ALDEN H. NORTON
EIN TOTENSCHÄDEL AUS ZUCKER Horrorstories
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 867 im Wilhel...
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ALDEN H. NORTON
EIN TOTENSCHÄDEL AUS ZUCKER Horrorstories
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 867 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe: MASTERS OF HORROR Deutsche Übersetzung von Walter Brumm
›THE WOMAN OF THE WOOD‹ by A. Merritt. Copyright 1926 by The Popular Fiction Publishing Company, Weird Tales, August, 1926. Reprinted by permission of Brandt & Brandt. ›BLIND MAN'S BUFF‹ by H. R. Wakefield. Copyright D. Appleton & Co., 1929. Renewed by H. Russell Wakefield, 1957. Permission granted by August W. Derleth and Arkham House, American representatives. ›A PIECE OF LINOLEUM‹ by David H. Keller. Copyright 1933 by Ten-Story-Book. Reprinted by permission of August Derleth and Arkham House. ›THE CANDY SKULL‹ by Ray Bradbury. Copyright 1947 by Populär PublicaKons for Dime Mystery, January, 1948. Reprinted by permission of the Copyright owners.
Copyright © 1968 by Alden H. Norton Published by arrangement with the autor's agent Printed in Germany 1971 Scan by Brrazo 10/2005 Umschlagfoto: M. Schmatz, München Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Gesamtherstellung: Ebner, Ulm
INHALT Clemence Housman Der Werwolf (THE WERE-WOLF) Mary W. Shelley Die unheimliche Verwandlung (THE TRANSFORMATION) Robert W. Chambers Das tödliche gelbe Zeichen (THE YELLOW SIGN) A. Merritt Mord im Geisterwald (THE WOMAN OF THE WOOD) H. R. Wakefield Das Gespensterschloß (BLIND MAN'S BUFF) David H. Keller Ein klarer Fall von Selbstmord (A PIECE OF LINOLEUM) Ray Bradbury Ein Totenschädel aus Zucker (THE CANDY SKULL)
Einleitung Wer eine Anthologie zusammenstellt und etwas auf sich hält, möchte seine Leser nicht enttäuschen und empfindet aufrichtige Genugtuung, wenn er eine bisher übersehene literarische Kostbarkeit ausgraben oder einen zu Unrecht vernachlässigten Klassiker entstauben kann. Die Entdeckung und Publizierung solcher Funde ist schon schwierig genug, wenn das Genre nicht allzu eng begrenzt ist; beinahe unmöglich aber wird eine solche Aufgabe, wenn die literarische Gattung streng umrissen ist. Diesem Band liegt die Absicht zugrunde, Arbeiten anerkannter Schriftsteller vorzustellen, die durch ihren Umgang mit dem Übernatürlichen und dem Grauen berühmt geworden sind. Mehrere solche Autoren zusammenzustellen, ist an sich nicht schwierig, aber von jedem eine Erzählung auszuwählen, die selten oder gar noch nie in einer Anthologie erschienen ist, das ist wieder etwas anderes. Eine weitere Erschwernis bedeutete es, daß jede Erzählung ein in sich geschlossenes Meisterwerk sein sollte, nicht bloß irgend ein zweitrangiges Produkt, das aus gutem Grund in Vergessenheit geraten ist. Ich erbot mich, Alden H. Norton bei diesem Vorhaben zu helfen, zugegebenermaßen mit Enthusiasmus, denn im Lauf der Jahre hatte jeder von uns eine kleine Liste mit Erzählungen angelegt, die diesen Anforderungen entsprachen. Einige dieser Erzählungen sind dem durchschnittlichen Leser unbekannt. Andere sind bekannt, haben aber in nicht immer leicht zugänglichen Gesamtausgaben keine Popularität erlangt. Mehrere sind bereits in Anthologien erschienen, doch nur in
England, oder in einem Sammelband, dessen Erscheinen so weit zurückliegt, daß jene, die sie darin gelesen haben, in der Zwischenzeit alt geworden sind. Das Resultat unserer Bemühungen ist, so hoffen wir, nicht nur ein Genuß für literarische Raritätensammler, sondern darüber hinaus eine Freude für alle Anhänger des Unheimlichen, des Grauenvollen und Abseitigen. Die Zeit hat der traditionellen Liste großer Horror-Autoren neue Namen hinzugefügt. Neue Schriftsteller haben die Technik der furchteinflößenden Erzählung weiterentwickelt. Die Fortschritte der Technologie und Wissenschaft konnten das Angstbedürfnis des Menschen nicht eliminieren, denn die menschliche Natur hat sich nicht grundlegend verändert. Reaktion auf Angst ist notwendig für das Überleben, anscheinend selbst dann, wenn einer nur noch beim Lesen Furcht empfindet, während er warm, gesättigt und sicher in einem bequemen Lehnstuhl sitzt. Sam Moskowitz
CLEMENCE HOUSMAN
Der Werwolf Von den Erzählungen über Ungeheuer ist ›Frankenstein‹ von Mary Wollstonecraft Shelley am bekanntesten geworden, und kaum jemand wird bestreiten, daß Bram Stoker mit ›Dracula‹ die bisher eindrucksvollste Darstellung des Vampirthemas gelungen ist. Keine Erzählung über Werwölfe hat bisher in der Gunst des Publikums einen ähnlich hervorragenden Platz erringen können. Am bekanntesten wurde wahrscheinlich Guy Endores ›Der Werwolf von Paris‹ (1933), weil nach diesem Thema ein erfolgreicher Horrorfilm gedreht wurde. Die Kenner der Horror-Literatur sind sich jedoch darüber einig, daß ›Der Werwolf‹ von Clemence Housman, zum erstenmal in der britischen Zeitschrift ›Atalanta‹ vor 1896 veröffentlicht, den höchsten Rang unter allen Werwolf-Erzählungen verdient. Montague Summers, einer der namhaftesten Experten, schrieb in seinem berühmten Werk ›Der Werwolf‹ über diese Geschichte: »Clemence Housmans auserlesenes Prosagedicht ›Der Werwolf‹ … ist mit einer Empfindsamkeit des Gefühls erzählt, die ebenso selten wie kostbar ist …« Und Frank B. De Berard, Herausgeber der zwanzigbändigen ›Classic Library of Famous Literature‹, in deren fünftem Band die Erzählung 1902 in einer numerierten Auflage von tausend Exemplaren zum letztenmal auf dem amerikanischen Büchermarkt erschien, sagte über sie: »Nicht eines der literarischen Werke, die die übernatürliche Mutation vom Menschen zum Tier behandeln,
erreicht die vorliegende Erzählung auch nur annähernd in literarischer Qualität, dramatischer Kraft und poetischer Phantasie.« Wäre De Berard heute noch am Leben, er fände kaum einen Grund, seine Meinung zu ändern. Über den Autor, Clemence Housman, ist so gut wie nichts bekannt, obwohl das Buch ein großer Verkaufserfolg wurde, als es 1896 gleichzeitig in London und Chicago erschien. Wahrscheinlich ist Clemence Housman mit A. E. Housman verwandt, dem Verfasser des Buches ›A Shropshire Lad‹ (1896), sowie mit dessen Bruder Laurence Housman, denn der letztere steuerte zur gebundenen Erstausgabe des ›Werwolf‹ sechs Illustrationen bei. Das Wiedererscheinen dieser Erzählung nach so langer Zeit, in der sie den Sammlern literarischer Spezialitäten vorbehalten war, darf als Ereignis angesehen werden. Die weiträumige Diele der alten Farm war erfüllt von Feuerschein, von Stimmen und Arbeitsgeräuschen. Niemand war müßig, nur die sehr Jungen und die sehr Alten – der kleine Rol, der einen jungen Hund an sich gedrückt hielt, und die alte Trella, deren gichtsteife Finger an einer Strickarbeit fummelten. Der frühe Winterabend war angebrochen, und die Knechte und Mägde hatten sich in der großen Diele versammelt, die Raum für viele bot. Mehrere Männer beschäftigten sich mit Schnitzarbeiten oder besserten Geräte aus, andere knüpften oder reparierten Fischernetze und Reusen und Pferdegeschirre. Die meisten Frauen sortierten Daunen. Ein Webstuhl stand unbenutzt in einem Winkel, aber drei Spinnräder schnurrten betriebsam, und an einem dieser Spinnräder saß die Herrin des Hauses. In ihrer Nähe saßen einige Kinder, auch sie geschäftig
und unter strenger Aufsicht, und drehten Dochte für Kerzen und Lampen. Jede Gruppe der Arbeitenden hatte eine Lampe in ihrer Mitte, und die am weitesten vom Feuer entfernt waren, erhielten zusätzliche Wärme von zwei mit Holzglut gefüllten Kohlenbecken, die hin und wieder mit ausgebrannten Scheiten von der großen Herdstelle aufgefüllt wurden. Aber das Flackern des mächtigen Herdfeuers drang selbst in die entlegensten Winkel und erhellte den Raum noch über den Lichtschein der Lampen hinaus. Der kleine Rol wurde des Spielens mit dem Welpen überdrüssig, ließ ihn ungeduldig fallen und wandte sich dem alten Tyr, dem Wolfshund zu, der in seinen Jagdträumen zuckend im warmen Winkel döste. Rol legte sich neben ihn, schlang die kurzen Arme um den zottigen Nacken und schüttelte seine Locken vor der schwarzen Hundeschnauze. Tyr leckte ihm einmal interesselos die Stirn und streckte sich dann mit einem schläfrigen Seufzer. Rol knurrte und wälzte sich und stieß ihn einladend an, gewann dem alten Hund jedoch nichts als gutmütige Duldung und ein halbwaches Blinzeln ab. Bald stand Rol wieder auf, beleidigt über diese Nichtachtung seiner Bemühungen, und ging fort, um anderswo Unterhaltung zu finden. Die Körbe mit weißen Daunen fanden seine Aufmerksamkeit. Er kroch unter den Tisch und auf allen Vieren weiter, weil das Aufrechtgehen im Augenblick nicht nach seinem Geschmack war. Als er bei den Frauen angelangt war, lag er einen Moment still, die Ellenbogen auf dem Boden, das Gesicht in die Handflächen gestützt, und beobachtete. Eine der Frauen sah ihn und nickte und lächelte, und er kroch hinter ihren Röcken unter dem Tisch hervor und schlich fast unbemerkt von einer zur anderen weiter, bis er Gelegenheit fand, sich einer Handvoll weicher Federn zu bemächtigen. Mit diesen krabbelte er, wieder
unter dem Tisch, zur anderen Seite des Raums hinüber, wo die Spinnräder standen. Zu Füßen eines jungen Mädchens kauerte er sich auf den Boden, von ihren Knien vor Beobachtung geschützt, und verhinderte ihre Einmischung, indem er sie verstohlen und mit vertraulichem Lächeln seine Beute sehen ließ. Ein zweifelndes Nicken befriedigte ihn, und er nahm eine der weißen Flaumfedern und entließ sie nahe am sausenden Spinnrad aus seinen Fingern. Der Luftzug nahm die Feder mit sich und wirbelte sie in weiter werdenden Kreisen herum, bis sie wie eine langsame weiße Motte in die Höhe schwebte. Rols Augen tanzten, und seine kleinen Zähne blitzten in stummer Begeisterung. Eine zweite und eine dritte Flaumfeder wurde auf die Reise geschickt, und so ging es weiter, bis der Vorrat erschöpft war. Rol ließ sich auf den Bauch fallen, betrachtete den Raum und erwog einen weiteren Erkundungsgang unter dem Tisch. Seine Schulter kam hoch, stieß gegen das Spinnrad und hemmte es für einen Moment; hastig zog er sich zurück. Das Spinnrad flog mit einem Ruck an, der Faden riß. »Unartiger Rol!« sagte das Mädchen. Auch das benachbarte Spinnrad hielt nun an, und die Hausherrin, Rols Tante, beugte sich vor und schickte den Kleinen mit einer scharfen Warnung in die Ecke zur alten Trella. Rol gehorchte, aber nach einer Weile verzog er sich unauffällig aus dem Blickfeld seiner Tante. Als er am anderen Ende des Raumes zwischen die Männer schlüpfte, blickten sie auf und brachten ihr Werkzeug möglichst außer Reichweite von Rols Händen. Trotzdem gelang es ihm einen feinen Meißel zu erbeuten und er machte sich daran, die sorgfältig geschärfte Spitze am Tischbein abzunutzen. Die entschiedenen Einwände
des Schnitzers brachten Rol aus der Fassung, und die nächsten fünf Minuten verbrachte er still unter dem Tisch. Während dieser Zurückgezogenheit betrachtete er die vielen Beinpaare, die ihn umgaben und beinahe das Licht des Feuers verdunkelten. Wie komisch einige von diesen Beinen waren; manche waren gebogen, wo sie gerade sein sollten; manche waren gerade, wo sie gebogen sein sollten. Einige waren bescheiden unter den Bänken gekreuzt, andere weit unter den Tisch gestreckt, wo sie Rols Reich beengten. Er streckte seine eigenen kurzen Beine aus und besah sie kritisch. 'Warum waren nicht alle Beine wie die von Sweyn gemacht? Diese von Rol gebilligten Beine waren lang und kräftig, und Rols Gesicht wurde ernst und fast betrübt, als er an die unzähligen Tage dachte, die kommen und gehen mußten, bis auch seine Beine endlich so lang und kräftig sein würden. Er hoffte, sie würden genau wie Sweyns Beine werden, mit so geraden Knochen und so festen, muskulösen Kurven. Einige Augenblicke später fühlte der langbeinige Sweyn eine kleine Hand an seinem Fuß, blickte unter den Tisch und begegnete den Augen seines kleinen Vetters Rol. Das Kind lag auf dem Rücken, spielte mit dem Fuß des jungen Mannes und war für eine gute Weile still und glücklich. Rol sah den Bewegungen der starken, geschickten Hände zu und beobachtete das Spiel des Lichts auf den Werkzeugklingen. Dann und wann fielen kleine Holzspäne auf ihn herab. Schließlich setzte er sich aufrecht, umschlang Sweyns Beine mit seinen Armen und legte seinen Kopf an die Knie des Mannes. Er war ganz zufrieden so und fast glücklich, als Sweyn ein paar Worte zu ihm sagte und seinen Kopf tätschelte. Er blieb ruhig, solange das seinen jungen Gliedern möglich war. Sweyn vergaß, daß der Junge bei ihm war, bemerkte kaum, daß seine Beine sanft los-
gelassen wurden, und auch nicht das Verschwinden eines seiner Werkzeuge. Zehn Minuten später erklang unter dem Tisch ein jämmerliches Heulen, das sich rasch zur vollen Lautstärke von Rols gesunden Lungen erhob; denn seine Hand war aufgeschnitten, und die starke Blutung entsetzte ihn. Dann gab es ein Durcheinander, ein Beschwichtigen und Trösten, ein Waschen und Verbinden und auch etwas Schelte, bis das laute Geschrei zu gelegentlichen Schluchzern verebbte und das Kind, tränenfeucht und gebändigt, in die Ecke zurückgebracht wurde, wo Trella vor sich hinschlummerte. In seiner Reaktion auf Schmerz und Angst fand Rol, daß die Ruhe dieser warmen, nicht zu hellen Ecke nach seinem Geschmack war. Auch Tyr mißachtete ihn nicht länger, sondern zeigte alle Fürsorge und Sympathie, deren ein Hund fähig ist. Außerdem schämte Rol sich ein bißchen. Er wünschte, er hätte nicht soviel geweint. Er erinnerte sich, daß Sweyn einmal nach Haus gekommen war, nachdem ein verwundeter Bär ihm den Arm von der Schulter bis zum Handgelenk aufgerissen hatte, und er nicht mit der Wimper gezuckt noch ein Wort gesagt hatte, obwohl seine Lippen vor Schmerzen weiß gewesen waren. Der kleine Rol bedachte seine eigene Unzulänglichkeit mit einem zusätzlichen schluchzenden Seufzer. Das Licht und die Schattenspiele des großen Feuers begannen dem Kind seltsame Geschichten zu erzählen, die dann und wann vom Sausen und Singen des Windes im Kamin untermalt wurden. Der große schwarze Mund des Rauchfangs hoch über dem Herd empfing die dunklen Rauchwolken und auffliegenden Funken, und jenseits, in der hohen Dunkelheit, waren Gemurmel und Gewinsel und unheimliches Treiben, so daß der Rauch zuweilen in Panik zurückdrängte und aus dem Rauchfang und
hinauf zum Dach wallte, wo er zwischen dem dunklen alten Gebälk unsichtbar wurde. Und dann wütete der Wind über seine entkommene Beute, heulte und rüttelte an Fensterläden und Tür. In einer kurzen Windstille nach einer solchen Bö hob Rol plötzlich den Kopf und lauschte. Auch im vielstimmigen Geplapper war eine Pause eingetreten, und so hörten alle mit seltsamer Deutlichkeit ein Geräusch vor der Tür – den Klang einer Kinderstimme. »Macht auf, macht auf; laßt mich ein!« piepte die kleine Stimme, und weiche kleine Knöchel klopften gegen das Holz. Einer, der in der Nähe saß, sprang auf und öffnete die Tür. »Niemand ist hier«, sagte er. Tyr hob seinen großen Kopf und stieß ein lautes, langgezogenes Heulen aus, düster und schaurig. Sweyn, der nicht glauben konnte, daß seine Ohren ihn getäuscht hatten, stand von seinem Platz auf und ging zur Tür. Es war eine dunkle Nacht. Die Wolken waren schneebeladen, und Schnee wirbelte durch die Luft und lag in einer dünnen frischen Decke auf dem Hofplatz. Von einem menschlichen Wesen war weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Sweyn strengte seine Augen an, nur um dunklen Himmel, unversehrten Schnee und eine Reihe schwarzer Föhren auf der nächsten Hügelkuppe zu sehen, die sich im Wind neigten. »Es muß der Wind gewesen sein«, sagte er und schloß die Tür. Viele Gesichter sahen ängstlich aus. Die Kinderstimme war so deutlich gewesen; jeder hatte die Worte gehört. Der Wind mochte an Fensterläden und Tür rütteln, im Rauchfang weinen oder das Gebälk zum Ächzen bringen, aber er konnte nicht mit einer Kinderstimme sprechen oder mit den Schlägen einer kleinen weichen Faust an die Tür klopfen. Und das sonderbare, ungewöhnliche Heulen des Wolfshundes war ein warnendes
Omen, mochte man vom Rest halten, was man wollte. Befürchtungen wurden laut; hier und dort besann man sich auf Geschehnisse aus alter Zeit, bis der Tadel der Hausherrin die Stimmen zu leisem Gewisper herabdrückte. Für einige Zeit herrschten Unbehagen und gezwungene Stille, dann, allmählich, setzten die Gespräche und das Geplapper wieder ein. Doch eine halbe Stunde später genügte ein sehr leises Geräusch vor der Tür, um jede Hand und jede Zunge zum Erlahmen zu bringen. Die Köpfe hoben sich, alle Augen blickten in eine Richtung. »Es ist Christian«, sagte Sweyn. »Er hat sich verspätet.« Nein, dies war ein schwächliches Schlurfen, nicht der feste Tritt eines jungen Mannes. Mit dem Geräusch unsicherer Füße kam das harte Klopfen eines Stocks gegen die Tür, dann die Fistelstimme des Alters: »öffnet, ich bitte euch! Laßt mich ein.« Wieder warf Tyr seinen Kopf hoch und stimmte das schaurige Geheul an. Bevor die Stimme verklungen war, hatte Sweyn seinen Platz verlassen, war zur Tür gesprungen und riß sie auf. »Wieder niemand«, sagte er mit ruhiger Stimme, doch seine Augen waren geweitet, als er hinausstarrte. Er sah die leere Einöde des Schnees, die tief ziehenden Wolken und dazwischen die sturmgebeugten Föhren auf dem Hügel. Er schloß die Tür und kehrte langsam zu seinem Platz auf der Bank zurück. Die bleichen Gesichter der anderen wandten sich ihm zu, als erwarteten sie von ihm die Lösung des Rätsels. Er konnte die stumme Frage nicht übersehen, und sie machte seine äußerlich gefaßte Haltung zweifelhaft. Er zögerte, blickte zu seiner Mutter, der Hausherrin, dann zurück zum besorgten Gesinde und machte vor ihnen allen ernst das Kreuzzeichen. Alle
wiederholten es, und die völlige Stille wurde von einem Geräusch unterbrochen, das wie ein tiefer Seufzer klang, denn viele gaben nun den angehaltenen Atem frei, als hätte ihnen das Kreuzzeichen magische Erleichterung verschafft. Selbst die Herrin war beunruhigt. Sie verließ ihr Spinnrad und ging zu ihrem Sohn und sprach so leise mit ihm, daß niemand mithören konnte. Doch schon im nächsten Augenblick war ihre Stimme wieder schrill und hart wie gewöhnlich, als sie das »heidnische Geschwätz« eines der Mädchen rügte. Vielleicht versuchte sie so, ihre eigenen Befürchtungen und schlimmen Vorahnungen zum Schweigen zu bringen. Keiner wagte mehr, mit normaler Lautstärke zu sprechen. Immer wieder zog Stille in den weiten Raum ein, als ob alle auf eine Wiederholung der unerklärlichen Laute vor der Tür warteten. Die gedämpften Stimmen ergaben ein leises, häufig aussetzendes Gemurmel, die Werkzeuge wurden so geräuschlos wie möglich gehandhabt, und wenn die Tür bei einem Windstoß klapperte, ruhten sofort alle Hände. Nach einiger Zeit ließ Sweyn seine Arbeit liegen, gesellte sich zu der Gruppe, die der Tür am nächsten war, und stand dort unter dem Vorwand herum, ein paar weniger geschickten Jungknechten bei der Arbeit zu helfen. Draußen knirschten Männerschritte im Schnee. »Christian!« sagten Sweyn und seine Mutter gleichzeitig; er hoffnungsvoll, sie gebieterisch, um die angehaltenen Spinnräder wieder in Gang zu bringen. Aber Tyr warf seinen Kopf zu einem markerschütternden Heulen hoch. »Macht auf, macht auf; laßt mich ein!« Es war die Stimme eines Mannes, und die Tür bebte und klapperte, als die kräftige Faust eines Mannes daran schlug.
Sweyn fühlte noch die Erschütterung in den Eichenplanken, als seine Hand den Riegel zurückstieß, die Tür aufriß und er auf den leeren Hofplatz hinaussah, hinter dem es nur Schnee und Himmel gab und Föhren schief im Wind. Er stand lange auf der Schwelle, die geöffnete Tür in der Hand. Der eisige Wind wehte herein, aber ein tödlicheres Frösteln von Angst ging ihm voraus und dabei schien das Schlagen der Herzen zu gefrieren. Sweyn ergriff einen schweren Umhang aus Bärenfell. »Sweyn, wohin gehst du?« »Ich bleibe vor der Tür, Mutter.« Und er trat in die Nacht und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Er wickelte den dicken Pelz um sich, lehnte sich gegen die Wand und machte sich bereit, dem Teufel und allen seinen Werken entgegenzutreten. Kein Stimmengeräusch kam aus dem Inneren, aber er konnte das Knacken und Prasseln des Feuers hören. Es war bitterkalt. Nach einer Weile wurden seine Füße kalt, dann gefühllos, aber er stampfte nicht, damit das Geräusch keine neue Angst über die Leute im Haus brächte. Auch wollte er weder seinen Platz verlassen, noch Fußabdrücke im frischen Schnee machen, der schlüssig bewies, daß sich in den letzten zwei Stunden kein menschliches Wesen von draußen der Tür genähert hatte. ›Wenn der Wind nachläßt, wird es mehr Schnee geben‹, dachte Sweyn. Beinahe eine Stunde lang hielt er Wache und sah kein lebendes Wesen, hörte kein unnatürliches Geräusch. »Ich werde hier nicht länger frieren«, murmelte er endlich und ging wieder hinein.
Eine Frau stieß einen halberstickten Schrei aus, als er öffnete, und stöhnte dann vor Erleichterung, als sie ihn erkannte. Niemand fragte ihn, nur seine Mutter sagte in einem Tonfall gezwungener Sorglosigkeit: »Hast du nicht Christian kommen sehen?« als sei sie nur über das Ausbleiben ihres jüngsten Sohnes beunruhigt. Kaum war Sweyn zur Herdstelle gestampft, um sich aufzuwärmen, da kam ein klares, unüberhörbares Klopfen von der Tür. Tyr sprang hoch, seine Augen waren rot wie das Feuer, seine Fänge weiß zwischen den schwarzen Lefzen, das Nackenhaar gesträubt; und er jagte mit wütendem Gebell daran hoch. Draußen rief eine helle, weiche Stimme. Tyrs Bellen machte die Worte unhörbar. Niemand machte Anstalten, zur Tür zu gehen. Selbst Sweyn zögerte diesmal. Dann zuckte er mit der Schulter, stampfte entschlossen durch die Dielenhalle, zog den Riegel und schwang die Tür auf. Eine weißgekleidete Frau glitt herein. Kein Gespenst! Lebendig – schön – jung. Tyr sprang sie an. Gewandt wehrte sie die scharfen Fänge mit den Falten ihres langen Fellmantels ab. Zugleich zog sie eine kleine Doppelaxt aus dem Gürtel und holte zu einem abwehrenden Schlag aus. Sweyn packte den Hund am Halsband und zerrte ihn mit Mühe fort. Die Fremde stand bewegungslos auf der Schwelle, einen Fuß vorgesetzt, einen Arm hochgeworfen, bis die Hausherrin kam, und Sweyn, nachdem er den wütenden Tyr anderen übergeben hatte, zurückkehrte, um die Tür zu schließen und Entschuldigungen für den bissigen Empfang vorzubringen. Darauf ließ sie ihren Arm sinken, steckte die Axt in den Gürtel
zurück, löste den Pelz um ihren Kopf und schüttelte die lange weiße Fellrobe über ihre Schulter – alles mit einer Bewegung. Sie war ein junges Mädchen, groß und sehr schön. Die Art ihrer Kleidung war sonderbar – halb maskulin, doch nicht unfraulich. Ein weiter, weicher Fellumhang, der nur wenig über ihre Knie reichte, war alles, was sie anstelle eines Kleides trug; darunter waren lederne Beinlinge, wie Jäger sie tragen, und Schuhe, deren kreuzweise gebundene Lederriemen über die Waden hinaufreichten. Die zurückgeschlagene Kapuze ihres Fellumhangs gab lange blonde Haarsträhnen frei, die über ihre Schultern bis zum Gürtel herabfielen. Sweyn und seine Mutter führten die Fremde ohne Fragen oder ein Zeichen von Neugierde zur Herdstelle, bis sie freiwillig ihre Geschichte von einer langen Reise zu entfernten Verwandten, einem nicht angetroffenen Führer und verfehlten Wegweisern und Landmarken erzählte. »Allein!« rief Sweyn verblüfft. »Sie sind mehr als hundert Meilen weit gereist – allein?« Sie bejahte mit einem kleinen Lächeln. »Über die Hügel und durch die Einöden! Aber die Leute dort sind wild und gewalttätig.« Sie lachte kurz und legte eine Hand an ihre Doppelaxt. »Ich fürchte weder Mensch noch Tier; einige von ihnen fürchten mich.« Und sie erzählte von wilden Angriffen und Kämpfen und vom kühnen Jägerleben, das sie geführt habe. Sie sprach langsam und überlegt, als ob sie sich in einer fremden Sprache ausdrücken müsse, und gelegentlich zögerte sie mitten in einem Satz und suchte nach dem richtigen Wort.
Sie wurde der Mittelpunkt einer Gruppe von Zuhörern. Das Interesse, das sie erregte, zerstreute etwas die von den mysteriösen Stimmen ausgelöste Furcht. An ihrer hellen, blonden Wirklichkeit war nichts Unheimliches, obwohl ihre Erscheinung ungewöhnlich und fremdartig war. Der kleine Rol kroch näher und beäugte die Fremde mit staunenden Augen. Unbemerkt ergriff er einen Zipfel ihres in üppigen Falten herabhängenden weichen Fellumhangs. Er rieb seine Wange daran und kroch wieder ein Stück näher, bis er an ihren Knien war. »Wie heißt du?« fragte er. Das Lächeln der Fremden und ihre bereitwillige Antwort retteten den Kleinen vor der Rüge, die er mit seiner Frage verdient hatte. »Mein wirklicher Name«, sagte sie, »würde dir fremd und unverständlich vorkommen. Die Leute dieses Landes haben mir einen anderen Namen gegeben.« Sie legte eine Hand auf ihren Umhang. »Nach diesem hier nennen sie mich Weißfell.« Rol wiederholte den Namen für sich selbst: »Weißfell, Weißfell.« Und er fuhr fort, den weichen Pelz zu streicheln. Das hübsche Gesicht und das schöne warme Gewand dieser Frau gefielen Rol. Er richtete sich auf, und mit einer plötzlichen Anwandlung von Kühnheit legte er Arme und Oberkörper auf ihren Schoß. »Rol!« rief seine Tante. »Oh, lassen Sie ihn«, sagte Weißfell lächelnd und streichelte sein Haar; und Rol blieb. Bald drang er weiter vor und kletterte vor den Augen seiner gestrengen Tante wagemutig auf die Knie der Fremden. Ihre Arme umfingen ihn und verhinderten jeden Protest. Er kuschelte
sich glücklich an sie, befingerte den Griff der Doppelaxt, die Elfenbeinschließe an ihrer Kehle, die Strähnen ihres blonden Haares. Und schließlich rieb er seinen Lockenkopf mit dem Zutrauen des Kindes an ihrer weichen, fellbedeckten Schulter. Damit nicht genug, legte er seine kurzen Arme um ihren Hals und küßte sie zweimal schmatzend auf die Wange. Sie lachte erfreut und küßte ihn wieder. »Das Kind belästigt Sie«, sagte Sweyn. »Nein, keineswegs«, antwortete sie so ernst und entschieden, daß es dem Anlaß nicht mehr angemessen war. Rol machte es sich wieder auf ihrem Schoß bequem und begann den Verband von seiner verletzten Hand abzuwickeln. Er hielt einen Moment inne, als er sah, wo das Blut durchgesickert war, doch dann wickelte er weiter, bis seine Hand frei und der Schnitt zu sehen war. Er hielt Weißfell die Hand hin, um ihr Mitleid und ihre Zärtlichkeit zu gewinnen. Beim Anblick der verletzten Hand und des blutigen Verbands sog sie plötzlich scharf den Atem ein und drückte Rol an sich – so hart, daß er zu zappeln anfing. Ihr Gesicht war hinter dem Jungen verborgen, so daß niemand ihren Ausdruck sehen konnte. In ihren Zügen war das Licht einer schrecklichen Freude. Noch weit entfernt, jenseits des niedrigen Hügels und der Föhrenwaldung, stapfte der verspätete Christian durch den Schnee heimwärts. Seit Tagesanbruch war er zu Fuß unterwegs gewesen und hatte die wenigen Farmen und Weiler im Umkreis von zwölf Meilen besucht, um die Männer zu einer Bärenjagd einzuladen.
Er kam in die mitternächtliche Schwärze des Kiefernwaldes, ohne seinen schnellen Schritt zu verlangsamen, obwohl der Pfad unsichtbar war. Als er wieder ins Freie kam, sah er die Farm am Fuß des Hügels liegen und fing zu laufen an, daß der Schnee in Wolken hochwirbelte. Schon nach wenigen Metern sprang er plötzlich mit einem großen Satz zur Seite und stand still. Vor ihm im Schnee war die Fährte eines riesigen Wolfs. Seine Hand griff zum Messer, zur einzigen Waffe, die er bei sich trug. Er spähte umher, ging in die Knie, um seine Augen auf eine Ebene mit dem Tier zu bringen, und spähte wieder. Ein Wolf als Einzelgänger ist fast immer ein altes, kluges Tier von beträchtlicher Größe, das in winterlicher Notzeit nicht davor zurückschreckt, einen einzelnen Mann anzugreifen. Diese Wolfsfährte war die größte, die Christian je gesehen hatte, und soweit er im Dunkeln ausmachen konnte, kaum älter als eine Stunde, vielleicht noch frischer. Sie führte unter den Föhren heraus und den Hang hinunter. ›Gut für mich.‹, dachte er, ›daß ich mich verspätet habe; gut für mich, daß ich nicht durch den Wald kam, solange diese Gefahr dort lauerte.‹ Wachsam folgte er der Spur. Sie führte in gerader Linie den Hang abwärts, überquerte den zugefrorenen Bach und die ebene Fläche vor dem Farmhaus. Ein weniger guter Kenner als Christian hätte daran zweifeln können, daß es eine Wolfsfährte war, und sich vielleicht mit der Vermutung zufriedengegeben, daß die Pfotenabdrücke von Tyr stammten, aber Christian war seiner Sache ganz sicher. Er wußte zwischen dem Trittsiegel eines Wolfs und dem eines Hundes zu unterscheiden. Weiter geradeaus – direkt auf die Farm zu.
Christian war erstaunt, daß ein herumstreifender Wolf sich so nahe an die Farm heranwagte. Er zog sein Messer und ging weiter, stirnrunzelnd, spähend, bis an die Tür, wo der Überhang des Daches den Schnee fernhielt. Sein Herz schien einen großen Sprung zu tun und dann stillzustehen. Hier vor der Tür endete die Fährte. Christian umkreiste das Haus im Schatten der Außenwände, kam wieder zum Eingang und blieb nachdenklich stehen. Nichts lauerte neben dem Haus, und keine Spur führte zurück in die Winternacht. Die Föhren standen unbewegt auf der Anhöhe, die Wolken hingen tief und schwer. Der Wind hatte sich gelegt, und einzelne Schneeflocken sanken herab. Christian stand einen Moment entsetzt und benommen, dann drückte er die Klinke und trat ein. Sein Blick ging über die vertrauten Gegenstände und Gesichter, und in ihrer Mitte sah er die Fremde, fellbekleidet und schön. Die furchtbare Wahrheit ging ihm wie ein Blitz durchs Gehirn. Er wußte, was sie war. Nur wenige merkten bei seinem Eintreten erschrocken auf. Der Raum war erfüllt von Geschäftigkeit und Bewegung, denn es war Essenszeit, und alle Werkzeuge wurden beiseite gelegt, und Bänke und Tische zusammengerückt. Christian wußte kaum, was er sagte oder tat; er bewegte sich und sprach mechanisch, und immer wieder dachte er, daß er nun bald aus diesem schrecklichen Traum erwachen müsse. Sweyn und seine Mutter glaubten, daß er durchgefroren und todmüde sei, und ersparten ihm alle unnötigen Fragen. Und ehe er sich's versah, fand er sich neben der Herdstelle auf einer Bank sitzen, gegenüber diesem grauenvollen Wesen, das wie ein schönes Mädchen aussah. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen. Voll Schrecken sah er sie den kleinen Rol liebkosen.
Sweyn saß in ihrer beider Nähe, und auch seine Aufmerksamkeit galt der Fremden, aber es war eine andere Art von Aufmerksamkeit. Sie schien sich der Blicke nicht bewußt zu sein: weder bemerkte sie die Furcht und die Feindseligkeit in Christians Augen, noch Sweyns herzliche Bewunderung. Die beiden Brüder, im Alter nur ein Jahr auseinander, waren trotz ihrer auffallenden Ähnlichkeit sehr verschieden. Sie glichen einander im regelmäßigen Profil, im hellbraunen Haar und den tiefblauen Augen, aber Sweyns Züge waren vollkommen wie die eines jungen Gottes, während Christians Gesicht fehlerhafte Details zeigte. Die Linie seines Mundes war ein wenig zu breit und gerade; die Augen lagen etwas zu tief in ihren Höhlen; überhaupt waren seine Konturen schmaler und hagerer. Ihre Körpergröße war gleich, doch Christian war zu mager, um vollkommen proportioniert zu sein. Sweyns kräftiger Knochenbau, seine breiten Schultern und muskulösen Arme machten ihn dagegen zu einem Musterbeispiel männlicher Schönheit. Landauf und landab kannte man ihn als den besten Ringer, Reiter, Tänzer, Sänger. Als Jäger und Fischer, wie auch bei der Feldarbeit war er einer der Besten. Nur in der Schnelligkeit wurde er von seinem jüngeren Bruder übertroffen. Alle anderen konnte Sweyn im Wettlauf distanzieren, aber Christian schlug ihn über jede Distanz mit Leichtigkeit. Er konnte mit Sweyns angestrengtestem, atemlosesten Spurt Schritt halten und dabei lachen und reden. Doch Christian war nicht sonderlich stolz auf die Schnelligkeit seiner Füße, denn er hielt die Beine eines Mannes für wenig verdienstvolle Glieder. Er beneidete seinen Bruder nicht um dessen athletische Überlegenheit; er liebte und bewunderte ihn, wie nur ein jüngerer Bruder lieben und bewundern kann. Er war stolz auf alles, was Sweyn tat, gab sich mit allem zufrieden und fand sich auch damit ab, daß seine
eigene große Zuneigung nicht im gleichen Übermaß erwidert wurde, weil er wußte, daß er weniger liebenswert war. Inmitten der Frauen und Kinder wagte er seinen Schrecken nicht in Worten auszudrücken. Er wartete eine Gelegenheit ab, seinen Bruder ins Vertrauen zu ziehen. Aber Sweyn bemerkte seine verstohlenen Zeichen nicht – oder wollte sie nicht bemerken, und hielt sein Gesicht immer Weißfell zugewandt. Bald zog Christian sich von der Herdstelle zurück, unfähig, angesichts dieser schrecklichen Bedrohung untätig zu bleiben. »Wo ist Tyr?« fragte er plötzlich. Dann entdeckte er den Hund in einer entfernten Ecke. »Warum ist er dort angekettet?« »Er sprang die Fremde an«, antwortete einer. Christians Augen leuchteten. »Ja?« sagte er, um dann ohne ein weiteres Wort in den Winkel zu gehen, wo Tyr angekettet war. Der Hund erhob sich schwanzwedelnd, ihn zu begrüßen, und Christian bückte sich und streichelte den schwarzen Kopf. »Guter Tyr!« murmelte er. »Braver, tapferer Tyr!« Christians Blick wanderte zurück zu Weißfell, und der Hund, der es bemerkte, warf sich gegen die Kette. Christians Hand lag auf Tyrs Nacken, und er fühlte, wie die Muskeln des Hundes in hilfloser Wut zitterten. Auch in ihm kam nun eine Wut auf, geboren aus der Vernunft, nicht aus dem Instinkt, aber genauso hilflos. Er kehrte zu den anderen zurück, um neue Fragen zu stellen. »Wie lange ist die Fremde schon hier?« »Sie kam etwa eine halbe Stunde vor dir.« »Wer öffnete ihr die Tür?« »Sweyn. Kein anderer wagte es.« Der Ton dieser Antwort war sonderbar.
»Warum?« forschte Christian. »Ist etwas geschehen?« Mit gedämpfter Stimme erzählte man ihm von dem dreimal wiederholten geheimnisvollen Rufen und Klopfen an der Tür, von Tyrs unheilvollem Geheul, und von Sweyns vergeblicher Wache draußen. Christian wandte sich in qualvoller Ungeduld an seinen Bruder, ein paar Worte unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Die Tische waren zum Essen bereitet, und Sweyn führte Weißfell zum Ehrenplatz für Gäste. Dies war noch schlimmer! Gleich würden sie mit ihr unter dem Firstbalken das Brot brechen. Er berührte Sweyns Arm und flüsterte eine dringende Bitte. Sweyn starrte ihn an und schüttelte den Kopf in ärgerlicher Ungeduld. Darauf rührte Christian keinen Bissen an. Endlich kam seine Gelegenheit. Weißfell erkundigte sich nach den Landmarken der Gegend und nach einer gewissen Wegkreuzung namens Cairn Hill, wo sie sich für diesen Abend verabredet hatte. Die Hausherrin und Sweyn waren entsetzt. »Bis dort sind es drei Meilen«, sagte Sweyn. »Es gibt keine Unterkunft, nur eine elende Hütte aus Latten und Zweigen. Bleiben Sie diese Nacht bei uns, und morgen werde ich Ihnen den Weg zeigen.« Weißfell schien zu zögern. »Drei Meilen«, sagte sie. »Dann müßte ich ein Signal hören oder sehen.« »Ich werde Ausschau halten«, erbot sich Sweyn. »Wenn kein Signal kommt, dann dürfen Sie uns nicht verlassen.« Er eilte eifrig zur Tür. Christian folgte ihm still hinaus. »Sweyn, weißt du, was sie ist?«
Sweyn, überrascht von seines Bruders festem Griff und seiner heiser-erregten Stimme, drehte sich stirnrunzelnd um. »Sie? Wer? Weißfell?« »Ja.« »Sie ist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe.« »Sie ist ein Werwolf.« Sweyn lachte laut heraus. »Bist du verrückt?« fragte er. »Nein; hier, sieh selbst.« Christian zog ihn ein paar Schritte vom Eingang fort und zeigte auf den Schnee, wo die Wolfsfährte gewesen war – gewesen war, denn nun war sie nicht mehr da. Es schneite, und alle Spuren, auch seine eigenen, waren ausgelöscht. »Nun?« fragte Sweyn. »Wärst du gekommen, als ich dich bat, hättest du sie gesehen.« »Was gesehen?« »Die Abdrücke eines großen Wolfs, die bis an die Tür führten. Keine, die wegführten.« Es war unmöglich, von seinem Ton unberührt zu bleiben, obwohl er fast flüsterte. Sweyn beäugte seinen Bruder besorgt, aber in der Dunkelheit konnte er das Gesicht des anderen nicht sehen. Dann legte er seine Hände freundlich und ermutigend auf Christians Schultern und fühlte, wie sie vor Erregung und Schrecken zitterten. »Man sieht seltsame Dinge«, sagte er, »wenn einem die Kälte in die Knochen dringt; du kamst kalt und erschöpft nach Haus.« »Nein«, sagte Christian mit Entschiedenheit. »Ich sah die Fährte oben am Waldrand und folgte ihr den Hang hinunter bis vor die Tür. Es war keine Täuschung.«
Sweyn war fest überzeugt, daß es eine Sinnestäuschung gewesen sein mußte. Christian neigte zu Tagträumen und seltsamen Phantastereien, aber noch nie war er von einer so verrückten Vorstellung besessen gewesen. »Glaubst du mir nicht?« fragte Christian verzweifelt. »Du mußt. Ich schwöre, daß es die Wahrheit ist. Bist du blind? Selbst Tyr hat es sofort gewußt.« »Morgen wirst du einen klaren Kopf haben, nach einer ordentlichen Nachtruhe. Dann geh, wenn du willst, mit mir und Weißfell zur Wegkreuzung Cairn Hill, und wenn du dann immer noch Zweifel hast, beobachte sie und folge ihr und sieh nach, was für Fußabdrücke sie hinterläßt.« Erbittert über Sweyns offenbare Mißachtung, drehte Christian sich abrupt zur Tür. Sweyn hielt ihn zurück. »Was nun, Christian? Was willst du tun?« »Du glaubst mir nicht; Mutter wird mir glauben.« Sweyns Griff wurde fester. »Du wirst es ihr nicht sagen«, erklärte er gebieterisch. Gewöhnlich fügte Christian sich dem Herrschaftsanspruch seines Bruders, und so kam es jetzt überraschend, daß er sich ungeduldig losriß und nicht weniger entschieden als Sweyn sagte: »Sie wird es erfahren.« Aber Sweyn war der Tür näher und ließ ihn nicht vorbei. »Für einen Abend hat es genug Angst und Unruhe gegeben. Wenn deine fixe Idee die Nacht überlebt, kannst du sie morgen vortragen.« Christian gab nicht nach.
