Franco Solo
Ein Don steigt aus
s&c by ab
Don Salvatore, der Boß der sizilianischen Unterwelt, ist in Ungnade gefallen...
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Franco Solo
Ein Don steigt aus
s&c by ab
Don Salvatore, der Boß der sizilianischen Unterwelt, ist in Ungnade gefallen. Man jagt ihn, und die erbarmungslose Jagd führt von seinem Gutshof auf Sizilien bis nach Mittelamerika. Killer sind auf ihn angesetzt, denn er hat zu viele Fehler begangen, die die »Ehrenwerte Gesellschaft« in Schwierigkeiten gebracht haben. Und ein Nachfolger für den Don steht schon bereit. Aber die Jäger haben sich verrechnet. Don Salvatore, der Gejagte, bricht das Gesetz der Ornerta, die Schweigepflicht. Und plötzlich merken seine Gegner, plötzlich bekommen sie zu spüren, daß er noch lange nicht erledigt ist. COUNTER MOB schickt Franco Solo, damit er sich in den Machtkampf einmischt, damit er die Zwistigkeiten unter den Bossen der Mafia ausnützt, um sie zu stürzen. Aber so günstig anfangs auch alles aussieht – so gefährlich wird der Auftrag für Franco Solo, denn auf den Mafiajäger lauert überall der Tod. Verlag: Pabel Erscheinungsjahr: 1979
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Eine Front aus mattweißem, makellosem Marmor baute sich vor dem schwarzen Labradorit-Pferd auf; es war das Bataillon des Gegners, geführt von Offizieren, taktisch im exakt abgegrenzten Gelände verteilt, flankiert von den zwei Türmen der mächtigen Bastion. Das schwarze Roß wagte den Sprung über die feindliche Barriere hinweg, strauchelte jedoch und stürzte. Der Sturm des Gefechts fegte es fort. Auch der schwarze Bauer, der sich eilig in die entstandene Bresche zwängte, war zum Untergang verdammt. Jäh von einem schlanken weißen Läufer attackiert, fiel auch er. Der Angriff war gescheitert, ein Kommando aufgerieben. Die weiße Armee rückte unaufhaltsam vor. Schwarze Bauern fielen, eine Lücke klaffte, schwarze Offiziere traf es, einen nach dem anderen. Bis schließlich auch die Königin sich nicht mehr vor den König stellen und ihn mit ihrem Leib schützen konnte. Sie mußte weichen. Dem »Re Nero«, dem schwarzen König, blieb nur noch die Wahl zwischen Kapitulation und Tod. »Es ist das Ende«, sagte Salvatore La Forgia. »Ja, Sie sind schachmatt, Signore«, erwiderte Augusto. »Weiß siegt.« »Das ist eher ein Glücksfall, würde ich sagen …« »Aber der Gegner befindet sich auch in den eigenen Reihen.« »Don Salvatore – wie meinen Sie das?« fragte Augusto entgeistert. »Ich meine damit nur, daß ich mich nicht geschlagen gebe.« »Sie fordern … Revanche?« »Ja. Revanche. Aber nicht sofort. Später«, murmelte Don Salvatore La Forgia. Tod dem König, dachte er, keiner wird aufgespart, es hat keinen Zweck, sich falsche Hoffnungen zu machen … Der »Re« regierte patriarchalisch über ein Heer von Untergebenen; von wichtigen Verbündeten, willfährigen 2
Handlangern, Exekutoren, Zuträgern. Jeder von ihnen mußte seinen Platz eines Tages einem jüngeren, besseren Mann überlassen, und nur selten gab es ein Gnadenbrot. Die alte Garde mußte der neuen weichen. Wer Unfähigkeit bewies, wurde im Räderwerk zermahlen. Dies war die Entwicklung, gegen die auch ein »Re Nero« nicht immun war. Eine bittere Konsequenz, die am Ende einer steilen Laufbahn in der »Malavita Siciliana« stand. Einmal, vor über einem Jahr, hatten sie ihm nahegelegt, seinen Platz zu räumen und sich nur noch seiner »Tenuta«, dem Olivenöl, dem Wein und den Früchten zu widmen. Aber er hatte weder den »Consiglio« noch die »Commissione« verlassen, und dies war sein erster großer Fehler gewesen. Was im Anschluß daran geschehen war, hatten die anderen ihm nie verziehen. Sie hatten sich merklich von ihm distanziert. Nun war der Augenblick gekommen, in dem ihm die Rechnung präsentiert wurde. Er hatte ihr Gnadenbrot nicht gewollt. Er hatte sie herausgefordert und wußte genau, daß er damit praktisch sein Todesurteil unterschrieben hatte – aber genau darauf wollte er es ja anlegen. Es war eine Beleidigung für ihn, daß sie ihn für alt und verbraucht hielten, und ihn zum alten Eisen zählten. Don Salvatore räumte die letzten schwarzen Figuren, die ihm geblieben waren, vom Schachbrett – bis auf den König. Erhaben stand er da, der Gekrönte, schien der weißen Königin in das haßvoll verkniffene Gesicht zu blicken … Was war das? Eine lächerliche Parabel, die er hier aufstellte, um sich selbst zu überzeugen? Fast ärgerlich erhob sich Don Salvatore. »Danke, Augusto«, sagte er. »Für heute genügt mir die eine Partie.« Augusto war der Maggiordomo, von Don Salvatore La Forgia in einer Person. Da er schon seit fast zwanzig Jahren auf dem Gutshof seine Arbeit versah, galt er als der »gute Geist« des 3
Hauses. Ein Titel, den ihm die Freunde und Bekannten La Forgias verliehen hatten, den Don Salvatore selbst und das übrige Personal ihm gegenüber jedoch nicht ohne Vorbehalte angewandt hätten. Hinter seiner übertriebenen Unterwürfigkeit verbarg sich ein tüchtiges Maß an Verschlagenheit … Augusto stand ebenfalls auf und trat hinter dem flachen Marmortischchen mit dem darin eingelassenen Schachbrett hervor. Seine Bewegungen waren etwas linkisch und umständlich, er wirkte in seinem Gebaren wie das Relikt einer längst vergessenen Zeit. »Verzeihen Sie, Signore, wenn ich Sie jetzt verärgert habe«, sagte er. »Weil ich verloren habe? Aber Augusto, ich bitte dich.« »Darf ich ehrlich zu Ihnen sprechen?« »Bitte.« La Forgia wandte ihm das Gesicht zu und musterte ihn aufmerksam. »Ich habe den Eindruck, Sie sind heute nicht in Form, Don Salvatore.« »Ich bin in miserabler Form.« »Aber Sie waren immer ein Sieger, der nicht mit Spott auf seinen Gegner herabsah. Sie sollten Ihre Niederlage jetzt eigentlich mit der gleichen Souveränität tragen.« »Das tue ich, Augusto. Wütend wäre ich geworden, wenn du mich absichtlich hättest gewinnen lassen. Es war eine gute Partie, und es ist schließlich meine eigene Schuld, wenn ich mit den Gedanken woanders war.« »Fühlen Sie sich nicht wohl, Signore?« »Es geht mir ausgezeichnet.« »Entschuldigen Sie, wenn ich danach frage.« »Du sollst dich nicht dauernd entschuldigen, Augusto«, sagte La Forgia, dem die devote Art seines Maggiordomos allmählich auf die Nerven ging. Er trat an das große Fenster im Soggiorno 4
des Herrenhauses, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah ins Freie. Er wollte Augusto zum Verlassen des Raumes auffordern, zögerte dann aber, weil er in diesem Moment den weißen Wagen sah, der sich über den gekiesten Weg dem Haupthaus des Poderes näherte. Es wurde an die Tür geklopft, und Augusto ging, um sie zu öffnen. Unter dem Rahmen erschien Roberta, die Hausdame, die aus Emilia-Romagna stammte und seit fünf Jahren ihren Dienst bei Don Salvatore versah. »Der Pförtner hat eben angerufen«, sagte sie. »Signora Pandolfi ist eingetroffen. Der Pförtner hat sie passieren lassen, weil sie ihm gesagt haben, daß die Signora eine Verabredung mit Ihnen hat.« »Das ist richtig. Augusto, geh nach draußen und sage ihr, daß ich sofort komme.« Augusto deutete eine Verbeugung zu La Forgia hin an, drehte sich um und verschwand aus dem Soggiorno. Roberta hob überrascht die Augenbrauen und sagte: »Wie, Sie lassen die Dame draußen warten, Signore?« »Ist Ihnen das nicht recht?« »Es geht mich ja nichts an, aber ich meinte nur, es ist nicht besonders höflich.« »Maria Rosaria Pandolfi ist eine moderne Frau«, entgegnete Don Salvatore, und er lächelte plötzlich. »Sie stammt aus dem Süden, aber sie ist im Norden aufgewachsen und dort erzogen worden. Sie sollten doch eigentlich am besten wissen, daß die Form in den nördlichen Regionen Italiens heute nur noch wenig bedeutet, Roberta. Aber Sie haben es schon richtig ausgedrückt: Es geht sie nichts an.« Er trat dicht vor die Frau hin. »Wissen Sie was, mía cara? Ich habe eben eine Partie Schach gegen Augusto verloren. Das ist mir seit fast zehn Jahren nicht mehr passiert. Ich glaube, ich brauche Entspannung, um meine 5
alte Kondition wiederzuerlangen. Diese Entspannung werde ich mir verschaffen, glauben Sie es mir.« Er ließ sie stehen und wußte, wie mißgünstig und eifersüchtig sie ihm nachblickte. Ihr Hinweis auf die Höflichkeitsgebote einer Frau gegenüber war nur eine Floskel gewesen. Am liebsten wäre sie zu Maria Rosaria Pandolfi gegangen und hätte ihr die Augen ausgekratzt. Bis vor kurzem hatte Roberta Marazzi sich einige Hoffnungen gemacht, Don Salvatore würde sich ernsthaft in sie verlieben und sie heiraten. Aber das hatte sich als eine bittere Enttäuschung herausgestellt. Don Salvatore verließ das Haus und schritt die breite Treppe hinab, die vom säulengezierten Eingang auf den Vorplatz hinabführte. Er war ein großer, beinah wuchtig gebauter Mann mit grauweißem Haar und einem etwas kantigen Gesicht, dessen dunkle Augen nie mitlachten, wenn der Mund sich zu einem belustigten Ausdruck verzog. Das weiße Fiat-1600-Sport-Coupe parkte mit geöffnetem Schlag vor der Treppe; soeben stieg die Besucherin aus. Augusto hatte ihr Don Salvatores Mitteilung überbracht, jetzt schritt er in Richtung auf die Garagen davon. Maria Rosaria Pandolfi ging auf La Forgia zu, umarmte ihn und küßte ihn auf den Mund. Er wußte von ihr, daß sie über dreißig Jahre alt war, daß ihre kinderlose Ehe vor zwei Jahren geschieden worden war, und daß ihr Leben alles andere als rosig verlaufen war. Trotzdem war sie immer noch eine atemberaubend schöne Frau; die Schicksalsschläge hatten kaum Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. »Endlich«, sagte sie. »Du kannst dir kaum vorstellen, wie ich diesen Zeitpunkt herbeigesehnt habe. Wir haben uns seit Wochen nicht mehr gesehen. Mein Gott, diese vierzehn Tage kamen mir vor wie eine Ewigkeit.« »Maria Rosaria – laß uns deinen Wagen nehmen und ein Stück in den Olivenhain hinausfahren.« 6
Sie lächelte ihn an. »Himmel, was hast du denn mit mir vor?« »Ich will mit dir sprechen können.« »Geht das denn nicht im Haus?« Sanft antwortete er: »Ich dachte, du hättest gegen eine kleine Spazierfahrt nichts einzuwenden.« »Das nicht. Aber ich sehe es deinem Gesicht an, daß du noch einen anderen Grund dafür hast, dich vom Haus fern zu halten.« »Ja.« »Du bist so ernst …« »Ich fürchte, man könnte uns belauschen.« »Hier?« »Ich kann hier keinem mehr trauen. Keinem Menschen außer dir«, sagte er. *
Man hätte die beiden deutschen Schäferhunde für ausgestopft halten können, so reglos lagen sie da. Ihr Atem ging flach und kaum wahrnehmbar. Die Brustpartie der Tiere schien sich überhaupt nicht zu bewegen. Alfredo Cancogni beugte sich tief über sie und überzeugte sich davon, daß sie noch lebten. Dann verließ er das Gebüsch, in das er die bewußtlosen Vierbeiner gezerrt hatte. »Schöne Tiere sind das«, sagte er zu Luigi Santanastaso. »Die würden auf einer Ausstellung garantiert Preise kriegen.« Santanastaso, der »Gigi« genannt wurde, blickte seinen Begleiter skeptisch an. »Klar, die haben Stammbaum und werden bestens gepflegt. Sag mal, bist du auch sicher, daß sie vorläufig nicht wieder aufwachen?« »Ja. Sie schlafen mindestens drei, vier Stunden, und wir haben 7
Zeit genug, unseren Job zu erledigen.« »Dieses Spray scheint ja ein Teufelszeug zu sein.« »Die Wirkung ist sagenhaft, aber man muß dicht genug an die Tiere herankommen. Das ist die einzige Schwierigkeit.« »Also, ohne einen Helfer im Gutshaus hätten wir das nicht geschafft«, erwiderte Santanastaso. »Wir hätten uns was anderes einfallen lassen müssen. Aber was ist, wenn der Don sein Anwesen nicht mehr verläßt?« Cancogni grinste. »Zerbrich dir doch darüber jetzt nicht mehr den Kopf. Wir sind durch den Zaun geschlüpft, haben die vierbeinigen Wächter ausgeschaltet – die Zusammenarbeit klappt hervorragend. Und wir halten ja auch weiterhin Kontakt für den Fall, daß sich Neuigkeiten ergeben.« Er zog das WalkieTalkie, das er aus dem Wagen mitgebracht hatte, ein Stück unter seiner Velourlederjacke hervor und versenkte es dann wieder in der Ausbuchtung seiner Kleidung. Mit diesem Gerät konnte man im Umkreis von vier bis fünf Kilometern problemlos mit jedem Partner sprechen, vorausgesetzt, er verfügte über das Gegenstück der Wechselsprechanlage. Der Verbündete von Cancogni und Santanastaso besaß diesen kleinen Apparat mit der langen Teleskopantenne. Er konnte sich mit den beiden absprechen, ohne um sein Alibi bangen müssen. »Hör mal«, sagte Gigi Santanastaso. »Sind die Hunde auch ganz bestimmt nicht verletzt?« »Nicht im geringsten.« »Und dieses Betäubungsspray ist nicht irgendwie giftig?« »Nein.« »Wenn sie also wieder zu sich kommen, sind sie so normal wie vorher?« »So wie einer, der aus der Narkose aufwacht. Sag’ mal, warum machst du dir eigentlich so große Sorgen um die Biester?« 8
»Ich hab nun mal was für Tiere übrig«, gab Santanastaso zurück. »Für Hunde ganz besonders.« »Auch wenn sie beißen?« »Ich bin schon mal gebissen worden.« Cancogni lachte leise. »Na ja, dann kann ich verstehen, daß du bei aller Tierliebe einen heiligen Respekt vor den beiden Burschen hier hast. Den Dompteur würdest du garantiert nicht spielen.« »Nein. Es geht mir nur darum, daß die Hunde an der Dosis, die sie verpaßt gekriegt haben, nicht kaputtgehen.« »Da kannst du beruhigt sein. Übrigens ist das verdammt komisch, Gigi.« »Was denn?« »Daß ausgerechnet du ein Herz für Tiere hast.« Santanastasos Augen verengten sich, als er darauf antwortete. »Die sind aufrichtiger als Menschen. Entweder mögen sie dich oder sie zeigen dir ganz klar, daß sie dich nicht ausstehen können. Sie legen dich nicht ’rein, sind treu und froh, wenn sie was zu fressen kriegen.« Sie schritten nebeneinander her und blickten sich aufmerksam nach allen Seiten um. Noch schützte sie die Buschlandschaft, die sich in diesem Bereich des Poderes an die Einfriedigung schmiegte, vor der Beobachtung durch unerwünschte Dritte. Bald aber begann der eigentliche Olivenhain. Dort gab es außer den knorrigen Ölbäumen nur kurzgemähtes Gras, folglich außer den Baumstämmen keine Versteckmöglichkeiten mehr. Den Olivenhain, der mehrere Hektar Land einnahm, mußten Cancogni und Santanastaso auf dem Weg zu den Hauptgebäuden des großen Anwesens durchqueren. Es gab keinen anderen Weg, um sich an das Gutshaus heranzupirschen, um den Don zu überwältigen und zu entführen … »Außerdem kann man ihnen seinen Willen aufzwingen und 9
ihnen befehlen, was sie zu tun haben«, sagte Cancogni nach einer Weile. »Wem?« »Den Tieren. Sie rebellieren nicht.« »Eben. Hörst du jetzt mit dem Thema auf?« »Ja. Ich habe nur gerade festgestellt, welches der feine Unterschied zwischen einem Mann wie De Crescenzo und einem deutschen Schäferhund ist.« »Du spinnst ja«, erwiderte Gigi. »De Crescenzo ist kein Untergebener, der sich auflehnt; er hat die gesamte Commissione hinter sich, die ihm den Auftrag gegeben hat. Das ist ganz was anderes.« »Und wir müssen die Dreckarbeit erledigen.« »Werden wir nicht gut genug dafür bezahlt?« »Ja«, entgegnete Alfredo. »Wir tragen aber auch das größte Risiko. Ich weiß, ich weiß, es ist zu spät, um noch auszusteigen, und das will ich auch gar nicht. Ich treffe nur so meine Feststellungen.« Er unterbrach sich, denn das Walkie-Talkie gab einen Summton von sich. Er zog es aus der Lederjacke hervor, verlängerte die Antenne und kauerte sich hin. Gigi hockte sich neben ihn. Noch hatten sie die Buschregion nicht verlassen, noch konnten sie sicher sein, von niemand entdeckt zu werden. Alfredo drückte auf die Sprechtaste, sagte ein Kennwort und dann »Passo«, was dem englischen »Over« entsprach. Die Stimme in dem kleinen Lautsprecher des Gerätes kratzte ein wenig, war aber ausgezeichnet zu verstehen, etwa so, als stünde der Partner nur ein paar Meter entfernt von ihnen. »Don Salvatore hat das Haus verlassen«, sagte die Stimme. »Mit einem weißen Fiat 1600 Coupé der von seiner neuesten Geliebten gesteuert wird. Sie sind in Richtung Olivenhain unterwegs und werden aller Wahrscheinlichkeit nach den Pavillon aufsuchen, dessen Lage ihr ja kennt. Passo.« 10
»Warum ausgerechnet den Pavillon?« fragte Gigi. »Passo.« »Don Salvatore hat ihn extra dafür restaurieren lassen.« »Für Rendezvous?« »Ja, dafür. Genügt das?« »Allerdings«, gab Gigi zurück. »Und ich finde, das alles trifft sich sehr, sehr gut. Das einzige Problem ist: Was machen wir mit der Frau? Wie heißt sie? Passo.« »Maria Rosaria Pandolfi. Ihr habt doch euren klaren Auftrag. Passo.« »Wir sollen uns den Don schnappen und sonst keinen«, sagte nun wieder Alfredo in das Mikrofon des Walkie-Talkies. »Achtung«, raunte Gigi ihm zu. »Ich sehe einen weißen Wagen auftauchen. Er rollt auf dem Kiesweg zwischen den Bäumen und scheint tatsächlich den Pavillon anzusteuern.« »Wir können uns durch das Gebüsch bis dicht an den Pavillon heranschleichen«, sagte Alfredo Cancogni in das Mikrofon. »Spätestens in einer halben Stunde ist es dunkel. Der Rest ist fast ein Kinderspiel. Aber was machen wir mit der Frau? Passo.« »Macht doch von mir aus mit ihr, was ihr wollt«, antwortete die Stimme. »Ende der Durchsage.« Es knackte im Lautsprecher des Gerätes, und dann war nur noch ein feines Rauschen zu vernehmen. Alfredo schob die Teleskopantenne zusammen und stopfte sich das Walkie-Talkie wieder unter die Jacke, nachdem er es ausgeschaltet hatte. Dann schloß er sich Gigi an und sie schlüpften ins Dickicht zu ihrer Rechten, ehe der weiße Fiat allzu nahe an sie heran war. * 11
Ein zerknittertes Gesicht streckte sich dem Besucher aus der Pförtnerloge am Tor des Anwesens entgegen, und eine brüchige, ziemlich hohe Stimme, die vortrefflich zu diesem Gesicht paßte, fragte: »Wer sind Sie, und was haben Sie hier verloren?« »Ich bin schon freundlicher begrüßt worden«, erwiderte Franco Solo. Er hatte seinen Wagen, einen überholungsbedürftigen Alfasud, vor dem großen schmiedeisernen Tor gestoppt und war gerade ausgestiegen. Er beugte sich etwas vor, um den Mann in dem Häuschen genau erkennen zu können. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne blendete ihn, aber er sah trotzdem genug von dieser faltigen Physiognomie, um festzustellen, daß er einen völlig humorlosen Menschen um die Sechzig vor sich hatte. »Aber das sollte unsere gerade erst begonnene Freundschaft nicht gleich kaputtmachen«, fuhr Franco in seinem akzentfreien Italienisch fort. »Mein Name ist Franco Giuliani. Zu Ihrer zweiten Frage, mein Freund: Ich habe hier absolut nichts gefunden. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihren Posten übernähme?« Der alte Mensch fuhr merklich zusammen. »Sie? Aber das …« »Nun mal ehrlich, würden Sie etwa einem bewaffneten Überfall standhalten?« erkundigte Franco sich. »Glauben Sie, daß Sie dem wirklich gewachsen wären?« »Don Salvatore braucht keinen Leibwächter«, sagte der Mann in dem Pförtnerhäuschen. »In diesem Park hier laufen Hunde herum, die jeden ungebetenen Gast anfallen und zerreißen. Und jetzt verschwinden Sie, bevor ich die Geduld verliere.« »Ich heiße Franco Giuliani.« »Das haben Sie schon mal gesagt, amico mio.« »Ich bin hier angemeldet …« »Davon hat mir keiner was gesagt.« 12
»Augenblick.« Franco war ernst geworden. »Spaß beiseite, ich habe mich um den Posten beworben, der angeblich in der Fattoria frei wird und zwar bin ich der Mann, der die Gartenarbeiten übernehmen soll.« »Gartenarbeiten?« Der Alte kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und musterte Franco von oben bis unten. »Richtig, unser Gärtner Flavio hat gekündigt, soviel ich weiß. Er geht in den nächsten Tagen weg und soll vorher jemand Neues einarbeiten.« »Der Jemand bin ich.« »Aber mir liegt nichts vor.« »Das muß ein Irrtum sein, oder besser eine Unterlassung.« »Wer schickt Sie eigentlich?« wollte der alte Mann wissen. »Das ›Ufficio di Collocamento‹ von Ragusa«, antwortete Franco wahrheitsgemäß. »Der Beamte, mit dem ich dort geredet habe, hat mit der Fattoria telefoniert.« »Das ist ja ein Witz …« »Ich schlage vor, Sie rufen mal drüben im Gutshaus an.« »Ja, das werde ich jetzt auch«, erwiderte der Alte. Er griff zum Telefon, wählte eine zweistellige Nummer, bekam Verbindung, sprach mit jemand und hob besonders die Worte »Stellenvermittlungsbüro in Ragusa« und »Gärtner« und »Giuliani« hervor. Der Pförtner nickte zweimal, legte auf, verließ sein Häuschen und öffnete das Tor per Hand. »Folgen Sie dem Kiesweg, Giuliani«, sagte er. »Halten Sie unterwegs nicht und steigen Sie, falls Sie aus irgendeinem Grund doch stoppen müssen, auf gar keinen Fall aus.« »Wegen der Hunde?« »Ja. Nach zwei Kilometern Strecke erreichen Sie die Hauptgebäude. Fragen Sie nach dem Maggiordomo Augusto. Signora Roberta, die Hausdame von Don Salvatore, hat mir eben 13
mitgeteilt, daß sie über Ihr Eintreffen Bescheid weiß. Sie hat bloß vergessen, das an mich weiterzugeben. Tut mir leid.« Er verzog keine Miene, während er das sagte. »In Ordnung und schönen Dank«, entgegnete Franco. Dann setzte er sich hinter das Steuer seines etwas ramponierten Alfasuds und fuhr an. Unterwegs hielt er nach den Hunden Ausschau, von denen der alte Mann gesprochen hatte. Er konnte sie aber nicht entdecken. Auf dem Weg zu den Hauptgebäuden des Poderes begegnete er außer einem entsetzt davonhastenden Rebhuhn, das sich auf den Weg verirrt hatte, niemand. Die gepflegte Umgebung mit ihren Zypressen und Pinien, ihren Ölbäumen, flachen Hecken und wilden Rosen vermittelte Ruhe und Frieden, die offenbar durch nichts gestört werden konnten. Aber hinter dieser Fassade schwelte es, und eine Bombe konnte jeden Moment hochgehen. *
Ohne die enge Zusammenarbeit mit der Criminalpol in Rom und den anderen italienischen Polizeibehörden hätte Franco Solo nicht in die Rolle des Franco Giuliani schlüpfen können. COUNTER MOB, wie Francos Dienststelle in Washington, D.C., abkürzend genannt wurde, konnte für ihren Agenten eine Persönlichkeit aufbauen, die ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten hatte. Aber für diesen Auftrag war es vonnöten gewesen, daß Franco das Image eines waschechten Italieners übernahm. Eines Mannes, dessen Identität von jedem x-beliebigen Mafioso jederzeit gründlich überprüft werden konnte, ohne daß dabei schwache Punkte entdeckt wurden, die Grund zum Argwohn lieferten. Nur die Criminalpol in Rom wußte, daß der COUNTER 14
SYNDICATED CRIME SERVICE, die geheime Außenstelle des Justice Departments in Washington, Franco Solos Auftraggeber war. Für die Pupplica Sicurezza, die Petura und die anderen Behörden, die beim Aufbau von Francos Rolle mitgewirkt hatten, war Franco einfach nur ein amerikanischer Spezialagent, der auf Sizilien einen Sondereinsatz mit Genehmigung des italienischen Innenministeriums durchführte. Franco Giuliani war ein Gelegenheitsarbeiter aus Matera in der Basilicata, den es vor einem Monat nach Ragusa verschlagen hatte, da er dort eine Freundin zu haben meinte. Das Mädchen, das Giuliani per Zufall in Matera kennengelernt hatte, hatte Ragusa in der Zwischenzeit verlassen, und so hatte Giuliani die Chance, ein paar vergnügte Tage auf Kosten der Signorina zu verbringen, gründlich verpaßt. Er hatte seinen Kummer im Wein ersäuft und Trost in einem Nachtlokal gesucht. Dort hatte man ihn gründlich ausgenommen, und er hatte ohne eine Lira für seine Rückfahrkarte und ohne Unterkunft dagestanden. Er hatte sich daraufhin beim Stellenvermittlungsbüro gemeldet, dort für zwei Wochen einen Job bei einer Tankstelle bekommen, hatte sich ein Zimmer genommen, war des Wagenwaschens dann jedoch überdrüssig geworden. Er hatte sich seinen Lohn auszahlen lassen, und das Zimmer für einen Monat bezahlt, weil er sich mit dem Vermieter günstiger nicht hatte einigen können. Später hatte er eine Fahrkarte nach Matera erstanden und sich in den nächsten Zug gesetzt, um Sizilien, die gastliche Insel, zu verlassen. Franco war in Giulianis Zimmer in Ragusa eingezogen. Er war so alt wie der echte Franco Giuliani, sah ihm überdies ähnlich, und ein Maskenbildner hatte nach Vorlage eines Fotos noch ein paar kleine Korrekturen vorgenommen, die Franco nun beinah zu einem Doppelgänger des echten Giulianis machten. Der Zimmervermieter in Ragusa würde jederzeit beschwören, daß es sich um den gleichen Mann handelte, dem er vor einem Monat das Zimmer überlassen hatte. Giuliani hatte es sich in 15
Matera anders überlegt, war doch wieder nach Ragusa zurückgekehrt … Dem echten Franco Giuliani hatte die Pretura einen gutbezahlten Job in der deutschsprachigen Schweiz verschafft. Giuliani hatte nicht lange gezögert, die Arbeit anzunehmen. Er hatte kaum Fragen gestellt, und seine Eltern, die in Matera lebten, waren nach einer kurzen Absprache mit dem Beamten der Pubblica Sicurezza gern bereit, jederzeit zu beschwören, daß ihr Sohn wieder nach Ragusa gefahren sei, um nach der mysteriösen Schönen zu suchen. Das Auto paßte zu Francos derzeitigem Persönlichkeitsbild. Tatsächlich hatte der echte Giuliani bei seinem zweiwöchentlichen Aufenthalt in Ragusa ein ähnliches Fahrzeug gemietet, sobald der Tankstellenbesitzer ihm einen Vorschuß genehmigt hatte. Er war Franco Giuliani, der sich einen größeren Luxus als diesen nicht leisten konnte – Giuliani, der dringend Arbeit brauchte, um sich über Wasser halten zu können. Wie gut, daß gerade jetzt in der »Tenuta La Forgia« eine Stelle frei wurde und daß die Signora Roberta Marazzi sich auf Don Salvatores Anordnung hin mit dem »Ufficio di Collocamento« in Verbindung gesetzt hatte. Wie gut auch, daß der echte Giuliani sich tatsächlich ein bißchen auf Gartenarbeit verstand … Don Salvatore, so wurde La Forgia auch in Ragusa genannt. Ein »Don« war immer ein Mann, dem man durch diese Anrede Respekt bezeugte. Der Tradition gemäß konnte er ein Großgrundbesitzer, ein Mann in einer einflußreichen Position oder aber auch ein Vertreter der Kirche sein. Einen Priester sprach man in fast ganz Italien mit dem Wörtchen Don und seinem Vornamen an. Don Salvatore. Franco hatte genug von ihm gehört, hatte ihn aber nie persönlich zu Gesicht bekommen. Heute abend sollte er diesem Mann, der seit dem Kriegsende maßgeblich am 16
Wiederaufbau der Mafia und an den großangelegten »Aktionen« der »Onorata Societa« beteiligt war, nun also endlich gegenübertreten. Franco hatte den entscheidenden Tip, der zu seinem Auftrag geführt hatte, selbst in Rom erhalten. Er hatte sich auf der Durchreise in der Stadt befunden, hatte sich bei einigen guten Bekannten in verschiedenen Angelegenheiten umgehört – und dann hatte er es erfahren. Don Salvatore La Forgia stand auf der Abschußliste der Mafia. Das Todesurteil war gegen ihn ausgesprochen worden, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis es vollstreckt wurde. Franco sollte es verhindern. Man hätte als Argument gegen seinen Einsatz vorbringen können, daß es COUNTER MOB, der Antimafia und der Criminalpol doch letztenendes egal sein konnte, wenn die Mafiosi sich untereinander umbrachten, mehr noch, es war zu begrüßen … Aber ein Mord blieb ein Mord, ganz gleich, wer das Opfer war. Außerdem war es nach den Informationen, die Franco in Rom erhalten hatte, durchaus denkbar, daß Don Salvatore La Forgia es unter den massiven Drohungen seiner einstigen Verbündeten und jetzigen Gegenspieler mit der Angst zu tun bekam, daß er wankelmütig wurde, umfiel, bereit zum Sprechen war. Damit hatte er seine Gegner einzuschüchtern versucht. Vor einem Jahr hatte man ihm »nahegelegt«, seinen Platz in der »Commissione« und im »Consiglio«, in der Kommission und im Rat der Mafia, aufzugeben. Er hatte sich geweigert. Man hatte ihm gedroht, und er hatte mit Gegendrohungen geantwortet. Als treibende Kraft schien hinter alledem Cesare De Crescenzo zu stecken, der einstige Schützling Don Salvatores. Don Salvatore, selbst kinderlos, hatte sich des jungen Mannes angenommen und ihn wie einen Sohn behandelt; und Cesare nannte ihn »Zio«, Onkel, obwohl sie nicht miteinander verwandt 17
waren. Ein Protegé eines Mafia-Bosses pflegte seinen Beschützer stets Onkel zu nennen, und ein Boß wie Don Salvatore, ein »Pezzo da Novanta«, übernahm gleichsam die Funktion eines »Padrino«, eines Paten. Cesare war zum mit allen Wassern gewaschenen Gangster avanciert. Er war Don Salvatores ganzer Stolz gewesen, aber vor gut elf Monaten war es zwischen den beiden zum offenen Bruch gekommen. Cesare hatte den Gutshof La Forgia verlassen. Don Salvatore hatte, so hieß es, sein Testament daraufhin unverzüglich geändert. Cesare De Crescenzo war in die Vereinigten Staaten übergesiedelt, war seit einiger Zeit jedoch von der Bildfläche verschwunden. Seine Kontakte zu Italien galten nach wie vor als hervorragend. Er war, wie Franco in Erfahrung gebracht hatte, Siziliens Mann im Ostküsten-Mob. Hier war der Anknüpfungspunkt und einer der Gründe, warum Franco den Einsatz in Sizilien durchführte. Weiter mußte Don Salvatore, falls er das Gesetz der Omerta brach und sprach, auch Daten über die amerikanische Mafia preisgeben. Er hatte eng mit ihr zusammengearbeitet. Wenn er redete, dann mußte Franco dafür sorgen, daß COUNTER MOB diese Information verwenden konnte, bevor der Mob Wind von der Angelegenheit bekam … Last not least hatten die Criminalpol und die Antimafia darauf verzichtet, italienische Beamte für die »Betreuung« Don Salvatores zu verwenden, obwohl es sich natürlich in erster Linie um eine inneritalienische Angelegenheit handelte. Franco hatte den entscheidenden Hinweis erhalten, und Franco war in der Gegend um Ragusa noch nicht bekannt. Er stellte ein »neues Gesicht« dar, das hier kein Mißtrauen erregen würde. Vor einiger Zeit hatte er zwar einen Auftrag in Messina abgewickelt, doch auch dort hatte er mit einem entsprechenden Deckmantel 18
gearbeitet; seine wahre Identität war letztlich nur dem bekanntgeworden, der in einem spektakulären Prozeß zum »Ergastolo«, zum lebenslänglichen Gefängnis, verurteilt worden war, ohne daß Franco bei der Verhandlung dabeigewesen war. Jener Don hatte aus seiner Zelle heraus keine Möglichkeit, Verbindung zu seinen »guten Freunden« zu halten – im übrigen hatten sich gerade diese Freunde von ihm abgewandt. Wer also jener Seldon Young war, der den Don hinter Gitter gebracht hatte, blieb in Sizilien unbekannt. Franco Solo war als Franco Giuliani vorübergehend italienischer Staatsbürger mit gültigen italienischen Ausweispapieren geworden und bei der »Societa« ein gänzlich unbeschriebenes Blatt. Franco war so tief in seine Gedanken verstrickt, daß er das Auftauchen der Gutsgebäude erst beim zweiten Hinsehen richtig wahrnahm. Es gab ein Gesindehaus, das gleichzeitig den »Fattore«, den Verwalter, zu beherbergen schien, Stallungen, einen »Frantoio«, die Ölmühle, eine Cantina für die Gewinnung und Aufbewahrung des Weines – aber aus alledem hob sich wie ein Juwel das Herrenhaus hervor; ein Bau der Spätrenaissance, der, wie Franco wußte, in den vergangenen Jahrhunderten dreimal renoviert worden war. Gut zwanzig hohe, mit Arabesken verzierte Fenster blickten auf den Ankömmling herab. Die Eingangstür, die mehr an ein Portal erinnerte, war säulengerahmt und überdacht, und eine breite marmorene Treppe verband sie mit dem Vorplatz, auf dem Franco seinen Alfasud nun stoppte. Er stieg aus und blickte sich um, dachte an die Warnung, die der Pförtner ausgesprochen hatte. Galt sie auch jetzt noch? Wo waren die Hunde? Wo steckte dieser Maggiordomo Augusto, der ihn in Empfang nehmen sollte? Francos Blick wanderte an der grau und weiß getünchten 19
