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Ein gigantisches Raumschiff mit Tausenden von Siedlern im Kälteschlaf, ausgerüstet für die Gründung einer Kolonie, bricht auf in ein fernes Sonnensystem. Nur kleine Teams von Wissenschalern überwachen den Flug, der Jahrzehnte dauern soll. Das Schiff wird von einem Cyborg gesteuert, einem cybernetischen Organismus, der nur noch zum Teil organischer, zum größeren Teil elektronischer Natur ist. Dieser Cyborg fällt aus, als das Raumschiff sich bereits auf einer Bahn befindet, die aus dem Sonnensystem hinausführt. Die Wissenschaler müssen mit ihren beschränkten Mieln schnellstens eine mechanische Intelligenz konstruieren, die die Steuerung übernehmen kann, daß heißt aber: einen Computer zustandebringen, der den Funktionen des menschlichen Gehirns möglichst nahekommt. Seine Konstruktion ist aber nur zum Teil ein technisches Problem, es ist auch ein psychologisches, und bei allen Versuchen dieser Art gab es in der Vergangenheit merkwürdige Katastrophen, denen die beteiligten Forscher zum Opfer fielen. Ist dieses »Versagen« des Cyborgs vielleicht nichts anderes als ein weiteres Experiment, ein konsequenter Schri in einer Versuchsserie, die künstliche Intelligenz zu schaffen? Frank Herberts Roman ist wohl das beste und intelligenteste Buch, das je über das Phänomen Bewußtsein und Realität geschrieben wurde.
FRANK HERBERT
Ein Cyborg fällt aus Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
h WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3384 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe DESTINATION VOID Deutsche Übersetzung von Thomas Schlück
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1966 by Frank Herbert Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1971 by Lichtenberg Verlag GmbH, München Genehmigte, ungekürzte Taschenbuchausgabe Printed in Germany 1974 Umschlagzeichnung: C. A. M. Thole, Mailand Umschlag: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3-453-30261-5
Frank Herbert – Ein Cyborg fällt aus
»Es ist tot«, sagte Bickel. Er hielt das abgetrennte Ende einer Zuführungsleitung in der Hand und starrte auf das Kontrollbre, von dem er es gelöst hae. Sein Puls ging zu rasch, und er spürte, wie seine Hände zierten. Acht Zentimeter hohe fluoreszierende Buchstaben flammten vor ihm an den Kontrollen. Nach dem, was er da eben getan hae, erschien ihm ihre Warnung wie ein Hohn. ORGANISCHES GEHIRN-ZENTRUM NUR DURCH DEN SCHIFFSINGENIEUR ZU ENTFERNEN Bickel glaubte, eine seltsame Stille im Schiff zu fühlen. Irgend etwas (nicht irgend jemand) war verschwunden. Es war, als häe die molekulare Stille des Alls die konzentrischen Hüllen der Earthling durchdrungen und sich bis zum Kern jenes eiförmigen Metallbrockens ausgedehnt, der auf Tau-Ceti zuraste. Wie Bickel bemerkte, teilten die beiden anderen Männer sein Schweigen. Sie fürchteten, den stillen Augenblick zu beenden – den Augenblick der Scham und Schuld und Wut … und Erleichterung. »Was häen wir denn tun können?« fragte Bickel. Er hielt die abgetrennte Leitung hoch und starrte sie an. Raja Flaery, der Psychiater-Geistliche der Mannscha, räusperte sich und sagte: »Nun mal ganz ruhig, John. Wir sind alle daran schuld.« Bickel richtete seinen Blick auf Flaery und betrachtete die betont spöisch-aufreizende Miene des Mannes, das schmale, stolze Gesicht, den verträumten Blick seiner braunen Augen und die leicht gehobenen schwarzen Augenbrauen, jeder Zug schien seine entsetzliche Überlegenheit auszudrücken. »Weißt du, was du mit deinen Schuldgefühlen machen kannst?« knurrte Bickel, aber Flaerys Worte haen seinen Ärger schon zerstreut und vermielten ihm ein Gefühl der Niederlage. 5
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Bickel wandte seine Aufmerksamkeit Timberlake zu – Gerrill Timberlake, dem Schiffsingenieur, dem Mann, der eigentlich die Verantwortung für die schrecklichen Ereignisse häe übernehmen müssen. Timberlake, eine gehetzte und nervöse Vogelscheuche von einem Mann mit einer Haut, die fast die tieraune Tönung seines Haars hae. Er wich Bickels Blick aus und betrachtete das Metalldeck unter seinen Füßen. Scham und Angst – das ist alles, was Tim empfindet, dachte Bickel. Timberlakes Schwäche – seine Unfähigkeit, das OGZ zu töten, auch als davon das Schicksal des Schiffes und Tausender von Menschenleben abhing – hae sie fast in die Katastrophe gestürzt. Und jetzt empfand der Mann nur Scham … und Angst. Es bestand kein Zweifel, was er häe tun müssen. Das OGZ war durchgedreht, war zu einem wilden, amoklaufenden Bewußtsein geworden – zu einem kranken Klumpen grauer Gehirnmasse, die jeden Servo an Bord zu einem Mordinstrument machte, die mit jedem Sensor ihren Wahnsinn demonstrierte und aus jedem Vokoder sinnloses Gestammel lallte. Nein, es häe kein Zögern geben dürfen – nicht nachdem drei Mannschasmitglieder ermordet worden waren –, und es erschien ihm wie ein Wunder, daß sie es überhaupt haen vernichten können. Vielleicht wollte es sterben, dachte Bickel. Und er fragte sich, ob die anderen sechs Projektschiffe, die schon vor der Earthling spurlos im Nichts verschollen waren, ein ähnliches Schicksal erlien haen. Waren bei ihnen die OGZs ebenfalls durchgedreht? Haen die Kernmannschaen den kürzeren gezogen, als es darum ging, zu töten oder getötet zu werden? Tränen standen Timberlake in den Augen. Das war zuviel für 6
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Bickel, dessen Wut erneut aufflammte. Er wandte sich an Timberlake. »Und was machen wir jetzt, Kapitän?« Die Ironie dieser Anrede konnte weder Timberlake noch Flaery entgehen. Flaery setzte zu einer Entgegnung an, überlegte es sich jedoch anders. Wenn man überhaupt davon sprechen konnte, daß das Sternenschiff Earthling einen Kapitän hae (von einem funktionierenden Organischen Gehirn-Zentrum abgesehen), dann kam diese Aufgabe nach ungeschriebener Übereinkun dem Schiffsingenieur einer Kernmannscha zu. Timberlake hob den Kopf und erwiderte Bickels Blick. Aber er sagte nur: »Du weißt, warum ich es nicht über mich gebracht habe.« Bickel hielt die Augen auf Timberlake gerichtet. Wie waren sie nur zu diesem Hampelmann von einem Schiffsingenieur gekommen? Ursprünglich hae die Kernmannscha aus sechs Mitgliedern bestanden – aus den drei verbliebenen Männern und aus der Krankenschwester Maida Blaine, Maschinenspezialist Oscar Anderson und Biochemiker Sam Scheler. Aber Blaine, Anderson und Scheler waren tot; Schelers explodierter Körper verstope eine Zugangsröhre im hinteren Teil des Schiffes, Anderson war von einer wie verrückt sich öffnenden und schließenden Irisschleuse zermalmt und die hübsche Maida von losgerissenen Frachtstücken zerquetscht worden. Für die tragischen Ereignisse machte Bickel in erster Linie Timberlake verantwortlich. Wenn der verdammte Narr sich nur gleich beim ersten Anzeichen der Gefahr zum Durchgreifen entschlossen häe, wie es logisch gewesen wäre! An Warnsignalen hae es nicht gefehlt – immerhin waren vorher schon zwei von den drei OGZs des Schiffes übergeschnappt. Die Ursache hierfür war klar. Und die Symptome – genau dieselben waren dem Zusammenbruch des ursprünglichen Projekts ›Bewußtseinsschaffung‹ auf der Erde 7
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vorausgegangen –, die wahnsinnige Vernichtung von Menschen und Material. Aber Tim wollte das Offensichtliche nicht sehen. Tim hae zu lange von der Heiligkeit des Lebens gefaselt. Leben, ha! dachte Bickel. Sie alle – auch die Kolonisten unten in den Hib-Tanks – waren lediglich Biopsie-Material, Doppelgänger, die in gnotobiotischer Sterilität im Mondstützpunkt aufgewachsen waren. »Unberührt von Menschenhand«, so haen sie unter sich immer gescherzt. Sie kannten ihre auf der Erde geborenen Lehrer nur als Stimmen oder puppengroße Bilder auf den Kathodenstrahlröhren des stützpunktinternen Sendenetzes – und nur selten haen sie sie durch das dreifache Glas der Schleusen, die den sterilen Kindergarten abkapselten, von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekommen, den Axolotl-Tanks entstiegen, sahen sie sich in der Obhut gepolsterter Metallklauen, Servo-Extensoren von Kindermädchen draußen auf dem Mondstützpunkt, denen ein unmielbarer Kontakt mit ihren Pfleglingen für immer verwehrt war. Kontaktlos – auf diese Formel läßt sich unser Leben bringen, überlegte Bickel, und der Gedanke milderte seine Wut auf Timberlake. Timberlake begann unter Bickels Blick unruhig zu werden. Flaery schaltete sich ein. »Irgend etwas … sollten wir doch tun«, sagte er. Er wußte, daß er die anderen in Bewegung bringen mußte. Das gehörte zu seiner Aufgabe – sie zur Arbeit anzutreiben, sie auf Trab zu bringen, selbst wenn sie einem offenen Konflikt entgegensteuerten. Raj hat recht, dachte Timberlake. Wir müssen etwas tun. Er versuchte das Gefühl der Scham abzuschüeln … und seinen Groll auf Bickel – auf den so verdammt überlegenen Bickel, der etwas ganz Besonderes zu sein glaubte, der über zahlreiche Talente verfügte und von dem ihrer aller Leben abhing. 8
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Timberlake ließ den Blick durch die vertraute Kommandozentrale im Kern des Schiffes wandern – ein Raum von siebenundzwanzig Meter Länge und zwölf Meter Breite. Wie das ganze Schiff, so war auch die KomZentrale entfernt eiförmig. Vier kokonähnliche Steuercouches mit fast identischen Kontrollen nahmen in paralleler Anordnung die weitgeschwungene Längswand ein. Nach Farbsystemen aufgeschlüsselte Röhren und Leitungen, Drähte, Skalen und Instrumentenkontrollen, Schalterreihen und Anzeigegeräte breiteten sich in sinnvollem Durcheinander über die grauen Metallwände aus. Von hier aus wurde das Schiff überwacht – und sein autonomes Bewußtsein, das Organische GehirnZentrum. Organisches Gehirn-Zentrum, dachte Timberlake und spürte, wie sein Schuld- und Schamgefühl zurückkehrte. Kein menschliches Gehirn, o nein. Ein Organisches Gehirn-Zentrum – ein OGZ. Durch die Umschreibung sieht man leichter darüber hinweg, daß das Zentrum einmal das Gehirn eines jungen Menschen gewesen war, das ohnehin sterben mußte. Wir nehmen ja nur unheilbare Fälle, Monstren, da dies unser Projekt weniger unmoralisch erscheinen läßt. Und jetzt haben wir es umgebracht. »Ich sag euch, was ich tun werde«, sagte Bickel. Er warf einen Blick auf das Sendegerät an seinen Kontrollen. »Ich berichte dem Mondstützpunkt über die Vorkommnisse.« Er wandte der zerstörten Konsole den Rücken und ließ die abgetrennte Leitung achtlos auf das Deck fallen. »Wir haben keinen Code für das … einen solchen Notfall.« Timberlake stellte sich ihm in den Weg und starrte ihn wütend an, abgestoßen von Bickels groben Gesichtszügen, den kurzgeschnittenen blonden Haaren und dem streitsüchtig vorgereckten Kinn. »Ich weiß«, sagte Bickel und ging um Timberlake herum. »Deshalb werde ich‘s im Klartext durchgeben.« 9
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»Das darfst du nicht tun!« protestierte Timberlake, wandte sich um und starrte auf Bickels Rücken. »Jede Sekunde vergrößert die Zeitverzögerung der Übermilung«, sagte Bickel. »Schon jetzt muß der Impuls fast ein Viertel des Sonnensystems durchqueren.« Er legte sich in seine Couch und zog den Sender heran. »Damit posaunst du die Sache in die Welt hinaus. Alle werden es hören, auch – du weißt schon wer!« sagte Timberlake. Da er im Grunde Timberlakes Meinung teilte und Zeit gewinnen wollte, stellte sich Flaery neben Bickels Couch und sah auf ihn herab. »Was willst du ihnen sagen?« »Ich werde nichts beschönigen«, erwiderte Bickel heig. Er aktivierte die Schaltung des Senders und überprüe das Sequenzband. »Ich sage, daß wir das letzte Gehirn von den Schiffskontrollen trennen und … dabei umbringen mußten.« »Man wird uns befehlen, den Flug abzubrechen«, sagte Timberlake. Nur ein leichtes Zögern von Bickels Fingern auf der Tastatur ließ erkennen, daß er die Worte verstanden hae. »Und wie willst du beschreiben, was mit den Gehirnen los war?« fragte Flaery gereizt. »Daß sie verrückt geworden sind«, sagte Bickel. »Das entspricht aber nicht genau den Tatsachen«, sagte Flattery. »Wir müssen noch einmal darüber sprechen«, sagte Timberlake mit Nachdruck. Er spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. »Nun hör mal zu«, sagte Bickel schroff zu Timberlake. »Du bist angeblich der Kapitän dieses Blechhaufens und läßt uns treiben, ohne daß sich überhaupt jemand um die Kontrollen kümmert.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Tastatur zu. »Hältst du dich etwa für qualifiziert, mir Vorschrien zu machen?« 10
