „verleumden“ bedeuten kann. (Die Grundform des Wortes ist „bállein“, was „werfen, treffen“ heißt). Das deutsche Lehnwort „Teufel“ löste die einheimische Bezeichnung „Unhold“ ab und ist
202 Vgl. Duden. Das Große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter (Mannheim: Duden
Verlag, 1994), „Satan“ p. 1226; und: Duden. Herkunftswörterbuch. Die Etymologie der deutschen Sprache (Mannheim: Duden Verlag, 1963), „Satan“ p. 588. 203 Es handelt sich beim Psalm 109 um einen so genannten Fluchpsalm. Er ist für Fromme gedacht, die aus verschiedenen Gründen nicht mit einem fairen Gerichtsverfahren rechnen können. Die Flüche erklären sich als ein Mittel der Notwehr gegen übermächtige Feinde, die nur durch einen Appell an Gottes Gerechtigkeit abgewehrt werden können. (Vgl. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Anmerkung zum Psalm 109).
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sowohl in der Volkssprache, als auch in poetischer Sprache und Kanzelsprache lebendig.204 Die Teufelsbezeichnungen der romanischen Sprachen sind unmittelbar aus dem kirchenlateinischen „diabolus“ entstanden.205 Die Bezeichnung „Teufel“, „devil“ oder „diabo“ und so weiter, kommen also von drei Worten, die im Hebräischen, Griechischen und Lateinischen oft eine verschiedene Grundbedeutung hatten: Satan, Diabolos und Diabolus. Diese Bedeutungen überschnitten sich schon im ersten Jahrhundert vor Christi und wurden in den heiligen Schriften und theologischen Kommentaren unbestimmt eingesetzt. Bald verblassen aber die Unterschiede zwischen Satan, Diabolos und Diabolus, und sie werden in ihrer Bedeutung austauschbar. Es ist nicht klar, warum der Teufel in der Versuchungsgeschichte von Matthäus und Lukas „diabolos“, von Markus aber „satan“ genannt wurde. (Matthäus 12, 26-28; Markus 3; 22-36; Lukas 10, 17-18; 11, 18). 206 Auch wenn der Begriff „diabolos“ eine griechische Übersetzung für das Hebräische „satan“ war, so hatten der Satan des Alten Testaments und der Teufel (diabolos) des Lukas- und Matthäusevangeliums doch verschiedene Funktionen, waren also nicht die selbe Figur. Nachdem aber nun Markus für dasselbe Wesen, das in den beiden anderen synoptischen Evangelien „diabolos“ genannt wurde, „satan“ setzte, wurden die beiden Bezeichnungen von späteren Kommentatoren und Übersetzern endgültig gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung von Satan und Teufel (diabolos) fand aber auch schon in der Bibel selbst, nämlich in der Apokalypse, statt, wo ausdrücklich gesagt wird: „Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt.“ (Offenbarung 12, 9). Wie Fritz Mauthner bemerkt, sind Satan und Teufel zu ganz alltäglichen Wörtern geworden, wir sprechen noch heute vom Satan und in kräftigen Flüchen vom Teufel. Aber auch an Lehnübersetzungen fehlt es nicht: der „diabolos“, schon in der Vulgata „inimicus“, kommt als „alter Feind“ noch in Kirchenliedern vor. Auch Höllenhund (inferni canis), der „alte Wurm“ wird noch verstanden. Tentator wird in der Übersetzung „Versucher“ verstanden und auf den Teufel bezogen.207 Die Hölle dagegen brauchte keine Lehnübersetzung, denn sie fand sich schon überall vor: Die Juden hatten den Scheol, die Griechen den Hades, die Römer ihr infernum, die vorchristlichen Germanen schon ihre Hölle. Die Unterwelt als grausame Strafanstalt war allerdings eine jüdische Vorstellung; in den Hades, in die inferna und auch zur germanischen Hel musste jeder hinab; in den Scheol nur, wer eine Sünde, eine Schuld zu büßen hatte. Die harten Strafen richteten sich strengstens nach dem Gesetz der Wiedervergeltung, das die Verhältnismäßigkeit zwischen Verbrechen und Strafe sichert. Sünde, Schuld, Buße sind lauter jüdische Begriffe, für die sich in der antiken Welt kaum Näherungswerte finden. Das Begriffspaar Schuld und Buße war ursprünglich rechtlicher Natur. Die vorchristlichen Germanen machten Mord und Totschlag durch Geldbuße wieder gut. Erst das Christentum 204 Vgl. Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Band 1 (Wien:
Böhlau, 1997), p. 231f. 205 Vgl. Duden. Das Große Fremdwörterbuch, „Diabolus“, p. 332, Duden. Herkunftswörterbuch, „Teufel“, p.
707. 206 Vgl. Luther Link, Der Teufel. Eine Maske ohne Gesicht, aus dem Englischen von Heinz Jatho (München:
Wilhelm Fink, 1997), p. 26. 207 Vgl. Fritz Mauthner, Wörterbuch, p. 231f.
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sah in der Schuld eine unbezahlte Verpflichtung gegen Gott, eine moralische Forderung Gottes und in der Buße, die Bezahlung an Gott.208
1.2. Teufelsnamen in Grande Sertão: Veredas Faust: Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen Gewöhnlich aus dem Namen lesen, Wo es sich allzu deutlich weist, Wenn man euch Fliegengott, Verderber, Lügner heißt. Nun gut, wer bist du denn?209
Als Mephistopheles Faust erscheint, weiß dieser sofort, mit wem er es zu tun hat: dem Teufel. So nennt er ihn dann auch gleich, Fliegengott, Verderber und Lügner, wobei alle drei Synonyme aus der Bibel stammen. „Fliegengott“ ist eine Übersetzung des hebräischen „Beelzebub“, wie der Teufel im Neuen Testament mehrfach genannt wird (Matthäus 10, 25; 12, 24; 12, 27; Markus 3, 22). Im Alten Testament wird er einmal auch mit der alten Form „Baalzebul“ (2 Könige 1, 2) bezeichnet.210 Der Teufel heißt in der deutschen Bibel aber oft auch Verderber (2 Mose 12, 23; 2 Samuel 24, 16; Jeremia 6, 26; 1 Korinther 10, 10) und Lügner (Sirach 51, 7; Johannes 8, 44; 8, 55). Goethe wählt in dieser Stelle mit „Fliegengott, Verderber, Lügner“ nur Teufelsnamen aus der Bibel, die zu seiner Zeit allgemein bekannt waren und somit eindeutig den Teufel bezeichneten.211 Doch der Teufel als die Personifizierung des Bösen, ist so innig mit den Ängsten und dem Leben des Menschen im Allgemeinen verbunden, dass sich die Namen für ihn nie auf die biblischen Bezeichnungen beschränken. Als Jesus den Geist eines Besessenen nach seinem Namen fragt, antwortet dieser: „Mein Name ist Legion, denn wir sind viele.“ (Markus 5, 9). Eine Antwort, die der Teufel auch noch viele Jahrhunderte später zu geben pflegt: „Oh, I go by various names,“ sagt der Teufel in Washington Irvings Geschichte „The Devil and Tom Walker“.212 Es sind wirklich viele verschiedene Namen unter denen der Teufel im Laufe der Zeit auftritt, Maximilian Rudwin zählt zum Beispiel in den geistlichen Spielen des deutschen Mittelalters 62 Bezeichnungen für den Teufel.213 In seiner erstmals 1931 erschienen Studie über den Teufel in 208 Zur Hölle vgl. Georges Minois, Die Hölle. Zur Geschichte einer Fiktion, aus dem Französischen von Sigrid
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Kester (München: dtv, 1994); ders., Hölle. Kleine Kulturgeschichte der Unterwelt (Freiburg im Breisgau: Herder, 2000). Fritz Mauthner, Wörterbuch, p. 231f. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, in: ders.: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, 3 (München: dtv, 1998), 3, Vers 1331-1334, p. 47. Die Bezeichnung Zebul = Fürst wurde Baal und anderen Göttern beigelegt. Baalzebub ist eine Entstellung des Namens Beelzebul, was Mistgott oder Herr der Fliegen bedeutet. Die oft übliche Bezeichnung Beelzebub geht auf die Vulgataübersetzung zurück. (Vgl. Kommentar zu 2 Könige 1, 2; Matthäus 10, 25 und Matthäus 12, 24, in: Die Bibel. Einheitsübersetzung). Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Anmerkungen, p. 533. Washington Irving, ‘The Devil and Tom Walker’, in: ders. The Complete Tales (New York: Garden City, 1975), pp.432-448 (p.440). Maximilian Rudwin, Der Teufel in den deutschen, geistlichen Spielen des Mittelalters und der Reformationszeit (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1915), pp.96-98.
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der Literatur zählt Rudwin dann bereits 190 Teufelsnamen und 174 Umschreibungen für den Antichrist auf. Die Liste ergänzt er mit 48 typisch englischen Ausprägungen für den Teufel und 38 Beinamen für böse Dämonen und meint damit beweisen zu können, dass die Engländer eine besondere Vielfalt an Synonymen für den Satan hätten. Aber auch die portugiesische Sprache hat eine beachtliche Phantasie bewiesen, um den Teufel nicht direkt beim Namen nennen zu müssen. Padre Raphael Bluteau zählt in seinem im 18. Jahrhundert erschienenen Wortschatzverzeichnis „Vocabulário Portuguez e Latino“ 214 bereits zwölf Namen für den Teufel, die aus dem Bereich der Bibel und deren Wirkungskreis stammen, auf. Weitere zwölf Synonyme seiner Liste sind literarischer Natur oder stammen aus der Folklore, da das Volk immer schon Umschreibungen für die Wesen der Hölle bevorzugt hat, um diese nicht durch eine direkte Anrufung heraufzubeschwören. Im Anschluß daran zählt der Padre 34 Sprichwörter auf, die den Teufel in sich führen. In einem Artikel über das „Vocabulário“ von Padre Raphael Bluteau meint Maria Luisa Cusati, dass sich eine genauere Studie zu diesen Sprichwörtern lohnen würde, da sie viel über das Gedankengut der Populärkultur ihrer Zeit aussagen würden. Doch bisher ist so eine Arbeit noch nicht geschrieben worden.215 Genauso wenig ist eine Arbeit über die Teufelsnamen in Guimarães Rosas Roman Grande Sertão: Veredas erschienen, der übrigens mit den in Padre Raphael Bluteaus „Vocabulário“ angeführten Synonymen nur die gängigen Bezeichnungen „Belzebu“, „Demonio“, „Diabo“, „Lucifer“, „Satanaz“, „Tentador“ und das umgangsprachliche „Diacho“ gemein hat. Wie der Jesuitenpater des 18. Jahrhunderts schon bemerkt hat, sind die Folkloreausdrücke für den Teufel gerade durch die Angst des Volkes vor jenem besonders zahlreich und phantasievoll, was natürlich auch, oder vor allem, für die Bevölkerung des Sertãos gilt. Somit beschränkt sich auch João Guimarães Rosa in seinem Roman Grande Sertão: Veredas nicht auf die in der Bibel vorkommenden Teufelsnamen sondern nennt zahlreiche Synonyme und Umschreibungen, bei denen die Grenze zwischen literarischer Kreation und gewachsener Ausdrücke der Populärkultur sehr oft nicht nachvollziehbar ist. Laut Leonardo Arroyo verwendet Riobaldo in seinem Monolog 92 Synonyme für den Teufel,216 er listet dann jedoch 97 Synonyme in einer Liste auf.217 Diese beinhaltet nicht die Grundbezeichnungen Demônio, Diabo und Lúcifer. Wenn es wahr ist, dass man, wie Goethes Faust behauptet, das Wesen der Teufel gewöhnlich aus deren Namen lesen kann, dann bietet Riobaldo in seinem Monolog eine der vielseitigsten Charakterisierungen des Bösen, die die Literatur jemals geschaffen hat.
214 In acht Bänden zwischen 1712 und 1721 erschienen. 1727 und 1728 erschienen noch zwei zusätzliche Supp-
lementbände. 215 Vgl. Maria Luisa Cusati, ‘Os nomes do diabo no „Vocabulário“ do p. D. Raphael Bluteau’, Quaderni
portughesi, 15-24, (1984-1988), pp.211-219 (p.217). 216 Leonardo Arroyo, A cultura popular, p. 234. 217 Ebd., p. 235.
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Synonyme für den Teufel in Grande Sertão: Veredas, nach Arroyo: Anhangão, Aquele, Arrenegado, Austero, Azarape Barzabu, Belzebu, Bode-Preto Canho, Cão, Cão-Extremo, Cão-Miúdo, Cão-Tinhoso, Capeta, Capiroto, Caracães, Careca, Carmulhão, Carocho, Carujo, Coisa-Má, Coisa-Ruim, Coxo, Crespo, Cujo Dado, Danador, Das-Trevas, Dê, Debo, Demo, Demonião, Demônio, Diá, Diabo, Diabinho, Diacho, Dianho, Dião, Diogo, Dioguim, Dos-Fins, Drão, Duba-Dubá Ele Figura Galhardo, Grão-Tinhoso Homem, Hermógenes Indivíduo Lúcifer Mafarro, Mal-Encarado, Maligno, Manfarro, Morcegão Não-sei-que-diga O, Oculto, O-Muito-Sério, O-Que-Não-Existe, O-Que-Não-Ri, O-Que-Nunca-Fala, O-Que-Nunca-Se-Ri, Outro Pai-do-Mal, Pai-da-Mentira, Pé-de-Pato, Pé-Preto Que-Diga, Que-Não-Há, Quem-Não-Existe Rapaz, Romãozinho, Roncôlho Satanão, Sem-Gracejos, Sem-Olho, Sempre-Sério, Satanás, Sôlto-Eu, Severo-Mor, Sujo Tal, Temba, Tendeiro, Tentador, Tibes, Tinhoso, Tisnado, Tralha, Tranjão, Tristonho, Tunes Xu218
Darüber hinaus könnte man auch noch Riobaldo selbst als Synonym für den Teufel sehen, denn schließlich fragt er sich: „o demo então era eu mesmo?“ (GS:V, p. 415). Werner Rosenfeld meint lapidar: „Der Teufel ist für die Menschen des brasilianischen Hinterlandes eine solche Realität, dass sie nicht weniger als 73 Benennungen dafür haben“, 219 ohne diese Zahl oder diese Bemerkung genauer zu kommentieren. Pedro Xisto zählt dagegen in seiner Studie zu Guimarães Rosa 69 verschiede Entsprechungen für den Teufel in Grande Sertão: Veredas auf, vier Namen weniger als die von Rosenfeld festgestellten 73 Benennungen und 27 Synonyme weniger als in Leonardo Arroyos Liste. Trotzdem nennt er vier Namen, die in Arroyos Aufzählung nicht vorkommen: „O Danado, o Gramulhão, O-Que-Não-Fala, o Rei-Diabo, o Satanazim“.220 Außerdem erwähnt er noch von Riobaldo angesprochene Personen, deren Namen auf eine Beziehung mit dem Teufel hinweisen. Er meint damit eine Stelle am Anfang des Romans, in der Riobaldo alle Verhexten und Verzauberten aufzählt, denen er im Laufe seines Lebens begegnet ist: „Rincha-Mãe (Mutterprügler), Sangue-d’Outro (Anderblut), o MuitosBeiços (Vielmaul), o Rasga-em-Baixo (Tiefschläger), Faca-Fria (Kaltmesser), o FanchoBode (Müderbock), um Treciziano (ein gewisser Treciziano), o Azinhavre (der Grünspan) ... o Hermógenes (und natürlich Hermógenes221)“. (GS:V, p. 3).
218 Leonardo Arroyo, A cultura popular, p. 235. 219 Werner Rosenfeld, Guimarães Rosa und die deutsche Kultur, p. 25. 220 Vgl. Pedro Xisto, ‘À busca da poesia’, in: ders. (u.a.) Guimarães Rosa em Três Dimensões (São Paulo:
Comissão Estadual de Literatura, 1970), p. 29. 221 Die Übersetzungen stammen aus Curt Meyer-Clasons Übersetzung, Grande Sertão, p. 9.
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João Adolfo Hansen listet in seiner Arbeit über Grande Sertão: Veredas 86 verschiedene Namen für den Teufel auf, wobei 8 Entsprechungen in Leonardo Arroyos Liste nicht aufscheinen: „O Satanazim, O Ocultador, O Filho do Demo, O Pactário, O Que-não-fala, O Mal do Mal, O Danado, O Rei-Diabo.“222 Zählt man dieselben Nennungen bei Pedro Xisto und João Adolfo Hansen wieder ab, so erhält man doch noch 10 weitere Teufelsnamen. Addiert man diese zu den 97 von Leonardo Arroyo gezählten Synonymen dazu, erhöht sich die Liste auf 107 von der Forschung im Roman Grande Sertão: Veredas entdeckten verschiedenen direkten Nennungen für den Teufel. Jon Vincent fällt auf, dass Riobaldo vor allem am Anfang seiner Beichte den Teufel überdurchschnittlich oft erwähnt: „By page 33 of the original, Riobaldo has used no less than forty-four different names for the devil, twenty-five of them on a single page.“223 Von diesen 25 Teufelsnamen auf einer Seite führt er 21 in nur einem Absatz an: „O Arrenegado, o Cão, o Cramulhão, o Indivíduo, o Galhardo, o Pé-de-Pato, o Sujo, o Homem, o Tisnado, o Coxo, o Temba, o Azarape, o Coisa-Ruim, o Mafarro, o Pé-Preto, o Canho, o Duba-Dubá, o Rapaz, o Tristonho, o Não-sei-que-diga, O-que-nunca-se-ri, o Sem-Gracejos ...” (GS:V, p. 29 f.). Dies alles, um seine leidenschaftliche Aufzählung mit einem nüchternen „Pois, não existe!“ (GS:V, p. 30) zu beenden. Der Großteil der Synonyme für den Teufel in den oben angeführten Listen sind entweder Volksnamen oder Eigenkreationen des Autors. Woher diese vielen verschiedenen Entsprechungen kommen und was sie genau bedeuten, ist bisher von der Forschung nicht beantwortet worden. Leonardo Arroyo stellt in seiner Studie zur Populärkultur in Grande Sertão: Veredas nur lapidar fest, dass die Teufelsnamen in diesem Roman eine unausschöpfbare Quelle für die Dämonologie darstellen: „vale lembrar que uma das melhores e mais significativas contribuições da cultura popular brasileira à Demonologia está no capítulo de sua nominata. Encontramos aí uma sinonímia exuberante, complexa, original, variada, com nomes regionais ao lado daqueles herdados de Portugal.“224 Welche der Synonyme nun jedoch Eigenkreationen sind, welche brasilianischen Ursprungs und welche aus dem portugiesischen Mutterland übernommen wurden, beantwortet Arroyo in seiner Studie dann leider nicht. Andrea Ciacchi übernimmt in seinem Artikel über „Il diavolo nella letteratura brasiliana“ 225 die Liste Arroyos, jedoch auch, ohne die verschiedenen Namen im Anschluss daran zu erläutern. Ana Maria Machado verzichtet in ihrer gänzlich einer Analyse der Eigennamen in Guimarães Rosas Werk gewidmeten Studie „Recado do nome“ auf einen Erklärungsversuch der darin so präsenten Teufelsnamen.226 Und auch Julia Conceição Fonseca Santos beschränkt sich in ihren Erläuterungen zu den Namen in Guimarães Rosas Werk auf die wesentlichen Protagonisten, ohne auf die große Zahl an Teufelsnamen einzugehen.227 João Adolfo Hansen, O o: a ficção da literatura em Grande Sertão: Veredas (São Paulo: Hedra 2000), p. 88f. Jon Vincent, João Guimarães Rosa, p. 75. Leonardo Arroyo, A cultura popular, p. 234. Andrea Ciacchi, ‘Il diavolo nella letteratura brasiliana’, Quaderni portoghesi, 15-24 (1984-1988), pp.27-36 (p.34). 226 Ana Maria Machado, Recado do nome: leitura de Guimarães Rosa à luz do nome de seus personagens (Rio de Janeiro: Imago, 1976). 227 Julia Conceição Fonseca Santos, Nomes de Personagens em Guimarães Rosa (Rio de Janeiro: Instituto Nacional do Livro, 1971). 222 223 224 225
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1.2.1. Folklorenamen Eine genaue Erklärung der vielen aus der Folklore stammenden Teufelsbezeichnungen in Grande Sertão: Veredas konnte die Forschung auch mit Hilfe der Anthropologie bis jetzt noch nicht geben. Sowohl die anthropologischen Interpretationen des Romans als auch die linguistischen Auslegungen versuchen gar keine systematische Definition der Teufelsnamen sondern beschränken sich auf reine Auflistungen, wodurch man etymologische Erklärungen der Synonyme im besten Fall nur durch zufällige Entdeckungen erhält. Hier beispielsweise kurze Erklärungen für zwei typisch brasilianische Bezeichnungen für den Teufel:
1.2.1.1. Anhangão Ein brasilianischer Ausdruck für den Teufel mit indigener Wurzel. Manuel da Nóbrega lässt in seinem Werk „Diálogo sobre a Conversão do Gentio“ eine Person mit dem Namen „Anhangu“ auftreten, die den Teufel darstellen soll.228 „O melhor – ah, pensei, o melhor de tudo! – era que o Anhangão não aparecesse, não se visse porfiando no meio de todos; e que mesmo o mais certo era d’ele, demo, não competir, por não ter nenhuma existência.“ (GS:V, p. 424). Dadurch, dass es den Teufel, den Anhangão, gar nicht gibt, wäre es natürlich das Beste, wenn er sich nicht immer wichtig machen würde.
1.2.1.2. Romãozinho Alaor Barbosa stellt fest, dass es sich bei Romãozinho um eine ausschließlich im Vale do Paranã (Nordosten von Goiás) vorkommende Folkloregestalt handelt. 229 Riobaldo beschreibt diesen Romãozinho folgendermaßen: “E sei que em cada virade de campo, e debaixo de sombra de vada árvore, está dia e noite um diabo, que não dá movimento, tomando conta. Um que é o romãozinho, é um diabo menino, que corre adiante da gente, alumiando com lanterninha, em o meio certo do sono.“ (GS:V, p. 251).
1.2.2. Teufelsnamen aus dem Neuen Testament Selbst im tiefsten Sertão gibt es zahlreiche Namen für den Satan, die direkt aus dem christlich okzidentalen Kulturraum stammen und in ihrer ursprünglichen Form verwendet werden, ohne mit der Mystik des Sertãos vermischt worden zu sein. Es handelt sich dabei vor allem um biblische Bezeichnungen für das personifizierte Böse. Außer der Grundbedeutung
228 Vgl. Manuel da Nóbrega, Diálogo sobre a conversão do gentio. Com preliminares e anotações históricas e
críticas de Serafim Leite (Lisboa: IV centenário, 1954). 229 Vgl. Alaor Barbosa, A Epopéia Brasileira ou: Para Ler Guimarães Rosa (Goiâs: Imery, 1981), p. 63.
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„Diabo“ kommen in Grande Sertão: Veredas auch viele andere Namen für den Teufel, die schon im Neuen Testament verwendet worden sind, vor. Alle Ausgaben des Neuen Testaments, die von Suzi Frankl Sperber in der Bibliothek Guimarães Rosas erfasst worden sind, sind von diesem vor dem Erscheinen von „Corpo de Baile“ oder sogar schon vor „Sagarana“ erworben worden. Es trägt jedoch nur eines der Bücher einen Hinweis auf das genaue Kaufdatum: „Bogotá, 16 de fevereiro de 1943“.230 Im Juni 1942 wurde Guimarães Rosa vom Internierungslager in Baden–Baden vom brasilianischen Außenministerium zurück nach Brasilien geholt, um als zweiter Botschaftssekräter nach Bogotá bestellt zu werden, wo er sich wahrscheinlich neben diesem 1937 erschienenen Neuen Testament noch die drei synoptischen Evangelien in Einzelbänden kaufte.231 Weiters befand sich in João Guimarães Rosas Bibliothek eine portugiesische Ausgabe des Neuen Testaments: „O Novo Testamento de Nosso Senhor Jesus Cristo, Lisboa 1932.“ 232 Sein Interesse für das Alte Testament dürfte erst später, nach der Veröffentlichung von Sagarana erwacht sein. Eine französischsprachige Bibelausgabe aus seiner Bibliothek enthält besonders viele An- und Unterstreichungen.233 Es ist auffällig, dass Guimarães Rosa in einem langen Brief an seinen italienischen Übersetzer Edoardo Bizzarri vom 18. XI. 1963 Bibelzitate immer auf Latein aus der Vulgata Übersetzung zitiert.234 Suzi Frankl Sperber berichtet in ihrer Studie jedoch weder von Unterstreichungen oder Anmerkungen in Guimarães Rosas Lutherbibel noch in dessen „Biblia Sacra“. Er dürfte für seine Bibelstudien vor allem die erwähnte französische Übersetzung verwendet haben, für die Lektüre der Evangelien auch früher erstandene spanische Editionen. Um im Folgenden neutestamentarische Teufelsnamen in Grande Sertão: Veredas untersuchen zu können, werden die in Frage kommenden Synonyme aus dem Roman mit den jeweiligen Entsprechungen aus einer brasilianischen Bibelübersetzung verglichen, da Guimarães Rosa ohne Zweifel die Bibel auch in seiner Muttersprache gekannt haben muss. Innerhalb der alttestamentarischen Anschauung hat sich eine Entwicklung der Satansvorstellung schon angezeigt, auch wenn dieser dort nur sporadisch aufscheint. Im Neuen Testament dagegen hat die Satansidee das religiöse Bewusstsein schon ganz durchdrungen, vor allem, da der Teufel einen notwendigen Gegenpart zur Lichtgestalt Jesus darstellt. Ein schon weit entwickelter Teufelsglaube ist in vielen Episoden der Evangelien leicht erkennbar. Besonders häufig findet sich der Teufel bei den Synoptikern erwähnt, unter den Aposteln oft bei Paulus, weniger in der Apostelgeschichte, desto öfter in der Apokalypse. Er tritt bereits unter zahlreichen Benennungen auf. Diese werden in Folge den jeweiligen Entspre230 Nach: Suzi Frankl Sperber, Caos e cosmos: leituras de Guimarães Rosa (São Paulo: Livraria Duas Cidades,
1976), p. 39. 231 In Guimarães Rosas Bibliothek finden sich folgende Bände:
El Santo Evangelio de Nuestro Señor Jesucristo segun San Mateo. Madrid 1939. El Santo Evangelio de Nuestro Señor Jesucristo segun San Marcos. Madrid 1939. El Santo Evangelio de Nuestro Señor Jesucristo segun San Lucas. Madrid 1939. Nach: Suzi Frankl Sperber, Caos e cosmos, p. 39. 232 Ebd. 233 La Sainte Bible, version nouvelle d’après les textes originaux par les moines de maredsous (Belgique), Editions de Maredsous, 1949, nach: Suzi Frankl Sperber, Caos e cosmos, p. 46. 234 Vgl. Edoardo Bizzari, Correspondência, p. 46-53.
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chungen aus Grande Sertão: Veredas gegenübergestellt. Bei den Zitaten aus dem Neuen Testament wird in Klammer die portugiesische Entsprechung aus einer brasilianischen Bibelübersetzung angeführt.235
1.2.2.1. Satanás In den Veredas Mortas ruft Riobaldo den Teufel an, um einen Pakt mit ihm schließen zu können. Zuerst ruft er „Lúcifer! Lúcifer! ...“ (GS:V, p. 371) worauf nichts geschieht. Daraufhin versucht er es mit: „Lúcifer! Satanás! ...“ (ebd.) doch nur neues Schweigen umgibt ihn. In einem dritten Versuch ruft er noch einmal so laut er kann: „Ei, Lúcifer! Satanás, dos meus Infernos!“. Als daraufhin wieder nichts geschieht, weiß Riobaldo: „Ele não existe, [...]“ (ebd.). Wie weiter oben erläutert, ist „satan“ oder „satanás“ eine der ersten in der Bibel vorkommenden Bezeichnungen für den Teufel. Ursprünglich wird das Wort in der Bedeutung für „Feind“ verwendet oder für den Prozessgegner vor Gericht. Riobaldos Feind ist offensichtlicher Weise Hermógenes, für den er schon, seitdem er ihn das erste Mal gesehen hat, tiefen Hass empfindet. Besonders stark zeigt sich dies im Prozess gegen Zé Bebelo, in dem sich Hermógenes erstmals offen von seiner brutalen Seite als Feind der Gerechtigkeit zeigt (vgl. GS:V, p. 229). Der Prozess geht nicht zuletzt wegen Riobaldos Rede zu Zé Bebelos Gunsten, gegen den Willen von Hermógenes aus, welcher sich ab diesem Zeitpunkt gegen die übrigen Jagunços stellt: „eu tinha estalando nos meus olhos a lembrança do Hermógenes, na hora do julgamento. De como primeiro ele, soturno, não se sobressaía, só escancarava muito as pernas, facãozão na mão; mas depois ficou artimanhado, com uma tristeza fechada aos cantos, como cão que consome raivas.” (GS:V, p. 246). Ab dem Gerichtsverfahren ist die Feindschaft zwischen Hermógenes, Joca Ramiro und Riobaldo offiziell. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Hermógenes gegen die anderen wenden wird. Dieses, der eigenen Truppe Zum-„Satan“-Werden, ist eine der ältesten Bedeutungen des Wortes: David, der Knecht von König Saul von Israel ist, seit er zu den Philistern übergelaufen ist, seinem neuen Herren ein treuer Mann. Doch als es zur Schlacht zwischen Israeliten und Philistern kommt, meinen die Obersten der Philister: „Schick den Mann zurück! Er soll an den Ort zurückkehren, den du ihm zugewiesen hast, und nicht mit uns in den Kampf ziehen. Dann kann er sich in der Schlacht nicht gegen uns wenden.“ (1 Samuel 29, 4).236 Wenn nun Riobaldo in den Veredas Mortas ausdrücklich „Satanás“ anruft, dann kann dies im alttestamentarischen Sinn bedeuten, dass er nicht nur den Teufel, sondern auch seinen Feind Hermógenes direkt ruft und zum Duell fordert. Doch da dieser nicht erscheint, muss er zuerst Hauptmann der Jagunços werden, um daraufhin den Mörder Joca Ramiros auf diesem Weg in die Enge treiben zu können. Zum direkten Duell zwischen Riobaldo und Hermógenes sollte es dann jedoch, da ihm Diadorim zuvor kommt, nie kommen.
235 Biblia Sagrada (São Paulo: Edição Pastoral, 1990). 236 Vgl. Kapitel „V. 1. 1. Etymolgie“ in vorliegender Arbeit.
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1.2.2.2. O Maligno Riobaldo deutet seinem Zuhörer schon lange an, dass er einen Plan hätte, wie die Jagunços gegen Hermógenes siegen könnten. Doch dass dieser Plan ein Pakt mit dem Teufel sei, spricht Riobaldo erst kurz vor der eigentlichen Paktszene erstmals aus: „E, agora, com isto, que falei, já está ciente o senhor? Aquilo, o resto ... Aquilo – era eu ir à meia-noite, na encruzilhada, esperar o Maligno – fechar o trato, fazer o pacto!“ (GS:V, p. 361). Im Neuen Testament ist „Maligno“ ein Synonym für den Teufel, das in der Einheitsübersetzung mit „der Böse“ bezeichnet wird: Immer wenn ein Mensch das Wort vom Reich hört und es nicht versteht, kommt der Böse (vem o Maligno) und nimmt alles weg, was diesem Menschen ins Herz gesät wurde; hier ist der Samen auf den Weg gefallen. (Matthäus 13, 19). [...] das Unkraut sind die Söhne des Bösen. (O oio são os que pertencem ao Maligno). (Matthäus 13, 38).
Meyer-Clason übersetzt „Maligno“ an dieser Stelle mit „Oger“,237 wählt also keine biblische Bezeichnung sondern den menschenfressenden „ogre“, ein Ungeheuer, das vor allem in französischen Märchen sein Unwesen treibt.
1.2.2.3. Belzebu Riobaldo betont in seinem langen Lebensbericht immer wieder, wie stark seine Abneigung gegenüber Hermógenes vom ersten Augenblick an gewesen sei. Um Hermógenes mit dem Teufel gleichzusetzen, benutzt er einmal die Bezeichnung „belzebu“: „Malagourado de ódia: que sempre surge mais cedo e às vezes dá certo, igual palpite de amor. Esse Hermógenes – belzebu.“ (GS:V, p. 156). „Beelzebul“ bedeutete ursprünglich „Mistgott“ (als Mist wurde das heidnische Opfer bezeichnet) oder „Herr der Wohnungen“ (von Dämonen) oder „Herr der Fliegen“ (das heißt der Krankheiten). Er war also identisch mit bösen und unreinen Dämonen, die sowohl seelische als auch körperliche Krankheiten verursachen konnten und die den Menschen somit versklavten. An einigen Stellen der synoptischen Evangelien wird er aber auch mit Satan, dem Anführer aller bösen Geister, gleichgestellt:238 „Wenn man schon den Herrn des Hauses Beelzebul nennt (Se chamaram de Belzebu o dono da casa), dann erst recht seine Hausgenossen.“ (Matthäus 10, 25). Hermógenes ist dieser „Mistgott“, der wie niemand anderer das Böse in der Welt darstellt, im Gegensatz zu den anderen Jagunços, die oft auch sinnlos morden und viel Böses tun, ist er von Natur aus ein Menschenhasser, der sich nie dazu überwinden muss: „Hermógenes era fel dormido, flagelo com frieza.“ (GS:V, p. 147). Er ist aber auch wortwörtlich der „Herr der Fliegen“, denn als er als Führer einer Untergruppe der Jagunços einen Schlafplatz für seine Männer aussucht, tut er dies an einer Stelle, wo die Mückenschwärme jedes 237 João Guimarães Rosa, Grande Sertão, p. 372. 238 Vgl. Die Bibel, Kommentar zu Matthäus 12, 24.
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Ausrasten unmöglich machen: „Ah o que os mosquitos infernizavam. Por isso mesmo, direi, era que Hermógenes tinha escolhido ali: que ninguém pegasse no sono, que a mosquitada não deixava? Mas não seria de mim que pudesse ferrar no sons assim perto daquele homem, príncipe das tantas maldades.“ (GS:V, p. 177). Damit kreiert Riobaldo auch gleich ein weiteres Synonym für Hermógenes und damit für den Teufel: „príncipe das tantas maldades“. Diese Umschreibung ist bisher in keine Liste der Teufelsnamen in Grande Sertão: Veredas aufgenommen worden. Sie erinnert an zwei im Neuen Testament vorkommende Bezeichnungen für den Teufel: „o príncipe deste mundo“ („Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. [Agora o príncipe deste mundo vai ser expulso]“ – Johannes 12, 31) und „o príncipe dos demônios” („Mit Hilfe des Anführers der Dämonen treibt er die Dämonen aus [pelo príncipe dos demônios].“ – Matthäus 9, 34).
1.2.2.4. O tentador Als Riobaldo diplomatisch geschickt einen Weg findet, eine unschuldig vorbeireitende Person nicht zu töten, obwohl er dies zuvor großmäulig angekündigt hatte, findet er die uneingeschränkte Bewunderung seiner Jagunços. Unzufrieden muss er sich selbst eingestehen, dass seine Schlauheit von der Macht des Verführers stammt: „Ou seja que me admiravam em real, pela esperteza de toda solução que eu achava; e mesmo nem sabiam que essas minhas espertezas eram cobradas da manha do Tentador.“ (GS:V, p. 423). Im Neuen Testament wird der Teufel in der Versuchungsgeschichte Verführer genannt: „Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird. (Então, o tentador se aproximou e disse a Jesus).“ (Matthäus 4, 3). Jesus widerstand den Versuchungen des Teufels und wurde so zum Erlöser der ganzen Menschheit. Wenn Riobaldo nun rückblickend sein Kreuzwegserlebnis mit dem „Tentador“ verbindet, dann reiht er sich in eine neutestamentarische Tradition ein. Doch da es er selbst ist, der den Teufel anruft, also Riobaldo selbst den Teufel verführen will, bleibt es unbestimmt, wer welcher Versuchung widersteht oder sich ergibt.
1.2.2.5. O Pai da mentira Um seinen Paktversuch in den Veredas Mortas zu beschreiben, verwendet Riobaldo viele Teufelssynonyme. Als er am Kreuzweg anlangt, spricht er erstmals aus, dass er es selbst sein wird, der den Teufel verführt und dass dieser dann vor ihm Angst haben würde: „O que eu estava tendo era o medo que ele estava tendo de mim! Quem é que era o Demo, o Sempre-Sério, o Pai da Mentira? Ele não tinha carnes de comida da terra, não possuía sangue derramável. Viesse, viesse, vinha para me obedecer.“ (GS:V, p. 369).
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Deutlich wird hier auch das so oft im Text vorkommende Motiv des „Leben-Tauschens“ angeführt.239 Riobaldo empfindet die Angst, die der Teufel vor ihm verspürt. Im Evangelium nach Johannes steht „pai da mentira“ als Alternative zu Gott: Jeder, der nicht dem Herrn folgt, folgt dem Teufel. Dies predigt Jesus den Juden, die ihn nicht als Messias anerkennen wollen.240 Dabei bezeichnet er sie als Kinder des Teufels, dem Vater der Lüge: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an, Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.“ (Johannes 8, 44).
1.2.2.6. A antiga Serpente – A cobra Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; (Esse grande Dragão241 é a antiga Serpente, é o chamado Diabo ou Satanás). (Offenbarung 12, 9). In Goethes Faust verneint Mephisto dem Faust ein höheres Schicksal oder eine Erlösung in Gott und sieht dessen Zukunft am Boden: „Staub soll er fressen, und mit Lust,/ Wie meine Muhme, die berühmte Schlange.“242 In Riobaldos Paktszene dreht sich dieses Bild um, nun sieht Riobaldo den Teufel am Boden, Staub leckend: „eu mais forte do que o Ele; do que o pavor d’Ele – e lamber o chão e aceitar minhas ordens. Somei sensatez.“ (GS:V, p. 371). Im nächsten Satz spricht Riobaldo dann explizit von der Schlange, doch nun ist nicht mehr klar, ob diese der Teufel ist, oder gar er selbst: „Cobra antes de picar tem ódio algum? Não sobra momento. Cobra desfecha desferido, dá bote, se deu.” (GS:V, p. 371). Er fragt sich, ob die Schlange Hass spürt bevor sie zusticht und ruft kurz darauf Luzifer an. Es kann also durchaus sein, dass er diese Schlange ist, die nun, in umgekehrter Rollenverteilung, den Teufel versucht. Bezeichnend dafür ist, dass Zé Bebelo nach dem Pakt einen neuen Beinamen für den soeben Jagunço-Chef gewordenen Riobaldo findet, er tauft ihn „urutu branco“: 243 „Mas, você é o outro homem, você revira o sertão ... Tu é terrível, que nem um urutu branco ... O nome que ele me dava, era um nome, rebatismo desse nome, meu.” (GS:V, 386). Es ist auffällig, dass Zé Bebelo diesen Namen nicht zum ersten Mal an Riobaldo verleiht, schon in der Schlacht auf der Fazenda dos Tucanos nennt er ihn so, gerade in jenem Augenblick, als Riobaldo an der Treue seines Chefs zu zweifeln beginnt: „Tu é tudo, Rio239 Vgl. dazu das Kapitel „VI. 7. Leben Tauschen“ in vorliegender Arbeit. 240 Das Johannesevangelium unterscheidet sich erheblich von den drei früheren, synoptischen, Evangelien. (Vgl.
Einleitung zu „Das Evangelium nach Johannes“, in Die Bibel). Es weist dabei teilweise antisemitische Tendenzen auf. 241 „Grande Dragão“, einer der Namen des Teufels, ähnelt auffällig dem Titel des Romans „Grande Sertão“. Dadurch, dass der Teufel im Sertão fast allgegenwärtig ist, kann man durchaus auch „Esse grande Sertão é a antiga Serpente“ lesen. 242 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Prolog im Himmel. Vers 334f. 243 Curt Meyer-Clason übersetzt „urutu branco“ durchwegs mit „weißer Klapperschlange“. Im Dicionário de portugês–alemão steht für „urutu“: „brasilianische Giftschlange“. (Dicionários Editora: Dicionário de portugês – alemão. Porto: Editora 1997).
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baldo Tatarana! Cobra voadeira ...“ [...] „Ah: o Urutu Branco: assim é que você devia se chamar ... E amigos somos.“ (GS:V, p. 296). Doch noch ist es nicht so weit, Riobaldo den Namen offiziell zu verleihen, vorher muss er in die Veredas Mortas gehen und den Teufel anrufen. Erst durch die Anrufung des Teufels entscheidet sich Riobaldo, ein höheres Schicksal anzunehmen und die Jagunços als deren Hauptmann zum Sieg über Hermógenes zu leiten. Als er die Führung von Zé Bebelo an sich reisst, steht ihm nun, nach Zé Bebelo, der Name „urutu branco“ endgültig zu. Im hebräischen Sündenfall ist das Entscheidende der Sünde darin zu sehen, dass der Mensch seinem eigenen Willen folgt und dadurch gegen den göttlichen handelt, indem er, die ihm gesetzten Schranken durchbrechend, höher strebt, als ihm zugestanden wird. 244 Nach der Genesis ist der Ursprung des Bösen also im Menschen selbst zu suchen, die Schlange ist nur die Verführung dazu. Zé Bebelo nennt Riobaldo erstmals Schlange, als dieser an der Treue und Kompetenz seines Hauptmanns zu zweifeln beginnt, sich dadurch moralisch über ihn stellt und damit höher strebt, als ihm zugestanden wird. Doch trotz seines Zweifels bleibt Riobaldo ein verlässlicher Scharfschütze und er reiht sich unter die einfachen Jagunços ein. Somit passiert nichts, sie gewinnen unter Zé Bebelo die Schlacht auf der Fazenda dos Tucanos und der neue Name bleibt an Riobaldo nicht haften. Nach dem Paktversuch jedoch hat sich Riobaldo, der alten hebräischen Theologie zufolge, eindeutig gegen den göttlichen Willen gestellt, indem er nur seinem eigenen Willen gefolgt ist und aus freien Stücken heraus sogar den Teufel angerufen und bedroht hat. Von nun an ist er der „urutu branco“, trägt also in seinem neuen Namen indirekt eine der vielen Bezeichnungen für den Teufel mit. De Castro sieht in diesem Beinamen Riobaldos eine direkte Anspielung an die Vertreibung aus dem Paradies: Er will durch den Pakt Gut und Böse verstehen lernen: „É esta a tentação que leva Riobaldo ao pacto com o diabo: atingir o conhecimento do bem e do mal, dondo o nome Urutu-Branco.“245
1.2.2.7. O inimigo „Während nun die Leute schliefen, kam sein Feind (o inimigo), säte Unkraut unter den Weizen und ging wieder weg.“ (Matthäus 13, 25). Jener Feind ist in Grande Sertão: Veredas unübersehbar, der viele andere Teufelsnamen tragende Hermógenes. Dieser wird von Riobaldo und Diadorim an einer Stelle direkt, nachdem Riobaldo vor den anderen Jagunços den Teufel mit verschiedenen Bezeichnungen genannt hat, mit „o inimigo“ bezeichnet: „Só o Que-Não-Fala, o Que-Não-Ri, o Muito-Sério – o cão extremo!” Eles acharam divertido. Algum fez o pelo-sinal. Eu tembém. Mas Diadorim, que quando ferrava não largava, falou: – „O inimigo é o Hermógenes.” Disse, me olhou. Seja, fosse, para agradar o meu espírito. Arte de docemente, o que eu não pensei, o que eu reproduzi, firme: – „Que sim, certo! O inimigo é o Hermógenes...” (GS:V, p. 358).
244 Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels: eine kulturhistorische Satanologie von den Anfängen bis ins 18.
Jahrhundert, Band 1 (Frankfurt am Main: Ullstein 1991), unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1869, Brockhaus Leipzig, p. 192. 245 Manuel Antonio de Castro, O homem provisório no grande ser-tão (Rio de Janeiro: Biblioteca Tempo universitário, 1976), p. 74.
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„O inimigo“ bedeutet nicht nur „Feind“, sondern ist gleichzeitig auch ein neutestamentarisches Synonym für den Teufel, das die bisherigen Listen der Sekundärliteratur übersehen haben.
1.2.3. Zwischen Bibel und Folklore 1.2.3.1. O Cão Auffälig ist in Riobaldos Monolog die Anhäufung von Teufelsbezeichnungen, die aus Zusammensetzungen mit „Cão“ bestehen: Der Hund war immer schon eine der verbreitetsten Metaphern und Metamorphosen für den Teufel. Sogar in der Bibel kommt der Hund schon andeutungsweise als Bild für den Bösen vor: „Gebt acht auf diese Hunde, gebt acht auf die falschen Lehrer, gebt acht auf die Verschnittenen.“ (Philipper 3,2) oder in der Offenbarung „Draußen bleiben die ‚Hunde’ und die Zauberer, die Unzüchtigen und die Mörder, die Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut.“ (Offenbarung 22,15). Nicht nur deshalb wurde der Teufel im Mittelalter als Höllenhund bezeichnet, der Teufel als Wächter der Hölle wurde natürlich auch immer wieder mit Cerberus gleichgesetzt und in vielen mittelalterlichen Darstellungen sogar wie der Hund aus der griechischen Mythologie mit drei Köpfen dargestellt.246 Dite, der Satan im 4. Bezirk des 9. Höllenkreises in Dantes Divina Comedia, hat ebenfalls drei Gesichter: „Oh quanto parve a me gran maraviglia/ quand’io vidi tre facce alla sua testa!“247 Diese Tradition der Darstellung des Teufels als Hund, hat vor allem auch im brasilianischen Sertão große Verbreitung gefunden. Ob es einen direkten Weg von der Bibel dorthin gab, oder ob auch Tiergottheiten anderer Religionen eine Rolle dabei spielten, ist nicht geklärt: „In der Sprache des einfachen Volkes im brasilianischen Nordosten steht der Ausdruck „Hund“ für „Teufel“. Grundlage ist vielleicht Apokalypse 22, 15, vielleicht auch afrikanische Mythologie.“248 In den Trümmern des zerstörten Canudos fanden die Regierungstruppen sehr wenig, doch die paar gereimten Vierzeiler, die erhalten geblieben sind, zeugen sehr anschaulich von der religiösen Angst der Sertãobewohner und ihrer fixen Idee einer Gleichsetzung der Republik mit dem Antichristen, den sie durchwegs als Hund bezeichneten: Garantidos pela lei Aquelles malvados estão Nós temos a lei de Deus Elles tem a lei do cão!
246 Vgl. Paul Carus, History of the Devil and the Idea of Evil (Chicago: Open Court, 1900), p. 249. 247 Dante Alighieri, Divina Commedia, Inferno, Canto trentesimoquarto, 37-38 (Bussolengo: Acquarelli, 1996), p.
185. 248 Berthold Zilly, Anmerkungen, in: Euclides da Cunha, Krieg im Sertão, aus dem brasilianischen Portugiesisch
übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994), pp.687-783 (p.726).
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Bem desgraçados são elles Pra fazerem a eleição Abatendo a lei de Deus Suspendendo a lei do cão! [...] Visita nos vem fazer Nosso rei D. Sebastião. Coitado daquele pobre Que estiver na lei do cão!249
Als Riobaldo seine Jagunços schon eine lange Zeit ergebnislos durch den Sertão führt und diese langsam ungeduldig zu werden drohen, dichtet auch er eines dieser typischen vierzeiligen Stegreiflieder des Sertãos, das seine Geschichte in Verse kleidet. In dieser dem Sertão so verbundenen Liedform verwendet er nun, ebenso wie die Kämpfer aus Canudos, das aus der Geschichte des brasilianischen Nordostens nicht wegzudenkende Teufelsynonym „Cão“: Hei-de às armas, fechei trato Nas Veredas com o Cão. Hei-de amor em seus destinos Conforme o sim pelo não. Em tempo de vaquejada Todo gado é barbatão: Deu doideira na boiada Soltaram o Rei do Sertão ... Travessia dos Gerais Tudo com armas na mão... O Sertão é a sombra minha E o rei dele é Capitão! ... (GS:V, p. 408 f.).
Auch an anderer Stelle sagt Riobaldo „Hund“ zum Teufel und auch hier steht dies im engen Zusammenhang mit typischen Mythen des Sertãos: Das Gleichsetzen vom Sertão als ein Meer ohne Ende ist weit verbreitet. Riobaldo wiederholt es am Ende seines Berichts noch einmal: „Chapadão. Morreu o mar, que foi.“ (GS:V, p. 532). Dieses Bild des Meeres soll bei der Wiederkunft von Dom Sebastião Wirklichkeit werden und der riesige Sertão soll vom Meer überschwemmt werden, wie unter anderem auch eine in Canudos gefundene Prophezeiung voraussagt: „Em 1896 hade rebanhos mil correr da praia para o certão; então o certão virará praia e a praia virará certão.250 Riobaldo erwähnt sogar „Canudos“ im Wortspiel „canudo das desgraças“ ein paar Sätze bevor er den Teufel als „cão-miúdo“ bezeichnet:
249 Euclydes da Cunha, Os Sertões (Rio de Janeiro: Francisco Alves, 1995), p. 224. 250 Euclydes da Cunha, Os Sertões, p. 186, vgl. hierzu auch den Film „Deus e o Diabo na Terra do Sol“ (1964)
von Glauber Rocha.
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Mas descemos no canudo das desgaças, ei, saiba o senhor. [...]. Que não existe, que não, que não, é o que minha alma soletra. E da existência desse me defendo, em pedras pontudas ajoelhado, beijando a barra do manto de minha Nossa Senhora da Abadia! Ah, só Ela me vale; mas vale por um mar sem fim... Sertão. [...]. Ele vem no maior e no menor, se diz o grão-tinhoso e o cão-miúdo. (GS:V, p. 263 f.).
Wie die oben zitierten Textstellen belegen, folgt Guimarães Rosa in seinem Roman ohne Zweifel der großen Tradition des Sertãos, den Teufel mit „Hund“ zu benennen. „A lei do cão“ war das Lema, das über den ungleichen und absurden Kampf von Canudos stand. Es könnte genauso gut über Grande Sertão: Veredas stehen.251
1.2.3.2. Lucifer In der Paktszene wird von Guimarães Rosa „Lúcifer“ neben „Satanás“ (GS:V, p. 371) dafür verwendet, um den Teufel anzurufen. Während „Satan“ eine der ersten Bezeichnungen für das Böse ist und deshalb schon bald in der Bibel auch als Synonym für den Teufel verwendet wird, steht „Lucifer“, trotz der großen Verbreitung als Bezeichnung für den Satan, kein einziges Mal als Name des Teufels in den Heiligen Schriften. Ovid benutzt den Namen „Lucifer“ noch in seiner Grundbedeutung, als „Lichtbringer“, die den Morgenstern, also den Planet Venus bezeichnetete. Er beschreibt, wie der neue Tag beginnt, in dem „Lucifer hell am Himmel erstrahlt und die Menschen zu ihrem täglichen Geschäft ruft. Lucifer überstrahlt die hellsten Sterne.“252 „I cannot discover why he [the devil] ist called Lucifer, except from a misinterpreted passage in Isaiah“,253 schreibt Percy Bysshe Shelley in seinem „Essay on the Devil and Devils“. In der erwähnten Stelle bei Jesaja heißt es: „Ach, du bist vom Himmel gefallen, du strahlender Sohn der Morgenröte.“ (Jesaja 14, 12). Der strahlende Sohn der Morgenröte wurde in der lateinischen Version auch als „Lucifer“ (lat.: Träger des Lichts. Morgenstern, im Mythos auch Sohn der Aurora254) übersetzt. In der babylonischen Mythologie wurde der Sohn der Morgenröte Helel genannt, der in die Unterwelt gestürzt wurde, als er in den Himmel aufsteigen wollte.255 Helel war jedoch auch die Metapher für einen tyrannischen König, der später mit dem Teufel verglichen wurde. Jesaja freut sich in dieser Stelle also über den Fall eines assyrischen Königs, dem Unterdrücker seines Landes.256 Er meint mit
251 In einigen Arbeiten wurde schon versucht, die beiden großen brasilianischen Bücher über den Sertão zu
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vergleichen. Vgl. Paulo Dantas, Através dos Sertões. Euclides da Cunha e Guimarães Rosa. Os Livros, Os Autores (São Paulo: Massao Ohno Editor, 1996); 1998 erschienen fünf Studien über den Sertão Guimarães Rosas und dem von „Os Sertões“ in einem Band: Beth Brait (Hg.), O Sertão e os Sertões (São Paulo: Arte & Ciência, 1998). Nach: Luther Link, Der Teufel, p. 27. Percy Bysshe Shelley, ‘Essay on the Devil and Devils’, in: Shelley’s Prose or The Trumpet of a Prophecy, hg. von David Lee Clark (Albuquerque: Albuquerque University Press, 1954), pp.264-275 (p.274). Vgl. Der kleine Stowasser. Lateinisch-Deutsches Schulwörterbuch (Wien: Ueberreuter, 1980) p. 268. Vgl. Die Bibel, Kommentar zu Jesaja 14, 12-21, p. 816. Vgl. Percy Bysshe Shelley, ‘Essay’, p. 274.
„Lucifer“ nicht den Teufel. Über Umwege wurde aber durch die lateinisierte Form einer Metapher für einen assyrischen König „Lucifer“ zu einem Namen für den Teufel.257 Riobaldo ruft mit „Lúcifer“ und „Satanás“ in den Veredas Mortas im alttestamentarischen Sinn also einen tyrannischen König und den althebräischen „Feind“ an. Beides erinnert mehr an das in Hermógenes personifizierte Böse als an einen unabhängigen Teufel als Gegenspieler Gottes.
1.2.4. Diadorim Zu diesen vielen direkten Nennungen des Teufels kommen natürlich noch unzählbare Anspielungen hinzu, wie zum Beispiel schon der Name Diadorim diabolische Anklänge enthält. Nicht nur ist „Dia“ die erste Silbe von „diabo“ sondern für Guimarães Rosa auch alleine stehend ein Synonym für den Teufel: „[Q]uem sabe, a gente criatura ainda é tão ruim, tão, que Deus só pode às vezes manobrar com os homens é mandando por intermédio do diá?“ (GS:V, p. 30). Riobaldo nennt aber nicht nur den Teufel „diá“, sondern verwendet den selben Namen einmal auch, um Diadorim direkt anzusprechen: „– ... Mas, porém, quando isto tudo findar, Diá, Di, então, quando eu casar, tu deve de vir viver em companhia com a gente, [...]“ (GS:V, p. 520). Natürlich steht die Silbe „Dia“ aber auch für das portugiesische Wort „Tag“, also „dia“. Diadorim führt somit sowohl den Teufel als auch den klaren Tag in ihren 258 Namen und beweist dadurch die ganze Ambivalenz ihres Daseins schon in der ersten Silbe ihres Namens.259 Für Riobaldo ist Diadorim der Wegweiser durch das Leben, er zeigt ihm die Schönheit der Natur und ist Vorbild an Tapferkeit und Treue. Diadorim ist rein wie ein klarer Tag aber ruft durch die vermeintliche, durch ihn evozierte homoerotische Neigung, auch ein teuflisches Verlangen hervor. In diesem Sinn ist Diadorim weder Teufel noch Tag sondern der klassische Daimon der griechischen Antike, ein Wesen, das sowohl Gutes als auch Böses bringen kann.260
1.2.5. Hermógenes João Guimarães Rosa verwendet wie schon weiter oben angeführt, Hermógenes selbst als Synonym für den Teufel: „O Hermógenes – demônio. Sim só isto. Era ele mesmo.“ (GS:V, p. 38). Hermógenes wird nie mit dem Vornamen oder wie die meisten anderen Jagunços mit einem Spitznamen genannt. Das liegt daran, dass der Name Hermógenes im ganzen Sertão bekannt geworden ist, wie Riobaldo erwähnt: „Hermógenes Saranhó Rodrigues 257 Vgl. Luther Link, Der Teufel, p. 27-28. 258 Im Folgenden wird versucht, die Konkordanz der persönlichen Fürwörter zu Diadorim nach „Sex-“ oder
„Gender-Kriterien“ der gemeinten Situation zu verwenden. 259 Zu weiterführenden Spekulationen über Diadorims Namen, vgl.: José Carlos Garbuglio, O Mundo Movente de
Guimarães Rosa (São Paulo: Ática, 1972), pp.72-74; Consuelo Albergaria, Bruxo da linguagem no Grande Sertão. Leitura dos elementos esotéricos presentes na obra de Guimarães Rosa (Rio de Janeiro: Tempo brasileiro, 1977), pp.109-117; und: Ana Maria Machado, Recado do Nome, pp.67-71. 260 Vlg.: Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (Wien: Hollinek, 1969), p. 94-95, und das Kapitel „V. 4. Dämonen und Geister“ in vorliegender Arbeit.
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Felipes – como ele se chamava; hoje, neste sertão, todo o mundo sabe, até em escritos no jornal já saiu o nome dele.“ (GS:V, p. 359). Hermógenes ist also nicht nur einer, der mit dem Teufel einen Pakt schliesst, sondern er wird dadurch sogar selbst zu diesem. Genauso wie das Volk nicht wagt, den Namen des Teufels auszusprechen, geschieht es auch am Abend vor der entscheidenden Schlacht mit dem Namen Hermógenes, niemand spricht ihn aus: „Reparei isto: como nenhum não citava o nome do Hermógenes.“ (GS:V, 507). Riobaldo erklärt das so: „Aí estava direito – que no imigo, em véspera, não se proseia.“ (Ebd.). Aber schon vorher wurde Hermógenes oft mit Synonymen benannt, die denen des Teufels sehr ähneln. Riobaldo ist es wichtig, sich vom Teufelsbündner Hermógenes abzugrenzen. Vor der Schlacht von Tamanduá-tão weist er ganz besonders darauf hin, dass er sich Gott anvertraut und von diesem sich Mut erhofft, wogegen Hermógenes des Teufels ist: Mas, enquanto isso, saiba o senhor o que foi que fiz! Que fiz o sinal-da-cruz, em respeito. E isso era de pactário? Era de filho do demo? Tanto que não; renego! E mesmo me alembro do que se deu, por mim: que eu estava crente, forte, que, do demo, do Cão sem açamo, quem era era ele – o Hermógenes! Mas com o arrojo de Deus eu queria estar; eu nãu estava?! (GS:V, p. 489).
Um die Nähe oder sogar die Wesenseinheit von Hermógenes und dem Teufel noch deutlicher zu machen, vermutet Riobaldo, dass Hermógenes vielleicht sogar ein Werwolf sei (vgl. GS:V, p. 203)261 und setzt ihn immer wieder mit dem Teufel gleich: „O Hermógenes – ele dava a pena, dava medo. Mas, ora vez, eu pressentia: que do demônio não se pode ter pena, nahnhuma, e a razão está aí.“ (GS:V, p. 204). In der Bibel wird der Teufel einmal mit „Mörder von Anfang an“ umschrieben: „Desde o começo ele é assasino“ (Johannes 8, 44). Auch dieses Attribut teilt der Antichrist sicherlich mit Hermógenes, von dem man sagt: „Pra matar, ele foi sempre muito pontual ... Se diz.“ (GS:V, p. 359). Der Name „Hermógenes“ wird also oft mit gleichem Respekt wie der Name des Teufels verwendet. Woher der Name „Hermógenes“ stammt und was er andeuten oder bedeuten könnte, ist in den Studien zu den Eigennamen in Grande Sertão: Veredas bisher noch nicht beantwortet worden. In der „Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaften“ werden 29 historisch verbürgte „Hermogenes“ aufgezählt. Darunter befinden sich einige Lauf-Olympiasieger und auch Hermogenes von Aspendos, der zwar wie der Hermógenes des Romans Unterfeldherr ist, jedoch im Gegensatz zu jenem, durch großes diplomatisches Geschick in die Geschichte eingegangen ist.262 Auch Hermogenes aus Tarsos,263 dürfte in keinerlei Zusammenhang mit dem Teufelsbündner Hermógenes aus Grande Sertão: Veredas stehen.
261 Eine vergnügliche Darstellung des Werwolfglaubens im Sertão bietet José Cândido de Carvalho in seinem
1965 erstmals erschienenen pikaresken Roman O Coronel e o lobisomen (Rio de Janeiro: Stampa, 1997). 262 Vgl. Pauly, Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Band 8 (Stuttgart: Metzler, 1913), p.
859-882. 263 Hermogenes aus Tarsos: Um 160 n. Chr.-220 n. Chr. Techne Rhetorike (griech. Rhetorik) Sammeltitel der
rhetorischen Hauptschriften des spätgriechischen Redners und Theoretikers Hermogenes aus Tarsos. Obwohl der Autor zu Lebzeiten mit seiner systematischen Darstellung der methodischen und praktischen Erfordernisse
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Der Name Hermogenes ist mit großer Wahrscheinlichkeit trotzdem von der griechischen Antike inspiriert worden: Guimarães Rosa war mit dem Werk Platons sehr vertraut, so dass es kein Zufall sein kann, dass Hermogenes, der Teufel und Verräter aus Grande Sertão: Veredas, der Sprachskeptiker in Platons „Kratylos“ Dialog ist.264 Dieser Dialog ist das älteste vollständig erhaltene Dokument europäischer Sprachphilosophie. Sokrates wird darin in das Streitgespräch zweier Männer über die Frage der Richtigkeit der Namen hineingezogen. Kratylos, einer der beiden Gesprächspartner, vertritt die These, dass es für jedes Ding eine ihm von Natur zukommende Richtigkeit der Benennung gäbe. Sein Kontrahent, Hermogenes, meint dagegen, dass nicht von Natur aus für jedes Ding ein Name existiere, sondern dass Brauch und Gewohnheit für die Benennung der Dinge verantwortlich seien.265 Sokrates wird von den beiden um eine Stellungnahme gebeten und erklärt sich, voller Ironie, zu einer gemeinsamen Untersuchung bereit. Er weist schließlich beiden nach, im Unrecht gewesen zu sein: Die Benennungen, sofern sie tatsächlich auf menschlicher Übereinkunft beruhen, entspringen keineswegs beliebiger Willkür, sondern besitzen immer eine gewisse Richtigkeit, da jede Sprache bemüht ist, dem zu benennenden Ding eine seiner Natur entsprechende Bezeichnung zu geben. Andererseits bieten die Wörter natürlich niemals das Wesen der Dinge selbst, sondern sind nur eine Art Abbild davon. Durch den langen Sprachgebrauch sind sie vielfach verändert worden und haben so von ihrer Nähe zum Wesen der Dinge verloren. Da man aber trotzdem noch den Sinn der Wörter versteht, zeigt das, dass in der Sprache Konvention und Übereinkunft wesentlich sind. Soweit Sokrates in seiner langen und sehr ironisch gehaltenen Erklärung. Für vorliegende Untersuchung ist jedoch die Position Hermogenes’ von größerer Wichtigkeit als die Erklärung des Sokrates. Dieser ist also der Meinung: ... man kann mich nicht davon überzeugen, daß es noch eine andere Richtigkeit der Namen gibt, außer der Übereinkunft und Verabredung. Denn nach meiner Meinung ist jeder Name, den man etwas beilegt, der richtige; setzt man dann wieder einen anderen an seine Stelle und braucht den ersten nicht mehr, so ist der spätere nicht weniger richtig als der frühere.266
Diese Willkürlichkeit der Benennung, die jederzeit umspringen kann, ist jedoch genau das, was Riobaldo als das Unheimliche im Leben empfindet. Die Unstetigkeit des Lebens hat, wie später zu zeigen sein wird, viel mit dem Bösen an sich zu tun. Ganz klar nimmt Riobaldo gegen den Hermogenes Platons Stellung: Perto de lá tem vila grande – que se chamou Alegres – o senhor vá ver. Hoje, mudou de nome, mudaram. Todos os nomes eles vão alterando. É em senhas. São Romão todo não se chamou de primeiro Vila Risonha? O Cedro e o Bagre perderam o ser? O Tabuleiro-Grande? Como é que podem remover uns nomes assim? O senhor concorda? Nome de lugar onde alguém já nasceu, devia de estar sagrado. Lá como quem diz; então aldes Redehandwerks keinen Erfolg erringen konnte, war sein Hauptwerk in der Spätantike und in Byzanz das grundlegende Handbuch der rhetorischen Schulung. (Vgl. Kindlers Neues Literaturlexikon) 264 Auf den Hermogenes des “Kratylos” hat in diesem Zusammenhang bereits Merrim hingewiesen: Stephanie Merrim, Logos and the Word. The Novel of Language and Linguistic Motivation in Grande Sertão: Veredas and „Tres tristes tigres“ (New York: 1983), p. 22. 265 Vgl. Manfred Kraus, ‘Platon’, in: Tilman Borsche (Hg.), Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky (München: 1996), pp.15-32. 266 Platon: ‘Kratylos’, in: ders., Sämtliche Werke, Band V, pp.321-415, (p.322).
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guém havia de renegar o nome de Belém – de Nosso-Senhor-Jesus-Cristo no presépio, com Nossa Senhora e São José?! Precisava de se ter mais travação. (GS:V, p. 32)267
Die Willkür von Wörtern und Benennungen ist eine der Ausprägungen des unbestimmbaren Teufels, wie Riobaldo auch an anderer Stelle unterstreicht: „O sertão aceita todos os nomes: aqui é o Gerais, lá é o Chapadão, lá acolá é a caatinga. Quem entende a espécie do demo?“ (GS:V, p. 432). Hinter den vielseitigen Bezeichnungen der unfassbaren Wirklichkeit steht der Teufel. Die Namensgleichheit von Hermogenes aus Platons Kratylos und Hermógenes aus Grande Sertão: Veredas weist schon in diesem intertextuellen Spiel auf die gänzliche Verschiedenheit von Hermógenes und seinem Gegenspieler Riobaldo hin.
1.2.6. Die Vermeidung: „desfalar no nome dele“ Diese enorme Anzahl von Synonymen sind oft originäre Wortschöpfungen oder Wortzusammensetzungen Rosas, zu einem großen Teil stammen sie aber auch, wie Leonardo Arroyo behauptet,268 aus der Populärkultur Brasiliens. Viele der Beinamen des Teufels entstanden durch Volksetymologie, das heißt, dass viele der hebräischen, altgriechischen und lateinischen Teufelsbezeichnungen sich im Lauf der Zeit an die jeweilige Landessprache angepasst haben. „The uneducated person, who does not understand certain foreign words, transforms them into analogous words familiar to his ears.“269
Die Bezeichnungsvielfalt entstand aber vor allem aus dem Aberglauben heraus, dass der Name des Teufels nie ausgesprochen werden dürfte, weil er dadurch gerufen werden würde. Rudwin meint, dass dies in besonderem Fall für die Engländer gälte: „The Devil has perhaps a greater number of aliases in our popular speech than in the argot of any other country. The English-speaking person is afraid to call the Devil by his name.“270 Selbiges gilt natürlich genauso für viele andere Kulturräume, sogar für portugiesischsprachige: „o povo [...] desde sempre preferiu utilizar até perífrases para evitar nomear directamente a entidade infernal que podia ser, deste modo, mesmo evocada.271 Der alternde Ex-Jagunço Riobaldo behauptet fast dasselbe über die einfache Bevölkerung in seinem Umfeld, dem Sertão. Er beschreibt dieses Phänomen der Vermeidung so: „Do demo? Não gloso. Senhor pergunte aos moradores. Em falso receio, desfalam no nome dele – dizem só: o Que-Diga. Vote! não ... Quem muito se evita, se convive.“ (GS:V, p. 2). Der oben angeführte Umstand, dass Riobaldo dem Teufel während seines Monologs mindestens 107 verschiedene Namen gibt, beweist jedoch, dass er selbst genauso wie das von ihm dafür kritisierte einfache Volk, durch den Versuch den Teufel zu vermeiden, zu 267 Als die brasilianische Regierung nach Guimarães Rosas Tod dessen Geburtsort „Cordisburgo“ in „Guimarães
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Rosa“ umbenennen wollte, haben sich dessen Erben mit genau jenem Argument Riobaldos dagegen ausgesprochen. (Aus einem persönlichen Gespräch mit Vilma Guimarães Rosa in London am 25. Juni 2000). Vgl. Leonardo Arroyo, A cultura popular, p. 234 f. Maximilian Rudwin, The Devil in Legend and Literature, p. 31. Ebd. Heinz Kroll, ‘O Eufemismo e o Disfemismo no Português Moderno’ (Lisboa: 1986), nach: Maria Luisa Cusati, ‘Os nomes do diabo’, p. 215.
dessen Präsenz beiträgt. Doch so oft auch der Teufel umschrieben, angedeutet, genannt oder sogar angerufen wird, leibhaftig erscheint er im gesamten Buch kein einziges Mal. Es ist deshalb schwierig, von der äußeren Gestalt des Teufels in Grande Sertão: Veredas zu sprechen. Im folgenden Kapitel soll es trotzdem versucht werden.
2. Die Gestalt des Teufels Aus der Vielfältigkeit der im vorigen Kapitel aufgezählten Bezeichnungen für den Teufel kann man entnehmen, dass die Vorstellung vom Satan ab dem Neuen Testament sehr geläufig war. Einerseits lehnt sie sich noch an die alttestamentarische Satansidee an, andererseits ist sie aber doch schon weiter entwickelt. Es ist deshalb besonders auffällig, dass trotz der häufigen Erwähnungen des Satans sowohl im Neuen Testament als auch im Roman Grande Sertão: Veredas nie von seinem Aussehen, seiner äußeren Gestalt die Rede ist. Die Darstellung des Teufels in der Apokalypse (als Drache und Schlange, Offenbarung 12, 9) ist laut Roskoff, nur das Festhalten an den hergebrachten Symbolen des Drachens oder der Schlange und kann daher nicht als eigenständiger Beitrag in Betracht kommen, abgesehen davon, dass das entworfene Bild als visionäre Erscheinung nicht aus dem Volksbewusstsein hervorgegangen ist.272 Bildende Künstler hatten vom Teufel und seinen Attributen selten eine so genaue Vorstellung wie sie zum Beispiel von Jesus, Maria oder Petrus hatten. Christus, Maria und Petrus bilden je ein Kontinuum, so sehr sich auch ihre Formen und Gesichter im Laufe der Jahrhunderte verändert haben mögen. Immer blieben sie plastische Charaktere mit ihrer eigenen Geschichte. Der Teufel jedoch ist in seinen verschiedenen Rollen diskontinuierlich: Ob er nun Ijob quält, Jesus versucht, Pilatus aufhetzt oder selbstgefällig in der Hölle herrscht, steht zueinander kaum in einem Zusammenhang. Er hat keine geschlossene Biographie, der gefallene Engel ist im Höllenfürsten nicht enthalten oder kann wenigstens emotional nicht von diesem abgeleitet werden. Dies begründet sich in der Bildenden Kunst sicher auch darin, dass der Künstler, wenn er den Teufel als ein schreckliches Monster malt, nicht an Luzifer als den Engel denkt, der mit dem Erzengel Michael gekämpft hat. Luther Link schließt daraus, dass der Teufel viele Masken haben kann, „aber sein Wesen ist eine Maske ohne Gesicht.“273
2.1. Das Äußere des Teufels in Grande Sertão: Veredas Dadurch, dass es nie zu einer Begegnung zwischen dem Teufel und Riobaldo kommt, wird dieser auch nie in seiner personifizierten Form beschrieben. Trotzdem erwähnt Riobaldo ab und zu äußerliche Attribute des Teufels. Öfter kommen jedoch Beschreibungen von Sym-
272 Vgl. Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, I, p. 200. 273 Luther Link, Der Teufel, p. 17. Zur Gestalt des Teufels in der bildenden Kunst, vgl. auch: Prof. Dr. Mann, Die
Masken des Teufels, (Wien: Vorlesungsskriptum des Instituts für Kunstgeschichte, Universität Wien, Wintersemester 1997/98).
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bolen vor, die entweder in den Volksmythen eine Verbindung zu Dämonen haben oder sogar schon in der Bibel als ein Bild für das Böse gesehen wurde.
2.1.1. Der Teufel als Kalb Gleich auf der ersten Seite des Romans, schon im ersten Abschnitt, nach der doppelten Verneinung „Nonada“, das den über 500 Seiten langen Monolog eröffnende Wort,274 kommt ein entstelltes Kalb vor, das Nachbarn Riobaldos töteten, weil sie in ihm den Teufel gesehen hatten. Dieses missratene Kälbchen wird folgendermaßen beschrieben: „um bezerro branco, erroso, os olhos de nem ser – se viu –; e com máscara de cachorro. Me disseram; eu não quis avistar. Mesmo que, por defeito como nasceu, arrebitado de beiços, esse figurava rindo feito pessoa. Cara de gente, cara de cão: determinaram – era o demo.” (GS:V, p. 1). Die Tradition ein Kalb mit dem Teufel gleichzusetzen stammt schon aus dem Alten Testament, aus dem zweiten Buch Mose. Während der Herr zu Mose auf dem Berg Sinai sprach und ihm die zwei steinernen Tafeln der Bundesurkunde gab, wurde dem israelischen Volk das Warten auf die Rückkehr Mose aus dem Gebirge zu lang. So baten sie Aaron, dem Volk neue Götter zu schaffen, die sie führen sollten. Aaron machte aus den goldenen Ohrringen der Israeliten ein goldenes Kalb, vor dem sich alle zu Boden warfen. Gott unterrichtete Mose von diesem Frevel. Mose stieg hinunter ins Lager seines Volkes, wo er das Kalb und den Tanz sah. Aus Zorn schleuderte er die Tafeln mit Gottes Handschrift fort und zerschmetterte sie am Fuß des Berges. Er ergriff das goldene Kalb, verbrannte es und zerstampfte es zu Staub. Den Staub streute er in Wasser und gab es den Israeliten zu trinken (vgl. Exodus 32). Das Anbeten von Götzen galt in der monotheistischen Religion der Hebräer schon immer als die größte Sünde ihrem Gott gegenüber. Und auch Petrus betont noch im ersten Brief an die Korinther, dass das Götzenopfer der Heiden kein Opfer für Gott bedeutete, sondern ein Opfer für die Dämonen (vgl. 1 Korinther 10, 20). Durch diese Begrün-
274 „Nonada“ ist ein Neologismus Guimarães Rosas, der üblicherweise als verstärkte Negation gelesen wird:
„Nonada – [...] a forma reforçada de negação, pelo processo de revitalização da palavra, usado comumente por GR, dessa feita com base na etimologia da palavra (de non, forma araica de não, e nada).“ (Nei Leandro de Castro, Universo e vocabulário, p. 109). Vilém Flusser weist darauf hin, dass dieses verneinte Nichts bezeichnenderweise der Ausgangspunkt des Romans ist: „A negação do ‘nichts’ heideggeriano e do ‘néant’ sartriano é o ponto de partida do Grande Sertão com suas veredas. E traduzo a frase heideggeriana ‘Das Nichts nichtet’ (o nada nadifica) para a língua de Guimarães Rosa: ‘Nonada’.” (Vilém Flusser, ‘O „Iapa“ de Guimarães Rosa’, in: ders., Da Religiosidade, São Paulo: Comissão de Literatura, 1967, p. 135). Erwin Theodor Rosenthal schlägt für eine deutsche Version von „Nonada“ anstelle des von Meyer-Clason gewählte: „Hat nichts auf sich.“ (João Guimarães Rosa, Grande Sertão, p. 7) ein salopperes „Garnix“ vor. (Erwin Theodor Rosenthal, ‘Sprachdeformation als Gestaltungsmittel schwebender Wirklichkeit’, Staden Jahrbuch, 16 (1968), 55-76 (p.65). Andere Übersetzungsmöglichkeiten für „Nonada“: „It’s nothing.“ (João Guimarães Rosa, The Devil to pay in the Backlands, übersetzt von James L. Taylor und Harriet de Onís, nach: Em Memoria de João Guimarães Rosa, p. 237). „Foutaises!“ (João Guimarães Rosa, Diadorim, übersetzt von J. J. Villard, nach: ebd., p. 97). „Que nenni.“ (João Guimarães Rosa, Diadorim, übersetzt von Maryvonne Lapouge-Pettorelli, p. 21). „Nonnulla.“ (João Guimarães Rosa, Grande Sertão, übersetzt von Edoardo Bizzarri p. 9). „Nonada.“ (João Guimarães Rosa, Gran Sertón: Veredas übersetzt von Ángel Crespo, p. 23). „Niks niemendal.“ (João Guimarães Rosa, Diepe wildernis: de wegen, übersetzt von August Willemsen, p. 5).
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dung war das Symbol des goldenen Kalbes bis ins zwölfte Jahrhundert ein sehr beliebtes Motiv, den Teufel, der die Form eines heidnischen Idols angenommen hatte, darzustellen. Luther Link zeigt in seiner Studie über die Darstellung des Teufels in der Bildenden Kunst zwei Reliefe aus dem frühen zwölften Jahrhundert, in denen Moses dem goldenen Kalb gegenübersteht, das als Werkzeug des Teufels wie ein grimmiges Ungeheuer dargestellt ist. Auf dem Kapitell der Abteikirche La Madeleine in Vézélay (Frankreich) wird gezeigt, wie der wütende Teufel dem geöffneten Maul des Kalbes entsteigt.275 Sowohl das Kalb als auch der herausfahrende Teufel zeigen dabei eine große Ähnlichkeit mit der Beschreibung des missbildeten Kalbes in Grande Sertão: Veredas. Beide haben die kurze Schnauze eines Hundes und die aufgestülpten Lippen eines grinsenden Menschen. Mose wird mit einer Keule dargestellt, doch es geht hierbei nicht mehr um das einfache Zerschlagen der Figur, wie es in Exodus 32 beschrieben wird, sondern um eine personifizierte Konfrontation mit dem Bösen. Das goldene Kalb wurde in diesen Darstellungen der romanischen Bildhauer eine der Gestalten des Satans, genauso wie die Leute in Riobaldos Nachbarschaft behaupteten, das Kalb sei der Teufel: „determinaram – era o demo.“ (GS:V, p. 1). Eine Meinung, die Riobaldo nicht mit ihnen teilt: „Povo prascóvio“ (ebd.), meint er abschätzig. Dieses im ersten Absatz angestimmte Motiv von Teufels- und Dämonenglauben der einfachen Sertãobevölkerung und Riobaldos Zweifel an einer Dämonisierung der Natur und an einer Existenz des Teufels im Allgemeinen, wird das ganze Buch bestimmen.
2.1.2. Der Teufel als Ziegenbock Die Ikonographie des Teufels war, wie schon oben erwähnt, im Mittelalter nicht so bestimmt wie die der Heiligen oder die von Christus. Der Teufel hatte oft weder Hörner noch Schwanz und auch keine Mistgabel oder einen Pferdefuß und war oft sehr armselig oder sogar komisch. Während in der europäischen Kunst Engel normalerweise mit Flügel und Heilige mit einem Heiligenschein dargestellt wurden, gab es für den Teufel eine verblüffende Vielzahl an Darstellungsarten. Zwischen dem elften und sechzehnten Jahrhundert stellt man normalerweise eine groteske Bestie dar, manchmal mit Hunds- oder Katzengesichtern, oft auch einfach kleine Wichte mit menschlichen Zügen. Dadurch, dass es weder nennenswerte literarische und bildliche Tradition für Teufelsdarstellungen gab, entstand erst recht kein einheitliches Teufelsbild, die ikonographische Gestaltung blieb zufällig und uneinheitlich.276 Die Ähnlichkeit zwischen Teufel und einem Ziegenbock ist eine der ältesten ikonographischen Elemente der Teufelsdarstellungen: „The representation of the Devil in the shape of a goat goes back to far antiquity. Goat-formed deities and spirits of the woods existed in the religions of India, Egypt, Assyria, and Greece.“277 Eine klassische Quelle für die Hörner des Teufels, seinen Spitzbart, der platten Nase, den spitzen Ohren und seinen behaarten Unterkörper führt vom griechischen Hirten- und 275 Vgl. Luther Link, Der Teufel, p. 24f. 276 Vgl. Barbara D. Palmer, ‘The Inhabitants of Hell: Devils’, in: Clifford Davidson und Thomas H Seiler, The
Iconography of Hell (Michigan: Medieval Institute Publications, 1992), pp.20-40 (p.20). 277 Maximilian Rudwin, The Devil, p. 39.
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Waldgott Pan her, der alle diese Attribute für sich beansprucht: „Sus extremidades inferiores son de macho cabrío y tiene unos cuernos pequeños en la cabeza.“278 Pan wird ein aufbrausender, zur Gewalt neigender Charakter zugeschrieben, besonders, wenn er munter gemacht wird. Da auch Satyrn ein ziegenartiges Äußeres hatten und wie Pan in den Wäldern beheimatet waren, wurden sie oft miteinander verwechselt. Besonders den frühen Theologen waren die Unterschiede zwischen Pan und Satyrn gleichgültig und Hieronymus nannte Satyrn laszive Dämonen, Symbole des Teufels. „Behaarte“ oder „Ziege“ wird bei Hieronymus auch als Teufel übersetzt. Das findet sich auch in heutigen Bibelübersetzungen wieder. In der deutschen Einheitsübersetzung steht bei Levitikus: „Sie sollen nicht mehr ihre Schlachtopfer für Bocksdämonen schlachten, mit denen sie Unzucht treiben.“ (Levitikus 17, 7) in der brasilianischen Übersetzung lautet die selbe Stelle: „Não oferecerão mais sacrifícios a deuses falsos, com os quais se prostituem.“ Die Bocksgötter sind also identisch mit falschen Göttern, Götzen, die wiederum dem Teufel sehr nahe stehen.279 Auch wenn der klassische Pan nicht vereinfacht als die Quelle aller Teufelsabbildungen gesehen werden kann, so sind doch von den gängigen Merkmalen des Teufels sowohl die Hörner, als auch Hufe, Spitzohren, Spitzbart, Schwanz und der haarige Unterkörper von ihm abgeleitet. Auch in Grande Sertão: Veredas kommt an einer Stelle der Ziegenbock als Inkarnation des Teufels vor. Während der zweiten Durchquerung des Liso do Suçuarão hört Riobaldo gereizt eine Stimme, die wie ein Ziegenbock bebt. Er vermutet den Teufel neben sich: „Aí escutei a voz – a voz dele tremia nervosa, como de cabrito; da maneira que gritou – à briga. Um desfeliz. Levei os olhos. [...] Rebém que desconfiei do demo.“(GS:V, p. 451). Es ist jedoch nicht der Leibhaftige, sondern Teciziano, einer seiner Jagunços, der den Anforderungen der Durchquerung der Wüste nicht mehr standhalten kann und wahnsinnig wird. Dieser Wahnwitz stellt sich in der Stimme eines Ziegenbocks dar, Treciziano versucht kurz vor dem Verdursten seinen Hauptmann Riobaldo zu erdolchen. In der auf ihn zustürzenden Person erkennt Riobaldo, ebenfalls vom Durst gezeichnet, eindeutig teuflische Züge. „Ele era o demo, de mim diante ... O Demo! ... Fez uma careta, que sei que brilhava. Era o Demo, por escarnir, próprio pessoa!“ (GS:V p. 452). Riobaldo weiß sich zu wehren, er zieht seinen Dolch und schlitzte ihm den Hals auf „desde o princípio da nuca“ (GS:V: p. 462). Er schächtet also gleichsam den Teufel, der ihm in Form eines menschgewordenen Ziegenbocks gegenübersteht. Die Wüste war schon immer ein Aufenthaltsort der bösen Dämonen und auch Riobaldo setzt die Suçuarão-Wüste selbst mit dem Teufel gleich: „Nada, nada vezes, e o demo: esse, Liso do Suçuarão, é o mais longo – pra lá, pra lá, nos ermos. Se emenda com si mesmo.“ (GS:V, p. 25). Der Sertão in seiner menschenfeindlichsten Ausprägung, als wasserlose und lebensfeindliche Wüste, wird für Riobaldo zum Synonym für den Teufel. An anderer Stelle ist jedoch der Sertão im Allgemeinen schon mit dem Satan gleichgesetzt: „eu ia denunciar nome, dar a cita: ... Satanão! Sujo! ... e dele disse somentes – S... – Sertão ... Sertão ...“ (GS:V, p. 523). Der große Sertão bleibt ebenso wie der Teufel unbestimmt, endlos, Lebens278 Margot Arnand, La Mitología clásica (Madrid: Acento, 1997), p. 30. 279 Für eine genaue Analyse zur Beziehung zwischen Satyrn und Ziegen vgl.: James Frazer, The Golden Bough. A
History of Myth and Religion. The abridged volume first published in 1922 (London: Chancellor Press, 1994), pp.464-468.
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raum und Feind, Heimat und Verbannung. Jeder Mensch hat das Böse in sich, genauso wie jeder etwas vom Sertão in sich trägt: „Comprade meu Quelemém diz: que eu sou muito do sertão? Sertão: é dentro da gente.“ (GS:V, p. 270). Der eigentliche Anlass den Liso do Suçuarão zu überqueren ist jedoch nicht, um in der Wüste das leibhaftige Böse in Form einer Ziege anzutreffen und zu töten, sondern das Erreichen der anderen Seite, wo Hermógenes, der menschgewordene Teufel, seine Heimat hat: „Pra por lá do Suçuarão, já em tantos terrenos da Bahia, um dos dois Judas possuía sua maior fazenda, [...].“ (GS:V, p. 2627). Das Böse als die andere Seite, ist ein in der mittelalterlichen jüdischen Mystik häufig vorkommendes Bild: „most kabbalists believed that evil is „the other side“ (Sitra Ahra) [...].“280 Dies entsprich jedoch nicht Riobaldos Weltsicht, die von der Befürchtung getragen ist, dass alles und jeder ohne Vorwarnung plötzlich von Gut in Böse wechseln kann. Das Böse ist unstet und überall, deshalb nicht auf die andere Seite reduzierbar. Im Liso do Suçuarão ist es nun eben Treciziano, der sich plötzlich mit Meckerstimme in einer Halluzination auf seinen Hauptmann stürzt und von diesem als Teufel gesehen und erdolcht wird. Einer der wenigen Dämonen, die im Alten Testament erwähnt werden, ist der in der Wüste hausende Asasel (Levitikus 16, 8). Dieser ist ein Wüstendämon, dem beim Ritual des Versöhnungsfestes ein Ziegenbock, der symbolisch mit den Sünden des hebräischen Volkes beladen ist, in die Wüste gebracht wird. Es ist anzunehmen, dass man darin eine vormosaische Beschwichtigung eines Wüstendämons hindurchsehen kann.281 Das dem Asasel gemachte Ziegenopfer hat in der Form des Sündenbocks noch heute sprichwörtlichen Charakter. Die Ziege als Geschöpf des Teufels hat auch im germanischen Kulturkreis eine Tradition: Im Jahr 1815 veröffentlichten die Brüder Grimm im zweiten Band ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ die Erzählung „Des Herrn und des Teufels Gethier“. Die Brüder Grimm wiesen bereits auf ihre literarische Vorlage hin, einen von Hans Sachs im Jahre 1556 verfassten Schwank „Der dewffel hat die gais erschaffen, hat in dewffel augen eingeseczt“, 282 den sie in die Sprache ihrer Zeit übertrugen.283 Diese Erzählung schildert die Erschaffung der Ziege durch den Teufel. Gott hat dagegen alle anderen Tiere geschaffen. Als des Teufels Ziegen Bäume und Sträucher anknabbern, lässt Gott sie durch seine Wölfe verfolgen und töten.284 Der Teufel verlangt von Gott Schadenersatz, wird aber um diesen geprellt. Dies reiht diese Erzählung in die Tradition des betrogenen Teufels ein, was sie im allerweitesten Sinne mit dem Theophilusmirakel verbindet.285 Schon in der Legenda aurea beschwert sich der Teufel, dass die Leute mit immer gewiefteren Methoden versuchen ihre Verpflichtungen an ihm zu umgehen, während er im280 Dan Cohn-Sherbok und Lavinia Cohn-Sherbok, Jewish & Christian Mysticism. An Introduction (New York:
Continuum, 1994), p. 41. 281 Vgl. Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, I, p. 175-186. 282 Vgl. Friedrich Panzer, Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, in ihrer Urgestalt hg. von ders. 2.