»Frauen sind so leicht zu schrecken«, drängte Sweyn. »Sie sind bereit, jedes unbewiesene Gerede zu glauben. Sei ein Mann, Christian; bekämpfe diese unsinnige Werwolf-Idee.« »Wenn du mir nur glauben würdest«, begann Christian. »Ich glaube, daß du ein Dummkopf bist«, sagte Sweyn, der die Geduld verlor. »Jeder andere würde dich für einen Schuft halten und vermuten, du hättest Weißfell zu einem Werwolf gemacht, weil sie ihr Lächeln häufiger mir schenkte als dir.« Die Anspielung war nicht grundlos, denn Weißfells helle, freundliche Blicke war ihm zugefallen. Christian hatte nicht für eine Sekunde ihre Aufmerksamkeit gefunden. »Wenn du eine Verbündete willst«, fuhr Sweyn halb im Scherz fort, »vertraue dich der alten Trella an. Aus ihrem Vorrat von Weisheit kann sie dich – wenn ihr Gedächtnis mitmacht – über die orthodoxen Methoden zur Bekämpfung eines Werwolfs aufklären. Wenn ich mich recht entsinne, mußt du die verdächtige Person bis Mitternacht beobachten, weil sie ihre Tiergestalt für immer behalten muß, wenn ein menschliches Auge die mitternächtliche Verwandlung gesehen hat. Oder, noch besser, du besprengst Hände und Füße der Betreffenden mit Weihwasser, was für einen Werwolf den sicheren Tod bedeutet! Keine Angst, Trella wird für diesen Anlaß schon das Richtige wissen.« Sweyns Stimmung war nur noch an der Oberfläche heiter und scherzhaft, denn diese hartnäckigen Zweifel an Weißfell begannen ihm außerordentlich lästig zu werden. Aber Christian war zu aufgewühlt, um es zu bemerken. »Du sprichst darüber wie über Altweibergeschwätz, aber wenn du den Beweis gesehen hättest, den ich gesehen habe,
würdest du ernsthaft daran denken, diese Methoden auszuprobieren.« »Gut«, sagte Sweyn mit einem geringschätzigen Lachen. »Du kannst sie ja ausprobieren. Ich habe nichts dagegen – solange du deine Ideen für dich behältst. Nun, Christian, gib mir dein Wort, daß du schweigen wirst, und wir brauchen hier nicht länger zu frieren.« Christian blieb still. Sweyn legte ihm wieder die Hände auf die Schultern und ersuchte vergeblich, in der Dunkelheit die Züge seines Bruders auszumachen. »Wir haben noch nie gestritten, Christian.« »Ich habe noch nie gestritten«, erwiderte der andere, dem nun zum ersten Male bewußt wurde, daß sein Bruder schon öfter Anlaß zu Streit gegeben hatte. Es war jedoch nie zu offenem Streit gekommen, weil Christian immer eingelenkt und nachgegeben hatte. »Nun«, sagte Sweyn drohend, »wenn du zu irgend jemand sagst, was du eben mir über Weißfell gesagt hast, wirst du was erleben.« Nachdem er dieses Ultimatum gestellt hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und ging wieder ins Haus. Christian folgte ihm, beunruhigter und bekümmerter als zuvor. »Es schneit heftig – kein Licht ist zu sehen.« Weißfells Blick überging Christian, als bemerke sie ihn nicht, und richtete sich hell und leuchtend auf Sweyn. »Ist auch kein Signal zu hören?« fragte sie. »Haben Sie nicht den Klang eines Jagdhorns gehört?«
»Ich sah nichts und hörte nichts; und Signal oder nicht, der Schneefall würde Sie so oder so zum Bleiben zwingen.« Sie bedankte sich mit einem hübschen Lächeln. Und Christians Herz wurde von einer tödlichen Vorahnung zusammengepreßt, als er sah, was für ein Licht ihr Lächeln in Sweyns Augen brachte. In jener Nacht, als alle anderen schliefen, hielt Christian, der am müdesten von allen war, bis nach Mitternacht vor der Gästekammer Wache. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören. War die alte Geschichte von der mitternächtlichen Verwandlung wahr? Was war auf der anderen Seite der Tür – eine Frau oder eine Bestie? Christian hätte seine rechte Hand gegeben, um Gewißheit zu haben. Leise legte er seine Finger auf die Klinke und drückte sie nieder, obwohl er damit rechnete, daß der innere Riegel vorgeschoben war. Die Tür gab seinem sanften Druck nach; er stand auf der Schwelle; eiskalte Luft schlug ihm entgegen. Das Fenster stand offen. Der Raum war leer. So konnte Christian endlich mit etwas erleichtertem Herzen schlafen gehen. Am Morgen gab es Erstaunen und allerlei Mutmaßungen, als Weißfells Verschwinden entdeckt wurde. Christian blieb still; nicht einmal seinem Bruder sagte er, daß Weißfell vor Mitternacht geflohen war; und Sweyn vermied jede Bemerkung über den Gegenstand von Christians Befürchtungen. Der ältere Bruder nahm allein an der Bärenjagd teil; Christian fand Vorwände, zu Hause zu bleiben. Sweyn, der seine gewohnte gute Laune eingebüßt hatte, gab seine Verachtung zu erkennen, indem er nicht ein Wort des Bedauerns äußerte. Am folgenden und an allen weiteren Tagen entfernte Christian sich nie außer Sichtweite der Farm. Nur Sweyn fiel das auf
und er ärgerte sich darüber. Weißfells Name wurde niemals zwischen ihnen erwähnt, obwohl er in der allgemeinen Unterhaltung nicht selten zu hören war. Kaum ein Tag verging, ohne daß der kleine Rol fragte, wann Weißfell wiederkäme. Kleiner Rol! Unartiger, lustiger, blonder kleiner Rol! Ein Tag kam, an dem seine Füße über die Schwelle rannten, um nie zurückzukehren. Sein Plappern und Lachen wurde nie mehr gehört. Gegen Sonnenuntergang wurde er das letztemal gesehen, als er mit seinem jungen Hund aus dem Haus rannte. Später, als seine Abwesenheit bereits Besorgnis ausgelöst hatte, kehrte sein Welpe winselnd und verängstigt zur Farm zurück, ohne die ängstlichen Sucher anführen zu können. Von Rol wurde niemals eine Spur gefunden. Wie er umgekommen war, blieb bedrückten Mutmaßungen überlassen. Vielleicht war er erfroren, oder ein wildes Tier hatte ihn angefallen. Christian hörte das Gesinde von einem Wolf reden, und eine schreckliche Gewißheit kam über ihn, was für ein Wolf es gewesen war. Er versuchte sein Wissen auszusprechen, aber Sweyn sah ihn mit weißem Gesicht und zuckenden Lippen die Worte formen, erriet sein Vorhaben und nahm ihn beiseite. Mit hartem Griff und wütenden Augen flüsterte er eine Warnung, und wieder unterwarf sich Christian dem stärkeren Willen seines Bruders und schwieg wider sein besseres Wissen. Die Reue kam noch vor dem neuen Mond. Weißfell kehrte zurück, trat lächelnd ein, als sei sie eines freundlichen Empfangs gewiß; und tatsächlich gab es nur einen, der ihr schönes Gesicht und ihre seltsame weiße Kleidung ohne Freude sah. Sweyns Züge leuchteten vor Glück, während Christian erblaßte und wie im Tod erstarrte. Er hatte sein Wort gegeben, Schweigen zu
bewahren, aber er hatte auch nicht gedacht, daß sie es wagen würde, noch einmal zu kommen. Schweigen war angesichts dieses Ungeheuers unmöglich. Unbezähmbar brach es aus ihm hervor: »Wo ist Rol?« Kein Muskel zuckte in Weißfells Gesicht; sie hörte die Frage, doch sie blieb heiter und ruhig. Sweyns Augen blitzten gefährlich den Bruder an. Bei den Frauen fielen einige Tränen, als der Name des armen Kindes laut wurde, aber niemand begriff den Zusammenhang, denn der Gedanke an Rol stellte sich ganz natürlich ein. Wo war Rol, der sich in die Arme der Fremden geschmiegt hatte, der sie geküßt und nach ihr Ausschau gehalten und täglich von ihr geplappert hatte? Christian ging still hinaus. Es gab nur eines, was er tun konnte, und das mußte unverzüglich geschehen. Sein Schrecken überstieg jegliche Neugierde, Weißfells glatte Erklärungen und lächelnde Entschuldigungen für ihr sonderbares und unhöfliches Verschwinden zu hören, oder ihre Geschichte über die Umstände ihrer Rückkehr. Der schnellste und ausdauerndste Läufer der Gegend begann sein schwerstes Rennen – kaum weniger als sechs Meilen und zurück, was er in zwei Stunden schaffen wollte, obwohl die Nacht mondlos und die Strecke schlecht war. Er lief durch die stille kalte Luft, bis sie wie Wind um sein Gesicht strich. Die Farm versank jenseits der Hügel hinter ihm, und neue Hügel verschneiten Landes hoben sich vom düsteren Horizont ab, zogen langsam an ihm vorüber und blieben zurück in der Nacht. Er kümmerte sich nicht um Landmarken, nicht einmal, als alle Spuren eines Pfades unter der Schneedecke verschwunden waren. Er war entschlossen, sein Ziel so schnell wie möglich zu
erreichen, und der Instinkt und seine physische Kraft und Ausdauer führten und trugen ihn ohne Einsatz bewußter Überlegung. Das Gehirn empfing in seiner Untätigkeit Impressionen vergangener Geschehnisse: Rol weinend, lachend, zusammengerollt auf dem Schoß jenes schrecklichen Wesens; weiße Zähne im schwarzen Maul Tyrs; die Frauen, die den dummen kleinen Welpen streichelten und dabei weinten; dieses Tier war ihnen auf einmal wertvoll, weil es die letzte Berührung des Kindes gefühlt hatte; Pfotenabdrücke vom Waldrand zur Haustür; das lächelnde Gesicht in den Falten des weißen Fells, voll weiblicher Schönheit und lächelnd; und Sweyns Gesicht. »Sweyn, ach Sweyn, mein Bruder!« Sweyns zorniges Lachen kam im Geräusch des Windes an sein Ohr; Sweyns Verachtung biß tiefer und schmerzhafter als die mörderische Kälte. Und doch blieb Christian frei von jedem Gedanken, wie Sweyns Verachtung und Zorn zunehmen würden, wenn er von diesem Vorhaben erführe. Für den jüngeren Bruder war alles Leben ein geistiges Geheimnis, dem klaren Erkennen durch die Dichte und Trägheit des Fleisches verschleiert. Er hoffte, daß geweihtes Wasser Gottes Welt von allem Übel ebenso zu befreien vermochte, wie reines Wasser allen natürlichen Schmutz abwäscht. Schneller als je eines Menschen Fuß diese Meilen zurückgelegt hatte, lief er darum unter dem dunklen stillen Himmel über die menschenleeren Schneehügel zu der entfernten Kirche, wo im Weihwasserbecken die Rettung lag. Sein Glaube war so fest und einfach wie der Wunsch eines Kindes, so stark wie der Wille eines Mannes. Er wurde während dieser Stunden kaum vermißt, in denen jede Sekunde von den äußersten Anstrengungen erfüllt war,
deren Muskeln und Sehnen und Nerven fähig waren. In der Farm herrschten unterdessen Wärme und Freundlichkeit und Blicke von ungewohnter Beseelung, denn Anmut und Schönheit der wiedergekehrten Fremden erweckten die gastfreundlichen Instinkte der Bewohner zu herzlichen Beweisen des Willkommens und Interesses. Sweyn war ernst und aufmerksam und glücklich; seine Fürsorge ging über die höfliche Freundlichkeit des Gastgebers hinaus. Was ihn bei ihrem ersten Kommen bezaubert hatte, was seither in seinem Gedächtnis fortgelebt hatte, vertiefte sich nun in ihrer Gegenwart. Sweyn, der unter den Männern seinesgleichen nicht hatte, erkannte in dieser schönen Fremden einen ihm verwandten kühnen und hochfliegenden Geist und einen gesunden und wiederstandsfähigen Körper. Und doch war ihre weiße Haut glatt und sanft. Es gab bei ihr keine schwellenden Muskeln, die ihre Körperkraft offenbar machten. Die glühende Bewunderung für diese unvergleichliche Fremde erzeugte soviel Liebe zu ihr, wie seine unverhüllte Eigenliebe zugestehen konnte. Mehr Bewunderung als Liebe war darum in seiner Leidenschaft, und so war er frei von der feinfühlig zögernden Zurückhaltung und den Zweifeln eines Liebenden. Offen und kühn warb er mit Blicken und Worten um ihre Gunst. Sie war auch keine Frau, die anders gewonnen werden konnte. Seufzer und zärtliches Geflüster hätte sie nicht beachtet, aber ihre Augen glänzten, wenn sie von einer tapferen Tat hörte, und dann griff sie instinktiv zur Doppelaxt in ihrem Gürtel und packte sie fest. Diese Geste befeuerte Sweyns Bewunderung stets aufs neue; er wartete auf sie, wünschte sie herbei und strahlte, wenn sie schließlich kam. Wundervoll und schön war dieser Arm, schlank und kraftvoll wie Stahl; und die glatte,
wohlgeformte Hand konnte schnell und fest zupacken, bereit, sofortigen Tod auszuteilen. Im Verlangen nach dem Druck dieser Hände plante der kühne Liebhaber mit handgreiflicher Direktheit und schlug vor, Jagdlieder zu singen, bei deren Refrain sich alle an den Händen fassen mußten. Seine kraftvolle Stimme sang die Verse, und als der Refrain kam, nahm er sofort ihre Hände und fühlte, wie er gehofft hatte, die Kraft und die Energie, die ihre Fingerspitzen durchzuckte, als der Rhythmus sie erfaßte und ihre Stimme klar und hell einfiel. Danach sang sie allein. Sie wählte ein langsames, leises Lied, traurig wie der Klagegesang des Windes. Die alte Trella kam aus ihrer Ecke getappt, von einer wiedererwachten Erinnerung belebt. Sie brachte ihre trüben Augen nahe an die Fremde heran und hielt den Kopf zur Seite geneigt, daß kein Ton ihren alterstauben Ohren entgehe. Als Weißfell ihr Lied beendete, sagte Trella mit ihrer zitterigen Fistelstimme: »So sang sie, meine Thora; meine jüngste und liebste Tochter. Wie ist sie – sie, deren Stimme wie die meiner toten Thora ist? Sind ihre Augen blau?« »Blau wie der Himmel.« »So waren auch Thoras Augen! Ist ihr Haar blond und reicht in Strähnen bis zum Gürtel?« »Genau so«, antwortete Weißfell selber, nahm die vorgestreckten Hände der Alten in ihre eigenen und führte sie, damit sie sich durch Fühlen überzeugen konnten. »Wie meine tote Thora«, wiederholte die alte Frau. Und dann ruhten ihre zitternden Hände auf den fellumhüllten Schultern. Sie beugte sich vor und küßte Weißfells glattes, junges Gesicht. So sah Christian sie, als er eintrat.
Er verhielt einen Moment. Nach der sternenlosen Dunkelheit und der eisigen Nachtluft und dem wilden, stummen, zweistündigen Lauf taumelten seine Sinne beim plötzlichen Eintritt in Wärme und Licht und das muntere Durcheinander von Stimmen. Eine unvermittelte und nicht vorausgesehene Angst befiel ihn, als er nun zum ersten Male die Möglichkeit bedachte, von ihrer List und ihrer Kühnheit überwunden zu werden. In diese Empfindung mischten sich Entsetzen und Mitleid für diese harmlosen, hilflosen Leute. Das fürchterliche Wesen in ihrer Mitte, durch weibliche Schönheit getarnt, schien das Zentrum zu sein, um das sich alles drehte. Und die arme alte Trella, die Schwächste und Einfältigste von allen, erwies diesem Ungeheuer unter allgemeiner Freude Zärtlichkeiten. Dabei konnte jeder Moment die Enthüllung eines furchtbaren Schreckens bringen – eine tödliche Gefahr für friedliche Mädchen und Frauen und ahnungslose Männer. Und er war allein auf die Gefahr vorbereitet! Er allein? Nein, auch Tyr. Der Gedanke war tröstlich, und wie im Traum ging er langsam durch die Diele zu dem Hund, der wieder angekettet war und als einziger sein Wissen teilte. So zeitlos ist der Gedanke, daß nur wenige Sekunden zwischen seinem Eintreten und dem Lösen von Tyrs Halsband lagen, aber in diesen wenigen Sekunden hatte Sweyns wachsames Auge ihn gefunden, spannte der feindselige Instinkt jeden Nerv seines Körpers; und halb ungläubig, halb Christians Absicht erratend, sprang er hastig auf und kam zornig und wachsam herüber, entschlossen, jede vermeintliche Bosheit seines wildblickenden Bruders zu verhindern. Doch hinter Sweyn erhob sich Weißfell, weiß wie ihr Fellumhang und mit Augen, die plötzlich hart und wild waren. Sie
sprang durch den Raum zur Tür und zog den langen Umhang eng um sich. »Hark!« keuchte sie. »Das Signalhorn! Hark, ich muß gehen!« Im nächsten Augenblick hatte sie den Riegel gezogen und die Tür aufgerissen. Einen kostbaren Moment hatte Christian am halb geöffneten Hundehalsband gezögert; denn solange die weibliche Gestalt sich nicht in eine Bestie zurückverwandelte, würden Tyrs mächtige Kiefer mit der vermeintlichen Frau die Glaubwürdigkeit des entsetzlichen Verdachts in Fetzen reißen. Er hörte ihre Stimme und drehte sich um – zu spät. Als sie den Riegel zurückstieß, sprang er zur Seite und hob seine Flasche, aber Sweyn kam dazwischen und riß ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zurück, so daß er nur mit äußerster Anstrengung seinen rechten Arm freibekam. Mit dem Impuls der Verzweiflung schleuderte er die Flasche nach ihr. Die Tür schwang hinter ihr zu, und die Flasche zersplitterte an den Planken. Dann, als Sweyns harter Griff sich lockerte und Christian die verdutzte Frage in den Gesichtern ringsum las, rief er heiser: »Gott helfe uns allen! Sie ist ein Werwolf!« Sweyn war sofort über ihm. »Lügner! Feigling!« schrie er, und seine Hände packten seines Bruders Kehle mit tödlicher Gewalt, als ob das gesprochene Wort so noch nachträglich erstickt werden könnte. Als Christian sich gegen den Würgegriff wehrte, hob er ihn hoch und schleuderte ihn hinter sich, daß er krachend hinschlug. So erbittert war Sweyn, daß er seinen bewegungslos am Boden liegenden Bruder mit Füßen trat, bis die Mutter dazwischenkam und ihn mit dem erregten Ausruf: »Schäme dich! Pfui Teufel!« wegzerrte. Und selbst dann blieb er in der Nähe stehen, die Zähne zusammengebissen, die Brauen
gerunzelt, die Fäuste geballt und bereit, ein zweites Mal gewaltsam Stillschweigen zu erzwingen, falls Christian, der taumelnd und verwirrt auf die Füße kam, wieder Anschuldigungen aussprechen würde. Aber völlige Stille und kampflose Hinnahme der Demütigung war Christians ganze Reaktion, so daß Sweyns Wut sich in Verachtung verwandelte. Der Bruder hatte sich zu leicht einschüchtern und durch bloße Gewalt unterwerfen lassen. »Er ist verrückt!« sagte Sweyn, sich abwendend, so daß ihn der vorwurfsvolle Blick seiner Mutter über dieses Wort, das eine lauernde Furcht in ihr auslöste, nicht mehr erreichte. Christian war viel zu erschöpft, um sprechen zu können. Er atmete krampfhaft und schluchzend; seine Glieder waren nach dem harten Lauf kraftlos. Der Fehlschlag seines Unternehmens erzeugte eine Betäubung, die ihn elend und verzweifelt machte. Dazu kamen die Erniedrigung und die Mißhandlung durch seinen Bruder, und die Bekümmerung, sein Handeln so falsch ausgelegt zu bekommen, denn Sweyn hatte sich den anderen zugewandt und beruhigte ihre furchtsame Erregung halb durch sein gebieterisches Auftreten und halb durch Erklärungen und Argumente, die eine schmerzliche Mißachtung brüderlicher Rücksicht zeigten. Sweyn ließ unterdessen seinen Bruder kaum aus den Augen, wandte immer wieder den Kopf, um einen plötzlichen Gegenangriff rechtzeitig zu erkennen; und sooft er sich umsah, war Christians Blick auf ihn gerichtet. Es war ein seltsamer Blick hilflosen Kummers, der den zornigen Sweyn aus der Fassung brachte. »Wie ein geprügelter Hund!« sagte er laut, als müßte er aufkommende Reue durch Geringschätzung überspielen. Die Beobachtung seines Bruders ließ ihn endlich Christians erschöpften Zustand erkennen. Die müden, schweren Bewegun-
gen der Arme und Beine deuteten auf ungewöhnliche Anstrengung hin. Und warum war auf die zwei Stunden seiner Abwesenheit ein so offen feindseliges Verhalten gegen Weißfell gefolgt? Plötzlich, nachdem die Bruchstücke der Flasche ihm einen Anhaltspunkt gegeben hatten, erriet er alles und starrte seinen Bruder in völliger Verblüffung an. Er vergaß auf einmal, daß der Plan des Jüngeren gegen Weißfell gerichtet gewesen war und darum seinen Spott und seine Ablehnung verdiente; Verblüffung und Bewunderung für diese unglaubliche Leistung von Schnelligkeit und Ausdauer löschten alles andere aus seinem Denken. Aber diese Regung hielt nicht lange an, denn in dieser Nacht führten Sweyn und seine Mutter ein Gespräch, das den Verdacht, Christians Verstand sei aus dem Gleichgewicht geraten, zur Gewißheit erhärtete. Sie diskutierten die offenbare Ursache. Sweyn, der seine eigene Liebe zu Weißfell erklärte, unterstellte seinem unglücklichen Bruder eine Leidenschaft, die durch Eifersucht und Verzweiflung von Liebe in Haß umgeschlagen sei, bis der Verstand die innere Spannung nicht mehr ertragen und einen Wahn erzeugt habe, der nun zu einer ernsten und gefährlichen Bedrohung geworden sei, weil Wahnsinnige vor keiner Tücke zurückschreckten. So theoretisierte Sweyn. Er überzeugte sich selbst, während er sprach und überzeugte danach andere, die Zweifel gegen Weißfell vorbrachten. Er fesselte sein Urteilsvermögen mit seiner Beredsamkeit und seiner hartnäckigen Verteidigung ihrer überstürzten Flucht und brachte damit seine eigene innere Unsicherheit über ihr unerklärliches Verhalten zum Schweigen. Doch kurze Zeit später verlor Sweyn seinen Vorteil durch den Schock eines neuen Unglücks. Trella war nicht mehr, und ihr Ende blieb ein Geheimnis. An einem klaren Tag war die arme alte Frau fortgehumpelt, um eine bettlägerige Freundin zu
besuchen, die zwei Meilen entfernt wohnte. Am Waldrand hatte man sie zuletzt gesehen, wie sie auf ihren Begleiter wartete, der nach einem vergessenen Mitbringsel zurückgeschickt worden war. Rasch erreichte die Nachricht ihres Verschwindens die Farm, und alle Männer machten sich auf die Suche. Im Unterholz neben dem Pfad fand man ihren Stock, aber sonst nichts – weder Spuren noch Blutflecken, denn ein böiger Wind fegte den Schnee von den Zweigen und verbarg alle Hinweise, wie sie zu Tode gekommen war. Panik ergriff die Bewohner der Farm. Keiner wagte allein fortzugehen. Bekannte Gefahren konnten abgewendet werden, aber nicht dieser verstohlene Tod, der unsichtbar bei Tag umging, der das Kind beim Spiel ebenso ereilte wie die betagte Frau, die ihrem stillen Grab schon so nahe gewesen war. »Erst küßte sie Rol, dann küßte sie Trella!« So warnte Christian immer wieder, bis Sweyn ihn fortzerrte und ihn vom Gesinde fernhielt. Aber nun war der Verdacht so handgreiflich, daß Sweyns Argumente nicht mehr ganz überzeugten. Er wurde nicht direkt aufgefordert, Weißfell gegen Christians Beschuldigungen zu verteidigen, aber seine Erklärungen stießen auf taube Ohren. Er wußte sehr gut, was es zu bedeuten hatte, daß ihr bisher oft und ungezwungen ausgesprochener Name jetzt nicht mehr laut genannt wurde. In seiner Anwesenheit gab es nur Geflüster, das er nicht verbieten konnte. Während Sweyn in dieser Zeit eine Haltung steifer Gleichgültigkeit zur Schau stellte, verharrte Christian meistens in stummer Niedergeschlagenheit und nervöser, besorgter Beobachtung seines Bruders. Geplagt von unheilvollen Vorahnungen und von Gewissensbissen, daß er die traurigen Geschehnisse der letzten Wochen nicht hatte verhindern können, empfand er Sweyns Abneigung als eine zusätzliche und
unerträgliche Last. Der gewaltsame Bruch zwischen ihnen bekümmerte ihn tief. Der ältere Bruder, selbstgenügsam und unempfindlich, konnte kaum ahnen, wie tief seine Unfreundlichkeit den anderen verletzte. Christians unauslöschbare brüderliche Zuneigung war ihm so fremd, daß ihn dessen unaufhörliche Beobachtung ärgerte. Darum und um Weißfell von jedem Verdacht zu befreien, hielt er es für klüger, Frieden zu schließen. Nichts war leichter als das. Ein wenig Freundlichkeit, ein paar Zeichen von Rücksichtnahme, eine reservierte Wiederbelebung der alten brüderlichen Anmaßung genügten. Christian antwortete mit einer Dankbarkeit und Erleichterung, die Sweyn gerührt hätte, wenn er nicht so verblendet gewesen wäre. In Wirklichkeit verstärkte sich aber statt dessen seine geheime Verachtung. So erfolgreich war seine Taktik, daß, als er eines Tages seinen Bruder unter einem Vorwand vom Hof schickte, keinen Verdacht erregte. Als sich erwies, daß Christian den Gang umsonst gemacht hatte, trat dieser arglos den Heimweg an und vermutete einen Irrtum oder ein Mißverständnis. Erst als er die Farm im Tal zwischen den abendgrauen Schneehügeln sichtete, weckte die Erinnerung an jenen Abend, als er die Wolfsfährte bis zur Haustür verfolgt hatte, neue Furcht in ihm, und gleichzeitig damit ein unbestimmtes Mißtrauen. Er packte den Bärenspieß fester, den er als Wanderstab benützte; jeder Muskel war gespannt, alle Sinne waren hellwach; eine untergründige Erregung trieb ihn voran, Vorsicht hielt ihn zurück, und beides zusammen beherrschte seine raschen, leisen Schritte. Als er sich der äußeren Einzäunung näherte, bewegte und entfernte sich ein heller Schatten, als ob das Grau des Schnees
auf einmal ins Gleiten käme. Ein dunklerer Schatten blieb und erwartete Christian. Sweyn stand vor ihm, und der andere Schatten, der sich entfernt hatte, war zweifellos Weißfell gewesen. Sie waren beisammen gewesen – eng beisammen. Hatte Sweyn sie in seinen Armen gehalten, nahe genug, sie zu küssen? Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber das verblassende Licht des scheidenden Tages zeigte deutlich genug Sweyns froh erregtes und nun errötendes Gesicht. Die Röte blieb und vertiefte sich, aber der Ausdruck veränderte sich rasch beim Näherkommen des Bruders. Ob Christian alles gesehen hatte? Wie sollte Sweyn einem neuen Ausbruch von verrückter Panik begegnen? Mit Entschlossenheit? Mit Gleichgültigkeit? Sweyn schwankte zwischen beiden und blieb unschlüssig. »Weißfell?« fragte Christian atemlos. »Ja!« »Hast du sie geküßt?« Die Verwegenheit der Frage verblüffte Sweyn. Er lief noch dunkler an. »Du wagst das zu fragen?« »Sweyn, ich muß es wissen! Du hast sie doch geküßt!« Der Ton von Verzweiflung in Christians Stimme ärgerte Sweyn, der ihn mißverstand. Eine derart anmaßende Eifersucht war ihm unerträglich. »Verrückter Dummkopf!« sagte er, sich nicht länger zurückhaltend. »Wenn du eine Frau küssen willst, gewinn dir selbst eine und laß meine aus dem Spiel. Ich werde dir nie erlauben, sie zu küssen.« . Nun begriff Christian.
»Ich – ich!« rief er. »Weißfell, dieses tödliche Wesen! Sweyn, bist du blind oder verrückt? Ich möchte dich vor ihr retten – vor einem Werwolf!« Sweyn wurde wieder wütend über die Beschuldigung und sofort wurden die Brüder zum zweiten Male handgemein. Aber Christian war jetzt zu verzweifelt, um Skrupel zu haben. Ihm war eine Möglichkeit in den Sinn gekommen, und wenn er sie nutzen wollte, mußte er seinen Bruder schlagen. Zum Glück war er bewaffnet und darum Sweyn ebenbürtig. Als sein Angreifer sich auf ihn stürzte, schlug er ihm das stumpfe Ende des Bärenspießes so hart über den Kopf, daß Sweyn fiel. Dann sprang Christian fort, um seiner Eingebung zu folgen. Als Sweyn wieder auf die Füße kam, war er über diese unbegreifliche Flucht ebenso verdutzt wie zornig. Er wußte in seinem Herzen, daß Christian kein Feigling war und es ihm nicht lag, vor einer Auseinandersetzung zurückzuschrecken. Der Nutzlosigkeit einer Verfolgung war sich Sweyn bewußt; er mußte sich vorerst mit seinem ungestillten Zorn und seinen Kopfschmerzen abfinden und eine bessere Gelegenheit abwarten. Da Weißfell nach rechts gelaufen war, Christian aber nach links, dachte Sweyn keinen Augenblick an die Möglichkeit eines Zusammentreffens der beiden. Christian hatte unterdessen aber gesehen, daß sich etwas hinter der Farm über die verschneite Ebene auf das Hügelland zubewegte, und er setzte seine ganze Hoffnung auf eine unsichere Chance und seine unübertroffene Schnelligkeit. Wenn die Gestalt dort draußen wirklich Weißfell war, konnte er sie vielleicht einholen oder abfingen. Und dann – weiter dachte er nicht.
Er nahm eine Abkürzung, und nach einem kurzen, wilden Lauf machte er in einer Senke halt, wo sie nach seiner Berechnung vorbeikommen mußte. Er verschnaufte und sah sich um. Hatte sie eine andere Richtung genommen? Sie kam. Sie kam mit einer geschmeidigen, gleitenden, geräuschlosen Geschwindigkeit, die weder ein Gehen noch ein Rennen war. Ihre Arme waren in dem fest im ihren Körper gelegten Fellumhang verborgen, die Kapuze war eng um ihr Gesicht gezogen. Ihre Augen waren in die dunkle Ferne gerichtet. Dann sah sie den Mann, und ein kurzes Erschrecken ließ sie innehalten. »Fell!« Beim Klang ihres so verstümmelten Namens holte sie schnell und scharf Atem. Ihre Augen glitzerten, ihre Oberlippe hob sich; sie zeigte die Zähne. Die Hälfte ihres Namens, durch Christians Tonfall mit unheilvoller Bedeutung erfüllt, warnte sie vor einem Todfeind. Doch sie ließ ihren Umhang locker fallen und sprach wie eine sanfte Frau. »Was wünschen Sie?« Christian antwortete mit seiner feierlichen, furchtbaren Anklage: »Du hast Rol geküßt – und Rol ist tot! Du hast Trella geküßt – Trella ist tot! Du hast meinen Bruder Sweyn geküßt, aber er soll nicht sterben!« Er fügte hinzu: »Du magst leben bis Mitternacht.« Das Glitzern blieb noch einen Moment in ihren Augen, und ihre rechte Hand glitt zum Stil der Doppelaxt. Dann wich sie ihm wortlos aus und lief über den Schnee davon. Und Christian flog herum und folgte ihr, nur eine halbe Schrittlänge hinter ihr.
So rannte sie schweigend hinaus in die Weiten des verschneiten Ödlands, wo sich außer ihnen kein lebendes Wesen unter den Sternen der Nacht bewegte. Niemals zuvor hatte Christian seine Stärke so genossen. Die Gabe der Schnelligkeit und seine trainierte Ausdauer waren ihm jetzt von unschätzbarem Wert. Obwohl Mitternacht noch Stunden entfernt war, erfüllte ihn Zuversicht, daß Weißfell ihm nicht entkommen würde, mochte sie laufen, so schnell und so weit sie konnte. Dann, wenn die Zeit für die Verwandlung kam, wenn die Frauengestalt sie nicht länger schützen würde, konnte er die Bestie erschlagen, um Sweyn zu retten. Er hatte seinen Bruder in äußerster Not geschlagen, aber er konnte keine Frau schlagen, obwohl die Vernunft ihn dazu drängte. Sie liefen eine Meile, zwei Meilen; Weißfell immer einen halben Sprung voraus, Christian in stets gleichbleibendem Abstand schräg hinter ihr, so nahe, daß ihre fliegenden Felle ihn zuweilen berührten. Sie sprach kein Wort, drehte nicht einmal den Kopf, um ihn anzusehen lief einfach weiter, unbeirrbar, über rauhes und über ebenes Gelände, immer geradeaus, das Geräusch seines Atems und seiner Tritte im Nacken. Nach einer Weile beschleunigte sie ihr Tempo. Von Anfang an hatte Christian ihre Geschwindigkeit bewundert, doch mit einer frohlockenden Gewißheit seiner unschlagbaren Überlegenheit. Aber als das Tempo schneller wurde, fand er sich härter als bei jedem anderen Rennen auf die Probe gestellt. Tatsächlich flogen ihre Füße schneller als die seinen; nur durch seine größere Schrittlänge konnte er mithalten. Doch er atmete leicht und frei und wußte, daß er stundenlang so laufen konnte, wenn es sein mußte.
So flog das verzweifelte Rennen weiter. Ihre Füße ließen den pulverigen Schnee stäuben, ihr Atem dampfte in der kalten, scharfen Luft. Dann und wann blickte Christian auf, um am Stand der Sterne die Zeitspanne bis Mitternacht zu schätzen. Es war noch lang – so lang! Weißfell wurde nicht langsamer. Sie war, das wurde jetzt deutlich, im Vertrauen auf ihre beispiellose Schnelligkeit ebenso zuversichtlich, ihren Verfolger abzuschütteln, wie er zuversichtlich war, bis Mitternacht auszuhalten. Und Christian blieb selbstsicher und hielt mit. Er konnte nicht versagen; er würde nicht versagen. Rol und Trella zu rächen, war Grund genug für ihn, das Menschenmögliche zu tun, aber für Sweyn war er bereit, das Übermenschliche zu versuchen. Sie hatte Sweyn geküßt, aber Sweyn sollte nicht sterben – solange es Sweyn zu retten galt, konnte er nicht versagen. Niemals zuvor hatte es ein solches Rennen gegeben; es dauerte mit unverminderter Geschwindigkeit an, während Stern um Stern sich über den Horizont erhob und den Bogen gegen Mitternacht zog – eine Stunde, zwei Stunden. Dann sah und hörte Christian, was ihm Angst durch die Glieder jagte. Unterhalb eines waldbedeckten Hügels sah er dunkle Gestalten über die Schneefläche hetzen und hörte ein Japsen und Gebelfer. Die jagenden Gestalten kamen immer näher – ein Rudel Wölfe verfolgte sie. Die Tiere fürchtete er nicht so sehr; sie kamen von der Seite, aber waren sie erst hinter ihm, dann würden sie sein Tempo nicht lange mithalten, trotz ihrer vier Beine, denn die Schneedecke behinderte sie mehr als ihn. Was er fürchtete, war Weißfells List. Was sollte er tun, wenn sie diese Wölfe zu Bundesgenossen im Kampf gegen ihn machte, waren sie ihrer Natur
doch verwandt. Bisher gab sie ihnen jedoch keine Zeichen. Damit sie ihm nicht entkam, erfaßte Christian im Laufen einen flatternden Zipfel ihres Fellumhangs und hielt daran fest. Sie drehte ihren Oberkörper, so daß er das Glitzern ihrer Augen und Zähne sah. Mit einem tierischen Knurren riß sie die Axt aus dem Gürtel und hackte blitzschnell nach seiner Hand. Sie hätte ihm das Handgelenk durchtrennt, aber er parierte den Schlag mit seinem Bärenspieß. Die blitzende Klinge zersplitterte den Schaft, glitt ab und durchschlug seine Fingerknochen, so daß er zum Loslassen gezwungen wurde. Dann rasten sie weiter, und Christian ließ nicht nach, obwohl seine linke Hand gebrochen war und blutete. Das wölfische Knurren, die tückische Wut in ihren Augen, der scharfe Schmerz des zermalmenden Axthiebs, dies alles ließ Christian das Wolfsrudel vergessen und lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf die unendlich größere Gefahr, die noch immer in Frauengestalt vor ihm rannte. Als er sich an die Wölfe erinnerte und hinter sich blickte, erreichte das Rudel gerade ihre Fährte und gab die Jagd augenblicklich auf. Es schlich eingeschüchtert beiseite und das Belfern und Japsen der Verfolgung machte winselnden und heulenden Tönen Platz, so zuwider war dieser Werwolf dem natürlichen tierischen Instinkt. Sie hatte ihren Umhang enger um sich gezogen, und kein Zipfel umflatterte wie vorher ihre Fersen. Ihre Beine waren von den Knien abwärts frei und bewegten sich mit unveränderter Leichtigkeit. Sie hielt ihren Kopf wie zuvor; ihre Lippen waren fest geschlossen, nur die geblähten Nasenflügel gaben ihr Atem; kein Zeichen von Anstrengung verriet, daß diese mörderische Geschwindigkeit schon lange andauerte. Bei Christian hingegen
begann die Anstrengung sich langsam bemerkbar zu machen. Sein Atem kam hart und stoßweise, sein Herz schlug wie ein Hammer. Ein dumpfer Druck war in seinem Gehirn, eine Stumpfheit, die ihn seinen hilflosen Zustand erst allmählich erkennen ließ: verwundet und waffenlos jagte er diese Bestie. Aber er wollte nicht aufgeben. Er betete, und die klaren Sterne über ihm fingen zu zittern an. Er überlegte, warum. Ob sie wohl vor dem Anblick des Ungeheuers schauderten? Nie zuvor hatte Christian geahnt, daß seltsame Wesen sich vor den Menschen verbergen, indem sie sich als verschneite, schwankende Büsche und Bäume ausgeben, aber nun glitten sie aus ihren harmlosen Verkleidungen, um ihm zu folgen und über seine Unfähigkeit zu spotten, ein ihnen verwandtes Wesen zu bezwingen. Er wußte, daß die Luft hinter ihm wimmelte; er hörte das Gesumm vielstimmigen Murmelns, aber seine Augen konnten nichts fassen; er sah die Schneehügel wogen und sah die Bäume taumeln. Und nach solchen Blicken kehrten die Sterne für eine Weile zu ruhiger Standfestigkeit zurück, und eine unendliche Stille gefror auf der grauen kalten Welt, nur vom raschen, gleichmäßigen Schlag fliegender Füße und dem Geräusch hastigen Atmens. Und in einigen klaren Momenten wußte er, daß es nur galt, trotz Schmerzen und Erschöpfung, die Schnelligkeit zu halten, mit jedem Nerv seines Körpers zu leugnen, daß dieses Untier die Macht hatte, ihn zu bezwingen oder den Abstand zwischen ihnen zu erweitern, bis die Sterne zur Mitternacht hinaufkrochen. Das Rennen kam zu einem abrupten Halt. Weißfell bremste ihren Lauf und schlug einen scharfen Haken nach rechts, und Christian auf einen so plötzlichen Richtungswechsel nicht vorbereitet, sah vor sich eine tiefe gähnende Grube, ohne seinen
Schwung abfangen zu können. Aber im Vorbeistürzen griff er nach Weißfell, bekam ihren rechten Arm mit seiner gesunden Hand zu fassen und wurde von ihrer Schwenkung mitgezogen, taumelte mit ihr am Rand entlang und in Sicherheit. Sie bleckte in wilder Wut die Zähne und versuchte sich loszureißen. Da ihr rechter Arm in seinem Griff war, gebrauchte sie ihre Axt mit der linken Hand und hackte nach ihm. Christians rechter Arm wurde aufgeschlitzt. Als er ihr nachsetzte, um die wenigen Schritte ihres Vorsprungs wieder einzuholen, und den Arm dabei schwingen ließ, durchfuhr ihn nach der Betäubung des ersten Schocks rasender Schmerz. Doch ihre List und der neue Schmerz brachten ihn noch einmal in den Besitz seiner Kräfte, schärften und belebten seine Sinne. Er wußte, daß diese Gestalt, die er verfolgte, der lebendig gewordene Tod war, verwundet und hilflos war er völlig ihrer Gnade ausgeliefert, sobald sie seinen Zustand erkannte und handelte. In seiner Hoffnungslosigkeit, die Toten rächen und den Lebenden noch retten zu können, trieb ihn allein die Angst um Sweyn weiter und weiter. Daß er dieses Wesen über Mitternacht hinausjagen und aus der verführerischen, verräterischen Frauengestalt in dauernde Beschränkung auf die tierische Form zwingen konnte, war der letzte Fetzen Hoffnung, der von der Zuversichtlichkeit seines Aufbruchs übriggeblieben war. Die letzte Stunde vor Mitternacht neigte sich dem Ende zu; die Sterne hoben sich. Und wieder vereinigten sich sein schwellendes Herz und sein schrumpfendes Gehirn und die Schmerzen, um den Willen auszulöschen, der nur noch scheinbare Herrschaft über seine Füße hatte. Nun war Weißfells Körper so eng eingehüllt, daß weder Zipfel noch Saum ihres Umhangs frei flatterte. Sie streckte sich seltsam schräg vorwärts und verlor die aufrechte Haltung des
Läufers. Manchmal gingen ihre Schritte in lange Sätze über, die ihre Geschwindigkeit vermehrten, und Christian kämpfte in Agonie, es ihr gleichzutun. Er wurde verwirrt, seiner eigenen Identität unsicher, zweifelte an seiner wahren Gestalt. War er denn wirklich ein Mensch? War dieses rennende Wesen vor ihm wirklich eine Frau? Und auch Sweyns wirkliche Gestalt kannte er nicht. Sweyn lag gefallen zu seinen Füßen. Er hatte ihn niedergeschlagen. Er hatte seinen eigenen Bruder erschlagen. Er stolperte über ihn und mußte über ihn wegspringen und schneller rennen, weil sie, die Sweyn geküßt hatte, so schnell sprang. »Sweyn – Sweyn – oh, Sweyn!« Warum hörten die Sterne auf zu zittern? Sicherlich war Mitternacht gekommen! Das geduckt springende Wesen blickte wild zu ihm zurück und grinste in Triumph und Verachtung. Und dann begriff er, warum: Sie war im Begriff, ihm zu entkommen. Zur Linken fiel ein vereister Steilhang zum zugefrorenen Bach ab, und auf der anderen Seite schob sich die Flanke des Hügels vor, bis sie in den Steilabfall überging. An der konvergierenden Stelle blieb eine schmale Stufe, auf der man kaum stehen konnte. Nur ein in Schulterhöhe verwurzelter Wacholderbusch bot einen Halt, damit man sich an der gefährlichen Stelle vorbeischwingen und auf günstigeres Terrain gelangen konnte. Der Augenblick der Krise trieb ihn zur letzten, höchsten Anstrengung; sein Wille war unbezähmbar, seine Schnelligkeit erwies sich noch einmal als unübertroffen. Er jagte vorwärts, überholte sie, drehte um und versperrte ihr den Weg. Um ihn zu täuschen, wich sie nach rechts aus und warf sich dann verzweifelt auf ihn, einem Raubtier gleich, das seine Beute
anspringt. Und er, mit einem kräftigen Arm und einer Hand, die nicht fassen konnte, und einer kräftigen Hand und einem Arm, der nicht tragen und führen konnte, packte sie und hielt sie fest. Und sie fielen zusammen. Und weil er seinen gesunden Arm abgleiten und seine gesunde Hand bei dem Schmerz des gebrochenen Arms nachgeben fühlte, verbiß er sich oberhalb ihrer Knie in den Fellumhang. Sie befreite sich von seinem Griff und kam auf die Füße. Sie wollte ihn siegreich überspringen, strauchelte aber und fiel wieder, während er sich bemühte, sie mit seinem Körper auf den vereisten Boden zu drücken. Sie zog ihre Axt und hackte tief in seinen Nacken – einmal – zweimal –, und sein Blut ergoß sich über ihre Beine und Füße. Die Sterne berührten Mitternacht. Der Todesschrei, den er hörte, war nicht seiner, denn seine zusammengepreßten Kiefermuskeln hatten sich noch nicht entspannt, als der Schrei erklang. Und der furchtbare Schrei begann als Kreischen einer Frau und veränderte sich und endete als quietschendes Röcheln eines Tieres. Und bevor seine sterbenden Augen brachen, sah er, daß sie ihre Gestalt wandelte. Und er sah, was ihm unverständlich war: daß das Leben dem Tod Platz machte. Denn er ahnte nicht, daß kein Weihwasser wirksamer war, das Schlechte zu vernichten, als das Lebensblut eines reinen Herzens, in williger Hingabe für einen anderen vergossen. Seine eigene wahre Identität wurde fühlbar, erkennbar. Ihm schien sie einfach dies zu sein: eine große, frohe, überströmende Hoffnung, daß er seinen Bruder gerettet hatte; zu umfassend, um in der begrenzten Gestalt eines einzelnen Menschen enthalten zu sein, drängte sie nach einer neuen Verkörperung, unendlich wie die Sterne.