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Timberlake wurde bleich vor Wut. Ich lasse mich von Bickel immer so schnell unterkriegen. »Die ganze Welt wird‘s mithören«, murmelte er, wandte sich jedoch seiner Couch zu und aktivierte die Hilfskontrollen, die sie nach Aureten der ersten Störungen im Schiffsgehirn gebastelt haen. Dann ließ er sich in die Couch sinken, prüe die Computer-Schaltkreise und rief die Kursdaten ab. »Die Organischen Gehirn-Zentren sind nicht verrückt geworden«, sagte Flaery. »Du kannst nicht einfach …« »Soweit wir das beurteilen können, sind sie verrückt geworden«, Bickel betätigte den Hauptschalter. Mit der Aktivierung der Laserverstärker, die schnell ihre vollen Werte erreichten, erfüllte ein Summen die KomZentrale, eine Vibration, die man auf der Haut spüren konnte. Ich müßte ihn jetzt aualten, dachte Flaery, als Bickel das VokoBand in den Sender speiste. Aber was würde das nützen? Es folgte ein Klicken; die Nachricht wurde für ihren Lasersprung durch das Sonnensystem komprimiert, verstärkt und gebündelt. Mit einer heigen Bewegung drückte Bickel auf die Sendetaste. Als die Sendeimpulssequenz das Weitere übernahm, ließ er sich zurücksinken. Handeln, auch wenn es falsch ist, erinnerte sich Flaery. Aber die Richtlinien sind wertlos hier draußen. Und jetzt ist es ohnehin zu spät, Bickel aufzuhalten. In diesem Augenblick wurde es Flaery bewußt, daß sich Bickel schon seit Verlassen der Mondkreisbahn nicht mehr hae aualten lassen. Dieser ungestüme, autoritäre Mann besaß den Schlüssel zum wahren Zweck der Earthling. Als er das Schnappen der Relais hörte, streckte Timberlake nervös die Hand nach einem Griff aus und umklammerte ihn. Er wußte, daß Bickels Ärger im Grunde berechtigt war. Die schmut11
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zige Arbeit der Tötung des letzten Organischen Gehirn-Zentrums häe ihm, dem Schiffsingenieur, zufallen müssen. Andererseits mußte Bickel die Barrieren kennen, die dem Schiffsspezialisten eingepflanzt waren. Einen Augenblick verweilten Timberlakes Gedanken bei seiner sterilen Kindheit in den Labors auf dem Mond – die einzige Heimat, die sie kannten. »Das größte Abenteuer der Menschheit – der Sprung zu den Sternen!« Mit diesem ehrfurchtgebietenden Leitspruch waren sie aufgewachsen. Als Mannscha der Earthling waren sie eine ausgesuchte Gruppe, 3006 erfolgreiche Kandidaten des schwierigsten Auswahlprozesses, den sich die Projektleiter für ihre Zöglinge ausgedacht haen. Die ersten sechs waren die Besten der Besten und bildeten die Kernmannscha, die das Schiff bis zum Verlassen des Sonnensystems überwachen und dann die wenigen Handkontrollen trennen und das Schiff für den zweihundertjährigen Sprung nach Tau-Ceti dem einsamen Bewußtsein, einem Organischen Gehirn-Zentrum, überantworten sollte. Und während die 3000 Menschen im Kern des Schiffes hinter den Wasserschilden der Hib-Tanks schliefen, sollte ihr Leben von den Servos und Sensoren abhängen, die mit dem OGZ verbunden waren. Aber wir sind nur noch 3003, dachte Timberlake, und wieder erfüllte ihn dieses Gefühl der Trauer, Scham und Niederlage. Und unser letztes OGZ ist tot. Angesichts der Notkontrollen kam sich Timberlake einsam und hilflos vor. Solange die Gehirne noch existierten und mindestens eins für die Sicherheit des Schiffes verantwortlich war, hae er sich einigermaßen sicher gefühlt. Doch als er nun auf die Reihen von Schaltern und Skalen und Anzeigegeräte der Computer-Hilfs12
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kontrollen starrte, machte sich Timberlake klar, wie unzureichend seine langsamen menschlichen Reaktionen waren angesichts der Millisekunden-Befehle, die hier draußen selbst in einem ganz normalen Notfall verlangt wurden. Das Schiff bewegt sich zu schnell, dachte er. Doch im Vergleich zu dem Tempo, das sie schon häen erreichen können, war die Schiffsgeschwindigkeit zu gering … Er aktivierte einen kleinen Sensorschirm zu seiner Linken und warf einen Blick nach draußen, betrachtete die grellen Lichtpunkte, die Sterne in der Leere des Alls. Wie immer beschlich ihn bei dem Anblick das Gefühl, ein winziger Punkt zu sein, dessen Existenz ausschließlich vom Zufall bestimmt wurde. Er schaltete den Schirm wieder ab. Etwas bewegte sich an seinem Ellbogen. Er wandte sich um und erblickte Bickel, der sich an eine Strebe neben dem Kontrollbre lehnte. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck der Erleichterung, daß Timberlake plötzlich klar wurde, daß Bickel mit der Meldung auch seine Schuldgefühle auf den Weg zum Mond geschickt hae. Timberlake fragte sich, wie ihm beim Töten wohl zumute gewesen sein mochte – auch wenn es sich dabei nur um ein Bewußtsein gehandelt hae, dessen Menschlichkeit schon vor Jahren, als es aus einem sterbenden Körper geborgen wurde, in einer Welt von Mechanismen untergegangen war. Bickel musterte die Kontrollen. Sie haen das Antriebssystem außer Betrieb gesetzt, als das zweite OGZ zu streiken begann. Aber die Earthling würde trotzdem schon in zehn Monaten die Grenze des Sonnensystems erreichen. Zehn Monate, dachte Bickel. Zu schnell und zu langsam. In diesen zehn Monaten war jeden Augenblick die Möglichkeit einer Havarie gegeben. Auf eine solche Beanspruchung war die Kernmannscha nicht vorbereitet. Bickel merkte, daß der Psychiater-Geistliche recht schweigsam geworden war, und warf Flat13
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tery einen verstohlenen Blick zu. Zuweilen ging es Bickel auf die Nerven, wenn er daran dachte, wie wenig sich vor diesem Mann verbergen ließ, aber im Augenblick war ihm das egal. Er überlegte, daß hier draußen jeder ein intimer Kenner seiner Gefährten werden mußte, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, daß der psychologische Druck zur Katastrophe führte. »Wie lange wird der Mondstützpunkt wohl für seine Antwort brauchen?« fragte Bickel. Flaery musterte Bickel aus den Augenwinkeln. Diese Frage, diese Mischung aus Kameradscha und Entschuldigung … Flaery machte sich klar, daß Bickel absichtlich so gesprochen hae. Der Mann offenbarte Fähigkeiten, von denen sie bisher nichts geahnt haen, die sie jedoch häen ahnen müssen. Immerhin war er die Schlüsselfigur an Bord der Earthling. »Die brauchen bestimmt eine Weile, um die Neuigkeit zu verdauen«, sagte Timberlake. »Ich bin trotzdem der Meinung, daß wir häen warten sollen.« Falscher Zug, dachte Flaery. Ein kleines Entgegenkommen würde sicher akzeptiert. »Das vordringlichste Problem da unten sind die Public Relations«, sagte Flaery. »In Stunden steht die ganze Geschichte auf der Titelseite aller Zeitungen. Und das hat eine Verzögerung zur Folge, darauf kannst du ween.« »Sie werden natürlich zuerst fragen, warum die OGZs versagt haben«, sagte Timberlake. »Einen medizinischen Grund dafür gibt es nicht«, erwiderte Flaery. Er erkannte, daß er sich zu unbedacht geäußert hae und fügte einschränkend hinzu: »Jedenfalls soweit ich es beurteilen konnte.« »Wartet‘s nur ab – es handelt sich bestimmt um etwas völlig Neuartiges, etwas, mit dem niemand gerechnet hat«, sagte Timberlake. 14
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Etwas, mit dem niemand gerechnet hat? überlegte Bickel. Er bezweifelte das, sagte aber nichts. Seit er an Bord gekommen war, spürte er zum erstenmal die Masse der Earthling ringsum und dachte an all die Hoffnungen und Mühen, die in das Unternehmen investiert worden waren. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, welch gewaltige, entschlossene Planung in dem Projekt steckte. Etwas, mit dem niemand gerechnet hat? Wohl kaum. Dennoch – sechs Schiffe waren hier draußen im Nichts verschollen. Sechs Schiffe, die viel mit der Earthling gemein haen. Als er das Wort ergriff, wollte er weniger zur Diskussion beitragen als sich selbst Mut machen: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß man so etwas übersehen hat. Irgendwann hat irgend jemand bestimmt auch an diese Möglichkeit gedacht.« »Warum hat man uns dann nicht darauf vorbereitet?« fragte Timberlake. Jetzt kommen Bickel die ersten Zweifel, überlegte Flaery. Und er wird sich zum erstenmal mit den wirklich brisanten Tragen beschäigen müssen. »Wir müßten schon längst in unseren Hib-Tanks liegen und aus dem Sonnensystem sein«, murmelte Timberlake. »Tim, zeig uns mal den Zeitplan«, sagte Flaery. Timberlake drückte eine grüne Taste oben rechts an seinen Kontrollen und starrte zum Hauptschirm hoch, auf dem der programmgesteuerte Zeitplan erschien. Zehn Monate – plus. Die unbestimmte Antwort machte den Eindruck, als teilte der Computer der Earthling die Zweifel der Besatzung. »Wie lange noch bis Tau-Ceti?« wollte Flaery wissen. »Bei dieser Geschwindigkeit?« fragte Timberlake. Er riskierte es, sich einen Augenblick von seinen Kontrollen abzuwenden. Der Blick, den er Flaery zuwarf, ließ erkennen, daß er an diese Mög15
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lichkeit noch gar nicht gedacht hae – an die Fortsetzung der Reise unter erschwerten Bedingungen, nämlich langsam und mit einer Mannscha, die bei Bewußtsein blieb, bis das Ziel erreicht war. »Etwa vierhundert Jahre«, sagte Bickel. »Diese Frage habe ich dem Computer sofort gestellt, als wir die Beschleunigung herabsetzten.« Sein Geist arbeitet glasklar, zu klar, dachte Flaery. Wir müssen auf ihn aufpassen, damit er nicht zerbricht. Im gleichen Augenblick ermahnte er sich: Aber Bickels Aufgabe erfordert einen Mann, der zerbrechen kann. »Zunächst beschaffen wir uns wohl am besten einen Ersatz aus den Hib-Tanks«, sagte Bickel. »Nur einen Ersatz?« fragte Flaery. »Wir wollen uns also hier einquartieren?« »Von Zeit zu Zeit müssen wir uns wohl ausschlafen«, sagte Bickel und nickte zur Seitenschleuse hinüber, die zu den spartanischen Quartieren der Mannscha führte. »Aber die KomZentrale ist der sicherste Ort im ganzen Schiff.« »Was ist, wenn uns die Projektleitung zum Umkehren auffordert?« fragte Timberlake. »Dazu kommt es bestimmt nicht sofort«, sagte Bickel. »Sieben Nationen haben einen Haufen Geld und Mühen und Träume in das Vorhaben investiert. Eine Nation allein würde vielleicht aufgeben – aber sieben Nationen … Nein. Vielleicht dauert es Monate, bis sie sich überhaupt auf irgend etwas einigen.« Zu glasklar, dachte Flaery. Und er fragte: »Wen schlägst du für die Dehibernation vor?« »Dr. Prudence Weygand«, sagte Bickel. »Du glaubst also, wir brauchen wieder einen Arzt?« fragte Flattery. »Ich meine, wir brauchen Prudence Weygand, das ist alles. Sie 16
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ist Ärztin, gewiß, aber sie kann auch als Krankenschwester arbeiten und … Maida ersetzen. Sie ist eine Frau, und vielleicht brauchen wir weibliche Logik bei unseren Überlegungen. Hast du Einwände gegen die Weygand, Tim?« »Was würde das schon ändern?« knurrte Timberlake. »Ihr beide habt die Entscheidung doch längst getroffen.« Bickel hae sich bereits seiner Steuercouch zugewandt. Als er den wütenden Unterton in Timberlakes Stimme bemerkte, zögerte er einen Augenblick, setzte dann seinen Weg fort, zog den Vakuumanzug unter der Couch hervor und begann ihn anzuziehen. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Ich übernehme hier, während du und Raj das Mädchen aus der Hib holt. Ich schlage vor, daß ihr euch ebenfalls dicht macht und die Anzüge anbehaltet. Ohne OGZ an den Kontrollen weiß man nie …« Er zuckte die Achseln, verschloß seinen Anzug und streckte sich in seiner Steuercouch aus. »Ich übernehme nach Zählung.« In den nächsten Minuten war Timberlake mit der Übergabe beschäigt. Die Hauptkontrollen schwangen auf ihren Schienen herum und rasteten in Bickels Konsole ein. »Was ist, wenn der Mondstützpunkt antwortet, während wir noch in den Tanks sind?« fragte Flaery. »Wir können die Dehib nicht stoppen und herauommen, nur um …« »Was ist denn anderes zu tun, als die Nachricht aufzuzeichnen und die Projektleute hinzuhalten, falls sie uns tatsächlich zum Umkehren auffordern?« fragte Bickel gereizt. Er zog die SÜ-Kontrollen dicht zu sich heran, so daß er auf der Anzeige sofort sehen konnte, wenn die Antwort der Mondstation eintraf. Flaery zuckte die Achseln und holte seinen Vakuumanzug hervor. Er bemerkte, daß sich Timberlake bereits umzog, wenn auch widerstrebend. 17
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Tim fühlt, daß Bickel das Kommando an sich reißt, dachte Flaery, aber er erkennt die Notwendigkeit dafür nicht … Bickel überzeugte sich, daß das Schiff so gut funktionierte, wie das ohne die homöostatische Kontrolle eines OGZ möglich war. Er ließ sich zurücksinken und beobachtete die Kontrollen, während die anderen die KomZentrale verließen. Plötzlich spürte Bickel das Schiff ringsum, als sei er mit jedem Sensor, der durch seine Kontrollen geleitet wurde, nervlich verbunden. Die Earthling lag vor ihm ausgebreitet, ein gewaltiger Moloch … und zugleich zerbrechlich wie ein Ei. Gegen seinen Willen richtete sich sein Blick auf die dunkle Lampe in der unteren linken Ecke der Kontrolltafel – die Lampe, die hellgelb häe leuchten sollen zum Zeichen, daß mit dem OGZ alles in Ordnung war. Aber die Gehirne haen versagt. Sie waren auf jede denkbare Streß Situation geprü, sagte sich Bickel. Etwas Unvorstellbares war geschehen. Oder etwa nicht? Timberlakes Frage machte ihm zu schaffen: »Warum hat man uns nicht darauf vorbereitet?« An den Hauptkontrollen über ihm strahlte eine Reihe gelber Lichter auf, die ihm anzeigten, daß sich das Schwerkrazentrum des Schiffes verschoben hae. Ein gewaltiger Sprung im Schwerkrafeld hae Frachtstücke, die für die Kolonie bestimmt waren, aus ihren Halterungen gerissen und Maida getötet. Behutsam verstellte Bickel die Kontrollen und versuchte, das Feld wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wie einfach wäre es ohne Schwerkra gewesen, dachte er. Aber die Medizin war dem Problem der negativen körperlichen Reaktion auf einen längeren Aufenthalt im freien Fall noch nicht auf die Spur gekommen. Der Gleichgewichtssinn im inneren Ohr war noch immer höchst anfällig. So mußten sie jetzt mit dem Minimalfeld-System leben – dem Schwerefeld-Mechanismus, der hier 18