Teil, (Hamburg: Strom, 1948), p. 248, Nr. 62. 283 Vgl. hierzu: Hermann Hamann, Die literarischen Vorlagen der Kinder- und Hausmärchen und ihre Bearbei-
tung durch die Brüder Grimm (Berlin: Mayer & Müller, 1906), p. 51f. 284 Vgl. zu einer genauen Analyse der dualistischen Tiererschaffung: Hannjost Lixfeld, Gott und Teufel als Welt-
schöpfer. Eine Untersuchung über die dualistische Tiererschaffung in der europäischen und außereuropäischen Volksüberlieferung (München: Fink, 1971). 285 Vgl. das Kapitel „VI. 3. 2. Das Theophilusmirakel“ in vorliegender Arbeit.
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mer treu seinen Teil des Paktes erfülle: „The Christians are cheats, they make all sorts of promises so long as they want me, and then leave me in the lurch, and reconcile themselves with Christ as soon as by my help, they have got what they want.“286 Riobaldos Bestreben seinen Paktversuch dadurch zu verleugnen, dass er die Existenz des Teufels in Frage stellt, ist eine neue Variante seine Seele zurückzugewinnen, stellt den weder sichtbaren noch greifbaren Teufel in Grande Sertão: Veredas jedoch trotzdem im weitesten Sinn in die Tradition des betrogenen Teufels des Mittelalters.
2.1.3. Coruja – Die Eule Riobaldo bestreitet, dass er jemals daran gedacht hat, ob der Teufel wie eine Eule ist, die unheimlich und leise von Opfer zu Opfer fliegt: „Do demo? Se é como corujão que se voa, de silêncio em silêncio, pegando rato-mestre, o qual carrega em mão curva ... No nada disso não pensei; como é que pudesse?“ (GS:V, p. 444). Doch ganz so abwegig ist dieser Gedanke nicht, denn schließlich schließt Riobaldo seinen Pakt in einem Ort der „coruja“, also Eule heißt: „Que mesmo como coruja era – mas de orelhuda, mais mor, de tristes gargalhadas; porque a suindara é tão linda, nela tudo é cor que nem tem comparação nenhuma, por cima de riscas sedas de brancua. E aquele situado lugar não desmentia nenhuma tristeza.“ (GS:V, p. 352). Der Symbolgehalt der Eule ist, wie so vieles im Roman, ambivalent: Einerseits ist die Eule mit der Fähigkeit begabt im Dunkeln zu sehen, was sie zu einem Symbol für die das Dunkel durchschauende Gelehrsamkeit und das Wissen macht. Als Symboltier der Göttin Pallas Athene ist sie auch die Verkörperung der Weisheit. Im Volksglauben spielen Kauz und Eule jedoch eine negative Rolle: Wegen ihrer lichtscheuen, nächtlichen Lebensweise und ihrer unheimlichen, klagenden Rufe, sind sie ein Symbol des Todes und als „Totenvogel“ und „Leichenhuhn“ bekannt.287 Über Riobaldos Pakt schwebt alleine durch den Ort „Coruja“ schon die Symbolik des Todes. Er versucht an einem Ort des Todes einen Pakt mit dem Bösen zu schließen, um das Böse im Sertão zu besiegen. Letztlich ist es dann jedoch nicht er, der das Böse besiegt, sondern Diadorim, die dafür wiederum mit ihrem Leben dafür zahlt. Der Tod zieht sich also vom Anfang bis zum Ende der Paktzeit. Die Eule deutet dies alles schon an: „for the nocturnal owl, in many traditions, is the bird of death. The ancient Egyptians saw the owl as such; the owl’s cry heralds King Duncan’s death in Macbeth, the owl „the fatal bellman, / Which gives the stern’st good-night.“288 In den Mittelalterlichen Passionsspielen wurde der Teufel oft als Vogel dargestellt. Judas musste einen lebendigen schwarzen Vogel an den Mund halten und flattern lassen, um so zu zeigen, dass der Teufel in ihn eingefahren ist.289 286 Nach: Maximilian Rudwin, The Devil, p. 178. Für andere Beispiele zum betrogenen Teufel und zu Paktauf-
hebungen, vgl.: David Pickering, Dictionary of Witchcraft (London: Cassell, 1996), p. 203f. Rosell Hope Robbins, Encyclopedia of Witchcraft and Demonology (New York: Crown, 1959), p. 369-379. 287 Vgl. Knaurs Lexikon der Symbole (München: Knaur 1989), „Eule“, p. 125-127. 288 Erica Wagner, Ariel’s Gift (London: Faber and Faber, 2000), p. 63. 289 Vgl. Gustav Roskoff, Die Geschichte des Teufels, I, p. 368.
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2.1.4. O diabo na rua no meio do redemoinho Der leitmotivartig wiederholte Satz Riobaldos: „O diabo na rua no meio do redemoinho“ ist dem Buch als Untertitel oder Lemma vorangestellt. Der Wirbelwind wird dadurch zum am häufigsten mit dem Teufel in Verbindung gebrachten Symbol. Riobaldo erklärt den Zusammenhang zwischen Wirbelwind und Teufel folgendermaßen: Redemoinho: o senhor sabe – a briga de ventos. O quando um esbarra com outro, e se enrolam, o doido espectáculo. A poeira subia, a dar que dava escuro, no alto, o ponto às voltas, folharada, e ramaredo quebrado, no estalar de pios assovios, se torcendo truvo, esgarabulhando. [...]. [R]edemunho era d’Ele – do diabo. O demônio se vertia ali, dentro viajava. Estive dando risada. O demo! Digo ao senhor. Na hora, não ri? Pensei. O que pensei: o diabo, na rua, no meio do redemunho... Acho o mais terrível da minha vida, ditado nessas palavras, que o senhor nunca deve de renovar. [...]. Nem pensei mais no redemoinho de vento, nem no dono dele – que se diz – morador dentro, que viajo, o Sujo: o que aceita as más palavras e pensamentos da gente, e que completa tudo em obra; o que a gente pode ver em folha dum espelho preto; o Ocultador. (GS:V, p. 213-14).
Auch Witold Gombrowitz macht sich 1956, also im Erscheinungsjahr von Grande Sertão: Veredas, im argentinischen Mar del Plata Gedanken über den Wirbelwind. Nachdem er kurz Kierkegaards Theorie der Wiederholung mit seinem eigenen Drama „Die Trauung“ verglichen hat, schreibt er seine Überlegungen über den Wirbelwind und seine Beziehung zum Teufel, oder zu anderen übernatürlichen Kräften, in sein Tagebuch. Seine Beobachtungen ähneln denen Riobaldos in ihrer ganzen Unbestimmtheit und Ambivalenz in verblüffender Weise: When will this whirlwind, this tearing, this madness of leaves, despair of branches, cease? When some of the trees calm down, others begin to howl, the noise rolls from one place to another, and I, locked in this house, locked in myself ... and, now, at night, I really am afraid that „something“ will appear ... something abnormal ... because my monstrousness is growing, my relations with nature are bad, lax, this laxness makes me open to „everything.“ I do not mean the devil, but „whatever“... I don’t know if this is clear. If the table stopped being a table by changing into ... not necessarily a diabolical thing. The devil is only one of the possibilities. Beyond nature is immensity.290
Auch hier ist das Motiv des Wirbelwinds mit großem Unbehagen und Angst vor einer anderen Macht verbunden. Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, dass Gombrowitz den gerade erschienenen Roman von Guimarães Rosa gekannt hat, denn die literarischen Beziehungen zwischen Brasilien und Argentinien oder Hispanoamerika im Generellen, waren damals noch geringer als sie es heute sind. Des Teufels Verbindung mit dem Wind hat auch während des Paktschlusses eine große Bedeutung, denn dort soll die Anwesenheit des Teufels mit einem heftigen Wind bewiesen werden. Doch dieser kommt nicht: „Ao que não vinha – a lufa de um vendaval grande, com Ele em trono, contravisto, sentado de estadela bem no centro.” (GS:V, p. 370). Obwohl nichts passiert, wartet Riobaldo und hofft weiter auf einen Wind, der ihn mit dem Teufel vereinigen sollte: „Nós dois, e tornopio do pé-de-vento – o ró-ró girado mundo a fora, no dobar, funil de final, desses redemoinhos: ... o Diabo, na rua, no meio do redemunho... Ah, ri; ele não.“ (GS:V, p. 371). Es kommt jedoch trotz allen Wartens kein wilder Wirbelwind, 290 Witold Gombrowitz, Diary 1956, I, (London/New York: Quartet Books, 1988), p. 177.
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sondern nur ein jähes Flattern, „um adejo“. (GS:V, p. 372). Die Verbindung zwischen Teufel und Wirbelwind, diesem beeindruckenden, unkontrollierbaren Naturereignis, dürfte einem alten Volksglauben des Sertãos entspringen: „Eine im Sertão aufgewachsen Informantin teilte [...] mit, sie habe in ihrer Kindheit immer gehört, dass sich in einem Wirbelwind der Teufel umtreibe – „o diabo viaja no redemoinho“. Der Volksglaube versteht ein für unerklärlich gehaltenes Naturereignis als Werk und Vehikel des Teufels.“291 Das Motiv des Windes als Heimat des Teufels ist jedoch viel älter als die christliche Besiedelung des brasilianischen Hinterlandes, es trat schon im Deutschen Mittelalter auf: „The broom, however, may also represent the sweeping storm, which was the habitation of the Devil. On the medieval stage, the Devil was often represented with a besom in his hand.“292 Es gibt jedoch auch eine brasilianische Wurzel des Windes als Heimat des Bösen: Lara de Mello e Souza schreibt in ihrem Werk „O Diabo na terra de Santa Cruz“ über Volksreligion und Hexenglauben im kolonialen Brasilien auch über den brasilianischen Hexenflug, der jedoch wenig mit Riobaldos „o diabo na rua no meio do redemoinho“ gemein hat.293 Diese so sprichwortartig wirkende Phrase Riobaldos, scheint auf einer genuinen Erschaffung Guimarães Rosas beruhen zu dürfen, denn in keinem der großen brasilianischen Sammlungen mit Redewendungen und Sprichwörtern ist jener Spruch vermerkt.294 Im „Grande Dicionário da lingua Portuguesa“ beschreibt Morais Silva „redemoinho“ als korrumpierte Form von „remoinho“, das aus dem lateinischen „remolinare“ abgeleitet wurde. 295 Das „Dicionário da língua Portuguesa Contemporânea“ meint, dass diese Veränderung durch Einfluss des Wortes „roda“ entstand, 296 eine Vermutung, die das „Grande Dicionário Etymológico-Prosódico da língua portuguêsa“ bestätigt, das „redemoinhar“ folgendermaßen erklärt: „Alteração de rodomoinhar, de roda e moínho e o suf. ar: girar como fazem as rodas dos moínhos. Houve dissimilação de rodomoinhar para redemoinhar talvez sob a influência de rede que nada tem a ver com o vocábulo.“297 Das „Nôvo Dicionário Brasileiro“ weist bei „redemoinho“ auf „remoinho“ weiter 298 während Buarque de Holanda in seinem Wörterbuch beide Versionen als gleichwertig aufnimmt.299
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Martin Münchschwander, Form und Figur, p. 145, Anm.101. Maximilian Rudwin, The Devil, p. 151. Vgl. Lara de Mello e Souza, O Diabo na terra de Santa Cruz (São Paulo: Companhia das Letras, 1986). Es wurden folgende Wörterbücher konsultiert: Tomé Cabral, Novo Dicionário de Termos e Expressões Populares (Fortaleza: UFC, 1982), John T. Schneider, Dictionary of African Borrowings in Brazilian Portuguese (Hamburg: H. Buske, 1991), Junio R. Magalhães, Dicionário de Proverbios (Rio de Janeiro: Documentario, 1974), Euclides Carneiro da Silva, Dicionário da gíria brasileira (Rio de Janeiro: Exições Bloch, 1973). Vgl. António de Morais Silva, Grande Dicionário da lingua Portuguesa, 10ª Edição (Lisboa: Confluência, 1956). Vgl. Academia das Ciências de Lisboa, Dicionário da língua Portuguesa Contemporânea (Lisboa: Verbo, 2001). Francisco da Silveira Bueno, Grande Dicionário Etimológico-Prosódico da língua portuguêsa (São Paulo: Saraiva, 1967). Vgl. Adalberto Prado e Silva, Nôvo Dicionário Brasileiro Melhoramentos (São Paulo: Comp. Melhoramentos, 1970).
Laut dem „Dicionário Etimológico da língua Portuguesa“ scheint “remoinho” erstmals 1105 in einem Text auf, während “redemoinho” erst ab dem 16. Jahrhundert schriftlich Verwendung findet. Die auch von Riobaldo verwendete Variante „redemunho“ (z. B. GS:V, p. 371) wird schon im 15. Jahrhundert aufgezeichnet.300 In „redemoinho“ ist das Wort „demo“ enthalten, ein Begriff, der wie weiter oben gezeigt, als Synonym für den Teufel verwendet wird, aber auch „böser Geist“ bedeutet. Da dieser in der lateinischen Urform „remolinare“ noch nicht enthalten ist, kann es durchaus sein, dass die weit verbreitete Vorstellung des Wirbelwindes als Aufenthaltsort der bösen Geister dies zur Urbedeutung dazugefügt hat. Der Wirbelwind ist eine Zusammensetzung von verschiedenen Kräften, die aufeinander stoßen. Er ist ein Spannungspunkt, der in seiner Gewalt durchaus auch positiv gesehen werden kann: Im zweiten Buch der Könige benutzt der Herr einen Wirbelwind, um Elias in den Himmel erheben: „Elias fuhr im Wirbelsturm zum Himmel empor.“ (2 Könige 2, 11). Der Wirbelwind erhöht in diesem Fall das spirituelle Niveau des Propheten und wird zur Verbindung zwischen Himmel und Erde. Im Buch Ijob wählt Gott den Wirbelwind (Wettersturm in der Einheitsübersetzung) als Medium um mit Ijob zu sprechen: „Depois disto, o Senhor, do meio de um redemoinho, respondeu a Jó [...]“ (Jó 38, 1). Thomas von Aquin meint zu einer anderen Stelle in Ijob, in der Gott es Feuer regnen lässt: „Man muß notwendigerweise zugeben, dass mit Gottes Zulassung die Dämonen ein Durcheinanderwirbeln der Luft bewirken können, Winde erregen und bewerkstelligen können, dass Feuer vom Himmel fällt.“301 Bei der Verkündigung der Gebote erschien Gott am Sinai mit Blitz und Donner, Feuer und Erdbeben (Exodus 19, 16-19) und offenbarte sich so als furchterregender Gott. Oft geht die Windsymbolik in der Bibel aber in eine andere Richtung: Auch vor Elija bietet Gott Sturm und die Kräfte anderer Naturgewalten auf, sie sind jedoch nur die Vorboten, Gottes eigenes Wesen äußert sich in einem sanften Hauch. „Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln“ (1 Könige 19, 12). Riobaldo wartet auf den Wirbelwind als unzähmbare Naturgewalt und als Beweis für die Anwesenheit des Teufels, doch ähnlich wie Elija bekommt er nur ein mildes Flattern, „um adejo“ (GS:V, p. 372), das er als Bestätigung für die Präsenz des Teufels und damit für den Paktschluss hält: Obwohl nichts geschieht und Riobaldo zuvor noch feststellen musste, dass der Teufel nicht existiert („Ele não existe, e não apareceu nem respondeu – que é um falso imaginario.“ – GS:V, p. 371), ist ihm im schon zwei Sätze später plötzlich klar, dass der Handel abgeschlossen wurde. „Como que adquirisse minhas palavras todas; fechou o arrocho do assunto.“ (GS:V, p. 372). Diese zwei gegensätzlichen Meinungen lassen sich so erklären, dass für den alten Riobaldo als Erzähler das Nichterscheinen des Teufels als Beweis seiner Nichtexistenz genommen wird, der damalige Jagunço Riobaldo konnte dies, 299 Vgl. Aurélio Buarque de Holanda Ferreira, Vocabulário Ortográfico Brasileiro (Rio de Janeiro: Ed. O
Cruzeiro, 1969). 300 Vgl. José Pedro Machado, Dicionário Etimológico da língua Portuguesa (Lisboa: Confluencia, 1967). 301 Thomas von Aquin, Kommentar zu Ijob 1, 16, nach: Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer. Malleus
Maleficarum, kommentierte Neuübersetzung, neu aus dem Lateinischen übertragen von Wolfgang Behringer, Günter Jerouschek und Werner Tschacher. Herausgegeben und eingeleitet von Günter Jerouschek und Wolfgang Behringer (München: dtv 2000), p. 489.
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noch auf einer anderen Bewusstseinstufe stehend, jedoch nicht so sehen und für ihn reichte ein leichter Luftzug als Bestätigung des Paktes aus.
2.1.5. Das Äußere Hermógenes’ Dadurch, dass der Teufel im ganzen Roman nie personifiziert auftritt, wird er, ähnlich wie in der Bibel, auch nie dargestellt. Doch Hermógenes ist eine Inkarnation des Bösen und wird, wie oben gezeigt, oft mit dem Teufel gleichgestellt. Da er eine reale Gestalt ist, kann Riobaldo sein Äußeres beschreiben. Er tut dies voller Ekel, Hermógenes ist so unangenehm anzusehen, dass er ihm gar nicht ins Gesicht zu schauen vermag, er konzentriert sich dafür auf dessen Hände und Füße, die alle Bösartigkeit schon enthalten: Eu não queria olhar para ele, encarar aquele carangonço; me perturbava. Então, olhava o pé dele – um pé enorme, descalço, cheio de coceiras, frieiras de remeiro do rio, pé-pubo. Olhava as mãos. Eu acabava achando que tanta ruindade só conseguia estar naquelas mãos, olhava para elas, mais, com asco. Com aquela mão ele comia, aquela mão ele dava à gente. (GS:V, p. 147).
Die Gleichsetzung Hermógenes mit einem „carangonço“, einem Skorpion, hat christliche Tradition, denn auch Jesus vergleicht einmal das Böse mit Skorpionen, die der wahre Christenmensch zertreten darf, um so den Teufel zu überwinden. Auf dem Weg nach Jerusalem sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. Seht, ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und die ganze Macht des Feindes zu überwinden. Nichts wird euch schaden können.“ (Lukas 10, 18 f.). Es ist Riobaldos sehnlichster Wunsch, den Skorpion Hermógenes zu zertreten. Schon nach einer der ersten Begegnungen mit ihm fragt er sich: „que joliz havia de ser era se meter um balaço no baixo da testa do Hermógenes?“ (GS:V, p. 146). Dadurch, dass Hermógenes greifbar ist, hat er viel mit der mittelalterlichen Teufelsvorstellung gemein, die sich auch nicht auf eine fixe Ikonographie einigen kann, doch trotzdem verschiedene Möglichkeiten findet, den Teufel personifiziert darzustellen.
3. Das Wirken des Teufels 3.1. Alttestamentarische Aspekte in Grande Sertão: Veredas Kurz nach dem Pakt, Riobaldo ist schon Jagunçoführer, trifft der Heereshaufen auf einen Mann, der aus der Nähe von Riobaldos Geburtsort stammt. Riobaldo behandelt ihn anständig und trinkt Kaffee mit ihm, doch plötzlich überkommt ihn ein starker Drang diesen Mann zu töten. „A porque, sem prazo, se esquentou em mim o doido afã de matar aquele homem, tresmatado.“ (GS:V, p. 415). Riobaldo fragt sich befremdet, was diesen Drang zum Bösen auslöst, ob es da einen Mittäter, den Teufel, gäbe oder ob das Böse aus ihm selbst komme, was zur Konsequenz hätte, dass er selbst der Teufel wäre. „Mas, aquilo de ruimquerer carecia de dividimento – e não tinha; o demo então era eu mesmo?“ (GS:V, p. 415). Die Frage nach der Herkunft des Bösen scheint den Menschen schon immer beschäftigt zu haben, doch hat bis jetzt keine Lehre dieses Problem befriedigend erklären können und 94
auch in der Bibel findet sich keine zufrieden stellende Antwort dazu. Für die Theologie Israels steht jedoch immerhin eines unverrückbar fest, nämlich, dass das Böse auf einer sittlichen Entscheidung beruht. Auch in Riobaldos Fall entsteht seine ethische oder religiöse Schuld nicht durch den unbestimmt bleibenden Pakt mit dem Teufel, sondern durch seine aus freiem Antrieb gefällte Entscheidung, einen Pakt eingehen zu wollen. Die Sünde im Sündenfall besteht darin, dass der Mensch aus eigenem Willen höher strebt, als ihm zugestanden wird. Somit können nur Jahwe oder der Mensch für das Böse verantwortlich gemacht werden, denn allein Jahwe und der Mensch sind sittlicher Entscheidungen mächtig. In der persischen Religion der Zoroaster dagegen ist die Schlange das Böse an sich, das den zu keiner Entscheidung fähigen Menschen aus Neid verführt. In der Genesis ist der Ursprung des Bösen, der hebräischen Theologie folgend, im Menschen selbst, der der Verführung der Schlange nachgibt. Durch die während der babylonischen Gefangenschaft gemachten Bekanntschaft mit der persischen Religion, wird im später entstandenen Buch der Weisheit die ursprünglich freie Entscheidung des Menschen, der Verführung der Schlange zu folgen, zu einer aktiven Handlung des Teufels: „Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören.“ (Weisheit 2, 24).302 Ähnlich schwankt auch Riobaldo zwischen einem resignierten Determinismus und einer vehementen Verteidigung des freien Willens. Am Beginn des Romans definiert er sich jedoch leidenschaftlich durch seinen freien Willen: „Muita gente não me aprova, acham que lei de Deus é privilégios, invariável. E eu! Bofe! Detesto! O que sou? – o que faço, que quero, muito curial. E em cara de todos faço, executado. Eu não trasmalho!” (GS:V, p. 9). Als Träger eines freien Willens kann Riobaldo also selbst zwischen Gut und Böse wählen und trägt so Verantwortung für sein Leben. Das Frühjudentum hat jedoch versucht zu der Alternative der sittlichen Entscheidung eine weitere hinzuzufügen und führt als weitere Ursache für das Böse die bösen Geister ein. Die Resultate dieser Überlegungen findet man in den jüdischen Apokryphen und im Neuen Testament.303 Das Judentum tut diesen Weg im Gegensatz zum Christentum bald als Irrweg ab und verzichtet auf eine weitere Konkretisierung der bösen Mächte im Allgemeinen und der Teufelsfigur im Speziellen. Ein klassischer Beleg für die alttestamentarische Vorstellung, dass Jahwe selbst im ethischen Bereich sowohl für das Gute als auch für das Böse verantwortlich ist, zeigt sich in Jesaja 45, 7: „Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der alles vollbringt.“ Diese Stelle wird als ältestes Zeugnis jüdischer Abwehr des persischen Dualismus angesehen. Trotzdem kommen im Alten Testament einige Male böse Dämonen und Geister als Reste von vormosaischen Religionen vor.304 302 Vgl. Gustav Roskoff, Die Geschichte des Teufels, I, p. 192. 303 Vgl. Herbert Haag, ‘Ich mache Heil und erschaffe Unheil’, in: Forschung zur Bibel, 2, hg. von Rudolf Schna-
ckenburg und Josef Schreiner (Würzburg: Echter, 1972), pp.179-185, (p.179). 304 Über die verblassten Spuren von Dämonen und anderer göttlicher Wesen im Alten Testament, vgl.: Gustav
Roskoff, Geschichte des Teufels, I, pp.175-186; Sigmund Freud, ‘Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen’, in: ders. Studienausgabe in XII Bänden, 11 (Frankfurt am Main: Fischer, 1974) pp.455-581, vor allem (pp.536-538), Meinrad Limbeck, ‘Die Wurzeln der biblischen Auffassung vom Teufel und den Dämonen’, in: Concilium, Internationale Zeitschrift für Theologie (Ausgabe über den Satan – „Die Dämonen sind Nichtse“), 11, Heft 3 (März 1975), 161-168; Reiner Braun, ‘Teufelsglaube und Heilige Schrift’, in: Teufelsglaube und Hexenprozesse, hg. von Georg Schwaiger (München: C.H. Beck, 1987), pp.1139 (pp.19-20).
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Ähnlich rudimentäre Deckerinnerungen stellen die wenigen Dämonen in Grande Sertão: Veredas dar, wie im Kapitel „Dämonen und Geister“ genauer behandelt wird. In weiterer Folge setzt sich dann im Alten Testament jedoch allmählich die Überzeugung durch, dass Jahwe als erhabener und heiliger Gott ausschließlich nur Gutes bewirken könne und dass daher das Böse einen anderen Ursprung haben müsse: In der frühnachexilischen Zeit wird Satan erstmals erwähnt, er ist jedoch als Angehöriger des himmlischen Hofstaates Mitglied der näheren Umgebung Jahwes (vgl. Sacharja 3, 1 ff.; Ijob 1, 6 ff.; 2, 1 ff.). Diese Vorstellung wird in späterer Zeit immer weitergeführt, ohne jedoch in einen Dualismus zu verfallen, da Satan als gefallener Engel von Jahwe geschaffen wurde.305 Diese alttestamentarische Sicht, dass der Satan das personifizierte Böse ist, aber nur mit Einverständnis Gottes wirken darf, also ein von Gott abhängiges Wesen ist, entspricht durchaus auch Riobaldos Teufelsbild. Eine seiner Teufelsdefinitionen ist, dass der Teufel zwar wirke, aber nicht herrsche: „O demônio diz mil. Esse! Vige mas não rege [...].“ (GS:V, p. 78). Im Buch Ijob306 gewinnt der Satan schärfere Konturen. Unter den „Gottessöhnen“, die kommen, „um vor den Herrn hinzutreten“ (Ijob 1, 6; 2, 1), erscheint auch der Satan. Doch auch in der bekanntesten Teufelsgeschichte des Alten Testaments ist Satan von Gott abhängig. Es ist vor allem die Rolle eines „himmlischen Staatsanwaltes“, die der Teufel nach Ansicht der meisten Exegeten im Ijob-Buch spielt. Er inspiziert die Menschen und ihr unrechtes Tun und bringt dies vor Gottes Gericht. Während frühere Schriften in der Bibel anscheinend keinerlei Bedenken haben, Gott selbst zum Urheber schwerer Glaubensproben zu machen (zum Beispiel Gottes Forderung, Abraham solle seinen Sohn Isaak opfern, Genesis 22, 1-19), versucht der Autor des Buches Ijob, menschenverachtende Züge in der Darstellung Gottes zu vermeiden.307 Doch da der Satan mit ausdrücklicher Billigung Gottes handelt, ist diese Übertragung des Bösen auf den Teufel noch nicht ganz gelungen, wie Groß in seiner Studie zu Ijob zusammenfasst: „Gott ist und bleibt überall und jederzeit im Buch Ijob Träger des Geschehens.“308 In der Erzählung von der Versuchung Ijobs erhält der Teufel durch eine Wette mit Gott (Ijob 1, 9-12; 2, 3 –6) die Erlaubnis, den Glauben des von Gott begünstigten Ijob durch das Senden von Feinden (Ijob 1, 15; 1, 17), Sturm (1, 19), das Feuer Gottes (1, 16), Tod (1, 18 f.) und Krankheiten (2, 7) zu prüfen. Ijob nimmt diese Prüfungen als göttliche Prüfungen an (1, 21; 2, 10). Er führt den Ursprung der Katastrophen auf Jahwe zurück. Satan ist im Buch Ijob also Ankläger, Glaubensprüfer und Wettpartner Gottes. Die Verfügungsgewalt Satans über die dämonischen Mächte, die sonst nur Jahwe vorbehalten ist, lässt die Interpretation zu, dass er Jahwe selbst ist. Jahwe tritt mit seinen bösen Seiten also als Gegenspieler des Menschen auf. Diese Interpretation begründet sich auf der umstrittenen These, dass der Teufel eine Hypostase309 Gottes ist. Der Teufel als Hypostase Gottes ist eine umstrittene These, für die es keinen wirklichen Beleg gibt. Almut 305 Vgl. Georg Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion (Berlin: De Gruyter, 1969), pp.386-87. 306 Die Schreibweise Ijob statt Job oder Hiob orientiert sich am Sprachgebrauch der neueren theologischen Lite-
ratur. 307 Vgl. Reiner Braun, ‘Teufelsglaube’, p. 17 -18; Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, I, p. 186-189. 308 Heinrich Groß, Ijob (Würzburg: Echter, 1986), p. 14. 309 Hypostase: Personifizierung göttlicher Eigenschaften oder religiöser Vorstellungen zu einem eigenständigen
göttlichen Wesen.
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Neumann meint, dass diese Interpretation durch die Bibel nicht belegbar ist.310 Tatsache ist, dass mit der immer stärkeren Betonung der Transzendenz Jahwes, nicht nur die Scheu seinen Namen auszusprechen zunimmt, sondern sich auch allmählich Eigenschaften und Kräfte Gottes zu Hypostasen entwickeln. Das bedeutet „zu Wesenheiten eigener Art, die aus sich heraus handeln und in deren Wirkungen der Mensch das Wirken Jahwes selbst erfährt, ohne ihm unmittelbar zu begegnen.“311 Die bekanntesten Hypostase-Vorstellungen sind das Wort Gottes, das scheinbar losgelöst von Gott seinen Auftrag erfüllt (vgl. Mahnung zur Umkehr und zum Vertrauern auf Gottes Wort. [Jesaja 55, 6-13] die Torheit [Sprichwörter 9, 13-18] oder die Weisheit Jahwes [Sprichwörter 1, 20-33; 8, 22-36]).312 So problematisch es auch erscheint, den Teufel als eine Personifizierung einer Wesenheit Gottes zu sehen, lässt sich dies aber doch im 300 v. Chr., also 200 Jahre nach dem Buch Ijob, entstandenen Buch der Chronik anschaulich darstellen: Hier findet eine entscheidende Wandlung im Satansbild statt, seine Gestalt reizt nun erstmals aktiv dazu an, etwas Böses zu tun: Der Satan ist der Verführer zur Sünde, der David zu einem schweren Verstoß gegen Gottes Willen, zu einer Volkszählung, anstiftet: „Der Satan trat gegen Israel auf und reizte David, Israel zu zählen.“ (1 Chronik 21, 1)313 Von dieser Volkszählung berichtet auch das früher geschriebene zweite Buch Samuel, das wahrscheinlich noch in der Exilszeit entstanden ist. Vergleicht man diese Bibelstellen, erkennt man, dass der David aufreizende Satan des Chronisten ursprünglich Gott selbst war! „Der Zorn des Herrn entbrannte noch einmal gegen Israel, und er reizte David gegen das Volk auf und sagte: Geh, zähl Israel und Juda!“ (2 Samuel 24, 1). Dieser Vergleich zwischen 1 Chronik 21, 1 und 2 Samuel 24, 1 zeigt in einzigartiger Weise, wie der Zorn Gottes durch die Figur des Satan ersetzt wird: Jahwes Tätigkeit als Verführer wird von Jahwe auf ein Wesen übertragen, dessen Name schon auf Boshaftigkeit hinweist. „Satan“ ist im Alten Testamen zunächst eine allgemeine Bezeichnung für Widersacher oder Feind im profanen Sinn und wird später auch unbestimmt im Sinn eines Anklägers vor Gericht gebraucht.314 Der Satan ist also im Buch der Chronik eine Personifizierung von Jahwes unberechenbaren Seiten. Durch sein Auftreten wird das vielschichtige Gottesbild von seinen widersprüchlichen Zügen befreit. Genau diese 310 Vgl. Almut Neumann, Verträge und Pakte mit dem Teufel. Antike und mittelalterliche Vorstellungen im
„Malleus maleficarum“ (St. Ingbert: Saarbrücker Hochschulschriften, 30, 1997), p. 23. 311 Georg Fohrer, Geschichte, p. 385. 312 Vgl. Die Bibel. Einleitende Worte zum Buch der Sprichwörter. 313 Eine Volkszählung wird deshalb als eine Sünde betrachtet, weil sie Misstrauen gegen Gottes Heilszusage
beinhaltet. Vor allem in der Abrahamerzählung weist Gott immer wieder auf die Zukunft Israels als großes Volk hin. Er verspricht Abrahams Nachkommen so zahlreich wie den Staub auf der Erde (vgl.: Genesis 13, 16) oder so unzählbar wie die Sterne im Himmel (Genesis 15, 5) zu machen. An einer anderen Stelle verheißt ihm ein Engel des Herrn: „Deine Nachkommen will ich so zahlreich machen, dass man sie nicht zählen kann.“ (Genesis 16, 10). Der Herr spezifizierte dies dann, indem er einen Bund mit Abraham schloss und ihm sagte: „Man wird dich nicht mehr Abram nennen. Abraham (Vater der Menge) wirst du heißen; denn zum Stammvater einer Menge von Völkern habe ich dich bestimmt.“ (Genesis 17, 5). Eine Volkszählung könnte demnach also als Nachprüfung des versprochenen Segens, der sich im Wachstum des Volkes ausdrückte, verstanden werden. Diese Überprüfung wäre dann aber ein Misstrauen gegenüber Gottes Versprechen und deshalb eine große Sünde. 314 Vgl. Das Kapitel „V. 1. 1. Etymologie“ in vorliegender Arbeit.
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Funktion erfüllt er auch für Riobaldo, der immer wieder betont, dass Gott stetig sei, der Teufel dagegen unberechenbar und sprunghaft.315 Die alttestamentarischen Schriften betonen also noch übereinstimmend, dass das Wirken des Bösen immer auf ein Wirken Jahwes zurückzuführen ist. Der Teufel, Satan genannt, ist eine Strafinstanz, die als Glaubensprüfer die Einhaltung der Glaubensgesetze überwacht und Übertritte gegen die Gebote Gottes aufzeigt. Eine andere Funktion des Teufels ist es, die Ambivalenzen der monotheistischen Gottesgestalt abzumildern und eine Erklärung für die Leiden der Gläubigen zu finden. Satan bleibt auch noch im Neuen Testament zu großen Teilen ein von Jahwe abhängiges Wesen, dem keine eigene Entscheidungsgewalt zukommt.316 Es lässt sich deshalb festhalten, dass das Alte Testament noch keinen Teufel in Form eines unversöhnlichen Gegenspieler Gottes mit eigener Macht oder gar eigenem Reich kennt.
3.2. Neutestamentarische Aspekte in Grande Sertão: Veredas Das Wirken des Teufels im Neuen Testament ist von wesentlich zentralerer Bedeutung als im Alten Testament. Auch Riobaldo weist auf die starke Präsenz des Teufels in den Evangelien hin: „Sei que é bem estabelecido, que grassa nos Santos-Evangelos.“ (GS:V, p. 2). Trotzdem ist der Teufel im Neuen Testament ähnlich wie auch in Grande Sertão: Veredas keineswegs eine einfach zu greifende oder eine klar zu definierende Figur. Das in der Welt wirkende Böse ist zwar eine im Wesentlichen einheitliche Macht, die sich jedoch in vielfältigen Erscheinungen kundtut. „Diese Gestalten des Bösen können personalen Charakter tragen, ohne dass ihr Wesen näher beschrieben wird.“317 Die Macht und Wirksamkeit des Teufels zeigt sich im Neuen Testament im Allgemeinen nicht in einer bewussten Hinwendung zum Bösen, sondern in dem Abfall der Welt von Gott. Paulus und besonders Johannes gehen aber sogar weiter und modifizieren ihre Vorstellung vom Teufel, indem sie ihn als Fürsten dieser Welt hinstellen, als das böse Prinzip, das die Welt beherrscht und der Wahrheit widerstrebt.318 Im Neuen Testament setzt man also eine Abwendung von Gott oft mit einer Hinwendung zum Teufel gleich, Paulus stellt das in seinem zweiten Brief an die Korinther am deutlichsten dar: „Ich fürchte aber, wie die Schlange einst durch ihre Falschheit Eva täuschte, könntet auch ihr in euren Gedanken von der aufrichtigen und reinen Hingabe an Christus abkommen.“ (2 Korinther 11, 3). Ähnlich ist auch für Riobaldo eine Abwendung von Gott sofort des Teufels: „O que não é Deus, é estado do demônio.“ (GS:V, p. 48). Dies entspricht ziemlich genau dem Ausspruch Jesu aus dem Matthäusevangelium: „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.“ (Matthäus 12, 30). Wie meistens in Grande Sertão: Veredas kann man jedoch nichts, und vor allem nicht den Teufel, festlegen. Riobaldo fragt sich ob der Existenz des Teufels: „E o demo existe? Só se existe o estilo dele, solto, sem um ente próprio – feito remanchas 315 316 317 318
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Vgl. Das Kapitel „V. 3. 1. 1. Die Zweideutigkeit“ in vorliegender Arbeit. Vgl. Almut Neumann, Verträge und Pakte, p. 28-29. Reiner Braun, ‘Teufelsglaube’, p. 26. Gustav Roksoff, Geschichte des Teufels, I, p. 202-03.
n’água.” (GS:V, p. 426). Dem zufolge existiert der Teufel zwar ohne eigenes Wesen, was der Teufelsvorstellung des Alten Testaments entspräche, aber „solto“, ungebunden, was wiederum auf eine dualistische Weltsicht verweisen würde. Doch trotz dieser Ungewissheit scheint über allem Gott zu sein, ein Gott, der zwar Böses zulässt, aber durch seine Konstanz doch Sicherheit gibt: „Deus é definitivamente, o demo é o contrario Déle“ (GS:V, p. 39). Der Teufel ist offensichtlich und ungestüm, doch Gott ist in einer heimtückischen Art leise und vollbringt verstohlen seine Wunder: „E, outra coisa: o diabo, é às brutas; mas Deus é traiçoeiro! Ah, uma beleza de traiçoeiro – dá gosto! A força dele, quando quer – moço! Me dá o medo pavor! Deus vem vindo: ninguém não vê. Ele faz é na lei do mansinho – assim é o milagre.” (GS:V, p. 15). So vielseitig und unbestimmt das Teufelsbild Riobaldos auch erscheint, so ist es doch sehr oft der genauso unbestimmten Figur des Bösen aus dem Alten Testament verpflichtet. So wie Gott den Teufel vorschiebt, um Ijob zu verführen oder um David zu einer Volkszählung zu bewegen, so vermutet Riobaldo auch im Sertão hinter den bösen Taten des Teufels die unendliche Güte Gottes: Até podendo ser, de alguém algum dia ouvir e entender assim: quem-sabe, a gente criatura ainda é tão ruim, tão, que Deus só pode às vezes manobrar com os homens é mandando por intermédio do diá? Ou que Deus – quando o projeto que ele começa é para muito adiante, a ruindade nativa do homem só é capaz de ver o aproximo de Deus é em figura do Outro? (GS:V, p. 30).
Im Neuen Testament werden mit dieser Argumentation die Bemühungen des Alten Testaments, die monotheistische Religion durch Warnungen vor Götzendienst und Bundbruch zu schützen, fortgesetzt. Der feindliche Herr über die Finsternis versucht der Ausbreitung des Reiches Christi zerstörend entgegenzuwirken (Lukas 8, 12; 2 Korinther 4, 4). Die Angst vor einer Verbindung mit dem Teufel soll den christlichen Glauben stärken und gleichzeitig durch den gemeinsamen Kampf gegen das Reich des Teufels, die junge Glaubensgemeinschaft noch enger miteinander verbinden. Im Roman ist Hermógenes dieser gemeinsame Feind, der die verschworene Jagunço-Gemeinschaft, die Joca Ramiros Tod rächen will, noch entschlossener macht und ihre Gruppe zu einer verschworenen Bande zusammenschweißt, die sogar gemeinsam den Liso do Suçuarão zu durchqueren vermag. Im Frühchristentum wird der Teufel als verbindender gemeinsamer Feind immer wichtiger. Er wird ein bestimmendes Element in der Glaubenspolitik, woraus sich die Vorstellung von Teufelsbund und Teufelspakt immer weiter entwickelte, bis schließlich eine personifizierte Begegnung des Menschen mit dem Teufel oder sogar ein Vertragsabschluß möglich war. Wie auch die Theologen des Alten und Neuen Testaments mussten sich die Kirchenlehrer des Frühchristentums etwas einfallen lassen, um eine Teufelsfigur neben dem allmächtigen Gott gelten zu lassen, ohne den monotheistischen Weltenentwurf in Frage stellen zu müssen. Das IV. Laterankonzil von 1215 sagt dazu in Constitutio I, De fide catholica:
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Diabolus enim et daemones alii a Deo quidem natura creati sunt boni, sed ipsi per se facti sunt mali. Homo vero diaboli suggestione peccavit.“319
3.3. Das Wirken des Teufels in Grande Sertão: Veredas 3.3.1. Die Zweideutigkeit Schon auf den ersten Seiten des Romans berichtet Riobaldo fast ausschließlich über das Sein oder Nichtsein des Teufels. Der Auftakt zu diesen ersten Betrachtungen über das Wesen des Teufels bildet ironischerweise die Auffassung, das Thema Teufel nicht kommentieren zu wollen: „Do Demo? Não gloso.“ (GS:V, p. 2). Dies entspricht aber der paradoxen Einstellung seiner ganzen Argumentation, die den Teufel einerseits als reinen Aberglauben abtut: „Superstição. [...] Doideira. A fantasiação.“ (ebd.) gleichzeitig aber behauptet, dass der Teufel mit allen Dingen vermischt ist: „Arre, ele está misturado em tudo.“ (GS:V, p. 4). Natürlich stellt Riobaldo nur einen Absatz vorher ganz nüchtern fest: „Tem diabo nenhum.“ (GS:V, p. 4). Seine Einstellung zum Teufel zeigt sich am besten in der von ihm so paradox gestellten Frage: „O diabo existe e não existe?“ (GS:V, p. 3). Riobaldo verwickelt sich also schon nach zwei Seiten in etlichen, kaum entwirrbaren, Widersprüchen. Die Ambivalenz an sich ist in seinem Monolog jedoch nicht nur Stilmittel sondern fast Handlungsträger oder wenigstens ein besonders bedeutsames Symbol an sich, denn alle ambivalenten Erscheinungen haben, nach Riobaldo, mit dem Teufel zu tun. Dies legt er auch gleich am Anfang des Textes anhand eines Beispiels dar: die essbare Maniokwurzel kann plötzlich giftig werden, die giftige Varietät dagegen plötzlich essbar:320 Melhor, se arrepare: pois, num chão, e com igual formato de ramos e folhas, não dá a mandioca mansa, que se come comum, e a mandioca-brava, que mata? Agora, o senhor já viu uma estranhez? A mandioca-doce pode de repente virar azangada – motivos não sei, às vezes se diz que é por replantada no terreno sempore, com mudas seguidas, de manaíbas – vai em amargando, de tanto em tanto, de si mesma toma peçonhas. E, ora veja: a outra, a mandioca-brava, também é que às vezes pode ficar mansa, a esmo, de se comer sem nenhum mal. (GS:V, p. 4).
Ganz im Gegensatz zu diesem Exempel von Riobaldo steht ein Gleichnis Jesu, in dem dieser davon ausgeht, dass Gutes und Böses klar erkennbar sind. Beide Zustände sind konstant und können nicht plötzlich umspringen:
319 V. J. Alberigo, J. A. Dossetti u. a. (Hg.), Conciliorum Oecumenicorum Decreta (Bologna,1973), p. 230; zu
Konzilaussagen über Dämonen: ebd., p. 110 (Register), nach: Roland Götz, ‘Der Dämonenpakt bei Augustinus’, in: Teufelsglaube und Hexenprozesse, pp.57-84 (p.185, Anmerkungen). 320 Der Maniok besitzt als Euphorbiazee einen für diese Pflanzengattung charakteristischen bitteren Milchsaft, der Blausäure enthält und sich besonders in der Wurzel befindet. Je nach dem Grad der Giftigkeit unterscheidet man zwei Gruppen von Maniok, die aber nicht streng auseinander zu halten sind. Es scheint nicht möglich zu sein, auf Grund äußerlicher Verschiedenheiten zwischen süßem, giftigem und nichtgiftigem Maniok zu unterscheiden. Zu genaueren Ausführungen über den Maniok als Kulturpflanze, vgl.: Guilherme p. Saake, ‘Der giftige Maniok im Haushalte brasilianischer Indianer’, in: Staden Jahrbuch, 1 (1953), pp.124-136. Saake erwähnt in jenem Artikel nichts über ein plötzliches Umspringen zwischen den giftigen und nichtgiftigen Varietäten.
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Entweder: der Baum ist gut – dann sind auch seine Früchte gut. Oder: der Baum ist schlecht – dann sind auch seine Früchte schlecht. An den Früchten also erkennt man den Baum. Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse seid? Denn wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund. Ein guter Mensch bringt Gutes hervor, weil er Gutes in sich hat, und ein böser Mensch bringt Böses hervor, weil er Böses in sich hat. (Matthäus 12, 33 – 35).
Riobaldos Leben im Sertão zeigt ihm jedoch, dass die Dinge nicht so einfach sind, wie im Neuen Testament dargestellt. Gute Menschen werden plötzlich zu Verbrechern und umgekehrt. Das Beispiel von Aleixo zeigt, wie ein kaltblütiger Schurke plötzlich zu einem liebenden Familienvater werden kann (vgl.: GS:V, p. 5 f.). Valtei wiederum, ein bösartiges und gewalttätiges Kind, wird von seinen Eltern in sadistischer Weise gefoltert, die Strafe wird also selbst zur Tat. „Ah, mas, acontece, quando está chorando e penando, ele sofre igual que se fosse um menino bonzinho ...“ (GS:V, p. 7), meint Riobaldo. Valtei kommt ein paar hundert Seiten später noch einmal vor: Diesmal meint Riobaldo, dass Valteis Eltern diesem mit Recht dermaßen peinigten, trotzdem würde sogar ein so hartgesottener Jagunço wie Jazevedão, sähe er das, dem Kind helfen: „Mas aquele menino, o Valtei, na hora em que o pai e a mãe judiavam dele por lei, ele pedia socorro aos estranhos. Até o Jazevedão, estivesse ali, vinha com brutalidade de socorro, capaz. Todos estão loucos, neste mundo?“ (GS:V, p. 272). Die beiden Stellen, in denen Valtei erwähnt wird, werden auch durch die Vermutung, dass alle verrückt seien, verbunden. Kurz nachdem Riobaldo das erste Mal von Valtei berichtet, erklärt er resigniert: „todo-o-mundo é louco.“ (GS:V, p. 8). Es ist die unbegreifbare Zweideutigkeit des Lebens, das die Menschen in den Wahnsinn treibt, die ewige Ambivalenz der Dinge. So hat der beinharte Jagunço Joé Cazuzo zum Beispiel ohne jede Vorwarnung plötzlich mitten in einer Schlacht eine Marienerscheinung, worauf er die Waffe weglegt und ein neues Leben beginnt, „sendo o homem mais pacificioso do mundo, fabricador de azeite e sacristão, no São Domingos Brando. Tempos!“ (GS:V, p. 13). Genau dieses Prinzip des Zweideutigen und Unbeständigen ist in Riobaldos Philosophie das Wesen des Teufels. Der Teufel ist ungreifbar durch seine Wankelmütigkeit und Unstetigkeit, Gott dagegen ist das genaue Gegenteil dessen, er ist die stetige Dauer der Dinge: „Deus é paciência: O contrário, é o diabo.“ (GS:V, p. 17). An Gott kann man sich festhalten, der Teufel allerdings hat nicht einmal in seiner Schlechtigkeit bestand, immer wieder zieht er sich zurück und ändert seine Meinung: „Deus nunca desmente. O diabo é sem parar.” (GS:V, p. 279). Schon zuvor hält Riobaldo ganz bestimmt diese Grundverschiedenheit von Gott und Teufel fest: „Senhor sabe: Deus é definitivamente; o demo é o contrário Dele [...].“ (GS:V, p. 32). Curt Meyer-Clason übersetzt diese Stelle folgendermaßen: „Gott ist endgültig, der Teufel ist sein Widersacher [...].“321 Gott und Teufel sind sich natürlich Gegner, um hier zum Ausdruck bringen zu können, dass Gott für das Stetige und der Teufel für das ambivalent Springende steht, muss man an dieser Stelle im Wort „contrário“ nicht nur „Feind“ sondern auch „Gegenteil“ lesen. Meyer-Clason erkennt jedoch, dass das Kernproblem des Romans der Widerspruch ist und gleichzeitig mit dem Widerspruch natürlich auch der Teufel: „‘Vom Teufel rede ich nicht’, sagt der Held und redet von nichts anderem. Er-
321 João Guimarães Rosa, Grande Sertão, p39.
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gebnis: Der Kern des Problems ist der Widerspruch: ‚Alles ist und ist nicht’. ‚Der Teufel existiert und existiert nicht’, ‚dies war und war nicht.’“322 Der Protagonist des Romans versucht diese Widersprüche intellektuell zu verstehen und zu erklären, doch es gelingt ihm nicht, weder das Gute noch das Böse ist greifbar, das Leben ist zu unstetig als dass man es in solche Kategorien einteilen könnte. Doch dies ist Riobaldo lange Zeit nicht bereit zu akzeptieren, verzweifelt versucht er die Grenzen zwischen Gut und Böse zu definieren: „Riobaldos Problematik besteht darin, Kriterien für die Unterscheidung von Gut und Böse zu finden, zu verstehen, was das Gute überhaupt ist, wie es zugeht, daß aus Gutem Böses entsteht.“323 Ständig wird Riobaldo in seinem Jagunçodasein, aber auch in seiner Existenz als Mensch ganz allgemein, damit konfrontiert, dass er weder das Gute noch das Böse mit Bestimmtheit erkennen kann, zu leicht können sich die Grenzen dazwischen verschieben, zu leicht kann das eine in das andere umschlagen. Schließlich folgert er daraus, dass genau diese Unbestimmtheit, die wahre Ausprägung des Teufels ist. Normalerweise wird der Teufel für das Böse in der Welt verantwortlich gemacht, doch damit enthebt sich der Mensch jeder Verantwortung. Das Rätsel ist nicht die Wahl zwischen Gut oder Böse, sondern der Umstand, dass es beide Phänomene gleichzeitig gibt. Dadurch sind Riobaldos Probleme kaum lösbar, sie bewegen sich am Rand des Denkbaren, „tudo é e não é“. (GS:V, p. 5). Theologisch betrachtet ähnelt diese Frage dem Theodizeeproblem, wie Gott als allmächtiger Ursprung des Guten, das Böse auf der Erde zulassen kann. Dieses Paradox wird seit den Stoikern über Leibniz bis zu Hegel auf verschiedene Arten gelöst. Leibniz meint, dass Gott zwar das Gute will, das Übel aber zulässt, um die menschliche Freiheit bestehen zu lassen. Andere Philosophen leugnen entweder die Übel der Welt im Allgemeinen oder betrachten sie als Prüfungen Gottes. Riobaldo folgt keiner dieser Überlegungen, er kann das immer wieder so unvermittelt auftretende Böse in einer von Gott geschaffenen Welt nicht akzeptieren, weder als ihm auferlegte Prüfung, noch als die bestmögliche Ausprägung der Welt. 324 Ob der Mensch einen freien Willen hat, durch den er aktiv das Böse wählen könne oder ohnehin einem vorbestimmten Schicksal zu folgen hat, ist für Riobaldo auch nicht entschieden. Wie die großen Gestalten aus den alten griechischen Mythen versucht Riobaldo immer wieder aus Situationen, die er nicht verstehen und akzeptieren kann, zu flüchten. Als er erfährt, dass sein Pate in Wirklichkeit sein Vater sei, flüchtet er. Er flüchtet aus Zé Bebelos Feldzug gegen die Jagunços und will genauso aus der Jagunço-Gemeinschaft flüchten, als ihm diese zu eng wird. Er gibt zu: „Mas eu fui sempre um fugidor. Ao que fugi até da precisão de fuga.“ (GS:V, p. 159). Später muss Riobaldo erkennen, dass alle seine Fluchtversuche ergebnislos geblieben waren, da er nichts anderes als ein Spielball des Schicksals sei, „um pobre menino do destino [...]“ (GS:V, p. 10). Auch diese Einsicht teilt er mit den Protagonisten der griechischen Tragödien. Riobaldo weiß nun, dass es immer schon seine 322 Curt Meyer Clason, ‘Der Sertão des João Guimarães Rosa’, in Brasilianische Literatur, hg. von Mechthild
Strausfeld (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984), pp.249-272 (p.265). 323 Martin Münchschwander, Form und Figur, p. 83. 324 Zum Problem der Theodizee vgl.: The Cambridge Dictionary of Philosophy, hg. von Robert Audi (Cam-
bridge: Cambridge University Press, 1999), p. 910-11; Lexikon der philosophischen Begriffe, hg. von Alexander Ulfig (Eltville am Rhein: Bechtermünz, 1993), p. 424-25.
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Bestimmung gewesen sei, Hermógenes zu besiegen: „A modo que o resumo da minha vida, em desde menino, era para dar cabo definitivo do Hermógenes – naquele dia, naquele lugar.“ (GS:V, p. 508). So ganz kann Riobaldo jedoch trotzdem nicht an die Vorherbestimmung glauben, er ist unzufrieden mit dem Mangel an Freiheit, den dieser Determinismus bedeuten würde. Immer wieder stellt er sich die Frage, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt eine andere Bewegung ein anderes Schicksal evoziert hätte: „Se eu não tivesse passado por um lugar, uma mulher, a combinação daquela mulher acender a fogueira, eu nunca mais, nesta vida, tinha topado com o Menino? – era o que eu pensava.“ (GS:V, p. 121). Das Schicksal bleibt für Riobaldo damit unbestimmt zwischen griechischem Fatalismus und physikalischem Zufall. Eine Lebenseinstellung, die er mit Søren Kierkegaard teilt, von dem in einer philosophischen Einführung behauptet wird: „Kierkegaard simultaneously upholds freedom and yet accepts determinism.“325 Nach langer Meditation über diese Probleme findet Riobaldo jedoch schließlich doch seinen Frieden indem er bereit ist, die Diskrepanz der Welt zu akzeptieren. Er muss gar nicht zwischen Gut oder Böse und Freiheit des Willens oder Determinismus unterscheiden, in einer Bewegung hin zum Paradox, kann man die Welt auch in ihrer widersprüchlichen Ausprägungen akzeptieren: Gut und Böse existieren und trotzdem gibt es einen unendlich gütigen Gott. Dieser Schritt Riobaldos ähnelt der religiösen Philosophie Søren Kierkegaards.326
3.3.2. Der Gegensinn der Urworte Auch sprachlich äußert sich Riobaldos These, dass die Ambivalenz ein bestimmender Teil unserer Welt ist. Mary Daniel zeigt auf, dass ein Großteil der von Guimarães Rosa geschaffenen Neologismen durch Fusion von Wörtern entsteht, die im Extremfall sogar scheinbar Gegenteiliges in sich vereinigen: „Nenhão“ entsteht beispielsweise aus der Verbindung des Pronoms „nenhum“ mit dem Adverb „não“. „Visli“ vereinigt die Verbformen „vi“, „vislumbrei“ und „li“. „Fechabrir“ ist Produkt der gegensätzlichen Verben „fechar“ und „abrir“. Das Substantiv „sussurruído“ wiederum entsteht aus „sussurro“ für flüstern und „ruído“ für Lärm, vereinigt also ebenso scheinbar Konträres.327 Mary Daniel führt diese Bemerkung nicht weiter aus, es ist jedoch auffällig, dass Guimarães Rosa mit diesen aus konträren Elementen gebildeten Wortfusionen auf die Funktion der Urworte zurückgreift. Sigmund Freud beobachtet in seiner Traumdeutung ein interessantes Phänomen des Traums: „Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg vernachlässigt, das „Nein“ scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt.“328
325 Robert van de Weyer, Philosophers of the Spirit: Kierkegaard (London: Hodder & Stoughton, 1997), p. 11. 326 Vgl. hierzu das Kapitel „VIII. Die Philosophie Kierkegaards in ‚Grande Sertão: Veredas’“ in vorliegender
Arbeit. 327 Vgl. Mary Lou Daniel, Travessia literária, pp.18-76. 328 Sigmund Freud, ‘Die Traumdeutung’, in: Studienausgabe, 2, p. 316.
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Diese Praxis der Traumarbeit deckt sich mit der Eigentümlichkeit der ältesten bekannten Sprachen, in denen eine erstaunliche Anzahl von Worten zwei gegenteilige Bedeutungen hat. Der Gegensinn ist jedoch nicht nur in den ägyptischen, indogermanischen und arabischen Ursprachen gebräuchlich, auch im Lateinischen heißt „altus“ noch hoch und tief und „sacer“ heilig und verflucht. Ähnlich bedeutet im Deutschen bis heute „Boden“ das Oberste wie auch das Unterste im Haus. Um die Gegensätze voneinander abzusondern, ändert sich jedoch mit der Zeit die Phonetik der Urworte. Beispiele wie „clamare“ für schreien und „clam“ für leise und „siccus“ für trocken und „succus“ für Saft belegen diese Bewegung. Das Altenglische „bat“ für gut, wird zum Englischen „bad“ für schlecht. In England sagt man für „ohne“ auch heute noch „without“, also „mitohne“, das wiederum ebenso in Ostpreußen gebräuchlich ist. Diese Übereinstimmung von den Eigentümlichkeiten der Traumarbeit, die Gegensätzliches zu Einheiten zusammenzieht, und der Praxis der ältesten Sprachen, deren Vokabular oft mit einer einzigen Bezeichnung gegenteiliges ausdrückt, überrascht Freud nicht. Er kann darin sogar [...] eine Bestätigung unserer Auffassung vom regressiven, archaischen Charakter des Gedankenausdruckes im Traume erblicken. Und als unabweisbare Vermutung drängt sich uns Psychiatern auf, daß wir die Sprache des Traumes besser verstehen und leichter übersetzen würden, wenn wir von der Entwicklung der Sprache mehr wüßten.329
Guimarães Rosas Tendenz aus sinnverschiedenen Vokabeln neue Ausdrücke zu formen, führt nun die differenzierten Wörter der modernen Sprachen wieder zu einem sie verbindenden Gegensinn zurück. Weitere Beispiele dafür sind: „moliçosa“, ein neologistisches Adjektiv, entstanden aus der Verschmelzung von „buliçoso“ mit „molicia“, was die gegensätzliche Bedeutung von „schlaff-zappelig“ ergibt oder „mortalma“ aus „mortal“ und „alma“.330 Mary L. Daniel sieht in diesen Wörtern „nas quais se integram dois significados separados e independentes“, Guimarães Rosas „contribuição mais valiosa ao léxico nacional.“331 Guimarães Rosa bestätigt die Vermutung, dass seine Neologismen eine ähnliche Struktur und Verwendung haben wie die von Sigmund Freud beschriebenen Urworte: „Se tem de haver uma frase feita, eu preferia que me chamassem de reacionário da língua, pois quero voltar cada dia à origem da língua, lá onde a palavra ainda está nas entranhas da alma, para poder lhe dar luz segundo a minha imagem.“332 Auch Cortázar ist der Meinung, dass es für den südamerikanischen Schriftsteller notwendig sei, die „ropa ajena“ wegzuwerfen und zur ursprünglichen Bedeutung der Worte 329 Sigmund Freud, ‘Über den Gegensinn der Urworte’, in: Studienausgabe, 4, pp.225-234 (p.234). 330 Zu weiteren Beispielen für Neologismen im Werk von Guimarães Rosa, vgl. neben der genannten Studie
Mary L. Daniels besonders: Cavalcanti M. Proença, ‘Trilhas no Grande Sertão’, in: ders., Augusto dos Anjos e outros ensaios (Rio de Janeiro: Cadernos de Cultura; MEC, 1973), pp.155-240; Eduardo Coutinho, The Process of Revitalization of the Language and Narrative Structure in the Fiction of João Guimarães Rosa and Julio Cortázar (Valencia: Albatros, 1980), vor allem pp.20-31; Georg Rudolf Lind, Regionalismus und Universalität, vor allem pp.330-332. 331 Mary Lou Daniel, Travessia Literária, pp.59-60. 332 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 49.
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zurückzukehren. Für ihn ist es wesentlich „terminar con la impureza de los compuestos y devolver sus derechos al sodio, al magnesio, al carbono químicamente puros.“ 333 Diese puren Urelemente der Worte sind anscheinend die von Freud beschriebenen gegensinnlichen Urworte, die Guimarães Rosa nun archaisierend für den Sertão neu erfindet. In Grande Sertão: Veredas funktioniert diese Fusion von Gegensätzlichem jedoch nicht nur auf einer sprachlichen Ebene. Coutinho bezeichnet den Roman als „Synthesis Novel“, der Regionalismus und Universalismus, Objektivität und Subjektivität und „aesteticism und social commitment“ umfasst: These elements, which were formerly seen as antagonistic and even served as points of reference for superficial classifications based on the predominance of one of them at the expense of the other, are now employed in perfect balance in Grande Sertão: Veredas, and the opposition previously existing between them is neutralized.334
Diese Neutralisierung der die Welt bestimmenden Gegensätze bedeutet jedoch eine Auflösung des Teufels, der für Riobaldo durch jene unbestimmte Mehrdeutigkeit charakterisiert ist. Riobaldos Bewegung zum Paradox wird, wie schon öfters angedeutet, im Kierkegaard Kapitel dieser Arbeit eine genaue Analyse erfahren.
3.3.3. Die Sorge Den Grund für dieses arglistige Umspringen zwischen Gut und Böse sieht Riobaldo in der tückischen Allgegenwart des Teufels. Dieser manifestiert sich auch immer wieder in verschiedenen Tieren, vor allem in der Klapperschlange, dem Mastschwein und in manchen Vögeln, wie Hähern und Krähen. Sogar Steine vergiften manchmal das Wasser eines Brunnens, denn sie sind der Teufel: „o diabo dentro delas dorme: são o demo.“ (GS:V, p. 4). Es gibt nur eines, was den Teufel im Menschen zum Schweigen bringen kann, das Leiden, Leiden mit Vernunft, wie Riobaldo bemerkt: „Que o que gasta, vai gastando o diabo de dentro da gente, aos pouquinhos, é o razoável sofrer.“ (GS:V, p. 5). Riobaldos Leiden ist das des Zweifelnden, es ist die Sorge, einen Pakt mit dem Bösen geschlossen zu haben. Der Teufel wird zu einem Bild für diese Sorge. Ähnlich wird in Goethes Faust II Mephistopheles durch die Sorge ersetzt. Alejo Carpentier lässt in seinem Roman „La consagración de la primavera“ den Protagonisten Enrique sagen: [...] el Sorge por quien el Doctor de Supremas Apetencias, pasado de ser aprendiz a maestro, más fuerte que el Demonio mismo, habría de ser torturado ahora, teniendo al tenaz y pérfido huésped alojado en las entrañas, infinitamente más temible que todos los diablos catalogados en los tratados de demonología por cuanto nos roe por dentro [...].335
Ähnliches behauptet Riobaldo nicht von der Sorge, jedoch vom Teufel selbst: „Explico ao senhor: „o diabo vige dentro do homem, os crespos do homem – ou é o homem arruinado, ou o homem dos avessos.“ (GS:V, p. 3). 333 Julio Cortázar, Rayuela (Buenos Aires: Ed. Sudamericana, 1970), p. 488. 334 Euardo Coutinho, The „synthesis“ Novel, p. 55. 335 Alejo Carpentier, La consagración de la primavera (Madrid: Siglo XXI Ed., 1982), p. 101.
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Faust stößt Mephistopheles und seine Helfer mit Abscheu von sich, er will von nun an ohne die Magie leben. Es ist dies ein bedeutsamer Widerruf, denn so hatte er bisher noch nie gesprochen. In der nächsten Szene erscheint die allegorische Figur der Sorge. Es besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen dem Widerruf der Magie und dem plötzlichen Auftreten der Sorge. Faust ist durch Mephistopheles aller äußeren Sorgen enthoben. Wenn er in dem Leben mit Mephistopheles der Sorge zugänglich wäre, müsste er, so wie Riobaldo, auch an die Zeit nach dem Tod denken und sich um sein Seelenheil sorgen machen. Doch dies beschäftigt Faust nicht: „Das drüben kann mich wenig kümmern.“336 Aber auch im zweiten Teil schiebt er den Gedanken an das Leben nach dem Tod noch fort, er will den Kampf mit der Natur ohne magische Mittel aufnehmen, ohne sich deshalb jedoch Sorgen zu machen. Faust beweist seine Kraft, indem er die Sorge von sich weist: „Doch deine Macht, o Sorge, schleichend groß,/ Ich werde sie nicht anerkennen.“337 Die Sorge beweist im Gegenzug ihre Kraft, indem sie Faust blind macht.338 Riobaldo ist im Gegensatz zum Teufelspakter Faust seit seinem Pakt durch eine ständige Sorge geprägt. Seitdem Riobaldo in den Veredas Mortas Lucifer und Satan angerufen hat, ist er von Zweifeln zerfressen. Sein Leben postpactum ist von der Sorge bestimmt, seine Seele verkauft zu haben. Fausts Leben war dagegen vor dem Pakt dominiert von Sorge und Zweifel und ist seit dem Pakt ein eindeutig definiertes und sogar sorgenfrei, da Mephistopheles ihn der äußeren Sorge enthob. Faust wird vom „homo cogitandi“ zum „homo actuandi“, Riobaldo dagegen vom „homo actuandi“ zum „homo cogitandi“.339 Riobaldos ständiger Zweifel ist daher kein faustisches Zweifeln, da sein Pakt nicht durch diese Zweifel motiviert worden ist, sondern umgekehrt, der Pakt seine Zweifel erst evoziert hat. Sein Zweifel ist der Sorge aus Faust II ähnlich, die sich allegorisch selbst folgendermaßen definiert: Wen ich einmal mir besitze, Dem ist alle Welt nichts nütze; Ewig Düstre steigt herunter, Sonne geht nicht auf noch unter, Bei vollkommnen äußern Sinnen Wohnen Finsternisse drinnen, Und er weiß von allen Schätzen Sich nicht in Besitz zu setzen.340 Soll er gehen, soll er kommen? Der Entschluß ist ihm genommen; Auf gebahnten Weges Mitte Wankt er tastend halbe Schritte. Er verliert sich immer tiefer, Siehet alle Dinge schiefer,
336 Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Vers 1660. 337 Ebd., Vers 11.490-491. 338 Zum Motiv der Sorge in Faust II beachte besonders: Vers 11.384-11.498; und: Paul Stöcklein, ‘Fausts zweiter
Monolog und der Gedanke der Sorge’, in: ders., Wege zum späten Goethe (Hamburg: Schröder, 1960), pp.93117. 339 Vgl. Fani Schiffer Durães, Riobaldo und Faust: Untersuchung zum Faust-Mythos bei João Guimarães Rosa (Bonn: Romanistischer Verlag, 1996), p. 216. 340 Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Vers 11.453-460.
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Sich und andre lästig drückend, Atemholend und erstickend; Nicht erstickt und ohne Leben, Nicht verzweiflend, nicht ergeben. So ein unaufhaltsam Rollen, Schmerzlich Lassen, widrig Sollen, Bald Befreien, bald Erdrücken, Halber Schlaf und schlecht Erquicken Heftet ihn an seine Stelle Und bereitet ihn zur Hölle.341
Riobaldo kennt diese düstere Sorge sehr genau. Gleich nachdem er sich entschlossen hat, den Teufel anzurufen, kann er nicht aufhören voller Reue immer wieder daran zu denken. Grauenvolle Träume verfolgen ihn in den Schlaf und Zweifel quälen ihn: „Os três dias passados, eu reptroduzi tudo com uma qualidade de remorsos, aquelas decisões. Sonhei coisas muito duras. O porque era pior, agora, que eu tomei sombra vergonhosa, por ter começado e não ter tido firmeza para levar a acabado.” (GS:V, p. 355). Riobaldos Sorge überschattet den ganzen Text, der Zweifel ob der Existenz des Teufels wird dadurch das eindringlichste Thema des Romans. Sein Schwanken reicht vom definitiven „Tem diabo nenhum.“ (GS:V, p. 10) über das paradoxe „O diabo existe e não existe?“ (GS:V, p. 3) bis zum verzweifelten „o demo então era eu mesmo?“ (GS:V, p. 415). Zwischen diesen Extremen pendelt Riobaldos Zweifeln unzählige Male unbestimmt hin und her, um dann mit „O diabo não há!“ (GS:V, p. 538) zu enden. Diese Unbestimmtheit nimmt Riobaldo nahezu den Verstand: „Desordenei quase, de minhas idéias.“ (GS:V, p. 415). Sein Zweifel hat schon nahezu etwas Sakrales, Riobaldos Leiden erinnert an die Passionsgeschichte, weil aufopferndes Leiden immer etwas Messianisches hat: „Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten im Voraus verkündigt hat: dass sein Messias leiden werde.“ (Apostelgeschichte 3, 18). Von diesem unaussprechlichen Leid berichtet auch Riobaldo, wenn er an die Zeit kurz vor dem Pakt zurückdenkt: „Os ruins dias, o castigo do tempo todo ficado, em que falhamos na Coruja, conto malmente. A qualquer narração dessas depõe em falso, porque o extenso de todo sofrido se escapole da memória.“ (GS:V, p. 353).
4. Dämonen und Geister 4.1. Etymologie Das Wort Dämon ist seit Homer bei Dichtern und Philosophen gebräuchlich. Die Bedeutung des Wortstammes bleibt jedoch im Ungewissen, Sachphilologen können nur sagen, dass der Dämon bei Homer noch kein Mittelglied zwischen Gott und den Menschen war, sondern selbst etwas nahezu Göttliches. Erst später wird das Wort zu einer Bezeichnung für die Mittelwesen, die sowohl gut als auch böse sein können. Im Neuen Testament steht das Wort Dämon dann nur noch für die bösen Genien und für den Teufel. Seit biblischen Zeiten 341 Ebd., Vers 11.471-486.
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glaubt man daran, dass der Wahnsinnige besessen sei, vom Teufel oder von bösen Dämonen. Die religionswissenschaftliche Forschung bezeichnet als Dämonen alle übermenschlichen, aber untergöttlichen Mächte, die den Menschen schädigen oder zumindest bedrohen und deren sich der Mensch durch bestimmte Riten und Enthaltungen erwehrt.342
4.2. Dämonen und Geister im Alten Testament Obwohl der israelitische Volksglaube sehr wohl an böse Geister, die den Menschen bedrohen oder schädigen, glaubt, ist ein expliziter Dämonenglauben im Alten Testament nur an wenigen Stellen sichtbar. Ähnlich ist es in Grande Sertão: Veredas, in dem trotz des starken Dämonenglaubens der Sertãobevölkerung nur sehr selten Dämonen auftreten. Riobaldo unterscheidet auch theologisch korrekt zwischen Teufel und Dämonen: „Tem diabo nenhum. Nem espírito.“ (GS:V, p. 10). Trotz der Ablehnung des Dämonenglaubens von Seiten der offiziellen alttestamentarischen Theologie, werden verschiedene böse Geister und Dämonen in den Eingottglauben integriert. So verwanden sich einige Dämonen zum Beispiel in Tiere und treten am Rande erwähnt auf. Um den nahenden Untergang Babels zu beschreiben, werden Tiere aufgezählt, hinter denen man ohne weiteres Manifestationen dämonischer Mächte vermuten kann: „Dort haben nur Wüstenhunde ihr Lager, die Häuser sind voller Eulen, Strauße lassen sich dort nieder, und Böcke springen umher.“ (Jesaja 13,21). Die Eule als böses Vorzeichen scheint in Grande Sertão: Veredas zentral in der Paktszene in „Coruja“ auf. Riobaldo nennt nur ein einziges Mal einen Geist beim Namen. Während der Überfahrt des Rio São Francisco hat der junge Riobaldo so viel Angst, dass er sogar die Wassergeister vergisst: „Não me lembrei do Caboclo-d’Água“ (GS:V, p. 88). In Genesis 32, 23-33 ringt Jakob mit einem Mann an einer Furt, der sich am Schluss des langen Kampfes als Gott selbst zu erkennen gibt. Dieser Mann war ursprünglich auch ein dämonischer Flussgeist, wurde aber im Laufe der Zeit erhöht und schließlich mit Gott gleichgesetzt. Aus Jakobs Kampf mit dem Flussgeist wurde also ein Kampf mit Gott. Auch Riobaldos „Caboclod’Água“ wird im Laufe der Zeit erhöht und der Rio São Francisco wird vom Symbol der Trennung „O São Francisco partiu minha vida em duas partes“ (GS:V, p. 271) zum Lebensmittelpunkt des Erzählers: „Agora estou aqui, quase barranqueiro. [...] O Rio de São Francisco – que tão grande se comparece – parece é um pau grosso, em pé, enorme [...].“ (GS:V, p. 538). In den Psalmen wird darauf hingewiesen, dass man unter dem Schutz des Höchsten keine Angst zu haben braucht: „Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag.“ (Psalm 91, 5-6) Genauso wie die Begriffe „Schrecken“, „Pfeil“, „Pest“ und „Seuche“ über ihre Grundbedeutung hinausweisen und auf die Macht böser Geister schließen lassen, sind in Grande Sertão: Veredas fast die selben Begriffe immer von einem unbestimmten Grauen erfüllt, der weit über die unangenehme Bedeutung der Denotate hinausgeht. 342 Vgl. Fritz Mauthner, Wörterbuch, I, p. 262; Theologische Realenzyklopädie, 7, (Berlin/New York: De Gruy-
ter, 1981), pp.270- 300; Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, pp.94-95.
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Trotz dieser Beispiele kann man zusammenfassend sagen, dass das Alte Testament grundsätzlich dämonenfeindlich ist und sich nicht an der Spekulation über Herkunft, Wirkung oder Abwehr von Dämonen beteiligt.343 Auch Riobaldo lässt sich nicht auf die unzähligen Dämonen der afro-brasilianischen Dämonen ein, sogar der Teufel bleibt, wie gezeigt, ein eher alttestamentarischer, von Gott abhängiger Menschenfeind. Der Begriff „Dämon“ im Roman ist eher vorbiblischer Natur und geht auf die griechische Antike zurück, in der der „demo“ sowohl gut als auch böse sein kann.
4.3. Dämonen und Geister im Neuen Testament Der Fürst der bösen Geister ist der Urheber allen Übels und aller Sünde. Die Bedeutung der Dämonen als Plagegeister wird besonders bei den Synoptikern und in der Apostelgeschichte hervorgehoben. Als solche nehmen sie Besitz von den Menschen, die dadurch zu Besessenen werden. Die Synoptiker erzählen von solchen Besessenen, die an Epilepsie (Lukas 9, 39; Matthäus 17, 15) an paralytischer Verkrümmung (Lukas 13, 11) und anderen Krankheiten leiden. Solche Zustände, die für das Alterthum etwas Geheimnisvolles an sich trugen, von den Hellenen auf die Einwirkung des Göttlichen, auf das Dämonion (Eigentlich das Waltende, die Fallsucht, Herodot, III, 33) später wol auch auf Dämonen zurückgeführt wurden, brachten die Juden mit der Sünde in Zusammenhang und hernach mit den bösen Geistern.344
Als Veranlasser solchen Übels steckt im Hintergrund aber immer der Satan, da ihm selbst, das was einer seiner bösen Geister tut, zugeschrieben wird. Was in Lukas 13, 11 einem Krankheitsgeist zugeschrieben wird, („Dort saß eine Frau, die seit achtzehn Jahren krank war, weil sie von einem Dämon geplagt wurde“) ist in Lukas 13, 16 schon Werk des Teufels selbst („Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan schon seit achtzehn Jahren gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht davon befreit werden dürfen?“). Gemäß der Vorstellung von einem Kampf des Reiches Christi mit dem Reich des Teufels gehört es zum Zweck der Sendung Christi, die Werke des Teufels zu zerstören, zu welchen auch die Besitznahme der Menschen durch böse Dämone gezählt wird. Ein Teil des Wirkens des Heilands besteht demnach (besonders nach den Synoptikern) in der Heilung der Besessenen. Indem der Teufel der Urheber alles Bösen, alles Übels und der König des Todes ist, so erstreckt sich die Heilstätigkeit Jesu auf die Überwindung des Übels überhaupt, und er heilt auch gewöhnliche Krankheiten und erweckt Tote. Bevor die Menschen der Lehre Jesu folgten, waren sie auf dem falschen Weg und der böse Geist wirkte in ihnen. Jesus meint, dass der Teufel „im Bereich der Lüfte regiert“, was mit Riobaldos Vermutung „o diabo na rua no meio do redemoinho“ übereinstimmt:
343 Vgl. Reiner Braun, ‘Teufelsglaube’, p. 20. 344 Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, I, p. 205.
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Ihr wart einst darin gefangen, wie es der Art dieser Welt entspricht, unter der Herrschaft jenes Geistes, der im Bereich der Lüfte regiert und jetzt noch in den Ungehorsamen wirksam ist. (Seguindo o modo de pensar desto mundo, seguindo o príncipe do poder do ar, o espírito que agora age nos homens desobedientes). (Epheser 2, 2)
Der Geist, der im Bereich der Lüfte regiert, hat eine auffällige Ähnlichkeit mit dem für Riobaldo so zentralen „re-demo-inho“. Wobei auffällig ist, dass sich Riobaldo während seines Paktversuchs in den Veredas Mortas zweimal vor die Entscheidung „Deus ou o demo“ (GS:V, p. 370) stellt und einmal die Symbiose „Deus e o Demo!“ (ebd.) versucht. Obwohl Riobaldo in Folge „Lúcifer“ und „Satanás“ (GS:V, p. 371) anruft und „demo“ meist als Synonym für „diabo“ gewählt wird, bleibt die Schlüsselfrage an dieser so entscheidenden Stelle „Deus ou o demo“ und niemals „Deus ou o diabo“. Der Theologie des Neuen Testaments folgend, verschreibt sich Riobaldo dadurch einem bösen Geist, den Jesus jedoch überwinden kann, wodurch Erlösung möglich wird. Sowohl im Neuen Testament als auch in Grande Sertão: Veredas würde das Leben ohne Gott jeglichen Sinn verlieren. Während die Figur des Teufels zwar sehr präsent ist, aber trotz aller Diskussion doch unbestimmt bleibt, so ist die Existenz Gottes ein Faktum, das kaum erwähnt werden muss. Dem ersten Korintherbrief zufolge wird ohne die Erlösung nach dem Tod alles sinnlos und das Leben verliert alle moralischen Werte: „Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann laßt uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot.“ (1 Korinther 15, 32). Ähnlich unvorstellbar ist auch für Riobaldo ein Leben ohne die unendliche Liebe eines allmächtigen Gottes: Como não ter Deus?! Com Deus existindo, tudo dá esperança: sempre um milagre é possível, o mundo se resolve. Mas, se não tem Deus, há-de a gente perdidos no vai-vem, e a vida é burra. [...] Tendo Deus, é menos grave se descuidar um pouquinho, pois no fim dá certo. Mas, se não tem Deus, então, a gente não tem licença de coisa nenhuma! (GS:V, p. 48).
Wenn Gott existiert, ist immer ein Wunder möglich, auch die größte Sünde ist verzeihbar und jedes Problem lösbar. So versucht Riobaldo theologisch eine Möglichkeit zu finden, seine eventuell verkaufte Seele wiederzugewinnen. Wie im nächsten Kapitel aufgezeigt werden soll, wäre Riobaldo nicht der erste Teufelsbünder, der durch die unendliche Liebe Gottes im letzten Moment dem Teufel entkommen konnte.
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VI. Der Pakt
Oft wird Riobaldo mit Faust verglichen, obwohl Guimarães Rosa selbst deutlich sagt: „Riobaldo não é Fausto“.345 Viele Kommentatoren schließen sich der Meinung des Autors an und weisen darauf hin, dass Riobaldos Paktsituation eine ganz andere ist als im FaustMythos, da es im Roman der Protagonist selbst ist, der aktiv den Teufel herausfordert, während in allen Faust-Darstellungen der Teufel dem Faust einen Pakt anbietet. Aus dieser Diskrepanz wird normalerweise geschlossen, dass Riobaldos Pakt vor allem auf der Volksmythologie des Sertãos beruht.346 In der brasilianischen Tradition und dann in der Literatur entwickelte sich eine Art Pakt mit dem Teufel als Element eines kriegerischen Schutzrituals, zumeist durch die Vermischung von katholischem Glauben und den Religionen der Indios und der Sklaven aus Afrika. Dieses „Körper-Versiegeln“ wird von Guimarães Rosa in der Erzählung „Corpo fechado“ aus dem Band „Sagarana“ eingehend beschrieben, ohne jedoch in seiner Wirksamkeit eindeutig bestimmt zu werden. In Grande Sertão: Veredas erklärt der Jagunço Lacrau seinem Hauptmann Riobaldo, dass Hermógenes einen Pakt eingegangen sei, der noch wirksamer sei als die Zeremonie des „Körper-Versiegelns“: „Mas a valência que ele achava era despropositada de enorme, medonha mais forte que a de reza-brava, muito mais própia do que a de fechamento-de-corpo.“ (GS:V, p. 359). Dieser versiegelte Körper ist anscheindend eine Vorstufe des Paktes, durch welche man nahezu unverwundbar werden kann.347 Der Mythos der Unverwundbarkeit ist besonders in den anekdotischen Erzählungen der Jagunços in den Roman aufgenommen worden. Doch Riobaldos Paktversuch geht in seiner Komplexität über dieses Körper-Versiegeln weit hinaus. Formal orientiert sich sein Pakt vor allem an vor-faustischen Erzählungen, wie in diesem Kapitel noch genauer ausgeführt werden wird. Andere Interpretationen sehen Riobaldos Pakt dagegen als einen Initiationsritus. Diese Sichtweise kommt oft auf ganz erstaunliche Ergebnisse, die teilweise schlüssig sind, andererseits jedoch oft sehr umständlich auf okkulte esoterische und fernöstliche Quellen zurückgreifen müssen, um zu beweisen, dass Riobaldo nach dem Tod Diadorims „o estado de novo nascimento ou de realização espiritual“348 erreicht. Auf die Funktion von Riobaldos Pakt soll in diesem Kapitel noch nicht genauer eingegangen werden, denn auch die Form seines mitternächtlichen Erlebnisses bedarf einer Analyse. Zu oft belässt es die Sekundärliteratur bei dem schon erwähnten Faktum, dass Riobaldo und Faust nicht vergleichbar sind: „O compartamento e as reações dos dois protagonistas são díametralmente opostos: Fausto
345 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 59. 346 Vgl. Leonardo Arroyo, A cultura popular. 347 Einen versiegelten Körper besitzt angeblich auch der Jagunço Aparício Vieira im Roman „Cangaceiros“ von
José Lins do Rêgo, allerdings aufgrund der Gebete seiner Mutter. 348 Consuelo Albergaria, Bruxo da linguagem no Grande Sertão. Leitura dos elementos esotéricos presentes na
obra de Guimarães Rosa (Rio de Janeiro: Tempo Brasileiro, 1977), p. 13.
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suplica a presença de Mefistófeles, e treme de pavor ante seu aparecimento; Riobaldo exige a presença do demo e o seu todo é o de um homen corajoso.“349 Folgt Riobaldos Pakt in seiner Form aber nicht dem Pakt Faustens, liegt die Vermutung nahe, dass dieser sich an Vorbilder der Populärkultur orientiert: „A cena do pacto nas Veredas-Mortas segue o ritual tradicional conhecido na cultura popular.“350 Wenn man die lange Geschichte der Teufelsbündnisse jedoch auch in vor-faustische Zeit zurückverfolgt, so erkennt man, dass Riobaldos Situation mit vielen älteren Pakterzählungen Gemeinsamkeiten aufweist und eindeutig seine Wurzeln in der abendländischen Geistesgeschichte hat. Die wichtigsten Elemente seines Pakts können ohne die Hinzunahme von afro-brasilianischen, indianischen oder sogar fernöstlichen Teufelsmythen erklärt werden. Das Motiv des Teufelpakts hat seine Wurzeln im Orient. Die Zoroaster Persiens haben als erste dualistische Religion auch den ersten überlieferten Teufelspakt, der in Ferdausis Epos Shah-Nameh nacherzählt wird. 351 Dieser persische Glaube an einen Pakt mit dem Bösen wird während der babylonischen Gefangenschaft an die Juden weitergegeben, welche ihn an die Christen weitervermitteln. Der Teufelspakt kommt sowohl im apokryphen Buch Enoch, also auch im Talmud und in der Tradition der Kabbala eindeutig vor.352 Weiters gibt es eine Reihe von biblischen Erzählungen in denen ein Teufelspakt angedeutet wird. Diese sollen im folgenden Kapitel kurz erläutert werden, da es sich bei Grande Sertão: Veredas doch vor allem um ein der christlichen Tradition verpflichtetes Werk handelt.