Was machte es dieser wahren Realität aus, daß des Mannes Gehirn schrumpfte und schrumpfte; daß des Mannes Körper die ungeheure Qual seines Herzens nicht halten konnte und sie durch die rote Wunde im Nacken quellen ließ; daß sausende Schwärze des Mannes Augenlicht, Gehör, Gefühl für immer auslöschte? Im frühen Grau des Tages stieß Sweyn zufällig auf die Fußspur eines Mannes – eines Läufers, wie er am ausgeworfenen Schnee sah. Und die Richtung der Fährte erweckte seine Neugier, denn sie führte dorthin, wo es weit und breit keine menschliche Siedlung gab. Er ging ihr nach. Dann erregte die Schrittlänge seine Aufmerksamkeit – sie war wenigstens so lang wie seine eigene, wenn er rannte. Er wußte, daß er Christian folgte. In seinem Zorn hatte er sich gegen die nachtlange Abwesenheit seines Bruders zu Gleichgültigkeit verhärtet, aber nun, als er die Richtung der Fährte sah, fühlte er Gewissensbisse und Furcht. Er hatte versäumt, sich um seinen armen, vom Wahn befallenen Bruder zu kümmern, der vielleicht – war es möglich? – in einen verzweifelten Tod gerannt war. Sein Herz stand still, als er an eine Stelle kam, wo sein Bruder über eine vier Meter hohe, steile Böschung gesprungen war; eine Schneewächte war vom oberen Rand gebrochen, und unten war nichts zu sehen. Er rannte auf der Abbruchkante entlang, bis er einen Punkt erreichte, wo er hinuntersteigen konnte, und dann lief er unten wieder zurück und sah, daß die Spur unbeirrbar weiterführte. Er stand und grübelte. Wie war es möglich, daß Christian diesen Sprung getan hatte, wo er selbst nicht zu springen wagte? Welche Gefühle hatten ihn getrieben? Langsam begann er den
Spuren seines Bruders wieder nachzugehen, und nach einer guten Weile kam er zu einer Mulde, wo zwei Fährten zusammenliefen. Die andere bestand aus kleineren Fußabdrücken, wie eine Frau sie hinterlassen mochte, aber die Schrittlänge war größer als Frauenkleider es erlaubten. Konnte es Weißfell gewesen sein? Eine schreckliche Vermutung drängte sich in sein Bewußtsein – so schrecklich, daß er sich weigerte, daran zu glauben. Aber sein Gesicht wurde aschfahl. Eine nähere Untersuchung zeigte ihm, daß die kleineren Füße nach dem Zusammentreffen schneller gelaufen waren als zuvor, denn die Spitzen waren tiefer in den Schnee eingedrückt, während die Fersenabdrücke leichter und flüchtiger waren. Konnte irgendeine Frau außer Weißfell so rennen? Konnte irgendein Mann außer Christian so rennen? Die Vermutung wurde zur Gewißheit. Weißfell war allein in der dunklen Nacht vor Christian geflohen. Wut und Entrüstung über diese Schändlichkeit setzten sein Gehirn in Brand. Eine solche Schändlichkeit seines Bruders, der bis vor kurzem so liebenswert und sanftmütig gewesen war, erschien ihm unfaßbar. Er würde Christian töten; mochte der andere soviele Leben haben wie er Fußabdrücke im Schnee hinterlassen hatte. In einem Sturm mörderischen Hasses rannte Sweyn los; die Doppelfährte war nicht zu übersehen. Er lief so schnell, daß er sein Tempo bald nicht mehr halten konnte und keuchend verschnaufte. Nach mehreren Intervallen wilden Laufens und ausgepumpten Atemholens verfiel er endlich in einen stetigen, langsamen Trab, den er leichter durchhalten konnte.
Meile um Meile trabte er mit hämmerndem Herzen; und immer tragischer, immer mitleiderregender empfand er dieses Zeugnis von Weißfells großartiger Leistung, die sich so lange gegen Christians berühmte Schnelligkeit behauptet hatte. So lange, daß seine Liebe und Bewunderung alle Grenzen sprengte. Zugleich wuchsen sein Kummer und seine Entrüstung. Wann immer die Fährte klar vor ihm lag, beschleunigte er instinktiv und voll Ungeduld sein Tempo, bis – manchmal auf dem Eis eines kleinen Sees, manchmal auf einer windverwehten Fläche – alle Spuren ausgelöscht waren; aber so unbeirrbar hatten sie ihren Kurs gehalten, daß er nur geradeaus laufen mußte, um dann die Spur etwas mehr nach rechts oder links abbiegend, wiederzufinden. Die Mittagszeit dieses Wintertags verstrich, bevor er zu . der Stelle kam, wo der zertrampelte Schnee zeigte, daß ein Hasten von vielen Pfoten gewesen war. Ein Wolfsrudel – und es hatte die beiden nicht verfolgt! Das war erstaunlich. Nur ein kurzes Stück entfernt fand Sweyn die abgebrochene Spitze von Christians Bärenspieß, und dann sah er auch den nutzlosen Schaft. Der Schnee hier war mit Blut besprenkelt, und die Schritte der beiden zeigten, daß es zu einer kurzen Unterbrechung des gleichmäßigen Laufs gekommen war. Ein heiseres Jubelgeräusch kam aus seiner Kehle, das ein Lachen gewesen wäre, hätte der Atem dazu ausgereicht. »O Weißfell, meine arme tapfere Geliebte! Gut getroffen!« krächzte er, zerrissen von Mitleid und größter Bewunderung, als er erriet, daß sie kehrtgemacht und einen Axthieb ausgeteilt hatte. Der Anblick des Blutes im Schnee entflammte ihn wie eine raubgierige Bestie. Er wurde rasend vor Verlangen, Christian wieder bei der Kehle zu packen und diesmal nicht mehr
loszulassen, bis er ihm den letzten Lebensfunken ausgedrückt, ihn erschlagen, erstochen und in Stücke gerissen hatte. Und dann, erst dann, weinte er wie ein Kind über das grausame Schicksal seiner armen, verlorenen Liebe. Weiter-weiter-weiter, schnaufend und stapfend und stolpernd in der Spur dieser zwei einzigartigen Läufer, des Wunders ihrer Ausdauer bewußt, aber in Unkenntnis des Wunders ihrer Geschwindigkeit, das sie in den drei Stunden vor Mitternacht über die ganze ungeheure Entfernung getragen hatte, für die er vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung brauchte. Denn das Tageslicht verging, als er an den Rand eines alten Marmorbruchs kam und sah, wie die zwei in verzweifelter Lebensgefahr gekämpft und den Schnee zertrampelt hatten. Und auch hier berichteten ihm Blutflecken von mutiger Verteidigung gegen seinen infamen Bruder; und er folgte der Blutspur in wilder Befriedigung, denn der Augenschein zeigte, daß Christian diesmal eine tiefe Wunde empfangen hatte. Seine Wut flammte neu auf, und mit ihr das Verlangen, es genauso zu tun, nur gründlicher, und so seinen mörderischen Bruderhaß zu stillen. Er mühte sich weiter, so schnell er konnte, schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, in einer Agonie von Ungeduld, das Ende zu erreichen, wie schrecklich es auch immer sein mochte,. Und das Licht verließ den Himmel und gab ungewissen Sternen Raum. Er kam ans Ende. Zwei Körper lagen vor einer Engstelle: Christian, – aber die andere Gestalt war nicht Weißfell. Wo ihre Fußabdrücke endeten, lag ein riesiger weißer Wolf. Der Anblick vernichtete
Sweyns Kräfte. Körper und Seele taumelten, wurden von unbekannter Gewalt niedergeschlagen. Die Sterne waren klar und hell geworden, bevor er sich regte. Schwach wie ein Kind kroch er zu seinem toten Bruder und legte seine Hände auf ihn und kauerte so reglos vor Furcht unfähig, sich umzublicken oder zu bewegen. Kalt – steif – seit Stunden tot. Doch der Leichnam war in dieser furchtbaren Stunde sein einziger Schutz und Halt. Seine Seele, entblößt von allem Trost, duckte sich zitternd und nackt, und der Lebende klammerte sich in jammervollem Bedürfnis nach Gnade an den Toten. Endlich erhob sich Sweyn auf die Knie und hob den Toten. Christian war mit dem Gesicht in den Schnee gefallen, die Arme ausgebreitet, und so hatten Frost und Tod ihn erstarren lassen, seltsam schrecklich und unnachgiebig, so daß Sweyn ihn wieder niederlegen mußte und sich gebückt über ihn stellte, seine Arme fest um den Toten legte und ihn so zu heben versuchte. Doch seine Kräfte versagten. Mit einem leisen, herzzerreißenden Stöhnen sank er über seinen Bruder. Als er endlich die Kraft fand, den Leichnam aufzuheben und fest gegen seine Brust gedrückt in seinen Armen zu halten, versuchte er das Untier anzusehen. Der Anblick lähmte seine Glieder in Furcht. Seine Sinne hätten versagt und ihn in völliger Feigheit ohnmächtig hinstürzen lassen, wenn die Kraft, die dem toten Christian in seinen Armen zu entströmen schien, ihn nicht gestärkt hätte. Das Untier hatte keine Wunde – nur Blutflecken an den Läufen. Die mächtigen Kiefer, im Tod erstarrt, waren in einem zähnestarrenden Grinsen halb geöffnet. Sweyn konnte den Anblick nicht länger ertragen; er wandte sich ab, um nie wieder hinzusehen.
Und der Tote in seinen Armen war der Bestie in voller Kenntnis des Schreckens gefolgt und hatte sich ihr entgegengestellt – ihm zuliebe; er hatte ihm zuliebe Agonie und Tod erlitten; in seinem Nacken war die tiefe Todeswunde; ein Arm und beide Hände waren dunkel von gefrorenem Blut, ihm zuliebe! Den Toten erkannte er, wie er den Lebenden nie gekannt hatte. Er sehnte sich nach Vernichtung, um so das quälende Bewußtsein zu verlieren, solch vollkommener Liebe unwürdig zu sein. Die gefrorene Ruhe des Todes in Christians Gesicht stieß ihn zurück. Er wagte es nicht, den Bruder mit Lippen zu berühren, die ihn noch vor kurzem verflucht hatten, mit Lippen, die vom Kuß der Schreckensgestalt befleckt waren. Wankend stand er aufrecht, noch immer Christian umklammernd. Der tote Mann stand aufrecht und steifgefroren in seinen Armen. Die Augen waren nicht ganz geschlossen; der Kopf war ein wenig zur Seite geneigt; die Arme blieben ausgebreitet. Es war die Gestalt eines Gekreuzigten mit blutigen Händen. So gingen der Lebende und der Tote den Weg zurück, den der eine in der tiefsten Leidenschaft der Liebe und der andere in der tiefsten Leidenschaft des Hasses gekommen war. Die ganze Nacht lang mühte Sweyn sich unter der Last des toten Christian durch den Schnee, stapfte schwerfällig in der Spur zurück, die er zuvor getreten hatte, als er seinem Bruder mit den gemeinsten Gedanken unrecht getan und ihn mit mörderischem Haß verflucht hatte; den Bruder, der zu dieser Zeit um seinetwillen tot im Schnee lag.
MARY W. SHELLEY
Die unheimliche Verwandlung Wenige Leser wissen, daß Mary Wollstonecraft Shelley außer ›Frankenstein‹ noch zahlreiche Novellen und Kurzgeschichten schrieb, von denen mehrere sich mit dem Übernatürlichen befassen. ›Frankenstein‹ gewann jedoch eine so überwältigende Popularität, daß dem Rest ihres Werkes nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Zu ihren interessantesten Kurzgeschichten gehört ›Die unheimliche Verwandlung‹, die erstmals im Jahr 1831 veröffentlicht wurde. Der Ort der Handlung ist Italien, wo Mrs. Shelley mehrere glückliche Jahre verbrachte, und das Thema ist übernatürlich. Mary Shelley schrieb diese Geschichte im Alter von vierunddreißig Jahren; ihr Mann war seit neun Jahren tot, und von ihren fünf Kindern lebte nur noch eins. Den Rest ihres Lebens (sie starb 1851) widmete sie den Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann. Ihre gemeinsamen Jahre und die Orte, wo sie gemeinsam gelebt hatten, machte sie zum symbolischen Hintergrund ihrer Werke. Er hatte es nicht verdient. Er hatte seine Geliebte ins Haus gebracht, als sie krank gewesen war; er war indirekt am Tode eines ihrer Kinder schuld; er trieb seine erste Frau in den Selbstmord und erbitterte seinen Vater, Sir Timothy Shelley, dermaßen, daß dieser die seinem Sohn ausgesetzte Summe von jährlich 6000 Pfund Sterling strich. Nach dem Tod seines Sohnes trug Sir Timothy zum Lebensunterhalt von Mrs. Shelley und ihres überlebenden Kindes nur unter der Bedingung bei, daß sie Shelleys unveröffentlichte
Werke nicht im Druck erscheinen ließ, solange Sir Timothy lebte. Wenn es auch unrecht war, daß er die Werke seines Sohnes unterdrückte, so war Sir Timothy in der charakterlichen Einschätzung des Dichters durchaus klarsichtig. Hätte Shelley länger gelebt, hätte er sehr wahrscheinlich Mary verlassen und sich irgendeiner anderen Trau zugewandt. Kein Wunder, daß Mary Shelley in ›Die unheimliche Verwandlung‹ besonderen Nachdruck auf die Moral legt. Der Leser wird in dieser Erzählung viel von Percy Bysshe Shelley wiederfinden, von seinen Vorlieben, seinem Leben und seiner Philosophie. Obgleich Mary Shelleys Loyalität ihrem Mann gegenüber erwiesen ist, muß sie sich ihres Schicksals im Fall seines Fortlebens bewußt gewesen sein; in ihren Schriften herrscht ausnahmslos ein starkes Moralgefühl vor, das mit einer Grundstimmung romantisch-düsteren Schreckens verbunden ist. Ich habe sagen hören, daß der Mensch, wenn ihm irgendein seltsames, übernatürliches Abenteuer zustößt, mag er es auch verbergen wollen, wie von einem geistigen Erdbeben erschüttert wird und früher oder später gezwungen ist, seinen aufgewühlten Geist einem anderen zu offenbaren. Ich selbst kann dies bezeugen. Ich habe mir geschworen, die Schrecken, denen ich mich einmal im Übermaß boshaften Stolzes auslieferte, niemals vor menschlichen Ohren zu enthüllen. Der heilige Mann, der meine Beichte hörte und mich mit der Kirche versöhnte, ist tot. Niemand weiß, daß einmal – Warum sollte es nicht dabei bleiben? Warum eine Geschichte von frevelhafter Versuchung der Vorsehung und seelenbedrückender Erniedrigung erzählen? Warum? Antwortet mir,
die ihr in den Geheimnissen der menschlichen Natur bewandert seid! Ich weiß nur, daß ich, trotz meines festen Vorsatzes, trotz eines Stolzes, der mich zu sehr beherrscht, trotz meiner Scham und sogar Furcht, mir den Haß meiner Mitmenschen zuzuziehen, sprechen muß. Genua! Mein Geburtsort – stolze Stadt am blauen Mittelmeer. Erinnerst du dich meiner Jugendzeit, als deine Klippen und Vorgebirge, dein heller Himmel und deine heiteren Weinberge meine Welt waren? Als dem jungen Herzen das enge Universum, das durch seine bloße Begrenzung der Phantasie freien Spielraum gewährt, zum unschuldigen und fröhlichen Zaubergarten wurde? Doch wer kann in die Kindheit zurückblicken und sich nicht auch seiner Kümmernisse und quälenden Ängste entsinnen? Ich wurde mit dem anmaßendsten, hochmütigsten, unbezähmbarsten Geist geboren. Nur vor meinem Vater beugte ich mich; und er, großzügig und vornehm, aber auch launenhaft und tyrannisch, begünstigte und zügelte abwechselnd die wilde Heftigkeit meines Charakters, erzwang Gehorsam, erweckte jedoch keinen Respekt für die Motive, die seine Befehle leiteten. Ein freier, unabhängiger Mann zu sein oder, richtiger ausgedrückt, meine herrischen und schamlosen Instinkte auszuleben, war die Hoffnung meines rebellischen Herzens. Mein Vater hatte einen Freund, einen vornehmen und reichen Genuesen, der nach einem politischen Umsturz in die Verbannung gehen mußte, während sein Besitz konfisziert wurde. Der Marchese Torella ging allein in die Verbannung. Wie mein Vater, war auch er Witwer. Er hatte ein Kind, die kleine Juliet, die unter der Obhut meines Vaters zurückblieb. Ich wäre nach meiner Veranlagung vielleicht unfreundlich zu dem liebenswerten kleinen Mädchen gewesen, aber ich wurde in die Rolle des Beschützers gedrängt. Viele kindliche Zwischenfälle und
Erlebnisse tendierten alle in eine Richtung: Juliet mußte in mir einen Felsen der Verläßlichkeit und einen unerschrockenen Verteidiger sehen; ich sah in ihr ein Wesen, das durch die weiche Empfindsamkeit seiner Natur ohne meinen Schutz und meine Fürsorge zugrundegehen würde. Wir wuchsen zusammen auf. Die aufblühende Rose im Mai ist nicht süßer als es dieses liebe Mädchen war. Eine liebliche Schönheit war über ihr Gesicht gebreitet. Ihre Gestalt, ihr Schritt, ihre Stimme – mein Herz weint noch jetzt, wenn ich an all das Sanfte, Reine denke, das sie verkörperte. Als ich elf und Juliet acht Jahre alt war, fand einer meiner Vettern – viel älter als wir, die wir ihn für einen Mann hielten – großen Gefallen an meiner Spielgefährtin; er nannte sie seine kleine Braut und fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle. Sie weigerte sich, aber er beharrte und zog die Widerstrebende an sich. Wie ein Wahnsinniger warf ich mich auf ihn und krallte mich mit dem wütenden Vorsatz, ihn zu erwürgen, in seinen Hals; er mußte um Hilfe rufen, um sich von mir zu befreien. An diesem Abend führte ich Juliet in die Kapelle unseres Hauses. Ich hieß sie die heiligen Reliquien berühren; ich quälte ihr kindliches Herz und profanierte ihre kindlichen Lippen mit einem Eid, daß sie mein sein würde, und nur mein. Nun, die Tage vergingen. Nach einigen Jahren kehrte Torella zurück und wurde reicher an Einfluß und Geld, als er je gewesen war. In meinem siebzehnten Jahr starb mein Vater; gemäß seinem letzten Willen übernahm Torella während meiner Unmündigkeit die Verwaltung des ererbten Vermögens. Juliet und ich waren einander am Sterbebett meines Vaters verlobt worden, und Torella erwies sich als ein zweiter Vater; er behandelte mich nicht anders als er seinen eigenen Sohn behandelt hätte.
Ich wollte die Welt sehen, und es wurde mir erlaubt. Ich besuchte Florenz, Rom und Neapel; von dort reiste ich nach Marseille und erreichte schließlich die Stadt, die seit langem das Ziel meiner Wünsche war, Paris. Damals herrschten dort wilde und ungeordnete Verhältnisse. Der arme König, Karl VI., heute gesund, morgen verrückt, heute ein Monarch, morgen ein verworfener Sklave, war das Gespött der Menschen. Die Königin, der Dauphin, der Herzog von Burgund waren abwechselnd Freunde und Feinde, trafen sich heute zu ausschweifenden Gelagen, um sich wenig später in Rivalität und hemmungslosem Blutvergießen zu ergehen. Sie waren blind für den elenden Zustand ihres Landes und gaben sich gedankenlos liederlichen Vergnügungen oder grausamen Streitigkeiten hin. Das Paris jener Tage war ein Nährboden, in dem mein Charakter sich voll entfalten konnte. Ich war arrogant und selbstherrlich; ich liebte die Zurschaustellung von Prunk, und vor allem warf ich alle Selbstbeherrschung ab. Meine jungen Freunde waren begierig, Leidenschaften zu erwecken, die ihnen Vergnügen bereiteten. Ich galt als hübsch. Ich war ein Meister im Fechten, Reiten und in anderem ritterlichen Zeitvertreib. Ich hatte keine Verbindung zu irgendeiner politischen Partei. Ich wurde bei allen Favorit. Meine Arroganz und Selbstherrlichkeit wurden einem so jungen Mann vergeben: ich wurde ein verdorbenes Kind. Wer konnte mich kontrollieren? Gewiß nicht die Briefe und Ratschläge Torellas – nur die unabweisbare Notwendigkeit in der widerwärtigen Form eines leeren Geldbeutels. Aber es gab Mittel, dieser Not abzuhelfen. Ich machte Schulden, zu deren Abdeckung die ererbten Liegenschaften und Güter nach und nach verkauft werden mußten. Meine Kleider, meine Juwelen, meine Pferde und ihre Scha-
bracken suchten im prunkliebenden Paris ihresgleichen, während die Ländereien meiner Väter in fremden Besitz übergingen. Der Herzog von Orleans wurde vom Herzog von Burgund überfallen und ermordet. Angst und Schrecken breiteten sich in Paris aus. Der Dauphin und die Königin schlössen sich gegen die Außenwelt ab. Alle Vergnügungen und Lustbarkeiten wurden untersagt. Ich wurde dieses Zustands müde, und mein Herz sehnte sich nach den Gefilden meiner Jungenzeit. Ich war beinahe ein Bettler, doch ich wollte trotzdem zurückkehren, meine Braut fordern und mir ein neues Vermögen gewinnen. Ein paar glückliche Unternehmungen als Kaufmann sollten mich wieder reich machen. Aber ich wollte nicht in Bescheidenheit zurückkehren. Meine letzte Handlung war der Verkauf meines verbliebenen Landbesitzes bei Albaro gegen bares Geld, für die Hälfte seines Wertes. Dann sandte ich Handwerker, Gobelins und Möbel von königlicher Pracht in die Heimat, damit das letzte Relikt meiner Erbschaft, mein Palazzo in Genua, standesgemäß ausgestattet werden konnte. Ich verweilte noch ein wenig länger in Paris, weil ich mich der Rolle des heimkehrenden verlorenen Sohnes schämte. Ich schickte meiner Verlobten ein unvergleichliches spanisches Vollblut; seine Schabracke flammte von Goldgewirk und Juwelen. In alle vier Ecken ließ ich die Initialen von Juliet und ihrem Guido wirken. Mein Geschenk fand Gefallen in ihren und ihres Vaters Augen. Trotzdem bot die Rückkehr als berüchtigter Verschwender keine lockenden Aspekte. Allein dem Spott, den Vorwürfen und vielleicht der Verachtung meiner Mitbürger entgegenzutreten, erschien mir unerträglich. Um einen Schutz vor der öffentlichen
Meinung zu haben, lud ich einige meiner leichtsinnigsten Gefährten ein, mich nach Genua zu begleiten: so war ich gegen die Welt gewaffnet und verbarg ein fressendes Gefühl, halb Angst und halb Reue, hinter herausforderndem Benehmen. Ich traf in Genua ein. Ich bezog den Palazzo meiner Väter. Mein stolzer Schritt war kein getreuer Spiegel meines Herzens, denn ich fühlte zutiefst, daß ich, wenn auch von allem erdenklichen Luxus umgeben, ein Bettler war. Wenn ich Juliet heimführen wollte, blieb mir eine Offenlegung meiner Vermögensverhältnisse nicht erspart. Schon jetzt las ich in allen Augen Verachtung oder Mitleid. Ich glaubte, daß Reiche und Arme, Alte und Junge mich verspotteten. Torella kam nicht in meine Nähe. Gewiß erwartete mein Pflegevater, daß ich ihm die Ehrerbietung des Sohnes erwiese und mich zuerst bei ihm einfände, aber ich, zornig und verletzt im Bewußtsein meiner Dummheiten und meiner Verdienstlosigkeit, suchte die Schuld anderen zuzuschieben. Wir veranstalteten nächtliche Orgien im Palazzo Carega. Auf schlaflose Nächte folgten lustlose Morgen. Zum Mittagsläuten zeigten wir uns herausgeputzt auf den Straßen, rümpften die Nasen über die nüchternen Bürger und belästigten die ängstlich vorbeihuschenden Frauen und Mädchen mit unverschämten Blicken und Anträgen. Juliet war nicht unter ihnen – wäre sie dort gewesen, die Scham hätte mich fortgejagt, wenn Liebe mich nicht vor ihre Füße geworfen hätte. Ich wurde dieses Lebens müde. Plötzlich stattete ich dem Marchese einen Besuch ab. Er war in seiner Villa, einer der vielen, die die lieblichen Hänge des Vororts San Pietro d' Arena bedecken. Es war Mai, die Blüten der Büsche und Bäume verblaßten zwischen dichtem frischem Laubwerk. Die Erde war bestreut mit Blüten; die Zikaden sangen in den Zweigen;
Himmel und Erde trugen ein Gewand von unübertrefflicher Schönheit. Torella hieß mich freundlich willkommen, wenn auch ernst; und selbst dieser Schatten von Mißfallen verlor sich bald. Irgendeine Ähnlichkeit mit meinem Vater – ein Ausdruck, ein Ton jungenhafter Unbekümmertheit – erweichte des guten alten Mannes Herz. Er rief seine Tochter. Bewunderung ergriff mich, als sie den Raum betrat. Sie war von engelgleichem Aussehen, und in ihren großen weichen Augen, den vollen Grübchenwangen und dem kindlich süßen Mund spiegelten sich Glück und Wiedersehensfreude und Liebe. Sie ist mein! dachte ich stolz, und meine Lippen kräuselten sich in hochmütigem Triumph. Ich war nicht umsonst der verzogene Liebling der Pariser Schönheiten gewesen; ich hatte die Kunst erlernt, das weiche Herz einer Frau zu erfreuen. Wenn ich gegen Männer anmaßend und hochfahrend war, so benahm ich mich Frauen gegenüber stets nachgiebig und ehrerbietig. Ich begann ihr mit tausend Galanterien den Hof zu machen, die Juliet um so mehr beglückten, als sie, von Kindheit an mir versprochen, niemals die Werbung anderer zugelassen hatte und in der Sprache der Liebe unbewandert war. Für einige Tage ging alles gut. Torella vermied Anspielungen auf meine Extravaganz; er behandelte mich als Sohn. Aber die Zeit kam, als wir die Vorbereitungen zu meiner Eheschließung besprachen, wo die heitere Sorglosigkeit von düsterer Wirklichkeit überschattet wurde. Zu Lebzeiten meines Vaters war ein Ehevertrag aufgesetzt worden. Diesen hatte ich durch die Vergeudung des Vermögens, das Juliet und mir gemeinsam zugedacht gewesen war, gebrochen. Torella betrachtete die Abmachung daher folgerichtig als hinfällig und schlug einen neuen Vertrag vor, in dem trotz einer enorm vermehrten Mitgift, die uns beiden ein sorgenfreies Leben gesichert hätte, soviele
einschränkende Klauseln über die Verwendung des Vermögens enthalten waren, daß ich, der nur in der Freiheit seines eigenen Willens leben wollte, ihm vorwarf, er nutze meine Situation aus, und mich weigerte, seine Bedingungen zu unterschreiben. Der alte Mann suchte mich freundlich zur Vernunft zu bringen. Aufgestachelter Stolz wurde zum Tyrann meines Denkens: ich hörte ihn mit Empörung an – ich wies ihn mit Verachtung zurück. »Juliet, du bist mein! Tauschten wir nicht Gelöbnisse in unserer unschuldigen Jugend? Sind wir nicht eins vor dem Angesicht Gottes? Und soll dein kaltherziger, kaltblütiger Vater uns trennen? Sei großherzig, meine Liebe, sei gerecht; ziehe dein Gelöbnis nicht zurück. Laß uns der Welt trotzen, die Berechnungen des Alters zunichte machen und in unserer gegenseitigen Liebe eine Zuflucht vor jedem Übel finden.« Ein Teufel muß ich gewesen sein, um mit solcher Sophisterei dieses Heiligtum unschuldiger Gedanken und zärtlicher Liebe vergiften zu wollen. Juliet schreckte geängstigt vor mir zurück. Ihr Vater war der beste und freundlichste aller Männer, und sie bemühte sich, mir zu zeigen, daß aus dem Gehorsam zu ihm alles Gute folgen würde. Er würde meine verspätete Unterwerfung mit warmer Zärtlichkeit annehmen, und großzügige Vergebung würde auf meine Reue folgen … Es waren gute, aber nutzlose Worte einer jungen und sanften Tochter, die ihren Vater liebte. Edelmut an einen Mann verschwendet, dem nur sein Wille Gesetz war und der nur seinen eigenen herrschsüchtigen Gelüsten folgte. Mit dem Widerstand wuchs meine Erbitterung. Meine wilden Gefährten waren bereit, öl in die Flammen zu gießen. Wir berieten einen Plan, Juliet zu entführen. Anfangs schien es, als sollte seine Ausführung von Erfolg gekrönt sein, aber auf dem Rückzug wurden wir vom
verzweifelten Vater und seinen Helfern eingeholt. Es kam zu einem Zusammenstoß. Bevor die Stadtwache erschien, um den Kampf zugunsten unserer Gegner zu entscheiden, wurden zwei von Torellas Bediensteten gefährlich verwundet. Dieser Teil meiner Geschichte lastet am schwersten auf meiner Seele. Verändert wie ich bin, verabscheue ich mich in der Erinnerung. Möge keiner, der diese Erzählung hört, jemals gefühlt haben wie ich. Ein Unhold hatte von meiner Seele Besitz ergriffen und reizte sie bis zum Irrsinn. Ich vernahm die Stimme des Gewissens, aber wenn ich für kurze Zeit auf sie hörte, war es nur, um gleich darauf wie von einem Wirbelwind fortgerissen zu werden, hinein in die Stromschnellen verzweifelter Wut, ein Spielball der Stürme, die mein Stolz entfacht hatte. Ich wurde eingekerkert und auf Torellas Fürsprache wieder auf freien Fuß gesetzt. Wieder kehrte ich zurück, um sowohl ihn als auch seine Tochter nach Frankreich zu entführen, das damals in einem glücklosen chaotischen Zustand war, eine Freistatt für Räuber und Banden gesetzloser Soldaten, die auch einem Verbrecher wie mir Unterschlupf boten. Unser Komplott wurde aufgedeckt. Ich wurde in die Verbannung geschickt. Weil meine Schulden sehr groß waren, kam mein verbliebener Besitz in die Hände meiner Gläubiger. Wieder bot Torella seine Vermittlung an und verlangte als Gegenleistung nur mein Versprechen, meine Entführungsversuche nicht zu erneuern. Ich schlug seine Angebote aus und bildete mir ein, zu triumphieren, als ich aus Genua hinausgeworfen wurde. Nun war ich ein einsamer und völlig unbemittelter Verbannter. Meine Gefährten waren fort; man hatte sie einige Wochen zuvor aus der Stadt gewiesen. Sie waren wieder nach Frankreich gereist. Ich war allein, ohne Freunde, ohne Degen an meiner Seite, ohne Dukaten in meiner Börse.
Ich wanderte die Meeresküste entlang, zerrissen von Leidenschaften. Es war, als ob ein Stück Kohle in meiner Brust Feuer gefangen hätte. Ich überlegte fieberhaft, was zu tun sei. Ich wollte mich einer Bande von Freibeutern anschließen. Rache! Das Wort war Balsam für meinen verwundeten Stolz; ich umarmte es, drückte es an mich, bis es mich – einer Schlange gleich – mit seinem Biß vergiftete. Dann wieder schwor ich meiner Heimat ab und verachtete Genua. Ich wollte wieder nach Paris gehen, wo ich so viele Freunde hatte, ein neues Vermögen machen und meinen erbärmlichen Geburtsort und den falschen Torella bedrängen wollte, bis sie den Tag bereuen würden, an dem sie mich, einen neuen Coriolan, aus den Mauern verstoßen hatten. Ich sollte nach Paris zurückkehren – zu Fuß, als Bettler – und mich in meiner Armut jenen vorstellen, die ich früher prächtig und verschwenderisch unterhalten hatte? In diesem Gedanken war Galle. Die Wirklichkeit begann mir zu dämmern, und in ihrem Gefolge kam die Verzweiflung. Mehrere Monate lang war ich ein Gefangener gewesen; die Schrecken des Kerkers hatten meine Leidenschaft erst recht aufgepeitscht, aber sie hatten meinem Körper übel mitgespielt; ich war schwach und blaß. Torella hatte auf mancherlei Weise versucht, mein Los zu erleichtern; ich hatte jede Begünstigung zurückgewiesen und die Ernte meiner Verstocktheit eingebracht. Was war zu tun? Sollte ich vor meinem Feind kriechen und um Vergebung bitten? Lieber zehntausend Tode sterben! Niemals sollte er diesen Sieg genießen! Haß – ich schwor ewigen Haß! Und Juliet! Ihr Engelsgesicht und ihre anmutige Gestalt schimmerten in unerreichbarer Schönheit durch die Wolken meiner Verzweiflung denn ich hatte sie verloren, die Glorie und
Blume der Welt. Ein anderer wird sie sein nennen! Dieses Lächeln des Paradieses wird einen anderen segnen! Noch jetzt versagt mein Herz, wenn ich an diese Augenblicke tiefsten Elends zurückdenke. Vom Selbstmitleid zu Tränen gerührt, dann wieder tobend in hilfloser Wut, wanderte ich langsam die felsige Küste entlang, die mit jedem Schritt wilder und einsamer wurde. Hängende Felsen und grausige Abgründe überblickten das zeitlose Meer. Schwarze Höhlen und Spalten gähnten; und überall zwischen den Klippen und eingefressenen Schluchten murmelten und brandeten die Wellen. Manchmal war mein Weg von Felsen fast versperrt, manchmal von wasserumspülten Blöcken erschwert. Der Abend kam, als seewärts ein dunkles Wolkengebirge aufzog, den azurnen Himmel verdunkelte und den ruhigen Meeresspiegel aufwühlte. Die Wolken hatten seltsame, phantastische Formen, die sich ständig veränderten und einander durchdrangen. Die Wellen hoben ihre weißen Kämme; dann murmelte Donner über die Wasserwüste und das tiefpurpurne Meer begann zu kochen, daß der Schaum im Wind flog. An meinem Standort war auf einer Seite der Blick auf die Meeresweite frei, auf der anderen Seite begrenzte ihn ein rauhes Vorgebirge. Um dieses Kap kam plötzlich, vom Wind gejagt, ein Schiff. Vergeblich mühten sich die Seeleute, es auf die offene See hinauszusteuern – der Sturm trieb es gegen die Felsenküste. Es wird zerschellen – alle an Bord werden umkommen! So dachte ich und wünschte, unter ihnen zu sein. Und zum erstenmal vermischte sich in meinem jungen Herzen der Gedanke an den Tod mit einem Gefühl von Freude. Der Kampf des Schiffes und seiner Mannschaft gegen ein stärkeres Schicksal bot einen schrecklichen Anblick. Durch die Regenböen konnte ich die Seeleute kaum erkennen, aber ihre Schreie gellten durch das Tosen der Brandung. Bald war alles vorbei.
Ein Felsenriff, eben überflutet von den stürzenden Wellen, wartete auf seine Beute. Ein Donnerschlag krachte über mir, als das glücklose Schiff auflief. In kurzer Zeit zerbrach es unter Sturzseen und Brechern. Hier stand ich in Sicherheit, und dort kämpften meine Mitmenschen hoffnungslos gegen die Vernichtung. Ich glaubte, sie kämpfen zu sehen, so deutlich hörte ich ihre Schreie. Die dunklen Brecher warfen die Wrackteile hin und her. Bald war das Schiff verschwunden. Fasziniert hatte ich seinen Todeskampf beobachtet. Schließlich sank ich auf die Knie und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Als ich wieder aufblickte, trieben die Brandungswellen etwas zum Ufer; es kam näher und näher. War das eine menschliche Gestalt? Es wurde immer deutlicher, und wurde schließlich von einer mächtigen Welle gehoben und nicht weit von mir zwischen die Felsblöcke in den Sand geworfen. Es war ein Mensch, der auf einer Seekiste kauerte! Aber eine solche Gestalt war mir noch nie begegnet – ein mißgestalteter Zwerg mit blinzelnden Augen, häßlichen Zügen und einem entstellten, deformierten Körper. Man konnte ihn nicht ohne Grausen ansehen. Mein Blut, das sich gerade für einen Mitmenschen erwärmt hatte, der auf so wunderbare Weise dem Seemannsgrab entgangen war, gefror in meinem Herzen. Der Zwerg stieg von seiner Kiste und warf sein glattes, durchnäßtes Haar mit einem Ruck aus seinem grotesken Gesicht. »Beim heiligen Beelzebub!« rief er aus. »Das war kein leichtes Stück!« Er blickte umher und sah mich. »Ah, da ist noch ein Verbündeter des Mächtigen! Zu welchem Heiligen hast du gebetet, Freund – wenn nicht zu meinem? Aber an Bord sah ich dich nicht.«
Ich schreckte vor dem Ungeheuer und seiner Lästerung zurück und murmelte irgendeine unhörbare Antwort. »In diesem Sturm kann ich dich nicht hören«, rief er. »Was für einen Lärm dieses Meer macht! Schuljungen, die aus ihrem Gefängnis stürmen, sind nicht lauter als diese Wellen. Sie stören mich; ich will ihr Gebrüll nicht mehr hören. Ruhe, alter Graubart! Legt euch, ihr Winde! Verzieht euch, Wolken, und macht den Himmel klar!« Während er sprach, reckte er seine langen dünnen Arme, als ob er den Himmel und die stürmische See mit seinen Spinnenarmen umfassen wollte. Da geschah ein Wunder! Die Wolken rissen auf und verflüchtigten sich; der blaue Himmel kam hier und dort zum Vorschein und bald wölbte er sich als heitere Kuppel über uns. Die Sturmböen flauten ab und machten einer milden Brise Platz; die See beruhigte sich. »Ich schätze Gehorsam selbst bei diesen dummen Elementen«, sagte der Zwerg. »Es war kein schlechter Sturm, das mußt du zugeben – und ganz allein von mir gemacht.« Ich versuchte die Vorsehung, indem ich mich mit diesem Magier in ein Gespräch einließ. Aber Macht wird vom Menschen in allen Formen respektiert. Staunen, Neugierde, eine schwer zu beschreibende Faszination zogen mich zu ihm. »Komm, fürchte dich nicht«, sagte der Zwerg. »Ich bin gutmütig von Natur, und etwas an deinem wohlproportionierten Körper und deinem hübschen Gesicht gefällt mir, obwohl du ein wenig mitgenommen aussiehst. Du hast einen Land-, ich habe einen Schiffbruch erlitten. Vielleicht kann ich den Sturm deines Unglücks besänftigen, wie ich meinen eigenen Sturm besänftigt habe. Wollen wir Freunde werden?«
Er streckte mir seine magere Klaue hin, die ich jedoch nicht berühren konnte. »Nun, dann vielleicht Kameraden – das ist fast genauso gut. Und nun, während ich mich von dieser unsanften Landung erhole, erzähle mir, warum du, jung und vornehm, so allein und niedergeschlagen an dieser wilden Küste herumläufst.« Seine Stimme war schrill und unangenehm, und beim Sprechen arbeiteten seine häßlichen Züge auf die abstoßendste Weise. Doch er gewann einen Einfluß auf mich, den ich nicht abschütteln konnte, und so erzählte ich ihm meine Geschichte. Als ich geendet hatte, lachte er laut und lange; die Felsen warfen das Geräusch zurück, ein gellendes Gemecker. »Oh, du Vetter Luzifers!« sagte er, atemlos vom Lachen. »Also bist auch du durch deinen Stolz gefallen und bereit, dein gutes Aussehen, deine Braut und dein Wohlbefinden aufzugeben, um dich nicht der Tyrannei des Guten zu beugen. Ich ehre deine Wahl, bei meiner Seele! Und nun bist du geflohen und willst auf diesen Felsen verhungern und die Vögel deine toten Augen picken lassen, während deine Feinde und deine Verlobte sich erfreuen. Dein Stolz ist der Demütigung nahe verwandt, denke ich.« Seine Worte stachen in mein Herz. »Was soll ich tun?« rief ich verzweifelt. »Oh, nichts. Du kannst dich hinlegen und beten, bevor du stirbst. Aber wenn ich du wäre, wüßte ich, was ich tun würde.« Ich trat näher. Seine übernatürlichen Kräfte machten ihn in meinen Augen zu einem Orakel. »Sprich!« sagte ich heiser. »Was schlägst du vor?«
»Räche dich, Mann! Demütige deine Feinde! Setze deinen Fuß in den Nacken des alten Mannes und bemächtige dich seiner Tochter!« »Ich sehe kein Mittel!« rief ich. »Hätte ich Geld, könnte ich viel erreichen, aber arm und einsam bin ich machtlos.« Der Zwerg hatte sich auf seine Kiste gesetzt, während ich meine Geschichte erzählt hatte. Nun stand er auf; er drückte einen Federhaken an der Kiste, und der Deckel sprang auf. Welch ein Anblick! Funkelnde Juwelen, schimmerndes Gold und blasses Silber lagen darin – ein Vermögen. In mir wurde ein wildes Verlangen geboren, diesen Schatz zu besitzen. »Ohne Zweifel«, sagte ich, »kann ein so Mächtiger wie du alles erreichen.« »Nein, nein«, wehrte der Zwerg bescheiden ab. »Ich bin nicht allmächtig. Ich besitze einige Fähigkeiten, die dir begehrenswert erscheinen mögen, aber ich würde sie alle für einen kleinen Teil, oder auch nur für eine Anleihe von dem geben, was dein ist.« »Meine Besitztümer stehen zu deiner Verfügung«, sagte ich bitter. »Meine Armut, mein Exil, meine Schande – ich gebe alles umsonst her.« »Gut! Ich danke dir. Füge deinem Geschenk noch etwas hinzu, und mein Schatz gehört dir.« »Mir ist nichts geblieben. Ich wüßte nicht, was ich dir geben könnte.« »Dein angenehmes Gesicht und deine gerade Gestalt.« Ich erschauerte. Wollte dieses übermächtige Ungeheuer mich ermorden? Ich hatte keinen Dolch. Ich vergaß zu beten – aber ich wurde blaß.
