Ein Grünschnabel fällt in den Delaware
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 1955
„Das war kein kleines Abenteuer, kannst du mir...
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Ein Grünschnabel fällt in den Delaware
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 1955
„Das war kein kleines Abenteuer, kannst du mir glauben — wie ich es so schnell nicht wieder erleben werde zwischen Mond und Mittelpunkt der Erde. Nicht gerade auf halbem Weg war’s, sondern man so auf der Oberfläche unserer guten alten Kugel. Genauer gesagt: in Philadelphia (Penn.) und Milford (Del.) — USA.* Keine besonders schöne Gegend. Flaches Land, Bohnen, Tomaten, Mais und Hühnerfarmen. Im Sommer naß und warm, daß einem die Kleider am Leibe kleben und die Haare geröstet werden, wenn man keinen Hut auf dem Kopf hat; im Winter naß, kalt und als Beigaben etwas Malaria sowie ab und zu einen Wind, der einem das Holzhäuschen über dem Kopf wegfegt. .Hurricane’** nennen die Einheimischen solch ein Lüftchen, und sie ducken sich unter dem schwarzen Himmel und binden die wackligen Fordautos an den Telegraphenmasten fest, mit denen sie dann gemeinsam zum Strand geweht werden. Den Rest schluckt der Atlantische Ozean. Aber fangen wir von vorn an. Vorläufig befand ich mich noch auf der anderen Seite des großen Teiches, nämlich in Europa, das damals nicht sehr freundlich aussah. Wenigstens genügte es meinem Schönheitsbedürfnis nicht. Zu viele Ruinen, in denen die Ratten pfiffen und der Wind. Und mir pfiff der Kohldampf in den Därmen. Das ist für einen Neunzehnjährigen ein verdammt unangenehmes Gefühl. Nein, wirklich, das war nicht mein Fall. Berlin soll früher ein ganz nettes Dorf gewesen sein — so aber gefiel es mir gar nicht. Arbeit? Was denkst du wohl! Natürlich hatte ich Arbeit. Bessere sogar als in den Jahren vorher, als wir mit einer klapprigen Flakkanone an den amerikanischen ,Mustangs’*** vorbeischossen. Konnte ja keiner verlangen, daß wir besser schossen. Nein, Freund, solche Arbeit war das nicht; Stiefelputzen war es auch nicht.
* Penn. = Pennsylvania, Del. = Delaware; beide Staaten liegen an der nordamerikanischen Ostküste in der Nähe New Yorks.
Die
Abkürzungen
mündlichen Sprachgebrauch üblich. •* Hurricane (engl.)
sind
auch im
= Wirbelsturm. •••
Amerikanische Jagdflugzeuge, die im zweiten Weltkrieg Verwendung fanden.
Das hatte ich schon im Kriegsgefangenenlager gemacht, weil, wie ich glaube, die englischen Korporale nicht wußten, ob man die Bürste am Holz oder an den Borsten anfaßt. Alles konnten sie ja auch nicht wissen. Nein, ich lernte das Schlosserhandwerk, und nebenher handelte ich gelegentlich mit Zigaretten, gelegentlich mit Kaffee. Aber sonst war ich werdender Schlosser. Habe da mal in unserer Bude meinem Meister ein Stückchen dreißig Zentimeter starkes Blech aufs Bein fallen lassen, nachdem er mir einen Tritt versetzt hatte. Weniger deswegen, sondern weil er mich obendrein noch dreckiges Schwein nannte. Das sagt man nicht einem jungen Kerl, der etwas lernen will und mal auf Generäle schimpft, die Kinder an Flakkanonen gestellt haben. Erst kam der Meister ins Krankenhaus und dann ins Gefängnis. Soll ein Oberst gewesen sein, der in Polen billig Schmalz für sich und Arbeiterinnen für Siemens eingekauft hat. Der hatte also sein Fett weg. Ich aber bekam ein paar Tage später einen Brief. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, wie gut es meinem Patenonkel in Amerika ging. Er hatte uns ja auch niemals ein Paket geschickt. ,Da hast du das große Glück’, sagte meine Mutter, und gab mir den Brief. Ich las, daß ich nach Milford in den USA kommen und den Onkel besuchen sollte. ,Vielleicht soll ich die Pakete selbst abholen’, meinte ich. ,Im Krieg hat die Post zwischen Amerika und Berlin auch nicht gut funktioniert.’
Am nächsten Tage sprach das ganze Haus davon, daß ich nach Amerika fahren würde, am übernächsten die ganze Straße, und meine Mutter lief mit mir von einem Büro zum anderen, füllte Fragebogen aus, die ich unterschreiben mußte, ließ mich bei PhotoFix photographieren, und ich hatte kaum noch Zeit, zur Fabrik zu gehen, wo ich nächste Woche auslernen sollte und wollte. Zigaretten und Kaffee habe ich in den drei Wochen überhaupt nicht zu sehen bekommen, und der Schaden war schon kaum noch auszurechnen. Ich schrieb mir aber trotzdem einen recht gut geschätzten Betrag auf und nahm mir vor, mit meinem Patenonkel Max Freuden in Amerika über eine Entschädigung zu sprechen. Irgendwie mußte er das bei den Lebensmittelpaketen, die ich abholen sollte, verrechnen.“ Thomas, ein schlankes, schwarzhaariges Kerlchen, machte eine Pause und nahm einen langen, schlürfenden Schluck. Wir saßen zufällig an demselben Tisch in einer kleinen Schenke am Rostocker Hafen und hatten jeder eine dicke Bohnensuppe gegessen. Er hatte fürchterlich mit dem Kellner geschimpft: „Bohnen! Bohnen! — Ich kann das Zeug bald nicht mehr sehen!“ Dadurch waren wir ins Gespräch gekommen; denn in Wirklichkeit waren die Bohnen gut und schmackhaft gekocht. Aber wenn man das mit Bohnen erlebt hat, was Thomas widerfahren ist, dann mag man vielleicht wirklich keine mehr sehen, geschweige denn essen. Thomas zündete sich eine Zigarette an und sah einen Augenblick aus
dem
halbgeöffneten
Fenster,
durch
das
schnarrende,
quietschende, polternde Geräusche in die kleine, verräucherte Wirtsstube drangen — die Musik des Hafens, zu der große greifende Kräne wie riesige Taktstöcke das Tempo angaben. Dann sprach Thomas weiter, etwas hastig und unter vielen weitausholenden Handbewegungen und offensichtlich noch unter dem
Eindruck des Bohnengerichts, das ihm gar nicht gefallen hatte. „Der Magen war mir dreimal umgedreht, bis ich in Newport von dem Dreitausend-Tonnen-Eimer stieg. Vor den Bermudas hatte uns ein Windchen durchgeschüttelt, daß selbst der Kapitän grün im Gesicht geworden war. Am Hafen stand ein kleiner Mann, der ein Schild an einem Regenschirm hochhielt und damit unentwegt wedelte. Als er die Papierfahne endlich ruhig hielt, las ich: ,Thomas aus Berlin’. Thomas, das war ich, und der Zettel war das Zeichen für mich. Der Mann mußte also Max Freuden, mein Patenonkel, sein. Wir gaben uns die Hand, ich bestellte dem winzigen Männchen mit den wäßrigen Augen und dem spärlichen Haar schöne Grüße von der Mutter. Er tat so, als wische er sich eine Träne aus den Augen, weil mein Vater in Frankreich gefallen war; dabei wußte ich, daß sich die beiden nie recht leiden konnten. Dann schlängelten wir uns durch die Menschenmenge, durch eine ganze Stadt von Holzbaracken und aufgetürmten Holzkisten und landeten auf einem Bahnsteig, der auch nur aus Holz war. .Möchtest du etwas essen?’ fragte mich Onkel Max. Ich sah ihn wütend an, weil ich wieder an die Schaukelpartie bei den Bermudas denken mußte. Dann stiegen wir in den Zug. ,Paß schön auf und schau aus dem Fenster’, sagte der Onkel, ,alles, was du da siehst, ist das große Amerika.’ Ich sah aus dem Fenster des rasenden Zuges und stellte fest, daß die Bäume in Amerika auch nicht höher sind als in Berlin. ,Aber die Häuser’, sprach der Onkel ganz verzückt, ,die Häuser!’ Ich sah ihn kopfschüttelnd an und meinte schließlich: .Meinen Onkel aus Amerika habe ich mir immer anders vorgestellt.’ ,Wie denn?’