1. Bündnisse im Alten Testament 1.2. Der Bund Israels Voraussetzung für die Entstehung eines Teufelsbundes ist nicht nur die Existenz des Teufels, sondern genauso auch die Existenz eines Gottesbunds, dem erst ein Teufelsbund entgegengesetzt werden kann.353 Dieser Gottesbund, der im Alten Testament entwickelt wird, hat im jüdischen Monotheismus eine ganz besondere Zentralstellung. Die Schließung des Bundes stellt den Versuch dar, einen durch Blutsverwandtschaft bestimmten Menschenkreis durch Aufnahme von neuen Mitgliedern zu vergrößern. Dadurch soll die Zukunft gesichert werden und sowohl die Kampfkraft als auch die wirtschaftliche Lage verstärkt werden. Hempel unterscheidet zwischen folgenden Vertragsarten: Einseitige Bünde: Der Mächtige initiiert den Bund und setzt ihn in Kraft, ohne dass dem Empfangenden irgendeine aktive Bedeutung zukommt. (Josua 9, 6-11; 1 Samuel 11, 1; 2 Samuel 3, 12; 1 Könige 20, 34).
349 Ebd., p. 38. 350 Leonardo Arroyo, A cultura popular, p. 240. 351 Der Dämon Ibis verspricht dem arabischen Prinzen Zohah ihn über die Sonne zu stellen, wenn dieser einen
Pakt mit ihm schlösse. Goethe schätzte Ferdausi und das persische Nationalepos Shah-Nameh über alles. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, ‘Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans’, in: ders., Gesammelte Werke, 2, pp.126-270 (vor allem pp.153-54). 352 Vgl. Maximilian Rudwin, The Devil in Legend and Literature, p. 169. 353 Vgl. Almut Neumann, Verträge und Pakte pp.36-37.
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Zweiseitige Bünde ohne Gleichberechtigung: Der Mächtige beschränkt sich auf ein Treueversprechen, die Pflichten liegen jedoch beim Empfänger. Zweiseitiger Vertrag unter gleichberechtigten Partnern: Geschlossen wird ein bindender gegenseitiger Rechtsvertrag. Die Pflichten der Kontrahenten können allerdings verschieden sein. Ein Dritter stiftet einen Vertrag zwischen zwei Parteien, ohne dass über die gegenseitigen oder einseitigen Verpflichtungen etwas ausgesagt würde.354
Diese vier Formen des Bundes finden sich auch im Israel der Bibel. Jahwe schließt seine Bünde entweder direkt oder über Mose. Die ältesten Bundschlüsse sind der in die Kategorie 1 fallende, einseitig geschlossene Noah-Bund (Genesis 9, 1-17). Der Bund mit Abraham fällt in die Kategorie 2 (Genesis 17 ,7), und der mit David geschlossene Bund ist ein Beispiel für die Kategorie 3 (Psalm 89, 20 ff. u. a.). Der Bund Jahwes mit Mose wird im Allgemeinen als Alter Bund bezeichnet (Exodus 6, 7; Levitikus 26, 12; Deuteronomium 26, 17 f.). Es handelt sich dabei um ein zweiseitiges Treueversprechen, in dem Jahwe das Gelobte Land, Hilfe und Barmherzigkeit verspricht und dafür die alleinige Anbetung und den absoluten Gehorsam gegenüber seinen Geboten fordert. Ein Zuwiderhandeln gegen seine Bedingungen wird streng bestraft (Deuteronomium 8, 19; 27, 26; Josua 7, 1 u. a.). Dieser Bundschluss ist das Symbol der Erwählung des Volkes Israel durch Jahwe. Riobaldos Paktversuch mit dem Teufel lässt sich in keine dieser frühen Bünde einordnen, da er es selbst ist, der den Mächtigeren zu einem Paktschluss herausfordert und dafür weder Pflichten noch Rechte definiert werden.
1.3. Andere Bünde im Alten Testament Genesis 6, 14 erzählt von so genannten „Gottessöhnen“, die den schönen Menschentöchtern nicht widerstehen können und mit den irdischen Frauen Kinder zeugen. In den apokryphen Schriften zum Alten Testament gilt diese Stelle als eine mögliche Antwort nach der Frage, worin die Sünde der gefallenen Engel bestand, warum sie von Gott aus dem Himmel gestürzt wurden. Demnach ist also die fleischliche Begierde die Engelsünde. Parallel zu Genesis 6, 14 berichtet das apokryphe, äthiopische Buch Henoch, dass sich die Engel nach der Erschaffung der Menschen an den schönen Menschentöchtern vergehen. 200 gefallenen Engel, unter ihnen Sammael und der weiter oben erwähnte Wüstendämon Asasel, steigen vom Gipfel des Berges Hermon herab, um ihrer Lust nachzugehen. Diese und alle übrigen mit ihnen nahmen sich Weiber, jeder von ihnen wählte sich eine aus, und sie begannen zu ihnen hineinzugehen und sich an ihnen zu verunreinigen; sie lehrten sie Zaubermittel, Beschwörungsformeln und das Schneiden von Wurzeln und offenbarten ihnen die heilkräftigen Pflanzen (1 Henoch 6, 1).355
354 Vgl. J. Hempel, ‘Bund’, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Kurt Galling, (Tübingen:
J.C.D. Mohr, 1957), 1, Spalte 1512-16. 355 Das Buch Henoch, nach: Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel, hg. von Erich Weidinger (Himberg
bei Wien: Bechtermünz, ohne Jahr) p. 304.
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Auf dieses biblische Zeugnis beruft sich der spätere Hexenwahn, in dem die Darstellungen der Teufelsbuhlschaft immer perversere und plastischere Formen annehmen würden. Es ist auffällig, dass Riobaldo im letzten Kampf Hermógenes nicht persönlich bekämpft, sondern Diadorim an seine Stelle tritt und demzufolge auch für ihn stirbt. Daraus entsteht für ihn die entscheidende Frage, ob er in den Veredas Mortas ein Bündnis mit dem Tod eingegangen ist, durch das sein Leben verlängert wurde und nun Diadorim an seiner statt den Tod gefunden hat.356 Dieses mögliche Bündnis mit dem Tod findet im Alten Testament eine frühe Parallele: Der Prophet Jesaja droht den untreuen Priestern und Propheten in Jerusalem beim Angriff des assyrischen Königs Sanherib (um 701 v. Chr.) und sagt das rettende Eingreifen Gottes gegen den überheblichen Feind voraus: „Ihr habt gesagt: Wir haben mit dem Tod ein Bündnis geschlossen, wir haben mit der Unterwelt einen Vertrag gemacht.“ (Jesaja 28, 15). Gott, der Herr aber spricht, dass der, wer glaubt, nicht zu fliehen braucht, denn er ist die Gerechtigkeit: „euer Bündnis mit dem Tod ist dann gelöst, euer Vertrag mit der Unterwelt hat keinen Bestand.“ (Jesaja 28, 28). Der wahre Gläubige kann demnach das Bündnis mit dem Tod lösen und in Gott Erlösung finden.
2. Bündnisse im Neuen Testament 2.1. Die Versuchungsgeschichte als Bund Besonders bedeutend für eine Verbreitung der Idee eines Bundes mit dem Bösen ist das Aufeinandertreffen von Jesus und dem Teufel in der Versuchungsgeschichte Jesu. Die Versuchungsgeschichte ist eine der zentralen Stellen des Neuen Testaments, die in allen drei synoptischen Evangelien, das heißt bei allen Evangelisten außer Johannes, Eingang gefunden hat. Dadurch, dass es sich beim Treffen zwischen Jesus und dem Teufel im Wesentlichen doch mehr um eine Versuchung als um einen Pakt handelt, ist der Teufel fordernder und auch gleichzeitig großzügiger als später in den mittelalterlichen Handelsabkommen mit den Menschen. Er fordert Jesus auf, seine Messianität zu beweisen, indem jener Steine in Brot verwandeln solle (Matthäus 4, 3; Lukas 4, 3). Weiters verlangt er, dass Jesus, falls er Gottes Sohn sei, sich vom Tempel stürzen solle, denn es hieße in der Schrift, dass Gottes Engel den Gläubigen auf Händen tragen werden, damit er sich nicht an einen Steine stöße (Matthäus 4, 5 f.; Lukas 4, 911). Der Teufel zitiert hier aus dem Buch der Psalmen, in dem es heißt: „Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.“ (Psalm 91, 11 f.). Indem er diese Worte aus dem Alten Testament anspricht, erweist sich Satan als ein über biblisches Wissen verfügender Glaubensprüfer. Doch auch Jesus ist bibelfest, des Teufels falsche Vorstellung vom göttlichen Auftrag stellt er die richtige Auslegung gegenüber: „In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen“ (Matthäus 4, 7). Jesus bezieht sich dabei fast wörtlich auf eine Stelle aus dem Deuteronomium 6, 16. Der Teufel kann Jesus nicht 356 Vgl. das Kapitel „VI. 7. Leben Tauschen“ in vorliegender Arbeit.
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zum Abfall von Gott bringen, er weicht schließlich vor dessen Standhaftigkeit zurück. Dies ist das wesentliche Moment der Versuchungsgeschichte, die dadurch nicht mehr den Teufel im Mittelpunkt hat, sondern vielmehr eine messianische Aussage bekommt. Der Teufel verliert durch die Stärke Jesu an Eigenständigkeit, er wird dadurch eher ein Instrument Gottes, das Jesus zu derjenigen Sünde verleiten soll, die Israel schon im Alten Testament zur Festigung des noch jungen Monotheismus zu vermeiden hatte: dem Götzendienst. Demnach bleibt Satan auch im Neuen Testament noch zu großen Teilen ein von Jahwe abhängiges Wesen, dem keine Entscheidungsgewalt zukommt.357 Obwohl die Versuchungsgeschichte vielmehr eine Glaubensprüfungserzählung als eine Teufelsdarstellung ist, hat diese Bibelstelle durch ihre anschauliche Teufelsfigur dennoch die Vorstellung von einem Teufelsvertrag beeinflusst. Dadurch, dass der Teufel personifiziert auftritt, entsteht der Eindruck, dass er Jesus einen Bund anbieten kann. Soldan und Heppe weisen in ihrer Geschichte der Hexenprozesse358 als eine der Ersten darauf hin, dass die Versuchung Christi die Vorstellung von einem Bündnis mit dem Teufel im Grunde schon andeutet. Es sind beide Momente des Vertrags darin enthalten: einerseits die Anerkennung der Hoheit des Teufels, andererseits das vom Teufel Versprochene. Für die Weiterentwicklung des Teufelspaktmythos ist die Versuchungsgeschichte demnach von größter Wichtigkeit: Die Idee eines Paktums und Homagiums war schon in der Versuchungsgeschichte Jesu ausgesprochen. „Dieses alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest“, hierin liegt das Paktum, sofern die Leistungen beiderseitig sind, das Homagium, sofern die Hoheit des Teufels anerkannt werden soll. Die Heiligenlegende bildete dies vielfältig nach; ihre Helden triumphierten, wie der Heiland.359 Beide Elemente kommen auffälligerweise in Riobaldos Paktszene nicht vor, ganz im Gegenteil, Riobaldo bringt dem Teufel keinerlei Achtung dar, sondern stellt sich sogar dezidiert mit diesem auf eine Stufe: „Trato? Mas trato de iguais com iguais.“ (GS:V, p. 369). Andererseits verspricht der Teufel auch nichts, da er erst gar nicht auftaucht. Es wäre für den Teufel auch schwierig, etwas zu versprechen, denn nur halbherzig verlangt Riobaldo: „Acabar com o Hermógenes! Reduzir aquele homem!“ (GS:V, p. 370). Doch dies ist nur ein formeller Grund, den Riobaldo anführt, um seinen Gang zum Kreuzweg vor sich selbst rechtfertigen zu können: „e isso figurei mais por precisar de firmar o espírito em formalidade de alguma razão.“ (GS:V, p. 370). Die Konfrontation mit dem Teufel wird also nicht unbedingt wegen dem Kampf gegen Hermógenes angestrebt, an welchen sich Riobaldo kaum mehr erinnern kann: „Do Hermógenes, mesmo, existido, eu mero me lembrava – feito ele fosse para mim uma criancinha moliçosa e mijona,[...]“ (GS:V, p. 370). Die Nacht am Kreuzweg ist vielmehr eine Wahl Riobaldos, er entscheidet sich an dieser Stelle für ein großes Schicksal, das ihn über die anderen Jagunços erhebt. Der Paktversuch ist die Entscheidung Jagunçohauptmann werden zu wollen, die manchmal auch als Initiation interpretiert wird. Ethisch macht dies jedoch keinen Unterschied, durch die Anrufung des Teufels
357 Vgl. Dt 6, 10ff.; und: Sigmund Freud, ‘Der Mann Moses’, pp.455-581. 358 Soldan/Heppe, Geschichte der Hexenprozesse, ungekürzte Fassung, neu bearbeitet von S. Ries. 2 Bände
(Kettwig: Müller, 1986), 1, p. 137. 359 Ebd.
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wird Riobaldo im religiösen Sinn schuldig. Ein Versuch, einen Ausweg aus dieser Schuld zu finden, stellt seine als Roman vorliegende Beichte dar. Während der Teufel in der Versuchungsgeschichte durch die Stärke Jesu an Eigenständigkeit verliert und schließlich zurückweichen muss, taucht er im Roman durch das forsche Auftreten Riobaldos erst gar nicht auf. Sowohl in der Versuchungsgeschichte als auch in der Paktszene verlagert sich dadurch das Zentrum des Geschehens vom Teufel weg auf Jesus, beziehungsweise auf Riobaldo. Die messianische Aussage des Neuen Testaments kann dabei durchaus auch auf Riobaldo übertragen werden, der nach dem Paktversuch als Jagunçoführer durch den Sertão zieht und diesen vom Bösen zu befreien versucht. Dabei hat er in der Figur des Conselheiros einen nahe liegenden brasilianischen Vorläufer. Die Versuchungsgeschichte enthält in ihrer Struktur schon die wichtigsten Elemente des Teufelsbunds des Mittelalters: Der Teufel kann dem Menschen bestimmte Leistungen zur Verfügung stellen. Er fordert für sein Angebot jedoch Gegenleistungen des Empfängers, vor allem Anbetung seiner selbst und eine Abwendung von Gott, beides Forderungen, die Riobaldo nicht einmal zu erfüllen versucht. Es ist jedoch von dem Treffen Jesu mit dem Teufel an nur noch ein kleiner Schritt, auch an ein Unterliegen des vom Teufel Verführten zu denken, an einen Schwachen, der nicht wie Jesus widersteht, sondern der für die angebotene Leistung des Teufels bereit ist, das Homagium zu bezahlen. Diesen Fall veranschaulicht die weiter unten näher erläuterte mittelalterliche Geschichte des Vizedominus Theophilus in Kilikien. Roskoff erklärt die Rolle des Teufels als Anbieter eines Paktes typologisch mit den Parallelen zum Bund Gottes mit dem Volk Israels, wo auch erst durch die beiderseitige Leistung der Bündnispartner der Pakt vollständig gemacht wurde.360 Diese Vorstellung wird in das Neue Testament übertragen und dort andeutungsweise angewendet. Später entwickelt sie sich jedoch in immer ausgeschmückterer Form weiter und tritt schließlich, laut Roskoff, in der mittelalterlichen Legende von Theophilus in einer festen Form als eigene Sage, die in ihren Zügen schon alle Wesensmerkmale des Faustmythos enthält, hervor.361 Almut Neumann meint dem entgegengesetzt, dass sich die Teufelsbunderzählungen nicht direkt aus der Versuchung Jesu entwickelten, denn das in dieser enthaltene Teufelsbild sei nur ein Faktor unter vielen, der die mittelalterlichen Pakterzählungen ermöglicht hätte.362 Es scheint tatsächlich wahrscheinlicher, dass die Überlieferung des Teufelsbunds ein Ergebnis mehrerer und unterschiedlicher theologischer Konzepte ist, in denen das Teufelsbild der Versuchungsgeschichte nur einen Teil darstellt. Laut Almut Neumann ist der Teufel im Neuen Testament zwar ein eigenständiges Wesen, erhält bei seinen Versuchungen jedoch die Unterstützung Gottes, beziehungsweise die des Heiligen Geistes.363 Somit wird dem Teufel weder im Alten noch im Neuen Testament, einer monotheistischen Weltsicht folgend, die Macht eines unabhängigen bösen Gegengottes zugestanden.
360 361 362 363
Vgl. Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, 1, p. 201. Ebd. Vgl. Almut Neumann, Verträge und Pakte, p. 48. Vgl. Ebd.
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Die Bundfähigkeit des Teufels ist demnach auch im Neuen Testament noch eingeschränkt. Der Teufel ist nur ein Symbol und steht nicht über der Stufe der Götzen des Alten Testaments. Deshalb kann der Mensch zwar in seinem Sinn handeln oder ihn wie jedes beliebige Götzenbild um Hilfe anrufen, aber keine gültigen Verträge mit ihm schließen. Genauso wenig kann der Teufel Leistungen anbieten, wenn diese nicht von Gott zur Verfügung gestellt werden. Daher ist der Teufel kein Gegengott. Der Dualismus des Neuen Testaments beschränkt sich auf einen ethischen Dualismus von Gut und Böse, der die Vormachtstellung Gottes und seines Sohnes Jesus Christus jedoch unangetastet lässt. Aus diesem Grund kann auch der Versuch des Teufels, Jesus zu einem Teufelsbund zu verleiten, nicht gelingen. Der Teufel bleibt alttestamentarischer Glaubensprüfer und Versucher, der als gefallener Engel menschliche Schwächen und Sündhaftigkeit aufdeckt und darüber hinaus das Böse in der Welt erklären hilft.364
2.2. Christi Sühneopfer Die Lehre von Christi Sühneopfer ist trotz vieler Diskussionen der Kirchenlehrer nie offiziell formuliert worden.365 Für vorliegende Untersuchung ist dieses Mysterium von besonderer Bedeutung, weil man sagen kann, dass es sich dabei um den ersten Vertrag mit dem Teufel handelt. Es ist Irenäus von Lyon, der gegen Ende des zweiten Jahrhunderts der Ansicht ist, dass Adam durch Übertretung des göttlichen Gebotes den Menschen in die Gewalt des Teufels geführt hatte, in der er sich dieser bis zum Tod Christi befand.366 Die Verführung der Menschen zur Sünde ist, laut Irenäus, das größte Unrecht an Gottes Plan, da dieser ja den Menschen nach seinem Abbild schuf. Da sich der Mensch nun aber einmal vom Teufel zum Ungehorsam hat überreden lassen, sich dadurch also gegen den Willen Gottes wandte, so hat der Teufel die Menschen von Rechts wegen in seiner Gewalt.367 Gott will den Menschen befreien, um sein Schöpfungswerk zu Ende zu führen, doch, obwohl er die Macht dazu hätte, will er nicht einmal gegen den Teufel mit Gewalt vorgehen: Er will sogar dem Antichrist gegenüber den Weg des Rechts einhalten, da er dessen Rechtsanspruch auf den Menschen anerkennen muss. Auf rechtlichem Weg kann der Mensch nur dann aus der Gewalt des Teufels befreit werden, wenn ein Mensch ohne Sünde dem Teufel freiwillig gegenübertritt und sich von diesem lossagt. Hier tritt nun der Erlöser auf, der Mensch gewesen sein musste, wenn die Befreiung des Menschen auf rechtlichem Weg vor sich gehen sollte. Durch die Sünde Adams sind alle Menschen Sünder geworden, durch den vollkommenen Gehorsam Jesu sind alle Menschen wieder gerecht geworden. Durch den Tod Jesu verliert der Teufel also, den Theorien der Kirchenlehrer folgend, wieder den Rechtsanspruch auf die Menschheit, weil Jesus dem 364 Vgl. Ebd., pp.35-36 und: pp.50-54. 365 Vgl. Hastings Rashdall, The Idea of Atonement in Christian Theology, (London: Macmillan & Co., 1919). Für
eine allgemeinere Darstellung der Sühne in der christlichen Theologie und ihre Bedeutung für den modernen Menschen, vgl.: Ulrich Simon, Atonement: from holocaust to paradise (Cambridge: James Clarke, 1987). 366 Zu Irenäus von Lyon vgl. z.B.: Wilfried Härle und Harald Wagner, Theologenlexikon (München: H. C. Beck, 1987), pp.125-127; Lexikon der antiken christlichen Literatur, hg. von Siegmar Döpp und Wilhelm Geerlings (Freiburg im Breisgau: Herder, 1998), pp.311-315. 367 Vgl. Irenäus: Adv. Haeres., V, 21, 3, nach: Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, 1, p. 226.
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Teufel seine eigene Seele zum Tausch für die Seelen der Menschen übergibt. 368 An der sündlosen Seele von Jesus kann jedoch selbst der Teufel nichts Todeswürdiges finden und da Christus sowohl von der Sünde als auch von der Erbsünde frei ist, und er in der Versuchungsgeschichte seine Standhaftigkeit bewies, kann der Teufel keinen Anspruch auf dessen Seele erheben. Er beging also, indem er die reine Seele Jesu annahm, an jenem ein Unrecht und verliert damit sein Recht auf die Seelen der Menschheit. Dadurch wird der ursprüngliche Rechtszustand wiederhergestellt.369 Christus erschafft, laut Irenäus, als neuer Adam die gesamte Schöpfung neu und stellt sie wieder her, indem er sie auf ihren Ursprung zurückführt. Dadurch wird die Schöpfung wieder gut. Auf diese Auslegung von Irenäus und auf die dadurch folgende Höllenfahrt Christi weist Riobaldos Beichtvater und spirituelle Führer Quelemém370 hin: „A gente viemos do inferno – nós todos – compadre meu Quelemém instrui. Duns lugares inferiores, tão monstro-medonhos, que Cristo mesmo lá só conseguiu aprofundar por um relance a graça de sua sustância alumiável, em as trevas de véspera para o Terceiro Dia.“ (GS:V, p. 38). Die von Quelemém erwähnte Höllenfahrt Christi steht deutlich in der orientalischen Tradition einer dualistischen Weltsicht. Besuche in der Unterwelt sind deshalb in vielen Religionen und Sagen weit verbreitet. Im Neuen Testament wird der „Descensus“ Christi nur angedeutet. Jesus sagt seinen dreitägigen Aufenthalt in der Hölle selbst voraus: „Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird auch der Menschensohn drei Tage im Inneren der Erde sein.“ (Matthäus 12, 40). Diese Höllenfahrt spielt sich in der Zeit zwischen Tod und Auferstehung ab und wird im Neuen Testament nur indirekt mit Sonnenfinsternis (Matthäus 27, 45), Zerreißen des Tempelvorhangs und Erdbeben (Matthäus 27, 51) angedeutet. Queleméms Überzeugung, dass alle Menschen aus der Hölle kommen („A gente viemos do infierno“) spielt ebenfalls auf die von Irenäus festgestellte Neuschöpfung der Menschheit durch Christi an. Im Evangelium nach Matthäus wird dies durch das Öffnen der Gräben und der Auferstehung der Heiligen angedeutet (Matthäus 27, 52 f.). Die Höllenfahrt Christi ist als „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ in das Glaubensbekenntnis eingegangen. Tod und Höllenfahrt des Heilands bedeuten daher keine Niederlage sondern den Anfang des Triumphs, den er nun nicht mehr als leidender Mensch, sondern schon als Gottessohn erringt.371 368 Vgl. Almut Neumann, Verträge und Pakte, pp.59-60. 369 Vgl. Raymund Schwager, Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre (Mün-
chen: Kösel, 1986), pp.34-38. 370 Quelemém folgt der Lehre Kardecs: „Rezo cristão, católico, embrenho a certo; e aceito as preces de compadre
meu Quelemém, doutrina dele, de Cardéque.” (GS:V, p. 15 f.). Alan Kardec (1804-69) begründete einen kultivierten französischen Spiritismus, der vor allem höhere Gesellschaftsschichten anzog. In Brasilien entwickelte sich daraus der “Umbanda-Kult”, der die Heiligen der katholischen Religion mit den indianischen “cablocos” und den afrikanischen “orixas” verschmilzt. Durch verschiedene Riten kann man mit den Geistern kommunizieren, um so die Schwierigkeiten des Lebens zu überwinden. In Brasilien schwanken die Schätzungen über die Zahl der Anhänger dieser Lehre zwischen 20 und 30 Millionen, aber man vermutet, dass Umbanda von bis zu 80 Prozent der Bevölkerung probiert wurde. (Vgl. Das Oxford-Lexikon der Weltreligionenen, hg. von John Bowker, für die deutschsprachige Ausgabe übersetzt und bearbeitet von KarlHeinz Golzio (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1999), p. 1034. 371 Vgl. dazu und zur Motivgeschichte des „Descensus“ im Allgemeinen.: Elisabeth Frenzel, ‘Unterweltsbesuch’, in: Motive der Weltliteratur (Stuttgart: Kröner 1992), pp.713-727.
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Diese Höllenfahrt mit der anschließenden Befreiung der Menschheit wird theologisch durch die Lehre von Christi Sühneopfer erklärt. Der Mensch Jesus ist dabei der menschliche Köder, der dem Teufel vorgeworfen wird und in dem die Göttlichkeit Christi wie ein Angelhaken versteckt ist. Die Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts nennen diesen Vorgang in naiver Offenheit einen Betrug, der am Teufel begangen wurde.372
2.2.1. Diadorim: Dämon oder Unschuld? Nachdem Riobaldo Hauptmann geworden ist, beginnt unter seiner Führung ein weiter Marsch der Jagunços durch den Sertão. Darin sind fast biblisch anmutende Episoden eingeschoben, in denen Riobaldo erzählend beweisen will, dass er nur Gutes tut und keineswegs seine Seele verschrieben hat. Eine dieser gleichnishaften Anekdoten ist die Geschichte von der bettelarmen Frau, die nicht niederkommen kann. Riobaldo tritt zu ihr in die Hütte, gibt ihr Geld und sagt: “Toma, filha de Cristo, senhora dona: compra um agasalho para esse que vai nascer defendido e são, e que deve de se chamar Riobaldo373...” Digo ao senhor: e foi menino nascendo. Com as lágrimas nos olhos, aquela mulher rebeijou minha mão... Alto eu disse, no me despedir: – “Minha Senhora Dona: um menino nasceu – o mundo tornou a começar!...” – e saí para as luas. (GS:V, p. 412).
Riobaldo betätigt sich hier als Geburtshelfer für ein unschuldiges Kind, durch das die Welt neu beginnen würde. Dies erinnert an die Geburt Jesu, der die Sünde der Welt auf sich zu nehmen bereit war. Riobaldo will mit seiner Tat aber vor allem Diadorim beeindrucken, der seit dessen Paktversuch merklich distanziert ist: „Aquelas obras, então, Diadorim não visse?“ (GS:V, p. 412). Doch Diadorim sieht Riobaldos gute Taten tatsächlich nicht, er sieht tiefer und bemerkt: „A bem é que falo, Riobaldo, não se agaste mais ... E o que está demudando, em você, é o cômpito da alma – não é razão da autoridade de chefias [...]“ (GS:V, p. 413). Diadorim zeigt sich als sehr intime Kennerin der Seele ihres Freundes und legt so dem Leser nahe, dass sie selbst eine reine Seele hätte. Einige Interpreten sehen in Diadorim das verkörperte Reine: Frankl Sperber meint, „Diadorim lembra a Virgem Maria“, 374 aber auch Meyer-Clason sieht Diadorim als unschuldige und überirdische Figur, denn am Vorabend der alles entscheidenden Schlacht gegen Hermógenes übersetzt er Riobaldos Ausruf „Meu bem“ (GS:V, p. 510) mit „Mein Engel“.375 Sieht man in Diadorim die personifizierte Unschuld, dann kann man der Lehre von Christi Sühneopfer folgend ihren Tod als die Erlösung der sündigen Seele Riobaldos verstehen.
372 Für eine ausführlichere Darstellung zur Diskussion der Kirchenlehrer, vgl.: Gustav Roskoff, Geschichte des
Teufels, p. 229. 373 In einer weiteren Episode während des Feldzugs gegen Hermógenes, jedoch noch vor Riobaldos Paktversuch,
betätigt sich dieser als Taufpate für den Sohn eines armen Sertanejos: „O menino recebeu nome de Diadorim“ (GS:V, p. 46). Somit hinterlässt Riobaldo auf seinem Weg durch den Sertão zwei Kinder mit den Namen Riobaldo und Diadorim. 374 Suzi Frankl Sperber, Caos e cosmos, p. 55. 375 João Guimarães Rosa, Grande Sertão, p. 519.
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Viele Interpreten sehen in Diadorim jedoch nicht eine göttliche Figur, sondern die personifizierte Ambiguität: „Diadorim, ser andrógino, é, ao mesmo tempo, divino e diabólico.“376 Als Trägerin des Männlichen und Weiblichen ist Diadorim tatsächlich das sichtbarste Zeichen für die so präsente Ambiguität im Roman. Sie schafft es jedoch die Gegensätze des Lebens zu überwinden und die Oppositionen „männlich“ und „weiblich“ in einer Gestalt zu vereinigen. Deshalb ist in den antiken Mythen ein androgynes Wesen eine göttlichautonome Einheit, die in göttlicher Vollkommenheit alle Spannungen auflöst. Das androgyne Wesen ist das wahre Abbild Gottes, wie auch Adam, jüdischen Sagen zufolge, zuerst androgyn gewesen sein soll.377 Demzufolge wird Diadorim auch dann, wenn sie nicht als jungfräuliche Unschuld gesehen wird, wieder zu einem göttlichen Wesen. Dass Diadorim in Riobaldo (vermeintliche) homoerotische Gefühle auslöst, gesteht sich dieser lange Zeit selbst nicht ein. Er fühlt jedoch, dass etwas in dieser Freundschaft nicht stimmt: „[T]he intuition that there is something in their relationship which runs counter to his moral principles gives him a feeling of repulsion that functions as an opposing force.“378 Riobaldo schwankt also zwischen Begehren und Ablehnung. Sein schließliches Eingeständnis, dass er Diadorim liebt und sogar begehrt, hilft nicht viel, Riobaldos Gefühlsleben bleibt auch nachher ein ständiges Oszillieren zwischen körperlichem Angezogen- und moralischem Abgestoßensein. Dies führt dazu, dass er seine Liebe zu Diadorim, im Gegensatz zu der reinen Liebe zu seiner späteren Ehefrau Otacília, für einen Akt des Teufels hält: „se um aquele amor veio de Deus, como veio, então – o outro?... Todo tormento.“ (GS:V, p. 119). Die Liebe zum Gleichgeschlechtlichen ist in einer Männergesellschaft wie im Sertão des Teufels, Diadorim für Riobaldo demnach lange Zeit Symbol für das Dämonische: „De Diadorim eu devia de conservar um nojo.“ (GS:V, p. 276). Riobaldo findet es dämonisch, dass er einen Mann begehrt, dadurch wird jedoch nicht der Mann, als Objekt der Begierde, zum Dämon sondern der, der das Begehren empfindet, also Riobaldo. Deshalb fragt sich dieser auch konsequenterweise, vor wem er nun eigentlich Ekel empfinden müsste: „De mim, ou dele?“ (GS:V, p. 276). Paul Ricoer erklärt an Hand der Philosophie Søren Kierkegaards, warum Sexualität im Allgemeinen etwas Dämonisches und Angsterzeugendes darstellen kann: [...] Kierkegaard understood that anxiety does not come from sex but descends from the spirit into sexuality, from dreaming into the flesh. It is because man is disturbed in spirit that he is ashamed in his flesh. The spirit is uneasy in modesty and frightened over assuming sexual differentiation. Thus sin enters the world, becomes a world, and increases quantitatively.379
376 Vgl. Benedito Nunes, ‘O Amor na obra de Guimarães Rosa’, in: João Guimarães Rosa: Ficção Completa, 1, p.
129. 377 Vgl. Mircea Eliade, Mephistopheles und der Androgyn: das Mysterium der Einheit (Frankfurt: Insel, 1999);
und: Knaurs Lexikon der Symbole, pp.30-31. 378 Eduardo Coutinho, The „synthesis“ Novel, p. 88. 379 Paul Ricoer, ‘Two Encounters with Kierkegaard: Kierkegaard and Evil. Doing Philosophy after Kierkegaard’,
in: Kierkegaard’s Truth: The Disclosure of the Self, hg. von Joseph H. Smith (New Haven/London: Editoral Aide, 1981), pp.313-342 (p.318). Zu einer ausführlichen Darstellung der Sexualität im Werk Kierkegaards, vgl. Arnold B. Come, ‘The Implications of Søren Kierkegaard’s View of Sexuality and Gender for an Appraisal of Homosexuality’, in: Anthropology and Authority. Essays on Søren Kierkegaared, hg. von Poul
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Riobaldos Angst vor dem fleischlichen Verlangen wird durch die vermeintliche Homosexualität noch stärker dämonisiert. Im Tod wird Diadorims Reinheit jedoch dann offensichtlich und die Ehefrau des Hermógenes, eine weitere in ihrer Reinheit verblüffende Frau,380 verkündet, dass Diadorim von nun an bei Gott zu Hause ist: „A Deus dada. Pobrezinha ...“ (GS:V, p. 530).381 Durch das wahre Geschlecht von Diadorim erweist sich, dass Riobaldos Angst vor einer gleichgeschlechtlichen Beziehung obsolet war. Diadorim ist ein reines Mädchen und auch seine Liebe war nicht des Teufels. Laut Coutinho bleibt bei Riobaldo trotzdem ein Schuldgefühl: „Riobaldo’s conflict with regard to their relationship disappears to give way to a feeling of guilt, caused by his incapacity to discover it earlier.“382 Diese Unfähigkeit Riobaldos, Diadorims wahres Geschlecht trotz zahlreicher Hinweise nicht schon früher entdeckt zu haben, bringt einen sehr tragischen Aspekt in sein Leben. Doch dieses tragische Erlebnis erzeugt keine Schuldgefühle, sondern eher eine poetische Melancholie, wie von Edgar Allan Poe theoretisch erwartet: „[T]he death, then, of a beautiful woman is, unquestionable, the most poetical topic in the world – and equally is it beyond doubt that the lips best suited for such topic are those of a bereaved lover.“383 Dieser „bereaved lover“ ist ohne Zweifel Riobaldo, der Poes These übernimmt, dass der Tod eines schönen Mädchen, erzählt von dessen hinterbliebenen Geliebten, das poetischste Thema der Welt ist. Er stellt dem zuhörenden Doktor von der Küste diese tragische Poetik in Form einer Frage vor: O senhor mesmo, o senhor pode imaginar de ver um corpo claro e virgem de moça, morto à mão, esfaqueado, tinto todo de seu sangue, e os lábios da boca descorados no branquiço, os olhos dum terminado estilo, meio abertos meio fechados? E essa moça de quem o senhor gostou, que era um destino e uma surda esperença em sua vida?! Ah, Diadorim ... (GS:V, p. 165).
Riobaldos Schuldgefühle nach dem Tod Diadorims bestehen nicht aus dem tragischen Umstand, ihr Geschlecht nicht schon zu Lebzeiten entdeckt zu haben, sondern haben ihren Ursprung in der dunklen Vermutung, Schuld an ihrem Tod zu haben, denn eigentlich wäre es seine Pflicht gewesen als Jagunço-Hauptmann Hermógenes gegenüberzutreten und zu besiegen.
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Houe, Gordon D. Marino und Sven Hakon Rossel (Amsterdam-Atlanta: Internationalde Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, hg von Alberto Martino, 2000), pp.33-40. Nach der Interpretation von Serra Costa, ist Hermógenes’ Frau: „o quarto e último aspecto da anima, o eterno femino, a Sophia, na terminologia de Jung.“ (Tania Rebelo Serra Costa, Riobaldo Rosa, p. 111). Meyer-Clason scheint sich nicht so schnell an die weibliche Identität Diadorims gewöhnen zu wollen und übersetzt „Pobrezinha“ neutral mit „Das arme Kind“. (João Guimarães Rosa, Grande Sertão, p. 538). Ebd., p. 92. Edgar Allen Poe, ‘Philosophy of Composition’, in: ders., The Poems & Three Essays on Poetry (London: Oxford University Press, 1956), pp.189-202 (p.197).
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2.3. Andere Bündnisse im Neuen Testament Paulus nimmt im ersten Brief an die Korinther dazu Stellung, wie die Christen sich gegenüber den heidnischen Götteropfern zu verhalten haben. Durch das Essen von heidnischem Götzenopferfleisch kommt es zu einer engen Gemeinschaft zwischen den falschen Göttern, also den Dämonen, und den Teilnehmern am Opfermahl. Deshalb sollten Christen dies vermeiden. Das Götzenopfermahl und die Feier des Letzten Abendmahls sind zwar formal sehr ähnlich, schließen sich aber gegenseitig aus: „Ihr könnt nicht Gäste sein am Tisch des Herrn und am Tisch der Dämonen.“ (1 Kor 10, 21). Paulus fragt seine Leser, ob denn der Götzendienst etwas Wahrhaftiges sei, und er erklärt ihnen, was denn das Götzenopfer alles bedeuten kann: „Nein, aber was man dort opfert, opfert man nicht Gott, sondern den Dämonen. Ich will jedoch nicht, dass ihr euch mit Dämonen einlaßt.“ (1 Kor 10, 20). Diese hier angesprochene fast schon sakramentale Verbindung von Dämonen und Menschen, ist ein erster Ausgangspunkt von späteren Versuchen über die Möglichkeiten eines Paktes zwischen Dämonen und Menschen.384
3. Der Pakt im Mittelalter Papst Innozenz VIII. erkennt in seiner Bulle „Summis desiderantes“ am 5. Dezember 1484 die Möglichkeit an, dass der Mensch aus freien Willen einen Pakt mit dem Teufel schließen könne.385 Der Kerngedanke jedes Teufelsbundes ist es, dass der Teufel nicht nur selbst ein gefallenes Wesen ist, sondern durch seine Sündhaftigkeit gleichzeitig einen Anteil an der Sünde der Menschen hat. Er verführt die Menschen zur Sünde, was entweder noch zu Lebzeiten gebüßt wird oder durch das Jüngste Gericht mit der ewigen Verdammung der Seele bestraft wird.386 Der Mensch kann sich durch die Freiheit des Willens jedoch selbstständig für oder gegen die Sünde entscheiden. Wie oben im Kapitel „Christi Sühneopfer“ näher erläutert, wird im dritten Jahrhundert von den Theologen ein Konzept entwickelt, das mit Hinweis auf die Versuchungsgeschichte von Adam und Eva, aber auch auf die Versuchungsgeschichte Jesu, belegt, dass der Teufel durch die Sündhaftigkeit des Menschen einen Rechtsanspruch auf die menschliche Seele hat. Erst der sündenlose Jesus stellt das ursprüngliche Rechtsverhältnis wieder her und befreit die Seelen der Menschen. Dies hat zur Konsequenz, dass der Mensch, der eine Sünde begeht, dem Teufels wieder einen Rechtsanspruch auf seine Seele gibt und ihm diese deshalb verschreibt. Daraus wird das Motiv des freiwillig geschlossenen Teufelsbundes entwickelt.387 384 Vgl. Roland Götz, ‘Der Dämonenpakt’, p. 64-65. 385 Vgl. dazu: Franz Xaver Seppelt und Klemens Löffler, Papstgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart.
(München: Kösel, 1933), pp.256-257; Rudolf Fischer-Wollpert, Lexikon der Päpste (Regensburg: Pustet, 1985), p. 107. Die umfangreichste Darstellung zur Geschichte der Päpste findet man immer noch in: Ludwig Pastor, Geschichte der Päpste (Freiburg im Breisgau: Herder, 1899). Zu Innozenz VIII vgl., ebd., 3. Band: Von der Wahl Innocenz’ VIII. bis zum Tode Julius’ II. 386 Vgl. Erich Fleischhack, Fegefeuer. Die christlichen Vorstellungen vom Geschick der Verstorbenen geschichtlich dargestellt (Tübingen: Katzmann, 1969). 387 Vgl. Almut Neumann, Verträge und Pakte, p59-60.
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3.1. Der Dämonenpakt bei Augustinus In der Chronologie der Teufelsbünde hat bis hierher noch niemand versucht, aktiv selbst den Teufel anzurufen. Bis jetzt scheint es daher, dass Riobaldo durch sein freiwilliges und aktives Auftreten dem Teufel gegenüber gar nicht in der Lage war, einen gültigen Pakt mit diesem abschließen zu können. Die Lehre des Dämonenpakts von Augustinus zeigt jedoch deutlich, dass Riobaldo sehr wohl von Gott abgefallen ist: Augustinus’ dualistische Weltsicht hat die Teufelsvorstellungen der christlichen Theologie wesentlich beeinflusst. Gerade deswegen kann hier jedoch nicht näher auf seine Lehre eingegangen werden, zu groß ist sein Werk und das seiner Exegeten. Seine Dämonenpaktlehre lautet, isoliert von seinem sonstigen Werk betrachtet, zusammenfassend: Augustinus teilt die Welt in einen christlichen Gottesstaat und einen heidnischen Teufelsstaat auf. Ruft ein Mensch heidnische Götter oder Dämonen um Hilfe, bedeutet dies gleichzeitig einen Übertritt in das Reich des Bösen. Dadurch setzt man automatisch einen Pakt mit den Dämonen in Kraft, der dem Bund mit Gott entgegengesetzt ist. Ähnlich argumentiert schon Paulus in seinem ersten Korintherbrief: „Ich will jedoch nicht, dass ihr euch mit Dämonen einlaßt. Ihr könnt nicht den Kelch des Herrn trinken und den Kelch der Dämonen.“ (1 Korinther 10, 20 f.). Es kann also ohne weiteres eine ausdrückliche Dämonenanrufung oder ein Schriftvertrag fehlen, denn jede Form einer heidnischen Kultausübung wirkt wie ein geheimes Bündnis gegen Gott. Durch dieses Bündnis ist der Mensch von allen göttlichen Hilfeleistungen ausgeschlossen. Durch eine heidnische Handlung entscheidet sich der Mensch kraft seines freien Willens für das Böse. Der einzige Zugang zu Gott ist der direkte Weg ins Gottesreich, Pakte führen nicht in ein Zwischenreich sondern in das Reich des Bösen. Der Mensch, der sich durch Pakte mit Dämonen göttliche Leistungen verschaffen will, ist deshalb auf ewig verloren.388 Da Riobaldo den Teufel anruft, hat er nach der Theologie Augustinus’ kein Anrecht auf die Güte Gottes mehr, auch wenn er die Größe Gottes nie in Frage gestellt hat. Das spätere Mittelalter findet dann allerdings wieder Möglichkeiten, um aus einem schon geschlossenen Pakt doch noch mit heiler Seele herauszukommen, wie die folgenden Kapitel näher ausführen werden.
3.2. Das Theophilusmirakel Die Theophilussage ist die bedeutendste Teufelsbunderzählung des Mittelalters. Sie wird von Eutychianus im 7. Jahrhundert als didaktische Prosaerzählung in griechischer Sprache verfasst. Im 8. Jahrhundert verfertigt Paulus Diaconus eine vom griechischen Original kaum abweichende lateinische Übersetzung an, wodurch diese Sage im Abendland bekannt wird. Die Sage schildert, wie der Kleriker Theophilus trotz seiner Verdienste für den Bischof durch eben diesen sein Kirchenamt verliert. Verzweifelt wendet er sich daraufhin an einen Zauberer, um sein verlorenes Amt wieder zu erhalten. Dieser verspricht es unter der Bedingung, dass er die Heiligen verleugne und sich dem Teufel verschreibe. Theophilus tut dies, 388 Vgl. Roland Götz, ‘Der Dämonenpakt’.
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doch bald will er voller Reue den Pakt rückgängig machen. Er betet verzweifelt zur Heiligen Jungfrau, der auch der Teufel Folge leisten muss. So erhält er nach drei Tagen die Verschreibung zurück, woraufhin er vom Bischof wieder in die Gemeinde aufgenommen wird. Die Urkunde aber wird öffentlich verbrannt. Soweit die Grundstruktur der Sage, von der es natürlich viele Bearbeitungen und Versionen gibt. Einige Beispiele aus dem Legendenkreis, der sich im Mittelalter allmählich um den Namen des Theophilus zog, erzählt Roskoff in seiner Geschichte des Teufels.389 Wesentlich in allen Theophiluserzählungen ist jedoch, dass die Kontaktaufnahme mit dem Teufel von Theophilus ausgeht. Theophilus sucht also beim Teufel um Hilfe an, der ihm daraufhin einen schriftlichen Vertrag anbietet. Das bewusste und freiwillige Anrufen des Teufels vereint Riobaldo und Theophilus, den schriftlichen Vertrag haben die beiden jedoch nicht gemeinsam. Die Beglaubigung des Vertrages mit Wachs und Siegelring ist aus dem antiken Rechtsleben in das Frühchristentum übernommen worden. Daraus leitet sich auch der ab dem Mittelalter übliche Siegelring von hohen geistigen Würdenträgern ab. In der deutschen Übersetzung des Theophilusmirakels diese Form des Schriftvertrages beibehalten, obwohl schriftliche Verträge damals im germanischen Kulturkreis ungebräuchlich waren. Vermutlich sollte damit die Bemühung Karls des Großen unterstützt werden, die Rechtssicherheit durch eine Verschriftlichung des germanischen Rechts zu erhöhen.390 „In fact, the agreement in writing can only have originated in a period during which Roman legal forms had arrived to the peoples of the West.“391 Dem gegenüber steht Riobaldos rein oraler Pakt. Das Fehlen eines schriftlichen Vertrages ließe sich unter anderem durch die analphabetische Gesellschaft des Sertãos erklären, die in ihren Versionen eines Teufelspaktes den Schriftvertrag durch eine rein orale Abmachung ersetzt hatten. Leonardo Arroyo erklärt dies durch die simplifizierende Art der Volkskultur: „Tais elementos foram mais tarde olvidados e simplificados, no particular, face à tendência hedonística da cultura popular, e na sua vocação de síntese: bastava apenas o apalavrado, o contrato oral, sem necessidade, como diz Riobaldo, de assinar o ‘finco’“.392 Es gibt aber durchaus auch in der europäischen Teufelspaktliteratur Beispiele von rein oralen Pakten. „The Northern demon, according to Jacob Grimm, also formed a pact with men, although he did not exact a written agreement.“393 Die herausgehobene Stellung Marias in der Theophilussage erklärt sich dadurch, dass Maria 431 n. Chr. auf dem Konzil von Ephesus von der Ostkirche als Mutter Gottes anerkannt wird. Ab dem 5. Jahrhundert werden Legenden von ihrer Himmelfahrt verbreitet und
389 Vgl. dazu: Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, I, pp.377-380; ebenso: Erhard Dorn, Der sündige Heilige
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in der Legende des Mittelalters (München: Fink, 1967), pp.47-56; Almut Neumann, Verträge und Pakte, pp.153-166; Maximilian Rudwin, The Devil in Legend and Literature, pp.181-185. Vgl. Wolfgang Haubrichs, ‘Die Anfänge: Versuche volkssprachlicher Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700-1050/60)’, Anhang 1: ‘Volkssprachige Rechtstexte’, in: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Neuzeit, hg. von Joachim Heinzle, I, Teil 1: pp.189-195 (Frankfurt am Main: Athenäum, 1988). Zum Vertrag im Mittelalter allgemein, vgl.: ‘Vertrag’, in: Lexikon des Mittelalters, hg. von Norbert Angermann, u.a., 8. (München: Artemis & Winkler, 1997), Spalte 1587 – 1594. Maximilian Rudwin, The Devil in Legend and Literature, p. 171. Leonardo Arroyo, A cultura popular, p. 226. Jacob Grimms Deutsche Mythologie, nach: Maximilian Rudwin, The Devil in Legend and Literature, p. 171.
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die jungfräuliche Geburt immer stärker betont.394 Ab dem 7. Jahrhundert erscheint sie als Fürsprecherin der Teufelsbündnder. Sie ist ihnen bei der Rückgabe des schriftlichen Vertrages behilflich. Erst nach der Fürsprache Marias wird der Vertrag aufgelöst. Maria vermittelt zwischen dem Teufelsbündner und Christus oder Gott, um den Rechtsanspruch des Teufels aufzuheben, sie ist dadurch zwar die treibende Kraft, hat aber doch noch nicht die Kraft, selbständig die Ursache von Wundern zu sein. Trotzdem wird Maria im Volksglauben als Inbegriff der Güte und Mildtätigkeit verehrt. Der Teufel bleibt betrogen zurück. Das Motiv des betrogenen Teufels ist auch in der „literatura de cordel“ ein beliebtes Thema: Laut Jerusa Pires Ferreira existiert in diesen Geschichten ein Grundmuster, nach dem ein Schmied vom Teufel für ein Bündnis meisterliche Fähigkeiten sowie magische Gegenstände und die Erfüllung dreier Wünsche erhält. Unter diesen Gegenständen befindet sich dann entweder ein Baum oder ein Stock, an dem die Menschen festgehalten oder ein Sack, in den sie hinein gezwungen werden. Der Teufel wird dann genau an jenem Baum, Stock oder Sack gefangen und muss sein Opfer freigeben. Es können jedoch auch Jesus oder der Heilige Petrus auftreten, die versuchen, den Paktarier zur Reue zu bewegen. Nach seinem Tod wird der Schmied bis zur Lösung seines Paktes sowohl vom Himmel als auch von der Hölle ausgeschlossen.395 Riobaldo folgt jedoch der Tradition des Theophilus, denn er erwartet sich von der Mutter Maria am meisten Hilfe. Auch Riobaldos Schutzpatronin ist die Heilige Jungfrau: „Mas minha padroeira é a Virgem, por orvalho.“ (GS:V, p. 270). Er ruft sie immer wieder verzweifelt an und findet in ihr oft seinen letzten Halt: „Pois em instântaneo eu achei a doçura de Deus: eu clamei pela Virgem ... Agarrei tudo em escuros – mas sabendo de minha Nossa Senhora! O perfume do nome da Virgem perdura muito; às vezes dá saldos para uma vida inteira [...]“ (GS:V, p. 416). Kurz nach dem Pakt schenkt Riobaldo alle seine Amulette und Devotionalien dem reichen Fazendeiro Habão, um diesen geizigen Ausbeuter mit seiner großzügigen Geste zu erniedrigen. Nur sein Skapulier behält er sich, das mit einem Gebet an die Heilige Jungfrau bestickt ist: „Comigo só o escapulário ainda ficou. Aquele escapulário, dito, que conservava pétalas de flor, em pedaço de toalha de altar recosturadas, e que consagrava um pedido de benção à minha Nossa Senhora da Abadia. [...] Esse eu fora não botava, ah, agora podia desdeixar não; [...]“ (GS:V, p. 388). Diesen Umstand, dass er auch nach dem Paktversuch noch eine Reliquie trägt, führt Riobaldo später an, um zu beweisen, dass er dem Teufel gar nicht seine Seele verkauft hätte: „E eu estava livre limpo de contrato de culpa, podia carregar nômina; rezo o bendito!“ (GS:V, p. 413 f.).
394 Das Neue Testament selbst ist eher zurückhaltend, was die Jungfräulichkeit Marias betrifft: Matthäus 1,18:
„noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes.“ Matthäus 1,23: „Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen“ Matthäus 1,25: „Er erkannte sie aber nicht, bis sie ihren Sohn gebar.“; Lukas 1,35: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ Vgl. dazu: Johannes B. Bauer, ‘Jungfrauengeburt’, in: ders., Bibeltheologisches Wörterbuch (Graz/Wien/Köln: Styria, 1994), pp.348-352. 395 Vgl. Jerusa Pires Ferreira, Fausto no horizonte: razões míticas, texto oral, edições populares. (São Paulo: EDUC/Hucitec, 1995), pp.24-27.
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Eines Tages, Riobaldo und Diadorim treffen während eines gemeinsamen Ausritts einen Aussätzigen, hat Riobaldo eine Vision und meint in seinem Freund Diadorim die Heilige Mutter Gottes zu erblicken: „Diadorim, nas asas do instante, na pessoa dele vi foi a imagem tão formosa da minha Nossa Senhora da Abadia! A santa [...]“ (GS:V, p. 437). Riobaldo ist von der Schönheit und Liebe, die von diesem Bild ausgehen, überwältigt. Ohne ein Wort zu sagen, greift er sich unter sein Hemd: „Aí peguei o cordão, o fio do escapulário da Virgem – que em tanto cortei, por não poder arrebentar – e joguei para Diadorim, que aparou na mão.“ (GS:V, p. 437). Als Diadorim nach der entscheidenden Schlacht tot und schon als Frau aufgebahrt wird, legt die Witwe von Hermógenes dieses Marienamulett auf die Brust der Toten: „No peito, entre as mãos postas, ainda depositou o cordão com o escapulaário que tinha sido meu, [...]“ (GS:V, p. 531). Folgt man der Tradition des Theophilusmirakels, dann kann man diese Episoden als Fürsprache Marias lesen. Wie für Theophilus ist auch für Riobaldo die Mutter Gottes die wichtigste Heilige, die er besonders verehrt. In der Sage vermittelt Maria zwischen Paktarier und Gott, um den Rechtsanspruch des Teufels aufzuheben. Im Roman übernimmt Diadorim das Schicksal des Teufelsbündners und stirbt für ihn im Kampf mit dem Bösen. Schon zuvor ist sie Riobaldo als Mutter Gottes erschienen, doch im Tod liegt sie nun allen sichtbar als unschuldige Jungfrau, geschmückt mit dem Marienamulett aufgebahrt da.
3.3. Der Teufelspakt der Hexen Der Pakt mit dem Teufel ist das wesentliche Moment der Hexerei und dadurch, als juristische Grundlage für die Hexenprozesse, von größter Wichtigkeit. Der französische Jurist Jean Bodim definiert in seinem 1580 herausgegebenen Werk „De la démonomanie des sorciers“ den Begriff „Hexe“ folgendermaßen: „Jemand, der, obwohl er Gottes Gesetze kennt, dennoch versucht, durch einen Pakt mit dem Teufel einen bestimmten Zweck zu erreichen.“396 Diese Definition, dass der Versuch alleine ausreiche, um zur Hexe zu werden, kommt der Situation Riobaldos nahe, dessen Pakt in seiner Uneindeutigkeit sehr unbestimmt bleibt.
3.3.1. Der Hexenhammer (Malleus Maleficarum) Sowohl in Italien als auch in den iberischen Ländern und ihren Kolonien in Lateinamerika werden vom 16. bis zum 18. Jahrhundert weit weniger Hexen hingerichtet, als bis vor kurzem noch angenommen. Die portugiesische Inquisition, die auch für Brasilien und den portugiesischen Kolonialgebieten in Afrika und Asien zuständig ist, verhängt in den etwa dreihundert Jahren ihres Bestehens nur fünf Todesurteile wegen Hexerei.397 396 Nach: Frank Donovan, Zauberglaube und Hexenkult. Ein historischer Abriß (München: Goldmann, 1973), p.
160. 397 Vgl. Francisco Bethencourt, ‘Portugal: A Scrupulous Inquisition’, pp.403-424, in: Early Modern European
Witchcraft. Centres and Peripheries, hg. von Bengt Ankerloo und Gustav Henningsen (Oxford: Clarendon, 1990).
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Kernstück der Theologie des Hexenhammers bildet die auf Augustinus zurückgehende und durch Thomas von Aquin ausgebaute Zeichentheorie, eine erkenntnistheoretisch interessante Konstruktion, die besagt, dass die Handlungen der Menschen oder die Erscheinungen in der Natur nie das sind, was sie scheinen, sondern Zeichen für himmlische oder dämonische Aussagen, die allerdings nicht eindeutig verständlich sind, sondern der Deutung erst noch bedürfen.398 Dass die Handlungen der Menschen oder die Erscheinungen in der Natur nie das sind, was sie scheinen, ist ja ein Hauptproblem in Riobaldos Monolog. Bei Riobaldo ist diese Ungewissheit mit der Unstetigkeit des Teufels gleichgesetzt. Heinrich Kramer kritisiert in seinem Hexenhammer alle jene, die versuchen eine Hexe zu verteidigen, indem man zwar das Wirken eines Dämons zugebe (zum Beispiel in Form einer Krankheit), das vermittelnde Wirken der Hexe jedoch als Phantasie abtue. Es gilt auch nichts, wenn gesagt werden sollte, dass auch die Phantasie etwas Wirkliches sei, weil nämlich die Phantasie als solche nichts erreichen noch beim Werk des Dämons hinzutreten kann, außer durch einen mit dem Dämon eingegangenen Pakt. In diesem Pakt hat sich die Hexe ganz preisgegeben und sich an den Teufel ernstlich und in Wirklichkeit und nicht nur in der Phantasie und eingebildetermaßen gebunden.399
Den strengen Regeln des „Malleus Maleficarum“ zufolge hilft es Riobaldo nichts, seinen mitternächtlichen Pakt als Phantasiegebilde, das keine Wirkung auf die Realität hatte, abzutun. Dadurch, dass er sein Ziel erreicht, den Liso de Suçuarão durchquert und Hermógenes besiegt, hat sich die äußere Welt den Dämonen gefügt. Da Hermógenes ganz offensichtlich nur durch die Hilfe von Dämonen besiegt werden konnte, kann man nun nicht sagen, dass das vermittelnde Bindeglied des Werkzeuges, nämlich die Person Riobaldos, oder der Pakt Riobaldos, nur in der Phantasie hinzukommt. Dem Hexenhammer zufolge gibt es keine Pakte in der Phantasie, ein Pakt ist immer real, wobei es jedoch nötig ist, „dass sie [die Hexe] mit dem Teufel wahrhaft und körperlich zusammenwirkt.“400 Sieht man von der Wirkung, die Riobaldos Pakt erzeugt hat ab, so ist dessen unsichtbarer, unpersonifizierter, oraler und einseitiger Bund sicherlich kein körperliches Zusammenwirken mit dem Teufel. Er hätte ihn zwar wahrscheinlich trotzdem auf den Scheiterhaufen gebracht, doch wäre er, hätte man seinen Ausführungen geglaubt, kein Hexer gewesen, da es nicht einmal in der Phantasie zu einer personifizierten Begegnung mit dem Teufel gekommen war. Thomas von Aquin, Sentenzenkommentar 2, 7, 3, 2, Responsio: „In allen ist Apostasie vom Glauben wegen des mit dem Dämon eingegangenen Paktes, entweder durch Worte, wenn eine Anrufung stattfindet, oder durch irgendeine Tat, auch wenn Opferhandlungen fehlen mögen. Denn ein Mensch kann nicht zwei Herren dienen.“401
398 Wolfgang Behringer und Günter Jerouschek, ‘„Das unheilvollste Buch der Weltliteratur?“ Zur Entstehung-
und Wirkungsgeschichte des Malleus Maleficarum und zu den Anfängen der Hexenverfolgung’, in: Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer, pp.9-98 (p.71). 399 Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer, pp.149-50. 400 Ebd., p. 150. 401 Nach: Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer, p. 312.
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Nach Thomas von Aquin gibt es demzufolge die Apostasie des Wortes oder der Tat, es kann aber auch noch eine dritte Kategorie, nämlich den Abfall von Gott mit dem Herzen geben. Riobaldos Tat wäre demnach ein Abfall in Worten, denn sein Pakt war ein Paktschluss durch Anrufung des Dämonen. Ein Abfall in der Tat geschieht durch ein Werk. Albertus Magnus, Sentenzenkommentar 2, 7, 12, Solutio: Denn wenn Anrufungen geschehen, dann wird ein offener Pakt mit dem Dämonen eingegangen, und dann ist das offene Apostasie mit Worten. Wenn es nur durch ein einfaches Werk geschieht, dann ist es Apostasie durch die Tat. Und weil in allen diesen [Dingen] immer eine Schändung des Glaubens ist, weil vom Dämon erwartet wird, was von Gott zu erwarten ist, deshalb wird es immer als Apostasie beurteilt.402
Die Apostasie des Wortes oder der Tat setzen jedoch, wie Riobaldos Fall beweist, nicht den Abfall des Herzens voraus. Man kann also sehr wohl dem Teufel durch Worte Treue geloben, aber im Herzen doch noch weiterhin an Gott glauben. Das freilich hilft der Hexe nicht viel weiter, im Fall eines Prozesses würde sie genauso verurteilt werden wie eine mit ganzem Herzen dem Teufel verschriebene Hexe: „Wenn diese [die Apostasie des Herzens] fehlt, so werden die Hexen mit Worten und Werken doch als Abgefallene beurteilt. Daher müssen sie [...] auch den Strafen der Ketzer und Apostaten unterworfen sein.“403 Kurz nach dem Pakt erkennt Riobaldo, dass Pferde plötzlich vor ihm scheuen: „Dou confesso o que foi: era de mim que eles estavam espantados. Aí porque a cavalaria me viu chegar, e se estrepoliu. O que é que cavalo sabe?” (GS:V, p. 378). In Zeiten der Inquisition hätte dies schon gereicht, um Riobaldo als Teufelsbündner zu identifizieren, denn: „Sie [die Hexen] verstehen es [...] die Pferde unter den Reitern scheu zu machen [...]“.404 In der esoterischen Literatur gilt das Pferd auch heute noch als spirituelles Wesen, das hinter die durch die Sinne wahrnehmbare Realität zu blicken vermag: „Os cavalos são ainda o símbolo do domínio do espírito sobre os sentidos.“405 „Außerdem ist es nicht nötig [anzunehmen], dass, wenn der Sünde wegen dem Teufel über jemandem Macht gegeben sei, mit der Beendigung der Sünde die Macht [des Teufels] aufhört, weil bisweilen [auch] beim Entfall der Schuld die Strafe bleibt.“406
4. Riobaldo und Faust Wenn man die Faustlegende mit der des Theophilus vergleicht, erkennt man schön den Kontrast zwischen protestantischer und katholischer Theologie in Bezug auf den Teufelspakt. Theophilus wird durch Eingreifen der Heiligen Jungfrau von seiner ewigen Strafe verschont, Faust dagegen wird grausam vom Teufel geholt. Die Faustlegende ist eine Schöpfung des jungen Protestantismus, welcher durch sie ihre Missbilligung der zeitgenössischen humanistischen Strömungen ausdrückt, denn Faust teilt sein großes Interesse an der Welt mit allen typischen Renaissancemenschen. Calderóns „El mágico prodigioso“ kann als 402 403 404 405 406
Ebd., p. 313. Ebd. Ebd., p. 372. Consuelo Abergaria, Bruxo da linguagem, p. 104. Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer, p. 512.
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Apotheosis des katholischen Dogmas vom freien Willen gelten, Marlowes Dr. Faustus dagegen ist eine Illustration des protestantischen Fatalismus.407 Im Allgemeinen gibt es in der Theorie der Teufelspakter und Hexen aber kaum einen Unterschied zwischen Katholizismus und Protestantismus, wie auch Rosell Robbins in seiner umfassenden „Encyclopedia of Witchcraft and Demonology“ behauptet: „in nearly all theories of the witchcraft delusion, there is little to distinguish Catholic and Protestant.“408 Roberto Schwarz präsentiert in seiner kurzen Studie von 1960 „Grande Sertão: Estudos“ einen Vergleich des Romans mit Thomas Manns Endzeitroman „Dr. Faustus“. Er zeigt dabei wie diese zwei Werke trotz der zeitlichen und räumlichen Unterschiede stilistisch und thematisch Gemeinsamkeiten haben. Der Aufsatz zeigt auf wenigen Seiten die Kongruenzen und Differenzen dieser beiden Romane auf, wenn er auch im Schlussabsatz eine fragwürdige freudianische Interpretation des Rio São Francisco versucht, indem er diesen aufstellt und wie einen „pênis gigantesco“409 als Zeichen der Leidenschaft über den Roman schweben lässt. Eine weitere angreifbare These in diesem Artikel ist, dass Schwarz Riobaldos scheinbare homoerotische Neigung zu Diadorim als tatsächliche Homosexualität wertet: „Também em Grande sertão seria pobre e bastante inexato reduzir a presença do demônio ao homossexualismo de Riobaldo.“410 Dass Diadorim sich am Schluss des Buches als Frau entpuppt, findet in dieser Argumentation keine Beachtung. Fani Schiffer Durães fordert 1996, dass Roberto Schwarz’ Analyse über die Gemeinsamkeiten von Grande Sertão: Veredas und „Doktor Faustus“ weitergeführt werden solle, „mit konkreten Beispielen aus beiden Werken sollte man die poetischen Verfahren der beiden Autoren belegen.“411 Dem kam Gabriela Hofmann-Ortega Lleras schon 1995 in ihrer Studie zur produktiven Rezeption von Thomas Manns Doktor Faustus nach.412 Für sie ist Grande Sertão: Veredas eine Steigerung der metaphysischen und allgemein menschlichen Dimension des „Doktor Faustus“. Dadurch, dass Riobaldo als Teufelsbündner Gnade und Menschlichkeit erfährt, macht dieser damit Adrian Leverkühns im Wahnsinn endende Gnadenspekulation wahr.413 Rosa plädiert laut Hofmann-Ortega Lleras im Gegensatz zu Thomas Mann für eine versöhnliche und zukunftsgerichtete Perspektive, in der faustische Höhenflüge und Versündigungen in Form einer Lebensbeichte Vergebung finden. Guimarães Rosas Feststellung „Riobaldo não é Fausto“414 wird von den meisten Kommentatoren nicht wichtig genommen, zu offensichtlich sind durch Riobaldos Paktversuch die Parallelen zum deutschen Teufelspaktmythos. Genauso offensichtlich sind aber auch die Differenzen. Obwohl sich Riobaldo das ganze Werk hindurch immer und immer wieder fragt, ob er nun einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist oder nicht, scheint sich diese 407 Vgl. Maximilian Rudwin, The Devil in Legend and Literature, p. 192. 408 Rosell Hope Robbins, Encyclopedia of Witchcraft and Demonology (New York: Crown Publishers, 1959), p.
372. Roberto Schwarz, ‘Grande Sertão: Estudos’, in: Coleção Fortuna Critica 6, pp.378-389 (p.389). Ebd., p. 384. Fani Schiffer Durães, Riobaldo und Faust, p. 6. Vgl. Gabriela Hofmann-Ortega Lleras, Die produktive Rezeption. Wie es genau dazu kommt, soll unter Einbeziehung der Philosophie Kierkegaards im Kapitel „VIII: Die Philosophie Søren Kierkegaards in ‚Grande Sertão: Veredas’” in vorliegender Arbeit untersucht werden. 414 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 59. 409 410 411 412 413
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Frage für die Literaturkritik sich gar nicht zu stellen: „Der Protagonist geht in die „Veredas Mortas“, um einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Im Gegensatz zum Goetheschen Faust wird aber kein Blutbündnis besiegelt, und es erscheint in keiner Gestalt eine Verkörperung des Bösen, die als Diener für Riobaldo zur Verfügung steht.“415 Dies beobachtet Fani Schiffer Durães in ihrer Arbeit über Riobaldo und Faust. Dass durch das Ausbleiben des Leibhaftigen aber der Pakt vielleicht gar nicht abgeschlossen wurde, steht in dieser Interpretation nicht zur Debatte. Im Gegenteil, Riobaldos selbstzerfleischende Zweifel um die Existenz des personifizierten Bösen werden einfach negiert, seine leitmotivisch wiederkehrenden Fragen nach der Wirklichkeit des Teufels, wie zum Beispiel „O diabo existe e não existe?“ (GS:V, 3) oder „E o demo existe? [...] Vendi minha alma a quem não existe?“ (GS:V, 426) verhallen ungehört, denn laut Schiffer Durães stellt „die Gewalt im „sertão“ eine ewig drohende Gefahr dar, in deren Mittelpunkt das Vorhandensein des Teufels steht“.416 Es ist also nicht mehr die Frage nach dem Teufel, sondern der Teufel selbst, der Riobaldos Leben bestimmen soll. Schiffer Durães schränkt aber später ein: „Das Motiv des Paktschließens steht im Werk von Guimarães Rosa auf unsicherem Boden. Riobaldo weiß nicht genau, ob er wirklich einen Pakt mit dem Teufel schloß, und dieser Zweifel verfolgt ihn durch den ganzen Roman.“417 Riobaldos Zweifel übertragen sich auf den Zuhörer und Leser, denn er will von ihnen Klarheit über die Existenz des Teufels erlangen. Am Ende des Monologs gibt er sich jedoch sehr wohl selbst eine Antwort: „O diabo não há! (GS:V, p. 538).
5. Hermógenes’ Pakt Im Gegensatz zu Riobaldos unbestimmten und nicht klar fassbaren Paktversuch hat Hermógenes’ traditionell dargestellter Bund mit dem Teufel etwas Mittelalterliches und Bestimmtes. Leonardo Arroyo zeigt aufschlussreich auf, wie sich in dem von Hermógenes geschlossenen Pakt die traditionellen Elemente des Faust-Pakts mit verschiedenen Riten der Populärkultur vermischen: Eu ouvi aquilo demais. O pacto! Se diz – o senhor sabe. Bobéia. Ao que a pessoa vai, em meia-noite (popular e erudito), a uma encruzilhada (popular), e chama fortemente o Cujo (popular) – e espera. Se sendo, há-de que vem um pé-de-vento, sem razão (erudito e popular), e arre se comparece uma porca com ninhada de pintos (popular), se não for uma galinha puxando barrigada de leitões (popular). Tudo errado, remedante, sem completação... O senhor imaginalmente percebe? O crespo (polular) – a gente se retém – então dá um cheiro de breu quimado (erudito e popular). E o dito (popular) – o Côxo (popular) – toma espécie, se forma! Carece de se conservar coragem. Se assina o pacto (erudito). Se assina com sangue de pessoa (erudito). O pagar é a alma (erudito e popular). Muito mais depois. O senhor vê, superstição parva? Estornadas!418
415 416 417 418
Fani Schiffer Durães, Riobaldo und Faust, p. 164. Ebd. Ebd, p177. Leonardo Arroyo, A Cultura popular. Die zitierte Stelle entspricht GS:V, p. 37-38, der für vorliegende Arbeit benutzten Ausgabe.
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Woher die volkstümlichen und überlieferten Paktmotive stammen, kann Arroyo leider nicht genauer ausführen, doch wird aus dieser Paktszene deutlich, dass Hermógenes, den Jagunçogerüchten zufolge, einen Pakt mit dem personifizierten Teufel mit seinem eigenen Blut unterzeichnet hat, was dem Faustmythos entspricht. Dieser Pakt bewirkte, dass „ele não sofria nem se cansava, nunca perdia nem adoecia; e, o que queria, arrumava, tudo; [...]” (GS:V, p. 359). Aber auch der Charakter des Hermógenes habe sich nach dem Paktschluss verändert, „não favorecendo que ele tivesse pena de ninguém, nem respeitasse honestidade neste mundo. – Pra matar, ele foi sempre muito pontual ... Se diz.” (Ebd.). Im Vergleich zu Hermógenes kann Riobaldo nach seinem Pakt nicht von sich behaupten, dass er derart durch die Kraft des Teufels begünstigt wurde.
Hermógenes nach dem Pakt não sofria
Riobaldo nach dem Pakt Nach dem Pakt leidet er mehr als zuvor, die Unsicherheit seiner Schuld macht ihm sein Leben postpactum zur Hölle.
nem se cansava
Die Verantwortung als Hauptmann und die ständigen Schuldgefühle zehren an seiner Kraft, oft ist er müde und erschöpft: „Eu estava cansado, com uma dor na ilharga. [...] O sono me conseguiu. Ferrei em mais de umas duas horas.“ (GS:V, p. 504).
nunca perdia
Riobaldo gewinnt die entscheidende Schlacht gegen Hermógenes. Es ist jedoch nicht er, der den Bösen besiegt, sondern Diadorim, die dafür ihr Leben lässt.
nem adoecia
Besonders am Ende seiner Zeit als Hauptmann erkrankt Riobaldo öfters und schwer: „Acordei sentido e mal à parte. Amargava. Devia de ir ter cólicas.” (GS:V, p. 504). „Que a febre que eu tinha era tamanha tanta, como nunca se viu [...].“ (GS:V, p. 533). Riobaldo will Hermógenes besiegen und erreicht dies auch.
o que queria, arrumava, tudo
não tivesse pena de ninguém
Riobaldo verspürt Mitleid mit der elenden Bevölkerung des Sertãos, die den Jagunços so hilflos ausgeliefert ist: „Somei que tive pena do homem? [...] Mas, como era que eu podia atirar numa triste pessoa daquelas, que semelhava com os ombros debaixo de todas ventanias?“ (GS:V, p. 419)
nem respeitasse honestidade neste mundo
Auf der Fazenda von Seo Ornelas zeigt Riobaldo großen Respekt vor dessen Güte und Ehrlichkeit: 131
“Bom homem, abalável. Para ele, por nobreza, tirei meu chapéu e conversei com pausas. [...].“ “Dou tudo respeito, meu senhor. Mas a gente vamos carecer de uns cavalos ...“ (GS:V, p. 398). Pra matar, ele foi sempre muito pontual
Nach dem Pakt tötet Riobaldo zwei Jagunços, die das Messer gegen ihn erhoben („Sanha aos crespos, luziu faca, no a-golpe [...]“, GS:V, p. 384), um so seine Situation als Hauptmann zu festigen. Danach versucht er bewusst, Menschenleben zu schonen: „Agora, a vontade de matar tinha se acabado!“ (GS:V, p. 418). „Agora, matar aquela cachorrinha? O que menos eu pudesse, só mesmo por pragas.“ (GS:V, p. 421).
Aus dieser Aufstellung zeigt sich deutlich, dass Riobaldo zwar sein Ziel erreicht, aber sonst keinerlei im Teufelspaktmythos übliche Kräfte vom Teufel zugestanden bekommt. Arroyo sieht Hermógenes’ Pakt wie weiter oben erwähnt als eine Mischung von literarischen Paktmotiven und Volksglauben. Riobaldos Pakt dagegen ist seiner Meinung nach, zur Gänze auf Sertãotraditionen zurückzuführen: „A cena do pacto nas Veredas-Mortas segue o ritual tradicional conhecido na cultura popular.“419 Natürlich ist Riobaldo vom so teufelsfürchtigen und abergläubischen Sertão geprägt, dessen Sagen und Mythen Guimarães Rosa studierte und sehr gut kannte. Trotzdem ist Riobaldo, wie auch der reale Sertãobewohner, ein Kind der europäischen Geisteswelt. Wenn sich auch sein Pakt erheblich von der Faustlegende unterscheidet, so hat er doch seine Wurzeln im christlichen Teufelspakt, dessen ersten Ausprägungen bis in das Alte Testament zurückreichen.
6. Riobaldos Pakt Riobaldos Pakt ist durch den Mangel an objektiven Fakten sehr schwer nachvollziehbar. Es scheint obsolet die Spekulationen des Protagonisten, ob er nun Paktarier sei oder nicht, weiterzuspinnen. In diesem und den vorangegangenen Kapiteln wird der Paktversuch deshalb vor allem in seinen formalen Aspekten untersucht. Inhaltlich wird in Folge analysiert werden, wie sich Riobaldo durch den Paktversuch verändert und was ihn dazu geführt hat, diesen überhaupt einzugehen. Ob der Teufel dabei eine Rolle spielt oder nicht bleibt dahingestellt, denn die moralisch-religiöse Schuld Riobaldos ergibt sich schon durch den bloßen Versuch einen Pakt mit dem Bösen einzugehen. Wie kommt es zu Riobaldos Paktversuch und was löst den Rachefeldzug gegen Hermógenes aus? Zé Bebelo will die Sitten des Sertãos ändern, er will ihn zivilisieren, um nachher ein Abgeordneter zu werden und Schulen, Fabriken und Spitäler im Sertão zu bau419 Ebd., p. 240.
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en. Bevor er gegen den Sertão zieht, lernt er durch Riobaldo lesen und schreiben. Er wird aber von Joca Ramiros Leuten geschnappt und vor ein Jagunço-Tribunal gestellt, das ihm in einem Prozess die Möglichkeit gibt, sich zu verteidigen. Zé Bebelo ist angeklagt das Land ändern zu wollen und wird nach dem Prozess von Joca Ramiro zum Verlassen des Sertãos verurteilt. Diese Episode lässt Zé Bebelo später die Seiten wechseln: denn weil der gerechte Jagunçoführer Joca Ramiro dem Jagunçofeind Zé Bebelo einen fairen Prozess ermöglichte und nicht einfach, wie eigentlich üblich, als Strafe dessen Tod forderte, wird dieser nicht lange danach vom konservativen Hermógenes ermordet. Zé Bebelo kommt als er dies vernimmt zurück, wird Jagunço-Chef, und versucht den Mord an den großen und fairen Hauptmann Joca Ramiro zu rächen. Doch dies erweist sich als überaus schwierig, seine Jagunços verfolgen eine lange Zeit erfolglos Hermoges’ Bande und nichts geschieht. Die Moral von Zé Bebelos Leuten ist am Tiefpunkt. Das idealisierte Bild des Jagunços schwindet, es entsteht erstmals das Bild eines alltäglichen Sertanejos als Nicht-Krieger. Dies ist die Situation, als die Bande ins Dorf der Pockenkranken kommt. Der reiche Gutsbesitzer Seo Habão erklärt ihnen danach, wie die Wirtschaft der Region funktioniert. Es fehlen Arbeitskräfte. Der Fazendeiro erweist sich als menschenverachtender Geschäftsmann, der die Überlebenden des Pockendorfes zum unbezahlten Zuckerrohrschneiden heranziehen möchte. Riobaldo wird sich bewusst, dass er, wenn er jetzt die Waffen weglegen würde, sich schnell im ländlichen Volk verlieren würde. Dort hätte er dann mit so selbstzufriedenen und geizigen Leuten wie Habão zu tun, die keinerlei ethisches Empfinden kennen. Unter diesen Umständen wählt er den Teufelspakt, wählt er das besondere Schicksal gegenüber der Normalität. 420 „Achado eu estava. A resolução final, que tomei em consciênia. O aquilo.“ (GS:V, p. 367). Dieser Entschluss ist der Pakt mit dem Teufel. Doch es geht ihm nicht um einen wortwörtlichen Pakt mit einer bösen Macht, es ist vielmehr eine Mutprobe, ein erster Schritt in die Richtung, sein Leben über das der Gruppe zu stellen: „Nem eu cria que, no passo daquilo, pudesse se dar alguma visão. O que eu tinha, por mim – só a invenção de coragem. Alguma coisice por principiar.“ (GS:V, p. 361). Was folgt ist Riobaldos nächtliches Erlebnis in den Veredas Mortas, in denen er den Teufel anruft und als Antwort ein kleines Lüftchen verspürt, das ihn sein restliches Leben daran zweifeln lässt, ob er dadurch seine Seele verkauft hätte oder nicht. Diese Spannung, dass eigentlich nichts passiert und trotzdem alles möglich ist, findet sich später in der kurzen Erzählung „O Espelho“ aus Primeiras Estórias wieder. Die Erzählsituation ähnelt der von „Grande Sertão: Veredas“, indem ein philosophisch interessierter Sertanejo einem gebildeten Zuhörer, den er als „companheiro no amor da ciência“421 anspricht, von seinen Erlebnissen berichtet. Während die Abenteuer im großen Roman jedoch durchaus eine aufregende Geschichte ergeben, beziehen sich die in der Erzählung berichteten Erfahrungen auf ein rein psychologisches Experiment, das mit der Aussage „Quando nada acontece, há um milagre que não estamos vendo“422 endet. Diese Moral kann direkt auf das Pakterlebnis Riobaldos bezogen werden, denn auch hier passiert nichts, was jedoch 420 Laut Willi Bolle überwindet Riobaldo durch seinen Pakt die Klassenunterschiede. Er gründet nun als Paktarier
eine neue, moderne Gesellschaft, weshalb man den Pakt als „contrato social“ im rousseauschen Sinne lesen kann. Vgl. Willi Bolle, ‘O Pacto no Grande Sertão’, p. 35. 421 João Guimarães Rosa, ‘O Espelho’, in: Ficção Completa, 2, p. 442. 422 Ebd., p. 437.
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in Folge ein unsichtbares Wunder ergibt: Riobaldo beginnt plötzlich eine Autorität auszustrahlen, die ihm vorher fremd war. Dies verunsichert den Protagonisten des Romans zutiefst. Es ist jedoch nicht der Pakt an sich, der ihn verzweifeln lässt, es ist der Zweifel an dessen Realität: Für den modernen Faust: den Geschichtsschreiber, den Künstler, den Dichter ist das Paktieren oder Nichtpaktieren mit dem Satan eine Existenzfrage, die ihn so oder so in den Irrsinn treibt.423 Dies schreibt Anni Carlsson über die Faustfiguren von Andrej Sinjawskij (Ljubimow, 1966), Michael Bulgakow (Der Meister und Margarita, Mitte der dreißiger Jahre geschrieben, 1966 erschienen) und Thomas Mann (Dr. Faustus, 1947), die ihrer Meinung nach einen deutschen Teufel, der Tradition Klopstocks, Goethes, Hoffmanns und Chamissos folgend, beschreiben. Diese Existenzfrage nach dem Paktieren oder Nichtpaktieren gilt noch in einem viel wörtlicheren Sinn für Riobaldos unbestimmten Pakt mit einem unpersonifizierten Teufel. Auch bei ihm endet sein ständiges Zweifeln fast im Irrsinn. Riobaldo ringt seinem geduldigen Zuhörer die Bestätigung ab, dass es den Teufel nicht gibt: „Pois, não existe! E, se não existe, como é que se pode se contratar pacto com ele? E a idéia me retorna.“ (GS:V, p. 30) Doch die Vermutung, dass der Teufel nicht existiert, ist noch lange keine Garantie, dass man keinen Pakt mit ihm abgeschlossen hat. Dies lässt Riobaldo schier verzweifeln, aber nicht nur er ist an der Grenze zum Irrsinn, die ganze Menschheit ist verrückt: „O que mais penso, testo e explico: todo-o-mundo é luco. O senhor, eu, nós, as pessoas todas. Por isso é que se carece principalmente de religião: para se desendoidecer, desdoidar. Reza é que sara da loucura. No geral. Isso é que é a salvação-da-alma [...].“ (GS:V, p. 8). Erstmals schlägt Riobaldo eine Erlösung aus dem ewigen Teufelskreis, der durch die Existenz des Bösen auf der Welt entsteht, vor: es ist die Religion. Das Beten ist die einzige Möglichkeit uns von der Verrücktheit zu heilen. Iwan Karamasow zeigt in seiner Begegnung mit dem Teufel deutlich, dass Ende des 19. Jahrhunderts der Glaube an die Existenz des Irrealen skeptisch gebrochen wird. Dieses ist von nun an von einem Verdacht einer Bewusstseinsspaltung nicht mehr zu trennen, was die phantastische Literatur dieser Zeit zu einer ersten großen Blüte führt. Im Kapitel „Der Teufel. Iwan Fjodorowitschs Fiebertraum“ begegnet ihm plötzlich der Teufel, doch Iwan zweifelt stark an dessen Existenz: „Keinen Augenblick halte ich dich für reale Wahrheit! [...] Du bist eine Lüge, du bist meine Krankheit, du bist ein Gespenst! [...] Du bist meine Halluzination. Du bist eine Verkörperung meines Ich, übrigens nur eines Teils davon ... meiner Gedanken und Gefühle, aber nur der abscheulichsten und dümmsten.“424 Ähnlich reagiert Adrian Leverkühn als ihm der Teufel erscheint, auch er zweifelt an dessen Existenz und sucht seine Wurzeln in sich selbst: „nach meiner starken Vermutung seid Ihr nicht da. [...] Viel wahrscheinlicher ist, dass eine Krankheit bei mir im Ausbruch ist und ich den Fieberfrost, gegen den ich mich einhülle, in meiner Benommenheit hinausverlege auf eure Person und euch sehe, nur um in euch seine Quelle zu sehen.“425
423 Anni Carlsson, Teufel, Tod und Tiermensch (Kronberg/Ts.: Athenäum, 1978), p. 31. 424 Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, aus dem Russischen übertragen von Hans
Ruoff und Richard Hoffmann (München: Winkler, 1967), II, p. 406. 425 Thomas Mann, Doktor Faustus, (Frankfurt am Main: Fischer, 1986), p. 225.
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Auch Riobaldo versucht nach seinem Paktversuch sein Erlebnis als Wahnbild zu sehen: „Arte – o enfim que nada não tinha me acontecido, e eu queria aliviar da recordação, ligeiro, o desatino daquela noite.“ (GS:V, p. 373). Doch gerade dadurch, dass der Teufel sich in keiner personifizierten Form gezeigt hatte, kann ihn Riobaldo nicht als Halluzination abtun und sein ganzes Leben ist seit jener Nacht von diesem ungreifbaren Zweifel überschattet, gibt es den Teufel oder gibt es ihn nicht, oder sogar: „Medo meu é este, meu senhor: então, a alma, a gente vende, só, é sem nenhum comprador [...].“ (GS:V, p. 428). Leverkühn zweifelt genauso wie Riobaldo an der Existenz seines Paktpartners, ein Indiz für dessen Existenz aber wäre die unglaubliche Kälte, die ihn während des Pakts befallen hatte, es ärgert ihn, dass er nicht weiß, ob er vor Kälte, oder vor dem Teufel zitterte: Macht ich mir irgend wohl vor, machte Er mir vor, dass es kalt war, damit ich zittern und mich daran vergewissern möcht, dass Er da war, ernstlich, einer für sich? Denn doch männiglich weiß, dass kein Narr vor dem eigenen Hirngespinst zittert, sondern ein solches ist ihm gemütlich, ohne Verlegenheit noch Beben läßt er sich damit ein. Hielt Er mich wohl zum Narren, da Er mir vormacht, durch die Hundskälte, ich sei kein Narr, und Er kein Hirngespinst, denn ich in Furcht und Blödigkeit vor Ihn zitterte? Er ist durchtrieben.426
Ähnlich befällt auch Riobaldo während seines Pakts plötzlich eine existentielle Kälte, die sich ganz seiner bemächtigt: „Meu corpo era que sentia um frio, de si, frior de dentro e de for a, no me rigir. Nunca em minha vida eu não tinha sentido a solidão duma friagem assim. E se aquele gelado inteiriço não me largtasse mais.“ (GS:V, p. 372). Riobaldos Paktversuch ist jedoch im Gegensatz zu Dr. Faustus’ Paktphantasie kein Pakt nach Erkenntnis, da Riobaldo, auch wenn Fani Schiffer Durães es in ihrer Studie zu Faust und Riobaldo behauptet, kein faustischer Mensch ist. Die Motivation für seinen Pakt ist von der Sekundärliteratur sehr unterschiedlich ausgelegt worden und soll im Anschluss kurz dargelegt werden. Vorher aber noch ein Hinweis auf eine weitere Parallele zu Thomas Manns Dr. Faustus-Roman: In Leverkühns Teufelspakt ist der Verzicht auf Liebe ein wesentlicher Bestandteil: „Du darfst nicht lieben“.427 In Grande Sertão: Veredas kann ein solches Liebesverbot nicht direkt ausgesprochen werden, da es keinen personifizierten Teufel gibt. In Riobaldos Fall ist es Diadorim, die ihm einen Keuschheitspakt vorschlägt, auf den Riobaldo widerwillig eingeht. (vgl.: GS:V, p. 165 f.). Er lässt einige Möglichkeiten zum fleischlichen Vergnügen ungenutzt, vergisst dann aber doch, trotz Diadorims Eifersucht, langsam auf diese Vereinbarung. Diadorim ist ebenfalls einen Pakt eingegangen, sie hat sich selbst auferlegt, Riobaldo nichts von ihrem wahren Geschlecht zu sagen, bis ihr Vater gerächt werden würde. Darin gleicht sie der Königstochter aus den Volksromanzen, „die nicht lieben darf, ehe sie Rache an dem Mörder ihres Vaters genommen hat, eine Rache, die sie mit ihrem eigenen
426 Ebd., p. 223. 427 Ebd., p. 249. Vgl. dazu auch: Gabriela Hofmann-Ortega Lleras, Die produktive Rezeption, 33-34. Salman
Rushdie nimmt dieses Motiv in seinen Roman „The Ground Beneath Her Feet“ auf, in dem ebenfalls ein Musiker durch einen Keuschheitspakt Genialität erreicht: „For ten years, until she is thirty-seven years old an he has turned forty-four, he will not touch or be touched by her. [...] From the moment their pact is made, that devil’s contract that will make neither of them happy, there’s no stopping them.“ (Salman Rushdie, The Ground Beneath Her Feet (New York: Henry Holt & Co., 1999), pp.370, 372).