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draußen einen unvorhergesehenen und tödlichen Defekt gezeigt hae. Die Anzeigelämpchen begannen zu verlöschen. Bickel justierte sorgsam die Gleichgewichtseinstellungen. Bisher konnten sie über die Ursache für die Feldverschiebungen nur vage Vermutungen anstellen; sie führten die Erscheinungen auf örtlich begrenzte Unregelmäßigkeiten im Schwerkrafeld des Sonnensystems zurück, das die Earthling durchquerte. Schließlich war auch das letzte Lämpchen wieder erloschen. Bickel ließ sich auf die Couch zurücksinken und atmete tief. Er war schweißüberströmt und spürte, wie sein Anzugsystem auf Hochtouren arbeitete. Die Wache in der KomZentrale konnte zur Hölle werden, überlegte Bickel. Die drückende Verantwortung, das Duell mit einem unbekannten Tod zehrten an den Kräen. Von hier ließen sich ohnehin nur die wesentlichsten Schiffsfunktionen kontrollieren, wofür die Überwachungsinstrumente gar nicht eingerichtet waren. Feinkorrekturen und komplizierte Reparaturen mußten warten, bis das Versagen ein Stadium erreichte, wo ein Mannschasmitglied losgeschickt werden mußte, um die Servos bei ihrer Arbeit anzuleiten. Auf diese Weise ließ sich bereits ein Ansteigen der Defekte vorausberechnen – bis zu dem Moment, da die Summe aller Schäden dazu führte, daß das Schiff selbst nicht mehr funktionierte. Es gab irgendwo in der Zukun einen Endpunkt für das Schiff, der sich als eine Summe von Defekten vorherbestimmen ließ. Irgend etwas hier in diesem Metallei stimmte nicht. Bickel begriff nicht, wieso ein Mann hier in der KomZentrale eine Verantwortung auf sich nehmen mußte, deren Last mit jedem Herzschlag zunahm, wieso er abwarten mußte in der Gewißheit, daß irgendein Mechanismus im Steuersystem des Schiffes früher oder 19
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später zusammenbrach, während ihm nur Miel für einen Notbehelf zur Verfügung standen. Mit den OGZs war das Schiff ein fein abgestimmter, fast automatischer Neuro-Servo-Reflex gewesen – in seiner Reaktion so homöostatisch wie ein gesunder menschlicher Körper. Und Bickel fügte Timberlakes Frage seine eigene Schlußfolgerung hinzu: Warum hat man hier alle Eier in einen Korb getan? Beim Erwachen dachte Prudence: Wir haben‘s gescha: Zweihundert Jahre durch den Raum – gescha! Erregung erfüllte sie bei dem Gedanken, daß sie nun eine jungfräuliche Welt betreten würde, eine Welt voller seltsamer neuer Dinge und unbekannter Probleme. Sechs Fehlschläge waren ein solches Ergebnis schon wert. Der siebente Versuch war nun gelungen. Wir haben‘s gescha. Wenn nicht … wenn nicht … Die kribbelnde Reizung der Dehib rann ihr durch Arm- und Beinmuskeln und ließ vorübergehend Schmerzzentren entstehen. Als Ärztin kannte sie die Gründe für den Schmerz, vermochte sich sein Vorhandensein zu erklären: Die menschliche Hibernation war ein Vorgang, der sich vom Überwintern der Tiere sehr unterschied. Kein Tropfen Wasser dure im Körper verbleiben, und der Eingeschläferte kam der Grenze zum physischen Tod sehr nahe. Sie versuchte sich aufzurichten. In diesem Augenblick erblickte sie Timberlake und Flaery neben ihrer Liege. Die beiden Männer sahen auf sie herab, und ihr Gesichtsausdruck brachte ihr das Wenn nicht wieder voll zum Bewußtsein. Flaery drückte sie zurück. »Langsam, Dr. Weygand«, sagte er. Dr. Weygand, dachte sie. Nicht Prudence. Nicht Prue. Dr. Weygand, kalt und förmlich. Ihr Hochgefühl begann zu schwinden. 20
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Dann begann Flaery mit leiser, beruhigender Stimme zu erklären – und sie wußte, daß für eine Hochstimmung kein Grund bestand. »Wie viele haben wir verloren?« fragte sie. Timberlake sagte es ihr. »Drei Tote?« Sie fragte nicht nach der Todesursache. »Bickel hat gebeten, dich aus der Hib zu holen«, sagte Flaery. »Weiß er den Grund?« murmelte sie, ohne sich um den fragenden Blick zu kümmern, den Timberlake ihr zuwarf. »Er hat ihn wohl erraten«, sagte Flaery und wünschte, sie würde mit den Fragen warten, bis sie allein waren. »Natürlich hat er das«, sagte sie. »Aber hat …?« »Er hat das Problem noch nicht aufgeworfen«, sagte Flaery. »Dräng ihn nicht«, sagte sie und blickte Timberlake an. »Du mußt vergessen, was du hier eben gehört hast, Timberlake.« Timberlake runzelte die Stirn, plötzlich aufmerksam geworden. Flaery beugte sich mit einer Injektionspistole über sie. »Ist das unbedingt nötig?« fragte sie. »Im Augenblick kannst du nichts weiter tun, als dich zu erholen«, sagte er und drückte ihr die Pistole an den Arm. Sie spürte das Rucken des Geräts und das sane Ausbreiten der Narkose. Flaery und Timberlake wurden zu verschwommenen, lichtgebadeten Gestalten. Wenigstens lebt Bickel noch, dachte sie, und braucht nicht ersetzt zu werden – durch die zweite Garnitur. Und als sie in der Dämmerung neuer Ohnmacht versank, dachte sie: Wie ist nur Maida gestorben? Die hübsche Maida, die … Timberlake beobachtete den trüben Schleier der Bewußtlosigkeit, der sich über ihre Augen senkte. Sie begann regelmäßig zu atmen. 21
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Als Schiffsspezialist hae Timberlake die im Computer gespeicherten Bandangaben über jede Person an Bord überprü. Er erinnerte sich jetzt, daß Prudence Weygand als hervorragende Chirurgin klassifiziert war. Er überdachte noch einmal das seltsame Gespräch zwischen ihr und Flaery und wurde gewahr, daß das Band einiges verschwiegen hae. Offenbar hae sie neben ihrer Tätigkeit als Chirurgin und Ökologin noch andere Funktionen an Bord, und mindestens eine dieser Funktionen betraf Bickel. Du mußt vergessen, was du hier eben gehört hast, Timberlake. Timberlake hae diesen kühlen Befehl noch genau im Ohr, von dem er wußte, daß er nicht dem emotionalen Index auf Prudence Weygands Band entsprach. Dort war sie im Mitleidsvektor als »Stelle neun-d grün« aufgeführt. Für das Auskommen einer zusammengepferchten Kernmannscha war diese emotionale Einstufung problematisch, weil sie einen Sexualtrieb beinhaltete. Mit Erschrecken begutachtete Timberlake Prues Zuleitungsspektrum auf ihrer Hib-Karte und stellte fest, daß sie sogar während der Hib die sexualhemmenden Anti-S-Drogen bekommen hae. Sie war bereitgehalten worden. Bereit wofür? fragte er sich. Flaery schloß den Kokon ihrer Liege und sagte: »Sie wird jetzt schlafen, bis sie wieder auf der Höhe ist.« Timberlake nickte und überprüe zum letztenmal die wenigen Versorgungsleitungen, die noch zu ihrer Liege führten. Flaery benimmt sich so merkwürdig, dachte er. »Am besten vergißt du das ganze Gespräch beim Erwachen«, sagte Flaery. »Ganz normale Dehib-Verwirrung.« Und sie hat Anti-S-Drogen in der Hibernation bekommen, dachte Timberlake. Flaery nickte in Richtung KomZentrale und sagte: »John ist jetzt schon fast vier Stunden allein an den Kontrollen. Es wird 22
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Zeit, ihn abzulösen.« Timberlake beendete seine Prüfung der Meßgeräte an der Liege, wandte sich um und trat als erster durch das Scho. Als er den nachdenklichen Ausdruck auf Timberlakes Gesicht bemerkte, dachte Flaery: Prues verdammtes Mundwerk. Wenn Tim jetzt was Falsches zu Wickel sagt, ist vielleicht das ganze Projekt gefährdet. Bickel hörte, wie Flaery und Timberlake die KomZentrale betraten, war jedoch von den Hauptkontrollen in Anspruch genommen. Eine seltsame Schwingung war in den primären Schleifen der Navigations-Analogbänke des Computers aufgetaucht. Sie erschien und verschwand, ohne daß eine Ursache dafür erkennbar wurde. Und wie stets bei einer Abweichung von der normalen Computerfunktion tauchte wieder die entscheidende Frage auf: Warum haen die OGZs versagt? Stellte die seltsame Schwingung etwas dar, für das die Gehirne nicht gerüstet waren? Wie wäre das möglich, wenn jeder einzelne OGZ-Stromkreis als offen und funktionstüchtig getestet worden war? Bickel hae das Gefühl, daß das OGZ-Versagen im psychologischen Bereich lag. Das Problem konzentrierte sich auf die Stelle, die für alle Sonden unerreichbar war – auf die graue Materie, die einmal der Teil eines Menschen gewesen war. Nun, ich weiß, wie wir dieses Durcheinander angehen müssen, dachte Bickel. Aber ob die anderen mitmachen? Bickel hörte, wie sich Flaery auf seine Steuercouch sinken ließ, und riskierte einen Blick zur Seite. Mit Flaery gab es vielleicht die meisten Schwierigkeiten. Flaery war Arzt und hae Schiffserfahrung. Er konnte Kontrollwache stehen und einfachere Servos und Sensoren reparieren. Es steckte aber noch ein anderer Mann in 23
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ihm – der Psychiater-Geistliche. Bickel hae zwar das Gefühl, als könnte der Psychiater in Flaery noch recht nützlich werden, aber in dem Geistlichen sah er nur Mystizismus und endlose Diskussionen voraus. Ich weiß nie, welche Maske Flaery gerade trägt, dachte Bickel und wünschte sich in diesem Augenblick, es häe eine Möglichkeit gegeben, auf einen Geistlichen an Bord zu verzichten. Aber diese Möglichkeit hae nicht bestanden; die gläubigen Millionen der Welt zahlten viel Steuern. Die Psychiater haen sich mit der Ausbildung Flaerys und seiner Ersatzleute viel Mühe gegeben. Ihnen war keine andere Wahl geblieben. Es war lange her, daß die Psychiater abgestrien haen, die Funktion von Zauberern zu erfüllen … und der Schri vom Zauberer zum Geistlichen war nicht allzu groß. Timberlake trat hinter Bickel und studierte das Meßgerät, das die gesteuerte Schwingung in den Navigations-Analogbänken zeigte. »Sieht aus wie ein Doppler-Bezugsimpuls aus dem Zeitlog«, sagte er. »Hast du unsere Position überprü?« »Nein«, sagte Bickel, und im gleichen Augenblick fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er wußte plötzlich, worauf der variable Impuls zurückzuführen war. Er selbst hae ein Anzeigewarnnetz in den Computer eingegeben, das ihm mieilen sollte, wenn die Schäden am Schiff ihren kritischen Stand erreichten. Defekte am Navigationssystem konnten höchst gefährlich sein – vor allem innere Defekte. Aber im Gegensatz zum Verschleiß von Maschinenteilen konnten sich innere Beschädigungen nur in Positionsabweichungen äußern. Seine Anzeigeschaltung hae eines der Hauptprogramme des Schiffscomputers alarmiert, und nun fand eine laufende Doppler-Bezugsüberprüfung der Schiffsposition sta. 24
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Bickel wandte sich zu den Computerkontrollen um, machte einen Probedurchlauf in den Navigationsschleifen und las die induzierte Resonanz von den Schwingungsmeßgeräten ab. Die Werte stimmten überein. »Der Computer handelt … fast … wie ein Mensch«, sagte Flattery. Bickel und Timberlake lächelten sich wissend an. Fast wie ein Mensch, allerdings! Das verdammte Ding verrichtete nur die Aufgaben, für die es konstruiert war. Bickel hae lediglich übersehen, daß auch diese Aufgabe zur Konstruktion gehörte. »Am besten sehen wir uns die Schaltpläne und Konstruktionsbeschreibungen an und zerbrechen uns die Köpfe, welche Folgen das Fehlen eines OGZ auf den Computer haben könnte«, sagte Timberlake. Bickel nickte. Er war dankbar, daß sich Timberlake als Elektronikfachmann in mancher Beziehung durchaus mit den anderen an Bord messen konnte. Die Arbeit als Schiffsingenieur, der für die lebenserhaltenden Systeme zuständig war, erforderte umfassende allgemeine Kenntnisse. Schiffsingenieure waren in der Biophysik bewandert, haen Erfahrungen im elektronischen Bereich, brachten es aber nicht zu der Kunstfertigkeit im Umgang mit Variablen, die den wahren Kenner auszeichnet. »Hast du Lust auf eine Pause, John?« fragte Flaery. »Gern. Wie geht‘s Prue?« »Doktor Weygand schlä im Augenblick«, sagte Flaery, »sie braucht noch ein paar Stunden Erholung.« Warum ist er so förmlich? fragte sich Bickel. Raj muß doch wissen, daß wir zusammen ausgebildet worden sind. Damals war sie immer Prue für uns. Warum sollten wir sie plötzlich Doktor nennen? »Ich übernehme die Kontrollen auf Zählung«, sagte Flaery, und die Wachablösung begann. 25