Fassade des Herrenhauses entlang. Er bemerkte, wie sich eines der Fenster im Erdgeschoß öffnete, und sah ein Mädchen, das sich hinausbeugte und ihm zulächelte. Sie war ein hübsches Geschöpf mit unverkennbar provinziellem Einschlag; ihr Gesicht war etwas zu rund, ihr Kinn etwas zu weich, ihre Lippen zu üppig. Das schwarze Haar trug sie hochgesteckt. Ihrer Kleidung nach war sie zweifellos das Zimmermädchen. »Guten Tag«, sagte sie. »Guten Tag«, erwiderte er. »Ich soll mich an den Hausdiener wenden, aber ich nehme stark an, daß Sie das sind.« Sie lachte auf. »Nein, ich bin Assunta, die Cameriera von Don Salvatore.« »Machen Sie auch mein Zimmer?« »Das kommt drauf an, wo Sie wohnen.« »Dieser Mann ist kein Gast«, sagte eine ziemlich ärgerliche Stimme in Francos Rücken. »Er soll bei uns arbeiten, aber wir wissen noch nicht, ob er seiner Aufgabe überhaupt gewachsen ist. Assunta, schließen Sie bitte das Fenster.« Assunta zog sich zurück, konnte sich dabei aber eine Grimasse nicht verkneifen, die für den Sprecher hinter Franco bestimmt war. Franco wandte sich zu dem Mann um und betrachtete ihn. Der Mann war mittelgroß und untersetzt, und er hatte eine etwas seltsame, umständliche Art, sich zu bewegen. Seiner Miene war abzulesen, daß er Francos Art, einfach vor dem Herrenhaus aus dem Wagen zu steigen und einen flotten Dialog mit dem Zimmermädchen zu beginnen, als eine unerhörte Frechheit ansah. »Mein Name ist Augusto«, sagte er. »Kommen Sie, Guiliani, ich mache Sie mit Flavio, dem Gärtner, bekannt. Dann entscheiden wir, ob Sie diese Stelle übernehmen.« »Herzlich gern«, gab Franco zurück. 20
»Eigentlich wäre dies die Aufgabe des Verwalters, aber er ist heute nicht da, und darum habe ich diese Angelegenheit übernommen.« Ihr Gespräch verlief in unverhüllter Animosität, sie konnten sich von Anfang an nicht leiden. *
»Worüber willst du mit mir sprechen?« erkundigte sich Maria Rosaria. »Liebling, nun spann’ mich doch nicht so auf die Folter.« »Warte, bis wir im Pavillon sind«, erwiderte Don Salvatore. Er saß auf dem Beifahrerplatz des weißen Coupes und hatte den Arm auf die Rückenlehne ihres Sitzes gelegt. »Dort können wir etwas trinken und in Ruhe reden. Über alles.« »Im Pavillon?« Sie lächelte und warf ihm einen Seitenblick zu. »Als ich das erste Mal hierher kam, gabst du mir zu verstehen, daß das so eine Art Liebeslaube für dich ist. Ich war damals ziemlich konsterniert, weißt du noch?« ’ »Ja. Ich erinnere mich an jede Einzelheit unseres Gesprächs.« »Wieviele Frauen hast du dort eigentlich verführt?« »Ach, frag’ doch nicht.« »Entschuldige, wenn ich dir zu nahegetreten bin«, sagte sie. »Das ist es nicht. Ich bin zwar kein Engel und keuscher Einsiedler gewesen, aber du hast ein Anrecht darauf, alles über meine Vergangenheit zu erfahren. Nur – der Pavillon hat nichts Anrüchiges an sich, das kannst du mir glauben.« »Gut. Sind wir gleich da?« »Ja.« Er richtete sich plötzlich gerade auf und blickte sich um. »Findest du es nicht merkwürdig, daß die Hunde nirgends zu 21
sehen sind?« »Kommen sie dir sonst entgegen?« »Ja. Und sie laufen jedem fremden Wagen nach.« »Sie haben unsere Witterung eben nicht aufgenommen«, sagte Maria Rosaria leichthin. »Sie müßten das Motorengeräusch hören, ganz gleich, wo sie gerade sind«, entgegnete er. Seine Unruhe wuchs. »Halte doch bitte mal an, ja?« Sie trat sanft auf die Bremse, und er öffnete den rechten Schlag, nahm die Hand von ihrer Schulter, stieg aus und blickte sich wieder prüfend um. Sie dachte, er würde die Hunde rufen, aber das tat er nicht. Langsam entfernte er sich von dem Coupé. Maria Rosaria sah ihm nach und zog etwas befremdet die Augenbrauen hoch. Don Salvatore schritt auf das Dickicht zu und ließ seine Umgebung nicht aus den Augen. Die rechte Hand versenkte er in die Tasche seines leichten, ungefütterten Jacketts. Er betastete die Pistole, die er immer bei sich führte, und sie vermittelte ihm ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Das Gebüsch zog ihn irgendwie an, es war ein nicht genauer zu definierendes Gefühl. Er bückte sich, trennte mit den Händen die dichten, hier und da dornigen Zweige und Blätter und suchte den Untergrund ab. Er hatte sich immer wieder überlegt, wie er es wohl anstellen würde, wenn er heimlich ins Podere eindringen wollte. Unbewußt versetzte er sich in die Lage eines Eindringlings, und dies war das instinktive Empfinden, das ihn lenkte. Maria Rosaria Pandolfi hatte ihren weißen Wagen gewendet und fuhr jetzt ein Stück auf dem Kiesweg zurück, weil Don Salvatore sich in Richtung auf die Hauptgebäude zubewegte. Ein Stückchen weiter oben am Rand des Olivenhains trafen Straße und Dickicht zusammen. 22
Die Räder des Coupes knirschten verhalten auf dem Kies. Don Salvatore nahm einen Geruch wahr. Er wandte sich etwas nach links, und der Geruch drang stärker in seine Nase. Chloroform, dachte er und seine Bewegungen wurden schneller. Er arbeitete sich durch das Dickicht, zog die kleine Pistole aus der Jackettasche und entsicherte sie. Das metallische Schnappen des zurück- und wieder vorgleitenden Schlittens klang überlaut. Als er die Hunde sah, hielt er sie in seinem ersten Entsetzen für tot. Dann beugte er sich über sie. Der Geruch der chloroformähnlichen Substanz war jetzt aufdringlich, fast gemein. Don Salvatore untersuchte die Schäferhunde, die friedlich nebeneinanderlagen. Er stellte fest, daß ihre Herzen schlugen, und er fühlte ihren Puls. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie nicht verletzt waren, richtete er sich wieder auf und verließ das Gebüsch. Die Pistole steckte er sich wieder in die Tasche, ließ sie aber entsichert. Als er auf den Wagen zuschritt, spürte er ein eisiges Kribbeln im Nacken. Der oder die Kerle, die die Schäferhunde betäubt hatten, konnten irgendwo im Gebüsch stecken und mit einer Waffe auf ihn und die Frau zielen … Er ließ sich wieder neben ihr im Auto nieder. »Wir müssen hier weg«, sagte er etwas atemlos. »Fahr' zurück zu den Hauptgebäuden. Nein, warte. Am besten wendest du wieder, und dann fahren wir solange durch den Oliveto, bis es dunkel ist.« »Mein Gott, was ist denn bloß passiert?« fragte sie. Er sagte es ihr und fügte hinzu: »Man will mich entführen. Ich erhalte schon seit einiger Zeit Erpresserbriefe und anonyme Anrufe, mit denen man mich unter Druck setzen und zu Zahlungen zwingen will. Ich habe mich bislang geweigert, doch jetzt scheint es ernst zu werden. Die Verbrecher sind hier 23
eingedrungen.« Sie manövrierte mit fliegenden Fingern und fuhr dann etwas zu hastig an; die Räder drehten auf dem Kies durch. »Warum hast du mir nicht schon eher etwas davon gesagt?« stieß sie aus. »Dio mió, wir müssen etwas unternehmen, du schwebst in tödlicher Gefahr. Wir …« »Ich wollte dich nicht beunruhigen.« Er hielt die rechte Hand in der Jackettasche versenkt und blickte sich nach allen Seiten um. »Es war ein Fehler von mir, dich hierher kommen zu lassen.« »Nein. Du weißt, was ich für dich geben würde.« »Alles?« »Auch mein Leben …« »Das gleiche gilt für mich. Himmel, daß wir uns das jetzt und unter diesen Umständen sagen müssen!« »Das spielt doch keine Rolle«, erwiderte sie. »Salvatore, die Hauptsache ist jetzt, daß wir die Polizei verständigen.« »Ja. Im Pavillon gibt es leider kein Telefon. Ich habe die Leitung absichtlich nicht bis dorthin legen lassen«, sagte er. »Wir machen folgendes. Gleich nach Einbruch der Dunkelheit halten wir in der Nähe des Pavillons, und du schleichst dich hinein und versteckst dich dort, bis ich wiederkomme.« »Und du?« »Ich fahre mit dem Wagen zum Hof zurück und telefoniere mit der Polizei.« »Aber … du riskierst, diesen Gangstern in die Arme zu laufen! Laß mich mitfahren.« »Nein, auf gar keinen Fall. Ich könnte es niemals vor mir verantworten, wenn dir etwas zustieße. Für mich ist erst mal das Wichtigste, dich in Sicherheit zu wissen.« »Meine Güte, sagtest du vorhin nicht, daß du Angst hast, in deinen eigenen vier Wänden belauscht zu werden?« 24
»Ja. Es gibt einen Verräter – einen Kollaborateur dieser Kerle.« »Wer ist es?« »Ich weiß es nicht. Alle sind verdächtig. Alle, verstehst du?« »Ja. Aber du mußt ja befürchten, daß dieser … dieser gemeine Schuft dir eine Falle stellt, wenn du ins Haus zurückkehrst.« Er zog die Pistole aus der Tasche und zeigte sie ihr. »Ich kann mich schützen. Ich habe mir diese Waffe nach den ersten Anrufen und Briefen besorgt.« »Wie lange geht das alles schon, Salvatore?« »Seit etwa drei Wochen.« »Allmächtiger, du hättest schon eher etwas tun sollen. Warum hast du denn keinen Polizeischutz beantragt? Du mußtest doch damit rechnen, daß deine Bedroher es ernst meinen – bei den vielen Entführungen, die in Italien geschehen.« »Allerdings. Aber ich dachte, ich könnte mich so aus der Affäre ziehen.« »Das war nicht klug von dir.« »Ich sehe es jetzt ein.« Himmel, wie sollte er ihr denn die Wahrheit beibringen? Daß er selbst ein Entführer war, daß er alles tun würde, nur nicht die Polizei rufen – konnte er ihr das jemals irgendwie plausibel machen? Sie hatten sich vor Monaten kennengelernt, und zwar bei einer Buchmesse in Palermo, wo sie Bände signiert hatte und er als Ehrengast zugegen gewesen war. Sie war eine einfallsreiche, gewandte Schriftstellerin mit außerordentlich sensiblem Gemüt. Er hatte sich gewünscht, daß es nie etwas gäbe, was ihr Verhältnis in irgendeiner Weise stören würde. Konnte sie die volle Wahrheit jemals verkraften? Er stand vor der Entscheidung, ob er sich von ihr trennen oder sie zu seiner Verbündeten machen sollte. Eine Alternative gab es nicht. Denn jetzt hatte er selbst die Dinge auf die Spitze 25
getrieben, und es gab keine Kapitulation mehr, selbst wenn er sie wollte. Das Gnadenbrot hatte er sich verscherzt. Zu viele Fehler hatte er begangen. Man mußte sich seiner entledigen. Aber nein, nicht durch einen Schuß aus dem Hinterhalt, durch einen fingierten Unfall – Cesare und die anderen kannten raffiniertere Mittel. Wie wäre es denn beispielsweise mit einem Kidnapping durch ein paar gekaufte Leute von auswärts? Niemand würde auf die Forderungen der Entführer eingehen, es gab keinen Menschen außer Maria Rosaria, der auch nur tausend Lire für die Freilassung eines Don Salvatore gezahlt hätte. Aber Maria Rosaria besaß nur ein bescheidenes Kapital – keine Milliarden Lire. Töten würden die Entführer ihn also – und Cesare De Crescenzo und die anderen wuschen ihre Hände in Unschuld. Die Sonne ging umher, der weiße Fiat rollte ihrem weichen roten Licht entgegen. Noch wirkten die Wipfel der Ölbäurre wie in flüssiges Silber getaucht; ein reizvoller Kontrast zu dem Abendrot. In wenigen Minuten schwand das Farbenspiel jedoch. Die Schatten auf den gefurchten Hängen der gartenähnlichen Landschaft wurden länger und deckten alles zu. Schwarz war die Farbe des Todes, und der »Re Nero«, der schwarze König, stand allein auf verlorenem Feld.
* Flavio, der Gärtner, war höchstens zwei, drei Jahre älter als Franco Solo. Mit mürrischer Miene zeigte er dem Neuling den Park und den Obst- und Gemüsegarten der Tanuta, setzte ihm auseinander, was er hier zu tun hatte. »Aber es ist eine Knochenarbeit«, sagte er zum Abschluß mit 26
einem feindseligen Seitenblick auf Augusto. »Ein Mann allein kann das kaum schaffen, das sage ich dir, amico. Oder aber man müßte ihm einen guten Lohn zahlen, daß er auch noch sonnabends und Sonntag vormittags Ordnung in den Laden bringt und seinen Ehrgeiz dabei nicht verliert.« »Sie wissen genau, daß wir das hier nicht erörtern wollen, Flavio«, erwiderte der Maggiordomo gereizt. »Sobald der Verwalter aus Ragusa zurückgekehrt ist, kriegen Sie Ihren letzten Wochenlohn ausgezahlt, nehmen Ihre Papiere und gehen.« »Worauf Sie Gift nehmen können.« »Giuliani«, sagte Augusto mühsam beherrscht. »Der Lohn, beträgt anfangs achtzigtausend Lire pro Woche. Unterkunft und Verpflegung sind frei. Außerdem versteht es sich, daß Sie kranken- und unfallversichert sind. Wenn Sie sich bewähren, sträubt Don Salvatore sich gegen eine Lohnerhöhung nach Ablauf der Probezeit gewiß nicht – wenn Sie sich bewähren.« Diesmal war er es, der mit giftigen Blicken um sich warf. Flavio grinste aber nur dünn und ging nicht auf die Bemerkung ein. »Gut«, erwiderte Franco. »Ich bin mit allem einverstanden. Werde mir Mühe geben, den Ansprüchen gerecht zu werden. Wie lange dauert die Probezeit denn eigentlich?« »Zwei Monate«, gab Augusto zurück. »Ach, du lieber Himmel …« »Sie können es sich immer noch anders überlegen, wenn Sie wollen.« »Nein, nein«, sagte Franco. »Ich bin froh, daß ich Arbeit kriege.« Der Maggiordomo nickte und setzte eine herablassende Miene aui. »In Ordnung, dann stellen Sie Ihren Wagen jetzt hinter dem Dienstbotenhaus ab, Giuliani, holen sich Ihre Sachen aus dem Kofferraum und ziehen Sie in Flavios Zimmer ein. Wenn der 27
Verwalter wieder hier ist, erledigt er die restlichen Formalitäten mit Ihnen.« Nachdem der Mann gegangen war, grinsten Flavio und Franco sich zu. Sie schüttelten sich spontan die Hände, räumten zusammen die Gartengeräte fort und schlossen sie ein. Dann entfernte Franco sein unansehnliches Fortbewegungsmittel vom Hof, parkte hinter den Nebengebäuden, nahm seine einzige Tasche zur Hand und ließ sich von Flavio das Zimmer zeigen, das dieser nun verließ. »Das Bett ist noch unbezogen, aber Assunta wird sich wohl darum kümmern«, sagte Flavio. Er grinste wieder, diesmal breiter. »Du solltest dich gut mit ihr stellen, amico.« »Ja. Übrigens scheint sie diesen Augusto auch nicht leiden zu können.« »Keiner kann den riechen. Nur die Marazzi, diese penible alte Jungfrau, scheint recht gut mit ihm auszukommen.« »Und Don Salvatore?« »Dem ist der ganze Kram, der die Tenuta betrifft, egal.« »Er läßt Augusto, dem Fattore und den anderen freie Hand?« »Ja, seitdem Signor Cesare fort ist.« »Wer?« »Cesare, der Neffe des Alten. Er ist vor ungefähr einem Jahr abgehauen, weil sie nicht mehr miteinander auskamen. Seither läßt Don Salvatore den Laden einfach laufen«, sagte Flavio. Er war ein schlanker junger Mann mit perlweißen Zähnen und dunklem, gelocktem Haar. »Er scheint auch noch andere Probleme zu haben, Sachen, die mit diesem Gut nichts zu tun haben. Ich habe so meinen Verdacht, amico, aber ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Ich bin ein Narr, denn ich könnte deswegen mächtigen Ärger kriegen. Vergiß’ lieber, was ich dir gesagt habe.« »Ich kann schweigen«, versicherte Franco ihm. »Aber willst 28
du dich nicht genauer ausdrücken? Du meinst doch … hier ist irgendwas faul, oder?« Flavio sah aus dem Fenster, drehte sich wieder zu Franco um und entgegnete leise: »Ich meine nur, es würde mich nicht wundern, wenn man Don Salvatore eines Tages mit einem häßlichen Loch im Kopf irgendwo findet. Kapierst du jetzt?« »Ja.« Natürlich mußte Franco das verstehen. Jeder Süditaliener wußte, was es mit einem solchen Hinweis auf sich hatte. Gewöhnlich stellte er keine Fragen mehr, wenn die Rede auf Einschüsse und Mord kam. Flavio blickte erneut aus dem Fenster, und diesmal sah er einen Fiat 126, der auf den Hof rollte. »Vittorio, der Verwalter«, sagte er. »Also dann – mach’s gut, amico. Ich haue ab, weil die Arbeit hier nicht für mich geschaffen ist. Ich kann Vittorio ja sagen, daß du gleich zu ihm ’rüberkommst.« »Gut, danke.« Flavio ging. Franco stand am Fenster und blickte in die einsetzende Dunkelheit hinaus. Vittorio war ein stämmiger Mann mit breiten Schultern und gerötetem Gesicht. Er stieg jetzt aus dem Wagen und überquerte den Platz zwischen den Bauten. Kein Hundegebell. Keine Schäferhunde, die zu seiner Begrüßung herbeigelaufen kamen. Franco vernahm ein Geräusch in seinem Rücken und drehte sich um. Die ländliche Schönheit Assunta stand mit einem Packen gebügelter Bettwäsche unter der Haustür. Sie lächelte ihm auf ihre unnachahmliche Art zu. »Ich hoffe, wir werden uns gut verstehen«, sagte sie. »Freut mich, daß Sie bleiben – Franco. So heißen Sie doch, nicht wahr?« »Ja. Es ist ein Allerweltsname.« »Kommt ganz darauf an, wer ihn trägt.« Sie setzte sich in Bewegung und schritt so nah an ihm vorbei, daß ihre Schulter 29
seinen Arm berührte. Er sah ihr zu, wie sie das Bett herrichtete. Ihr Rock war an der Seite geschlitzt und klaffte immer dann, wenn sie sich bückte oder zur Seite beugte, weit auf und gab großzügig ihre obere Beinpartie frei. »Ich habe hier jetzt schon einige Leute kennengelernt, aber Sie sind mit Abstand die netteste Person«, sagte Franco. Es war ein ziemlich plumpes Kompliment, aber er fühlte sich nicht gerade in Topform. Zumal er die Annäherungsversuche von Assunta einfach zu aufdringlich fand. Trotzdem achtete er darauf, sie nicht zu verstimmen. »Nebenbei gesagt, ich habe Don Salvatore allerdings noch nicht gesehen.« Sie lachte. »Kennen Sie ihn?« »Nein, wieso?« »Na, er könnte Ihnen doch schon über den Weg gelaufen sein, ohne daß Sie gewußt haben, um wen es sich handelt.« »Ich habe nur Augusto, Flavio, den Verwalter und den Mann am Tor zu Gesicht bekommen. Don Salvatore stelle ich mir als einen alten Mann mit schlohweißem Haar vor.« Sie richtete sich auf und wandte sich zu ihm um. »Er ist bei weitem nicht so alt und gebrechlich, wie du annimmst, Franco.« Er ging auf das vertraulichere Du ein und antwortete: »O, ich wollte deinen Brötchengeber wirklich nicht beleidigen, Assunta.« »Ach, mir kann es egal sein, welches Urteil du dir über ihn bildest. Übrigens, er ist mit einer schönen Frau in den Olivengarten hinausgefahren.« »Jetzt?« »Weit draußen steht ein Pavillon. Kannst du dir etwas Romantischeres vorstellen?« Sie trat ganz dicht vor ihn hin und blickte ihm in die Augen. »Den ganzen Herbst über sind die Nächte im Süden Siziliens warm und trocken. Hat dich schon 30
jemand im Gut herumgeführt und dir gezeigt, wie ausgedehnt und malerisch schön dieser Besitz ist?« »Nein. Würdest du das übernehmen?« »Gern«, hauchte sie. Franco stand etwas unschlüssig da und ärgerte sich über Assuntas zu laszives Verhalten. Er dachte an Don Salvatore und an die Frau an dessen Seite, über deren Existenz ihm bisher nichts bekannt gewesen war, und über die wahrscheinlich auch die Criminalpol und die Antimafia in Rom bis zur Stunde nichts wußten. *
Gigi Santanastaso war etwas nervös geworden. Er blickte aus schmalen Augen auf das weiße Coupé das sich jetzt dem Pavillon näherte. Gigi und Alfredo Cancogni lagen seitlich der Front des Baues im Gebüsch und regten sich nicht. Sie verharrten bereits seit etwa zehn Minuten in dieser Stellung. »Wieso kommen sie erst jetzt?« murmelte Gigi. »Sie müssen unterwegs gehalten haben – aber warum?« »Ich an deiner Stelle würde nicht darüber nachgrübeln«, gab Alfredo gedämpft zurück. »Hauptsache, sie sind da. Wir lassen sie ins Haus gehen, dann schleichen wir uns an und überwältigen sie. Hör mal, wäre es nicht besser, die Frau auch mitzunehmen?« »Unsere Anweisungen lauten …« »Die Anweisungen lauten …« »Die Anweisungen! Keiner wußte, daß sie heute abend hier angeschneit kam, keiner außer dem Don, das schwöre ich dir. Selbst wenn wir uns maskieren, würde sie immer noch genug mitkriegen, um uns gefährlich werden zu können. Entweder 31
machen wir sie kalt oder wir schleppen sie mit«, raunte Alfredo. Gigi erwiderte nichts, denn der weiße Fiat rollte nun mit unvermindeter Geschwindigkeit an dem Pavillon vorbei. Er folgte dem Verlauf des Kiesweges, der sich zwischen den sanften Hügelrücken hindurchwand und in der zunehmenden Dunkelheit verschwand. Die beiden Insassen des Wagens schalteten die Beleuchtung nicht ein. Die Konturen des Fahrzeugs verschmolzen mit den fallenden Schatten der Nacht. »Verdammt«, wetterte Gigi los. »Verfluchter Mist, was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Da stimmt was nicht! Das wird ein großer Reinfall, sage ich dir. Los, nimm doch Verbindung mit dem Gutshof auf!« »Nein. Wir dürfen von uns aus mit dem Gerät nicht rufen, weil der Summton drüben, in den Häusern, in einem ungünstigen Augenblick erklingen könnte. Er würde verräterisch sein.« »Scheiß drauf! Wir glotzen wie die Idioten in die Nacht und haben keine Ahnung, was läuft. Die führen uns an der Nase herum.« »Warte. Wir können dem Coupé nicht nachlaufen. Wir sollten ein bißchen Geduld haben und noch eine Weile hier liegenbleiben«, flüsterte Cancogni. »Bist du etwa mit den Nerven zu Fuß?« »Nein«, gab der andere verbissen zurück. Er hielt sich selbst für außerordentlich hartgesotten und aufgeklärt, deshalb nahm er sich jetzt zusammen. Die Minuten verstrichen. Das Walkie Talkie in Cancognis Lederjacke schwieg, kein neuer Hinweis kam. Alfredo Cancogni wurde allmählich auch unruhig; er wollte etwas sagen, aber Gigi legte plötzlich den Zeigefinger an die Lippen. »Augenblick. Ich höre einen Motor. Die kommen wieder …« »Es gibt ja nur die eine Straße.« »Und wenn sie wieder vorbeifahren – was dann?« 32
Die Frage hing in der Luft. Gigi und Alfredo hielten unwillkürlich den Atem an, als das Weiß der Autokarosserie sichtbar wurde, als es näher und näher kam und schließlich vor dem Pavillon mit den hohen, schmalbrüstigen Fenstern und den Stuckverzierungen an der Fassade stoppte. »He«, flüsterte Gigi. »Sie steigt aus. Er rutscht vom Beifahrersitz aus hinters Steuer. Da läuft doch was schräg …« »Bleib hier und behalte sie im Auge«, wisperte Alfredo. »Ich schlage einen Bogen um den Bau und versuche, dem Don den Weg abzuschneiden, falls er vorhat …« »Beeil dich«, drängte Gigi. Alfredo rückte von ihm fort und schob sich durch das Dickicht. Er gab sich redlich Mühe keine Geräusche zu verursachen, die Maria Rosaria Pandolfi alarmieren konnten. Sie eilte auf die Tür des Pavillons zu, hatte den Schlüssel, schob ihn ins Schloß, und Don Salvatore sah ihr vom Steuer des Wagens aus noch zu, wie sie die Tür öffnete. Alfredo hatte das kleine Gebäude jetzt umrundet und arbeitete sich an den gekiesten Fahrweg heran. Er blickte nach rechts und sah das weiße Auto in diesem Moment anrollen. Es hielt auf ihn zu. Alfredo zerrte die Pistole mit dem Schalldämpfer hinter dem Hosenbund hervor. Er hatte sie aus dem Wagen mitgebracht, den sie außerhalb der Einfriedung des riesigen Areals zurückgelassen hatten. Er entsicherte die Waffe, hielt sie mit beiden Händen fest und visierte über ihren langen Lauf hinweg das Coupé an. Gigi Santanastaso besaß eine automatische Pistole gleichen Fabrikats und gleichen Kalibers, auf deren Lauf ebenfals ein Schalldämpfer aufgeschraubt war. Zu diesem Zeitpunkt hatte auch er die Waffe gezogen und schickte sich an, zum Pavillon hinüberzuschleichen. * 33
Don Salvatore La Forgia glaubte zunächst, zwei Fehlzündungen des Wagenmotors zu hören, aber dann begriff er schlagartig, was es mit diesen blaffenden, dumpfen Geräuschen auf sich hatte. Der Fiat brach mit durchschossenem linken Vorder- und linken Hinterreifen aus der Fahrspur, geriet ins Schlingern, war nicht mehr zu halten. Don Salvatore hatte zwar noch nicht genügend Fahrt, um gegen einen der knorrigen Ölbäume zu rasen, aber der Schub genügte, um ihn in das Dickicht zu befördern. Er lehnte sich nach rechts, nahm den Fuß vom Gaspedal, trat auf die Bremse, hielt das Lenkrad mit der linken Hand und griff mit der rechten in die Jackettasche. Er war jetzt heilfroh, die kleine Pistole vorher nicht gesichert zu haben. Als der Fiat durch das dichte Buschwerk gestoppt wurde und ganz zum Stillstand kam, wuchs neben seiner linken Flanke die Gestalt eines großen Mannes hoch. Don Salvatore hatte das Steuer des Wagens losgelassen und fingerte an dem Öffnungsgriff des rechten Schlages herum. Er bekam ihn richtig zu fassen, der Schlag schwang auf, und Don Salvatore robbte auf die Öffnung zu, obwohl der Mann am Fenster der Fahrerseite nun eine große, klobig wirkende Waffe auf ihn richtete. La Forgia schob sich ins Freie. Er landete im Gesträuch und überrollte sich. Alfredo Cancogni zielte jetzt über das Wagendach hinweg auf den Don. »Aufstehen und umdrehen, oder du bist tot«, stieß er gepreßt hervor. Don Salvatore lag auf dem Rücken und riß die rechte Hand mit der kleinen Pistole, Marke Bernardelli, Kaliber 6,35 Millimeter, hoch. Er hatte Cancogni nie zuvor gesehen, nie seine Stimme vernommen. Er wußte jetzt, daß Cesare genau das 34
veranlaßt hatte, was er von ihm erwartet hatte. Don Salvatore drückte ab. Die kleine Pistole krachte. Ihr Rückstoß war heftig. Auf die kurze Distanz war ein recht präzises Zielen mit ihr möglich, er hatte es lange genug geübt. Der große Mann hinter dem weißen Coupé zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, glitt zur Seite und schoß ebenfalls. La Forgia wußte nicht, ob er ihn getroffen hatte. Er wälzte sich zur Seite und entging knapp dem Schuß aus der Schalldämpferpistole, der von einem hohlen Belfern begleitet wurde. Noch einmal feuerte Don Salvatore, und diesmal raste die 6,35er-Kugel durch die Öffnung des Beifahrerschlages, durchdrang dann das Seitenfenster der Fahrerseite und hinterließ ein verworrenes Muster im Sicherheitsglas, dessen Mittelpunkt ein kleines Loch bildete. Der Mann mit der Schalldämpferpistole war verschwunden. Don Salvatore kroch tiefer ins Dickicht, hielt sich so tief geduckt wie möglich. Es blaffte wieder in der Nähe des Wagens, und irgendwo nicht weit hinter seinen Beinen irrte das Projektil des Gegners durchs Gebüsch. Wenn sie ihn nicht packen konnten, dann sollten sie es ihm eben doch besorgen. Oder aber sie schossen ihn krankenhausreif und trugen ihn fort … La Forgia drehte sich um, sah wieder die Gestalt des Feindes und legte erneut auf ihn an. Zweimal drückte er ab, beim zweitenmal schrie der Kerl auf, und dann war auch Maria Rosarias Stimme zu vernehmen. Sie schrie aus dem Pavillon heraus – in Todesangst. *
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Sie hatte die Tür des Pavillons hinter sich geschlossen und kein Licht eingeschaltet, wie Salvatore es ihr geraten hatte. Nervös war sie durch die wenigen Räume gestolpert, war dann stehengeblieben, um durch das hohe, schmale Fenster, dessen Laden nicht geschlossen war, auf den davonrollenden Wagen blicken zu können. Plötzlich vollführte das Coupé eine heftige, fast groteske Bewegung, kam von der Straße ab, und landete im Dickicht. Maria Rosaria stockte der Atem, sie hob ihre Hände an den Mund. Die Pistole von Don Salvatore krachte. Sie glaubte, den Verstand zu verlieren, bekam aber keinen Laut heraus. Hinter ihr war ein Geräusch – und erst jetzt entsann sie sich, daß sie vergessen hatte, den Schlüssel von innen im Schloß umzudrehen. Fassungslos registrierte sie die Gestalt, die sich in den Raum schob. Das Entsetzen lähmte sie, aber in ihrem Kopf hämmerte es schmerzhaft. Sie fing an zu zittern; dann, als draußen wieder Schüsse fielen, wieder und wieder aus Salvatores kleiner Pistole, löste sich ein gellender Schrei von ihren Lippen. Der fremde Mann sprang auf sie zu. »Sei still!« fuhr er sie an. Er hob die Faust, und in der Faust befand sich etwas, mit dem er sie schlagen wollte, etwas Langes, Schweres … Maria Rosaria löste sich aus ihrer Erstarrung, sie stolperte gegen den einzigen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Sie stieß ihn um und schleuderte ihn auf den Angreifer. Er prallte gegen den Tisch, fluchte mörderisch und richtete den Gegenstand in seiner Faust auf sie, den sie jetzt als eine Pistole mit überlangem Lauf identifizierte. »Bleib stehen!« forderte er. »Komm her. Ich kann dich töten, wenn ich will …« Sie riß die Stehlampe in ihrer Nähe um und schleuderte sie dem Mann entgegen, dann ließ sie sich fallen. Er schoß. Dieses trockene Blaffen in dem Raum – sie würde es nie vergessen, das 36
wußte sie. Das Klirren des zerspringenden Fensters, das durch die Kugel getroffen worden war, drang ebenfalls unauslöschlich in ihren Geist ein. Wimmernd kroch sie auf dem Boden entlang, gelangte hinter einen Sessel, hörte den zweiten Schuß, mit dem er sie zu treffen versuchte. Das Protjektil grub sich in die Wand, und Gigi Santanastaso verdammte sich selbst, weil er nicht in der Lage war, die Frau an der Flucht zu hindern. Er trat gegen die Stehlampe, die auf seinen Füßen lag, wankte durch das Dunkel, an das sich seine Augen immer noch nicht gewöhnt hatten, und suchte nach ihr. Maria Rosaria richtete sich mit unterdrücktem Keuchen neben einem zierlichen Wägelchen auf, das sie erst jetzt entdeckt hatte. Es handelte sich um eine Miniatur-Bar. Sie zögerte nicht. Sie griff zu, hatte zwei Flaschen in den Händen, und warf sie auf den Mann mit der Pistole. Er wich aus, die eine Flasche zerschellte an der Wand hinter ihm, doch die andere traf seinen Kopf. Gigi stöhnte auf, ließ die Schalldämpferpistole sinken, krümmte sich etwas und griff sich mit der linken Hand an die Schläfe. Er fühlte etwas Feuchtes, Warmes, was ihm über die Finger rann. Plötzlich bekam er entsetzliche Angst, soviel Blut zu verlieren, daß ihm die Sinne schwanden und er hier nicht mehr herauskam … Maria Rosaria hatte den Soggiorno jetzt verlassen und erhob sich. Sie taumelte zur Tür. Ihre Hand legte sich zitternd auf die Klinke und drückte sie herunter; sie zerrte daran, aber die Tür gab nicht nach. Sie war verschlossen. Der Killer hatte nachgeholt, was sie unterlassen hatte. Maria Rosarias Finger flogen, sie konnte sie kaum noch unter Kontrolle halten; sie zitterte am ganzen Leib und fühlte ihre Knie weich und kraftlos werden. Du wirst verrückt, dachte sie, du überstehst es nicht. 37
Dann hatte sie den Schlüssel ertastet. Der Killer hätte ihn ganz abziehen sollen, dann hätte sie jetzt nicht danach greifen können, hätte in der Falle gesessen. Der Killer näherte sich. Seine Schritte tappten dumpf auf den Keramikfliesen des Fußbodens. Sie drehte sich nicht zu ihm um, weil sie wußte, daß es sie restlos zum Überschnappen gebracht hätte. Gigi Santanastaso hielt sich immer noch die blutende Schläfe. Sie hatte ihn mit der Flasche an der linken Kopfseite getroffen. Vor seinem linken Auge verschwamm das Bild der schlanken, gutgekleideten Frau, die verzweifelt an der Tür zerrte. Nur mit dem rechten Auge sah der Killer noch einwandfrei. Er dachte: Mein Gott, hoffentlich hat es dein Auge nicht erwischt, hoffentlich verlierst du es nicht … Eine Woge des Hasses gegen die Frau stieg in ihm auf. Er wollte auf ihren Rücken abdrücken. Es machte ihm nichts aus, auf eine wehrlose Frau zu schießen. Er hatte nie Skrupel gekannt, und er hatte sie auch jetzt nicht, zumal ihm dieses Weibsstück das Gesicht verunstaltet hatte … Maria Rosaria hatte es geschafft, den Schlüssel ganz herumzudrehen. Sie riß die Tür auf und stürzte ins Freie. Fast stolperte sie, fast knickte sie mit dem rechten Fußknöchel ein. Sie taumelte nach rechts – und diese Bewegung rettete ihr das Leben, denn Gigi Santanastaso drückte in diesem Augenblick ab. Das 45er-Blei aus der Schalldämpferautomatik riß nur eine Staubfontäne vom Untergrund hoch. Maria Rosaria keuchte, weinte, stammelte Worte, die sie selbst nicht verstand, hastete in grenzenloser Panik auf das nahe Gebüsch zu. Gigi verließ den Pavillon. Schleier wallten vor seinem linken Auge. Er wandte sich mit verzerrter Miene nach rechts, suchte die Frau, konnte sie aber nicht mehr entdecken. Wahrscheinlich hatte sie im Dickicht Unterschlupf gesucht. Es krachte in Gigis Rücken, und ein Projektil flog nah’ an 38