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Leben bezahlen muß.“428 Wobei der Tod der Rächerfigur vor allem in der Zeit vor Hamlet nicht üblich war.429 Auffällig ist, dass sowohl in Hamlet, als auch in Grande Sertão: Veredas die Legitimität der Rache an sich nicht problematisiert wird. In beiden Fällen machen sich die Rächer, Hamlet und Riobaldo, ungemein viel Gedanken über das Leben und die moralische Rechtfertigung ihrer Handlungen, alles wird in Zweifel gezogen, doch die eigentliche Rache nicht. Das Gebot des Römerbriefs war sicher beiden Schriftstellern bekannt: „Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn [Gottes]; denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr.“ (Römer 12, 19). Trotzdem verdrängen die übrigen Probleme der Protagonisten diesen Grundgedanken um die ethische Berechtigung der Rache. In Hamlet sind dies besonders die Gegensatzpaare: „Sein oder nicht Sein, Handeln oder Erdulden, Feigheit oder Weisheit, die Verhältnismäßigkeit der Rache, also „Maß für Maß“ [...].“430 Bei Riobaldo ist es das ewige Kreisen seiner Gedanken, um die Existenz des Teufels und der Unstetigkeit des Lebens. Dies sind natürlich wesentliche Probleme, die in einer großen Intensität und Tiefe erlebt werden, doch ist es trotzdem auffällig, dass dieses eine Grundproblem, der ethischen Rechtfertigung eines Mordes aus Rache, sich von beiden Protagonisten nicht gestellt wird.
6.1. Verschiedene Paktinterpretationen Obwohl der Pakt in Riobaldos Monolog eine so zentrale Bedeutung hat, wird er von der Sekundärliteratur sehr oft gar nicht speziell erwähnt. Die Frage nach dem Pakt mit dem Teufel ist das Fundament der Erzählung. Eduardo Coutinho sagt, dass sich der gewaltige Monolog auf diese einzige Frage reduzieren lässt. Es sind Schuld, Angst vor dem Pakt und die Ungewissheit ob der Teufel überhaupt existiert, die Riobaldo bestimmen.431 Studien, die sich ausschließlich mit dem Pakt beschäftigen, sei es nun in formaler Hinsicht oder auch von seiner inhaltlichen Bedeutung für den Protagonisten, sind nicht bekannt. Trotzdem wird in diesem Kapitel versucht, die Hauptströmungen der Paktinterpretationen der Sekundärliteratur aufzuzeigen. 1. Pakt aus dem Teufelsglauben des Sertãos Der Pakt ist motiviert durch traditionelle Vorurteile, Glaube an Geister und Wunder sowie Angst vor dem Teufel. Formal folgt er den mündlichen Volkssagen der Sertãos. Vgl. Arroyo, Leonardo: A cultura popular em Grande Sertão: Veredas.
428 Georg Rudolf Lind, ‘Regionalsimus und Universalität’, p. 341. 429 Holger M. Klein, ‘Zur Einführung in das Drama’, in: William Shakespeare, Hamlet, Englisch/Deutsch (Stutt-
gart: Philipp Reclam jun., 1998), pp7-49 (pp.34-35). 430 Ebd., p. 30. 431 Vgl. Eduardo Coutinho, The “synthesis” Novel in Latin America.
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2. Riobaldo = Faust Der Pakt resultiert aus einem existentiellen Problem des Erzählers in der Tradition Faustens. Riobaldo ist ein faustischer Mensch, der eine dem Goetheschen Faust sehr ähnliche Figur darstellt. Vgl. Schiffer Durães, Fani: Riobaldo und Faust. Riobaldos Erzählsituation und Pakt hat deutliche Parallelen zu Thomas Manns „Dr. Faustus“ und ist inhaltlich die Weiterentwicklung von dessen Weltsicht: Vgl. Hofmann-Ortega Lleras: Die produktive Rezeption von Thomas Manns Doktor Faustus. Schwarz, Roberto: Grande Sertão: Estudos. 3. Homosexualität Die Schuldgefühle Riobaldos resultieren nicht aus dem Paktversuch sondern sind Ergebnis seiner vermeintlich homosexuellen Gefühle. Vgl. Nunez, Benedito: O Amor na obra de Guimarães Rosa. 4. Verbrechen Die Schuldgefühle Riobaldos resultieren nicht aus dem Paktversuch sondern sind Ausdruck des schlechten Gewissens, dass er als Jagunço Verbrechen begangen hat. Vgl. Garbuglio, José: O Mundo Movente de Guimarães Rosa. São Paulo 1972. 5. Esoterische Interpretationen Der Pakt ist kein Pakt mit dem Teufel sondern einer mit dem Leben, durch ihn gelangt Riobaldo zu einer Wiederentdeckung der Harmonie des Universums. Vgl. Rosenfield, Kathrin H.: Os Descaminhos do Demo. Tradição e Ruptura em Grande Sertão: Veredas. Rio de Janeiro 1993. 6. Der Pakt als Initiation Der Pakt als Initiation ist die einzige Auslegung, die es zu einer gewissen Tradition in der Sekundärliteratur gebracht hat. Antonio Candido ist der erste, der in seiner erstmals 1964 erschienenen Studio „O homem dos avessos“ Riobaldos Pakt als Initiation liest. Riobaldo ist seiner Meinung nach ein Mensch, der eine Veränderung in seiner Persönlichkeit erfährt. Der Pakt mit dem Teufel stellt seiner Ansicht nach die Art und Weise dar, durch die der Protagonist Sicherheit über seine eigenen Fähigkeiten gewinnt: „O modo pelo qual adquire, todavia, certeza da própria capacidade, vem simbolizado no pacto com o diabo. Conforme a ordem de idéias que estamos discutindo, este ato [...] parece corresponder a um rito iniciatório equivalente ao de certos romances de cavalaria, e até certo ponto da própria regra da cavalaria militante.“432 Der Teufel kann in Rosas Roman nach Antonio Candido ein Instrument der menschlichen Initiation in das Leben und gleichzeitig auch ein Symbol für das Böse und die Versuchung sein. Der Pakt ist also mehr eine Mutprobe als ein tatsächlicher Handel mit dem Bösen. Riobaldo will sich von seinem Leben als stumpf in der Masse mitlebender Jagunço 432 Antonio Candido, ‘O Homem dos Avessos’, in: João Guimarães Rosa, Ficção Completa, I, pp.78-92 (p.85).
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lösen und versucht ein sichtbares Zeichen für seine Auserwähltheit zu erlangen, dieses Zeichen findet er in dem von sich selbst auferlegten Initiationsritus in der überstandenen Nacht an der Wegkreuzung in Veredas Mortas. Dadurch, dass Riobaldo seine Macht dazu nützen will, um gegen das in Hermógenes personifizierte Böse zu kämpfen, wird er zu einem positiven Paktarier. An diese Interpretation schließen andere Studien, die den Pakt als Initiation sehen, an: Vgl. Francis Úteza: Metafísica do Grande Sertão. Albergaria, Consuelo: Bruxo da linguagem no Grande Sertão. De Castro, Manuel Antonio: O homem provisório no grande ser-tão. Serra, Tania Rebelo Costa: Riobaldo Rosa. A Vereda Junguiana do Grande Sertão. 7. Historische Auslegungen Riobaldos Pakt ist ein Akt in dem sich Mythos, Wahnsinn und Urgeschichte vermischen. Der Protagonist erzählt den Pakt wie ein archaisches Bild, vor allem unbewusst. Dieses Unbewusste des Erzählers führte zu den Mythologisierungen der Interpreten, weshalb es auch heute noch gilt die Paktszene zu entziffern. Der Philosophie Walter Benjamins folgend, müsste das archaische Bild des Paktes in ein dialektisches Bild übersetzt werden. Aus der Episode sollte ein „Jetzt der Erkennbarkeit“ gezogen werden, das die Vorvergangenheit durch eine bestimmte historische Situation und aktueller Politik lesbar machen würde. Der Pakt kann auch als Institutionalisierung des Gesetzes gelesen werden. Als erster „contrato social“, nach Rousseau, geschrieben in der Urgeschichte der Menschheit. Der Pakt Riobaldos wird dadurch zur Basis der modernen-zivilen Gesellschaft Brasiliens. Vgl. Bolle, Willi: O pacto no Grande Sertão Esoterismo ou lei fundadora? Bolle, Willi: Grande Sertão: Cidades. Eine ähnliche, historisch orientierte Interpretation, ohne dabei jedoch auch Walter Benjamin und Rousseau einzugehen, liefert: Vgl. Darío Henao Restrepo: O Faústico na Nova Narrativa Latinoamericana. Rio de Janeiro 1992.
6.2. Der Pakt mit dem Bösen gegen das Böse Gilt am Ende das, womit man uns verleumdet und was einige uns in den Mund legen: Laßt und Böses tun, damit Gutes entsteht? Diese Leute werden mit Recht verurteilt. (Römer 3, 8).
Da der Glaube an den Satan als den Inbegriff böser Kräfte im Neuen Testament schon sehr gebräuchlich ist, und man keine Bedenken trägt selbst positive Wunderhandlungen auf das Böse zurückzuführen, suchen die Gegner Jesu dessen Heilungen unter diesen Gesichtspunkt zu stellen. Nach ihrer Ansicht wäre alles Übel durch die bösen Mächte verursacht und verhängt worden und Jesus heile die Krankheiten durch satanischen Beistand. Jesus weist auf die Ungereimtheit hin, dass die satanischen Mächte auf diese Weise ihr eigenes Werk zerstören würden, und behauptet, dass seine Wundertaten vollbracht werden, weil sie den Zweck haben, die Macht des Bösen unter den Menschen aufzuheben. 138
Als die Pharisäer das hörten, sagten sie: Nur mit Hilfe von Beelzebul, dem Anführer der Dämonen, kann er die Dämonen austreiben. Doch Jesus wußte, was sie dachten, und sagte zu ihnen: Jedes Reich, das in sich gespalten ist, geht zugrunde, und keine Stadt und keine Familie, die in sich gespalten ist, wird Bestand haben. Wenn also der Satan den Satan austreibt, dann liegt der Satan mit sich selbst im Streit. Wie kann sein Reich dann Bestand haben? (Matthäus 12, 2426).
Riobaldo versucht einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, um dadurch die Macht zu erlangen, Hermógenes zu besiegen. Hermógenes ist jedoch das personifizierte Böse, er ist in seiner ganzen Anlage nicht nur ein Teufelsbündner, sondern sogar mehr: eine Inkarnation des Teufels. Wenn Riobaldos Pakt mit dem Bösen dafür geschlossen wurde, um das Böse zu besiegen, dann entstünde daraus genau jene absurde Situation, die Jesus den Pharisäern so deutlich vor Augen führt: „Wenn also der Satan den Satan austreibt, dann liegt der Satan mit sich selbst im Streit.“ (Matthäus 12, 26). Ein Pakt mit dem Bösen, um das Böse zu besiegen, würde keinen Sinn ergeben, der Teufel würde seine eigene Macht untergraben und das Gute würde gewinnen, ohne aktiv mitzukämpfen. Riobaldo sieht das ähnlich und erklärt seinem zuhörenden Besucher: „o ruim com o ruim, terminam por as espinheiras se quebrar – Deus espera essa gastança.“ (GS:V, p. 10). An anderer Stelle fragt sich Riobaldo noch einmal, ob man die Sünde mit der Sünde heilen könnte: „Remedeio peco com pecado? Me torço! Com essa sonhação minha, compadre meu Quelemém concorda, eu acho.“ (GS:V, p. 427). Diesmal fragt er sich selbst, an wen er denn dann seine Seele verkauft hätte, wenn es keinen Teufel gäbe, er weiß aber keine Antwort: „Então, não sei se vendi? Digo ao senhor: meu medo é esse. Todos não vendem? Digo ao senhor: o diabo não existe, não há, e a ele eu vendi a alma ... Meu medo é este. A quem vendi? Medo meu é este, meu senhor: então, a alma, a gente vendo, só, é sem nenhum comprador [...].“ (GS:V, p. 428). Es bleibt trotz aller Erklärungsversuche unlogisch, dass der Teufel einen Bund eingeht, um einen anderen Bündnispartner zu bekämpfen. In den Tagen vor dem Pakt sinniert Riobaldo viel über seinen Entschluss nach. Dass dieser Entschluss das Schließen eines Paktes ist, spricht er erst später aus. Die Leistung des Teufels bei Hermógenes’ Pakt erkennt man, laut dem Jagunço Lacrau daran, dass er nicht leidet, nicht ermüdet und nie eine Schlacht verliert. Die Gegenleistung des Paktariers ist klassisch: „Assinou a alma em pagamento.“ (GS:V, p. 359). Dadurch, dass bei Riobaldos Pakt der Teufel nicht personifiziert auftritt, werden Leistung und Gegenleistung nicht definiert. Ziel des Paktversuchs ist nicht nur Hermógenes zu töten, sondern vielmehr ganz allgemein, dadurch ein höheres Schicksal erlangen zu können und sich so von den gemeinen Jagunços abzuheben: Conforme eu pensava: tanta coisa já passada; e, que é que eu era? Um raso jagunço atirador, cachorrando por este sertão. O mais que eu podia ter sido capaz de pelejar certo, de ser e de fazer; e no real eu não conseguia. Só a continuação de airagem, trastejo, trançar o vazio. [...] Os outros, os companheiros, que viviam à-toa, desestribados; viviam perto da gente demais, desgovernavam toda-a-hora a atenção, a certeza de se ser, a segurança destemida, e o alto destino possível da gente. (GS:V, p. 355).
Riobaldos Pakt ist also nicht nur dazu geschlossen worden, um Hermógenes zu besiegen, es geht ihm vor allem darum, sich von seinem eigenen Zaudern zu befreien und sich durch die mutige Tat, um Mitternacht den Teufel anzurufen, von seinen im Jagunçoalltag gefangenen Kollegen zu unterscheiden. Dies verlangt Mut, denn selbst ein hartgesottener Jagunço wie Lacau meint: „Coragem minha é para se remedir contra homem levado feito eu, não é para marcar a meia-noite nessas encruzilhadas, enfrentar a Figura [...].“ (GS:V, p. 359). 139
In den vorhergehenden Kapiteln wurde gezeigt, dass Riobaldos Pakt Elemente von den frühesten biblischen Bünden bis zu den Paktsituationen der modernen Literatur gemein hat. Trotzdem ist sein so ambivalenter Paktversuch ohne sichtbaren Bündnispartner anders, denn für Riobaldos Erzählung bleibt es eigentlich gleichgültig, ob der Pakt tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Wesentlich ist, dass er sich bewusst dafür entschlossen hat, den Teufel anzurufen. Diese Wahl seines Schicksals ist die eigentliche Funktion der Paktszene, Riobaldo wählt, vom passiven Scharfschützen zum aktiven Jagunçoführer zu werden.
6.3. Der Pakt als besondere Form des Auserwähltseins Das Gute macht das Wesen der Autorität aus, das Wesen einer etablierten Position. Gleich, wer diese Stellung einnimmt, er ist, definitionsgemäß „gut“. Für den Sertanejo gibt es keine Ächtung des Usurpators: die Position ist das Wesentliche, nicht ihr Inhaber.433
Dies erklärt den gottähnlichen Status, den Joca Ramiro besitzt, macht aber auch verständlich, warum Riobaldo sich, nachdem er Hauptmann der Jagunços geworden ist, plötzlich in einer messiasartigen Position befindet. Joca Ramiro wird nicht nur durch sein vorbildliches Leben eine Messiasfigur, sondern darüber hinaus auch noch durch seinen Tod, denn er wurde von den „judas“ ermordet. Außerdem ist seine Messianität im Text besonders gekennzeichnet, weil „suas inicias JR serem as mesmas de Jesu Rex.“434 Dieser Interpretation folgend, wäre Diadorim der Sohn Gottes. Riobaldo reiht sich teilweise in diese große Tradition der Messiasfiguren im Sertão ein, wie auch Suzi Frankl Sperber beobachtet: „Já vimos, mais acima, que Joca Ramiro havia sido messianizado. Riobado também correu este risco. Sobretudo por causa da travessia do Liso do Suçuarão.“435 Die Zeit, wo die messianische Erwartung bei den Juden am lebendigsten war, waren immer Notzeiten, aus welcher das Volk auf Erlösung hofft. Not und Verlangen nach Erlösung gehen Hand in Hand. Die Zeitgenossen erwarteten vom Messias die Beglaubigung seiner Messianität durch Wunder.436 Aber nicht nur um seine Jagunços von seiner Autorität als Führer zu überzeugen sondern auch um selbst festzustellen, ob er für große Taten auserwählt sei, durchquert Riobaldo mit seinen Jagunços den Liso de Suçuarão: „Pois, por aquela conta, mesma, era que eu queria. Sobre o que eu era um homem, em sim, fantasia forra, tendo em nada aqueles perigos, capaz do caso. Para vencer vitória, aonde nenhum outro antes de mim tivesse!“ (GS:V, p. 445). Als ihm der Weg durch die Sandwüste gelingt, fühlt sich Riobaldo endgültig auserwählt, seine Jagunços zur großen Schlacht gegen das Böse zu führen, wodurch er sich viel mehr in die Tradition der Messiasfiguren im Sertão einreiht als in eine mögliche Tradition der faustischen Menschen. Die Tradition von plötzlich auftretenden Erlöserfiguren in Brasilien ist lang: Die älteste Messiasbewegung des Sertãos ist noch im portugiesischen Sebastianismus verwurzelt. Dieser entwickelte sich jedoch weiter und fand in der Figur des An433 Ronald Daus, Der epische Zyklus der Cangaceiros in der Volkspoesie Nordostbrasiliens (Berlin: Colloquium,
1969), p. 79. 434 Consuelo Albergaria, Bruxo da linguagem, p. 56. 435 Suzi Frankl Sperber, Caos e Cosmos, p. 124. 436 Vgl. Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, I, pp.208-209.
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tônio Conselheiro, der um das Jahr 1870 im Trockengebiet des Nordostens auftaucht, seine bekannteste Ausprägung.437 Religionsbewegungen dieser Art haben in Brasilien noch immer kein Ende gefunden und es kommen immer wieder Meldungen über Führer, die Gläubige um sich scharen, aus dem Hinterland.438
7. Leben Tauschen Loskaufen kann doch keiner den anderen Noch an Gott für ihn ein Sühnegeld zahlen (Psalm 49, 8)
Diese Bibelstelle sagt eindeutig aus, dass es keine Möglichkeit gibt, sich selbst für einen anderen im Tod einsetzen zu können. Kein Mensch soll imstande sein, einen seiner Mitmenschen vom Todesschicksal befreien zu können, es gibt keine Erlösung durch einen anderen. Demnach ist also der Schluss zu ziehen, dass es angesichts des Todesschicksals für den Menschen keine Erlösung durch Mitmenschen gibt, ganz zu schweigen von Selbsterlösung.439 Nachdem Psalm 49,8 eindrucksstark belegt, dass der Mensch absolut keine Macht hat sich vom Tod zu erlösen, gipfelt das Weisheitslied in der Aussage von Vers 16: „Doch Gott wird mich loskaufen aus dem Reich des Todes, ja, er nimmt mich auf.“ (Psalm 49, 16). Dieser Vers unterstreicht noch einmal die Tatsache, dass Gott vermag, was dem Menschen unmöglich ist, nämlich ein Leben nach dem Tod zu ermöglichen. Es gibt dieser Bibelstelle zufolge also eine wirkliche Erlösung und Überwindung des Todes nur durch Gott. Was weder der einzelne für sich selbst, noch ein anderer für einen anderen fähig ist zu tun, was jedes menschliche Vermögen übersteigt, das vermag der allmächtige Gott: er überwindet den Tod und erlöst den Menschen von seinem Todesgeschick. „Was nützt es einen Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis könnte ein Mensch sein Leben zurückkaufen.“ (Markus 8, 36). Die Mythologie hat diese Frage aus dem Neuen Testament schon beantwortet, bevor sie gestellt wurde, in verschiedenen Sagen wird berichtet, was der Preis für ein zurückgekauftes oder getauschtes Menschenleben sei. Euripides bearbeitet beispielsweise den mythischen Stoff der Alkestis und verarbeitet dabei das Motiv des Aufschub eines Todes, verbunden mit dem stellvertretenden Tod eines anderen Menschen: Apoll erwirkt, dass Adment, der König von Pherai, nicht zu der festgesetzten Stunde sterben müsse, wenn ein 437 Zur Figur des Antônio Conselheiro vgl. neben Euclides da Cunhas: “Os Sertões” und Mario Vargas Llosas:
“La guerra del fin del mundo“ (1981) auch die direkten Eindrücke da Cunhas, die er während der letzten Wochen der vierten Expedition gegen Canudos aufzeichnete: Euclides Da Cunha, Diário de uma Expedição, (São Paulo: Companhia das Letras, 2000), und: Walnice Nogueira Galvão, Corresponência de Euclides da Cunha (São Paulo: Edusp, 1997). 438 Vgl. Maria Isaura Pereira de Queiroz, ‘Messiasbewegungen in Brasilien’, Staden Jahrbuch, 4 (1956), pp.133-144. 439 Heinrich Groß, ‘Selbst- oder Fremderlösung’, Forschung zur Bibel, (Hg. Von Schnakenburg, Rudolf und Schreiner, Josef), (Ohne Ortsangabe: 1972), 2, pp.65-70 (p.69).
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anderer an seiner statt den Tod auf sich nähme. Die alten Eltern Admets weigern sich, doch Alkestis, die junge Frau des Königs, erklärt sich zu dem Opfer bereit.440 Eine etwas variierte Form der Aufopferung, ist das Substitutionsritual, das im VoodooKult Haitis vollzogen wird: die hounzi-kanzó oder frisch Initiierte, wird in einem festgelegten Ritus geopfert, das mit dem Schlachten einer Ziege endet. 441 In den brasilianischen Candomblé-Riten sind die Persönlichkeiten noch weniger mit dem Körper verbunden und die Seelen wechseln sehr schnell ihren Aufenthaltsort.442 In Europa des 19. Jahrhunderts kann man mit dem christlichen Teufel sogar Teile seines Körpers gegen Menschenleben eintauschen: In Alphons Karrs „La Main du diable“ (1855) bietet ein Mann dem Teufel seine rechte Hand, um als Tausch dafür das Leben seines Bruders zu retten. Sein Bruder erholt sich daraufhin von seiner schweren Krankheit und um seinen Teil des Paktes einzuhalten schneidet sich der Mann die rechte Hand ab, wobei er jedoch stirbt. So zahlt er mit seinem eigenen Leben für die Erlösung seines Bruders.443 In Grande Sertão: Veredas ist das Motiv des Leben-Tauschens im ganzen Monolog Riobaldos sehr präsent und wird durch einige eingeschobene Erzählungen illustriert. Hofmann-Ortega Lleras weist als eine der wenigen Kommentatorinnen auf dieses wesentliche, jedoch kaum beachtete Motiv hin. Sie meint, dass an Stelle des Liebesverbots aus „Dr. Faustus“ in Grande Sertão: Veredas eine besondere Ausdeutung des Paktes tritt, bei der der eigene Tod auf eine andere Person übertragen wird, um so an deren Stelle weiterzuleben: „Das Ergebnis entspricht dem in Doktor Faustus: Auch hier muß der Protagonist den Tod eines geliebten Menschen vor sich selbst verantworten. So stirbt Diadorim, als sie Hermógenes im Kampf tötet und damit Riobaldo zum Sieg verhilft.“444 Dieser Auslegung zufolge ist Riobaldos Paktversuch ein Pakt, der seinen eigenen Tod aufschieben sollte. Als dann Diadorim in der entscheidenden Schlacht stirbt, befällt Riobaldo sein den ganzen Text überschattendes schlechte Gewissen, denn es wäre an ihm gewesen, Hermógenes im entscheidenden Kampf entgegenzutreten. Stattdessen fällt er in Ohnmacht, als er Diadorim entschlossen auf den Mörder ihres Vaters zugehen sieht. Unterschwellig kommt die Vermutung auf, in der Paktnacht seinen Tod mit dem Tod Diadorims ausgetauscht zu haben. Auch für Kathrin Rosenfield ist der Pakt im Roman ein Pakt gegen den Tod „e não desejo de igualar-se à onisciencia divina“ 445 Das Motiv des LebenTauschens taucht mehrmals in Riobaldos Monolog auf und scheint ein wesentliches philosophisches Problem in seinem Leben zu sein. Es wird von der Sekundärliteratur jedoch trotzdem nie als solches erwähnt.
440 Für weitere Bearbeitungen des Alkestis-Stoffes bis ins 20. Jahrhundert, vgl.: Elisabeth Frenzel, Stoffe der
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442 443 444 445
Weltliteratur, pp.3538. Ihrer Auflistung ist noch die inspirierte Nachdichtung von Ted Hughes zuzufügen, das letzte Werk des Dichters. Ted Hughes, Alcestis (London: Faber & Faber, 1999). Vgl. dazu: Hubert Fichte, Xango. Die afroamerikanischen Religionen. Bahía, Haiti, Trinidad (Frankfurt am Main: Fischer 1976). Ein sehr ähnlicher Substitutionsmechanismus passiert auch bei der Opferung Iphigenies, die im letzten Augenblick von Aphrodite entrückt und durch ein weißes Reh ersetzt wird. Vgl. Zeca Ligiéro, Iniciação ao Candomblé, (Rio de Janeiro: Nova Era, 1993). Nach: Maximilian Rudwin, The Devil in Legend and Literature, p. 175. Hofmann-Ortega Lleras, Die produktive Rezeption, p. 3334. Kathrin Rosenfield, Os Descaminhos do Demo: tradição e ruptura em Grande Sertão: Veredas. (São Paulo: Edusp, 1992), p. 45.
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Das augenscheinlichste Beispiel, das mit der Möglichkeit spielt für einen anderen sterben zu können, ist die von Seo Ornelas erzählte Andekdote über Dr. Hilário: Ein Wandersmann fragt den Polizei-Delegado Dr. Hilário nach diesem. Hilário zeigt zum Spaß auf den neben ihm stehenden geldgierigen Aduarte Antoniano. Da schlägt der Fremde diesen Aduarte wortlos nieder. Dr. Hilário zieht daraus folgende Moral: „Um outro pode ser a gente; mas a gente não pode ser um outro, nem convém ...“ (GS:V, p. 405). Quelemém meint, dass dieser von Seo Ornelas erzählte Fall eine große Rolle in Riobaldos Leben gespielt hätte. Seo Ornelas erzählt an jenem Abend viele Erlebnisse und Geschichten, Riobaldo gibt nur diese eine Episode wieder, denn er befindet sie für „esquipático mesmo no simlples“ (GS:V, p. 404). Kein Wunder, dass Riobaldo von dieser Geschichte so fasziniert ist, enthält sie doch in konzentrierter Form viele der ihn quälenden Ungereimtheiten des Lebens: Ein fremder Mann schlägt einem anderen, der nicht derjenige ist für den er gehalten wird, mit einem Stock nieder. Der Polizist, für den der Schlag bestimmt war, bleibt unverletzt. Der Stoß trifft jedoch jemanden, der zwar nichts mit der Angelegenheit zu tun hat, der allerdings als „sujeito mau“ (GS:V, p. 405) gilt. Diese Zufälligkeiten sind eine genaue Illustration von Riobaldos Zweifeln an einem höheren Sinn der Welt. Aus reinem Spaß gibt der Polizist einen anderen als sich selbst aus und dieser wird deswegen niedergeschlagen. Zufällig ist dieser ein geldgieriges und übles Subjekt, doch der Schlag hätte genauso gut einen redlichen Menschen treffen können. Diese merkwürdigen Umstände gelten in Riobaldos Weltanschauung über das Exempel hinaus für das Leben an sich: Er leidet den ganzen Roman hindurch an den Verkettungen von unbekannten Ursachen, von denen man nicht weiß, ob sie vorherbestimmt oder selbst gewählt sind. Die wahren Gründe des Geschehens bleiben immer im Verborgenen, wodurch nicht nur die Episode um Dr. Hilário, sondern das ganze Leben sinnlos und zufällig erscheint. Dr. Hilários Erklärung, dass ein anderer zwar er sein könne, aber er nicht ein anderer, hat zwar mit dem Motiv des Leben-Tauschens zu tun, trägt aber sonst nur wenig zum philosophischen Verständnis dieser Episode bei. Für Hilário selbst gilt seine Erklärung jedoch sehr wohl, ihm sind durch das kurzzeitige Tauschen seiner Existenz die Prügel, die für ihn bestimmt gewesen wären, erspart geblieben. Wenn nun Quelemém behauptet, dass diese Anekdote wesentlich für Riobaldos „vida verdadeira“ (GS:V, p. 406) sei, so bestätigt das den Verdacht, dass auch dieser die Vermutung hegt, mit jemanden sein Leben getauscht zu haben. Riobaldo erwähnt das Phänomen des Leben-Tauschens erstmals in einer kleinen Erzählung, die durch die Namensgebung offensichtlich an Faust gemahnt. Er berichtet von den beiden Jagunços Davidão und Faustino: Der reiche Davidão bezahlt den armen Faustino, um an seiner statt im Kampf zu fallen. Nach dem ersten Gefecht sind beide noch am Leben. Auch im nächsten Kampf geschieht nichts, monatelang bleiben beide unverletzt. Riobaldo erzählt einem jungen Mann aus der Großstadt diese Geschichte, der daraufhin meint, dass man darüber ein Buch schreiben müsse. Er selbst denkt sich das Ende so: Die beiden streiten, weil Faustino den Pakt rückgängig machen will, im Handgemenge rennt sich Faustino aus Versehen selbst das Messer ins Herz und stirbt. Riobaldo gefällt diese Fortsetzung sehr gut, doch im wirklichen Leben gehen die Dinge weniger glatt auf, oder sie haben gar kein Ende: Davidão und Faustino haben beide ihr Jagunçodasein aufgegeben, mehr weiß man 143
nicht. „Melhor assim. Pelejar por exato, dá erro contra a gente. Não se queira.“ (GS:V, p. 70). Es ist laut Riobaldo also vernünftiger, nicht alles genau wissen zu wollen, damit schadet man sich nur selbst. Trotzdem kann er nicht aufhören, sein Leben zu hinterfragen und zu analysieren. Der Pakt dieser Geschichte, mit jemanden seinen Tod zu tauschen, hat trotz des Namens „Faustino“ nichts mit faustischer Erkenntnis zu tun: „Ora, o causo de Davidão e Faustino situa-se numa dimensão infinitamente mais elementar – ele é um contrato visando à mera sobrevivência física.“446 Aber auch dieses Beispiel zeigt, dass für Riobaldo die Möglichkeit, das Leben eines anderen zu leben, durchaus von bestimmender Wichtigkeit in seinen Reflexionen ist. Kurz vor der entscheidenden Schlacht gegen Hermógenes gönnt sich Riobaldo als Jagunçohauptmann noch einmal den Besuch eines Bordells. Bei den beiden Freudenmädchen Maria-da-Luz und Hortência verbringt er genießerisch eine Liebenacht, während draußen sein Jagunço Felisberto Wache schiebt. Am Morgen laden die beiden Mädchen Felisberto zu einem Frühstück ein, wobei sich Maria-da-Luz in den jungen Jagunço verschaut. Sie will sich mit ihm im Nebenzimmer vergnügen, doch Riobaldo verbietet dies mit der Begründung: „Eu era o chefe. O Felisberto era sentinela.“ (GS:V, p. 466). Doch plötzlich schießt es Riobaldo durch den Kopf, dass diese Aufteilung zwischen Hauptmann und Wachposten gar nicht so gegeben ist: „Sendo o mais que pensei: eu, sentinela!“ (Ebd.). Auf einmal ist er sich ganz sicher: „Sé eu sei: eu sentinela!“ (GS:V, p. 467). Mit leichtem Neid im Herz lässt Riobaldo seinen Jagunço Felisberto, der durch eine Kugel im Kopf wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat, bei den Mädchen und reitet zu seinen Jagunços zurück, nicht ohne zuvor zu wiederholen: „Ah: eu sentinela! – o senhor sabe.“ (GS:V, p. 468). Diese eigenartige Fixierung Riobaldos, plötzlich Wachposten zu sein ist nur schwer nachvollziehbar. Für Serra steht fest, dass er bereits in jenem Moment mit seinem Untergebenen Rollen tauscht, in dem er jenen zum gemeinsamen Frühstück hereinbittet: „Nesse momento troca de papel com seu cabra, e vai servir de sentinela, sem se incomodar com isso.“447 Zwischen den zwei Prostituierten liegend fühlt sich Riobaldo wie ein Kaiman: „’Aí eu era jacaré’, diz, pois aprendeu a seu sentinela de si mesmo, e a não deixar seus impulsos domina-rem-no.“448 Dieser Argumentation folgend, beschließt Riobaldo, ein Wächter seiner selbst zu werden, um sich nicht von seinen Gefühlswallungen leiten zu lassen. Felisberto dagegen hat dank Riobaldos unerwarteter Einsicht Wächter zu sein, ein schönes und ruhiges Leben vor sich, denn die Mädchen versprechen: „Deixa o moço, que nós prometemos. Tomamos bom cuidado nele, e tudo, regalado sustento. Que de nada ele há-de nunca sentir falta!” (GS:V, p. 467). Auch Riobaldo hätte in diesem Paradies („achei que lugar tal devia era de ter nome de Paraíso.“ – GS:V, p. 464) bleiben können, doch ihm ist nun bewusst, dass er der Wächter über sein Schicksal ist und dieses zu Ende führen musste. Deshalb reitet er der entscheidenden Schlacht gegen Hermógenes entgegen. Er tauscht in dieser Episode also nicht Leben mit Felisberto, doch erinnert ihn dessen Wache-Stehen an seine eigene Bestimmung, wodurch er mit jenem den Platz bei den Mädchen tauscht und weiterzieht.
446 Ebd. 447 Tania Rebelo Costa Serra, Riobaldo Rosa, p. 114. 448 Ebd.
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Riobaldos unterschwellige Angst ist es, durch den Paktversuch in den Veredas Mortas, möglicherweise mit Diadorim den Tod getauscht zu haben. Schon bevor Diadorim im entscheidenden Kampf für Riobaldo gegen Hermógenes antritt, zeigt sich, dass die Tochter Joca Ramiros plötzlich Einstellungen und Meinungen mit Riobaldo getauscht hat. Nach der Schlacht auf der Fazenda dos Tucanos schlägt Riobaldo seinem Kampfgefährten Diadorim vor: „Escuta, Diadorim: vamos embora da jagunçagem“ (GS:V, p. 328). Diadorim hält nichts davon und fragt nur: „Riobaldo, você teme?“ (Ebd.). Nach der zweiten und erfolgreichen Liso Durchquerung unter dem Hauptmann Riobaldo ist es nun Diadorim, der nicht mehr Jagunço sein will: „Só, e Deus quem e passe por esta, que indo vou não com meu coração que bate agora presente“ (GS:V, p. 471). Nun liegt es an Riobaldo, am Mut seines Freundes zu zweifeln: „E Diadorim podia ter medo?“ (Ebd). Aber nicht nur die Angst scheint sich plötzlich von Riobaldo auf Diadorim verlagert zu haben, auch andere Charaktereigenschaften haben sich verschoben. Diadorim stellt fest, dass sich Riobaldo nach dessen Pakt, von dem sie selbstverständlich nichts weiß, verändert hat und sagt zu ihm: „você está diferente de toda pessoa, Riobaldo“ (GS:V, p. 412). Überraschenderweise ist es lange Zeit zuvor Riobaldo, der bei seiner ersten Begegnung mit Diadorim findet, dass dieser anders als die anderen sei, eine Vermutung, die jener bestätigt: „Sou diferente de todo o mundo.“ (GS:V, p. 92). Was damals jedoch bewundernd und positiv gemeint ist, erzeugt nun in Riobaldos verändertem Zustand Angst und Befremden. Doch Diadorims Anderssein ist trotzdem endgültiger als der Zustand Riobaldos, Diadorim „é“ differente („sou“), während Riobaldos Verschiedenheit mit „está“ verbunden wird. Dieser grammatikalischen Besonderheit der portugiesischen Sprache zufolge kann man schließen, dass Riobaldos Zustand als Teufelsbündner nur ein vorübergehender ist, dass er seinen Frieden wieder finden wird, während Diadorims substantielle Verschiedenheit nach ihrem Tod manifest wurde. Vor dem letzten und entscheidenden Kampf mahnt Diadorim Riobaldo gut aufzupassen und aus der Schusslinie zu gehen, doch der Jagunçoführer widerspricht seinem Freund: „Aqui é que é meu dever, Diadorim“. (GS:V, p. 516). Trotzdem gelingt es Diadorim seinen Hauptmann zu überzeugen, dass dessen Platz im Haus sei, um von dort die Situation überblicken zu können. Im darauf folgenden Duell mit Hermógenes fällt Riobaldo in Ohnmacht und Diadorim im Kampf. Diese letzte Messerstecherei zwischen den beiden verfeindeten Jagunçoführer wäre tatsächlich Riobaldos Pflicht als Hauptmann gewesen. Diadorim stirbt demnach an seiner Stelle. All diese Beispiele zeigen, dass das Thema des Leben-Tauschens oder Für-einenanderen-Sterben in Riobaldos Monolog sehr präsent ist und in Episoden oder eingeschobenen Erzählungen immer wieder vorkommt. Dadurch wird deutlich darauf hingewiesen, dass es durchaus möglich sein kann, das Leben eines anderen zu führen. Durch magische Hilfe, kann man so sein Leben über den eigenen Tod hinaus verlängern. Riobaldo erwähnt diese Möglichkeit des Paktes, dass einer statt des anderen stirbt und dass einer statt des anderen lebt, sogar explizit. Ziemlich genau in der Mitte des Buches fasst Riobaldo alle seine Gedanken zum Pakt noch einmal zusammen: Ah, pacto não houve. Pacto? Imagine o senhor que eu fosse sacerdote, e um dia tivesse de ouvir os horrores do Hermógenes em confissão. O pacto de um morrer em vez do outro – e o de um viver em vez do outro, então?! Arrenego. E se eu quiser fazer outro pacto, com Deus mesmo – posso? – então não desmancha na rás tudo o que em antes se passou? Digo ao senhor: remorso? (GS: V, p. 273).
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Riobaldo betont, jedoch noch bevor er dem Zuhörer sein Kreuzwegserlebnis erzählt hat, dass es keinen Pakt gegeben hat. Doch gleichzeitig stellt er sich vor, Hermógenes die Beichte abzunehmen und dann von einem Pakt zu hören, durch den Leben getauscht wurden. Riobaldo wagt es gar nicht diesen Gedanken zu Ende zu denken. Trotzdem bleibt diese Möglichkeit sein ganzes Geständnis lang im Hintergrund, sein schlechtes Gewissen rührt nicht nur davon her, den Teufel angerufen zu haben, es wird gleichzeitig durch die Selbstvorwürfe gesteigert, möglicherweise sein eigenes Leben nur dem Tod Diadorims zu verdanken. Dieser Überlegung folgt, einzigartig im ganzen Text, die rhetorische Frage, was denn sei, wenn er sich Gott anvertraue, ob ihm das nicht Erlösung aller seiner Sünden bringen könne. Riobaldo deutet hier erstmals an, dass er eine Möglichkeit sieht, sich selbst als sündiger Mensch zu sehen und trotzdem an die Güte Gottes zu glauben. Doch es reicht dafür nicht aus, einfach auf Gottes unendliche Barmherzigkeit zu warten, denn Gott erwartet sich laut Riobaldo, wenn auch für jeden Einzelnen in unterschiedlicher Weise, dass der Mensch handelt: „O que há é uma certa coisa – uma só, diversa para cada um – que Deus está esperando que esse faça.“ (GS:V, p. 273). Dieses aktive Handeln, das Gott erwartet, ist die Wahl seiner selbst. „Für den von der christlichen Forderung Ergriffenen mündet die Wahl seiner selbst in die Reue“.449 Riobaldo weiß dies und bemerkt gleich nachdem er Gott erwähnt hat, dass dies Reue mit sich führen würde: „Digo ao senhor: remorso?“ Die Reue ist der letzte Schritt in die religiöse Versöhnung, „denn wo das Selbst sich als das vor Gott Letztgültige umfaßt, erfährt er sich als von Gott geschieden und damit sündig.“450 Wie Riobaldos Bewegung hin zum Glauben stattfindet, wird im übernächsten Kapitel mit ständiger Rücksicht auf die Philosophie Kierkegaards, untersucht werden.
449 Søren Kierkegaard, Registerband. Erstellt von Ingrid Jacobsen und Harmut Waechter unter Mitwirkung von
Hayo Gerdes (Düsseldorf/Köln: Diederichs, 1969), p. 133. 450 Ebd.
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VII. Riobaldos Konzept der Zeit
1. Die Freudsche Urhorde – Außerhalb der Zeit Am Beginn eines besonders heißen Junis („o começo do mês de junho“, – GS:V, p. 344) treffen die Jagunços unter der Führung von Zé Bebelo, als eine der letzten Stationen vor Riobaldos Pakt, auf verborgen im Sertão vor sich hinvegetierende Gestalten, so genannten Catrumanos. 451 Da die Jagunços kurz darauf in Coruja ankommen, kann man schließen, dass der Pakt auch noch im Juni stattgefunden hat. Riobaldos gewaltiger Monolog wird ebenfalls in einem Juni gehalten, wie Riobaldo weiter vorne kurz anmerkt, indem er seinen Gesprächspartner auffordert Padrinho Quelemém in Jijujã zu besuchen. „Vai agora, mês de junho.“ (GS:V, p. 46), fügt er hinzu. Es ist demnach wahrscheinlich, dass Riobaldos ausführliche Beichte und Rückschau auf sein Leben, an einem Jahrestag des Paktes gehalten wird. Dies würde gut zu seiner speziellen Zeittheorie der wiederkehrenden Zyklen passen, die im Folgenden erläutert werden soll. Das primitive Volk der Catrumanos, das völlig isoliert in dem Dorf Sucruiú lebt und für die sogar die verwegenen Jagunços ein modernes Brasilien, das sie nicht kennen, darstellen, macht Riobaldo Angst: „E para obra e malefícios tinham muito governo. Aprendi dos antigos. [...] O quem ais digo: convém nunca a gente entrar no meio de pessoas muito diferentes da gente. Mesmo que maldade própria não tenham, eles estão com vida cerrada no costume de sim o senhor é de externos, no sutil o senhor sofre perigos.“ (GS:V, p. 341f.). Riobaldo meint, dass diese Begegnung mit Menschen aus einer eigentlich schon längst vergangenen Zeit und Gesellschaftsform Unglück bringt. Ähneln eigentlich schon die Jagunços in ihrer gesellschaftlichen Struktur einer vorgeschichtlichen Urhorde, so stellen die Catrumanos diese durch einen Sprung in eine andere Zeit tatsächlich dar. „Nos tempos antigos, devia de ter sido assim.“ (GS:V, p. 337), meint auch Riobaldo. Im Dorf der Catrumanos herrschen die Poken, trotzdem reiten die Jagunços, auf ihre Amulette vertrauend, auf die andere Seite des Sumpfes, um dort dann durch das Dorf zu reiten. Riobaldo sieht im elenden Dorf zwar fahle Gestalten jedoch keine von der Krankheit heimgesuchten Menschen und auch keine Toten, er fragt sich: „Soubesse eu onde era que estavam gemendo os enfermos. Onde os mortos? Os mortos ficavam sendo os maus, que condenavam. A reza reganhei, com um fervor. Aquela travessia durou só um instantezinho enorme.“ (GS:V, p. 345). Die Angst vor den bösen Toten bezieht sich hier nicht auf die Krankheit, die noch in diesen steckt, denn schon vorher hält Riobaldo fest: „Parar o bom longe do ruim, o são longe do doente, o vivo longe do morto“ (GS:V, p. 342), diese Weisheit hat Riobaldo von den Menschen der alten Zeiten: „Aprendi dos antigos.“ (GS:V, p. 342). Wer diese „antigos“ 451 Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Kreation Guimarães Rosas. Münchschwander erklärt das Voka-
bel so: „Dies Wort ist, wie ohne weiteres ersichtlich, aus „quatro-manos“ gebildet, bedeutet also „Vierhänder“. Da die Sekte in Höhlen lebt, dürfte die Benennung von Fremden stammen, die eine Tierähnlichkeit der Leute insinuieren wollen.“ (Martin Münchschwander, Form und Figur, p. 139, Anm.59).
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seien, erläutert er nicht. Riobaldo bekämpft seine Angst mit inbrünstigem Beten. Das Durchreiten durch das Dorf ist eine der vielen Überfahrten des Textes. Innerhalb der „Travessia“ ist die Zeit aufgehoben, der Augenblick dehnt sich zu einer Ewigkeit, „um instantezinho enorme“. Die andere Seite des Dorfes bedeutet für Riobaldo jedoch, dass er seinem Pakt mit dem Teufel entgegen reitet. Die von den Catrumanos gezeigte Angst vor den Toten beschreibt Sigmund Freud 452 ähnlich in anderen primitiven Gesellschaften und meint, dass der Tote in der vorgeschichtlichen Urhorde im Allgemeinen als Feind betrachtet wurde. Darum werden die Toten auch heutzutage noch in so genannten „primitiven Kulturen“ viel häufiger als Feinde denn als Freunde angesehen, was in der Überzeugung gipfelt, „dass die Toten mordlustig die Lebendigen nach sich ziehen. Die Toten töten“.453 Dies entspricht fast wörtlich Riobaldos Beobachtung, dass die Toten die Bösen wurden und die anderen zum Tode verdammten: „Os mortos ficavam sendo os maus, que condenavam.“ Die Lebendigen fühlten sich erst dann vor Nachstellungen der Toten sicher, wenn ein trennendes Wasser zwischen ihnen und den Toten war. Daher begrub man die Toten oft auf Inseln oder auf der anderen Seite eines Flusses. Davon stammen auch die Begriffe Diesseits und Jenseits ab. 454 Die Toten der Catrumanos sind anscheinend auch weit weg von der Dorfbevölkerung begraben, denn Riobaldo sieht keine, obwohl er danach Ausschau hält. Nicht nur dieser Ritus zeigt, dass es sich bei den Catrumanos um ein Volk aus der Urzeit handelt: Raça daqueles homens era diverseada distante, cujos modos e usos, mal ensinada. Esses, mesmo no trivial, tinham capacidade para um ódio tão grosso, de muito alcance, que não custava quase que esforço nenhum deles; e isso com os poderes da pobreza inteira e apartada; e de como assim estavam menos arredados dos bichos do que nós mesmos estamos: porque nenhumas más artes do demônio regedor eles nem divulgavam. (GS:V, p. 341).
Es handelt sich also um ein rohes und andersartiges Geschlecht, dass dem Tier näher ist als dem Menschen. Sogar ihre Fähigkeit abgrundtief zu hassen, entspringt noch nicht einem teuflischen Trieb, da das Konzept des Teufels schon ein dualistisches Weltprinzip verlangt, ihre Welt dagegen nur dunkel und böse ist.455 Durch ihre absolute Abgeschlossenheit, haben sie in etwa ein soziales Gefüge wie die Freudsche Urhorde, von der Wilhelm Wundt behauptet, dass „unter den Wirkungen, die der Mythus allerorten den Dämonen zuschreibt, zunächst die unheilvollen überwiegen, so dass im Glauben der Völker sichtlich die bösen Dämonen älter sind als die guten.“456 Deshalb gibt es auch bei den Catrumanos nur böse Dämonen, vor denen sie jedoch nicht nur Angst haben, sondern über die sie auch Macht ausüben können und durch die sie andere Menschen verwünschen können: „E para obra e malefícios tinham muito governo.“ (GS:V, 452 Im Gespräch mit Günter Lorenz spricht Guimarães Rosa von der „importância, espantosa de Freud.“ (Günter
Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 52). 453 Sigmund Freud, ‘Totem und Tabu’, in: ders., Studienausgabe, 9, pp.287-444 (p.349). 454 Vgl. ebd., p. 350. 455 Die frühe monotistische Religion der Hebräer unterscheidet auch noch nicht klar zwischen Gut und Böse:
„early Hebrew thought was characterized by a lack of distinction between good and evil analogous to the early stage of human psychological development when good and evil are not fully differentiated.“ (Jeffrey Burton Russel, Lucifer. The Devil in the Middle Ages (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1984), p. 310. 456 Wilhelm Wundt, ‘Mythus und Religion’, II (Leipzig: 1906), nach: Sigmund Freud, Totem und Tabu, p. 355.
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p. 341). Dieses Treffen mit einer Gesellschaft außerhalb Moral und Zeit, macht Riobaldo Angst. Er fühlt voraus, dass dies der Anfang von großem Trübsal und Leid sei: „que a gente ter encontrado aqueles catrumanos, e conversado com eles, desobedecido a eles – isso podia não dar sorte. A hora tinha de ser o começo de muita aflição, eu pressentia.“ (GS:V, p. 341). Schon das Pech, ihnen begegnet zu sein, war Grund genug, beklommen in die Zukunft zu sehen, meint Riobaldo. Das Treffen wirft gleichsam einen düsteren Schatten voraus, um so mehr, als die Catrumanos, unfähig mit den Jagunços auf andere Weise fertig zu werden, einen Fluch auf diese herabgewünscht haben mussten: „haviam de ter rogado praga.“ (GS:V, p. 341). Riobaldo ahnt schon, dass nach dieser unheimlichen Begegnung bald ein Unglück geschehen würde. Dass dieses Unglück sein Pakt mit dem Teufel ist, war ihm zu jenem Zeitpunkt jedoch noch nicht bewusst.
2. Erinnerung an die Zukunft Nachdem die Jagunços durch das Dorf Sucruiú geritten sind, erfüllt Riobaldo plötzlich ein großes Gefühl der Freiheit und eine Zärtlichkeit zu allen Menschen, denen er jemals begegnet ist. Diese Zärtlichkeit schließt jedoch einen Menschen aus, nämlich Hermógenes, den er plötzlich voller Abscheu hasst. Es handelt sich dabei um einen stärkeren Hass als je zuvor, einen Hass ohne Begründung. Riobaldo erklärt diese unwillkürliche und zwingende Gefühlsregung abermals mit dem Diskontinuum der Zeit: „a ofensa passada se perdoa; mas, como é que a gente pode remitir inimizade ou agravo que ainda é já por vir e nem se sabe? Isso eu pressentia. Juro de ser. Ah, eu.“ (GS:V, p. 346). Unmöglich scheint es, kommende Feindschaft zu verzeihen. Es passiert jedoch nicht zum ersten Mal, dass Riobaldo Hermógenes gegenüber Hass empfindet. Während der Schlacht auf der Fazenda dos Tucanos ist dieser Hass ebenfalls stark vorhanden und auch da ist er abstrakt und nicht kausal erklärbar: „Ódio a se mexer, em certo e justo, para ser, era o meu; mas, na dita ocasião, eu daquilo sabia só a ignorância. À-toa, até, que estava relembrando o Hermógenes. Assim, pensando no Hermógenes – só por precisão de com alguém me comparar.“ (GS:V, p. 318). Riobaldo meint zwar ein Recht darauf zu haben, Hass auf Hermógenes zu empfinden, ohne jedoch zu wissen, warum. Sein Hass ist auch deshalb rätselhaft, weil er schon vor dem Mord an Joca Ramiro genauso stark war wie nachher. Als sich Riobaldo eingesteht Diadorim zu lieben und zu begehren, vergleicht er diese starke Anziehung mit der diesem Gefühl entgegengesetzten, aber ebenso großen Abscheu, die er vor Hermógenes empfindet: „E mesmo forte era a minha gastura, por via do Hermógenes. Malagourado de ódio: que sempre surge mais cedo e às vezes dá certo, igual palpite de amor. Esse Hermógenes – belzebu.“ (GS:V, p. 156). Vor dem Mord an Diadorims Vater fühlt Riobaldo also schon Hass auf Hermógenes, ohne einen Grund dafür zu haben. Diese Vorahnung eines Hasses ist aber genauso stark und real wie rational begründbarer Hass. Nachdem Hermógenes Joca Ramiro ermordet hat, hätte Riobaldo ein Motiv für diesen Hass, doch noch immer behauptet er, nicht zu wissen, woraus dieser Hass sich nähre. Nach der unheimlichen Begegnung mit der Urhorde der Catrumanos meint Riobaldo, den Hass gegen Hermógenes so stark wie nie zuvor zu spüren, doch noch immer gibt es seiner Meinung nach keine Erklärung für diesen Ekel: 149
Aí dele me lembrei, na hora: e esse Hermógenes eu odiasse! Só o denunciar dum rancor – mas como lei minha entranhada, costume quieto definitivo, dos cavos do continuado que tem na gente. Era feito um nojo, por ser. Nem, no meu juízo, para essa aversão não carecia de compor explicação e causa, mas era assim, eu era assim. (GS:V, p. 346).
Doch was ist das für ein Hass, der keine Begründung benötigt? Riobaldo selbst meint, dass der Anlass für diese Feindschaft noch in der Zukunft läge, dass es sich um künftiges, unverzeihbares Unrecht handle, dass ihm angetan werden würde. Da der Mord an Joca Ramiro jedoch schon in der Vergangenheit liegt, kann sich dieses zukünftige Unrecht nur auf Riobaldos Pakt oder auf den, von Hermógenes verschuldeten, Tod Diadorims beziehen. Offenbar hasst Riobaldo den Truppenführer Hermógenes seitdem er ihn kennt, weil ihn dieser zum Teufelsbünder machen würde. An diesem Hass, der schon von Anfang an besteht, ändert der Mord an Joca Ramiro nichts, denn auch nach diesem bleibt der Hass unbestimmt. Riobaldo geht den Pakt ein, um Hermógenes, den er hasst, zu besiegen. Er hasst Hermógenes jedoch, weil er durch diesen zum Paktarier wurde. Hätte er keinen Pakt geschlossen, würde er Hermógenes nicht hassen. Ohne den Hass auf Hermógenes hätte er keinen Pakt gebraucht, um jenen zu besiegen. Doch das Schicksal war für Riobaldo vorherbestimmt, von allem Anfang an hasst er Hermógenes auf unbestimmte Weise. Erst im versuchten Verkauf seiner Seele würde er einen Beweggrund für seinen Hass und Ekel finden. Durch Hermógenes gerät er jedoch nicht nur in Gefahr seine Seele zu verspielen, sondern verliert definitiv seine Geliebte Diadorim, die an seiner statt den letzten Endkampf gegen Hermógenes mit dem Messer ausficht. Riobaldo fällt dabei in Ohnmacht. Während Riobaldos Hass auf Hermógenes längste Zeit einen Grund, der in der Zukunft liegt, hat, liegt Diadorims Motivation für den Kampf gegen Hermógenes in der Vergangenheit und hat keinerlei Gültigkeit in der Gegenwart mehr. Diadorim sagt: „Por vingar a morte de Joca Ramiro, vou, e vou e faço, concoante devo. Só, e Deus que me passe por esta, que indo vou não com meu coração que bate agora presente, mas com o coração de tempo passado ... E digo ...“ (GS:V, p. 471). Für Diadorim geht es weder um die Rache an der Ermordung ihres Vaters Joca Ramiro noch um den Hass auf Hermógenes, es ist die Liebe zu Riobaldo, die sie den Feldzug gegen das Böse weiterführen lässt: „Menos vou, também, punindo por meu pai Joca Ramiro, que é meu dever, do que por rumo de servir você, Riobaldo, no querer e cumprir [...].“ (GS:V, p. 472). Das Kontinuum der Zeit scheint für beide Protagonisten aufgehoben zu sein. Wobei Riobaldos Vermögen, sich an die Zukunft zu erinnern, natürlich ein selteneres Phänomen ist, als sich, wie Diadorim, an der Vergangenheit festzuhalten. Riobaldo sagt von sich selbst: „Eu me lembro das coisas, antes delas acontecerem [...].“ (GS:V, p. 22). Ein wesentliches Detail in Riobaldos Leben hat er jedoch nie vorausgefühlt: „Como foi que não tive um pressentimento?“ (GS:V, p. 175) fragt sich Riobaldo und meint damit die Tatsache, dass Diadorim die ganze Zeit neben ihm lebte und er nicht erkannt hatte, dass sie ein Mädchen war. Diese Frage wiederholt er mehrere Male in seinem Monolog, was für den Zuhörer und Leser zunächst unverständlich bleiben muss. Für Coutinho ist die Frage, „[...]a key element for the understanding of the novel, because it brings up the very issue of per-
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ception and expresses the theme of the relativity of things, present in almost every aspect of the structure of the work.“457 Riobaldo beantwortet die Frage, warum er die Weiblichkeit Diadorims nicht vorausgeahnt hatte, selbst: „Acho que é porque ele estava sempre tão perto demais de mim, e eu gostava demais dele.“ (GS:V, p. 332). Doch ändert diese Aussage nichts an der Relativität aller Dinge, nichts kann man als gegeben und sicher nehmen, alles kann sich jeden Moment ändern, sogar das Geschlecht des Geliebten. Eine Lösung dafür kann nur der Glauben bieten, denn Gott allein ist stetig und unendlich.
3. Die Wiederholungstheorie Riobaldos 3.1. Die zyklische Zeit bei Borges Borges bevorzugt von allen möglichen Formen der ewigen Wiederkehr jene, die in sich unendlich wiederholenden Zyklen besteht, welche jedoch nicht identisch, sondern nur ähnlich sind. Diese Auffassung von Zeit lässt viele literarische Möglichkeiten offen, eine besonders gelungene ist die in der Erzählung „Tema del traidor y del héroe“ gewählte. Hier wird das Schicksal eines „zyklischen Charakters“ erzählt, denn der Lebenslauf des Protagonisten ähnelt dem Cäsars. Die Parallelen zwischen der Geschichte Cäsars und der Geschichte eines irischen Verschwörers lassen den Chronisten auf eine geheime Form der Zeit schließen, auf eine „secreta forma del tiempo, un dibujo de líneas que se repiten.“458 Aber Borges belässt es nicht dabei, er führt die Lehre von der zyklischen Zeit noch weiter: Die Ermordung des Iren ist nicht nur eine Variation der Ermordung Julius Cäsars, sondern auch eine Nachbildung von Shakespeares „Macbeth“. Am Schluss löst der Chronist das Rätsel: Die Ermordung des Verräters ist Teil eines Planes, der der Befreiung des Vaterlandes dient. Dieser Plan ist aber wiederum ein Plagiat der Dramen „Macbeth“ und „Julius Cäsar“ von William Shakespeare. Auf diese Weise schafft es Borges, die Ermordung des irischen Verschwörers nach der Lehre von den Zyklen zu interpretieren und diese Interpretation gleich wieder zu widerrufen: Es gibt doch keine zyklische Zeit, alles ist nur eine Kopie der Tragödien Shakespeares. Auch Riobaldo459 empfindet die Zeit als „un dibujo de líneas que se repiten“, doch für ihn gibt es keine Auflösung für diese beunruhigende Beobachtung, es ist kein Spiel und keine Verschwörung, sondern das Leben selbst, dass sich wiederholt, wenn auch nicht in 457 Eduardo De Faria Coutinho, The „synthesis“ Novel in Latin America, p. 92. 458 Jorge Luis Borges, ‘Tema del traidor y del héroe’, in: ders., Obras Completas, (Barcelona: Emecé: 1989) I,
pp. 496- 498 (p.497). 459 Es gibt zwei größere Arbeiten zur Beziehung zwischen Guimarães Rosa und Borges: Lenira Marques Covizzi,
O insólito em Guimarães Rosa e Borges (São Paulo: Editora Atica, 1978). (Diese Studie untersucht ungewöhnliche, philosophische Elemente in den Erzählungen der beiden Autoren). Vera Mascarenha de Campos, Borges & Guimarães. Na esquina rosada do Grande Sertão (São Paulo: Editora Perspectiva, 1988). (Diese Analyse reduziert Borges auf dessen Gaucho-Erzählungen und will aus ihm dadurch einen “Rosiano-Borges” machen). Beide Arbeiten gehen nicht auf die Frage ein, ob Borges und Guimarães Rosa sich gegenseitig rezipiert haben.
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identischen Zyklen, denn der Fluss der Zeit lässt einen genauso stromabwärts treiben wie ein echter Fluss: Ah, tem uma repetição, que sempre outras vezes em minha vida acontece. Eu atravesso as coisas – e no meio da travessia não vejo! – só estava era entretido na idéia dos lugares de saída e de chegada. Assaz o senhor sabe: a gente quer passar um rio a nado, e passa; mas vai dar na outra banda é num ponto muito mais embaixo, bem diverso do em que primeiro se pensou. (GS:V, p. 26).
3.2. Archetypen In „El sueño de Coleridge“ beschreibt Borges das Entstehen von Colereidges lyrischem Fragment „Kubla Khan“: Coleridge träumt ein Gedicht über Kubla Khan und dessen Palast. Das erstaunliche daran ist, dass auch Kubla Khan den Plan des Palastes geträumt hatte. Borges schließt daraus: „Acaso un arquetipo no relevado aún a los hombres, un objeto eterno (para usar la nomenclatura de Whithead), esté ingresando paulatinamente en el mundo; su primera manifestación fue el palacio; la segunda el poema. Quien los hubiera comparado habría visto que eran esencialmente iguales.“460 Auch Guimarães Rosa glaubt, dass Literatur einen Versuch darstellt, die ewigen und idealen Archetypen in eine fassbare Form zu bringen. Für den brasilianischen Autor sind seine Texte nur Versuche, die Archetypen des Kosmos einzukreisen, daher kann es ohne weiteres vorkommen, dass eine Übersetzung diesem Ideal näher kommt als das brasilianische Original.461
4. Die platonische Ewigkeit Riobaldo lernt von Diadorim auf die Schönheiten der Natur zu achten. Von diesem Zeitpunkt an, sucht er immer wieder seinen Trost im Gesang des Vogels „bem-te-vi“. Da dieser Gesang so wichtig für ihn wird, kommt ihm der Gedanken, ob es nicht immer ein einziger Vogel ist, der ihn verfolgt und der ihm durch sein unendliches Dasein Untaten vorwerfen kann, die er noch gar nicht begangen hat: Mas mais o bem-te-vi. Atrás e adiante de mim, por toda a parte, parecia que era um bem-te-vi só. – “Gente! Não se acha até que ele é sempre um, em mesmo?” – perguntei a Diadorim. Ele não aprovou, e estava incerto de feições. Quando meu amigo ficava assim, eu perdia meu bom sentir. E permaneci duvidando que seria – que era um bem-te-vi, exato, perseguindo minha vida em vez, me acusando de más-horas que eu ainda não tinha procedido. (GS:V, p. 23).
Der Vogelgesang als Beispiel der platonischen Unendlichkeit hat eine lange literarische Tradition. Borges schwankt Zeit seines Lebens zwischen der aristotelischen und platonischen Weltsicht und beschreibt die zweitere im ersten Kapitel der „Historia de la eternidad“ 460 Jorge Luis Borges, ‘El sueño de Coleridge’, in: ders., Obras, II, pp.20-23 (p.23). 461 Vgl. Curt Meyer-Clason, ‘Über das Unübersetzbare’, in: João Guimarães Rosa, Das dritte Ufer des Flusses.
Erzählungen (Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1968), pp.247-266.
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folgendermaßen: „Los individuos y las cosas existen en cuanto participan de la especie que los incluye, que es su realidad permanente.“462 Um diesen Ewigkeitsanspruch der Gattung zu illustrieren, wählt Borges das Beispiel eines Vogelschwarms, den man jeden Morgen hört: In ihm löst sich das Individuum „Vogel“ fast auf, und es gibt nur noch die Gattung. Auch John Keats kommt in seiner „Ode to a Nightingale“ durch einen Vogel auf die Idee Platons, dass die Gattung „Vogel“, die „Vogelheit“, genauso viel Realität besitzt wie der individuelle Vogel. Der 23-jährige, schwindsüchtige Autor schreibt 1819, er höre die Nachtigall, dessen Stimme schon Ruth auf den Feldern Israels vernommen hat: Thou wast not born for death, immortal Bird! No hungry generations tread thee down; The voice I hear this passing night was heard In ancient days by empoeror and clown: Perhaps the self-same song that gound a path Through the sad heart of Ruth, when, sick for home, She stood in tears amid the alien corn; The same that oft-times hath Charm’d magic casements, opening on the foam Of perilous seas, in faery lands forlorn.463
Die zeitgenössischen englischen Literaturkritiker kritisierten den logischen Fehler Keats, das Vogelleben mit dem Leben der Gattung zu tauschen. Dieser Kunstgriff hatte jedoch seine direkten Vorläufer im Deutschen Idealismus. Schopenhauer nimmt nicht das Bild eines Vogels wie Keats, Borges oder Guimarães Rosa, sondern verwendet unter anderem einen Hund, um zu illustrieren, dass er die Gattung über das Individuum stellt: Welch ein unergründliches Mysterium liegt doch in jedem Tiere! Seht das nächste, seht euren Hund an: wie wohlgemut und ruhig er dasteht! Viele Tausende von Hunden haben sterben müssen, ehe es an diesen kam zu leben. Aber der Untergang jener Tausende hat die Idee des Hundes nicht angefochten: Sie ist durch alles jenes Sterben nicht im mindesten getrübt worden.464
Diadorim antwortet Riobaldo, der durch den „bem-te-vi“ Vogel auf ähnliche Gedanken wie Schopenhauer kommt, nicht. Dieses Unverständnis kann durch einen von Borges gern zitierten Ausspruch Coleridges erklärt werden, der sagt, „que todos los hombres nacen aristotélicos o platónicos.“465 Demzufolge wäre Riobaldo ein Anhänger der platonischen Idee, die Diadorim jedoch als aristotelischer Mensch Verallgemeinerung empfindet.
462 Jorge Luis Borges, ‘Historia de la eternidad’, in: ders., Obras, I, pp.351-426 (p.356). 463 John Keats, ‘Ode to a Nightingale’, in: The Poetical Works of John Keats (London: Kegan Paul Trench&Co.,
1884), pp.80 – 82 (p.82). 464 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, II, (Frankfurt am Main: Insel, 1960), p. 617. 465 Jorge Luis Borges, ‘El ruiseñor de Keats’, in: ders., Obras, II, pp. 95-97 (p.96).
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4.1. Borges’ persönliche Ewigkeitstheorie Sowohl in der „Historia de la eternidad“466 von 1936, als auch in „Nueva refutación del tiempo“,467 geschrieben 1944, zitiert Borges, um seine persönliche Theorie der Zeit zu erklären, den Bericht „Sentirse en muerte“ von 1928:468 Der junge Borges geht in einem Grenzbezirk von Buenos Aires spazieren und ist plötzlich ganz alleine auf den Straßen. Die stille Schönheit der schlichten Gasse erfüllt ihn mit Zärtlichkeit und er sagt: „Esto es lo mismo de hace treinta años.“469 Trotzdem glaubt er nicht, dass er wie durch eine Zeitmaschine ins Buenos Aires vor dreißig Jahren versetzt worden ist, vielmehr meint er, die Ewigkeit gesehen zu haben. Die Beobachtung gleicher Gegebenheiten macht die beiden Zeitpunkte zu ein und denselben. Diese einzige Tatsache genügt, das Sukzessive der Zeit zu leugnen und damit die ganze Zeit als Täuschung aufzudecken: „El tiempo, si podemos intuir esa identidad, es una delusión: la indiferencia e inseparabilidad de un momento de su aparente ayer y otro de su aparente hoy, bastan para desintegrarlo.“470 Borges verarbeitet natürlich seine These von der Zeitschlinge, die sich in identen Momenten wieder schließt, und die Zeit dadurch aufhebt, literarisch: „Emma Zunz“ zum Beispiel, ist eine einfache Fabrikarbeiterin, die beschließt, den Tod ihres Vaters zu rächen. Durch die Wiederholung des elterlichen Zeugungsaktes gelangt sie „außerhalb der Zeit“: „Pensó (no pudo no pensar) que su padre le había hecho a su madre la cosa horrible que a ella ahora le hacían.“ 471 Die wichtigen Ereignisse sind immer außerhalb der Zeit, vielleicht, weil die Teile, die sie bilden, nicht in einer Abfolge erscheinen, sondern wie Bilder gleichzeitig nebeneinander stehen können. Dadurch, dass Emma Zunz die Zeit zu einer Wiederholung zwingt, hat sie plötzlich Macht über Leben und Tod bekommen und kann die herkömmliche Ordnung durcheinander bringen und ihren Chef töten.472 Außerhalb jedes gegenwärtigen Einzelmoments gibt es keine Zeit. Durch diese Feststellung wird jede chronologische Festlegung eines Vorfalls willkürlich und äußerlich. Wenn zwei Menschen, durch Generationen getrennt, von einem gelben Schmetterling träumen, so ist dies derselbe Traum. Dadurch, dass jeder Moment absolut ist, gibt es nur dann eine Beziehung zwischen den einzelnen Momenten, wenn sie voneinander wissen. Ein Zustand G ist nur dann gleichzeitig mit einem Zustand H, wenn er sich gleichzeitig mit H weiß. Eine einzige Wiederholung beweist, dass es die Zeit gar nicht gibt. Borges schreibt in „Nueva refutación del tiempo“: „¿No basta un solo término repetido para desbaratar y confundir la historia del mundo, para denunciar que no hay tal historia?“473 466 Jorge Luis Borges, ‘Historia de la eternidad’, pp.365-367. 467 Jorge Luis Borges, ‘Nueva refutación del tiempo’, in: ders., Obras, II, pp.135-149 (pp.142-144). 468 „Sentirse en muerte“ wurde von Borges so wie der gesamte Essayband „El idioma de los argentinos“ (1928)
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verworfen und nach der Erstauflage zu Lebzeiten nicht mehr nachgedruckt. Erst 1994 erschien dieser frühe Essayband wieder neu. Jorge Luis Borges, El idioma de los argentinos (Buenos Aires: Seix Barral, 1994). Jorge Luis Borges, ‘Nueva refutación del tiempo’, p. 143. Jorge Luis Borges, ‘Historia de la eternidad’, p. 367. Jorge Luis Borges, ‘Emma Zunz’, Obras, II, pp.564-568 (p.566). Michail Bachtin sieht in dieser plötzlichen Erhöhung einer Person eine karnevalistische Handlung, die sich aus der Wahl und dem anschließenden Sturz des Karnevalkönigs entwickelt hat. Vgl. Michael M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur (Frankfurt am Main: Fischer, 1990). Jorge Luis Borges, Obras Completas, II, p. 147.
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Riobaldos Philosophie der Zeit ist ähnlich, auch er leugnet eine sukzessive Chronologie der Dinge. Das Leben geschieht nicht fortlaufend, denn jeder Tag ist ein Tag für sich: „‘Vida’ é noção que a gente completa seguida assim, mas só por lei duma idéia falsa. Cada dia é um dia.“ (GS:V, p. 350). Borges beschreibt die selbe Idee in ähnlichen Worten: „El hombre de ayer ha muerto en el de hoy, el de hoy muere en el de mañana.“474 Folgt man der Zeitphilosophie Borges’, dann kann man Riobaldos Treffen mit den Catrumanos, als Wiederholung eines Augenblicks in seiner scheinbaren Vergangenheit und seinem scheinbaren Heute sehen. Dies reicht aus, um die Zeit aufzulösen, wodurch sich die Protagonisten in den Erzählungen von Borges außerhalb der Zeit stellen und dadurch außergewöhnliche Eigenschaften gewinnen. Riobaldo selbst argumentiert ähnlich wie Borges und meint, dass man durch die Wiederholung einer Tatsache einen Sprung vollzieht, der einen plötzlich ganz wo anders hin versetzen kann: „A gente vive repetido, o repetido, e, escorregável, num mim minuto, já está empurrado noutro galho.“ (GS:V, p. 51). Folgt man dieser Argumentation, dann springt auch Riobaldo durch seine Begegnung mit einer nicht mehr existierenden Kultur an eine andere Stelle: Kurz darauf ruft er den Teufel an und wird Hauptmann. Riobaldos Konzept der Zeit ist, wie gezeigt, ein sehr vielseitiges, die Zeit fließt nicht stetig dahin, sondern springt, vergeht in die Zukunft und Zurück, wiederholt sich und ist doch anders. Was diese Ausprägung der Zeit, eine Wiederholung zu ermöglichen, für philosophische Konsequenzen mit sich bringt, soll im nächsten Kapitel mit Hilfe der Philosophie Søren Kierkegaards untersucht werden.
474 Ebd., p. 149.
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VIII. Die Philosophie Søren Kierkegaards in Grande Sertão: Veredas
1. João Guimarães Rosa und Søren Kierkegaard João Guimarães Rosa hat als gläubiger, wenn auch nicht praktizierender Katholik, Interesse an allen religiösen und spirituellen Bewegungen gefunden und intensive Studien über die verschiedensten Religionen betrieben. Aus allen diesen vielen Anregungen heraus kreierte er seine, in den Werken oft deutlich erkennbare, eigene Metaphysik. Eine besondere Vorliebe hat Rosa dabei für den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813-1855), dessen Ethik und Vorstellungen von einem von der irdischen Kirche losgesagten Christentum seinem eigenen Denken sehr nahe kommen. Guimarães Rosa selbst bestätigt seine Sympathie für Kierkegaards Philosophie in einem Brief an Vicente Ferreira, in dem er den dänischen Philosophen zu den ihn am meisten beeinflussenden Philosophen zählt.475 Um Kierkegaards Werke im Original lesen zu können, lernt Rosa, laut einigen Kommentatoren, sogar extra dänisch.476 Er selbst scheint dies im Interview mit Günther Lorenz zu bestätigen: „Quem quiser entender corretamente Kierkegaard tem de aprender dinamarquês; do contrário, nem a melhor tradução o ajudaria.“477 Eigentlich ist diese Aussage jedoch allgemein gehalten und bestätigt nicht, dass er selbst auch dänisch gelernt hat, um Kierkegaard umfassend verstehen zu können. In seiner von Suzi Frankl Sperber aufgelisteten Bibliothek, findet sich jedoch ein Dänisch-Sprachbuch: Forchhammer, Henni: Le Danois parlé, Heidelberg, Jules Groos, 1911.478 Das lässt schon darauf schließen, dass sich Guimarães Rosa wenigstens mit den Grundzügen der dänischen Sprache beschäftigt hat. Von Kierkegaard finden sich in dieser Liste seiner Bibliothek nur zwei Bände und diese nicht in der Originalsprache, sondern in französischer Übersetzung: Kierkegaard, Søren: Les miettes philosophiques, trad. Paul Petit, „Le Caillou Blanc“, Paris, Éd. du Livre Français, 1947.479 Und: Kierkegaard, Søren: Journal (Extraits) 1834 – 1846, trad. Knud Ferlov et Jean – J. Gateau, „Les Essais“ – XI, Paris, Gallimard, 1950.480 Suzi Frankl Sperbers Auflistung von Guimarães Rosas Bibliothek enthält nur etwa 1200 Bücher. Dies reicht zwar aus, um einen Einblick in die Lesegewohnheiten und Vorlieben des Autors zu erlangen, doch ist es wahrscheinlich, dass Rosa im Lauf seines lesebegeisterten Lebens mehr Bücher besessen hat als seine nun im „Arquivo João Guimarães Rosa“481 aufgestellte Bibliothek belegt. Auch über die Zusammenstellung von Kierkegaards Bibliothek hat man gute Kenntnisse. Deshalb bietet es sich an, die Vorlieben der beiden Autoren zu vergleichen und eventuelle Gemeinsamkeiten im Bücherkauf festzuhalten.
475 476 477 478 479 480 481
In: ‘Cavalo Azul’, No 3, (São Paulo: s/d), nach: Suzi Frankl Sperber, Caos e cosmos, p. 15. Vgl. Werner Rosenfeld, ‘Guimarães Rosa und die deutsche Kultur’, p. 30. Günther Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 51. Nach: Suzi Frankl Sperber, Caos e cosmos, p. 173. Nach: Suzi Frankl Sperber, Caos e cosmos, p. 180. Ebd., p. 181. Dieses Archiv befindet sich im „Instituto de Estudos Brasileiros, Universidade de São Paulo“.
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Von Kierkegaards Bibliothek ist das Auktionsprotokoll vom Kopenhagener Auktionshaus, das seine Buchsammlung im April 1856 versteigerte, erhalten.482 In jenem sind etwa zweieinhalbtausend Bände aufgelistet, ohne dabei natürlich eine vollständige Dokumentation über alle von Kierkegaard tatsächlich besessenen Büchern darstellen zu können. Trotzdem ist die Liste eine wertvolle Quelle, die Auskunft über die Zusammenstellung von Kierkegaards Bibliothek geben kann: Ungefähr die Hälfte der Sammlung besteht aus theologischen Titeln. Weiters besaß er die meisten wichtigen klassischen griechischen und lateinischen Texte im Original und in verschiedenen, meist deutschen, Übersetzungen. Die Liste enthält nur wenig zeitgenössische Literatur, auch dänische Autoren scheinen nicht viele auf. Andererseits besaß Kierkegaard neben den gesammelten Werken Goethes auch noch einige Einzelbände des deutschen Autors. Er hatte viele Werke der Deutschen Romantik und weiters Bücher der wesentlichen Europäischen Autoren von Dante bis Rousseau, oft in deutschen Übersetzungen. Dass Kierkegaard Studien zu Volkssagen und -erzählungen betrieb, sieht man an einer beträchtlichen Anzahl an Folklore- und Volksliedsammlungen aus verschiedenen Ländern. Natürlich enthält die Liste auch viele Referenz- und Nachschlagewerke. Rosas Bibliothek konzentriert sich ebenfalls auf die Theologie. Auch er besaß die wichtigsten klassischen griechischen und lateinischen Texte, meist in französischer Übersetzung. Im Gegensatz zu Kierkegaard interessierte sich Guimarães Rosa sehr für die zeitgenössische Literatur, er hat eine umfangreiche Sammlung moderner brasilianischer Autoren. Rosa besitzt einzelne Bände von Goethe und Schiller und auch einige deutsche Romantiker, doch von niemandem die gesammelten Werke. Ein großer Teil der Bibliothek ist der Volkskunde, vor allem der Brasiliens, gewidmet. Wie zu erwarten, gibt es Bücher, die in den Bibliotheken beider Autoren vertreten sind. Da es sich dabei aber zum großen Teil um Klassiker der Weltliteratur handelt, kann man aus dieser Schnittmenge alleine noch nicht auf eine gemeinsame Philosophie der beiden Schriftsteller schließen. Die folgende Liste der in den Buchsammlungen beider Schriftsteller vertretenen Autoren, zeigt vor allem eine gewisse Vorliebe für Autoren der klassischen Antike auf. Um die Aufzählung nicht zu umfangreich werden zu lassen, wird auf eine Auflistung aller gemeinsamen Werke verzichtet, der Hinweis auf die in beiden Bibliotheken gefundenen Autoren reicht aus, um das jeweilige Interessensgebiet zu bekunden. Wenn nicht anders angegeben, handelt es sich bei den in beiden Bibliotheken vertretenen Werken um Ausgaben in der Originalsprache, andernfalls wird in Klammer die übersetzte Sprache angeführt: Die Bibel, nach der Übersetzung Martin Luthers. Biblia Sacra, Vulgatae Editionis. Caesar (Guimarães Rosa in französischer Übersetzung). Cervantes Saavedra, Miguel de (Guimarães Rosa in portugiesischer Übersetzung, Kierkegaard in deutscher). Chamisso, Adalbert von Cicero (Guimarães Rosa in französischer Übersetzung). 482 Auktionsprotokol over Søren Kierkegaards Bogsamling, hg. von H. p. Rohde (København: Det Kongelige
Bibliothek, 1967).
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Descartes, René (Guimarães Rosa auf Französisch, Kierkegaard auf Latein). Erasmus von Rotterdam (Guimarães Rosa in französischer Übersetzung). Goethe, Johann Wolfgang von (Guimarães Rosa teilweise auch in französischer Übersetzung). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Guimarães Rosa in französischer Übersetzung). Homer (Guimarães Rosa auf Englisch, Französisch und Deutsch). Horaz (Guimarães Rosa auf Französisch). Jean Paul (Guimarães Rosa auf Französisch). Kant, Immanuel (Guimarães Rosa auf Französisch). Der Koran (Guimarães Rosa in einer spanischen und in einer französischen Übertragung, Kierkegaard in einer deutschen Ausgabe). Marc Aurel (Guimarães Rosa auf Französisch). Moliére (Kierkegaard in einer dänischen Übersetzung). Montaigne, Michele de (Kierkegaard in einer deutschen Übersetzung). Novalis (Guimarães Rosa teilweise in einer französischen Übersetzung). Ovid (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung). Pascal, Blaise (Kierkegaard in einer deutschen Übersetzung). Petrarca (Guimarães Rosa auf Französisch, Kierkegaard auf Deutsch). Platon (Guimarães Rosa auf Französisch und Englisch, Kierkegaard teilweise auf Deutsch). Plotin (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung). Plutarch (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung). Rousseau, Jean-Jacques (Kierkegaard teilweise auf Deutsch). Schiller, Friedrich (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung). Schopenhauer, Arthur Seneca (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung). Shakespeare, William (Kierkegaard auf Dänisch und Deutsch). Silesius, Angelus (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung). Sterne, Laurence (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung, Kierkegaard in einer deutschen Übersetzung). Swift, Jonathan (Kierkegaard in einer deutschen Übersetzung). Tacitus (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung). Theophrast (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung). Virgil (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung, Kierkegaard in einer deutschen Übersetzung). Xenophon (Guimarães Rosa in einer französischen Übersetzung, Kierkegaard auf Griechisch, Lateinisch und Deutsch).483 Außer diese sowohl in der Bibliothek Guimarães Rosas als auch in der von Søren Kierkegaard vertretenen Autoren, haben die beiden Schriftsteller auch noch ihr Interesse für die 483 Auch wenn Guimarães Rosa während seines Lebens wahrscheinlich mehr als die von Suzi Frankl Sperber
erfassten 1200 Bücher besessen hat, so zeigt sich doch an ihrer Auflistung seiner Bibliothek, aber auch schon in dieser kleinen Liste der von Guimarães Rosa und Søren Kierkegaard gemeinsam gelesenen Schriftsteller, dass sich die vom brasilianischen Autor kolportierten acht Sprachen, die er eigenen Angaben zufolge gelernt hatte, um die ihm wichtigen Werke in den jeweiligen Originalsprachen zu lesen, auf ein paar wenige europäische Sprachen reduzieren.
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Theologie gemein, was sich unter anderem dadurch zum Ausdruck bringt, dass beide theologische Zeitschriften bezogen haben. João Guimarães Rosa war besonders am Anfang der 60er Jahre ein interessierter Leser des „Christian Science Journal“, das in Boston als Organ einer esoterischen Gruppe (oder sogar Sekte) sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch unter dem Titel „Der Herold der Christlichen Wissenschaft“ erschienen ist. Rosa besaß sowohl englische als auch deutsche Ausgaben dieser Zeitschrift. Søren Kierkegaard war ebenso Leser verschiedener theologischer Journale, vor allem aber der „Zeitschrift für Philosophie und speculative Theologie“, die er von 1837-1848 und 1853-1855 regelmäßig bezog. Für die brasilianische Zeitung „Correio da Manhã“ schreibt Guimarães Rosa einen Artikel, in dem er auf vergnügliche Weise berichtet, wie sein dänischer Freund Kai Jensen für die skandinavische Fluglinie SAS den ersten Flug nach Südamerika organisiert und dem Jungfernflug Kolibris für den Kopenhagener Zoo mitgibt. Über Lautsprecher wird im Flughafen stolz verlautbart: „Koebenhvn [sic] taler! Her kommer kolibrier fra Brasilien!“484 In diesem Artikel schreibt Rosa von Dänemark als der „terra de Hamlet“485. In diesem Land gibt es hübsche Mädchen: „Mais louras deviam estar as lindas dinamarquesas.“486 Guimarães Rosa geht in diesem Zeitungsartikel offensichtlich nicht weit über verbreitete Klischees hinaus, trotzdem zeigt er eine gewisse Vertrautheit mit dem Land und der dänischen Sprache. Diese Aussagen und objektiven Daten, die das Interesse des brasilianischen Autors an dem Werk des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard bezeugen sollen, sind zwar nicht sehr zahlreich, in Anbetracht des allgemeinen Mangels an biographischem Material über Guimarães Rosa jedoch trotzdem von signifikanter Bedeutung. Darüber hinaus gibt es noch eine private Vorliebe für Dänemark, wo er öfters den befreundeten in Kopenhagen stationierten brasilianischen Botschafter besucht, dessen Sohn der erste Ehemann seiner Tochter Vilma werden sollte.487 Kierkegaard dagegen zeigt in seinem weiten Gesamtwerk kein besonderes Interesse an Brasilien, doch eine kleine Beziehung gab es doch zwischen der Familie Kierkegaard und dem großen südamerikanischen Land: Søren älteste Schwestern Nicoline Christine und Petrea Severine heirateten die Gebrüder Johan Christian und Henrik Ferdinand Lund, deren Bruder Peter Wilhelm Lund wiederum im Jahr 1824 für drei Jahre nach Brasilien fuhr, um dort meteorologische, biologische und zoologische Studien für die Gesellschaft der Wissenschaften vorzunehmen. Am 1. Juni 1835 beginnt Søren einen mehrere Seiten langen Brief, in dem er über die Wahl seines Studiums nachdenkt, an den Naturforscher Peter Wilhelm Lund folgendermaßen: „Sie wissen, mit welcher Begeisterung ich Sie seinerzeit reden hörte; welchen Enthusiasmus ich zeigte für Ihre Beschreibung Ihres Aufenthalts in Brasilien“.488 Lund war nach seinem ersten Aufenthalt in Brasilien von April bis Dezember 1829 484 João Guimarães Rosa, ‘Histórias de fadas’, Correio da Manhã. 20. 4. 1947, nach: Vizente Guimarães,
485 486 487 488
Joãozito, pp.140-151 (p.151). Am Rand des Zeitungsartikels notiert Guimarães Rosa für seinen Onkel Vizente, der Kinderbuchautor ist: „Mas eu acho que você poderá ser o Andersen brasileiro.“ (Ebd., p. 153). Vizente Guimarães, Joãozito, p. 149. Ebd., p. 150. Nach einem persönlichen Gespräch mit Vilma Guimarães Rosa am 13. September in der Brasilianischen Botschaft in London. Søren Kierkegaard, Briefe, 35. Abteilung, p. 1.