,Besser angezogen und mit dicken goldenen Ringen an den Fingern. Du siehst aus wie bei uns viele arme Leute. Bist du nicht reich?’’ Da schwieg Onkel Max, und ich sah wieder aus dem Fenster. Nach ein paar Stunden kamen wir durch eine große Stadt mit langgestreckten roten Fabrikgebäuden, die dicht an der Bahn standen. Ich las die bunten Metallbuchstaben auf den Dächern: .Chesterfield’ und ,Morris’ und ,Pall Mall’. ,Das kenne ich!’ schrie ich auf. Es waren Zigarettenmarken, und mit solchen Zigaretten hatte ich meinen guten, braunen Anzug bezahlt. Am nächsten Morgen kamen wir, nachdem wir zweimal umgestiegen waren, in Milford an. Ein Lausenest, möchte ich heute sagen. Zwei Straßen mit Geschäften, ein Kino, eine Drogerie mit Sodafontäne und Schnapsausschank und sonst ein Haufen weißgestrichener
Holzhäuser mit grünen Fensterläden. Im
Vorbeigehen zeigte mir Onkel Max eine Fabrik, die aus ziemlich brüchigen Holzschuppen zusammengesetzt war: ,Dort arbeiten wir. Gute Arbeit und gut bezahlt.’ ,Wieso wir...?’ Onkel Max lächelte. ,Deine Mutter wünschte es so, sie wollte dir den Abschied nicht so schwer machen. Du wirst hierbleiben. In Deutschland ist für dich doch nichts zu holen. Hier aber liegt die Zukunft.’ ,Na, und die Lebensmittelpakete?’ ,Was für Pakete? Lebensmittel...?’ Der Onkel verstand mich gar nicht. Da schwieg ich lieber. Also Amerika! Das war ein schöner Schlag für mich. Natürlich hatte mir Berlin nicht gefallen. Aber deswegen gleich bis nach Amerika? München wäre doch auch ganz schön gewesen oder Erfurt oder allenfalls Paris, wo die Männer den ganzen Tag Rotwein
trinken und die kleinen Mädchen mit rotlackierten Fingernägeln auf die Welt kommen, .Dann bin ich also ein richtiger Amerikaner?’ fragte ich. ,Na, richtiger noch nicht. Aber so in fünf Jahren, wenn du dich gut führst, kannst du einer werden.’ Das ist eine lange Zeit, dachte ich mir, bis dahin kannst du’s dir noch überlegen. Und gefällt es dir nicht, dann setzt du dich eben wieder
auf
den
Dreitausend-Tonnen-Eimer
mit
seinem
grüngesichtigen Kapitän und fährst zurück zum Wedding. Vielleicht macht der Kahn ausnahmsweise einen großen Bogen um die Bermudas. Als ich die Wohnung von Onkel Max sah, bekam ich einen schönen Schreck. Hatte ich schon eine andere Vorstellung davon mitgebracht, wie reiche Onkel aus Amerika aussehen, so hatte ich mir ihre Wohnungen noch viel schöner ausgemalt. Das aber, was ich hier sah, war eine Hütte, eine bessere Laube mit Veranda ohne Glas: vier Bretterwände, wie wir sie mal in der Kleingartenkolonie besaßen, bevor sie den Luftschutzbunker bauten und wir unseren Garten räumen mußten. Die Hütte bestand nur aus einem Zimmer, und offenbar hatten in Onkels Abwesenheit Einbrecher darin gehaust. .Kannst gleich ein bißchen aufräumen’, sagte Onkel Max. ,Das steht noch alles so von vorgestern.’ Er hätte lieber sagen sollen, daß hier im vorigen Jahrhundert, zu Zeiten Abe Lincolns, des volkstümlichen Präsidenten, das letztenmal aufgeräumt worden war. ,Hast du denn keine Frau?’ fragte ich. Der Onkel schlurfte zur Tür hinaus auf die kleine Veranda, warf sich in den Schaukelstuhl und stopfte sich eine Pfeife. ,Gehabt, mein Junge, gehabt. Sie ging, weil ich ihr nicht schön genug war.’ Nach zwei Stunden hatte ich den Bunker einigermaßen klar. Wir
aßen etwas Weißbrot und Würstchen, die der Onkel in einer Konservenbüchse gewärmt hatte. Er schonte damit wohl den Kochtopf, den ich vergeblich gesucht hatte. Dann gingen wir zur Fabrik. Unterwegs fragte mich Onkel Max, ob ich englisch sprechen könne. ,Ein wenig. Was man so in der Gefangenschaft gelernt hat.’ Macht nichts. Direktor wirst du ja in den ersten Wochen doch noch nicht, und das andere wirst du schon bald verstehen.’ An der Fabrik stand auf einem zerbrochenen Torschild: ,Libby & Co. Ltd.’* Aha, dachte ich: Kondensmilch; Das war aber ganz falsch. Nur Deutsche denken, daß Libby nur mit Milch etwas zu tun hat. Nach ein paar Monaten war ich mitten drin im amerikanischen Leben. Um sechs Uhr stand ich auf, holte aus der benachbarten Tankstelle, zu der auch ein kleines Lebensmittelgeschäft gehörte, Brot und Milch, für den Onkel Tabak und für mich Zigaretten. An guten Tagen durfte ich auch noch Erdnußbutter oder gar fünf Unzen** Schinken mitbringen. Nach dem Frühstück machte ich die Laube klar, und dann ging ich in die Fabrik. Onkel schlief weiter. Der arbeitete meist die Nachtschicht, da verdiente er wohl etwas mehr. Mein Job war nicht von schlechten Eltern. Mit Jimmy und Balthasar, zwei Negern, packte ich Bohnenkonserven in große Pappkisten. Immer 24 Büchsen in einen Karton. Und hätte Jimmy nicht dabei Anekdoten und eigene Erlebnisse erzählt, ich denke, ich wäre stumpfsinnig geworden wie ein amerikanischer Staatesekretär. Jimmy war verheiratet und hatte fünf Kinder. Aber er lebte mit seiner Familie nur drei Monate im Jahr, nämlich im Winter, wenn er zu Hause, unten in den Südstaaten, auf dem Mississippi und dem Missouri nach Wasserschweinen jagte. Aus den Wasserschweinen
wurde Seife gemacht. Aber noch ehe ein Kohlentrimmer in Memphis, Tenn.*** die Seife in die Hand bekam, ging Jimmy von seiner Mammy und den fünf Kindern fort nach Norden, immer mit der steigenden Wärme und der fortschreitenden Ernte mit. Er pflückte Baumwolle und hieb mit einem langen, starken Messer den Mais; er pflückte Gurken, Tomaten, Erdnüsse und Pfirsiche und fütterte auf Hühnerfarmen einige tausend Perlhühner. Im Herbst landete er dann in einer Konservenfabrik, etwa in einer der zwanzig von Libby & Co. Ltd., und verdiente sich ein wenig Fahrgeld, damit er nicht den ganzen Weg zu seiner Mammy als blinder Passagier fahren mußte. Kein schönes Leben, aber normal. Es gibt etwa 100 000 solcher Jimmys in den Staaten. Schwarze und weiße, aber hauptsächlich schwarze. Wenn ich jetzt von einem Korb erzähle, brauchst du nicht an ein Primelkörbchen zu denken oder an einen Kartoffelkorb. Selbst eine happige Rübenkiepe ist eine halbe Eierschale gegen das, was man bei Libby & Co. in Milford einen Korb nennt. Die Milford-Körbe sind aus Eisenblech und haben so ihre zwei Meter
Durchmesser.
Sie
werden
mit
einigen
hundert
Konservenbüchsen gefüllt * Ltd = Abkürzung für engl. „limited“ (begrenzt); entspricht dem deutschen „— mit beschränkter Haftung“; *• 1 Unze = 28,35 Gramm. *** Tenn, — Tennessee, Im Südosten de,. USA gelegener Staat.
und in einen Kessel gehängt, der mit Dampf beheizt ist, damit die Bohnen in den Büchsen hübsch gar werden. Das macht Libby weniger, weil er den Amerikanern etwas Anständiges verkaufen will, als vielmehr deshalb, weil er weiß, daß sonst Swift & Co, Ltd., seine dickste Konkurrenz, eine Idee besser sein, mehr verkaufen, also mehr Dollars machen könnte. Also
darum: bis sie hübsch gar sind. Dann hebt ein Kran das Körbchen aus dem Kessel, schleift es an einer Gleitbahn durch kaltes Wasser und schickt es an einer dicken Schiene in den Packraum. So kommt ein Körbchen nach dem anderen, ein Dutzend in der Stunde, mehr als zweihundert am Tage. Vor dem Eintritt in den Packraum hat die Gleitbahn ein Gefälle. Aber der Korb darf nicht, wie er will, gleich einem Schlitten bergab fahren, sondern muß das hübsch langsam tun, weil er sonst — nein, nicht den Balthasar, den Jimmy oder mich totschlagen könnte, sondern weil er beim Zusammenprall mit einem anderen Korb verbeult oder gar unbrauchbar würde. Balthasar, Jimmy und ich waren zu ersetzen. Tausende Arbeitslose warteten nur auf unseren Job. Aber ein verbeulter Korb ist sehr teuer. Er muß ausgeklopft, neu genietet und geschweißt oder vielleicht sogar durch einen nagelneuen ersetzt werden. Darum war also an der Gleitbahn eine Bremse angebracht, und die Körbe stiegen langsam zu uns herab wie Elefanten, die im Zirkus Kunststückchen machen. Aber auch die beste Bremse versagt einmal, und dann saust der Korb doch die Schlitterbahn abwärts. Das machte ein Korb eines Tages tatsächlich und streifte dabei Jimmy. Daß der Korb stärker sein würde als Jimmy, war jedem klar, der die Körbe und Jimmy kannte. Der Neger flog in weitem Bogen gegen einen Kistenstapel, der mit donnerndem Getöse umstürzte. Neben Jimmy bildete sich eine kleine Blutlache, und an dem Korb sah man einen roten Fleck. Ich kannte solche und ähnliche Betriebsunfälle auch aus Deutschland. Meist kamen dann Männer mit einer Tragbahre angesaust und schafften den Verletzten fort. Am nächsten Tage hörte man dann, daß er in diesem oder jenem Spital läge und es ihm so und so ginge. In Amerika ist das etwas anders. Nach dem großen Getöse, das die
umstürzenden Kisten verursacht hatten, erschien erst einmal Mister Derrick, der bei Libby so etwas wie ein Betriebsingenieur war, ein Vierzigjähriger mit spitz hervorstehenden Augen, einem runden, hinund herwackelnden Bauch und langen Spinnenbeinen. ,Verfluchte Nigger!’ brüllte er uns an, obwohl er doch sehen mußte, daß ich gar kein Neger bin. Dann ging er zunächst mal zum Förderkorb, strich an ihm herum und prüfte mit besorgtem Gesicht jeden Quadratzentimeter Blech. Das einzig Erstaunliche daran war nur, daß er den Korb nicht fragte: ,Na, wie geht’s denn, mein Süßer? Hast du dir auch nicht weh getan?’ Der Korb hatte sich nicht weh getan. Er hatte nur den roten Fleck abbekommen. ,Wisch den Mist mal ab!’ sagte Mister Derrick zu mir, und weil ich keinen Lappen dazu hatte, nahm ich mein Taschentuch. Balthasar hatte sich zurückgezogen und hockte auf der Erde neben Jimmy, der furchtbar stöhnte. ,Halt das Maul, verdammter Nigger!’ brüllte Mister Derrick, der offensichtlich eine Halskrankheit hatte, denn er konnte kein Wort leise sprechen. Er stieß den jammernden Jimmy mit dem Fuß in die Seite und fuhr ihn an: ,Spiel hier ja kein Theater! Wenn du vor Faulheit stinkst und nicht arbeiten willst, kannst du’s gleich sagen und gehen.’ Über soviel Menschlichkeit ganz gerührt, hielt ich Derrick mein rotbraun geflecktes Taschentuch unter die Nase. ,Das ist Blut, Mister Derrick’, sagte ich. ,Ich hab’s für weißen Käse gehalten. Im übrigen ist es kein Blut, sondern Niggerblut. Das zählt anders.’ .Wollen Sie nicht einen Arzt holen lassen, Mister Derrick?’ Der sah mich entgeistert an. ,Einen Arzt? Wer soll den denn bezahlen?1
,Na, die Krankenkasse.’ Schallendes Gelächter. ,Die Krankenkasse! Hat einer diesen Grünschnabel gehört. Nein, mein Junge, wir sind hier nicht in diesem lausigen Europa oder, Deutschland oder wie diese lächerliche Provinz zwischen London und Paris heißen mag. Hier sorgt jeder für sich selbst. In Amerika züchtet man keine weichlichen Kerle. Was wir holen werden, ist ein Schlosser, damit er die Gleitbahn nachsieht.’ ,Das könnte ich vielleicht auch tun. Ich habe das Schlosserhandwerk erlernt.’ Da hättest du den Derrick sehen sollen. Hätte ich gesagt, ich kann aus Kupfer Schokoladencreme backen — er hätte kein dümmeres Gesicht machen können. Dann plusterte er sich auf: ,Daß du deine dreckigen Pfoten von den Maschinen wegläßt! Das sage ich dir: Du bist hier als Packer angestellt. Und jetzt macht, daß ihr an die Arbeit kommt. Erst wird der Korb ausgepackt, und wenn keine neuen kommen, fegt ihr mal euren Laden hier aus, den Schweinestall.’ Damit raste er durch die breite Flügeltür in den anschließenden Maschinensaal und war für diesen Tag entschwunden. Balthasar holte wortlos einen alten Karren vom Hof. Ich half ihm, Jimmy daraufzulegen, und dann schob der Neger seinen Freund auf dem humpelnden, rumpelnden Gefährt davon. Ich fing wieder an zu packen. Lange noch hörte ich das Stöhnen des armen Jimmy. Aber ich sagte mir: sicherlich hat Derrick recht. Ein Kerl muß man sein, Krankenkassen verweichlichen die Menschen. Was in Europa üblich ist, muß es nicht in den USA sein. Daran änderte auch nichts die Tatsache, daß Derrick von Geographie nicht mehr Ahnung hatte als eine alte Marktfrau vom Punktschweißen.