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Timberlake, der Bickels Ratlosigkeit spürte, machte sich klar, daß Flaerys Betonung auf Doktor Weygand nicht für den Elektronikingenieur bestimmt gewesen war. Raj hat mir etwas sagen wollen, dachte Timberlake. Er ließ mich wissen, daß Doktor Weygand vielleicht medizinische Gründe für ihr seltsames Verhalten hae. Raj rät mir, den Mund zu halten. Instinktiv mißfiel ihm die Tatsache, daß Flaery die Warnung überhaupt für erforderlich gehalten hae. Bickel löste die Verbindung zu den Kontrollen, ließ sich von seiner Couch gleiten und begann seine Muskeln zu lockern. Bei dem Gedanken an die Fächer, die er zusammen mit Prue Weygand belegt hae – Computer-Mathematik, Servo-Sensoren-Reparatur, Schiffsfunktionen –, kam ihm auch wieder die Frau zu Bewußtsein. Sie war ein verwirrendes, empfindsames frauliches Wesen, das seine Gefühle allzu offen zeigte. Bickel überlegte, daß Prue Weygand eine recht bescheidene Frau mit regelmäßigen Zügen und einer guten, aber kaum außergewöhnlichen Figur war. Trotzdem gehörte sie zu dem Typ, der männliche Blicke auf sich zog – sie strahlte etwas Besonderes, etwas Lebendiges aus. Habe ich sie deshalb ausgesucht? fragte sich Bickel. Eine Frau wie Prue stellte einen Unruhefaktor in einer sonst rein männlichen Mannscha dar – sofern nicht alle Anti-S nahmen. Aber sie konnten es sich nicht leisten, ihre Fähigkeiten auf diese Weise abzustumpfen. Ich habe sie ausgesucht, weil sie in einem Schiff mit fünffacher Ersatzbelegung einmalig erscheinen muß, beruhigte sich Bickel. Sie versteht sich auf Ökologie, Medizin und Computer-Mathematik und wird uns sicher viel nützen. Aber er konnte seine Zweifel nicht völlig ausräumen. Bickel sah sich in der KomZentrale um und konzentrierte sich auf das Schiff, um die beunruhigenden Gedanken zu vertreiben. 26
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Schiff, Computer und hybernierende Kolonisten waren ein Kräftepotential, das nach Bickels Auffassung ohne weiteres mit einiger Überlegung angezap und bei Bedarf eingesetzt werden konnte. Er fühlte, wie das Schiff mit seinen sechzehn konzentrischen Hüllen ihn einschloß – eine gewaltige eiförmige Masse, die in ihrer Längsachse gut anderthalb Kilometer maß. Jenseits der Wasserbarriere und den Schilden, die das Kernstück abschirmten, lagen kilometerlange Korridore und Tunnel, die durch automatisch schließende Schoe unterteilt waren. Dort herrschte das geordnete Durcheinander des Materials, das für ein menschliches Überleben in einer fremden Umwelt erforderlich war. In den Hib-Tanks ruhten zweitausend erwachsene Menschen, tausend menschliche Embryos und über sechstausend tierische Embryos – ein ›volles ökologisches Spektrum‹. Bickel drehte sich um und betrachtete seine Computerkontrollen. Sein Plan brachte den Computer in Gefahr, aber das war ein notwendiges Risiko. Die anderen mochten sich zwar zuerst gegen ihn stellen, aber letztlich mußten sie doch mitmachen. Er sah zu Flaery hinüber, der mit den Hauptkontrollen beschäftigt war, während Timberlake auf seiner Steuercouch eine beruhigende Massage über sich ergehen ließ. Dann blickte er wieder auf seine Computerkontrollen. Der Computer im Metallei war im wesentlichen ein Multisystem-System mit internen Rubinlaser-›Echtzeituhren‹, die seine eigenen ›Erfahrungen‹ registrierten. Er umfaßte über 800000 spezielle Programme. Bickel versuchte, das Potential das Computers abzuschätzen; mit seinem Dreimilliardstelsekunden-Gedankendurchsatz und der Multifolgenverarbeitung konnte er Tausende von Programmen gleichzeitig durchschießen. Er konnte Folgeablauf, Impulseinsatz und Eingabe durch ein Speicherzentrum überwachen, das über gewaltige Reserven an unprogrammierten Nebenfunktionen und Alarmsystem-Netz27
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werken verfügte. Mit einem OGZ als Überwachungsprogramm – als oberstem Entscheidungsgeber – waren der Computer und das von ihm gesteuerte Schiff ein lebendiges Geschöpf gewesen. Aber drei Gehirne haen in dieser empfindlichen Verbindung versagt. Und als Pragmatiker traute Bickel nur dem Gerät, das auch wirklich funktionierte. Ohne OGZ war der Schiffscomputer eine träge Maschinenmasse, deren abruare Ausgabe einem vorherbestimmten Plan folgte, so daß man sie nur nach Entscheidung durch einen Menschen akzeptieren oder ablehnen konnte. »Wie lange dauert es noch, bis Prue soweit ist?« fragte Bickel. »Etwa drei Stunden«, sagte Timberlake. »Ich möchte ihre Meinung über die Autopsie hören«, sagte Bickel. »Mir gefällt nicht, was wir in den ersten beiden Gehirnen gefunden haben.« Timberlake schaltete seine Couchmassage ab und sah Flaery prüfend an. Der Psychiater-Geistliche lächelte bei dem Gedanken, daß Bickel ein Verfechter der Logik war und sich nur wenig um Dinge kümmerte, die außerhalb seines unmielbaren Gedankenganges lagen. »Der Mondstützpunkt wird uns ein paar Fragen stellen, auf die wir keine Antwort wissen«, sagte Bickel. »Wir dürfen nicht unsicher erscheinen.« Er wandte sich an Timberlake. »Sie werden uns auseinandernehmen, von den Versorgungssystemen angefangen bis …« »Die Systeme waren völlig in Ordnung!« sagte Timberlake barsch. »Das sollten wir aber auch beweisen können«, erwiderte Bickel. »Ich habe beim Versagen des ersten Gehirns die gesamte Kon28
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sole durchgeprü«, setzte sich Timberlake zur Wehr. »Überzeug dich selbst.« »Habe ich schon getan. Dabei haben mir verschiedene Dinge Sorgen gemacht. Gehirn eins hat sich immer ›Myrtle‹ nennen lassen. Wieso das? Im Speicherzentrum findet sich keine Erklärung dafür – außer daß Gehirn eins wahrscheinlich einem genetischen Ungeheuer entstammte, das weiblich war.« »Myrtles eigenes System wich nur um 0,0002 vom homöostatischen Zentrum der Anders-Skala ab«, sagte Timberlake. »Laß dich durch diesen Hang zur Identität nicht irreführen«, sagte Flaery. »Er war doch nur zu unserem Nutzen und vermenschlichte uns das Schiffs-OGZ ein wenig …« »Jaja!« sagte Bickel. »Diesen Grund haben alle drei Gehirne genannt – aber ist es auch der wirkliche Grund?« »Die Gehirne waren ebenso in Ordnung wie jedes andere normale menschliche Gehirn«, sagte Flaery und fragte sich, wieso ihn Bickels Einstellung derart reizte. »Gut, sie sind von klein auf in das totale Schiff-Sensor-Servo-System hineingewachsen – na und? Sie kannten aber kein anderes Leben und wollten auch nicht …« »Du hast gesagt, daß dir verschiedene Dinge Sorgen gemacht häen«, unterbrach Timberlake. »Was war das noch?« »Dein Bericht über die Systeme«, sagte Bickel, »und zwar Eintragung 9107 über Myrtle. Es heißt dort: ›Von den Systemen scheint also keines defekt gewesen zu sein.‹ Warum hast du das Wort scheint verwendet, Tim? Haest du irgendwelche Zweifel, die du nicht in den Bericht aufnehmen konntest?« »Er ist eben vorsichtig gewesen«, sagte Flaery. »Wenn du die Unterlagen durchgesehen hast, wirst du auch festgestellt haben, daß mein medizinischer Bericht seine Feststellungen in allen Punkten bestätigt.« »Mit einer Ausnahme«, sagte Bickel. 29
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»Und die wäre?« fragte Timberlake heig. Sein Gesicht rötete sich, und er starrte Bickel wütend an. Bickel ignorierte seine Erregung und sagte: »Unerklärt bleiben die inneren Verbrennungen, die Raj in den Gehirnen feststellte. ›Innere Verbrennungen‹, lautet der Befund, ›besonders entlang der übergroßen Nebenaxone der afferenten Seite.‹ Was zum Teufel meinst du mit übergroß? Übergroß im Vergleich womit?« »Ein Hauptkanal, der in die höheren Zentren des Gehirns führte, war etwa viermal so groß, wie er häe sein dürfen«, sagte Flaery. »Ich kenne den Grund nicht, aber ich stelle mir vor, daß hier ein Anpassungswachstum vorliegt. Die OGZs haen unverhältnismäßig viele Daten zu bewältigen – von mehr Sensoren, als der normale Mensch jemals hat. Du kannst dich überzeugen, daß die Stirnlappen ebenfalls größer waren, aber die …« »Die Beschreibung des OGZ-Prozesses enthält das alles«, sagte Bickel. »Ausgleichendes Wachstum, gut, aber ich finde dort kein einziges Wort über große Nebenaxone. Kein einziges Wort.« »Die Gehirne sind länger im System gewesen als irgendein Gehirn zuvor«, sagte Timberlake. »In der Fachliteratur finden sich nur Hinweise auf vier Gelhirne, die bisher aus natürlichen Ursachen gestorben sind, und wir …« »Natürliche Ursachen?« fragte Bickel. »Was ist eine natürliche Ursache für den Tod eines OGZ?« »Du weißt ebenso wie ich, was geschehen ist«, sagte Flaery. »Zufälle – Reizstoffe in der Nährlösung, ein Strahlungsschild, das einen Augenblick unwirksam ist …« »Aber das ist menschliches Versagen, kein OGZ-Versagen!« sagte Bickel wütend. »Das sind keine natürlichen Ursachen. Und noch etwas: Myrtle verfiel in Katatonie – oder wie du‘s nennen willst – genau zehn Tage, vierzehn Stunden, acht Minuten und elf Sekunden nach dem Start vom Mondstützpunkt. Wir nahmen 30
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den kleinen Joe in Dienst, und er hielt es sechs Tage, neun Stunden und eine Sekunde lang aus. Dann überließen wir Harvey das Schiff – unsere letzte Chance –, und Harvey brauchte nur glae fünfzehn Stunden. Und dann … Aus! Kapu!« »Der Streß wurde zunehmend größer, so daß sie natürlich auch immer schneller zusammenbrachen«, sagte Flaery. »Aber du wirst feststellen, daß die letzten Worte der Gehirne auf eine Art geistiger Auflösung hindeuteten, die der Schizophrenie ähnelt, und …« »Ähnelt!« höhnte Bickel. »Überall sieht man das in diesen verdammten Berichten: ›… so etwas wie …‹, ›… ein Zustand, der einen erinnert an …‹, ›… ähnlich wie …‹ In Wirklichkeit wissen wir überhaupt nicht, was in den grauen Zellen eines OGZ vorgeht!« Ein Klicken und Summen ertönte von den Hauptkontrollen über Flaery. Bickel wartete, während Flaery die Temperatur in einem inneren Laderaum korrigierte. Dann wischte sich Flaery den Schweiß von der Stirn und betrachtete seine Anzeiger, um sich zu vergewissern, daß das Gleichgewicht nun bewahrt blieb. »Mann, die Kontrollen sind der reinste Mord«, knurrte Timberlake. »Kein Wunder, daß die OGZs verrückt geworden sind.« Flaery warf ihm einen Blick zu. »Das müßtest du doch besser wissen, Tim. Dieser Teil der Arbeit war ein Kinderspiel für ein funktionierendes OGZ. Die homöostatischen Probleme des Schiffes wurden mit fast reflexähnlicher Präzision bewältigt.« »Reflexähnlich«, lachte Bickel. »Schon gut!« knurrte Flaery und tat, als sei er mit den Kontrollen beschäigt, während er seine Bestürzung darüber zu meistern versuchte, daß Bickel ihn so leicht treffen konnte. Ein langes Schweigen senkte sich über die KomZentrale, bis Flaery sich wieder gefaßt hae. 31
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»Ich sagte eben, daß die letzten Bänder der Gehirne Äußerungen enthalten, die etwas Schizophrenes an sich haben. Manchmal scheinen sie etwas bedeuten zu wollen, versteigen sich zuweilen in einen blumigen Satz, aber im Grunde …« Er unterbrach sich, als drei flammendgelbe diagonale Streifen auf den Hauptkontrollen erschienen. Bickel brüllte: »Gravitationsverschiebung!« und hastete auf seine Couch zu. Flaerys Hände hetzten über die Tastatur. Kokons rasteten um die Männer ein, und sie spürten die unheimlichen ruckartigen Gewichtsverlagerungen, die Fluktuation des Feldzentriersystems – die unvorhergesehenen Gravitationsschwankungen, denen Maida zum Opfer gefallen war. Bickel beobachtete Flaerys Hände, die das System wieder ins Gleichgewicht zwangen. Das Rucken begann nachzulassen. Schließlich vollzog Flaery eine letzte Korrektur an den Zentrierungskontrollen und fuhr fort, als häe es keine Unterbrechung gegeben: »Wie ihr euch sicher erinnert, hat Myrtle gesagt: ›Ich habe keine Inkarnation.‹ Das war vielleicht die einzige zutreffende Feststellung in ihrem Geplapper. Immerhin hae sie – wenn man einmal von ihren grauen Gehirnzellen absieht – tatsächlich keinen Körper. Aber dann sagte sie nach langem Schweigen: ›Ich zähle meine Finger.‹ Dabei hae sie gar keine Finger und auch keine bewußte Erinnerung daran. Und dann die letzte Frage: ›Warum seid ihr alle so tot?‹ Am ehesten läßt sich wohl noch annehmen, daß jegliche Bedeutung in diesen Äußerungen und Fragen nur auf Zufall beruhte.« »Ich glaube, daß Myrtle uns – die Mannscha – gemeint hat«, sagte Bickel. »Das klingt verrückt, gewiß, aber es war eine direkte Frage über die Vokoder, und wir waren das einzige Publikum.« »Sie kann natürlich auch die Kolonisten in den Hib-Tanks gemeint haben«, sagte Flaery. »In gewisser Weise könnten sie ja 32