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und dann wieder von Juli 1831 bis Oktober 1832 in Kopenhagen, es muss also zu dieser Zeit gewesen sein, dass Kierkegaard den weitgereisten Verwandten von Brasilien erzählen gehört hat. Lund fährt bald wieder nach Brasilien, wo er sich nach verschiedenen Studien in Rio de Janeiro und Curvelo in Lagoa Santa niederlässt, um dort die örtlichen Kalksteinhöhlen zu untersuchen. Dorthin geht dann wahrscheinlich auch das erste Buch Kierkegaards, das jemals Brasilien erreicht hat, denn am 27. Februar 1843 schreibt Sørens Schwager Henrik Lund an seinen Bruder Peter Wilhelm: „Bei der ersten besten Gelegenheit werde ich Dir ein Buch von hier aus schicken, das viel Aufsehen erregt hat und ‚beinahe von jedem gebildeten Menschen’ gelesen wird. Der Titel heißt Entweder-Oder, und man vermutet, daß Søren der Autor ist.“489 An einer Stelle kommt dieses dem protestantischen Dänemark des 19. Jahrhunderts so unendlich ferne Land sogar im schriftstellerischen Werk Søren Kierkegaards vor: Emanuel Hirsch, der Mitherausgeber der deutschen Kierkegaardausgabe, meint in den ungeordneten frühen Schriften aus dem Nachlass, ein Konzept für ein literarisches Projekt mit dem Namen „Faustbriefe“ gefunden zu haben. Alastair Hannay schreibt in seiner umfassenden Kierkegaardbiographie, ohne explizit auf ein literarisches Projekt Kierkegaards einzugehen, ebenfalls von dessen großem Interesse an Faust in der Zeit vor 1837.490 In diesen frühen literarischen Briefen, die ein Faustbuch ergeben sollten, befindet sich einer, in dem eine Witwe just am Tag ihrer Wiederverheiratung einen Beileidsbrief von ihrem Bruder, der „Hauptmann in brasilianischen Diensten“ 491 ist, bekommt. Kierkegaard verwendet hier Brasilien wohl als Synonym für „unendlich fern“, um damit den etwas grotesken Zufall, am Hochzeitstag ein Beileidsschreiben des eigenen Bruders zu bekommen, eine nachvollziehbare Logik zu geben. Allem Anschein nach, beschränkt sich die Stellung Brasiliens in Kierkegaards philosophischem Werk auf diese eine Nennung. Inwieweit es zu einer echten produktiven Rezeption der Philosophie Kierkegaards in den Erzählungen und Romanen Guimarães Rosas gekommen ist, ist ohne eine genaue Kenntnis seiner Lesegewohnheiten nicht beantwortbar. Es bleibt die Hoffnung auf eine baldige Veröffentlichung seiner Tagebücher und Briefe. Die offensichtlichen Analogien zwischen dem Denken Kierkegaards und den Überlegungen Riobaldos in Grande Sertão: Veredas, verdeutlichen eine oft erstaunliche Verwandtschaft zwischen Guimarães Rosas „metafísica pessoal“ und der Ethik des protestantischen Dänen. Der Erste, der einen Bezug zwischen dem Werk João Guimarães Rosas und der Philosophie Søren Kierkegaards hergestellt hat, war Rosa selbst, der in dem berühmten langen Gespräch, das er mit Günter Lorenz führte, sein Interesse an Kierkegaards Philosophie bekundete. Eigentlich verachtet Rosa die Philosophie an sich, da sie seiner Meinung nach unpoetisch sei, doch Unamuno und Kierkegaard sind eine Ausnahme, denn sie schufen sich aus der Sprache ihre eigene Metaphysik: „A filosofia é a maldição do idioma. Mata a
489 Nach: Joakim Garff, Sören Kierkegaard. Biographie. Aus dem Dänischen von Herbert Zeichner und Hermann
Schmid (München, Wien: Carl Hanser Verlag, 2004), p. 258. 490 Vgl. Alastair Hannay, Kierkegaard. A Biography (Cambridge: Cambridge University Press, 2001), pp.58-87. 491 Søren Kierkegaard, ‘Bruchstücke eines ersten literarischen Entwurfs’ (Briefe eines jungen faustischen Zweif-
lers 1837), in: ders., Erstlingsschriften. Gesammelte Werke (Gütersloh: Gütersloher Taschenbücher, Siebenstern: 1993), 30. Abteilung, pp.111-137 (p.122).
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poesia, desde que não venha de Kierkegaard ou Unamuno, mas então é metafísica.“492 Trotz dieses klar ausgedrückten Interesses Rosas an Kierkegaard und der teilweise offensichtlichen Parallelen in der Ethik der beiden Autoren, ist der Einfluss der Philosophie Kierkegaards auf das Werk João Guimarães Rosas bis jetzt noch nicht Thema einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Danielle Corpas ist die, meines Wissens, bis heute einzige, die in einem kurzen Artikel auf ein paar Parallelen zwischen João Guimarães Rosa und Kierkegaard, vor allem das philosophische Konzept der Wiederholung betreffend, hinweist, aber schon nach vier Seiten mit dem Topos des zu geringen Raumes endet: „Poderíamos extrair importantes implicações deste aspecto da „metafísica pessoal“ apresentada no Grande sertão: veredas. Embora isso esteja além da abrangência a que se propõe este trabalho.”493 Im Folgenden soll nun diese „metafísica pessoal“ Rosas an Hand von Riobaldos Lebensphilosophie, in der man viele Gedankengänge und Überlegungen Søren Kierkegaards wieder erkennen kann, dargestellt werden. Erstaunlicherweise gibt es sogar biographische Parallelen zwischen dem fiktiven Sertãobewohner Riobaldo und dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard.
2. Biographische Parallelen zwischen Kierkegaard und Riobaldo Sowohl bei Riobaldo als auch bei Kierkegaard sind Denken und Zweifeln so eng mit deren Biographie verknüpft, wie selten bei Romanfiguren oder Philosophen. Immer wieder kreisen ihre Betrachtungen um nur wenige wesentliche Ereignisse aus ihren Leben, das eine fiktiv, das andere real. Die oft eigentümlich wirkenden Motive aus dem weiten Werk Kierkegaards erklären sich aus der komplizierten Beziehung zu dessen Vater und aus der unglücklichen Verlobung mit seiner einzigen großen Liebe Regine Olsen. „However, perhaps more than the work of any other contributor to the Western philosophical tradition, these writings are so closely meshed with the background and details of the author’s life that knowledge of this is indispensable to their content.“494 So wie Riobaldo seine persönlichen Probleme und seine innere Not dem Zuhörer von der Küste offenbart, hat auch Kierkegaard sein, für ihn, ethisch-moralisch verwickeltes Privatleben durch die Veröffentlichungen seiner Schriften im provinziellen Kopenhagen des 19. Jahrhunderts, zu einem Gegenstand des öffentlichen Diskurses gemacht. Teile seiner philosophischen Schriften sind einfach aus den Tagebüchern übernommene Stellen495 und richten sich oft nur an eine einzige Leserin, an Regine Olsen496. Viele Ergebnisse des Denkens Kierkegaards wer492 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa.’, p. 33. 493 Danielle Corpas, ‘A „Reprise“ de Kierkegaard no Grande Sertão: Veredas’, in: Veredas de Rosa“, pp.168-172
(p.171). 494 Alastair Hannay, Kierkegaard, p. i. 495 Vgl. z. B. Søren Kierkegaard, Berliner Tagebuch, aus dem Dänischen und herausgegeben von Tim
Hagemann, (Berlin/Wien: Philo, 2000), p. 81, Anmerkung 26. 496 Vgl. z. B. Søren Kierkegaard, ‘Furcht und Zittern’, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Emanuel Hirsch und
Hayo Gerdes, 4. Abteilung, p. 16, dazu Anmerkung 18; oder: Søren Kierkegaard, Tagebücher, 3, ausgewählt, neugeordnet und übersetzt von Hayo Gerdes (Düsseldorf/Köln: Diederichs, 1968), p. 307. Zum Thema Regine Olsen als Leserin der Werke Kierkegaards vgl. auch den philosophisch-historischen Roman: Finn Jor, Søren
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den erst durch Kenntnis seiner Lebensgeschichte verständlich, umgekehrt jedoch geht die Bedeutung seiner Philosophie natürlich über die einer nachdenklichen Autobiographie weit hinaus. Bei Riobaldo sind Leben und Denken noch enger verknüpft, denn wie schwer nachvollziehbar seine Überlegungen ohne die Kenntnis seines Lebenslaufes, insbesondere des Paktes sind, merkt man an den unzusammenhängend wirkenden ersten achtzig Seiten des Romans, in denen er alle philosophischen Gedanken seines Daseins präsentiert, ohne jedoch noch sein Leben in den wichtigsten Stationen nacherzählt zu haben.
2.1. Des Vaters Gottesfluch – Riobaldos Pakt Riobaldos Geburt ist die Frucht einer kurzen, im Dunkeln liegenden Vereinigung einer armen Sertaneja mit einem reichen Fazendeiro: „Não me envergonho, por ser de escuro nascimento. [...] Homem viaja, arrancha, passa: muda de lugar e de mulher, algum filho é o perdurado.“ (GS:V, p. 31). Später stellt sich heraus, dass Riobaldos Pate, Selorico Mendes, sein leiblicher Vater ist, der ihm in seinem Testament zwei seiner drei Fazendas vermacht.497 Auf einer dieser Fazendas lebt Riobaldo nun nach seinem aktiven Leben als Jagunço mit seiner Ehefrau Otacília und sinniert tagtäglich über dem Problem, ob er schuldig oder nicht schuldig sei. Auch Kierkegaard entstammt, so wie Riobaldo, aus der Vereinigung einer Armen mit einem Reichen: bei Kierkegaards Vater liegt die Vermutung nahe, dass er ein außereheliches Verhältnis mit einer armen Magd hatte, doch dieses Verhältnis lässt sich im protestantischen Dänemark des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht wie im brasilianischen Sertão des ausgehenden 19. Jahrhunderts498 mit einem saloppen, ein Mann „wechselt den Ort und die Frau, das was bleibt ist ein Sohn“ abtun. Michael Pedersen Kierkegaard (1756-1838) heiratet 1794, aber seine Frau stirbt schon zwei Jahre später, ohne Kinder bekommen zu und Regine. Kierkegaard und seine unerfüllte Liebe (München: Piper, 2000). Obwohl das Interesse an Kierkegaard im Allgemeinen immer größer wird und die Sekundärliteratur zu seinem Werk stetig anwächst, ist die bibliographische Situation Kierkegaards im deutschsprachigen Raum eher unbefriedigend. Konrad Paul Liessmann behauptet demnach völlig zu Recht: „Die von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und anderen herausgegebenen Gesammelten Werke [...] [sind] zwar mit einem ausreichenden Kommentar versehen, aber von der Übersetzung her antiquiert und problematisch“. (Konrad Paul Liessman, Kierkegaard zur Einführung (Hamburg: Junius, 1993), p. 156). Trotzdem wird im Folgenden aus dieser Ausgabe zitiert. In manchen Fällen wird das Dänische Original zum Vergleich beigestellt oder parallel dazu auch aus der Übersetzung Liselotte Richters zitiert. (Zu Beginn der sechziger Jahre erschien in der Reihe „Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft“ eine fünfbändige Auswahl aus Kierkegaards Werk in der sehr guten und werktreuen Übersetzung von Liselotte Richter. Diese Ausgabe wurde Mitte der 80er Jahre bei Syndikat/EVA wieder aufgelegt, aus welcher zitiert wird). 497 Willi Bolle meint, dass man in der zufälligen Vereinigung von Riobaldos Eltern, dem reichen Selorico Mendes und der armen Frau Bigrí, durchaus auch eine Allegorie auf die Entstehung Brasiliens sehen kann. (Willi Bolle, ‘O pacto no Grande Sertão’, p. 41-42). 498 Laut Taufregister ist Maria Deodorina da Fé Bettancourt Marins (Diadorim) am 11. September „1800 e tantos“ (GS:V, p. 535) geboren. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass auch Riobaldo noch im 19. Jahrhundert geboren wurde. Serra Costa bemerkt an dieser Stelle, dass Diadorim im Sternzeichen der Jungfrau geboren wurde, „que tem por planeta regente Vênus [...] o símbolo do feminino.“ (Tania Rebelo Serra Costa, Riobaldo Rosa, p. 126).
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haben. Ein Jahr nach ihrem Tod heiratet er wieder, und zwar seine Dienstmagd, die schon vier Monate später eine Tochter auf die Welt bringt. Der Verdacht liegt nahe, dass Sørens Vater schon vor dem Tod seiner Frau eine Beziehung zu dem Mädchen hatte. Diesen Verdacht hegt auch Søren selbst, dem ständig eine dunkle Ahnung zusetzt, „dass mit dem Vater irgend etwas nicht so war, wie es sein sollte, und dass des Vaters Frömmigkeit eine Art Bankrotterklärung sei und nicht ein Vertrauen auf die Erlösung.“499 Da Søren Kierkegaard in den ersten Jahren seiner Tagebuchaufzeichnungen mehr allgemeine Gedanken als seine wirklichen Erlebnisse niederschreibt,500 bleiben Vermutungen über diese Zeit von viel späteren Andeutungen aus den Tagebüchern abhängig. Da jedoch sein philosophisches Werk stark mit autobiographischen Stellen durchsetzt ist, kann man auch dort nach einer Erklärung für die Verzweiflung des Vaters suchen. Die 1845 von dem Pseudonym Hilarius Buchbinder herausgegebenen Studien „Stadien auf des Lebens Weg“ enthalten einen, von dem Pseudonym Frater Taciturnus geschriebenen, Abschnitt mit dem Titel „Salomos Traum“. In diesem erfährt die Beziehung zwischen Salomo und seinem Vater David eine überraschende Wendung, als der schlaflose Salomo eines Nachts zufällig den aus seiner reuenden Seele verzweifelt schreienden David beobachtet. Salomo ahnt, dass seinen Vater ein Geheimnis bedrückt, er vermutet: „Gott ist nicht der Frommen Gott, sondern der Gottlosen, und ein Gottloser muß man werden um der Auserwählte Gottes zu sein, und des Traumes Grauen ist dieser Widerspruch.“501 Diese Vermutung, dass man gottlos werden muss, um der Auserwählte Gottes zu werden, erinnert stark an Riobaldos so ambivalente Situation nach dem Pakt, in der er, obwohl er durch die Anrufung des Teufels abfällig von Gott geworden ist, plötzlich messianische Züge bekommt und seine Mission gegen das Böse siegreich zu Ende zu führen vermag. Emanuel Hirsch meint in seinen Anmerkungen zu „Stadien auf des Lebens Weg“ jedoch Kierkegaards Vater betreffend, dass man hier an dieser Stelle eine zu autobiographische Interpretation unterlassen sollte: „Wer die Wurzel von Kierkegaards Jugendkrise in dem Ärgernis an der Religiosität des Vaters aufdecken will, hat sich allein an das Erdbeben zu halten und auf die Verwendung von Salomos Traum völlig zu verzichten.“502 Es ist aber eigentlich nicht von allzu großer Bedeutung, ob der alte Kierkegaard durch seinen jüngsten Sohn zufällig nächtlich belauscht wurde oder nicht, wesentlich ist, dass Søren ein Geheimnis hinter der unruhigen Religiosität seines Vaters vermutet. Je älter Michael Pedersen Kierkegaard wird, desto schwerer scheint diese ihm unverzeihlich scheinende Sünde, allem Anschein nach der sexuelle Fehltritt mit seiner Dienstmagd, auf ihm zu lasten. Obwohl der Vater Sørens Studium finanziert und diesen des Öfteren ermahnt endlich sein Staatsexamen zu machen, hält ihn sein Sohn immer wieder mit verschiedenen Ausre499 Nach: Peter p. Rohde, Kierkegaard, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Reinbeck bei Hamburg:
Rowohlt, 1959), p. 24. 500 Wie weiter oben erwähnt, beginnt auch Riobaldos Bericht mit allgemeinen Gedanken, um dann erst ab Seite
84, wenigstens in groben Zügen, eine chronologische Erzählform anzunehmen. 501 Søren Kierkegaard, ‘Stadien auf des Lebens Weg’, Band 2, in: ders., Gesammelte Werke, 15. Abteilung, p.
265. 502 Ebd., p. 264, dazu Anmerkung 266, p. VIII.
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den hin. Als der in seiner engen religiösen Welt gefangene und nörgelnde Mann für Søren zu erdrückend wird, flüchtet er Mitte der dreißiger Jahre aus dem väterlichen Haus und beginnt das Leben eines Bohemiens zu führen, ohne dadurch seiner eigenen Schwermut entfliehen zu können. Auch wenn es in Folge wieder zu einer Annäherung zwischen Vater und Sohn kommt, sollte Søren Kierkegaard erst nach dem Tod seines Vaters, vom schlechten Gewissen gepackt, sein Theologiestudium, dann jedoch innerhalb kürzester Zeit, beenden. Auch Riobaldo bekommt die Schulausbildung von seinem Vater finanziert, aber auch er flüchtet aus dessen Haus ohne diese Ausbildung beendet zu haben. War Sørens Grund das väterliche Haus zu verlassen des Vaters schwermütige Religiosität, die anscheinend durch den vorehelichen Kontakt zu seiner Mutter ausgelöst worden war, so wird Riobaldos Flucht dadurch erklärt, dass er erkennen muss, dass sein vermeintlicher Pate außerehelichen Kontakt zu seiner Mutter hatte und dadurch in Wirklichkeit sein leiblicher Vater ist. Riobaldo kann mit dieser für ihn neuen Situation nicht umgehen und flüchtet. Er sollte seinen Vater nie mehr wieder sehen. Dieser aber verfolgt aus der Ferne das weitere Leben seines Sohnes und ist begeistert, als er vernimmt, dass jener ein Jagunço geworden ist. Stolz setzt er Riobaldo als Erben ein. Viel später erkennt der monologisierende Riobaldo, wenn auch nicht mehr zu Lebzeiten seines Vaters, wie eng seine Beziehung zu jenem eigentlich gewesen ist und wie viel sie sich gegenseitig nie gesagt hatten: „Agora, derradeiramente, destaco: quando velho, ele penou remorso por mim; eu, velho, a curtir arrependimento por ele. Acho que nós dois éramos mesmo pertencentes.” (GS:V, p. 97). Kierkegaards Vater versucht ein solches Schicksal zu vermeiden und sucht noch zu Lebzeiten eine Aussprache mit seinen Söhnen. Alleine in seinem großen Bürgerhaus wird er immer verzweifelter und bekümmerter, von seinen sieben Kinder sind bis 1835 fünf gestorben, wobei keines älter als dreiunddreißig Jahre alt wurde, so alt wie Jesus bei seinem Tod. Nun liegt Sørens sieben Jahre älterer Bruder Peter Christian mit einer schweren Krankheit danieder, von der er sich jedoch erholen sollte, und das jüngste seiner Kinder, Søren, gibt sich dem Müßiggang hin. Für den besorgten Vater steht fest, dass er auch seine letzten beiden Söhne überleben werden würde und dass diese vor Erreichen des vierunddreißigsten Geburtstags sterben würden. Er beschließt sich seinen Söhnen mitzuteilen und zu beichten, dass seine Verfehlung nicht nur in der, damals noch außerehelichen, Beziehung zu seiner zweiten Ehefrau läge, sondern, dass er als Kind die schrecklichste aller Sünden begangen habe: er habe Gott verflucht. Das ist, was Kierkegaard in einer rückblickenden Tagebucheintragung aus dem Jahr 1839 als das „große Erdbeben“ bezeichnet hatte. Stattgefunden hat es wahrscheinlich im Herbst 1835. Damals war es, dass das große Erdbeben eintrat, die furchtbare Umwälzung, die mir plötzlich ein neues, unfehlbares Deutungsgesetz sämtlicher Erscheinungen aufzwang. Da ahnte ich, dass meines Vaters hohes Alter kein göttlicher Segen sei, sondern eher ein Fluch; dass die hervorragenden Geistesgaben unserer Familie nur da seien, um einander gegenseitig aufzureiben; da fühlte ich die Stille des Todes um mich wachsen, wenn ich in meinem Vater einen Unglücklichen sah, der uns alle überleben sollte, ein Grabkreuz auf dem Grabe all seiner eigenen Hoffnungen. Eine Schuld mußte auf der ganzen Familie liegen, eine Strafe Gottes über ihr sein; sie sollte verschwinden, ausgestrichen werden von Gottes gewaltiger Hand, ausgelöscht werden von Gottes gewaltiger Hand; und nur zuweilen fand ich ein wenig Ruhe in dem Gedanken, dass meinem Vater die schwe-
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re Pflicht auferlegt worden war, uns durch den Trost der Religion zu beruhigen, uns allen zu erzählen, dass dennoch eine bessere Welt uns offenstehen sollte [...].503
Kierkegaard hat erfahren, dass neben dem schon lange geahnten vorehelichen Geschlechtsverkehr mit der Dienstmagd und späteren Mutter der Kinder sein Vater, noch nicht einmal zwölfjährig, beim Schafe hüten in seiner Verlassenheit einmal Gott verflucht haben soll. Søren selbst hatte sich in seinem Bohemien Leben ebenfalls von Gott abgekehrt. Er fürchtet, dass die Sünde von Vater und Sohn die gleiche ist. Von der Sünde des Vaters hat man dank H. p. Barfod, einem Freund von Peter Christian Kierkegaard, eine genauere Ahnung. Er beschreibt wie ihm Sørens älterer Bruder dieses so denkwürdige Ereignis beschrieben hat: Der alte M. p. K. – also der Strumpfhändler – hütete in seinen Kinderjahren auf der jütischen Heide die Schafe und fühlte sich nicht selten grenzenlos unglücklich. [...] In einer solchen Stimmung muß den Knaben [...] seine entsetzliche Verlassenheit einmal übermannt haben, und er kletterte auf einen Stein, der auf der Heide lag, hob Augen und Stimme zum Himmel auf und „verfluchte Gott den Herrn, der, wenn es ihn gebe, es über sich bringe, ein hilfloses, unglückliches Kind so leiden zu lassen, ohne ihm zu Hilfe zu kommen“.504
Genau ab diesen Zeitpunkt beginnt sich Michael Pedersen Kierkegaards Schicksal zum besseren zu wenden, er kommt nach Kopenhagen, wird bald zu einem reichen Händler und ist allgemein geachtet. Riobaldo teilt auch in diesem Punkt sein Schicksal mit einem Kierkegaard: Sein Abfall von Gott durch die Anrufung des Teufels hat seinen gesellschaftlichen Aufstieg zur Folge, was wiederum der Grundstein für sein Leid und sein ewiges Zweifeln ist. Auch der alte Kierkegaard bekommt Angst und beginnt zu zweifeln, denn sein plötzliches Glück verdankt er offensichtlich Gott, doch er hat Gott verflucht, „war das nicht die Sünde wider den Heiligen Geist, die niemals Vergebung finden konnte?“505 Søren ist überzeugt, dass dieser Fluch nun auf der ganzen Familie lastet und dass er, so wie seine Geschwister vor ihm, vor dem Vater, spätestens vor dem 34. Geburtstag, sterben würde. Bis zum 9. August 1838 lebt er weiterhin trotz seiner Schwermut das Leben eines Kopenhagener Bohemiens. Dann passiert, was eigentlich nie hätte geschehen sollen: Der Vater stirbt.506 Der von ihm produzierte Mythos, dass er alle seine Kinder überleben würde, ist damit ungültig geworden. Kierkegaard kann das Zerbrechen dieses Mythos nicht so einfach hinnehmen und meint, dass der Vater seinen eigenen Tod auf sich genommen hatte und für ihn gestorben sei: Mein Vater starb Mittwoch, dem 8., nachts um 2 Uhr. Ich hatte so innig gewünscht, dass er noch einige Jahre gelebt hätte, und ich sehe seinen Tod als das letzte Opfer an, das er seiner Liebe zu mir brachte; denn er ist
503 504 505 506
Søren Kierkegaard, Tagebücher, 1, p. 221. Nach: Peter p. Rohde, Kierkegaard, pp.40-41. Ebd., p. 42. Der Todestag des Vaters ist der 9. August 1838. (Walter Lowrie, A short Life of Kierkegaard (Princeton: Princeton University Press, 1942, p. 120). Manchmal wird in der Sekundärliteratur dafür der 8. August genannt (z. B.: Peter p. Rohde, Kierkegaard, p. 43). Diese Unstimmigkeit stammt daher, weil Kierkegaard in seinem Tagebuch 2 Uhr Früh noch zum Vortag zählt.
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nicht von mir weggestorben, sondern für mich gestorben, damit womöglich noch etwas aus mir werden kann. [...] Am 11. August 1838.507
Die Angst, dass ein geliebtes Wesen für einen selbst gestorben ist, teilt Søren Kierkegaard mit Riobaldo, der mit der großen Unsicherheit weiterleben muss, ob nicht der Tod Diadorims eigentlich für ihn selbst bestimmt gewesen wäre.508 Durch den Tod des Vaters erbt Søren Kierkegaard ein Vermögen, mit dem er bis zu seinem Tod das Auslangen findet. Diese finanzielle Absicherung erlaubt ihm eine vollkommene Konzentration auf sein schriftstellerisches Werk, das mit der kleinen Schrift „Aus eines noch Lebenden Papieren, wider seinen Willen herausgegeben von S. Kierkegaard“ kurz nach dem Tod des Vaters beginnt. Ähnlich ist die Situation bei Riobaldo, der durch den Tod seines Vaters zwei Fazendas erbt und von nun an sein Leben wie Kierkegaard in finanzieller Sicherheit verbringen kann. Er beginnt zwar nicht zu schreiben, ist aber genauso wie der dänische Philosoph den Rest seines Lebens damit beschäftigt, über die Frage der Schuld zu reflektieren. Sein alles bestimmendes Erlebnis, das unerhörte Moment seines Lebens, der „ponto dum fato“ (GS:V, p. 187), ist ohne Zweifel der ambivalente Pakt mit dem Teufel. Obwohl er durch den Pakt zum Jagunçoführer wird, sein Ziel erreicht und das personifizierte Böse in der Person des Hermógenes besiegt, wird er dennoch seine starken Schuldgefühle nie mehr los: „This guilty feeling constitutes the basis for Riobaldo’s later metaphysical speculations, which in turn motivates his narration of his life to his interlocutor.“509 Dieser Satz könnte in dieser Form genauso für Kierkegaards Denken und Schreiben stehen, das genauso durch Schuldgefühle (wegen des Gottesfluchs des Vaters und der Auflösung der Verlobung zu Regine Olsen) seine Initialzündung erhalten hat. Bei Riobaldo war es die Ambiguität des Paktes, die die Schuldgefühle ausgelöst hatten, diese bestimmen von nun an sein Leben als „homo cogitandi“, das erst in jenem Moment beginnt, in dem er sein aktives Leben, das Jagunçoleben, beendet. Das unmittelbare Leben wird durch ein Leben in Reflexion abgelöst: „Mein Martyrium ist das Reflexions-Martyrium, oder das Martyrium, wie es sich in der Welt zeigen kann, nachdem die Reflexion an Stelle der unmittelbaren Leidenschaft getreten ist.“510 Sagt hier Kierkegaard für Riobaldo. Aber sowohl Kierkegaard als auch Riobaldo nehmen dieses Martyrium auf sich, beide verzichten auf ein unmittelbares Leben in Leidenschaft, um in nagenden Reflexionen ihr Leben zu Ende zu denken. Riobaldo versucht in seinen „metaphysical speculations“ eine Ethik zu entwickeln, die zwar die Verfehlung des Paktschlusses oder versuchten Paktes, zugibt, ihm aber trotzdem eine Möglichkeit der Erlösung offen hält. Analog dazu ist die Situation Kierkegaards, der vom Fluch über seine Familie, der durch die Verfluchung Gottes ausgelöst wurde, überzeugt ist. Er sucht einen Weg, der eine Erlösung ermöglicht: Nach dem Tod seines Vaters kehrt er seinem Leben als Bohemien den Rücken und beginnt eine nahezu krankhafte Produktion an Schriften, in denen er eine Ethik 507 508 509 510
Søren Kierkegaard, Die Tagebücher, 1, p. 157. Vgl. dazu das Kapitel: „VI. 7. Leben Tauschen“, in vorliegender Arbeit. Eduardo de Faria Coutinho, The „synthesis“ Novel in Latin America, p. 61. Søren Kierkegaard, Tagebücher, 3, p. 63.
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entwickelt, die einen Sprung in die Religiosität ermöglicht, um dort durch die Gnade Gottes Erlösung zu finden. Eine genaue Untersuchung dieser teilweise so ähnlichen Philosophie beider so unterschiedlichen Denker wird im Anschluss versucht werden. Vorher aber noch eine kurze Bemerkung zu einer weiteren biographischen Parallele in den Leben des fiktiven Sertãobewohners und des dänischen Philosophen: der, obwohl auf Gegenseitigkeit beruhenden, doch unerfüllt gebliebenen Liebe.
2.2. Regine Olsen – Maria Deodorina da Fé Bettancourt Marins Kierkegaard lernt 1837 die erst fünfzehnjährige Regine Olsen kennen, mit der er sich drei Jahre später verlobt. Doch schon kurze Zeit nachher bereut er diese Verlobung, denn er glaubt seiner Verlobten den Fluch, der seiner Meinung nach auf seiner Familie lastet, verheimlichen zu müssen. Er will aber nicht eine Ehe eingehen, in der er Geheimnisse hat. Kierkegaard ist sich bewußt, dass er als ein von ererbter Schwermut zerquälter und durch persönliche Empörung wider Gott am Fluch seiner Familie Anteil habender Mensch gleichsam seelisch aussätzig ist, dass er aber in seiner hochentwickelten reflektierten Verschlossenheit gleichsam die Salbe besitzt, welche diesen Aussatz für jedes Auge verbirgt.511
Er weiß aber auch, dass er in einer Lebensgemeinschaft mit Regine seine schwermütige und schuldgeängstigte Seele nicht immer würde verstecken können und dass er seine Ehefrau dadurch anstecken und in sein seelisches Leiden hineinziehen würde. Im Laufe eines Jahres ringt er sich deshalb dazu durch das Verhältnis zu lösen. Um seiner jungen Verlobten die Trennung leichter zu machen, beschließt er, sich ihr gegenüber so kalt und abstoßend als möglich zu verhalten: „Sie fragt mich: „Willst du niemals heiraten?“ Ich antwortete: „Ja, in zehn Jahren, wenn ich mich ausgetobt habe, dann muß ich ein junges Mädchen haben, um mich zu verjüngen.“ Eine notwendige Grausamkeit.“512 Kierkegaard zweifelt sein ganzes Leben daran, ob er richtig gehandelt hat. Er zieht sich zurück und schreibt innerhalb von wenigen Jahren seine philosophischen Hauptwerke. Regine heiratet bald nach der Trennung von Søren ihren Lehrer Johan Frederik Schlegel. Nach Kierkegaards Tod findet dessen Bruder ein kurzes Testament, in dem Søren alles, was ihm an Reichtümern geblieben ist, seiner Verlobten „Mrs. Regine Schlegel“ vermacht: ”What I want to express in this way is that to me an engagement was and is just as binding as a marriage, and that therefore my estate is her due exactly as if I had been married to her.“ 513 Regine nimmt diesen letzten Willen auf Druck ihres Mannes nicht an, doch sie bleibt von Kierkegaard, den sie nach der Trennung nur mehr sehr selten und zufällig sieht, ein Leben lang angezogen und soll noch auf ihrem Totenbett, 82-jährig, seinen Namen gerufen haben.514 Riobaldos Leben ist, ebenso wie das Kierkegaards, von einer tragischen Liebesgeschichte, der zu Diadorim, geprägt. Auch hier soll es zu keiner Erfüllung kommen, obwohl sich 511 512 513 514
Søren Kierkegaard, ‘Stadien auf des Lebens Weg’, Band II, Anmerkung +254, p. VI. Søren Kierkegaard, Tagebücher, 3, p. 305. Søren Kierkegaard, ‘Breve og Aktstykker’, nach: Alastair Hannay, Kierkegaard, p. 419. Vgl. Petter Bjerck-Amundsen, Søren Kierkegaard (København: Fisker, 1990).
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beide gegenseitig lieben. Der Grund dazu liegt ebenso in diesem Fall in einer moralischen Entscheidung, die jedoch mehr von einer gesellschaftlichen Sorge geprägt ist: es ist die Angst vor der anscheinenden Homosexualität, die Riobaldo hindert, seinem Herz zu gehorchen. Riobaldo ist, ähnlich wie Kierkegaard, von einer Schwermut geplagt, die er vor seinen Freunden verheimlichen möchte. Ist Riobaldo mit Diadorim, den er am Anfang der Beziehung noch nach dessen offiziellen Jagunçonamen „Reinaldo“ nennt, zusammen, fühlt er sich durch seine eigene Traurigkeit oft sehr geschwächt, so sehr, dass er sich nur alleine fähig fühlt diese zu ertragen. Es scheint jedoch so, als ob seine Traurigkeit auf ReinaldoDiadorim anziehend wirke: „A tristeza. Aí, o Reinaldo, na paragem, veio para perto de mim. Por causa da minha tristeza, sei que de mim ele mais gostava. [...]. Minha tristeza é uma volta em medida; mas minha alegria é forte demais. Eu atravessava no meio da tristeza, o Reinaldo veio.“ (GS:V, p. 131). Sobald Riobaldo in seiner Schwermut zu versinken droht, kommt Diadorim und will ihn aufmuntern. Kierkegaard beschreibt ähnliches, auch er weiß von der Faszination, die Traurigkeit ausüben kann: „Es gibt ein Alter, in welchem auf ein junges Mädchen kein Gift so gefährlich wirkt wie Wehmut“.515 Doch weder Riobaldo noch Kierkegaard lassen sich von einem jungen Mädchen helfen, sie müssen beide allein mit ihrer Schwermut sein: Mas, de feito, eu carecia de sozinho ficar. Nem a pessoa especial do Reinaldo não me ajudava. Sozinho sou, sendo, de sozinho careço, sempre nas estreitas horas – isso procuro. O Reinaldo comigo par a par, e a tristeza do medo me eivava de a ele não dar valor. Homem como eu, perto de pessoa amiga afraca. Eu queria mesmo algum desespero. (GS:V, p. 131).
Der Philosophie Kierkegaards zufolge besteht Riobaldo so sehr darauf, in seiner Depression alleine gelassen zu werden, weil diese nicht nur anziehend auf Diadorim wirkt, sondern sogar durch diesen, als nicht ausgelebtes Begehren, ausgelöst wird: „Das Sinnliche erwacht, jedoch nicht zu Bewegung, sondern zu stillem Verweilen, nicht zu Freude und Wonne, sondern zu tiefer Melancholie. Das Begehren ist noch nicht erwacht, es ist schwermütig geahnt.“516 Noch hat sich Riobaldo noch nicht eingestanden, dass er seinen Jagunçokollegen körperlich begehrt, dies erzeugt eine unbestimmte Schwermut. Genauso wie Kierkegaard, will und kann Riobaldo seine Schwermut nicht mit jemand anderen teilen und so zieht er sogar die Verzweiflung („algum desespero“) vor. Der Begriff der Verzweiflung spielt in Kierkegaards Werk eine wesentliche Rolle, er hat ihm mit der „Krankheit zum Tode“ sogar eine eigene Monographie gewidmet. In dieser definiert er Verzweiflung damit, sein Selbst nicht in der Konkretisation, die es hat, wählen zu wollen. Dadurch wird die Verzweiflung zur Sünde gegenüber Gott und zur Voraussetzung für das Verständnis des Christlichen überhaupt: ohne das Leiden unter der Sünde wird die Versöhnung durch den Glauben etwas Sinnloses.517 515 Søren Kierkegaard, ‘Entweder/Oder’, Zweiter Teil, Band 2, in: ders.: Gesammelte Werke, 2. und 3. Abteilung,
p. 248. 516 Søren Kierkegaard, Entweder/Oder. Erster Teil, Band 1, 1. Abteilung, p. 80. 517 Vgl. Søren Kierkegaard, ‘Die Krankheit zum Tode. Eine christliche Erörterung zur Erbauung und Erweckung
von Anti-Climacus’, in: ders., Gesammelte Werke, 24. und 25. Abteilung.
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Neben der Schwermut gibt es noch eine zweite Parallele in der Beziehung der beiden ungleichen Paare Riobaldo und Diadorim und Kierkegaard und Regine Olsen, es ist dies das Geheimnis des Paktes, beziehungsweise das des väterlichen Gottesfluches. Kierkegaard schreibt in sein Tagebuch: „Ich mußte ihr ungeheuer viel verschweigen, mußte das ganze auf eine Unwahrheit gründen.“518 Auch Riobaldo kann mit Diadorim nie über seinen dubiosen Pakt sprechen, obwohl er ihn sogar für sie, um ihren Vater zu rächen, eingegangen ist. Das Geheimnis bleibt zwischen den beiden und entfremdet Diadorim von Riobaldo: „Eu não queria escutar o reto, naquela ocasião, por desânimo de ser. Diadorim tinha citado alma. O que ele soubesse, não soubesse, não tinha ciência de coisa nenhuma, da arte em que eu tinha ido estipular o Oculto, nas Veredas Mortas, no ermo da encruzilhada ... Aquilo não formava meu segredo?“ (GS:V, p. 413). Das größere Geheimnis trägt jedoch in dieser Beziehung natürlich Diadorim mit der Verschweigung ihres wahren Geschlechts. Auch wenn Riobaldo in der reinen Otacília später noch eine ihn liebende Ehefrau finden sollte, so ist es doch die Kombination von Paktversuch und der tragischen Liebe zu Diadorim, die sein Leben bestimmen wird.
3. Kierkegaards Philosophie der Lebensstadien 3.1. Allgemeine Bemerkung zu Kierkegaards Schriften Kierkegaard hat einen Großteil seiner Schriften unter Pseudonymen herausgegeben. In seiner Lehre über die verschiedenen möglichen Stadien in einem Leben stellt er oft Positionen dar, die nicht immer mit seinen eigenen übereinstimmen. Aus diesem Grund sind die Pseudonyme tatsächlich als eigenständige Schriftsteller zu sehen und dürfen nicht mit dem religiösen Schriftsteller Kierkegaard, der er, wie er selbst sagt, immer gewesen ist,519 verwechselt werden. In der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken“, die unter dem Pseudonym Johannes Climacus verfasst wurde, gibt Kierkegaard eine „erste und letzte Erklärung“ seine Pseudonymität oder Polynonymität betreffend: Es ist also in den pseudonymen Büchern nicht ein einziges Wort von mir selbst; ich habe keine Meinung über sie außer als Dritter, kein Wissen um ihre Bedeutung außer als Leser, nicht das entfernteste private Verhältnis zu ihnen [...] Es ist daher mein Wunsch, meine Bitte, dass man, wenn es jemand einfallen sollte, eine einzelne Äußerung der Bücher zitieren zu wollen, mir den Dienst erweisen wolle, den Namen des respektiven pseudonymen Verfassers zu zitieren, nicht meinen [...]“520
Es wird im Folgenden versucht werden, dieser Bitte Kierkegaards nachzukommen, obwohl teilweise auch, der größeren Klarheit in einer Gegenüberstellung Riobaldo – Kierkegaard zuliebe, Søren Kierkegaard selbst als Autor seiner Pseudonymen Schriften genannt wird. 518 Søren Kierkegaard: Tagebücher, 3, p. 304. 519 Vgl. Søren Kierkegaard, ‘Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller’, in: ders., Gesammelte
Werke, 33. Abteilung, pp.21-95. 520 Søren Kierkegaard, ‘Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken’, Zwei-
ter Teil, in: ders., Gesammelte Werke, 16. Abteilung, pp.340-41.
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Analog dazu wird Riobaldo als Urheber seiner Überlegungen gesehen, obwohl, nicht allzu streng zwischen der Meinung des Autors und der Meinung des Protagonisten unterscheidend, alterierend auch João Guimarães Rosa genannt wird.
3.2. Die „travessia“ Riobaldos Das von Guimarães Rosa als letztes Wort des Romans gesetzte „Travessia“ ist einer der auffälligsten leitmotivartig wiederholten Begriffe des ganzen Textes. Bei dieser Beobachtung belassen es die meisten Kommentatoren. Einzig die Analysen, die Riobaldos Weg durch den Sertão als eine Initiationsreise lesen, konzentrieren sich auf dessen Überfahrten und „travessias“ und sehen diese als Übergangsstufen der Selbstfindung. Dabei wird oft übersehen, dass die größte Veränderung in Riobaldos Leben während des Erzählens an sich passiert. Die erzählte Wiederholung seines Jagunçodaseins hat große Auswirkungen auf seine Weltsicht und sein Bewusstsein. Elisabeth Hazin deutet an, was diese gedankliche Gewaltleistung, sein ganzes Leben mit allen Zweifeln und Sorgen in drei Tagen zu erzählen und damit noch einmal zu erleben, bedeuten kann, nämlich die Überfahrt von einem Stadium in das nächste: „Fica evidente, ao ler-se o Grande Sertão: Veredas, que a história relatada pelo jagunço Riobaldo Tatarana é, na verdade, a travessia de um estágio a outro de sua existência, ou seja, em termos esotéricos, a passagem da ignorância à lucidez.“521 Ihr Artikel führt diese Beobachtung nicht weiter aus. Viele der initiatorischen Auslegungen sind ausführlicher in der Betrachtung der „travessias“, verlieren sich jedoch in fernöstlicher Mystik, die zwar teilweise überraschende Erklärungen bietet, oft jedoch Riobaldos zentrales Problem, die Existenz von Gut und Böse, übersieht. Auch auf die Funktion des Monologs als erzähltes Leben, wird nur selten und beiläufig eingegangen. Serra Costa weist in ihrer initiatorischen Interpretation jedoch darauf hin, dass die Erzählung an sich, ein wesentliches Moment für Katharsis ist: „A ‚viagem’ de Riobaldo continua. Continua no tempo da narração, como uma verdadeira catábase ao reino da memória. [...]. A narração [...] tem por conseqüência, além de formar mais uma figura quádrupla, efetuar uma catarse.“522 In den nächsten Kapiteln soll nun diese letzte „travessia“ Riobaldos, das Erzählen seines Lebens, genau untersucht werden. Die Stadienphilosophie Kierkegaards soll dazu das philosophische Gerüst und Handwerkszeug bieten. Kierkegaard ist als christlicher Denker besser als die fernöstliche Esoterik geeignet,523 um Riobaldos Bewegung zu erläutern, denn 521 Elisabeth Hazin, ‘O Arquivo como espelho: reflexos no Grande Sertão: Veredas de artigos de revistas
encontrados no arquivo Guimarães Rosa’, in: A astúcia das palavras. Ensaios sobre Guimarães Rosa, hg. von Lauro Belchior Mendes u.a. (Belo Horizonte: UFMG, 1998), pp.23-34 (p.26). 522 Tania Rebelo Serra Costa, Riobaldo Rosa, p. 129. 523 Guimarães Rosa selbst hat durch Aussagen, wie folgende, die esoterischen Auslegungen angeregt und ermutigt. „Acredito que Krishnamurti seja a segunda encarnação de Cristo. Estudo muito as doutrinas. A sabedoria oriental me fascina.“ (Nach: Paulo Dantas, Sagarana Emotiva, p. 26). Solchen Hinweisen folgend schließt Utéza, als der Hauptvertreter der esoterischen Auslegungen Rosas, dass Grande Sertão: Veredas ein der fernöstlichen Metaphysik verpflichteter Roman sei. Er versucht diesen mit Mitteln des Zens, durch Koan und Satori zu verstehen und verweist auf den Taoismus (wobei wieder das Wortspiel Ser-Tão strapaziert wird), den Buddhismus und die Alchemie als Referenz. (Vgl. Francis Utéza, João Guimarães Rosa: Metafísica do
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er behauptet selbst, dass ihn die Religion vor der Verzweiflung und dem Verrücktwerden gerettet hat: „Por isso é que se carece principalmente de religião: para se desendoidecer, desdoidar. Reza é que sara da loucura. No geral. Isso é que é a salvação-da-alma ... Muita religião, seu moço!“ (GS:V, p. 8). Diese Religion ist im katholischen Brasilien natürlich christlich: „Rezo cristão“ (ebd.). Es ist in der Literaturkritik schon öfters daraufhin gewiesen worden, dass die Welt Riobaldos verschiedene Stadien kennt:524 „As the critic Benedito Nunes says in an article entitled ‘A Rosa o que é de Rosa,’ there are three sertões in his works: a ‘natural and social region’, an ‘ethical region’ and a ‘spiritual, religious or mystical region,’ and the two last ones exceed the former.“525 Diese drei Stadien beziehen sich nicht nur auf den Sertão sondern vielmehr noch auf den Protagonisten des Romans. Die von Nunes herausgearbeiteten Phasen erinnern an Kierkegaards Dreistadientheorie, die jedem Einzelnen die Wahl zwischen der ästhetischen, der ethischen und der religiösen Daseinsform gibt. Guimarães Rosa selbst hat in einem Brief an seinen italienischen Übersetzer deutlich gemacht, dass ihm eine philosophisch-religiöse Lesweise des Romans als die richtigste erscheint: [...] sou profundamente, essencialmente religioso, ainda que for do rótulo estrito e das fileiras de qualquer confissão ou seita; antes talves, como o Riobaldo do “G.S.: V.”, pertenço eu a todas. E especulativo demais. Daí todas as minhas, constantes, procupações religiosas, metafísicas, embeberem os meus livros. [...] Por isto mesmo, como apreço de essência e acentuação, assim gostaria de considerá-los: cenário e realidade sertaneja: 1 ponto; enredo: 2 pontos; poesia: 3 pontos; valor metafísico – religioso: 4 pontos.526
Guimarães Rosa versteht seinen Roman also als metaphysisch-religiöses Werk. Da der Autor die Philosophie Kierkegaards an anderer Stelle als Metaphysik bezeichnet 527 und jener sich selbst als religiöser Autor sieht, ist es nahe liegend, Riobaldos Lebensphilosophie mit der des Dänen zu vergleichen. In Folge soll die Stadientheorie Kierkegaards kurz charakterisiert und dann dem Leben Riobaldos gegenübergestellt werden.
524 525 526 527
Grande Sertão). Guimarães Rosa hat als begeisterter Leser aller religiöser Philosophie sicherlich diese fernöstlichen Philosophien gekannt, doch scheint es obsolet, den Einfluss dieser Esoterik auf den Sertão Riobaldos aufzuarbeiten, bevor eine Analyse der christlichen Elemente im Roman erstellt worden ist. Denn die Sertãobevölkerung ist eine europäisch-christlich geprägte, und wie sich zeigt, können die meisten Phänomene des Romans auch durch eine okzidentale Lesart erklärt werden. Vgl. dazu zum Beispiel: Manuel Antônio de Castro, O Homem Provisório no Grande Ser – Tão. Um estude de ‘Grande Sertão: Veredas’, (Rio de Janeiro: Tempo universitário, 1976). Benedito Nunes, ‘A Rosa o que é de Rosa’, O Estado de São Paulo, 22. 3. 1969, nach: Eduardo Coutinho, The Process of Revitalization, pp.40-41. Edoardo Bizzari, pp.57-58. Vgl. Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 33.
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3.3. Das ästhetische Stadium Kierkegaard versteht unter dem ästhetischen Stadium528 ein Leben in Sinnlichkeit im wietesten Sinne. Dieses kann viele Stufen enthalten, von der plumpen Sexualität über die verfeinerte Erotik bis zum sublimsten Kunstgenuss. Um immer stärkere äußere Reize zu erlangen, befindet sich der ästhetische Mensch immer außer sich. „Wer ästhetisch lebt, der erwartet alles von außen.“529 Dadurch, dass der Ästhetiker sich an nichts in ihm selbst anhalten kann, ist er oft verzweifelt und depressiv: „According to Kierkegaard every aesthetic mode of life is despair, hence the most refined and superior aesthetic mode is despair itself.“530 Diese Verzweiflung überspielt der ästhetische Mensch durch Ironie. Wie Riobaldos ästhetisches Stadium aussieht, ist dem Roman nur schwer zu entnehmen: Der Text ist, wie auch die Kultur im Sertão im Allgemeinen, weitgehend ironiefrei, wodurch ein Hauptmerkmal des Ästhetikers nicht erfüllt wird.531 Weiters ist Riobaldos Monolog eine große und großartige Beichte und gehört deshalb per definitionem schon dem ethischen Stadium an: „Allein ein ethischer Mensch gibt sich in Ernst Rechenschaft von sich selber.“532 Liessmann meint, dass bei Kierkegaards Ethik des Offenbarwerdens klar wie selten, „der prekäre immanente ethische Charakter von Geständnissen und Beichten herausgestrichen wird – es gibt keine Ethik ohne coming-outs und keine coming-outs ohne Moral.“533 Zum Zeitpunk seines Monologs ist Riobaldo also nach Kierkegaardschen Kriterien schon im ethischen Stadium, da die Beichte als solche ein ethischer Akt ist. Die Alternative zwischen ästhetischer und ethischer Lebensform ist eine Frage der Existenz. In das ethische Stadium tritt man nicht langsam oder unbemerkt über, es muss von jedem Einzelnen aktiv gewählt werden. Sobald der Mensch erkennt, dass er zwischen den Lebensformen zu wählen hat, hat er eigentlich die ästhetische Phase schon überschritten, denn die Wahl an sich ist die eigentliche ethische Kategorie.
528 Kierkegaard entwickelt seine Lehre vom ästhetischen Stadium in folgenden Schriften: „Entweder/Oder“.
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(Wobei die Schriften des ersten Teils aus der Sicht eines Ästhetikers geschrieben sind und die Briefe des zweiten Teils das ästhetische Stadium theoretisch vom ethischen abzugrenzen versuchen). „Stadien auf des Lebens Weg“. (Die Erinnerung „In vino veritas“ aus dem ersten Teil ist vom Ästhetiker William Afham verfasst, wogegen Frater Taciturnus im dritten Teil das ästhetische Stadium theoretisch vom ethischen und religiösen abgrenzt). In der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift“ von Johannes Climacus befindet sich die genaueste und raffinierteste Systematik der Stadienlehre. Die umfangreichste Analyse zu Kierkegaards ästhetischem Stadium bietet immer noch Theodor Adornos 1933 erschienene Habilitationsschrift: Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990). Søren Kierkegaard, Entweder /Oder. Zweiter Teil. Band 2, in: ders., Gesammelte Werke, 2. und 3. Abteilung. p. 268. Reidar Thomte, Kierkegaard’s Philosophy of Religion (New York: Greenwood Press, 1948), p. 35. Martin Amis meint, dass im lateinamerikanischen Roman Ironie durch Magie ersetzt wird: „The LatinAmerican novel has always been Quixotic – playful, self-conscious, magical-realist. In the fiction of the North Atlantic mainstream, however, realism provides a heavier undertow, modified not by magic but by ironie.” (Martin Amis, The War Against Cliché, London: Jonathan Cape, 2001, p. 428). Diese Überlegung könnte Ausgangspunkt einer weiterführenden, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema sein. Søren Kierkegaard, ‘Entweder/Oder’, zweiter Teil, Band 2, p. 278. Konrad Paul Liessmann, Kierkegaard zur Einführung, p. 68.
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3.4. Das ethische Stadium Søren Kierkegaard entwickelt seine Theorie des ethischen Stadiums im zweiten Teil von Entweder/Oder und baut sie im zweiten und dritten Teil von „Stadien auf des Lebens Weg“ weiter aus. Im „Begriff Angst“ und in den „Philosophischen Brocken“ wird das Thema des ethischen Stadiums in abstrakter Weise abgehandelt, wobei dann die „Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken“, das eigentliche Hauptwerk Kierkegaards, diese abstrakten Überlegungen mit den Beispielen der früheren Schriften zusammenführt.534 Das ethische Stadium ist eine Zwischenstufe vom Ästhetischen zum Religiösen, doch steht dabei das Religiöse schon im Hintergrund und zeigt die Grenzen des Ethischen auf. Gott verlangt vom Menschen, das Ethische mit höchster Anstrengung zu wollen, zugleich aber zu wissen, dass man ohne Glauben und Gnade nichts zu tun vermag.535 Der wahre Ethiker sieht das Ethische also schon vom Religiösen her. Die untere ethische Stufe, verkörpert durch den Gerichtsrat Wilhelm aus dem zweiten Teil von „Entweder/Oder“, hat noch den naiven Glauben, das Ethische aus eigener Kraft erfüllen zu können. Erst wer jedoch sieht, dass die Problematik des Lebens auf das Jenseitige weist, und wer dabei nicht resigniert, der ist reif für das religiöse Stadium geworden. Der Gerichtsrat Wilhelm sieht das ethische Leben als die Erfüllung des allgemein Menschlichen im Individuum: „Wer das Leben ethisch betrachtet, der sieht das Allgemeine, und wer ethisch lebt, der drückt das Allgemeine in seinem Leben aus, er macht sich zu dem allgemeinen Menschen [...].“536 Das Erfüllen des Allgemeinen im Individuum ist eigentlich eine paradoxe Aufgabe und klingt, als ob das Individuum seine Persönlichkeit aufgeben müsse, um das Allgemeine erfüllen zu können. Kierkegaard erklärt jedoch, dass das Subjekt, das sein Schicksal annimmt und zu erfüllen bereit ist, automatisch auch das allgemein Menschliche erfüllt. Sprachlich kommt dies zum Ausdruck, indem man sagt, „ich tue m e i n e Pflicht, tu d u die d e i n e . Dies zeigt, daß das Individuum zugleich das Allgemeine und das Einzelne ist.“537 Die Pflicht ist das Allgemeine, das vom Einzelnen gefordert wird, wobei sie für jeden Menschen individuell verschieden sein kann: „Ein jeder Mensch also kann etwas ausrichten, er kann das ihm bestimmte Werk tun. Das Werk kann recht unterschiedlich sein; es ist aber stets daran festzuhalten, daß ein jeder Mensch ein ihm bestimmtes Werk hat [...].“538 Ob ein Mensch bereit ist, das von ihm erwartete Werk zu tun, hängt davon ab, ob er diesen Weg wählt oder nicht. Die Wahl ist das eigentlich entscheidende Kriterium eines ethischen Lebens.
534 Eine genaue Studie zur Entwicklung des ethischen Stadiums in den pseudonymen Schriften Kierkegaards
bietet: Wilfried Greve, Kierkegaards maieutische Ethik (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990). 535 Vgl. Søren Kierkegaard, ‘Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken.
Mimisch-pathetisch-dialektische Sammelschrift. Existentielle Einsprache von Johannes Climacus’, in: ders., Gesammelte Werke, 16. Abteilung, p. 139. 536 Søren Kierkegaard, ‘Entweder/Oder’, zweiter Teil, Band 2, p. 273. 537 Ebd., p. 281. 538 Ebd., p. 315.
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3.4.1. Riobaldos Pakt als Wahl Riobaldos Lebenswerk ist ohne Zweifel die Vollendung des Feldzugs gegen Hermógenes. Lange Zeit zweifelt er, ob es wirklich er ist, der für diese Aufgabe auserwählt ist oder ob er sich nicht doch mit einem durchschnittlichen Jagunçoleben begnügen sollte. Doch schließlich wählt er sein Schicksal aktiv: Er geht in die Veredas Mortas und ruft den Teufel an. Lange schon meditiert er über dieser Möglichkeit, doch nur mit halben Willen, erst nach der Begegnung mit den Catrumanos wird es für ihn deutlich, dass er wählen muss. Noch sagt Riobaldo nicht, was er vorhat, aber er hat sich bereits entschieden: „Vai, um dia, eu quis. Antes, o que eu vinha era adiando aquilo, adiando. Quis, assim, meio às tantas, mesmo desfazendo de esclarecer no exato meus passos e motivos. Ao que, na moleza, eu tateava. Digo! comecei. Tinha preceito.“ (GS:V, p. 354). Kierkegaard zufolge ist dies der erste Schritt in Richtung Selbstbestimmung. Es ist noch nicht wichtig, was man wählt, sondern allein die Entscheidung zu wählen als solches. Die Wahl des Wählens bedeutet die Abwahl des Ästhetischen. „Wählen“ ist „ein eigentlicher und strenger Ausdruck für das Ethische.“539 Der Gerichtsrat führt diese Beobachtung genauer aus: Überall, wo in strengerem Sinne von einem Entweder/Oder die Rede ist, darf man jederzeit sicher sein, dass das Ethische mit im Spiel ist. Das einzige unbedingte Entweder/Oder, das es gibt, ist die Wahl zwischen Gut und Böse, aber dies ist auch schlechthin ethisch.540 Natürlich gibt Wilhelm in seinen Ausführungen zu, dass auch im Ästhetischen gewählt werden könne, dies beschränke sich jedoch im gewöhnlichen Sinn auf eine Auswahl zwischen belanglosen Möglichkeiten. Die ästhetische Wahl hat keinerlei Ernsthaftigkeit, sie bleibt ein bloßes Spiel mit diesen Möglichkeiten.541 Ab dem Zeitpunkt, in dem sich Riobaldo entscheidet den Teufel anzurufen und den Kampf gegen Hermógenes zu Ende zu führen, hat er sein ästhetisches Leben überwunden. Von nun an lebt er mit einem höheren Ziel, dem er alles andere unterzuordnen bereit ist. Soviel Zweifel er auch wegen seines Paktversuchs hegt, das eigentliche Ziel, den Sieg über Hermógenes, stellt er ab diesem Zeitpunkt kein einziges Mal mehr in Frage. Vor seinem mitternächtlichem Kreuzwegserlebnis bemerkt Riobaldo, dass sein Leben nur mehr aus oberflächlichen, alltäglichen Gewohnheiten besteht, die in keine bestimmte Richtung weisen: „Só a continuação de airagem, trastejo, trançar o vazio“ (GS:V, p. 355). Dies ändert sich nach der Anrufung des Teufels nachdrücklich, plötzlich hat er für alle seine Handlungen ein höhergeordnetes Motiv: die Beseitigung von Hermógenes. Kierkegaard bestätigt diesen Wandel als einen der wichtigsten Unterschiede zwischen ästhetischem und ethischem Leben: „Der Hauptunterschied, um den alles sich dreht, ist, daß das ethische Individuum sich selbst durchsichtig ist und nicht „ins Blaue hinein“ lebt, wie das aesthetische Individuum es tut.“542
539 540 541 542
Ebd., p. 177. Ebd. Vgl. Ebd., p. 175-180. Ebd., p. 275.
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Sobald sich der Mensch einer existentiellen Wahl stellt, entscheidet er sich damit für eine ethische Lebensweise. Thomte illustriert dies zusammenfassend mit einem Kreuzweg, was ja in Riobaldos Fall wortwörtlich der Fall ist. Durch die absolute Ernsthaftigkeit der Wahl, entscheidet sich der Mensch automatisch für die richtige Lebensform: „When a man is brought to the crossroads where there is no escape for him but to choose, he will choose the right.“ 543 Das Wählen des ethischen Stadiums bedeutet aber noch nicht, dieses auch wirklich erfüllt zu haben. Für Riobaldo ist es ein langer und leidsamer Weg nach seiner Wahl, dem Kreuzwegserlebnis, seine ethische Lebensform auch tatsächlich zu verwirklichen. Dies beinhaltet nicht nur, Hermógenes zu besiegen, sondern auch in seiner Existenz das allgemein Menschliche verwirklicht zu haben. Diese Verwirklichung des allgemein Menschlichen, die Kierkegaards ethisches Stadium zum Abschluss brächte, sehen esoterische Interpretationen in Riobaldos Pakt erfüllt. Betrachtet man seine Reise durch den Sertão als Initiationsweg, dann wird er durch den Paktversuch zu einem wahren Menschen: „Lúcifer não aparece e, nas Veredas Mortas, Riobaldo vence a última prova do seu processo iniciático: perde totalmente o medo do desconhecido, torna-se o ‘homem verdadeiro’ que completa a primeira parte da sua iniciação.“544 Vergleicht man Riobaldos verschiedene Lebensabschnitte mit den Stadien Kierkegaards, dann ist sein Paktversuch dagegen zwar die Wahl des ethischen Stadiums, noch nicht jedoch die Erfüllung dessen. Nach dem Sieg über Hermógenes ist er der Realisierung des ethischen Stadiums allerdings schon sehr nahe gekommen: „Wenn daher ein ethischer Mensch seine Aufgabe vollbracht, den guten Kampf gekämpft hat, so ist er dahin gelangt, der einzige Mensch geworden zu sein, das will heißen, daß kein Mensch sonst so ist wie er, und zugleich dahin, der allgemeine Mensch geworden zu sein.“545 Der allgemeine Mensch hat sein Zentrum in sich selbst und nicht außerhalb seiner. Allein in sich selbst kann er über sich Aufklärung erhalten. Riobaldo muss also in sich selbst die Antwort zur Frage finden, ob er Schuld auf sich geladen hätte, indem er den Sertão vom Bösen befreite. Riobaldo weiß, dass es die Pflicht des Menschen ist, Gutes zu tun, er weiß jedoch nicht, ob er dieser Pflicht immer gefolgt ist: „E procurar encontrar aquele caminho certo, eu quis, forejei; só que fui demais, ou que cacei errado. Miséria em minha mão. Mas minha alma tem de ser de Deus: se não como é que ela podia ser minha?“ (GS:V, p. 427) Riobaldo ist sich sicher, sein Bestes gegeben zu haben, um den richtigen Weg im Leben zu gehen. Unglücklicherweise ging er dabei jedoch zu weit, so dass er nun mit dem schlechten Gewissen des Paktversuchs weiterleben muss. Die Lösung seines Problems ist also eine Sache, die er mit sich selbst austragen muss, da es in ihm selbst liegt, wie Kierkegaard analog zu Riobaldos Überlegungen anmerkt: [...] denn ich zweifle daran, daß da je ein Mensch gewesen, der behauptet hätte, es sei Pflicht, das Böse zu tun. Daß er etwa das Böse getan, ist ein ander Ding, er hat dann aber sich selbst und andern einzubilden gesucht,
543 Reidar Thomte, Kierkegaard’s Philosophy of Religion, p. 46. Vgl. dazu auch: Søren Kierkegaard, ‘Entwe-
der/Oder’, zweiter Teil, Band 2, pp.167-68. 544 Consuelo Albergaria, Bruxo da linguagem, p. 38. 545 Søren Kierkegaard, ‘Entweder/Oder’, zweiter Teil, Band 2, p. 273.
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daß es das Gute sei. Daß er in dieser Einbildung sollte verharren können, ist undenkbar, da er selbst das Allgemeine ist; er hat also den Feind nicht außerhalb seiner, sondern in sich.546
Riobaldo hat nach der Beseitigung Hermógenes’ keinen äußeren Feind mehr, sein größter Widersacher ist von nun an ausschließlich sein eigenes Gewissen. Dieser Kampf mit sich selbst ist ein weiteres Kennzeichen des ethischen Stadiums: „Während der ästhetische Mensch immer außer sich ist [...], befindet sich der ethische Mensch immer in einem Konflikt mit sich selbst: ihn plagt ständig das schlechte Gewissen, [...].“547 Ein weiterer sichtbarer Beweis dafür, dass Riobaldo im Begriff ist das ethische Stadium zu erfüllen, ist dessen Ehe mit Otacília, da die Ehe, laut Kierkegaard, ein wesentlicher Schritt in ein wahrhaft ethisches Leben ist: „Die Ehe ist die Fülle der Zeit; wer nicht Ehemann geworden, ist entweder unglücklich für den Betrachter, oder er ist es auch in seinen eigenen Augen: er wird in seiner Ekzentrizität die Zeit als Last empfinden.“548 Riobaldos wahres Heldentum beginnt nun in seiner ruhigen Zeit, denn „es gehör[t] viel Mut dazu, das Gewöhnliche zu tun, und wer viel Mut zeigt, der ist ja ein Held.“549 Falls er in Versuchung gerät doch wieder in ein Jagunçoleben abzugleiten liegt es an Otacília, ihn auf seine jetzige Bestimmung zu verweisen: „jedes Mal, wenn er sich versucht fühlt, ein ungewöhnlicher Mensch zu werden, wird sein Weib ihn wieder in die Richte bringen, und dergestalt wird er sich in aller Stille den Namen Held verdienen, und sein Leben wird nicht tatenlos sein.“550 Covizzi erkennt dieses Paradox, dass der wahre Held sein Heldentum ablegen muss. Ohne auf Kierkegaard einzugehen, verwendet sie fast genau dasselbe Vokabular wie der dänische Philosoph: „Resumindo: o herói trágico é aquele que é capaz de levar às últimas conseqüências uma atitude que não pode ser outra, mas é resultado de uma escolha que traz em si uma atitude de valor universal, e entretanto se choca objetivamente com a vida do herói.“551 Die Erfüllung des allgemein Menschlichen passt nicht in das Leben eines herkömmlichen Helden, um dies zu erreichen ist ein ruhiges Leben im Einklang mit sich selbst viel zielführender. Ein großer Schritt in diese Richtung ist die Ehe.
3.4.2. Die Ehe als Erfüllung des allgemein Menschlichen Mit dem Tod Diadorims stellt sich für Riobaldo heraus, dass sein diabolisch geglaubtes Begehren gar nicht diabolisch war. So tragisch die erwiderte aber unerfüllt gebliebene Liebe durch das wahre Geschlecht seines Freundes im Nachhinein auch ist, so stellt dieses Ereignis doch einen ersten Schritt zum inneren Frieden Riobaldos dar. Nach kurzer Trauerzeit verheiratet er sich mit seiner Langzeitverlobten Otacília. Leo Pollmann ist mit diesem Ende nicht zufrieden und meint sogar, dass der Roman dadurch seine Form als „Neuer 546 Ebd., p. 282. 547 Konrad Paul Liessmann, Kierkegaard, p. 123. 548 Søren Kierkegaard, ‘Stadien auf des Lebens Weg’, Band 1, in: ders., Gesammelte Werke, 15. Abteilung, p.
122. 549 Søren Kierkegaard, ‘Entweder/Oder’, zweiter Teil, Band 2, p. 318. 550 Ebd. 551 Lenira Marques Covizzi, ‘O insólito’, p. 56.
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Roman“ verliert und zu einem typisch traditionellen, im Bezug auf andere lateinamerikanische Romane sogar restaurativen Roman werde: „Vor allem zeigt aber das Ende der Handlung den nunmehr typischen Roman: [...] Das [die Ehe] ist nicht, wie man vielleicht meinen könnte, Parodie, sondern ganz im Gegenteil wird hier erst die Antwort von Grande Sertão gegeben, mag sie auch ästhetisch gesehen wenig überzeugen.“552 Genauer betrachtet ist die Ehe mit Otacília jedoch nicht das Ende der Handlung sondern deren Voraussetzung. Ohne Riobaldos zufriedenes und zurückgezogenes Leben als Fazendeiro, wäre es nie zu vorliegendem Monolog gekommen. Die Ehe ist also eigentlich der Anfang des Romans, der Ausgangspunkt der Erzählung, wie ja Riobaldos Bericht tatsächlich mit einer kurzen Beschreibung seiner Nachbarschaft und seiner friedlichen Tätigkeiten, er war gerade Scheiben schießen, beginnt. Dass die Ehe ästhetisch gesehen Pollmann zufolge nicht überzeugen kann, hängt vielleicht damit zusammen, dass sie im Kierkegaardschen Sinne kein ästhetisches Ereignis, sondern im Gegensatz dazu der Inbegriff des ethischen Lebens ist. Auch Georg Rudolf Lind sieht in Riobaldos Ehe nichts Heldenhaftes, doch auch nichts Negatives, sie ist Normalität. Die durch Diadorims Tod entstandene Freiheit erweist sich für Riobaldo als „eine sinnlos gewordene Freiheit, aus der er eilig in ein normales Dasein in Familie und Fazenda entflieht.“553 Für Kierkegaard ist jedoch diese Normalität nicht normal oder banal, sondern die Erfüllung des allgemein Menschlichen, womit Riobaldo sein nur scheinbares Heldentum als Jagunço überwindet und zum wahren Helden wird: „Der wahre ungewöhnliche Mensch ist der wahre gewöhnliche Mensch. Je mehr vom AllgemeinMenschlichen ein einzelner Mensch in seinem Leben zu verwirklichen vermag, ein um so ungewöhnlicherer Mensch ist er.“554 Durch Riobaldos Wahl, das allgemein Menschliche in Form der Ehe zu erfüllen, erreicht er die notwendige Distanz und Ruhe, um ohne der persönlichen Involvierung, ohne Leidenschaft und Machtstreben, sein Leben erzählend zu wiederholen. Der Gerichtsrat aus „Entweder/Oder“ meint, „daß es eines jeden Menschen Pflicht sei, sich zu verheiraten“, es sündige zwar der, welcher nicht heiratet nicht, es ist jedoch eine Tatsache, „daß aber der, welcher sich verheiratet, das Allgemeine verwirklicht.“555 Das Verwirklichen des Allgemeinen ist für Riobaldo wiederum Voraussetzung dafür, um am Ende seiner Ausführungen Gott in allen seinen Paradoxa akzeptieren zu können und somit Frieden zu finden. Münchschwander sieht in seiner Studie den Schluss des Romans ebenso positiv: „Im Gegensatz zu einer ganzen Anzahl von Deutungen des Romans wird in der vorliegenden Studie das Leben Riobaldos als erfülltes interpretiert, der Rückzug Riobaldos vom Jagunçodasein nicht als Flucht, sondern als Erlösung gesehen.“556 Wie diese Erlösung jedoch vor sich geht, warum am Ende Gott über den Teufel triumphieren kann und wieso die so ambivalente und para552 Leo Pollmann, Der Neue Roman in Frankreich und Lateinamerika (Stuttgart: Kohlhammer Reihe ‚Sprache
und Literatur’, 49, 1968), p. 157. 553 Georg Rudolf Lind, Regionalität und Universalität, p. 342. 554 Søren Kierkegaard, ‘Entweder/Oder’, zweiter Teil, 2. Band, p. 350. 555 Ebd., p. 322. Kierkegaard widmet seinen Überlegungen zur ethischen Form der Ehe den gesamten ersten Band
des zweiten Teils von „Entweder/Oder“, in dem der Gerichtsrat Wilhelm die Ehe in einem Brief an den Ästhetiker „A“ auch ästhetisch rechtzufertigen versucht: vgl. Søren Kierkegaard, ‘Die aesthetische Giltigkeit der Ehe’, in: ‘Entweder/Oder’, zweiter Teil, Band 1, in: ders., Gesammelte Werke, 2. und 3. Abteilung. 556 Martin Münchschwander, Form und Figur, p. 132.
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doxe Welt die Möglichkeit einer Aufhebung der Schuld offen hält, kann Münchschwander nur schwer erklären. Mit Hilfe des religiösen Stadiums der Philosophie Kierkegaards soll das begriffliche Handwerkzeug geliefert werden, um Riobaldos Erlösung kohärent beschreiben zu können.
3.5. Das religiöse Stadium Der Gerichtsrat Wilhelm präsentiert vor allem in seinen Briefen an den jungen Ästhetiker „A“, die den zweiten Teil von „Entweder/Oder“ bilden, eine detaillierte Darstellung des ethischen Stadiums. Unbestimmt deutet er darin schon die Möglichkeit einer höheren Daseinsform als die ethische an. Er spricht von außergewöhnlichen Erlebnissen, die so viel Leid und Sorge mit sich brächten, dass diese das Individuum zu einer Ausnahme des allgemein Menschlichen machten. Er selbst hatte solche Erfahrungen nicht, aber er weiß über deren Möglichkeit. 557 Die dadurch erreichte Lebensform ist das religiöse Stadium. 558 Für Kierkegaard ist der Glauben unweigerlich mit dem Paradox verbunden, denn die christliche Religion definiert sich mit der Menschwerdung Christi durch das Absurde: „Was ist nun das Absurde? Das Absurde ist, daß die ewige Wahrheit in der Zeit geworden ist, daß Gott geworden ist, geboren ist, gewachsen ist usw., ganz und gar wie der Einzelmensch geworden ist, nicht zu unterscheiden von einem anderen Menschen; [...].“559 Dadurch kann der Glaube nie Erkenntnis sein: „und kein Erkennen kann zum Gegenstande haben dies Absurde, daß das Ewige das Geschichtliche ist.“560 Es ist aber nicht nur die Inkarnation Christi, die den christlichen Glauben zu einem Paradox macht, denn objektiv kann es nie einen Beweis für eine religiöse Wahrheit geben, was den Glauben eben zu einer Glaubensfrage werden lässt: „Ohne Risiko kein Glaube. Glaube ist gerade der Widerspruch zwischen der unendlichen Leidenschaft der Innerlichkeit und der objektiven Unge-
557 Vgl. Søren Kierkegaard, ‘Entweder/Oder’, zweiter Teil, 2. Band, p. 254-259. 558 Kierkegaard sieht sich selbst als religiöser Schriftsteller, der auch in den ästhetischen Schriften immer schon
das religiöse Stadium im Hintergrund mitschwingen ließ. Er entwickelt das religiöse Stadium in „Furcht und Zittern“, der „Wiederholung“ und im dritten Teil von „Stadien auf des Lebens Weg“. Die Religiosität an sich ist Hauptthema von „Der Begriff Angst“ und „Die Krankheit zum Tode“. In den rein religiösen Schriften benutzt Kierkegaard keine Pseudonyme mehr, denn nun kann er als christlicher Schriftsteller offen Sprechen. „Einübung im Christentum“, „Der Liebe Tun“ und zahlreiche „Erbauliche Reden“ malen ein immer feineres Bild des religiösen Menschen, um sich schließlich in einer wilden Polemik gegen die dänische Amtskirche zu entladen: „Der Corsarenstreit“ und „Das Buch über Adler“. Kierkegaards nicht-pseudonyme Werke sind bisher von der Forschung vernachlässigt worden, vgl. dazu: Hermann Deuser, Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985). Hayo Gerdes, Søren Kierkegaards ‚Einübung im Christentum’. Einführung und Erläuterung (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982). Zu den erbaulichen Reden vgl.: Tim Hagemann, Reden und Existieren. Kierkegaards antipersuasive Rhetorik (Berlin/Wien: Philo, 2001). 559 Søren Kierkegaard, ‘Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Mimisch-pathetisch-dialektische Sammelschrift. Existentielle Einsprache von Johannes Climacus’, erster Teil, in: ders., Gesammelte Werke, 16. Abteilung, p. 201. 560 Søren Kierkegaard, ‘Philosophische Brocken oder Ein Bröckchen Philosophie, von Johannes Climacus’, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Abteilung, p. 59.
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wißheit. Kann ich objektiv Gott greifen, so glaube ich nicht; aber weil ich das eben nicht kann, deshalb muß ich glauben.“561 Riobaldo verzweifelt sein ganzes Leben lang an dieser „objektiven Ungewißheit“, dass es keinen Weg gibt Gott objektiv ergreifen zu können. Trotzdem vollzieht er am Schluss seiner Beichte einen Sprung und glaubt nach über 500 Seiten des Zweifelns plötzlich an den „homem humano“. Guimarães Rosa gibt keine Definition für diesen tautologischen „menschlichen Menschen“,562 den „homem humano“ (GS:V, p. 538). Heloisa Vilhena de Araujo definiert in einer Studie diesen Menschen Riobaldos damit, dass jener dort anfange, wo das Tier aufhöre. Mit dem Tier teilt der Mensch Basishandlungen wie „comer“, „reproduzir-se“, „dormir“. Der Mensch allein hat dagegen jedoch einen freien Willen, mit welchem er Entscheidungen fällen kann: der Mensch „conhece os contrários, as diversas alternativas de ação e que pode escolher entre elas.“563 Diese Gegenteile sind jedoch das Hauptproblem in Riobaldos Leben, denn er vermag eben nicht, zwischen ihnen zu wählen, zu unbestimmt und unstetig erscheinen ihm ihre Ausprägungen. In Kierkegaards Philosophie ist der Mensch selbst die Synthese von Gegensatzpaaren wie „finitude/infinitude, temporality/eternity, necessity/possibility.“564 Der Mensch ist als ein Mittelswesen begrenzt, aber seine Begrenztheit besteht nicht nur aus der Tatsache, dass er aus einer Synthese von Begrenztheit und Unbegrenztheit besteht: „He is an intermediate being by being himself intermediate, that is, by relating to himself as finite and as infinite.“565 Der Mensch ist demnach schon in seiner Anlage als Mensch sehr unstabil, er kann seine persönliche Wahrheit nur schwer aus der so gegensätzlichen Wirklichkeit erfahren. Es bleibt ihm deshalb nur die Flucht in eine stabile Innerlichkeit, die ihre Kraft aus dem Glauben schöpft: „je weniger objektive Zuverlässigkeit, desto tiefer ist die mögliche Innerlichkeit. Wenn das Paradox selbst das Paradox ist, stößt es kraft des Absurden ab, und die Leidenschaft der Innerlichkeit, die dem entspricht, ist der Glaube.566 Für Kierkegaard gibt es eine objektive Erkenntnis und objektive Wahrheit nur für Gott. Für den Menschen ist nur eine graduelle Approximation an die Wahrheit möglich, erreicht werden kann sie nie. Alles historische und empirische Wissen bleibt eine bloße „Annäherung“ an das Objekt.567 Somit ist selbst die Existenz an sich nur ein Kompromiss: „Existieren (im Sinne von: dieser einzelne Mensch sein) ist wohl eine Unvollkommenheit im Vergleich mit dem ewigen Leben der Idee, jedoch eine Vollkommenheit dem gegenüber, gar nicht zu sein. Solch ein Zwi-
561 Søren Kierkegaard, ‘Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift’, p. 195. 562 Curt Meyer-Clason übersetzt die Tautologie nicht, „Existe é homem humano.“ (GS:V, p. 538) wird bei ihm zu
„Es gibt den Menschen“. (João Guimarães Rosa, Grande Sertão, p. 546). 563 Heloisa Vilhena de Araújo, ‘O espelho’, p. 11. Araújo meint in dieser Studie, dass in “Grande Sertão: Vere-
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das” der Mensch “um ponto final” sei, wogegen er in “Primeiras Estórias“ der „ponto inicial“ sei. (ebd., p. 12). Sie untersucht in Folge „Primeiras Estórias” im Vergleich mit der Philosophie der klassischen Antike. Arnold B. Come, ‘The implication of Søren Kierkegaard’s View of Sexuality and Gender for an Appraisal of Homosexuality’, p. 33. Arne Grøn, ‘The Human Synthesis’, in: Anthropology and Authority, p. 31. Søren Kierkegaard, ‘Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift’, p. 201. Vgl. Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst. Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde von Vigilius Haufniensis’, in: ders., Gesammelte Werke, 11. und 12. Abteilung, p. 55-60.
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schenzustand ist ungefähr das Existieren, etwas, was für ein Zwischenwesen, wie es der Mensch ist, paßt.“568 Auch Riobaldo sieht den Menschen, vor allem den Menschen im Sertão, als einen noch nicht fertigen oder abgeschlossenen Menschen. Der Jagunço „não passa de ser homem muito provisório.“ (GS:V, p. 364). Sowohl Kierkegaard als auch Riobaldo schließen, dass dieser so unfertige und zwischen allen möglichen Gegensatzpaaren hin- und hergeworfene Mensch, sein Dasein per definitionem nicht verstehen kann. Es bleibt ihm nur der Sprung in das Absurde, das heißt der Sprung in die Religion. So wie einst Adam in die Sünde gesprungen ist, kann der Mensch kraft des Absurden in den Glauben springen, die genaue Bewegung dazu vermag die Psychologie jedoch nicht zu beschreiben, gerade dadurch, dass es sich um einen Sprung handelt: „Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat oder erklären kann.“569 Riobaldo erkennt am Schluss seiner Lebensbeichte die Unmöglichkeit, durch Reflexion die Wahrheit zu erreichen. Trotzdem findet er genau in diesem Augenblick seinen Glauben: „Er erkennt also die Unmöglichkeit und im gleichen Augenblicke glaubt er das Absurde“.570 Alle Fragen seines Lebens, Gut oder Böse, Sein oder Nicht-Sein, schuldig oder nichtschuldig, können nun vereinigt akzeptiert werden. Verlangt Hegel noch die Mediation als logische Vermittlung der Gegensätze 571 so kann die Philosophie Kierkegaards, sich ausdrücklich gegen Hegel stellend, dank der Kraft des Absurden mehr verlangen: „Doch die Geistreichigkeit verlangt mehr, man sagt ‚die Versöhnung’ [der Gegensätze].“ 572 Auch Serra Costa erkennt in ihrer initiatorischen Interpretation von Grande Sertão: Veredas, dass Riobaldo (und der Leser) am Ende seiner Beichte eine Synthese der im Text so präsenten Gegensatzpaare vollzieht: „De qualquer maneira, Grande Sertão: Veredas consegue causar catarse a seu leitor exactamente porque propõe a síntese desses pares antagônicos, tornando-se assim, ele mesmo, um mediador num processo que tenta explicar o mundo, dando-lhe equlíbrio e sentido.“573 Diese Katarsis ist, wenn man der Philosophie Kierkegaards folgt, der Sprung in ein höheres Stadium. Riobaldo vollzieht die Versöhnung mit den paradoxen Gegebenheiten des Lebens: er akzeptiert nach seiner langen Lebensbeichte die Gegensätzlichkeiten seines Daseins und springt somit in die religiöse Sphäre des Glaubens, in der er Erlösung finden kann. Wesentlich dafür ist aber genau dieses Faktum, dass er vor dem Sprung erzählend sein Leben wiederholt hat. Ohne diese Repetition des Jagnucodaseins hätte es zu keinen Sprung in den Glauben kommen können. Eine genaue Analyse der Erzählung als Wiederholung soll das folgende Kapitel bieten. 568 Søren Kierkegaard, ‚Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift’, zweiter Teil, in: ders.; Gesammelte
Werke, 16. Abteilung, p. 32. 569 Ebd, p. 61. 570 Søren Kierkegaard, ‘Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio’, in: ders., Gesammelte
Werke, 4. Abteilung, p. 48. 571 These und Antithese werden bei Hegel in der Synthese mediiert, die ihrerseits wieder These zu neuer Antithe-
se ist usw. (Vgl. Kommentar zu: Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’, übersetzt von Liselotte Richter. Frankfurt am Main: Syndikat/EVA, 1984, p. 184). 572 Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’, in: ders., Gesammelte Werke, 11. und 12. Abteilung, p. 9. 573 Tania Rebelo Serra Costa, Riobaldo Rosa, p. 130.