»Ich bitte um eine Anleihe, nicht um ein Geschenk«, sagte der schreckliche Zwerg. »Leihe mir deinen Körper für drei Tage – du sollst meinen haben, um deine Seele einstweilen darin unterzubringen, und als Bezahlung meine Schatztruhe. Was sagst du zu dem Handel? Drei kurze Tage.« Man sagt, es sei gefährlich, lästerliche Reden zu führen, und ich tue gut daran, dies zu bedenken. Wie dem auch sei, zu Papier gebracht, mag es unglaublich erscheinen, daß ich diesem Vorschlag mein Ohr lieh, aber trotz seiner Häßlichkeit war etwas Faszinierendes an dem Wesen, dessen Stimme Erde, Luft und Meer beherrschen konnte. Ich fühlte ein kühnes Verlangen, auf den Handel einzugehen, denn mit der Schatzkiste konnte ich die Welt beherrschen. Mein einziges Zögern resultierte aus der Furcht, er könnte sich nicht an die Vereinbarung halten. Dann, dachte ich, werde ich hier an dieser einsamen Küste sterben, und der Körper, den er so heftig begehrt, wird nicht länger mir gehören. Das Risiko war groß. Aber ich wußte, daß es auch in der schwarzen Magie Formeln und Schwüre gibt, die keiner ihrer Anhänger zu brechen wagt. Ich zögerte mit meiner Antwort, doch er zeigte mir immer wieder die Schätze, sprach von dem geringen Preis, den er verlangte, bis es verrückt erschien, das Angebot abzulehnen. So ist es – wir steuern unsere Barke in die Strömung hinaus, und schon wird sie mitgerissen, abwärts über Stromschnellen und Katarakte; liefern wir unsere Kontrolle dem wilden Strom der Leidenschaft aus, werden wir von ihm davongerissen und wir wissen nicht, wohin. Er schwor viele Eide, und ich beschwor viele heilige Namen; bis ich dieses Wunder der Macht, diesen Beherrscher der Elemente vor meinen Worten wie Espenlaub zittern sah; und als ob der Geist in ihm endlich wider Willen spräche, enthüllte er
den Zauber, mit dem er gezwungen werden konnte, sein Wort zu halten, sollte er mich hintergehen wollen. Unser warmes Blut mußte vermengt werden, um den Zauber zu binden und aufzulösen. Genug von diesem unheiligen Thema. Ich wurde überredet, der Handel wurde abgeschlossen. Der Morgen dämmerte über mir, als ich im Sand lag, und ich erkannte meinen eigenen Schatten nicht. Ich war in eine Schreckensgestalt verwandelt und verfluchte meine Leichtgläubigkeit. Die Schatztruhe war da, und in ihr lagen das Gold und die Edelsteine, für die ich meinen natürlichen Körper gegeben hatte. Der Anblick beruhigte mich ein wenig: drei Tage würden bald vorübergehen. Sie vergingen. Der Zwerg hatte mich mit etwas Proviant versorgt. Zuerst konnte ich kaum gehen, so seltsam und ungelenk waren alle meine Glieder. Und meine Stimme – sie war die des Unholds. Aber ich blieb still und kehrte mein Gesicht der Sonne zu, damit ich meinen Schatten nicht sehen mußte, und zählte die Stunden und grübelte über mein künftiges Verhalten. Ich war überzeugt, daß der neue Reichtum ein sicheres Mittel sei, meine Ziele mit Leichtigkeit zu erreichen: Torella unter meine Füße zu bringen und meine Juliet ihm zum Trotz zu erringen. In der Nacht schlief ich und träumte von der Erfüllung meiner Wünsche. Zweimal war die Sonne untergegangen – der dritte Tag brach an. Ich war aufgeregt, angstvoll. O Erwartung, wie schrecklich kannst du sein, wenn du von Angst und nicht von Hoffnung entfacht wirst! Wie windest du dich um das Herz und beengst sein Pulsieren! Langsam zog die gleißende Kugel ihre Bahn; lange verweilte sie im Zenith, und noch langsamer wanderte sie über den Westhimmel. Sie berührte den Horizont – sie tauchte unter! Ihre Röte lag auf den Gipfeln der Berge, dann
wurden sie grau und kalt. Der Abendstern leuchtete hell. Bald mußte der Zwerg in meiner Gestalt kommen. Er kam nicht! Bei den lebendigen Himmeln, er kam nicht! Und die Nacht zog müde ihre lange Schleppe über Land und Meer, und nach endlos langer Zeit kam der graue Morgen; und die Sonne hob sich wieder über die elendeste Kreatur, die je ihr Licht gesehen hatte. Drei Tage waren vergangen. Die Juwelen und das Gold – oh, wie ich sie verabscheute! Nun, ich will diese Seiten nicht mit einer Schilderung meines dämonischen Tobens und Wütens füllen. Allzu schrecklich waren die Gedanken, die in wütendem Tumult meine Seele erfüllten. Am Ende schlief ich ein, denn ich hatte seit dem dritten Sonnenuntergang kein Auge zugetan und ich träumte, daß ich zu Juliets Füßen kniete. Sie lächelte, und dann kreischte sie, denn sie sah meine Verwandlung, und wieder lächelte sie, weil ihr schöner Geliebter noch vor ihr kniete. Aber der da kniete, war nicht ich – es war er, der zwergenhafte Teufel, mit meinem Körper und meinen Gliedern, mit meiner Stimme sprechend, und er gewann ihr Herz mit meinen liebevollen Blicken. Ich wollte sie warnen, aber meine Zunge versagte ihren Dienst; ich wollte ihn fortreißen, doch meine spinnengleichen Beine wurzelten in der Erde. In dieser Agonie erwachte ich – da waren die einsamen Felsklippen, die leise rauschende See, der stille Strand und der blaue Himmel über allem. Was bedeutete es? War mein Traum ein Spiegel der Wahrheit gewesen? Umwarb und gewann er meine Verlobte? Am liebsten wäre ich sofort nach Genua zurückgekehrt – aber ich war verbannt. Ich lachte – das schrille Gemecker des Zwergs riß sich von meinen Lippen – ich und verbannt? Oh, nein! Diesen krüppelhaften Leib hatten sie nicht verstoßen; in dieser Gestalt konnte ich
heimkehren, ohne die angedrohte Todesstrafe fürchten zu müssen. Ich machte mich auf den Weg. In den vergangenen Tagen hatte ich mich etwas an meinen kümmerlichen Körper gewöhnt, doch nun bemerkte ich, daß die verkrümmten Beine kaum für normale, aufrechte Fortbewegung geeignet waren; mit unendlicher Mühe kam ich doch nur langsam voran. Erschwerend kam auch hinzu, daß ich die Dörfer und Weiler an der Küste umgehen wollte, denn ich war nicht bereit, meine abscheuliche Häßlichkeit zur Schau zu stellen. Ich war nicht sicher, daß die Jungen mich nicht zu Tode steinigen würden, wenn sie mich in dieser unmenschlichen Gestalt sähen. Von einigen Bauern und Fischern, denen ich in den Weg kam, empfing ich unfreundliche Blicke, und zwei oder drei von ihnen bekreuzigten sich. Es war dunkle Nacht, als ich mich endlich Genua näherte. Das Wetter war so mild und angenehm, daß mir der Gedanke kam, der Marchese und seine Tochter befänden sich wahrscheinlich außerhalb der Stadt in ihrer Gartenvilla. Aus dieser Villa hatte ich Julia entführt; ich hatte das Haus und seine Umgebung sorgfältig studiert und kannte jeden Winkel. Die Villa lag sehr schön zwischen hohen Bäumen, und der herrlich angelegte Park wurde von einem Bach durchflössen. Als ich näher kam, bestätigte sich meine Annahme. Das Haus war hell erleuchtet; die Seebrise trug mir Klänge weicher Musik zu. Allem Anschein nach feierte man irgendeinen festlichen Anlaß. Die Straßen der Nachbarschaft waren so belebt, daß ich mich verbergen mußte, aber andererseits wollte ich jemand ansprechen oder andere sprechen hören oder auf irgendeine Weise in Erfahrung bringen, was in der Villa Torella vorging. Schließlich fand ich in unmittelbarer Nähe der Gartenmauer eine schmale Gasse, die dunkel genug war, meine übermäßige Häßlichkeit zu
verhüllen; doch selbst hier war ich nicht allein: andere lungerten wie ich im Schatten. Es hatte sein Gutes, obwohl ich mich lieber ungesehen verkrochen hätte, denn bald hörte ich aus Gesprächsfetzen Vorbeigehender, was ich wissen wollte. Zuerst glaubte ich, mein Herz müsse stillstehen, dann gewann meine alte Heftigkeit die Oberhand. Ich kochte vor Erbitterung und Zorn. Morgen sollte Juliet dem reuigen, gebesserten, geliebten Guido vermählt werden – morgen sollte meine Braut einem Ungeheuer aus der Hölle ihr Ehegelübde ablegen! Und ich hatte dabei geholfen! Mein verfluchter Stolz, meine dämonische Wildheit und böse Selbstherrlichkeit hatten dieses Unglück herbeigeführt. Denn hätte ich gehandelt statt des gräßlichen Zwerges, der meine Gestalt gestohlen hatte, wäre ich würdig, aber bescheiden vor Torella hingetreten und hätte gesagt: Ich habe Unrecht getan, vergib mir; ich bin deiner Tochter unwürdig, aber erlaube mir, später um ihre Hand anzuhalten, wenn mein verändertes Betragen bezeugen wird, daß ich meinen Lastern abgeschworen habe und bemüht bin, mich deiner Tochter würdig zu zeigen. Ich will dienen und gegen die Ungläubigen kämpfen; und wenn meine Hingabe, mein religiöser Eifer und meine wahre Reue über vergangenes Unrecht dir ausreichend erscheinen, meine früheren Verbrechen aufzuwiegen, dann erlaube mir wieder, mich deinen Sohn zu nennen. Aber so hatte wahrscheinlich auch das Ungeheuer gesprochen; und der vermeintliche Büßer war willkommen geheißen worden wie der verlorene Sohn der Heiligen Schrift: das gemästete Kalb Wurde für ihn geschlachtet; und er stellte ein solch treuherziges Bedauern über seine Schandtaten zur Schau, begab sich so bescheiden aller seiner Rechte, um durch ein Leben voll tätiger Reue und Tugend alles zurückzugewinnen, daß er den gütigen alten Mann rasch erobert
und volle Vergebung und das Geschenk der lieblichen Juliet erhalten hatte. Oh, hätte ein Engel mir zugeflüstert, so zu handeln! Aber nun war das Schicksal der unschuldigen Juliet nicht ausdenkbar. Würde Gott die lästerliche Verbindung dulden, oder sie durch ein Wunder zerstören? Würde er den entehrten Namen Carega mit dem schlimmsten aller Verbrechen verbinden? Morgen früh würden sie heiraten! Es gab nur ein Mittel, dies zu verhindern – ich mußte meinem Feind entgegentreten und die Einhaltung unseres Abkommens erzwingen. Ich fühlte, daß dies nur durch einen Kampf auf Leben und Tod gelingen konnte. Ich hatte keinen Degen – meine dünnen Arme hätten eine solche Waffe auch kaum führen können –, aber ich hatte einen Dolch mit goldenem, juwelenbesetzten Griff, den ich in der Schatzkiste gefunden hatte, und er war meine Hoffnung. Die Zeit reichte nicht für Überlegungen oder ein Abwägen der Chancen; mein Versuch konnte mich das Leben kosten, aber neben der brennenden Eifersucht und Verzweiflung meines eigenen Herzens verlangte die Ehre, die bloße Menschlichkeit von mir, daß ich den Machenschaften des Bösen ein Ende bereitete, und wenn ich dafür mit dem Leben bezahlen mußte. Die Gäste gingen, die Lichter wurden gelöscht. Die Bewohner der Villa bereiteten sich auf die Nachtruhe vor. Ich schlich in den Garten und verbarg mich hinter Büschen. Das Tor wurde geschlossen, Ruhe kehrte ein. Ich wanderte um das Haus und kam unter ein Fenster – ach, wie gut ich es kannte! –, aus dem sanfter Lichtschein schimmerte. Die Vorhänge waren halb zugezogen. Es war der Tempel der Unschuld und Schönheit. Ich sah sie mit raschen, leichten Schritten eintreten, sah sie ans Fenster kommen – sie zog die Vorhänge weiter auf und schaute
hinaus in die Nacht. Die frische Brise spielte mit ihren Locken und wehte sie vom weißen Marmor ihrer Stirn. Ich hörte Schritte – eilige, feste Schritte auf dem Kiesweg unter den Bäumen. Bald sah ich einen Kavalier, reich gekleidet, jung und stattlich anzusehen. Er blieb unter ihrem Fenster stehen. Sie schaute lächelnd herab und sagte – nein, ich kann ihre zärtlich-weichen Worte hier nicht wiedergeben; an mich waren sie gerichtet, doch von ihm wurden sie beantwortet. »Ich werde nicht gehen«, sagte er schwärmerisch. »Hier, wo du gewesen bist, wo deine Erinnerung wie ein himmlischer Geist schwebt, werde ich die langen Stunden verbringen, bis wir vereint sein werden, um uns nie wieder zu trennen, meine Juliet, weder bei Tag noch bei Nacht. Aber ziehe du dich zurück, meine Liebste; die kalte und unruhige Luft wird dir schaden. Ach, Liebste! Könnte ich einen Kuß auf deine Augen drücken, ich glaube, ich würde Ruhe finden.« Darauf kam er noch näher heran, und ich glaubte, er sei im Begriff, in ihr Zimmer zu klettern. Ich hatte gezögert, um sie nicht zu erschrecken; nun war ich nicht länger Herr über mich selbst. Ich stürzte vorwärts, warf mich auf ihn, riß ihn zurück und schrie: »Verräterischer, elender Zwerg!« Juliet kreischte. Ich hörte und sah nichts mehr – ich fühlte nur meinen Feind, dessen Kehle ich gepackt hatte, und das Heft meines Dolches; er kämpfte und wand sich, konnte aber nicht entkommen. Schließlich keuchte er: »Nur zu – stich! Zerstöre diesen Körper – du wirst weiterleben. Möge dein Leben lang und glücklich sein!« Der zustoßende Dolch hielt inne, und er, der meinen Griff nachlassen fühlte, machte sich los und zog seinen Degen, während im Haus Stimmen und Schritte laut wurden. Bald
würden die Bediensteten herausstürzen und uns trennen. Trotz aller Raserei handelte ich rasch und nicht ohne Berechnung: Ich mußte fallen, und zwar so, daß er nicht überlebte, doch seiner augenblicklichen Gestalt, die die meine war, durfte ich den Todesstoß nicht versetzen. Er nützte mein vermeintliches Zögern und machte einen plötzlichen Ausfall, auf den ich gewartet hatte. Ich warf mich in seinen Degen und stieß zugleich meinen Dolch in seine Seite. Wir fielen gemeinsam, rollten übereinander, und das Blut aus unseren Wunden vermischte sich im Gras und auf unseren Kleidern. Mehr weiß ich nicht, denn ich wurde ohnmächtig. Wieder kehrte ich zum Leben zurück. Schwach und erschöpft, wie nach einer übermenschlichen Anstrengung, fand ich mich in einem Bett liegen. Juliet saß neben mir. Seltsam! Meine erste flüsternde Bitte galt einem Spiegel. Ich war so bleich und hinfällig, daß mein armes Mädchen zögerte, wie sie mir nachher erzählte; aber bei Gott, ich war recht zufrieden mit meinem Aussehen, als ich meine eigenen, wohlbekannten Züge erblickte. Ich bekenne, es ist eine Schwäche, aber wie ich glauben möchte, eine verzeihliche: ich lasse noch heute keine Gelegenheit aus, in einen Spiegel zu schauen; und ich habe mehr Spiegel in meinem Haus und befrage sie häufiger als irgendeine Schönheit in Genua. Bevor man mich darob verdammt, erlaube man mir zu sagen, daß niemand besser als ich den Wert seines eigenen Körpers zu schätzen weiß; denn vermutlich gibt es keinen außer mir, dem er je gestohlen wurde. Unzusammenhängend redete ich in diesen ersten Minuten über den Zwerg und seine Verbrechen und tadelte Juliet für ihre zu bereitwillige Annahme seiner Liebe. Sie glaubte, ich redete im Fieber, und das war gut so, denn ich brauchte eine Weile, bis ich mich selbst als der Guido fühlte, dessen Reue sie für mich
zurückgewonnen hatte. Während ich den monströsen Zwerg verfluchte und den wohlgezielten Degenstich segnete, der ihn ums Leben gebracht hatte, zügelte ich mich plötzlich, als ich sie Amen sagen hörte, weil ich erkannte, daß er, den sie schmähte, ich selbst gewesen war. Ein wenig Nachdenken lehrte mich zu schweigen; ein wenig Übung befähigte mich, von jener furchtbaren Nacht zu reden, ohne allzu auffällige Fehler zu machen. Die Wunde, die ich meinem Körper zugefügt hatte, war keine Kleinigkeit – es dauerte lange, bis ich mich erholte –, und als der wohlwollende und großzügige Torella neben mir saß und mich an Weisheiten teilhaben ließ, die der Reue Freunde gewinnen konnten, und meine liebe Juliet in meiner Nähe ausharrte, meine Wünsche erfüllte und mich mit ihrem Lächeln aufheiterte, gingen meine körperliche Heilung und meine geistige Besserung Hand in Hand. Ich habe meine früheren Kräfte niemals ganz wiedererlangt; mein Gesicht ist seitdem schmaler und blasser, meine Haltung ein wenig gebeugt. Juliet beklagt zuweilen die Nacht, die diese Veränderung bewirkt hat, aber in solchen Momenten küsse ich sie rasch und sage ihr, daß alles zum Besten sei. Ich bin ein zärtlicher und treuer Ehemann, und es ist wahr – ohne diese Wunde hätte ich sie niemals mein nennen dürfen. Jenen Teil der Küste besuchte ich nicht wieder, noch suchte ich nach der Schatzkiste des Zwergs, doch wenn ich über die Vergangenheit grüble, denke ich oft – und mein Beichtvater heißt diese Idee gut –, daß die häßliche Kreatur womöglich ein guter und nicht ein böser Geist war, ausgesandt von meinem Schutzengel, um mir Dummheit und Elend des Stolzes vor Augen zu führen. Schlecht beraten wie ich war, lernte ich wenigstens diese Lektion so gut, daß ich nun bei allen meinen
Freunden und Mitbürgern unter dem Namen Guido il Cortese bekannt bin.
ROBERT W. CHAMBERS
Das tödliche gelbe Zeichen In den Jahren von 1901 bis 1930 gehörte Robert W. Chambers zu den beliebtesten Autoren der englischsprachigen Welt. Er schrieb eine Menge historischer und zeitgenössischer Romane, die ihm ein Vermögen und den Neid anderer Schriftsteller eintrugen. Heute jedoch hat sich die Meinung durchgesetzt, daß sein literarisches Verdienst vor allem aus einem halben Dutzend phantastischer Kurzgeschichten besteht, die 1895 in dem Band ›The King in Yellow‹ erschienen. Die zahlreichen Neuauflagen, die dieses kleine Buch erlebte, machten es zu einem Bestseller, und die Kritiker schrieben: ›Der Autor ist ein Genie; unter den lebenden Schriftstellern gibt es keinen, der ihm auf seinem Gebiet gleichkommt.‹ Erst nach dem Tode des Autors im Jahr 1933, und nachdem eine neue Schriftstellergeneration Erfolge feierte, geriet das Werk allmählich in Vergessenheit. H. P. Lovecraft, der ganz offensichtlich von den Arbeiten Robert W. Chambers' beeinflußt wurde, hielt ›Das gelbe Zeichen‹ für das beste seiner dem Übernatürlichen gewidmeten Werke. Lovecraft bemerkte, daß Chambers bestimmte Namen und Techniken aus den Geschichten von Ambrose Bierce übernommen hatte – und vergaß zu erwähnen, daß er von diesem großen Meister so fasziniert war, daß er sich seinerseits von ihm inspirieren ließ.
1 Es gibt so viele Dinge, die unmöglich zu erklären sind! Warum lassen mich bestimmte Musikakkorde an die braunen und goldenen Farben von Herbstlaub denken? Warum denke ich beim Anhören der Cäcilienmesse an Höhlen aus unregelmäßigem, gezacktem Silber? Was zaubert mir im Lärm und Tumult des Broadway um sechs Uhr nachmittags das Bild eines stillen bretonischen Waldes vor Augen, wo Sonnenlicht durch frisches Grün sickert und Sylvia sich halb neugierig, halb zärtlich über eine kleine grüne Eidechse beugt und murmelt: »Zu denken, daß auch dies ein kleines Geschöpf Gottes ist!« Als ich den Wachmann zuerst sah, hatte er mir den Rücken zugekehrt. Ich schaute gleichgültig zu ihm hinüber, bis er in die Kirche ging. Ich schenkte ihm nicht mehr Aufmerksamkeit als irgendeinem anderen Mann, der an diesem Morgen auf dem Washington Square herumlungerte, und als ich mein Fenster schloß und mich meinem Atelier zuwandte, hatte ich ihn vergessen. Am Spätnachmittag öffnete ich das Fenster wieder und beugte mich hinaus, ein wenig frische Luft zu schöpfen. Ein Mann stand im Vorhof der Kirche; ich bemerkte ihn mit der gleichen Interesselosigkeit wie am Morgen. Ich überblickte den Platz, wo der Springbrunnen plätscherte, und dann, mein Bewußtsein erfüllt mit vagen Eindrücken von Bäumen, Asphaltstraßen, spielenden Kindern und Bummlern, wollte ich wieder an meine Staffelei zurückgehen. Beim Umdrehen schloß mein lustloser Blick den Mann auf dem Kirchenvorplatz mit ein. Sein Gesicht zeigte jetzt in meine Richtung, und ich neigte unwillkürlich den Oberkörper vor, um es zu sehen. Im gleichen Augenblick hob er seinen Kopf und sah mich an. Sofort dachte
ich an einen Leichenwurm. Was mich an dem Mann abstieß, weiß ich nicht, aber der Eindruck einer plumpen weißen Made, wie man sie in Aas findet, war so intensiv und ekelerregend, daß die Empfindung sich in meinem Ausdruck gespiegelt haben mußte, denn er drehte sein aufgeschwemmtes Gesicht mit einer heftigen Bewegung weg, die mich an einen beunruhigten Holzwurm denken ließ. Ich trat an meine Staffelei und gab dem Modell ein Zeichen, wieder ihre Haltung einzunehmen. Nachdem ich eine Weile gearbeitet hatte, wurde mir klar, daß ich verdarb, was ich angefangen hatte, und ich nahm einen Spachtel und kratzte die Farbe wieder ab. Die Fleischtöne waren gelblich und ungesund, und ich verstand nicht, wie ich eine solch krankhafte Farbe bei einer Studie hatte verwenden können, die mit frischen, warmen Tönen angelegt war. Ich schaute Tessie an. Sie hatte sich nicht verändert, und eine klare und gesunde Röte kam in ihre Wangen, als ich finster von ihr zum halbfertigen Bild und zurück blickte. »Habe ich etwas falsch gemacht?« fragte sie. »Nein; ich habe diesen Arm verpfuscht, und ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich dazu kam, ein solches Geschmier auf die Leinwand zu bringen.« »Ist meine Haltung nicht richtig?« fragte sie. »Doch, sie ist ganz in Ordnung.« »Dann ist es nicht mein Fehler?« »Nein. Es ist mein eigener.« »Das tut mir sehr leid«, sagte sie. Ich sagte ihr, sie könne sich ausruhen, während ich die Stelle mit einem Lappen und Terpentin bearbeitete, und sie setzte sich
in die Ecke, um eine Zigarette zu rauchen und die Illustrationen im ›Courier Francais‹ durchzusehen. Ich weiß nicht, ob etwas im Terpentin oder die Leinwand einen Defekt hatte, aber je mehr ich rieb, um so mehr schien sich dieser Krebsbrand auszubreiten. Ich arbeitete wie ein Biber, das Bild in Ordnung zu bringen, und doch schien die krankhafte Verfärbung von einem Glied der Studie zum nächsten zu kriechen. Nun veränderte sich auch die Farbe der Brust, und die ganze Gestalt schien infiziert zu sein, wie ein Schwamm, der Wasser ansaugt. Ich arbeitete mit Kratzer, Spachtel und Terpentin, und die ganze Zeit überlegte ich, was ich Duval sagen wollte, der mir die Leinwand verkauft hatte; bald aber bemerkte ich, daß es nicht an der Leinwand lag, und, soviel ich sehen konnte, auch nicht an den Farben. Es muß das Terpentin sein, dachte ich wütend, oder meine Augen sind vom Nachmittagslicht so angegriffen und trübe, daß ich nicht mehr richtig sehen kann. Ich rief Tessie, mein Modell. Sie kam und lehnte sich an meinen Stuhl und blies Rauchringe in die Luft. »Was hast du bloß gemacht?« fragte sie verblüfft. »Nichts!« knurrte ich. »Es muß dieses Terpentin sein!« »Was für eine furchtbare Farbe«, fuhr sie fort. »Findest du, daß mein Fleisch wie grüner Käse aussieht?« »Nein, das finde ich nicht«, sagte ich ärgerlich. »Habe ich jemals so gemalt?« »Nein, wirklich nicht!« »Siehst du?« »Es muß das Terpentin sein«, gab sie zu. Sie zog einen Kimono über und ging zum Fenster. Ich schabte und rieb, bis ich müde war, und schließlich nahm ich
den Schaber und stieß ihn einige Male fluchend durch die Leinwand. »Das ist richtig!« sagte Tessie vom Fenster her. »Drei Wochen hast du an dieser Studie gearbeitet, und nun sieh sie dir an! Was nützt es, wenn du die Leinwand zerreißt? Was für Menschen ihr Künstler doch seid!« Ich schämte mich, wie ich es gewöhnlich nach solchen Ausbrüchen tat, und stellte die ruinierte Leinwand in eine Ecke. Tessie half mir die Pinsel säubern, dann tanzte sie fort, um sich anzuziehen. Hinter dem Wandschirm bedachte sie mich mit guten Ratschlägen gegen den ganzen oder teilweisen Verlust meines seelischen Gleichgewichts, bis sie mich endlich genug gequält hatte, und hinter dem Wandschirm hervorkam, um mich zu bitten, die Knöpfe am Rücken zu schließen. »Von dem Moment an, als du vom Fenster zurückkamst und über diesen widerlich aussehenden Mann auf dem Kirchenvorplatz redetest, ging alles schief«, erklärte sie. »Ja, wahrscheinlich hat er das Bild verhext«, sagte ich gähnend. Ich blickte auf meine Uhr. »Es ist nach sechs, ich weiß«, sagte Tessie, vor dem Spiegel ihren Hut zurechtrückend. »Ja«, antwortete ich. »Ich wollte dich nicht so lange aufhalten.« Ich beugte mich aus dem Fenster, zog meinen Kopf aber gleich wieder zurück, denn der Mann mit dem teigigen Gesicht stand unten vor der Kirche. Tessie sah meine unwillige Geste und schaute ihrerseits zum Fenster hinunter. »Ist das der Mann, den du nicht magst?« flüsterte sie. Ich nickte.
»Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber er sieht fett und schwammig aus.« Sie wandte sich zu mir um. »Irgendwie«, fuhr sie fort, »erinnert er mich an einen Traum, den ich mal hatte. Einen schrecklichen Traum. Oder war es überhaupt ein Traum?« Die letzten Worten kamen sinnend, während sie ihre hübschen Schuhe betrachtete. Ich lächelte. »Woher sollte ich das wissen?« Tessie erwiderte mein Lächeln. »Du kamst darin vor«, sagte sie. »Also könntest du vielleicht etwas darüber wissen.« »Tessie!« sagte ich. »Willst du mir schmeicheln, indem du sagst, daß du von mir träumst?« »Gar nicht«, sagte sie. »Aber es ist wahr. Soll ich dir davon erzählen?« Ich nickte und zündete mir eine Zigarette an. Tessie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fenster und begann sehr ernsthaft: »Im letzten Winter lag ich eines Abends im Bett und dachte an nichts Besonderes. Ich hatte für dich Modell gestanden und war müde, doch ich konnte nicht einschlafen. Ich hörte die Glocken der Stadt zehn, elf und zwölf schlagen. So um Mitternacht mußte ich eingeschlafen sein, denn ich erinnere mich nicht, danach noch Glocken gehört zu haben. Es war mir, als hätte ich kaum meine Augen geschlossen, da träumte ich, etwas ziehe mich zum Fenster. Ich ging hin und beugte mich hinaus. Die fünfundzwanzigste Straße lag verlassen, so weit das Auge reichte. Ich begann mich zu fürchten; draußen war alles so – so schwarz und ungemütlich. Dann hörte ich in der Ferne Geräusche von Rädern und konnte ein Fahrzeug erkennen. Es kam näher und näher, und als es unter meinem Fenster vorüberfuhr,
sah ich, daß es ein Leichenwagen war. Während ich noch hinunterschaute, drehte der Kutscher sich halb um und schaute direkt zu mir herauf. Als ich erwachte, stand ich fröstelnd am offenen Fenster, aber der mit schwarzen Federbüschen geschmückte Leichenwagen und der Kutscher waren fort. Im vergangenen März wiederholte sich dieser Traum, und wieder wachte ich neben dem offenen Fenster auf. Letzte Nacht träumte ich das gleiche. Du erinnerst dich, daß es regnete; als ich am offenen Fenster erwachte, war mein Nachthemd durchnäßt.« »Aber wo kam ich in dem Traum vor?« fragte ich. »Du – du warst im Sarg, aber du warst nicht tot.« »Im Sarg?« »Ja.« »Woher wußtest du das? Konntest du mich sehen?« »Nein; ich wußte nur, daß du darin warst.« »Hattest du Käseschnitten oder Hummersalat gegessen?« begann ich lachend, aber das Mädchen unterbrach mich mit einem furchtsamen Ausruf. »Hallo! Was ist los?« sagte ich, als sie vom Fenster zurückwich. »Der – der Mann unten vor der Kirche; er fuhr den Leichenwagen.« »Unsinn«, sagte ich, aber Tessies Augen waren schreckgeweitet. Ich ging zu ihr und schaute hinaus. Der Mann war weg. »Komm, Tessie«, sagte ich, »sei nicht albern. Du hast zu lange Modell gestanden. Du bist nervös.« »Glaubst du, ich könnte dieses Gesicht vergessen?« murmelte sie. »Dreimal sah ich den Leichenwagen unter meinem Fenster vorbeifahren, und jedesmal drehte der Kutscher sich um und
blickte zu mir auf. Sein Gesicht war so weiß und so – so aufgeweicht! Es sah tot aus – es sah aus, als ob es schon lange tot wäre.« Ich forderte sie zum Sitzen auf und schenkte ihr ein Glas Marsala ein. Dann setzte ich mich neben sie und versuchte ihr Ratschläge zu geben. »Hör zu, Tessie«, sagte ich, »du gehst für eine Woche oder zwei aufs Land, und dann wirst du nicht mehr von Leichenwagen träumen. Du stehst und sitzt den ganzen Tag Modell, und wenn die Nacht kommt, sind deine Nerven überreizt. Du kannst nicht so weitermachen. Und dann, statt ins Bett zu gehen, wenn deine Tagesarbeit getan ist, läufst du ins Eldorado oder nach Coney Island, und wenn du am nächsten Morgen hierher kommst, bist du erschöpft. Das war kein richtiger Leichenwagen. Deine Nerven haben dich fertiggemacht.« Sie lächelte schwach. »Und was ist mit dem Mann vor der Kirche?« »Ach, das ist nur ein gewöhnlicher, nicht sehr gesunder Alltagsmensch.« »So wahr ich Tessie Rearden bin, ich schwöre dir, daß das Gesicht des Mannes im Kirchenvorhof das Gesicht des Mannes ist, der den Leichenwagen fuhr!« »Und was ist dagegen zu sagen?« fragte ich. »Es ist ein rechtschaffener Beruf.« »Dann glaubst du, ich habe den Leichenwagen wirklich gesehen?« »Oh«, sagte ich diplomatisch, »wenn du ihn wirklich sahst, dann ist es nicht ganz unwahrscheinlich, daß der Mann dort unten ihn fuhr. Es ist nichts dabei.«
Tessie stand auf, nahm ihre Handschuhe aus der Tasche und gab mir ihre Hand mit einem munteren »Gute Nacht, Frank. Bis morgen«, und ging hinaus.
2 Am nächsten Morgen brachte Thomas, der Zeitungsjunge, den ›Herald‹ und einige Neuigkeiten. Die Kirche nebenan war verkauft worden. Ich dankte dem Himmel dafür. Nicht daß ich als Katholik irgend etwas gegen die benachbarte Kirchengemeinde gehabt hätte; der Grund war vielmehr, daß der Pfarrer meine Nerven mit seiner überlaut blökenden Stimme ruinierte, die durch das Kirchenschiff dröhnte, daß ich manchmal glaubte, er halte seine Predigten im Nebenzimmer. Außerdem sprach er seine r's mit einem beharrlichen nasalen Rollen aus, gegen das mein Gehör sich auflehnte. Dann gab es da noch einen anderen Unhold in Menschengestalt, einen Organisten, der die schönen alten Hymnen unerträglich herunterleierte. Ich glaube, der Pfarrer war ein guter Mann, aber wenn er bellte: »Und derrr Herrr sprrrach zu Moses, derrr Herrr ist ein Krrriegerrr; sein Zorn soll überrr sie kommen, und mit dem Schwerrrt will ich sie töten!« dann fragte ich mich, wieviele Jahrhunderte Fegefeuer erforderlich wären, eine solche Sünde abzubüßen. »Wer hat das Grundstück gekauft?« fragte ich Thomas. »Niemand, den ich kenne, Sir. Es heißt, der Besitzer dieser Wohnblocks hat ein Auge darauf geworfen. Vielleicht will er noch so einen Block bauen.« Ich trat ans Fenster. Der Mann mit dem ungesunden Gesicht stand am Tor zum Kirchenvorhof, und beim bloßen Anblick überkam mich unüberwindliche Abscheu.
»Übrigens, Thomas«, sagte ich, »wer ist dieser Bursche da unten?« Thomas kam und schaute. »Der Dicke, Sir? Der ist Nachtwächter bei der Kirche, Sir. Macht einen verrückt, weil er die ganze Nacht auf den Stufen da sitzt und einen unverschämt anglotzt. Ich hätte ihm schon lange seine weiche Birne – entschuldigen Sie, Sir.« »Sprich weiter Thomas.« »Eines Abends, als ich mit meinem Freund Larry nach Hause kam, sah ich ihn wieder auf den Stufen da sitzen. Wir hatten Molly und Jen bei uns, Sir, die beiden Zimmermädchen vom Hotel auf der anderen Seite, und er glotzte uns wieder so unverschämt und beleidigend an, daß ich hinging und sagte: ›Was glotzt du uns so an, Fettsack?‹ – Entschuldigen Sie, Sir, aber so sagte ich. Er sagte nichts, und ich sagte: ›Komm 'raus, und du kriegst einen über deinen Puddingkopf.‹ Dann machte ich das Tor auf und ging 'rein, aber er sagte immer noch nichts und guckte mich nur ganz unverschämt an. Ich kriegte die Wut und haute ihm eine 'runter; aber äh! sein Gesicht war so kalt und schwammig, daß mir beinah das Essen hochgekommen wäre.« »Was machte er dann?« fragte ich neugierig. »Er? Nichts.« »Und du, Thomas?« Der Junge errötete verlegen und lächelte etwas unbehaglich. »Mr. Scott, Sir, ich bin kein Feigling, und ich weiß selber nicht, warum ich rannte, aber …« »Du willst doch nicht sagen, daß du weggelaufen bist?« »Doch, Sir; ich rannte.« »Warum?«
»Das ist es ja, was ich selber gern wissen möchte, Sir. Ich nahm Molly und rannte, und die anderen hatten genauso Angst wie ich.« »Aber wovor fürchteten sie sich?« Thomas verweigerte eine Weile die Auskunft; aber nun war meine Neugier vollends erwacht, und ich ließ nicht locker. Ich merkte ihm an, daß er fürchtete, sich lächerlich zu machen. »Sie werden mir nicht glauben, Mr. Scott, Sir.« »Ich glaubte dir, Thomas. Du warst immer ehrlich zu mir.« »Sie werden mich nicht auslachen, Sir?« »Unsinn!« Er zögerte. »Nun, Sir, als ich ihm eine klebte, hielt er meine Hand fest, Sir, und als ich seine weiche, schmierige Faust aufriß, ging einer von seinen Fingern ab und blieb in meiner Hand.« Der Ekel in seinem Gesicht mußte sich in meinen Zügen gespiegelt haben, denn er fügte hinzu: »Es ist furchtbar, Sir, und wenn ich ihn jetzt sehe, geh ich einfach weg. Er macht mich krank.« Nachdem Thomas gegangen war, trat ich wieder ans Fenster. Der Mann stand da und hatte seine Hände auf dem Gittertor; aber ich zog mich hastig an meine Staffelei zurück, entsetzt und angewidert, denn ich hatte gesehen, daß der Mittelfinger seiner rechten Hand fehlte. Um neun kam Tessie und verschwand mit einem fröhlichen »Guten Morgen« hinter dem Wandschirm. Als sie wieder zum Vorschein kam, trat sie auf das kleine Podest und nahm ihre Haltung ein, und ich fing zu ihrer Freude eine neue Leinwand an. Sie blieb still, solange ich zeichnete, aber als das Kratzen der
Kohle aufhörte und ich mein Fixativ aufnahm, begann sie zu plappern. »Ich hatte einen schönen Abend, gestern. Wir gingen zu Tony Pastor's.« »Wer sind ›wir‹?« »Ach, Maggie, weißt du, und Baby Barnes und alle die anderen. Ich verdrehte jemand den Kopf.« »Dann hast du mich hintergangen, Tessie?« Sie lachte und schüttelte ihren Kopf. »Er ist Lizzie Burkes Bruder Ed. Er ist ein perfekter Gentleman.« Ich fühlte mich bemüßigt, ihr einen väterlichen Rat über das Kopf verdrehen zu geben, den sie mit einem hellen Lächeln hinnahm. »Ach, mit Ed ist es anders«, meinte sie und untersuchte ihren Kaugummi. »Lizzie ist meine beste Freundin.« Dann erzählte sie, daß Ed von der Strumpfwirkerei in Lowell, Massachusetts, zurückgekommen sei und sie und Lizzie erwachsen wiedergesehen habe – und was für ein gebildeter junger Mann er sei, und daß es ihm gar nichts ausgemacht habe, zehn Dollar für Austern und nachher für Eis springen zu lassen, um seinen Eintritt als Angestellter in die Wirkwarenabteilung des Kaufhauses Macy zu feiern. Bevor sie endete, fing ich an zu malen, und sie nahm mechanisch ihre Pose ein, während sie schwatzte und zwitscherte wie ein Sperling. Gegen Mittag hatte ich die Studie in den Umrissen ziemlich gut auf der Leinwand, und Tessie kam, sie zu begutachten. »Das ist besser«, sagte sie.