seinem Kopf vorbei. Don Salvatore hatte nach dem vierten Schuß aus der kleinen Pistole das schützende Gesträuch verlassen und war auf den Pavillon zugeeilt. Eigentlich hatte er sich den hochgewachsenen Killer kaufen wollen, den er verletzt hatte, aber Maria Rosarias Schreien hatte ihn davon abgebracht. Gigi Santanastaso spürte die Angst vor dem Tod in sich aufsteigen. Er duckte sich, rannte an der Gebäudeecke vorbei, floh ins Dickicht. Er wollte sich hinkauern und umdrehen, aus dem Hinterhalt auf den anstürmenden Don feuern, aber wieder peitschte ein Schuß auf, und noch einmal strich eine Kugel bedrohlich nahe an ihm vorbei. Gigi hatte dummerweise die Schüsse nicht mitgezählt. So wußte er nicht, daß Don Salvatore nach dem sechsten Schuß das Magazin seiner Waffe aufladen oder gegen ein anderes austauschen mußte. Kleine Pistolen dieses Kalibers faßten in ihren Magazinen nicht mehr als sechs Patronen. La Forgia blieb stehen und lehnte sich mit der Schulter gegen die Hauswand, deren Ecke ihm Schutz vor den Schüssen des Killers bot. »Maria Rosaria!« rief er. Mit sicherem Griff zog er das leere Magazin aus dem Pistolenkolben, klaubte ein frisch geladenes Ersatzmagazin aus der Jackentasche, stieß es in den Kolben. Sie antwortete ihm nicht – aus Angst, dadurch dem Killer zu verraten, wo sie sich versteckt hielt. Gigi wußte nun, daß Alfredo gescheitert war, daß er den Don nicht hatte überwältigen können. Gigi nahm an, daß La Forgia den Komplizen mit seinen Schüssen getötet hatte, und er fühlte Panik in sich aufsteigen. Wir haben ihn unterschätzt, dachte er. Er ist uns überlegen, wir können einpacken. Er kroch tiefer ins Dickicht und verursachte dabei ein feines Rascheln und Bewegungen der Zweige. Don Salvatore war überzeugt, daß er den Killer vor sich hatte, als er die Laute und 39
die Regungen wahrnahm; Maria Rosaria konnte es nicht sein, die sich da entfernte. Er hob die Bernardelli und feuerte zweimal. Die Kugeln gingen daneben, aber Santanastaso war dennoch verstört und entsetzt genug, endgültig die Flucht zu ergreifen. Er kroch, so schnell er konnte, rappelte sich etwas später auf und rannte zwischen Büschen und Olivenbäumen auf jene Stelle zu, an der sie ein Loch in den Zaun geschnitten hatten. Gleich wimmelt es hier von Leuten, dachte er. Die Schüsse dieses verfluchten Hundes haben die ganze Fattoria alarmiert. Gigi sah rechts von sich, nicht weit entfernt, eine Gestalt auftauchen. Er wollte auf sie schießen, stellte aber gerade noch rechtzeitig fest, daß es sich um Alfredo Cancogni handelte. Cancogni hatte es an der Schulter erwischt. Er blutete stark und hatte große Schmerzen. Er konnte seine Schalldämpferautomatik kaum noch halten und fühlte, wie ihm schwindlig wurde und wie Übelkeit in ihm aufstieg. Wie Gigi hatte er jede Hoffnung, doch noch dicht genug an den Don heranzukommen und diesen überwältigen zu können, aufgegeben. Sie hatten beide nur noch einen Gedanken: So schnell wie möglich den Wagen erreichen, den sie außerhalb des Gutes abgestellt hatten. *
Don Salvatore La Forgia war der Organisator und die Schlüsselfigur, die für die Aktivitäten der »Anónima Sequestri« verantwortlich war; die »graue Eminenz« sozusagen, die hinter dieser Entführerbande steckte. Jahrelang hatte die »Anónima Sequestri« in Italien und auch außerhalb Italiens Menschen gekidnappt, hatte riesige Lösegeldsummen erpreßt, die in der Schweiz und anderswo »reingewaschen« worden waren. Er 40
hatte Opfer, deren Angehörige auf die Forderungen nicht eingegangen waren, sondern die Polizei verständigt hatten, über den Atlantik nach Nordamerika verfrachtet und dort spurlos verschwinden lassen. Jahrelang hatte die gefürchtete Gang ihr schmutziges, verdammungswürdiges »Geschäft« betreiben können, ohne daß auch nur ein Verdacht über die Identität der Täter aufgekommen war. Die Mafia hatte enorme Summen Geld auf ihren geheimen Konten bewegt. Italien hatte vor der Entführungswelle, die nie gekannte Außmaße erreicht hatte, gezittert. All dies war Don Salvatores Verdienst gewesen. Dann aber war sein Regime zu lax geworden, und schwache Stellen innerhalb der Organisation waren aufgetaucht. Bei zwei neuen Coups der »Anónima Sequestri« waren Gangster gefaßt worden, einer von ihnen hatte geredet, und zum ersten Mal war in der Presse die »AS« mit der Mafia in Verbindung gebracht worden. Man hatte versucht, den gesprächigen Kidnapper aus dem Weg zu räumen, aber das Unternehmen war gescheitert. Weitere Mitglieder der Gang waren verhaftet worden. Schließlich hatte die Spur bis zu Don Salvatore geführt. Es hatte einen Prozeß gegeben, bei dem sechs Männer der Mafia verurteilt und drei aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden waren; unter ihnen Don Salvatore. Die »Commissione«, soviel war den italienischen Polizeibehörden und auch COUNTER MOB heute bekannt, hatte La Forgia daraufhin ausbooten und Cesare De Crescenzo an seinen Platz stellen wollen. Aber La Forgia hatte noch nicht abdanken wollen. Er hatte die erlittene Schlappe wettmachen, die Fehler ausbügeln wollen. Cesare war sein Protegé gewesen, aber noch hatte er ihn nicht an die Spitze der Organisation aufrücken lassen wollen. Darüber war es zwischen den beiden vor fast einem Jahr zum 41
Zerwürfnis gekommen. Da Cesare Repressalien durch seinen »Onkel« befürchten mußte, hatte er sich mit Hilfe der übrigen Dons in die USA abgesetzt, war dort untergetaucht, hatte die Fäden jedoch in der Hand behalten. Don Salvatore war durch den Prozeß zu sehr ins Licht der Öffentlichkeit geraten. Seine Freunde hatten sich von ihm abgewandt. Die Dons hatten ihn als nicht mehr »lucido di mente«, als geistig nicht mehr auf der Höhe, bezeichnet und das Todesurteil über ihn verhängt. Sie hätten ihn in eine Nervenheilanstalt abschieben können, aber das Risiko, daß Don Salvatore wieder ausbrach und sich rächte, war ihnen zu groß. Und wenn die »Anónima Sequestri« ihn entführte? Was geschah dann? Salvatore La Forgia hatte keine Angehörigen. Sein einziger Sohn Lorenzo war 1968 im Alter von zwölf Jahren bei einem Badeunfall im Golf von Gela ertrunken. Don Salvatore hatte immer wieder seiner Frau Jolanda vorgeworfen, sie trüge die Schuld am Tod des Jungen, sie hätte nicht genügend auf ihn aufgepaßt. 1970, zwei Jahre nach dem Unglück, war Jolanda mit einem jüngeren Liebhaber durchgebrannt. Sie hatten sich einen Monat lang verstecken können, dann waren sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Niemand hatte Don Salvatore, dem trauernden Gatten, jemals nachweisen können, daß er an den Ursachen dieses Unfalls in irgendeiner Weise beteiligt war … Wenn Don Salvatore entführt wurde, würde sich niemand finden, der das Lösegeld für ihn zahlte. Niemand würde um ihn weinen, wenn man ihn in die USA oder woandershin verschleppte und dort endgültig abservierte. Cesare De Crescenzo war als der Mann ausgewählt worden, der Don Salvatores Verschwinden in die Wege leiten sollte. Aber – würde er es schaffen, sich an seinen verbitterten »Onkel« heranzuarbeiten? 42
La Forgia verließ sein Anwesen schon seit Wochen nicht mehr. Wenn man ihm zusetzen wollte, so mußte man es hier tun. Aus diesem Grund hatte Franco Solo beschlossen, sich in die Fattoria einschleusen zu lassen. Es war nicht einmal sonderlich schwierig gewesen, mit Hilfe der Pretura und des »Ufficio di Collocamento« die Person von Franco Giuliani ausfindig zu machen, die Solo wie auf den Leib zugeschnitten war. *
Assunta wollte Franco die Arme um den Hals legen sie wollte sich von ihm küssen lassen und war fest entschlossen, sich noch in dieser Nacht vollends von ihm verführen zu lassen. Franco war jedoch nicht bei der Sache. Sie zögerten plötzlich beide … Dann wurde Franco Solo durch die Laute, die aus einiger Entfernung herüberdrangen, aus seinen Gedanken hochgerissen. »Was ist das?« sagte Assunta. »Das klingt ja wie …« »Wie Schüsse«, stellte Franco fest. »Schnell, sehen wir nach, was da los ist?« Er drehte sich um, ließ sie stehen, und rannte aus dem Zimmer. Auf dem Hof sah er sie zusammenlaufen: Vittorio, den Verwalter, Flavio, der doch noch nicht weggefahren war, Augusto, den Maggiordomo und Chauffeur, eine verhärmt aussehende Frau, die gerade das Herrenhaus verließ und zweifellos Roberta Marazzi, die Hausdame war, sowie eine weißbekittelte dicke Frau, die die Köchin sein mußte. Assunta stürzte hinter Franco ins Freie. »Die Schüsse kommen vom Pavillon«, schrie Roberta Marazzi. »Don Salvatore ist mit der Signora Pandolfi dorthin gefahren!« »Woher wissen Sie das?« rief Augusto. 43
»Er hat mir selbst gesagt …« »Ich habe nur etwas von einem Ausflug in den Olivenhain gehört«, erwiderte Augusto halsstarrig. »Aber Sie wissen doch, welche Bedeutung der Pavillon hat!« Die Marazzi kreischte es fast. Franco lief an ihnen vorbei und rief: »Das ist völlig unwichtig! Will denn keiner nachsehen, weswegen geschossen wird?« Er rannte um die Ecke des Dienstbotengebäudes zu seinem Alfasud, setzte sich hinein und ließ den Motor an. Assunta kam im letzten Augenblick an den rechten Schlag gehastet und klopfte gegen das Fenster. Er wollte sie nicht mitnehmen, aber dummerweise war die Tür nicht abgeschlossen. Sie öffnete, und ließ sich neben ihm auf den Sitz sinken. Franco fuhr los. »Das kann gefährlich werden«, sagte er. »Wenn ich dir Bescheid gebe, duckst du dich, so tief du kannst verstanden?« »Ja. Fahr auf dem Kiesweg entlang.« »Gibt es nur einen Weg zum Pavillon?« »Ja.« Franco drückte das Gaspedal des Alfasuds fast bis aufs Bodenblech durch. Die Maschine schien darüber empört zu sein, sie stotterte und spuckte, lief dann aber doch rund und zog den Wagen in rasch zunehmendem Tempo über den Fahrweg. Im Rückspiegel sah Franco noch, wie die auf dem Hof Zurückgebliebenen gleichfalls zu ihren Fahrzeugen rannten. Vittorio, der Fattore, Flavio und die Köchin nahmen den 126er Fiat. Augusto und Roberta kletterten in einen großen Alfa, den Franco schon bei seinem Eintreffen in der Nähe des Haupthauses entdeckt hatte. Der Alfasud war ein kurvenfreudiges Fahrzeug. Er folgte dem Verlauf des sich durch die Hügellandschaft schlängelnden 44
Kiesweges, ohne auch nur einmal ins Schleudern zu geraten. Franco betete fast darum, daß es jetzt keinen Ärger mit der Zündung gab – wie auf der Herfahrt. »Wir sind gleich da«, sagte Assunta, die vorgebeugt auf ihrem Sitz hockte und wie gebannt in die Dunkelheit starrte. »Vielleicht war es Don Salvatore höchstpersönlich, der da geschossen hat. Er hat eine Pistole, weißt du?« »Du hast sie bei ihm gesehen?« »Ja.« »Welches Kaliber hat sie?« »Davon verstehe ich nichts.« »Ist es eine große Waffe?« »Nein.« Sie beschrieb ihm mit den Händen, welches in etwa die Maße der Pistole waren. »Also kaum ein größeres Kaliber als 7,65 Millimeter oder.30 Inch«, mutmaßte Franco. »Den Schußgeräuschen nach zu urteilen, könnte das hinkommen. Auf wen oder was könnte Don Salvatore deiner Meinung nach gefeuert haben?« »Keine Ahnung …« »Wo stecken eigentlich die Hunde?« erkundigte er sich bei ihr, während er den Wagen durch eine Rechtskurve steuerte. »Die? Das weiß ich nicht. Aber es ist komisch …, gewöhnlich tauchen sie sofort auf, wenn ein fremder Wagen durch die Tenuta fährt. Sie begleiten jedes Auto bis zum Hof, und keiner wagt es, vorher auszusteigen. Merkwürdig …« Franco konnte sich den Rest zusammenreimen. Es war also bereits soweit! Irgendwie waren die Hunde unschädlich gemacht worden. Warum hatte er gezögert, warum war er Don Salvatore und der Frau nicht unter irgendeinem Vorwand nachgefahren? Es hatte jetzt keinen Zweck, sich Vorwürfe zu machen. Franco lenkte den Wagen in halsbrecherischem Tempo über den Fahrweg. Er hatte keine Waffe bei sich, es war ihm zu 45
verfänglich gewesen, eine Pistole oder einen Revolver mitzunehmen. Mit einer Leibesvisitation am Tor des Anwesens hatte er immerhin rechnen müssen. So mußte er sich jetzt etwas einfallen lassen, um Don Salvatore zu beschützen. Er beschützte einen Mafia-Boß! Das war ein Hohn, etwas Absurdes, und doch, er mußte sich das vor Augen halten, was dabei herauskommen konnte – allein das zählte. Plötzlich sah er, wie sich rechts oberhalb des Weges etwas bewegte. »Assunta, hast du das gesehen?« stieß er aus. »Was denn?« Sie wandte den Kopf nach rechts und blickte in die Richtung, in die er wies. »Mamma mia, da läuft ja jemand!« Franco riß das Steuer nach rechts. Der Alfasud verließ den gekiesten Weg, rollte über eine glatte Grasfläche, schoß zwischen einigen dicht beieinander stehenden Ölbäumen hindurch und klomm die Anhöhe hinauf, auf deren Kuppe sich die Gestalt bewegte. Der Untergrund wurde bucklig; Franco und Assunta wurden in dem Auto kräftig durchgeschüttelt. Irgendwo im Fahrwerk knackte es bedenklich. Franco lenkte mit verbissener Miene. Er jonglierte zwischen den schiefen, verkrüppelt wirkenden Baumstämmen dahin, langte auf der Kuppe an und sah wieder die Gestalt, diesmal sehr viel näher vor ihnen. Zu der Gestalt gesellte sich plötzlich eine zweite. Zwei Männer, die dahinstürmten, als säße ihnen der Teufel höchstpersönlich im Nacken! Der eine war hochgewachsen, schlank, mit ziemlich ausladenden Schultern und spärlichem Haarwuchs. Der andere kleiner und ausgesprochen hager. Mehr konnte Franco von ihnen nicht erkennen. Der Alfasud schob sich immer dichter an sie heran. Mit einemmal registrierte Franco Solo, daß der große Mann mit seiner rechten Schulter Schwierigkeiten zu haben schien. Er hielt die linke Hand daraufgepreßt. Sein Begleiter fuhr sich mit der Hand an den Kopf … 46
Sie waren beide verletzt. Das hinderte den Kleineren aber nicht daran, zu dem Wagen herumzufahren und mit der Schalldämpferpistole, auf Franco und Assunta zu zielen. »Jetzt!« schrie Franco das Mädchen an. »’runter mit dir!« Sie gehorchte, ließ sich vom Sitz sinken, und kauerte sich mit erschrockener Miene hinter das Armaturenbrett. Franco konnte gerade noch den Kopf einziehen, da blitzte es vor der Hand des fremden Mannes auch schon rotgelb auf. In der Windschutzscheibe des Alfasuds knackte es beängstigend, ein paar Glaskrümel fielen auf Francos und Assuntas Rücken. Noch ein Projektil schlug in die Scheibe, und diesmal überzog es das Glas nicht nur mit dem typischen Spinnwebenmuster, sondern es brach auch ein ganzes Stück heraus. Assunta schrie auf. Franco konnte die Umgebung nur noch durch die Seitenfenster erkennen. Er trat auf die Bremse, um nicht gegen einen Baum oder in das Dickicht zu rasen, das die Olivenhügel stellenweise bedeckte. Mit der Faust schlug Franco in die zerschossene Scheibe. Noch mehr Fragmente bröckelten heraus und lösten sich aus der Aluminium-Fassung. Sie fielen teils ins Wageninnere, teils auf die Motorhaube. Ein Windhauch streifte Francos Gesicht. Den Ausblick nach vorn hatte er nun wieder frei, und er konnte die beiden Kerle wieder ausmachen, die durch die Dunkelheit in die Richtung hetzten, in der Franco die Umzäunung des Geländes vermutete. »Steig’ aus«, sagte er zu Assunta. Sie schien über den rauhen Klang seiner Stimme zu erschrecken. Ihre großen dunklen Augen richteten sich auf ihn. »Wie, du willst mich hier zurücklassen?« »Augusto, Roberta Marazzi, der Verwalter und die anderen müssen gleich hiersein. Du läufst zu ihnen und sagst ihnen, daß ich hinter zwei Kerlen her bin, die mit Schalldämpferpistolen 47
um sich schießen. Fahrt zum Pavillon und seht nach, was mit Don Salvatore und der Frau los ist.« »Aber …« »Steig’ aus«, fuhr er sie an. Sie verließ den Wagen hastig und lief davon. Franco legte den Gang ein, trat aufs Gas und nahm wieder die Verfolgung der beiden Bewaffneten auf. Das Fahrgestell des Alfasuds wurde noch einmal auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Franco schaltete das Licht aus, die Scheinwerfer erloschen. Er wollte nicht wieder eine so großartige Zielscheibe für die Kerle abgeben. Er wollte versuchen, sie zu fassen. Wenn er einen von ihnen der Polizei ausliefern konnte, gab es vielleicht plötzlich eine Möglichkeit, La Forgia und De Crescenzo beizukommen, bevor sie sich wie die Wölfe gegenseitig zerfleischten. Franco hob den Kopf nur soweit an, daß er über das Armaturenbrett hinweg nach vorn spähen konnte. Er rechnete damit, daß die beiden Kerle sich trennten, daß einer von ihnen ihm auflauerte – er mußte auf alles gefaßt sein. Ihre Gestalten waren jetzt von der Dunkelheit geschluckt worden. Franco verfluchte es jetzt doch, keine Waffe zu seiner Verteidigung zu tragen. Aber was er befürchtete, stellte sich nicht ein. Es wurde nicht mehr auf ihn geschossen, und er sah die Pistolenmänner auch nirgends mehr auftauchen. Sie schienen vom Erdboden verschwunden zu sein, und es geschah nichts mehr, bis Franco die Einfriedigung erreicht hatte und das Loch sah, das in dem Maschendraht gähnte. *
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Es war nicht groß genug, um mit dem Alfasud hindurchfahren zu können. Franco wäre unweigerlich steckengeblieben. Er hatte auch keine Geräte bei sich, um die Lücke weiter auf treiben zu können. Da er fest annahm, daß die zwei Männer durch das Loch im Zaun nach außen geschlüpft waren, blieb ihm nur eine Wahl: Er mußte das Auto stehenlassen. Leise vor sich hinschimpfend trat er auf die Bremse und stellte den Motor ab. Er drückte den Schlag auf, ließ sich ins Freie gleiten und blickte sich um. Nichts tat sich. Irgendwo zirpten Zikaden und täuschten darüber hinweg, daß der Sommer schon vorbei war. Lauer Wind strich durch die Wipfel der Olivenbäume und ließ die Blätter rascheln. Aber Franco meinte auch das Knirschen von Schritten zu vernehmen, die sich entfernten. Er robbte durch die Öffnung im Zaun, richtete sich halb auf und begann zu laufen. Außen unterschied sich die Landschaft nicht wesentlich vom Podere, nur machte sie hier einen weniger gepflegten Eindruck. Franco wußte, daß er in einigem Abstand vom Zaun auf eine schmale asphaltierte Straße stolpern mußte. Sie führte in diesem Bereich von Don Salvatores Besitzung für eine gewisse Strecke an dem Grundstück vorbei, um dann nach Süden abzuknicken und ein paar Kilometer weiter auf die Strada Provinciale zu stoßen, die nach Monterosso Almo führte. Franco hastete gebückt voran. Er mied die Kuppen der flachen Anhöhen, blieb ein paarmal kurz stehen und lauschte in die Nacht hinein, konnte die Schritte der Flüchtigen aber nicht mehr hören. Er geriet bis an die schmale Straße und sah, wie sie gerade in einen Wagen stiegen. Franco vermochte den Typ des Fahrzeugs nicht zu erkennen. Genausowenig konnte er das Kennzeichen lesen. Er wollte sich dem Heck des Autos nähern, aber jetzt hatte ihn der kleinere Mann gesichtet. Franco hörte den Fluch, den er ausstieß. Er stellte dabei fest, 49
daß die Stimme des Kerls keinen sizilianischen Akzent besaß und der Art nach, wie er das Wort betonte, eher Norditalien als Herkunft vermuten ließ … Dann blaffte die Schalldämpferpistole, die der Bursche auf ihn richtete, in die Dunkelheit. Franco ließ sich fallen, landete auf dem Bauch. Die Kugel sirrte über ihn hinweg. Er rollte sich zur Seite hin ab, es gab jedoch wieder einen dumpfen, patschenden Laut, und diesmal spürte er es heiß über seinen linken Arm rasen. Der Schmerz ließ ihn für Sekunden still liegen. Er preßte die Lippen zusammen, schloß die Augen, öffnete sie wieder. Die Ohnmacht drohte ihn zu übermannen. Wieder hörte er die Stimme des Killers. »… habe ihn erwischt … los, nichts wie weg jetzt!« Türen klappten, der Motor des Wagens sprang auf Anhieb an, dann rollte er davon. Franco Solo hatte keine Chance mehr, auch nur einen der Kerle zu stellen. Er stieß eine Verwünschung aus, als das Motorengeräusch des Autos sich entfernte. Allmählich ließ der Schmerz in seinem Arm etwas nach. Er betastete die Wunde. Einen Streifschuß hatten sie ihm verpaßt, mehr nicht. Die Verletzung mußte desinfiziert und verbunden werden. Franco erhob sich langsam. Er schüttelte das Schwächegefühl ab, das ihn zu überkommen drohte, tat ein paar wankende Schritte. Dabei suchte er mit dem Blick den Boden ab – und entdeckte den Gegenstand. Bevor er sich danach bückte, griff er nach seinem Taschentuch. Mit dem Tuch hob er den Gegenstand auf. Er hielt ein WalkieTalkie in der Hand und zweifelte nicht daran, daß einer der Gangster es bei der Flucht zum Wagen verloren hatte. Mindestens die Fingerabdrücke eines Kerles mußten sich darauf befinden … 50
Franco schob sich das Gerät in die Jacke und zog den Reißverschluß bis zum Hals hinauf zu. Er forschte noch ein wenig weiter, wurde aber nicht mehr fündig. Sicherlich hatten die Killer auch Blut verloren, aber ohne Licht ließ sich im Dunkeln nichts finden. Die Zeit und Gelgenheit, mit entsprechender Ausrüstung auf dem Asphalt der Straße herumzukriechen, Proben zu nehmen und schließlich die Blutgruppen der Kerle ermitteln zu lassen, würde er wohl kaum finden. Er kehrte um und ging zu dem Loch im Zaun zurück. Er hatte einige Schwierigkeiten, den Alfasud mit dem verwundeten Arm durch den Olivenhain zu lenken, aber er schaffte es doch und gelangte bis zu dem Pavillon. Die Frau, die er für Signora Pandolfi hielt, lag in Don Salvatores Armen. La Forgia, der genauso aussah, wie er Franco beschrieben und auf Fotos gezeigt worden war, blickte an der Wange der schönen, offenbar zu Tode geängstigten Frau vorbei auf den Alfasud, der mit der zerschossenen Windschutzscheibe ein Bild des Jammers bot. Das Hauspersonal war eingetroffen und umstand das Paar. Alle Köpfe ruckten zu Franco herum. *
Don Salvatore La Forgia löste sich aus Maria Rosarias Umarmung. Er trat auf den haltenden Alfasud zu und musterte Franco aufmerksam von oben bis unten, als er ausstieg. »Augusto hat mir gerade gesagt, daß Sie unser neuer Gärtner sind, und die Cameriera hat berichtet, daß Sie die zwei Kerle verfolgt haben. Was veranlaßt Sie, hier den Helden zu spielen, Giuliani?« 51
»Sie sind Don Salvatore?« »Ja.« »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Signore. Ich dachte, ich könnte Ihnen helfen.« »Sie haben Ihr Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Für mich? Für jemand, den Sie noch gar nicht kannten? Erzählen Sie mir doch so was nicht.« Franco wich seinem Blick nicht aus. »Darüber habe ich nicht nachgedacht. Wir hörten die Schüsse, ich nahm den Wagen, sah die Männer durch den Olivengarten laufen – und da habe ich eben instinktiv gehandelt.« »Aha. Würden Sie sie wiedererkennen? Haben Sie Ihre Gesichter gesehen?« »Nein. Dazu war es zu dunkel.« »Ich verstehe. Sie sind getürmt, nehme ich an.« Franco erzählte, was sich zugetragen hatte, und allmählich versammelte sich die kleine Gruppe Männer und Frauen um sie. Von dem Walkie-Talkie erwähnte Franco allerdings nichts. Keiner konnte sehen, daß er es sich unter die Jacke geschoben hatte. »Santo Cielo, gerechter Himmel«, sagte die Köchin plötzlich. Sie hieß Gloria, wie Franco später erfuhr. »Was ist denn mit Ihrem Arm los, junger Mann?« »Ein Stück Metall hat ihn mir aufgeschrammt. Ein verflixt heißes Stück Metall«, erwiderte Franco mit angedeutetem Grinsen. »Es ist wirklich nur eine Schramme. Damit und mit einem gehörigen Schreck in den Knochen bin ich noch ganz glimpflich davongekommen, würde ich sagen.« »Ja, das kann man wohl sagen«, meinte Flavio, der Gärtner. »Ehrlich, Giuliani, ich bewundere einen Mann, der den Mut hat, zwei bewaffneten Kerlen zu folgen. Sag mal, hast du nichts bei dir, womit du dich verteidigen könntest? Nicht mal ein 52
Messer?« »Nicht mal das.« »Das ist schlecht …« »Um ein Haar wären Sie bei diesem Irrtum draufgegangen, Junge«, sagte die Köchin. »Kommen Sie, wir müssen die Wunde auswaschen und verbinden. Vielleicht brauchen Sie auch eine Spritze gegen Tetanus. Es wäre wohl besser, einen Arzt zu rufen.« »Und die Polizei«, sagte Vittorio, der Verwalter. Don Salvatore musterte Franco noch immer, und offenes Mißtrauen lag in seinem Blick. »Ja«, antwortete er gedehnt. »Etwas anderes bleibt uns nach diesem brutalen Anschlag wohl nicht übrig. Wir setzen uns jetzt also in unsere Wagen und fahren zum Hof zurück. Wir werden alle einen Grappa oder einen Cognak zu uns nehmen und versuchen, uns zu beruhigen.« »Ich kann mich nicht beruhigen«, flüsterte Maria Rosaria Pandolfi mit weit aufgerissenen Augen. Ihr Blick war starr. Don Salvatore legte ihr den Atem um die Schulter. »Du kannst es, ich versichere es dir. Komm.« »Wo sind eigentlich die Hunde?« wollte Augusto plötzlich wissen. La Forgia sah ihn an, blickte dann von einem zum anderen. »Ja, wo stecken die Tiere?« fragte auch er. Maria Rosaria wollte darauf etwas erwidern, aber sie schwieg. Sie begriff, daß La Forgia sich unwissend stellte, um denjenigen, der seine Hände mit in diesem Spiel hatte, zum Straucheln zu bringen. Aber der Kollaborateur verriet sich nicht. Niemand sprach auch nur eine Ahnung aus, wo die Hunde sich befinden könnten. »Giuliani, Sie sagten doch, da wäre eine Lücke im Zaun«, sagte Don Salvatore. »Allerdings. Jemand hat sie hineingeschnitten.« 53
»Vielleicht sind die Hunde durch dieses Loch in die Freiheit gelaufen, statt sich auf die Eindringlinge zu stürzen.« »Aber Signore«, entrüstete sich nun Augusto, der Maggiordomo. »Das ist undenkbar – bei der Ausbildung, die die Tiere gehabt haben!« »Möglich ist alles«, erwiderte La Forgia. »Caro Augusto, heute scheint mein Pechtag zu sein. Mit der verlorenen Partie Schach fing alles an …« »Das tut mir leid. Ich lasse Sie nie wieder verlieren.« »Ich glaube nicht an düstere Omen, das solltest du wissen. Ich bin für den offenen, ehrlichen Kampf. Denk’ an die Revanche, Augusto.« Don Salvatore drehte sich in die Richtung, in der die Killer geflohen waren. »Denkt alle daran«, sagte er. *
Der Arzt kam aus Monterosso Almo und traf noch vor der Polizei ein. Er verabreichte Maria Rosaria Pandolfi ein Beruhigungsmittel. Dann ging er in Francos Zimmer, untersuchte den Streifschuß und gab dem vermeintlichen Giuliani vorsichtshalber eine Anti-Tetanus- Injektion. Die Köchin Gloria und das Zimmermädchen Assunta hatten die Verletzung vorher ausgewaschen. Sie hatten Franco hausgemachten Grappa zu trinken gegeben und waren kaum noch von seiner Seite gewichen – trotzdem hatte er in einem günstigen Moment das erbeutete Walkie-Talkie unter der Matratze seines Bettes verstecken können. Natürlich hatte er seine Jacke vorher ausziehen müssen, aber er hatte das Gerät so geschickt hineingewickelt, daß es niemand aufgefallen war. Genauer untersucht hatte Franco den Wechselsprechapparat 54
nicht. Er wußte nicht, ob er ihn dem Arzt anvertrauen konnte. Lieber wartete er, bis die Polizei auf der Bildfläche erschien … Um kurz vor zehn Uhr rollte ein blaßgrüner Alfetta der Squadra Mobile von Ragussa auf den Hof der Fattoria. Außer den beiden uniformierten Beamten stieg ein Mann in Zivil aus, den Franco vom Fenster seines Zimmers aus erkannte. Er hieß Antonio Devia und gehörte der Kriminalabteilung der Pubblica Sicurezza an, die der Questura von Ragusa unterstand. Ragusa war für diesen Vorfall zuständig, denn Monterosso Almo gehörte zur Provinz Ragusa – und damit auch das Gut von Don Salvatore La Forgia. In Monterosso Almo gab es nur einen Carabinieri-Posten, an den sich Vitorio, der die nötigen Anrufe getätigt hatte, jedoch lieber gar nicht erst gewandt hatte. Carabinieri waren für ihre Langsamkeit und Begriffsstutzigkeit bekannt … Dem Agente Devia konnte Franco unbedingt vertrauen. Devia war über Francos Auftrag im Bilde und kannte die Rolle des Franco Giuliani. Es war kein Zufall, daß ausgerechnet er hier aufgetaucht war. Einige Minuten später fand eine Versammlung im Foyer des Haupthauses statt. Alle waren zugegen, auch Flavio war noch geblieben, da es sein konnte, daß er als Zeuge vernommen wurde. »Auf Ihren Anruf hin haben wir natürlich sofort eine Fahndung nach den Kerlen in die Wege geleitet«, sagte Devia zu dem Verwalter. Er gab sich redlich Mühe, Franco keine Beachtung zu schenken. »Aber die Beschreibungen, die Sie uns geliefert haben, waren einfach zu dürftig. Unsere Streifen haben niemand angehalten, der verdächtig genug aussah und obendrein verletzt war – wahrscheinlich befinden sich die Burschen jetzt bereits in einem sicheren Versteck. Wem hat ihr Anschlag eigentlich gegolten?« »Mir«, sagte Maria Rosaria Pandolfi. 55
Alle blickten sie überrascht an, nur Don Salvatore nicht. »Die Signora glaubt, bereits in Ragusa von zwei Kerlen beobachtet worden zu sein, die ihr dann bis hierher gefolgt sind. Sie ist erst am späten Nachmittag eingetroffen. Vielleicht glaubten die Kerle, sie könnten uns draußen im Olivenhain auflauern, um dann …« Devia unterbrach ihn. »Ich möchte das von der Signora hören, Signor La Forgia.« Er nannte ihn absichtlich nicht »Don«, um seiner Verachtung Ausdruck zu geben. Kein Poliziotto, der einigermaßen bei Verstand war, glaubte nach dem Prozeß gegen die Mitglieder der »Anónima Sequestri« daran, daß La Forgia unschuldig war. Mangel an Beweisen – das war kein echter Freispruch, sondern ein elender Kompromiß. Aber vielleicht war Maria Rosaria davon überzeugt, daß Don Salvatore mit alledem nichts zu schaffen hatte. Konnte eine Frau so gutgläubig sein? Sie konnte es – wenn sie verliebt war. Die beiden haben sich abgesprochen, dachte Franco. Sie haben sich eine Story zurechtgelegt, die harmlos genug klingt, um die Polizei nicht zu intensiveren Ermittlungen zu veranlassen … Maria Rosaría erzählte ihre Geschichte, dann sprachen auch Franco und Assunta und die anderen. Devia tat schließlich so, als räume er zumindest ein, daß zwei Rowdys es auf die schöne Maria Rosaria abgesehen haben konnten. »Nehmen Sie sich in acht, Signora«, sagte er abschließend zu der Frau. »Selbstverständlich halten wir weiter nach den Kerlen Ausschau. Signor La Forgia, glauben Sie, daß die Burschen nicht geschossen hätten, wenn Sie Ihre Pistole nicht benutzt hätten?« »Das weiß ich nicht.« »Haben Sie einen gültigen Waffenschein?« »Nein.« Don Salvatore sprach mühsam beherrscht. Natürlich 56
wußte der Agente Devia, daß man seinen Jagd- und Waffenschein nach dem Prozeß unter einem Vorwand einfach nicht mehr erneuert hatte. »Aber ich darf nach der gültigen Gesetzesnorm als Sammler so viele Pistolen, Revolver und Gewehre innerhalb meiner vier Wände aufbewahren, wie ich will. Auf meinem Grundstück darf ich sie auch mit mir herumschleppen. Da ich nachweislich in Notwehr geschossen habe, können Sie mir auch daraus keinen Strick drehen.« »Will ich das?« »Nein, ich kann Ihnen ja nichts unterstellen.« »Über das, was das Gesetz Ihnen gestattet und was nicht, scheinen Sie ausgezeichnet informiert zu sein«, erwiderte Devia spöttisch. Er wandte sich um und sagte zu den anderen: »Meine Damen und Herren, wir fahren jetzt bis zum Pavillon, sehen uns den Tatort an, werfen einen Blick auf das Loch im Zaun und kehren dann wieder zurück. Signor Giuliani, anschließend möchte ich mir Ihren Wagen ansehen.« »Ja.« »Besitzen Sie nicht ein paar auf den Mann abgerichtete Wachhunde?« fragte der Pubblica-Sicurezza-Mann, indem er wieder zu Don Salvatore sah. »Richtig, aber die sind durch das Loch verschwunden.« »Sie haben sie weglaufen sehen?« »Nein. Ich nehme es an.« »Aha. Wer hat die Hunde überhaupt zuletzt gesehen?« erkundigte sich Devia. Es stellte sich heraus, daß es Augusto gewesen war. Er versicherte, daß die Tiere sich ganz normal verhalten hatten und sich offenbar bester Gesundheit erfreuten. Mehr sagte er nicht, denn er wollte La Forgia nicht verärgern, obwohl er es für ausgeschlossen hielt, daß die Hunde auf und davon waren. Devias Untersuchungen am Ort des Geschehens ergaben 57