Als Balthasar zurückkam, sagte er: ,Wenn Derrick das geschafft hätte, wüßten wir gar nichts. So aber lebt mein Freund Jimmy und hat es sagen können. Balthasar weiß jetzt Bescheid, er wird aber der nächste sein, wenn Derrick davon erfährt,’ ,Was hat Jimmy denn gesagt? Ich verstehe das nicht’, fragte ich. Balthasar schwieg aber. Ich nahm einen Besen und fing an zu fegen. Balthasar ging an den Korb, an dem ich vorher gearbeitet hatte, und begann wie wütend zu packen. Dabei griff er mit seinen langen, dünnen Fingern rasch in die Büchsenstapel hinein und nahm immer vier Büchsen mit einer Hand. Drei Griffe nur, dann hatte er einen Karton gefüllt. Ich mußte mich gehörig sputen und geriet oft in Schweiß, da ich über drei Büchsen in einer Hand nicht hinauskam. Verdammter Nigger, dachte ich. Aber das war kein Fluch, sondern ganz gemeiner Neid.“ Thomas unterbrach seinen Bericht plötzlich. Er starrte auf die Tischplatte. Dann stand er rasch auf und ging zu seiner Joppe, die zwei Schritte von uns an einem Garderobenständer hing. Mit einer abgegriffenen schwarzen. Brieftasche in der Hand kehrte er zurück, setzte sich, blätterte in dem Täschchen und zog schließlich eine kleine Photographie heraus. „Hätte ich beinahe vergessen“, sagte er, „hier, das ist mein Onkel. Der hier, der dritte von links, das spinnige Männchen. Das Bild hat mal ein Mädel aus dem Büro geknipst und damit sechs Dollar gemacht. Vierzehn Mann sind drauf, und jeder nahm ein Bild für fünfzig Cent. Die paar Unkosten abgezogen, und schon hatte sie eine neue Bluse. Darüber hatte sich Onkel Max mächtig geärgert. Aber sagen durfte er nichts. Das Mädel war im Lohnbüro beschäftigt, und mit ihr mußte man sich gut stellen.“ Thomas verlangte ein zweites Glas Bier, und als es vor ihm stand, erzählte er weiter:
„Als ich an diesem Tage nach Hause kam, berichtete ich meinem Onkel den Vorfall. Die Wirkung war erstaunlich. So wütend hatte ich meinen Onkel Max noch nie gesehen. Was mich das anginge, wenn ein dreckiger Neger verunglückte? Was ich von den Maschinen verstünde? Noch dazu von amerikanischen, wo ich doch kaum die miesen deutschen beurteilen könnte. Und überhaupt! Onkel Max tat beinahe so, als ob er Aktionär der Libby & Co. Ltd. sei und seine Dividende durch den Zwischenfall in Gefahr geraten könne. Dabei war er ein armseliger Stundenlöhner, genau wie Jimmy und ich. Und ich hörte dabei, daß auch er nicht gut auf Neger zu sprechen war, obwohl er keine Begründung dafür gab. ,Dast ist eben so’, sagte er. ,Aber können die Neger denn dafür, daß sie schwarze Haut haben?’ Da wurde Onkel Max noch wütender. .Komm mir nicht so! Sag das nicht so laut. Solchen Leuten geht es bei uns hier schlecht.’ ,Nanu, im freien Amerika kann man doch sagen, was man denkt’, meuterte ich. .Kann man, wenn es das ist, was uns paßt. Paßt es uns nicht, nehmen wir uns die Freiheit, uns denjenigen vom Halse zu schaffen oder sogar ein wenig aufzuknüpfen.’ Darauf brüllte er weiter, ich solle mich vor Derrick vorsehen, der könne solche Schnüffler nicht vertragen, Mich muß ja auch ein riesengroßer Esel geritten haben, als ich mir nach Feierabend Gleitbahn und Bremse angesehen und dabei festgestellt hatte, daß daran gar nichts entzwei gewesen sein konnte. Ein Bolzen, der die Bremse hielt, war ausgeschlagen und wieder eingetrieben worden. Die Hammerspuren waren auf beiden Seiten deutlich zu sehen. Dabei war ein Splint
herausgefallen. Mich müssen aber sogar zwei riesengroße Esel geritten haben, als ich das Onkel Max erzählte und die fachmännische Behauptung eines angehenden Schlossers dazu gab, daß der Bolzen nicht von allein herausfallen konnte. ,Was willst du Grünschnabel damit sagen, he?’ brüllte mich der Onkel an. Ich schloß daraus, daß er nicht nur die gleiche Halskrankheit wie Derrick haben mußte, sondern auch wie dieser meinen Namen vergessen hatte. Vielleicht hatten sich beide besprochen
und
sich
darauf
geeinigt,
mich
nur
noch
,Grünschnabel’ zu nennen. ,Guck dir lieber die beiden Schwarzen richtig an’, schrie der Onkel weiter. ,Vielleicht haben die das Ding gedreht, um dem Betrieb zu schaden oder dem ehrenwerten Mister Derrick eins auszuwischen. Daß sie ihn nicht leiden können, weiß doch jedes Kind. Daran hatte ich natürlich nicht gedacht. Aber Jimmy? Der wurde dabei doch verletzt. Oder hatte er nur Pech gehabt? Sollte das ganz anders verlaufen? ,Ich werde zu Mister Derrick gehen. Gleich morgen’, sagte ich, ,ich werde ihm mitteilen, was ich an dem Bolzen festgestellt habe. Es muß ein neuer Splint eingesetzt werden. Derrick ist doch Ingenieur und muß das wissen. Er ist für den Betrieb verantwortlich und für die Sicherheit der Leute.’ Da wurde mein Onkel plötzlich ganz zahm. Seine fettige Hand, mit der er kurz zuvor einen Bückling gegessen hatte, strich mir über das Haar. ,Tu das, mein Junge. Sag es ihm. Gewiß wird er dir dankbar sein. Vielleicht schenkt er dir einen halben Dollar. Mister Derrick ist ein feiner Mann, der gute Dienste anzuerkennen weiß. Ich kann sehr wohl ein Lied davon singen, und das sind bestimmt keine schlechten Töne.’ Niemals hätte ich geglaubt, daß Derrick so freundlich sein konnte.