Ich fand es auch und ließ ein Mittagessen bringen und aß es mit dem befriedigten Gefühl, daß alles gutging. Tessie aß mit mir, und wir tranken unseren Rotwein aus derselben Flasche und entzündeten unsere Zigaretten an einem Streichholz. Ich hatte Tessie gern. Ich hatte sie von einem schwächlichen, unbeholfenen Kind zu einer schlanken und wunderbar gewachsenen Frau heranreifen sehen. Seit drei Jahren stand sie für mich Modell, und ich zog sie allen anderen Modellen meines Bekanntenkreises vor. Es hätte mich sehr bekümmert, wenn sie auf die schiefe Bahn geraten wäre, aber ich hatte nie eine nachteilige Veränderung ihres Benehmens bemerkt und fühlte instinktiv, daß sie in Ordnung war. Sie und ich, wir hatten nie über Moral diskutiert, und ich hatte nicht die Absicht, es zu tun, teils weil ich keine hatte, und teils, weil ich wußte, daß sie trotzdem tun würde, was ihr gefiel. Immerhin hoffte ich, daß sie sich vor Komplikationen hüten würde, denn ich wünschte ihr Glück und hatte außerdem den selbstsüchtigen Wunsch, mir mein bestes Modell zu erhalten. Ich wußte, daß Kopfverdrehen für Mädchen wie Tessie weiter keine Bedeutung hatte, und daß solche Dinge in Amerika harmloser waren als in europäischen Ländern. Doch lebte ich mit offenen Augen und war mir klar darüber, daß eines Tages jemand kommen und Tessie nehmen würde, in dieser oder jener Weise; und obwohl ich selbst nicht viel von der Ehe halte, hoffte ich aufrichtig, daß in diesem Fall ein Priester am Ende der Entwicklung stehen würde. Das ist vielleicht damit zu erklären, daß ich Katholik bin. Wenn ich dem Hochamt beiwohne, wenn ich mich bekreuzige, fühle ich, daß alles, mich selbst eingerechnet, heiterer und freundlicher aussieht; und wenn ich beichte, tut es mir gut. Ein Mann, der so allein lebt wie ich, muß sich jemandem anvertrauen. Tessie war auch katholisch, und viel frommer als ich, so daß ich bei Berücksichtigung
aller Aspekte wenig Angst um mein hübsches Modell haben mußte, solange sie sich nicht richtig verliebte. Aber ich wußte, daß dann alles Weitere Schicksal sein würde, und ich betete insgeheim, daß dieses Schicksal sie von Männern meiner Art fernhalten möge und nichts als Ed Burkes und Jimmy McCormicks in ihren Weg werfen würde. Gott segne ihr liebliches Gesicht! Tessie saß und blies Rauchringe zur Decke und klimperte mit dem Eis in ihrem Martini. »Ich hatte letzte Nacht auch einen Traum«, bemerkte ich. »Doch nicht von diesem Mann?« fragte sie lachend. »Genau. Der Traum ähnelte deinem, bloß war er viel schlimmer.« Es war dumm und gedankenlos von mir, das zu sagen, aber man weiß ja, wie wenig Takt man manchmal hat. »Ich muß ungefähr um zehn Uhr eingeschlafen sein«, fuhr ich fort, »und nach einer Weile träumte mir, daß ich aufwachte. So deutlich hörte ich die Glocken Mitternacht schlagen, so bewußt war mir der Wind in den Zweigen und das Heulen der Dampfer draußen in der Bucht, daß ich sogar jetzt kaum glauben kann, nur geträumt zu haben. Ich schien in einer Kiste zu liegen, die einen gläsernen Deckel hatte. Trübe sah ich die Lichter der Straßenlaternen über mir vorbeiziehen, denn die Kiste, in der ich war, schien in einem gefederten Wagen zu liegen, der über Pflastersteine holperte. Nach einer Weile wurde ich unruhig und versuchte mich zu bewegen, aber die Kiste war zu eng. Meine Hände waren auf meiner Brust gefaltet, so daß ich sie nicht hinter mich bringen und mich auf den Ellbogen hochstemmen konnte. Ich horchte und versuchte dann zu rufen. Meine Stimme war weg. Ich konnte die Hufschläge der Pferde vor dem Wagen
hören, das Rumpeln der Räder, sogar das Atmen des Kutschers. Dann kam ein anderes Geräusch an meine Ohren: es war wie das Hochreißen eines Schiebefensters. Ich drehte meinen Kopf ein wenig zur Seite und fand, daß ich nicht nur unter einem Glasdeckel lag, sondern daß der Wagen ein Dach und an den Seiten große Glasscheiben hatte. Ich sah leere, stille Häuser, die weder Leben noch Licht zeigten – mit einer Ausnahme. In diesem Haus war ein Fenster im ersten Stock geöffnet, und eine ganz in Weiß gekleidete Gestalt stand darin und blickte zur Straße herunter. Die Gestalt warst du.« Tessie hatte ihr Gesicht von mir abgewandt und stützte sich mit einem Ellbogen auf den Tisch. »Ich konnte dein Gesicht sehen«, erzählte ich weiter, »und es schien mir sehr traurig zu sein. Dann fuhren wir vorbei und bogen in eine schmale dunkle Seitenstraße ein. Bald darauf blieben die Pferde stehen. Ich wartete und wartete, schloß meine Augen vor Angst und Ungeduld, aber alles war still wie ein Grab. Nach einer Zeit, die mir wie Stunden vorkam, begann ich mich unbehaglich zu fühlen. Ein Gefühl, daß jemand in meiner Nähe sei, öffnete mir die Augen. Dann sah ich das weiße Gesicht des Leichenwagenfahrers über mir, wie es mich durch den Sargdeckel ansah –« Tessie's Schluchzen unterbrach mich. Sie zitterte wie ein Blatt. Ich begriff, daß ich mich wie ein Esel benommen hatte, und versuchte den Schaden gutzumachen. »Aber Tess«, sagte ich sanft. »Ich erzählte das nur, um dir zu zeigen, welchen Einfluß deine Geschichte auf die Träume anderer haben kann. Du glaubst doch nicht, ich hätte wirklich in einem Sarg gelegen, wie? Warum zitterst du so? Siehst du nicht, daß dein Traum und meine unvernünftige Abneigung gegen
diesen harmlosen Kirchenwächter einfach meine Phantasie in Gang setzten, sobald ich eingeschlafen war?« Sie legte den Kopf auf ihre Arme und schluchzte herzzerreißend. Was für ein Idiot ich war! Aber ich war im Begriff, meiner trottelhaften Einfalt die Krone aufzusetzen. Ich ging hinüber und legte meinen Arm um sie. »Tessie, Liebes, vergib mir«, sagte ich. »Es war nicht recht von mir, dich mit solchem Unsinn zu ängstigen. Du bist ein zu vernünftiges Mädchen, um an Träume zu glauben.« Ihre Hand drückte die meine, und ihr Kopf fiel an meine Schulter, aber sie zitterte noch immer. Ich streichelte sie. »Komm, Tess, mach deine Augen auf und lächle.« Ihre Lider hoben sich langsam und müde, und ihre Augen begegneten meinen, aber der Blick war so sonderbar, daß ich mich beeilte, sie nochmals zu ermutigen. »Das ist alles Unsinn, Tessie. Du hast doch sicherlich keine Angst, daß dir irgend etwas zustoßen könnte?« »Nein«, sagte sie, aber ihre toten Lippen bebten. »Was ist dann los? Hast du Angst?« »Ja. Aber nicht um mich.« »Um wen dann?« forschte ich lächelnd. »Um dich«, murmelte sie mit fast unhörbarer Stimme. »Ich – ich mach mir etwas aus dir.« Ich fing an zu lachen, aber als ich sie verstand, traf es mich wie ein Schock, und ich saß wie versteinert. Dies war die Krönung meiner Idiotie. Ich suchte verzweifelt nach einer passenden Antwort auf dieses unschuldige Bekenntnis. Ich hätte es mit einem Lachen übergehen, ich hätte sie mißverstehen und mich für ihre fürsorglichen Gefühle bedanken können; ich hätte
einfach erklären können, daß sie mich unmöglich lieben könne, – aber meine Reaktion war schneller als meine Gedanken, und ich küßte sie auf den Mund, und dann, als es zu spät war, konnte ich nachdenken, soviel ich wollte. Am Abend unternahm ich meinen gewohnten Spaziergang im Washingtonpark und überdachte die Ereignisse des Tages. Ich hatte mich festgelegt. Es gab jetzt kein Zurück mehr, und ich starrte der Zukunft gerade ins Gesicht. Ich war nicht gut, nicht einmal allzu gewissenhaft, aber ich dachte nicht daran, mich oder Tessie zu täuschen. Die einzige Leidenschaft meines Lebens lag in den sonnenhellen Wäldern der Bretagne begraben. War sie für immer begraben? Die Hoffnung rief Nein! Drei Jahre lang hatte ich auf die Stimme der Hoffnung gelauscht und auf einen Schritt vor meiner Schwelle gewartet. Hatte Sylvia mich vergessen? Nein! rief die Hoffnung. Ich sagte bereits, daß ich nicht gut bin. Das ist wahr, aber ich war auch kein Wüstling. Ich führte ein lässiges, ungezwungenes Leben, ohne direkt leichtsinnig zu sein, nahm, was sich mir bot, und war im allgemeinen mit meinem Los zufrieden. Nur etwas war mir neben meiner Malerei wirklich wichtig gewesen, und das lag verborgen, wenn nicht verloren, in den hellen bretonischen Wäldern. Es war jetzt zu spät, Bedauern über das zu zeigen, was an diesem Tag geschehen war. Was immer es gewesen war, Mitleid, eine plötzliche Zärtlichkeit oder der brutalere Instinkt befriedigter Eitelkeit, jetzt lief es auf das gleiche hinaus, und wenn ich nicht ein unschuldiges Herz verwunden wollte, lag mein Weg klar vorgezeichnet vor mir. Die Stärke und die Tiefe einer Liebe, von der ich nicht einmal geahnt hatte, ließ mir nur die Alternative, sie zu erwidern oder Tessie fortzuschicken. Ich weiß nicht, ob es daran lag, daß ich zu feige bin, anderen
Schmerz zuzufügen, oder daran, daß ich nichts von einem düsteren Puritaner an mir habe, jedenfalls scheute ich vor dem Gedanken zurück, Tessie meinen Kuß als das zu erklären, was er gewesen war: eine Geste des Mitleids und der Sympathie, und tatsächlich hatte ich gar keine Zeit, das zu tun, bevor die Schleusen ihres Herzens sich öffneten. Andere, die gewohnheitsmäßig ihre Pflicht tun und eine mürrische Befriedigung darin finden, sich selbst und alle anderen unglücklich zu machen, hätten widerstehen können. Ich nicht. Ich wagte es nicht. Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, sagte ich ihr, daß sie vielleicht lieber Ed Burke hätte lieben und einen dezenten goldenen Ring tragen sollen, aber sie wollte nichts davon hören, und ich dachte, solange sie jemand lieben will, den sie nicht heiraten kann, dann lieber mich als irgendeinen leichtfertigen Burschen. Ich konnte sie wenigstens mit intelligenter Behutsamkeit behandeln, und wann immer sie ihrer Verliebtheit müde wäre, würde sie nicht schlechter daran sein als zuvor. Denn in diesem Punkt war ich entschlossen, obwohl ich wußte, wie hart es mich ankommen würde. Ich entsann mich des üblichen Ausgangs platonischer Verhältnisse und dachte, wie angewidert ich gewesen war, wann immer ich von einer solchen Sache gehört hatte. Mochte es mich auch einige Anstrengung kosten, bei mir sollte sie sicher sein, egal wie die Zukunft aussehen würde. Ich sah mehrere mögliche Endpunkte dieser Affäre, die alle eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hatten. Sie würde entweder der ganzen Sache müde oder so unglücklich werden, daß ich sie heiraten oder fortgehen mußte. Heiratete ich sie, würden wir unglücklich sein, ich mit einer Frau, die nicht zu mir paßte, sie mit einem Mann, der für jede Frau ungeeignet war. Ging ich fort, würde sie entweder krank werden, sich erholen und irgendeinen Eddie Burke heiraten, oder sie würde leicht-
sinnig werden oder absichtlich hingehen und irgend etwas Dummes tun. Andererseits: würde sie meiner überdrüssig, blieben ihr seelische Erschütterungen erspart, und sie würde unveränderte Lebensaussichten haben – Aussichten auf Eddie Burkes und Eheringe und Zwillinge und Mietwohnungen in Brooklyn und weiß Gott was noch. Als ich unter den Bäumen dahinschlenderte, beschloß ich, daß sie einen ehrlichen Freund in mir finden sollte, mochte die Zukunft bringen, was sie wollte. Dann ging ich nach Haus und zog meinen dunklen Anzug an, denn der kleine schwach parfümierte Brief auf meinem Nachttisch sagte: »Holen Sie mich um elf mit dem Taxi am Bühnenausgang ab. Edith Carmichael, Metropolitan Theatre.« Miß Carmichael und ich speisten an diesem Abend bei Solari, und der Morgen graute bereits hinter dem East River und Long Island, als ich Edith nach Haus gebracht hatte und auf dem Heimweg den Washingtonplatz überquerte. Kein Mensch war zu sehen, weder im Park noch auf dem Platz und den angrenzenden Straßen, doch als ich an der Kirche vorbeikam, sah ich eine Gestalt auf den Steinstufen des Portals sitzen. Beim Anblick des weißen, aufgedunsenen Gesichts überlief mich ein Frösteln, und ich beeilte mich, den Eindruck hinter mich zu bringen. Dann sagte die Gestalt etwas, das an mich gerichtet sein konnte, vielleicht auch nur ein Murmeln zu sich selbst war. Seltsamerweise löste es einen wütenden, jähen Zorn in mir aus, und ich war nahe daran, hinzugehen und meinen Stock über den Kopf des abscheulichen Nachtwächters zu schlagen, aber ich ging weiter und war gleich darauf in meiner Wohnung. Eine Zeitlang warf ich mich auf meinem Bett herum und suchte den Klang seiner Stimme aus meinem Ohr zu bringen, aber ohne Erfolg. Dieses halbgemurmelte Geräusch füllte meinen Kopf wie dicker, öliger Rauch oder ein hartnäckiger Geruch von
Verwesung, und während ich mich herumwälzte, schien die Stimme in meinen Ohren immer deutlicher zu werden, und ich begann die Worte zu verstehen, die er gemurmelt hatte. Sie kamen mir allmählich ins Gedächtnis, wie wenn ich sie vergessen hätte, und zuletzt konnte ich ihnen einen Sinn abgewinnen: »Hast du das gelbe Zeichen gefunden?« »Hast du das gelbe Zeichen gefunden?« »Hast du das gelbe Zeichen gefunden?« Ich war wütend. Was meinte er damit? Dann löste sich meine nervöse Spannung, und mit einem Fluch warf ich mich auf die andere Seite und schlief ein, doch als ich wieder erwachte, sah ich bleich und hager aus, denn ich hatte den Traum der vergangenen Nacht noch einmal geträumt, und er beunruhigte mich mehr als ich mir eingestehen wollte. Ich zog mich an und ging in mein Atelier. Tessie saß beim Fenster, und als ich hereinkam, stand sie auf und legte beide Arme um meinen Hals und küßte mich. Sie sah so süß und zart aus, daß ich sie wiederküßte, bevor ich mich an die Staffelei setzte. »Hallo! Wo ist die Studie, die ich gestern angefangen habe?« Tessie sah schuldbewußt aus, sagte aber nichts. Ich begann die Suche unter den an den Wänden herumstehenden Leinwänden und sagte: »Komm, Tess, mach dich fertig; wir müssen das Morgenlicht ausnützen.« Als ich schließlich das Herumsuchen bei den Leinwänden aufgab, um mich anderswo im Raum nach der fehlenden Studie umzusehen, sah ich Tessie immer noch angezogen beim Wandschirm stehen.
»Was ist los?« fragte ich. »Fühlst du dich nicht gut?« »Doch.« »Dann mach zu.« »Möchtest du, daß ich Modell stehe, wie – wie ich es immer getan habe?« Nun verstand ich. Eine neue Komplikation. Ich hatte das beste Aktmodell verloren, das ich je gesehen hatte. Ich schaute Tessie an. Ihr Gesicht war brennend rot. Welch ein Jammer! Wir hatten vom Baum der Erkenntnis genascht. Und der Garten Eden und die natürliche Unschuld waren Dinge der Vergangenheit – ich meine, für sie. Vermutlich bemerkte sie die Enttäuschung in meinem Gesicht, denn sie sagte: »Wenn du willst, stehe ich Modell. Die Studie ist hier hinter dem Wandschirm.« »Nein«, sagte ich, »wir werden etwas anderes anfangen.« Ich ging in meine Garderobe und suchte ein marokkanisches Kostüm aus, schwer behängt mit Silberschmuck. Es war eine echte Tracht, und Tessie zog sich begeistert hinter den Wandschirm zurück. Als sie wieder herauskam, war ich verblüfft. Ihr langes schwarzes Haar trug eine silberne Kette, von der Münzen in ihre Stirn hingen. Ihr Haar fiel in sanften Linien über ihre Schultern und bis zum silberschimmernden Gürtel. Ihre Füße steckten in bestickten Pantoffeln mit aufgebogenen Spitzen. Die prachtvolle, knöchellange Tracht mit dem kurzen Bolerojäckchen stand ihr wundervoll. Sie kam zu mir und hob lächelnd ihr Gesicht. Ich langte in meine Tasche, zog eine Goldkette mit einem kleinen Kreuz hervor und ließ sie über ihren Kopf gleiten. »Die gehört dir, Tessie.«
»Mir?« flüsterte sie. »Ja. Nun geh und stell dich in Positur. Wir müssen die richtige Haltung finden.« Mit einem strahlenden Lächeln rannte sie hinter den Wandschirm und kam mit einer kleinen Schachtel zurück, auf der mein Name geschrieben stand. »Ich wollte es dir geben, wenn ich heute nachmittag nach Haus gehe«, sagte sie, »aber jetzt kann ich nicht mehr warten.« Ich öffnete die Schachtel. Auf der rosa Watte im Inneren lag eine kleine Spange aus schwarzem Onyx mit goldener Einlegearbeit, die ein seltsames Symbol oder einen Buchstaben darstellte. Es war weder Arabisch noch Chinesisch, noch gehörte es, wie ich später feststellte, zu irgendeiner anderen menschlichen Schrift. »Es ist alles, was ich hatte, um es dir als Andenken zu geben«, sagte sie schüchtern. Ich war ärgerlich, sagte ihr aber, wie sehr ich es in Ehren halten und unter dem Jackettaufschlag bei mir tragen würde. »Wie unvernünftig, Tess, hinzugehen und mir ein so teures und schönes Schmuckstück zu kaufen!« tadelte ich sie. »Ich habe es nicht gekauft«, lachte sie. »Woher hast du es?« Dann erzählte sie mir, daß sie es eines Tages gefunden hatte, als sie vom Aquarium in der Battery gekommen war, daß sie den Fund angezeigt und in den Zeitungen nach Verlustmeldungen gesucht, zuletzt aber jede Hoffnung aufgegeben hatte, den Besitzer zu finden. »Das war im letzten Winter«, sagte sie. »Am selben Tag, als ich den schrecklichen Traum mit dem Leichenwagen hatte.«
Ich erinnerte mich an meinen Traum der vergangenen Nacht, sagte aber nichts, und kurz darauf fuhr mein Kohlestift über eine neue Leinwand, und Tessie stand bewegungslos auf dem kleinen Podium.
3 Der nächste Tag war verhängnisvoll für mich. Während ich eine eingerahmte Leinwand von einer Staffelei zu einer anderen trug, glitt ich aus und fiel schwer auf beide Hände. Sie waren so schlimm verstaucht, daß ich keinen Pinsel halten konnte und statt dessen im Atelier umherwanderte, unfertige Skizzen und Zeichnungen anstarrte und fluchte, bis Verzweiflung mich ergriff. Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen, rauchte und besah wütend meine Finger. Der Regen fegte gegen die Fenster und prasselte aufs Kirchendach. Tessie saß nähend am Fenster, und alle paar Minuten hob sie ihren Kopf und schaute mich mit so unschuldigem Mitleid an, daß ich mich meiner Gereiztheit zu schämen begann und nach einer Beschäftigung suchte. Ich hatte alle Zeitungen und alle Bücher in meinem Bücherschrank gelesen, aber um irgendwas zu tun, öffnete ich die Schranktüren mit den Ellbogen und vertiefte mich in die Buchrücken. Ich kannte jeden Band an seiner Farbe und seiner Größe, betrachtete aber trotzdem jedes Buch einzeln und pfiff dazu, um mich in bessere Stimmung zu bringen. Ich war fast fertig und wollte mich schon umwenden und ins Nebenzimmer gehen, als mein Blick auf ein in Schlangenleder gebundenes Buch fiel, das im obersten Regal am Ende der Reihe stand. Ich erinnerte mich nicht an den Band, und weil er fest eingeklemmt stand, kehrte ich ins Atelier zurück und bat Tessie,
ihn für mich herauszuziehen. Sie kam und holte das Buch heraus. »Was ist es?« fragte ich. »›Der König in Gelb.‹« Ich war vollständig verblüfft, wer hatte es in meinen Bücherschrank gesteckt? Wie war das Buch überhaupt in meine Wohnung gekommen? Ich hatte mich vor langer Zeit entschlossen, dieses Buch niemals zu öffnen, und nichts auf der Welt hätte mich bewegen können, es zu kaufen. Sollte ich jemals neugierig auf das Buch gewesen sein, so hatte die schreckliche Tragödie des jungen Castaigne, den ich gekannt hatte, mich immer davor bewahrt, dieses schlimme Buch zu lesen. Ich hatte mich stets geweigert, irgendeine Schilderung des Inhalts anzuhören, und da ohnehin niemand wagte, laut über den zweiten Teil zu diskutieren, hatte ich absolut keine Ahnung, was darin stand. Ich starrte den giftig gefleckten Einband an, als wäre er eine lebende Schlange. »Tue es wieder hinein, Tessie«, sagte ich. »Faß es nicht länger an.« Meine Warnung genügte natürlich, ihre Neugierde zu wecken, und bevor ich sie daran hindern konnte, tanzte sie mit dem Buch davon ins Atelier. Ich lief ihr nach und rief, sie solle das Buch zurückbringen, doch sie entschlüpfte und ich folgte ihr mit einiger Ungeduld. »Tessie!« rief ich, »hör zu; ich meine es ernst. Leg das Buch weg. Ich wünsche nicht, daß du es öffnest!« Das Wohnzimmer war leer. Ich ging ins Schlafzimmer, in die Garderobe, dann in die Küche und ins Bad. Schließlich kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und begann eine systematische Suche. Sie hatte sich so gut versteckt, daß ich sie erst eine halbe
Stunde später in der Abstellkammer entdeckte, wo sie weiß und still unter dem vergitterten Fenster kauerte. Beim ersten Blick sah ich, daß sie für ihre Dummheit bestraft war. Das Buch lag zu ihren Füßen; der zweite Teil war aufgeschlagen. Ich schaute sie aufmerksam an und sah, daß es zu spät war. Sie hatte darin gelesen. Dann nahm ich sie bei der Hand und führte sie ins Atelier. Sie schien benommen, und als ich ihr sagte, sie solle sich aufs Sofa legen, gehorchte sie ohne ein Wort. Nach einer Weile schloß sie die Augen, und ihr Atem wurde gleichmäßig und tief, aber ich konnte nicht ausmachen, ob sie schlief oder nicht. Ich saß stumm neben ihr, doch sie bewegte sich nicht und sprach nicht, und schließlich stand ich auf und kehrte in den Abstellraum zurück und hob das Buch auf. Es schien schwer wie Blei zu sein, aber ich trug es ins Atelier, setzte mich neben das Sofa auf den Teppich und las es vom Anfang bis zum Ende durch. Als ich den Band, schwach vom Übermaß der Empfindungen, fallenließ und mich müde gegen das Sofa zurücklehnte, öffnete Tessie die Augen und schaute mich an. Wir hatten eine Weile in dumpfer, monotoner Anspannung gesprochen, bevor ich merkte, daß wir über den ›König in Gelb‹ diskutierten. Welch eine Sünde, solche Worte zu schreiben, Worte klar wie Kristall, durchsichtig und musikalisch wie sprudelnde Quellen, Worte, die funkelten und leuchteten wie die vergifteten Diamanten der Medici! Welch eine boshafte, zu hoffnungsloser Verdammung verurteilte Seele, die mit solchen Worten Menschen faszinieren und lähmen konnte – mit Worten, die der Unwissende wie der Weise verstand, die einlullender waren als Musik, furchtbarer als der Tod! Wir sprachen, ohne auf die tiefer werdenden Schatten zu achten, und sie bat mich, die Spange aus schwarzem Onyx weg-
zuwerfen, von deren mysteriöser Einlegearbeit wir jetzt wußten, daß sie das gelbe Zeichen war. Ich weiß nicht, warum ich es nicht tat; noch jetzt, hier in meinem Schlafzimmer, beim Niederschreiben dieses Bekenntnisses, wäre es hilfreich zu wissen, was mich daran hinderte, das gelbe Zeichen von meiner Brust zu reißen und ins Feuer zu werfen. Ich bin überzeugt, daß ich es tun wollte, und doch bat Tessie mich vergeblich darum. Der Abend kam, die Stunden schleppten sich dahin, aber noch immer murmelten wir vom König und der bleichen Maske. Von den Türmen der nebelverhüllten Stadt schlug es Mitternacht. Wir sprachen von Hastur und Cassilda, während draußen der Nebel vor den Fensterscheiben dampfte. Das Haus war jetzt sehr still, und kein Geräusch drang von den Straßen herauf. Tessie lag zwischen den Kissen; ihr Gesicht war ein grauer Fleck in der Dunkelheit, aber ihre Hände lagen in meinen Händen, und ich wußte, daß sie meine Gedanken kannte und las, wie ich die ihren las, denn wir hatten das Geheimnis der Hyaden verstanden, und das Phantom der Wahrheit war gebannt. Dann, während wir einander antworteten, rasch und still, Gedanken um Gedanken, regten sich die Schatten in der Düsternis um uns her, und fern in den Straßen hörten wir ein Geräusch. Näher und näher kam es – das dumpfe Rollen und Knirschen von Rädern, näher und noch näher, und nun hörte es auf, draußen vor der Tür, und ich schleppte mich zum Fenster und sah einen Leichenwagen mit schwarzen Federbüschen. Unten wurde das Tor geöffnet und fiel zu, und ich schlich zitternd zu meiner Wohnungstür und verriegelte sie, aber es gab keine Riegel, keine Schlösser, die diese Kreatur fernhalten konnten, die gekommen war, das gelbe Zeichen zu holen. Und nun hörte ich ihn sehr leise durch den Korridor gehen. Jetzt war er an der Tür, und die Riegel zerfielen unter seiner Berührung.
Nun war er eingetreten. Mit hervorquellenden Augen spähte ich in die Dunkelheit, aber als er in den Raum kam, sah ich ihn nicht. Erst als ich fühlte, wie er mich mit seinem kalten, weichen Zugriff umklammerte, schrie ich auf und kämpfte in verzweifelter Wut, aber meine Hände waren nutzlos, und er riß die Onyxspange von meiner Jacke und schlug mich voll ins Gesicht. Dann, als ich fiel, hörte ich Tessies leisen Schrei, und ihre Seele entfloh; und noch im Fallen sehnte ich mich, ihr zu folgen, denn ich wußte, daß der König in Gelb seinen zerfetzten Mantel geöffnet hatte, und es nur noch Gott gab, zu dem ich rufen konnte. Ich könnte mehr berichten, aber ich sehe nicht ein, welche Hilfe es für die Welt sein sollte. Ich selbst bin jenseits menschlicher Hilfe und Hoffnung. Während ich hier liege und schreibe, gleichgültig sogar, ob ich sterben muß oder nicht, bevor ich fertig bin, sehe ich den Arzt mit einer vagen Geste zu dem guten Priester neben mir seinen Koffer schließen. Ich kann ihn verstehen, den armen Dr. Higgins. Sie werden sehr neugierig sein, Näheres über die Tragödie zu erfahren – sie, die Bücher schreiben und Millionen von Zeitungen drucken, aber ich werde nicht mehr schreiben, und mein Beichtvater wird meine letzten Worte versiegeln, wenn sein heiliges Werk getan ist. Die von der Außenwelt mögen ihre Kreaturen in verwüstete Wohnungen und vom Tod betroffene Häuser schicken, und ihre Zeitungen werden sich an Blut und Tränen mästen, aber bei mir werden ihre Spione haltmachen müssen. Sie wissen, daß Tessie tot ist, und daß ich im Sterben liege. Sie wissen, daß die Bewohner des Hauses, alarmiert von einem infernalischen Schrei, in meine Wohnung stürzten und einen Lebenden und zwei Tote fanden, aber Sie wissen nicht, was ich Ihnen jetzt sagen werde: Sie wissen nicht, daß der Arzt,
als er auf einen scheußlichen, verwesten Haufen auf dem Boden deutete – den fahlen Leichnam des Wachmannes von der Kirche –, zum Priester sagte: »Ich habe keine Theorie, keine Erklärung dafür. Dieser Mann muß seit Monaten tot gewesen sein!« Ich glaube, mein Ende naht. Ich wünschte, der Priester würde …
A. MERRITT
Mord im Geisterwald A. Merritt verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in der finanziellen Höhenluft einer der erfolgreichsten Zeitschriften der Welt, des ›American Weekly‹, einer Wochenbeilage zu den Zeitungen des Hearst-Konzerns, die sich eine Zeitlang der höchsten Auflage sämtlicher Zeitschriften der Welt erfreute. Sein Gehalt versetzte ihn in die Lage, Häuser auf Long Island und in Florida zu bewohnen und aus Liebhaberei Gewächshäuser zu unterhalten, in denen er seltene tropische Pflanzen züchtete. Die Last seiner Arbeit ließ ihm jedoch wenig Zeit zum Schreiben. Daher ist sein literarisches Gesamtwerk relativ klein und umfaßt nur acht Romane und Novellen, sechs Kurzgeschichten, einige unvollendete Arbeiten und einige Gedichte. Zu keiner Zeit schrieb er für Geld. Er schrieb aus Neigung und um dem Alltag zu entrinnen, aber während der letzten zehn fahre seines Lebens verhinderten seine beruflichen Verpflichtungen die Vollendung aller angefangenen und geplanten Arbeiten. Niemand ist heute beeindruckt, wenn man ihm sagt, daß Merritt Herausgeber des ›American Weekly‹ war, denn die Zeit ist darüber hinweggegangen, aber als Schriftsteller war Merritt auf vielen Gebieten – Science Fiction, Belletristik, Themen des Übernatürlichen und Geheimnisvollen – unbestreitbar ein Meister. Seine Werke wurden wiederholt aufgelegt und erleben in unserer Zeit die Wiederentdeckung durch eine neue Generation. A. Merritt war vertraglich verpflichtet, seine Erzählungen zuerst der Zeitschrift ›Argosy‹ anzubieten, die ihm die höchsten
Honorare zahlte, die sie jemals einem Autor zubilligte. Als er ›Mord im Geisterwald‹ einsandte, wurde die Erzählung als ›handlungsarm‹ zurückgewiesen. Merritt bot sie daraufhin mit der Forderung, daß kein einziges Wort geändert werden dürfe, den Herausgebern des Magazins ›Weird Tales‹ an. Sie wurde gedruckt und erwies sich als die populärste Erzählung, die in der ruhmreichen Geschichte dieses Magazins je veröffentlicht wurde. McKay saß auf dem Balkon des kleinen Wirtshauses, das wie ein brauner Gnom zwischen den Fichten am Ostufer des Sees kauerte. Es war ein kleiner und einsamer See hoch oben in den Vogesen; und doch, einsam ist nicht genau das passende Wort zur Kennzeichnung seiner Atmosphäre, die weltentrückt und von schwer zugänglichem Zauber war. Die Berge kamen auf allen Seiten herab und bildeten eine riesige waldumkränzte Schüssel, die, als McKay sie zum erstenmal sah, den Frieden zeitloser Stille zu haben schien. McKay hatte im Krieg bei den Fliegern gedient, zuerst in der französischen Luftstreitmacht, später in der seines eigenen Landes. Und wie ein Vogel die Bäume liebt, so liebte auch McKay die Bäume. Für ihn waren sie nicht bloß Stämme und Wurzeln, Zweige und Laub; für ihn waren sie Persönlichkeiten. Er war sich der Verschiedenartigkeit ihres Charakters selbst innerhalb einer Art bewußt – diese Fichte war wohlwollend und fröhlich, jene streng und mönchisch; hier stand ein prahlerischer Kraftprotz, dort ragte ein Weiser, eingehüllt in grüne Meditation; diese Birke war eine Wollüstige, die Birke neben ihr war jungfräulich, noch im Traum.
Der Krieg hatte seine Gesundheit und seine Nerven untergraben. In all den seither vergangenen Jahren war die Wunde offen geblieben. Aber nun, als er seinen Wagen die schmale Straße hinunter in die Talschüssel rollen ließ, fühlte er das Versprechen der Heilung. Er schien wie ein fallendes Blatt durch die dichten Wälder zu treiben, gewiegt von den sanften Händen der Bäume. Bei dem kleinen Wirtshaus hatte er angehalten und war geblieben, tagelang, wochenlang. Die Bäume hatten ihn gepflegt; das leise Gewisper der Blätter, der feierliche Gesang nadeliger Fichten und Tannen hatten den Widerhall des Krieges und seiner Schrecken in ihm zum Verstummen gebracht. Die offene Wunde seines Geistes hatte sich unter ihrer grünen Heilung geschlossen und war Narbe geworden; und selbst die Narbe war zugedeckt und begraben, wie die Narben der Erde unter dem fallenden Laub des Herbstes zugedeckt und begraben sind. Die Bäume hatten grüne, heilende Hände auf seine Augen gelegt und die Bilder des Krieges verbannt. Er hatte aus den grünen Brüsten der Berge Kraft gesogen. Doch mit dem Zurückfließen seiner Kräfte und der Heilung von Geist und Seele war McKay sich zunehmend bewußt geworden, daß der Ort irgendwie nicht in Ordnung war, daß seine friedliche Stille nicht vollkommen war, daß es ein Ferment von Angst darin gab. Es war, als ob die Bäume gewartet hätten, bis er selbst gesundet wäre, bevor sie ihm ihre eigene Unruhe zu erkennen gaben. Nun versuchten sie ihm etwas zu sagen; im Gewisper der Blätter und im Windgesang der Nadelwälder war ein schriller Unterton wie von Angst oder Zorn.
Und dies war es, das McKay im Wirthaus festhielt – ein bestimmtes Bewußtsein, daß etwas nicht in Ordnung war und er gebeten wurde, es zu berichtigen. Er strengte sein Gehör an, um im Rascheln der Zweige Worte aufzufangen, Worte, die am Rand seines menschlichen Verstehens zitterten. Niemals überwanden sie diese letzte Barriere. Allmählich hatte er sich orientiert, hatte sich, so glaubte er, auf die Stelle konzentriert, von der die Unrast des Tals ausging. An den Ufern des Sees gab es nur zwei Häuser. Eins war das Wirtshaus, und um dieses drängten die Bäume sich schützend, vertrauend und freundlich. Es war, als hätten sie es nicht nur akzeptiert, sondern zu einem Teil ihrer selbst gemacht. Mit dem anderen Haus verhielt es sich nicht so. In früherer Zeit mochte es das Jagdhaus irgendeines längst verstorbenen Herrn gewesen sein; nun war es heruntergekommen und verwahrlost. Es stand am anderen Ufer, dem Wirtshaus fast genau gegenüber, etwa fünfhundert Meter vom See entfernt am Hang. Es mußte einmal von Wiesen und einem schönen Obstgarten umgeben gewesen sein. Der Wald war vorgedrungen, um seinen Besitz zurückzuerobern. Fichten und Erlen und Espen waren über die Wiesen marschiert; Spähtrupps von Schößlingen lauerten zwischen den alterskrummen und zerbrochenen Obstbäumen. Aber der Wald war auf Widerstand gestoßen; Baumstümpfe zeigten, daß die gegenwärtigen Bewohner des alten Hauses die Eindringlinge gefällt hatten; geschwärzte Flächen zeigten, daß sie im Herbst das hohe Gras, die Büsche und Schößlinge des vorrückenden Jungwalds abgebrannt hatten. Hier war der Konflikt, den er gefühlt hatte. Hier war das grüne Volk des Waldes zugleich bedroht und bedrohend; es war
Krieg. Das alte Haus war eine vom Wald belagerte Festung, deren Garnison mit Axt und Fackel Ausfälle unternahm, um die Belagerer zurückzuwerfen. Aber McKay fühlte das unerbittliche Andrängen des Waldes; er sah ihn als eine grüne Armee, die die Lücken in ihren Reihen immer wieder auffüllte, ihre Samen auf die gerodeten Flächen schoß und sie mit ihren Wurzeln untergrub. Der Wald hatte eine erdrückende Geduld. McKay hatte den Eindruck ständiger Beobachtung und Wachsamkeit, als ob der Wald Tag und Nacht seine Myriaden von Augen auf das verwitterte Haus gerichtet hielt, ohne sich jemals ablenken zu lassen. Er hatte mit dem Wirt und dessen Frau über diesen Eindruck gesprochen, und sie hatten ihn seltsam angesehen. »Der alte Polleau liebt die Bäume nicht, nein«, hatte der Mann gesagt. »Nein, er nicht und seine beiden Söhne auch nicht. Sie lieben die Bäume nicht – und ganz sicher lieben die Bäume sie nicht.« Zwischen der ehemaligen Jagdhütte und dem Ufer lag ein einzigartig schönes kleines Gehölz aus silbernen Birken und Kiefern. Es erstreckte sich vom Seeufer vielleicht vierhundert Meter landeinwärts, war nicht tiefer als hundert Schritte, und es war nicht allein die Schönheit der Bäume, die McKays Interesse so lebhaft weckte, sondern die seltsame Gruppierung. An jedem Ende des Gehölzes stand ein Dutzend oder mehr Kiefern mit langen, glänzenden Nadeln, nicht zusammengedrängt, sondern wie in offener Marschordnung auseinandergezogen. Auch auf den beiden anderen Seiten standen einzelne Kiefern in weiten Abständen. Die Birken, schlank und hell und zart, wuchsen im
Schutz dieser widerstandsfähigeren Bäume, aber nicht so dicht, daß sie einander bedrängt hätten. Für McKay waren die Birken wie ein fröhlicher Zug lieblicher Mädchen unter dem Schutz galanter Ritter. Er sah die Birken als eine Gesellschaft lustiger und lachender Damen, die Föhren als Troubadoure in grüner, genadelter Pracht. Und wenn der Wind blies und die Wipfel der Bäume bog, war es, als höben zimperliche Fräuleins flatternde, geblätterte Röcke, beugten geblätterte Hauben und tanzten, während die ritterlichen Föhren sich enger um sie scharten, die Arme mit den ihren verschränkten und mit ihnen zum heulenden Hörnerklang der Winde tanzten. In solchen Augenblicken glaubte er fast ein helles Lachen von den Birken und Zurufe von den dunklen Kiefern zu hören. Von allen Bäumen dieses Tals liebte McKay diesen kleinen Wald am meisten; er war im Boot herübergerudert, hatte dort geträumt und dabei die Echos elfenhaften Lachens gehört, hatte mit geschlossenen Augen geheimnisvolles Flüstern und die Geräusche tanzender Füße wahrgenommen, leicht wie fallende Blätter; hatte im Traum von dieser Fröhlichkeit getrunken, die die Seele des kleinen Waldes war. Und vor zwei Tagen hatte er Polleau und seine zwei Söhne gesehen. McKay hatte den ganzen Nachmittag in dem Gehölz verträumt. Als die Sonne hinter die Berge gesunken war, hatte er sich widerwillig aufgerafft und war ins Boot gestiegen, um zum anderen Ufer zurückzurudern. Als er dreißig Meter vom Ufer entfernt gewesen war, waren drei Männer unter den Bäumen herausgekommen und hatten ihn beobachtet – drei düstere, kräftige Gestalten, größer als der durchschnittliche französische Bauer.
Er hatte ihnen einen freundlichen Gruß zugerufen, aber sie hatten nicht geantwortet; finstere Blicke waren alles gewesen, was er bekommen hatte. Dann, als er sich wieder über die Riemen gebeugt hatte, hatte einer der Söhne eine Axt gehoben und sie mit einem wilden Schlag in den Stamm einer schlanken Birke getrieben. McKay glaubte, einen dünnen, jammernden Schrei von dem getroffenen Baum zu hören, einen Seufzer von allen Bäumen des kleinen Gehölzes. Ihm war zumute gewesen, als ob die scharfe Axtschneide in sein eigenes Fleisch gebissen hätte. »Aufhören!« hatte er gerufen. »Aufhören, verdammt noch mal!« Als Antwort hatte der Sohn wieder zugeschlagen – und nie hatte McKay ein haßerfüllteres Gesicht als das dieses Mannes gesehen. Fluchend, eine mörderische Wut im Herzen, war er zum Ufer zurückgerudert. Unterdessen hatte er die Axt wieder und wieder zuschlagen hören, und dann, dem Ufer schon nahe, hörte er ein Knacken und Knistern, wieder begleitet von dem dünnen, hohen Jammerlaut. Hastig hatte er den Kopf über die Schulter gedreht. Die Birke wankte, fiel. Aber als sie fiel, machte McKay eine merkwürdige Beobachtung. Nahe bei ihr wuchs eine Kiefer, und als der kleinere Baum umstürzte, fiel er gegen die Kiefer wie ein ohnmächtiges Mädchen in die Arme des Geliebten. Und als die Birke so lag und zitterte, glitt ein kräftiger Kiefernast unter ihr heraus, peitschte hoch und versetzte dem Axtträger einen vernichtenden Schlag vor den Kopf, daß der Mann hintenüber kippte und im Gras liegenblieb. Es war natürlich nur der zufällige Schlag eines Astes gewesen, vom Druck des fallenden Baums niedergedrückt und
wieder befreit. Aber in dem Hochschnellen war für McKays Empfinden soviel bewußtes Handeln, soviel bitterer Zorn, soviel vom Vergeltungsschlag eines Mannes gewesen, daß McKay ein unheimliches Prickeln seiner Kopfhaut gefühlt hatte. Einen Augenblick lang hatten Polleau und der andere Sohn die stämmige Kiefer angestarrt, an deren grüner Brust die Birke lag, gehalten und beschützt von den dunklen Nadelzweigen, als ob – wieder kam McKay dieser Vergleich in den Sinn – ein verwundetes Mädchen in den Armen eines ritterlichen Liebhabers läge. Einen langen Augenblick hatten Vater und Sohn dorthin gestarrt. Dann, immer noch wortlos, aber mit dem gleichen bitteren Haß in ihren Gesichtern, hatten sie sich über den anderen gebeugt, ihn aufgehoben, seine Arme um ihre Schultern gezogen und die schlaffe Gestalt fortgeschleppt. Als McKay an diesem Morgen auf dem Balkon des Wirtshauses saß, ging die Szene ihm wieder und wieder durch den Kopf; und immer deutlicher wurde ihm der menschliche Aspekt der fallenden Birke und der sie haltenden Föhre und die Vorsätzlichkeit ihres Zuschlagens. Und während der seitdem vergangenen zwei Tage hatte er die zunehmende Unruhe der Bäume gefühlt. Ihre flüsternden Bitten waren dringender geworden. Was wollten sie ihm sagen? Beunruhigt blickte er über den See, versuchte den nebligen Dunst zu durchdringen, der über dem Wasserspiegel hing und das jenseitige Ufer verbarg. Und plötzlich war es ihm, als ob das Gehölz ihn rief. Der Wald bat ihn zu kommen. Sofort gehorchte McKay dem Ruf; er stand auf und ging hinunter zum Steg; er stieg ins Boot und begann über den See zu rudern. Als die Riemen ins Wasser tauchten, fiel seine Beun-
ruhigung von ihm ab und Frieden und eine seltsame Verzückung durchströmten ihn. Der Nebel lag dicht über dem See. Kein Windhauch regte sich, doch der Nebel wallte und trieb, teilte und schloß sich unter der Berührung unsichtbarer luftiger Hände. Sie waren lebendig, die Nebel; sie formten sich zu phantastischen Palästen, an deren opalisierenden Fassaden er vorüberglitt; sie formten sich zu Hügeln und Tälern und Ebenen aus wellig liegender Seide. Winzige Regenbogen schimmerten zwischen ihnen, und auf dem stillen Wasser glänzten bunte Flecken und breiteten sich aus wie vergossener Wein. Er hatte die Illusion ungeheurer Entfernungen – die Nebelhügel waren wirkliche Berge, die Täler zwischen ihnen keine Illusion. Er war ein Koloß, der sich seinen Weg durch eine Elfenwelt bahnte. Eine Forelle sprang, und es war, als ob Leviathan aus der unergründlichen Tiefe emportauchte. Um den Bogenflug ihres Körpers flochten sich Regenbogen und lösten sich in einem Regen weich schimmernder Edelsteine auf – Diamanten im Tanz mit Saphiren, Rubinen und Perlen. Der Fisch verschwand, tauchte glatt und ohne ein Geräusch in die unbewegte Wasserfläche ein. Ein kleiner irisierender Wirbel drehte sich für einen Augenblick dort, wo die Forelle ihren blitzenden Bogen gezogen hatte. Nirgendwo gab es ein Geräusch. Er ließ die Riemen tropfen und beugte sich nach vorn. In der Stille um ihn her fühlte er, wie die Tore einer unbekannten Welt sich öffneten. Er trieb dahin und hörte plötzlich den Klang vieler Stimmen; schwach und murmelnd zuerst, dann wurden sie lauter. Süße und schmelzende Frauenstimmen mischten sich mit den tieferen Tonlagen von Männern. Die Stimmen hoben und senkten sich in einem
wilden, frohen Gesang, es schwangen aber auch Untertöne von Trauer und von Zorn mit – als ob feenhafte Weber aus Sonnenstrahlen gesponnene Seide mit dunklen Fäden aus dem Schwarz von Gräbern und mit blutroten Fäden aus dem Rot zorniger Sonnenuntergänge durchschössen. Er trieb weiter und wagte kaum zu atmen, damit selbst dieses leise Geräusch den Elfengesang nicht störe. Er kam den Stimmen näher und wurde sich bewußt, daß sein Boot schneller dahinglitt, daß es nicht mehr trieb. Bald knirschte der Kiel über die glatten Kiesel am Ufer, und der Gesang hörte auf. McKay erhob sich von der Ruderbank und spähte. Auch hier war der Nebel dicht, aber er konnte die Umrisse des Gehölzes wie durch Vorhänge aus feiner Gaze sehen; die Bäume sahen, ätherisch und unwirklich aus, und zwischen ihnen schienen sich Gestalten zu bewegen. Er machte sein Boot fest und ging langsam weiter. Der Nebel senkte sich hinter ihm und verschluckte Boot und Ufer. Die rhythmischen Bewegungen, die er wahrgenommen zu haben glaubte, hatten aufgehört. Zwischen den Bäumen gab es keine Bewegung und kein Geräusch – und doch fühlte er, daß der kleine Wald von Leben erfüllt war. McKay versuchte zu sprechen; ein Zauberbann des Schweigens versiegelte seinen Mund. »Ihr habt mich gerufen. Ich bin gekommen, euch anzuhören – euch zu helfen, wenn ich kann.« Die Worte formten sich in seinem Gehirn, aber aussprechen konnte er sie nicht, so sehr er sich auch bemühte; die Worte schienen zu sterben, bevor seine Lippen ihnen Leben geben konnten.