nichts. Er ließ nur die Umgebung mit Handscheinwerfern ableuchten, sammelte ein paar Patronenhülsen ein und betrachtete sie im Licht. »Kaliber 6,35 Millimeter und.45«, stellte er nüchtern fest. »Signor La Forgia, ich muß zugeben, daß es Ihr ausgesprochenes Glück war, die beiden Eindringlinge mit der kleinen Pistole einschüchtern und verjagen zu können. Eines dieser.45er-Geschosse hätte genügt, um Sie auch auf größere Distanz – zwanzig, fünfundzwanzig Meter – vom Leben in den Tod zu befördern.« »O Gott«, sagte Maria Rosaria, die sie begleitet hatte. Sie war wieder kreideweiß im Gesicht wie unmittelbar nach der Auseinandersetzung mit den Gangstern. »Signora, sind Sie schon öfter so brutal bedroht worden?« fragte der Agente der Pubblica Sicurezza. »Nein …« »Beantragen Sie Polizeischutz?« »Ich … nein.« »Wir können uns selber schützen«, sagte La Forgia. »Ich werde Wachtposten auf meinem Grundstück verteilen.« Dévia nickte langsam und betrachtete noch einmal genau die Patronenhülsen in seiner Hand. »Wenn es hier einen Toten gegeben hätte, dann hätten die Spurensicherungsexperten unserer Mordkommission anhand dieser Hülsen und einiger anderer Kleinigkeiten sicherlich interessante Einzelheiten herausbekommen. Werfen wir noch einen Blick in den Pavillon und auf die Straße, die außerhalb des Grundstücks verläuft.« Seine uniformierten Begleiter und er erledigten dies routinemäßig und verzichteten darauf, noch weiter im Olivenhain und im Dickicht umherzustreifen. Später, hinter dem Dienstbotenhaus der Fattoria, hatte Devia bei Francos Wagen die Gelgenheit, rasch ein paar Worte mit 58
dem Mafiajäger zu wechseln. »La Forgia bagatellisiert die Sache absichtlich«, raunte Antonio Devia Franco zu. »Er will nicht, daß wir unsere Nase zu tief in seine Angelegenheiten stecken. Himmel, wenn er doch umfallen würde, Angst kriegen und um unsere Unterstützung bitten würde. Ich würde ihm wirklich einen Strick daraus drehen – ihm und seinen verfluchten Ex-Partnern, die ihn jetzt aus dem Weg räumen wollen.« »La Forgia ist zu ausgekocht. Er hat uns heute abend ja bewiesen, wie fit er noch ist. Er hat zwei professionelle Killer in die Flucht geschlagen.« »Glauben Sie, daß sie ihn umbringen wollten – hier?« »Nein. Das wäre zu verfänglich für sie gewesen. Das hätte nur La Forgias Behauptung bewiesen, er sei an allem unschuldig und man wolle ihn als unbequemen Zeugen beiseitigen.« »Eine Behauptung, die er bei seinem Prozeß immer wieder hervorhob«, murmelte Devia. »Sie müssen sich einmal vor Augen halten, wie viele Kinder allein durch die ›Anonima Sequestri‹ entführt wurden, Franco. Kinder! Dio, diese Bestien.« Franco sagte: »Ich nehme an, die Killer wollten La Forgia ebenfalls entführen und später umbringen. Als sie ihr Unternehmen scheitern sahen, eröffneten sie das Feuer auf den Don.« »Auch, um ihr eigenes Leben zu schützen. Er scheint sehr gut zielen zu können. Fast hätte er sie beide erwischt, oder?« »Den einen hat er angeschossen, den anderen hat Maria Rosaria durch einen Wurf mit einer Flasche verletzt«, sagte Franco leise. »Diese Frau«, erwiderte Devia verdrossen. »Glaubt die etwa, sie kann uns verscheißern? Seit wann laufen Rowdys und Sittenstrolche mit ausgewachsenen Schalldämpferpistolen, dazu noch Kaliber.45, durch die Gegend? Und dann diese 59
haarsträubende Behauptung, die Wachhunde seien einfach weggelaufen …« »La Forgia plant mit dieser Frau etwas«, flüsterte Franco seinem italienischen Kollegen zu. »Was, das kriege ich noch heraus.« »Seien Sie vorsichtig.« »La Forgia mißtraut mir. Er glaubt, seine Gegner hätten mir den Job als Gärtner verschafft und ich sollte ihn bespitzeln.« »Passen Sie auf, daß Sie keine Kugel verpaßt kriegen«, sagte der Agente mit grimmiger Miene. »Wir haben dann nämlich die Scherereien mit Ihrer Leiche. Finden Sie das komisch, amico?« »Nein.« »Ich auch nicht.« »Noch etwas«, sagte Franco Solo. »Gehen Sie in mein Zimmer, Devia. Sehen Sie zu, daß Sie niemand dabei beobachtet. Unter der Matratze meines Bettes steckt ein Walkie Talkie, das die Killer verloren haben müssen. Sichern Sie in Ihren Labors die Fingerabdrücke und stellen Sie fest, wem sie gehören.« »Va bene, das geht in Ordnung. Setzen Sie sich wieder mit uns in Verbindung?« »Sobald ich kann. Hören Sie, Devia, ich glaube nicht daran, daß die beiden Gangster sich durch Walkie-Talkies untereinander verständigt haben. Das war überhaupt nicht erforderlich. Vielmehr nehme ich an, daß die Killer einen Verbündeten in der Tenuta haben, mit dem sie Kontakt hielten – der ihnen sagen konnte, wo der Don sich gerade aufhielt. Wie hätten sie ihn sonst auf Anhieb finden und ihm auflauern können?« »Da ist was dran. Und die Hunde?« »Sind getötet oder betäubt worden. Auch das hat der Helfer erledigt. Die Hunde lassen nämlich niemand an sich heran, den 60
sie nicht kennen.« »Klingt einleuchtend«, meinte Antonio Devia. »Die große Preisfrage lautet also: Wer ist der Sportsfreund, der offenbar ganz versessen darauf ist, La Forgia eins auszuwischen?« »Ich kriege auch das heraus, das schwöre ich Ihnen.« »Trennen wir uns jetzt«, sagte Devia. »Ja. Haben Sie sich den Alfasud auch genau genug angesehen?« Devia betrachtete den Wagen mit der zerschossenen Scheibe und dem rundum lädierten Äußeren, der zwei Schritt von ihnen entfernt stand. »Ich an Ihrer Stelle würde die Kiste ins Meer schieben«, entgegnete er trocken. *
Devia suchte das Dienstbotengebäude unter einem Vorwand auf, während seine beiden uniformierten Kollegen sich auf dem Hof umtaten und Vittorio, Flavio, Assunta und der Köchin Gloria ein paar ziemlich belanglose Fragen stellten. »Nehmen Sie mich mit in die Stadt?« fragte Flavio. »Ich habe keinen eigenen Wagen, und den letzten Bus habe ich verpaßt.« »Da müssen Sie den Agente Dévia fragen«, erwiderte der eine Poliziotto. Don Salvatore, Maria Rosaria, Augusto und die Marazzi hatten sich in das Herrenhaus begeben. Hier untersuchte der Arzt noch einmal Maria Rosaria, weil sie trotz des Beruhigungsmittels immer noch sichtbar unter der Einwirkung des Schocks stand. Franco hatte Gelegenheit, sich ein wenig umzusehen. Er stöberte im Keller des Dienstbotengebäudes herum, ohne daß 61
ihn jemand bemerkte, besaß die Kühnheit, in Vittorios Büro zu gehen, dessen Tür nicht abgeschlossen war, untersuchte den Schreibtisch und die Ablagen, schlich sich dann in die übrigen Nebengebäude und gelangte schließlich zu dem Häuschen, in dem die Gartengeräte untergebracht waren. Franco wußte, was er suchte, nur war er bisher nicht fündig geworden. Er fingerte daher den Schlüssel für die Tür des Häuschens von der Fensterbank. Flavio hatte ihn unterrichtet, daß dies der Platz zu sein hatte, an den er abends den Schlüssel legte und von dem er ihn morgens wieder herunternahm. In dem Häuschen stöberte Franco eine Weile herum, dann hatte er zwei rohe Bodenplatten entdeckt, die sich anheben ließen. Er bückte sich, schob sie beiseite und stieß auf einen kleinen Hohlraum. Eine nackte Glühbirne diente in dem Häuschen als Beleuchtung, aber Franco wagte nicht sie anzuschalten. Wenn ihn hier jemand entdeckte, wurde Don Salvatores Verdacht noch genährt, denn was sollte Franco zu seiner Rechtfertigung sagen? Daß er hier etwas vergessen hatte? Das war denn doch zu banal … Er brauchte keine Beleuchtung. Er stellte allein durch Tasten fest, was in dem kleinen Hohlraum untergebracht war. Da war einmal der Zwillingsbruder des Walkie-Talkies, das Devia jetzt an sich genommen haben mußte. Weiter entdeckte Franco eine handliche Spray-Dose, die, wenn man sie sich unter die Nase hielt, einen feinen Geruch von Chloroform verströmte. Im Mondlicht, das durch das Fenster des Häuschens fiel, konnte Franco die Aufschrift entziffern: Anti-Dog … Dem Wechselsprechgerät haftete auch ein Hauch von einem Duft an. Franco mußte unwillkürlich grinsen. Er wußte jetzt, wer der Mitwisser der Killer war. Er hatte sich selbst verraten. Franco legte alles an seinen Platz zurück, schob die schweren Bodenplatten wieder über den Hohlraum und verließ das 62
Häuschen. Er vergaß auch nicht, sorgfältig abzuschließen und den Schlüssel wieder auf die Fensterbank zu legen. Sicherlich gab es keinen Menschen im »Podere La Forgia«, der nicht von diesem Schlüssel-Versteck wußte. Abgesehen von ein paar Tagelöhnern vielleicht, die nur gelegentlich hier arbeiteten. Auf dem Hof traf Franco Devia, die beiden Polizisten, Vittorio, Flavio und den Arzt. Gloria und Assunta hatten sich zurückgezogen. »Wo haben Sie denn gesteckt?« sagte der Arzt. »Ich habe die Papiere aus meinem Wagen geholt, weil mir eingefallen ist, daß ich morgen früh bei der Verleihfirma anrufen und den Schaden melden muß«, erklärte Franco. »Was macht der Arm?« »Dem geht es soweit gut.« »Keine Schmerzen mehr?« »Im Moment nicht«, antwortete Franco wahrheitsgemäß. »Gut, dann kann ich jetzt abreisen«, meinte der Arzt. »Nehmen Sie bitte den jungen Mann mit«, sagte der Agente Dévia. »Das ist mir lieber, als wenn er bei uns mitfährt. Zivilpersonen in einem Streifenwagen mitzunehmen, ist gegen die Vorschriften – es sei denn, der Betreffende ist verhaftet.« Flavio grinste. »So tief bin ich noch nicht gesunken.« »Kommen Sie«, forderte der Arzt ihn auf. »Ich bin eigentlich ganz froh, bis nach Ragusa einen Begleiter zu haben. Irgendwie habe ich Angst vor Kerlen, die einem hier in der Gegend mit Schalldämpferpistolen auflauern.« »Vor umherstreunenden bissigen Hunden etwa nicht?« erkundigte sich Devia. »Sie haben eine komische Art, Witze zu reißen, Signor Devia.« 63
»Sie aber auch, Dottore.« *
Franco streckte sich halb angekleidet auf seinem Bett aus, verschränkte die Arme unter dem Kopf und dachte nach. Ruhe war eingetreten. Franco fragte sich, wie Don Salvatore sich jetzt verhielt. Mußte er nicht damit rechnen, daß noch in dieser Nacht ein neuer Anschlag auf ihn und seine Geliebte verübt wurde? Hatte er Wachtposten aufgestellt? Es gab aber auch noch eine andere Möglichkeit. Je länger Franco darüber nachsann, desto wahrscheinlicher erschien sie ihm. Er mußte aufpassen, ständig auf der Hut sein. Er überlegte sich, was er tun würde, wenn Assunta auf die Idee kam, ihm einen nächtlichen Besuch abzustatten. Sie war durchaus dazu fähig. In Sachen Sex schien sie vor nichts zurückzuschrecken. Offenbar hatte sie soviel moralische Bedenken wie eine läufige Katze. Franco schlummerte schließlich doch ein, aber es war kein richtiger Schlaf, sondern mehr ein traumdurchwebtes Dahindämmern. Als er den leisen Laut in seinem Zimmer hörte, war er sofort wieder wach. Er öffnete die Augen nicht sofort, sondern verharrte in seiner Rückenlage und stellte sich schlafend. Wieder ein Geräusch – ein Schaben von Schuhsohlen auf dem Steinfußboden. Der Eindringling schien sich zu nähern, aber dann verharrte er offenbar, und es war ein Rascheln zu vernehmen. Franco öffnete die Augen spaltbreit. Zunächst erkannte er nichts in der Dunkelheit des Raumes, aber dann machte er doch den Schatten aus, der sich zu einer Gestalt entpuppte, die sich 64
über seine Reisetasche gebeugt hatte und vorsichtig darin herumkramte. Nein, Assunta war das nicht, sondern ein Mann, dessen Statur recht groß und beinahe wuchtig ausfiel. Franco erkannte ihn jetzt wieder. Er hätte ihn in diesem Moment angreifen und niederringen können, aber das wäre äußerst unklug gewesen … »Kann ich Ihnen behilflich sein?« sagte er statt dessen in die Stille des Zimmers hinein. Der Mann fuhr zu ihm herum. Er hob die rechte Hand. Eine Pistole lag darin; er krümmte den Zeigefinger um den Abzug. Franco zweifelte keine Sekunde daran, daß die Waffe entsichert war und daß ihr Besitzer vorzüglich damit umzugehen verstand. Es war eine kleine Bernardelli, Kaliber 6,35 Millimeter. »Don Salvatore«, sagte Franco. »Warum schleichen Sie sich wie ein Dieb in mein Zimmer? Ich zeige Ihnen auch freiwillig gern, was in der Tasche ist.« »Du bist ein Spitzel, gib es zu.« »Ein was?« »Du hast die Killer absichtlich entkommen lassen. Du hast dafür gesorgt, daß sie sich in ihren Wagen setzen und abhauen konnten. Andernfalls hätten wir sie vielleicht erwischt«, flüsterte La Forgia wütend. Franco sah ihn verdutzt an, er spielte seine Rolle mit der tiefen Überzeugung eines echten Bühnenprofis. Plötzlich lachte er auf. »Signore, wie kommen Sie nur darauf? Also, das ist doch wohl ein Scherz …« »Nein. Die Marazzi hat dich absichtlich ausgesucht und durch das ›Ufficio di Collocamento‹ hierherschicken lassen.« »Ihre Hausdame? Aber nein.« Don Salvatore zielte auf Francos Stirn. »Rück’ mit der Wahrheit aus, oder ich lege dich auf der Stelle um, Bursche.« Er ist bereits nervös geworden, dachte Franco, ganz 65
unbeschadet hat auch er den Anschlag der Killer nicht überstanden. Laut erwiderte er: »Signore, ich habe Ihnen bisher keine einzige Lüge aufgetischt. Und Sie sollten aufhören, mir so etwas zu unterstellen. Warum sollte ich Sie bespitzeln?« »Das weißt du. Du bist ein abgebrühter Hundesohn.« Franco erhob sich von dem Bett. »Ich habe keine Angst. Weder vor denen, die auf mich gefeuert haben, noch vor Ihrer Pistole, Don Salvatore. Bitte, ich zeige Ihnen jetzt alles, was ich mitgebracht habe, und Sie können auch mein ganzes Zimmer durchsuchen. Ich erzähle Ihnen meine Geschichte, und Sie können jeden Punkt in meinem Leben hundertmal überprüfen. Ich bin kein Gangster, der Ihnen an den Kragen will, falls Sie das meinen.« Don Salvatore durchsuchte das Zimmer, wobei er Franco weiterhin mit der Pistole in Schach hielt. Er entdeckte nichts Verräterisches, keine Waffe, keine Abhörmikrofone oder andere Utensilien, die seinen Verdacht bestätigen konnten. »Zieh’ dich ganz an«, sagte er am Ende. »Wir fahren in den Olivengarten hinaus. Ich will dir was zeigen. Du kannst mir dann auch aus deinem Leben erzählen.« Seine Stimme klang kalt und völlig emotionsfrei. Er winkte Franco mit der 6,35er zu. Franco blieb nichts anderes übrig, als vor dem Don den Raum zu verlassen, ins Freie zu treten und zu dem großen Alfa zu gehen, der vor dem Herrenhaus geparkt war. »Setz’ dich ans Steuer und fahr’ los«, ordnete Don Salvatore an. »Eine einzige Dummheit, und es ist um dich geschehen, merk’ dir das.« Franco gehorchte. Er verspürte ein feines eisiges Prickeln in der Nackengegend und grübelte angestrengt nach, was er unternehmen sollte, wenn La Forgia ihn irgendwo dort draußen in der Weite des riesigen Gutes töten wollte. 66
*
Es ging auf ein Uhr morgens zu. Die knorrigen Olivenbäume schienen sich als stumme Zeugen interessiert über den großen Alfa zu beugen, als dieser stoppte. Franco mußte aussteigen, Don Salvatore trieb ihn mit der kleinen Pistole vor sich her. Das Ganze hatte wirklich den Anschein einer Exekution. Franco wunderte sich darüber, wieso er immer noch so ruhig war. Vielleicht lag es daran, daß es von Don Salvatore absolut hirnverbrannt gewesen wäre, Franco Giuliani abzuservieren – jetzt, wo die Polizei dagewesen war, wo ständig erneut Beamte auf dem Gut erscheinen konnten, um unbequeme Fragen zu stellen und weitere Nachforschungen zu betreiben. La Forgia mußte darüber im Bilde sein, daß Devia sich an der nächtlichen Schießerei förmlich hochziehen und dem Don und Maria Rosaria das Leben zur Qual machen konnte. Franco überlegte, ob er es Don Salvatore sagen sollte. Aber nein – er mußte seine Rolle beibehalten. Es blieb nur noch die eine Möglichkeit: Einen günstigen Moment abzupassen und dem Mann die Pistole aus der Hand zu schlagen. »Tritt ins Dickicht«, befahl der Don. »Nein, nicht dorthin – weiter nach rechts. Ja, so ist es gut. Riechst du etwas?« »Ja. Etwas wie …« »Wie?« »Wie Desinfektionsmittel. Vielleicht ist es mein Verband.« »Nein«, sagte La Forgia. »Bück' dich und schlage die Zweige auseinander. Nun beeil’ dich schon, Giuliani.« Franco befolgte auch diese Order; er wagte sich in diesem Augenblick nicht auszumalen, was mit ihm geschah, wenn der Don jetzt abdrückte. Es gehörte mehr als reine Kaltblütigkeit dazu, so ruhig dazustehen und in dem dichten Gebüsch 67
herumzusuchen. Ein Mann, der keine eisernen Nerven besaß und nicht die Ausbildung mitgemacht hatte, die Franco wie jeder andere Agent von COUNTER MOB hatte absolvieren müssen, konnte das kaum aushalten. Höchstens ein naturwüchsiger Bursche mit dem Schneid des ungehobelten Draufgängers und einem ausgebildeten Dickschädel ließ das noch über sich ergehen – und eben diesen »Naturburschen« spielte Franco La Forgia vor. Das Knurren unter den Büschen warnte ihn. Er teilte die Zweige und Blätter mit den Händen und entdeckte die beiden Hunde. Ja, sie rochen immer noch nach Chloroform, aber sie waren zu sich gekommen, erhoben sich in diesem Moment wankend und trafen Anstalten, ihn anzugreifen. Franco wich nicht zurück, begann aber, besänftigend auf sie einzureden. »Ruhig, Freunde, ganz ruhig. Lauft zu eurem Herrn. Ich bin heute nacht bereits angekratzt worden, ich habe keine Lust, auch noch gebissen zu werden.« Er sah, wie sie die Zähne fletschten und ihn anfunkelten. Ihm wurde jetzt wirklich mulmig zumute. Man mußte einmal erlebt haben, wie es war, einem ausgewachsenen deutschen Schäferhund gegenüberzustehen, der das Wolfsgebiß entblößte und jeden Augenblick losspringen konnte. Und er hatte es gleich mit zwei von diesen Prachtexemplaren zu tun! »Sie sind wach, nicht wahr, Giuliani?« sagte Don Salvatore. »Ja.« »Wie fühlst Du dich?« »Nicht sonderlich wohl. Sagen Sie den Tieren bitte, sie sollten mich in Ruhe lassen. Ihnen gehorchen sie doch.« »Sicher. Aber ich will erst die Wahrheit von dir hören.« »Ich kann nichts zugeben, dessen ich nicht schuldig bin«, beteuerte Franco. »Ich bin hierher gekommen, weil ich Arbeit suchte, Don Salvatore. Ich brauche Geld. Mein Gott, ich weiß 68
doch noch nicht einmal, wie ich den Mietwagen bezahlen soll!« Die Hunde standen sicherer auf ihren Beinen, rückten noch etwas näher heran, duckten sich. Franco spürte, wie es ihn abwechselnd heiß und kalt überlief, und er schämte sich nicht deswegen. »Wer bist du?« fragte La Forgia kalt. Franco begann von Matera zu sprechen, von der Armut, aus der er stammte, von diesem vertrackten Mädchen, das er in Ragusa suchte. Er haspelte Franco Giulianis Lebenslauf sozusagen im Telegrammstil herunter und bereitete sich darauf vor, mit den Fäusten gegen die Hunde zu kämpfen. Viel würde es nicht nützen, er machte sich keine Illusionen. »Das ist eine hübsche, rührselige Geschichte«, erwiderte La Forgia, als Franco geendet hatte. »Aber du solltest sie dem kleinen Flittchen erzählen, nach dem du angeblich suchst.« »Sie glauben mir nicht?« »Wer schickt dich?« »Die Stellenvermittlung«, stieß Franco aus. »Accidenti, verflixt noch mal, hetzen Sie doch Ihre dämlichen Hunde auf mich, ich kann es auch nicht ändern. Rechnen Sie aber damit, daß ich zumindest dem einen das Genick breche, bevor der andere mich …« Don Salvatore lachte leise auf. Es war das erste Mal, daß Franco ihn lachen hörte. Don Salvatore ließ die Pistole sinken, pfiff den Schäferhunden – und sie ließen von Franco ab und liefen nun tatsächlich zu ihrem Herrn. Er streichelte sie und sprach beruhigend auf sie ein. Franco atmete auf, drehte sich um und trat aus dem Dickicht. Er stellte sich ziemlich nah vor La Forgia hin und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Hunde ließ er dabei nicht aus den Augen, aber sie schienen ihre Feindseligkeit ihm gegenüber völlig abgelegt zu haben. 69
»Don Salvatore«, sagte Franco. »Es ist wohl das Beste, wenn ich die Fattoria jetzt verlasse. Ich glaube nicht, daß Sie mich als Gärtner noch haben wollen.« Der Don blickte ihn an. »Wer sagt dir das?« »Sie halten mich doch für einen Spion.« »Nicht mehr, sonst hätte ich die Hunde wirklich auf dich losgelassen.« »Ich verstehe Sie nicht …« Der Anflug eines Lächelns erschien auf La Forgias ausgeprägten, andeutungsweise biederen Zügen. »Hätte ich mit meinem Verdacht recht gehabt, so hättest du es mit der Angst zu tun bekommen müssen – spätestens, als du dich den Hunden gegenüber sahst. Es ist vielleicht einmalig dumm von mir, aber ich glaube, daß du ein reines Gewissen hast. Dein großer Mut hat mir imponiert, Franco. Und wenn ich es mir richtig überlege: Du hättest dich sicher nicht anschießen lassen, wenn die Kerle mit den Schalldämpferpistolen deine Komplizen gewesen wären.« »Das ist aber so sicher wie das Amen in der Kirche«, entgegnete Franco. »Wissen Sie was? Ich bereue es jetzt, den Kerlen nachgefahren zu sein. Was habe ich mir da bloß eingebrockt? Was geht mich dieser ganze blöde Mist hier überhaupt an?« Don Salvatore lächelte. »Recht so, mach’ deinem Ärger nur Luft. Aber ich will dir ein Angebot machen, Franco. Du sagtest, daß du dringend Geld brauchst.« »Allerdings.« »Ich werde dich gut bezahlen.« »Augusto hat mir bereits mitgeteilt, was der Wochenlohn hier ist. Wenn Sie mich dann also doch behalten wollen und mir vielleicht einen Vorschuß zahlen …« 70
La Forgia beschrieb mit der Hand eine wegwerfende, verächtliche Geste. »Unsinn – der Lohn des Gärtnes ist nichts gegen das, was ich dir biete. Ich zahle dir dreimal soviel wenn du als Leibwächter für mich arbeitest.« »Als … per Dio, Sie wollen mich also hier auf dem Gut Wache schieben lassen? Na, meinetwegen. Ich werde die Augen offenhalten.« »Wir haben uns noch nicht richtig verstanden. Es nützt nichts, die Tenuta nach allen Seiten hin zu schützen. Deswegen habe ich auch jetzt keine Wachen aufgestellt. Ich kann hier ohnehin keinem mehr trauen. Auf die Hunde kann ich mich auch nicht mehr verlassen. Jemand, der hier auf dem Hof lebt, muß sie betäubt haben – der Komplize dieser Gangster. Einen Fremden lassen die Hunde nicht an sich ran.« Franco blickte den Don in gut gespieltem Unglauben an. »Was? Es steckt also ein Verräter unter einem Dach mit Ihnen?« »So kann man es auch ausdrücken.« »Wer ist es?« »Wenn ich das wüßte. Vielleicht Roberta Marazzi, vielleicht Augusto, vielleicht Vittorio oder Flavio – alle sind verdächtig.« »Aber was hat das alles zu bedeuten?« erkundigte Franco sich. Er täuschte Verwirrung und Verständnislosigkeit vor. »Dieser gemeine Angriff – ich denke, der galt der Signora Maria Rosaria …« »Aber auch mir, nur wollte ich das der Polizei nicht sagen.« »Warum? Warum schießt man auf Sie?« »Die Kerle wollten mich entführen, aber ich habe mich gewehrt. Doch sie werden es wieder versuchen. Solange, bis ihnen ein Lösegeld gezahlt wird, das sich auf mehrere hundert Millionen Lire beläuft. Sie wollen den ›Re Nero‹ zugrunde richten.« »Den Schwarzen König?« 71
»Ein Begriff, den ich dem Schachspiel entnommen habe. Vieles im Leben gleicht der oftmals mathematischen Fatalität, mit der die Dinge auf dem Schachbrett ihren Lauf nehmen. Aber sicherlich begreifst du das nicht.« Franco benötigte keinen Scharfsinn, um es zu verstehen, aber er spielte seine Rolle weiter »Kannst du mit einer Waffe umgehen?« fragte La Forgia ihn. »Ja. Ich habe meinen Militärdienst abgeleistet.« »Ausgezeichnet. Du bekommst eine Waffe von mir. Und du mußt damit einverstanden sein, eine Reise zu unternehmen.« »Ich bin an niemand gebunden«, antwortete Franco Solo. »Es macht mir sogar Spaß, mal eine andere Gegend zu sehen. Sie wollen hier weg, weil Sie sich nicht mehr sicher fühlen, nicht wahr?« »Ja. Es wird eine lange Reise.« »Wohin?« »Das erfährst du noch. Signora Pandolfi begleitet uns. Ich habe schon mit ihr darüber gesprochen. In diesem Moment bereitet sie unser Gepäck vor.« »Wann brechen wir denn auf?« »Sofort, und zwar, ohne von irgend jemand beobachtet und beschattet zu werden. Wir werden uns ganz genau vergewissern, ob wir verfolgt werden. Wir fahren jetzt zum rückwärtigen Eingang des Gutshauses, dort steige ich aus, gehe ins Haus, und du wartest auf uns. Deine Sachen brauchst du nicht aus deinem Zimmer zu holen, das würde nur auffallen. Die wenigen Habseligkeiten sind rasch zu ersetzen. Wir verlassen das Gut durch ein Seitentor, zu dem nur ich den Schlüssel habe – so erfährt auch der Pförtner am Haupttor nichts. Bist du immer noch bereit, für mich zu arbeiten, Franco Giuliani?« »Ja. Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie in mich setzen. Ich werde mein Bestes tun, um Sie zufriedenzustellen.« 72
Francos Ahnungen hatten sich bestätigt. Don Salvatore hielt es auf dem Gut nicht mehr aus, für ihn gab es nur noch eines: die Flucht. Denn von jetzt an würden seine Gegenspieler von den sizilianischen Mafia-Familien, würden Cesare De Crescenzo und dessen gekaufte Killer immer wieder versuchen, ihr Scheitern wettzumachen und ihn La Forgia, aus dem Weg zu räumen – egal wie. Don Salvatore und seine Geliebte mußten spurlos verschwinden. Hierin lag Salvatore La Forgias einzige Chance, sich zu sichern und gleichzeitig zu einem Vergeltungsschlag auszuholen. Franco dachte an Assunta, die wahrscheinlich sehr überrascht dreinschaute, wenn sie das Zimmer von »Franco Giuliani« aufsuchte und das Bett, in das sie kriechen wollte, leer vorfand … Don Salvatore sah Franco an, sein Gesicht war von steinerner Härte. »Hör’ mir jetzt gut zu, amico mio. Ich werde dich hervorragend für deine Dienste bezahlen, und auch sonst wird es dir an nichts fehlen. Wenn du dich bewährst, werde ich dich wie einen Sohn, wie einen Neffen behandeln und dich zu einem wirklichen Vertrauten machen. Selbstverständlich werde ich Nachforschungen über deine Vergangenheit anstellen, aber ich sagte ja schon: Ich glaube dir jetzt.« Er legte eine kurze Pause ein, und dann klang seine Stimme eiskalt und fast künstlich. »Aber leg’ mich nicht herein. Wenn du es auch nur versuchst, stirbst du auf furchtbare Weise und deine ganze Familie geht zugrunde.«
* Der große Alfa rollte durch die Nacht. Maria Rosaria Pandolfi und Don Salvatore saßen im Fond 73
dicht nebeneinander und sprachen kaum. Franco lenkte den Wagen. Er hatte angenommen, sie würden sich zunächst nach Ragusa wenden, aber das war ein Irrtum gewesen. La Forgia hatte ihm befohlen, nach Norden zu fahren – auf der Strada Provinciale Nummer 194 entlang bis nach Vizzini, einem Ort in den Bergen. Von dort aus auf der gleichen Straße weiter bis nach Lentini, dann auf der Strada Statale nach Catania. Franco trug jetzt eine Schulterhalfter mit einem sechsschüssigen Revolver, Marke Franchi-Llama, Kaliber.38, kurzer Lauf, darin. Er hatte von Don Salvatore genaue Anweisungen erhalten, wie er vorgehen sollte, falls sie angegriffen wurden. Das Gut hatten sie durch das Seitentor verlassen, ohne daß ihnen jemand gefolgt war und ohne daß sie beobachtet worden waren. Offenbar schlief auf dem Gutshof alles, aber es war damit zu rechnen, daß ihr Verschwinden vor dem Morgengrauen bemerkt wurde. Franco bewältigte die Strecke nach Catania in zweieinhalb Stunden. Es war 04.45 Uhr geworden, als sie am Flugplatz der Stadt an der Ostküste der Insel eintrafen. Franco kümmerte sich um die Beschaffung der Privatmaschine, mit der sie nach Rom fliegen wollten. Er erledigte die Formalitäten. Es gab keine Gepäckkontrolle; der Pilot der privaten Maschine war ein schweigsamer Mann, der es gewohnt war, keine Fragen zu stellen. Der große Alfa blieb auf dem Parkplatz des Flugplatzes von Cantania zurück. Es konnte zwei bis drei Tage dauern, bis er von denen, die Don Salvatore auf den Fersen sein würden, gefunden wurde. Zwei bis drei Tage wäre schon ein großer Vorsprung gewesen … Franco hatte verfolgen können, daß Don Salvatore ihr Gepäck und auch das Wageninnere eingehend untersucht hatte. Selbstverständlich hatte er nach Mini-Sendern und anderen 74
elektronischen oder radiotechnischen Spielereien Ausschau gehalten. Aber er hatte nichts gefunden. Es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn man sie noch auf italienischem Boden wieder aufstöberte. Franco war auf dem besten Weg, Don Salvatores Vertrauensmann zu werden. Franco Guiliani war ein neues Gesicht in der Unterwelt, er konnte noch agieren, ohne aufzufallen und würde wichtige Einzelheiten erledigen, ohne daß der Don riskierte, entlarvt zu werden. Vielleicht würde er den Don bald als ›Zio‹, als Onkel, ansprechen müssen? La Forgia legte seine väterliche Patenhand auf ihn – und er drohte ihm mit der Vendetta, der Blutrache, falls Franco sich nicht an die Spielregeln dieses mörderischen Schachs hielt … Diese rasche, fast überstürzte Entscheidung Don Salvatores, Franco zu seinem Leibwächter zu ernennen – konnte das nicht auch eine Falle sein? Hatte Don Salvatore gewittert, daß ihm der Top-Agent einer Behörde zur Bekämpfung des organisierten Verbrechertums auf den Leib gerückt war? Nein. Franco konnte es sich nicht vorstellen. Vielmehr hatte La Forgia aus Notwendigkeit und aus einer gewissen Verzweiflung heraus gehandelt. Er war erst jetzt dabei, seine Fassung vollends wiederzuerlangen. Er hatte Franco inzwischen erzählt, daß er die betäubten Hunde in dem Dickicht gefunden hatte, bevor sie den Pavillon erreicht hatten. Hätte er es nicht getan, wäre die Falle der Entführer zugeschnappt. Franco konnte bis jetzt mit sich zufrieden sein. Von der neuesten Entwicklung hatte er weder Antonio Devia noch sonst jemand bei der Polizei etwas mitteilen können, aber das ließ sich nicht ändern. Vorläufig durfte er sich nicht die geringste Handlung erlauben, die Don Salvatores Argwohn von neuem wecken konnte – nicht einmal ein Telefongespräch. Im Flugzeug, einer zweimotorigen Cessna, zeigte Don 75
Salvatore ihm den Aluminiumkoffer, den er, Franco, tragen würde. In einer doppelten Seitenwand dieses Koffers waren die Einzelteile einer automatischen Pistole so geschickt verstaut, daß sie bei Zollkontrollen nur schwer entdeckt werden konnten. Auch die elektronischen Metalldetektoren an den Sperren der Flughäfen mußten hier letztlich versagen, denn der ganze Koffer bestand ja aus Metall und selbstverständlich würden die Ortungsgeräte darauf ansprechen, ohne jedoch das Vorhandensein der Waffe nachzuweisen. Wichtig war nur, daß das Behältnis nicht geröntgt wurde. »Aber auf dem Flughafen Rom-Fiumicino gibt es noch keine Röntgengeräte an der Zollkontrolle«, versicherte La Forgia ihm. »Und auch dort nicht, wo wir landen werden.« »Ich verstehe. Was mache ich mit dem Revolver?« »Den läßt du samt Halfter in Rom zurück. Wo, das sage ich dir noch.« »In Ordnung.« Maria Rosaria hatte mit leicht verstörter Miene zugehört und sagte jetzt: »Aber das ist doch illegal, Salvatore.« »Ich habe keinen Waffenschein mehr, und außerdem ist es auch Waffenscheinbesitzern verboten, eine Pistole oder einen Revolver mit ins Ausland zu nehmen.« Er legte ihr die Hand aufs Knie. »Aber wir müssen uns irgendwie schützen. Lieber verstoßen wir ein wenig gegen die Vorschriften, als daß wir uns noch einmal bedrohen lassen. Du mußt auch einsehen, daß das im Grunde nur legitim ist.« »Aus unserer Sicht schon …« »Tesoro«, sagte er. »Liebling, ich kann es dir nicht verwehren, deine Entscheidung so zu treffen, wie du willst. Wenn du in Rom bleiben willst, fliegen Franco und ich allein weiter. Ich werde dafür sorgen, daß du einen Ersatz für dein Fiat-Coupé bekommst, und ich werde dir auch genügend Geld geben, damit du nach Mailand in deine Wohnung zurückkehren kannst, ohne 76