Er war gefürchtet im Betrieb. Wo er auftauchte, rauchte hinterher mindestens einer eine dicke Zigarre, und nicht wenige wünschten ihm, daß er sich an der Bohnensortiermaschine mal das Maul zerquetschen möchte. Zu mir aber war er, als ich am nächsten Morgen zu ihm ging, freundlich wie eine Angorakatze, der man das Fell streichelt. Um ein Haar hätte er angefangen zu schnurren. Er wolle die Sache schon, im Auge behalten, meinte er. Das mit dem Bolzen sei überaus wichtig. .Aber, Junge’, sagte er dann, ,du wirst begreifen, daß ich nicht überall hinschauen kann. Wie wäre es, wenn du mir dabei hilfst? Bist doch ein aufgeweckter Kerl, was?’ So etwas freute mich natürlich, und mir schmeichelte die Beförderung vom Grünschnabel zum aufgeweckten Kerl, ging sie auch etwas schnell. Als ich mit der Anwort aber zögerte, stieß mich Derrick in die Seite, und er ließ dabei ein ungemein hohes Pferdelachen ertönen: ,Was gibt’s denn da zu überlegen? Dein Onkel hilft mir schon lange, und er trägt dazu bei, daß der Betrieb wie am Schnürchen läuft.’ Da dachte ich an die Möglichkeit, mal einen halben Dollar extra zu bekommen, und rechnete mir aus, daß ich mir dafür ein Paar neue Strümpfe kaufen könnte, weil aus den alten je fünf Zehen herraussahen. Hätte ich mehr Zehen gehabt, hätten die in den Löchern auch noch Platz gefunden. Ganz bequem sogar. Da gab ich denn Derrick meine warme, vor Aufregung schwitzige Hand und schlug ein. Dann ging ich rasch hinaus, nicht ohne feierlich versprochen zu haben, besonders auf die beiden Neger ein Auge zu haben. An meinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, sah ich Balthasar, der wie eine Maschine nach den Büchsen griff und sie in die Kartons
packte. Das ging Griff — klapp, Griff — klapp, Griff — klapp. Und weil ich ihn dabei häufig beobachtete, schaffte ich in einer Stunde nur noch die Hälfte meines sonstigen Pensums. Derrick, der inzwischen bei uns durchgegangen war und das sicherlich beobachtet hatte, sagte diesmal kein Wort. In der Mittagspause lag ich mit ein par Jungen, die genauso alt waren wie ich, am Ufer des. Delaware, der hinter unserem Fabrikschuppen grau und schmutzig vorbeifloß. Einer der Jungen hielt eine Angel, die anderen dösten mehr oder weniger intensiv in die glutheiße, flirrende Luft. Es war stinklangweilig, und ich wollte den
Jungen,
die
durchweg
feine
Burschen
waren,
zur
Abwechslung mal was erzählen. Und so berichtete ich denn von meiner Unterhaltung mit Derrick. Ich meinte, sie könnten mir dabei vielleicht auch helfen, daß in der Fabrik vom alten Libby, falls er noch leben sollte, alles in Ordnung ging. Da hatte ich meine .feinen Burschen!’ Der mit der Angel, ein gewisser John und soeben neunzehn, zog seine Rute aus dem Wasser und hieb sie mir um die Ohren. Der Haken verfing sich in meinen Haaren. Ein anderer brüllte mich an, ob ich glaube, daß sie alle Dummköpfe seien. Ein dritter, Bob, der bis dahin am intensivsten gedöst hatte, sprang auf, riß mich hoch und schüttelte mich ganz gehörig durch: ,Du alter Dreckskerl, du Spitzel! Genauso wie dein Onkel Max! Du meinst, weil das Neger sind, kannst du das machen, was? Aber hier denken nicht alle so wie Derrick. Es gibt hier noch welche, die das blöde Farbenspiel nicht mitmachen. Wer gewinnt denn dabei? Libby & Co., klar. Und wir? Haben wir davon auch nur einen Cent mehr Lohn?’ Ich war ganz benommen und stotterte wohl etwas von einem halben Dollar, den Derrick uns eines Tages ganz sicher geben würde. Da bekam ich von irgendwoher eine furchtbare Ohrfeige,
harte Hände und Fäuste packten mich und warfen mich in hohem Bogen in den dreckigen Delaware. Als ich auftauchte, sah ich, daß die Jungen, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, zum Schuppen zurückgingen. Ich schluckte trübes Delawarewaeser, das nach Öl, Farbe und faulen Fischen schmeckte, und die Strömung, die schon zu Lebzeiten des alten Generals Washington hier nur sehr schwach war, trieb mich langsam, aber sicher fort. Washington hatte es bequemer gehabt, was wohl daran lag, daß er für die Neger eingetreten war, ich aber gegen sie. Er hatte damals im Winter den Fluß überquert, als er ausnahmsweise zugefroren war. Ich aber lag mitten drin, und wenn ich nicht hätte schwimmen können, wäre ich in kurzer Zeit ersoffen. Weil ich aber immer weitertrieb und trotz energischer Versuche das Ufer nicht erreichen konnte, rief ich um Hilfe. Ich schrie ziemlich lange, und ich schluckte dabei ziemlich viel Wasser; mehr noch lief mir in die Nase und in die Ohren, und—so schien es mir — nach Stunden träumte ich vom alten General Washington, der auf einem großen, braunen Pferd neben mir auf den Wellen ritt, sich tief zu mir herunterbeugte und unaufhörlich lächelnd fragte: ,Wie ist es, Thomas? Ein halber Dollar gefällig, ein halber Dollar gefällig?’ Aber jeder Traum geht einmal zu Ende. Ich spürte, wie ich mit den Armen ruderte und mir unablässig auf die Brust schlug, einmal, zweimal, dreimal; dann wieder schien es mir, als bewege mich eine große, starke Maschine. Plötzlich aber sah ich, undeutlich und verschwommen, das lächelnde Gesicht von Balthasar, der über mir kniete, offenbar schwer arbeitete, stöhnte und doch immer lächelte: ,Na endlich, kleiner Mann, endlich. Balthasar wußte ja, er würde es schaffen.’ Da wurde mir klar, daß Washington nicht bei mir gewesen war,
weil Pferde ja auch kaum auf dem Wasser umhertraben können; ich wußte, daß Washington mir auch keinen halben Dollar angeboten halle, sondern daß mich Balthasar aus dem Wasser gefischt und vor dem sicheren Ertrinken gerettet hatte. Zitternd habe ich dann in den nächsten Stunden bis Arbeitsschluß zwischen zwei riesigen Stapeln Bohnenkisten gehockt. Meine Kleider wehten draußen auf einer Leine im Winde und waren nach kurzer Zeit trocken. Und ich sah, wie Balthasar Konservenbüchsen verpackte, noch viel mehr, noch viel schneller als sonst, und daß er sich immer noch die Zeit nahm, mal zu mir rüberzusehen, mich anzulächeln, und einmal kam er sogar zu mir, ließ mich aus seiner Kaffeeflasche trinken und sagte: ,Bleib man hier und beruhige dich. Balthasar schafft inzwischen für zwei.’ Das war also der Mann, auf den ich achtgeben sollte. Der vielleicht die Fabrik zerstören wollte. Der ein böser Mensch sein sollte. Erst sorgte er für den verletzten Jimmy, verlor dabei drei Arbeitsstunden und zwei Dollar
siebzig, und jetzt sorgte und
arbeitete er für mich. Als ich nach Hause ging, mußte ich immer wieder darüber nachdenken und wäre an der breiten Asphaltstraße, die längs der Meeresküste ging, beinahe in einen Lastzug gelaufen, der einige Meter hoch mit großen Holzkäfigen beladen war. In jedem Käfig waren schreiende und flatternde Hühner. ,Swift & Co Ltd.’ las ich auf
dem
Wagen
und
entsann
mich,
daß
das
ja
ein
Konkurrenzbetrieb von Libby war. Zu Hause konnte ich keinen Bissen essen, so sehr mich auch der Onkel dazu ermunterte. Schinken bot er mir an und Bückling, eine Pampelmuse, Milch und Kuchen. Offenbar hatte er wieder von Derrick Extrageld bekommen, denn sonst waren solche Mahlzeiten bei uns recht selten.
Mir stand alles bis zum Halse, und nicht nur deshalb, weil ich den halben Delaware ausgetrunken hatte. ,Fein hast du das heute mit Mister Derrick gemacht’, sagte Onkel Max oder Mac, wie er genannt’ wurde, zu mir und wollte mir die Hand drücken. Ich zog mich brummend auf die wackelige Veranda zurück und legte mich in den Schaukelstuhl, der Onkels unantastbares Eigentum war. ,Hat er dich gelobt? Hat er deine Bereitwilligkeit anerkannt, der MisterDerrick?’ Ich schwieg. ,Verdammter Grünschnabel!’ schrie der Onkel erbost. ,Essen willst du nicht, reden willst du nicht, und da soll man nicht vor Ärger, Wut und Neugier platzen. Was gibt’s denn?’ Ich stand auf. ,Der Teufel ist dein Grünschnabel, herzliebes Onkelchen. Derrick hat mich erst heute befördert, vom Grünschnabel zum aufgeweckten Kerl. Und dafür haben mich die Jungen in den Delaware geschmissen, dafür wäre ich um ein Haar ersoffen. Was hättest du dann wohl meiner Mutter geschrieben? Vielleicht, daß ich am Wedding auch hätte ersaufen können? In der Panke vielleicht, he? Ich werde dir was sagen. Du kannst mich mit dem ganzen Derrick und dem Libby-Laden gern haben. Morgen suche ich mir eine andere Arbeit. Vielleicht bei Swift. Libby kommt für mich nicht mehr in Frage. Bohnenpacken ist für einen neugebackenen Schlosser zu langweilig. Für einen, der mit euren Körbchen nicht umgehen kann, ist es zu gefährlich, und für den, der einen Spitzel abgeben soll, ist es zu naß.’ Eine so lange Rede hatte der Onkel von mir noch nie gehört. Unser gemeinsames Dasein hatte sich immer ziemlich ärmlich abgespielt: ärmlich im Essen, im Trinken, an Geld und im Reden. ,Du Idiot!’ meinte der völlig verdutzte Onkel, der einen