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tot erscheinen …« »Myrtle stand in direktem Kontakt mit den Hib-Tank-Sensoren«, stellte Timberlake richtig. »Sie häe ihr Lebendigsein gespürt.« Bickel nickte. »Und der kleine Joe brüllte aus jedem Vokoder im Schiff: ›Ich bin erwacht! Go steh mir bei – ich bin erwacht!‹« »Vielleicht ein Hilferuf«, sagte Flaery. »Das Gefasel eines Irrsinnigen ist meistens irgendwie auch ein Hilfeschrei.« Bickel sagte: »Harvey brüllte: ›Ihr zwingt mich zu einem ungesunden Leben!‹, und als wir …« »Was konnten wir tun?« fragte Timberlake, und Bickel bemerkte den hysterischen Unterton in seiner Stimme. »Mit den Versorgungssystemen der Gehirne war alles in Ordnung – das weiß ich genau!« »Nun mal ganz ruhig, Tim«, sagte Flaery. »Das war doch nur eine ganz unsinnige Äußerung.« »Wir alle wissen aber, was sie bedeutete«, sagte Bickel. »Keiner von uns war überrascht, als Harvey schließlich sagte: ›Ich hab‘s verloren!‹ und dann abging … für immer. Wir rechneten schon damit, das wißt ihr. Und da sitzen wir nun mit drei toten Gehirnen ohne Ersatz.« Bickels nüchterne und gefühllose Formulierung erfüllte Timberlake mit Traurigkeit, die er sich nicht erklären konnte. Er hae nichts für die OGZs empfunden; die ›Schiffswesen‹ haen für ihn stets etwas Anklagendes gehabt. Raj Flaery hae ihm versichert, daß das ein rein subjektiver Eindruck sei, etwas, das auf seiner Grundeinstellung basiere. Raj war immer fest davon überzeugt gewesen, daß die OGZ-Cyborgs in ihrem Dasein völlig aufgingen und mit ihrem Lohn zufrieden waren. Was für ein Lohn? fragte sich Timberlake. Eine lange Lebenserwartung? Aber was ist ein drei- oder viertausend Jahre langes Leben, wenn jede Minute die Ewigkeit der Hölle bedeutet? 33
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Timberlake machte sich in diesem Augenblick klar, daß keine der glaen Antworten seiner Ausbildungskurse tatsächlich die Voraussetzungen einer glücklichen OGZ-Existenz berührte. Und wenn so sein Leben wirklich die Hölle wäre? überlegte er. Es ist wohl so. Sie sind mit all dem Metall und Glas und Plastik verbunden, und die Zeit dehnt sich … in alle Ewigkeit, Vielleicht war da der Tod tatsächlich etwas Erstrebenswertes. Flaery sagte: »Ich möchte etwas über den Zorn sagen. Seit Eintri unserer Katastrophe habe ich mehrere Zornausbrüche – einschließlich meines eigenen – erleben müssen.« Der förmliche Ton und der Gesichtsausdruck deuteten darauf hin, daß Flaery offiziell in seiner Eigenscha als Geistlicher zu ihnen sprach. »Der Zorn könnte uns vernichten«, sagte er. »Schon die Sprüche warnen uns: ›Wer sich gar schnell erzürnet, handelt närrisch.‹ Laßt uns doch in Vernun reden, ohne Zorn heraufzubeschwören.« Bickel seufzte tief. Er wußte, daß Flaery recht hae, aber Bickel mißfiel die Art, wie sich der Mann auf die Religion zurückzog, um seinen Standpunkt klarzumachen. Einfacher wäre es gewesen zu sagen, daß sie ihre Vernun durch zu viele Emotionen vernebelten. Das mißfiel ihm überhaupt an der Religion – die Art, wie sie mehr das Gefühl als die Intelligenz anzusprechen versuchte. »Wir sind bisher nur im dunkeln herumgetappt und haben zuviel auf einmal machen wollen«, sagte Bickel. »Die Hauptkontrollen sind ein notdürig zusammengeschustertes Provisorium – mehr nicht. Zur Bewältigung unserer Aufgabe brauchen wir einen durchdachten Plan. Wenn die Antwort des Mondstützpunkts eintri, möchte ich gern sagen können, daß wir …« Abrupt preßte ihn eine gewaltige G-Kra seitlich in seinen Couchkokon – ohne daß es visuelle oder akustische Alarmsignale gegeben häe. Die Sicherheitsschlösser der Kokons schnappten zu. Jetzt blitzten auch rote Alarmlampen an der Konsole auf und 34
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bildeten zusammen mit den gelben Lichtern ein unruhig flackerndes Muster. Flaery hieb mit der linken Handkante auf den SchwerkraTrennungsschalter, und die G-Kra verebbte. Mit dem Nachgeben der Druckschalter erloschen die gelben Alarmleuchten. Ein rotes Lämpchen blieb. »Defekt in Hülle drei, Sektion sechsvierzehn«, sagte Flaery. Er begann ferngesteuerte Sensoren zu aktivieren, um das betroffene Gebiet in Augenschein zu nehmen. Ohne zu überlegen oder die Frage zur Diskussion zu stellen, übernahm Bickel das Kommando des Schiffes. »Tim, du kümmerst dich um die G-Instrumente. Laß die Gravitation ausgeschaltet, während du den Relais nachspürst und das System wieder ins Gleichgewicht bringst.« Gehorsam zog sich Timberlake seine Kontrollen heran. Bickel schwang die SÜ-Konsole an seine Seite, schaltete auf Schiffssystemcomputerkontrolle und begann kodierte Fragen an die Aufzeichner des Speicherzentrums zu richten. Womit war das Schiff zusammengestoßen? Womit ließ sich die heige Abweichung erklären? Die Drucker begannen im selben Moment ihr Band auszuspucken – viel zu schnell. »Datenfehler«, sagte Flaery, der über Bickels Schulter mitlas. In plötzlicher Wut trennte Bickel die Hauptüberlagerungssperre von seinem Speicherschalter und öffnete das Speichersystem. »Du gehst ja direkt in den Speicher!« sagte Flaery, und in seiner Stimme lag ein Unterton von Angst. »Du hast keine Leitsicherung und kein Vergleichsprogramm. Du könntest gla die Kommandoprogramme stören.« Timberlake hob seinen Kopf aus den Kokonklammern und starrte zu Bickel hinüber. »Schalte dich da wieder raus!« rief er. 35
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»Nun haltet mal beide den Mund! Natürlich ist der Speicher empfindlich, aber er ist schon so vergammelt, daß er uns töten könnte.« »Und du glaubst, du häest Zeit, etwa achthunderausend Programme zu überprüfen?« fragte Timberlake. »Red doch keinen Unsinn!« »Versuch mich nicht in meiner Arbeit zu belehren«, sagte Bickel. »Wenn du auch nur einen Fehler machst«, sagte Timberlake, »brauchen wir sechs- bis siebentausend Techniker, ein zweites Hauptsystem und mehrere tausend gedruckte Relais, um den Schaden wieder zu reparieren. Bist du überhaupt in der Lage, die…« »Hör endlich auf, mich abzulenken!« »Wonach suchst du eigentlich?« fragte Flaery, der trotz seiner Angst Interesse zeigte. Er machte sich klar, daß Bickel zwar ein instinktives Widerstreben gegen eine Rückkehr eingepflanzt bekommen hae, daß er aber unfähig war, etwas zu tun, das sie vielleicht eines ihrer wichtigsten Werkzeuge beraubte. »Ich überprüfe die Verfügbarkeit von peripheren Geräten im Speicherzentrum«, sagte Bickel. »Da muß es irgendwo einen Nebenschluß oder eine Stockung geben. Das wird sich in den Erfassungs- und Phasensteuerungsschleifen der Eingabe zeigen.« Er deutete auf einen Fehlersuchanzeiger an seinen Kontrollen. »Und da ist es auch schon.« Die Nadel des Gerätes prallte gegen den Stoppsti, fiel auf Null zurück und rührte sich nicht mehr. Vorsichtig gab Bickel in direktem Kontakt ein FehlersuchHauptprogramm ein, schaltete den Standardkern auf das abgesicherte Hilfsgerät und begann die problematische Sektion des Speicherzentrums durchzunehmen. Fehlerverzweigungen begannen in seinen Antwortgebern zu klicken. Als die Codezahlen auf 36
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dem Schirm über seinen Kontrollen erschienen, begann Bickel laut mitzuübersetzen. »Speicherkern-Vorhersageregion desaktiviert. Protonenmasse und -verbreitung in bezug auf Schiffskurs-Masse-Geschwindigkeit mit Vorhersage nicht übereinstimmend.« Zur Seite gewandt, sagte Bickel: »Wir stoßen da auf etwas ganz anderes als Wasserstoff, und zwar in völlig unerwarteter Konzentration – teilweise aufgrund unserer Geschwindigkeit/MasseWerte.« »Solare Winde«, flüsterte Timberlake. »Man hat uns gewarnt, wir …« »Zum Teufel mit den solaren Winden!« sagte Bickel. »Schaut euch das an.« Er deutete mit dem Kinn auf eine Gruppe von Kodezahlen, die auf dem Schirm vorrückte. »Sechsundzwanzig Protonen pro Einheit in der Masse«, sagte Timberlake. »Eisen«, sagte Bickel. »Freie Eisenatome hier draußen. Da schlagen wir uns doch tatsächlich mit einer altmodischen magnetischen Ablenkung des Grav-Feldes herum!« »Wir müssen unsere Geschwindigkeit verlangsamen«, sagte Timberlake. »Unsinn!« erwiderte Bickel heig. »Wir installieren einfach einen automatischen Überstromausschalter im G-System. Ich begreife überhaupt nicht, wieso die Ingenieure nicht gleich beim Bau des Schiffes daran gedacht haben.« »Vielleicht haben sie sich keine Kra vorstellen können, die stark genug wäre, das System zu beeinflussen.« »Zweifellos.« Bickel schnaubte verächtlich. »Aber wenn ich mir vorstelle, daß ein einfacher Ausgleichsschalter Maidas Tod häe verhindern können …« »Man hat sich eben auch auf die OGZ-Reflexe verlassen«, sagte 37
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Flaery. »Das weißt du ebenso wie wir.« »Ich weiß nur, daß man geradlinig gedacht hat, wo ein paar Umwege am Platz gewesen wären«, sagte Bickel. Er öffnete seinen Sicherheitskokon, segelte schräg durch die KomZentrale zur Werkzeug- und Reparaturluke, öffnete sie und schwang das Reparaturgerät heraus. Wortlos machte er sich an die Arbeit und montierte mit schnellen, entschlossenen Bewegungen einen Ausgleichsschalter neben der Hauptleitung zum Schwerkragenerator. Schließlich stellte er die Verbindungen her, prüe die Stromkreise und machte die Verkleidung wieder fest. »Wir werden ihn jedesmal von Hand neu stellen müssen«, sagte er. Er stemmte einen Fuß gegen das Scho, stieß sich ab, schwebte zu seiner Couch zurück, schloß sich ein und sah zu Timberlake hinüber. »System ausgeglichen?« »Soweit sich das von hier aus sagen läßt, ja«, erwiderte Timberlake. »Versuch‘s mal, Raj.« Flaery überzeugte sich, daß sowohl Timberlake als auch Bickel in ihren Kokons eingeschlossen waren, und legte den Gravitationsschalter um. Das Geräusch der anlaufenden Generatoren wurde zu einem schwachen Summen, das mit der Stabilisierung des Systems wieder schwand. Flaery spürte den Druck an den Schulterbläern, hob eine Hand zu den Kontrollen und korrigierte die Einstellungen. »Tim«, sagte Bickel. »Ich möchte mir die Beschreibung der OGZ-Kammer einmal ansehen – und zwar jede einzelne funktionelle Sensorenverbindung aufgefächert nach Größe und Intensität. Das gleiche für die Servokontrollen, eine vollständige …« »Warum das?« fragte Timberlake. »Denkst du etwa daran, das Gehirn eines Kolonisten einzuspannen?« fragte Flaery entsetzt. »Ein reifes menschliches Gehirn würde eine solche Übertra38
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gung wahrscheinlich nicht überleben«, sagte Timberlake. Und er schämte sich des Gefallens, das er an der Idee gefunden hae. Sämtliche Lehren seiner Ausbildung standen einem solchen Vorgehen entgegen. Aber wenn sich das OGZ-System wiederherstellen ließ, waren sie andererseits die nervenaufreibende Verantwortung der KomZentrale-Hauptkontrollen los. Er blickte zu dem pulsierenden grünen Pfeil auf, der anzeigte, daß Flaery im Augenblick die Kontrollen führte, und kalt überlief es ihn bei dem Gedanken, daß der Pfeil wieder zu ihm herumschwingen könnte. »Was zum Teufel soll das?« rief Bickel. »Wie kommt ihr auf so etwas?« Er hob den Kopf aus seinen Kokonklammern und musterte Timberlake und Flaery. »Wir wissen nicht, was mit unseren drei vollkommenen Gehirnen passiert ist. Warum zum Teufel sollte ich also ein völlig unerfahrenes Gehirn anschließen wollen?« Er ließ sich zurücksinken. »Es wäre sowieso unmöglich. Ein Mensch sollte schon darüber mitbestimmen können, was mit ihm geschieht. Und wie ließen sich die Leute in den Hib-Tanks befragen? Wir können sie doch nicht alle wecken!« »Denkst du daran, die OGZ-Steuerung auszubauen und uns in ein geschlossenes ökologisches System umzuwandeln?« fragte Flaery. »Wenn du das vorhast, solltest du …« Er unterbrach sich, als das scharfe Summen des SÜ-Empfängers den Raum erfüllte. Ein Funkspruch war hereingekommen und wurde entschlüsselt. Bickel verfolgte das Spiel der Lämpchen an seinen Kontrollen, während die Meldung von den Empfängern verschlungen, durch die Vergleichsblöcke gefädelt, auf einem Band zusammengezogen und schließlich so weit verlangsamt wurde, daß sie für menschliche Ohren verständlich war. Verdammt lange haben sie gebraucht, dachte Bickel. Er studierte das Zeitlog und schätzte die Entfernungsverzögerung ab. Fast 39
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sieben Stunden. Ihm fielen die ersten Schiffe ein, die noch Einwegfunk benutzt und ihre Nachrichten nur mit wenigen Wa durch das Sonnensystem geschickt haen – aber natürlich wuchs der Ungenauigkeitsfaktor mit der Entfernung und den zunehmenden Störgeräuschen. Das System im Metallei war eingerichtet auf computergesteuerte automatische Meldungen über stellare Entfernung, damit die Beobachter auf der Erde erfuhren, wie es mit ihrer Expedition stand. Das Nachricht-bereit-Signal erklang. Bickel schaltete den Vokoder ein. Die Stimme Morgan Hempsteads, des Direktors des Gemeinsamen Mondstützpunkts, dröhnte aus den Lautsprechern, die den kalten, harten Tonfall durchaus treffend wiedergaben. »An GMS-Schiff Earthling von Projektzentrale. Hier spricht Morgan Hempstead. Wir hoffen, daß Sie unsere Besorgnis verstehen. Von jetzt an muß jede Entscheidung vordringlich unter dem Motiv der Erhaltung Ihres Lebens und des der Kolonisten stehen.« Soweit der offizielle Teil, dachte Flaery. Unten in den Hib-Tanks sind sieben Nationen und vier Rassen vertreten – doch wir alle sind so entbehrlich wie die Menschen, die vor uns Schiruch erlien haben. »Wir haben mehrere Fragen«, sagte Hempstead. Ich habe auch ein paar, dachte Bickel. »Warum ist die Projektzentrale nicht verständigt worden, als das erste Organische Gehirn-Zentrum versagte?« fragte Hempstead. Bickel registrierte die Frage. Er wußte die Antwort – eine Antwort, die er jedoch niemals übermieln würde, und Hempstead wußte sie auch. Abgesehen von einem völligen Fehlschlag würde nichts das Experiment aualten können. Nur in absoluter Notlage duren sie das Risiko auf sich nehmen, Hilfe zu erbien und die Mission damit abzubrechen. 40