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4. Die Wiederholung als philosophische Kategorie Danielle Corpas geht in ihrer kurzen Studie „A Reprise de Kierkegaard no Grande Sertão: Veredas“, wie schon der Titel anzeigt, vor allem auf Kierkegaards philosophisch-literarische Schrift „Die Wiederholung“ ein. „Die Wiederholung“ erscheint 1843 mit dem Untertitel „Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius“. Der Begriff der Wiederholung gehört zu den zentralsten und wichtigsten Kategorien in Kierkegaards Werk, zugleich ist er aber auch einer der schwerstverständlichsten. Um den Begriff in seiner Vielschichtigkeit zu konkretisieren hat sich Kierkegaard für den Versuch in der experimentierenden Psychologie in zwei Personen gespalten, in den älteren Constantin Constantius, der als Verfasser des Buches aufscheint, und in einen jungen Menschen, der, unglücklich verliebt, beim älteren Skeptiker Rat sucht. Für Constantius ist der Begriff der Wiederholung eine wesentliche philosophische Kategorie, der seiner Meinung nach in der Philosophie noch eine überaus wichtige Rolle spielen werden würde, denn „Wiederholung ist ein entscheidender Ausdruck für das, was „Erinnerung“ bei den Griechen gewesen ist.“574 Die Wiederholung, die es anzustreben gilt, steht für ein wesentliches Leben, denn sie steht in Opposition zur Hoffnung, die durch das reine Warten auf die Zukunft die Zeit verneint und zur Vergangenheit, die die Zeit versteinern lässt. Daraus ergibt sich: „Wenn man die Kategorie der Erinnerung oder der Wiederholung nicht besitzt, so löst das ganze Leben sich auf in leeren und inhaltslosen Lärm.“575 Für folgende Überlegungen ist wesentlich, dass Kierkegaard an dieser Stelle die Erinnerung mit der Kategorie der Wiederholung gleichsetzt, was für Riobaldos Monolog von allergrößter Bedeutung ist. Kierkegaard hat später unter dem Pseudonym Virgilius Haufniensis in der Schrift „Der Begriff Angst“ selbst noch einmal eine kurze Definition des Begriffes „Wiederholung“ gegeben, wobei er „Die Wiederholung“ von Constantin Constantius als „ein schnurriges Buch“576 bezeichnet. Er meint: „die Wiederholung ist die Losung-Lösung in jeder ethischen Anschauung“. 577 Die Stelle lautet im Original „Gjentagelsen er Løsnet I enhver ethisk Anskuelse“.578 In der Schrift „Die Wiederholung“ übersetzt Emanuel Hirsch „Løsnet“ in selbigen Satz noch mit „die Losung“,579 der Grundbedeutung des dänischen Wortes. In der 1844, also ein Jahr nach der Wiederholung erschienenen Studie „Der Begriff Angst“, hat Kierkegaard jedoch sein Pseudonym Virgilius Haufniensis die Überlegung des früheren Pseudonyms Constantin Constantius so erklären lassen, als ob „Løsnet“ hier nicht mehr „die Losung“ sondern „die Lösung“ hieße. Dies bringt Emanuel Hirsch durch die Doppelübersetung „Losung – Lösung“ zum Ausdruck. 580 Diese Wandlung in der Bedeutung ist Søren Kierkegaard, ‘Die Wiederholung’, in: ders.,Gesammelte Werke, 5. und 6. Abteilung, p. 3. Ebd., p. 22. Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’, p. 15. Ebd. Kierkegaard, Søren: ‘Gjentagelsen’, in: ders., Samlede Værker, Bind 5, hg. von A.B. Drachmann, J. L. Heiberg und H. O. Lange (København: Gyldendal, 1963), p. 131. 579 Søren Kierkegaard, ‘Die Wiederholung’, p. 22. 580 Vgl. Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’, p. 242, Anmerkung 30. (Liselotte Richter übersetzt an dieser Stelle „Løsnet“ mit „Losung“ (Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’, Frankfurt am Main, 1984, p. 20), während sie interessanterweise Emanuel Hirschens Übersetzung entgegengesetzt in der „Wiederholung“ eindeutig „die Wiederholung ist die Lösung in jeder ethischen Anschauung“ schreibt. (Kierkegaard, Søren: ‘Die Wie574 575 576 577 578
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natürlich auf eine Wandlung Kierkegaards zurückzuführen, der nun nicht mehr den skeptischen Ästhetiker Constantius sprechen lässt, der „sich nur ästhetisch und psychologisch damit hat beschäftigen wollen“,581 sondern der sich nun ethische und religiöse Gedanken über den Begriff Angst im menschlichen Leben macht. Der dadurch entstehende Anspruch, dass die Wiederholung die Bedingung, und darauf aufbauend sogar die Lösung, eines jeden ethischen Problems sei, kann für Riobaldos Beichte entscheidende Folgen haben. Schon auf den ersten Seiten von Grande Sertão: Veredas stößt man auf eine spezielle Form der Wiederholung, denn Quelemém, Riobaldos spiritueller Pate, glaubt an die Wiedergeburt, wie er mehrmals deutlich zum Ausdruck bringt. Durch den Glauben an Reinkarnation kann er einige Phänomene, die sonst unverständlich oder grausam erscheinen, schlüssig erklären. Er meint zum Beispiel, dass unschuldige Kinder, die plötzlich erblindeten, sicher in einem vorigen Leben Schuld auf sich geladen hätten: „Compadre meu Quelemém reprovou minhas incertezas. Que, por certo, noutra vida revirada, os meninos também tinham sido os mais malvados, da massa e peça do pai, demônios do mesmo caldeirão de lugar.“ (GS:V, p. 6). Oder an anderer Stelle erklärt er, dass jeder abzahlen müsse, was er getan hat, sei es in diesem Leben oder im nächsten: “Haja que, depois – negócio particular dele – nesta vida ou na outra, cada Jazevedão, cumprido o que tinha, descamba em seu tempo de penar, também, até pagar o que deveu – compadre meu Quelemém está aí, para fiscalizar.“ (GS:V, p. 11). Diese Form der Wiederholung ist aber der Philosophie Kierkegaards entgegengestellt, denn für den protestantischen Dänen gibt es zwar eine Wiedergeburt im Sinne der Unsterblichkeit der Seele, doch ist diese gebunden an das Paradox, dass das Ewige in der Form von Jesus Christus eine vergängliche Ausprägung erhalten hat: „Das Ewige, das seinem Wesen nach nichts mit Zeitlichkeit zu tun hat, soll im Paradox doch als entstanden angesehen werden in der Inkarnation Christi, dem absoluten Paradox der Religiosität.“582 Damit ist aber eine Reinkarnation des Einzelnen vollkommen ausgeschlossen. In „Entweder – Oder“ schreibt der Gerichtsrat Wilhelm in einem Brief an den Ästheten A: So ist [...] Gott nur einmal Fleisch geworden, und vergeblich wäre es, darauf zu warten, dass es sich wiederholt. Im Heidentum konnte es des öfteren geschehen – aber eben deshalb, weil es keine wahrhafte Inkarnation war.- Ebenso wird der Mensch nur einmal geboren, und es besteht keine Wahrscheinlichkeit für eine Wiederholung. Eine Seelenwanderung verkennt die Bedeutung der Geburt.“583
Aber auch Riobaldo hat seine Zweifel an Queleméms Glauben an die Wiedergeburt, denn dieser erklärt nicht, wie das Böse in die Welt kam und wie die Menschen begonnen haben, sich gegenseitig zu hassen: „e no começo – para pecados e artes, as pessoas – como por que foi que tanto emendado se começou?“ (GS:V, p. 7). Es ist nicht das Konzept der Reinkarnation, das den Roman die Form einer Wiederholung verleiht, es ist der ganze Text an sich, der dem Wesen nach Züge einer Kierkegaardschen Wiederholung trägt. In der psycholo-
derholung’, Frankfurt am Main, 1984, p. 23). Für die vorliegende Betrachtung ist nur von Bedeutung, dass „Løsnet“ neben „die Losung“ auch „die Lösung“ bedeuten kann. 581 Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’, p. 15. 582 Søren Kierkegaard, ‘Die Krankheit zum Tode’, Glossar: ‘Das Ewige’, p. 139. 583 Søren Kierkegaard, ‘Entweder – Oder’, zweiter Teil, in: ders., Gesammelte Werke, 2. und 3. Abteilung, p. 43.
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gisch-literarischen Studie „Die Wiederholung“, versucht Kierkegaard eine differenzierte Begriffserklärung der für ihn so wichtigen Kategorie der Wiederholung zu geben.
4.1. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie Da der Drang immer wieder etwas Neues zu erleben auf Dauer in Langeweile enden muss, fordert Kierkegaard, unter dem Pseudonym Constantin Constantius, das schon Erlebte nicht zu einer geistlosen Gewissheit verkommen zu lassen, sondern zu versuchen, auch das Vertrauteste mit einem neuen Bewusstsein zu betrachten, um so dem eintönig Vergangenen die erneuernde Kraft des Ewigen abzugewinnen. „Die Faszination der Wiederholung folglich beruht auf ihrer paradoxen Struktur, insofern das Wiederholte als solches dem Ersten gleich und darin doch von diesem verschieden ist.“584 Im Buch „Die Wiederholung“ unternimmt Constantin Constantius nun, wie im Untertitel erwähnt, einen aus dem Leben gegriffenen Versuch in der experimentierenden Psychologie: Constantius überprüft die Frage, ob eine Wiederholung auch praktisch möglich sei, in zwei experimentellen Versuchen. Es sind dies Beispiele für nicht ganz gelungene Wiederholungen: Einerseits versucht er eine Wiederholung seiner eigenen Reise nach Berlin, muss dabei aber erfahren, dass eine derartige Wiederholung nicht möglich ist, obwohl er im selben Zimmer wohnt, dasselbe Theaterstück sieht, ist doch alles anders als beim ersten Mal. Also wagt er ein zweites Experiment: Er rät dem jungen Menschen, der ihm gebeichtet hatte, ein junges Mädchen nur als Muse zu begehren, sie jedoch nicht richtig zu lieben, zu einem gewagten Versuch. Er solle ein Jahr lang zum Schein ein liederliches Leben führen, um dann, wenn ihn das Mädchen noch immer lieben würde, eine Wiederholung zu wagen, seine Dichterexistenz zu durchbrechen und das poetische Verhältnis in einer echten Liebesbeziehung zu wiederholen. Der junge Mensch hatte jedoch nicht die „Federkraft der Ironie“,585 die dieses Experiment verlangte, er verschwand. Nachdem beide Experimente gescheitert sind, gesteht Constantius: „ich habe meine Theorie aufgegeben, ich treibe. Die Wiederholung ist auch mir zu transzendent.“586 Da bekommt er plötzlich Post vom jungen Mann und kann durch dessen Briefe die weitere Entwicklung des Poeten verfolgen. Dieser ist nach Stockholm geflüchtet, wo er nun am Dasein verzweifelt und Trost bei Hiob587 sucht, denn dieser hat alles verloren und dann „alles zwiefältig wiederbekommen. – Das nennt man eine Wiederholung.“ 588 In diesem Sinn wartet auch der unglückliche junge Mensch auf seine Wiederholung, die ihn zum Ehemann machen würde, doch vergebens. An dieser Stelle hätte der verzweifelte Selbstmord des jungen Menschen folgen sollen. Doch Kierkegaard änderte das Ende, nachdem er Nachricht über die öffentliche Wiederverlobung seiner Ex-Verlobten Regine Olsen mit Johan Frederik, oft auch kurz „Fritz“, 584 Dorothea Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständis (Ber-
lin/New York: De Gruyter, 1998), p. 1. 585 Ebd., p. 18. 586 Ebd., p. 59. 587 Gegensätzlich zur Schreibweise „Ijob“ in der neueren theologischen Literatur, die im Kapitel „V. Der Teufel“
in vorliegender Arbeit verwendet wird, folgt die Schreibweise in diesem Kapitel der bei Kierkegaard üblichen Form „Hiob“. 588 Ebd., p. 81.
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Schlegel erhalten hatte. Der vorbereitete tragische Schluss bekommt nun ein fast possenhaftes, „albernes“ Ende, wie Emanuel Hirsch, der Mitherausgeber und Übersetzer der deutschen Kierkegaard Gesamtausgabe, meint.589 Der junge Mensch deutet die Verheiratung des Mädchens als die Wiedererlangung seiner Freiheit: „Ich bin wieder ich selbst; hier hab ich die Wiederholung; ich verstehe alles, und das Dasein erscheint mir schöner denn je.“590 Diese Wendung ist tatsächlich etwas überraschend und psychologisch nicht sehr stimmig. Constantin Constantius erklärt in einem letzten Brief mit der Anrede „Mein lieber Leser!“591 diese Wende damit, dass es sich bei dem jungen Menschen um einen Dichter handle, der die Wirklichkeit dichterisch erklärt und somit die Verheiratung seiner Freundin anstatt als Katastrophe als befreiende Wiederholung deuten kann. Dadurch gewinnt seine Seele nun einen „Anklang an das Religiöse“.592 Diese Freiheit des jungen Menschen, die Wirklichkeit dichterisch zu erklären und somit eine Katastrophe als Befreiung deuten zu können steht ohne Zweifel auch Riobaldo zu, denn Riobaldo ist ebenso ein poetischer Mensch, wie Manuel Bandeira in einem Brief an João Guimarães Rosa feststellt: „você fez Riobaldo poeta, como Shakespeare fez Macbeth poeta. Natural: por que um jagunço dos gerais demais do Uracuia não poderá ser poeta? Pode sim. Riobaldo é você se você fosse jagunço.“593 Als poetischer Mensch versucht Riobaldo ebenso wie der junge Mensch in Kierkegaards Experiment, die Wirklichkeit dichterisch zu erklären, um in seinem Fall den Tod Diadorims als wiedergewonnene Freiheit zu deuten, die die Möglichkeit eröffnet, trotz der Katastrophe des Paktes eine Erlösung zu erlangen.594 Diese Art der Wiedergewinnung seiner Selbst ist jedoch, nach Constantius, keine eigentliche Wiederholung, sie ist nur ein Kompromiss, kein echter religiöser Akt. Es ist dies bezeichnend für den jungen Menschen, „dass er niemals so recht darüber ins Klare kommen kann, was er getan hat, eben weil er es in dem Äußerlichen und Sichtbaren sowohl sehen wie nicht sehen will, oder es in dem Äußerlichen und Sichtbaren sehen, und daher es sowohl sehen wie nicht sehen will.“595
Ebd., p. 160 (Anm.+100). Ebd., p. 89. Ebd., p. 91. Ebd., p. 95. Manuel Bandeira, ‘Grande Sertão: Veredas’, in: ders., Poesia Completa e Prosa (Rio de Janeiro: Nova Aguilar, 1990), pp.511-513 (p.512). 594 So wie in Kierkegaards Versuch gelingt es aber auch Riobaldo nicht: die versuchte dichterische Wiederholung führt ihn bis nahe an das religiöse Stadium, von wo ihm nur noch der Sprung ins Absurde bleibt, um dadurch in der Barmherzigkeit Gottes Erlösung zu erlangen. 595 Ebd., p. 96. Der sperrige und in seiner Differenz zum kausalen Relativsatz nur schwer aufschlüsselbare mit der disjunktiven Konjunktion verbundene Teil des Satzes ist nicht Ergebnis der oft etwas mühsamen Übersetzung, sondern entspricht an dieser Stelle genau dem Dänischen Original: „For det unge Menneske derimod er det netop som Digter charakteristisk, at han aldrig ret kan komme paa det Klare om, hvad han har gjort, netop fordi han I det Udvortes og Synelige baade vil see det og ikke vil see det, eller I det Udvortes og Synlige vil see det, og derfor baade vil see det og ikke vil see det.“ (Søren Kierkegaard, ‘Gjentagelsen’, p. 193). Im Vergleich dazu lautet Liselotte Richters Übertragung jener Stelle: „Für den jungen Menschen dagegen ist es gerade als Dichter charakteristisch, dass er sich niemals recht klar darüber werden konnte, was er gemacht hatte, eben weil er es in dem Äußeren und Sichtbaren sowohl sehen als auch nicht sehen wollte oder es im Äußeren und Sichtbaren sehen und deshalb sowohl sehen und nicht sehen wollte. (Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, Frankfurt am Main ,1984, p. 83). 589 590 591 592 593
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Dieser ewige Zweifel an der eigenen Tat erinnert sehr an Riobaldos Monolog, in dem er die Frage seiner Schuld anfangs im „Äußerlichen und Sichtbaren“ sucht. Er will seine Tat, den Pakt, im Sichtbaren finden, dort aber gleichzeitig nicht sehen, auch, weil ja rein äußerlich tatsächlich nichts geschehen ist. Er will sich den Pakt eingestehen, aber gleichzeitig auch nicht, daher will er ihn sowohl sehen wie auch nicht sehen, um den Worten Kierkegaards zu folgen. Dies drückt sich in der über den ganzen Text schwebende Ambivalenz, wie zum Beispiel im leitmotivisch wiederholten „tudo é e não é“, aus. Das „sehen wollen“ impliziert das gleichzeitige „nicht sehen wollen“, nicht nur als Angst vor den Konsequenzen der Schuld, sondern aus Widerwillen die Wirklichkeit so hinzunehmen wie sie ist, aus Angst vor der Ambivalenz der äußerlichen Realität, die sich nur in einem Eingeständnis des Absurden und in einem damit verbundenen Sprung in die Religiosität überwinden ließe. Der junge Mann in Kierkegaards Text sah die Wiederholung als Lösung der ethischen Anschauung, aber macht nicht die Wiederholung im transzendenten, religiösen Sinn, die Wiederholung, die Hiob und Abraham vollziehen. Kierkegaard fügt an obiges Zitat über die ewigen Zweifel des jungen Mannes kontrastierend die Charakterisierung eines Menschen im religiösen Stadium hinzu: „Eine religiöse Individualität hingegen ruht in sich selbst und verschmäht alle Kinderstreiche der Wirklichkeit.“596 Als religiöse Existenz wäre der junge Mensch aber kein Dichter geworden, er hätte die Wirklichkeit hingenommen und alles religiös ausgeschöpft, „was in jener Begebenheit an entsetzlichen Folgen lag.“ 597 Er hätte zwar gelitten, aber mit „religiösem Furcht und Zittern“ und mit „Glaube und Vertrauen“598 verstanden, warum er Leiden musste. Riobaldo ist diesem gottergebenen Leiden oft schon sehr nahe, aber er ist noch nicht so weit wie Abraham, der das Schwert gegen seinen einzigen Sohn zieht und bereit ist, zuzuschlagen, um während des Zuschlagens noch immer an Gottes Gnade zu glauben. Den genauen Weg dahin hat Kierkegaard in seiner Schrift „Furcht und Zittern“ beschrieben. Die Schrift „Die Wiederholung“ führt also bis an die Grenze des Religiösen heran, bis zum wahrhaften Glauben, dessen Definition dann im Mittelpunkt von „Furcht und Zittern“ steht. Die Frage ist, ob Riobaldo am Schluss seines Berichts den Sprung in die Religion geschafft hat, ob seine abschließende, nun plötzlich nicht mehr ambivalente, sondern sehr eindeutige Bemerkung „O diabo não há! É o que eu digo, se for ...“ (GS:V, p. 538) nur ein zufälliges positives Ende im ständigen Zweifel ist, oder ob Riobaldo als religiöses Individuum nun tatsächlich Ruhe gefunden hat. In diesem Zusammenhang ist es wesentlich festzustellen, ob es sich bei Riobaldos Monolog um eine erzählte Wiederholung seines Lebens handeln könnte, die Lösung seiner ethischen Probleme wäre. Dies könnte ihn dann in das religiöse Stadium führen. Dazu wird im Folgenden die gewaltige Gedächtnisleistung des Monologes, die eine echte Erinnerung erst ermöglicht, analysiert werden. Denn nur wenn Riobaldos lange Beichte mehr ist als eine Aneinanderreihung von Fakten, kann von Erinnerung gesprochen werden, ohne die eine Wiederholung nicht denkbar ist.
596 Ebd. 597 Ebd. 598 Ebd.
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4.2. Gedächtnis versus Erinnerung Kierkegaards Pseudonym William Afham hat sich in der Platons Symposium nachempfundenen Studie „In Vino Veritas“ Überlegungen über die verschiedenen Möglichkeiten des Erinnerns gemacht. Er beschreibt die Erinnerung als eine aktiv zu beherrschende Kunst, die nicht leicht zu erlernen ist (eine Beobachtung, die auch Riobaldo im Laufe seiner Erinnerungen gemacht hat: „Contar é muito, muito dificultoso.“ – GS:V, p. 159): „Die Kunst der Erinnerung ist nicht leicht, weil die Erinnerung im Augenblick der Zubereitung von verschiedener Art sein kann, wohingegen das Gedächtnis allein den Wechsel zwischen richtigem und falschem Gedächtnis kennt.“599 Auch Riobaldo weiß, dass vergangenes Geschehen nur dann zu Erinnerung wird, wenn nicht nur die Fakten gespeichert werden, sondern auch die dazugehörigen Gefühle und Stimmungen: „A lembrança da vida da gente se guarda em trechos diversos, cada um com seu signo e sentimento, uns com os outros acho que num não misturam. Contar seguido, alinhavado, só mesmo sendo as coisas de rasa importância.“ (GS:V, p. 82). William Afham gibt ein Beispiel dafür, was es heißt Vergangenes wieder lebendig werden zu lassen, ohne es dabei zu sehr durch die gegenwärtige Situation zu verfälschen: Was ist z. B. Heimweh? Es ist etwas im Gedächtnis Vorhandenes, dessen man sich erinnert. Auf einfache Weise wird Heimweh dadurch erzeugt, dass man fort ist. Die Kunst wäre die, obwohl man daheim ist, Heimweh fühlen zu können. Dazu gehört eine geübte Einbildungskraft. [...] Das Vergangene an sich heran zu zaubern ist nicht so schwer, als das Allernächste von sich fort zu zaubern für die Erinnerung. [...] Um sich eine Erinnerung zu verschaffen, dazu gehört Kenntnis von den Gegensätzen der Stimmungen, Situationen, Umgebungen.600
Riobaldo hat alle Voraussetzungen zu einem echten Erinnern, er hat ein gutes Gedächtnis („a minha boa memória.“ GS:V, p. 123) und die Fähigkeit neben Fakten auch die jeweiligen Stimmungen und Umgebungen heraufbeschwören zu können. Beim Erzählen wird er so sehr zum Riobaldo der jeweiligen Situation, dass er das Gefühl hat, es handle sich dabei um verschiedene Menschen: „De cada vivimento que eu real tive, de alegria forte ou pesar, cada vez daquela hoje vejo que eu era como se fosse diferente pessoa. [...] Assim eu acho, assim é que eu conto.“ (GS:V, p. 82). Sowohl Kierkegaard als auch Riobaldo sind also der Ansicht, dass das Bewahren und Archivieren von Ereignissen alleine noch keine Erinnerung ist, da das Gedächtnis als reiner Speicher von Informationen noch kein Bewusstsein voraussetzt. Erst durch die Möglichkeit des Geistes verschiedenartige Evokationen heraufzubeschwören, kann die Erinnerung tatsächlich neu gelebt werden und über die Zeit triumphieren. „Meu coração é que entende, ajuda minha idéia a requerer e traçar.“ (GS:V, p. 271), fasst Riobaldo diese Beobachtung treffend zusammen. Zuerst ist die Erzählung ein gewaltiger Gedächtnisaufwand, alle Kleinigkeiten die für den Handlungsverlauf von Bedeutung sind, muss sich Riobaldo zurück ins Gedächtnis rufen. Gleichzeitig ist sein Monolog natürlich aber auch eine Reduktion auf eine Abfolge von wesentlichen Erlebnissen, die Riobaldo erzählt. Er hat nicht vor, dem Zuhörer sein Leben in allen Einzelheiten zu schildern, er möchte diesen nur auf einen wesentlichen 599 Søren Kierkegaard, ‘Stadien auf des Lebens Weg’, Band 1, in: ders., Gesammelte Werke, 15. Abteilung, p. 13. 600 Ebd.
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Punkt, „o ponto dum fato“, hinweisen, um ihn dann um Rat zu fragen: „De tudo não falo. Não tenciono relatar ao senhor minha vida em dobrados passos; servia para quê? Quero é armar o ponto dum fato, para depois lhe pedir um conselho.“(GS:V, p. 187). Bis zu dieser alles entscheidenden Bitte an den Zuhörer muss er aber sein Leben in wesentlichen Zügen erzählend wiederholen. Wohin er in seinem Erzählstrom strebt, was dieser „ponto dum fato“ ist, sagt Riobaldo nicht. Laut Kierkegaard ergibt sich dieser „ponto dum fato“ von selbst, da jede echte Erinnerung, will sie nicht bloße Gedächtniskunst sein, sich automatisch auf einen einzigen Gedanken beschränken muss, denn: „Eigentlich kann man sich allein des Wesentlichen erinnern ... [...]. Das Wesentliche ist nicht allein bedingt durch sich selbst, sondern auch durch sein Verhältnis zu dem Betreffenden.“601 Eduardo Coutinho meint in einer Studie zu Grande Sertão: Veredas, dass der „ponto dum fato“ durch den ganzen Roman als Frage nach der Existenz des Teufels immer wieder wiederholt wird.602 Der Zweifel an der Existenz des Teufels ist sicher ein Hauptmotiv des Romans, bevor Riobaldo jedoch diese Frage in das Zentrum seines Denkens stellte, beschäftigte ihn, etwas expliziter, die Gültigkeit seines Paktes. Wenn man Riobaldos Monolog genau betrachtet sieht man, dass er seine Geschichte nicht zum ersten Mal erzählt, sondern, dass er sie zuvor auch schon seinem Beichtvater Quelemém erzählt hat und damals seine lange Beichte schließlich mit der Frage um die Realität des Paktes beendet hatte: „Mas por fim, eu tomei coragem, e tudo perguntei: – „O senhor acha que a minha alma eu vendi, pactário?!“ (GS:V, p. 538). Seine ganze Erzählung steuerte beim ersten Mal also auf diese eine wesentliche Frage zu. Quelemém antwortete ihm gutmütig: „Tem cisma não. Pensa para diante. Comprar ou vender, às vezes, são as ações que são as quase iguais [...].“ (GS:V, p. 538). Padrinho Quelemém rät ihm, ähnlich wie Kierkegaard in der Wiederholung, nicht zu sehr an der Vergangenheit festzuhalten, sondern nach vorwärts zu denken. „Die Erinnerung ist die heidnische Lebensbetrachtung, die Wiederholung die moderne“,603 wobei Kierkegaard unter „modern“ die christliche Bedeutung versteht. Bei Riobaldos großem Monolog, der als Grande Sertão: Veredas aufliegt, ist nicht mehr sein Beichtvater Quelemém der Zuhörer, sondern es ist nun ein zufälliger Besucher, der gelehrte Doktor von der Küste, der den notwendigen Statisten abgibt, um die Voraussetzung für eine ideale Erinnerung zu schaffen, aus der dann eine erzählte Wiederholung hervorgehen kann. Ohne den Zuhörer wäre ein Wiederauflebenlassen der Vergangenheit nur sehr schwer realisierbar, denn: „Zuweilen lockt es die Erinnerung am besten ans Licht, wenn man so tut, als vertraute man sich einem andern an“,604 wie William Afham in seiner Reflexion über Erinnerung und Gedächtnis meint. Riobaldo gibt dies auch ohne weiteres zu, wenn er seinem geduldigen Gast sagt: „Falar com o estranho assim, que bem ouve e logo longe se vai embora, é um segundo proveito: faz do jeito que eu falasse mais mesmo comigo. Mire veja: o que é ruim, dentro da gente, a gente perverte sempre por arredar mais de si. Para isso é que o muito se fala?“ (GS:V, p. 29). Dem Zuhörer werden zwar die Rollen eines Beichtvaters, Richters und natürlich auch eines Psychoanalytikers aufgezwungen, aber es ist doch meist Riobaldo selbst, der die Fra601 602 603 604
Ebd., p. 12. Vgl. Eduardo Coutinho, The „synthesis“ Novel in Latin America, p. 62. Søren Kierkegaard, ‘Die Wiederholung’, p. 22. Søren Kierkegaard, ‘Stadien auf des Lebens Weg’, p. 15.
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gen stellt, sie beantwortet und auch analysiert. „Die Rolle des Psychoanalytikers wird reduziert auf die eines Katalysators.“605 Riobaldo erzählt sein Jagunçoleben also nicht nur dem Zuhörer, er wiederholt sein Leben vielmehr vor sich selbst: „Conto para mim, conto para o senhor.“ (GS:V, p. 124). Den Rahmen zu dieser Erinnerung gibt Riobaldos ruhige Fazenda am Ufer des Rio de São Francisco ab. Dieses durch viel Arbeit und Liebe von Otacília und Riobaldo friedlich bewirtschaftete Landgut steht im krassen Gegensatz zum erinnerten und erzählten Jagunçoleben Riobaldos. Dadurch gibt dieses Szenario, laut Kierkegaard, den idealen Ort für eine echte Erinnerung ab, denn „[d]ie Situation der Erinnerung ist gebildet durch den Gegensatz“.606 Ein idealer Ort für die Evokation der Erinnerung allein reicht aber nicht, um die von Kierkegaard und Riobaldo angestrebte Wiederholung zu erreichen, die als ethische Kategorie über die reine Erinnerung weit hinausgeht und demzufolge noch schwieriger zu erreichen ist: Die geglückte Wiederholung ist eine kaum nachvollziehbare Gratwanderung zwischen Erinnern und Neu-Erleben des Wiederholten. Die Wiederholung macht das Wiederholte zwar an sich zu etwas Neuem, doch sollte dieses nicht unmittelbar wie etwas Neues erlebt werden, sondern gelassener als etwas wiederholtes Vergangenes genossen werden: „Des Alten wird man niemals leid; und wenn man es vor sich hat, wird man glücklich; und so recht glücklich wird allein der, welcher sich selbst nicht mit der Einbildung betrügt, dass die Wiederholung etwas Neues sein werde.“607 Riobaldo meistert diesen Balanceakt zwischen der Betrachtung seines Lebens als etwas Neuem und doch gleichzeitig schon Gewesenen und Wiederholten über weite Strecken sehr gut.
4.3. Das erzählte Leben als Wiederholung Wie schon im letzten Kapitel erwähnt, handelt es sich bei vorliegendem Monolog Riobaldos nicht um seine erste Beichte, er hat vielmehr schon Übung darin, denn er hat wahrscheinlich schon drei Mal, auf jeden Fall jedoch zwei Mal sein Leben erzählend Revue passieren lassen. Der erste Versuch das Vorgefallene zu erzählen, kurz vor dem Tod Diadorims, scheitert noch an seiner Unentschlossenheit:
605 Martin Münchschander, Form und Figur, p. 31. Flavio Aguiar versucht in einem Artikel eine psychoanalyti-
sche Interpretation von Riobaldos Leben, ohne dabei jedoch auf die schon an sich analytische Erzählsituation einzugehen. Vgl. Flávio Aguiar, ‘Oco do mundo’, in: Beth Brait, O Sertão e os Sertões, p. 79-102. Dante Moreira Leite dagegen sieht Riobaldos Beichte konsequenterweise als eine psychoanalytische Sitzung: Der Patient ist Riobaldo, der zu seinem Analytiker, entweder der Zuhörer oder auch der Leser, spricht. Leite meint, dass Riobaldos Monolog eine freie Assoziation zur Erforschung seiner unterbewussten Vergangenheit sei. Sie lässt in ihrer Interpretation keine Situation aus, um Riobaldos Verhältnis zu seiner Mutter und seinem Vater zu untersuchen. Die jeweiligen Jagunço-Hauptmänner werden als dominante Vaterfiguren gesehen, dessen ultimative Verkörperung der Teufel ist. Riobaldos Problem mit der Ambiguität des Daseins wird radikaler Weise als Psychose gedeutet, die in einer ödipalen Ursünde wurzelt. (Vgl. Dante Moreira Leite, O Amor Romântico e Outros Temas (São Paulo: EDUSP, 1964), p. 66-72. 606 Ebd., p. 16. 607 Søren Kierkegaard, ‘Die Wiederholung’, p. 4.
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Eu ia formar, em roda, ali mesmo, com o Alaripe e o Quipes, relatar a eles dois todo tintim de minha vida, cada desarte de pensamento e sentimento meu, cada caso mais ignorável: ventos e tardes. Eu narrava tudo, eles tinham de prestar atenção em me ouvir. Daí, ah, de rifle na mão, eu mandava, eu impunha: eles tinham de baixar meu julgamento... Fosse bom, fosse ruim, meu julgamento era. Assim. Desde depois, eu me estava: rogava para a minha vida um remir – da outra banda de um outro sossego [...]. (GS:V, p. 505).
Auch hier schon hätte Riobaldo, nach der Erzählung seines Lebens, mit allen Einzelheiten, Empfindungen und Belanglosigkeiten, ein Urteil von den Zuhörern verlangt, „de rifle na mão“. Bei seinen tatsächlichen Beichten ist er dann jedoch milder, er verlangt sein Urteil nicht mehr mit dem Gewehr in der Hand. Der ersten, der er tatsächlich genauer über sein Leben erzählt, ist seiner zukünftigen Frau Otacília. „E a mãe dela, os parentes, todos se praziam, me davam Otacília, como minha pretendida. Mas eu disse tudo.“ (GS:V, p. 534). Ob dieses „tudo“ auch den Teufelspakt enthält, bleibt offen, sicher dagegen gesteht er seine große Liebe zu Diadorim: „Declarei muito verdadeito e grande o amor que eu tinha a ela; mas que, por destino anterior, outro amor, necessário também, fazia pouco eu tinha perdido. O que confessei.“ (GS:V, p. 534). Diese Offenheit seiner Ehefrau gegenüber ist für Riobaldos durch die Ehe erfüllte ethische Lebensform von wesentlicher Bedeutung. Thomte fasst Kierkegaards Überlegungen zur Ehe folgendermaßen zusammenfasst: „The basic characteristic for a true marriage, and as such a characteristic of the ethical, is an openness on the greatest possible scale. Secretiveness is its death.“608 Die zweite Wiederholung seiner Lebensgeschichte ist dann die oben erwähnte Beichte an Gevatter Quelemém und die dritte der vorliegende halbe Dialog mit dem Doktor von der Küste. Auch hier verlangt er wieder nach einem Urteil, aber diesmal ist seine zentrale Frage nicht mehr, wie bei Quelemém, die Realität des Paktes, sondern, weiter gefasst, die Existenz des Teufels im Allgemeinen. Dies ist, wie Eduardo Coutinho richtig aufzeigt, der „ponto dum fato“, der sich als Frage nach dem Teufel durch den ganzen Text zieht. Ohne mit dem Gewehr bedroht worden zu sein, scheint der Zuhörer ein für Riobaldo günstiges Urteil gefällt zu haben: „Amável o senhor me ouviu, minha idéia confirmou: que o Diabo não existe. Pois não? O senhor é um homem soberano, circunspecto. Amigos somos. Nonada. O diabo não há!“ (GS:V, p. 538). Wie Danielle Corpas bemerkt, ist zwar das Motiv der verlorenen Liebe sowohl in der Wiederholung als auch in Grande Sertão: Veredas offensichtlich, doch kann man daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen: „A expectativa de Riobaldo de reaver Diadorim é apenas figurada, limita-se ao gozo das boas lembranças guardadas do convívio. Ele a sabe irremediavelmente perdida, morta; sua lembrança prende-se ao passado sem se projetar para adiante.“609 Für Riobaldo ist Diadorim endgültig verloren, da tot. Seine Erinnerungen an das zeitweise sehr schöne Zusammenleben mit ihr sind in der Vergangenheit begraben und können in der Zukunft nichts mehr ändern. Der spätere Kierkegaard schreibt unter dem Pseudonym Johannes Climacus analog dazu: „Was immer geschehen ist, ist geschehen, kann nicht wieder zurückgerufen werden; somit auch nicht umgeändert werden.“610 Er folgert aber weiter, dass das Vergangene dadurch nicht zu einer Notwendigkeit wird, sondern im Gegenteil 608 Reidar Thomte, Kierkegaard’s Philosophy of Religion, p. 39. 609 Danielle Corpas, ‘A „Reprise“ de Kierkegaard no Grande Sertão: Veredas’, p. 169. 610 Søren Kierkegaard, ‘Philosophische Brocken’, p. 73.
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durch sein Geschehensein zeigt, dass es nicht notwendig sei. Denn das Notwendige wird nicht, sondern ist. Johannes Climacus spricht dem historischen Werden dadurch die Notwendigkeit ab und spinnt diesen Gedanken weiter, indem er sagt, dass jeder, der das Vergangene auffasse, ein rückwärts gewandter Prophet sei.611 Allgemein gesprochen bedeutet dies, dass alles Vergangene immer unbestimmt bleiben muss. Das Einzige, was nicht trügen kann, ist die unmittelbare Sinneswahrnehmung, diese kann jedoch nicht das Historische benennen, „weil das Historische jene Trughaftigkeit an sich hat, die dem Werden eigen ist.“612 Alles was über das unmittelbare Erkennen herausgeht, ist aus diesem durch einen logischen Akt geschlossen, kann also keine allgemeine Gültigkeit für sich beanspruchen. Liessmann fasst die Folgen aus diesen Überlegungen in einem Satz zusammen: „Im Grunde kennt Climacus nur zwei erkenntnistheoretische Konsequenzen: den Glauben in einem allgemeinen, nicht theologischen Sinn und den Zweifel.“613 Beide Begriffe sind auch in Riobaldos Philosophie wesentlich: sein ganzer Bericht ist von einem nagenden Zweifel geprägt, um dann jedoch nach einer plötzlichen Wendung im Glauben zu enden. Climacus definiert den Zweifel als einen Akt des Willens, der dem Zweifler verbietet, einen Schluss aus der Wirklichkeit zu ziehen, um eine Täuschung (oder Enttäuschung) zu vermeiden. Der Glaube dagegen ist das Gegenteil des Zweifels: „Des Glaubens Schluß ist nicht Schluß sondern Entschluß, und daher ist der Zweifel ausgeschlossen.“614 Wie in Folge zu zeigen versucht wird, ist dies genau die Bewegung, die Riobaldo am Ende seiner Beichte vollzieht: er entschließt sich kraft seines freien Willens zu glauben und damit gegen den Zweifel. Da der Zweifel wie alles Ambivalente in Riobaldos Weltsicht etwas Diabolisches ist, entscheidet er sich dadurch auch gegen den Teufel. Vorher muss Riobaldo aber noch erzählend sein Leben wiederholen. Dadurch, dass es keine geschichtliche Wirklichkeit außer der sinnlich erlebten Wahrnehmung gibt, muss Riobaldo durch den Akt der echten Erinnerung sein Leben noch einmal zu einem sinnlich wahrnehmbaren Erlebnis machen, zu einer Wiederholung, die es erlaubt, bei gleich bleibenden äußeren Tatsachen, eine Veränderung der ethischen Qualität des Geschehens zu bewirken und dann als Konsequenz daraus, den Schritt vom Zweifel zum Glauben vollziehen zu können. Es ist also das von Riobaldo erzählte Leben an sich die von Kierkegaard geforderte Wiederholung, und es sind nicht, wie in Danielle Corpas Artikel, einzelne Motive seiner Beichte, die einen Vergleich mit Constantin Constantius’ Theorie der Wiederholung nahe legen. Riobaldos Erinnerungsmonolog ist viel mehr als eine traurig-sentimentale und starre Repetition des Geschehenen. Laut Kierkegaard ist die reine Erinnerung eine Wiederholung nach rückwärts, „wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert. Daher macht die Wiederholung, falls sie möglich ist, den Menschen glücklich, indessen die Erinnerung ihn unglücklich macht.“615 Dadurch, dass Riobaldo keineswegs in einer versteinerten Vergangenheit gefangen ist, kommt er in seiner erzählten Wiederholung dem Wiederholungsideal Constantin Constanti611 612 613 614 615
Ebd., vgl. p. 76. Ebd., p. 77. Konrad Paul Liessmann, Kierkegaard, p. 111. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, p. 80. Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, p. 3.
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us’ schon sehr nahe, woraus sich sowohl ästhetische, ethische als auch religiöse Probleme, die zentral mit Kierkegaards Philosophie verbunden sind, ergeben. Das Konzept dieser drei Lebensstadien ist das zentrale Thema in Kierkegaards umfassendem Gesamtwerk und kann nicht auf die kleine Schrift „Die Wiederholung“ reduziert werden. Das philosophische Konzept der Kierkegaardschen Wiederholung gibt aber schön den Rahmen zu Riobaldos detaillierter Lebensbeichte ab: Riobaldo versucht die Vergangenheit in seinem Monolog noch einmal zu durchleben und unterbricht sich selbst mit Fragen, die auf einen positiven Ausgang der erzählten Wiederholung hinweisen: „O senhor ouvindo seguinte, me entende“ (GS:V, p. 81), „Otacília, o senhor verá, quando eu lhe contar“ (GS:V, p. 119), „O senhor por ora mal me entende, se é no fim me entendera“ (GS:V, p. 119), „O senhor entenderá, agora ainda não me entende“ (GS:V, p. 128), „O senhor vá me ouvindo, vá mais me entendendo.“ (GS:V, p. 326). Erzählend will Riobaldo die Bilanz seines Lebens ziehen, seine Schuld abwägen, den Sinn seines Erdendaseins verstehen und dabei, wenn möglich, zu der Überzeugung gelangen, dass es für ihn Erlösung im Herrn geben kann. „[A]t the moment in which Riobaldo begins his narration to his interlocutor, he reexperiences his past in a different form, and since a critical distance has been established between himself and those past episodes, he is able to transcend misunderstandings and to find and assume his own identity.“616 Wenn man davon ausgeht, dass Riobaldos Monolog als Wiederholung seines Jagunçolebens gilt, so hat er nur dann die Kierkegaardsche Definition der Wiederholung erfüllt, wenn durch die Wiederholung eine Entwicklung geschehen ist und Riobaldo nach der wieder erlebten Vergangenheit einer anderen Lebensphase angehört als vor ihr. Die letzten Sätze seiner Beichte, in denen er die Existenz des Teufels leugnet, müssen nach dem neuerlichen Durchleben seines Jagunçodaseins wörtlich genommen werden, denn der Sinn einer Wiederholung ist das Glück: Die Liebe der Wiederholung ist in Wahrheit die einzig glückliche. Sie kennt ebenso wie die der Erinnerung nicht die Unruhe der Hoffnung, nicht die beängstigende Abenteuerlichkeit der Entdeckung, aber auch nicht die Wehmut der Erinnerung, sie hat des Augenblicks selige Sicherheit. [...] Es gehört Jugend dazu, um zu hoffen, Jugend dazu, um sich zu erinnern, aber es gehört Mut dazu die Wiederholung zu wollen. Wer nichts als hoffen will, ist feige; wer nichts als sich erinnern will, ist wollüstig; wer aber die Wiederholung will, der ist ein Mann, und je gründlicher er es verstanden hat, sie sich klar zu machen ein umso tieferer Mensch ist er.617
Der Scharfschütze und Jagunço Riobaldo hat ohne Zweifel Mut und er ist Manns genug, diese Art der Wiederholung zu wollen. Seine drei Tage618 dauernde Lebenserzählung enthält tatsächlich alle Kennzeichen einer gelebten Wiederholung und grenzt sich ganz deutlich von einer ästhetisierten Vergangenheit ab, obwohl die Lebensrückblicke eines alten Mannes im Allgemeinen leicht die Form einer poetischen Erinnerung annehmen können: „Je poetischer man sich erinnert, umso leichter vergißt man; denn poetisch sich erinnern ist 616 Eduardo Coutinho, The „synthesis“ Novel in Latin America, p. 117. 617 Ebd., p. 4. 618 Riobaldos Besucher ist anscheinend an einem Dienstag angekommen und wird vom monologisierenden
Riobaldo überredet, wenigstens bis Donnerstag zu bleiben: „Depois, quinta de-manhã-cedo, o senhor querendo ir, então vai, mesmo me deixa sentindo sua falta. Mas, hoje ou amanhã, não. Visita, aqui em casa, comigo, é por três dias!“ (GS:V, p. 17).
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eigentlich nur ein andrer Ausdruck für vergessen. Wenn ich poetisch mich erinnere, ist mit dem Erlebten allbereits eine Veränderung vor sich gegangen, dadurch es alles Peinhafte verloren hat.“619 Riobaldos Erinnerung ist nun aber offensichtlich genau das Gegenteil einer in der Vergangenheit erstarrten Anekdotensammlung. Darauf hat auch João Guimarães Rosa selbst besonders hingewiesen. In einem Brief an Curt Meyer-Clason erklärt er, dass Riobaldos Monolog eine sehr lebendige Wiederholung des einst geschehenen darstellt: À página 158 da edição americana, começando o último parágrafo, lê-se: „My memories are what I have.“ Ora, o que está no original (pg. 188 da 1a edição, ou pag. 179 da 2a edição) é: „O que lembro, tenho.“ E a afirmação é completamente diferente ... Riobaldo quer dizer que a memória é para êle uma p o s s e do que êle viveu, confere-lhe p r o p r i e d a d e sôbre as vivências passadas, sôbre as coisas vividas. Tôda uma estrada metafísica pode ter ponto-de-partida nessa concepção.620
Die Behauptung, dass einem die Erinnerung Macht über das Vergangene gibt, kann der Ausgangspunkt einer metaphysischen Philosophie sein, wie Guimarães Rosa hier entschieden anmerkt. Als bekennender Leser der Schriften Kierkegaards ist es wahrscheinlich, dass Rosa wusste, dass diese Idee in Kierkegaards pseudonymen Schriften schon Gegenstand einer eingehenden Analyse wurde. Wie bei Riobaldo sind auch bei Kierkegaard die Erinnerungen nicht das, worauf einer beschaulich zurückblicken kann, sondern viel mehr: An was man sich erinnert, das besitzt man: „O que lembro, tenho.“ (GS:V, p. 163). „Erinnern“ meint bei Kierkegaard demnach „ein Wieder-holen von Genuß, aber nicht nur durch bloße Nachahmung, sondern durch innerlicher Reproduktion.“621 Die amerikanischen Übersetzer von Grande Sertão: Veredas verstanden dies jedoch nicht, sondern implizierten in ihrer Version, dass der alte und milde gewordene Riobaldo nur noch seine Erinnerungen sein eigen kennen kann: E o que os tradutores entenderam, chatamente, trivialmente, foi que Riobaldo, empobrecido, em espírito, pela vida, só possuisse agora, de seu, suas lembranças. Um lugar-comum dos velhos. Justamente o contrário. Viu? Tanto mais que, seguindo-a imediatamente, a pequenina frase que completa aquela é, no original: „Venho vindo, de velhas alegrias.“ E êles verteram: „I am beginning to recall bygone days.“ Aí, tôda a dinâmica e riqueza irradiadora do dito se perderam! Uma pena. Tudo virou água rala, mingau.622
Riobaldos Erinnerung hat nichts mit einer beschaulichen Rückschau gemein. Seine Erzählung ist kein Rückrufen vergangener Tage sondern tatsächlich ein Wiedersehen mit diesen: „Venho vindo, de velhas alegrias.“ (GS:V, p. 163). Sein Bericht ist dadurch, dass er darüber hinaus noch einen Beichtcharakter mit psychoanalytischen Zügen hat, offensichtlich keine ästhetische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, was nach Kierkegaard deren Neutralisierung bedeuten würde, sondern eben eine ethische Wiederholung des Erlebten. Constantius definiert gleich zu Beginn seiner Schrift die Wiederholung als einen verwandten und doch gegengesetzten Begriff zur Erinnerung der alten Griechen.623 Das Erinnern ist 619 620 621 622 623
Søren Kierkegaard, ‘Entweder/Oder’, erster Teil, Band 1, p. 313. João Guimarães Rosa, ‘Briefe an den deutschen Übersetzer’, p. 254. Wilfried Greve, ‘Kierkegaards maieutische Ethik.’, p. 189. João Guimarães Rosa, ‘Briefe an den deutschen Übersetzer’, p. 254. Vgl. vor allem: Platon, ‘Menon’, in: ders., Sämtliche Werke, II (München: Artemis, 1974), p. 401-453.
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in der Wiederholung keine Gedächtnisleistung, sondern es wird eine in der Zukunft gelebte Vergangenheit. Die Wiederholung ist nicht reine Zukunft, auch nicht reine Vergangenheit, es ist der bewusst gelebte Augenblick: „Die Wiederholung, sie ist die Wirklichkeit und des Daseins Ernst. Wer die Wiederholung will, er ist im Ernst gereift.“624 Riobaldo will offensichtlicherweise die Wiederholung seines Jagunçolebens, er ist im Ernst gereift und versucht nun in seinem gewaltigen Monolog das Erlebte wieder neu zu erleben, um seiner Geschichte nun im Nachhinein eine andere Qualität geben zu können. Diese Erweiterung des schon Erlebten ist auch im Kierkegaardschen Sinn Bedingung, denn „die Wiederholung eines Geschehens kann nicht aus diesem selbst hervorgebracht werden, sondern erfordert ein Überschreiten dieses Geschehens.“625 Auch wenn Queleméms, im vorigen Kapitel erwähnter, Rat „Pensa para diante“ nicht explizit an eine mögliche Wiederholung der Vergangenheit in der Zukunft denkt, kann er diese ohne weiteres in sich implizieren, denn die Wiederholung im Sinne Kierkegaards hat zwar den distanziert und bewusst gelebten Augenblick zum Ziel, der aber dabei durchaus auch die Qualität von etwas Neuem gewinnt. Dies ist jedoch nicht das Wesentliche an der Wiederholung: Die Dialektik der Wiederholung ist leicht, denn was sich wiederholt, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen; aber eben dies, dass es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen. Wenn die Griechen sagten, dass alles Erkennen ein sich erinnern ist, so sagten sie: das ganze Dasein, welches da ist, ist da gewesen; wenn man sagt, dass das Leben eine Wiederholung ist, so sagt man: das Dasein, welches da gewesen ist, tritt jetzt ins Dasein.626
Riobaldo dürfte diese Form der Wiederholung beherrschen, denn sein vorliegender Monolog klingt tatsächlich wie etwas soeben Erlebtes und nicht, wie etwas schon öfter Wiederholtes, wie auch von der Sekundärliteratur angemerkt wird: „[D]er Roman GS:V gibt nicht vor, Nacherzählung zu sein, sondern die Erzählsituation in Verbindung mit den immer glaubwürdigen „Tricks“ des Erzählers verschafft uns [...] das Geschehen selbst.“627 Riobaldo sagt über sein eigenes Erzählen: „Tudo isto, para o senhor, meussenhor, não faz razão, nem adianta. Mas eu estou repetindo muito miudamente, vivendo o que me faltava. Tão mixas coisas, eu sei. Morreu a lua? Mas eu sou do sentido e reperdido. Sou do deslembrado. Como vago vou. E muitos fatos miúdos aconteceram.“ (GS:V, p. 468) Durch das Wiederholen der Einzelheiten erlebt Riobaldo alles von neuem, und sogar intensiver als beim ersten Mal, er erlebt auch, was ihm bisher entgangen ist. Sein Monolog zwingt ihn tatsächlich dazu, das Erlebte zu wiederholen: „Seu intuito é reviver como algo novo a mesma experiência“,628 meint Danielle Corpas in ihrem Aufsatz. Diese Vermutung wird von Riobaldo bestätigt, der, wie eben zitiert, zugibt, dass er durch die Wiederholung der vielen Einzelheiten alles noch einmal erlebt. Um die erzählte Wiederholung seines Jagunçolebens nicht zu verfälschen, enthüllt Riobaldo das wahre Geschlecht Diadorims erst zu dem Zeitpunkt, an dem er es selbst erfahren 624 625 626 627 628
Ebd., p. 5. Dorothea Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung, p. 31. Søren Kierkegaard, ‘Die Wiederholung’, p. 22. Martin Münchschwander, Form und Figur, p. 137, Anm.46. Danielle Corpas, ‘A „Reprise“ de Kierkegaard no Grande Sertão: Veredas’, p. 170.
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hatte. Damit wird die Wiederholung perfekt. Sie übersteigt dadurch aber eine Wiederholung im Kierkegaardschem Sinne, der sich eine ideale Wiederholung ja glücklich und ohne banges Hoffen und ohne Angst vorstellt, denn als Riobaldo den Tod Diadorims erzählen muss, wird die Kraft des Wieder-erlebten so stark, dass er ausruft: „Não escrevo, não falo! – para assim não ser: não foi, não é, não fica sendo! Diadorim ...“ (GS:V, p. 530). Riobaldo lebt den Verlust Diadorims mit solcher Intensität wieder, dass er erzählend tatsächlich noch einmal ihren Tod erleben muss. Sein erzählendes Wort gewinnt eine so große Intensität, dass es die Realität ersetzt. Für Dirce Cortes Riedel ist die Kraft der Worte sogar so stark, dass Riobaldos Entschluss nicht weiter zu sprechen tatsächlich Diadorims Leben erhalten könnte: „A realidade é construída pela palavra, que apaga a realidade vivida para fazer a realidade pensada. O narrador não toma conhecimento da morte, continuando a viver o mágico encantamento de Diadorim.“629 Aber Riobaldos Ausruf „não falo“ ist nicht nur paradox, da er ja offensichtlich doch spricht, sondern auch eine Paralipse, denn er erzählt sehr wohl weiter und berichtet in Folge von Diadorims Aufbahrung. 630 Kierkegaard kennt diese Form der Rede im Schweigen: „Wenn Kierkegaard von Schweigen können spricht, so meint er mit diesem Schweigen [...] an und für sich eine Form der Rede.“631 In seiner Verwirrung erwähnt Riobaldo an jener Stelle das einzige Mal im ganzen Monolog, dass er anscheinend nicht nur spricht, sondern offensichtlich auch teilweise mitschreibt: „Não escrevo“. Diese Konfusion, ausgelöst durch den wiederholten gewaltsamen Tod Diadorims, die plötzliche Offenbarung eines mitschreibenden Erzählers, könnte aber auch eine andere Ursache haben: Im Laufe des Texts wird der Leser immer wieder darauf hingewiesen, dass der Zuhörer von der Küste tatsächlich mitschreibt und sich seine Notizen macht. Riobaldo fordert ihn sogar auf sich Notizen zu machen: „O senhor escreva no caderno: sete páginas.“ (GS:V, p. 441). Etwas später, zur Schlacht von Tamanduá-tão reichen sieben Seiten nicht mehr aus: „[O] senhor aí escreva: vinte páginas.“ (GS:V, p. 482). Nach dem Tod Diadorims reicht aber anscheinend nur mehr ein ganzes Buch aus, um das Vorgefallene zu beschreiben: „Vida vencida de um, caminhos todos para trás, é história que instrui vida do senhor, algum? O senhor enche uma caderneta ...“ (GS:V, p. 527). Dieses im Text immer wieder erwähnte, mit Riobaldos Gedanken gefüllte Notizbuch des Besuchers legt die Vermutung nahe, dass die als Grande Sertão: Veredas vorliegende Lebensbeichte des Ex-Jagunços Riobaldo, die Niederschrift dieser Notizen ist. Rössner weist auf diesen Interpretationsansatz hin: „Grande Sertão ist der an einen ‚Doktor aus der Stadt’, wohl den Erzähler, gerichtete Monolog eines analphabetischen Räuberhauptmanns aus dem Sertão [...]“.632 629 Dirce Côrtes Riedel, ‘Choques e interação de culturas.’, Travessia, revista do curso de pós-graduação em
literatura brasileira. UFSC. Florianópolis, 2o semestre de 1987, No 15, 70-84 (p.78). 630 Die Aufbahrung Diadorims erinnert an die Aufbahrung der auch jung gestorbenen und ebenfalls androgyn wirkenden Mignon, die im Tod jedoch plötzlich als „Er“ besungen wird. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, 7, besonders: pp.574-576. 631 Krisoffer Olesen Larsen, Søren Kierkegaard (Gütersloh: G. Mohn, 1973), p. 110. 632 Michael Rössner, ‘„Literatura fantástica in Brasilien?’, p. 245. Die Bezeichnung „analphabetischer Räuberhauptmann“ trifft für Riobaldo nicht ganz zu, ist er doch sehr wohl in die Schule gegangen und war sogar Zé Bebelos Hauslehrer. Auch in dieser Situation zeigt sich wieder die den ganzen Roman durchziehende Ambivalenz des Lebens: Riobaldo ist für einen Sertanejo gebildet, hat jedoch nicht die akademische Erziehung seines
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Wladimir Antônio da Costa Garcia führt diese Beobachtung, dass der Doktor aus der Stadt wohl der Erzähler sei, weiter aus und erkennt im Zuhörer einen „narrador em 2o grau“, der das von Riobaldo erzählte Leben aufzeichnet und als Text zugänglich macht.633 Riobaldo fragt seinen Zuhörer, ob man aus einem erzählten Menschenleben etwas lernen könnte, dieser gibt natürlich keine hörbare Antwort, doch er füllt seinen Notizblock. Im Augenblick der größten Erregung sagt Riobaldo plötzlich „não escrevo“, er wird in diesem Moment also zum anderen, zum mitschreibenden Zuhörer, der den Tod und das wahre Geschlecht Diadorims erst jetzt zum ersten Mal erlebt. Es ist dies nicht das erste Mal im Roman, dass Leben getauscht werden.634 Riobaldos Monolog ist eine Wiederholung seines Jagunçolebens, teilweise ist er jedoch nur der Versuch einer Wiederholung im Sinne Kierkegaards. So wie das Experiment Constantin Constantius und das des jungen Menschen missglückt, beziehungsweise nur teilweise geglückt sind, ist auch Riobaldos Wiederholung keine perfekte. Die ideale Wiederholung wäre eine automatische, jeden Moment genießende Reprise des Erlebten, die dadurch eine höhere Qualität als das erste Mal erlangt. Die seelische Involvierung, die Riobaldo beim erzählten Tod Diadorims zeigt, hat nicht die nötige Abgeklärtheit, um aus ihr eine eigentliche ethische Erfahrung zu machen.635 In anderen Teilen der Erzählung gelingt ihm dagegen eine Wiederholung als ethische Kategorie sehr wohl, er ist trotz allen Leids und Zweifels ein distanzierter Erzähler seines eigenen Lebens: „O narrador, jagunço aposentado, distanciado da matéria que o move ...“636 Als alternder Ex-Jagunço ist Riobaldo abgebrüht und ruhig genug, um sowohl über Vergangenheit als auch über Zukunft bestimmen zu können und sich so der Sachen „vorlings“ zu erinnern, wie Kierkegaard es vorschlägt: „Consegui o pensar direito: penso como um rio tanto anda: que as árvores das beiradas mal nem vejo ... Quem me entende? O que eu queira. Os fatos passados obedecem à gente; os em vir, também.“ (GS:V, p. 301). Nun fehlt nur noch die Gabe, bewusst den gelebten Augenblick erleben zu können, um das wahre Glück zu finden. Doch auch das hat Riobaldo schon
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Zuhörers, dem er diese neidet: „Inveja minha pura é de uns conforme o senhor, com toda leitura e suma doutoração. Não é que eu esteja analfabeto. Soletrei, anos e meio, meante cartilha, memória e palmatória.“ (GS:V, p. 7). Zu Rössners These des Zuhörers als Erzähler vgl. auch das Kapitel „IV. Erzähltechnik in Grande Sertão: Veredas” in vorliegender Arbeit und: Eduardo Coutinho, ‘Guimarães Rosa’s aesthetic revolution.’, p. 213. Wladimir Antônio da Costa Garcia, ‘Quem é o Narrador do Grande Sertão?’, Travessia, 15 (1987), pp.96-103. Vgl. das Kapitel: „VI. 7. Leben Tauschen“ in vorliegender Arbeit. Kierkegaards Idee einer idealen Wiederholung erinnert an Roland Barthes’ Vorstellung einer idealen Lektüre: Man sollte einen Text so lesen, also ob man ihn schon gelesen hätte, um sich dadurch mehr auf die Struktur und die Schönheit des im Augenblick Gelesenen konzentrieren zu können und nicht immer nur an den Ausgang des Buches zu denken: „Und noch eine Freiheit muß akzeptiert werden: den Text so zu lesen, als wäre er schon gelesen worden. [...] Eine wiederholte Lektüre [...] wird hier gleich zu Beginn vorgeschlagen, denn sie allein bewahrt den Text vor der Wiederholung (wer es vernachlässigt, wiederholt zu lesen, ergibt sich dem Zwang, überall die gleiche Geschichte zu lesen [...] als ob es einen Beginn der Lektüre gäbe, als ob alles nicht schon gelesen wäre: es gibt keine erste Lektüre [...]“ (Roland Barthes, S/Z, p. 20). Analog dazu sollte man, laut Kierkegaard, sein Leben so leben, als ob man es schon einmal gelebt hätte, um sich dadurch besser auf die ethische Qualität des Lebens konzentrieren zu können. Dadurch, dass man den Ausgang des Erlebten schon kennt, kann man sich auf den Augenblick konzentrieren und lebt nicht immer in der Zukunft oder Vergangenheit. Das Leben im Augenblick ist das eigentliche Ziel eines glücklichen Lebens. Lenira Marques Covizzi, O insólito, p. 51.
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gelernt: „Só o poder do presente é que é furiável? Não. Esse obedece igual – e é o que é. Isto, já aprendi.“ (GS:V, p. 301).
4.4. Annäherung an das religiöse Stadium Thus the ethical stage is an approach to the religious but, mark well, the Christian categories of sin and faith are not touched. The whole solution lies within the realm of human immanence.637
In Kierkegaards Versuch in der experimentierenden Psychologie „Die Wiederholung“ zitiert der junge Mensch die Prüfungen Hiobs und dessen Erlösung vom Leid als die Form der schönsten Wiederholung, da sie nicht bewusst gewählt wird, sondern aus dem Glauben entspringt. Hiob ergibt sich demütig in Gottes Willen und überwindet jeden Gedanken an einen ihm feindlich gesinnten und ihn ungerecht quälenden Gott. Er vertraut auf den immer gerechten Gott, der nicht den Menschen verurteilt, sondern ihn jenseits einer engherzigen Vergeltungsvorstellung annimmt und nach dem Leid zu sich führt. „Das Buch Ijob zeigt einen Menschen im Leid, der Gott immer größer als den Menschen sein läßt und sich ganz dieser Größe Gottes anheimgibt. Das Leid bleibt ein ungelöstes Rätsel, das sich aller vernunftgemäßen Erklärung entzieht. Aber durch das Leid stößt Gott neu zur Glaubensentscheidung an.“638 Die Wiederholung tritt bei Hiob laut Kierkegaard in jenem Moment ein, als alle denkbare menschliche Gewissheit und Wahrscheinlichkeit für die Unmöglichkeit einer Erlösung sprechen. Unmittelbar gesprochen ist alles verloren. Seine Freunde, insbesondere Bildad meinen, dass, wenn er vor Gott seine Schuld eingestehe, er auf eine Wiederholung bis zum Überfluss erhoffen dürfe, doch Hiob will das nicht. Hier bricht Kierkegaard in seiner Untersuchung ab und er sagt: „Hiermit spannt sich der Knoten und die Verwicklung, welche allein gelöst werden können durch einen Donnerschlag.“639 Der Donnerschlag ist die Wiederholung, in der Hiob alles „zwiefältig“ wiederbekommt. Dieses Ende der Hiobsgeschichte, in der Hiob sein früheres Ansehen und auch sonst alles von Gott doppelt zurückbekommt, stehen im Widerspruch des sonst im realen Leben erfahrbaren. Es entspricht zwar dem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden, doch ist diese Gerechtigkeit in der menschlichen Wirklichkeit nicht gegeben, wodurch das Ende der Hiobsgeschichte nichts anderes als „unerklärlich und absurd“640 ist. Genauso unverständlich und ungereimt erscheint einigen Kommentatoren das positive Ende von Riobaldos Monolog, doch dieses ist von wesentlicher Bedeutung für den ganzen Roman: Genauso wie für Constantin Constantius’ „Junger Mann“ und für Hiob ist auch für Riobaldo die Voraussetzung für Erlösung ein zuvor erlittener endgültiger Zusammenbruch. Erst als alles verloren scheint, erst als er als schuldiger Teufelsbündner den am meisten geliebten Menschen, Diadorim, in aller Tragik verlor, stirbt alle Hoffnung in ihm, das ist der Donnerschlag durch den sich plötzlich die Möglichkeit eines positiven Ausgangs seines Lebens ergibt. Verzweifelt zieht Riobaldo wie unter Zwang zu den verhängnisvollen 637 638 639 640
Reidar Thomte, Kierkegaard’s Philosophy of Religion, p. 42. Die Bibel. Vorbemerkung zum Buch Ijob, p. 585. Søren Kierkegaard, ‘Die Wiederholung’, p. 82. Walter Dietz, Søren Kierkegaard. Existenz und Freiheit. (Frankfurt am Main: 1993), p. 244, Anm.26.
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Veredas-Mortas: „Como se, tudo revendo, refazendo, eu pudesse receber outra vez o que não tinha tido, repor Diadorim em vida?“ (GS:V, p. 532). Doch mit Diadorims Tod hat sich alles geändert: hatte Diadorim zu Lebzeiten durch die vermeintlich homoerotische Liebe eine dämonische Funktion, so ist sie nun im Tod die Verkörperung einer reinen Unschuld. Es erweist sich als unmöglich, durch eine Wiederholung der Ereignisse in den VeredasMortas Diadorim wieder lebendig zu machen, nicht nur aus biologischen Motiven, sondern auch weil sich herausstellt, dass es einen Platz namens Veredas-Mortas gar nicht gibt, der bestimmte Ort heißt vielmehr „Veredas-Altas“ (GS:V, p. 532). Alles Dämonische scheint plötzlich aus diesem für Riobaldo so geschichtsträchtigen Ort gewichen. Ohne Diadorim ist alles anderes geworden, besonders Riobaldos Leben, denn er hatte seine eigene vergangene Identität über seinen Freund definiert: „Diadorim: sabendo deste, o senhor sabe minha vida;“ (GS:V, p. 279). Als Riobaldo das erkennt, bricht er zusammen und kämpft eine lange Zeit unter schwerem Fieber mit dem Tod. Doch der zähe Ex-Jagunço gewinnt diesen Kampf, erholt sich, findet in Gevatter Quelemém einen idealen spirituellen Führer, heiratet Otacília und verbringt sein neues Leben nachdenkend am Ufer des Rio São Francisco, bis er eines Tages einem zufällig vorbeikommenden Gast sein Leben erzählt. Hiobs Gottvertrauen, das so stark ist, dass er nicht einmal mehr auf Erlösung hofft, ist mit Riobaldos Resignation kurz vor seinem Zusammenbruch wesensverwandt. Kierkegaard erklärt selbst dieses Zwischenstadium: „Die unendliche Resignation ist das letzte Stadium, das dem Glauben vorausgeht, dergestalt, dass keiner den Glauben hat, der diese Bewegung nicht gemacht hat.“641 Diese Resignation steht kurz vor dem Sprung ins Absurde, in das Stadium der Religiosität, das in Kierkegaards Schrift „Die Wiederholung“ noch nicht so genau definiert ist. Am 16. Oktober 1843 ist aber gleichzeitig mit der Wiederholung noch eine zweite Schrift Kierkegaards im Kopenhagener Buchhandel erschienen:642 „Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio.“
4.5. Der Glaube als Sprung ins Absurde Ebenso wie Kierkegaard sieht sich auch Guimarães Rosa als religiöser Schriftsteller, der sich jedoch an keine Staatskirche oder andere Organisation hält: „Sou só religão – mas impossivel de qualquer associação ou organização religiosa: tudo é o quente diálogo (tentativa de) com o ∞.“643 Auch diese Selbstcharakterisierung, dass all sein Schaffen nur der „leidenschaftliche Dialog mit dem Ewigen“ sei, findet eine Parallele in Kierkegaards Werk, denn dieser behauptet, dass Leidenschaft und Unendlichkeit sich bedingen: „denn mit unendlicher Leidenschaft kann man sich, falls man nicht verzweifelt ist, nur zum Ewigen verhalten.“644 Es ist jedoch nicht nur der Autor Guimarães Rosa im kierkegaarschen Sinn
641 Søren Kierkegaard, ‘Furcht und Zittern’, p. 47. 642 Es ist mit den von Kierkegaard ohne Pseudonym verfassten „Drei erbaulichen Reden“ am selben Tag sogar
noch eine dritte Schrift von ihm erschienen. 643 Guimarães Rosa in einem Brief vom 14. 9. 1957 an Paulo Dantas. In: Paulo Dantas, Sagarana emotiva, p. 9. 644 Søren Kierkegaard, ‘Der Liebe Tun. Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden’, Band 1, in: ders.,
Gesammelte Werke, 19. Abteilung, p. 47.
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religiös, auch seine Romanfigur Riobaldo vollzieht eine Bewegung hin zum Glauben, welche in diesem Kapitel nachvollzogen wird. In „Furcht und Zittern“ stellt Kierkegaard an Hand der von Gott anbefohlenen und zurückgenommenen Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham, unter dem Pseudonym Johannes de Silentio die Frage nach den Grenzen der Moral. Die Szene wird, wie der Untertitel „dialektische Lyrik“ andeutet, nicht streng philosophisch untersucht, sondern eher poetisch dargestellt. Die Untersuchung beginnt mit einer „Stimmung“, in der ein Mann vorgestellt wird, dessen größter Wunsch es war, die Geschichte von Abraham und Isaak vollkommen verstehen zu können, oder sogar dabei gewesen zu sein bei jener Begebenheit: „Der Mann war kein gelehrter Schriftausleger, Hebräisch konnte er nicht; hätte er Hebräisch gekonnt, mag sein, dass er die Geschichte und Abraham leicht verstanden hätte.“645 Ähnlich ist Riobaldos Situation, denn auch für ihn gilt: „je älter er wurde, desto öfter wandten seine Gedanken sich jener Geschichte zu [...], und doch vermochte er es immer weniger, die Geschichte zu verstehen.“ 646 Seine Geschichte ist dabei natürlich nicht die Opferung eines Sohnes, sondern sein Pakt, den er geschlossen hatte, um den Mord an den Vater seines besten Freundes, zu dem er eine vermeintliche homoerotische Affinität hatte, zu rächen. Aber auch Riobaldo glaubt, dass er, wäre er ein Gelehrter, das Rätsel seines Lebens viel leichter lösen könnte: „Eu sei que isto que estou dizendo é dificultoso, muito entrançado. Mas o senhor vai avante. Invejo é a instrução que o senhor tem. Eu queria decifrar as coisas que são importantes.“ (GS:V, p. 83). Es ist aber gerade die Ungelehrsamkeit, die Voraussetzung für das eigentliche Problem ist, denn für den gelehrten Zuhörer von der Küste ist das Problem um die Existenz des Teufels schon nach wenigen Seiten gelöst, es gibt keinen Teufel: „Mas, não diga que o senhor, assisado e instruído, que acredita na pessoa dele?! Não? Lhe agradeço! Sua alta opinão compõe minha valia. [...] Lhe agradeço. Tem diabo nenhum.“ (GS:V, p. 4). Riobaldo jedoch zweifelt lange, ob er seine Seele verkauft hat oder nicht. Er hat den Teufel dreimal angerufen, um seine Seele für den Sieg über Hermógenes, dem personifizierten Bösen, zu geben. Während der mitternächtlichen Kreuzwegszene war er willig seine Seele zu opfern, obwohl er gleichzeitig glaubte, dass Gott ihm nicht der Macht des Anderen preisgeben würde. Er war willig dem Satan seine Seele zu vermachen, um damit die Kraft zu bekommen den Teufel zu besiegen, derweilen er gleichzeitig, zumindest in der erzählten Wiederholung, glaubt, dass Gott stärker ist als das Böse und er bei ihm Gnade finden würde. Er glaubt in kraft des Absurden. Ähnlich ist die Situation bei Johannes de Silentius’ Interpretation der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham: „[Abraham] glaubte, Gott würde Isaak nicht von ihm heischen, derweile er doch willig war, ihn zu opfern, wo es verlangen würde. Er glaubt in kraft des Absurden; denn von menschlicher Berechnung konnte da die Rede nicht sein.“647 Auch bei Riobaldo darf man nicht von menschlicher Berechnung sprechen, wenn er glaubt, seine Seele retten zu können. Er geht den Pakt nicht mit der Hoffnung ein, dass Gott ihm trotzdem verzeihen würde. Riobaldo weiß, dass man nicht den Teufel anrufen kann und gleichzeitig auf Erlösung hoffen. Trotzdem tut er es. Wie immer man Abrahams Tat nun 645 Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern, p. 8. 646 Ebd., p. 7. 647 Ebd., p. 34.
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auch betrachten will, im rationalen Sinn bleibt dieses Opfer ein Mord. Gerechtfertigt werden kann Abraham nur durch den Glauben, denn dieser steht jenseits aller Rationalität. Abraham war bereit seinen Sohn zu opfern, „und es war ja doch das Absurde, dass Gott, der dies von ihm heischt, im nächsten Augenblick sein Heischen widerrufen würde.“648 Diese unauflösbare Absurdität des Glaubens wird zum wesentlichen Bestandteil der späten philosophisch-religiösen Schriften Kierkegaards werden. Der Glaube bleibt ein Mysterium, das man rational nicht zu erklären vermag. Besonders deutlich sieht man das Paradox des Glauben in der eben erwähnten Abrahamsgeschichte, welche aus einem Mord eine Gott durchaus gefällige Handlung machen kann. Dieses Paradox gibt Abraham seinen Sohn Isaak wieder, „etwas, dessen sich kein Denken bemächtigen kann, weil der Glaube eben da beginnt, wo das Denken aufhört.“649 „Sacrificing Isaac would be a crime according to the moral law. According to faith, it is an act of obedience. To obey God, Abraham had to suspend the ethical.“650 Abraham hat dadurch, dass er das Absurde akzeptiert, das religiöse Stadium erreicht. Durch den Sprung in die Religiosität verzichtet Abraham auf die Wiedergewinnung seines Opfers, gerade deshalb gibt ihm Jahwe seinen Sohn zurück. Diese Wiederholung ist wahrscheinlich die höchste Form, die erreicht werden kann. Nimmt man den Glauben fort, hat Riobaldo kein Problem. Sieht man die Kreuzwegszene atheistisch, so reduziert sie sich auf einen Mann, der mitternachts dreimal einen Namen ruft und in der Früh völlig durchfroren wieder zurück ins Lager kehrt. Durch die Ambivalenz des ganzen Romans bleibt es unentschieden, ob Riobaldos weiterer Weg ab dem Pakt durch Autosuggestion oder durch tatsächliche dämonische Hilfe plötzlich in so anderer Weise als vorher verlaufen ist. Es ist dies aber gar nicht die eigentliche Frage des Romans, denn auch wenn Riobaldo keinen Pakt eingegangen ist, bleibt seine religiöse Schuld im Anrufen des Teufels gegeben. Die Problematik in Riobaldos Leben stellt sich erst durch seinen starken Glauben. So sehr er auch an der Existenz des Teufels zweifelt, umso stetiger ist dagegen sein Glaube an Gott, der kein einziges Mal im ganzen Text auch nur ansatzweise angezweifelt wird. Es ist also der Glauben, der das Leben schwer macht: „Somemos, não ache que religião afraca. Senhor ache o contrário.“ (GS:V, p. 15). Ähnliches hat auch Johannes de Silentio in seiner Studie zu Abraham schon beobachtet: „Nimmt man nämlich den Glauben fort, indem man ihn zu Null und Nichts werden läßt, so bleibt nur die rohe Tatsache übrig, dass Abraham Isaak morden wollte, was bequem genug nachzumachen ist von jedem, der den Glauben nicht hat, – will sagen, den Glauben, der es schwer macht.“651 Der Glauben macht das Leben zwar schwer, aber „nur durch den Glauben erlangt man die Gleichheit mit Abraham, nicht durch den Mord.“652 Ähnlich wie Abraham glaubt Riobaldo so stark an die Gerechtigkeit Gottes, dass er gar nie um Hilfe oder Erlösung fleht. Genau dieser unberechnende, verzweifelte Glauben in Gott, ohne auf dessen Vergebung zu hoffen, macht aus Riobaldo einen Abraham. Diese paradoxe Situation, der tiefe Glauben ohne Hoffen auf Erlösung, ist der Kierkegaardsche Sprung in das Absurde der Religion. Riobaldo hat 648 649 650 651 652
Søren Kierkegaard, ‘Furcht und Zittern’, p. 34. Ebd., p. 56. Paul Ricoer, ‘Two Encounters with Kierkegaard’, p. 319. Ebd., p. 27. Ebd., p. 28.
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ihn vollzogen und so ist auch das Ende seiner Beichte als eine „Absage an die Spekulation“653 zu sehen. Benedito Nunes meint in seiner Studie über die Liebe in Guimarães Rosas Werk, den Schluss von Grande Sertão: Veredas betreffend: „Ao dizer que o que existe é homem humano, Riobaldo não sómente estaria dando ênfase ao seu pensamento, por essa feliz redundância poética, mas talvez lhe passasse no espírito a suspeita de que o humano contém só um dos lados da natureza do homem e que a vida é uma tentativa de travessia – para o outro lado, divino.”654 Dieser Überlegung entgegengesetzt meint Münchschwander in seiner Deutung des Leitmotivs „travessia“ jedoch, dass sich Riobaldos Fragen „niemals auf Jenseitiges beziehen“.655 Eine Erklärung für diese divergierenden Auslegungen könnte die hier erarbeitete These sein, dass es sich bei Riobaldos „travessias“ nicht um den Wechsel in ein anderes, jenseitiges, Leben handelt, sondern um einen Wechsel von Lebensstadien, die in der Philosophie von Kierkegaard genau beschrieben werden. Kierkegaard lässt den Menschen durch die Wiederholung von Stadium zu Stadium in die höchste Transzendenz der Religiosität hinauf schwingen, wobei die Religiosität schon auf allen Stufen im Hintergrund steht. Nur durch die Wiederholung ist dieses philosophisch-existentielle Hochgeschraubtwerden zu realisieren. Au fond, je suis un solitaire, eu também digo; mas como não sou Mallarmé, isto significa para mim a felicidade. Apenas na solidão pode-se descobrir que o diabo não existe. E isto significa o infinito da felicidade. Esta é a minha mística. [...]. Pois o diabo pode ser vencido simplesmente porque existe o homem, a travessia para a solidão, que equivale ao infinito.656
Guimarães Rosa bestätigt hier, dass für Riobaldo sein zurückgezogenes Leben als Fazendeiro notwendig ist, um in der einsamen Reflexion und der erzählten Wiederholung seines Jagunçolebens das Glück, Erlösung und damit Unendlichkeit zu finden.
4.5.1. Das Paradox João Guimarães Rosa lässt im gleichen Gespräch mit Günter Lorenz noch eine weitere Parallele zwischen seiner Philosophie und dem Denken Kierkegaards erkennen: Das Paradox. Beide sehen das Paradox als etwas Essentielles im Leben eines Denkers an. Kierkegaard meint zum Paradox: „Doch soll man vom Paradox nichts Übles denken; denn das Paradox ist des Gedankens Leidenschaft, und der Denker, der ohne das Paradox ist, er ist dem Liebenden gleich welcher ohne Leidenschaft ist: ein mäßiger Patron. [...] Das ist denn des Denkens höchstes Paradox: etwas entdecken wollen, das es selbst nicht denken kann.657 Das größte Paradox sieht Kierkegaard in der Menschwerdung Christi, weil durch diese die ewige Wahrheit sich plötzlich in einer endlichen Form personifiziert hat. Für Guimarães
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Gabriela Hofmann-Ortega Lleras, Die produktive Rezeption, p. 40. Benedito Nunes, ‘O Amor na obra de Guimarães Rosa’, p. 130. Martin Münchschwander, Form und Figur, p. 145, Anm.105. Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 37. Søren Kierkegaard, ‘Philosophische Brocken’, p. 35.
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Rosas Denken und Schreiben wiederum ist das Paradox deshalb von Bedeutung, da durch dieses etwas sonst Unsagbares ausdrücken kann: [...] a vida, a morte , tudo é, no fundo, paradoxo. Os paradoxos existem para que ainda se possa exprimir algo para o qual não existem palavras. Por isso, acho que um paradoxo bem formulado é mais importante que toda a matemática, pois ela própria é um paradoxo, porque cada fórmula que o homem pode empregar é um paradoxo.658
Diese Ansicht, dass im Grunde alles paradox sei, kann man gleich auf den ersten Seiten von Grande Sertão: Veredas nachlesen, in denen Riobaldo sich intensiv mit den Widersprüchlichkeiten des Lebens auseinandersetzt. Zentrales Thema dabei ist natürlich das Sein oder Nicht-Sein des Teufels, was in der bereits zitierten Aussage in Frageform mündet: „O diabo existe e não existe?“ (GS:V, p. 3). Dieser kurze und in seiner Unbestimmtheit fast schwebende Satz zeigt deutlich, wie stark das Diabolische bei Riobaldo mit dem Phänomen der Ambivalenz verbunden ist. Alles Zweideutige im Leben hat laut ihm mit dem Teufel zu tun, wogegen Gott das Prinzip der Ausdauer darstellt.659 Die Sekundärliteratur zu Grande Sertão: Veredas hat sich in sehr vielfältiger Weise mit dem Problem der Ambivalenz im Roman und mit der Existenz des Teufels auseinandergesetzt. Manche Kommentatoren meinen, Riobaldo hat am Ende seiner Beichte Erlösung gefunden660 andere meinen nicht.661 Der Großteil der Untersuchungen lässt diesen so entscheidenden Punkt in ihren Auslegungen jedoch offen. Die Interpretationen bleiben oft von einem persönlichen Gefühl geprägt, denn welche Bewegung Riobaldos letzter Absatz vollzieht, kann ohne entsprechendes philosophisches Instrumentarium nur schwer erklärt werden. Für Münchschwander steht zum Beispiel fest, dass Riobaldo Halt in Gott gefunden hat: „Eigenartigerweise scheint der erzählende Riobaldo nun in seinem kontemplativen Leben eine Glaubensgewissheit in Gott gefunden zu haben [...].“662 Doch ist die Bewegung dahin nicht nachvollziehbar: „Die Gründe für Riobaldos Unfähigkeit, die Fragen zu lösen, liegen nicht in ihm, sondern darin, daß die Fragen, um deren Lösung er unaufhörlich ringt, praktisch und theoretisch unlösbar sind.“663 Damit beschreibt Münchschwander fast Kierkegaards Definition des wahrhaft Religiösen, dass „der Glaube eben da beginnt, wo das Denken aufhört.“664 Da Kierkegaard einen Großteil seiner Schriften um genau dieses Problem herum anordnet, schafft er ein sehr umfangreiches und feines Instrumentarium und Handwerkszeug, um an diesem Grenzbereich des Denkens doch noch etwas sagen zu können. Dieses Instrumentarium ist nun sehr hilfreich, um Riobaldos Situation erklären zu können: Wenn Riobaldo am Ende seiner Beichte die Existenz des Teufels leugnet und man diese Erkenntnis ernst nimmt, dann ergibt sich daraus das Paradox, dass durch eine Absenz des Teufels die Zweideutigkeiten des Lebens plötzlich nicht mehr dem 658 Günter Lorenz, ‘Diálogo com Guimarães Rosa’, p. 37. 659 Vgl. das Kapitel „III. 3. 3. Das Wirken des Teufels in Grande Sertão: Veredas in vorliegender Arbeit. 660 Gabriela Hofmann-Ortega Lleras, Die produktive Rezeption; Martin Münchschwander, Form und Figur; Tania 661 662 663 664
Rebelo Serra Costa, Riobaldo Rosa. Franklin de Oliveira, ‘A Degradação de Riobaldo’, Correio da Manhã, São Paulo 14. 4. 1968. Martin Münchschwander, Form und Figur, p. 87. Ebd., p. 86. Kierkegaard Søren, ‘Furcht und Zittern’, p. 56.
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Bösen zugeordnet werden können und damit Teil der Welt des stetigen Gottes geworden sind. Dies ist das klassische Theodizeeproblem, wie Gott als das Gute schlechthin das Böse zulassen kann. Von den Stoikern bis zu den „Essais de Théodizée“ (1710) von Leibniz ist dies entweder durch eine Leugnung der Übel oder dadurch, dass man sie als Prüfungen durch Gott betrachtet gelöst worden. 665 Riobaldo macht beides nicht und akzeptiert das Böse als Teil von Gottes Welt als etwas Unverständliches und Absurdes. Ähnliches macht auch Kierkegaard in seinen Argumentationen, denn er sagt, dass sich die Paradoxa des Lebens zwar erklären, nicht aber klären lassen: Die Vernunft erfährt durch das Absurde die Grenze ihres Begreifens, im besten Fall wird das Absurde von der Vernunft als das Unbegreifbare begriffen. Das größte Paradox des Lebens ist der Glauben, da die Gottheit Jesu sich jeder verstandesmäßigen Erkenntnis entzieht. In der Behauptung, dass Jesu der Gottesmensch sei findet die Tatsache Ausdruck, dass an dieser Erkenntnis des Glaubens die Vernunft ihre Grenzen findet. Akzeptiert der Mensch also die Zweideutigkeiten des Lebens und schafft es trotzdem an Gott zu glauben, so hat er den Sprung in die Religiosität geschafft. Genau dies ist jedoch die Bewegung die Riobaldo am Schluss seiner Beichte vollzieht. E, a conclusão idêntica, chega, no plano social, a mensagem do cantador do filme „Deus e o Diabo na Terra do Sol“: A terra é do homem. Não é de Deus Nem do Diabo.666
Paul Ricoer beschreibt dieses spannungsgeladene Nebeneinanderstehen einander gegengesetzter Begriffe als ein ungelöstes Paradoxon, welches eine Perversion der Hegelschen Mediation darstellt, das jedoch ein Hauptelement der Kierkegaardschen Philosophie ausmacht: We are confronted by a sort of grimacing simulacre of Hegelian discourse. Yet this simulacre is the same time the means of saving its discourse from absurdity. It is didactic because it cannot be dialectic. In other words, it replaces a three-term dialectic by a cut-off dialectic, by an unresolved paradox. Either too much possibility or too much actuality. Either too much finitude or too much infinitude. Either one wants to be oneself or one does not to be oneself.667
Paul Ricoer fasst hier die Kierkegaard bestimmenden Gegensatzpaare zusammen. Es sind dies: Die Verzweiflung, dass es im Leben zu viele Möglichkeiten gibt, um darunter die richtige Handlung wählen zu können. Das Gegenteil davon ist die lähmende Gewissheit, dass alles schon vorgegeben ist und der Mensch nichts mehr beeinflussen kann. Riobaldo schwankt ebenso zwischen diesen beiden Extremen:
665 Zum Theodizeeproblem vgl. das Kapitel „III. 3. 3. 1. Die Zweideutigkeit“ in vorliegender Arbeit. 666 Lenira Marques Covizzi, O insólito, p. 55. 667 Paul Ricoer, ‘Two Encounters with Kierkegaard’, p. 320.
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Kierkegaard Either too much possibility
or too much actuality
Riobaldo Como é que se pode pensar toda hora nos novíssimos, a gente estando ocupado com estes negócios gerais? Tudo o que já foi, é o começo do que vai vir, toda a hora a gente está num cômpito. (GS:V, p. 272 f.). [...] que para cada pessoa, sua continuação, já foi projetada, como o que se põe, em teatro, para cada representador – sua parte, que antes já foi inventada, num papel ... (GS:V, p. 427).
Das zweite von Ricoer aufgestellte Kierkegaardsche Gegensatzpaar ist das Problem der Unendlichkeit. Der Mensch ist, laut Anti-Climacus, eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Möglichkeit und Notwendigkeit. Verzweiflung macht sich breit, sobald der Wille unendlich zu werden, als ein Mangel an Endlichkeit gefühlt oder erfahren wird, und umgekehrt.668 Das Ewige wird bei Kierkegaard aber immer in Verbindung mit dem existierenden Subjekt gesehen, dem in die zeitliche Existenz hineingestellten Individuum. Jeder einzelne Existierende ist nur interessiert an der ewigen, wesentlichen Wahrheit, wodurch das Ewige bei Kierkegaard eine persönliche Färbung bekommt. Als Zeitloses ist es zugleich in seiner Bindung an das begrenzt existierende Zeitliche ein wesentliches Paradoxon des Lebens.669 Guimarães Rosa macht sich kurz vor seinem Tod in einem Gespräch mit dem Philosophen Vilém Flusser ähnliche Gedanken über Endlichkeit und Unendlichkeit im Leben eines Menschen: Der Tod ist nötig, ohne ihn könnten wir nicht leben. Und zwar der Tod als letzte Katastrophe, und nicht nur als Krisis zwischen zwei Stadien des Lebens. Denn nur er gibt dem Augenblick Dringlichkeit und Unwiderruflichkeit und ist also das einzige Motiv des Handelns. Aber er stellt zugleich den Sinn jedes Handelns in Frage. Jedes Handeln ist darum eine Verneinung des Todes. Also ist auch die Unsterblichkeit nötig, ohne sie könnten wird nicht leben. Nur ist diese Unsterblichkeit, auf die hin wir handeln, nicht die meines eigenen Ich, sondern für die anderen. Ich handle, dem Tod zu Trotz, um auf andere auch nach meinem Tod zu wirken. Darum schreibe ich Bücher.670
Diese Überlegungen Guimarães Rosas sind eine schöne Illustration des von Kierkegaard aufgestellten Paradoxons, dass jeder Mensch in seiner Endlichkeit zwischen Unendlichkeit und Begrenztheit hin und hergeworfen ist. In der Schrift „Die Krankheit zum Tode. Eine psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung“ schreibt Kierkegaards Pseudonym Anti-Climacus über die Verzweiflung, die seiner Philosophie folgend zwar das notwendige Resultat eines jeden denkenden Bewusstsein sein muss, aber trotzdem, christlich gesprochen, eine Sünde ist. Grundsätzlich 668 Vgl. Ebd., p. 322. 669 Vgl. Søren Kierkegaard, ‘Die Krankheit zum Tode’, pp.25-32. 670 João Guimarães Rosa, nach: Vilém Flusser, ‘Hinweis auf Unsterblichkeit. Gespräche vor dem Tod des Guima-
raes Rosa’ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 1. 1968.