irgendwelche Schwierigkeiten zu haben. Du könntest …« »Nein. Sei still. Sag’ das nicht.« Sie hob erschrocken die Hand. »Du weißt doch, was wir uns geschworen haben.« Sie sah Franco an. Offensichtlich war es ihr peinlich, über so Persönliches in seiner Gegenwart zu reden. Franco wußte jetzt, daß sie nicht über alles unterrichtet war; sie konnte die wahren Hintergründe des Entführungs- und Mordversuches im Olivenhain des Poderes nicht kennen. Mafiosi waren oft wahre Künstler im Beteuern ihrer Unschuld, in Rechtfertigungen jeder Art. Don Salvatore besaß den nötigen Charme, eine Frau wie sie förmlich einzuwickeln. Er sah zehn Jahre jünger aus, als er in Wirklichkeit war. Franco wußte über ihn, daß er 1921 geboren war. Er kannte seinen Lebenslauf auswendig. Maria Rosaria Pandolfi mußte den Prozeß gegen die Gangster der »Anónima Sequestri« verfolgt haben – aber sie hatte sich von La Forgia überzeugen lassen, daß er aufgrund von Intrigen und Verleumdungen in die Sache hineingeschliddert war … Kurz nach sechs Uhr morgens landete die Cessna in Fiumicino bei Rom. Franco Solo gab dem Piloten, dem er vor dem Start die Hälfte der, vereinbarten Summe ausgehändigt hatte, jetzt den Rest des Geldes, dann suchten sie die Abfertigungshalle auf, nahmen sich einen Mietwagen und fuhren in die Innenstadt, direkt zum Roma- Termini. Franco wußte was er zu tun hatte. Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße. Don Salvatore entsicherte seine 6,35er, dann stieg Franco aus und machte sich auf den Weg zum Hauptbahnhof. Er achtete auf etwaige Verfolger, entdeckte aber niemand in seiner Nähe, der sich auffallend unauffällig benahm. Durch das Gedränge, das auch zu dieser frühen Stunde in der Bahnhofshalle herrschte, bahnte Franco sich seinen Weg zu den Schließfächern. Er suchte das Fach mit der vierstelligen Nummer, das ihm von La Forgia bezeichnet worden war, zog 77
den Schlüssel, den ihm der Don gegeben hatte, aus der Jackentasche und öffnete es. In dem Fach stand ein lederner Aktenkoffer. Er glich der Beschreibung, die Don Salvatore ihm gegeben hatte. Franco nahm ihn heraus, öffnete ihn jedoch nicht. Er stellte ihn auf den Boden neben sich hin, blickte sich nach allen Seiten um und entledigte sich dann der Schulterhalfter mit dem Franchi-LlamaRevolver. Er war wieder sicher, nicht beobachtet zu werden. Sein verletzter linker Arm tat noch etwas weh, als er die Halfter über ihn abstreifte. Er legte die Halfter und die Waffe in das Schließfach, riegelte es wieder zu, steckte den Schlüssel ein, griff sich den eleganten ledernen Aktenkoffer und verließ den Bahnhof. Wieder beim Wagen, öffnete er den Schlag, setzte sich hinters Steuer und reichte Don Salvatore, der im Fond bei Maria Rosaria saß, das Köfferchen. Don Salvatore öffnete ihn kurz, nickte und sagte: »In Ordnung. Wir können fahren, Franco. Zurück zum Flughafen.« Unterwegs warf er den Schlüssel des Schließfachs aus dem Seitenfenster. Die 6,35er-Pistole versteckte er unter dem Rücksitz des Mietwagens, bevor sie das Auto wieder abgaben. So führten weder er noch Franco Waffen bei sich, als sie etwas später mit ihren Tickets vom Aufenthaltsraum aus zur Zollkontrolle schritten. Ihr Flug war noch nicht aufgerufen worden, aber sie wollten die Sperren hinter sich bringen und die Transit-Lounge aufsuchen. Für Maria Rosaria Pandolfi gab es bei der Ausweiskontrolle eine Überraschung, denn Don Salvatore legte den Beamten einen Paß vor, der zwar mit seinem Bild versehen war, jedoch den Namen und die persönlichen Daten eines gewissen Ettore Delia Giovanna trug. Der Paß wurde La Forgia ohne Beanstandungen zurückgereicht. Er rückte in der 78
Menschenschlange weiter, und nun händigten auch Franco und die Frau den Beamten ihre Pässe aus. Die Tatsache, daß Maria Rosaria nicht ohne ihren Reisepaß nach Monterosso Almo gekommen war, verriet Franco, daß Salvatore und sie wahrscheinlich schon vorher geplant hatten, eine Auslandsreise zu unternehmen. Flitterwochen? Wohl nicht, aber es handelte sich zumindest um etwas Vergleichbares. Ihrem ganzen Benehmen nach schienen sie wirklich ineinander verliebt zu sein. Von dieser Warte her bestanden für Don Salvatore keine Probleme, er durfte der Frau vertrauen, und sie würde die letzte sein, die ihm Schwierigkeiten bereitete. Allerdings kam er nicht darum herum, ihr nach und nach die ganze Wahrheit über sich beizubringen. Wie er das löste, war zwar seine Sache, aber Franco grübelte trotzdem darüber herum, wie er es wohl heute anstellen würde. Franco konnte mit der vorbereiteten Arbeit der Criminalpol, der Pretura und der Antimafia durchaus zufrieden sein, denn sie hatten ihn mit einer Carta d’ Identita und einem Passaporto auf den Namen Franco Giuliani versehen, die auch den peniblen Untersuchungen eines anerkannten Fälschungsexperten standgehalten hätten. Es waren eben echte Ausweispapiere – nur trugen sie Franco Solos, nicht Franco Giulianis Fotos. Den Besitz eines Passes hatte Franco dem Don gegenüber dadurch rechtfertigen können, daß er angegeben hatte, er habe vor zwei Jahren eine Autostop-Reise durch Griechenland unternommen. Dort brauchte man einen Paß. Ein Personalausweis genügte nicht. Und der echte Giuliani hatte sich seinerzeit tatsächlich auf eine solche vierwöchentliche Tour begeben … Die Gepäckkontrolle lief wie vorprogrammiert ab. Francos Aluminiumkoffer wurde von einem Zöllner mit Scharfblick vor dem Metalldetektor bewahrt, da das Gerät ohnehin losgeklingelt 79
hätte. Der uniformierte Zollmann öffnete den Koffer und unterzog ihn einer gründlichen Untersuchung, fand aber außer Hemden, einem Rasierapparat, Rasierwasser, Krawatten und einigen Romanen sowie einem Reise-Schachspiel, die Maria Rosaria für La Forgia eingepackt hatte, nichts. Der Doganiere tastete Franco mit einer Sonde für die Auffindung von metallischen Gegenständen ab, wurde aber auch jetzt nicht fündig. Desgleichen Don Salvatore und Maria Rosaria, die von einem weiblichen Beamten geprüft wurde – sie durften mit Franco die Transit-Lounge betreten, ohne weiter aufgehalten zu werden. Es stimmte. Geröntgt wurde das Gepäck hier nicht. Franco hatte in dem Mietwagen nicht genau sehen können, was sich in dem ledernen Aktenkoffer befunden hatte, den er für Don Salvatore aus dem Schließfach geholt hatte. Er nahm aber mit Sicherheit an, daß es sich um einen Schwung falscher Papiere, um Geld, Schecks, Kreditkarten und ähnliche Dinge handelte. Natürlich hatte Don Salvatore vor der Kontrolle die Ausweise und übrigen Papiere, die für ihn verfänglich sein konnten, in seine Jackentasche gesteckt. Franco betrachtete ihn, als er sich neben Maria Rosaria in einem Sessel der Lounge niederließ. Gut sah Don Salvatore in seinem einreihigen Anzug, dem blütenweißen Hemd, der vortrefflich passenden Krawatte und den blanken Schuhen aus. In selbstsicherer Pose saß er da und sprach verhalten auf die schöne Frau ein. Er war der »Re Nero«, der mit Verstand und mathematischer Berechnung arbeitete. Er hatte Fehler begangen, die ihm eigentlich das Genick hätten brechen müssen, und doch – er bot all seinen Gegnern erfolgreich Paroli. Seine ehemaligen Freunde würden sich noch die Zähne an ihm ausbeißen. *
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Franco ging mit seinem Alukoffer zum breiten Tresen der Snack-Bar und bestellte sich einen Cappuccino. Er wollte sich nicht neben den Don und dessen Geliebte setzen. Nicht jetzt, denn das wäre eine Aufdringlichkeit gewesen, zumal er sich ohnehin schon wie das dritte Rad am Wagen fühlte. Seiner Aufgabe als Leibwächter gemäß blickte er sich in dem großen Raum um. Wenn jetzt irgend jemand einen Angriff auf La Forgia unternahm – was dann? Ehe er, Franco, den AluKoffer geöffnet und die Pistole zusammengesetzt hatte, war Don Salvatore längst ein toter Mann. Was blieb? Sollte er sich mit bloßen Händen für diesen Mann einsetzen, ihn womöglich mit seinem Körper schützen? Lohnte sich dieser Einsatz, an dessen Ende der Tod stehen konnte? Männer, Frauen und Kinder waren auf Don Salvatores Geheiß hin jahrelang von der »Anónima Sequestri« entführt worden. Viele von diesen bedauernswerten Opfern, waren nie mehr nach zu Hause zurückgekehrt. Manche nicht einmal nach der Zahlung eines vereinbarten Lösegeldes, weil sie ihre Entführer gesehen, und hätten verraten können … Francos Züge verhärteten sich. Er setzte den Koffer ab, schüttete mit einem langen Löffel Zucker in seinen Cappuccino, rührte um, trank. Er, der Gorilla des Don – was für ein verdammter, verteufelter Auftrag war dies eigentlich? Don Salvatore erhob sich. Maria Rosaria blieb sitzen. Es war ihr deutlich anzusehen, daß sie krampfhaft versuchte, sich zu entspannen. So würde ihr das nie gelingen. Don Salvatore ging zum Zeitschriftenkiosk und blätterte in den neuesten Ausgaben der auflagenstarken italienischen Illustrierten herum. Franco schaute ihm zu, ließ dann seinen Blick wieder durch die Lounge wandern, und stellte fest, daß sich niemand für sie interessierte. Er zahlte seinen Cappuccino und trat zu Don Salvatore. La Forgia blickte von der flüchtigen Lektüre der Zeitschrift 81
»Gente« auf. Sein Lächeln war sparsam. »Wir sollten uns ein wenig unterhalten, Franco«, sagte er. »Jetzt haben wir Zeit dazu. Ich beobachte dich und glaube, daß du deine Arbeit ganz gut machst. Du wirst noch einiges lernen müssen, aber das bringe ich dir schon bei. Ich habe Maria Rosaria gesagt, daß du ein ›bravo ragazzo‹ bist, ein Junge, der in Ordnung ist. Glaub mir, ich habe einen Blick dafür.« Bescheiden war er in seiner Selbstdarstellung nicht. Franco blickte ihm fest in die dunklen Augen, schob die Unterlippe etwas vor und erwiderte: »Ich danke Ihnen, Signore. Aber mir liegt da eine Frage auf der Zunge. Darf ich … sie aussprechen?« »Nur zu.« »Warum benutzen Sie jetzt einen anderen Namen? Ich habe gehört, wie der Beamte den Namen auf Ihrem Paß gelesen hat.« »Das habe ich auch Maria Rosaria eben erklären müssen. Nun, ich will ganz offen sein, denn ich lege Wert auf beiderseitiges Vertrauen. Franco, den Lederkoffer mit dem Paß und anderen Utensilien habe ich schon vor Monaten in dem Schließfach in Rom-Termini deponiert. Als Vorsichtsmaßnahme. Ich habe an einem Prozeß teilnehmen müssen, weil man mich in eine schmutzige Affäre hineingerissen hat. Seitdem bange ich um mein Leben, verstehst du? Ich habe alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen und Vorbereitungen für eine mögliche Flucht getroffen. Dazu zählten auch die Beschaffung von Papieren, die mir eine andere Identität geben, von Geld, Schecks, Kreditkarten und so weiter. Würde ich mich auf den Schutz der Polizei verlassen, wäre ich geliefert.« »Dieser Pubblica-Sicurezza-Mann aus Ragusa war nicht sehr freundlich zu Ihnen«, sagte Franco. »Der! Alle diese Idioten nehmen an, ich hätte etwas mit den Leuten zu tun, die mich in diesen Dreck gezogen hatten. Aber ich bin unschuldig.« Es gab nur »Cause d’ Onore«, Ehrensachen, Konflikte, die gelöst werden mußten. 82
Kavaliersdelikte. Das ist alles. »Ein Mann wie Sie ist unbescholten«, sagte Franco, und in Don Salvatores Ohren mußte es aufrichtig klingen. »Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Was ist das für eine Sache, sie man Ihnen wieder anhängen will?« »Später.« Don Salvatore wählte einen Schwung Zeitschriften, bezahlte sie, drehte sich wieder zu Franco um und wies mit dem Kopf zu Maria Rosaria hinüber. »Diese Frau«, fuhr er leise fort. »Du wirst sie schützen, als sei sie deine Mutter. Sie wird von jetzt an, immer an meiner Seite sein. Ich habe sie schon vor zwei Wochen davon überzeugen können, daß es schön für uns wäre, für einige Zeit ins Ausland zu gehen. Aber sie wußte nichts von den Drohungen, die man gegen mich ausgesprochen hat. Ich habe ihr erst jetzt davon erzählen können, und dann war da der Überfall auf uns, das überstürzte Verlassen der Fattoria – das alles war zuviel für sie.« »Ja, das kann ich nachempfinden.« »Sie ist eine sehr sensible, tief empfindende Frau. Von Beruf ist sie Schriftstellerin, und sie hat mehrere Frauenromane veröffentlicht, die Erfolge geworden sind.« »Donnerwetter«, stieß Franco aus. »Wer so was kann, ist zu beneiden.« »Vielleicht werde ich mit ihrer Hilfe auch etwas zu Papier bringen, Franco.« »Etwas … wie ein Buch?« »Ja. Es soll ein Tatsachenbericht werden.« »Ich kann mir wenig darunter vorstellen, aber ich glaube, dazu brauchen Sie Ruhe. Viel Ruhe.« »Diese Ruhe verschaffe ich mir. Und Entspannung.« Don Salvatore lächelte, es sah beinah’ wölfisch aus. »Übrigens habe ich etwas Ähnliches gestern nachmittag zu der Marazzi gesagt. Sie wird jetzt dasitzen und vor Haß und 83
Eifersucht vergehen. Ich habe vor ein paar Jahren ein Verhältnis mit ihr gehabt – aber behalte das für dich, Franco.« »Natürlich. Ist sie die Verräterin?« »Ich weiß es nicht.« Plötzlich wurde ihr Flug aufgerufen: »AZ 452, Alitalia nach Caracas, Venezuela, alle Reisenden bitte zum Gate 16.« Sie nahmen ihr Handgepäck und begaben sich zum Abflugsgate. Franco sah Maria Rosaria Pandolfi an und stellte fest, daß sie etwas Farbe bekommen hatte. Ihr Blick zu ihm hinüber war huschend, unstet. Was dachte sie über ihn? Daß er ein »bravo ragazzo« war? Im Augenblick war es ihm völlig egal. Don Salvatores Bemerkungen hatte er entnommen, was der Mann als Racheakt gegen seine Freunde von der »Societa« plante – und das war mehr wert als alles andere. Franco wußte jetzt, daß sein Einsatz sich lohnte – falls man den Don nicht innerhalb der nächsten Tage durch einen gut gezielten Schuß ins Jenseits beförderte. *
Luigi Santanastaso betrachtete sein Gesicht im fleckigen Spiegel des schäbigen Hotelzimmers. Ein Pflaster prangte an seiner linken Schläfe, und auf der linken Wange hatte er ein paar Schrammen, die ebenfalls die Scherben der Flasche verursacht hatten, die Maria Rosaria im Pavillon nach ihm geschleudert hatte. »Vecchia Romagna« war in der Flasche gewesen, ein italienischer Brandy. Gigi Santanastaso hatte danach gerochen, als sie mit ihrem gestohlenen Wagen Ragusa erreicht und nach einer Erste-Hilfe-Station, gesucht hatten. Im Städtischen Krankenhaus hatten sie sich schließlich 84
verarzten lassen. Cancognis rechte Schulter hatte schlimm ausgesehen, aber dann stellte sich heraus, daß die Kugel aus Don Salvatores Pistole nicht steckte und auch die Knochen nicht beschädigt hatte. Es war eine reine Fleischwunde, verdammt schmerzhaft, aber alles in allem nicht bedenklich. Der junge Arzt vom »Pronto Soccorso« hatte Fragen gestellt, aber Alfredo und Gigi hatten ihm erzählt, es hätte eine Messerstecherei in einem Nachtlokal gegeben, in die sie verwickelt worden wären. Der »Vecchia Romagna« -Geschmack schien dies zu untermauern, und dann bewirkte ein gutes Trinkgeld, das die Gangster dem jungen Arzt und dem Krankenpfleger der Station gegeben hatten, daß keine Fragen mehr gestellt wurden. Gigi und Alfredo hatten den Wagen irgendwo stehen lassen, eine Flasche Whisky gekauft und dann ihr Hotelzimmer aufgesucht. Sie hatten getrunken und beratschlagt, was zu tun sei, bis ins Morgengrauen hinein. Sie saßen bis zum Hals im Schlamm. Wie die Anfänger hatten sie sich verhalten. Sie hätten den Nerv haben müssen, noch länger in der Tenuta zu bleiben, La Forgia und der Frau den Rest zu geben. Gigi hätte die Frau als Geisel nehmen und so den Don erpressen können. Er hätte nicht die Nerven verlieren dürfen. Hätte. Wenn. Aber. Zu allem Pech hatte Cancogni auch noch das Walkie-Talkie aus der Velourlederjacke verloren. Passo e chiudo. Ende der Durchsage … Wer war der Kerl gewesen, der sie bis zur Straße hin verfolgt hatte? Jemand vom Hof, soviel stand fest. Hatte nicht ein Mädchen neben ihm im Wagen gesessen. War das vielleicht Assunta, das Zimmermädchen der Fattoria, gewesen? Oder jemand anders? »Du hättest nicht zu schießen anfangen sollen«, hatte Alfredo gesagt, während er den Schmerz, der noch in seiner Schulter 85
tobte, durch den Whisky zu betäuben versucht hatte. »Der Kerl in dem Alfasud war ja unbewaffnet.« »Konnte ich das ahnen?« »Nein, das nicht.« »Und dann habe ich ihn ja umgelegt. Ihn allein.« »Du glaubst, er ist tot?« »Ja.« »Trotzdem sitzen wir dick in der Scheiße drin«, hatte Alfredo gesagt. »Wir müssen uns was einfallen lassen, verdammt noch mal, um da ’rauszukommen.« Wie sollten sie ihren Antrag jetzt noch ausführen? Auf das Gut zurückzukehren, war Wahnsinn. Vielleicht brachte der Anruf etwas Neues, etwas, das sie weiterführte. Alfredo Cancogni war ins Erdgeschoß hinuntergegangen, als der mürrische Portier heraufgekommen war und gegen die Tür geklopft hatte. »Telefon für Sie«, hatte der Mann gesagt. Apparate in den einzelnen Zimmern gab es nicht. Nicht in einem Hotel wie diesem. Alfredo hatte den Stuhl mit einem Ruck zurückgestoßen, als er aufgestanden war. Was immer ihm gesagt wurde, wer immer der Anrufer war, er schreckte nicht davor zurück. Er war gegangen, nicht Gigi. Er besaß den größeren Schneid, und das wurmte den hageren Killer. Sein Gesicht verzerrte sich. Wie lange dauert das? fragte er sich. Wie lange quatscht der eigentlich? Schritte näherten sich der Zimmertür und Alfredo trat ein. »Das kam vom Podere La Forgia«, sagte er. »Du kannst dir ja wohl vorstellen, was für nette Worte ich zu hören gekriegt habe. Dreckskerle, Flaschen und Scheißer hat sie uns genannt. Und noch einiges mehr. Aber das ist nicht das Schlimmste.« »Sondern?« »Sie sind weg.« 86
Gigi fuhr vom Spiegel zu Cancogni herum. »Wer? Der Don und die Frau?« »Und der, von dem du angenommen hast, du hättest ihn umgelegt. Dieser Kerl aus dem Alfasud. Er ist mit ihnen getürmt. Mitten in der Nacht, und keiner hat sie entwischen sehen.« »Hat sie ihnen keinen Mini-Sender ins Gepäck oder in den Wagen schmuggeln können?« »Nein.« »Mist, elender. Wo sind die hingefahren?« »Bin ich Hellseher, Gigi? Sag’ mal, kannst du mir keine blödere Frage stellen?« Santanastaso entgegnete: »Weiß sie denn nicht, wohin die abgehauen sind?« »Sie hat nicht den blassesten Dunst. Sie sind mit dem großen Alfa weg, und wahrscheinlich hat dieser Bursche, der uns um jeden Preis stellen wollte, den Chauffeur gespielt. Augusto, der Maggiordomo und Fahrer, ist jedenfalls noch da. Und alle anderen auch.« »Dieser Typ aus dem Alfasud – wer ist das?« »Er heißt Franco Giuliani und hat sich als der neue Gärtner vorgestellt.« »Gärtner – daß ich nicht lache!« »Er scheint ein Gorilla zu sein«, sagte Alfredo Cancogni. »Wie es dem Don gelungen ist, den Burschen für sich zu engagieren, ohne daß unsere Auftraggeber davon erfuhren, bleibt mir schleierhaft. Wir sollten auch nicht darüber ’rumgrübeln, sondern über was anderes.« »Ja«, gab Gigi höhnisch zurück. »Wo die drei Figuren stecken, und wie wir ihnen am besten beikommen. Mann, wir können einpacken. Das ist der größte Drecksjob, den ich je gehabt habe, und ich pfeife auf das Geld. De Crescenzo kann es sich an den 87
Hut stecken.« Cancogni schüttelte den Kopf. Er trat an den Tisch und schenkte sich den letzten Whisky ein, der noch in der Flasche war. »Da täuschst du dich aber gewaltig, mein Junge. Du hast es doch selbst gesagt – De Crescenzo hat die ganze Commissione hinter sich. Er steht nicht allein.« »Na und?« »Du weißt, wie die mit unzuverlässigen, unfähigen Leuten verfahren.« Das Lachen wollte Santanastaso nicht so recht gelingen, aber er sagte trotzdem: »Unsinn, die räumen uns nicht aus dem Weg, wenn wir unverrichteter Dinge nach Mailand zurückkehren. Mensch, so was hat es früher vielleicht gegeben, aber heute – sowas siehst du höchstens im Kriminalfilm.« »Du weißt genau, daß es so ist, wie ich sage.« Santanastaso fühlte, wie seine Hände zu zittern begannen, und das machte ihn noch wütender, als er ohnehin schon war. »Du hast doch selber ’rumgemäkelt! Daß wir für die feinen Signori die Kastanien aus dem Feuer holen, daß wir das größte Risiko tragen und so! Das sollte De Crescenzo mal hören!« »Schrei nicht so. Sollen hier alle hören, was wir machen?« »Es ist mir scheißegal.« »Gigi, ich habe dir gesagt, daß ich so meine Feststellungen treffe, aber nicht, daß ich aussteigen will. Da ist ein feiner Unterschied, verstanden?« »Ja, meinetwegen. In Ordnung. Du hast recht. Zufrieden?« Cancogni trank den Whisky und stellte das Glas auf den Tisch. »Es gibt nur einen Weg«, sagte er. »Wir müssen selbst mit Cesare De Crescenzo sprechen. Es hat wenig Zweck, mit den Vertretern der verschiedenen Familien hier in Sizilien zu verhandeln. Es wäre sogar gefährlich, sage ich dir. Nur wenn wir De Crescenzo vor die Tatsachen stellen, haben wir noch eine 88
Chance.« »Mann, du tust so, als könnten wir noch heute ins Gras beißen.« »Zweifelst du daran, daß die Gesellschaft mächtig ist?« »Nein.« Santanastaso blickte wieder in den Spiegel. Wenigstens konnte er auf dem linken Auge wieder einwandfrei sehen. Er hatte befürchtet, zu erblinden, allein der Gedanke daran hatte ihn rasend gemacht. Jetzt brauchte er diese Angst nicht mehr zu haben. Er beruhigte sich etwas. »Alfredo, du solltest bedenken, daß wir uns mit unseren Kanonen ganz hübsch verteidigen können.« »Wie lange?« »Solange die Munition reicht.« »Ja«, antwortete Cancogni. »Aber mit einer Pistole kannst du nichts ausrichten, wenn dir irgendwo aus purem Zufall ein Zentnergewicht auf den Kopf fällt. Oder wenn du aus purem Zufall mit deinem Wagen von der Straße abkommst. Wir sollten mit De Crescenzo reden, Gigi. Er hat uns in Mailand besucht, bevor er Italien verließ. Wir haben uns gut mit ihm verstanden. Ich will nicht sagen, daß wir Freunde sind, aber …« »Hat sie dir eben am Telefon gesagt, wir sollten das tun?« »Sie hat es mir nahegelegt«, erwiderte Cancogni. »Sie hat mir auch die Nummer gegeben, die wir wählen müssen.« »Wir hätten Mailand nie verlassen sollen«, sagte Sananastaso. »Dort haben wir unsere kleinen Coups abgezogen und hatten weitgehend unsere Ruhe. Da wissen wir, wie wir uns zu bewegen haben. Aber hier … Meine Verwandschaft kommt zwar auch aus einer südlichen Region, aber ich bin in Mailand geboren. Und ich kenne mich mit diesen verdammten Terroni, den Süditalienern, einfach nicht aus. Du weißt nie, was sie denken.« »Hör mal, wir sollen hier ja keine Wurzeln schlagen. Wir 89
sollen La Forgia schnappen und beseitigen, und damit basta.« »Trotzdem verfluche ich den Tag, an dem wir uns mit De Crescenzo geeinigt haben. Er berichtete uns über sein Zerwürfnis mit Don Salvatore, darüber, daß er für einige Zeit untertauchen müsse, um vor dem Don sicher zu sein«, sagte Gigi. »Er erklärte, eines Tages würde er uns Bescheid geben – wenn die Zeit reif wäre. Er sagte uns, was wir tun sollten und mit wem wir eventuell Verbindung aufnehmen konnten. Zwei Männer von auswärts, die nicht zur Mafia gehören, waren angeblich die Richtigen, um diesen Job auszuführen. O, was sind wir doch für Narren gewesen, daß wir den Vorschuß angenommen haben!« »Hör jetzt endlich auf«, sagte Alfredo. »Was ist bloß los? Hast du die Hosen voll? Du willst es bloß nicht zugeben, oder?« Gigi fuhr zu ihm herum. »Sag’ das nicht noch mal.« »Ich sage, was mir paßt.« »Aber du weißt, daß ich dich mit bloßen Fäusten erledigen kann – in deinem Zustand. Mensch, beleidige mich nicht.« Alfredo Cancogni fixierte sein Gegenüber aus schmalen, geröteten Augen. Einen Augenblick lang war er versucht, sich auf den Komplizen zu stürzen. Aber er bezwang sich dann doch. Hölle, Sananastaso hatte ja recht! Ihm, Alfredo, tat die Schulter fürchterlich weh; ihm wurde fast übel vor Schmerz. Auch der Whisky brachte keine dauerhafte Linderung, man mußte der Heilung ihren natürlichen Lauf lassen … »Es hat keinen Zweck, daß wir uns anschreien«, sagte Cancogni langsam. »Wir sind beide wütend, weil es nicht geklappt hat. Aber wir sollten nicht so dämlich sein, auch noch herumzustreiten.« Santanastaso sah es ein. »In Ordnung, Schwamm drüber. Gehen wir jetzt telefonieren.« »Erledigen wir das von irgendwo auswärts«, schlug Cancogni 90
vor. »Der Portier unten in der Halle hat schon bei dem Gespräch von eben andauernd zu mir herübergelinst. Ich habe leise gesprochen, aber wenn wir ein Übersee-Telefonat anmelden, könnte der Bursche doch versuchen, es irgendwie über seine Anlage abzuhören.« »Verrecken soll der Hund«, sagte Gigi. »Fahren wir zum Postamt. Es ist auch ratsam, den Bus zu nehmen.« »Ja. Keinen Wagen.« *
»Poste e Telecomunicazioni« stand in schlanken Lettern über dem Haupteingang des Gebäudes, das die Killer am frühen Morgen betraten. Cancogni trat an einen der Schalter, die gerade erst geöffnet worden waren, gab der Beamtin, die mit verschlafenem Gesicht dahintersaß, die Nummer und eine Anzahlung auf den Endbetrag, dann ging er zu Santanastaso zurück, der auf einer Bank Platz genommen hatte. Er setzte sich neben ihn. »Du siehst elend aus«, sagte Gigi leise. »Mann, klapp bloß nicht zusammen. Mir geht es schon wieder ganz gut, aber du …« »Wenn die verfluchten Schmerzen nicht wären.« »Whisky hilft nicht gegen Schmerzen.« »Nur vorübergehend«, erwiderte Alfredo. »Nachher gehe ich in eine Apotheke und kaufe irgendwelche Tabletten. Ich könnte eine ganze Schachtel Tabletten ’runterwürgen, das schwöre ich dir.« Die Vermittlung hatte die Verbindung hergestellt und gab ihnen ein Zeichen. Gigi und Alfredo blickten sich überrascht an. Sie hatten nicht damit gerechnet, daß ein Transatiantik-Gespräch 91
derart schnell zustandekam. »Kabine zwei« rief die Vermittlung ihnen zu. Sie schritten auf diese Kabine zu, stellten sich hinein, und Gigi nahm den Hörer ab und hielt ihn sich ans Ohr. Fünfmal ertönte das Rufzeichen, dann meldete sich der Teilnehmer. Eine Frauenstimme vom Auslandsamt sagte auf englisch: »Aus Italien, sprechen Sie bitte.« Der Teilnehmer wiederholte, was er schon vorher schlaftrunken gemurmelt hatte: »Ja?« »Ich bin es«, sagte Gigi. »Ich erkenne dich an der Stimme«, antwortete De Crescenzo mit unverkennbarem sizilianischen Akzent. Die Sizilianer rollten das R nicht so hart wie ihre übrigen Landsleute, sie sprachen es fast wie die Engländer aus. »Nenne keine Namen. Warum zum Teufel rufst du an?« »Weil es Neuigkeiten gibt.« »Weißt du, wieviel Uhr es hier ist?« »Zwei oder drei Uhr morgens, oder?« »Ja. Es ist was schiefgelaufen, nehme ich an.« »Das stimmt«, entgegnete Gigi. »Warum hat sie mich darüber nicht informiert?« Gigi sah Alfredo an. Es gab eine Mithörmuschel, Alfredo hatte sie sich ans Ohr gepreßt und also jedes Wort verstanden. »Sie kann von der Fattoria aus nicht nach Amerika telefonieren«, sagte er jetzt. »Sie mußte schon aufpassen, daß sie nicht erwischt wurde, als sie mit mir sprach.« Gigi gab das an De Crescenzo weiter, und dieser forderte jetzt ungehalten: »Los, erzähl’ mir, was vorgefallen ist.« Als Gigi geendet hatte, herrschte am anderen Ende der Leitung zunächst Stille. Dann war ein tiefes Luftholen zu vernehmen, zweimal, dreimal. Gigi und Alfredo sahen sich wieder an. 92
Sie ließen über sich ergehen, was Cesare De Crescenzo ihnen an den Kopf warf. Gigi riß sich mächtig zusammen und brachte schließlich den Nerv auf, mitten in die Schimpfkanonade hinein zu fragen: »Wie sollen wir uns jetzt verhalten? Wo sollen wir nach den Schweinehunden suchen?« De Crescenzo unterbrach sich in seinem Gefluche. »Also gut«, sagte er schwer atmend. »Ihr wißt, was ihr verdient hättet, aber ich will euch noch eine Chance geben. Die letzte. Ihr legt ihn um, verstanden? Ihn und das Weibsbild und diesen Giuliani. Ich kenne weder die Frau noch diesen Giuliani; wenn La Forgia sie schon vor einem Jahr kannte, hat er mir verschwiegen, daß er mit ihnen zu tun hatte. Das ist ja jetzt auch egal. Die Hauptsache ist, daß ihr sie umlegt.« »Aber wie sollen wir sie erwischen?« fragte Gigi langsam. »Wir kriegen ’raus, wo sie stecken. Überlaßt das mir. Hör zu, du Narr, wir haben unsere Leute überall sitzen. Auf den Flugplätzen, auf den Bahnhöfen, in den Ämtern, in Hotels, Restaurants, Läden – überall. Ich fange jetzt an, meine Fühler auszustrecken. Wo seid ihr?« »In Ragusa«, antwortete Gigi. »Im Hauptpostamt.« »Gut. Ich nenne euch die Adresse einer Trattoria. Dorthin geht ihr und wartet dort auf meinen nächsten Anruf.« »Ja.« »Wo sie stecken, kriege ich auf jeden Fall heraus. Auch von hier aus. Und ihr werdet ihnen folgen, von Kontinent zu Kontinent, wenn es sein muß.« »Ich schätze, sie sind noch in Italien«, entgegnete Gigi vorsichtig. »Nein, das glaube ich nicht.« De Crescenzo sagte ihnen, wo sich die Trattoria befand und teilte ihnen auch mit, wie sie den Weg dorthin fanden. Gigi legte wenig später auf, grinste und sagte zu seinem Partner: »Na, habe 93
ich mich diplomatisch genug verhalten?« »Ja. Ich bin froh, daß du so clever warst.« »Gehen wir. Du, sag mal, in welcher Ecke von Amerika hält er sich eigentlich auf?« »Florida, glaube ich.« »Ob Don Salvatore wohl nach dort unterwegs ist, um seinem geschätzten ›Neffen‹ die Hand zu schütteln?« »Witzbold«, gab Alfredo zurück. »Der weiß doch gar nicht, wo De Crescenzo untergetaucht ist.« Sie bezahlten ihr Gespräch und verließen das Postgebäude. Dreieinhalb Stunden später wußten sie, daß Spitzel der Mafia den großen Alfa von Don Salvatore La Forgia auf dem Parkplatz des Flugplatzes von Catania entdeckt hatten, daß La Forgia, Maria Rosaria Pandolfi und Franco Giuliani mit einem Privatflugzeug nach Rom geflogen waren, und daß sie dort am frühen Morgen eine Alitalia-Maschine nach Caracas, Venezuela, bestiegen hatten. *
Im Jet der Alitalia schien Maria Rosaria Pandolfi sich allmählich wirklich zu entspannen. Sonnenstrahlen brachen sich in dem Fenster, an dem sie saß; sie lehnte sich zurück, schloß die Augen und genoß die Wärme und das Licht auf ihrem Gesicht. Don Salvatore, der den Platz neben ihr eingenommen hatte, drehte sich zu Franco um. Franco saß direkt hinter seinem neuen Brötchengeber, ebenfalls auf der linken Seite des Mittelganges. Den Aluminium-Koffer hatte er sich auf die Knie gelegt, hatte eine Ausgabe von »Eva Express«, die Don Salvatore ihm überlassen hatte, darauf placiert und beschäftigte sich mit dem Kreuzworträtsel auf der vorletzten Seite. Er schaute auf, als er 94
das ihm zugewandte Gesicht bemerkte. »O, Don Salvatore«, sagte er. »Kennen Sie vielleicht eine kleine Inselgruppe in der Karibik – mit ›C‹ am Anfang?« »Wieviel Buchstaben?« »Sechs.« »Caicos.« Franco trug es ein, verglich, vervollständigte zwei noch fehlende Wörter und beendete somit das Rätsel. »Danke«, sagte er. »Sie scheinen sich aber gut auszukennen in der Welt.« Teufel, er mußte sich Mühe geben, nicht zu einfältig zu wirken! »Ich bin früher viel gereist«, erwiderte La Forgia. »Auch das Land, in dem wir landen, ist mir bekannt. Ich habe eine Schwäche für Mittel- und Südamerika. Vielleicht liegt das einem Italiener im Blut. Viele meiner Vorväter sind ausgewandert, nach Brasilien, Argentinien und Venezuela, aber auch nach Nordamerika.« Er musterte Franco prüfend. »Du bist aus Italien nie herausgekommen?« »Ich war in Griechenland, das habe ich Ihnen doch gesagt.« »Richtig. Manchmal habe ich den Eindruck, du sprichst nicht wie einer, der aus Matera stammt.« Franco besann sich auf das, was er über den echten Franco Giuliani wußte. »Ich bin dort auch nicht geboren, sondern in einem Dorf, das Bernalda heißt. Es liegt nicht weit von Lido di Metaponto entfernt.« »Metaponto – eine schöne Gegend. Bernalda kenne ich aber nicht.« »In jedem Dorf gibt es einen Dialekt.« »Und wie klingt deiner? Sprich mal ein paar Worte.« Franco kannte sich mit den süditalienischen Dialekten recht gut aus, aber natürlich beherrschte er sie nicht. Er hatte jedoch 95