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»Die Dopplerüberprüfung ergibt, daß Sie bei der derzeitigen stabilisierten Geschwindigkeit über vierhundert Jahre bis nach Tau-Ceti brauchen«, sagte Hempstead. Während er zuhörte, stellte sich Bickel den Mann vor, dem die Stimme gehörte – das harte Gesicht, das graue Haar, die graublauen Haare, umgeben von einer Aura der Entscheidungsfreudigkeit, die sich in jeder Bewegung ausdrückte. Er konnte mit seinen Entscheidungen noch immer Einfluß auf sie nehmen, obwohl sie ihn wahrscheinlich niemals wiedersehen würden. »Eine erste Analyse deutet auf drei Möglichkeiten hin«, fuhr Hempstead fort. »Sie können umkehren und den GMS umkreisen, bis das Problem gelöst ist und neue Organische Gehirn-Zentren installiert sind. Das würde uns mit dem alten Problem einer sterilen Kontrolle unter kaum idealen Bedingungen konfrontieren.« »Er hat sich schon immer sehr umständlich ausgedrückt«, sagte Timberlake. »Die zweite Möglichkeit wäre«, sagte Hempstead, »daß Sie eine geschlossene Ökologie bilden, mit der augenblicklichen Geschwindigkeit weiterfliegen und Ersatzleute aus den Hibernationstanks wecken oder zur Ergänzung Ihrer Mannscha eigene Kinder großziehen. Natürlich ergäbe sich in diesem Fall das Risiko genetischer Schäden, da Sie sich relativ lange außerhalb ihrer Schutzschilde aualten müßten, um längerfristig bewohnbare Quartiere zu bauen. Trotzdem wäre wahrscheinlich die Ernährung Ihr Hauptproblem, falls Sie sich nicht zu einem geschlossenen Rückflußsystem entschließen.« »Geschlossenes Rückflußsystem«, sagte Flaery. »Damit meint er Kannibalismus.« Es wurde allen Ernstes darüber diskutiert! »Die drie Möglichkeit bestände darin«, sagte Hempstead, »Ihrem Robot-Piloten das erforderliche Bewußtsein zu schaffen, wobei der Schiffscomputer als Grundlage dienen könnte. Unsere 41
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Berechnungen lassen erkennen, daß Sie das nötige Material zur Verfügung häen, einschließlich der Neuronenpackungen, die für die Kolonieroboter bestimmt waren. Diese Lösung ist zumindest theoretisch möglich.« »Theoretisch möglich!« höhnte Timberlake. »Glaubt er etwa, wir haben nichts von den zahlreichen Fehlschlägen in …« »Die Projektleitung empfiehlt Ihnen, mit der derzeitigen Geschwindigkeit auf dem bisherigen Kurs weiterzufliegen«, sagte Hempstead, »solange Sie noch im Sonnensystem sind. Im Augenblick gehen die Ansichten hier dahin, daß man Ihnen die Umkehr befehlen wird, wenn sich nicht in Kürze eine Lösung ergeben hat.« Es folgte ein langes Schweigen, dann: »… es sei denn, Sie häen eigene Vorschläge.« Man wird uns die Umkehr befehlen, dachte Flaery. Er wandte sich zur Seite, um festzustellen, wie diese Schlüsselworte auf Bickel gewirkt haen. Sie waren eindeutig an Bickels Adresse gerichtet, waren für ihn ersonnen, um seine tiefsten Beweggründe anzusprechen. Bickel starrte nachdenklich auf die Kontrollen über dem Vokoder und überprüe den Empfang. »Für den Augenblick«, sagte Hempstead, »erbiet die Projektleitung einen detaillierten Bericht über den Zustand aller Schiffssysteme unter besonderer Berücksichtigung der hibernierenden Kolonisten. Es herrscht Klarheit darüber, daß mit einer Verlängerung der Reise auch die Wahrscheinlichkeit von Hibernationsdefekten steigt. Weiterhin wissen wir, daß Sie die Mannschasverluste aus den Tanks ausgleichen müssen. Entsprechende Vorschläge werden wir auf Anforderung machen. Wir teilen Ihren Schmerz über die Unglücksfälle, aber das Projekt muß seinen Fortgang nehmen.« »Detaillierter Bericht über alle Schiffssysteme«, sagte Timber42
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lake. »Der hat ja den Verstand verloren.« Wie kühl sich Hempsteads Beileidswünsche angehört haben, dachte Flaery. Die Formulierung verriet etwas von der Sorgfalt, mit der der ganze Funkspruch aufgesetzt worden war. Ein wenig Bedauern zeigen – aber keinesfalls zuviel! Aus dem Vokoder ertönte ein abgefiltertes Knistern, dann: »Bie bestätigen sie den Empfang und beantworten Sie unsere Fragen umgehend. GMS – Morgan Hempstead – Ende.« »Es ist zuviel ungesagt geblieben«, bemerkte Bickel. Überall in der Nachricht spürte er die »Fortlassungen aus politischen Erwägungen«. Der politische Drahtseilakt, den sie hier vollführten, ließ sich am besten an dem ablesen, was nicht gesagt worden war. »Ein Bewußtsein in unseren Computer bauen«, knurrte Timberlake. »Wie blöd wollen die uns noch kommen?« Er sah zu Bickel hinüber. »Du warst doch bei einem der ersten Versuche im GMS dabei, John. Dafür darfst du Hempstead jetzt sagen, wohin er sich diese Idee stecken kann.« »Und der Versuch ist damals danebengegangen, und zwar gründlich«, stimmte Bickel zu. »Trotzdem ist es eigentlich unsere einzige Möglichkeit.« Timberlake schimpe weiter, als häe er Bickels Einwand nicht gehört. »Und bei dem GMS-Reinfall waren Leute beteiligt, neben denen wir wie Amateure dastehen.« Flaery war Bickels Bemerkung nicht entgangen. Er verbarg ein wissendes Lächeln, indem er sich zur Seite wandte. »Wir haben alle den Bericht gelesen, Tim«, sagte er leise. »Der einzige wirklich lesenswerte Teil war die Zusammenfassung.« Timberlake hob seine Stimme und zitierte spöisch: »Auf der gegenwärtigen technologischen Entwicklungsstufe nicht zu erreichen.« »Das war eine Entschuldigung, keine Zusammenfassung«, 43
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sagte Bickel. Und er dachte an die fruchtlose Suche des GMS nach dem künstlichen Bewußtseinsfaktor. Obwohl sein Teil der Gruppe stets durch eine sterile Wand vom übrigen Stützpunktpersonal getrennt gewesen war, hae die dreifache Glasschicht doch nicht verbergen können, daß das Vorhaben fehlgeschlagen war. Und die Enäuschung über diese Niederlage hae von Anfang an das ganze Projekt bestimmt. Sie haen sich in einem Gewirr von Pseudo-Neuronenfibern verloren, im Blinken der Lämpchen und im Schnappen der Relais, im Zischen von Bandspulen und im bieren Ozondu der durchgebrannten Isolierungen überlasteter Stromkreise. Sie haen auf mechanischem Wege das zu erreichen versucht, was auch der Geringste unter ihnen von Natur aus besaß – ein Bewußtsein. Und sie haen ihr Ziel nicht erreicht. Timberlake räusperte sich, streckte eine Hand aus seinem Kokon und betrachtete seine Fingernägel. »Nun, wie wollen wir die verdammten Fragen beantworten? Die müssen doch da unten in einer Traumwelt leben, wenn sie erwarten, daß wir einen detaillierten Bericht über die Schiffssysteme ohne die Hilfe eines OGZ fertigstellen.« »Sie mußten auf jeden Fall einen verlangen«, sagte Bickel. »Und eine Art Bericht müssen wir auch zusammenschustern. Jede Nation, die zu diesem Projekt beigetragen hat, sorgt sich um ihre Angehörigen in den Hib-Tanks. Du hast die Gerüchte gehört, Tim. Jeder von uns ist von einer Gruppe verhört worden, die das jeweilige Heimatland unserer Originale vertri. Haben Sie von irgendwelchen Plänen gehört, nach denen sämtliche Staatsangehörigen außer diesen und jenen vernichtet werden sollen? Stehen politische Beamte dieser oder jener Nationalität mit anderen Expeditionsteilnehmern in Verbindung, um sie zu beeinflussen?« Bickel sah zu Flaery hinüber. »Dein Original war Schwede, Raj. Wir alle wissen um den Wirbel, den Schweden in letzter Minute 44
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veranstaltet hat, um noch in die Mannscha zu kommen. Du warst eigentlich nicht vorgesehen.« Flaery zuckte die Achseln. »An sich sollte ein anderer mitfliegen, aber er …« »Seine Einstufung war nicht besser als deine. Ich will nicht sagen, daß du deinen Aufgaben nicht gewachsen bist. Aber ein gewisser politischer Druck läßt sich nicht abstreiten.« Manchmal zeigt sich dieser Bickel ungewöhnlich aufgeschlossen für subtile Angelegenheiten, dachte Flaery. Ich muß Prudence warnen. »Wir alle haben unsere Staatsangehörigkeit aufgegeben, John.« »So wie wir auch der Geburt und unseren Eltern entsagt haben«, sagte Bickel. »Das war auch leicht – jemand hat uns das abgenommen. Aber die Katastrophen, die dem Metallei zugestoßen sind, wirken auf Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten zurück. Du wirst gemerkt haben, daß uns die Projektleitung nicht gesagt hat, wen wir aus der Hib holen sollen. Ich möchte ween, daß dieser Punkt sehr umstrien ist! Und du weißt so gut wie ich, warum man uns diese Entscheidung überlassen hat: Man möchte sehen, wen wir uns aussuchen, um dann Rückschlüsse daraus zu ziehen.« »Das ist doch nicht dein Ernst!« sagte Timberlake. »Wer würde denn mit solchen Mieln …« »Aber mit solchen Mieln wird gearbeitet«, sagte Flaery. »Für den großen Sprung muß das Schiff unter Leitung eines Bewußtseins stehen, John. Es geht nicht anders. Die Reise bringt zu viele Unbekannte mit sich, auf die zuweilen in Sekundenbruchteilen reagiert werden muß. Was tun wir also?« »Das fragst du mich?« fragte Bickel. »Du bist hier doch der Psychiater!« Aber ich bin nicht der Tonangebende, dachte Flaery. Ich bin nicht der Mann, der unseren Bemühungen Sinn und Ziel geben kann. »Wir 45
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werden wohl direktere Methoden anwenden müssen«, sagte er. Bickel starrte ihn an. »Nun, was willst du ihnen sagen?« fragte Timberlake. »Sie wollen wissen, warum wir keinen Bericht geschickt haben, als der erste Cyborg ausfiel. Von allen Fragen …« »Da ist noch etwas«, sagte Bickel und wandte sich Timberlake zu. »Für diesen Notfall hae man uns nicht mit einem Kode ausgestaet. Sollen wir daraus schließen, daß man ein Versagen der OGZs für unmöglich hielt? Das tun wir aber nicht! Wir müssen vielmehr vermuten, daß ein anderer Grund dahintersteckt, eine besondere Absicht.« »Hör auf, du siehst Gespenster, Bick!« sagte Timberlake. Bickel schüelte bedächtig den Kopf. »Nein … man hat uns eindeutig gesagt, daß wir nach dem Start ganz auf uns gestellt seien. Wir werden uns selbst einen Steuermann für die lange Reise suchen müssen.« Er schleicht bisher nur um das Problem herum, dachte Flaery. Wann geht er darauf los? »Physische Gründe für das Versagen der Gehirne gab es nicht. Die Versorgungssysteme waren in Ordnung«, sagte Timberlake. »Es ist fast, als häen sie – unter irgendeinem Einfluß – Selbstmord begangen.« Abrupt stellte Bickel seine SÜ-Kontrollen auf ›Senden‹. »Gut – wir werden den detaillierten Bericht noch etwas hinausschieben. Man weiß unten sowieso, daß wir Zeit dazu brauchen. Und auf die Frage, warum wir nicht früher Alarm gegeben haben, sage ich einfach, das lag daran, daß man auf der Erde versäumt häe, uns einen Kode für diesen Notfall zu geben. Wenn das nicht …« »Damit machst du Hempstead nur wütend«, sagte Flaery. »Ein wütender Hempstead nützt uns mehr als ein nüchterner, unaufrichtiger Hempstead«, sagte Bickel. »Vielleicht rutscht ihm 46
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dabei etwas heraus, das uns wirklich hil.« »Wie kommst du darauf, daß er uns hereinlegen möchte?« fragte Timberlake. »Er ist Politiker. Auch wenn das nur im Unterbewußtsein …« Bickel unterbrach sich, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoß und sofort wieder entgli. Er fuhr leiser fort. »Selbst wenn das nur im Unterbewußtsein geschieht, wird er doch politische Erwägungen allem anderen voranstellen. Sein ganzes Streben ist in erster Linie darauf gerichtet, an der Macht zu bleiben. Dagegen sind wir in der Lage, politische Elemente völlig außer acht zu lassen und uns auf unser wichtigstes Problem zu konzentrieren. Um das tun zu können, werden wir Sand in das politische Getriebe streuen, indem wir uns ausschließlich um die Dinge kümmern, die wir benötigen. Und die bekommen wir dann auch.« Geschickt, scharfsinnig, listig, dachte Flaery. Diesen Bickel muß man sehr sorgfältig im Auge behalten. »Dinge, die wir benötigen«, sagte Timberlake. »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel Ratschläge gewisser Spezialisten vom Mondstützpunkt und natürlich so viel Computerzeit, wie man dort unten nur erübrigen kann.« »Du kannst das Politische nicht von allem anderen trennen«, wandte Flaery ein. »Damit bringst du die Dinge nur unnötig in Aufruhr und …« »Wenn du wissen willst, was am Boden eines Kessels schwimmt, mußt du tüchtig umrühren«, sagte Bickel. »Und ich möchte, daß man uns den Begriff Bewußtsein definiert.« Da ist er mir gla wiederum eine Nasenlänge voraus gewesen, dachte Flaery. Ich darf ihn nicht länger unterschätzen. Ein Ausrutscher könnte alles zunichte machen.