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verzweifelt der Mensch immer an sich selbst, es gibt zwei Möglichkeiten dazu: „verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein zu wollen.“ 671 Riobaldo kennt beide Ausprägungen: Entweder sein Ich annehmen oder nicht sich selbst sein zu wollen
Eu era eu – mais mil vezes – que estava ali, [...]. (GS:V, p. 369). O jagunço Riobalodo. Fui eu? Fui e não fui. Não fui! – porque não sou, não quero ser. (GS:V, p. 187).
Riobaldos Problem, lässt sich nicht in rein moralischen Überlegungen lösen, denn die Sünde, erklärt Kierkegaard sowohl in „Der Begriff Angst“ als auch in „Krankheit zum Tode“, „is not an ethical reality but a religious one. Sin is before God.“672
4.5.2. Suspension des Ethischen Was Johannes de Silentio in seiner Schrift entwickelt, ist nicht nur die Darstellung der Absurdität des Glaubens, sondern auch die Frage ob es eine Suspension des Ethischen nur in einem als absurd verstandenen Glauben geben kann. Für Kierkegaard ist das Ethische immer das „Allgemeine[,] das was für jedermann gültig ist, und das läßt sich anders ausdrücken: dass es in jedem Augenblick gültig ist.“673 Die Gebote der Moral sind also allgemeingültig und gelten für alle nur denkbaren verschiedenen Situationen ohne Ausnahme. Wie Kierkegaard auch schon in mehreren früheren Schriften erklärt hat, sieht er es als die ethische Aufgabe des Menschen, „seine Einzelheit aufzuheben, um das Allgemeine zu werden.“674 Wenn der Einzelne sich nun aber in seiner Individualität gegenüber der allgemein gültigen Moral gelten machen will, „sündigt er und er kann nur dadurch, dass er dies anerkennt, sich wieder mit dem Allgemeinen versöhnen.“675 Legt man dies auf die Jagunçogesellschaft um, bedeutet dies, die Unterordnung des gemeinen Jagunços unter die allgemein geltenden Regeln als die ethische Norm anzusehen. Riobaldo tritt nun offensichtlich aus diesen überbrachten Moralvorstellungen aus. Seine Sünde ist es nicht, gegen die ethischen Prinzipien der Jagunços verstoßen zu haben oder ein Gebot übertreten zu haben, sondern vielmehr, dass er das Allgemeine, das heißt die Jagunçogesellschaft als solche, in Frage stellt, indem er sich als Individuum, der das Allgemeine nicht akzeptieren kann, geltend machen will: „Os outros, os companheiros, que viviam à-toa, desestribados; e viviam perto da gente demais, desgovernavam toda-a-hora a atenção, a certeza de se ser, a segurança destemida, e o alto destino possível da gente. De que é que adiantava, se não, estatuto de jagunço?“ (GS:V, p. 355).
671 672 673 674 675
Søren Kierkegaard, ‘Krankheit zum Tode’, p. 8. Paul Ricoer, ‘Two Encounters with Kierkegaard’, p. 323. Søren Kierkegaard, ‘Furcht und Zittern’, p. 57. Ebd. Ebd.
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Als Konsequenz daraus wird Riobaldo durch Hilfe des Paktversuchs Jagunçoführer und stellt sich damit außerhalb der Jagunçogemeinschaft. Als Jagunçoführer hätte er natürlich noch immer die Möglichkeit die ethische Norm seiner Gesellschaft zu verwirklichen, doch Riobaldos Hass gegen Hermógenes ist schon lange kein allgemeiner Rachegedanke, sondern ein privater Krieg, den er, als Führer seine Jagunços ausnutzend, als Individuum führt. Sogar Diadorim, die Tochter des ermordeten Joca Ramiros, trachtet gar nicht mehr nach Rache, sondern macht nur noch wegen ihrer Freundschaft zu Riobaldo mit: „Menos vou, também, pudindo por meu pai Joca Ramiro, que é meu dever, do que por rumo de servir você, Riobaldo, no querer e cumprir ...“ (GS:V, p. 472). Johannes de Silentio weist darauf hin, dass zwischen der individuellen Existenz und den ethischen Ansprüchen einer Gemeinschaft ein großer Widerspruch liegen kann. 676 Will Riobaldo sich nun als Individuum „verwirklichen“ und über die Gemeinschaft stellen, dann ist dies nur in einem Sprung in den Glauben möglich, denn „[d]er Glaube ist nämlich dies Paradox, dass der Einzelne höher ist als das Allgemeine“. 677 Diese Bewegung hin zum Glauben ist aber nur dann realisierbar, wenn sie sich als Bewegung wiederholt. Das heißt, dass der Einzelne zuvor ein Teil des Allgemeinen gewesen sein muss, dass er als Einzelner das Allgemeine durch sein Leben verwirklicht hat, also ein ethisches Leben geführt hat und erst dann kann sich ihm die Möglichkeit auftun sich als Einzelner über das Allgemeine zu stellen. Da Riobaldo sich aber immer außerhalb der Jagunçogemeinschaft gefühlt hat und nie deren allgemeine Ethik gelebt hat, kann er unmöglich eine Suspension dieser Ethik durchführen und sich als Einzelner über die Gruppe stellen. Das allgemein Ethische der Jagunços zu verwirklichen bleibt Riobaldo verwehrt, durch die Heirat mit Otacília verwirklicht er jedoch das allgemein Menschliche und wird dadurch zum Ethiker. Als Ethiker hat er durch die erzählte Wiederholung die Möglichkeit sich als Einzelner über das Allgemeine zu stellen, was einem Sprung in den Glauben gleichkommt: Der Glaube ist eben dies Paradox, dass der Einzelne als Einzelner höher ist denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Rechte ist, ihm nicht unter-, sondern übergeordnet ist, doch wohl zu merken dergestalt, dass eben der Einzelne, der als Einzelner dem Allgemeinen untergeordnet gewesen ist, nun durch das Allgemeine hindurch ein Einzelner wird, der als Einzelner ihm übergeordnet ist; dass der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht. Dieser Standpunkt läßt sich nicht vermitteln; denn alle Vermittlung geschieht gerade in kraft des Allgemeinen; er ist und bleibt in alle Ewigkeit ein Paradox, unzugänglich dem Denken.678
Für Kierkegaard ist Abrahams Leben dadurch nicht nur das paradoxeste Leben das sich denken lässt, sondern so paradox, dass es sich gar nicht denken lässt. Das Paradox lässt sich nicht vermitteln, in kraft des Absurden bekommt er Isaak wieder. Abraham ist „entweder ein Mörder oder einer, der glaubt.“679 Riobaldo ist entweder ein Teufelsbündner oder einer, der glaubt und dadurch Erlösung findet.
676 677 678 679
Vgl. Ebd., p. 57-58. Ebd., p. 58. Ebd., p. 59. Ebd., p. 60.
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4.5.3. Der tragische Held Wenn man versucht, Riobaldos Situation zusammenfassend zu erklären, kommt man Johannes de Silentios Definition des tragischen Helden sehr nahe: Riobaldo opfert sich selbst dem Teufel, um dem Sertão Frieden zu bringen. Das Wohl aller Jagunços soll gegen die Seele eines Einzelnen eingetauscht werden. Dieser Gedankengang ist jedoch nachvollziehbar und deshalb nicht mit dem Sprung in den Glauben gleichzusetzen, er beschreibt vielmehr die eigene Kategorie des „tragischen Helden“. Kierkegaard illustriert diese mit dem Mythos von Iphigenie: Agamemnon ist bereit, das Wohl Griechenlandes mit dem Leben seiner Tochter einzutauschen. Iphigenie beugt sich dem Entschluss ihres Vaters. Sie kann ihren Vater verstehen, weil sein Vorhaben das Allgemeine ausdrückt. Würde Agamemnon dagegen zu ihr sagen: „Trotzdem, dass der Gott dein Opfer heischt, es wäre doch möglich, dass er es nicht heischt, nämlich in kraft des Absurden“,680 dann würde er im selben Augenblick für Iphigenie unverständlich werden. Voraussetzung für den von Kierkegaard postulierten Sprung in den Glauben ist, dass der Mensch jede Berechnung aufgibt. Johannes de Silentio nennt dies die „unendliche Resignation“, ein Hinter-sich-Lassen menschlicher, selbst ethisch berechtigt erscheinender Hoffnungen.681 Riobaldo ist im ersten Geschehen seiner Geschichte ein „tragischer Held“, der den Pakt eingeht, obwohl dadurch ein unlösbarer Konflikt zwischen verschiedenen ethischen Prinzipien und Normen entsteht. Er wählt den Pakt, um dadurch die Kraft zu bekommen, den Sertão vom Bösen zu befreien. Im Laufe der erzählten Wiederholung wird der Pakt aber immer schwerer vermittelbar und Riobaldo versucht auch gar nicht mehr diesen zu rechtfertigen. Seine Versuche den Pakt nichtig zu machen, indem er die Existenz des Teufels leugnet, schlagen fehl, denn er selbst fragt sich: „Vendi minha alma a quem não existe?“ (GS:V, p. 426). Er gesteht sich ein, dass dies seine Verdammnis nicht verhindern würde, denn „Olhe: tudo o que não é oração, é maluqueira [...].“ (GS:V, p. 428). Eine Nicht-Existenz des Teufels besagt noch nicht, dass Gott den Paktschluss verzeiht. Søren Kierkegaard beschreibt dasselbe Phänomen später an anderer Stelle, in anderem Zusammenhang, unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis noch einmal: „Wer allein durch die Endlichkeit seine Schuld kennen lernt, er ist an die Endlichkeit verloren, und im Endlichen läßt die Frage, ob ein Mensch schuldig sei, sich nicht entscheiden, außer auf äußerliche, juristische, höchst unvollkommene Weise.“682 Erst durch den Sprung in eine andere Existenzform ist es möglich, Sicherheit über die ewige Frage „schuldig- nicht schuldig?“ zu bekommen: „Wenn die Erlösung gesetzt ist, ist die Angst dahingelassen ebenso wie die Möglichkeit.“683 In der erzählten Wiederholung nähert sich Riobaldos Glauben dem Abrahams an, er hofft auf eine Erlösung, ohne dies jedoch erklären zu können. Es bleibt unmöglich, eine Suspension des Ethischen, die den Einzelnen über das Allgemeine stellt, zu erklären. Das 680 Ebd., p. 132. 681 Zu einer theologischen Interpretation der Abrahamgeschichte in Bezug auf Kierkegaard, vgl.: Peter
Tschuggnall, Und Gott stellte Abraham auf die Probe. Das Abraham-Opfer als Glaubensparadox. (Innsbruck: Dissertation, Universität Innsbruck, 1989). 682 Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’ p. 168. 683 Ebd., p. 52.
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Individuum, das sich über dem Allgemeinen behaupten kann, muss als paradoxes, als nicht legitimierbares und nicht vermittelbares aufgefasst werden. Bei Riobaldos Akzeptieren aller Ambiguitäten des Lebens und der daraus folgenden Aussage: „O diabo não há!“ handelt es sich genau um diesen nicht kommunizierbaren Sprung in den Glauben. Daraus folgt, dass Riobaldos Seele gerettet ist und er Erlösung findet. Falls diese Gewissheit Riobaldos hier in dieser Argumentationskette nicht nach Außen mitgeteilt werden kann, so liegt dies daran, dass „es eine Innerlichkeit gibt, die inkommensurabel für das Äußere ist.“684
4.6. Ethische Konsequenzen einer erzählten Wiederholung Der gewaltige Monolog Riobaldos in Grande Sertão: Veredas ist in zwei Ebenen unterteilt, die zwei verschiedene Abschnitte im Leben des Protagonisten darstellen. Diese zwei Ebenen sind: die Vergangenheit, in der Riobaldo die Ereignisse, die er nun erzählt, erlebt hat, und die Gegenwart, die durch eine nachdenkliche Geisteshaltung gekennzeichnet ist und in der er dem Zuhörer seine vergangenen Abenteuer erzählt, „experiencing them again in the very act of narration.“685 Riobaldos Vergangenheit ist in Form von ihn nagenden Zweifeln in ihm noch sehr lebendig. Er erzählt dem Zuhörer von der Küste seine Geschichte mit dem klaren Zweck seine Zweifel zu zerstreuen. Weit davon entfernt eine kalte Aufzählung von vergangenen Fakten und Ereignissen zu sein, ist Riobaldos Beichte eine lebendige Suche nach Erlösung. Eduardo Coutinho drückt dies folgendermaßen aus: „Riobaldo’s narrative is a continuous process of search developed in the presence of the reader in the very act of narration.“ 686 Dadurch, dass der Text erst vor dem Zuhörer entwickelt wird, schließt Coutinho, dass es sich um einen unabgeschlossenen Bericht handelt, der an einem beliebigen Punkt abbricht: „For this reason, it does not reach a terminal point by the time the novel is over; on the contrary, it is simply interrupted, leaving the path free for further speculation.“ 687 Trotzdem muss Coutinho zugeben, dass Riobaldos Suche nach Erlösung nicht ganz ergebnislos geblieben ist und dass sich am Ende seines Monologs eine gewisse Erleichterung einstellt: „At the end of his long monologue, he attains, at least to a certain extent, some kind of comfort or relief. However, the process of search in which he is involved does not stop at this point.“688 Gerade durch die Bewegung der vergangenen Erzählebene auf die gegenwärtige Erzählebene zu, ergibt sich jedoch sehr wohl ein abgeschlossenes Ende, das ganz konventionell da gesetzt wird, wo die Geschichte endet. Riobaldo selbst sagt nach dem Begräbnis von Diadorim sehr deutlich, dass sein Bericht nun zu Ende ist:
684 685 686 687 688
Furcht und Zittern, p. 75. Eduardo Coutinho, ‘Guimarães Rosa’s Aesthetic Revolution’, p. 208. Ebd., p. 212. Ebd. Ebd.
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Fim que foi. Aqui a estória se acabou. Aqui, a estória acabada. Aqui a estória acaba. (GS:V, p. 531).
Nach diesem vierfachen Schlussstrich folgen noch sieben Seiten, in denen Riobaldo kurz zusammenfasst, was er zwischen Diadorims Begräbnis und dem Beginn seines neuen Lebens als Fazendeiro erlebte. Dann treffen sich die beiden Erzählebenen auf der letzten Seite in der Gegenwart, wo Riobaldo noch einmal festhält: „Cerro. O senhor vê. Contei tudo.“ (GS:V, p. 538). Als Beweis, dass er nun wirklich in der Gegenwart angekommen ist, weist er im darauf folgenden Satz auf sich selbst, auf den jetzigen Riobaldo, der nun nach dieser langen Beichte am Ziel angekommen ist, hin: „Agora estou aqui“ (GS:V, p. 538). Riobaldo hat die Gegenwart erreicht, jenen Augenblick, „darin Zeit und Ewigkeit einander berühren“.689 Seine Reise hat ihm Erfüllung gebracht, denn das „Gegenwärtige ist das Ewige, oder richtiger das Ewige ist das Gegenwärtige, und das Gegenwärtige ist das Erfüllte.“690 In den 1844 erschienenen „Philosophischen Brocken“ bezeichnet Johannes Climacus diesen Moment damit, dass der Mensch in „glücklicher Leidenschaft“ das Paradox des Lebens akzeptiert hat. Dieser Leidenschaft gibt er einen Namen: „Wir wollen sie G l a u b e nennen.“691 Riobaldo erreicht demnach auf der letzten Seite des Romans nicht nur die Gegenwart sondern dadurch auch das religiöse Stadium, welches ihm dank seines festen Glaubens Erlösung garantiert. Die Wiederholung hat ein Ende, was nun kommt, der letzte Absatz des Romans, ist die Erkenntnis dieser Wiederholung, hier treffen sich Vergangenheit und Zukunft in den resümierenden Sätzen: „O diabo não há! [...] Existe é homem humano. Travessia.“ (GS:V, p. 538). Diese abschließende Moral ist das Ergebnis der mutigen und mühseligen Wiederholung. Riobaldo wechselt im Lauf des Textes seine Lebensstadien, das was Kierkegaard als Sprung bezeichnet, ist für ihn die Überfahrt, wie auch als abschließendes Wort des ganzen Textes ausdrücklich ein letztes Mal „travessia“ gesetzt wird. Durch verschiedene Überfahrten gelangt Riobaldo jeweils in ein anderes Stadium, wobei er am Ende des Berichts im, laut Kierkegaard letzten Stadium, dem religiösen, angekommen ist und Erlösung findet. Es ist für die ganze Konzeption des Textes, dem Zueinanderlaufen der zwei Erzählebenen, die sich auf der letzten Seite in der Gegenwart treffen, wesentlich, dass der Schluss tatsächlich das Ende, die Lösung und Erlösung des erzählten Lebens bedeutet und nicht, wie Coutinho sagt, ein nur zufälliges Aufhören der Erzählung ist. Der versöhnliche Ausgang der Beichte ist, ganz im Gegenteil, nicht zufällig, er ist eine Erlösung als das Ergebnis der erzählten Wiederholung von Riobaldos Leben.692 Constantin Constantius beschreibt zu Beginn seiner Schrift das Wesen der Wiederholung in Gleichnissen: Sie ist weder Vergan689 690 691 692
Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’, p. 90. Ebd., p. 88. Søren Kierkegaard, ‘Philosophische Brocken’, p. 56. Dies entspricht genau Kierkegaards Definition der Wiederholung, die, wie schon zitiert, besagt: „die Wiederholung ist die Lösung in jeder ethischen Anschauung.“ (Søren Kierkegaard, ‘Die Wiederholung’, Frankfurt am Main, 1984, p. 23, vgl. auch p. 162 vorliegender Arbeit).
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genheit noch Zukunft, sondern Gegenwart, ein unzerschleißbares Kleid, eine treue Gattin, das tägliche Brot und der ruhige Gang auf der Erde.693 Das ist ziemlich genau das, was Riobaldo am Ende seiner Beichte, die ja eine gelebte Wiederholung ist, erreicht hat: er ist in der Gegenwart angelangt und lebt diese nun ruhig, am Flussufer lebend, geordneten Sinns. Er hat sogar wortwörtlich eine treue Gattin und tägliches Brot, er weiß über sich selbst Bescheid, er hat seine Mission erfüllt: „Agora estou aqui, quase barranqueiro. Para velhice vou, com ordem e trabalho. Sei de mim? Cumpro.“694 (GS:V, p. 538). Den Roman abschließend, ist nach dem letzten Absatz als endgültig letztes Zeichen das Unendlichkeitssymbol „∞“ gesetzt.695 Nachdem Riobaldos langer Monolog mit dem verdoppelten Nichts von „Nonada“696 beginnt, endet er nun nach dieser langen Reise mit dem gekippten Achter der Unendlichkeit. Nichts und unendlich ähneln sich philosophisch und mathematisch sehr, wie auch Riobaldo bemerkt: „Ah, acho que não queria mesmo nada, de tanto que eu queria só tudo.“ (GS:V, p. 370). Doch offensichtlich ist in den über 500 Seiten, die zwischen dem Nichts und der Ewigkeit liegen, sehr viel passiert. Riobaldo hat sein Leben erzählend wiederholt und ist nun endgültig in der Gegenwart angelangt. In Kierkegaards Weltsicht ist, wie gezeigt, „das Ewige [...] das Gegenwärtige, und das Gegenwärtige ist das Erfüllte.“697 Die europäische Philosophie kann also eine Antwort auf Riobaldos Zweifeln, das durch das Zweifeln der Sekundärliteratur prolongiert wird, geben. Riobaldo als christlicher Denker darf sich, wenn man dem theoretischen Konstrukt des religiösen Denkers Søren Kierkegaard folgt, erfüllt und erlöst wissen.
693 Vgl. Søren Kierkegaard, ‘Die Wiederholung’, 3-4. 694 Curt Meyer Clason übersetzt dieses so wichtige „Sei de mim? Cumpro.“ (GS:V, 538) des letzten Abschnitts
nicht. Ein wesentlicher Hinweis auf die Erfüllung des Lebens des Protagonisten geht dem deutschsprachigen Leser durch diese Auslassung verloren. 695 Die deutsche und die italienische Taschenbuchausgabe des Romans verzichten unerklärlicherweise auf dieses letzte Zeichen. 696 Zum Neologismus „Nonada“ vgl. die Fußnote 275 im Kapitel „V. 2. 1. 1. Der Teufel als Kalb“ in vorliegender Arbeit. 697 Søren Kierkegaard, ‘Der Begriff Angst’, p. 90.
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IX. Conclusio
Die vorhergehenden Überlegungen zu Grande Sertão: Veredas sollten gezeigt haben, dass eine eurozentristische Interpretation des brasilianischen Romans zielführend ist und sinnbringend angewendet werden kann. Guimarães Rosa deutete dies auch selbst mehrfach an und behauptete sogar, dass seine Bücher speziell für deutsche Leser geschrieben wären, für Leser „die in der Tat die befähigsten wären, alles in ihnen zu sehen.“698 Anscheinend erfüllte das deutschsprachige Publikum diese hohe Erwartung des brasilianischen Autors jedoch nicht, denn zurzeit ist kein einziges seiner Bücher auf Deutsch lieferbar. Die Ursachen dafür liegen in einer teilweise oberflächlichen Vermittlung des Werkes und in der zwar hochgelobten, doch zumindest problematischen Übersetzung Curt Meyer-Clasons. Eine Übersetzungskritik, die sich auf die Analyse der verwendeten Redewendungen und Gemeinplätze beschränkt, zeigt deutlich auf, dass die Deutschkenntnisse Guimarães Rosas offensichtlich nicht ausreichend waren, um die Übersetzung MeyerClasons, von welcher der Autor behauptete, dass sie die beste aller Übertragungen sei, tatsächlich beurteilen zu können. Das Lob des brasilianischen Autors wird auch dadurch relativiert, dass sich ebenso zur italienischen und spanischen Übertragung ähnlich begeisterte Urteile finden lassen. Doch der deutsche Übersetzer scheint seine Arbeit am besten verkauft zu haben, denn nicht nur wortwörtlich bekam er, wie der im Anhang dieser Studie erstmals veröffentlichte Briefwechsel zwischen Guimarães Rosa und dem Kiepenheuer & Witsch Verlag beweist, auf Kosten des Autors das höchste Honorar, das jemals in Deutschland einem Übersetzer bezahlt wurde, auch hält sich im akademischen Diskurs auf beiden Seiten des Atlantiks hartnäckig die Behauptung, dass die deutsche Übertragung die dem Original am nächsten kommende sei. Wenn auch die Rezeption von Grande Sertão: Veredas in den deutschsprachigen Ländern nicht optimal verlaufen ist, so bleibt doch die Aussage des Autors, dass er denke, der Roman sei besonders für das deutsche Publikum bestimmt. Dem folgend sollte anhand der im Roman so präsenten Figur des Teufels gezeigt werden, dass dieser tatsächlich einer christlich-europäischen und keiner indianischen oder afro-brasilianischen Tradition folgt. Sowohl in der Namensgebung als auch in Form und Funktion lässt sich der von Riobaldo so oft erwähnte Teufel auf biblische Wurzeln zurückführen. Eine genaue Aufzählung aller im Roman vorkommenden Namen für das personifizierte Böse und eine darauf folgende Analyse der biblischen Synonyme zeigen, wie sehr der Teufel aus Riobaldos Monolog allein durch seine Namensgebung der Bibel verpflichtet ist. Die Untersuchung des Äußeren des Teufels und dessen Wirken im Roman legte im Vergleich mit der Ausprägung des Satans in der Bibel ebenso klare Entsprechungen vor. Es wird deutlich, dass der Teufel sowohl in Grande Sertão: Veredas als auch in der Bibel nur sehr unbestimmt beschrieben wird und nicht wie im europäischen Mittelalter und in den afro-brasilianischen Mythen eindeutig definiert ist. Entsteht der Teufel im Alten Testament 698 João Guimarães Rosa, ‘Rhein und Urucuia’, p. 247.
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vor allem dadurch, um die unberechenbaren Seiten Gottes auf sich zu nehmen, so ist er analog dazu im Roman gerade durch diese Unberechenbarkeit definiert. Oft meinen bisherige Auslegungen nicht nur in der Teufelsfigur sondern auch in Riobaldos Pakt entweder die Folklore des Sertãos oder eine esoterisch-fernöstliche Mystik zu sehen. In der vorliegenden Studie sollte dagegen aufgezeigt werden, dass neben dem Teufel auch die Form des Paktversuchs auf biblische und mittelalterliche Bündniserzählungen basiert. Der im Text so zentrale Paktversuch des Protagonisten wurde bislang entweder mit dem Pakt Fausts verglichen oder es wurde aber von der Sekundärliteratur darauf hingewiesen, dass die beiden Pakte wesentliche strukturelle Unterschiede hätten, woraus geschlossen wurde, dass Riobaldos Pakt aus der Populärkultur des Sertãos stamme. Im Kapitel „Der Pakt“ wurde dem entgegengesetzt aufgezeigt, dass viele europäische Teufelsbündnisse aus vor-faustischer Zeit eine große Ähnlichkeit mit dem im Roman beschriebenen aufweisen. Riobaldos große Lebensfrage, ob der Teufel nun existiere oder nicht, ist im Wesentlichen eine Frage nach der Schuld. Es beschäftigt ihn, ob er durch seinen Paktversuch seine Seele verkauft hätte und ob er trotzdem noch Erlösung finden könnte. Interessanterweise wird diese Riobaldos Monolog erst auslösende Frage von der Sekundärliteratur weitgehend ignoriert. Einige wenige Kommentatoren ringen sich zu einer Entscheidung durch, doch bleibt diese immer von persönlichem Gefühl geprägt und kann somit die Frage nach Riobaldos Seelenheil nicht beantworten. Im abschließenden Kapitel der vorliegenden Arbeit wurde gezeigt, dass sich Guimarães Rosa als religiöser Schriftsteller versteht und auch Riobaldos Weltsicht eine christliche ist. Demzufolge bot es sich an, Riobaldos Gedanken mit der Philosophie des ebenso christlichen Philosophen Søren Kierkegaards zu vergleichen. Guimarães Rosa hat an verschiedenen Stellen bekannt, dass er Kierkegaard gut kenne und ihn als den schriftstellerischsten aller Philosophen auch sehr schätze. Angeblich lernte er sogar extra Dänisch, um Kierkegaard im Original lesen zu können. Riobaldos größtes Problem ist, dass man sich im Leben an nichts anhalten könne, dass Gutes jederzeit zu Schlechtem werden könne und umgekehrt. Diese Unstetigkeit und Sprunghaftigkeit des Lebens führt er auf den Teufel zurück. Gott dagegen sei stetig und konstant. Wenn Riobaldo in seinen Überlegungen die Existenz des Teufels widerlegen will, dann bleibt eine wankelmütige und unlogische Realität zurück, die nun jedoch einen Teil der Welt Gottes darstellt. Dies widerspricht der Vermutung Riobaldos, dass Gott konstant ist. An diesem Paradox scheint Riobaldo zu zerbrechen, er wird beinahe wahnsinnig darüber. In einer ausführlichen Analyse wurde parallel zu diesem Problem die Philosophie Kierkegaards entwickelt, wobei erstaunliche Ähnlichkeiten sichtbar wurden. In der Stadienlehre des dänischen Philosophen kann man durch das Konzept der Wiederholung in das Stadium der Religiosität gelangen, in dem durch einen nicht nachvollziehbaren Sprung in das Absurde alle Paradoxa des Lebens im Glauben aufgehoben werden. Eine genaue Lektüre des Romans zeigte mit Hilfe des von Kierkegaard geschaffenen Instrumentariums in sehr klarer und nachvollziehbarer Art auf, dass Riobaldos Monolog eine deutliche Entsprechung der Kierkegaardschen Wiederholung ist und dass die letzten Seiten des Romans, vor allem der letzte Abschnitt, den Sprung in den Glauben darstellt, in dem Riobaldo trotz seiner Sünde, den Teufel angerufen zu haben, Erlösung finden wird.
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X. Briefwechsel zwischen João Guimarães Rosa, seinen Erben und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch
Der Kiepenheuer & Witsch Verlag hat mir freundlicherweise den Briefwechsel zwischen Guimarães Rosa, seiner Familie und Dr. Joseph C. Witsch, beziehungsweise dem Lektorat des Verlages zur Verfügung gestellt. Die 69 im Archiv der Stadt Köln aufbewahrten Briefe sind chronologisch geordnet und folgen in groben Zügen den formalen Aspekten der mit Schreibmaschine geschriebenen Originale. Einzig die Witwe des Autors, Aracy de Carvalho-Guimarães Rosa, schrieb ihre Briefe mit der Hand. João Guimarães Rosa schreibt dem Verlag großteils auf Portugiesisch. Die für die Betreuung seines Werkes zuständige Lektorin Alexandra von Miquel kann Spanisch und Französisch, versteht die Briefe des brasilianischen Autors also im Allgemeinen richtig. Den Großteil der Briefe schreibt sie dem Autor auf Deutsch. Die Briefe werden im Folgenden mit allen ihren Eigentümlichkeiten und Fehlern wortgetreu reproduziert.
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Köln, den 1. 10. 1962 Dr. W./we.699 Herrn Joao Guimaraes Rosa c/o Brasilianisches Konsulat 6 Frankfurt /Main Finkentorstr. 21 Sehr verehrter, lieber Herr Rosa! Da ist nun der Vertrag. Sehen Sie ihn sorgfältig durch und – wenn Sie keine Einwendungen gegen das Ganze, gegen einzelne Bedingungen haben – schicken Sie bitte ein Exemplar mit Ihrer Unterschrift an uns zurück. Alle Bedingungen, die wir Ihnen eingeräumt haben, sind eher besser als die normalen, so daß ich als Ihr Verleger von dem Vertrag sagen kann, daß Ihnen kaum ein besserer in diesem Lande vorgelegt werden würde. Inzwischen haben Sie in München den Kampf um CORPO DE BAILE hoffentlich gewonnen, so daß wir das kleine französische Malheur, daß Sie gleich am Anfang bei zwei verschiedenen Verlagen erschienen, nicht haben werden. Es wäre schon besser, wenn wir mit dem Band CORPO DE BAILE Ihr Werk eröffnen könnten. Ich möchte Ihnen versichern, daß ich sehr froh war, Sie getroffen und zweimal so lange mit Ihnen gesprochen zu haben. Ich bin überzeugt, daß ich das Vergnügen und den Respekt, den ich vor Ihrer Person habe, auch vor jedem einzelnen Ihrer Texte haben werde, die Sie in deutscher Sprache vorlegen. Bisher kenne ich nur das, was über Sie geschrieben worden ist und einen Teil des französischen Textes. Aber, verehrter Herr Rosa, spielen wir unser Spiel so wie wir es begonnen haben. Wir kennen uns nicht und wir kennen uns doch schon. Ich bin mir sicher, es wird uns nichts leid tun von dem, was wir jetzt beide unterschreiben. Ich hoffe, daß Sie noch schöne Tage in Deutschland haben und bin vergnügt, daß Sie jetzt unser Autor sind. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise und das Gefühl angenehmster Genugtuung, das man hat, wenn man bei einem Verleger untergebracht ist, der so ist wie Sie ihn freundlichst beschrieben haben. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie uns aus Brasilien ein reproduktionsfähiges Foto schicken würden. Mit den herzlichsten Grüßen Ihr sehr ergebener (Dr. J.C. Witsch) 699 Verlagsinternes Kürzel für den Unterzeichnenden/die Unterzeichnende des Briefes und die den Brief tippende
Sekretärin.
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Frankfurt am Main, 3.10.62 Sehr verehrter, lieber Herr Witsch, Ich sende Ihnen nun den Vertrag unterschrieben zurueck, nachdem ich ihn durchgelesen habe und er wirklich meine ganze Zustimmung gefunden hat. Wie Sie inzwischen schon erfahren haben, ist es mir gelungen, den Vertrag fuer CORPO DE BAILE nun doch fuer uns zu gewinnen, worueber ich mich ganz besonders freue. Ich schreibe Ihnen diese Zeilen in aller Eile, da ich in wenigen Stunden den Flug nach Rio antreten werde. Unsere Korrespondenz wird dann von dort aus weitergehen! Mit den herzlichsten Gruessen verbleibe ich Ihr sehr ergebener J. Guimarães Rosa
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Köln, den 30.11.1962/vM-gr
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministro Das Relacoes Exteriores700 Palacio Itamaraty Rio de Janeiro / Brasilien
Sehr geehrter Herr Rosa, ich hoffe, Herr Meyer-Clason wird Ihnen inzwischen geschrieben haben. Wir hatten Herrn Meyer-Clason hier nach Köln gebeten, um ausführlich die Termine für die Übersetzung Ihrer Bücher zu besprechen. Es sind nun einige Fragen aufgetaucht und wir hatten Herrn Meyer-Clason gebeten, an Sie direkt zu schreiben. Herr Meyer-Clason ist ja leider noch mit anderen Arbeiten einige Monate besetzt und kann daher erst im Herbst 1963 mit der Übersetzung von CORPO DE BAILE beginnen. Es wird daher nicht möglich sein, so, wie wir das ursprünglich vorgesehen hatten, das ganze Werk CORPO DE BAILE in Herbst 1964 herauszubringen. Herr Meyer-Clason meinte, er könne etwa 400 Seiten aus CORPO DE BAILE so rechtzeitig übersetzen, dass das Buch im Herbst 1964 erscheinen kann. Wir müssten Sie dann um Ihren Rat bitten, welche Stücke wir zuerst in diesem Band herausbringen sollen. Ein Jahr später würde dann ein zweiter Band CORPO DE BAILE folgen. Es wäre eventuell – allerdings mit einigen Schwierigkeiten – auch möglich, statt CORPO DE BAILE im Herbst 1964 GRANDE SERTAO zu bringen, da dieser Roman nicht so umfangreich ist. Dann würden sich aber auch die Erscheinungstermine der anderen Werke entsprechend verschieben. Technisch ist es möglich, CORPO DE BAILE in einem Band herauszubringen, ebenso wie Ihr brasilianischer Verleger das in der letzten Ausgabe getan hat. Uns wäre das auch am liebsten, aber wir müssten für die Übersetzung Herrn Meyer-Clason Zeit lassen. Er wir Ihnen auch erklären, dass wir es in deutschen Buchhandel für keine gute Lösung halten, CORPO DE BAILE in zwei Bänden zum gleichen Zeitpunkt erscheinen zu lassen. Man wohl aber zwei Bände in zwei aufeinanderfolgenden Jahren erscheinen zu lassen, oder aber den ganzen Text in einem Band herauszubringen. Aber zu all dem wird Ihnen Herr MeyerClason schreiben. Ich wollte Ihnen nur im Auftrag von Herrn Dr. Witsch mitteilen, dass wir hier sehr sehr ernsthaft und eingehend über die Edition Ihrer Werke diskutiert haben und dass wir selbst es natürlich sehr bedauern, dass Herr Meyer-Clason erst im Herbst 1964 zu übersetzen beginnen kann. Aber wir sind sehr auf ihn angewiesen. Wir wären Ihnen daher
700 Guimarães Rosa ist Leiter der Grenzabteilung (Chefe do Serviço de Demarcação de Fronteiras) im
Außenministerium.
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sehr dankbar, wenn Sie ihm und uns bezüglich der Aufteilung der Erzählungen aus CORPO DE BAILE auf evtl. zwei Bände Ihren Rat geben würden. Mit freundlichen Grüßen VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH (Alexandra von Miquel)701 Rio de Janeiro, 10.I.1963 Senhora Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch Rondorfer Strasse 5 KOLN – MARIENBURG Alemanha
Muito prezada Senhora von Miquel, De início, perdôe-me se, para minha maior facilidade, respondo em português sua estimada carta de 30.11.62. Creio lembrar-me de que a Snra. entende perfeitamente bem meu idioma. Se preferir isso, porém, para o futuro passarei a escrever em francês ou ingles, já que o alemão exige de mim grande esfôrço. Sua carta mostrou-me mais uma vez o sério e cordial interêsse com que o nosso caro Dr. Witsch, a Snra. e essa Editôra, enfim, estão cuidando dos meus livros. Isso, desda já, me alegra, muito. A respeito da melhor maneira de seriarmos as novelas do CORPO DE BAILE, para sua publicação em 2 livros, independentes, já respondi também carta do Sr. Meyer-Clason, dando-lhe as sugestões que me pareciam mais aconselháveis. A primeira delas, incluiria, no PRIMEIRO VOLUME: 1) “Campos Geral”; 2) “Uma Estória de Amor”; 3) “A Estória de Lélio e Lina”. SEGUNDO VOLUME: 4) “Buriti”. Indiquei-lhe também outros esquemas, possíveis. Mas, qualquer outra disposição que prefiram adotar, com ela concordarei, pois aí estarão em condições de avaliar das conveniências “tacticas”, com relação aos gostos e preferências dos leitores alemães.
701 Die Fremdsprachenlektorin Alexandra von Miquel war die Hauptansprechpartnerin für Guimarães Rosa im
Kiepenheuer & Witsch Verlag. Sie war 1954/55 auch für die deutsche Übersetzung der Simenon Krimis „Hier irrt Maigret“ und „Maigret und die schrecklichen Kinder“ durch Paul Celan zuständig. Während sie mit der ersten Übersetzung sehr zufrieden war, erschien dem Verlag die zweite so schlecht, dass Dr. Witsch nicht bereit war, weitere Simenon-Übersetzungsarbeiten an Celan zu vergeben (vgl.: Andreas Lohr, ‘Der Fall Simenon’, in: „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer, hg. vom Deutschen Literaturarchiv in Verbund mit dem Präsidialdepartement der Stadt Zürich, 1998). Alexandra von Miquel arbeitete bis zu ihrer Pensionierung Anfang der 80er Jahre im Verlag und starb Ende der 80er Jahre in Köln. (Nach einem Telefongespräch am 18. November 2003 mit ihrer Nichte, ebenfalls Alexandra von Miquel).
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Alegra-me poder também comunicar-lhes que acabo de assinar contrato com a editôra Alfred A. Knopf para a edição do SAGARANA em inglês. (O GRANDE SERTÃO: VEREDAS, sob o título de “The Devil to pay in the Backlands”, já está sendo impresso, devendo sair já possivelmente no mês de março próximo.) Ainda uma vez, prezada Senhora von Miquel, apraz-me repetir-lhe, com a minha satisfação por ser agora um “Autor” do VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH, os vivos sentimentos com que recordo os nossos cordiais, sinceros e inesquecíveis encontros, com Herr Witsch, em Frankfurt e naquele magnífico jantar que me ofereceu em Wiesbaden. Grato, por tudo, e com as expressões da melhor estima e sincero aprêço, sou Seu João Guimarães Rosa P.S. – Quanto à remessa de dinheiro, peço que esperem ainda mais um pouco, nada enviando, por enquanto, até que eu volte a escrever-lhe, a êsse respeito.
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Köln, den 6. 2. 63/vM-gr
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministro das relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro / Brasilien
Sehr geehrter Herr Rosa, ich möchte mich sehr herzlich bei Ihnen für Ihren so ausserordentlich liebenswürdigen Brief vom 10. Januar bedanken. Ich habe ihn sehr gut lesen können und bin ganz stolz, dass ich zum erstenmal einen Text in portugiesisch lesen konnte. Leider kann ich nicht portugiesisch, sondern nur etwas spanisch und französisch, aber selbstverständlich können Sie in Zukunft an mich in portugiesisch, spanisch oder französisch schreiben, dann teilen Sie mir das doch gelegentlich mit. Aber ich habe doch in Erinnerung, wie gut deutsch Sie können. Die erste Rate von DM 2.000.- werden wir inzwischen zurückhalten, bis wir von Ihnen genauen Bescheid haben. Mit herzlichen Grüßen Ihre (Alexandra von Miquel) VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH
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Köln, den 16.4.1963 vM- gr Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio Das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro / Brasilien
Sehr verehrter Herr Rosa, ich lese mit grosser Passion und voller Begeisterung die - amerikanische Ausgabe Ihres Werkes, THE DEVIL TO PAY IN THE BACKLANDS, die wir soeben bekommen haben. Ich gebe sie dann weiter an Herrn Meyer-Clason. Ich bin schon sehr ungeduldig und bedauere nur, dass wir dieses wunderbare Buch noch nicht im nächsten Jahr deutsch herausbringen können. Aber Herr Meyer-Clason arbeitet ja zunächst an der Übersetzung des ersten Teiles von CORPO DE BAILE. Beim Lesen von THE DEVIL TO PAY IN THE BACKLANDS kam mir der Gedanke, ob es nicht doch richtiger gewesen wäre, diesen Roman, ein in sich abgeschlossenes Werk, in Deutschland als erstes Buch herauszubringen statt nur einen Teil von CORPO DE BAILE, aber Dr. Witsch ist der Ansicht, dass wir doch Ihren Wunsch, zuerst mit Ihrem Lieblingswerk – wenn auch nur mit einem Teil – herauszukommen, respektieren sollten. Sicher ist die Übersetzung von GRANDE CERTAO nicht einfacher als die Übersetzung von CORPO DE BAILE. Prof. Max Bense, der Sie zwar nicht persönlich kennt, aber sehr an Ihrem Werk interessiert ist, teilte uns mit, dass er, sobald Ihr erstes Buch in deutscher Sprache vorliegt, bzw. noch vor dessen Erscheinen, eine Vorlesungsreihe an der Technischen Hochschule in Stuttgart über Joao Guimaraes Rosa arrangieren wird. Er hat dafür den Ihnen sicher bekannten Senor Haraldo de Campos eingeladen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns Ihr Foto, das auf der Rückseite des Schutzumschlages der amerikanischen Ausgabe THE DEVIL ... abgebildet ist, zuschicken würden oder sollen wir uns da an Knopf wenden?
HERZLICHE GRÜSSE IHRE (Alexandra von Miquel) VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH
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Rio de Janeiro, 23 de abril de 1963 Senhora Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch Rondorfer Strasse 5 Koln – Marienburg Alemanha.
Prezada Senhora von Miquel, A respeito da importância (“erste Rate”, DM 2.000) que lhes pedi conservarem aí, a meu crédito, rogo-lhes, agora, efetuarem a remessa da metade da mesma, isto é, de DM 1.000, à Senhora ELFRIEDE STANKOWIAK, em Hamburgo, sendo o enderêço completo o seguinte: Frau Elfriede Stankowiak Birkenau 12 HAMBURG 22 A referida importância é para a Senhora ARACY MOEBIUS DE CARVALHO702, a quem pertence. A Senhora Elfriede Stankowiak, nossa amiga, vai apenas deposita-lo em Banco, em Hamburgo, em conta da Sra. Aracy Moebius de Carvalho. Será que, na própria remessa, pode-se mencionar isso? A metade restante, isto é, DM 1.000, rogo-lhes ainda conservarem aí, até nova comunicação minha. Desde já, muito lhes agradeço a gentileza dessa providência. Com a melhor estima e todo o aprêço, muito cordialmente, Seu João Guimarães Rosa
702 João Guimarães Rosa hat immer größten Wert darauf gelegt, dass die Widmung von Grande Sertão: Veredas:
„A Aracy, minha mulher, Ara, pertenece este livro“ nicht nur symbolisch gemeint ist, sondern dass tatsächlich alle Einkünfte, die aus diesem Buch resultieren, auf das Konto seiner Frau überwiesen würden.
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Rio de Janeiro, 23 de abril de 1963.
Prezada Senhora von Miquel, Estou recebendo, com a maior alegria, sua boa carta de 16 do corrente. Sinto-me feliz de que a leitura do “THE DEVIL TO PAY IN THE BACKLANDS” lhe esteja dando vivo contentamento, e muito me sensiblilizam suas expressões, tão entusiásticas e generosas. Penso que o livro ficou atraente, meu amigo Knopf tendo cuidado muito bem dêle. A tradução é boa, até onde posso julgar; sôbre um ou outro ponto, entender-me-ei, na ocasião, com o Sr. Meyer-Clason. E já estou recebendo pedidos de opção, de editôras da Suécia, Noruega, Dinamarca, Finlândia, Holanda, Espanha. Sôbre sua idéia, de o publicarmos aí primeiro, a ela não me aporei; ao contrário. Se o Sr. Witsch e a Senhora acharem que é preferível começarmos por êle, em vez de pelo “CORPO DE BAILE”, estarei de pleno acôrdo... E me alegrarei, da mesma maneira. Deixo ao critério de ambos, certo de que optarão pelo que fôr mais conveniente para a divulgação de minha obra na Alemanha. Pelo meu colega Palhares, Cônsul em Frankfurt, enviei-lhes um exemplar do “CORPO DE BAILE” e um do “SAGARANA”, edição feita em Portugal, com um glossário, que poderá ser muito útil ao tradutor. Receberam-nos? Também, pelo Sr. Meyer-Clason, fiz-lhes chegar às mãos exemplares dos meus três livros (todos, menos o “Primeiras Estórias”, que já tinham). Quanto à fotografia, lamento não poder enviar, pois quem a tem é a Knopf. Mas estou certo de que o Sr. Alfred Knopf terá prazer em mandar-lhes a mesma, se a êle se dirigirem, e mesmo ficará lisonjeado, pois foi foto tirada por êle, quando veio ao Brasil, no ano passado. Rogo-lhe transmitir minhas lembranças ao Sr. Witsch, e acolher os mui cordiais comprimentos do Seu J. Guimarães Rosa
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Cologne, 14. 5. 1963 vM/oe
Monsieur Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ BRASILIEN _______________________
Cher Monsieur, Je vous remercie de votre lettre du 23 Avril et j’ai le plaisir de vous informer que la somme de DM 1.000,-- a été transférée par notre départ de comptabilité à l’adresse indiquée dans votre lettre: Frau Elfriede Stankowiak, Birkenau 12, Hamburg 22. De plus je vous remercie de votre autre lettre. Entretemps je suis heureuse que M. MeyerClason s’est décidé maintenant finalement à commencer avec la traduction, d’abord avec EL GRANDE SERTAO comme il vous a déjà écrit. Nous avons recu les autres éditions de vos livrespar Monsieur Palhares de Francfort et je les ai envoyés à M. Meyer-Clason. Je m’adresse à Knopf concernant votre photo et je vous remercie beaucoup des informations concernantes les autres éditions étrangeres des vos livres. J’ai lu cette nouvelle avec beaucoup d’intérêt qui est très intéressante et importante pour notre publicité. Je vous prie d’agréer, cher Monsieur, l’expression de mes sentiments les meilleurs.
Alexandra von Miquel
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Rio de Janeiro, 7 de dezembro de 1963
Prezada Senhora Von Miquel, O Dr. José Neistein – brasileiro, Adido à Embaixada Brasil na Áustria e “Leitor” de Língua e Literatura brasileira na Universidade de Viena – teve, espontâneamente, a idéia de traduzir, com a colaboração de Snra. Dra. Eveline Krieger; austríaca, 3 contos do meo livro “PRIMEIRAS ESTÓRIAS”: “Sorôco”, sua mãe, sua filha” (“Sorôcos Mutter und Tochter”), “A menina de lá” (“Das Maedchen von Drüben”) e “Famigerado” (“Berüchtigt”). Ao resolverem traduzir aquêles contos, ignoravam êles que o livro já estivesse vinculado a essa Editôra, no tocante à publicação em língua alemã, e que já tínhamos tradutor certo e excelente, o Sr. Curt Meyer-Clason. Eu mesmo só tive notícia e comunicação da coisa quando êles amàvelmente me enviaram aquelas traduções, dactilografadas. Respondi ao Sr. José Neistein, agradecendo o cordial e honroso interêsse pela minha obra. Mas, ao mesmo tempo, informando-o de que 1) tendo já assinado contrato com o Verlag Kiepenheuer & Witsch, os direitos de tradução e publicação, do livro todo ou em parte, em alemão, não se achavam mais livres, mas sim de posse dessa Editôra; 2) que a Kiepenheuer & Witsch dispõe de tradutor abalizado e experiente, o Sr. Curt Meyer-Clason que conheço pessoalmente e merece a minha melhor simpatia, grata estima, particular consideração e real aprêço, – o qual, aliás, no momento, está a terminar com afinco, a tradução do “GRANDE SERTÃO: VEREDAS”, para, em seguida, de um a um, ir atacando a versão de meus outros livros. Naturalmente, não podia, porém, dissuadí-los de enviarem a essa Editôra o resultado do trabalho que haviam empreendido por puro gôsto e simpatia. E é o que êles vão fazer, pròximamente, segundo me diz agora o Sr. Neistein em carta. Sôbre o mérito, em si, das traduções, não me cabe, evidentemente, pronunciar. Também não sei se – caso as achem boas e válidas – lhes ocorrerá de alguma maneira aproveitá-las: publicando-as, evantualmente, em alguma revista, na Alemanha ou em Wien, a título de prévia publicidade do lançamento do “GRANDE SERTÃO: VEREDAS”, por exemplo. Tudo isso é assunto absolutamente privativo dessa Editôra, única também a poder pesar as condições e circunstâncias. Ouvindo também, a respeito, como espero, do nosso Tradutor, Senhor CURT MEYER-CLASON – em quem deposito e antenho tôda e a maior confiança.
Com vivos votos de Boas-Festas – alegre Natal e feliz Ano Novo : – que lhe peço transmitir também ao Dr. Witsch, aqui são as sinceras e cordiais homenagens do
Seu João Guimarães Rosa Köln, den 16.l.1964 223
vM/Se Herrn Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro / Brasilien
Lieber, sehr verehrter Herr Rosa, ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief vom 7. Dezember. Durch die Weihnachtsfeiertage – der Verlag war bis nach Neujahr geschlossen – komme ich jetzt erst zu einer Beantwortung Ihres Briefes. Ihre Nachricht, daß es schon Übersetzungen von drei Erzählungen aus Ihrem Buch PRIMEIRAS ESTORIAS gibt, hat uns sehr interessiert. Ganz unabhängig von Herrn MeyerClason und von unseren eigenen Übersetzungen würden wir diese Texte gerne einmal kennenlernen. Man kann vielleicht doch versuchen, wenn die Übersetzungen taugen, sie in einer Zeitschrift unterzubringen. Wir würden uns darüber immer mit Herrn Meyer-C1ason verständigen. Er würde hier sicher keine Schwierigkeiten machen und uns auch ganz objektiv sagen können, ob die Übersetzungen gut sind. Prinzipiell stehen wir natürlich auf dem Standpunkt, daß es für Ihr Werk richtig ist, einen Übersetzer zu haben, und wir sind sehr glücklich in Herrn Meyer-Clason den geeigneten Übersetzer gefunden zu haben. Aber vielleicht könnte man drei kürzere Erzählungen schon vorher einmal im Rundfunk oder in Zeitschriften publizieren lassen, auch wenn sie in einer anderen Übersetzung erscheinen. Das hängt natürlich von der Übersetzung selbst [...]
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Köln, den 25.3.1964 vM/ Se Herrn Joao Guimaraes-Rosa Ministerio das Relacoes Esxteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro / Brasilien
Lieber, sehr verehrter Herr Guimaraes-Rosa, Ich möchte Sie heute wieder einmal über die Herstellungsarbeiten an Ihrem Buch GRANDE SERTAO orientieren. Wie Sie wahrscheinlich schon durch Herrn Meyer-Clason wissen, wurde der Anfang des Romans in unserer Literaturzeitschrift MERKUR abgedruckt. Das Belegexemplar ist an Sie unterwegs, ich füge diesem Brief den Auszug aus der Zeitschrift bei. Wir sind sehr glücklich, daß es nun doch gelungen ist, so frühzeitig das ganze Übersetzungsmanuskript in die Herstellung zu geben. Wir haben noch mehrfach mit Herrn Meyer-Clason über einzelne Fragen zur Übersetzung korrespondiert, und wir haben hier alle den Eindruck, daß sich sein deutscher Text ausgezeichnet liest. Wir sind überhaupt alle hier im Verlag passioniert von Ihrem Roman, und wir hoffen, daß sein Erscheinen ein literarisches Ereignis in Deutschland sein wird. Einen Teil des Buches werden wir schon im Juni an die Buchhändler und an die wichtigsten Presseleute verteilen. Wir hoffen auch sehr, daß die Übersetzung von Meyer-Clason anerkannt wird. Er hat mit Ihnen ja darüber korrespondiert, und wir haben alles Vertrauen zu ihm als Übersetzer. Herr Dr. Witsch ist einige Wochen in Ferien, und ich hatte noch vor seiner Abreise mit ihm besprochen, daß ich Ihnen zu der Titelfrage schreiben werde. Nach langem Überlegen haben wir und für den Originaltitel entschlossen, d.h. wir möchten gerne den Roman unter dem Titel GARNDE SERTAO erscheinen lassen. Dabei muß allerdings auf dem Schutzumschlag (aber nicht in der Titelei) der Akzent ~ auf dem A in SERTAO wegfallen, der für die deutschen Leser ja sehr ungewöhnlich ist während das Wort SERTAO gut auszusprechen und auch behalten ist. Dr. Witsch meinte, leider müsse man bei der Lancierung des Buches auf diese Kleinigkeiten Rücksicht nehmen, und aus diesem Grunde soll ich Sie auch fragen, ob Sie damit einverstanden sind, wenn wir Ihren Namen auf dem Schutzumschlag nicht voll ausschreiben, während man ihn auf dem Titelblatt natürlich voll ausschreiben würde. Auf dem Schutzumschlag würde es dann heißen:
J. G. Rosa GRANDE SERTAO Roman und auf dem Titelblatt: João Guimarães Rosa. Allerdings entsteht so der Eindruck, als ob „G.“ Ihr Vorname wäre, was ja nicht der Fall ist. Der Name „Guimarães“ ist in der portugiesischen Schreibweise (wenn man ihn nicht phonetisch schreiben kann wie das bei russischen Namen geschieht, in dem vorliegenden Fall also „Gimares“) für einen deutschen 225
Leser, schon allein für den Buchhändler, sehr schwer zu behalten, d.h. er prägt sich schwer ein, während man, sich „Rosa“ sehr gut merken kann. Dr. Witsch bittet Sie herzlich, uns doch zu schreiben, ob Sie mir dem „J.G. Rosa“ auf dem Schutzumschlag einverstanden sind, und wir hoffen auch, daß Ihnen unser Titelvorschlag: GRANDE SERTAO gefällt. Allein schon mit dem Klang dieser beiden Worte verbindet man das Rätselhafte, das Abenteuerliche, die unendliche Weite und das Bild einer ganz bestimmten Welt, aber auch die Vorstellung von GRANDE SERTAO als Welt, als Leben. Auf die Übersetzung von „Veredas“ mußten wir verzichten. In der deutschen Sprache fanden wir bisher keinen entsprechenden Ausdruck, der so gut wie in Ihrer Sprache das Gegensätzliche zwischen GRANDE SERTAO und VEREDAS wiedergibt. Es wurde hier überlegt, für VEREDAS „Pfade“ zu sagen und dies als Haupttitel zu nehmen, aber das ist ein farbloser Titel im Deutschen und geht auch nicht im Zusammenhang mit GRANDE SERTAO. Ein solcher Titel wäre unverständlich. Herr Meyer-Clason hat wohl schon mit der Arbeit an der Übersetzung von CORPO DE BAILE begonnen.
Mit freundlichen Grüßen VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH
(Alexandra von Miquel)
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Rio de Janeiro, 7 de julio de 1964
Exma. Snra. Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch Rondorfer Str. 5 KOELN-Marienburg Alemanha.
Muito prezada, cara Senhora von Miquel, Sua carta, de 25 de março último, alegrou-me, muito e minha confiança creceu ainda mais, com as tão boas notícias. Já, por intermédio do Snr. Meyer-Clason, tive o prazer de comunicar-lhe, inmediantamente, minha concordância e aprovação às soluções sugeridas – para o título do livro (GRANDE SERTAO) e a maneira de figurar o meu nome no Schutzumschlag (J.G.Rosa). Ich fand alles richtig und gut. O número da revista MERKUR, que gentilmente me enviou, não me chegou ainda às mãos; talvez mesmo o correio o tenha extraviado. Recebi, porém, um exemplar dela, mandado pelo Dr. Paulo Franco, meu colega, Cônsul do Brasil em Berlim. E gostei muítissimo da „amostra“: („Der Teufel im Wirbelwind“) as páginas iniciais do romance. A tradução do Snr. Meyer-Clason me pareceu magnífica – densa, rica, fluente, colorida, forte e fiel. E apreciei bastante o anúncio do livro na contracapa. Agora, com ansiedade, fico aguardando o outono, para seu aparecimento. Mas, principalmente, quero agredecer, mais uma vez, o cordial entusiasmo e amirável interêsse que a presada Amiga, tanto quanto o nosso Dr. Witsch, têm disponsado ao livro, tudo fazendo que a sua edição alemã venha a ser realmente um sucesso. Muito, muito obrigado! *** Reportando-me agora à minha carta de 23 de abril de 1963, peço-lhe o grande favor de mandar efetuar a remessa da metade restante da „erste Rate“ – DM 1.000 – para depósito na minha „checking account“ (number 05108811) no: First National City Bank 640 Fifth Avenue at 51st Street NEW YORK, N.Y. 10019. Gratíssimo lhe estarei, pelo obséquio. E por tudo o mais, sinceramente. 227
Com a melhor lembrança, vivos votos e cordial estima e aprêço, Seu
João Guimarães Rosa
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Köln, den 8.7. 1964 Dr.W./we. Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio Das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro / Brasilien ___________________________________
Lieber und verehrter Herr Rosa ! Ich hoffe, daß Ihnen die kleine Schrift, die ich Ihnen heute schicke und die wir zur Vorbereitung der deutschen Übersetzung des GRANDE SERTAO an alle wichtigen Buchhändler und Kritiker geschickt haben, auch Freude macht. Wir betrachten Ihr Buch als eines der wichtigsten Bücher unseres diesjährigen Herbstprogramms und hoffen sehr, daß die Kritik unserer Interpretation folgt, d.h. uns darin folgt, daß es zu den wichtigsten in diesem Herbst in Deutschland überhaupt erscheinenden Büchern gehört. Ich glaube, daß wir Grund haben, die Übersetzung von Herrn Meyer-Clason ohne Einschränkung zu loben. An der Übersetzung selbst sehe ich erst, wie schwierig sie zu machen war. Soviel ich weiß, sind Sie ständig von ihm konsultiert worden, Sie kennen also die Übersetzung. Ich hoffe, daß es Ihnen gut geht und benutze die Gelegenheit dieses Briefes vor dem Erscheinen Ihres Buches, Ihnen nochmals zu versichert wie glücklich ich bin, daß wir im Herbst 1962 in Frankfurt so schnell Gefallen aneinander gefunden haben. Wenn wir bedenken, daß seitdem noch keine zwei Jahre vergangen sind, dürfen wir uns, glaube ich, einige Komplimente machen, daß wir mit dem schwierigsten und umfangreichsten Ihrer Bücher in einer so guten Übersetzung in diesem Jahr schon zur Buchmesse auf dem Markt sind. Was immer Sie an Material haben, das für unsere Werbung interessant sein könnte, verehrter Herr Rosa, schicken Sie es uns bitte noch zu. Für ein paar gute Photographien wären wir auch sehr dankbar, damit wir Sie dem deutschen Publikum auch physiognomisch vorstellen können. Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen, daß alles, was an Werbung für Ihr Buch geschieht, von mir selbst bestimmt und auch überwacht wird; ich will, daß nichts verkehrt gemacht wird. Wunderbar wäre es, wenn Sie zum Erscheinen des Buches nach Deutschland kommen könnten, aber das ist wahrscheinlich unmöglich es sei denn, Sie ließen sich mit einer diplomatischen Mission hierherschicken. Die brasilianische Botschaft in Bonn hätte allen Grund, das Erscheinen des Buches zum Anlaß eines Empfanges zu nehmen. Wir würden dasselbe ein paar Tage später wiederholen. So wie die Dinge heute auf dem internationalen Buchmarkt liegen, muß eben sehr viel Lärm gemacht werden, damit das Ungewöhnli229
che sich überhaupt noch Gehör verschaffen kann in der fast tödlichen Menge des Durchschnittlichen. Mit den besten Wünschen und den herzlichsten Grüßen bleibe ich Ihr ergebenster (Dr.J.C.Witsch)
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Rio, 16-VIII-64
Meu caro Meyer-Clason, Poderia transmitir à Frau von Miquel êste pedido meu? Se ainda dispuserem de exemplares do “MARGINALIEN” zu J.G. Rosa GRANDE SERTAO, gostaria muito que pudessem enviar um exemplar a cada uma das seguintes entidades: Mr. Georg Svensson, ALBERT BONNIER’S FÖRLAG, Sveavägen 56, Stockholm, Schweden. Mr. Gorden Holmebakk, GYLDENDAL NORSK FORLAG, Universitetsgaten 16, Oslo, Norwegen. GYLDENDAL PUBLISHERS, 3 Klareboderne, Kopenhagen, Dänemark. FÖRLAGSAKTIEBOLAGET OTAVA, Helsinki, Finland. J.M. Meulenhoff, Amsterdam, Niederland. Mr. G. Bernau, DILIA (Agence Théatrale et Littéraire Tchécoslovaque), Vysehradská 28, Prag – 2 / Nové Mésto, Tschechoslovakei. Mr. Branka Simic | Agence Yougoslave D’Auteurs, Section Littéraire, Dobrnjska 11/IV, Belgrad, Jugoslawien. Mrs. Görög und Ruszthi, BUREAU HONGROIS POUR LA PROTECTION DES DROITS D’AUTEUR, Départment International, Deák Ferenc U. 15, Budapest, Hungary. Mr. Enrico Filippini, GIANGIACOMO FELTRINELLI EDITORE, Via Andegari 6, Mailand, Italien. *** Obrigadíssimo. Depois escreverei com vagar. Mas, com vivos votos, grande e grato é o abraço do seu Guimarães Rosa.
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Köln, den 26.8.1964 vM/Gp
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ Brasilien
Sehr geehrter Herr Rosa, Dr. Witsch und ich haben uns sehr über Ihren letzten Brief gefreut und wir hoffen, daß Sie inzwischen die kleine Werbebroschüre MARGINALIEN zu Ihrem Buch erhalten haben. Herr Dr. Witsch hatte gleichzeitig dazu einen Brief geschrieben. Zu unserer größten Freude haben wir erfahren, daß in Berlin Ende September Anfang Oktober eine Lateinamerikanische Kulturwoche und in diesem Rahmen wieder ein Kolloquium zwischen deutschen und südamerikanischen Schriftstellern stattfinden wird unter dem Patronat des Ibero-Amerikanischen Instituts und der Vereinigung der Deutschen Schriftstellerverbände. Sie werden sicher inzwischen die Einladung zu dieser Veranstaltung erhalten haben. Das Kolloquium soll am 29. und 30. September stattfinden und am 28.9. und 1.10. werden 2 Rezitationsabende veranstaltet, auf denen aus den Werken der bereits übersetzen Autoren gelesen wird. Wir haben zusammen mit Herrn Meyer-Clason bereits Vorschläge für die Vorlesung aus GRANDE SERTAO gemacht. Das Presse- und Informationsamt teilte uns mit, daß einige der eingeladenen Autoren (u.a. Borges, Mallea, Castellanos, Asturias, Ortiz, Alegria) bereits zugesagt haben und man hofft sehr, auch von Ihnen die Zusage zu bekommen. Dr. Witsch ist bis Anfang September noch in Ferien. Ich habe ihn aber über diese Veranstaltung informiert und er läßt Sie bitten, doch unbedingt diese Einladung anzunehmen, da, wie er ja schon schrieb, Anwesenheit in Deutschland von größter Wichtigkeit für die Lancierung des Buches ist, ganz abgesehen davon, daß er mit größter Freude einem Wiedersehen mit Ihnen entgegensieht. Wir würden dann im Anschluß an Berlin Sie bitten nach Köln zu kommen und hier etwas arrangieren. Bitte lassen Sie uns doch umgehend wissen, ob Sie kommen werden und die Berliner Tagung vom 28.9. bis 1.10. mit dem Besuch in Köln verbinden können. Herr Meyer-Clason wird auch nach Köln kommen und wir hoffen es noch zu erreichen, daß er eine Einladung nach Berlin zugeschickt bekommt und möglichst noch selbst aus Ihrem Buch liest. Eine 1. große Besprechung wird sehr wahrscheinlich während der Messe in der Welt (Welt der Literatur) erscheinen. Der Rezensent, Herr G. Lorenz, ist ein Kritiker, der auch einige Jahre in Brasilien war und Ihre Werke im Original gelesen hat und ein großer Bewunderer von Ihnen ist. Herr Meyer Clason informierte uns über den Briefwechsel zwischen einem portugiesischen Vertreter der Unesco, Roger Caillois, der einer der französischen Vertreter in der Jury des Internationalen Verleger Preises ist. Dieser Preis fiel in diesem Jahr an Natalie Sarraute, 232
deren Werke wir auch verlegen. Die deutsche Presse erwähnte bereits verschiedentlich Ihren Namen in diesem Zusammenhang. Zu der Gruppe Internationaler Verleger, die diesen Preis vergibt, gehören wir nicht, sondern der Rowohlt-Verlag, aber Herr Dr. Witsch ist mit diesem Verleger sehr befreundet, und was wir können, werden wir natürlich tun, um zu erreichen, daß Ihr Buch allen Mitgliedern der Jury bekannt wird. Die Jury wechselt jedes Jahr, aber wir können durch Rowohlt leicht erfahren, wer von deutscher Seite dazu gehört, und Dr. Witsch kennt auch sehr gut einige der Jurymitglieder. Die Überweisung von DM 1000.--, um die Sie in Ihrem Brief baten, ist inzwischen erfolgt.
Mit freundlichen Grüßen Ihre (Alexandra von Miquel)
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Köln, 9. November 1964 Dr.N/fi
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/Brasilien
Lieber sehr verehrter Herr Rosa! Endlich sind die Bilder fertig geworden, die bei Ihrem Besuch in Köln aufgenommen wurden. In unserer Herbstkiepe,703 von der 100 000 Exemplare gedruckt werden haben wir die Rezension von Günther W. Lorenz abgedruckt, die in der Welt der Literatur erschienen ist. Außerdem finden Sie einen Auszug aus Ihrem Gespräch mit Heinrich Vormweg. Die Buchhändler bestellen GRANDE SERTAO nach wie vor gut, das Buch wird der heimliche Bestseller dieses Jahres werden.
Viele herzliche Grüße Ihr
Dr. Reinhold Neven DuMont
703 Werbemagazin des Kiepenheuer & Witsch Verlags.
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Rio de Janeiro, den 12. November 1964
Herrn Dr. Reinhold Neven Du Mont. Lieber sehr verehrter Dr. Du Mont, Jetzt eben erhielt ich Ihren Brief, mit der (prächtigen) HerbstKIEPE, die Bilder und die so schön klingenden Nachrichten. Für Alles, danke, vielmals. Ich gedenke immerhin der glänzenden netten Tage in Köln, unter dem liebvollen Schutz des VERLAGS. Es war wirklich traumhaft. Auch das süsse Linchen wird nicht vergessen. Mit selber Post schreibe ich an Dr. Witsch. Viele herzliche Grüsse Ihr Guimarães Rosa __________________________ P.S. – Würde Sie so gut sein und „DIE KIEPE“ auch, wenn möglich, an folgende Adressen zu senden?: Herrn Gorden Hølmebakk | GYLDENDAL NORSK FORLAG | Universitetsgaten 16 | OSLO, Norwegen. Herrn Georg Svensson | ALBERT BONNIERS FÖRLAG | Sveavägen 54-58 | STOCKHOLM, Schweden GYLDENDAL PUBLISHERS | 3 Klareboderne | Kopenhagen. DILIA (Agence Théatrale et Littéraire Tchécoslovaque) | Vysehradská 28 | PRAG 2 – Nové Mesto | Tschechoslovakei. VERLAG ZORA | Zagreb | Jugoslawien. M. Branka Simic | ÁUTORSKA AGENCIJÁ | Section Littéraire | Dobrnjska 11/IV | BELGRAD; Jugoslawien. FÖRLAGSAKTIEBOLAGET OTAVA | Uudenmaankatu 10 | HELSINKI, Finland. Herrn Görög und Herrn Ruszthi | BUREAU HONGROIS POUR LA PROTECTION DES DROITS D’AUTEUR | Départment International | Deák Ferenc u. 15 | BUDAPEST – V | Ungarn. Herrn Dr. Antonio de Souza-Pinto | EDITORIAL LIVREOS DO BRASIL | Rua dos Caetanos, 22 | LISBOA 2 | Portugal. Mm. N. Pasquier | ÉDITIONS ALBIN MICHEL | 22, Rue Huyghens, 22 | PARIS – XIVe., Frankreich. Herrn Enrico Filippini | GIANGIACOMO FELTRINELLI EDITORE | Via Andegari 6 | MAILAND, Italien. (Einem guten Verlag, in HOLLAND – ?) 235
Rio de Janeiro, den 12. November 1964 Herrn Dr. J.C. Witsch Alemanha.
Mein lieber Dr. Witsch, Sofort ich hier ankam, wollte ich Ihnen schreiben; nur es bangte mir die deutsche Grammatik, mit Buchstaben auf’s Papier, gegenüber zu stehen. (Jetzt, glücklicherweise, meine Schwiegermutter ist hier und hilft mir bei den Endungen der Eigenschaftswörter. Ich muss das ausnutzen.) Die gute Nachrichten, welche Dr. Neven Du Mont schickte, machen mich glücklich und begeistert. Aber ich weiss dass die Schnelligkeit dieses Erfolges, Ihrer genialer Stoss- und Leistungsfähigkeit meistens zu danken ist. Und Alfred A. Knopf hat auch geschrieben, über meinem „admirable German Pub1isher“. Es war bezaubernd, mein Aufenthalt in Köln, jede einzelne Stunde. Unvergesslich! Die freundliche Atmosphäre des Verlagshaus. Der Abend in Düsseldorf. Der entzückende Garten Ihres schönem Heimes. Frau Dr. Witsch so lieb und sympathisch, ebenso Ihre Tochter. Alles und Alle. Ich bin tief dankbar. Bitte, schicken Sie mir neue Rezensionen, ich brauche unaufhörlich diese stimulante Sorte von Lesematerial... Mein Schutzengel lässt Ihren Schutzengel grüssen. Beide denken vielleicht schon an „CORPO DE BAILE“. Grüssen Sie auch von mir, bitte, die libe Frau von Miquel, Herrn Wellershoff und Alle. (An Dr. Neven Du Mont habe ich mit selber Post geschrieben.)
Mit herzlichen Gefühle Ihr Guimarães Rosa
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Köln, den 26.11.1964 Dr. W./we Herrn Joao Guimaraes Rosa c/o Ministerio Das Relacoes Exteriores Rio de Janeiro / Brasilien
Lieber und verehrter Herr Rosa! Ich bedanke mich sehr für Ihren liebenswürdigen Brief vom 12.November. Sie überschütten mich mit Komplimenten und Freundlichkeiten, aber ich bin mindestens so glücklich wie Sie, daß wir mit GRANDE SERTAO ziemlich schnell ins Gerede gekommen sind. Mit Büchern ist es so zu sagen wie mit zweifelhaften Mädchen; sie leben davon, daß sie ins Gerede kommen, aber wir sind nicht nur ins Gerede gekommen, sondern es häufen sich ja auch die überschwenglichsten Besprechungen. Meine Angst, daß die Leute nicht begreifen würden oder nur ungenau begreifen würden, welche Bedeutung Ihrem Buch zukommt, daß sie nach langer Zeit — und nicht nur auf Deutschland, sondern auf die Welt gesehen — hier ein Stück Archaismus vor sich haben, einen Roman, der, was den Stoff angeht, die klassische Tradition verkörpert und in der Art, wie der Stoff dargeboten wird, äußerst modern ist, war unbegründet. Das hätte ja auch so, wie ich die Kritik einschätze, verborgen bleiben können. Wir haben uns bemüht, diese Blindheit aufzuheben, und wir haben dabei Gottseidank Erfolg gehabt, obwohl ich, mit dem Verkauf an sich zufrieden, gleichzeitig auf das äußerste unzufrieden bin. Diese Unzufriedenheit ist ein sehr positives Gefühl und für den Autor höchst schmeichelhaft, denn sie beißt nichts anderes, als daß ich meine, daß wir für jedes Exemplar, das wir verkauft haben, 10 Exemplare hätten verkaufen müssen. Ich bin ganz zuversichtlich, was die Zukunft angeht, und wir bereiten das Feld vor für „Corpo de Baile“ Dieses Buch wird dann leichter zu Erfolg kommen können als GRANDE SERTAO, wo wir die erste Vorstellung zu liefern hatten. Wir unterstützen den Erfolg, wo wir können: Wir machen Anzeigen, wir schicken den Buchhändlern die Kritik. Wir haben zwar nicht das meistverkaufte Buch in diesem Herbst herausgebracht, aber sicher das Buch, das am intensivsten, am meisten und auch am substantiellen gelobt worden ist. Ich bin ganz stolz über Ihre freundlichen Komplimente, auch über das, was Alfred Knopf, den ich sehr schätze, Ihnen geschrieben hat. Ich freue mich, daß Sie gerne in Köln waren, und wir alle, erinnern uns Ihres Besuches hier besonders gern. Ich will Ihre Grüße ausrichten und bin sicher, daß alle Sie auf das herzlichste wieder grüßen lassen.
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Lassen wir also, lieber Herr Rosa, unsere Schutzengel operieren, sie werden es schon richtig machen. Mit den herzlichsten Grüßen Ihr ergebenster (Dr. J.C.Witsch)
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Köln, den 11.12.1964 vM/gp
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores PalacioEamaraty Rio de Janeiro/ Brasilien
Lieber, sehr verehrter Herr Rosa, Wir haben inzwischen wieder sehr erfreuliche und gute Kritiken Ihres Buches gesammelt und sie jetzt über die Brasilianische Botschaft an Sie abgeschickt. Das Buch geht weiter gut und die Kritiken sind glänzend. Eine Kritik, die im Deutschlandfunk gesendet wurde, machte Einschränkungen. Der Kritiker meinte, daß der Roman 10 Seiten vor dem Schluß hätte enden sollen. Dieser Vorschlag, bzw. das Nichtverstehen des Romans finden wir eher belustigend als empörend und beschlossen den Autor dieser Kritik nicht zu vergiften. Sie erinnern sich doch noch an unser Mittagsgespräch. Wir alle denken hier noch oft und gern an Ihren Besuch und hören immer wieder von allen die Sie getroffen haben, wie glücklich man war, Sie kennenzulernen.
Mit freundlichen Grüßen Ihre
(Alexandra von Miquel)
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Aktennotiz 7. Januar 1965
bi/ro
an Buchhaltung, Herr Moll Herr Dr. Witsch bittet, mit den Honorarzahlungen an Rosa so lange zu warten, bis er wegen dieser Honorare mit dem Autor gesprochen.
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Köln, den 29. 3. 1965 vM/gp
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ Brasilien
Lieber, sehr verehrter Guimaraes Rosa, Dr. Witsch, der augenblicklich viel auf Reisen ist, aber inzwischen schon die deutsche Übersetzung von CORPO DE BAILE gelesen hat, bat mich, Ihnen folgendes zu schreiben: Wie Sie wissen haben wir von Meyer-Clason die Übersetzung dieses umfangreichen Werkes Ende Januar bekommen. Wir sind jetzt dabei mit ihm noch über einzelne stilistische Verbesserungen der Übersetzung zu diskutieren, wie wir es ja auch mit GRANDE SERTAO gemacht haben. Danach müssen alle deutschen Texte noch einmal sorgfältig durchgesehen werden auf die ganz genaue und richtige Schreibweise der brasilianischen Namen, Bezeichnungen der Landschaften etc. damit wir in den Fahnen so wenig Korrekturen wie möglich haben. Nach den Erfahrungen von GARNDE SERTAO haben wir festgestellt, daß wir diese Arbeit nicht alleine den Übersetzer oder Lektor überlassen können, sondern sie wird hier noch von einem Korrektor der Herstellung übernommen. Bei der Herstellung der deutschen Ausgabe von GRANDE SERTÃO wurde diese Arbeit erst in den Fahnen und beim Umbruch vorgenommen, was dann leider noch beträchtliche zusätzliche Kosten verursachte. Wir wollen diesmal das deutsche Manuskript von CORPO DE BAILE bis sozusagen auf den letzten Buchstaben satz- und druckfertig in die Herstellung oder Druckerei geben. Das alles nimmt natürlich noch viel Zeit in Anspruch und außerdem wird Meyer Clason im Sommer wahrscheinlich in Brasilien sein, was die Durchsicht der Fahnen und Umbruchexemplare auch verzögern wird. Wir müssen aber andererseits unsere Bücher, die in diesem Herbst erscheinen sollen unverzüglich in die Herstellung geben, damit sie am 1. September ausgeliefert werden können und damit wir im Mai/Juni die Presse schon mit Rezensionsexemplaren versorgen können und die Buchhändler mit Leseexemplaren. Nun ist unser größtes Problem der Umfang des Buches. Ganz abgesehen davon, daß die Arbeit zur Vorbereitung des Manuskripts und der letzten stilistischen Ausarbeitungen der Übersetzung in so kurzer Zeit kaum zu schaffen sind – auch bei GRANDE SERTAO war es schon außerordentlich schwierig und nur mit der größten Anstrengung möglich, den Roman am 1. September erscheinen zu lassen, was auch mit zu seinem großen Erfolg beigetragen hat – befürchten wir, daß ein Band mit allen sieben Geschichten, die über 900 Manuskriptseiten ausmachen, nicht nur in einem hier sehr ungewöhnlichen und unförmigen Buchformat erscheinen müßte, sondern auch eine fast zu anstrengende Lektüre für den Leser sein würde. 241
Wenn er gezwungen ist, diese 7 lange Erzählungen in einem Band zu kaufen. Dazu kommt, daß ein solcher Band von wahrscheinlich 800 Buchseiten einen sehr viel höheren Ladenpreis haben müßte als GANDE SERTAO, denn bei einem Erzählungsband kann man eine so hohe Auflagenzahl nicht riskieren, wie bei einem Roman, selbst bei einem zweiten Buch des Autors von GRANDE SERAO in Deutschland nicht. Aber mehr noch als diese Sorge bewegt uns etwas anderes: Wir fürchten, daß bei der jetzigen Anordnung der Geschichten, die BURITI am Schluß vorsieht, gerade dieses Stück aus CORPO DE BAILE, welches eigentlich ein selbständiger Roman ist, den zu lesen für alle alten und neuen Leser des Autor von GRANDE SERTAO ein großes Vergnügen ist, zu sehr untergehen würde. Es wäre schon besser, wenn BURITI an den Anfang des Bandes kommt, aber noch besser wäre es unserer Meinung nach, BURITI als Einzelband den deutschen Lesern, also als zweites Buch nach GANDE SERTAO vorzulegen. Dr. Witsch hatte damals, als wir noch nicht den genauen Umfang von CORPO DE BAILE übersehen konnten und wir die Texte nicht kannten, mit Ihnen gesprochen, daß wir CORPO DE BAILE, wie die Italiener, in einem Band herausgeben. Aber so, wie wir die Dinge jetzt übersehen, wäre das nur möglich, wenn wir das ganze Buch dann im nächsten Jahr, also nicht mehr im Herbst, erscheinen lassen. Wenn Sie unsere Meinung teilen, daß man BURITI allein in einem Band, unter Umständen ergänzt um zwei weitere Geschichten, herausbringen könnte, dann wäre es möglich ein zweites Rosa Buch in diesem Herbst erscheinen zu lassen. Die anderen Geschichten könnten dann in einem Buch im Herbst 1966 erscheinen. SAGARANA müßte dann allerdings bis Herbst 1967 warten. Dr. Witsch bittet Sie herzlichst, sich unsere Vorschläge zu überlegen, und uns so schnell wie möglich Antwort zu geben damit wir disponieren können. Vielleicht haben sie auch selbst einen anderen Vorschlag für eine Aufteilung der sieben Geschichten in zwei Bänden. Dr. Witsch möchte Ihnen durch diesen Brief unsere Überlegungen und Bedenken nur mitteilen. Wir möchten Sie aber auch wissen lassen, daß wir trotzdem, was die Anordnung der Texte und die Erscheinungsform betrifft, ganz Ihren Intentionen folgen werden. Wenn Sie es also doch vorziehen, an den Texten der jetzigen Anordnung nichts zu ändern und alle Geschichten in einem Band herausbringen möchten, dann werden wir selbstverständlich Ihren Wunsch respektieren. Nur können wir Ihnen dann nicht versprechen, das Buch noch in diesem Herbst herauszubringen. Wir erfreuen uns wieder an dem Erfolg von GRANDE SERTAO. Sie werden ja inzwischen die Besprechungen sicher bekommen haben. Es hat auch wieder neue gegeben, die wir Ihnen nächstens senden werden. Lieber, verehrter Herr Rosa, bitte, geben Sie uns ganz schnell Bescheid. Sie wissen ja wie wichtig alle Terminfragen im Verlag sind und wir möchten doch auch mit CORPO DE BAILE einen eben so großen Erfolg haben wie mit GRANDE SERTAO. Mit freundlichen Grüßen Ihre (Alexandra von Miquel)
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Rio de Janeiro, 9 de abril de 1965 Exma. Snra. Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch Rondorfer Str. 5 Koeln-Marienburg Alemanha Muito prezada, cara Senhora von Miquel, Estou recebendo sua estimada carta de 29 de março último. Estou de pleno acôrdo em que o CORPO DE BAILE se publique em dois livros; e muito justas e sérias as razões que me apresenta em favor dessa idéia. Fiz o cálculo, pelo número de páginas de cada novela, e, ao mesmo tempo, levei em consideração a natureza de cada uma, para o objetivo de propor-lhe a mais adequada seriação. Assim, a meu ver, o mais aconselhável seria a divisão seguinte: Primeiro livro (a sair em 1965) CAMPO GERAL (“Miguilim” – ?) O RECADO DO MORRO (“Die Botschaft des Hügels”) BURITI (“Buriti”) * Segundo livro (a sair em 1966) UMA ESTÓRIA DE AMOR (Eine Liebesgeschichte) DÃO-LALÃO (“...?...”) Zwischenspiel | “CARA-DE-BRONZE” (“Bronzegesicht”) A ESTÓRIA DE LÉLIO E LINA (“Die Geschichte von Leolio und Lina”) Pelo original, vê-se que cada um dos volumes terá, então, exatamente o mesmo número de páginas: (Cada um dêles com precisas, genau 398 páginas, computando-se pela 1ª edição do “CORPO DE BAILE”.) Mas, se a Senhora preferir outra maneira, escreva-me. Ou, melhor, dada a necessidade de ganharmos tempo, deixo desde já a decisão com a Editôra. Qualquer que seja, aprovarei. * Quanto aos títulos, podem também escolher e adotar. A Editôra está muito melhor em condições para saber quais os titulos que agradarão mais aos leitores e favorecerão assim os livros. AS EPÍGRAFES deverão, a meu ver, ser divididas: o primeiro livro levará as 2 primeiras epígrafes de PLOTINO e as duas primeiras de RUYSBROECK; o segundo livro levará as duas últimas de Plotino e a última de Ruysbroeck. Num e no outro, essas epígrafes poderão vir na mesma página, separadas por uma *, por exemplo, as de Plotina das de Ruysbroeck. A epígrafe em versos (“Côco oder Festtanz un -lied von Chico Brabós, etc.”) deve ficar para o segundo livro, por motivos obvios. 243
Acho aconselhável incluirmos no livro, em ambos, nos dois, a indicação de “ciclo romanesco”, Romanenzyklus (?), como fizeram os italianos (“Ciclo romanzesco”). Também na edição francêsa, chamaram cada novela de “romances”. Se possível, seria interessante cada um dos livros trazer 2 Índices: um, no princípio, à moda alemã ou inglêsa; e o outro no fim, à maneira latina. Seriam assim: (Título) Os poemas: MIGUILIM....... ... Etc.
(Título) Os romances: MIGUILIM...... ...
Penso que funcionaria bem. Seriam índice de leitura e índice de releitura. Um crítico italiano elogiou isso. Mas, ainda aqui, deixo o assunto ao seu perfeito critério e desisão. Sugiro, ainda, que o PRIMEIRAS ESTÓRIAS se publique em 1967, deixando o SAGARANA para 1968. Mas é apenas uma sugestão. A decisão fica com a Editôra. No momento, o PRIMEIRAS ESTÓRIAS está sendo traduzido, na França, para as Editions du Seuil. O SAGARANA está com a tradução inglêsa já pronta, deve sair ainda êste ano, pela editôra Albert A. Knopf, de New York. O que me parace interessante é incumbir-se logo o Meyer-Clason de começar a tradução, seja do PRIMEIRAS ESTÓRIAS ou seja do SAGARANA, como preferirem. Dessa maneira, poderíamos ter a tradução fita com mais vagar e melhormente; tanto mais que o Meyer-Clason, com sua viagem à América do Sul, vai ser assediado de encomendas de traduções, para argentinos e brasileiros, me parece. Creio que respondi a tudo e acrescentei o que possa ser útil. Rogo-lhe, cara Snra. von Miquel, cumprimentar muito cordialmente por mim o Dr. Witsch, o Dr. Neven-Dumont e todos os demais amigos daí. E acolher as gratas e sinceras saudações amigas Do seu Guimarães Rosa _____________________ P.S. – Alegra-me saber que vai enviar-me novas recensções e artigos, fico à espera dêles. Danke sehr.