vorsorglich ein paar Sätze der Bernalda-Mundart erlernt, und die sagte er jetzt lächelnd auf. Don Salvatore nickte. »Sehr gut. Mir gefällt diese Art zu sprechen. In Kalabrien gibt es eine Gegend, in der die Leute einen Dialekt gebrauchen, der dem Albanischen ähnlicher ist als dem Italienischen. Nicht einmal ich begreife, was sie sagen. Ist das nicht komisch?« »Ja, und wie.« »Hat dir jemand das Schachspielen beigebracht?« »Nein.« »Das ist bedauerlich. Aber du kannst es noch lernen. Der Platz neben dir ist frei, wie ich sehe. Rück’ mal ein Stück nach links, Franco.« Franco befolgte die Aufforderung, und Don Salvatore setzte sich neben ihn. Er benutzte den Alu-Koffer als Auflagefläche, stellte das Reise-Schachbrett darauf und erklärte die Bedeutung der Figuren. »Spielen wir eine Probe-Partie«, sagte er schließlich. »Ich nehme die schwarzen Figuren. Ich wähle immer schwarz, grundsätzlich. Weiß eröffnet die Partie und bestimmt so oft durch diesen ersten Zug die gesamte Partie.« »Aber dann ist Schwarz im Nachteil …« »Nein. Ich kenne die Taktik des Gegners und stelle mich sofort darauf ein.« Franco konnte Schach spielen, das war das Fatale an der Situation. Er stellte sich so unbeholfen wie möglich an und hoffte, von La Forgia nicht durchschaut zu werden. Andererseits hätte er nicht zugeben können, daß er das Spiel beherrschte, denn nichts lag einem einfachen jungen Mann aus Matera in der Basilikata ferner als gerade diese Art »Giuoco«. Mit den Karten wußte man dort umzugehen, allenfalls noch mit Damesteinen, nicht aber mit diesen Figuren. 96
Don Salvatore zeigte, wie man mit fünf Zügen einen Anfänger schachmatt setzt. Er lächelte, steckte dann die Figuren in ihre Ausgangsposition zurück. »Hast du dir die Leute im Flugzeug genau angesehen?« fragte er. »Ja.« »Es ist niemand darunter, der uns beschattet?« »Genau kann ich das nicht wissen.« »Sag mir, was du glaubst«, forderte La Forgia ihn auf. »Ich würde sagen, keiner von denen ist hinter uns her. Ich kann es nicht begründen, aber ich spüre es irgendwie.« »Sehr gut. Für die Aufgaben wie deine braucht man Instinkt und Fingerspitzengefühl. Aus dir kann noch was werden, Franco.« »Als Leibwächter? Na, ich könnte vielleicht ein Privatpolizist werden und vor italienischen Banken Wache schieben. Meinen Sie das?« Der Don lachte. »Ja, ungefähr.« Er senkte die Stimme. »Machen wir uns keine Illusionen. Die, die sich zu meinen Feinden erklärt haben, werden nach uns suchen. Sie entdecken den Wagen am Flugplatz von Catania, und sie kriegen auch bald heraus, wohin wir geflogen sind. Sie werden sich an unsere Fersen heften.« »Wirklich? Dann müssen wir sie abschütteln.« »Wie?« »Wir müssen eine falsche Spur legen.« »Ein guter Gedanke«, antwortete Salvatore La Forgia. »Genau das tun wir auch. Aber vorher reizen wir diese gemeinen Hyänen aufs Blut. Sie sind Entführer und Mörder, man sollte sie alle ausrotten.« Himmel, ausgerechnet er sagte das! Es gab Augenblicke, in 97
denen Franco sich wünschte, die Maske fallenlassen zu können. Ihm sagen zu können, was er von ihm dachte. Aber er hielt sich immer wieder sein Ziel vor Augen. Wenn er eine Dummheit beging, brachte er weder Don Salvatore noch sonst jemand zum Straucheln. Über Caracas drehte die Maschine ein paar Warteschleifen, dann setzte sie aus großer Höhe zur Landung an. Der Abstieg ließ es den Passagieren in den Gehörgängen rauschen. Einige verspürten sogar ein unangenehmes Stechen in den Ohren. Maria Rosaria, die seit einiger Zeit eingeschlafen war, wachte jetzt auf und blickte sich etwas verwirrt um. Sie fühlte Don Salvatores Hand auf der ihren. Er hatte wieder den Platz gewechselt und lächelte ihr sanft zu. Franco sah dieses Lächeln durch den Spalt zwischen den beiden Sitzen, die vor ihm waren. Mein Gott, dachte er, er hintergeht auch sie. Sie liebt ihn, aber er weiß nicht, was dieses Gefühl für die Menschen bedeutet. Er hat es nie gewußt und wird es nie begreifen. Sonst wäre er nicht das, was er ist. Die Formalitäten nach der Landung liefen mit ähnlicher Routine wie in Rom-Fiumicino ab, allerdings etwas langsamer. Wieder gab es keine Schwierigkeiten, und Don Salvatore betrat als Ettore Delia Giovanna den Boden von Venezuela. In der Abfertigungshalle drehte er sich zu Maria Rosaria und Franco um. »Unsere Reise ist hier noch nicht zu Ende«, sagte er. »Franco, du gehst zu den Schaltern der Fluggesellschaften und erkundigst dich, welches die nächste Maschine nach Managua, Nicaragua, ist. Ich kenne ein entzückendes Plätzchen in Nicaragua, dort werden wir eine Weile leben. Du kannst gleich buchen, wenn du willst.« »Gern. Und Sie, Signore?« »Ich erledige inzwischen etwas anderes. Ich gehe zum Postamt hier auf dem Flughafen und rufe jemand an. Ich sagte doch – ich will diese Hyänen reizen«, sagte La Forgia. Maria Rosaria 98
blickte ihn verständnislos an. Er hakte sich bei ihr ein, zog sie mit sich fort und sprach verhalten auf sie ein. Franco konnte sich sehr gut vorstellen, welche Art von Telefonaten Don Salvatore tätigen wollte. Leider konnte er dabei nicht zuhören. Er zuckte die Achseln, trat auf den nächsten Informationsschalter zu und zog seine Erkundigungen ein. Kurz darauf buchte er den Flug Caracas-Managua bei der PANAM, deren Zeitplan für sie am günstigsten lag. Sie mußten zwei Stunden warten, dann konnten sie weiterfliegen. Franco zahlte mit Dollarnoten, die Don Salvatore ihm im Alitalia-Jet ausgehändigt hatte. Er steckte das Wechselgeld ein, blickte sich um und stellte fest, daß Don Salvatore und Maria Rosaria im Menschengedränge verschwunden waren. Hier, auf dem Aeropuerto Maiquetia, herrschte quirliges Leben, und das kam dem Mafiajäger sehr gelegen. Der Don konnte ihn jetzt nicht beobachten, und da er im Moment selbst beschäftigt genug war, lief Franco auch keine Gefahr, La Forgia unversehens wieder an seiner Seite auftauchen zu sehen. Franco riskierte es. Er ließ sich an den PANAM-Schaltern telefonisch mit Italien verbinden. Nur zwei Minuten dauerte es, dann hatte er den Agente der Pubblica Sicurezza, Antonio Devia, an der Leitung. Devia hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, er sagte sofort: »Sie wollen das Ergebnis der Fingerabdruck-Untersuchung erfahren, amico, und ich bin ziemlich stolz darauf, etwas Konkretes herausgekriegt zu haben. Auf dem Walkie-Talkie sind die Abdrücke eines Burschen namens Alfredo Cancogni festgestellt worden. Soll ich Ihnen seinen kompletten Lebenslauf mitteilen?« »Nein. Ich stehe hier wie auf glühenden Kohlen.« »Cancogni ist ein Mailänder Gangster, zweimal vorbestraft wegen bewaffneten Raubüberfalls. Er arbeitet mit einem 99
gewissen Luigi Santanastaso zusammen, genannt Gigi, die beiden gelten als unzertrennlich. Wir haben keine Zweifel mehr, daß Santanastaso der zweite Mann im Killer-Duo war, mit dem Sie es im Olivengarten von La Forgia aufgenommen haben, mein Bester«, sagte Devia. »Übrigens haben wir festgestellt, in welchem Hotel Cancogni und Santanastaso untergeschlüpft waren, hier in Ragusa. Wir sind hingefahren, aber die Vögel waren schon ausgeflogen.« »Früher oder später tauchen sie hier auf, nehme ich an. De Crescenzo wird wohl keine anderen Killer engagieren«, vermutete Franco. »Er könnte hundert Mörder auf den Don loshetzen, aber nur bei Cancogni und Santanastaso ist er sicher, daß sich seine Mitwisserschaft niemals nachweisen läßt. Selbst wenn sie geschnappt werden und ihn belasten, kann er alles abstreiten und behaupten, die beiden nie gesehen zu haben.« »Franco, wo stecken Sie?« Franco sagte es ihm und fügte gleich hinzu: »Nein, ich brauche hier keine Unterstützung. Ich werde allein mit der Angelegenheit fertig. Wenn Don Salvatore auch nur einen Poliziotto in seiner Nähe wittert, wird er mißtrauisch und stößt vielleicht alles um.« »Geben Sie auf sich acht.« »Natürlich. Und lassen Sie die Tenuta La Forgia nicht aus den Augen, ja? Ich nehme an, daß dort in den nächsten Tagen zumindest einer der guten Geister des Hauses kündigt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Ich an Ihrer Stelle würde diese Person im Auge behalten. Ohne sie festzunehmen, versteht sich, denn es gibt ja keine Handhabe.« Franco wies kurz auf seinen Fund in dem Gartenhäuschen der Fattoria hin und nannte Devia auch den Namen, auf den es in diesem Zusammenhang ankam. Devia stieß einen Pfiff aus. Franco legte auf und sann nach, ob er auch Colonel Warner verständigen sollte. Aber nein – das dauerte zu lange und konnte 100
für ihn verfänglich werden. Devia würde ohnehin veranlassen, daß COUNTER MOB über Criminalpol Rom von dem neusten Stand der Dinge unterrichtet wurde. Er bezahlte sein Überseegespräch, tauschte dreihundert Dollar in nicaraguanische Währung um, erledigte noch ein paar andere Formalitäten und drehte sich dann mit den Tickets in der Hand um, um nach Don Salvatore und dessen Geliebter Ausschau zu halten. Maria Rosaria stand dicht vor ihm und schaute ihn forschend aus ihren großen dunklen Augen an.
* »Himmel, Signora«, sagte Franco geistesgegenwärtig. »Sind Sie schon lange hier? Ich habe Sie gar nicht bemerkt.« »Ich bin eben erst herübergekommen. Salvatore hat mir gesagt, ich soll nachsehen, wo Sie so lange bleiben.« »Ich habe die Tickets. Habe mich auch um ein paar andere Kleinigkeiten gekümmert«, gab er zurück. Er überlegte krampfhaft, ob sie ihn beim Telefonieren beobachtet haben konnte. Nein, das war schlecht möglich. Sie konnte es nicht gesehen haben. »Gehen wir zu Salvatore«, forderte sie ihn auf. »Er hat mit Italien gesprochen, hat eine Nummer hinterlassen – die vom Postamt hier auf dem Flughafen – und wartet jetzt auf einen Anruf.« Er hat mit einem der Dons in Sizilien gesprochen und hat den Mann bis zur Weißglut gereizt, sagte sich Franco, und dann hat er die Forderung gestellt, daß Cesare De Crescenzo ihn anrufen soll. Wenn er wüßte, wo Cesare steckt, hätte er sich direkt mit ihm in Verbindung gesetzt. 101
»Franco«, sagte Maria Rosaria, als sie nebeneinander herschritten. »Wie gut kennen Sie Salvatore?« »Ich habe ihn gestern zum erstenmal in meinem Leben gesehen, aber ich bin begeistert von ihm«, log Franco ihr vor. »Warum will man ihn Ihrer Ansicht nach entführen?« »Seines Geldes wegen, das ist doch klar.« »Wissen Sie, daß er in einen Prozeß verwickelt war?« Wieder dieser durchdringende Blick, als sie es sagte! Konnte er ihr die Wahrheit sagen und sie zu seiner Verbündeten machen? Nein, unmöglich. Sie würde aus Enttäuschung und Verzweiflung abspringen. Sie besaß nicht die Kaltblütigkeit, es auch nur eine Minute länger an La Forgias Seite auszuhalten, wenn sie erst wußte, was er in Wirklichkeit war. »Ich weiß es«, antwortete er. »Don Salvatore hat mir selbst davon erzählt, aber ich habe keine Ahnung, was man ihm anhängen wollte.« »Es ging um Entführungen im großen Stil. Um die ›Anónima Sequestri‹. Aber Salvatore wurde freigesprochen.« »Das versteht sich doch …« »Halten Sie mich für sehr naiv, Franco?« erkundigte sie sich überraschend. »Ich glaube, daß Sie eine sehr gebildete Frau sind«, erwiderte er. »Sie schreiben doch Bücher, nicht wahr? Warum fragen Sie mich das eigentlich? Worauf wollen Sie hinaus?« »Weil ich von Ihnen hören möchte, ob Sie noch nicht auf den Gedanken gekommen sind, Salvatore könne mit schuld sein, an dem, was passiert.« »Schuld sein? Wie denn? Nein, das ist ausgeschlossen.« »Na dann … ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist«, sagte sie unsicher. »Vergessen Sie, was wir gesprochen haben, 102
Franco. Versprechen Sie es mir?« »Ja. Ich kann schweigen.« Sie schritten auf die Telefonzelle im Postamt zu, in der Don Salvatore stand und sich den Hörer ans Ohr hielt. Der Anruf war da, man hatte La Forgia ans Telefon gerufen und jetzt diskutierte er hitzig mit dem Teilnehmer herum. Er gestikulierte mit der freien Hand, ballte sie zur Faust, und seine Züge waren verzerrt. Franco konnte ihm einige Worte von den Lippen ablesen: »… an das Licht der Öffentlichkeit … wird Zeit, daß es geschieht … alle werden sich wundern … und es mit der Angst zu tun kriegen. Alle!« Der Don schrie es in die Sprechmuschel. Als Franco mit der schönen Frau noch näher an die Kabine herantrat, war jedes Wort zu verstehen. Die Schalldämpfung der Zelle hielt La Forgias Stimmvolumen nicht stand. »Ich bin nicht erledigt, du wirst es noch merken, Cesare. Ich warne dich, du hast dich auf etwas eingelassen, dem du nicht gewachsen bist. Wie? Drohen willst du mir? Daß ich nicht lache …« »Mit wem spricht er denn nur?« wollte Maria Rosaria wissen. »Ich weiß es nicht«, entgegnete Franco. »Ein guter alter Freund scheint das aber nicht zu sein.« Er hielt den Sarkasmus in seiner Stimme in diesem Moment nicht zurück. Maria Rosaria schien aber überhaupt nicht vernommen zu haben, was er gesagt hatte, sie blickte nur starr auf La Forgia. Franco begann, Mitleid mit ihr zu haben. »Cesare«, rief Don Salvatore erregt aus. »Ich werde das, was ich weiß, bekanntgeben, und du kannst mich nicht daran hindern. Du wirst noch staunen. Und für viele ehrenwerte Signori wird es höchste Zeit, daß auch sie ihren Aufenthaltsort wechseln. Ihr kriegt nicht heraus, wo ich stecke. Ihr schafft das nie. Leg’ nicht auf! Ich habe dir noch mehr zu sagen. Leg’ nicht auf!« 103
Plötzlich ließ er den Hörer sinken. Er blickte ihn noch eine Weile an, dann hängte er langsam ein, drehte sich wie in Trance um, und sah durch die Glasscheibe der Kabine auf Franco und Maria Rosaria. Seine Züge entspannten sich. Er öffnete die Tür, trat zu ihnen, lachte und sagte: »So, und jetzt fahren wir in die Stadt und mieten drei Hotelzimmer, nein, besser: ein ganzes Apartment. Damit jeder glaubt, wir wären hier in Caracas geblieben. Franco, haben wir noch soviel Zeit?« »Ja. Anderthalb Stunden bis zum Weiterflug nach Managua.« »Das reicht vollauf. Kommt.« Franco folgte ihm und der Frau und dachte dabei über das schier Unglaubliche nach. Don Salvatore hatte Cesare De Crescenzo, der weiß der Teufel wo steckte, soeben angedroht, er würde das eherne Gesetz der »Omerta«, der Schweigepflicht, brechen. Und bei der bloßen Drohung würde es nicht bleiben. Don Salvatore wollte ein Buch über die Mafia veröffentlichen – das war seine Rache. Er würde mit Hilfe von Maria Rosaria seine »Memoiren« schreiben, eine Biographie und einen Tatsachenbericht zugleich. Heiße Kapitel, die aufsehenerregend und skandalös zugleich waren, denn eine Reihe von bislang scheinbar völlig unbescholtenen »Signori« wurde brutal des Schleiers der Ehrbarkeit und Anständigkeit beraubt. Dieses Buch würde Einzelheiten enthüllen, die es der Polizei leicht machten, die Betreffenden so schwer zu belasten, daß sie um eine Verurteilung nicht mehr herumkamen. Es war das Ende der »Anónima Sequestri« – ein schwerer Schlag gegen die Mafia. Sich selbst würde Don Salvatore selbstverständlich als unschuldigen Dritten darstellen, der dummerweise in die dunklen Machenschaften der Dons von Sizilien und des Mobs an der Ostküste der USA hineingeraten war. Vielleicht benutzte er auch ein Pseudonym, um nach außen hin anonym zu bleiben. 104
Auf jeden Fall wusch er seine Hände in Unschuld. *
»Punti di appoggio« nannte man die Kontaktadressen, an die sich Alfredo Cancogni und Gigi Santanastaso in Caracas gewandt hatten – Hilfs- und Unterstützungspunkte. Die Mafia besaß ihre Vertrauensleute in der ganzen Welt, und auf dieses Netz bauten De Crescenzo und die Männer, die hinter ihm standen. Alfredo und Gigi hatten im Flugzeug keine Waffen bei sich führen können. Sie hatten sie irgendwo in Sizilien in der weitläufigen Campagna, auf dem Land, vergraben. In Caracas war es nun kein Kunststück, sich neue Pistolen zu beschaffen. Dank der Adressen, die sie hatten. Erst auf dem Flughafen Fiumicino in Rom waren ihnen die betreffenden Namen von einem Mann, den sie nie zuvor gesehen hatten, zugeflüstert worden … Binnen zwölf Stunden hatten ihre venezolanischen Helfer herausgefunden, daß am Vortag ein gewisser Franco Giuliani im Stadtteil »El Pedregal« eine Neubauwohnung im fünften Stock eines Hochhauses gemietet hatte. Die Killer, die ihr Äußeres mittlerweile geringfügig verändert hatten, belauerten das Appartment vierundzwanzig Stunden lang. Dann drangen sie in die Räume ein und stellten fest, daß man sie hereingelegt hatte, und das gründlich … Sie bewegten sich den ganzen nächsten Tag über mit ihren Nachforschungen praktisch im Kreis, bis sie endlich darauf kamen, sich auf dem Flugplatz Maiquetia umzuhören. Wieder traten die Verbindungsmänner in Aktion, und das Ende der Ermittlungen stand das niederschmetternde Ergebnis, das Gigi Santanastaso am Abend dieses Tages ihren Auftraggeber per 105
Telefon mitteilen mußte. »Managua?« wiederholte De Crescenzo. »Dorthin sind sie also weitergeflogen … und auch dort versuchen sie, uns an der Nase herumzuführen.« »Ja. Sie legen überall falsche Spuren. Dadurch gewinnen sie Zeit. Kostbare Zeit.« De Crescenzo schnaufte erbost. »Soll ich dir sagen, was La Forgia vorhatte? Er will ein Buch schreiben. Die Pandolfi wird ihm dabei helfen, sie ist ja vom Fach. Mann, er will uns alle anprangern und nach Strich und Faden fertigmachen.« »Das kauft ihm keiner ab …« »Das kaufen ihm alle ab!« schrie der Mafioso. »Mit Kußhand! Und die Bullen brauchen nur noch nachzulesen, was sie tun müssen, um uns alle festzunehmen und in die Pfanne zu hauen. Jawohl, La Forgia will Zeit gewinnen, damit er seine Seiten zusammenschmieren kann.« »Ein Buch schreibt man nicht in ein paar Tagen«, gab Santanastaso zu bedenken. »Das nicht, aber er wird sich schon einen Trick einfallen lassen, um das zeitliche Handikap zu überwinden.« »Sein Tod ist eine dringende Notwendigkeit geworden.« »Das hast du sehr gut ausgedrückt«, erwiderte Cesare mit ätzendem Hohn. »Ich habe dich immer für einen cleveren Burschen gehalten, amico mio. Ich hoffe, du wirst es sein, der Don Salvatore in den nächsten Tagen den Schuß verpaßt. Besorgt euch eine Privatmaschine und fliegt nach Nicaragua. Wendet euch in Managua an einen Mann namens Angelo Gabriele, Avenida San Ubaldo 14. Er wird euch weiterhelfen. Ihr braucht ihm nur zu sagen, daß ich euch schicke.« »Va bene, das geht in Ordnung.« »Drei Tage – mehr gewähre ich euch nicht, um die Sache ins Reine zu bringen.« 106
»Und wenn die Spur in Managua im Sand verläuft, was dann?« »Sie darf nicht im Sand verlaufen«, stieß De Crescenzo wütend aus. »Sorgt dafür, daß ihr diesmal mehr Erfolg habt, sonst seid ihr für mich gestorben. Verstanden?« »Verstanden«, murmelte Gigi Santanastaso in das Mikrofon des Fernsprechers. »Haltet mich auf dem laufenden«, sagte Cesare noch unwirsch, dann knallte er den Hörer auf die Gabel seines modernen roten Tastenapparates. Er atmete ein paarmal tief durch, dann wandte er sich in seinem Drehstuhl um, der in der Mitte des Wohnzimmers stand. Von der breiten Fensterfront aus, zu der Cesare hinübersah, hatte man einen großartigen Ausblick zum Parrot Jungle und zur schäumenden Brandung des Atlantiks. Die Suite lag im vierten Stock eines Beton-Glas-Palastes, der 1977 erbaut worden war. Das Haus stand in Coral Gables, wenige Meilen südlich von Miami und Miami Beach. Cesare war ein großer Mann breiter Statur, etwas zu groß und zu breit und mit Veranlagung zum Bauchansatz. Er faltete die Hände über seinem Bauch, wie, um ihn zu verbergen, streckte die Beine weit von sich und betrachtete seinen weiblichen Gast, der mit dem Rücken gegen einen der Fensterrahmen lehnte und schweigend seinen Worten zugehört hatte. Ihre Blicke begegneten sich. »Was auch kommt, ich bin froh, daß du endlich hier bist«, sagte er. »Ohne dich ist das Leben nur die Hälfte wert – und außerdem ist es gut, daß du aus Monterosso Almo verschwunden bist.« »Ich bereue es, daß ich nicht selbst die Initiative ergriffen habe. Ich hätte ihn hundertmal töten können«, erwiderte sie. »Und du wärst hinter Gitter gewandert.« 107
»Aber er … er wäre tot gewesen und hätte uns nicht mehr im Weg gestanden.« »Keiner von uns darf sich zu Dummheiten verleiten lassen«, sagte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Denn das will er ja nur.« »Bist du sicher, daß deine Telefongespräche nicht abgehört werden?« »Ganz sicher. Dieses Haus gehört der Gesellschaft.« »Und die Gesellschaft … ist hier so mächtig wie auf Sizilien?« »Ja.« »Ich habe mir etwas überlegt, Cesare«, sagte sie. »La Forgia will allen Ernstes ein Buch schreiben, sagst du.« »Er hat es mir selbst mitgeteilt, dieser Hund. Er hat die Frechheit besessen, mich eine Nummer anwählen zu lassen, von der aus er mir geantwortet hat – auf dem Flughafen von Caracas. Zu diesem Zeitpunkt wußten wir schon, daß die drei nach Venezuela geflohen waren. Don Salvatore will uns zur Raserei bringen. Weißt du, was das ist?« »Eine ›Sfida‹«, entgegnete sie ruhig. »Eine verfluchte Herausforderung. Eine Aufforderung zum offenen Kampf. Aber hör’ mich an – wenn er sein Buch veröffentlichen will, braucht er einen Verleger.« »Ich frage mich, ob er ihn sich in Italien sucht.« »Er könnte diesen Dreck auch übersetzen lassen …« »Ins Englische?« »Zum Beispiel. Vielleicht hat die Pandolfi Beziehungen …« Cesare schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie. »Nein! Er hat diese Beziehungen – vielleicht in Nord-, vielleicht in Mittel- oder Südamerika. Er könnte sich mit mehreren Verlegern in Verbindung setzen und sich dann denjenigen an Land ziehen, der anbeißt. Aber für die 108
Gesellschaft mit ihren hervorragenden Beziehungen muß es ein Kinderspiel sein, herauszukriegen, wen La Forgia da kontaktiert. Auf diese Weise packen wir ihn, wenn alles klappt, von zwei Seiten …« »Ja, genau das meinte ich«, sagte sie und lächelte ihm verheißungsvoll zu. *
El Camarón, Nicaragua. Dieser Ort mit dem klangvollen Namen bestand aus nicht mehr als fünf Dutzend Häusern und klammerte sich wie mit Krallen an die Hänge der Cordillera de Darien, etwa so, als wäre seine Position nichts Endgültiges, als könnte eine unglückliche Fügung dieses Nest fortraffen und zerstören. Das große, modernisierte Steinhaus, in das Don Salvatore La Forgia, Maria Rosaria Pandolfi und Franco Solo eingezogen waren, stand gut hundert Yards oberhalb von El Camarón auf einem grasbewachsenen Plateau. Von diesem erhabenen Platz aus blickte man auf das Bergdorf und auf die ganze Welt mit Verachtung herab. Don Salvatore hatte vor Jahren in diesem Haus gewohnt. Aus welchem Anlaß, das hatte er nicht verraten. Von Managua, wo sie wieder eine falsche Spur wie in Caracas gelegt hatten, waren sie nach Granada am Lago de Nicaragua gefahren. Don Salvatore hatte den Besitzer des Hauses aufgesucht, hatte es für eine Woche gemietet, dann hatten sie eine Reiseschreibmaschine, Papier, Kohlepapier und andere Utensilien gekauft, hatten einen Geländewagen gemietet und ihre Reise fortgesetzt. Es war der Morgen des dritten Tages, den sie hier verbrachten. 109
Franco legte seinen üblichen Rundgang zurück und blieb an einem Punkt stehen, von dem aus er einen phantastischen Ausblick auf das Dorf und das Tal zu seinen Füßen hatte. Nichts schien sich dort unten zu regen. Kein Auto rollte die schmale asphaltierte Straße nach El Camarón hinauf oder – bedenklicher – legte das gewundene Stück unbefestigter Straße zurück, das El Camarón mit dem großen Steinhaus verband. Die Pistole – eine Beretta, Kaliber 7,65 Millimeter – hatte Franco in Managua dem Alu-Koffer entnommen und zusammengesetzt. Sie steckte jetzt unter seiner Jacke im Hosenbund, und er hatte ein volles Magazin in ihren Kolben geschoben und zwei ebenfalls fix und fertig präparierte Ersatzmagazine in seinen Taschen verstaut. Er wußte, wo er sich verstecken würde, falls jemand kam. Er kannte das Grundstück des Hauses und die übrige Umgebung. Es gab nichts, das seiner Aufmerksamkeit verborgen blieb. Don Salvatore hatte ihm gesagt, er mache Fortschritte. Sein Vertrauen in Franco Giuliani wuchs. Aber Franco wußte, daß er auf keinen unerwünschten Besucher schießen würde, ohne einen triftigen Grund dafür zu haben. Dieser einzige Grund hieß Notwehr, ganz gleich, wer möglicherweise auftauchte und mit welchen Mitteln er sich gegen sie wandte. Franco beendete seinen Rundgang und beschäftigte sich mit dem Jeep-V-8, den sie sich in Granada besorgt hatten. Er kontrollierte den Öl- und Wasserstand und die Batterie, ließ die Maschine dann an. Sie sprang sofort an. Am Vorabend hatte Don Salvatore gesagt: »Morgen früh fahren wir in das Nest hinunter, Franco. Maria Rosaria und ich, wir sind mit dem ersten Kapitel fast fertig. Wir arbeiten noch bis spät in die Nacht hinein, dann können wir das Original und die Kopien morgen früh abschicken.« »Gibt es in El Camarón denn überhaupt ein Postamt?« hatte Franco sich erkundigt. 110
»Ja, natürlich.« »Der Fortschritt macht auch vor einem so entlegenen Platz wie diesem nicht halt«, hatte Maria Rosaria lächelnd zu Franco gesagt. Sie hatte ihm wieder einen dieser schwer zu beschreibenden Blicke zugeworfen. Aufrichtig, forschend, von tiefer menschlicher Wärme durchdrungen. Wann ging ihr endlich auf, was geschah? Ja, Don Salvatore schrieb mit ihrer Hilfe das Buch. Ein Großgrundbesitzer, einer der letzten »Latifondisti« des Südens, veröffentlichte seine Lebensgeschichte – so stellte er das hin. Ein unbescholtener Mann, der jedoch dank seiner vielen Freundschaften und Bekanntschaften hinter die Ränkespiele gekommen war, die den Süden Italiens beherrschten, die sich bis nach Rom hinauf in den »Quirinale«, den Regierungspalast, zogen. Eine Geschichte von Korruption und Gewalttätigkeit, in der nur einer als integrer Beobachter dastand, der nicht die Macht und die Mittel besaß, gegen all’ dies vorzugehen – Don Salvatore La Forgia. Franco hatte nur einzelne Passagen aus diesem gut verpackten Ammenmärchen vernommen., aber er konnte sich daraus bereits ein ziemlich umfassendes Bild machen. Von Entführungen war da zunächst keine Rede – vielmehr von den wahren Hintergründen folgender Ereignisse: Mord an Politikern der italienischen Centro-Sinistra-Parteien, Mord an Richtern und Staatsanwälten, Mord an Führungskräften der großen Staatsholdings, Fehlleitung von Steuergeldern, Mafiakonten in der Schweiz, riesige Bestechungsgelder eines amerikanischen Flugzeugfabrikanten an italienische Regierungsmitglieder zwecks Auftragsbeschaffung. Ein einziger Skandal. Köpfe würden da reihenweise rollen. Allein das erste Kapitel war von genügend Brisanz, um zumindest in Italien einen Brand zu entfachen … 111
Franco saß hinter dem Steuer des Jeeps und wartete auf Don Salvatore. Die Tür des Hauses öffnete sich. La Forgia erschien und verabschiedete sich von Maria Rosaria, als wäre er ein Geschäftsmann und treusorgender Familienvater, der sich auf den Weg ins Büro begab. Don Salvatore nahm neben Franco im Wagen Platz und sagte: »Also los, fahren wir. Das erste Kapitel hat zwar nur zehn Seiten, aber das genügt uns. Es wird ein Buch mit vielen Kapiteln. Von jedem Aufenthaltsort aus schicken wir eines ab.« »Wir bleiben nicht lange hier?« »Nicht länger als eine Woche.« Franco nickte. Er ließ den Jeep anrollen, verließ das Grundstück, folgte dem Verlauf der einzigen Straße ins Dorf hinunter. Die V-8-Maschine hatte einen runden, energischen Klang; es machte Spaß, diesen Wagen zu lenken. Unter dem stahlblauen Morgenhimmel erschienen die weißen Häuser von El Cameron größer und größer, dann war die Straße zu Ende, und die Gassen des Ortes nahmen sie gefangen. Don Salvatore hatte mit einem seiner vielen Pässe unter dem Namen Antonio Proietti dieses Land betreten. Aber er wußte, daß all diese Vorkehrungen, das Wechseln der Identität, das Legen falscher Spuren, Beiwerk waren. Früher oder später hatten De Crescenzo, Santanastaso und Cancogni die Fährte wiederaufgenommen. Daher die Taktik, alle sechs, sieben Tage den Wohnort zu wechseln. Flucht durch Amerika … wie lange noch? Wenn La Forgia es geschickt genug anstellte, konnte er das Spiel monatelang betreiben. Er konnte sein Buch fertigstellen und Cesare zur Weißglut treiben. Das war seine Rache. Den »Re Nero« konnte man nicht vom Schlachtfeld kehren und auslöschen. Aber was stand am Ende der ganzen Aktion? Was versprach Don Salvatore sich davon? 112
Franco konnte es sich denken. Don Salvatore wollte Cesares Untergang. Wenn er das erreicht hatte, würde er das Buchmanuskript zurückhalten, für einen Riesenbluff erklären. Er würde die »Commissione« erpressen und seine Rehabilitation fordern. Darauf wollte er hinaus. »Wir sind da«, sagte La Forgia. »Halt an.« Franco parkte den Jeep vor dem Postbüro; einem renovierungsbedürftigen Bau mit quadratischen Fenstern, niedriger Tür und abblätterndem Fassadenputz. Sie stiegen aus. Franco blickte zu den Dorfbewohnern, die zusammengelaufen waren und sie mit unverhohlenem Interesse musterten. Franco wartete, bis Don Salvatore den Bau betreten hatte, dann folgte er ihm und stellte sich im Innern des Oficios so, daß er die gesamte Umgebung im Auge behielt. Fünf Päckchen gab Don Salvatore als Einschreiben-EilbotenSendungen auf. Franco hatte am Abend die Anschriften lesen können. Das Original ging an einen Verleger in Turin; Maria Rosarias Verleger. Die vier Durchschriften waren für zwei Verleger in den USA bestimmt (New York und Boston), für einen in Puerto Rico und für einen Agenten in Sao Paolo, Brasilien. Eine fünfte Durchschrift hatte La Forgia für sich behalten. Sie befand sich oben in dem Haus, unter Verschluß mit einigen handschriftlichen Notizen, für die Franco sich brennend interessierte, an die er aber nicht herankam. Die Namen der Verleger und des literarischen Agenten. Franco suchte nach einem Weg, sie direkt an COUNTER MOB weiterzugeben, fand ihn aber vorläufig nicht. Er konnte nur abwarten und auf eine Gelegenheit hoffen. COUNTER MOB mußte das erste Kapitel abfangen oder bei den verschiedenen Adressaten in seinen Besitz bringen. Nein, die Wahrheit sollte der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden. Nur mußte verhindert werden, daß Mißbrauch mit dem 113
Manuskript getrieben wurde – daß die von Don Salvatore Bloßgestellten gewarnt wurden, daß La Forgia seine dunklen Ziele erreichte. Sowohl seine »Hinrichtung« durch die Killer der Mafia als auch Cesare De Crescenzos Tod mußten verhindert werden. Es war Franco Solos Aufgabe, sie zum Straucheln zu bringen und das Material zu beschaffen, das sie beide hinter Gitter brachte. Don Salvatore bezahlte die Gebühren, nahm seine Quittungen entgegen und steckte dem Postbeamten – dem einzigen im Raum – ein Trinkgeld zu, das dieser auch grinsend annahm. Sie wollten in den Jeep klettern, als ein knatterndes und flatterndes Geräusch den Himmel erfüllte. Die Männer, Frauen und Kinder, die den Jeep umstanden, hoben die Köpfe. Sie stießen bewundernde Rufe aus und redeten aufgeregt durcheinander. Und dann sahen auch Franco und La Forgia den Zivilhubschrauber, der in nicht allzu großer Höhe über El Camarón hinwegschwebte und Kurs auf die Cordillera de Darien nahm. »Maledetto«, stieß Don Salvatore aus. »Verdammter Hund – er fliegt zum Haus hinauf, Franco. Die Dreckskerle sind da. Sie haben uns.« Franco schwang sich hinter das Steuer des Wagens. Don Salvatore kletterte mit einer Behendigkeit, die man ihm kaum zutraute, zu ihm, dann fuhren sie los und ließen eine Staubfahne hinter sich zurück, die die verblüfft und entsetzt dreinblickenden Menschen von El Camarón einhüllte. *
Maria Rosaria Pandolfi hörte das Geräusch des HubschrauberRotors und eilte an das Fenster, das von der Front des Hauses auf das Tal hinausblickte. Sie sah die Maschine direkt auf sich 114