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Sie hae sich noch recht schwach und unsicher gefühlt, als sie in die KomZentrale kam. Der eiförmige Raum häe sie nicht verwirren dürfen – dazu hae sie vor dem Start zu viele Übungsstunden an diesen Anzeigegeräten und Skalen und Leitungen und Tastaturen absolviert –, doch das Gefühl der Entfremdung wollte nicht weichen. Als sie schließlich mehr auf die Einzelheiten zu achten begann, bemerkte sie die feinen Veränderungen in den Kontakten und Kontrollen und Anzeigegeräten und erkannte darin Bickels Arbeit. Sie machte sich klar, daß die Veränderungen notwendig gewesen waren, um das Schiff auf Handbetrieb umzustellen; gleichwohl spürte sie, wie unzulänglich diese Maßnahmen waren. Und mit dieser Erkenntnis wurde ihr auch der Seiltanz bewußt, den sie hier vollführten, und sie wandte sich Flaery zu, dessen Wache an den Hauptkontrollen zu Ende ging. Daß er müde war, ließ sich an seinen Bewegungen erkennen – er bewegte sich zwar noch immer mit der Sicherheit eines Chirurgen, aber die Art, wie er sich nach jeder Korrektur der Kontrollen abrupt wieder entspannte, zeigte ihr, wie erschöp er war. Er müßte dringend abgelöst werden, dachte sie, aber sie wußte, daß sie noch nicht bereit war, den grünen Pfeil auf sich zu nehmen, und sie wußte nicht, in welcher Verfassung Bickel und Timberlake waren. Sie legte sich in ihre Steuercouch und prüe eine Serientestdarstellung auf dem Schirm. Sie spürte den allesumschließenden Kokon der Couch durch ihren Vakanzug und söhnte sich nach einer angemessenen Erholung von der Anstrengung der Dehib. Aber alle Anzeichen ringsum sprachen dafür, daß sie sich sofort an die Arbeit machen mußte. Den Luxus einer Anpassungszeit konnte sie sich nicht erlauben. Nun, du bist doch so stolz auf deine Stellung und deinen Titel … 48
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Doktor Prudence Weygand, dachte sie. D hast dich ja förmlich nach dieser Aufgabe gedrängt. Du weißt, was jetzt zu tun ist; also an die Arbeit … Die o geübte Selbstermunterung half diesmal wenig, und sie versuchte jedes Zeichen von Schwäche aus ihrer Stimme zu verbannen, als sie sagte: »Die Mondstation braucht länger als sonst für ihre Antwort. Und ich habe ein paar schöne Fragen gestellt.« »Man ist viel zu sehr damit beschäigt, festzustellen, was unsere Antwort wirklich bedeutet«, sagte Bickel. »Oder man versucht eine Formulierung zu finden, mit der man uns sagen kann, daß wir uns mehr zugemutet haben, als zu bewältigen ist«, sagte Timberlake. Sie hörte die Furcht in seiner Stimme. »Raj ist jetzt schon mehr als vier Stunden an den Kontrollen. Wird es nicht Zeit, daß ihn jemand ablöst, Tim?« Flaery wußte, was sie vorhae, konnte jedoch nicht verhindern, daß ihn ein Schauder der Spannung überlief. Es bestand immer die Möglichkeit, daß Timberlake der Belastung nicht gewachsen war. Timberlake spürte, wie sein Mund trocken wurde. Natürlich ging sie davon aus, daß er hier die Befehle gab. Immerhin war er der Schiffsingenieur. Andererseits wollte sie nicht selbst die Kontrollen übernehmen … Biest! Aber vielleicht war sie nach der Dehib noch nicht soweit. Jeder Körper reagierte anders. Sie wußte ihre eigenen Möglichkeiten einzuschätzen. Außerdem hae sie plangemäß erst nach Bickel an den Kontrollen Dienst. Sein Blick gli an den Schienen entlang, auf denen die Hauptkontrollen zwischen den Steuercouches bewegt wurden. Bickel lag in der ersten Couch, dahinter Prue und Flaery – und hier am Ende lag er. Meine Wache, dachte Timberlake und spürte, wie seine Handflä49
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chen feucht wurden. Bickel hae planmäßig die Kontrollen übernommen, wobei er offensichtlich jede Minute bedauerte, die er nicht über seinen Berechnungen verbringen konnte. Von ihm war also nicht au erwarten, daß er sich freiwillig zur Verfügung stellte. Ich muß die Kontrollen übernehmen, sagte sich Timberlake. Er dachte an die 3003 Menschenleben, die unmielbar von ihm abhingen, wenn der grüne Pfeil in seine Richtung gli … an all die anderen Leben und Träume, die in dem Projekt aufgegangen waren. Und alle zeigten mit dem Finger auf ihn. Ich kann es nicht! dachte er. Er zögert zu lange, dachte Flaery. »Ich übergebe dir die Kontrollen nach Zählung, Tim. Ich bin schon ziemlich am Ende.« Ehe Timberlake etwas einwenden konnte, hae die Zählung begonnen, und seine Hand fuhr automatisch an den großen roten Hebel. Kontrollen und Pfeil glien zu ihm herüber. Die Aufgabe nahm ihn sofort gefangen. Die Schutzschirm-Temperaturregler mußten fast um ein Driel korrigiert werden. Wir sollten die OGZ-Kontakte dieser Tätigkeit aufspüren und für die gröbsten Arbeiten Automaten einbauen, dachte er. Schon bald ging er völlig in der Routine der Wache auf und erkannte, daß er den Anforderungen für vier Stunden – oder sogar länger – durchaus gewachsen war. »Wir gehen jetzt folgendermaßen vor«, sagte Bickel. Er sah auf, bemerkte den wissenden Blick, den Flaery und Prue tauschten, und zögerte. Ist da etwas zwischen den beiden? Wenn es sich um Mann-Frau-Probleme handelte, konnte das zu Schwierigkeiten führen. »Was hast du gesagt?« fragte Prudence. Bickel merkte, daß sie ihn anstarrte. Er räusperte sich und warf einen Blick auf seine Zahlen und Schaltpläne. »Von irgendeinem 50
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Punkt aus müssen wir das Problem angehen. Der Computer muß dabei die Grundlage bilden – was wir auch bauen. Dabei können wir aber nicht am Speicherkern und an den Schaltkontrollen herumbasteln, was bedeutet, daß wir ein elektronisches Simulierungsmodell benutzen müssen. Dafür wird uns ein Teil des SÜ-Systems dienen …« »Und was wird aus der Verbindung zum Mondstützpunkt?« fragte Prudence. Eine dumme Frage, dachte er, ließ sich seinen Ärger jedoch nicht anmerken. »Ein automatisches Schaltsystem macht die SÜ-Anlage sofort wieder aktionsbereit, wenn Impulse unsere Antenne berühren.« »Oh.« Sie nickte und überlegte, wie weit sie wohl gehen konnte, ehe er merkte, daß ihm gezielt Kontra gegeben wurde. »Das Ganze wird ein Versuchsmodell sein«, sagte er. »In ihm werden die Charakteristika des Systems nachvollzogen, ohne jedoch ganz so zu funktionieren. Trotzdem können wir auf diese Weise die Funktionen der konventionellen Geräte beobachten und erkennen, wohin wir uns auf unkonventionellen Wegen begeben müssen. Die Umgebung, die Signale und die Systemparameter lassen sich mit fortschreitender Entwicklung beobachten und verändern. Dabei brauchen wir nur eine einseitige, abgesicherte Verbindung in den Computer, durch die wir alle unsere Ergebnisse registrieren lassen.« Soweit war alles vorherzusehen, dachte Flaery. Aber wie geht es jetzt weiter? »Aufgrund meiner Erfahrungen mit GMS-Versuchen auf diesem Gebiet«, sagte Bickel, »kann ich euch sagen, welche Richtungen nicht weiter erforscht zu werden brauchen und welche uns vielleicht zu einem künstlichen Bewußtsein führen. Vielleicht! Ab hier ist nämlich alles nur Spekulation und Experiment.« 51
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»Wollen wir gegen die Zeitverschiebung und das Risiko von Übermilungsfehlern ankämpfen, indem wir den Mondstützpunkt unsere Fortschrie analysieren lassen?« fragte Flaery. Bickel starrte auf seine Berechnungen und Schaltpläne und sah dann zu Prudence hinüber. »Haben wir einen Mathematiker an Bord, der in der Lage ist, die in unseren Ergebnissen enthaltenen Werte herauszuarbeiten? Das ist die Frage!« sagte er. Prudence betrachtete die Stapel von Schaltplänen hinter Bickel. »Vielleicht schaffe ich‘s«, sagte sie. »Vielleicht.« »Und in welcher Richtung wollen wir vorgehen?« fragte Flattery. »Über die Feldtheorie«, sagte Bickel. »Oh, großartig!« knurrte Timberlake. »Wir werden also annehmen, daß das Ganze größer ist als die Summe seiner Teile.« »Schon gut«, sagte Bickel. »Aber nur weil wir etwas nicht sehen oder definieren können, heißt das noch lange nicht, daß es nicht existiert und nicht in der Addition berücksichtigt werden sollte. Wir werden mit einer verdammt großen Menge Unbekannter herumjonglieren. Am besten geht man an solche Aufgaben vom Standpunkt des Ingenieurs heran: Wenn es funktioniert, ist die Antwort gefunden.« »Definiere mir den Begriff Bewußtsein«, sagte Prudence herausfordernd. »Das überlassen wir den klugen Köpfen im GMS«, sagte Bickel. »Und unser einziger Kontakt zwischen dem Simulationsmodell und dem Hauptcomputer geht durch die Ladekanäle?« fragte Prudence. »Was machen wir mit den Überwachungsprogrammen?« »Die inneren Kommunikationsleitungen des Computers rühren wir nicht an«, sagte Bickel. »Unser Ersatzgerät ist durch einen Einwegkanal damit verbunden, der gegen einen Rückschlag abgesi52
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chert ist.« »Dann haben wir aber keine totale Simulation«, stellte sie fest. »Stimmt«, sagte Bickel. »Wir müssen die ganze Zeit einen Fehlerkoeffizienten in Rechnung stellen. Wenn der zu groß wird, überlegen wir uns einen anderen Angriffsplan. Der Simulator ist eben nur ein Ersatzgerät.« »Und es besteht keine Gefahr, daß das Ersatzgerät durchdreht?« fragte Flaery. »Einer von uns ist stets zur Stelle, um als sein Überwachungsprogramm zu fungieren«, sagte Bickel und versuchte, sich den Ärger nicht anmerken zu lassen. »Einer von uns muß immer am Steuer sitzen. Wir treiben das Ding an – wie man einen Ochsen im Geschirr antreibt.« »Aber dieser ›Ochse‹ wird doch keine eigenständigen Vorstellungen entwickeln?« bohrte Flaery weiter. »Nicht, solange wir nicht das Bewußtseinsproblem lösen«, sagte Bickel. »Und wenn das Ding ein Bewußtsein entwickelt hat – was dann?« fragte Flaery. Bickel zuckte zusammen und blinzelte. Dann schüelte er den Kopf und sagte: »Ich … nehme an, daß es dann wie ein neugeborenes Baby ist … könnte man wohl sagen.« »Welches Baby ist schon mit den Informationen und gespeicherten Erfahrungen eines Schiffs-Hauptcomputers auf die Welt gekommen?« wollte Flaery wissen. Er setzt Bickel das zu schnell vor, dachte Prudence. Wenn er zu sehr gepiesackt wird, lehnt er sich vielleicht auf oder beginnt in der falschen Richtung zu forschen. Er darf nichts ahnen. »Jedes Kind wird mit seinen Instinkten geboren«, sagte Bickel. »Und wir erziehen es erst zum. Menschen.« »Die moralischen und religiösen Aspekte des Ganzen sind mir 53
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zuwider«, erklärte Flaery. »Ich glaube, daß wir uns versündigen. Ist das nicht Goeslästerung?« Prudence starrte ihn an. Flaery war erregt – seine Wangen haen sich gerötet, seine Finger zierten. Das war nicht programmgemäß, dachte sie. Vielleicht ist er übermüdet. »Gut, gut«, sagte sie. »Wir bilden ein System aufeinander einwirkender Impulse. Das stellt uns vor ein Problem der Spieltheorie, bei dem zahllose …« »Hör auf!« sagte Bickel. »Der GMS-Versuch in dieser Richtung ist völlig danebengegangen!« »Wie einfach sich das jetzt sagen läßt«, bemerkte Prudence leise. »Du vergißt, daß ich die Spielmaschine gesehen habe, die dabei herausgekommen ist. Je mehr sie benutzt wurde, desto mehr veränderte sie sich zu …« »Gewiß, sie hat sich verändert«, gab Bickel zu. »Die Maschine absorbierte Teile ihrer … Persönlichkeit von ihren Gegnern. Was heißt das aber? Daß sie einige der Charakteristika eines Bewußtseins hae, ohne aber selbst eins zu haben.« Prudence lächelte spöisch. Er glaubt, daß er der einzige ist, auf den er sich verlassen kann. Flaery bemühte sich, seine Abneigung gegen Bickel nicht offen zu zeigen. Psychiater, kurier dich selbst, dachte er. Bickel muß hier das Kommando führen. Ich bin nur die Sicherung für den Notfall. Flaery betrachtete die Verkleidung an seinen Couch-Kontrollen und dachte an den Auslöser unter der Metallplae und an das Gegenstück in seiner Koje, das in den Linien der heiligen Zeichnung auf der Metallwand verborgen war. Der arbiträre Umkehrbefehl, ermahnte sich Flaery. Das war das Kodesignal des GMS, auf das er achten mußte. Das war das Signal, dem er zu gehorchen hae – es sei denn, daß das Schiff seiner 54