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Köln, den 18.5.1965 Dr. W./we Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Realcoes Exteriores Palacio Itamaraty RIO DE JANEIRO/ Brasilien Lieber, verehrtester Herr Rosa! Wir haben uns nun doch entschlossen, auch in Berücksichtigung Ihres so liebenswürdigen Briefes, den Sie an Frau von Miquel geschrieben haben, CORPO DE BAILE in einem Band herauszubringen. Ihr Wunsch, das Buch anzuzeigen als „Ciclo romaneso“, erzwingt die Veröffentlichung in einem Band wie umfangreich er immer sein wird! Der Vorschlag, mit BURITI in diesem Herbst isoliert zu erscheinen, war eigentlich aus der Not geboren – einer Not aus der wir dann in unserer Begründung eine Art von Tugend gemacht haben – den ganzen umfangreichen Band in diesem Herbst nicht mehr rechtzeitig fertig zu bekommen. Indem ich mich jetzt wieder zur Tugend selbst bekenne, zusammenzulassen, was zusammengehört, muß ich einen kleinen Verzicht von Ihnen einhandeln, nämlich den, das Buch erst im Frühjahr 1966 erscheinen lassen zu können. So viele Gründe für ein Erscheinen im Herbst 1965 sprachen und sprechen, daß wir sozusagen die Diskussion über Rosa anhaltend eifrig lassen wollen, so gut begründen läßt sich auch die Entscheidung für das kommende Frühjahr. Wir geben dem GRANDE SERTAO nochmals eine ungestörte Chance im kommenden Weihnachtsgeschäft, wir werden es in der Herbstwerbung nochmals an die erste Stelle erheben und bewahren das neue Buch von Ihnen für eine ruhigere Zeit der Kritik und des Buchhandels, für das Frühjahr. Ich glaube, daß diese Entscheidung jetzt die richtige ist und daß sie auch Ihrem Interesse entspricht, und ich hoffe, daß wir im Frühjahr für CORPO DE BAILE dieselbe unermüdliche Resonanz bei der nicht so strapazierten Kritik haben werden wie wir bei GRANDE SERTAO gehabt haben. Die spanische Gruppe der Jury hat bei der Verleihung des ‚Internationalen LiteraturPreises’, unterstützt von anderen für Sie und GRANDE SERTAO gekämpft, aber zwei andere Autoren standen bei der Mehrheit der Jury-Mitglieder so sehr im Vordergrund, daß in der Schlußabstimmung drei Schriftsteller zur Diskussion standen, Sie, Saul Bellow und Gombrowicz. Eine knappe Mehrheit entschied sich für Saul Bellow704. Daß sich die Jury für Saul Bellow entschieden hat, der auch unser Autor ist, ist für den Verlag ein kleiner Trost dafür, daß Ihnen der Preis entgangen ist. Es wäre zuviel Altruismus verlangt, von Ihnen das gleiche oder ein ähnliches Gefühl zu erwarten, aber in diesen Dingen waltet immer ein bißchen Metaphysik. Im vorigen Jahr erhielt Nathalie Sarraute, deren Bücher wir in 704 Julio Cortázar kommentiert die Schlussabstimmung für den „Internationalen Literatur-Preis“ kurz in einem
Brief an seinen amerikanischen Übersetzer Gregory Rabassa: „Acabo de enterarme de que Saúl Bellow ganó el Internacional. Tengo aquí Henderson, the Rain King para leer, justamente lo compré hace un mes para llevármelo en las vacaciones. Guimarães Rosa fue candidato hasta la votación final, a mí me eliminaron antes, y al final ganó Bellow. No sé qué piensas de él, yo te lo diré algún día después de leer Henderson.” Brief aus Paris, vom 4. Mai 1965, in: Julio Cortázar, Cartas 1937-1983, hg. von Aurora Bernárdez (Buenos Aires: Alfaguara, 2000), II, p. 870.
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Deutschland verlegen, den ‘Internationalen Literaturpreis’, in diesem Jahr Saul Bellow, dessen Bücher wir in Deutschland verlegen und so hoffe ich, daß dem Gesetz der Serie folgend im nächsten Jahr der Preis auf Rosa fällt.705 Ich bin sicher, daß Sie mit Ihrem unvergleichlichen Werk auch eine sichere Anwartschaft auf größere Ehren haben als die des ‘Internationalen Literaturpreises’. Ich fahre morgen für knapp vier Wochen nach Amerika und bin am Ende meiner Reise vom 11. – 14. Juni in Caracas, um dort die deutsche Buchausstellung zu eröffnen. Ich kann Ihnen nicht sagen wie leid es mir tut, daß ich den Abstecher nach Rio de Janeiro, der so nahe liegt, aus zeitlichen Gründen nicht mehr machen kann. Ich hoffe, daß es Ihnen gut geht, daß Sie mir ihre Freundschaft erhalten und daß Sie mir nicht verübeln, daß ich im Verhältnis zur ganzen Entfernung so nahe bei Ihnen bin, ohne die Gelegenheit Sie zu sehen, benutzen zu können. Mit den herzlichsten Grüßen (Dr. J.C. Witsch)
705 Reinhold Neven DuMont schreibt in einer im Juni 2001 geschriebenen Verlagsgeschichte: „Es war immer
mein Bestreben, ein Vertauensverhältnis zu unseren Autoren aufzubauen mit dem Ziel einer auf Dauer angelegten Zusammenarbeit. So haben uns schon früher Schriftsteller wie Heinrich Böll, Saul Bellow, Nathalie Sarraute, Uwe Timm und Gabrie García Márquez ihr gesamtes Werk anvertraut.“ (Homepage des Kiepenheuer & Witsch Verlags: http://www.kiwi-koeln.de/verlage/kiwi/kiwimai2.shtml, letztmals eingesehen am 16. Juni 2004.) Guimarães Rosa konnte es Saul Bellow und Nathalie Sarraute nicht nachmachen, er hat nie den von Dr. Witsch vorhergesagten „Internationalen Literaturpreis“ bekommen und wird nun auch in der Verlagsgeschichte nicht mehr erwähnt.
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Köln, 31. Mai 1965 Dr.N/fi Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ Brasilien
Lieber, sehr verehrter Herr Rosa! In unserer Frühjahrskiepe haben wir auf Seite 3 nocheinmal auf Grande Sertao hingewiesen. Wir haben Auszüge aus den vier wichtigsten Besprechungen abgedruckt. Ich benutze die Gelegenheit Sie herzlich zu grüßen als Ihr
Dr. Neven DuMont
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Köln, den 21.1.1966 vM/gp
Monsieur Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeirö / Brasilien
Cher Monsieur Rosa, Le motif de ma lettre d’aujourd’hui est le suivant: Le 17 Juillet de cette année Dr. Witsch attêndra l’age de 6o ans. A cette occasion nous voudrions lui présenter un hommage imprimé qui comprendrait des textes originaux écrits par nos auteurs allemands, des amis de Dr. Witsch et par quelques auteurs étrangers qui le connaissent personnellement et qu’il apprécie particulièrement. Ce serait une très grande joie pour nous si vous voudriez avoir l’amabilité de contribuer à ce volume en écrivant un texte original ou en nous envoyant un inédit en Allemagne Nous prendrions soins de la traduction. Nous voudrions remettre aux auteurs à choisir le sujet et la forme de leurs contributions. Il peut s’agir des récits, poème, essai, lettre à. Dr. Witsch, feuilleton, aphorisme ou autre page. Si possible, la longueur du texte ne doit pas dépasser 5-6 pages dactylographiées. Date ultime de la remise du manuscrit sera fin février, au plus tard la mis-mars. Le volume paraîtra dans un tirage limité dont les exemplaires seront envoyés aux amis de Dr. Witsch et de notre Maison d’édition. En espérant que vous nous ferez le plaisir de co-opérer à cet ouvrage en honneur de Dr. Witsch et que votre emploi du temps vous permettra de correspondre à notre demande, je vous prie de croire, cher Monsieur Rosa, à l‘assurance [...]
[Die folgenden Seiten fehlen]
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Köln, den 15. 3. 1966 vM/gp Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro / Brasilien
Sehr geehrter Herr Rosa, im Auftrag von Frau von Miquel, die Sie herzlich grüßen läßt, schicken wir Ihnen heute per Seeweg 5 Buchexemplare von Grande Sertao von der Büchergilde Gutemberg.
Mit freundlichen Grüßen VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH i.A. (Gisela Grupe)
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Köln, den 22. 3. 1966 vM/oe
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty RIO DE JANEIRO/BRASILIEN
Lieber, sehr verehrter Herr Rosa, ich hoffe, Sie haben meinen Brief vom 21. Januar bekommen, in dem ich Sie fragte, ob Sie uns die Freude machen würden, für eine Festschrift, die wir anlässlich des 60. Geburtstags von Dr. Witsch herausgeben wollen, einen Beitrag zu schreiben oder uns einen in Deutschland noch unveröffentlichten Text zur Verfügung stellen können. Herr Meyer-Clason würde den Text übersetzen. Dr. Witsch weiss natürlich nichts von diesem Geheimplan von K & W. Da unsere Herstellung die Manuskripte für die Festschrift jetzt bald in die Druckerei geben muss, wäre ich Ihnen sehr dankbar wenn Sie mir schreiben würden, ob wir auf einen Beitrag von Ihnen rechnen können. CORPS DE BALLET: Die Fahnenkorrekturen von Herrn M-C. bekamen wir endlich vor einiger Zeit aus Südamerika zurück. Durch ein Versehen der Deutschen Botschaft dort war ein Teil der korrigierten Fahnen, die uns über das Bundespresseamt in Bonn zugestellt werden sollten, liegengeblieben. Dadurch können wir erst jetzt mit dem Umbruch des Werkes beginnen. Das Buch wird nun erst im Spätsommer erscheinen können, aber dadurch haben wir noch mehr Zeit, um Exemplare an die Presse zu schicken. Mit freundlichen Grüssen Ihre
(Alexandra von Miquel)
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Köln, den 24. 3. 1966 vM/gp
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ Brasilien
Lieber, sehr verehrter Guimaraes Rosa, con muchissimo placer he leido Su texto para la ‘Geburtstagsfestschrift Dr. Witsch’. Magnifico: Su caracteristica da en el clavo. Muchas muchas gracias. El ciudadano horoario de Urucuía estará encantado. Heute kam auch noch ein Brief von Meyer-Clason, der uns noch einige Ihrer Änderungswünsche für den Text mitteilte. Wir werden sie noch berücksichtigen. Mit herzlichen Grüßen Ihre
(Alexandra von Miquel)
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Köln, den 10.8.1966
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ Brasilien
Lieber Freund, Ich kann Ihnen gar nicht sagen, mit welch unendlichem Vergnügen ich Ihren Text “Rhein und Urucuia“ in der Festschrift gelesen habe, die man mir an meinem 60. Geburtstag im Namen von Autoren und guten Freunden überreicht hat. Am allerhübschesten an Ihrem Bericht über unsere Begegnungen in Köln und Frankfurt fand ich, daß Sie mich zum Ehrenbürger von Urucuia vorschlagen. Ich nehme diese Ehre mit Vergnügen an. Lassen Sie mich Ihnen von Herzen für Ihren Glückwunschbeitrag danken. Ein Exemplar des Buches wird Ihnen jetzt über die brasilianische Botschaft geschickt. „Corps de Ballett“ wird rechtzeitig zur Messe in Deutschland vorliegen. Mit herzlichen Grüßen Ihr
(Dr. J.C. Witsch)
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Köln, den 22.9.1966 VM/ gp
Herrn Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro / Brasilien
Lieber, sehr verehrter Joao Guimaraes Rosa, nun ist also CORPS DE BALEET rechtzeitig vor der Messe fertig geworden; wir sind sehr glücklich darüber. Dr. Witsch, der so kurz vor der Messe nicht mehr zum schreiben kam, bat mich, Ihnen schon mal ganz schnell ein Exemplar über die brasilianische Botschaft zu schicken. Die anderen Exemplare folgen dann per Seeweg. Mit freundlichen Grüßen Alexandra von Miquel
Frau von Miquel ist nach Diktat verreist i.A. (Gisela Grupe)
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Rio de Janeiro, 4 de outubro de 1966 Exma. Snra. Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln – Marienburg
Muito prezada Frau von Miquel, Recebi, hoje, com a melhor alegria, o primeiro exemplar do nosso “CORPS DE BALLET”. Está “fisicamente” uma beleza, uma maravilha, entusiasmando-me e a todos a quem já o pude mostrar. Mais uma vez, vejo que essa Editôra pôs o máximo amor e cuidado na apresentação de um meu livro, pelo que aqui lhe trago – rogando-lhe transmiti-les ao caro Dr. Witsch – os meus sinceros, vivos agradecimentos. A tradução, eu ja a conhecia; lendo, porem, agora, impressos, alguns trechos, reafirmo meu pleno louvor a CURT MEYERCLASON, que repetiu a difícil facanha, com o mesmo brilho e eficácia. Logo que puder, farei a leitura completa, enviando em seguida quaisquer observações que me ocorram. Rezo, agora, para que o livro tenha a mesma aceitação e sucesso publico que o anterior; enfim, no momento, sinto-me na maior satisfação – mit unendlichem Vergnuegen. Sei, porém, que estou em falta com os meus Amigos da Kiepenheuer & Witsch, e por diversos motivos. E rogo-lhes muitas desculpas. O que houve foi que, de setembro do ano passado ate hoje, e, portanto, no decurso de um ano, estive todo o tempo sob o terrível pêso de enorme massa de trabalhos e agudas resposabilidades, em razão do desentendimento com o Paraguai acêrca de limites (como sabe, sou o Chefe do Serviço de Demarcação de Fronteiras, do Ministério das Relações Exteriores); e, também por causa de distúrbios de saúde, agravados pelo esfôrço e conseqüente estafa. Em junho, atenuadas as circunstâncias da “crise paraguaia”, tive, de ir a New York, convidado especial ao Congresso do PEN. Mas de lá voltei doente, estive praticamente um mês fora de ação. Só agora consigo, aos poucos, restabelecer o equilíbrio, pondo em ordem inclusive a minha retardadíssima correspondência. E, assim, daqui por diante, espero ser mais assíduo e correto, creiam-me. Mas, principalmente, queria, e sempre ainda é tempo, muito agradecer-lhes: O envio, em fins de 1965, de outras recensões (artigos, revistas, notas, etc.) sôbre o “GRANDE SERTÃO”, que recebi com a maior satisfação. A remessa de “5 Belegexemplare” do “GRANDE SERTÃO”, da Buechergilde Gutenberg, que tambem recebi pontualmente. Sua carta, de 24.5.66, tão simpática, a respeito do “Geburtstagsfestschrift Dr. Witsch”. A carta afetuosa do próprio Dr. Witsch, de 10 de agôsto último. _________________________ Alegrou-me que a ambos a Senhora e ao Dr. Witsch – tenham agradado as linhas que tive o privilégio de escrever para a publicação comemorativa. O livro ainda não me chegou às mãos; mas já sei que ficou muito bonito. Espero, ansioso, e peço que me remeta, logo que possível, as primeiras recensões, artigos, notas, etc., sobre o “CORPS DE BALLET”. 254
Também, não deixe de ir mandando, sempre, coisas que se publiquem ou venham ainda a ser publicadas, por acaso, tudo o que houver de nôvo sôbre o “GRANDE SERTÃO”. O “GRANDE SERTÃO: VEREDAS”, aliás, em edição espanhola, deve estar saindo, neste momento, pela Editôra Seix Barral, de Barcelona. A tradução, sei, teria ficado belíssima. Assim, cara Frau von Miquel, acolham meus agradecimentos, por tudo. Com saudações muito amigas Do seu João Guimarães Rosa
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Rio de Janeiro, 5 de outubro de 1966 Exma. Snra. Alexandra von Miquel Verlag KIEPENHEUER & WITSCH KÖLN – Marienburg Alemanha
Muito prezada Frau von Miquel, Esta lhe chegará as mãos juntamente com a outra minha carta, datada de ontem, em que disse de minha grande satisfação ao receber o primeiro exemplar, belíssimo, do “CORPS DE BALLETT”. Hoje, queria trazer-lhe aqui outras consultas e pedidos. Edições do Grande Sertão Gostaria muito que me fornecesse, com a possível urgência, dados discriminados sôbre tôdas as edições tiradas até agora do “Grande Sertão”: 1) numero das edições ou tiragens, isto é, quantoas têm sido; 2) datas das mesmas; 3) número de exemplares tirados para cada uma dessas edições; 4) prêço de volume, idem, idem; 5) quaisquer outras informações que julgar interessantes. O motivo dêste pedido é duplo. Primeiro, a Editôra José Olympio gostaria de incluir esses dados, por importantes, na “Bibliografia do Autor”, estampada em cada livro meu editado aqui. E, last but not least, como ja tive ocasião de lhe explicar, o “GRANDE SERTÃO: VEREDAS” é de minha mulher, para todos os fins, e ela sempre me faz perguntas a êsse respeito. Assim, todos ficarão facilmente atendidos. Obrigado. “Büchergilde Guttenberg“ Como acusei, na outra carta, recibi os 5 Belegexemplare dessa edição. Mas, como não tenho a menor idéia do que seja e de como funciona a Buechergilde, ficaria muito contente se me desse alguns esclarecimentos a êsse respeito. É uma espécie de “Club do Livro”? Obrigado. “Primeiras Estórias“ Já terminei a leitura dos manuscritos das estórias traduzidas e restituí-os ao Meyer-Clason; acho que, como sempre, êle trabalhou magnificamente. E espero que o livirinho, graças principalmente à excelente tradução, venha a não desmerecer de todo e achar agrado da parte dos leitôres alemães. Como se trata de obra de curto tamanho, gostaria de trazer-lhes, sôbre a edição do mesmo, a sugestão de duas inclusções, acerca das quais já tinha tido ocasião de conversar com MeyerClason, quando ele aqui estêve. Seriam: 256
Uma Introdução explicativa da obra de Guimarães Rosa, em geral, a guisa do que fêz a Seuil para a edição de “BURITI” (a Sra. a conhece). A 3a. edição do “PRIMEIRAS ESTORIAS” aqui, vai sair, breve, com um trabalho do escritor Paulo Rónai, para isso encomendado especialmente, pela Editôra José Olympio. Meyer-Clason já recebeu uma copia dêle, e vai examina-lo para ver se serviria de fato também para a edição alemã. Meyer-Clason conversará a respeito, com o Dr. Witsch e com a Sra. Acho também muito importante e interessante juntar-se também um trabalho do próprio Meyer-Clason: sôbre as peculiariadades da linguagem e estilo, do original, com exemplificações das dificuldades encontradas na tradução, soluções adotadas, etc. Que pensa a casa, a êsse respeito? Sagarana Fiquei muito contente em receber carta de Meyer-Clason, acêrca da tradução do “SAGARANA”, com o que terei o 4º livro editado aí, e traduzido como melhor não poderia ser. Obrigado. Editôra holandêsa Pedir-lhe-ei ainda o favor de aconselhar-me a respeito de qual a editôra na Holanda que pensa deva preferir, no caso de propostas para a edição de meus livros naquele país e idioma. Quer dizer-me isto, por favor? Obrigado. Exemplares do “Grande Sertão” De cada edição já tirada do “GRANDE SERTÃO”, agradeceria que me enviasse exemplares, para a minha coleção. Obrigado. Penso que gostaria de saber que a revista tchecoslovaca, digo, tcheca, “Svetová Literatura”, de Prag (no 4, 1966) publicou 3 estórias do “PRIMEIRAS ESTÓRIAS” (“A terceira margem do rio”, “Os irmãos Dagobe”, “Nenhum, nenhuma”). A apresentação ficou muito bonita, com nota sobre o autor e retrato. *** Bem, mais uma vez agradeço sua gentil atenção aos meus pedidos, e prometo que, daqui por diante, estarei em mais assíduo contacto com os meus amigos da Kiepenheuer & Witsch. Muito cordialmente saúda-a e abraça-a o Seu João Guimarães Rosa
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Rio de Janeiro, 7 de outubro de 1966
Exma.Snra. Alexandra von Miquel Verlag KIEPENHEUER & WITSCH Koeln-Marienburg Alemanha.
Muito estimada Frau von Miquel,
Estive conversando aqui na minha Editôra, a José Olympio –onde todos se entusiasmaram com a beleza de aspecto do “CORPS DE BALLETT‘, dizendo os maiores louvorês sobre tão exemplar trabalho. E, então, lembrei-me de sugerir uma iniciativa, que,esto certo, trará simpáticas vantagens, tanto para a Kiepenheuer & Witsch quanto para a Livraria José Olympio Editôra. É o que me permito agora lembrar-lhe : a interessante conveniência de que oferecessem, remetendoo diretamente, um exemplar do livro à José Olympio. Que acha? Até hoje, tenho tido prazer de dar-lhes – o que fiz para o “GRANDE SERTÃO”, um exemplar dos meus. Mas, como as editôras americana, francêsas, etc., sempre remetem e oferecem exemplares a êles, penso que valeria a pena inaugurarem, para traduções e edições aí de livros brasileiros, êsse intercâmbio. Ao mesmo tempo, a José Olympio vai passar a enviar à Kiepenheuer & Witsch os livros de mais valor e possibilidades de tradução e publicação na Alemanha, o que fará com exclusividade. Para o caso de se interessarem pelo assunto, aqui dou o enderêço da casa:
Livraria José Olympio Editôra Rua Marquês de Olinda, 12 (Botafôgo) RIO DE JANEIRO Brasilien.
Cordialmente, J. Guimarães Rosa
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Köln, den 14.11.1966 vM/oe
Herrn Joao Guimaraes Rosa Rio de Janeiro
Lieber Herr Rosa, schliesslich und endlich möchte ich Ihnen heute noch zu unserem Generalvertrag, vor allen Dingen zur Ausgabe von CORPS DE BALLET schreiben. Dr. Witsch hatte die Absicht gehabt, Ihnen deswegen selber zu schreiben, und zwar vor Erscheinen von CORPS DE BALLET, er kam aber nicht mehr dazu, weil er krank wurde. Die deutsche Ausgabe von CORPS DE BALLET konnte gerade noch rechtzeitig zur Buchmesse erscheinen. Es gab noch eine sehr schwierige Frage bei der Festlegung des Ladenpreises, und deswegen möchte ich Ihnen heute schreiben. Die deutsche Ausgabe kostet DM 29,80. Sie hätte eigentlich das Doppelte kosten sollen, nämlich DM 50,- bis 60,nicht so sehr wegen des grossen Umfangs, sondern weil die Korrekturkosten in den Fahnen und im Umbruch, entstanden durch nachträgliche Korrekturen des Übersetzers, unseres lieben Herrn Meyer-Clason, weit über DM 2.000,- liegen. Unsere Herstellung war ganz verzweifelt. Wir haben an sich eine Bestimmung, dass der Übersetzer, wenn die Korrekturkosten mehr als 10% der Satzkosten betragen, diese Mehrkosten selber tragen muss. Das ist aber reine Theorie, und wir werden das natürlich von Meyer-Clason nicht verlangen, obwohl wir ihn mehr als einmal darauf aufmerksam gemacht haben wie entsetzlich hoch die Kosten für seine Fahnenkorrekturen sein werden. Wir wissen sehr gut, dass man einen Übersetzer wie Meyer-Clason für die Übersetzung eines Ihrer Bücher überhaupt nie hoch genug bezahlen kann. Er bekommt von uns das überhaupt höchste Honorar, was in Deutschland einem Übersetzer gezahlt wird, und wir haben auf sein Verlangen dieses Honorar für PRIMEIRAS ESTORIAS noch einmal beträchtlich erhöht. Aber unabhängig davon, dass auch dieses Honorar für eines Ihrer Bücher vom Standpunkt Meyer-Clasons aus – gemessen an dem Schwierigkeitsgrad und dem Zeitaufwand – gar nicht so hoch ist, belasten die Übersetzungskosten CORPS DE BALLET und die Korrekturkosten sehr die Kalkulation des Buches. Dadurch, dass wir doch noch einen relativ niedrigen Ladenpreis für CORPS DE BALLET angesetzt haben (ein Romanwerk von DM 50,- bis 60,- wäre kaum zu verkaufen) haben wir natürlich unterkalkuliert. Sie werden sicher auch verstehen, dass wir bei der Festsetzung der ersten Auflage von CORPS DE BALLET etwas vorsichtiger als bei GRANDE SERTAO sein mußten weil das Werk so sehr viel umfangreicher ist und auch vom normalen Leser mehr als grosser Erzählungsband denn als Roman angesehen wird. Natürlich hoffen wir, dass es auch bei CORPS DE BALLET wieder zu einer zweiten Auflage kommt, aber nach den Bestellungen für dieses Buch zu urteilen, sieht es vorläufig nicht 259
so aus. Die Vorbestellungen sind sehr viel geringer als für GRANDE SERTAO, bisher sind noch nicht einmal 1.000 Expl. verkauft. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände möchte ich Ihnen heute, auch im Auftrag von Herrn Dr. Witsch, formell schreiben und die Bitte aussprechen, eine leichte Korrektur unserer Vertragsbedingungen CORPS DE BALLET; PRIMEIRAS ESTORIAS und SAGARANA vorzuschlagen: Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns gestatten würden, die deutsche Ausgabe von CORPS DE BALLET so abzurechnen, dass wir Ihnen nicht wie in unserem Vertrag (bei dessen Abschluss wir szt. keine Vorstellung hatten wie hoch die Übersetzungskosten Ihrer Bücher sein würden) festgelegt 8% für die ersten 5.000 Expl. zahlen, sondern mit Rücksicht auf die hohen Übersetzungskosten und den unerwarteten nachträglichen Korrekturkosten 6% für die ersten 5.000 Expl. 8% von 5001 bis 6.000 “ 10% von 6001 bis 10.000 “ 12,5% “ 10.001 “ 15.000 “ 15% danach Natürlich wollen wir uns nicht von unseren im Vertrag gemachten Verpflichtungen entziehen, aber wir hoffen, dass Sie uns diese Konzession im Hinblick auf die schwierige Kalkulation dieses Buches machen können und dass wir die Möglichkeit haben, bei Ihren späteren Büchern PRIMEIRAS ESTORIAS und SAGARANA die aussergewöhnlich hohen Übersetzungskosten etwas auf das Autorenhonorar umzulegen und für die ersten 3.000 Exemplare nur 6% zu zahlen sind. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir bald dazu schreiben. Sobald Sie mir geantwortet haben, kann Ihnen unsere Buchhaltung die Abrechnungen, soweit sie fällig sind, schicken. Laut unserem Generalvertrag sind ebenfalls fällig weitere DM 2.000,- Vorschuss für CORPS DE BALLET: Bitte, geben Sie mir auch genaue Anweisung wohin diese Summer überwiesen werden soll. Mit herzlichen Grüssen Ihre (Alexandra von Miquel)
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Köln, den 14.11.1966 vM/oe Herrn Joao Guimaraes Rosa Rio de Janeiro _____________ Lieber, sehr verehrter Herr Guimaraes Rosa, Ich habe mich ganz ganz herzlich über Ihre Briefe vom 4., 5., und 7. Oktober gefreut und möchte sie der Reihe nach beantworten. Uns allen im Verlag haben Ihre Worte zum Aussehen der deutschen Ausgabe von CORPS DE BALLETT grosse Freude gemacht, ich werde sie auch noch in allernächster Zeit an Dr. Witsch weiterleiten. Sie haben vielleicht von Herrn Meyer-Clason inzwischen gehört, dass Dr. Witsch seit Anfang September leider in einem Krankenhaus in Amsterdam liegt und dort wahrscheinlich noch ein paar Wochen bleiben wird. Aber jetzt geht es ihm sehr viel besser und wir sind zuversichtlich, dass er noch vor Weihnachten wieder nach Köln kommt. Er hatte sich doch in den letzten Monaten etwas überanstrengt und bekam eine unangenehme Herzgeschichte, hatte aber das grosse Glück, sofort zu einem weltberühmten Arzt und in ein sehr gutes Krankenhaus zu kommen. Nun müssen wir vorübergehend, wahrscheinlich nur bis Ende des Jahres, ohne ihn regieren, oder auch nur ferngelenkt, da wir natürlich auf keinen Fall möchten, dass er sich zu früh wieder in die Arbeit stürzt. Das ist auch der Grund, weshalb Ihnen Dr. Witsch zunächst noch nicht selber schreibt. Ich schicke Ihnen Rezensionen zu CORPS DE BALLET, sobald sie vorliegen, bisher gibt es nur eine ausführliche Kritik in einer grossen deutschen Rundfunkstation, aber andere Rezensionen werden bald folgen, vor allem hatte mir G. Lorenz auch versprochen dafür zu sorgen, dass seine Kritik so bald wie möglich in der ‘Welt’ erscheint. Wegen der langen Übersetzungs- und Herstellungsprozedur des Buches konnten wir leider erst verhältnismässig spät Rezensionsexemplare verschicken, wir haben das aber in Kauf genommen, weil wir die deutsche Ausgabe nicht noch einmal verschieben wollten. Weitere Kritiken zu GRANDE SERTÃO soweit sie noch erschienen sind suchen wir noch heraus und ich schicke sie Ihnen ebenfalls in den nächsten Tagen. Ich freue mich, dass Sie jetzt wieder etwas mehr Zeit haben, ich hatte schon von Herrn Meyer-Clason gehört, dass Sie durch den Granzstreit mit Paraguay so sehr mit Zeit in Anspruch genommen waren und wir hatten hier aus der deutschen Presse erfahren, dass sie in New York beim PEN Klub waren. Zu Ihrem Brief vom 7. Oktober: Ich danke Ihnen sehr für Ihre Anregung, Ihrem brasilianischen Verleger José Olympio die deutschen Ausgaben Ihrer Bücher zu schicken. Das machen wir natürlich mit dem grössten Vergnügen. Ich habe bereits gleich nach Empfang Ihres Briefes veranlasst, dass an Herrn José Olympio direkt je 1 Exemplar der deutschen Ausgabe GRANDE SERTÃO und CORPS DE BALLET geschickt wird, und zwar via 261
Brasilianische Botschaft. Es war leider nur möglich, diese beiden schweren Bücher wie Ihre übrigen Belegexemplare von CORPS DE BALLETT per diplomatischen Kurier – Schiffspost – zu schicken. Mit herzlichen Grüssen Ihre (Alexandra von Miquel)
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Köln, den 15.11.1966 vM/gp
Herrn Joao Guimaraes Rosa Rio de Janeiro
Lieber Herr Guimaraes Rosa, zu Ihrem Brief vom 5. Oktober möchte ich heute Ihre Fragen beantworten betr. Verkauf von GRANDE SERTAO etc. Wir haben bisher von GRANDE SERTAO zwei Auflagen für den Buchhandel gedruckt, und zwar: Auflage im Herbst 1964 mit 4500 Exemplaren Auflage im Herbst 1964 mit 4600 Exemplaren Dann haben wir außerdem 1965 nochmal in einer dritten Auflage 1000 Exemplare nachgedruckt. Verkauft wurden bisher ca. 8750 Exemplare. In den Sommermonaten ist Ihr Buch natürlich nicht so gut verkauft worden, weil in den Sommermonaten in Deutschland sozusagen „saure Gurkenzeit“ ist, aber wir sind sicher, dass wir jetzt wieder im Herbst- und Weihnachtsgeschäft mehr verkaufen werden. Der Ladenpreis von GRANDE SERTAO beträgt für jede Ausgabe DM 26,-Sie bekommen aber auch noch eine offizielle Abrechnung von unserer Buchhaltung über den Verkauf von GRANDE SERTAO, sie ist Ihnen nur noch nicht geschickt worden, weil wir noch eine andere Frage betr. Vertrag für CORPS DE BALLETT klären möchten, aber dazu schreibe ich Ihnen separat. Die Büchergilde Gutenberg ist eine sehr gute Buchgemeinschaft hier in Deutschland, die vor allem literarische Werke in ihrem Programm aufnimmt. Wir hoffen, dass es möglich sein wird, den Roman GRANDE SERTAO in anderen Buchgemeinschaften zu geben. Es ist in Deutschland nämlich möglich, dass ein Titel in mehreren Buchgemeinschaften erscheint, wenn man den Zeitpunkt des Erscheinens in der Buchgemeinschaft abstimmt. Dazu bedarf es oft langwieriger Verhandlungen, aber diese Arbeit wird auch noch von unserem Prokuristen, Herrn Moll, besorgt, der sehr gute Beziehungen zu den Buchgemeinschaften hat und in dieser Beziehung für Autoren viel erreicht. PRIMERAS ESTORIAS: Ich bin schon sehr gespannt auf die Übersetzung von MeyerClason. Ich habe mit Herrn M.C. auch über Ihren Brief und Ihre Wünsche wegen der Erzählungstexte gesprochen. Es ist ganz sicher wichtig, in dieser Ausgabe ein Nachwort des Übersetzers hineinzunehmen über die Besonderheiten der Sprache und den Stil des Originals mit Beispielen der Schwierigkeiten für den Übersetzer, gewählte Lösungen etc. das habe ich Herrn M.C. auch bereits gesagt. Wir werden ferner in Betracht ziehen, die Arbeit 263
von p. Ronai in das Buch aufzunehmen, von der M.C. sehr viel hält. Dagegen würde es, glaube ich, zu viel sein und den Leser zu sehr belasten, auch noch das Nachwort zur französischen Ausgabe von BURITI in die deutsche Ausgabe aufzunehmen, also die allgemeine Einführung in Ihr Werk. Wir könnten und überlegen, dieses Vorwort evtl. wieder in einer anderen Form zu verwenden, wir haben ja das auch zum Teil in den Marginalien zu GRANDE SERTAO verwendet. Auf jeden Fall werde ich Herrn M.C. bitten, die Arbeit von Pablo Ronai für uns zu übersetzen und sobald wir den deutschen Text gelesen haben, können wir Ihnen genaue Vorschläge machen in welcher Form, ob in der deutschen Ausgabe von PRIMEIRAS ESTORIAS oder in einer anderen Editionsform wir diese Arbeit hier veröffentlichen. Ganz sicher aber ist, dass wir das Nachwort von Herrn M.C. in die deutsche Ausgabe aufnehmen werden. SAGARANA: Sobald Herr M.C. uns die Übersetzung von PRIMEIRAS ESTORIAS schickt, werde ich mit ihm über den Ablieferungstermin der Übersetzung SAGARANA verhandeln. Holländische Ausgabe: Von holländischen Verlegen kann ich Ihnen empfehlen ELSEVIER, es gibt aber noch einen anderen guten und vor allen dingen sehr finanzstarken Verleger BRUNA, der sehr viel Taschenbuchreihen hat, aber vielleicht nicht so ein literarischer Verlag wie ELSEVIER ist, der auch die holländischen Übersetzungen von Heinrich Böll herausgibt. Belegexemplare von GTANDE SERTAO 2. Ausgabe sind Ihnen im Oktober via Brasilianische Botschaft per Schiff geschickt worden.
Mit herzlichen Grüßen Ihre
(Alexandra von Miquel)
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Rio de Janeiro, 28. Feb. 1967
Sehr geehrte Senhora von Miquel, ich beziehe mich auf Ihren Brief vom 14.11. 1966, und angesichts der Gründe, die Sie mir auseinandersetzen, bin ich ganz damit einverstanden, wie Sie es vorschlagen, unseren Vertrag für die deutsche Ausgabe von Corps de Ballet etwas zu ändern. Wir halten dann also als Autorenhonorar folgende Prozentsätze fest: 6% für die ersten 5.000 Exemplare 8% von 5.001 bis 6.000 10% von 6.001 bis 10.000 12 ½ & v. 10.001 bis 15.000 15 % danach
Ich bin auch damit einverstanden, für Primeiras Estorias und Sagarana das Autorenhonorar wie folgt zu ändern:
6% für die ersten 3.000 Exemplare 8% von 3.001 bis 5.000 10% von 5.001 bis 10.000 12 ½ & v. 10.001 bis 15.000 15 % danach
Ist es so recht? Wenn Sie mir Abrechnungen schicken, bitte ich Sie mir ganz spezifizierte und getrennte Abrechnungen für Grande Sertao und Corps de Ballet zu machen (einschließlich wieviele Beträge ich schon bekommen habe.) Ich möchte das, weil das Geld von Grande Sertao meiner Frau gehört, wie ich Ihnen schon einmal gelegentlich erklärt habe. Ich bitte Sie, auch keine Überweisung vorzunehmen, bevor ich Ihnen schließlich schreibe und erkläre, wohin die Beträge überwiesen werden sollen. Vielen Dank für alles und noch einmal mit freundlichen Grüßen und Empfehlungen, Ihr J. Guimarães Rosa [Deutsche Übersetzung des Verlages. Das Original ist im Archiv nicht auffindbar].
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Rio de Janeiro, 28 de fevereiro de 1967 Exma. Snra. Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch Koeln-Marienburg Alemanha. Muito prezada Amiga Senhora von Miquel, Primeiro que tudo, rogo-lhe acolher e transmitir de viva voz ao caro Dr. Witsch os meus fervorosos votos pela sua saúde e perfeito restabelecimento. Confio em que o nosso grande Editor e querido Amigo já se encontra bom e aí junto dos seus, comletamente superada a doença, graças à sua fibra de organismo e fôrça de espírito, de rijo „renano-urucuiano“. A êle vai o meu melhor pensamento. Recebi e agradeço as informações constantes das duas cartas, de 14 e 15 de novembro último. Perdôe-me, se não voltei a lhe escrever logo. Mas foi que tive de fazer três viagens, sucessivas e longas: a São Paulo, a Minas Gerais, porém, com prazer aqui estou, para continuarmos nossa cordial conversação. Exemplares do CORPS DE BALLET: Recebi, por via marítima, os 10 exemplares do CORPS DE BALLET, destinados ao aotor. Obrigado. PRIMEIRAS ESTÓRIAS: Fiquei contente com o que me disse. O importante é a inclusão da NACHWORT (ou VORWORT) de Meyer-Clason, que, a meu ver, quanto maior e mais exemplificada, melhor. Mas, quando à Vorwort da edição francêsa do BURITI, não. Aqui, o que houve foi um pequeno e curioso equívoco. Aludi àquela, mas só apenas com exemplo (nur als Beispiel)... Nem ela serviria para se reproduzir na edição das nossas PRIMEIRAS ESTÓRIAS. Fui pouco claro no exprimir-me a respeito, em minha carta. Desculpe-me. Fica sendo apenas uma pequena „estória“, para dela se rir um pouco. E que notícias me dá, do andamento do livro? Sera lançado ainda em 1967? FESTSCHRIFT (Dr.Witsch): Infelizmente, até hoje não recebi nem vi ainda sequer o nosso livro comemorativo, do 60. aniversário de Dr. Witsch. Suponho que deve ter havido algum equívoco ou extravio na remessa. Isto me entristece. Não haverá, acaso, ainda um exemplar disponível? Eu gostaria muito de ver o livro; principalmente, teria muita pena de não o ler. 266
SAGARANA Alegro-me de saber que vão desde já encomendar a Meyer-Clason a tradução do SAGARANA, logo que ele entregar a do PRIMEIRAS ESTÓRIAS.
Editôras na Holanda Muito agradeço a informação acêrca das duas recomendadas editôras holandesas. E – posso pedir-lhe um favor? É que tenho recibido cartas de editôras da Holanda; mas são outras (ainda agora escreve-me a De Boekerij, de Baarn). Assim, estive pensando se não seria possível e aconselhável pedir que a boa Amiga consultasse por mim a ELSEVIER – sôbre se estaria interesada em meus livros? Nem sei se isto se costuma fazer; apenas solicito sua esclaredora opinião e, eventualmente, sua eficaz ajuda. Muito e muito obrigado. Recensões, etc. Não menos lhe agradeço a remessa de recensões, notas críticas, etc., sôbre o CORPS DE BALLET (e ainda sôbre o GANDE SERTÃO; eventualmente) – que me prometeu. *** Enfim, cara Senhora Miquel, desculpe-me abusar tanto de seu tempo, inclusive com esta longa carta. Com cordial lembrança e todos os meus bons votos, Seu J. Guimarães Rosa
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Köln, den 5. April 1967 vM/ESt Herrn Joao Guimaraes-Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ Brasilien =================
Sehr verehrter Herr Guimaraes-Rosa ! In diesem Brief möchte ich Ihnen vor allem schreiben, wie sehr sich Herr Dr. Witsch über Ihre warmen Worte und Ihre Genesungswünsche gefreut hat. Er lässt sie herzlich grüssen und Ihnen für Ihre guten Wünsche danken. Das grosse Problem ist, wie Sie sich sicher vorstellen können, für Ihn, genügend Geduld aufzubringen und sich noch einige Zeit von den Dingen, die ihn so besonders interessieren, fern zu halten. Das ist etwas, was seiner Natur ja so zuwider ist. Er ist nicht mehr im Krankenhaus, sondern bei sich zu Hause in Junkersdorf, und seitdem er in dieser gewohnten Umgebung ist, geht es ihm wieder besser. Er muss nur noch einige Zeit viel liegen. Ich bin ganz unglücklich, dass Sie die Festschrift nicht bekommen haben. Wir haben Ihnen jetzt noch einmal ein Exemplar über die brasilianische Botschaft geschickt.
Mit freundlichen Grüssen Ihre (Alexandra vom Miquel)
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Köln, den 5. April 1967 vM/ESt Herrn Joao Guimarares-Rosa Ministerio das Relacces Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ BRASILIEN =========================
Lieber sehr verehrter Herr Guimaraes-Rosa! Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen für Ihren Brief vom 28. Februar 1967, und vor allem für Ihr Einverständnis zu unseren Änderungsvorschlägen zu den Verträgen CORPS DE BALLET PRIMEIRAS ESTORIAS und SAGARANA. Alles was Sie mir zu den Abrechnungen geschrieben haben, werden wir genau beachten. Unsere Buchhaltung macht sowieso für jeden Titel separate Abrechnungen. Primeiras Estórias. Herr Meyer-Clason hat uns die Übersetzung geschickt, und er wird in nächster Zeit das Nachwort für die deutsche Ausgabe schreiben. Wir möchten den Band im nächsten Jahr, und möglichst im Frühjahr, herausbringen. Wir müssen mit Herrn MeyerClason noch über einige Fragen der Übersetzung diskutieren, und wir würden auch sehr gern etwas mehr Zeit haben, um einzelne Geschichten noch in diesem Jahr Zeitungen bzw. Zeitschriften zum Vorabdruck oder auch Runddruck für eine Lesung anzubieten. Das würde eine gute Vorwerbung für das Erscheinen der Buchausgabe sein. Aber um solche Arrangements zu treffen, muss man zeitlich einen gewissen Spielraum haben, da die Zeitschriften sehr langfristig planen und mehr daran interessiert sind, einen Abdruck vor Erscheinen des Buches zu bringen. Ausserdem möchten wir in diesem Jahr noch den Verkauf von „Corps de Ballet“ im Buchhandel forcieren. Dieses sehr umfangreiche und leider verhältnismässig teure Werk geht nicht so gut und schnell wie „Grande Sertão“. Das hatten wir aber auch nicht erwartet. Es dauert auch etwas länger mit den Besprechungen, die immer einen Einfluss auf den Verkauf haben. Wir werden aber in unserer Werbung für die Herbstproduktion 1967, in der wir diesmal nur wenige Romane bringen, noch einmal ganz besonders “Corps de Ballet” herausstellen und dann gleich 1968 “Primeiras Estorias” als Buch erscheinen lassen. Holländische Ausgabe. Natürlich schreibe ich gern an einige holländische Verlage, um sie auf Ihre Werke aufmerksam zu machen. Ich werde auch gerne eine Auswahl aus den Kritiken zu “Grande Sertao” und “Corps de Ballet” beilegen. Ich werde nicht nur an Elsevier 269
schreiben, sondern auch an einen oder anderen holländischen Verlag, der uns noch geeignet erscheint. Mit freundlichen Grüssen Ihre (Alexandra von Miquel)
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Köln, den 2. Mai 1967 vM/est
Herrn Joao Guimares Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacio Itamaraty Rio de Janeiro/ BRASILIEN =========================
Lieber Herr Guimares Rosa! Heute muß ich Ihnen einen Brief schreiben, den ich kaum schreiben kann, und es ist eine tief traurige, und wie ich weiß, auch für Sie erschütternde Nachricht. Nach dem es Dr. Witsch in letzter Zeit gerade so viel besser ging, dass wir alle hofften und dachten, dass er wirklich auf dem Weg der Genesung ein großes Stück weiter gekommen sei, musste er am Sonntag, dem 23. April plötzlich wieder ins Krankenhaus nach Düsseldorf und dort ist er am Freitag, dem 28. April in den Mittagsstunden, als draussen eine wunderbare Sonne schien – so wie er es sich einmal gewünscht hatte – ganz ruhig und fast wie im Schlaf gestorben. Ich wollte mit diesem persönlichem Brief dies schreiben und hoffe, dass es Sie noch vor der Anzeige des Verlages erreicht. Auch Dr. Neven wird Ihnen später schreiben. Bei allem, was uns jetzt zugefügt worden ist, ist es schön und tröstlich zu wissen, dass Dr. Witsch in den letzten Jahren einen Menschen und einen Autor Joao Guimares Rosa gefunden hat. Es war eine Begegnung, eine Freundschaft, die durch Ihren Text in der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag und auch noch durch Ihren für ihn bestimmten letzten Brief an mich neulich wieder so lebendig wurde.
Ihre
(Alexandra von Miquel)
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Köln, den 26.Juni1967 vM/ est Herrn Joao Guimares Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacia Hamaraty Rio de Janeiro / Brasilien ==========================
Lieber, sehr verehrter Herr Rosa!
Ich schicke Ihnen heute die Kopie eines Schreibens der Bibliotheca Brasileira in WilrijkAntwerpen (Belgien). Ich hatte inzwischen leider einige Absagen von holländischen Verlagen bekommen, denen ich wegen Ihrer Werke bzw. wegen einer evtl. holländischen Übersetzung geschrieben habe. Dann hatte ich mit Bibliotheca Brasileira korrespondiert. Die Absicht der Bibliotheca Brasileira, nun brasilianischen Schriftsteller in holländischer bzw. niederländischer Sprache erscheinen zu lassen, ist ja sehr zu begrüssen. Ich will mich aber noch einmal genauer über dieses ganze Institut Bibliotheca Brasileira erkundigen, schicke Ihnen aber die Kopie des Briefes, damit Sie sich, wenn Sie es wollen, direkt mit Bibliotheca Brasileira in Verbindung setzen.
Mit freundlichen Grüssen VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH
(Alexandra von Miquel)
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Rio de Janeiro, 5 de outubro de 1967
Exma. Snra. Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch Minha muito prezada amiga Frau von Miquel: Desde o mês de maio que não lhe escrevo; deixava que o tempo atenuasse um pouco a tristeza ao lembrar-me do nosso querido Dr. Witsch, com cuja falta não me acostumo. Foi assim que nem lhe agradeci as estimadas comunicações – sobre a distinção do Jury de Darmstadt (carta de 29. V.) e a respeito da editôra belga. Também recebi, comovido, a carta do Dr. Neven Dumont. Estou sempre com o pensamento nos meus amigos da Kiepenheuer & Witsch, e grato pelas palavras e apreciações que tiveram para mim. Hoje, escrevo-lhe, um pouco à pressa, em aditamento à minha carta de 20 de fevereio dêste ano. Nela, pedialhe que não efetuasse nenhuma remessa de pagamento, até ulterior explicação. Agora, porém, minha sogra, Sida Moebius de Carvalho, vai até Hamburog, onde deverá chegar no dia 10 dêste, hospedando-se com uma amiga nossa, Frau Elfriede Stankowiak. Assim, muito lhe agradeceria remeter, desde já, a esta ùltima, tôdas as imprtâncias correspondentes ao “GRANDE SERTÃO”. O enderêço é: Frau Elfriede Stankowiak, HAMBURG 22 Birkenau 12. (A remessa deve ser apenas dos pagamentos que se refiram ao “GRANDE SERTÃO”, repito.) Quanto às quantias correspondentes ao “CORPS DE BALLETT”, etc., rogo ainda reter aí, por enquanto. Mas lhe pedirei ainda que me envie com a brevidade possível a Abrechnung, para que eu possa saber de quanto disponho e como distribuí-lo. Agradecido, por tudo, e sempre seu, Com lembranças e cordiais saudações, João Guimarães Rosa
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Köln, den 3. November 1967 vM/est
Senor Joao Guimaraes Rosa Ministerio das Relacoes Exteriores Palacia Hamaraty Rio de Janeiro/BRASILIEN ========================
Lieber, sehr verehrter Herr Guimaraes Rosa, Ich möchte Ihnen zunächst mit vielem Dank Ihren Brief vom 5. Oktober bestätigen und Ihnen mitteilen, dass die Honorare für GANDE SERTAO an die angegebene Adresse, Frau Elfriede Stankowiak, vor kurzem überwiesen wurden, und die Abrechnung wurde von unserer Buchhaltung zusammengestellt und an Sie abgeschickt. Ich muss mich sehr entschuldigen, dass ich Ihnen erst jetzt dazu schreibe, aber als Ihr Brief kam, war ich im Urlaub und musste gleich anschliessend zur Frankfurter Buchmesse, die für die normale Arbeit im Verlag immer grosse Verzögerungen bringt. Heute schreibe ich Ihnen aber wegen einer dringenden Bitte, deren Erfüllung ausserordentlich eilig ist. Es geht um den deutschen Titel für PRIMEIRAS ESTORIAS, der uns grosses Kopfzerbrechen macht. Wir müssten ihn innerhalb der nächsten acht Tage für den Schutzumschlag und für unsere Vertreterkonferenzen haben. Ich habe deswegen oft mit MeyerClason telefoniert, der mir auch sagte, dass Sie den Titel, den wir am besten fanden, „DAS DRITTE UFER DES FLUSSES“ wie überhaupt den Titel einer Erzählung nicht mögen. Wir würden ungern als Titel nur „Erzählungen“ oder „Kurzgeschichten“ nehmen. Ihre anderen beiden Bücher haben so schöne farbige Titel. Eine prägnante bzw. dem Leser verständliche Übersetzung des Original-Titels gibt es nicht. Ein Titel wie etwa „Geschichten von weit und breit“ ist zu allgemein oder zu volkstümlich. Davon geht keine anziehende Wirkung aus, während „Das dritte Ufer des Flusses“ ein herrlicher Titel ist, den wir alle hier im Verlag am besten fanden. Ein anderer Titel-Vorschlag ist: GESANG UND GEFIEDER – 21 Erzählungen. Es ist der verkürzte Titel eines Essays von Oswaldino Marqueis (Gesang und Gefieder der Worte), der in dem Text von Paolo Ronai im Zusammenhang mit der Interpretation Ihres Werkes angeführt wird. Wir finden, dass dieser Titel, auf die Erzählungen angewandt, etwas von Ihrer poetischen, symbolhaften und sprachlichen Eigenart wiedergibt. Er wirkt wie der Titel eines Gedichts. Wir müssten nur ganz schnell, am liebsten telegrafisch, wissen ob Sie mit diesem Titel einverstanden sind oder sich evtl. doch entschliessen können, uns „Das dritte Ufer des Flus274
ses“ zu erlauben, oder ob Sie selbst noch einen anderen Vorschlag haben, den Sie uns oder auch auf portugiesisch Meyer-Clason mitteilen können. Am liebsten wäre uns eine telegrafische Nachricht über die Botschaft, wenn das möglich ist; denn Meyer-Clason verreist am 11. November bis Anfang Dezember. Bei meinen Titel-Überlegungen mit Meyer-Clason fielen uns auch einige andere Möglichkeiten ein, die aber beim Verlag bzw. bei Dr. Neven Du Mont keinen Beifall fanden, weil sie zu nüchtern oder zu wenig werbewirksam sind. zum Beispiel: Wenn nichts geschieht... 21 Erzählungen (oder Kurzgeschichten), Wenn nichts geschieht, geschieht ein Wunder, das wir nicht sehen, oder „Neue alte Geschichten“. Eine Zeitlang dachten wir an „Der tote Tukan“, der ja als Symbol in der letzten Geschichte eine Rolle spielt, aber dieser Titel ist zu konkret, und der Leser würde glauben, dass er der Titel einer Erzählung sei. Lieber, sehr verehrter Herr Rosa, ich bitte Sie herzlichst, uns schnell zu antworten, damit es keine Verzögerungen in der Herstellung des Buches gibt. Der Band soll zwar erst im Frühjahr nächsten Jahres erscheinen, aber unsere Vertreter müssen in wenigen Wochen das Material für ihre Frühjahrsreise haben. Bei unseren vielen Titel-Überlegungen haben wir Dr. Witsch und seine Einfälle sehr vermisst, er kam immer auf eine Idee. Ich hoffe sehr, dass Sie uns jetzt helfen, oder mit unseren Vorschlägen einverstanden sind.
Mit herzlichen Grüssen Ihre (Alexandra von Miquel)
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Rio de Janeiro, 10 de novembro de 1967 Exma. Snra. Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch
Minha boa e estimada amiga Frau von Miquel: Estou recebendo sua carta de 3 do corrente. No mesmo instante, enviei um telex à Embaixada do Brasil, pedindo lhe comunicassem minha resposta: que é a de que concordo com o título proposto – “DAS DRITTE UFER DES FLUSSES”. De fato, quando Meyer-Clason me escreveu a respeito, eu não tinha gostado. Mas, com o que agora a minha Amiga me escreve, vejo que tem razão. Aliás, eu mesmo já tinha mudado de opinão, e ia escrever-lhe, para dizer que deixava a escôlha do melhor título ao critério seu. Assim, penso que o melhor, mesmo, é colocar-mos o título assim: DAS DRITTE UFER DES FLUSSES Erzaehlungen A tradução do “PRIMEIRAS ESTÓRIAS” para o inglês já está também pronta, e penso que o livro vai sair quase ao mesmo tempo aí na Alemanha e nos Estados Unidos. Knopf está querendo dar-lhe o título: “THE AUDACIOUS NAVIGATOR and Other Stories”. Concordei. Mas pode ser que êles ainda escolham outro título. Muito lhe agradeço a pronta providência acêrca dos honorários do “Grande Sertão”. Mais tarde, dar-lhe-ei novas notícias. Hoje escrevo apenas isto, à pressa, para não atrasar. Muito grato e cordial, com lembranças, o seu João Guimarães Rosa
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Telegramm (24.11.67, 14:25) an:
Dona Arazy Guimaraes Rosa Rua Francisco Otaviano, 33 Rio de Janeiro
Mit grosser Trauer und Bestürzung hat uns die Nachricht vom Tode unseres Autors, Joao Guimaraes Rosa erfüllt und mit uns trauert die ganze literarische Welt in Deutschland um diesen unvergleichlichen Schriftsteller. Wir möchten Ihnen, sehr verehrte gnädige Frau, zu diesem schweren Verlust unsere aufrichtige und herzlichste Anteilnahme übermitteln.
Dr. Reinhold Neven Du Mont auch im Namen von Frau Elisabeth Witsch Alexandra von Miquel und alle Mitarbeiter des Verlages Kiepenheuer & Witsch
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Dona Avazy Guimaraes Rosa Rua Francisco Otaviano, 33 Rio de Janeiro / BRASILIEN
Köln, den 29. Dezember 1967 Dr. NDM/hu
Sehr verehrte gnädige Frau! Die Nachricht vom Tode Ihres Mannes hat mich tief erschüttert. Ich bin ein grosser Verehrer seiner Werke; sie in Deutschland herauszugeben, ist für den Verlag Kiepenheuer & Witsch eine Ehre. Nach “Grande Sertao“ und “Corps de ballet“ bereiten wir für das Frühjahr 1968 den Erzählungsband “Das dritte Ufer des F1usses“ vor. 1965 habe ich Ihren Mann bei seinem Besuch in Köln kennengelernt: Wie jeder andere, der ihm in jenen Tagen begegnete war ich bezaubert von seinem Charme, seiner Klugheit und gleichzeitigen Bescheidenheit. Besonders aber waren alle, die hier im Verlag arbeiten, beeindruckt von seiner Persönlichkeit; wir werden ihm unsere Hochachtung bewahren und ihn als Autor in hohen Ehren halten. In Deutschland gilt Joao Guimaraes Rosa als der bedeutendste Dichter und Schriftsteller Südamerikas im 20. Jahrhundert.
Ihr sehr ergebener
Dr. Neven DuMont
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Köln den 29. März 1968 vM/ est
Dona Avazy Guimaraes Rosa Rua Francisco Otaviano, 33 Rio de Janeiro / BRASILIEN ==========================
Sehr geehrte Dona Guimaraes Rosa! Die deutsche Ausgabe des Erzählungsbandes von J.G. Rosa, ‘Das dritte Ufer des Flusses‘ ist gerade erschienen. Wir lassen Ihnen vier Exemplare von unserer Auslieferung zu schicken und hoffen, dass Sie sie gut und in nicht allzuferner Zeit erreichen. Sie werden sich darüber freuen und doch, wie auch wir, daran denken müssen, wie froh und glücklich Ihr Mann gewesen wäre, wenn er die Ausgabe noch in der Hand hätte halten können.
Mit herzlichen Grüssen Ihre
(Alexandra von Miquel)
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Rio, 30 de abril de 1968 Verlag Kiepenheuer & Witsch Colonia – Republica Federal da Alemanha
Prezados Senhores Como de hábito e gôsto do meu inesquecivel Pai, o Embaixador Joao GUIMARÃES ROSA, escrevo-lhes em português. Faço-o para comunicar que fui, pelo Juiz da Vara de Sucessoes, designada inventariante do espolio de meu Pai, cabendo-me administrar o respectivo patrimônio. Assim, as questões relativas à edição ou tradução dos seus trabalhos passam, portanto, ao meu encargo como gestora dos respectivos direitos autorais. Peço-lhes, pois, que a eventual correspondência sôbre a obra de GUIMARÃES ROSA seja dirigida a “Vilma Guimaraes Rosa, a/c Livraria Jose Qlympio Editôra, Rua Marquês de Olinda 12, Rio de Janeiro-Brasil.“ Meu Pai deixou numerosos trabalhos ineditos, ja entregues à Livraria José Olympio para edição proxima. Aproveito a oportunidade e Ihes faço chegar, junto com esta carta, o livro “Acontecências“. Publicado em novembro último, está prestes a esgotar a primeira edição. Teria grande prazer em vê-lo traduzido para o alemão e solicito a gentileza de uma palavra sua sôbre as possibilidades de tal tradução por essa Casa que tanto significou para meu Pai, em amizade, como editôra sua na Alemanha. Atenciosamente,
Vilma Guimarães Rosa
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Sehr verehrte Frau Alexandra von Miquel! Ich Danke Ihnen von Herzen für Ihre lieben Zeilen. Es wird für mich eine Freude und zugleich ein Leid sein, wenn ich die Bücher „Das dritte Ufer des Flusses“, bekomme. Freude weil mein geliebter Joãozinho in seinem Werk weiterlebt, für mich, all seine Freunde und die Welt. Leid, an die Erinnerung, wie er strahlend wie ein grosser Junge (Er war sein Leben lang ein grosses Kind im Inneren gewesen) nach Hause kam mit den ersten Übersetzungen: „Ara, Ara!“ schrie er schon an der Tür, „Dein Buch in Deutsch“. Für uns beide waren es Festtage, jedes Mal wenn die verschiedenen Bücher kamen. Er hat mir begeistert erzählt, wie lieb und nett Herr Witsch und Sie zu ihn waren, als er in Deutschland war. Und sagte „die nächste Reise nach Europa kommst du mit, die Übersetzungen werden es ermöglichen.“ Als Herr Witsch verschied, war er untröstlich, sagte: „Ara, ich habe eine Bruderseele verloren. Er war ein aussergewöhnlicher Mensch in Allem; vom ersten Moment, als ich ihn kennenlernte, fühlte ich eine tiefe seelische Zuneigung zu ihm. Jetzt werden Sie zusammen sein in der Seite des Lichtes. Liebe Frau von Miquel darf ich Sie um einen grossen Gefallen bitten? Kurz bevor mein Mann für immer von mir ging, zeigt er mir einen Brief mit Abrechnungen von Geldern die für mich nach Hamburg gesandt worden sind. Er nahm den Brief ins Ministerium zum beantworten. Nun durch den Prozess, den leider seine Tochter führt, (während er lebte hat Sie sich nie um ihn gekümmert. Jetzt will Sie Karriere machen mit seinem Namen und geht gegen sein Testament. Im Testament will er das ich die Verantwortung für seine Werke übernehme;) hat sie die ganze Korrespondenz aus dem Ministerium geholt. Sie wird alles zurückgeben müssen, aber wann? Prozesse dauern hierzulande ewig. In meinem Fall noch schwieriger da wir in Mexico verheiratet waren. Aber die Zeitungen schreiben zu meinen Gunsten. 30 Jahre sind nicht 30 Tage. Da möchte ich Sie bitten mir doch eine Copie zu senden, von besagtem Brief, damit ich mich mit Frau Stankowiak verständigen kann, denn es wurde ja ihr gesandt. Ich habe von Herrn Meyer-Clason, (für uns der hervorragenste Übersetzer meines Mannes, ein wahres Genie, meine Mutter sagte zu meinen Joãozinho: „ich bewundere heute schon mehr Meyer-Clason als Dich, denn Dich gut zu übersetzen muss man zweimal Genie sein!“) einen sehr, sehr lieben Brief bekommen. Als ich antwortete, bat ich Ihn auch darum; und auch Generalkonsul Calabria noch mal, aber ich glaube beide verstanden mich nicht. Meinen grossen Dank im Voraus verbunden mit herzlichsten Grüssen Ihre Aracy Guimarães Rosa Rio-30-IV-1968
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Köln, den 14. Mai 1968 vM/est Dona Avazy Guimaraes Rosa Rua Francisco Otaviano, 33, Apt. 501 Est. da Guanahara 7 C. 37 Rio de Janeiro / BRASILIEN ===========================
Liebe sehr verehrte Frau Rosa! Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief vom 30. April, der mich sehr bewegt hat. Ich beeile mich, auch gleich Ihrer Bitte zu entsprechen. In der Anlage schicke ich Ihnen Fotokopien der in dieser Angelegenheit wichtigsten Korrespondenz mit Ihrem Mann. Den Betrag von DM 11.530,13 hatten wir damals auf Wunsch Ihres Mannes an Ihre Schwiegermutter, Frau Moebius de Carvalho, per Adresse Elfriede Stankowiak, Hamburg, geschickt. Herr Rosa hatte mir auch früher einmal geschrieben und auch bei seinem Besuch hier darum gebeten, darauf zu achten, dass für die beiden Bücher GRANDE SERTAO und COPRS DE BALLET immer getrennte Abrechnungen gemacht werden (das macht unsere Buchhaltung aber sowieso immer). Warum, weshalb, wieso geht aus dem Brief vom 5. Oktober 1966 hervor, den ich Ihnen ebenfalls in Fotokopie schicke, obwohl Sie ihn ja sicher haben werden. Wenn Sie noch irgendeine Frage haben, schreiben Sie mir bitte Mit freundlichen Grüssen Ihre
(Alexandra von Miquel)
Anlage Fotokopie des Briefes vom 5.10.1966 „ vom 28.2.1967 „ vom 5.10.1967 „ unseres Briefes vom 31.10.1967
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Köln, den 27. Mai l968 vM/est
Frau Vilma Guimaraes Rosa a/c Livraria José Olympio Editôra Rua Marquês de Olinda 12, Rio de Janeiro / BRASILIEN ==========================
Sehr geehrte Frau Guimaraes Rosa!
Wir danken Ihnen sehr für Ihren Brief vom 30. April. Herr Moll von unserem Verlag hat Ihnen inzwischen schon geschrieben, was die Rechte an den Büchern Ihres Vaters betrifft. Sehr interessiert es mich zu erfahren, dass es noch zahlreiche unveröffentlichte Arbeiten von Joao Guimaraes Rosa gibt, die im Verlag José Olvmpio übernommen worden sind. Wenn Sie dort herauskommen, würden wir sie natürlich gern einmal durch Herrn MeyerClason lesen lassen. Ich danke Ihnen auch sehr für Ihre Freundlichkeit, uns ein Exemplar Ihres eigenen Buches durch die brasilianische Botschaft zu schicken. Da wir leider hier nicht selbst portugiesisch lesen können – jedenfalls keine Bücher – wird das Buch von Meyer-Clason und einem anderen auswärtigen Lektor für uns geprüft werden. Ich muss Sie nur um Geduld bitten, da Meyer-Clason in nächster Zeit für längere Zeit verreist ist. Mit freundlichen Grüssen VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH
(Alexandra von Miquel)
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Köln, den 27. Mai 1968 vM/ e s t Doña Avazy Guimarães Rosa Rua Francisco Otaviano, 33 Apt. 501, Est. da Guanahara 7 C. 37 Rio de Janeiro / BRASILIEN ==========================
Sehr verehrte Frau Guimarães Rosa!
Ich schreibe Ihnen heute noch einmal. Kaum hatte ich meinen Brief an Sie abgeschickt, bekamen wir ein Schreiben von Vilma Guimaraes Rosa, die unserem Verlag mitteilte, dass sie (soweit ich es in dem portugiesischen Brief lesen konnte) durch den ‚Huis da Vara de Sucesses’ als Vermögensverwalterin Ihres Vaters ernannt worden sei und das väterliche Erbe verwalte. Sie bat, alle Fragen bezüglich der Herausgabe und der Übersetzung der Werke ihres Vaters über sie, der Inhaberin der Rechte, laufen zu lassen. Unser zweiter Geschäftsführer, Herr Moll, der diese Dinge bearbeitet, hat ihr geantwortet, dass wir dafür erst einmal ein amtliches Dokument, also eine Art Erbschein, benötigen, aus dem hervorgeht, dass diese Angaben richtig sind. Vielleicht haben Sie selbst solche Unterlagen?
Mit freundlichen Grüssen Ihre
(Alexandra von Miquel)
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Sehr verehrte und liebe Frau von Miquel, Herzlichen dank für Ihren freundschaftlichen Brief, ich habe die Kopien von meinem geliebten Mann, aber trotzdem meinen heissen dank! Mein Rechtsanwalt erreicht die genehmigung einen einblick in das Archiv meines Mannes zu bekommen, den die Tochter aus dem Ministerium holte. Es sind nur die letzten Briefe und Abrechnungen vom Ausland, die er nach der Feierlichkeit der Akademie beantworten wollte. Da ist eine Abrechnung über die D.M. 11.530,13 und auch noch folgendes: Erste Zahlung von 1000 D.M. von 27-5-1969 Zweite „ „ „ „ 12-8-1964 Da möchte ich Sie bitten mir nochmal darüber bescheid zu schreiben, denn ich sprach noch mit meinem Joãozinho darüber, und er wollte dann auch danach fragen. Denn unsere liebe alte Freundin Frau Stankowiak schreib – uns nur von einer Sendung von D.M. 1000,Und wir wollten Ihr erst dann schreiben, wenn wir von Ihnen bescheid hätten. Ich hoffe, Sie verstehen was ich meine und nehmen meine Frage nicht übel. Wenn die Briefe und alles freigegeben wird, sende ich Ihnen eine Fotokopie der Abrechnung. Ich sende diese Zeilen mit beifolgenden Brief an Herrn Dr. Neven DuMont. (Ein wirklich schöner Name!) Ich habe dem Herrn DuMont nicht gleich geschrieben weil ich wollte erst „Das dritte ufer des Flusses“ und „Nachruf-Sammlung“ ein paar Mal durchlesen und bei mir geht es ein bischen langsam mit deutsch. Bin nie in einer Deutschen Schule gewesen, lernte schreiben nur vom lesen. Ich bin Ihnen allem so dankbar! Viele liebe Grüsse von Ihrer Aracy Guimarães Rosa P.S. Aracy – nicht Avazy! Heute sind des 30 Jahre Hochzeitstag – mein Herz weint... Rio – 27-V-68
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LAW OFFICE RAUL FLORIANO General Practice Civil, Commercial, Bank, Corporation. Insurance, Finance, Business and Aeronautics Laws, Willand Real Estates. Planning and Industrial Investments.
Rua do Carmo. 6, 3º – s/ 309/12 P.O. BOX, 2.155 RIO DE JANEIRO – Brasil 277/63 Rio Janeiro, June, 5th, 1965.
Mrs. ALEXANDRA VON MIGUEL C/o Verlag Kiepenheuer & Witsch 5. Kuln-Marienburg Rondorfer Str. 5-Alemanha
Dear Mrs. Von Miguel, this is the answer of the letter you have sent to Mrs. Aracy Guimaraes Rosa, dated of last May 27th. Really, Vilma Guimarães Rosa, the daughter of her husband is writing to the editors of her father, begging the accounts of the books published. As the executor of the last will of the great writer, I must explain you that Vilma depends, to be confirmed, in the administration of the succession, of a decision of the High Court of Guanabara, that must overrun her. I will write you again in a few weeks about Mrs. Guimarães Rosa is very obliged on account of your correct attitude. Thanks. Yours very truly Raul Floriano
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Köln, den 26. Juni 1960 vM/est Dona Arazy Guimaraes Rosa Rua Francisco Otavio, 33 Apt. 501, Est. da Guanahara 7 C.37 Rio de Janeiro / Brasilien ========================== Liebe, sehr verehrte Frau Rosa! Ich bitte tausend mal um Entschuldigung, dass ich erst jetzt auf Ihren Brief vom 27. Mai antworte, aber ich stecke hier in schrecklich viel Arbeit für unsere Vertreterbesprechung für die Herbstproduktion und ausserdem hatten wir in unserer Buchhaltung eine Steuerprüfungen, so dass ich erst jetzt an die Unterlagen herankonnte. Es ist mir aus Ihrem Brief zwar nicht ganz klar, welche Zahlung Sie vermissen bzw. Reklamieren, aber ich kann Ihnen dazu folgendes schreiben: Bei den beiden ersten Zahlungen zu je DM 1.000,-- handelt es sich um den Vorschuss für „Grande Sertao“, also eine A-conto-Zahlung, und diese DM 2.000,-- sind dann später wieder bei der Abrechnung für „Grande Sertao“ von dem Honorar abgezogen worden. Die erste Zahlung von DM 1.000,-- vom 27. Mai 1963 erfolgte auf Wunsch Ihres Mannes nach Hamburg. Die zweite Vorschussrate von DM 1.000,-- vom 12. August (unser Datum 7.8.) wurde auf Wunsch Ihres Mannes auf das Konto Nr. 051 08811 bei der First National City Bank, 604, Fifth Avenue, New York überwiesen. Die Fotokopie unserer Zahlungsanweisung schicke ich Ihnen anbei. Die dritte Zahlung, die die Abrechnung für „GRANDE SERTAO“ betrifft und aus dem Jahr 1967 stammt, haben wir in Höhe von DM 11. 530,13 per Scheck an Frau Moebius de Carvalho, bei Frau Stankowiak, Hamburg, geschickt. Fotokopie der entsprechenden Unterlagen liegt ebenfalls bei. Ich sehe allerdings, dass der Name von Frau Stankowiak falsch geschrieben wurde, aber die Adresse stimmt ja. Ich hoffe dass Sie diese Informationen aufklären. Inzwischen haben wir auch ein Schreiben von Herrn Raul Floriano bekommen, der wieder von sich hören lassen wird. Wenn die Nachlassangelegenheit Ihre Mannes endgültig geklärt ist, bitte ich Sie oder Herrn Floriano sehr, dann direkt an unseren zweiten Geschäftsführer, Herrn Moll, zu schreiben bzw. ihm etwaige Dokumente zu schicken. Mit freundlichen Grüssen Ihre (Alexandra von Miquel) c/ Herr Moll 287
S. Paulo – 27-6-70 Sehr verehrter Herr Meyer Classon, Ich habe mich sehr ueber Ihren lieben Brief vom 30. Mai gefreut und auch darueber, dass „Estas Estórias“ gut bei Ihnen eingetroffen ist. Ich dachte schon, dass das Buch verloren gegangen sei. Es wuerde mich natuerlich sehr interessieren Ihren Vortrag ueber „Literatur in Brasilien“ lesen zu koennen. Vielleicht darf ich hoffen, dass Sie mir davon eine Kopie zusenden. Dann gebe Franklin de Oliveira für die Zeitung. Was den Verlag von „Estas Estórias“ durch Kiepenheuer und Witsch betrifft, muesste man sich an den Testamentvollstrecker Herrn Dr. Raul Floriano – Rua do Carmo no 6 – Salas 309-3 Rio de Janeiro, G. B. Brasil, wenden, der zur Zeit dazu bevollmaechtigt ist. Ich werde am 29. ds. Mts. per Dampfer (Fracht Dampfer) nach Hamburg fahren und mich von dort aus mit dem Verlag Kiepenheuer und Witsch in Verbindung setzen, denn ich moechte sehr gerne die persoenliche Bekannschaft von Herrn Dr. Neven Dumont und Frau Alexandra von Miquel machen, um mich mit ihnen ueber die Autorenrechte von „Grande Sertão- Veredas“ zu unterhalten, denn dieses Buch ist mir allein gewidmet. Glauben Sie, das Kiepenheuer und Witsch das „copyright“ (Copy-Right?) für ganz Europa uebernehmen wuerde? In diesem Falle wuerde ich mit dem Verlag direkt verhandeln. Ich habe daran gedacht, weil doch mein Mann ein so grosses freundschaftliches Vertrauen zu Herrn Witsch hatte. Werde meine Mutter in Hamburg treffen und dort meinen Reiseplan festsetzen. Auf alle Faelle kann ich in Hamburg an folgender Adresse schriftlich erreicht werden: Aracy Guimarães Rosa – Bei Frau Stankowiak, Birkenau 12 – Hamburg 22. Ich wuensche von herzen, dass es Ihnen und Ihrer werten Familie sehr gut geht und dass Sie in Lisboa zufrieden und gluecklich sind. Mit Freundlichen Grüssen verbleie ich Ihre Aracy Guimarães Rosa
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Sehr geehrte Frau Alexandra von Miquel Mit groesster Freude habe ich das umfangreiche Paket mit dem Zeitungsauschznitten ueber meinen geliebten Mann erhalten und bin Ihnen und dem Verlag dafuer herzlichst dankbar. Ich habe nicht gleich zur Feder gegriffen, da ich immer eine Hilfe brauche, um deutsch zu schreiben. Ich werde am 28. ds. Mts. per Dampfer nach Hamburg fahren und von dort aus, wenn moeglich, einen Sprung nach Koeln machen, um dem Verlag, welchen mein Mann so liebte, einen Besuch abzustatten. Ich waere daher sehr froh, wenn Sie mir den geeignetesten Zeitpunkt angeben koennten, damit ich auch Sie antreffen kann. Nochmals mit bestem Dank und herzlichsten Grüssen verbleibe ich Ihre Aracy Guimarães Rosa
P.S. Meine Adresse in Hamburg: Aracy Guimarães Rosa bei Frau Stankowiak Birkenau 12 Hamburg 22 S. Paulo – 27-6-70
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Köln, den 3. Juli 1970 est.-
Frau Aracy Guimaraes Rosa b. Frau E. Stankowia 2 Hamburg 22 Birkenau 12
Sehr geehrte Madame Guimaraes Rosa, Haben Sie vielen Dank für Ihren Brief von 27. Juni an Frau von Miquel, die aber noch bis zum 10. Juli in Urlaub sein wird. Bitte rufen Sie doch von Ihrer Hamburger Adresse aus hier im Verlag an (0221/387038), um mit Frau von Miquel dann Ihren Besuchstermin hier in Köln abzustimmen.
Mit bester Empfehlung VERLAG KIEPENHEUER & Witsch (Elga Stuhlmann) Sekretärin
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Hamburg-31-VII-70
Sehr verehrte Frau von Miquel. Vielen Dank für den Brief vom 3 Julie. Ich wünsche das Sie einen sehr schönen Urlaub verlebt haben: Hamburg hat mich sehr kalt und regnerisch empfangen, erst seit gestern ist hier schönes Wetter – Gott sei Dank. Nun fahre ich nach Tirol Freunde von U.S.A. zu treffen, da sie schon bald heim fahren. Dann werde ich nach Italien und Frankreich Freunde besuchen. Von dort aus wohlmöglich über Köln zurück. Ich möchte Ihnen liebe Frau von Miquel bitten mir zu schreiben wo ich am besten wohnen werden, den ich möchte nicht weit von Marienburg sein. Ich fahre ja wirklich nur um den Verlag zu besuchen und einen Sprung nach Bonn zu machen, den Botschafter und Frau zu besuchen, alte Freunde von uns. Nun wird Vilma G. Rosa schon in Verlag gewesen sein und über die Bücher die uns dreien gehören besprochen haben. Über den „Grande Sertão“ besprechen wir dann, Herr M. Classon wird ja schon geschrieben haben, was ich ihn schrieb. Es braucht absolut nicht ein Luxus Hotel sein, den unser brasilianisches Geld erlaubt es uns nicht. Die Briefe sendet meine Freundin Frau Stankowiak mir nach. Da ich jetzt noch nicht weis wie lange überall bleibe. Meine Empfehlung für Herrn Dr. Neven Dumont. Ich Danke Ihnen von Herzen. Ihre Aracy Moebius de Carvalho (Vva. João Guimarães Rosa) P.S. Ich sende in Paket in meinen Namen nach den Verlag, – bitte es für mich anzunehmen, darüber werde ich dann persöhnlich sprechen – ich will es nur nicht auf alle Reisen mitschleppen. Danke nochmals.
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Köln, den 4. August 1970 vM/est Frau Arazy Guimaraes Rosa b.Frau E. Stankowiak 2 Hamburg 22 Birkenau 12
Liebe, sehr verehrte Frau Guimaraes Rosa, ich hatte nach meiner Rückkehr aus meinem Urlaub immer auf Ihren Anruf gewartet. Hoffentlich hat sich Ihre Reise nicht verschoben. Ich würde mich sehr freuen, Sie hier in Köln zu sehen. Ich nehme an, dass Sie doch länger in Deutschland bleiben. Inzwischen hat mir auch Herr Meyer-Clason Ihren Brief vom 27. Juni geschickt. Ich bekam ihn gerade. Es wäre doch gut, wenn Sie einmal mit mir und Dr. Neven Du Mont zusammen über eventuelle weitere Möglichkeiten für GRANDE SERTAO auch in anderen europäischern Ländern, in denen das Buch noch nicht erschienen ist, etwas zu tun, sprechen würden. Dann wäre es auch sehr gut, wenn wir von Ihnen einmal direkt erfahren könnten, mit wem der Verlag jetzt wegen Abrechnungen und allen Dingen, die mit den Büchern Ihres Mannes zusammen hängen, korrespondieren sollen. Darüber hat es auch schon einmal eine Korrespondenz zwischen Ihnen und unserem damaligen Prokuristen, Herrn Moll, der inzwischen nicht mehr bei uns im Verlag ist, gegeben. Soweit ich mich erinnere, ging es darum, dass wir eine Erbbescheinigung brauchten, damit wir abrechnen und Honorare abführen können. Das hängt mit den deutschen Gesetzen zusammen. Es muss aber eine ganz bestimmte Bescheinigung sein, und die haben wir bisher noch nicht bekommen. Ich hoffe also sehr, dass es Ihnen möglich sein wird, nach Köln zu kommen, und ich würde mich vor allen Dingen sehr freuen, Sie, liebe verehrte Frau Rosa, von der mir Ihr Mann so oft gesprochen hat, kennenzulernen. Mit freundlichen Grüssen Ihre
(Alexandra von Miquel)
zur Zeit abwesend:
(i.A. Elga Stuhlmann) 292
Köln, den 11. August 1970 vM/ est Frau Arazy Moebius de Carvalho Rosa Via Vizenco Monti 86 Milano / ITALIA =============== b. Frau Camilla Fontana
Liebe Frau Moebius de Carvalho Rosa,
ich schicke Ihnen als Anlage eine Fotokopie eines Briefes an Sie vom 3. Juli 1970, der Sie wohl nicht mehr erreicht hat. Ich rief Sie noch in Hamburg an, aber Sie waren schon weg. Ich bekam jetzt Ihre Adresse von ihrer Freundin. Ich habe mich sehr über Ihren letzten Brief gefreut. Machen Sie sich wegen des Hotels keine Sorgen. Ich werde Ihnen hier schon ein nicht zu teures Hotel besorgen. Nur in der Nähe von Marienburg wird das schwierig sein, aber wir werden Sie dann schon in den Verlag holen. Bitte teilen Sie mir nur rechtzeitig mit, wann Sie kommen wollen und wie lange, damit ich das Hotel besorge, da das manchmal in Köln um diese Zeit schwierig ist. Über alles andere sprechen wir dann mündlich. Mit herzlichen Grüssen Ihre
(Alexandra von Miquel)
Anlage
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Sanremo – 24-8-70
Liebe Frau Alexandra von Miquel, Hier in Sanremo wo bei langjährigen Freunden bin, habe erst heute die Briefe von 7. August mit Copie des Briefes von 3. Julie und den von 11. August bekommen. Meine Freundin von Hamburg ist verreist und mit den nachsenden der Post scheint es nicht so glatt zu gehen. Von hier werde nach Mailand fahren an Einladung von Feltrinelli die auch wollen über verschiedenes mit mir sprechen. Dann werde nach Paris fahren, wo wiederum der „Adido Cultural“ auf mich wartet. Von dort aus werde Ihnen liebe Frau von Miquel schreiben und bestimmt sagen wenn nach Köln komme. Vielen, vielen Dank! Mit herzlichen Grüssen Ihre Aracy de Carvalho (Vva. João Guimarães Rosa)
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Telegramm an Dona Arazy M. de Carvalho c/o Dr. Josué Montello Adido Cultural Ambassade du Brésil 45 Av. Montaigne Paris VIIIe
Hoffen sehr auf Ihren Besuch und noch vor 21. September, da wir dann alle auf Buchmesse sind und ich kurz danach in Urlaub fahre. Bitte schreiben Sie mir, sobald Ihre Reise feststeht. Herzliche Grüsse Kiepenbücher A. von Miquel
28. August 1970 VM/est
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Telegramm 9.9.70, 11:55, Paris Von Miquel Kiepenbucher=Cologne=
Je Pars Jeudi 10 Sept. Lufthansa Vol 267 = Aracy Rosa =
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Sehr verehrter Herr Dr. Neven Dumont, Ich danke Ihnen von Herzen für all die Freundlichkeit und menschliche Wärme die ich in ihren Verlag bekommen habe. Ich hoffe in Rio alles so zu regeln, das gute Verständlichkeit und Erfolg für alle zu stande kommt. Mit freundlichen Gruessen Verbleibe ich Ihre Aracy de Carvalho (Vva. João Guimarães Rosa) Hamburg – 27.9.70
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Liebe verehrte Frau von Miquel, Ich habe das Buch „Dialog mit Latein America“ bekommen, vielen herzlichen Dank, ich habe mich sehr darüber gefreut. Ich danke Ihnen auch für die netten Stunden, die Sie mir freundlich mit Liebe widmeten. Ich werde alles in Rio in die Wege leiten und den Brief den wir besprachen, wird bestimmt helfen, dass wir weiter kommen mit den Werk meines geliebten Mannes. Und ich erwidere meine herzliche Einladung das Sie in Rio mein Gast sein werden! Alles Liebe und Gute für Sie und immer grösseren Erfolg für den Verlag K&W, wünscht mit einem grossen „abraço“ Ihre
Aracy de Carvalho (Vva. João Guimarães Rosa)
Hamburg – 27.9.70
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Exma. Snra. Alexandra von Miquel Verlag Kiepenheuer & Witsch Rondorfer Str. 5 5 Köln Marienburg Alemanha
Frohe Weihnachten und ein Glückliches Neues Jahr wünscht Ihnen und den Verlag Aracy M. de Carvalho Vva. João Guimarães Rosa P.S. Bald werde hofe ich was positives schreiben können. Amem706
706 Mit diesem großen Wort endet der Briefwechsel zwischen João Guimarães Rosa, seinen Erben und dem
Kiepenheuer & Witsch Verlag. Aracy de Carvalho-Guimarães Rosa wurde im April 1985 in Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt, weil sie als Assistentin des Brasilianischen Botschafters in Berlin während des Zweiten Weltkriegs mindestens 80 Juden das Leben gerettet hatte, indem sie diesen, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein, Visa ausstellte. Sie lebt heute, 95-jährig, in Rio de Janeiro. Vera Tess, ihre Enkelin, überlegt zurzeit, den privaten Briefwechsel ihrer Großeltern zu veröffentlichen.
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Bibliographie
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7. Erbauliche Reden 1843/44 8. Philosophische Brocken 9. Der Begriff Angst/ Vorworte 10. Vier erbauliche Reden 1844/ Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845 11. Stadien auf des Lebens Weg, Band I 12. Stadien auf des Lebens Weg, Band II 13. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Erster Teil 14. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Zweiter Teil 15. Eine literarische Anzeige 16. Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 17. Der Liebe Tun, Band 1 18. Der Liebe Tun, Band 2 19. Christliche Reden 1848 20. Kleine Schriften 1848/49 21. Die Krankheit zum Tode 22. Einübung im Christentum 23. Erbauliche Reden 1850/51/Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen/Urteilt selbst 24. Erstlingsschriften 25. Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates 26. Kleine Aufsätze 1842/1851/Der Corsarenstreit 27. Die Schriften über sich selbst 28. Der Augenblick 29. Briefe 30. Das Buch über Adler Der Begriff Angst. In neuer Übertragung und mit Kommentar von Liselotte Richter (Frankfurt am Main: Syndikat Taschenbücher, EVA, 1984), Band 21. Die Wiederholung/Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin. Mit Erinnerungen an Kierkegaard von Hans Bröchner. In neuer Übertragung und mit Kommentar von Liselotte Richter (Frankfurt am Main: Syndikat Taschenbücher, EVA, 1984), Band 22. Furcht und Zittern. Mit Erinnerungen an Kierkegaard von Hans Bröchner. In neuer Übertragung und mit Kommentar von Liselotte Richter (Frankfurt am Main: Syndikat Taschenbücher, EVA, 1984), Band 23. Die Krankheit zum Tode. In neuer Übertragung und mit Kommentar von Liselotte Richter (Frankfurt am Main: Syndikat Taschenbücher, EVA, 1984), Band 24. Philosophische Brocken. In neuer Übertragung und mit Kommentar von Liselotte Richter (Frankfurt am Main: Syndikat Taschenbücher, EVA, 1984), Band 25. Registerband. Erstellt von Ingrid Jacobsen und Harmut Waechter unter Mitwirkung von Hayo Gerdes (Düsseldorf/Köln: Diederichs, 1969) Tagebücher, 5 Bände, ausgewählt, neugeordnet und übersetzt von Hayo Gerdes (Düsseldorf/Köln: Diederichs, ab 1962) 306
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