eingeschüchterten Eindruck machte. .Gerade jetzt könnte der Geldsegen vom Derrickschen Himmel fallen. — Da’, er warf mir ein Zehn-Cent-Stück zu, ,der Rest von dem halben Dollar, den mir Derrick eigentlich für dich gegeben hat.’ ,Danke’, sagte ich und steckte das Geldstück ein in der Absicht, es Balthasar zu geben. — Balthasar wollte die zehn Cent nicht haben. War ja auch ziemlich wenig für eine Lebensrettung. Aber schließlich hatte ich doch nicht mehr. Ich dachte daran, wieviel ich ihm hätte geben können, wäre ich in Berlin geblieben, hätte meine Mutter nicht dem reichen Onkel aus Amerika geglaubt und mich weiter als Schlosser arbeiten lassen, falls ich Arbeit gefunden hätte. Balthasar hätte sich dann von meinem Geschenk ganz schön den Hals füllen können; oder eine neue Hose kaufen, die er dringend brauchte; oder eine ganze Menge Apfelsinen, die er ungemein gern aß und ganz gewiß mit seinem schwarzen Freund Jimmy geteilt hätte. Mit Jimmy, der noch immer nicht zur Arbeit kommen konnte. Beim eintönigen Büchsenpacken fragte ich Balthasar, ob ich zu Swift gehen sollte. In diesem Augenblick heulte die Fabriksirene. Wir mußten wieder an unsere Arbeit. Balthasar rupfte am Band Hühnchen, ich ging zu meinem Elektrokarren, den ich seit dem Tage zuvor fahren durfte. Der Karren hatte eine bewegliche Ladefläche, die unter einen Stapel Hühnerkisten geschoben wurde. Dann drückte ich auf einen Hebel, die Platte stieg hoch und hob die Kisten mit. So fuhr ich Stapel um Stapel, an die hundertmal am Tage, zu einer Laderampe, wo Lastwagen nach und nach beladen wurden. Der Boden auf dem Fabrikhof war aber nicht etwa ein Tanzsaalparkett oder fein asphaltiert. Nein, jede Fahrt war eine tolle Schaukelpartie, und ich
hatte nicht selten Angst, mit der ganzen Fuhre umzukippen. Aber sonst möchte man meinen: feine Arbeit, was? Kein Gestank
mehr,
kein
klebriges
Wachs,
kein
Blut,
kein
Hühnergeschrei. ,Feine Arbeit’, meinte auch unser Boß, der Abteilungsleiter, als er mir diese Arbeit schmackhaft machte. ,Du fährst ab morgen den Karren, da brauchst du schwächliche Figur nicht mehr zu laufen. Gut, was?“ Ich nickte, war aber noch nicht ganz sicher, ob ich mich wirklich freuen sollte. ,Na’, stieß er mich in die Seite, ,wie sind wir zu jungen Leuten? Sorgen, daß sie nicht schwerer arbeiten, als sie können, was?’ ,Ja, das schon.’ ,Na also. Leichte Arbeit, leicht verdientes Geld. Kannst natürlich nicht mehr neunzig Cent die Stunde bekommen, das siehst du ja ein, nicht wahr? Sparst Stiefelsohlen und Kraft und bekommst trotzdem noch fünfundachtzig die Stunde. Auch ganz schön, was?’ Aha. Das war also der Haken an der Geschichte. Weil ich aber kein neugeborenes Lämmchen mehr war und im Betrieb einigermaßen Bescheid wußte, sagte ich: ,Der Pit aber, der den Karren vorher gefahren hat, bekam doch sogar einen Dollar die Stunde. Und ungefährlich ist das auch nicht. Wenn man’s genau nimmt, ist es sogar eine Schinderei auf eurem Parkett hier. Umsonst hat Pit das doch nicht freiwillig aufgegeben. Wie ist das denn nun damit?’ Aber der Boß war schon außer Hörweite. Achselzuckend war er davongegangen. Von weitem sagte er nur: ,Mußt ja nicht. Gibt noch andere Arbeit in den Staaten.’ Ja, da bin ich denn Karrenfahrer geworden; für fünfundachtzig die Stunde. Abends sah ich dann Balthasar im Bus wieder. Er nickte mir aufmunternd zu. Ich fing wieder an zu grübeln. Tolle Sache das mit
Jimmy. Ich beschloß, mit Balthasar nach dem Aussteigen noch einmal zu sprechen. Das tat ich dann gleich hinter Milford, nicht weit ab von unserer komfortablen Villa. Wir hockten am Strand auf großen, schwarzen Steinen. Das Meer lag wieder still wie ein Brett. ,Dann hat man Jimmy also regelrecht ermordet’, meinte ich. ,Ja, ermordet’, antwortete der Neger. .Jetzt verstehe ich. Darum bist du jetzt bei Swift. Du willst Derrick entlarven und dem Chef sagen, daß er einen Verbrecher beschäftigt.’ Balthasar lächelte. ,Nein, das hätte wohl keinen Sinn. Dann würde sich für Derrick eben ein anderer finden. Die Menschen werden hier meist schlecht bezahlt, so daß es nicht schwer ist, einen zu finden, der ein paar Dollars mehr haben will, auch wenn er dafür dreckige Arbeit verrichten muß. Aber — Derrick hat nicht nur Jimmy ermordet. Er hat auch dessen Bruder umgebracht, er hat dessen Schwager und Freund auf dem Gewissen und viele andere schwarze Männer und Frauen. Jimmy hat es mir damals, als er verunglückte, gesagt. Derrick haßt die schwarzen Männer. Hast du einmal etwas vom Ku-Klux-Klan gehört? Derrick gehört dazu. Diese Geheimorganisation verfolgt die Neger — nur weil sie eine andere Hautfarbe haben. Früher war das für die Ku-Klux-KlanMänner ziemlich leicht.
Heute ist
es schon
etwas schwerer
geworden.’ Balthasar machte eine Pause und sah mit großen Augen in die Ferne. ,Die schwarzen Männer wehren sich’, sagte er. ,Noch sind wir nicht sehr stark. Wir werden aber mit jedem Tag stärker. Eines Tages wird es keine Derricks mehr geben, und weiße und schwarze Männer werden in den Staaten in Frieden miteinander leben.’ .Aber dieser Ku-Klux-Klan’, meinte ich, ,ist dann doch eine
Gangsterorganisation, ein Klub von Mördern. Das ist doch verboten. Da müßte doch der Staat einschreiten, die Regierung.’ ,Ja, das müßte sie nach Gesetz und Verfassung. Aber was sind das für Sachen? Zwei Fetzen Papier, und Papier ist noch immer ziemlich geduldig hier in den USA, wenn es um die schwarze Hautfarbe geht. Daß Gesetz und Verfassung volle Geltung haben, dafür müssen weiße und schwarze Menschen gemeinsam sorgen. Und es gibt schon viele, die sich darum bemühen.’ Das ging mir doch gewaltig durch die Gehirnzellen. Da hatte ich also einen richtigen Gangster kennengelernt, ihm sogar die Hand gegeben, einen Pakt mit ihm geschlossen. Früher hatte ich mir eine solche Begegnung immer anders vorgestellt, viel gruseliger, prickelnder, romantischer. Und nun? Ich spuckte aus. ,Mir kann der Derrick gestohlen bleiben’, sagte ich zu Balthasar und drückte ihm die Hand. ,Und das werde ich ihm auch sagen. Ins Gesicht werde ich ihm spucken, sobald ich ihn sehe.’ ,Das solltest du nicht tun. Derrick ist nicht ungefährlich.’ ,Für dich vielleicht. Für mich nicht. Ich bin kein Amerikaner, Gott sei Dank nicht. Ich habe mit euren Gesetzen, die so schlecht angewendet werden, nichts zu schaffen. Fünf Jahre soll ich mir überlegen, ob ich Amerikaner werden möchte. Mir haben ein paar Monate genügt. Ich danke. Ich komme vielleicht wieder, wenn anständige Leute bei euch regieren. Vielleicht, wenn du, Balthasar, Präsident wärst.’ Der Neger lächelte. ,Das wird wohl kaum etwas werden. Aber würde es, dann kannst du sicher sein, daß ich die Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilen würde.’ Die Gelegenheit, Derrick die Meinung zu sagen, ließ nicht lange auf sich warten. Schon am nächsten Tage in der Mittagspause sah ich Derrick erneut in das Kontor gehen. Diesmal fragte ich nicht den
alten George, der vor dem Tor herumfegte, obwohl dort, weiß Gott, nichts lag. Kann man eich vorstellen, wie mich die Neugier plagte? Aber es war auch noch etwas mehr. Ich fühlte mich jetzt als Balthasars Verbündeter, der offenbar deshalb zu Swift gekommen war, weil er drüben Derrick aus dem Wege gehen mußte, ihn hier aber möglicherweise
bei
der
Vorbereitung
neuer
Schandtaten
beobachten konnte. Und ich fühlte mich auch als einer, der es mit einem richtigen Gangster zu tun gehabt hat, dem ich es zeigen wollte, dem ich über sein wollte. Den Grünschnabel, den wollte ich ihm schon noch heimzahlen, diesem großspurigen Amerikaner. Der sollte sehen, daß ein Junge von Spree und Panke, ein Junge vom Wedding, auch nicht ohne ist. Ich ging um unsere Halle herum und von hinten an die Baracke heran, in der das Kontor untergebracht war. Alle Fenster standen offen; denn es war glutheiß. Ich kroch unter den nach außen gekehrten Fensterflügeln hinweg. Über mir war Schreibmaschinengeklapper, ab und zu ein Telephonglockenton, leise Radiomusik. Am letzten Fenster mußte es sein. Ich blieb liegen. Sicherheitshalber zündete ich mir eine Zigarette an und legte mich lang ins Gras. Ich machte Mittagspause. Wen ging es etwas an, wo ich mich nach der Schinderei hinlegte? ,Du bist unvorsichtig geworden’, hörte ich. Es war die tiefe, bebende Stimme unseres Chefs, den wir nur selten zu sehen bekamen und von dem die Rede ging, daß er Smith hieß, im Kriege eine Zeitlang in Deutschland gewesen, als armer Mann hingegangen und als immerhin etwas vermögender Mann zurückgekommen war. Für einen .First Class Sergeant’* eine ganz schöne Entwicklung. ,Du verläßt dich zu sehr darauf, daß nur wenige wissen, woher du kommst. Ich glaube, das wissen mehr, als du denkst.’