zufliegen und erschrak zutiefst. Keinen Augenblick lang zweifelte sie daran, daß das Auftauchen des Hubschraubers ihnen galt. Sie spürte wieder dieses lähmende Gefühl, das sie auch im Pavillon des Poderes La Forgia gefangengesetzt hatte. Sie wehrte sich dagegen, stieß einen erstickten Laut aus, drehte sich dann um und lief ins Wohnzimmer. Auf keinen Fall hierbleiben, dachte sie. Hier sitzt du in der Falle. Sie suchte mit zitternden Händen nach dem Schlüssel, fand ihn, schloß den Schrank auf, in dem Salvatore seine Notizen aufbewahrte. Er hatte sie in dem ledernen Aktenkoffer verstaut, den Franco Giu-Hani aus dem Schließfach in RomaTermini geholt hatte. Maria Rosaria riß diesen Koffer an sich und hastete zur Tür. Das Knattern des Hubschraubers war lauter geworden. Es dröhnte in ihren Ohren und ließ sie aufschreien. Sie fühlte sich an jede Phase des Geschehens im Pavillon erinnert, spürte den Tod in ihrer Nähe. Panik ergriff sie. Aber sie wollte nicht die gleichen Fehler begehen wie auf Sizilien. Mit einem Ruck öffnete sie die Tür, blickte nach oben – der Hubschrauber war noch nicht zu sehen. Sie tat, was Salvatore La Forgia ihr immer wieder für den Fall eines solchen Ereignisses eingeschärft hatte. Mit dem Koffer in der Hand ergriff sie die Flucht. Fort, in den Wald, in ein Versteck – das war ihre einzige Chance. Sie war froh, sich kein Kleid, sondern einen Hosenanzug übergestreift zu haben. Damit fiel ihr das Laufen leichter. Sie rannte los, quer über das Grundstück hinweg. Eine schlanke Frau mit langen Beinen, die von der Angst vor dem Tod angetrieben wurde. Der Hubschrauber war über das Haus hinweggeschwebt und setzte zur Landung an. Gigi Santanastaso kauerte mit der Maschinenpistole, die er sich in Managua beschafft hatte, in der 115
offenen Luke. Plötzlich sah er die Gestalt der Frau, drehte sich zu Cancogni um und schrie: »Sie haut ab! He, sie türmt mit einem Koffer in der Hand!« »Stoppen wir sie«, brüllte Alfredo gegen den Motorenlärm an. Santanastaso zögerte nicht. Er jagte eine Garbe aus der Mpi; die Waffe ruckte in seinen Fäusten. Staubfontänen spritzten hinter Maria Rosarias Beinen hoch. Sie stolperte, schien zu Fall zu kommen., fing sich aber dann wieder, hetzte weiter und erreichte den Rand des nicht umzäunten Grundstücks. Der Wald war nah, er nahm sie schützend auf. Die Wipfel von Kiefern, Pinien und Sykomoren raubten Gigi die Sicht. Er fluchte. »Setz' mich hier ab und verfolge sie«, rief er dem Begleiter zu. »Hol dir den Koffer. Ich kümmre mich um die anderen beiden.« Cancogni ließ die Maschine tiefer sinken. Als sie nur noch etwa zwei Yards über dem Erdboden schwebte, sprang Gigi aus der Luke und landete auf dem grasbewachsenen Untergrund. Er fing den Aufprall in den Knien ab, ließ sich sinken und rollte sich auf dem Boden ab. Rasch sprang er wieder auf und stürmte auf die offene Haustür zu. Cancogni zog den Helikopter etwas höher und nahm Fahrt auf. Im Tiefflug steuerte er auf den Wald zu, hoffte die Frau noch zu sehen, wurde aber enttäuscht. Er ließ die Maschine steigen, lenkte über die Bäume hinweg, hielt ununterbrochen nach ihr Ausschau. Seine Schulter tat nun nicht mehr weh. Er war durchaus in der Lage, eine Maschine wie diese über größere Distanzen zu bewegen. Seinen Wehrdienst hatte er bei der italienischen Luftwaffe abgeleistet, hatte dort gelernt, mit Hubschraubern umzugehen – und daraus war in Managua seine Idee erwachsen, einen Helikopter zu mieten, um nach Don Salvatore, Franco Giuliani und der Frau zu suchen. Angelo Gabriele, der Mann der Mafia in Managua, hatte sich 116
als vortrefflicher Helfer herausgestellt. Durch ihn hatten sie alles herausgekriegt – und diesmal hatten die falschen Spuren, die Don Salvatore in Managua und Granada gelegt hatte, die Killer nicht irregeleitet. Sie hatten den Besitzer des Hauses von El Camarón gefunden, und obwohl La Forgia diesem Mann viel Geld für sein Schweigen gezahlt hatte, hatte er doch die Wahrheit sagen müssen. Cancogni und Santanastaso kannten viele Mittel, um einen Mann zum Reden zu bringen. Cancogni hatte seine Haare jetzt so kurz schneiden lassen, daß es aussah, als habe er eine Glatze. Santanastaso hatte seinen dünnen Schnauzbart, entfernen und sich ebenfalls das Haupthaar stutzen lassen. Sie trugen beide elegante Anzüge und wirkten wie geldschwere Makler, die aus geschäftlichen Gründen durch die Gegend reisten. Cancogni flog mit dem Hubschrauber nicht mehr als einhundert Yards über den Wald hinweg, dann hatte er Maria Rosaria wieder entdeckt. Sie hastete durch das Unterholz dahin; die Wipfel der Bäume waren an dieser Stelle so licht, daß er sie ohne Schwierigkeiten erkennen konnte. Er blickte kurz auf die Maschinenpistole, die neben ihm vor dem Platz des Copiloten lag. Noch konnte er sie nicht einsetzen, aber er würde es so einrichten, daß er landen und auf die Frau feuern konnte. Sie mußte sterben, wie die beiden Männer – alle drei sollten ausgelöscht werden, so wollte es Cesare De Crescenzo. Gigi feuerte in die offene Haustür, rannte weiter, war im Flur des Hauses und warf sich auf den Boden. Er überrollte sich, bis er Deckung hinter einem wuchtigen Möbelstück fand, jagte noch eine Garbe aus der Waffe, rappelte sich wieder auf und lief weiter. Er drang nach der Manier eines trainierten Fallschirmjägers mit der vorgehaltenen Mpi ins Wohnzimmer ein. Auch hier traf er weder mit Don Salvatore noch mit Franco zusammen … 117
Er suchte weiter. Im ganzen Haus. Seine Inspektion endete im Wohnzimmer, und aus Wut über seinen Mißerfolg drückte er wieder ab und hielt auf die Fenster des Raumes. Die Projektile zersägten die Scheiben. Es krachte und klirrte häßlich, und ein Scherbenregen ging im Freien auf dem Grasteppich nieder. »Wo steckt ihr?« schrie Gigi. Er wußte, daß sie einen Jeep gemietet hatten – auch das hatten sie in Granada erfahren. In der Garage des Hauses stand der Wagen jedoch nicht. Sie war leer. Wohin hatten sich die beiden Männer gewandt? Gigi begriff, daß er einen Fehler begangen hatte. Er härte bei Cancogni im Hubschrauber bleiben sollen. Was sollte er jetzt tun? Unverrichteter Dinge hier im Haus verweilen? Er kehrte zur Tür zurück und rannte ins Freie. Er wollte Maria Roosaria durch den Wald verfolgen, ihren Vorsprung aufholen, sie mit Alfredo zusammen stellen. Sie mußte ihnen verraten, wo La Forgia und Giuliani steckten … Er hatte die Distanz zwischen Haus und Wald ungefähr zur Hälfte überbrückt, da vernahm er das summende Mototengeräusch, blickte nach rechts und sah den Jeep-V-8 die unbefestigte Straße heraufkommen. *
»Der Hubschrauber ist in Richtung Wald geflogen«, rief Don Salvatore Franco zu. »Dio mió, ich habe Maria Rosaria gesagt, sie solle im Gefahrenfall fliehen – und jetzt sind die Kerle ihr auf den Fersen. Schneller, Franco, schneller!« Franco sah den Mann auf dem Grundstück vor dem Haus und sagte: »Da, der Kerl mit der Maschinenpistole, Don Salvatore! Er bleibt stehen, hebt die Waffe, zielt auf uns. Ducken Sie sich!« 118
Don Salvatore zog den Kopf ein. Franco beugte sich ebenfalls so tief wie möglich, erhöhte die Geschwindigkeit und hielt genau auf den Kerl zu. Der Gestalt nach schien es jener Bursche zu sein, der auch in der Nacht auf dem Gut auf ihn geschossen hatte. Liugi Santanastaso, genannt Gigi. Franco hatte die Pistole aus dem Hosenbund hervorgezogen, hatte sie entsichert und unter seinen rechten Oberschenkel geschoben, als sie noch unten im Dorf gewesen waren. Jetzt, da er keine Kurven mehr zu bewältigen hatte und nur noch eine Hand zum Lenken brauchte, hielt er das Steuer des Jeeps mit links fest und angelte sich die Beretta. Aufheulend rollte der Jeep auf den Killer zu. Santanastaso schoß. Franco duckte sich ganz nach unten und konnte nun nicht mehr sehen, wohin er fuhr. Die Kugeln aus der Mpi hackten in die Windschutzscheibe des Jeeps, zersägten sie, rasselten gegen die Fahrzeugfront, trafen den linken Vorderreifen, aus dem die Luft entwich. Die Maschinenpistole ratterte ihr höllisches Lied. Gigi wich in Richtung auf den Wald aus und ließ den Wagen an sich vorbeirollen Plötzlich brach das Rattern ab. »Ladehemmung«, schrie Don Salvatore triumphierend. »Oder das Magazin ist leer«, rief Franco zurück. Er trat abrupt auf die Bremse. Der Jeep, dessen Fahrt schlingernd geworden war, blieb stehen. Franco sprang aus dem Schlag, umrundete das Heck des Wagens mit der Beretta in der rechten Hand und sah den Killer, der auf den Wald zulief und dabei mit der Maschinenpistole herumhantierte. Er versuchte, ein Reservemagazin einzusetzen. Franco rannte ihm nach. »Schieß«, brüllte Don Salvatore aus dem Seitenfenster des Jeeps. »Mach’ ihn fertig, Franco! Schieß!« 119
Franco schoß nicht. Nicht auf den Rücken eines Fliehenden. Das war nie sein Stil gewesen. Er spurtete und holte auf, ehe Gigi das neue Magazin der Mpi mit dem alten vertauschen konnte. Franco steckte die Pistole weg, hechtete auf die Beine des Killers zu, packte sie und warf Santanastaso zu Boden. Santanastaso verlor als erstes das Reservemagazin aus der Hand, dann das leere, das er aus dem Stutzen der Waffe gezogen hatte. Er warf sich auf dem Boden herum, balgte sich mit Franco Solo und trachtete ihm die Maschinenpistole auf den Schädel zu schlagen. Franco wußte sich gegen diese Hiebe zu schützen. Aus seiner Deckung heraus landete er dann einen rechten Haken unter dem Kinn des Killers, genau in dem Moment, als dieser wieder die Mpi hochhob, um sie auf Francos Kopf niedersausen zu lassen. Santanastaso zuckte zusammen. Die Mpi entglitt seinen kraftlos werdenden Fingern. Er schloß die Augen und lag reglos da. Franco erhob sich. Er drehte sich zu Don Salvatore um, der von dem durchlöcherten Jeep herübergelaufen kam und rief ihm zu: »Don Salvatore, geben Sie auf diesen Mann acht!« »Ja, das tue ich«, gab La Forgia zurück. »Und ob ich das tue!« Franco wandte sich ab und rannte in den Wald. Er zog wieder die Beretta aus dem Hosenbund, hastete zwischen Baumstämmen und niedrigen Büschen dahin, suchte nach Maria Rosaria Pandolfi. Zweimal rief er ihren Namen, aber das Knattern des Hubschraubers war zu laut, er überlagerte jedes andere Geräusch. Die Maschine schien sich tiefer herabzusenken, schien irgendwo zur Landung anzusetzen. Plötzlich konnte Franco ihren Rumpf zwischen den Bäumen erkennen. Er rannte auf den Hubschrauber zu.
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* Die Lichtung war groß genug, um zwei Hubschraubern dieser Größe Platz zum Landen zu bieten. Alfredo Cancogni reduzierte die Flughöhe, verringerte durch Hebeldruck die Drehzahl des Rotors; der Abstand zum Untergrund schrumpfte, und dann setzte die Maschine ziemlich hart auf. Das Gras und das Buschwerk der Lichtung duckte sich unter dem Luftdruck, den der kreisende Rotor erzeugte. Staub wirbelte hoch. Cancogni hatte die Frau am Rand der Lichtung entlangeilen sehen, jetzt war sie wieder im Wald verschwunden. Sie schien nicht genau zu wissen, wohin sie sich wenden sollte. Sie war kein Profi, der die Kaltblütigkeit besaß, irgendwo unterzukriechen und auf seinen Todfeind zu warten. Sie schien auch keine Waffe bei sich zu tragen. Mit dir habe ich leichtes Spiel, dachte Cancogni. Er griff sich die Maschinenpistole, öffnete die Luke und sprang aus der Kanzel. Unter dem auslaufenden Rotor rannte er zu dem Punkt der Lichtung, an dem er Maria Rosaria zuletzt gesehen hatte. Er tauchte in den Schatten des Waldes. Ein paar Yards weit lief er, dann hatte er sie wieder vor sich. Sie war eine gute Läuferin. Wie ein Reh jagte sie durch das Unterholz, wich mal nach links, mal nach rechts aus. Den ledernen Aktenkoffer hatte sie noch bei sich. Sein Inhalt mußte von größter Wichtigkeit sein. Cancogni war sicher, daß Gigi Santanastaso La Forgia und Giuliani in dem Haus gestellt und erledigt hatte. Den Garben einer Maschinenpistole waren sie nicht gewachsen. Sie hatten sich nach den Informationen, die Gabriele eingeholt hatte, auch nicht mit schnellfeuernden Waffen eingedeckt, mit denen sie einen solchen Angriff abwehren konnten … Maria Rosaria war durch keines der Projektile aus Gigis Mpi 121
verletzt worden, dazu war die Distanz zu groß gewesen. Cancogni überlegte sich, ob er sie jetzt einfach mit einer Garbe niederstrecken sollte. Aber er dachte an das, was De Crescenzo ihnen während des letzten Telefonats, das sie von Managua aus mit ihm geführt hatten, gesagt hatte. Vergewaltigt diese Hure, wenn ihr sie packt, besorgt es ihr, ehe ihr sie abserviert. Schnell und leichtfüßig bewegte sich Maria Rosaria dahin – aber Alfredo war schneller. Er holte auf. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück, schrie auf, als sie ihn sah, schlug einen Haken nach links. Es nützte ihr nichts. Er hatte keine Mühe, mitzuhalten und entsprechend auf ihre Ausweichmanöver zu reagieren. Mehr und mehr verkürzte sich der Abstand zwischen ihnen, und er bereitete sich darauf vor, sich auf sie zu werfen. »Cancogni!« Der Ruf kam von rechts, und Alfredo war völlig perplex darüber, daß jemand seinen Namen benutzte. Santanastaso konnte es nicht sein, er hätte sich in jedem Fall seines Vornamens bedient … Abrupt blieb der Killer stehen und fuhr nach rechts herum. Er begann zu blinzeln, denn der Mann, den er zwischen den Bäumen erkannte, stand im Gegenlicht der Sonne. Scharf schnitten sich die Strahlen ihren Weg durch die Baumgipfel. Cancogni verfluchte sie, riß die Maschinenpistole hoch. Maria Rosaria lief keuchend weiter, stolperte aber jäh über eine Baumwurzel und fiel hin. Sie blieb liegen und gab ein paar gestammelte, schluchzende Laute von sich. »Die Waffe weg, Cancogni«, rief der Fremde im Wald. Cancogni drückte ab. Trocken hämmerte die Maschinenpistole, sie vibrierte in seinen Fäusten, und das 122
Zucken setzte sich durch seinen rechten Arm bis in die verletzte Schulter hinauf fort. Die Schmerzen kehrten wieder. Cancogni feuerte in das gestreifte, grelle Sonnenlicht hinein, aber er hatte den Eindruck, daß die Gestalt des Gegners plötzlich nicht mehr da war. Franco hatte sich schnell hinter einem Baumstamm in Deckung geworfen. Cancognis Schüsse lagen zu weit links, Franco konnte es wagen, hinter dem Stamm der Pinie hervor mit der Beretta auf den Killer zu zielen. Zweimal drückte er ab. Alfredo Cancogni schrie auf und ließ die Mpi aus seinen zerschossenen Händen fallen. Seine Finger brannten wie Feuer, seine Arme taten weh, seine Schulter schmerzte, es toste in seinem Kopf und flirrte vor seinen Augen. »Aufhören«, brüllte er. »Heb' die Hände hoch«, befahl Franco ihm. Langsam kroch er aus seiner Deckung hervor. Cancogni wollte sich nach der Mpi bücken und sie wieder aufheben. Er bildete sich ein, die Hände doch noch benutzen zu können. Franco hob die automatische Pistole mit beiden Händen. Seine linke Hand hielt das rechte Handgelenk umklammert, er zielte sehr genau und setzte die nächste Kugel dorthin, wo die Maschinenpistole lag. Staub stob hoch. Cancogni wich zurück, taumelte, verzerrte das Gesicht. »Heb' die Hände über den Kopf« schrie Franco. Cancogni gehorchte wieder nicht. Er warf sich herum und floh. Ein eisiger Schreck durchfuhr Franco, er dachte, Cancogni würde versuchen, Maria Rosaria als Geisel zu nehmen. Aber er irrte sich. Alfredo Cancogni rannte zu dem Hubschrauber. Seine Hände bluteten und brannten immer heftiger, der Schmerz in der Schulter machte ihn wahnsinnig. Er wollte fort. Im Haus schien 123
etwas schiefgelaufen zu sein. Wieder. Wie in Monterosso Almo. Wer war der Kerl, der so unheimlich präzise schoß? Giuliani? Er mußte es sein. Er hatte aus der Erfahrung gelernt, hatte sich bewaffnet, um sich nicht wieder von ihnen, Santanastaso und Cancogni, anschießen zu lassen. Das ist ein Gorilla, hatte Gigi in dem schäbigen Hotelzimmer von Monterosso Almo gesagt. Er ist uns überlegen, dachte Alfredo. Zu groß für uns, ein paar Nummern zu groß … Franco hetzte dem Killer nach und schickte einen Warnschuß über seinen Kopf hinweg. Cancogni duckte sich aber nur, rannte weiter, schien um jeden Preis die Lichtung erreichen zu wollen. Auf der Lichtung erstarb das Flappen der Rotorblätter. Franco wandte sich nach links, spurtete, überholte Cancogni und schnitt ihm den Weg zur Maschine ab. Cancogni bemerkte es, bog nach rechts ab und lief durch den Wald nach Norden, dorthin, wo die schrofferen Hänge der Cordillera begannen. Es hämmerte in seinem Hirn, die Schmerzen in Händen, Armen, Schulter nahmen zu, ihm wurde schwindlig. Er strauchelte und stürzte, Schmutz bedeckte seine Hände und ließ sie so höllisch brennen, daß er fast aufschrie. Er biß die Zähne zusammen. Das Gelände wurde jetzt steiler, er mußte klettern. Der Baumbestand wurde lichter. Cancogni stolperte auf Geröll, drohte wieder auszurutschen und hinzufallen, fing sich aber rechtzeitig. Der Abgrund öffnete sich völlig überraschend vor ihm. Cancogni blieb stehen und blickte in die Tiefe. Es war ein scharfer Abbruch, aber der Hang, der zehn oder noch mehr Yards weit abfiel und dann in eine Art Mulde überging, war bewachsen, nicht kahl, schien auch nicht vertikal, sondern etwas abgeschrägt zu verlaufen. Schritte in Cancognis Rücken verkündeten, daß der Verfolger nicht aufgegeben hatte. Er war da, brauchte nur fünf, sechs, 124
sieben Sekunden, um bei ihm zu verharren und die Waffe zum tödlichen Schuß zu heben. Er bringt dich um, dachte Concogni. Er zog nicht in Erwägung, daß Franco ihn bislang verschont hatte und es auch weiterhin tun würde. Er wollte es nicht glauben. Die dem Abgrund gegenüberliegende Wand war zu weit entfernt. Cancogni durfte nicht darauf hoffen, sie durch einen Sprung zu erreichen. Er hatte nur eine Möglichkeit. Er trat an den Abbruch, setzte sich auf den Hosenboden, streckte die blutigen Hände von sich, preßte die Lippen zusammen. Dann verlieh er sich einen Ruck … Franco gelangte an den Abgrund und hatte den Eindruck, daß Alfredo Cancogni spurlos verschwunden war. Dann aber blickte er in die Tiefe und nahm eine Bewegung in den Büschen wahr, die dort unten den Boden dicht bedeckten. Cancogni hatte sich den Abhang hinabgleiten lassen, wie auf einer Rutschbahn. Franco zögerte nicht, er folgte diesem Beispiel. Bei der kurzen, holpernden Talfahrt schlugen ihm Zweige und Blätter ins Gesicht, und ein paar Dornen ritzten seine Haut. Dann war er unten und suchte im Dickicht nach dem Killer. Wenig später mußte er aufgeben. Cancogni hatte es geschafft, sich durch das Dickicht in den Wald östlich der Schlucht abzusetzen. Franco konnte ihn nicht mehr sehen und nicht mehr hören, und es hatte keinen Sinn, nach Gutdünken irgendeine Richtung einzuschlagen und weiterzuf ahnden. Er fand einen schmalen Naturpfad, über den er zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren konnte. Er erreichte die Randzone der Lichtung, auf der der Hubschrauber stand. Maria Rosaria war noch da, sie ging gebückt umher und schien im Gebüsch etwas zu suchen.
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* Sie schien es nicht zu bemerken, daß er auf sie zutrat. Erst als er dicht vor ihr stand, hob sie den Blick, sah seine Gestalt und fuhr zusammen. Sie blickte in sein Gesicht, erkannte ihn, und mit einem Seufzer gab sie ihre starre, verkrampfte Haltung auf. Sie erhob sich, und dann brach alles aus ihr heraus, die Verzweiflung, die Todesangst, das Entsetzen und die Gewißheit, nur knapp einem furchtbaren Ende entronnen zu sein. Sie fiel ihm um den Hals und preßte sich fest an ihn. Er spürte die Weichheit und Wärme ihres Körpers, ihrer Brüste, hörte ihre gestammelten, geflüsterten Worte. »Du … du hast mir das Leben gerettet … ich danke dir … ohne dich wäre es jetzt aus … alles aus …« Franco konnte der Versuchung nicht widerstehen, umarmte sie ebenfalls. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er, um irgend etwas zu sagen. »Sie brauchen jetzt keine Angst mehr zu haben. Die Kerle können uns nicht mehr gefährlich werden.« Sie löste sich von ihm und blickte ihm ernst in die Augen. »Ich werde dir das nicht vergessen, Franco.« »Ich werde dafür bezahlt, Sie zu beschützen.« »Das ist es nicht.« »Was dann?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Diese spontane Geste, mein Verhalten eben … sag Salvatore lieber nichts davon. Er ist fürchterlich eifersüchtig.« »Natürlich. Wo ist er?« »Wohl noch beim Haus«, antwortete sie. Franco wunderte sich darüber, daß der Don noch nicht erschienen war, um nach Maria Rosaria zu suchen und zu sehen, wie der Schußwechsel zwischen Franco und Cancogni ausgegangen war. 126
Er zuckte die Achseln, drehte sich um und begann mit dem Blick den Untergrund abzutasten. »Suchen Sie was? Sie haben doch was verloren, oder?« »Ja. Den Koffer.« »Den dunkelbraunen aus Leder?« »Ja, den.« Franco half mit, danach zu suchen, und er war es schließlich, der das Aktenköfferchen zwischen den Büschen entdeckte. Bevor er Maria Rosaria, die näher zur Lichtung hin danach forschte, Bescheid sagte, kniete er sich ins Dickicht und öffnete ihn. Wie erwartet enthielt der Koffer die fünfte Durchschrift des ersten Buchkapitels, einen ganzen Wust handschriftlicher Notizen Don Salvatores, Bargeld, falsche Papiere, Kreditkarten und Schecks. Franco blätterte schnell in den Kladdern herum, suchte ein paar Blätter heraus und steckte sie sich zu. »Franco?« sagte Maria Rosaria. »Hier«, antwortete er und klappte den Kofferdeckel zu. »Sie werden staunen, ich habe ihn gefunden.« Er kontrollierte, ob die Schlösser auch wirklich zugeschnappt waren, richtete sich auf und hielt den Lederkoffer hoch. Maria Rosaria lachte erleichtert auf und kam zu ihm herüber. »Dio mió, ich bin dir schon wieder zu Dank verpflichtet, Franco. Als ich vor diesem … diesem schrecklichen Kerl floh, bin ich hingefallen und habe den Koffer verloren. Er ist durch den Schwung so weit fortgeflogen, daß ich ihn einfach nicht wiederfinden konnte.« Er nickte. »Hören Sie, es wäre besser, wenn Sie mich wieder siezen würden.« »Ja, das ist wohl besser. Was ist eigentlich aus diesem Killer geworden?« »Er ist mir entwischt, aber er kann nichts mehr gegen uns 127
unternehmen.« »Trotzdem müssen wir fort von hier«, erwiderte sie. »Ja. Es gibt nur einen Polizisten unten im Ort, aber die Schüsse sind in El Cameron natürlich vernommen worden. Der Beamte wird sich jetzt entweder selbst in Marsch setzen oder Verstärkung anfordern«, sagte Franco. »Auch wenn die vom nächsten Städtchen aus anrücken muß, haben wir höchstens eine halbe Stunde Zeit, unsere Spuren zu verwischen und uns aus dem Staub zu machen.« »Das klingt, als wären wir die Verbrecher.« »Ich kann mich nicht so gewählt ausdrücken«, meinte er ausweichend. »Aber ich habe eine Idee. Der Jeep steht mit kaputter Scheibe und zerschossenem Vorderreifen da. Es würde zu lange dauern, den Reifen zu wechseln und wenigstens die gröbsten Schäden zu beheben, um wieder mit dem Wagen losfahren zu können …« Sie blickte zum Hubschrauber. »Wir nehmen die Maschine?« »Ja. Ich kann so ein Ding fliegen.« »Sie sind vielseitig, Franco«, sagte sie. Schwang Argwohn in ihrer Stimme mit? Nein, er konnte nichts heraushören, das ihn alarmieren mußte. »Gehen wir und holen wir Don Salvatore«, forderte er sie auf. »Den anderen Killer werden wir als Gefangenen mitnehmen. Ich habe ihn überwältigen und niederschlagen können.« »Sie hätten ihn töten können.« »Ich bin kein Mörder«, entgegnete er ernst. »Und ich fühle mich auch jetzt, in diesem Job, nicht dazu berufen.«
*
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Der Jeep-V-8 stand in unveränderter Position auf dem Grundstück des Hauses, aber La Forgia und Santanastaso waren verschwunden. Maria Rosaria blickte Franco entsetzt von der Seite an. Er lächelte ihr beruhigend zu, fühlte sich aber selbst von einer düsteren Ahnung bedroht. Sie schritten an dem zerschossenen Geländewagen vorbei, steuerten auf das Haus zu und sahen, wie sich die Tür öffnete und Don Salvatore La Forgia mit der Maschinenpistole in der Hand heraustrat. Er blickte zu Boden, aber dann wurde er ihrer gewahr. Seine Züge hellten sich merklich auf. »Maria Rosaria, Liebste – mein Gott, wir hätten dich nicht allein hier zurücklassen dürfen«, sagte er. »Ich weiß jetzt, welchen Fehler ich begangen habe. Es wird nie wieder geschehen.« Sie ging zu ihm, umarmte und küßte ihn. »Du warst sicher, daß ich mich im Wald verstecken würde, wie du es mir gesagt hattest?« »Ja.« »Aber der zweite Killer war hinter mir her. Wenn Franco nicht gewesen wäre …« »Ich habe mich auch auf dich verlassen, Giuliani«, sagte der Don. »Du hast also gute Arbeit geleistet. Hast du den Kerl getötet?« »Nein. Nur entwaffnet. Er ist verletzt entkommen.« »Soll der Teufel ihn holen.« »Wo ist der andere Gangster?« fragte Franco. »Ich habe ihn ins Haus gebracht. Er heißt Santanastaso. Luigi Santanastaso, genannt Gigi.« »Woher wissen Sie das?« »Er ist zu sich gekommen und hat es mir verraten.« La Forgia sagte es mit einer Miene, die Franco nicht gefiel; Die Grausamkeit stand jetzt offen in seinen Zügen. »Ich habe ihn gefesselt, und so wird ihn die Polizei finden, 129
wenn sie eintrifft«, fuhr La Forgia fort. »Wir könnten auf die Polizei warten, aber wir würden nur Scherereien mit ihr kriegen, obwohl wir im Recht sind. In Nicaragua wird mit ganz anderen Maßstäben gemessen als in demokratischen Ländern. Für uns wäre es das Klügste, wenn wir uns absetzen würden. Ich habe an den Hubschrauber gedacht …« »Wir auch«, erwiderte Franco. »Und ich weiß mit so einer Maschine umzugehen.« La Forgia lächelte, aber seine Augen lächelten nicht mit. »Sehr gut. Das wußte ich gar nicht, Franco. Aber wir haben ja auch nie darüber gesprochen. Schach kannst du nicht spielen, aber du besitztst Fähigkeiten auf anderem Gebiet, die für mich mehr als Gold wert sind. Auch, wie du diese Killer überwältigt hast – einfach großartig.« Er ließ Maria Rosaria stehen und trat dicht vor den COUNTER-MOB-Agenten hin. »Nur hättest du ihn erschießen sollen.« »Das kann ich nicht.« »Wie du meinst.« Don Salvatore blickte sich zu der Frau um. »Kommst du, Maria Rosaria? Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Verabschieden wir uns elegant und auf die feine englische Art von diesem gastlichen Ort – andernfalls wird man uns der Vorsicht halber garantiert erst mal für eine Woche ins Gefängnis stecken.« »Und unser Gepäck?« fragte die Schriftstellerin. »Richtig. Ich habe schon alles zusammengepackt. Franco, fährst du den Jeep noch bis in die Garage und holst die Koffer aus dem Haus? Ich habe sie im Wohnzimmer stehen lassen.« »Ich erledige das sofort, Signore.« Franco sagte es und dachte dabei: Mein Gott, er hat die Koffer gepackt, wo er doch wußte, daß seine Geliebte in Lebensgefahr schwebte? Nein, er liebte sie nicht wirklich. Sie diente ihm nur als Mittel zum Zweck. Er hatte einen Ghostwriter gebraucht, ohne den er niemals auch nur 130
eine Seite von seinem Manuskript zustandegebracht hätte. »Don Salvatore«, fügte er noch hinzu. »Im Wald, in der Nähe der Lichtung, liegt die Maschinenpistole des zweiten Gangsters. Sie sollten sie auflesen und mit an Bord des Hubschraubers nehmen.« »Gut, damit vervollständigen wir unser Arsenal.« Don Salvatore nahm Maria Rosaria beim Arm und zog sie mit sich fort. Sie warf Franco noch einen langen Blick über die Schulter zu, aus dem er einiges herauszulesen glaubte. Etwas in ihren ebenmäßigen, ausdrucksstarken Zügen hatte sich verändert. Ihre weichen, sinnlichen Lippen waren fast trotzig aufgeworfen; Franco wußte, daß es mit einer Veränderung in ihrem Verhältnis zu dem Mafioso zusammenhing. Franco lief zu dem Jeep mit der V-8-Maschine und fuhr ihn in die Garage. Trotz des platten Vorderreifens ließ sich das auf dem weichen, grasbewachsenen Untergrund ohne Schwierigkeiten bewerkstelligen. Die Garage verschloß Franco von innen, dann benutzte er eine Verbindungstür, die ins Haus führte. Die Koffer standen im Wohnzimmer, auch die Reiseschreibmaschine, alles fix und fertig zusammengepackt. Nein, die Nerven verlor La Forgia wohl nie. Der Gründlichkeit halber und seines Verdachtes wegen ging Franco noch einmal durch alle Räume. In der Küche stieß er auf Gigi Santanastaso. Don Salvatore hatte ihn an einen Stuhl gefesselt, aber nicht, um ihn der Polizei von Nicaragua zu überlassen. Franco sah erschüttert auf den übel zugerichteten Killer und wußte jetzt, warum Don Salvatore so sehr beschäftigt gewesen war und keine Zeit gehabt hatte, zur Lichtung zu kommen. Franco war sicher, daß Don Salvatore noch mehr aus diesem Mann herausbekommen hatte als nur dessen Namen. Wahrscheinlich hatte Gigi ihm alles verraten, denn in seiner 131
Todesstunde gab auch der abgebrühteste Gangster unter dem Einfluß schonungsloser Brutalität nach. Don Salvatore hatte nun sicher keine Zweifel mehr über Cesare De Crescenzos Rolle bei dem Teufelsspiel, über die Verbindungsperson auf dem Podere La Forgia, über alle anderen Zusammenhänge und Hintergründe. Um Santanastaso den Rest zu geben, hatte es nicht der erbeuteten Maschinenpistole bedurft. Santanastaso würde der nicaraguanischen Polizei keine Mitteilungen mehr machen können. Blicklos waren seine starren, gebrochenen Augen nach oben gerichtet. Sein Kopf hing hintenüber, sein Mund stand weit offen; er bot einen gräßlichen Anblick. Santanastaso hatte sie alle drei umbringen wollen. Unter diesem Gesichtspunkt konnte Franco kein Mitleid mit ihm haben. Aber er war von der Weise, wie dieser Mann ins Jenseits befördert worden war, schwer betroffen. Es war die bestialischste Art, mit einem Gefangenen zu verfahren. Er machte sich in diesem Augenblick Vorwürfe, Santanastaso La Forgia überlassen zu haben. Franco war versucht, hinauszulaufen, La Forgia niederzuschlagen und Maria Rosaria Pandolfi die Leiche zu zeigen, um ihr drastisch klarzumachen, welch’ entsetzlichem Irrtum sie unterlag. Aber er kämpfte seine Wut nieder, bezwang sich. Er durfte sich jetzt einfach nicht vergessen. Er wollte nicht nur La Forgia, sondern auch De Crescenzo im Netz haben. Er verließ das Haus mit den Koffern in den Händen. Seine Miene war verschlossen, als er den Hubschrauber erreichte und das Gepäck darin verstaute. Was er gesehen hatte, erwähnte er mit keinem Wort. Er setzte sich auf den Pilotensitz, schnallte sich an, checkte die Instrumente durch und gab seinen beiden Begleitern Hinweise, wie sie die Sicherheitsgurte anzulegen hatten. »Haben wir genug Treibstoff, Franco?« erkundigte sich der 132
Don. »Die Tanks sind fast voll. Aus den Bordpapieren geht hervor, daß die Maschine in Managua gemietet worden ist. Dort haben die Killer vollgetankt.« »Ausgezeichnet. Wieviel Meilen können wir damit zurücklegen?« »Schätzungsweise fünf-, sechshundert.« »Fein. Wir nehmen Kurs auf die Cordilleras, fliegen in einer wenig bewachten Gebirgsregion über die Grenze nach Honduras, halten Kurs Norden und verlassen Honduras wieder auf dem Weg über die Nordküste. Wir fliegen ein ganzes Stück über die Karibische See hinweg, wenden uns dann nach Westen – und gelangen wohin?« »Nach Mexiko, wenn ich mich nicht irre.« »Richtig, nach Yucatan.« Don Salvatore lächelte. »Auch dort kenne ich ein herrliches Fleckchen Erde. Dort haben wir wieder Zeit, ein wenig Schach zu spielen, mia cara, und unser Manuskript weiter auszuarbeiten.« Er legte seinen Arm um Maria Rosarias Schulter und bedeutete Franco, den Rotor anzulassen und zu starten.