Ein Nebelschwaden ballte sich vor ihm zusammen, schien die Gestalt einer Säule anzunehmen und schwebte und wallte eine Armeslänge vor ihm. Und plötzlich sah er das Gesicht einer Frau mit seltsamen Augen. McKay, der gebannt in diese Augen starrte, erkannte, daß das Gesicht keiner Frau menschlichen Geblüts gehörte. Die Augen waren ohne Pupillen und vom Weichen Grün verschwiegener Waldtäler; in ihnen funkelten winzige Sternpunkte von Licht wie Staubteilchen in einem Sonnenstrahl. Die Augen waren groß und lagen weit auseinander unter einer breiten, niedrigen Stirn, über der blaßgoldenes Haar in dichten Flechten lag. Die Nase war klein und gerade im ovalen Gesicht. Schön war dieses Gesicht, aber seine Schönheit war fremdartig, elfenhaft. Lange richteten die seltsamen Augen ihren Blick starr auf ihn. Dann lösten sich zwei schmale Hände mit langen, spitz zulaufenden Fingern aus dem Nebel und berührten seine Ohren. »Er soll hören«, wisperten die weißen Lippen. Augenblicklich hörte er eine Vielzahl von Geräuschen, in denen das Flüstern und Rascheln von Blättern im Atem des Windes war, das Lachen verborgener Bäche, das übermütige Toben von Wassern, die sich in tief ausgehöhlte Felsen stürzten. Die Stimmen des Waldes artikulierten sich. »Er soll hören!« riefen sie. Die langen weißen Finger ruhten auf seinen Lippen, und ihre Berührung war kühl wie Birkenrinde an der Wange. »Er soll sprechen«, flüsterten die weißen Lippen. »Er soll sprechen!« antworteten die Waldstimmen wie in einer Litanei.
»Er soll sehen«, flüsterte die Frau, und die kühlen Finger berührten seine Augen. »Er soll sehen!« echoten die Stimmen. Die Nebel, die das Gehölz vor MacKay verborgen hatten, gerieten in Wallung, verdünnten sich und verschwanden. Es blieb ein durchsichtiger, blaßgrüner und schwach leuchtender Äther zurück – als ob er in einen blassen Smaragd eingeschlossen sei. Seine Füße standen in weichem, goldgrünem Moos, geschmückt mit den kleinen blauen Blüten wilder Veilchen. Vor ihm stand die Frau mit den seltsamen Augen und dem Elfengesicht. Ein Gewebe, fein wie aus Spinnennetzen geflochten, bedeckte ihren Körper und verlieh ihrer Gestalt eine graziöse Zierlichkeit, die nicht erkennen ließ, ob sie aus greifbarer Substanz war. Um sie her waren andere Gestalten und alle starrten McKay aus den gleichen weit auseinanderliegenden grünen Augen an, in denen funkelnde Staubteilchen tanzten. Manche schienen ihn ernst und aufmerksam zu mustern, andere blickten spöttisch oder neugierig, und manche hatten einen bittenden, flehenden Ausdruck. Umgeben von der grünlich-durchsichtigen Luft, wurde McKay sich plötzlich bewußt, daß die Bäume des Gehölzes noch immer an Ort und Stelle standen. Nur waren sie jetzt wie weiße Schatten mit phantomhaften Stämmen, Ästen, Zweigen und Blättern – dünn und unwirklich; sie waren Geisterbäume, in einer anderen Sphäre verwurzelt. Auf einmal wurde ihm bewußt, daß Männer zwischen den Frauen standen, Männer, deren Gesichter eben so seltsam und deren Augen ebenso pupillenlos und fremdartig waren, aber von einem tiefen Braun. Die Männer hatten breite Schultern und
kräftige Körper unter Kitteln aus dunklem Grün – und auch sie waren von einer fremdartigen und elfenhaften Schönheit. McKay hörte einen leisen Jammerlaut und wandte den Kopf. Nicht weit von ihm lag ein Mädchen in den Armen eines der Grüngewandeten. Seine Augen waren erfüllt von schwarzen Flammen des Zorns, aber ihre Augen waren getrübt und blaß. Für einen Moment sah McKay die Birke, die Polleaus Sohn gefällt hatte. Das Mädchen berührte seine Schulter und seufzte. »Sie verwelkt«, sagte sie mit einer Stimme, in der McKay ein leises Rascheln wie von traurigen Blättern hörte. »Ist es nicht jammervoll, daß sie verwelkt – unsere Schwester, die so jung war, so schlank und lieblich. »Möge der Arm welken, der sie niederschlug!« rief der Grüne, der sie hielt, und in seiner Stimme hörte McKay ein wildes Fauchen wie vom Winterwind in kahlen Ästen. »Möge sein Herz welken und die Sonne ihn verbrennen! Mögen Regen und Wasser sich ihm verweigern und die Winde ihn peitschen!« »Singt, Schwestern!« bat das Mädchen. »Tanzt für mich!« Wieder brach der Gesang aus, den McKay gehört hatte, als er im Nebel über den See geglitten war. Auch jetzt vermochte er den Sinn der Worte nicht zu verstehen, aber auch ohne Erläuterung ward ihm alles klar – die Freude über des Frühlings Erwachen, die Wiedergeburt, wenn das grüne Leben singend durch jeden Zweig strömte, die Knospen schwellen ließ und die Zweige mit zartem Laub bekleidete; den Tanz der Bäume in den duftenden Winden des Frühlings; die Trommeln des jubilierenden Regens auf Blätterhauben; die Leidenschaft der Sommersonne, wenn sie ihre goldene Flut über die Bäume goß; das Toben ausgelassener Winde; das feierlich-stille Vorüberziehen
des Mondes, die träumenden Wälder in seinem silbernen Feuer – dies alles war in dem Gesang. Und dies alles war auch in den Bewegungen, den Rhythmen des Tanzes dieser seltsamen grünäugigen und braunäugigen Wesen. Es war etwas unglaublich Altes, zugleich aber jung wie der flüchtige Augenblick. McKay lauschte und beobachtete traumverloren und verzaubert; seine eigene Welt war mehr als halb vergessen; ein Gewebe grüner Zauberei hatte seinen Geist umsponnen. Er sah hilflos in die Runde und fragte: »Wie kann ich euch helfen?« Der Gesang erstarb. Eine Stille fiel ein, und er fühlte alle Augen auf sich. Das Mädchen nahm seine Hände. Ihre Berührung war kühl und leicht. »Es gibt drei Männer«, sagte sie. »Sie hassen uns. Bald werden wir alle sterben müssen wie unsere Schwester. Sie haben es geschworen, und was sie geschworen haben, werden sie tun. Es sei denn …« Sie hielt inne, und McKay fühlte ein Unbehagen aufkommen. Die tanzenden Lichter in ihren Augen hatten sich in winziges rotes Gefunkel verwandelt. Es erschreckte ihn. »Drei Männer?« In seiner umwölkten Erinnerung erschienen Polleau und seine beiden Söhne. »Drei Männer«, wiederholte er stumpfsinnig. »Aber was bedeuten euch drei Männer, ihr seid doch so viele! Was können drei Männer gegen euch ausrichten?« »Wir können nichts tun. Wir waren einmal fröhlich, bei Tag und bei Nacht. Nun fürchten wir uns. Sie wollen uns zerstören. Unsere Verwandten haben uns gewarnt. Und unsere Verwandten können uns nicht helfen. Diese drei sind Meister der Klinge
und des Feuers. Gegen Klinge und Flamme sind wir hilflos. Wir werden alle verwelken oder verbrennen. Es sei denn …« Plötzlich warf sie ihre weißen Arme um McKays Hals und drückte ihren zierlichen Körper an ihn. »Sollen wir sterben?« flüsterte sie. McKay war wie von Sinnen. Der Zauber der seltsamen Begegnung, diese Offenbarung des Waldes ergriffen ganz von ihm Besitz. »Nein!« rief er. »Nein – bei Gott, ihr sollt nicht sterben!« »Aber sie werden es tun, diese drei, es sei denn …« »Es sei denn?« fragte er heftig. »Es sei denn, du erschlägst sie vorher«, antwortete sie. McKay ließ die Arme von ihr fallen. Ein kalter Schock traf ihn und löschte das grüne Feuer seiner Bezauberung. Er stieß die Frau fort. Einen Augenblick zitterte sie vor ihm. »Erschlage sie!« flüsterte sie – und war verschwunden. Die schemenhaften Bäume verdichteten sich; aus Gestaltlosigkeit wurde Substanz. Das grün-durchsichtige Licht veränderte sich, verlor an Kraft. Einen Augenblick schwindelte ihn als taumle er im Nichts zwischen zwei Welten. Er schloß die Augen. Das Schwindelgefühl verging. Er öffnete die Augen wieder und blickte umher. McKay stand in dem kleinen Gehölz, unweit vom Ufer. Es gab keine schattenhafte Bewegung, kein Zeichen der weißen Elfenwesen und der grünen Männer. Seine Füße standen in grünem Moos; Birken und Föhren umstanden ihn in ihrer gewöhnlichen, greifbaren Realität. Zu seiner Linken war eine junge Birke mit welkenden Blättern gegen eine stämmige Kiefer gelehnt. Es war die Birke, die Polleaus Sohn gefällt hatte.
Für einen Moment sah McKay in den Bäumen die Umrisse des grünen Mannes und des Mädchens, und Birke und Mädchen und Kiefer und Mann schienen in diesem Moment eins zu werden. Er trat zurück, und stand da und starrte, benommen und verwundert, wie ein Mann, der nur halb aus einem Traum erwacht ist. Und auf einmal regte eine kleine Brise das Laub der runden Birke neben ihm, und die Blätter wisperten. »Erschlage!« hörte er sie flüstern – und wieder: »Erschlage! Hilf uns! Erschlage sie!« Und das Wispern war die Stimme der Grünäugigen! Jähe und unvernünftige Wut flammte in McKay auf. Er begann durch das Gehölz zu laufen, hangaufwärts zu dem verfallenden Jagdhaus, wo Polleau und seine Söhne hausten. »Ich werde sie erschlagen! Ich werde euch retten!« McKay, der keuchend, das hämmernde Blut in den Ohren, durch den Wald rannte, hörte sich selbst diese Antwort rufen; und in seinem Gehirn war nur noch das Verlangen, Polleau und seine Söhne an den Gurgeln zu packen, ihnen die Hälse zu brechen; und dann dabeizustehen und sie verwelken zu sehen. Er kam an den Rand des Gehölzes und brach hinaus in eine Flut strahlenden Sonnenscheins. Er rannte noch dreißig Meter, bevor er merkte, daß das Geflüster verstummt war, daß er nicht mehr das erregte Geraschel zorniger Blätter hörte. Die Verzauberung schien von ihm abzufallen. McKay hielt an, warf sich keuchend ins Gras und vergrub sein Gesicht darin. Allmählich brachte er seine Gedanken in eine vernünftige Ordnung. Was hatte er eben tun wollen? Sich wie ein Berserker auf diese drei stürzen, die in dem alten Haus lebten, und sie – umbringen! Und warum? Weil dieses elfenhafte Wesen, dessen Arme er noch immer um seinen Hals fühlen konnte, ihn darum
gebeten hatte! Weil die flüsternden Bäume ihn aufgepeitscht hatten! Und dafür war er im Begriff gewesen, drei Männer zu töten! Was waren diese Frau und ihre Schwestern und ihre grüngewandeten Galane? Wahngebilde, Phantome, geboren aus der Hypnose treibender Nebel, durch die er über den See gerudert und getrieben war? Solche Erscheinungen waren nicht ungewöhnlich. War es nicht naheliegend, daß seine Liebe zu den Bäumen und die Erinnerung an die böswillige Ermordung der jungen Birke zusammengewirkt hatten, um seinem empfänglichen Bewußtsein die Trugbilder vorzugaukeln, die er erblickt hatte? McKay stand auf und blickte zurück zum Gehölz. Der Wind hatte sich gelegt, die Bäume standen stumm, kein Blatt regte sich. Da faßte er einen Plan. Mochte er argumentieren wie er wollte, etwas tief in ihm hielt hartnäckig an der Wirklichkeit seines Erlebnisses fest. So oder so, sagte er sich, der kleine Wald war viel zu schön, um brutal abgeholzt zu werden. Er wollte das Erlebnis wie einen Traum bewahren, aber er wollte gleichzeitig den kleinen Wald wegen seiner stillen, paradiesischen Schönheit retten. Durch überwucherte und verunkrautete Wiesen und Felder führte ein Trampelpfad zum Haus hinauf. McKay folgte ihm, erstieg brüchige Holzstufen und hielt lauschend inne. Er hörte Stimmen und klopfte. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen und der alte Polleau stand da und musterte ihn aus halbgeschlossenen, mißtrauischen Augen. Einer der Söhne stand dicht hinter ihm, auch er mißtrauisch und feindselig.
McKay glaubte in der Ferne ein leises, verzweifeltes Flüstern zu hören. Und es war, als ob auch die zwei in der Tür es hörten, denn ihre Blicke flogen von ihm zum Gehölz, verweilten dort einen Moment und kehrten zu ihm zurück. »Was wollen Sie?« fragte Polleau barsch. »Ich bin sozusagen Ihr Nachbar, weil ich drüben im Wirtshaus wohne«, begann McKay höflich. »Ich weiß, wer Sie sind«, unterbrach Polleau grob. »Was wollen Sie?« McKay unterdrückte aufkommende Verärgerung. »Ich finde die Luft in dieser Gegend gut für meine Gesundheit«, sagte er. »Ich denke daran, ein Jahr oder länger zu bleiben, bis meine Gesundheit ganz wiederhergestellt sein wird. Ich möchte gern ein Stück Land von Ihnen kaufen und mir eine Hütte darauf bauen.« »Ja, Monsieur?« Eine saure Höflichkeit war jetzt in der Stimme des hünenhaften Alten. »Aber ist es erlaubt zu fragen, warum Sie nicht im Wirtshaus bleiben? Die Küche ist dort ausgezeichnet, und Sie sind da gern gesehen.« »Ich bin gern allein«, erwiderte McKay. »Ich schätze es nicht, immer andere Leute in meiner Nähe zu haben. Ich würde es vorziehen, mein eigenes Stück Land zu haben und unter meinem eigenen Dach zu schlafen.« »Aber warum kommen Sie zu mir?« fragte Polleau. »Am anderen Seeufer gibt es viele Grundstücke, die Sie kaufen könnten. Drüben die Seite ist glücklich, aber diese ist es nicht. Aber, sagen Sie mir, welcher Teil meines Landes interessiert Sie?« »Dieser kleine Wald dort unten, links vom Bach«, sagte McKay und zeigte dorthin.
»Ah! Dachte ich mir's doch!« murmelte Polleau, und zwischen ihm und seinem Sohn ging ein Blick bitteren Verstehens hin und her. Er richtete seine düsteren Augen auf McKay. »Dieser Wald ist nicht zu verkaufen, Monsieur«, sagte er endlich. »Ich kann es mir leisten, für das, was ich möchte, einen guten Preis zu bezahlen«, sagte McKay. »Nennen Sie mir Ihre Forderung.« »Ich verkaufe nicht«, antwortete Polleau gleichmütig. »Um keinen Preis.« »Ach, kommen Sie«, lachte McKay, obwohl die Endgültigkeit der Antwort seine Hoffnungen sinken .ließ, »Sie haben mehrere Hektar, und das da unten sind nur ein paar Bäume: Ich kann es mir leisten, meine Launen zu befriedigen. Ich werde Ihnen den Gegenwert Ihres ganzen übrigen Landes dafür geben.« »Ich habe Sie gefragt, und Sie haben geantwortet, daß es nur ein paar Bäume sind«, sagte Polleau langsam, und der bärenstarke Sohn hinter ihm lachte plötzlich böse auf. »Aber es ist mehr als das, viel mehr als das. Und Sie wissen es; warum wollen Sie sonst einen hohen Preis dafür bezahlen? Ja, Sie wissen es – und Sie wissen auch, daß wir dieses Waldstück abholzen wollen, und möchten es gerne retten. Und wer hat Ihnen das alles gesagt?« Er knurrte die letzten Worte, und dabei stieß er sein Gesicht plötzlich so nahe an McKay heran, daß dieser unwillkürlich zurückwich. »Nur ein paar Bäume!« knurrte der alte Polleau. »Wer hat ihm gesagt, was wir vorhaben – he, Pierre?«
Wieder lachte der Sohn. Und bei diesem Lachen fühlte McKay ein Wiederaufflackern seines blinden Hasses. Doch beherrschte er sich und machte kehrt. Polleau hielt ihn zurück. »Monsieur«, sagte er. »Warten Sie. Treten Sie ein. Ich will Ihnen etwas sagen. Etwas zeigen. Und dann möchte ich Sie vielleicht etwas fragen.« Er trat beiseite und verbeugte sich mit roher Höflichkeit. McKay ging vorbei und betrat einen großen, ziemlich düsteren Raum, von dessen rauchgeschwärzten Deckenbalken Zwiebelschnüre und Kräuter und Räucherfleisch hingen. Auf einer Seite war ein großer, offener Kamin. Daneben saß Polleaus anderer Sohn, zusammengekauert und mit bandagiertem Kopf. Er blickte auf, und McKay sah, daß der Kopfverband das linke Auge verdeckte. Der Schlag der Kiefer, dachte McKay mit einer gewissen Befriedigung, war nicht wirkungslos gewesen. Der alte Polleau schritt hinüber zu seinem verletzten Sohn. »Sehen Sie«, sagte er und schob die Bandage wie eine Mütze über die Stirn zurück. McKay starrte entsetzt in eine leere, schwärzlich-blutige Augenhöhle. »Guter Gott, Polleau!« stieß er hervor. »Dieser Mann braucht ärztliche Behandlung. Ich habe meinen Wagen beim Wirtshaus; lassen Sie mich einen Arzt holen, der sich um die Wunde kümmert.« Der Alte schüttelte den Kopf, aber seine steinerne Miene schien sich zum erstenmal zu erweichen. Er zog den Verband wieder über die Verletzung. »Es heilt«, erklärte er. »Wir kennen uns in solchen Dingen aus. Sie haben gesehen, wie es dazu kam. Sie saßen in Ihrem Boot und schauten herüber, als der verfluchte Baum ihn nieder-
schlug. Das Auge war zerquetscht und lag auf seiner Wange. Ich habe es weggeschnitten. Nun verheilt die Wunde. Wir brauchen keinen Arzt.« »Er hätte die Birke nicht fällen sollen«, murmelte McKay mehr zu sich selbst. »Warum nicht?« fragte der alte Mann heftig. »Der Baum haßte ihn.« McKay starrte ihn an. Was wußte dieser alte Waldbauer? Die Worte stärkten seine tiefe, hartnäckige Überzeugung, daß alles, was er in jenem Gehölz gesehen und gehört hatte, wirklich geschehen war – kein Traum. Und Polleaus nächste Worte stärkten diese Überzeugung noch mehr. »Sie kommen als ein Abgesandter, sozusagen. Der Wald hat zu Ihnen gesprochen. Nun, dazu muß ich Ihnen etwas sagen. Seit vierhundert Jahren hat meine Familie in diesem Tal gelebt. Seit einem Jahrhundert gehört uns das Land hier um das Haus. Und immer haben die Bäume uns gehaßt – und wir sie. In all dieser Zeit haben wir gegen den Wald gekämpft. Mein Vater wurde von einem fallenden Baum erschlagen; mein älterer Bruder wurde von einem Baum verkrüppelt. Mein Großvater, auch er im Wald aufgewachsen, verirrte sich und kam nach zwei Tagen mit verwirrtem Geist zurück und phantasierte von Waldfrauen, die ihn verhext und verspottet und zuletzt in ein Sumpfdickicht gelockt hätten. In jeder Generation hat der Wald seinen Tribut von uns gefordert. Frauen und Männer hat er getötet oder zu Krüppeln gemacht.« »Unfälle«, sagte McKay. »Das ist kindisch, Polleau. Sie können nicht Bäume dafür verantwortlich machen.« »In Ihrem Herzen denken Sie anders«, versetzte Polleau. »Die Fehde ist uralt. Sie begann, als wir Sklaven waren, Leibeigene
der adeligen Herren. Damit wir kochen und uns im Winter warmhalten konnten, ließen sie uns das Reisig aufsammeln, die toten Äste und Zweige, die Tannenzapfen. Aber wenn wir einen Baum fällten, um uns und unsere Kinder zu wärmen, hängten sie uns oder peitschten uns aus, bis unsere Rücken rot vom Blut waren. Sie hatten ihre breiten Felder, die Herren, und wir mußten sie bestellen. Uns blieb der unfruchtbare, steinige Boden, wo nicht einmal die Bäume wachsen wollten. Und wenn die Bäume auf unsere armseligen Flecken Ackerland und Weide vordrangen, dann, Monsieur, mußten wir sie wachsen lassen – oder wir wurden ausgepeitscht oder in den Kerker geworfen oder gehängt. Sie drängten uns zurück, die Bäume. Sie stahlen unsere Felder und raubten unseren Kindern die Nahrung; sie warfen uns ihr dürres Reisig hin wie man dem Bettler einen Sou hinwirft; sie lockten uns mit Wärme, wenn die Kälte in unseren Knochen fraß – und sie trugen uns als baumelnde Früchte am Seilende des Waldhüters, wenn wir ihrer Lockung nachgaben. Jawohl, Monsieur, wir starben vor Kälte, damit sie leben konnten. Unsere Kinder starben Hungers, damit ihre Jungen Wurzelraum fanden! Sie verachteten uns, die Bäume. Wir starben, damit sie lebten; und wir waren Menschen! Dann kam die Revolution und brachte uns die Freiheit von der Leibeigenschaft. Nun waren wir die Herren! Dicke Stämme brüllten in unseren Herdfeuern, wenn die Winterkälte kam. Niemand kauerte mehr über der Asche von dürrem Reisig. Felder gediehen, wo die Bäume gewesen waren. Keiner brauchte mehr ihretwegen zu hungern, – und die Bäume wußten es, und sie haßten uns.
Aber Schlag für Schlag gaben wir ihren Haß zurück. Hundert von ihnen für jeden von uns. Mit Axt und Fackel haben wir sie bekämpft! Doch sie kommen immer wieder!« Polleaus Stimme überschlug sich in plötzlicher Erregung; in seinen Augen glühte rote Wut. »Die verfluchten Bäume! Sie kriechen vorwärts, immer näher, engen uns ein, erdrücken uns – ganze Armeen! Die verfluchten Bäume!« McKay war abgestoßen. Der alte Mann war vor Haß halb verrückt. Aber was steckte dahinter? Ein Instinkt des Waldbewohners, irgendeine Überlieferung von Vorvätern, die den Wald als ein Symbol der Unterdrückung gehaßt hatten? »Reg dich nicht auf«, sagte der gesunde Sohn und legte dem Alten eine Hand auf die Schulter. »Bald schlagen wir zu!« Etwas von der Erregung verließ Polleaus Gesicht. »Und wenn wir Hunderte von ihnen fällen«, murmelte er, »werden sie zu Hunderten zurückkehren! Aber wenn sie einen von uns erschlagen, kehrt er nicht zurück. Nein! Sie sind viele, und sie haben Zeit. Wir sind nur drei, und wir haben wenig Zeit. Sie beobachten uns, wenn wir durch den Wald gehen; sie warten ab, wachsam, bis sie uns erschlagen und zermalmen können! Aber wir schlagen zu, wie Pierre eben gesagt hat. Wir fällen das Gehölz, das Sie so gern kaufen möchten. Dort schlagen wir zu, weil es das Herz des Waldes ist. Wir wissen es – und Sie wissen es. So zeigen wir dem Wald, daß wir seine Herren sind.« »Die Frauen!« sagte Pierre mit glitzernden Augen. »Ich habe die Frauen dort gesehen! Die schönen weißen Frauen, die uns locken und verspotten und verschwinden, bevor Hände sie ergreifen können.« »Sie sollen nicht mehr spotten!« knurrte Polleau, erneut von Wut übermannt. »Bald werden sie sterben – alle miteinander.«
Er nahm McKay bei den Schultern und schüttelte ihn wie ein Kind. »Gehen Sie hin und sagen Sie ihnen das!« brüllte er. »Sagen Sie ihnen, daß wir noch heute anfangen werden. Sagen Sie ihnen, daß wir es sind, die im Winter lachen werden, wenn ihre runden weißen Leiber in unserem Herdfeuer knacken und uns wärmen. Gehen Sie hin – sagen Sie ihnen das!« Er drehte McKay um, schob ihn zur Tür, öffnete sie und gab ihm einen Stoß, daß er die Stufen hinuntertaumelte. McKay hörte den Sohn lachen. Blind vor Wut raste er die Stufen wieder hinauf und warf sich gegen die Tür. Der junge Mann lachte drinnen von neuem. McKay schlug mit den Fäusten gegen die verwitterte Tür und fluchte. Die drei kümmerten sich nicht um ihn. Verzweiflung begann seinen Zorn zu dämpfen. Konnten die Bäume ihm helfen, ihm Rat geben? Er drehte um und ging langsam den kleinen Pfad zurück. Er hatte versagt. Er war ein Bote, der die Botschaft des Todes zu überbringen hatte. Die Birken standen unbewegt; ihr Laub hing lustlos. Es war, als ob sie vom Mißlingen seines Vorhabens wüßten. Am Rand des Gehölzes blieb er stehen. Er blickte auf seine Uhr und bemerkte mit Erstaunen, daß es bereits Mittag war. Dem kleinen Wald war nur noch kurze Frist beschieden. Das Werk der Zerstörung würde nicht lange auf sich warten lassen. McKay riß sich zusammen und ging weiter. Um ihn her war es seltsam still. Alles Leben schien sich in sich selbst zurückgezogen zu haben. Er ging durch den schweigenden, trauernden Wald, bis er die Stelle erreichte, wo die gefällte Birke in den Armen der Föhre lag. Er legte seine Hände an den kühlen, glatten Stamm und flüsterte:
»Laß mich wieder sehen! Laß mich hören! Sprich zu mir!« Er blieb ohne Antwort, auch als er seine Bitte wiederholte. Der Wald schwieg. Er durchwanderte ihn, flüsternd, beschwörend. Die schlanken Birken standen und ließen die Zweige wie müde Arme hängen. Die Kiefern schienen wie hoffnungslose Männer zu kauern, die Köpfe in den Händen. Sein Herz schmerzte mit dem Leid, das den kleinen Wald erfüllte, mit der hoffnungslosen Schicksalsergebenheit der Bäume. Wann, so fragte er sich, würde Polleau anfangen? Wieder blickte er auf seine Uhr; eine Stunde war vergangen. Wie lange würde Polleau noch warten? Er ließ sich ins weiche Moos fallen, den Rücken an einen glatten Stamm gelehnt. Und auf einmal glaubte McKay, verrückt zu sein, nicht weniger verrückt als Polleau und seine Söhne. Schließlich waren diese Bäume – bloß Bäume. Für Polleau und seine Söhne aber waren sie zum Leben erwachte Symbole. Die alten Unterdrücker waren lange tot, aber die Bäume waren lebendig, Gegenstände eines Hasses, der so alt war wie der unaufhörliche Kampf des Primitiven gegen die Natur. Und er, McKay? Hatte seine Liebe und Sympathie für die Bäume nicht auch etwas krankhaft Übersteigertes? Hatte er sich nicht seine eigene Märchengeschichte zurechtgemacht? Die Bäume trauerten nicht wirklich, konnten nicht seelisch leiden, konnten nicht – wissen. Er hatte seine eigene Trauer auf sie projiziert. Diese Bäume waren nur – Bäume. Bei diesem Gedanken bemerkte er, daß der Stamm an seinem Rücken zitterte; daß alle Bäume des kleinen Waldes zitterten; daß alle Blätter in Bewegung gerieten und leise raschelten.
Überrascht sprang er auf. Sollte das eine Antwort sein? Die Vernunft sagte ihm, daß es der Wind war – doch kein Lüftchen regte sich! Und während er dastand, erhob sich ein Seufzen, als ob eine traurige Brise durch die Wipfel wehte – und wieder mußte er sich eingestehen, daß es nicht der Wind sein konnte! Lauter wurde das Seufzen und ein schwaches Jammern klang wie: »Sie kommen! Sie kommen! Lebt wohl, Schwestern!« McKay begann durch das Gehölz zu dem Pfad zu rennen, der zum Haus hinaufführte. Und während er rannte, verdunkelte sich der Wald, als ob riesenhafte, unsichtbare Schwingen über ihm schwebten. Das Zittern der Bäume verstärkte sich; Zweig berührte Zweig, Blätter liebkosten einander; und lauter wurde der klagende Ruf: »Lebt wohl, Schwestern!« McKay brach ins Freie hinaus. Auf halbem Weg zwischen ihm und der Hütte waren Polleau und seine Söhne. Sie sahen ihn; sie zeigten herüber und hoben spottend ihre blitzenden Äxte. Er blieb stehen und wartete auf sie. Alle Vernunft war vergessen, und in ihm stieg dieselbe Wut hoch, die ihn vor Stunden zum Haus hinaufgejagt hatte. So wartend, hörte er ein Brüllen und Tosen von den waldigen Bergen. Aus allen Richtungen kam es, zornig und bedrohlich wie die Stimmen von Legionen gewaltiger Bäume, brüllend durch die Hörner des Sturms. Der Lärm machte McKay wild, entfachte die Flamme seines Zorns zur Weißglut. Wenn die drei Männer das Tosen der Wälder hörten, so gaben sie es nicht zu erkennen. Sie kamen näher, die langen Holz-
fälleräxte geschultert, und schienen spöttische Bemerkungen über ihn zu machen. McKay eilte ihnen entgegen. »Zurück!« rief er. »Kehren Sie um, Polleau! Ich warne Sie!« »Er warnt uns!« höhnte Polleau. »Habt ihr gehört, Pierre, Jean? Er warnt uns!« Der lange Arm des alten Bauern schoß vor, und seine Hand packte McKays Schulter mit einem Griff, der bis auf die Knochen ging. Der Arm spannte sich und schleuderte ihn gegen den unverletzten Sohn. Dieser fing McKay auf, riß ihn wieder herum und warf ihn sechs oder sieben Meter weit ins Unterholz am Rand des Wäldchens, wo er krachend zwischen Stauden und Brombeerranken landete. McKay rappelte sich hoch, sprang heulend wie ein Wolf auf die Füße. Der Lärm des Waldes hatte weiter zugenommen. »Töte!« brüllte er in McKays Ohren. »Töte!« Pierre holte mit seiner Axt aus und schlug sie in den Stamm einer Birke, durchtrennte ihn mit diesem einen Hieb zur Hälfte. McKay hörte einen vielstimmigen Jammerlaut aus dem kleinen Wald. Bevor Pierre die Axt herausziehen und erneut ausholen konnte, knallte McKays Faust in sein Gesicht. Polleaus Sohn geriet für einen Moment aus dem Gleichgewicht; sein Kopf flog zurück; er japste und ließ den Axtstiel los. Dann, bevor McKay wieder zuschlagen konnte, hatte der junge Polleau seine starken Arme um ihn gelegt und preßte ihm den Atem aus den Lungen. McKay entspannte seinen Körper, erschlaffte, und sein Gegner lockerte die Umklammerung. Sofort glitt McKay heraus, schlug erneut zu und sprang seitwärts weg, um der rippenbrechenden Umarmung zu entgehen. Der andere war schneller; die langen Arme fingen ihn, aber als sie McKay in den Schwitzkasten nahmen, gab es ein hell splitterndes Geräusch, und die von der
Axt getroffene Birke kippte. Sie schlug unmittelbar hinter den Ringenden auf den Boden. Ihre Zweige schienen sich zu strecken und die Füße des jungen Polleau zu fassen. Er stolperte und fiel rückwärts, McKay auf ihn. Der Aufprall lockerte seinen Griff, und wieder konnte McKay sich herauswinden. Wieder kam er auf die Füße, und wieder stand Polleaus Sohn schnell ihm gegenüber. Zweimal trafen McKays Fäuste ihr Ziel unter dem Herzen des anderen, bevor die langen Arme ihn erneut fingen. Aber ihr Zupacken hatte nicht mehr die mörderische Kraft; McKay fühlte, daß seine Kräfte nun ebenbürtig waren. Sie stampften herum, fielen und wälzten sich übereinander, Arme und Beine ineinander verkrampft, jeder bemüht, eine Hand freizubekommen und den anderen an der Gurgel zu packen. Polleau und der einäugige Sohn rannten um die Kämpfenden herum und riefen Pierre Anfeuerungen zu, aber keiner wagte McKay zu schlagen, weil er fürchten mußte, den Bruder oder Sohn zu treffen. Und die ganze Zeit hörte McKay den kleinen Wald rufen. Verschwunden war alle Traurigkeit, alle passive Resignation. Der Wald war lebendig und tobte. McKay sah die Bäume sich schütteln und beugen wie im Sturm. Undeutlich wurde ihm bewußt, daß die anderen nichts davon sahen und hörten. Ebenso unklar wunderte er sich darüber. »Töte!« rief der Wald, und durch den vielstimmigen Tumult hörte McKay das dumpfe Tosen der großen Wälder: »Töte! Töte!« Er sah zwei schemenhafte Figuren, gespenstische Erscheinungen von dunklen, grüngekleideten Männern, die sich nahe herandrängten, während er sich im Kampf wälzte.
»Töte!« wisperten sie. »Laß sein Blut fließen! Töte! Laß sein Blut fließen!« Er riß sein Handgelenk aus Pierres hartem Griff. Sofort fühlte er das Heft eines Messers in seiner Hand. »Töte!« wisperten die schattenhaften Männer. »Töte!« schrien die Birken. »Töte!« tosten die Wälder. McKays freier Arm fuhr hoch und stieß das Messer in die Kehle des jungen Polleau. Er hörte einen erstickten Schrei, hörte den Alten aufbrüllen, fühlte das heiße Blut in sein Gesicht und über die Hand spritzen. Die Arme des anderen fielen von ihm ab. McKay taumelte hoch. Als hätte das Blut eine Brücke geschlagen, sprangen die Schemen der Grüngekleideten von der Gestaltlosigkeit in die Substanz. Einer warf sich auf den Mann, den McKay erstochen hatte, der andere sprang den alten Polleau an. Der einäugige Jean machte kehrt und floh, heulend vor Entsetzen. Eine weiße Frau sprang aus dem Schatten, warf sich vor seine Füße, hielt sie fest und brachte ihn zu Fall. Eine zweite und eine dritte Frau fielen auf ihn. Sein Kreischen verendete wimmernd und brach plötzlich ab. Und dann konnte McKay keinen der drei mehr sehen, weder den alten Polleau noch seine Söhne, denn die grüngekleideten Männer und die weißen Frauen bedeckten sie jetzt! McKay stand stumpfsinnig und starrte auf seine roten Hände. Das Tosen der Wälder war zu einem tiefen, triumphierenden Gesang geworden. Das Gehölz jubelte vor Freude. Die Bäume waren zu dünnen Phantomen geworden, eingeätzt in die smaragdgrün durchsichtige Luft, wie sie es gewesen waren, als der grüne Zauber ihn das erste Mal umgarnt hatte. Und überall
um ihn her schwebten und tanzten die schlanken, schimmernden Feen des Waldes. Sie umringten ihn, und ihr Gesang war jubilierend wie Vogelgezwitscher. Er sah die Frau aus der Nebelsäule auf ihn zugleiten. Ihre Arme waren ausgestreckt, ihre seltsamen großen Augen blickten verzückt, ihr weißer Körper schimmerte wie die Ausstrahlung des Mondes. Der tanzende, singende Kreis öffnete sich. Entsetzen befiel McKay. Nicht vor dieser Frau, nicht vor ihren jubelnden Schwestern, sondern vor ihm selbst. Er hatte getötet. Und die Wunde, die der Krieg in seiner Seele hinterlassen hatte, die er verheilt glaubte, öffnete sich. Er stürzte davon, stieß die weißschimmernde Frau mit seinen blutbeschmierten Händen weg und rannte schluchzend zum Seeufer. Der Gesang endete. Er hörte kleine Rufe, zärtlich und bittend, kleine Rufe des Mitleids; weiche Stimmen, die ihn baten, stehenzubleiben, zurückzukommen. Hinter ihm war das Geräusch kleiner laufender Füße, leicht wie der Fall von Blättern auf das Moos. McKay rannte weiter. Das Gehölz lichtete sich, das Ufer war vor ihm. Er hörte einen letzten leisen Ruf, fühlte eine leichte Hand auf seiner Schulter. Er kümmerte sich nicht darum. Er raste über den schmalen Uferstreifen, stieß sein Boot hinaus ins Wasser, watete ihm nach und warf sich hinein. Schluchzend lag er einen Moment auf der Ruderbank, dann zog er sich hoch und ergriff die Riemen. Er blickte zurück zum Ufer, das nun zehn oder fünfzehn Meter entfernt war. Am Rand des Gehölzes stand die Frau und starrte ihm mit mitleidigen, weisen Augen nach. Neben ihr drängten sich die weißen Gesichter ihrer Schwestern, die dunklen, borkigen Gesichter der grüngekleideten Männer.