,Ich weiß!’ Derricks Stimme klang erregt. ,Aber — wer mir in den Weg kommt, hat sich die Folgen selbst zuzuschreiben.’ ,Dir ist hoffentlich klar, daß wir dich dann nicht decken können.’ ,Darauf huste ich. Es geht hier nicht nur um ein Geschäft. Das weißt du sehr genau. Die Organisation stellt auch ihre Aufgaben, und die sind mitunter wichtiger. Dollars müssen sein und gemacht werden. Aber diese verdammten Nigger...’ ,Halt! Ganz einig gehen wir da nicht. Ihr könnt nicht mir nichts-, dir nichts unsere billigsten Arbeitskräfte umlegen. Wir bekommen dann von der Sorte so leicht keine mehr. Und Weiße sind zu teuer. Das ist also gegen unser Abkommen. Du wirst dafür bezahlt, daß Libby Schwierigkeiten hat, nicht dafür, daß Libby und wir den gleichen Ärger bekommen.’ Dann war es eine Minute still. Ich hörte, wie Streichhölzer entzündet wurden. Sicher steckte sich jeder von ihnen einen langen schwarzen Glimmstengel ins Gesicht. Dann hörte ich wieder Derrick: ,Da ist doch so ein Junge bei dir, ein Deutscher. Sicher ein Grünschnabel, ein dummer Kerl. Ich vermute aber, daß er von einigen Negern aufgehetzt wird. Weißt du was, schmeiß ihn raus. Ich glaube — sicher ist sicher.’ ,Ich denke nicht daran. Der Junge ist zu uns rübergekommen, um die Staaten kennenzulernen. Er wird nach Hause schreiben. Du weißt, daß die Deutschen solche Briefe mächtig wichtig nehmen. Die werden in der ganzen Verwandtschaft gelesen, und jeder betrachtet das Stück Papier wie eine heilige Reliquie. Man denke, direkt aus Amerika! Totlachen könnte man sich darüber; aber ich habe diese Einstellung oft genug selbst erlebt — und auch ausgewertet. Also — soll der Junge nun berichten, daß er hier im großen Amerika keine Arbeit bekommt, daß er verhungert?’ ,Ach was, er wäre nicht der erste.*
,Gut, aber der erste, der solche Briefe auch über Swift schreibt, wenigstens über Swift, Milford. Nein, nein, wenn du ihn durchaus loswerden willst, gibt es doch einen anderen Weg.’ Wieder war es einen Augenblick still. Dann Derrick: ,Du hast recht; Die Gelegenheit dazu wird schon kommen.’ .Natürlich — und hat er erst einmal einen anderen - Anzug angezogen, dann flötet er sowieso andere Töne.’ In diesem Moment hörte ich ganz in der Nähe Schritte im Gras. Ich wollte hoch und verschwinden, da stieß mich schon einer mit dem Fuß an, und gleichzeitig hatte ich so rund zwanzig Unzen Wurzelgemüse im Gesicht, das sich nach einigen Sekunden Überlegung als ein Kehrbesen enträtselte. Vor mir stand George. ,Was tust du hier?’ ,Das siehst du doch. Ich ruhe, ich schlafe. Ich mache Mittagspause, um danach um so kräftiger für den alten Swift Dollars machen zu können.’ ,Alter Schleicher, junger Lauscher!’ Der Alte grinste gemein. ,Alter Rheumatiker, neuer Spitzel’, äffte ich seine brummende Stimme nach und stand auf. ,Du bleibst hier’, sagte George. ,Du hast den Chef belauscht. Das ist ungehörig, und das muß er wissen.’ Da packte mich doch die Wut. Ich sprang den alten Kerl an, und im Sprung hieb ich ihm mein Knie in den Unterleib, daß er wie abgehackt umfiel. Aber ich hatte mich in ihm getäuscht. Er erhob ein klägliches, weithin hörbares Geplärr. Derrick und der Chef sahen zu uns heraus, brüllten Unverständliches, stiegen durchs Fenster und standen dann neben uns. George hatte nichts Wichtigeres zu tun, als zu berichten: ,Der Kerl hat euch belauscht.’ Derrick wurde blaß. Der Chef aber lächelte: ,Na und . -,,?’
,Er ist ein Niggerspitzel.’ Derrick trat auf mich zu: ,Dann werden wir ihn eine Etage höher ziehen, vielleicht an einem Ahornbaum? Oder liebst du Buchen mehr?’ Ich nahm in meiner halb erstickten Kehle einen Anlauf und spuckte Derrick wütend ins Gesicht — einmal, zweimal, dreimal. Dann schlug ich ihn, so schwer ich konnte. ,So —’ schrie ich ihn an, .damit du Schuft weißt, was ich von dir denke! Das wollte ich schon lange tun, du stinkender Gangster, du Negermörder!’ Derrick packte mich blitzschnell am Genick: ,Ach, so meinst du das. Das ist etwas anderes. George, du hast gesehen und kannst bezeugen, daß er mich angegriffen hat.’ Ehe ich mich versah, holte er weit aus und versetzte mir einen fürchterlichen Schlag gegen den Hals. Ich sah riesengroße, kreisende Sterne. Mein letzter Gedanke war: Mutig, ja, aber ein Esel warst du doch. Nach einigen Stunden stolperte ich zum Bus und fuhr nach Hause. Balthasar sprach kein Wort mit mir. Die anderen besprachen meinen Fall desto lebhafter. ,Dem hast du’s aber gegeben’, sagte ein alter Mann, der im Lager auch einen Elektrokarren bediente. ,Das wirst du bereuen’, meinte ein junges Mädchen, und ,dummer Kerl!’ schimpfte eine ältere, schwarze Frau. ,Was soll das? Bringst uns nur Unruhe, Mißtrauen, womöglich Verhöre über Kommunismus, und am Ende werden wir noch unsere Arbeit los.’ Sie hatten vielleicht alle recht. Was aber hatten sie für eine Vorstellung von einem Berliner Jungen, der in die Fußstapfen des alten Kolumbus getreten war und nun Amerika auf seine Art entdeckt hatte. Als ich in unsere wackelige Villa kam, war der Onkel schon fort zur Arbeit bei Libby. Ich konnte nichts essen und ging wieder
hinunter zum Strand. Dort saß ich stundenlang und schielte in Richtung Bermudas, von wo man ohne Umsteigen zum Wedding fahren könnte, wenn man nur ein anständiges Schiff unter den Füßen hätte. Nachts besuchte mich wieder General Washington, was wohl kein gutes Omen war. Nur daß er mir diesmal keinen halben Dollar anbot, sondern — eine fast zwei Meter lange Muskete. Ob ich damit den Derrick abschießen solle, fragte ich ihn. Er aber ritt lächelnd auf den Wellen des Delaware fort bis zu Libbys etwas windschiefem Tor, wo er das Firmenschild abriß und mit Hühnerblut anschrieb: »Beschlagnahmt! Staatseigentum!« Aha, das wäre dann die Folge! Ich glaube ja nicht an Träume. Aber es ist kein Zweifel, daß die nächtliche Begegnung mit Washington etwas sehr Unangenehmes einleitete. Ich hatte am Morgen kaum meine Milch ausgetrunken, da hielt ein kleines Auto vor unserem Bungalow. Zwei Männer sprangen heraus: einer in Zivil, der andere ein Cob, also ein Polizist. Sie stürzten sich auf unser Häuschen, als fürchteten sie, daß es jeden Augenblick umfallen könnte — was gar nicht so aus der Welt war. .Bist du der Tom?’ fragte mich der Zivilist und zeigte eine Blechmarke vor, von deren Bedeutung ich schon einiges gehört hatte. Was soll ich lange reden, die beiden luden mich ziemlich wortlos, dafür aber mit einigen Püffen in die Seiten zu einer Autofahrt ein, die auf der Polizeistation in Milford endete. Hier setzten sie mich in einen Käfig, der glücklicherweise größer war als der für unsere Hühner, und erlaubten mir, mich sechs Stunden lang von der Überraschung zu erholen. Danach holte mich der Zivilist wieder heraus, führte mich in ein Zimmer und stellte mich dort einem älteren, weißhaarigen Herrn
mit den Worten vor: ,Das ist dieser Kerl.’ Und zu mir sagte er: ,Benimm dich hier anständig, bleibe stehen, antworte, wenn du gefragt wirst und halte sonst den Mund. Dieser ehrenwerte Bürger dort ist der Richter.’ Ich hatte zuvor niemals mit einem Richter zu tun gehabt. Darum hätte man es mir verzeihen sollen, daß ich mich wohl doch nicht ganz nach den Vorschriften aufführte. Ich begann nämlich fürchterlich zu schimpfen und zu fragen, warum man mich, einen anständigen Menschen, gewaltsam vom Frühstück wegholt und sechs Stunden einsperrt. Und wie sich der Herr Richter das mit dem Lohn dachte, der mir verlorenging, immerhin sechs Dollar achtzig, und ob man hier nicht wenigstens etwas Anständiges zu essen und zu trinken bekommen könnte. Der Richter mußte mich wohl ganz falsch verstanden haben, denn er verhängte erst mal über mich eine sogenannte Ordnungsstrafe von drei Dollar. Das war natürlich Unfug; denn ich wollte ja kein Geld bezahlen, sondern hören, wie ich meines bekommen könnte. Ja, und dann fing die Verhandlung an. Nacheinander kamen Derrick und Smith und der alte George ins Zimmer und sagten aus, daß ich dem Derrick heimlich aufgelauert hätte, daß ich ihn überfallen, angespuckt und geschlagen hätte. Das konnte ich ja nicht bestreiten, aber merkwürdig kam es mir doch vor, daß mich der Richter gar nicht fragte, warum ich das wohl getan hätte. Ich erhielt zu einer Erklärung auch keine Gelegenheit mehr, denn der Richter stand feierlich auf, setzte seinen flachen, schwarzen Hut auf den Kopf und sagte: ,Der deutsche Staatsangehörige Thomas Sowieso wird wegen aufrührerischer Haltung und tätlicher Bedrohung eines Vorgesetzten zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Strafe ist sofort anzutreten. Nach Verbüßung erfolgt die Ausweisung aus dem Gebiet der Vereinigten Staaten von