* Es war ein mühsamer Weg bis zum Dorf El Cameron hinunter gewesen, ein Weg voller natürlicher Hindernisse und Schmerzen. Aber Alfredo Cancogni hatte die Strecke durch Wald und Dickicht bewältigt und lag nun in der Nähe des am weitesten nach Osten versetzt stehenden Häuser des Dorfes. Er hielt sich im Gebüsch verborgen, als zwei dunkelblau lackierte Geländewagen der Guardia Civil vorbeistoben. Er wartete mit verbissener Miene ab, bis sie vorbei waren, und 133
schlich dann zu dem ihm am nächsten stehenden Haus hinüber. Das Haus war aus schweren Natursteinen errichtet, grob verputzt und weiß getüncht worden. Ein alter Mann hatte es durch die einzige Tür verlassen. Er blickte in der typischen Haltung und mit dem Gesichtsausdruck des Hinterwäldlers, der dem Ereignis des Jahres beiwohnte, den Polizeiautos nach. Cancogni hatte sich zwei Taschentücher um die blutenden Hände gewickelt, aber das war nur ein primitiver Behelf, der den Blutfluß kaum stoppen konnte. Seine Finger und die Handflächen schmerzten fürchterlich, waren gefühl- und bewegungslos geworden. Er war der Verzweiflung nahe. Aber immer wieder rief er sich ins Gedächtnis zurück, daß er hart gegen sich selbst bleiben mußte, wenn er das durchsetzen wollte, was ihm jetzt noch blieb. Gigi Santanastaso? Er war entweder von den dreien dort oben gefangengenommen oder getötet worden. Entwischen hatte er nicht können, dessen war Cancogni sicher. Cancogni schlich von der Rückwand der Hütte um die linke Ecke des Hauses, pirschte an der Seitenmauer entlang und erreichte die Front. Der alte Mann stand in drei, vier Yards Abstand vor der Tür und wandte sich nicht um. Er war zu vertieft in die Betrachtung der dunkelblauen Geländewagen, die die unbefestigte Straße hinaufklommen. Cancogni war hinter ihm. Wenn der Alte sich jetzt umdrehte, war es aus für den Killer. Er hatte keine Waffe und keine andere Möglichkeit, sich auch nur gegen einen Greis zu behaupten. Aber der Alte drehte sich nicht um. Alfredo stahl sich durch die offene Tür in den halbdunklen Raum, der offenbar die gesamte Grundfläche des weißen Gebäudes einnahm. Hier schaute er sich um. Niemand außer dem Alten schien hier zu leben. Nur eine Katze verkroch sich unter einer wackligen, wurmstichigen Kommode. Alfredo entdeckte, was er brauchte. Gegen die Wand gelehnt 134
stand eine einläufige, einschüssige Schrotbüchse, Kaliber 16, mit der man hierzulande auf Jagd zu gehen pflegte. Eine Schachtel voll Patronen stand griffbereit auf einem selbstgezimmerten Regal in Augenhöhe. Alfredo nahm die Büchse an sich. Er hatte Schwierigkeiten mit dem Laden, die Patrone, die er in den Lauf schieben wollte, drohte seinen blutigen, kraftlosen Fingern zu entgleiten. Er schaffte es aber doch, klappte den Lauf zu und zielte auf den alten Mann, als dieser in die ärmliche Behausung zurückkehrte. »Nicht schreien«, sagte Cancogni in seinem holprigen Spanisch. »Komm her, alter Knabe. Ich tue dir nichts, wenn du ausführst, was ich dir befehle. Ich gebe dir sogar noch Geld, wenn du mir hilfst.« Der Alte verzog kaum eine Miene. »Ich wußte, daß es Ärger mit dem vermieteten Haus geben würde«, murmelte er. »Ich habe es immer gewußt, daß eines Tages die Polizei kommt. Wir haben alle die Schüsse gehört, die dort oben gefallen sind. Bist du einer der Männer aus dem Hubschrauber?« »Nein. Der Hubschrauber ist fortgeflogen, das hast du doch genausogut wie ich gesehen.« »Ja. Ich werde keine Fragen mehr stellen.« »Sehr schlau von dir. Gib mir zu trinken.« »Si, Señor«, erwiderte der Alte. »Wein?« »Wasser. Ich muß Schmerztabletten einnehmen. Gibt es hier ein Telefon?« »Nur im Postamt.« »Dorthin kann ich nicht. Hast du einen Wagen?« »Ein sehr altes Auto.« »Damit bringst du mich in die nächste Stadt.« »Das ist Matagalpa. Willst du über die Grenze?« »Vielleicht.« 135
»Ich kann dir weiterhelfen.« Der Alte versuchte ein Lächeln. »Das läßt sich arrangieren. Wir werden uns über den Preis einigen.« Concognis Augen wurden schmal. »Versuche nicht, mich hereinzulegen. Es wäre das letzte Mal, daß du jemand hinters Licht führst. Verstehst du, was ich sage?« »Jedes Wort, Señor. Übrigens kenne ich auch jemand, der deine Wunden verarztet. In Matagalpa. Wir können gleich losfahren, wenn du willst.« Am frühen Nachmittag dieses Tages gelang es Alfredo Cancogni, Cesare De Crescenzo, dessen Telefonnummer er inzwischen auswendig kannte, von Matagalpa aus anzurufen. Der Killer saß mit frisch verbundenen Händen im Hinterzimmer eines Wirtshauses, in das die Gäste nicht nur wegen des Bieres und der scharfen Schnäpse einkehrten, sondern auch zu einem anderen Vergnügen. Cancogni saß und wartete auf die Verbindung. Von nebenan ertönte das Lachen einer Frau. Wir haben das größte Risiko getragen, dachte Cancogni bitter, wir haben die Kastanien aus dem Feuer holen sollen – aber im Grunde sollten wir doch nur verheizt werden. Da ist es nur recht und billig, ein Schmerzensgeld zu verlangen. Ja, ein Schmerzensgeld. Drüben, in Coral Gables, Miami, Florida, wurde abgehoben. »Ja?« sagte die bekannte Männerstimme. »Wir haben es geschafft«, erwiderte Alfredo in seiner Muttersprache. »Ausgezeichnet. Alle drei?« »Ja, aber Gigi ist auf der Strecke geblieben.« »Pech für ihn«, entgegnete Cesare De Crescenzo ohne hörbare Emotion. »Weißt du, ob Don Salvatore noch an seinem Buch hat schreiben können?« »Ich habe nichts gefunden.« 136
»Er könnte etwas abgeschickt haben …« »Ich hoffe es nicht«, sagte Alfredo. »Ich kriege es auch so heraus. Wohin soll ich dir das restliche Geld schicken, amico mio?« »Wie wäre es mit Mexico City, Hauptpostlagernd an meinen Namen?« »Gut«, antwortete Cesare. »Das läßt sich machen, und zwar mit einer Internationalen Postanweisung. Du kannst dich darauf verlassen, daß die Summe schon morgen dort eintrifft. Sehen wir uns in Mailand wieder?« »Gern. Ich kehre dorthin zurück. Addio, Don Cesare.« »Addio«, gab De Crescenzo zurück. »Und wann lernst du, daß du am Telefon keine Namen nennen sollst?« * Die Halbinsel hieß Yucatan, der mexikanische Bundesstaat, in dem sie sich nun befanden, Quintana Roo. Puerto Morelos war der Name des Küstennestes, in dessen Nähe sie das Ferienhaus gemietet hatten. Den Hubschrauber hatten sie weiter südlich in Belize aufgegeben, waren dann mit einem gemieteten Dodge weitergefahren. Es war die Mittagsstunde des Tages nach den blutigen Ereignissen von Nicaragua. Franco Solo saß auf dem Dollbord des Bootes, das auf dem weißen Sandstrand eigens für Feriengäste bereitlag. Er hielt die Arme über seinem Unterhemd verschränkt; außer dem Unterhemd trug er nur die Badehose, denn es war heiß, fast unerträglich heiß für diese Jahreszeit. Die Pistole lag hinter ihm auf einer der Duchten des Bootes. Die Maschinenpistolen befanden sich im Haus, bei Don Salvatore und Maria Rosaria. Sie beschäftigten sich mit dem zweiten Kapitel des Buches. Wenn sie nicht schrieben, spielten 137
sie Schach. Franco fragte sich immer wieder, wie lange die Frau es noch aushalten würde. Immer wieder hielt Franco Umschau. Aber er entdeckte nichts, das seinen Argwohn erregte. Sie befanden sich in dem Haus allein auf weiter Flur. Der Strand, das Meer mit seinen Wogen, die Welt gehörte ihnen … Kein Auto näherte sich. Kein Schiff, kein Boot. Das nächste Ferienhaus dieser Art stand eine Meile weiter südlich. Puerto Morelos lag fünf Meilen weiter nördlich, und dort waren die belebteren Strandbäder eingerichtet worden, die Don Salvatore natürlich bewußt gemieden hatte. Maria Rosaria verließ plötzlich das Haus und strebte auf ihn zu. Schwermut schien ihr Gesicht zu zeichnen. Als sie zu Franco hinüberblickte, schien sie etwas von dem, was sie beschäftigte, abzuschütteln. Sie blieb vor ihm stehen und sagte: »Rudern Sie mich ein Stück aufs Meer hinaus, Franco? Salvatore hat uns die Erlaubnis erteilt.« Sie trug eine enge weiße Hose, hatte die Hosenbeine bis zu den Knien hochgekrempelt. Ihre weiße Bluse war über dem Bauchnabel zusammengeknotet, und der Ausschnitt gab die Rundungen ihrer Brüste frei. »In Ordnung«, sagte Franco. Er erhob sich, schob das Boot in die Brandung, ließ sie einsteigen. Er dirigierte die Jolle in etwas tieferes Wasser, kletterte selbst über das Dollbord hinweg und griff zu den Riemen. Sie saß auf der achteren Ducht, und während sie sich ein Stück vom Strand entfernten, betrachtete sie ihn nachdenklich. Schließlich sagte sie: »Ich habe Salvatore gefragt, wieso er nie etwas gegen die Verbrechen unternommen hat, von denen er wußte. Er sagt, er habe es versucht. Deswegen habe man ihn in den Prozeß gegen die Mitglieder der ›Anonima Sequestri‹ hineingezogen, schwer belastet und fast hinter Gitter gebracht. 138
Die, die er für seine Freunde gehalten hatte, haben sich von ihm abgewandt. Ein echter Boykott – und am Ende dann der Entführungsversuch, der ihn ganz brechen sollte.« »Aha.« »Er hat mir von dem Pech erzählt, das er mit seiner Familie gehabt hat. Sein Sohn ist bei einem Unglück gestorben, seine Frau hat ihn später betrogen, und dann einen Unfall gehabt.« »Das ist hart.« »Auch Cesare De Crescenzo, den er wie einen Sohn behandelt hat, hat ihn vor gut einem Jahr im Stich gelassen. Und Cesare ist Salvatores größter Feind geworden. Er hat sich mit der neuen ›Anonima Sequestri‹ eingelassen. Er tut alles, um Salvatore, den unbequemen Mitwisser, aus dem Weg zu räumen. Wir, Sie und ich, Franco, sind die einzigen geblieben, denen er noch vertraut.« »Warum hat Don Salvatore sich nie an die Polizei gewandt?« »Weil ihm die Beweismittel fehlen.« »Aber er schreibt doch jetzt das Buch …« »Darauf baut er. Er will die Justiz und die Polizei wachrütteln«, sagte sie. »Dann werden ihn auch die Beamten, die ihn jetzt noch für eine ›suspekte Person‹ halten, vollends als das erkennen, was er wirklich ist.« »Ja.« Franco dachte an die handgeschriebenen Notizen Don Salvatores, die er gelesen und dann wieder in den ledernen Aktenkoffer geschmuggelt hatte. Die Daten genügten ihm. Er hatte außerdem die Adressen der Verleger und des literarischen Agenten, an die der Don sich gewandt hatte. Er, Franco Solo, wartete nur noch auf die Gelegenheit, sich mit COUNTER MOB in Verbindung setzen zu können. Er hörte mit dem Pullen auf und sah Maria Rosaria offen an. »Ich habe über die Sache nachgedacht. Sie kennen doch das Gesetz der Omerta, nicht wahr?« 139
»Und ob. Ich bin Süditalienerin.« »Ist es nicht Selbstmord, sich mit diesen … Mafiosi anzulegen?« »Einmal muß damit angefangen werden. Wenn alle schweigen, wird nie etwas gegen diese Verbrecher geschehen.« »So sehen Sie das?« »Ich bin Schriftstellerin. Ich schreibe zwar nur Romane, die sich mit Liebesschicksalen befassen, aber ich verehre die Wahrheit und hasse Hinterhältigkeiten, Intrigen, Korruption, Vetternwirtschaft – all diese Dinge. Man muß schonungslos enthüllen, was Italien kaputtmacht.« »Und nicht nur Italien. Ich habe gehört, eine Mafia gibt es auch hier, in Amerika.« »Überall auf der Welt.« »So ist das. Also tut Don Salvatore mit seinem Buch ein gutes Werk. Es wird Zeit, daß mit diesem Drecksgesindel aufgeräumt wird«, erwiderte Franco und wartete fast lauernd auf ihre Antwort. »Ein gutes Werk, ja. Aber er scheint mir zu sehr Ehrenmann und Richter zu sein, zu sehr auf Rechtfertigungen bedacht. Ja, er empfindet sogar Selbstmitleid und versucht, mich damit …« »Er versucht was?« »Ach, ich weiß nicht. Vergessen Sie’s. Wir sind hier jetzt endlich sicher und werden keine Scherereien mehr haben, Franco, das ist die Hauptsache.« Franco blickte zum Ufer. La Forgia hatte das flache, langgestreckte Haus verlassen und winkte ihnen zu. Sie sollten zurückkehren. Maria Rosaria drehte sich um, nickte, lachte, entledigte sich der Bluse und der Hose. Sie trug darunter einen Bikini, ebenfalls weiß. Von der anderen Ducht aus sprang sie mit einem Köpfer ins Wasser, tauchte ein Stück, hob dann den Kopf über Wasser und schwamm bis zum Ufer. Franco dachte 140
an ihren vollendet proportionierten Körper mit den langen, geraden Beinen, dachte an Don Salvatores Eifersucht. Er pullte auf den Strand zu. »Ich will nicht, daß ihr so weit hinausrudert«, empfing Don Salvatore ihn. Offenbar hatte er bereits bereut, Maria Rosaria die Genehmigung für den Badeausflug erteilt zu haben. Emanzipation war ein Fremdwort, von dessen Bedeutung er nichts wissen wollte. »Tut mir leid«, entgegnete Franco. »Das nächste Mal halte ich mich dicht unter Land.« »Ein nächstes Mal gibt es nicht«, sagte der Don schroff. »Wir essen jetzt, dann arbeiten wir an dem Manuskript weiter. Morgen früh schicke ich dich mit dem zweiten Kapitel in den Ort, Giuliani. Du bringst es zur Post. Ich bleibe bei Maria Rosaria. Ich will sie nicht noch einmal allein lassen.« »Ich erledige das ordnungsgemäß, Signore.« Maria Rosaria verließ das Wasser, lief zu La Forgia und legte ihm die nasse Hand auf die Schulter. Sie lächelte ihm zu, und er wurde etwas umgänglicher. »Gehen wir«, sagte er. »Franco, während Maria Rosaria das Essen zubereitet, spielen wir eine Partie Schach. Ich will, daß du es lernst.« »Gegen den ›Re Nero‹ schaffe ich das nie.« »Vielleicht ergibt sich ja doch eine Chance«, sagte der Don. *
Alfredo Cancognis Herz schlug schneller, als er das Geld vom Hauptpostamt Mexiko City abgeholt hatte. Tatsächlich, De Crescenzo hatte keinen Verdacht geschöpft, etwas könnte nicht stimmen. Anstandslos hatte er die zweite Hälfte des vereinbarten »Honorars« per Internationaler Postanweisung geschickt. 141
Cancogni verließ das große, monumental wirkende Gebäude und suchte ein kleines Straßencafe in der Nähe der Avenida Universidad auf. Hier bestellte er einen Kaffee und ein Glas Mineralwasser mit Kohlensäure. Seine Schmerzen hatten wieder etwas zugenommen, er wollte zwei Tabletten nehmen. Die linke Hand würde verkrüppelt bleiben, nur die rechte würde er nach einiger Übung wieder normal bewegen können, das hatte ihm der Arzt in Matagalpa gesagt, zu dem der alte Mann ihn gebracht hatte. Die rechte Schulter bereitete immer noch Komplikationen. Es würde noch Wochen dauern, ehe die Wunde vollständig verheilt war. Dafür müssen sie zahlen, dachte er, es ist nur recht und billig. Er grinste und trank seinen Kaffee. Mailand? Nein, die Stadt sah ihn nicht wieder. Er wollte nach Argentinien, wo er sich vor den Hyänen, die bald nach ihm suchen würden, sicher fühlte. Er wollte die Tabletten in dem kleinen Päckchen aus der rechten Jackentasche fischen, aber in diesem Augenblick entstand Unruhe in dem Lokal. Zwei Männer waren aneinandergeraten. Sie bedrohten sich mit den Fäusten. Der Inhaber versuchte, den Streit zu schlichten, ein Gedränge entstand, jemand fluchte, und dann wurde Cancogni von einem großen Mann angerempelt, der ihm fast auf die Füße trat. Cancogni wollte aufbrausen, aber dann sagte er sich: Nur kein Aufsehen erregen, nur jetzt keinen Fehler machen … Der große Mann wandte sich vom Tresen ab und strebte dem Ausgang zu. Die Unruhe legte sich. Der Streit war so schnell, wie er aufgekommen war, auch wieder vergessen. Cancogni zückte nun das Päckchen, schälte zwei Tabletten aus dem Plastikstreifen, in den sie eingeschweißt waren, steckte sie sich in den Mund. Er griff zu dem Glas Mineralwasser, hob es an den Mund und trank es in einem Zug leer. Wenige Sekunden später wölbte sich ihm die Theke entgegen, 142
und jegliches Gefühl wich aus seinen Beinen. Die Schmerzen waren nicht nur in seiner Schulter und in seinen Händen, sie bohrten sich in seinen Magen, in die Eingeweide, krochen in seinen Kopf hinauf, lähmten den Geist und das Nervenzentrum. Bevor er von seinem Hocker rutschte, tastete er noch instinktiv nach seiner Brieftasche, die das Geld enthielt … sie war verschwunden … Der Streit, das Gedränge, der große Mann, der ihn berührt hatte – alles seinetwegen! Alles war eine Farce gewesen, um ihm das Gift in das Mineralwasser zu schütten und ihm das Geld wieder abzunehmen. Hatte er denn wirklich geglaubt, er könnte sie täuschen? Alfredo Cancogni stürzte zu Boden und blieb mit ausgebreiteten Armen und von sich gestreckten Beinen auf dem Fußboden liegen. Mit einem letzten, krampfartigen Atemzug wich das Leben aus seinem Körper. *
Mit dem Dodge fuhr Franco am nächsten Morgen nach Puerto Morelos hinauf. Er betrat das Postamt, hatte sich die fünf flachen Päckchen unter den linken Arm geklemmt. Er mußte sie abschicken, konnte sie nicht unterschlagen. Don Salvatore wartete auf die Einschreiben-Quittungen. Zumindest aber hatte Franco die Möglichkeit, anschließend direkt bei Colonel Warner anzurufen und ihm die Adressen der vier Verleger und des einen literarischen Agenten zu nennen, die er sich eingeprägt hatte. COUNTER MOB würde das erste und das zweite Kapitel des Buches sicherstellen, ehe die Mafia sie in ihren Besitz bringen konnte. Aber vielleicht hatte er es sich zu einfach vorgestetlt, vielleicht war er jetzt, da er dem entscheidenden Handstreich nahe war, zu 143
unvorsichtig gewesen. Zwei Männer schoben sich an ihn heran, bevor er die Päckchen aufgeben konnte. Einer von links und einer von rechts. Er hatte sie nie zuvor gesehen. »Mitkommen, und dir passiert nichts«, sagte der eine. Er war ein Mestize, gutgekleidet, gutaussehend. Die mexikanische Abstammung seines Begleiters war ebenfalls unverkennbar. Franco konnte an die Pistole, die in seinem Hosenbund steckte, nicht mehr heran. Er mußte es sich gefallen lassen, daß sie ihn nach draußen begleiteten, daß sie ihm die Waffe abnahmen, die Päckchen mit den Manuskriptseiten darin an sich rissen. Sie führten ihn um zwei Gebäudeecken herum in eine Seitenstraße. Hier stand ein dunkelgrüner Buick, in dem zwei Personen saßen. Sie stiegen aus, und der groß und breit gebaute Mann mit dem Bauchansatz unter dem grauweißen Anzug sagte zu den Mexikanern: »Gebt mir sein Zeug, dann könnt ihr mit dem Buick verschwinden. Wir gehen selbst mit ihm zu seinem Schlitten, und dann fahren wir ’raus zu dem Ferienhaus. Nein, ich will euch nicht dabeihaben, ich will es selbst erledigen.« Er sprach Spanisch mit deutlichem sizilianischem Akzent. »Cesare De Crescenzo, nehme ich an«, sagte Franco. »Richtig«, erwiderte Cesare auf italienisch. »Wir haben uns noch nie gesehen, aber du scheinst ein cleverer Bursche zu sein, Giuliani. Zu clever für unsere Begriffe.« *
Franco hatte sich hinter das Steuer des Dodge setzen müssen; seine beiden Begleiter hatten sich im Fond niedergelassen, und De Crescenzo hielt die Beretta auf seinen Nacken gerichtet. »Um uns die Zeit bis zur Ankunft bei Zio Salvatore zu 144
vertreiben«, sagte Cesare mit seiner unangenehmen Stimme. »Willst du wissen, was aus Cancogni geworden ist, Giuliani?« »Ja.« »Er glaubte, mir etwas vortäuschen zu können. Log mir vor, sie hätten euch erledigt. Aber aus Managua erfuhr ich von unserem dortigen Verbindungsmann, was in El Cameron tatsächlich gelaufen war. Ich ließ Cancogni nach Mexico reisen und schaltete ihn dort aus. Dieser Stümper. Cancogni und Santanastaso – der Teufel soll sie alle beide holen.« »Was er ja auch getan hat«, gab Franco trocken zurück. »Hast du Gigi so zugerichtet?« »Nein. Wirklich nicht.« »Salvatore, dieser dreckige Hund. Ich bin selbst aus Florida herübergeflogen, um die Sache zu bereinigen. Anders ist ihm ja doch nicht beizukommen. Wir werden versuchen, Frieden zu schließen.« »Und die ›Anonima Sequestri‹?« fragte Franco. »Die baue ich neu auf.« »Ohne Don Salvatore?« »Ich bin sein rechtmäßiger Nachfolger. Er muß auf seinen Platz verzichten. Endgültig.« »Darauf läßt er sich nicht ein«, antwortete Franco. »Wir werden das ja sehen«, sagte das Mädchen, das erst jetzt zu sprechen begann. »Ich bin aber nach wie vor der Meinung, daß es das Beste gewesen wäre, wenn ich La Forgia im Gutshaus seiner Fattoria erledigt hätte, bevor er türmen konnte.« »Ein netter Gedanke«, gab Franco zurück. »Übrigens, bei der Gelegenheit: Es war klar, daß nur jemand vom Gut die Hunde betäubt haben konnte. Sie ließen keinen Fremden an sich heran.« »Ich habe ihnen oft zu fressen gegeben. Sie kannten mich und 145
vertrauten mir.« »Aber das Walkie-Talkie im Gartenhäuschen duftete zu aufdringlich nach deinem Parfüm, Mädchen.« »Wieso?« entfuhr es Cesare. »Hast du das gefunden, Guiliani? Wieso weißt du über ihr Parfüm Bescheid?« »Sie hat sich an mich herangemacht.« »Um ein Alibi zu haben«, rief sie. »Ich habe mich doch sogar mit zu ihm in den Wagen gesetzt, als alle zum Pavillon ’rausfuhren. Die beiden Idioten Cancogni und Santanastaso erkannten mich nicht. Sie feuerten auf den Wagen, ich riskierte mein Leben. Ist das nicht genug?« »Du hast dich mit ihm eingelassen, du Flittchen«, brüllte er sie an. »Die Gelegenheit wolltest du dir doch nicht entgehen lassen, oder? Ich hätte es ahnen müssen. Wer weiß, wie viele Kerle du schon durchprobiert hast, seitdem ich fort bin. Ich hätte dich nicht zu meiner Geliebten machen sollen, damals, als ich noch in Monterosso Almo lebte!« »Aber ich war die einzige, die sich mit dir abgegeben hat«, schrie sie zurück. »Hast du das vergessen?« Die Eifersucht der Sizilianer, dachte Franco. Das Ferienhaus lag vor ihnen, der Dodge rollte genau darauf zu. Franco trat plötzlich auf die Bremse, packte fast gleichzeitig Cesares Waffenarm und drehte ihn mit einem Ruck herum. Er riß den aufschreienden Mafioso zu sich nach vorn, entwand ihm die Pistole und warf sich nach links. De Crescenzo hieb um sich und versuchte, Franco zu erreichen. Assunta schrie und trachtete ebenfalls, an den Mafiajäger heranzukommen und ihn festzuhalten, aber Cesare war ihr im Weg. Franco hatte den Schlag aufgehebelt und war aus dem Dodge heraus. Er drehte sich um, richtete die Pistole auf seine Widersacher und sagte: »Aussteigen. Stützt euch mit den Händen am Wagendach ab, ich will euch durchsuchen.« 146
Eine winzige Unaufmerksamkeit, ein entfachter Streit – so zahlte sich das Unbeherrschte in ihrem Charakter aus. Franco atmete auf. Es war einfach gewesen, aber jetzt mußte er mit Don Salvatore fertig werden. Don Salvatore und Maria Rosaria hatten die Bremsen des Autos quietschen hören, hatten den Wagen vom Fenster des Hauses aus gesehen. Sie kamen herbeigelaufen. La Forgia hielt eine der beiden erbeuteten Maschinenpistolen in den Fäusten. Cesare und Assunta verließen den Wagen und befolgten Francos Befehl. Mit gesenkten Köpfen standen sie da und stemmten ihre Arme gegen die Karosserie. Franco sagte, ohne sich umzudrehen: »Nicht schießen, Don Salvatore. Ich habe sie bereits überwältigt. Wir brauchen sie nur noch nach Waffen abzutasten.« Die Maschinenpistole, dachte er immer wieder, wenn er bloß die verdammte Mpi nicht hätte. Don Salvatore blieb dicht hinter Franco stehen und bohrte ihm die Mündung der Maschinenpistole in den Rücken. »Wirf die Pistole weg. Na los, wird’s bald?« Fassungslos gehorchte Franco. »Maria Rosaria, heb die Pistole auf«, sagte der Don. Sie befolgte die Anweisung, und er fuhr fort: »Giuliani, du dachtest, du könntest mich hereinlegen, wie? Aber ich habe dich durchschaut. Du bist auf Maria Rosaria scharf. Glaubst du, ich habe das nicht gesehen? Ich bin doch nicht blind. Und weil du sie für dich haben wolltest, hast du diese beiden hier auf deine Seite gezogen. Hast du sie benachrichtigt?« »Nein«, antwortete Franco. »Unsere Verbindungsleute haben euch hier aufgespürt«, sagte Cesare De Crescenzo. »Ihr konntet nie länger als zwei, drei Tage an einem Ort bleiben, ohne entdeckt zu werden. Laß Guiliani in Ruhe. Er steht auf deiner Seite.« Er witterte eine 147
Chance. »Sei still, du!« schrie La Forgia ihn an. »Mit dir rede ich nicht, verstanden! Ihr habt diesen billigen Trick hier inszeniert, um mich anzulocken. Dachtet ihr im Ernst, ich falle darauf herein?« »Ich denke, daß du wirklich alt geworden bist, La Forgia«, gab Franco zurück. »Alles wäre nicht so schlimm, wenn du nur ein Narr wärst. Aber du bist obendrein ein gefährlicher Narr …« Don Salvatore trat zwei Schritte zurück. »Du sagst das. Ich habe dich wie einen Sohn aufgenommen, Giuliani, und jetzt das. Aber so ist das eben. Dankbarkeit gibt es nicht. Ich lege euch um, hier auf der Stelle. Cesare, es war sehr dumm von dir, mit der kleinen Hure Assunta herüberzukommen. Das hast du jetzt davon.« »Salvatore«, sagte Maria Rosaria Pandolfi. »Warte. Stör mich jetzt nicht …« »Willst du sie wirklich töten?« »Ja, natürlich. Sie sind im Weg.« »Und du hast auch diesen Killer umgebracht … diesen Santanastaso?« »Wenn du es unbedingt wissen willst – ja.« »Salvatore, sieh’ mich an«, sagte sie. Er warf ihr nur einen Seitenblick zu, um Cesare, Assunta und Franco nicht aus den Augen lassen zu müssen. Er nahm die Pistole wahr, die sie gegen seinen Kopf gehoben hatte, sah die häßliche schwarze Mündung, wollte etwas rufen, unternehmen – da drückte sie ab. Franco ließ sich instinktiv fallen. Der Schuß krachte, und Don Salvatore brach in den Knien zusammen. Er lehnte sich nach rechts, fiel auf die Körperflanke, verlor die Maschinenpistole. Franco kroch auf ihn zu und nahm die Waffe an sich. »Der ›Re Nero‹«, flüsterte Don Salvatore. »Jetzt hat er doch verloren. Du hast … die Partie gewonnen, Giuliani …« 148
»Aber nicht als Giuliani. Mein Name ist Franco Solo.« »Solo? Al diavolo, jetzt weiß ich, wer du …« »Aber mit ihr habe ich nichts gehabt. Zwischen Maria Rosaria und mir ist nichts, La Forgia?« sagte Franco. »Sie hat auf dich geschossen, weil sie begriffen hat, was du bist.« Franco erhob sich und richtete die MPi auf Cesare und Assunta. Die beiden wagten es nicht, sich zu bewegen. »Für euch ist es aus«, sagte er zu ihnen. »Ich habe genug Material, um euch und die ›Anonima Sequestri‹ zu vernichten – samt ihren amerikanischen Ablegern. Don Salvatore hatte zu viele handschriftliche Aufzeichnungen angefertigt. Sie geben uns die Chance, Beweise gegen euch zusammenzutragen.« »Gegen mich steht die Anklage schon«, entgegnete Maria Rosaria leise. »Vorsätzlicher Mord. Er ist doch tot, oder?« Franco blickte auf Don Salvatore La Forgias liegende Gestalt. Die Augen waren gebrochen. Sie würden nie wieder diese Grausamkeit ausdrücken, diese. unendliche, verdammungswürdige Grausamkeit, die vor nichts haltmachte. »Ja, er ist tot«, sagte Franco Solo. »Und was dich betrifft, Maria Rosaria, so kann ich dir schon jetzt versichern, daß ich für milderne Umstände plädiere – vor höchster Instanz.« »Wir können uns jetzt duzen«, murmelte sie. »Die Zeit der Angst und des Terrors ist vorbei. Franco, wer bist du wirklich? Wer hat dich geschickt?« »Ich erkläre es dir noch«, gab er zurück. »Aber laß uns jetzt erst die Polizei benachrichtigen. In Puerto Morelos gilt es noch zwei mexikanische Gentlemen festzunehmen, und dann – ja, dann muß ich dringend mit Washington, D.C., telefonieren.« ENDE
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