»Komm zurück!« flüsterten sie und reckten ihre schlanken Arme. McKay zögerte. Unter diesen klaren, weisen, mitleidigen Blicken verflog sein Entsetzen. Er schwang das Boot halb herum. Er sah seine blutigen Hände, und wieder überschwemmte ihn eine Woge der Hysterie. Er hatte nur noch einen Gedanken: Weg von dem Ort, wo Polleaus Sohn mit aufgeschlitzter Kehle lag. Den Kopf geneigt, beugte McKay sich über die Riemen und ruderte rasch hinaus auf den See. Als er wieder aufblickte, hing eine Dunstschicht zwischen ihm und dem Ufer. Sie verbarg den kleinen Wald. Bald begann sich der Dunst zu Nebel zu verdichten und verhüllte Ufer und Wirtshaus. McKay dankte diesem Nebel, der ihn gegen Tote und Lebende abschirmte. Er ließ das Boot treiben, beugte sich hinaus und wusch das Blut von seinen Händen. Er schrubbte die Handgriffe der Riemen, wo seine Finger rote Flecken hinterlassen hatten. Er riß das Futter aus seiner Jacke, tauchte es in den See und reinigte Gesicht und Hals. Er wickelte die blutgetränkte Jacke mit dem Futterstoff um den Ankerstein des Bootes und versenkte sie im See. Blutflecken waren auch auf seinem Hemd; er wusch sie aus, so gut er konnte. Eine Zeitlang ruderte er ziellos im Kreis umher, hoffte, daß sein Hemd trockne und die körperliche Anstrengung seine Seelenqual mindere. Sein betäubter Verstand begann langsam wieder zu arbeiten. Er überdachte die Situation und überlegte, wie er sich retten könnte. Was sollte er machen? Bekennen, daß er Polleaus Sohn umgebracht hatte? Welchen Grund konnte er angeben? Er hatte getötet, weil der Mann im Begriff gewesen war, einige Bäume
zu fällen – Bäume, die seinem Vater gehörten und mit denen er tun konnte, was er wollte! Und wenn er von den feenhaften Frauen des Waldes und ihren grünen Beschützern erzählte, die ihm geholfen hatten – wer würde ihm glauben? Sie würden ihn für geistesgestört halten. Nein, niemand würde ihm glauben. Kein Mensch! Da aber ein Geständnis den Ermordeten nicht zum Leben erwecken konnte; war es vielleicht besser, gar nichts zu sagen. Aber – ein neuer Gedanke kam auf! – konnte er nicht beschuldigt werden? Was war tatsächlich mit dem alten Polleau und seinem zweiten Sohn geschehen? Er hatte ihren Tod für eine gegebene Tatsache gehalten. Aber waren sie wirklich unter diesen weißen und grünen Körpern gestorben? Solange der grüne Zauber ihn in seinen Bann geschlagen hatte, war er überzeugt davon gewesen – warum sonst das Jubilieren des kleinen Waldes, der Triumphgesang der weiten Wälder? Alles, worauf er sich wirklich verlassen konnte, war, daß er einem von Polleaus Söhnen die Kehle durchstoßen hatte. Das war die einzige, unumstößliche Wahrheit. Er hatte das Blut dieses Mannes von seinen Händen gewaschen. Alles andere mochte Zauber gewesen sein, Sinnestäuschung – aber eins war unwiderleglich: er hatte Polleaus Sohn ermordet! Reue? Er verspürte keine Reue über seine Tat. Er hatte in Panik gehandelt, im Rausch des Kampfes. Welches Recht hatten diese Männer gehabt, den kleinen Wald zu zerstören? Mutwillig seine stille Schönheit auszulöschen? In diesem Moment wäre McKay gern zurückgekehrt, um sich von den Armen der Waldfrauen trösten zu lassen. Aber die Abendnebel stiegen. Er sah, daß er dem Landesteg beim Wirts-
haus nahe war. Niemand war zu sehen. Der Augenblick schien günstig. Es war an der Zeit, die letzten anklagenden Flecken zu entfernen. Schnell legte er an, band das Boot fest, schlüpfte ungesehen hinauf in sein Zimmer. Er sperrte die Tür ab und kleidete sich aus. Dann überrollte ihn plötzlich die Müdigkeit und zog ihn hilflos hinab in die Tiefen des Schlafs. Ein Klopfen weckte McKay, und die Stimme des Wirts fragte, ob er nicht zum Abendessen kommen wolle. Schläfrig antwortete er, und als die Schritte des alten Mannes verklungen waren, rappelte er sich auf. Sein Blick fiel auf das Hemd und die großen, nun bräunlich-verwaschenen Flecken. Verblüfft starrte er darauf, dann kam die Erinnerung, und mit ihr das niederdrückende Bewußtsein seiner Tat. Er ging zum Fenster. Es war fast dunkel. Der Wind blies, und die Bäume sangen eine fröhliche Abendvesper. Fort war alles Unbehagen, fort war die unartikulierte dumpfe Furcht. Der Wald war ruhig, und er war glücklich. McKay versteckte das befleckte Hemd in seinem Reisekoffer, wusch sich gründlich und zog frische Kleider an. Dann ging er hinunter in die Wirtsstube. Er aß mit gutem Appetit. Dann und wann ging ein Wundern durch seine Gedanken, daß er kein Bedauern fühlte, nicht einmal Mitleid mit dem Mann, den er getötet hatte. Er war beinahe geneigt, alles für einen Traum zu halten. Sein Geist war ruhig; er hörte den Wald singen, daß er nichts zu fürchten habe; und als er später auf dem Balkon saß, ging von den murmelnden Wäldern ein Friede auf ihn über, der halb Ekstase war. Eingewiegt von diesem Frieden, schlief er traumlos.
Am folgenden Tag entfernte McKay sich nicht weit vom Wirtshaus. Der kleine Wald tanzte fröhlich und lud ihn ein, aber er achtete nicht darauf. Etwas flüsterte ihm zu, abzuwarten und den See zwischen ihm und dem Schauplatz seiner Tat zu lassen. Doch noch immer war Friede in ihm. Nur der alte Gastwirt schien unruhig zu werden, als der Tag dahinging. Mehrmals ging er zum Steg und spähte über den See. »Es ist sonderbar«, sagte er schließlich zu McKay, als die Sonne hinter die Bergkämme tauchte. »Polleau wollte heute herüberkommen. Er hat noch immer Wort gehalten. Wenn er einmal nicht kommen konnte, schickte er einen seiner Söhne.« McKay nickte achtlos. »Da ist noch etwas, das ich nicht verstehe«, fuhr der alte Mann fort. »Den ganzen Tag habe ich keinen Rauch von der Hütte aufsteigen sehen. Es ist, als ob sie nicht da wären.« »Wo könnten sie sein?« fragte McKay. »Ich weiß es nicht.« Die Stimme klang beunruhigt. »Ich mache mir Sorgen. Polleau ist ein grober Kerl, ja, aber er ist mein Nachbar. Vielleicht ein Unfall…« »Sie würden Ihnen Bescheid geben, wenn etwas nicht in Ordnung wäre«, sagte McKay. »Vielleicht, aber …« Der alte Mann zögerte. »Wenn er morgen nicht kommt und ich wieder keinen Rauch sehe, werde ich hingehen«, endete er. McKay verspürte einen kleinen Schock. Morgen also würde er wissen, definitiv wissen, was in dem kleinen Wald geschehen war. »Richtig«, sagte er. »Das würde ich an Ihrer Stelle auch tun. Schließlich – nun, Unfälle kommen vor.«
»Werden Sie mit mir gehen?« fragte der Wirt. »Nein!« wisperte die warnende Stimme in McKay. »Nein! Geh nicht!« »Ich glaube nicht«, sagte er laut. »Ich habe zu schreiben. Aber sollten Sie mich brauchen, schicken Sie nach mir. Dann werde ich natürlich kommen.« Und diese Nacht schlief er wieder traumlos und tief, während der rauschende Wald über ihn wachte. Der Vormittag verging ohne ein Lebenszeichen vom anderen Ufer. Eine Stunde nach dem Mittagessen sah McKay den alten Wirt und seinen Hausknecht über den See rudern. Und plötzlich war seine Selbstbeherrschung erschüttert, geriet seine heitere Sicherheit ins Wanken. Er holte seinen Feldstecher und beobachtete die beiden Männer, bis sie das Boot an Land gezogen und das Gehölz betreten hatten. Sein Herz klopfte heftig, seine Hände schwitzten, seine Lippen waren trocken. Er konnte seine Augen nicht mehr vom jenseitigen Seeufer abwenden. Wie lange waren sie schon im Wald? Eine Stunde mußte schon vergangen sein! Was hatten sie gefunden? Er sah ungläubig auf seine Uhr; weniger als fünfzehn Minuten waren vergangen. Langsam vertickten die Sekunden. Und es dauerte tatsächlich annähernd eine Stunde, bis sie wieder zum Vorschein kamen und das Boot ins Wasser schoben. McKay, dessen Kehle seltsam trocken war und dessen Pulsschlag laut in seinen Ohren hämmerte, riß sich zusammen; zwang sich, gemächlich zum Steg hinunterzuschlendern. »Alles in Ordnung?« fragte er, als das Boot längsseits glitt. Sie antworteten nicht, aber als die Bootswand an den Pfählen
scheuerte, blickten sie zu ihm auf, und in ihren Gesichtern waren Schrecken und ein großes Staunen. »Sie sind tot«, wisperte der Wirt. »Polleau und seine zwei Söhne – alle tot!« McKays Herz tat einen großen Sprung, und mit der Erleichterung befiel ihn eine plötzliche Schwäche. »Tot!« rief er. »Was tötete sie?« »Was sonst als die Bäume!« antwortete der alte Mann, und McKay fühlte seinen Blick seltsam auf sich ruhen. »Die Bäume töteten sie. Sehen Sie – wir gingen den kleinen Pfad durch den Wald, und am oberen Ende fanden wir ihn von gefallenen Bäumen versperrt. Viele Fliegen summten um diese Bäume, darum suchten wir dort. Polleau und seine Söhne lagen unter ihnen. Eine Kiefer war auf Polleau gestürzt und hatte seine Brust eingedrückt. Jean lag unter einer anderen Kiefer und mehreren Birken. Die Bäume hatten seinen Rücken gebrochen, und ein Auge war herausgerissen – aber das war keine neue Wunde. Er hielt inne. »Es muß eine Windbö gewesen sein, ein jäher Wirbelwind«, sagte der Hausknecht. »Aber ich habe noch nie einen Wind erlebt, wie dies einer gewesen sein muß. Keine Bäume waren gefallen, außer denen, die auf ihnen lagen. Und diese sahen aus, als ob sie aus der Erde gesprungen wären! Ja, als ob sie sich aus dem Grund gerissen hätten und auf sie gesprungen wären. Oder als ob Riesen sie ausgerissen hätten, um sie als Keulen zu gebrauchen. Sie waren nicht abgebrochen – ihre Wurzeln lagen frei.«
»Aber der andere Sohn – Polleau hatte doch zwei, nicht?« Sosehr er sich bemühte, McKay konnte das Beben seiner Stimme nicht verbergen. »Pierre«, sagte der alte Mann, und wieder fühlte McKay diesen seltsamen Blick. »Er lag unter einer Kiefer. Seine Kehle war zerrissen.« »Kehle – zerrissen –« flüsterte McKay. Sein Messer! Das Messer, das die Schattengestalten ihm in die Hand gegeben hatten! »Seine Kehle war zerrissen«, wiederholte der Gastwirt. »Und in ihr steckte noch der abgebrochene Zweig, der es getan hat. Ein abgebrochener Zweig, spitz wie ein Messer. Er muß Pierre getroffen haben, als die Kiefer stürzte, und dann abgebrochen sein.« McKay stand da, und wilde Mutmaßungen schössen durch seinen Kopf. »Unglaublich!« murmelte er mit weißen Lippen. »Ein abgebrochener Zweig, sagten Sie?« »Ja, ein abgebrochener Zweig.« Die Augen des Gastwirts betrachteten ihn forschend, dann wandte er sich an seinen Hausknecht. »Du kannst schon hineingehen, Jacques.« Er sah dem Mann nach, bis dieser außer Sicht war, dann sagte er mit gedämpfter Stimme: »Es war alles ziemlich klar – wie er ums Leben kam. Doch ganz klar war es auch nicht, denn in Pierres Hand fand ich – dies.« Er zog einen Knopf aus der Tasche, an dem ein Stoffetzen hing. Beide stammten von der blutigen Jacke, die McKay im See versenkt hatte. Der junge Polleau mußte sie abgerissen haben, als der Tod ihn traf! McKay wollte etwas sagen, aber er fand keine Worte. Der alte Mann hob seine Hand. Knopf und Stoffetzen fielen aus
seinen Fingern ins Wasser, wurden von den kleinen Wellen hin und her bewegt und versanken langsam. Die beiden Männer sahen schweigend zu, bis es nichts mehr zu sehen gab. »Erzählen Sie mir nichts«, sagte der Gastwirt ruhig. »Polleau war ein harter Mann, und harte Männer waren auch seine Söhne. Die Bäume haßten sie. Die Bäume töteten sie. Und nun sind die Bäume glücklich. Das ist alles. Und das – Souvenir ist fort. Ich habe vergessen, daß ich es sah. Nur würde M'sieu gut daran tun, zu gehen.« Am gleichen Abend packte McKay seinen Koffer. Als der Morgen kam, stand er an seinem Fenster und blickte lange zu dem kleinen Wald hinüber. Er war am Erwachen, regte sich leise und schläfrig unter dem Vogelgezwitscher in seinen Wipfeln. McKay trank die Schönheit des kleinen Gehölzes in sich hinein – zum letztenmal. Er winkte ein Lebewohl. Dann frühstückte er gut und reichlich. Er verstaute seinen Koffer, setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Der alte Gastwirt und seine Frau, wie immer besorgt um seine Wohlfahrt, wünschten ihm eine gute Reise. Auf ihren Gesichtern waren Wohlwollen und uneingeschränkte Freundlichkeit – und in den Augen des alten Mannes etwas von verwirrter Ehrfurcht. Seine Straße führte durch den dichten Wald. Bald lagen Wirtshaus und See weit hinter ihm. Und ein Gesang begleitete McKay, weiches Wispern von Laub folgte ihm, feierlich-froher Gesang von nadeligen Fichten und Tannen; die zärtliche, freundliche Stimme des Waldes, der als Abschiedsgeschenk seinen Frieden, sein Glück, seine Kraft in ihn goß.
H. R. WAKEFIELD
Das Gespensterschloß H. Russell Wakefield gilt vielen als der größte lebende Vertreter der traditionellen Geistergeschichte. Obwohl einige seiner Bücher in den Vereinigten Staaten erschienen, ist er in England weit besser bekannt, wo er mehrere Romane, Novellen und auch Sachbücher über Kriminologie veröffentlichte. Sein jüngster und letzter Novellenband ›Strayers from Sheol‹ erschien 1961 bei Arkham House, denn er ist inzwischen verstorben, aber es wird ein Nachlaßband vorbereitet. In diesem Band heißt es: »Ich habe meine letzte Gespenstergeschichte geschrieben … Ich glaube, das Schreiben von Gespenstergeschichten ist eine aussterbende Kunst.« Die Schuld gab er der zunehmenden Wissenschaftsgläubigkeit. Gleichzeitig vertrat er aber die Ansicht, daß »der Mensch ohne die Verwirrung und Furcht außergewöhnlicher psychischer Erfahrung besser daran und sein geistiger Fortschritt rascher« sei. Er bezweifelte, daß Telepathie, sollte sie jemals eine allgemein zugängliche Möglichkeit werden, der Menschheit nützen könne, »… denn abgesehen von ihrer wahrscheinlich zerstörerischen Wirkung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen könnte sie uns in Kontakt mit den Geistern Verstorbener bringen, und der Fortschritt liegt nicht in dieser Richtung.« ›Das Gespensterschloß‹ ist für eine so kurze Erzählung ein bemerkenswertes Werk. Sie gründet so glaubwürdig auf grundlegenden Menschheitsängsten und verwendet so wenig Raum auf Ausschmückungen, daß sie als eine der wirklich großen Geistergeschichten angesehen werden muß.
Nun, der Kerl schien sich wirklich auszukennen, dachte Mr. Cort bei sich. Erste Abzweigung rechts, dann die zweite links, schmiedeeisernes Tor. Dieser Idiot in Wendover, schickt mich sechs Meilen in die falsche Richtung. Hoffentlich erfriert er sich dafür die Füße! Und dazu dieses kalte Wetter. In England hat es das seit Jahren nicht gegeben. Er fürchtete, sein Ziel nicht vor Dunkelwerden zu erreichen und trat aufs Gaspedal, bis der Wagen halsbrecherisch über die vereiste, ausgefahrene Landstraße schlingerte. Dann sah er die Gabelung, bekam eben noch die Kurve und holperte langsamer weiter, bog bei der zweiten Kreuzung nach links ein – und da war das Tor. Er stieg aus, öffnete die Flügel und fuhr vorsichtig eine schmale, gewundene Zufahrt hinauf. Diese Hecken hätten schon lange beschnitten werden müssen, dachte er, und die Zufahrt gehörte ausgebessert – voller Schlaglöcher; würde aber einiges Geld kosten. Der Fahrweg stieg steil an und zog nach rechts hinüber, und auf einmal endeten die hohen Hecken, und Mr. Cort hielt vor Schloß Lorn. Er stieg aus, rieb seine Hände, stampfte mit den Füßen und blickte umher. Schloß Lorn – eigentlich war es nur ein besseres Herrenhaus – lag in halber Höhe auf einem Hügelausläufer, und wie der Immobilienmakler sich ausgedrückt hatte, »überblickte es weite Ländereien.« Man sah ihm sein Alter an, fand Mr. Cort, oder vielmehr seine Zeitalter, denn die plumpen Doppelkamine aus Cromwells Zeiten lagen im Streit mit dem schlechten Barock aus Königin Annes Tagen. Am Giebel konnte er die Jahreszahl 1703 ausmachen. Und dieser ganze Flügel mußte wenigstens hundert Jahre jünger sein als der Rest.
»Ein großer Besitz«, murmelte er. »Und gut erhalten. Für siebentausend Pfund ein unwahrscheinlich günstiger Kauf; kann ich nicht verstehen.« Und dann drehte er sich um und prüfte die Aussicht über die »weiten Ländereien«. Die alten Bäume waren in glühende Farben getaucht, als die untergehende Sonne rot hinter fernen Hügelketten versank. Das Tal von Aylesbury träumte unter einer langsam sich verdichtenden Nebelbank. Die runden Hügelkuppen mit ihren grauviolett und rosa gefärbten Waldstücken lagen noch im tiefen Widerschein der letzten Strahlen. Es ist wie eine Traumwelt, dachte Mr. Cort, angetan von der stillen Schönheit. Aber das Haus ist ein bißchen zu einsam und isoliert. Und so wie die Nebel steigen, werde ich eine lange Rückfahrt haben. Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und ging drei Stufen hinauf und steckte ihn ins Schlüsselloch der massiven Eichentür. Als er sich noch einmal umwandte, war die Sonne untergegangen, und das Land lag in graublauen Schatten. Die Dämmerung vertiefte sich rasch. Er stieß die Tür auf, trat ein und blickte in absolute Finsternis. Die Tür schwang zu und schloß sich hinter ihm. Dies mußte die »palastartige, getäfelte Halle« sein, die der Makler beschrieben hatte. Er mußte ein Streichholz anzünden und die Lichtschalter suchen. Ohne Erfolg wühlte er in seinen Taschen, und dann durchsuchte er sie noch einmal. Er dachte einen Moment nach. Ich muß sie im Wagen liegen gelassen haben, vermutete er. Er wandte sich um und tastete sich die paar Schritte zur Tür zurück und blieb dann abrupt stehen, denn ihm war, als ob etwas an ihm vorbeigeschlüpft sei. Aber es war nichts zu hören. Er streckte seine Hände aus, um die Tür zu finden – und berührte eine Stuhllehne, samtbezogen. Er bewegte sich links daran
vorbei und stieß gegen eine Wand. Er änderte die Richtung, ging am Stuhl vorbei zurück und stand wieder vor der Wand. Er kehrte zum Stuhl zurück, setzte sich und durchsuchte noch einmal seine Taschen, diesmal gründlicher und sorgfältiger. Nun, es war kein Grund zur Aufregung; früher oder später mußte er die Tür finden. Er dachte nach: Als er hereingekommen war, war er geradeaus gegangen, drei Meter vielleicht; aber er konnte nicht gerade zurückgegangen sein, weil er auf diesen Stuhl gestoßen war. Die Tür mußte ein wenig weiter rechts oder links sein. Probierte er beide Möglichkeiten aus, mußte er die Tür finden. Er wandte sich zuerst nach links und geriet in eine schmale kleine Passage; mit ausgestreckten Armen konnte er beide Wände fühlen. Nun, dann mußte er es rechts versuchen. Er tat es und lief gegen eine Wand. Er tastete sich daran entlang, und wieder war es, als ob etwas an ihm vorbeihuschte. Er überlegte, ob es in dieser Halle Fledermäuse gab, – und dann war er wieder beim Stuhl angelangt. Rachel würde sich totlachen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte. Bestimmt hatte er irgendwo ein einzelnes Streichholz. Er zog seinen Mantel aus und befühlte jeden Taschensaum an seinem Anzug, und dann tat er dasselbe mit dem Mantel, bevor er ihn wieder anzog. Nichts. Er mußte es eben noch einmal probieren. Er beschloß, der Wand zu folgen. Er tat es und geriet in eine schmale Passage, vermutlich in einen abzweigenden Korridor. Plötzlich schoß seine rechte Hand vor, denn er hatte den Eindruck, daß etwas ganz leicht sein Gesicht streifte. Diese Fledermäuse werden allmählich lästig, dachte er, und dieser ganze verdammte Raum auch. Ein nervöserer Typ könnte in Panik geraten, aber das wollte er unbedingt vermeiden. Ah, da war wieder der Stuhl. Nun werden wir die Wand in der anderen Richtung untersuchen. Die Wand schien kein Ende zu nehmen,
also kehrte er um und ging, bis er den Stuhl fand. Er setzte sich wieder und pfiff resigniert einen kleinen Gassenhauer. Was für ein Echo! Das kleine Lied wurde wild, beinahe drohend zurückgeschleudert. Ja, drohend, das war genau das panikerzeugende Wort, das ein nervöser Mensch gebrauchen würde. Nun, diesmal war wieder die linke Seite an der Reihe. Als er aufstand, fächelte ein kurzer kalter Luftzug sein Gesicht. »Ist jemand da?« fragte er. Er hatte seine Stimme absichtlich nicht erhoben – es war nicht nötig, zu brüllen. Natürlich antwortete niemand. Wer hätte auch antworten sollen, wo doch der Hausverwalter nicht da war? Er mußte die Sache ganz logisch durchdenken. Beim Eintreten war er genau geradeaus gegangen, und dann, auf dem Rückweg, mußte er ein wenig abgewichen sein; folglich – nein, sein Orientierungssinn begann sich zu verwirren. In diesem Moment hörte er das Pfeifen eines Zuges und fühlte sich ermutigt. Die Strecke von Wendover nach Aylesbury verlief halblinks von der Eingangstür, also mußte diese ungefähr dort sein – er zeigte mit dem Finger, stand auf, tastete sich vorwärts und kam in einen kleinen schmalen Korridor. Nun, jetzt mußte er umkehren und dann nach rechts gehen. Er tat es, und etwas schien dicht an ihm vorüberzuhuschen, und dann fühlte er den Samtbezug der Stuhllehne unter seinen Fingern. Ein Labyrinth ist nichts dagegen, seufzte er. Und dann murmelte er: »Diese verfluchte, gottverlassene Ruine!« Eine alberne, panische Reaktion, tadelte er sich gleich darauf – beinahe so schlimm wie lautes Rufen. Gut, es hatte offensichtlich keinen Sinn, weitere Versuche zu machen; er konnte die Tür nicht mehr finden. Er fand sie einfach nicht. Es blieb also nichts übrig, als sich auf den Stuhl zu setzen und auf den Morgen zu warten. Er setzte sich.
Es war völlig still. Seine Hände fingen wieder an, in den Taschen zu wühlen. Ganz still – bis auf ein wisperndes Geräusch irgendwo dort drüben. Was konnte es sein? Der Hausmeister war fort. Er drehte seinen Kopf ein wenig und lauschte angestrengt. Es klang beinahe, als ob dort mehrere Leute miteinander flüsterten. In alten Häusern gab es schon komische Geräusche! Wie absurd es war! Der Stuhl konnte nicht weiter als drei oder vier Meter von der Tür entfernt sein. Daran gab es keinen Zweifel. Sie mußte etwas mehr auf der rechten oder der linken Seite sein. Er wollte es noch mal mit der linken Seite probieren. Er stand auf, und etwas streifte leicht sein Gesicht. »Ist jemand da?« fragte er, und diesmal wußte er, daß er es laut gerufen hatte. »Wer hat mich angefaßt? Wer flüstert da? Wo ist die Tür?« Was für ein nervöser Dummkopf er war, so herumzubrüllen; aber vielleicht hatte ihn draußen jemand gehört. Er tastete sich wieder vorwärts und berührte eine Wand. Er folgte ihr, berührte sie mit seinen Fingerspitzen, und da war eine Öffnung. Die Tür! Es mußte die Tür sein! Und er kam wieder in einen schmalen kleinen Korridor. Er drehte um und rannte zurück. Und dann erinnerte er sich! Er hatte ein Zündholzkärtchen in seinem Notizbuch! Wie blödsinnig von ihm, das zu vergessen! Dieses lächerliche Herumtappen. Ja, da waren die Zündhölzer; aber seine Hände zitterten, und das Kärtchen fiel durch seine Finger. Er fiel auf die Knie und begann am Boden zu suchen. »Es muß hier liegen, ganz in der Nähe; es kann nicht weit sein …« Und dann wurde etwas Eiskaltes und Feuchtes gegen seine Stirn gedrückt. Er warf sich vorwärts, um es zu ergreifen, aber nichts war da. Und dann sprang er auf die Füße und schrie, während Tränen über sein Gesicht liefen: »Wer ist da? Helft mir! Rettet mich!« Und dann begann er mit vorgestreckten
Armen im Kreis herumzulaufen. Zuletzt stolperte er gegen etwas – den Stuhl, und etwas berührte ihn im Vorbeihuschen. Und dann rannte er schreiend durch den Raum, immer im Kreis herum; und plötzlich schlugen seine Schreie gellend zurück an sein Ohr, denn er war wieder in den schmalen Korridor geraten. »Nun, Mr. Runt«, sagte der Kronrichter, »Sie sagen, Sie hörten Schreie aus der Richtung des Herrenhauses. Warum sind Sie nicht hingegangen, um festzustellen, was dort los war?« »Von uns geht keiner nach Sonnenuntergang zum Herrenhaus«, sagte Mr. Runt. »Ach, ich weiß, daß es da einen absurden Aberglauben über das Haus gibt; aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Sie hörten Schreie, die offenbar von jemand kamen, der Hilfe brauchte. Warum gingen Sie nicht hin, um nachzusehen, statt wegzulaufen?« »Von uns geht keiner nach Sonnenuntergang zum Herrenhaus«, sagte Mr. Runt. »Weichen Sie meiner Frage nicht aus. Sie wissen, daß der Arzt sagte, Mr. Cort muß einen Schlaganfall erlitten haben, hätte aber gerettet werden können, wenn rasch Hilfe gekommen wäre. Wollen Sie sagen, daß Sie, selbst wenn Sie dies gewußt hätten, trotzdem in so feiger Weise gehandelt haben würden?« Mr. Runt richtete seine Augen auf den Boden und befingerte seine speckige Schirmmütze. »Von uns geht keiner nach Sonnenuntergang zum Herrenhaus«, wiederholte er.
DAVID H. KELLER
Ein klarer Fall von Selbstmord Als einer der ersten Psychiater in den Vereinigten Staaten, der schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Praxis besaß, schrieb David H. Keller schon vom Freud beeinflußten psychoanalytische Novellen; lange bevor entdeckt wurde, daß aus diesen Stoffen Bestseller gemacht werden konnten. Es war ihm unmöglich, auch nur eine einzige seiner Erzählungen zu verkaufen, bis er 46 Jahre alt und wegen einer schlecht gehenden Praxis gezwungen war, sich ein zusätzliches Einkommen zu verschaffen. Nun schrieb er Novellen und Kurzgeschichten für Science Fiction-Magazine und andere Zeitschriften und akzeptierte die sehr niedrigen Honorare, weil dies damals eine der wenigen Möglichkeiten war, seine fortschrittlichen psychologischen Theorien veröffentlichen zu können. Als diese Magazine nicht mehr aufnahmefähig waren, schrieb Keller populärmedizinische Artikel, besonders über Themen der Sexualität, darunter eine umfangreiche Folge mit dem Titel ›Sexual Education Series‹, die 1928 in Buchform erschien. ›Ein Stück Linoleum‹ wurde erstmals in der Dezemberausgabe 1933 des kleinen Magazins ›Ten-Story Book‹ veröffentlicht. Als Psychiater und Anhänger Freuds verabscheute Keller die vom vielfältig propagierten Versorgungsdenken beherrschten großen Gruppen der weiblichen Bevölkerung, die mit ihrem ›Weiblichkeitswahn‹ die Männer zugrunderichten. ›Ein Stück Linoleum‹, in täuschend beiläufigem Ton erzählt, führt einige der tausend Mittel vor Augen, mit denen Frauen unermüdlich
männliche Gewohnheiten bekämpfen und Männer nach ihren Vorstellungen umzuformen suchen. Das Ganze endet mit einem stillen Schrecken, der das Stück zu einer der schockierendsten Erzählungen macht, die je gedruckt wurden. Es war ein klarer Fall von Selbstmord. Der Gerichtsarzt weigerte sich, eine andere Möglichkeit auch nur zu erwägen. Und Mrs. Harker hatte das tiefe Mitgefühl ihrer Nachbarinnen. »Ich kann es mir einfach nicht erklären«, vertraute sie ihren Freundinnen an. »Warum John so etwas tun mußte, wo wir doch so glücklich waren, geht über meinen Verstand. Man könnte es vielleicht verstehen, wenn ich ihm nicht eine gute, liebende Frau gewesen wäre. Ich war ihm mehr als eine Frau: ich war ihm eine Gefährtin und Helferin. Dieses Haus, zum Beispiel, glaubt ihr auch nur einen Moment, es würde uns gehören und die Hypothek wäre bis auf den letzten Cent bezahlt, wenn ich das alles John überlassen hätte? Nicht in hundert Jahren. Als wir erst ein paar Wochen verheiratet waren und ich herausfand, daß er auf dem Heimweg Blumen kaufte, wußte ich, was meine Pflicht als liebende Frau war, und ich verlor keine Zeit, sie zu tun. Von da an regelte ich die Geldangelegenheiten. Natürlich gab ich ihm jede Woche etwas Taschengeld und sorgte dafür, daß er nach dem Abendessen seine Zeitung hatte, aber ich ließ nicht zu, daß er sie auf dem Rückweg von der Arbeit kaufte, denn im Zug zerknitterte er sie immer so, und man konnte sie nachher nie ordentlich ins Regal legen; aber wenn ich sie ihm nach dem Abendessen gab und ihm dann und wann sagte, er solle sie nicht immer so in Unordnung bringen, kam sie kaum noch durcheinander.
Hätten wir Kinder gehabt, wäre es mir nicht möglich gewesen, mich so gut um ihn und das Haus und die Einrichtung zu kümmern, aber bevor wir heirateten, sagte mir der Arzt, ich sei zart und ohne die Mühe und Verantwortung der Mutterschaft besser daran. Er war so reizend und verständnisvoll, als er sagte, ich könne meinen künftigen Ehemann als mein Baby ansehen. Für John war es natürlich hart und schwer zu verstehen, so viele Männer können sich nicht in die weibliche Psyche hineindenken, aber endlich fügte er sich in das Unvermeidliche, obwohl er nie begriff, warum ich sein Schlafzimmer in Rosa hielt. Da ich den ganzen Tag allein war, hatte ich viel Zeit zum Nähen, und ich schneiderte alle meine Kleider und die meisten Sachen von John. Oft bat er mich, seine Hemden zu kaufen, weil ich zuviel zu tun hätte, um meine Zeit mit Hemdennähen zu verbringen, aber ich sagte ihm, daß es mir Spaß mache, solche Dinge für ihn zu tun, und mit der Zeit hörte er auf, darüber zu reden. Ich studierte seine Gesundheit. Ich kaufte besondere Bücher über Krankenernährung und neuzeitliche Diät, und wenn John Harker in den zwanzig Jahren unserer glücklichen Ehe jemals auch nur einen Löffel von etwas aß, das nicht rein und bekömmlich und für einen Mann von seinem Gewicht und seiner Verdauung passend war, dann muß er es in einem Restaurant gekauft haben; zu Hause bekam er es nie zu essen. Ich achtete immer auf seine Gesundheit. Jeden Morgen war es das gleiche. Ich mußte aufpassen, daß er seine Gummigaloschen und die richtige Unterwäsche anzog, mußte ihn an seinen Schirm erinnern und darauf achten, daß er den richtigen Mantel nahm … ihr wißt ja, wie die Männer sind. Wenn es am Morgen klar war und abends regnete, war ich mit Überschuhen und
Regenmantel zur Stelle, wenn er aus dem Wagen stieg. Nichts war mir zu mühevoll. Und ich hielt das Haus für ihn sauber. Das war nicht leicht, mit einem Mann darin. Was er nicht wußte, lehrte ich ihn, geduldig, wie man einem kleinen Kind etwas beibringt. Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis ich ihn so weit hatte, daß er zur Hintertür hereinkam, seine Schuhe draußen auszog und in seine Pantoffeln stieg, bevor er ins Haus ging. Aber Geduld und Liebe und ständige Ermahnung halfen ihm schließlich, die Gewohnheit anzunehmen. Wir hatten wunderschöne Teppiche, ganz herrliche Stücke, die drei Generationen überdauern können, wenn sie richtig gepflegt werden. Als ich herausfand, wie unachtsam er war, legte ich Vierecke aus Linoleum an die Stellen, wo er zu sitzen pflegte, und wenn seine Freunde kamen und er sich vergaß und sie zum Rauchen aufforderte, war ich immer auf dem Sprung und legte Linoleum unter ihre Stühle, damit die Asche nicht auf den Teppich fiel. Als ich die Dreißig hinter mir hatte, wurde ich etwas empfindlich und nervös, und der gute Doktor dachte, es sei das veränderte Leben und die ständige Hausarbeit, die mir zu schaffen machten; darauf schlug ich vor, daß John mir helfen könnte, indem er jeden Tag das Abendgeschirr aufwusch. Aber wißt ihr, er war so unachtsam, daß ich mehrere Stücke Linoleum auslegen mußte, wo er arbeitete, sonst hätte er mir den schönen gewachsten Boden ganz mit Seifenwasser verspritzt. Ich paßte auch auf, daß er seine Erholung hatte. Ich bestand darauf, daß er einmal im Jahr an der Hauptversammlung seiner Freimaurerloge teilnahm, obwohl er nach Zigarrenrauch roch, wenn er nach Hause kam, aber ich war geduldig mit ihm und
hielt ihm nie vor, wie hart ich arbeiten mußte, um den Geruch aus seinem besten Anzug zu bringen Zuletzt versuchte ich es abwechselnd mit Lavendel und Heliotrop, und wenn er den Anzug dann in die Kirche anzog, konnte man außer dem Parfüm nichts mehr riechen. Die Loge wußte zu würdigen, was für eine liebende und treusorgende Frau John Harker hatte, denn sie schickte ein Blumenarrangement zur Beerdigung, das einfach wundervoll war. Vielleicht habt ihr es gesehen? Ich hatte es an auffallender Stelle am Fußende des Sargs plaziert. Es war ein großes Kissen aus unzähligen Gänseblümchen und mit den Worten ›In Frieden‹ aus blauen Veilchen mittendrin. Aber ihr wollt natürlich hören, wie es eigentlich passierte. Nun, ihr wißt ja, daß wir wegen meiner zarten Gesundheit immer getrennte Schlafzimmer hatten. Aber, wie der gute Doktor sagte, jeder Ehemann hat seine Rechte, und so habe ich die Tür zwischen unseren Zimmern nicht ein einziges Mal bei Nacht geschlossen. Ich muß sagen, John war ein Gentleman und hat meine Freundlichkeit niemals ausgenützt. Seht ihr, ich hatte ihm gleich nach unserer Hochzeit erklärt, was der Arzt gesagt hatte, daß nämlich jeder plötzliche Schock meinen Tod bedeuten könne, und John, als ihm klar wurde, wie zart und empfindlich ich bin, wollte nicht meinen Tod auf seinem Gewissen haben. Ich hatte sein Zimmer ganz in Rosa gehalten, und an der Wand gegenüber dem Bett, wo er es abends als letztes und morgens als erstes sehen konnte, hatte ich ein vergrößertes Foto von uns auf unserer ersten Reise nach Atlantic City aufgehängt. Ich auf einem Stuhl, und er hinter mir, stehend, mit einem Sonnenschirm in der Hand, um meinen empfindlichen Teint gegen die Sonne zu schützen. Ihr wißt, wie wundervoll solche Erfahrungen in den ersten Wochen der Ehe sind.
Er hatte ein hübsches Schlafzimmer, und ich muß sagen, er hielt es immer makellos sauber. Neben dem Bett lag ein Stück Linoleum, und darauf hatte ich ihm einen Porzellanspucknapf gestellt, handgemalt, mit einem wunderschönen TeerosenDekor. Natürlich war er nicht so vulgär, Tabak zu kauen oder zu rauchen, obwohl er, weiß Gott, imstande gewesen wäre, solche Gewohnheiten anzunehmen, hätte er eine andere Frau geheiratet, aber er schätzte Kaugummi, und so gönnte ich ihm jeden Abend ein Stück und bat ihn nur, es vor dem Einschlafen in den Spucknapf zu tun. Wenn ich gesund war, pflegte ich das Licht für ihn auszumachen, aber an den Abenden meines Martyriums von Kopfschmerzen ließ ich ihn das selbermachen. Der Arzt sagt, daß die Kopfschmerzen aufhören werden, sobald ich meinen Wohnsitz in ein milderes Klima verlege, und ich hoffe, daß er recht hat. Niemand, der nicht verheiratet ist weiß, wie schrecklich es ist, eine Frau zu sein. An diesem Abend ging ich sein wöchentliches Taschengeld mit ihm durch und erklärte ihm, daß ich drei Dollar eingespart hatte, weil wir Zichorienkaffee statt Bohnenkaffee tranken. Dieses Geld hatte ich für ein neues Stück Kunstlinoleum ausgegeben. Die Darstellung darauf war ganz allerliebst – ein Amor, der einen Pfeil auf eine zitternde Hirschkuh abschoß; ein Symbol des ehelichen Lebens, sagte ich ihm und erklärte, daß es ein weiblicher Hirsch sei, und daß er deshalb zittere. Er sagte nicht viel, aber später sah ich durch die angelehnte Tür, daß er sein Licht gelöscht hatte. Er sagte ›Gute Nacht.‹ Ich wußte sofort, daß etwas nicht in Ordnung war, denn ich hatte ihn gelehrt, ›Gute Nacht, Liebling‹ zu sagen, mit der liebevollen Betonung auf dem letzten Wort. Später hörte ich ein gleichmäßiges Tropfen und wußte gleich, daß entweder ein Wasserhahn leckte oder daß es ein wenig regnete. Ich rief: ›John, hast
du den Wasserhahn im Badezimmer fest zugedreht?‹ und er lachte bloß und sagte, alles sei in Ordnung, und ich solle schlafen und mir keine Sorgen machen. Das ständige Tropfen dauerte an, aber schwächer, und so schlief ich ein. Als ich am anderen Morgen in sein Zimmer ging, ihn zu wecken, damit er hinuntergehen und das Frühstück bereiten konnte – denn so hatten wir die Arbeit geteilt, und es gab mir jeden Tag eine halbe Stunde mehr Ruhe –, sah ich, daß der arme Mann sich mit einer Rasierklinge die Pulsader aufgeschnitten hatte und tot war. Was ich in der Nacht tropfen gehört hatte, war sein Lebensblut gewesen. Der Doktor erklärte mir alles. Er sagte, daß John pathologisch war, daß kein Mann, der eine so zärtliche, liebende Frau habe wie John Harker, so etwas tun würde, wenn er nicht geisteskrank wäre. Das muß die Erklärung sein. Der gute, arme Mann! Aber einst ist mir klargeworden, und vielleicht spricht das auch für seinen pathologischen Zustand: während der ganzen zwanzig Jahre unseres glücklichen Ehelebens lernte er nie meine Anstrengungen zu würdigen, ihm ein hübsches, sauberes Heim zu geben. Selbst am Ende war er unachtsam. Wenn er im Bett nur zwanzig Zentimeter weiter zum Fußende gerückt wäre, hätte er auf das Linoleum bluten können, statt auf den entzückenden handgewebten Teppich.«
RAY BRADBURY
Ein Totenschädel aus Zucker ›Der Totenschädel aus Zucker‹ war die letzte Erzählung, die Ray Bradbury an Detektiv- und Schauermagazine verkaufte. Sie wurde 1947 für hundertvierzig Dollar vom Magazin ›Dime Mystery‹ erworben, was etwa zwei Cents pro Wort entsprach. Dieses Honorar war doppelt so hoch wie die Durchschnittshonorare, die in jener Zeit an Groschenheftautoren gezahlt wurden, und ein Anzeichen dafür, daß Bradbury bereits eine Popularität erreicht hatte, die ihm bessere Preise sicherte. Die Erzählung entstand in der Zeit, als Bradburys Talent dem Niveau der Trivialliteratur entwachsen war und in literarisch anspruchsvolleren Kreisen Anerkennung zu finden begann. Zur Zeit ihrer Veröffentlichung in ›Dime Mystery‹ erschienen andere Kurzgeschichten von Bradbury in ›Harpers Magazine‹, ›Mademoiselle‹ und im intellektuellen ›New Yorker‹. In der vorliegenden Geschichte finden sich bereits verschiedene Stilelemente, die für Bradbury charakteristisch sind und die er in seinen späteren Erzählungen weiterentwickelt hat. Dazu gehören vor allem die Mischung von knapp realistischer mit poetisch beschreibender Prosa und ein Tempowechsel, den wir auch in Bradburys Science-Fiction-Erzählungen finden. Außerdem handelt es sich um eine frühe Hinwendung zum mexikanischen Lebensraum, dem er in einer späteren Phase seiner schriftstellerischen Entwicklung eine ganze Serie ›mexikanischer Erzählungen‹ widmete. Für viele wird dies zugleich die faszinierende Entdeckung eines wenig bekannten Meisterwerks sein.
1 Die Schatten der Kinder tanzten im Morgenlicht über die roten und blauen Fliesen der Plaza, während Tomas auf der gußeisernen Bank saß und mit seinen narbigen alten Händen gestikulierte. Ein kleiner Junge hielt einen Tuchfetzen und einen hölzernen Degen, ein anderer spielte den wütenden Stier. »Nein, nein!« rief Tomas. »Nicht so!« Er stand auf und zeigte den Jungen, wie man eine Veronica machte. So! Und wieder eine: So! »Seht ihr? So müßt ihr den Körper halten! Und nicht herumhüpfen dabei!« Die kleinen Jungen übten, dann rannten sie kreischend hintereinander her über die Plaza, bis sie nicht mehr konnten und zu dem alten Mann zurückbummelten. »Zeig uns deine Narben, Tomas.« Und Tomas zog sein handgewebtes Wollhemd aus der Hose und zeigte wieder einmal vor, wo der Stier vor vierzig Jahren seine Seite aufgerissen hatte. Ehrfürchtig berührten die Jungen die große Narbe. Eine junge Frau überquerte die Plaza. Sie trug einen hellen Gabardinemantel; ihr Haar war schwarz und glänzend. Ihr Schritt und die Haltung ihres Kopfes waren arrogant, und sie schenkte Tomas keinen Blick, als sie vorbeiging und im Touristenhotel verschwand. Tomas beobachtete sie, bis sie außer Sicht war. Seine Zungenspitze bewegte sich langsam am Rand der schmalen Oberlippe entlang.