Amerika.’ Ich fragte, ob man das mit der Ausweisung nicht zuerst machen könne; denn ich hätte sowieso die Nase voll von dem Land, dem man nachsagt, daß es dem lieben Gott persönlich gehöre. Statt einer Antwort führte mich der Cob, der irgendwoher lautlos erschienen war, wieder in den Käfig, den er zusperrte, und dann war ich wieder allein. Übrigens die ganze Nacht. Am nächsten Morgen kam dann ein Mann zu mir, den ich überhaupt noch nicht gesehen hatte. Ein sympathischer Mann, wenn ich es mir so recht überlege. ,Ich habe von Ihrem Fall gehört, junger Mann’, sagte er zu mir. ,Sie tun mir eigentlich leid. Und ich möchte Ihnen helfen. Seien Sie ruhig. Ich kann Ihnen helfen, ich habe die Macht. Sie sollen jetzt also ins Gefängnis. Das ist eine sehr unangenehme Sache. Auch wenn Sie nach Deutschland zurückkehren, was ich noch nicht glaube, gelten Sie als vorbestraft. Was wird Ihre Mutter dazu sagen! Was Ihre Freunde! Ich stelle mir das nicht schön vor. Und mit der Ausweisung ist das auch so eine Sache. Sie werden ausgewiesen, klar, aber wie wollen Sie nach Hause kommen? Glauben Sie, daß der amerikanische Staat Ihnen einen Platz erster Güte auf der »Queen Mary« bezahlt? Na also, das glauben Sie selbst nicht. Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag.’ Und dann holte er tief Luft und zog ein Stückchen Papier aus der Tasche. ,Hier, unterschreiben Sie dieses Papierchen. Eine ganz harmlose Sache, die Sie aber vor dem Gefängnis rettet. Sie brauchen nämlich nicht zu sitzen und erhalten Bewährungsfrist, wenn Sie sich verpflichten, eine gewisse Zeit im Dienste der Vereinigten Staaten Nützliches zu leisten. Sie sind kein Soldat, genießen aber alle Vorteile dieser tüchtigen Männer, die bei uns ganz besonders gut verpflegt und versorgt werden. Lesen Sie sich das durch, ich
komme morgen wieder, und ich bin sicher, Sie werden auf meinen Vorschlag eingehen.’ Na ja, was auf dem Papier stand, war nicht viel. Daraus bin ich nicht sehr schlau geworden, aber was mir dieser sympathische Mann sagte, leuchtete mir damals eigentlich ein. Draußen umherlaufen war besser, als ein paar Monate im Gefängnis absitzen. Na, und die Zeit bei den Soldaten oder Nichtsoldaten würde auch vorübergehen. Hauptsache war für mich, daß ich schnellstens aus diesem Käfig herauskam. Das allein war für mich das Wichtigste. Wie hätte ich sonst eine neue Dummheit begehen können? Aber im Augenblick wußte ich das ja noch nicht. Am nächsten Morgen kam der Mann zurück. Ich drückte ihm das unterschriebene Papierchen in die Hand, er sprach draußen mit dem Zivilisten, dem Richter und dem Cob und nahm mich gleich in seinem Auto mit. Er setzte mich zu Hause ab. Mein Onkel war nicht da. Komisch, auf diese Art habe ich ihn bis zum heutigen Tage nicht mehr gesehen. Der Mann gab mir noch einen Briefumschlag und sagte mir, daß ich die darin enthaltenen Anweisungen unbedingt befolgen müsse. ,Sonst —’, er drohte lächelnd mit dem Finger und machte ein Zeichen, das ich nicht mißverstehen konnte. Es hieß: Gefängnis! Mit dem Brief lud mich irgendein ,Camp 124’ zu einem Besuch ein: nach Philadelphia zum nächsten Tage. Unterschrieben hatte ein Oberleutnant. Der Herr war freundlicher als der Cob von Milford. Offensichtlich wollte er mit mir frühstücken; denn ich sollte schon um acht Uhr morgens bei ihm sein. Daß ich kein Geld hatte, mußte er wohl in Erfahrung gebracht haben; denn er hatte dem Brief einen Freifahrtschein für die Eisenbahn beigelegt. Sicherlich hatte ihm der sympathische Mann meine Lage erklärt. Da ich nicht wußte, ob man solch einem Herrn nicht einen
Blumenstrauß mitnehmen mußte, lief ich zur Bushaltestelle, wo ich Balthasar vermutete, um mich mit meinem schwarzen Freund und Verbündeten zu beraten. Bei Swift durfte ich mich ja nicht mehr sehen lassen. Balthasar furchte mächtig die Stirn, als ich ihm die Einladung zeigte. ,Das haben sie sehr schnell und geschickt gemacht’, sagte er. ,Du mußt selbstverständlich erst einmal hinfahren. Da hilft dir kein Hurricane. In zwei Stunden fährt dein Zug, dann bist du um zwölf in Phil.’ ,Das ist doch zu spät. Da wird kein Frühstück mehr serviert werden’, meinte ich, ,und der Herr Oberleutnant könnte über soviel Mißachtung beleidigt sein.’ ,Du sollst ja erst morgen früh dort sein. Fahre aber ruhig heute, dann hast du ein Nachtquartier. Du kennst die Stadt nicht, und mir ist es auch
SO
lieber. Du könntest zwar mit einem Auto von Swift
fahren, wir liefern ja fast täglich dorthin, aber das fährt erst am Nachmittag, und außerdem — nein, laß das, fahre mit der Bahn, das ist bequemer.’ ,Und, Balthasar, muß ich nun wirklich Soldat spielen?’ .Amerikanischer Soldat kannst du nicht werden. Wenigstens nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes. Aber — ich sagte dir ja schon einmal, es gibt bei uns Gesetze, die nur auf dem Papier stehen. Und darum gibt es bei uns militärische Formationen auch für Nichtamerikaner. Das ist wohl noch vom Kriege her so üblich geblieben. Es ist sehr bequem, wenn man Im Lande nicht genug Leute bekommt. Aber — du wirst schon sehen.’ ,Und wann sehen wir uns wieder?’ Ich spürte plötzlich einen tiefen Schmerz. ,Bald’, lächelte Balthasar und stieg in den Bus, der sich rasch mit Arbeiterinnen und Arbeitern gefüllt hatte und knatternd und
schaukelnd abfuhr.“ Thomas holte tief Luft. Er zündete sich eine neue Zigarette an und sah eich im Räume um, der sich rasch mit Menschen gefüllt hatte. Es war ein brodelndes Stimmengewirr um uns. Wir saßen wie auf einer kleinen Insel; denn uns beschäftigte im Augenblick etwas völlig anderes als all die Männer, die nach der Arbeit einen dicken Happen und einen guten Schluck forderten. Thomas wischte sich über die Stirn, als wollte er trübe Erinnerungen verscheuchen. Dann lächelte er sogar ein wenig. Vielleicht über das Schnippchen, das Balthasar dem Herrn Oberleutnant geschlagen hatte und über das er nun mit unverhohlener Freude berichtete. „Es war ein wahres Glück, daß mir der Offizier seine Adresse aufgeschrieben hatte. In der großen Stadt wäre er sonst kaum zu finden gewesen. Ich war zudem froh, als ich endlich das Stadtzentrum hinter mir lassen konnte. Bei den hohen Häusern von vierzig und mehr Stockwerken hatte ich immer das Gefühl, sie könnten auf mich herabstürzen, Fürchtete ich doch außerdem, daß mir mal einer auf den Kopf springen würde. Ich hatte fast jeden Tag in der Zeitung gelesen, daß Arbeitslose und andere Lebensmüde in Philadelphia
unentwegt aus dem Fenster
sprangen, weil sie das. üppige Leben nicht mehr ertrugen. Monat für Monat sind das so an hundert Menschen. Ich sah ängstlich an den Fassaden hoch, nur die Einwohner der Stadt taten das nicht. Sicherlich hatten sie sich an den Zustand gewöhnt, und mancher von ihnen mochte sich sagen: Wenn mir einer auf den Kopf springt, bin ich auch hin, und das erspart mir den Sprung, der in einigen Wochen oder Monaten notwendig sein kann. So gingen die Menschen denn lächelnd oder dösend durch die Straßen. Schwitzend, Gummi kauend und Eiscreme lutschend strichen sie an
den Häusern vorbei und erweckten den Anschein, als sei ihnen die Gefahr, die ihnen von oben her drohte, gar nicht bekannt, Der Offizier wohnte weit vor der Stadt in einem großen Barackenlager. Ein Soldat führte mich zu ihm. Es war ein sehr junger Offizier. Er lag auf einem Bett und hatte die Füße, an denen ziemlich staubige Schuhe steckten, auf das weiße Laken gelegt, damit der Fußboden nicht schmutzig werden sollte. Offensichtlich war es ihm doch nicht ganz recht, daß ich die Zeit so schlecht eingehalten hatte; denn er zog bei meinem Anblick einen der Schuhe aus und warf ihn mir entgegen. Ich fing den Schuh auf und stellte ihn auf den Tisch. Da brüllte der junge Offizier auf, was vermuten ließ, daß ich etwas falsch gemacht hatte. Der Soldat nahm mich am Arm und brachte mich in eine Baracke, in der sehr viele Betten standen, aber kein Mensch zu sehen war. Er zeigte mir dort ein Schränkchen und ein Bett und fragte mich, ob ich etwas zu essen hätte. Als ich dies bejahte, meinte er: ,Heute bekommst du nämlich noch nichts. Du solltest ja erst morgen kommen. Im übrigen, mein Freund, wirst du nun hier wohnen. Ab morgen werden die anderen Betten auch belegt. Du wirst längere Zeit bleiben und eines Tages eine weite, schöne Schiffsreise antreten. So vermute ich wenigstens. In diesem Fall wirst du für dein Alter ziemlich früh im Himmel singen oder in der verdammten Hölle braten.’ Ich fragte ihn, ob er damit meine, ich würde so etwas Ähnliches wie ein Soldat. ,Das bist du schon, Bruder’, lachte er. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß ich gelernter Schlosser sei und daß ich dann doch lieber Bohnen und Hühner verpacken wolle, wenn ich schon nicht in meinem Beruf arbeiten dürfe. Als ich aber betonte, daß ich auf gar keinen Fall amerikanischer Soldat
werden würde, da schob mich der Mann zur Seite und meinte nur: ,Von deiner Sorte haben wir hier schon eine ganze Menge gehabt. Die einen sind ruhig geworden und haben sogar schießen gelernt; andere haben getobt und suchen jetzt als Mitglieder des sehr ehrenwerten
Strafkommandos
Zigarettenstumme]
und
Papierstückchen auf den Parkwegen des Lagers zusammen oder auch Tellerminen im gesegneten Korea.’ ,Und die dritten?’ fragte ich, weil mir die Auswahl etwas schmal erschien. ,Von denen sprich lieber nicht. Du meinst die, die versuchten, zu türmen? Von denen sprich nicht!’ Dann ging er. Ich legte mich auf das Bett, die dreckigen Schuhe auf das weiße Laken, ohne daß
ich mir dabei wie ein Oberleutnant
vorgekommen wäre, sondern ganz einfach verraten und verkauft. Nach einigen Stunden, die ich verdöst und verschlafen hatte und in denen sich um mich kein Mensch gekümmert hatte, sah ich zum Fenster hinaus, weil ich ein starkes Motorengeräusch hörte. Es war einer der großen Lieferlastzüge von Swift. Er hielt vor einer Baracke, in der ich die Küche vermutete. Zwei Arbeiter begannen dort Kisten abzuladen, und einer von ihnen war — mein Balthasar. Junge, Junge, der war wirklich mindestens so schnell wie Derrick. Hühnergeruch übte auf mich zwar keine starke Anziehungskraft aus, aber Balthasar interessierte mich natürlich. Ich ging also hinüber, nachdem ich gesehen hatte, daß sie mit dem Abladen fertig waren und nun leere Kisten aufluden. Außer Balthasar und seinem Kollegen sah ich nun noch einen dritten Neger, den Schofför. Kaum hatte ich mich dem Wagen genähert, als sich die beiden mir unbekannten Neger auf mich stürzten, mich bei Armen und Beinen packten und auf den Wagen warfen, der mit einer großen Plane
abgedeckt war. ,Ruhe! Kein Wort!’ zischte mir der eine Neger überflüssigerweise zu, denn ich konnte vor Überraschung ohnehin kein Wort hervorbringen. Wenige Minuten später war ich von Kisten eingemauert und konnte mich kaum bewegen. Draußen riefen heisere Stimmen etwas, was ich nicht verstehen konnte. Der Motor fing an zu laufen, ein Ruck, und der Lastzug fuhr los. Das Abenteuer nahm bunte Formen an. Daß noch eine waschechte Entführung dazukommen würde, hatte ich kaum erwartet, obwohl ich von diesem komischen Amerika inzwischen Überraschungen gewohnt war. Du liebe Güte, durchfuhr es mich, ob der junge Offizier morgen mit dem Frühstück auf mich warten würde? Nach einer halben Stunde Fahrt, es war schon ein wenig dunkel geworden, hielt der Wagen. Die Kisten wurden zur Seite geschoben, und Balthasar zog mich hervor. Wir standen in einer Vorstadtstraße mit niedrigen, schlecht gebauten roten Ziegelhäusern. Um den Wagen herum standen etwa zehn Neger. ,Das sind alles meine Freunde’, sagte Balthasar, ,es sind auch die deinen, und sie warten darauf, Derrick eins auszuwischen und dafür zu sorgen, daß wenigstens ein Soldat weniger nach Korea kommt. Sie arbeiten im Hafen, unsere Freunde, und sie werden in einer Stunde beginnen, einen dänischen Frachter zu beladen. Wir werden dich in eine Kiste stecken, Tom, und so wirst du an Bord kommen. Willst du das? Du kannst auf diese Art vielleicht nach Hause fahren.’ Blitzschnell dachte ich an die Bermudas, an Deutschland, an Berlin, an die Panke und die Tränen der Mutter. ,Ich will’, sagte ich. ,Dann wollen wir uns beeilen’, sagte der Neger. ,Geh dort drüben
in das Haus. Dort steht ein kleiner Lastwagen, der eine große Kiste geladen hat. Wir beschaffen inzwischen noch etwas zu essen und zu trinken für dich. Decken sind schon drin. Beeile dich, vielleicht sehen wir uns noch.’ Es war das letzte Mal, daß ich Balthasar gesehen habe. Ich nehme, nicht an, daß er jemals nach Deutschland kommt. Und ich zurück nach den USA? Nee, danke. Ich stieg in die Kiste, das Auto fuhr bald los, ich hörte Sirenen heulen und Schiffsglöckchen läuten. Das mußte der Hafen sein. Nach einer Reihe von Ewigkeitsminuten rumorte es draußen an meiner Kiste. Sie schaukelte, sie stieg. Ich kam mir vor wie in einem Fahrstuhl. Das war eine ganz schöne Pudelmütze voll Schlaf, die ich da zu mir genommen hatte. Kreuzlahm war ich dabei geworden. Unter mir dröhnte ein schweres Stampfen und Rattern, und der Boden schien zu schweben. Klar, der Eimer fuhr. Nun aber raus“, vielleicht war er schon an den Bermudas vorbei. Ich rappelte mich hoch, hob mit dem Rücken den schweren Deckel ab, der mit gewaltigem Gepolter zu Boden fiel, reckte mich, blinzelte in ein Licht und sah einem zu Tode erschrockenen älteren Mann mitten ins Gesicht. Offenbar hatte er noch keinen blinden Passagier gesehen. Ich stellte mich deshalb vor, stieg aus der Kiste und bot ihm die Hand. Da kam er wieder zu sich, kreischte irgend etwas in einer mir fremden Sprache und packte mich am Kragen. .Sachte, sachte’, riet ich ihm, .kannst du nicht ein bißchen Deutsch?’ ,Ach, ein Deutscher willst du sein. Na, das werden wir schon feststellen. Marsch, zum Käptn.’ Der war zwar etwas friedlicher, über mein Auftauchen aber auch nicht erbaut. Eine halbe Stunde lang fluchte er auf
dänisch, englisch, französisch und deutsch auf mich ein, lief in der kleinen Kajüte hin und her und machte nicht selten Miene, mir ein paar hinter die Ohren zu hauen. Dann war es wohl mit seinem Kraut zu Ende. Der Jüngste war er ja auch nicht mehr. Er setzte sich, ich mußte mich auch setzen, und dann haben wir uns unterhalten. Ich legte ihm meine Brieftasche auf den Tisch, darin waren die Briefe meiner Mutter, ihr Bild und das Photo, auf dem Onkel Max zu sehen ist. Dann mußte ich erzählen, drei Stunden lang. Danach ging er hinaus und kam mit einem großen Glas Milch und einem Teller voll Kuchen zurück. ,Na, dann iß erst mal was. Scheint ja so einigermaßen zu stimmen, was du da erzählst. Kann beinahe so gewesen sein, beinahe, sage ich.’ Er ließ mich in Ruhe essen und trinken. Als ich fertig war, bot er mir eine Zigarette an, die ich selbstverständlich nahm, und er sagte: ,Was machen wir nun mit dir? Glück hast du, daß du kein Amerikaner bist — oder zu sein seheinst. Sonst müßten wir dich nämlich zurückschaffen oder dem nächsten amerikanischen Schiff übergeben.’ ,Was denn?’ fragte ich entsetzt. ,So etwas würden Sie tun?’ .Selbstverständlich’, sagte der Kapitän todernst. ,Das heißt, wir würden das natürlich sehr ernsthaft prüfen.’ Und dann lächelte er bis in die letzten Falten seines zerfurchten, braunen Gesichts hinein. ,Ja, und so müßten wir dich eigentlich woanders abliefern. Vielleicht in Hamburg, was?’ Ich überlegte. Hamburg? Ganz schön, aber da waren die Engländer, und die würden eventuell den Amerikanern einen Gefallen tun wollen. Und dann — Arbeit gab’s da wohl auch nicht. Was sollte ich also in Hamburg? Da kam ich vom Regen in die Traufe. Ich fragte: .Sagen Sie mal, warum wollen Sie
mir eigentlich helfen? Denn daß Sie mir wirklich helfen wollen, habe ich schon gemerkt.’ Da machte der Kapitän wieder ein sehr finsteres Gesicht. .Quatsch, ich dir helfen. Den Teufel würde ich tun und blinden Passagieren helfen. Die hat sowieso nur der Böse erfunden, und sie machen uns nur Scherereien.’ Er schwieg eine Zeitlang und blickte auf dia gegenüberliegende Wand. ,Ja, und dann sieh mal dahin.’ Dort hing ein kleines Bild, das Bild eines jungen Mannes. ,Das war meiner, Thomas. Wäre heute wohl etwa so alt wie du, vielleicht ein Jahr älter. Ist im Krieg geblieben, in diesem verfluchten Krieg.’ Er stand auf und legte mir die Hand auf die Schulter: ,Du hast Glück, Thomas. Wir reisen von hier nach Amsterdam, von dort nach Rostock und —’ ,Rostock!’ schrie ich, ,Rostock ist gut. Das wäre das Richtige für mich. Das ist nicht weit von Berlin, na, vielleicht ist es auch sonst gut für mich.’ ,Es wird wirklich gut für dich sein, Thomas’, sagte der Kapitän. ,ln Rostock gibt es viel Arbeit. Da werden Schiffe gebaut, da wird der Hafen vergrößert und modernisiert, da wird die Stadt aufgebaut, Ein guter Handwerker hat dort sein Leben lang zu tun.’ ,Gut, sagen wir Rostock.’ ,Ja, bis dahin wirst du dich aber auch hier nützlich machen müssen, Glaube nicht, daß wir dich umsonst durchfüttern.’ ,Ich will ja, ich will’, sagte ich glücklich. ,Und in Rostock meldest du dich zuerst bei der Polizei. Klar?’ Ich dachte kurz nach. ,Na ja, muß wohl sein. Mir kann’s recht sein. Nur nicht zurück zum Frühstück mit dem Herrn Oberleutnant und auch nicht zurück zu Onkel Max. Ei, da fällt mir ein, die Lebensmittelpakete habe ich nun doch nicht mitgebracht.’ ,Auch gut’, lächelte der Kapitän, ,zur Not kannst du noch von
uns was bekommen, wenn du hier auf dem Schiff genug verdient hast. Und dann machst du ein nettes, kleines Päckchen für deine Mutter,’ Ja, Freund, siehst du, so bin ich denn hierher nach Rostock gekommen. Der alte Kapitän hat wirklich recht gehabt. Arbeit gibt’s hier — kaum zu schaffen, sage ich dir. Natürlich bin ich auch in Berlin gewesen und habe mit Muttern gesprochen. Aber zum Wedding konnte ich ja nicht mehr. Wer weiß, wie die da mit einem Menschen umspringen, den man in den Staaten Deserteur nennt. Was verstehen die davon, wie man ,drüben’ zur Armee kommen kann? Ich sage bloß: wie der Fuchs zum Karnickelfell. Nee, nee, ich bleibe hübsch in Rostock. Habe gute Arbeit und guten Lohn, und bald lasse ich Mutter nachkommen. Manchmal habe ich aber doch ein bißchen Sehnsucht, — nein, nicht nach den Staaten oder gar nach dem Delaware. Aber nach Balthasar und seinen Freunden, die mir so wundervoll geholfen haben. Und wenn ich drüber nachdenke, woran das wohl liegen kann, daß sich diese Kerle um einen kümmerten, der sie doch eigentlich gar nichts anging, dann muß ich an das denken, was Balthasar mir mal sagte: ,Eines Tages wird es keine Derricks mehr geben, und weiße und schwarze Menschen werden in Frieden miteinander leben.’ So wird es sein. Denn die Farbe ist nicht das Wichtigste. Das Wichtige ist ganz etwas anderes: der Grips im Kopf und das Herz in der Brust» was? Ist doch wahr -!’