Einen Augenblick später erschien plötzlich ein rosig aussehender blonder Mann auf dem Balkon der zweiten Hoteletage. Tomas sah ihn, und seine Lippen preßten sich zusammen. Der rosige Mann auf dem Balkon blickte herunter. Es war der saubere, laute, auffallende Americano, der letzte Woche in die Stadt gekommen war. Tomas blickte zu dem sauberen Amerikaner auf dem Balkon hinauf. Und als der saubere amerikanische Tourist kehrtmachte und in seinem Zimmer verschwand, spuckte Tomas auf die blauen und roten Fliesen und hatte auf einmal keine Lust mehr, den Kindern beim Spiel zuzusehen. Roby Cibber erwachte an diesem Morgen mit dem Gefühl, daß etwas passiert sei. Er wußte nicht, was oder wie oder warum, aber während der Nacht war etwas Ungewöhnliches geschehen. Er ließ seine Beine über die Bettkante hängen, setzte sich auf und betrachtete lange seine Füße. Er war in Guanajuato, und heute beging man den Dia de los Muertos, den Tag der Toten. Er hatte sich in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock eines hauptsächlich von Touristen frequentierten Hotels einquartiert, einem Balkonzimmer, von dem man einen hübschen Blick auf die Plaza hatte, wo jeden Morgen die Kinder spielten und kreischten. Auch jetzt tobten sie dort herum. Im Dämmerlicht der geschlossenen Läden sah er einen weißen Gegenstand auf dem Tisch liegen. Er schaute genauer hin, und sein Herz schien eine dumpfe Bewegung in seiner Brust zu machen. Was da lag, war ein kleiner weißer Totenschädel aus Zuckerwerk. In den Verkaufsständen am Markt hatte er solche Schädel schon gesehen. Sie waren aus weißer Zuckermasse gemacht und
zerbröckelten, wenn man sie fest drückte. Sie hatten Augenhöhlen und Zähne und schimmerten wie gut gepreßte Schneebälle. Dieser Totenschädel trug einen Namen auf der Stirn: Roby. Und er war noch nicht dagewesen, als Roby Cibber gestern abend zu Bett gegangen war. Jetzt lag er da. Es war kalt im Zimmer. Er stand auf und klappte die hohen hölzernen Läden vor der Balkontür zurück. Als das Tageslicht hereinflutete, sah er sich für einen Moment im Wandspiegel, blond und rosig und jünger aussehend als er war. Dann trat er auf den Balkon. Unter ihm lag die kleine Plaza mit den rund beschnittenen Bäumen, den gußeisernen Bänken und den blauen und roten Fliesenmustern, auf denen abends die Jugend der Stadt flanierte, immer im Kreis herum, die Mädchen zu viert oder fünft untergehakt, schwatzend und kichernd, die jungen Burschen übertrieben lässig, angeberisch posierend. Donnerstags und sonntags gab es Musik dazu; dann stand eine Kapelle auf der gußeisernen kleinen Empore und erfüllte den stillen mexikanischen Himmel mit Geschmetter und Gehämmer. Jetzt war die Plaza fast leer. Ein paar Kinder spielten, andere standen bei einem Alten, der ihnen etwas zeigte oder erklärte. Roby Cibber ging zurück in sein Zimmer. Er mußte sich rasieren. Er hatte Kopfschmerzen und fühlte eine leichte Übelkeit im Magen – zuviel Tequila gestern abend mit Celia Diaz. Heiser war er auch – zuviel geredet, zuviel gesungen. Jemand klopfte an die Tür, und er fuhr zusammen. Er schüttelte den Kopf über sich selbst und öffnete. »Buenos dias, Señor.«
Die kleine Putzfrau stand im Korridor. Ob er sein Frühstück nicht einzunehmen wünsche? Es stehe bereit, aber in einer halben Stunde, ab zehn Uhr, könne nicht mehr serviert werden. Ob es möglich sei, daß er frühstücke? Sie würde unterdessen sein Zimmer aufräumen und alles für ihn in Ordnung bringen. Ob das möglich sei? Das war möglich. Aber zuvor führte er sie zum Tisch und fragte auf Spanisch, ob sie wisse, wie dieser Zuckerschädel in sein Zimmer gelangt sei? Ob sie zufällig etwas gesehen habe? Sie schaute den Schädel an und lachte. Ein schöner Zuckerschädel! Wie sauber und zierlich der Name des Señors daraufgemalt war! Nein, sie habe keinen Menschen sein Zimmer betreten oder verlassen sehen. Die Beschriftung war gut gemacht, das mußte er zugeben. Er ging unrasiert zum Frühstück hinunter. Wie immer, gab es Schinken mit Spiegelei für ihn. Immer das gleiche, seit er vor zwei Wochen ins Land gekommen war. Er war ein Yanqui, und alle Yanquis pflegten zum Frühstück Schinken mit Spiegelei zu essen. So einfach war das. Er beugte sich sanft bekümmert über seinen Teller und begann zu essen. Celia Diaz kam in den Speisesaal, der bis auf Roby Cibbers menschenleer war. Sie trug einen hellen Gabardinemantel, und ihr schwarzes Haar schimmerte mit ihrem Lächeln um die Wette. Er stand auf und begrüßte sie. »Es ist ein schöner Morgen«, sagte sie. »Ein sehr schöner Morgen.« »Ja«, sagte er.
Sie hatte dichtes schwarzes Haar und große, dunkle, forschende Augen. Sie sah ausgeruht und frisch aus. Er ärgerte sich über seine Katerstimmung. »Sie sind müde?« fragte sie. »Immer«, brummte er. »Ich kam als müder Mann nach Mexiko, ich lebe als müder Mann in Mexiko, und ich werde Mexiko als müder Mann verlassen. Es ist ein Dauerzustand bei mir. Hat nichts mit dem Klima oder mit dem Trinken zu tun.« »Vielleicht weiß ich, woran es liegt«, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. »Doch. Seit ich im Touristenbüro arbeite, habe ich die Amerikaner kennengelernt – sie fürchten immer das gleiche, wenn sie in Mexiko sind. Immer schauen sie ängstlich über die Schulter; sie schlafen nicht gut und leiden an Verdauungsstörungen. Sie lachen und sagen, es sei der Klimawechsel. Aber das ist es nicht. Ich weiß, was es ist.« Er legte seine Gabel nieder und sah sie kauend an. »Was ist es dann?« »Sie haben Angst vor dem Tod«, sagte sie. »Wir in Mexiko fürchten ihn nicht; er ist immer um uns, und wir sind gewöhnt, mit ihm zu leben. Das könnt ihr Amerikaner nicht verstehen, denn ihr möchtet ihn nicht wahrhaben.« Das Sonnenlicht fiel durch die großen Fenster und leuchtete auf dem Silbergeschirr und den bunten Fayencetellern in den Wandregalen. »Sie haben auch dieses Angstgefühl«, sagte sie. »Ja«, gab er schließlich zu. »Ich habe es auch.« Sie tranken gemeinsam Kaffee und gingen dann hinaus. Sie kamen an Tomas vorbei, der in der Sonne auf seiner Bank saß.
»Das ist Tomas«, sagte Celia, als sie vorbeigegangen waren. »Er war mal ein berühmter Stierkämpfer.« Auf der anderen Seite der Plaza setzten sie sich auf eine Bank und rauchten. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten«, sagte Celia. »Wer sollte Ihnen etwas antun wollen?« »Ich weiß es nicht.« Er warf seine hastig gerauchte Zigarette fort und zündete eine neue an. Dann, nach kurzem Zögern, erzählte er ihr von dem Zuckerschädel, den er am Morgen in seinem Zimmer gefunden hatte. »Verdammt noch mal«, endete er aufgebracht, »ich kenne niemand in Mexiko!« »Warum sind Sie nach Mexiko gekommen?« »Um das Land kennenzulernen. Sprachkenntnisse aufzufrischen. Vielleicht ein bißchen zu schreiben. Und dann war da ein Freund von mir, Douglas McClure.« »Ja, ich weiß. Er war letztes Jahr hier in Guanajuato. Eines Tages verschwand er plötzlich, ohne die Hotelrechnung zu bezahlen. Ich war sehr überrascht.« »Sein letzter Brief war von hier. Das war im September des vorigen Jahres. Dann schien er sich in Luft aufgelöst zu haben. Ich hörte nie wieder von ihm. Ich weiß, was Sie denken – daß ich gekommen bin, ihn ausfindig zu machen und mich dabei in unüberlegte Abenteuer stürze. Offen gestanden, ich bin Egoist. Ich bin genau aus den Gründen gekommen, die ich angegeben habe. Nebenbei wollte ich ein bißchen herumhorchen, ob ich etwas über McClure in Erfahrung bringen kann. In zwei Briefen erwähnte er Sie, Celia. Darum dachte ich, Sie könnten mir vielleicht helfen.«
»Ich weiß so gut wie nichts«, sagte sie. »Eine Woche war er hier, die nächste fort. Er kam wegen einiger Informationen ins Touristenbüro und schien sich für mich zu interessieren. Es gibt zwar eine Anweisung, daß wir mit Kunden möglichst nicht ausgehen sollen, aber er war sehr nett, und so ließ ich mich ein paarmal zum Essen einladen. Als er verschwand, sagte ich mir, sah, diese Americanos. Ich hatte nie gedacht, daß er die Hotelrechnung schuldig bleiben würde; er sah nicht wie so einer aus. Aber Sorgen machte ich mir keine. Haben Sie schon in Acapulco nach ihm gesucht?« Sie lächelte schlau. »Acapulco! Alle sagen mir: ›Gehen Sie nach Acapulco!‹ Dort scheinen alle Leute hinzugehen, die anderswo verschwinden. Ja, auf der Hinfahrt war ich zwei Tage in Acapulco. Ich sah keinen Gammler, der wie Douglas McClure aussah. Außerdem war er vermutlich zuletzt hier in Guanajuato. Was er über Sie schrieb, war sehr schmeichelhaft, Celia. Ich dachte, nun, vielleicht hat diese Celia Diaz einen einheimischen Bräutigam, der auf Douglas eifersüchtig wurde und ihn umbrachte.« »Das klingt sehr romantisch, ist aber nicht wahr«, sagte sie. »Ich gehöre zu den modernen mexikanischen Frauen. Aber die Leute hier in der Provinz sind rückständig und halten an den alten Sitten fest. Weil ich mich nicht ihren konservativen Vorstellungen anpasse, halten sie mich für ein lockeres Frauenzimmer und meiden mich. Viele Männer würden gern ein Abenteuer mit mir haben, aber ernste Absichten – nie und nimmer! Solche wie mich, heiratet man nicht. Darum gab es auch nie einen eifersüchtigen Bräutigam, der fähig gewesen wäre, Ihren Freund umzubringen. Aber was denken Sie über diesen Zuckerschädel, den Sie in Ihrem Zimmer fanden?«
»Ich denke, daß es allmählich heiß wird«, sagte er. »Ich muß Douglas nahe sein. Manchmal habe ich das Gefühl, daß er nicht weit sein kann und erwarte, ihm in einer Bar oder auf der Plaza zu begegnen. Wer diesen Zuckerschädel auf meinen Tisch gelegt hat, war ziemlich einfältig. Wenn sie glauben, sie könnten mich abschrecken, haben sie sich geirrt. Der Zuckerschädel war Folge eines Denkfehlers. Er bestätigt nur meinen Verdacht. Sie hätten mich ganz in Ruhe lassen sollen, dann wäre ich vielleicht nächste Woche unverrichteter Dinge nach Hause gefahren.« »Vielleicht wußte der Betreffende, daß Sie Ihren Freund früher oder später finden müssen«, sagte Celia. »Darum warnte er Sie vor Nachforschungen. Keine sehr freundliche Warnung, muß man zugeben. Was haben Sie in der Sache vor?« »Ich weiß es nicht.« »Aber der andere weiß es. Oder die anderen. Es muß etwas sein, das Sie zwar nicht heute, aber doch irgendwann vor Ihrer Abreise unternehmen müssen. Was könnte das sein, Señor Roby? Was wollen Sie in der nächsten Woche tun, was wollen Sie noch sehen, das Sie nicht schon gesehen haben?« Er hatte die Antwort. Er zog heftig an seiner Zigarette und schloß einen Moment die Augen und atmete dann pfeifend aus. »Wissen Sie es?« fragte sie. »Wo sind Sie noch nicht gewesen, wo werden Sie noch hingehen, bevor Sie abreisen?« Er seufzte. »Die Katakomben«, murmelte er.
2 Der Friedhof war auf einem Hügelausläufer oberhalb der Stadt, die selber hügelig war, umgeben von Bergland, eins mit ihm, das von allen Seiten die Rinnsale und Bäche seiner steinigen Pfade hinabschickte, bis sie sich zu Füßen aus Katzenkopfpflaster vereinten und die Stadt mit schönen, vielfarbigen Kieseln überschwemmten, die von den Jahrhunderten abgeflacht und poliert worden waren. Man konnte eine Ironie darin sehen, daß den besten Blick auf die Stadt nur der Friedhofshügel gewährte. Hohe und dicke Mauern umgaben eine Sammlung von Grabsteinen, wie Hochzeitskuchen gekrönt mit weißen Engeln und überkrustet mit Ornamenten, Schnörkeln und Girlanden, einer neben dem anderen, halb umgesunken, grellweiß und kalt im unbarmherzigen Sonnenlicht. Einige Gräber waren groß wie Betten. Von hier konnte man in den kalten Abendstunden ins lichterblinkende Tal blicken, das scharfe Hundegebell von weither hören und dann und wann eine Begräbnisprozession im Dunkeln den Hügel heraufkommen sehen. Roby Cibber blieb auf halbem Weg stehen und blickte zur Friedhofsmauer hinauf. »Warum gehen Sie heute hinauf, wenn Ihnen nicht gut ist?« fragte Celia. »Können Sie nicht bis morgen warten?« »Nein. Jetzt, nachdem ich darüber nachgedacht habe, weiß ich, daß es der Ort ist, für den die größte Wahrscheinlichkeit spricht. Im Unterbewußtsein war es mir die ganze Zeit klar, aber ich wollte nichts davon wissen. In den Katakomben hätte ich zuallerletzt nachgesehen, wenn alle anderen Versuche ergebnis-
los geblieben wären. Ich habe schon von diesen schrecklichen Mumien gehört, die mit Draht befestigt an den Wänden stehen.« Er ging langsam weiter, bis zu einem kleinen Stand, wo Limonade verkauft wurde. Er lachte gezwungen. »Es ist warm. Trinken wir einen Orangensaft, Celia. Wir brauchen etwas.« »Sie sehen krank aus.« »Ich werde noch viel kränker aussehen, fürchte ich. Nach dem heutigen Tag werde ich für den Rest meines Lebens krank sein.« Sie standen im Sonnenschein, tranken aus den Flaschen und machten lächerliche Sauggeräusche an den Flaschenhälsen. Roby stellte seine Flasche zurück und sah das Mädchen an, das die Limonade verkaufte. Sie war höchstens zwölf Jahre alt und knabberte an einem kleinen Leichnam aus Zuckerwerk. Als Celia ausgetrunken hatte, wandte er sich seufzend ab und ging stumm weiter. Celias Schatten bewegte sich lang und ungezwungen neben seinem eigenen, der steif und unbeholfen aussah, hinauf zum schmiedeeisernen Tor. Auf der Plaza unter den dunkelgrünen Bäumen flanierten die jungen Leute, spielten und schrien die Kinder, waren alle Bänke besetzt. Die Sonne senkte sich über den vielen Gipfeln des westlichen Berglandes und ließ das Relief der gefalteten, kahlen Gebirgsflanken klar hervortreten; so klar, daß man da und dort hoch oben die Abraumhalden und Wellblechbaracken der Silberbergwerke ausmachen konnte. Roby Cibber kam langsam die Straße herunter. Er blieb öfters stehen und schaute in die Auslagen der kleinen Läden. Er ging in einen Stehausschank und trank ein Bier, ohne sich seines Tuns recht bewußt zu werden.
Douglas McClure war in diesem Augenblick oben auf dem Friedhofshügel. In den Katakomben. Man ging in den Friedhof und zahlte dem Aufseher einen Peso, und er öffnete eine Eisentür und ließ einen über die steinerne Wendeltreppe in die Katakomben hinuntersteigen. Man kam in eine lange, halbdunkle Halle mit einhundertfünfundzwanzig Mumien, aufgereiht an den Wänden. Mit offenen Mündern standen sie da und sahen aus, als ob sie beim Geräusch der Tür aufgesprungen wären. Man ging zwischen den Reihen der stehenden Toten dahin. Man blickte in die knochigen, gespannten Hautgesichter – bis man vor Douglas McClure anlangte. Roby Cibber kam ans Ende der Straße und stand dann auf der plaza, gegenüber der Kathedrale. Vom anderen Ende der plaza klang der Lärm aufgeregter, lachender Stimmen herüber. Ein paar Augenblicke später setzte wilde Blasmusik ein, und Roby Cibber sah die Mitglieder einer fünfköpfigen Blaskapelle auf die plaza marschieren, umringt von ausgelassenen Kindern. Die Männer in ihren derben, handgewebten Wollhosen spuckten in Trompeten, kauten auf ihren langen schwarzen Klarinetten und entlockten den gemarterten Instrumenten eine schrill aufreizende Musik von hypnotischer Gewalt, die das Volk in begeisterte Erregung versetzte. Roby hörte die dumpfen Paukenschläge und die fremdartig grellen Klänge der Bläser, aber er konnte sich des seltsamen Schauspiels nicht erfreuen. Was willst du jetzt machen? Ich weiß nicht. Ich bin krank. Ich fürchte mich. Ich brauche Leute um mich, auf allen Seiten; Leute, die mich schützen. Ich
werde hierbleiben. Ich will keinen Augenblick allein sein. Ich werde hier auf der Plaza bleiben, wo er mich nicht kriegen kann. Wer? Douglas McClures Mörder. Die Kapelle marschierte auf die kleine Musikempore, spielte unermüdlich weiter. In Roby Cibbers Ohren klang die Musik barbarisch und beunruhigend. Sie werden mich umbringen, dachte er, wie sie McClure umgebracht haben. Sei kein Esel. Geh zur Polizei. Was würde das nützen? Sicher wissen sie längst, daß McClures Mumie in der Katakombe steht, weil niemand da war, die Beerdigungskosten zu tragen. Der riesige schwarze Kopf eines Kampfstiers erschien in der Menge, grunzend, die bedrohlichen langen Hörner immer wieder zu Ausfällen senkend. Roby Cibber brauchte ein paar Sekunden, bis er merkte, daß es eine Attrappe aus Papiermache war, unter der ein Mann steckte – der alte Tomas, wie den Zurufen der Menge zu entnehmen war. Wie war Douglas McClure gestorben? Er hatte ein merkwürdiges Loch zwischen den Augen. Eine Einschußwunde? Nein. Ein seltsames Loch. Ich weiß nicht. Die Leute schrien und drängten durcheinander. Etwas explodierte. Der alte Tomas entzündete Feuerwerkskörper unter dem verhängten Holzgestell, das seinen Papiermache-Stier trug, rannte über die Plaza und jagte die Leute in Schwärmen vor sich her.
Nun schien der Stier selbst zu explodieren. Roby stieß einen unfreiwilligen Schrei aus. Der mächtige schwarze Schädel stieß große Feuerkugeln aus. Eine nach der anderen schoß aus verborgenen Rohren – strahlend helle, runde, sprühende Feuerkugeln, die in die Menge rasten und verpufften. Tomas wendete sich hierhin und dorthin und lachte, wenn die Leute kreischend auseinanderstoben. Die Augen des Stiers glühten, stießen lange gelbe und orangefarbene Feuerstrahlen aus. Dutzende von Wunderkerzen und anderen Feuerwerkskörpern waren in und unter dem Stier verborgen. Sie zischten und spuckten in die Luft, trafen die Kinder mit sprühenden Funken. Die Kinder jubelten und schwenkten rote Taschentücher. Der Stier griff an. Alle kreischten und lachten. Die Leute stolperten und fielen über Bänke, um dem feuerspeienden Stier zu entkommen, der jetzt ganz in feurige Illumination gehüllt war. Roby Cibber wurde von der Menge mitgerissen. Er rannte und lachte und wollte vergessen, wollte in der Mitte dieser fröhlichen Menschen sein, angerempelt werden, mit ihnen fallen, sich an ihnen festhalten, den Schutz ihrer Körper und ihrer Heiterkeit fühlen. Der Stier stürzte in alle Richtungen, verstreute Knallfrösche und Schwärmer. Eine gewaltige Rauchwolke erfüllte die Luft über der Plaza. Die Leute stützten sich aufeinander, hielten sich die Seiten, erschöpft vom Schreien und Lachen. Jemand brannte ein Dutzend oder mehr Raketen ab, die weit oben im nachtdunklen Himmel zerplatzten und für Sekunden eine grandiose Architektur aus Rot und Grün und Gelb über die Sterne bliesen. Der Stier griff wieder an. Die Menge lief auseinander, und Roby Cibber merkte zu spät, daß er in der Angriffsrichtung stand. Er wirbelte herum, schreiend in konfuser Begeisterung. Für einen Moment gab es nur die einfache, kindliche Angst vor
dem knallenden und feuerspuckenden Stier. Knallfrösche explodierten; ein Schwärmer streifte sein Ohr. Er schrie. Etwas schlug hart gegen seinen Arm. Er wich aus, stolperte über jemand, atemlos lachend. Celia war da. Er sah sie am Rand der Plaza in der Menge stehen und das Spektakel beobachten. Er drängte sich durch das Gewühl zu ihr. Sie sah ihn kommen, und ihr lachendes Gesicht wurde zur Maske; Schrecken kam in ihre Augen. Sie starrte auf das Blut, das an seinem Arm herablief und von seinen Fingerspitzen tropfte, warm und unaufhaltsam. »Sie sind verletzt!« sagte sie. Die Musikkapelle schmetterte; die Leute schrien, lachten; Knallfrösche und Schwärmer knatterten und fauchten. Als Roby Cibber seinen Arm ansah, wankte er einen Augenblick und mußte sich auf Celia stützen … Mexikanische Ärzte taugen nichts. Wenn man hysterisch ist, sind sie so still und ruhig in ihrer Unfähigkeit, daß man schreien möchte. Der Arzt verband Roby still die Wunde. »Es ist die Fiesta, Señor. Nicht mehr. Irgendein glücklicher Mann feuerte eine Schußwaffe ab. Einfach ein Unfall. Wollen Sie Anzeige erstatten, Señor? Aber wer ist da, den Sie belangen könnten? Niemand. Und diese Wunde hier – könnte sie nicht vielleicht von einem Feuerwerkskörper herrühren? Nein? Gut, sie ist wirklich ein wenig zu tief dafür. Ja, ich gebe zu, eine Kugel. Aber nur von einer glücklichen Seele. Vergessen Sie den Zwischenfall, Señor, vergessen Sie ihn!«
Roby Cibber und Celia verließen das Haus des Arztes. »Haben Sie gesehen, wer den Schuß abfeuerte, Celia?« »Ich sah nichts. Niemand sah es, bei dem Tumult. Aber Sie haben Glück gehabt. Nur eine Fleischwunde.« »Dieser Arzt! Sitzt da und philosophiert über den Tod. In Mexiko ist man nirgendwo sicher, weder allein noch in der Menge.« »Vielleicht wäre es besser, Sie würden in die Vereinigten Staaten zurückkehren.« »Noch nicht. Ich muß dafür sorgen, daß McClure aus dieser Katakombe geholt und nach Hause transportiert wird, wo er hingehört. Ohne eine gerichtliche Untersuchung wird das nicht gehen. Morgen früh – aber das wird sich zeigen. Ich bin erschöpft.« Er sah sie mit plötzlichem Mißtrauen an. Sie war fremdartig. Alles hier war beängstigend und fremdartig. In diesem Moment fühlte er sich nicht einmal ihrer Loyalität sicher. Vielleicht hatte sie – »Sie sollten lieber zu Bett gehen«, sagte sie. Er kehrte in sein Hotel zurück. Das Begräbnis erwartete ihn. Es war auf ein kleines Brett montiert und lag auf seinem Bett, das Begräbnis. Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, schloß er die Tür, lehnte sich dagegen und betrachtete das Begräbnis. Da gab es einen winzigen Priester mit einer Haselnuß als Kopf, der hielt ein winziges schwarzes Buch und hob segnend eine Hand. Da gab es zwei kleine Meßdiener, die winzige
Fähnchen trugen. Zwischen ihnen und vor dem Priester war ein kleiner Sarg mit einem winzigen Zuckerwerk-Leichnam darin. Und hinter dem Priester war ein Altar mit einem kleinen Bild des Leichnams. Das Bild war ein Porträt von Roby Cibber. Er suchte herum. Jemand hatte seine Sachen durchwühlt, ein altes Foto von ihm gefunden und den Kopf herausgeschnitten und über den kleinen Altar geklebt. Ein Zettel oder eine Botschaft fehlte. Das Begräbnis war genug. Diese kleinen Holzbrettchen mit winzigen Figuren aus Zuckermasse wurden für den Tag der Toten auf dem Markt verkauft. Aber dieses hier war auf dem Bett in dem stillen Zimmer fehl am Platz, und ihn fror plötzlich, daß seine Zähne schnatterten. Als er die Balkontür geschlossen und die Vorhänge zugezogen hatte, wurde an die Tür geklopft. Nach kurzem Erschrecken ging er und öffnete. »Señor!« der alte Tomas stand im halbdunklen Korridor. Er roch nach Schweiß und Wein. »Es ist wichtig, daß ich Sie spreche.« »Ich bin müde.« Tomas blickte an ihm vorbei und sah das kleine Begräbnis, das jetzt auf dem Tisch stand. Er zeigte darauf. »Es ist wegen diesem da, Señor. Vor einer kleinen Weile kam ich durch die Halle. Ich sah jemand mit diesem kleinen Begräbnis die Treppe hinaufgehen. Ich dachte, Sie würden das gern wissen.« Roby zwinkerte mehrmals. »Haben Sie sein Gesicht gesehen?« »Es war kein Mann, Señor. Es war eine Frau.«
»Eine Frau?« »Señorita Celia. Ich sah sie.« »Sie sollten jetzt lieber gehen. Mir ist kalt, und Sie sind betrunken.« »Sie sah mich nicht. Sie hielt das Begräbnis in ihren Händen und ging hinauf, und nach wenigen Minuten kam sie wieder herunter. Sie fühlten sich nicht gut, Señor?« »Ich fühle mich nicht gut.« »Señor, ich habe die Señorita jeden Tag mit Ihnen gesehen. Es schickt sich nicht für eine mexikanische Frau. Es ist nicht Sitte bei uns, daß eine Frau mit einem Mann auf den Straßen geht, mit ihm im Restaurant sitzt oder ihn besucht, wenn sie nicht mit ihm verheiratet ist. Und gestern sagte Señora Licone, die Totenschädel aus Zuckerwerk macht, zu mir: ›Ay de mi, diese Celia, sie ist verrückt. Sie kam zu mir und wollte, daß ich den Namen des Americano auf einen Zuckerschädel male: Roby.‹ Ich dachte mir nichts dabei, Señor, bis ich sie heute abend das Begräbnis hinauftragen sah. Dann überlegte ich alle diese Dinge und kam zu Ihnen.« Roby setzte sich schwerfällig auf einen Stuhl. »Können Sie mich zu Señora Licone führen?« »Si, Señor.« »Ich muß wegen des Zuckerschädels mit ihr reden.« »Si.« Der alte Tomas befeuchtete seine Lippen, dann sagte er: »Ich fand dies alles seltsam, Señor, denn in der Vergangenheit gab es einen anderen Americano –« »Einen anderen –« »Bleiben Sie sitzen, Señor. Sie sehen sehr blaß aus. Ja, einen anderen Americano, in diesem Hotel, vor einem Jahr. Er und die
Señorita waren oft zusammen. Ich sah sie beide hier ein- und ausgehen.« Roby starrte auf den Boden vor seinen Füßen. »Und dieser andere Americano – eines Tages verschwand er!« »Ja, ich weiß.« »Und diese Celia, sie zeigte sich erstaunt über sein Verschwinden. Eine kluge Frau. Sie entfernte seinen Koffer selbst, dessen dürfen wir sicher sein.« »Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?« fragte Roby Cibber mit einem mißtrauischen Blick. »Wozu, Señor? Ein Americano geht fort, vielleicht in eine andere Stadt, vielleicht nach Haus. Ist das schlimm, Señor? Nein, es ist nur, daß ich Dinge gesehen habe, die mir zu denken gaben. Dann dachte ich zurück. Ich erinnerte mich an diesen anderen Americano. Dann kam ich zu Ihnen. Wollen Sie Señora Licone heute noch sehen, Señor?« »Unbedingt. Wohin gehen wir?« »Nicht weit.«
3 Sie gingen die Gasse der Tischler hinunter. Trotz der späten Stunde wurde in vielen Werkstätten gehämmert und gesägt und gehobelt. Durch die offenen Türen sah Roby die Männer bei ihrer Arbeit scherzen. Celia, dachte er, schöne, sanftäugige Celia. Was geschah damals? Liebtest du Douglas McClure, und tat er dir etwas, was dich als Mexikanerin beleidigte? Und tötetest du ihn dann, in
einer jähen, leidenschaftlichen Aufwallung? Oh, hier unten ist der Tod schnell, und ein Toter zählt nicht viel. Es ist nicht das langsame Gift des Brütens und Planens. Es ist die sofortige Tat, die man gleich darauf bedauert. Ein Messerstich, ein Schlag mit der Eisenstange, ein Revolverschuß – schnell und vorbei. Sagte oder tat McClure etwas? Wollte er mit dir schlafen oder dich küssen? Mißbilligte deine Familie ihn? Tat er etwas in der Öffentlichkeit, das deinen Ruf schädigte? Es gibt viele Dinge, die uns Amerikanern nichts bedeuten, dir aber sehr viel – war es das, Celia? Und so tötetest du ihn, in einem leidenschaftlichen Augenblick, nahmst sein Gepäck aus seinem Zimmer. Es sah aus, als sei er heimlich abgereist. Dann fanden sie irgendwo den nackten Leichnam eines Unbekannten, verscharrten ihn in dieser heißen, trockenen Erde und stellten ihn nach einem Jahr in die Katakomben, weil sich niemand fand, der sein Grab bezahlte. Vielleicht gehst du manchmal hin und lachst ihn aus –, ich weiß es nicht. Und dann kam ich, und du suchtest mich mit Warnungen zu vertreiben, aber ich ging nicht… »Hier entlang, Señor.« Sie bogen in eine dunkle Seitengasse mit armseligen kleinen Lehmziegelhäusern ein. Die Sterne waren klar und kalt. Irgendwo bei den Bauerngehöften im Tal bellte ein Hund. Irgendwo sang eine traurige Stimme hinter einem Fenster. »Wie weit noch, Tomas?« »Ein kleines Stück, Señor?« Die schmale Gasse, holprig und voller Löcher, schlängelte sich zwischen bröckelnden Mauern am steinigen Hang hin. Die kleinen Häuser standen hier in weiteren Abständen, zwischen ihnen waren undurchdringliche Kaktushecken. Das blasse weiße Auge des Mondes starrte über den Himmel und das leere Land.
Sie kamen auf einen ungepflasterten weiten Platz, hinter dem ein vertraut aussehendes Gebäude stand. Über dem hölzernen Eingangsturm flatterten zwei Fahnen im Nachtwind. »Das ist doch die Stierkampfarena, Tomas.« »Ja, die Plaza de Toros.« »Und hier wohnt Señora Licone?« »Sie hat kein Heim. Sie wohnt unter der Arena, und dort macht sie ihr Zuckerwerk. Hier.« Sie gingen durch das offene Tor in den stillen, monderfüllten Ring der Arena. Die dunklen Bretterwände der Barreras und die ansteigenden Sitzreihen hinter ihnen umgaben einen kreisrunden weißen See aus Sand. »Wie fühlen Sie sich, Señor?« »Besser. Die kühle, frische Luft und das Gehen haben mir gutgetan.« »Sehen Sie, dort«, sagte Tomas. Er ging zu einem schwarzen Bündel, das nahe der Barrera im Sand lag. »Sehen Sie, Señor. Jemand hat die Ausrüstung eines Toreador hier liegenlassen.« Tomas hob ein rotes Cape auf, ein kleines schwarzes Barett, schwarze flache Ballettschuhe und einen Degen, der im Mondlicht blitzte. »Jemand hat die Sachen vergessen«, sagte Roby unbehaglich. Tomas befingerte die Stücke. »Es ist eine Schande, diese Dinge so herumliegen zu lassen. Sie sind so gut wie neu.« Er drehte das Barett behutsam in der Hand. »Haben Sie den Stierkampf gesehen, Señor?« »Einmal. Es gefiel mir nicht.«
»Señor, ihr Americanos versteht ihn nicht.« Tomas setzte das Barett auf. Sein Körper schien sich zu strecken. Er nahm seine Hände herunter. »Wie sehe ich aus, Señor?« »Großartig, aber bringen Sie mich jetzt zu Señora Licone.« »Sehe ich nicht fein aus?« »In der Tat, aber –« »Wußten Sie, Señor, daß ich vor vielen Jahren einmal der beste Toreador in ganz Mexiko war?« »Zweifellos, Tomas, aber –« »Bitte, Señor, hören Sie.« Tomas sah auf einmal sehr groß und viel jünger aus. Der Mond stand schräg über ihm und warf seinen Schatten lang in den Sand. Auf einmal hielt er sich nicht mehr gebeugt; die Muskeln waren locker, die Schultern zurückgenommen, in den alten Augen blitzte neues Feuer. »Hier tötete ich einmal drei Stiere – an einem Tag!« rief er. »Die Ränge waren voll bis oben. Als ich fertig war, schnitten sie den Stieren die Ohren ab und gaben sie mir. Die Leute warfen mir Hüte und Handtaschen und Handschuhe herunter. Es war wie ein Regen.« Er sagte es mit echtem Stolz. Roby machte eine ungeduldige Handbewegung und sagte nichts. Dann standen sie da und sahen einander an. Robys Augen waren kalt, die Augen des alten Mexikaners erbittert. Tomas bückte sich und hob Degen und capa auf. »So machte ich die Veronicas, so, und so –« Er wirbelte in vollendeter Eleganz herum, links, rechts. Die blutrote Capa schwang wie ein geblähtes Segel. Er stieß seine alten Strohsandalen von den Füßen und zog die kleinen Ballettschuhe an.
»Nun, Señor –« Er kam auf Roby zu. Dieser konnte seine Ungeduld nicht länger verbergen. »Hören Sie auf mit dem Theater, Tomas. Wo ist diese Señora Licone?« »Ja, ja, richtig. Señora Licone. Dort unter der Tribüne hat sie ihre Werkstatt.« Tomas zeigte. »Sehen Sie?« Roby Cibber wandte sich um. Im selben Augenblick fühlte er einen schmerzhaften Stich im Nacken. Er schrie auf, sprang zurück und fiel beinahe. Seine Hand fuhr in den Nacken und entdeckte zwei etwa fingerlange Nadeln. Er riß sie heraus und warf sie weg; sie waren mit roten, weißen und grünen Bändern umwickelt. »Tomas! Was soll das heißen?« »Señor!« rief Tomas, und in seinen Augen war etwas, das dem anderen wie perverse Freude vorkam. »Die Banderillas. Haben Sie beim Stierkampf gesehen, wie die Banderilleros dem Kampfstier die bunten Banderillas in den Nacken stoßen? Dies habe ich eben getan.« »Sie sind verrückt, Tomas!« rief der Amerikaner wütend. »Soll das ein Scherz sein?« Der Mexikaner gab ihm einen Stoß vor die Brust, daß er fiel. »Tomas!« Tomas beugte sich im Mondschein über ihn. »Wissen Sie, was heute abend geschehen ist, Señor?« »Ich – ich –« keuchte Roby Cibber. »Ich versuchte Sie während der Fiesta zu töten, Señor. Es war leicht, denn ich hatte meine Waffe unter dem Gestell des Stiers versteckt. Aber Sie kamen davon, Señor!«
Roby Cibber schnappte nach Luft. Er setzte sich mühsam auf. »Bringen Sie mich zu dieser Zuckerbäckerin, Tomas!« knurrte er, bevor ihm die Bedeutung von Tomas' Worten aufging. »Es gibt keine Zuckerbäckerin hier, Señor!« rief der verrückte Alte mit leuchtenden Augen. »Wissen Sie, was morgen früh geschehen wird? Diese Celia wird nach Ihnen fragen, und Sie werden nicht mehr im Hotel sein. Sie fort, Ihr Gepäck fort!« Roby stand auf. Sein verwundeter Arm schmerzte. »Sie sind übergeschnappt, Tomas! Tun Sie den Degen weg, Dummkopf!« »Nein.« Tomas rückte sein Stierkämpferbarett zurecht. Das Ganze wäre lächerlich gewesen, hätte der Schmerz Roby nicht eines andern belehrt. »Ich warne Sie«, keuchte Roby. »Ich werde rufen. Die Leute werden mich hören.« »Sie werden es nicht tun, Señor. Sie werden nicht das Spiel verderben. Dann müßte ich Sie schnell töten. Den Degen zwischen die Augen.« Roby begann zu schwitzen. Er dachte wieder an Douglas McClure dort unten in der Katakombe, und nun verstand er, was es mit dem seltsamen Loch in der Stirn auf sich hatte. Der Degen eines Stierkämpfers hatte es gemacht. So war McClure gestorben. »Wir werden ein kleines Spiel machen, Señor. Ich bin der Toreador, Sie sind der Stier, Sie werden mich angreifen, ich werde Sie locken. Der Mond wird zusehen. Und die Sterne werden die Ränge füllen.«
»Was wollen Sie von mir? Was habe ich Ihnen getan, Tomas?« schrie Roby Cibber, endgültig überzeugt, daß der andere den Verstand verloren hatte. »Jeden Tag habe ich Sie im Hotel ein- und ausgehen sehen. Ich habe Celia mit Ihnen gesehen. Sie ist eine von uns; sie ist nicht eine der Ihren. Sie gingen an mir vorbei und lachten und sprachen mit ihr. Jeden Tag sah ich Sie mit ihr lachen und sie anfassen, und ich haßte Sie, Señor; ja, ich haßte Sie, wie ich den anderen haßte. Den vom letzten Jahr, den jungen Yanqui, den lächerlichen Touristen. Und Celia hatte nur Augen für ihn, wie sie jetzt nur Augen für Sie hat. Sie hat keine Augen für Tomas, der einmal Mexikos Held war, von Oaxaca bis Guadalajara und Monterrey! Nein, Tomas ist alt geworden, nicht länger kann er am Tanz der Corrida teilnehmen. Kein Toro würde ihn ansehen, viel weniger eine Frau. Tomas taugt zu nichts mehr. Die Leute spuckten auf ihn.« Er riß sein Hemd aus der groben Hose und zeigte seine glatte braune Seite mit der riesigen Narbe. »Sehen Sie, Señor? Sehen Sie?« rief er in rauschhafter Erregung. »Mein Ehrenzeichen! Das Siegel meines Berufs! Aber was bedeuten einer jungen Frau Narben? Sie gingen und lachten mit ihr. Ich sah es. Ich sah Celia auch mit dem anderen. Und als ich es nicht länger ertrug, führte ich ihn eines Abends hierher, ich, der Toreador, ihn, den Großsprecher und Weiberhelden. Er starb nicht anders als die einfältigen Tiere, nur feiger. Jetzt sind Sie gekommen, Señor, und auch Sie sollen sterben!« »Lassen Sie mich gehen, alter Mann, und ich will vergessen, was Sie eben gesagt –« »Ich bin nicht alt!« rief Tomas und schwenkte die Capa vor Roby Cibber. »Sie glaubt, ich sei alt, ja! Jeden Tag geht sie an
meiner Bank vorüber und sieht mich nicht, und jeden Tag betrachte ich ihre Schönheit. Und ich sagte zu mir, nein, diese Yanquis sollen sie nicht haben. So viele auch kommen und mit ihr gehen mögen, ich werde sie töten. Einen und dann zwei und dann drei, und vielleicht ein Dutzend, bevor man mich fängt. Die Gringos sollen sie nicht haben. Ich werde sie haben!« Er schwenkte die Capa mit dem Degen. »Vorwärts, Yanqui! Steh nicht herum, lauf, greif mich an! Willst du dich abstechen lassen wie ein Schwein?« »Warum sollte ich auf diesen Wahnsinn eingehen?« keuchte Roby Cibber. Er warf schnelle Blicke nach links und rechts. Der Ausgang war durch den verrückten Alten versperrt, aber da waren die brusthohen Barreras. Wenn er sich mit dem gesunden Arm über den Bretterzaun schwingen konnte – Er brach nach der Seite aus, rannte los, streckte schon die Hand, seinen Körper im Schwung hinüberzustemmen, als ein brennender Schmerz wie glühender Draht durch seinen linken Oberschenkel fuhr. Er torkelte gegen die Barrera und fiel blutend. »Feigling!« höhnte Tomas. »Auf! Laß mich sehen, ob du ein besserer Toro bist als dein Landsmann!« Der Schmerz in seinem Bein stachelte Roby Cibber zu blinder Wut an. Er sprang auf und den Mexikaner an, der seinen Degen unter der Capa schräg abwärts gerichtet hielt. Tomas wich im letzten Moment aus, zog die Capa über Robys Kopf weg, daß der Stoff sein Gesicht streifte. »Gut!« rief er, einladend die Capa schwenkend. »Noch einmal!« Roby hatte schon kehrtgemacht, stürzte sich auf den Mann. Seine ausgestreckte Hand streifte Tomas' Hemd, griff ins Leere. »Gut, gut! Und wieder!«
Roby stand keuchend. Tomas blickte zum Mond auf. »Es ist spät. Es ist Zeit für die Estocada. Du wirst laufen, Yanqui, und ich werde den Degen in dein Gehirn stoßen.« Er hielt das rote Tuch in Schulterhöhe vor sich. Es bauschte sich in der kalten Brise. Das Mondlicht lag über allem. Roby Cibbers Bein pochte wie ein zweites Herz. Er konnte nicht gut sehen, wischte brennenden Schweiß aus seinen Augen, zwinkerte. Die Sterne blickten fern und kalt herab. Ein Gefühl von Verlorenheit kam über ihn, schon jenseits aller Verzweiflung. »Komm«, sagte Tomas und schwenkte die Capa. Der Degen schimmerte kalt im Wind. »Gut«, sagte Roby Cibber. »Jetzt«, sagte Tomas. »Jetzt!« Roby sprang vorwärts. Der Degen glitzerte. Robys Instinkt übernahm seinen Körper. Er ließ sich fallen, rollte seitwärts, packte die Füße des Stierkämpfers. Tomas schrie. Tomas fiel. Sie wälzten sich zusammen im weißen Sand und im Stierkämpfercape, und einmal hielt dieser den Degen, einmal der andere. Dann kam einer von ihnen frei und sprang auf, den Degen in der Faust. Der andere lag und starrte aus geweiteten Augen und sah die blitzende Klinge herabstoßen, und dann zuckte ein schwarzer Blitz kreischend durch sein Gehirn. Und die Sterne schienen über seinen erlöschenden Augen zu kreisen, als der Boden unter seinem Körper kippte und sank.
Die Kinder rannten und tobten über die blauen und roten Fliesen der Plaza unter den gestutzten Bäumen. Zwei Straßenkehrer fegten lustlos Bonbonpapier, Erdnußschalen, Zigarettenstummel und die versengten Reste von Knallfröschen zusammen, um die Abfälle der Fiesta dann in zwei verbeulte Tonnen zu schaufeln, die zu beiden Seiten eines Lastesels hingen. Der Tag der Toten war vorüber. Eine junge Frau in einem hellen Gabardinemantel überquerte mit raschen Schritten die Plaza zum Touristenhotel. Sie achtete nicht auf die trägen Bewegungen der Straßenkehrer und schien den bitteren und unglaublich zarten Duft der Holzkohlenfeuer nicht zu schmecken, der sich mit der kühlen, klaren Luft des Morgens mischte. Sie hatte auch keinen Blick für den alten Tomas, der auf seiner Bank in der Sonne saß und ihr nachschaute, bis sie im Hotel verschwand. ENDE