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Meinung nach schon vor Eintreffen des Signals vernichtet werden mußte. Ein leichter Druck auf einen der verborgenen Auslöser aktivierte das Hauptprogramm des Schiffscomputers, öffnete die Luschleusen und löste Sprengsätze aus. Tod und Vernichtung für Mannscha, Schiff und sämtliche Kolonisten. Er war ein zu guter Psychiater, um die Schuldmotive hinter dieser Ausrüstung des Schiffes nicht zu erkennen. Und er war ein zu guter Geistlicher, um den religiösen Schwindel nicht zu durchschauen und sich klarzumachen, wie wichtig seine Rolle bei diesem Projekt im Grunde war. Ohne Sicherung ging es nicht. Die ersten ungeschickten Versuche, auf mechanische Weise ein Bewußtsein herzustellen, waren auf einer Insel im Pugetsund gemacht worden. Die Insel existierte nicht mehr. Das Projekt war völlig fehlgeschlagen. Irgend etwas schien die Naturgesetze außer Kra gesetzt zu haben, das Laborpersonal wurde getötet und die Sensoren zerstört. Harte Strahlung hae das umliegende Land verbrannt. Zum Schluß hae es die Insel mitgenommen – Go allein wußte wohin. Die Insel war verschwunden, das Laborpersonal getötet. Nur graues Wasser, kalter Nordwind, weiße Schaumkronen, Fische und Algen, wo kürzlich noch Land, Menschen und Maschinen gewesen waren. Schon der Gedanke daran ließ Flaery schaudern. Er rief sich die heilige Zeichnung ins Gedächtnis und nahm etwas von der Gelassenheit der dargestellten Gesichter in sich auf. Selbst der Mondstützpunkt erwähnte dieses Projekt nur ungern. Es war ein ausgemachter Schwindel, das Schiffspersonal bei der Ausbildung damit zu frustrieren. Jedes Projektschiff muß seinen Frustrierungskoeffizienten enthalten, 55
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sagte er sich. Und diese Frustrierung muß aus menschlichen wie auch technischen Quellen gespeist werden. Man betrachtete die Frustrierung als einen Faktor, der die Wachsamkeit erhöhte. Auf verrückte Weise war das sogar sinnvoll. Also gab es Mannschasmitglieder wie Flaery … und wie Prudence Weygand, also gab es Maschinen, die versagten, RoboxReparaturgeräte, die ständig durch einen Menschen überwacht werden mußten, und programmierte Notfälle, die echte Notfälle komplizieren sollten. Flaery sehnte sich in seine Koje zurück. Er wollte dort die Stimmung des Computerkomplexes prüfen und sich vergewissern, daß das Gerät, nachdem man ihm sein Organisches Gehirn-Zentrum genommen hae, zu einer rein mechanischen Funktion zurückgefunden hae. Aber er konnte die KomZentrale noch nicht verlassen, ohne Verdacht zu erregen. Flaery sah zu Bickel hinüber und knurrte: »So wie die Stromkreise deiner Maschine aufeinander einwirken, kannst du ihr Verhalten nicht restlos überschauen. Und eine Addition aller Teile ergibt keine Summe, die …« »Genau«, sagte Bickel. »Warum haben die Idioten im GMS die Schaltungen nicht um Eng-Multiplikatoren gebaut?« Timberlake starrte Flaery an und dachte: Mach ruhig weiter, bring Bickel auf das Thema. »Im GMS ist davon gesprochen worden«, sagte Flaery, »daß du sie dazu überreden wolltest, die …« »Dazu überreden?« lachte Bickel sarkastisch. »Ich habe sie auf den Knien angefleht. Sie haben sich angestellt, als sei ich schwachsinnig, und mir immer wieder gesagt, daß Computer doch nur addieren könnten; selbst wenn sie multiplizierten, sei das nur ein additives Vorgehen. Man hielt mich hin, bis ich …« »Du hast keine notwendigen Schaltkreisveränderungen vorge56
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schlagen«, sagte Flaery. »So habe ich es jedenfalls gehört.« »Weil man mir keine Gelegenheit dazu gegeben hat«, sagte Bickel. »Hört mal zu! Der Eng-Multiplikator ist monolithisch und klein genug, um jeder unserer Miniaturisierungsvorschriften zu entsprechen. Vor allem ist er aber ein Multiplikator. Je nach der Gestaltung nimmt er mehrere lineare, halblineare oder sogar nichtlineare Schaltungen auf und ergibt ein Produkt aller Eingaben. Er multipliziert. Aber noch wichtiger ist doch, daß sich bei Umkehrung der Schaltung ein Gerät ergibt, das einen Schaltkreis anzap – ihn also teilt –, an einem Punkt, der sich an der Ladung orientiert. Es arbeitet wie eine Nervenzelle!« »Die GMS-Mannscha scheint gute Gründe gehabt zu haben, dich von dieser Sache fernzuhalten«, sagte Prudence. »Wenn sie…« »Man hat behauptet, ich häe nicht bewiesen, daß es sich um eine organisch-analoge Funktion handelte!« höhnte Bickel. »Häe es nicht bewiesen, wollten sie mir weismachen! Man wollte mir nicht einmal Computerzeit überlassen, damit ich eine Versuchsschaltung vornehmen konnte. Alles war damit beschäigt, den Begriff Bewußtsein zu definieren.« »Du hältst die seinerzeit formulierte Definition für richtig?« fragte Flaery. »Wenn das der Fall wäre, häe ich sicher nicht um eine neue Definition gebeten!« sagte Bickel ärgerlich. »Ich habe genug von diesem Balancieren mit Begriffen. Bewußtsein ist reine Bewußtheit, hieß es. Was ist dann mit den Objekten, auf die sich das Bewußtsein bezieht? frage ich. Kümmern Sie sich nicht darum, erhalte ich zur Antwort. Es ist eben nur reine Bewußtheit. Was ist aber Bewußtheit ohne Objekt, auf das sie sich richten kann? frage ich. Unwichtig, wird mir gesagt. Es ist eben nur reine Bewußtheit. Dann macht man eine schöne Kehrtwendung und sagt, daß diese 57
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reine Bewußtheit eine Struktur dreier primärer Kräe sei. Und was sind diese drei primären Kräe? frage ich. Ein ›Ich‹-Wesen plus Organismus dieses Wesens plus alle äußeren Dinge, die als Anregung dienen können. Plus Objekte! wende ich ein. Aber darum geht es nicht in erster Linie, sagt man mir. Es bedeutet nur, daß die reine Bewußtheit drei Faktoren jongliert und es eine sinnlose Komplikation wäre, sie paarweise miteinander zu multiplizieren, wenn man sie addieren und den Schaltungen auf direktere Weise folgen könnte.« »Du stellst die Auseinandersetzung sehr vereinfacht dar«, sagte Prudence. »Gut, das mag sein! Aber im wesentlichen ging es bei der Diskussion darum.« »Und du haest natürlich eine Antwort bereit«, sagte sie. »Ich habe dir bereits gesagt, daß ich mir Computerzeit weder erflehen noch borgen, noch stehlen konnte!« »Aber du bist ganz sicher, daß du beweisen kannst …« »Nun hör mal«, sagte Bickel. »Man hat mir vorgeworfen, ich könnte kein organisches Analogon beweisen. Aber ich bin überzeugt, daß ich das kann.« »Du weißt es eben«, sagte sie. »Dir fehlen vielleicht die Worte, die Sache richtig …« »Wenn man mit so vielen Gedankendurchfluß-Instrumentarien und Computerkonstruktionen gearbeitet hat wie ich«, sagte er, »bekommt man ein Gefühl für Funktionen. Manchmal brauchst du dann nur auf ein Schaltbild zu schauen und weißt sofort, wie es funktionieren soll. Die Beschreibung des Herstellers ist dann völlig überflüssig.« »Verstehe ich dich richtig?« fragte Flaery. »Du nennst Go einen Hersteller? Wenn du das …« »Los, weiter!« sagte Bickel. »Schau dir den Konstruktionsplan 58
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des menschlichen Kleinhirns an. Versuche jetzt nicht mit mir darüber zu streiten, wer diesen Entwurf gemacht hat. Schau ihn dir nur an! Du bist Arzt. Was ersiehst du daraus?« »Und wie steht es mit dir – was ersiehst du?« konterte Flaery. »Daß hier ein potentieller Effekt vermielt wird«, sagte Bickel. »Es ist ein Gleichgewichtssystem … ähnlich dem Vestibularreflex, der verhindert, daß wir beim Gehen auf den Hintern fallen.« »Aber das Kleinhirn ist ein Endprodukt«, sagte Prudence. »Der Output des Gehirns zum Kleinhirn hört ja nicht mal auf, wenn du schläfst«, sagte Flaery. »Wie kannst du da sagen …« »Das Kleinhirn saugt Energie auf wie ein unersälicher Schwamm«, sagte Bickel. »Ständig fließt neue Energie hinein – emotionale, sensorische, motorische und seelische Energie. Warum nehmen wir nun einfach an, daß das Kleinhirn keinerlei Aktivität entfaltet? Nirgendwo sonst in der Natur oder bei unseren Maschinen findet man etwas Ähnliches – daß ein derart kompliziertes System einfach ruht und nichts macht.« »Du behauptest also, daß das Kleinhirn der Sitz des Bewußtseins ist«, sagte Flaery. »Und du hast mir noch nicht definiert, was Bewußtsein eigentlich ist«, sagte Prudence. Sie unterdrückte ihre Erregung und starrte Bickel an. Seine Argumente waren nicht neu, aber sie spürte, daß er ein klareres Verständnis seines Ziels erlangt hae als jemals zuvor. »Der Sitz des Bewußtseins, nein. Ich behaupte, daß das Kleinhirn das Bewußtsein vermielt, integriert, steuert … und daß das Bewußtsein ein Feldphänomen ist, das auf drei oder mehr verschiedener Energiearten beruht. Wir sind mehr als unsere Ideen.« »Aber Prue hat recht«, sagte Flaery. »Du gilbst uns keine Definition.« Er sah zu Prudence hinüber, deren Erregung er spürte und mißbilligte. Daß er den Grund für diese Mißbilligung kannte, 59
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tröstete ihn nur wenig. »Ich kann das Ziel aber auch durch die Hintertür erreichen«, sagte Bickel. »Indem du uns sagst, was es nicht ist.« »Richtig!« sagte Bickel. »Bewußtsein ist keine Selbsterkenntnis, kein Ahnen, Fühlen oder Denken. Das alles sind physiologische Funktionen. Maschinen können das auch, ohne wirklich ein Bewußtsein zu erlangen. Was wir suchen, ist ein Phänomen drier Ordnung – eine Verbindung, kein Ding. Es ist nicht mit Bewußtheit identisch. Es ist weder subjektiv noch objektiv. Es ist eine Beziehung.« »Wir sind mehr als unsere Ideen«, sagte Prudence. »Damit häen wir auch die Antwort auf die vielgepriesenen Addiermaschinen im GMS«, sagte Bickel. »Das hab‘ ich ihnen immer wieder eingehämmert – über das Undefinierte menschliche Bewußtsein. Wenn man die Eingaben als Serie addiert, erhält man nicht immer eine Antwort, die mit dem Output übereinstimmt. Und da das Ganze keine Addition ist, muß es sich um ein anspruchsvolleres mathematisches Problem handeln.« Beim Zuhören spürte Timberlake intuitiv, daß Bickel auf der richtigen Spur war. Wir sind mehr als unsere Ideen. Prudence lehnte sich zurück und überdachte Bickels Worte. Man mußte ihm viel Spielraum lassen, zugleich aber das Gefühl geben, behindert zu werden. Sie spürte, daß er sich zu nahe an das Problem herangearbeitet hae, und zwang kalte Wut in ihre Stimme. »Verdammt noch mal – du hast es immer noch nicht definiert!« »Das schaffen wir vielleicht nie«, sagte Bickel. »Was aber nicht heißt, daß wir‘s nicht nachbilden können.« »Willst du jetzt anfangen, einen Prototyp zu bauen, um damit deine Theorien zu testen?« fragte Flaery. 60
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»Wobei ich unser SÜ-Kommunikationssystem als Basis benutze«, sagte Bickel. »Das SÜ-System ist direkt mit dem Computerzentrum verbunden«, wandte Flaery ein. »Es ist ein Teil des Übersetzungs-Hauptprogramms. Wenn du auch nur einen Fehler machst, zerstörst du damit das Kernstück des Computers. Ich bin nicht so sicher, daß wir uns mit so etwas …« »Wir werden ausreichend Sicherungen einbauen«, sagte Bickel. »Es besteht keine Gefahr, daß durch einen Rückschlag …« »Ohne den Computer funktioniert keine Automatik mehr«, sagte Timberlake. »Wir sollten uns das vielleicht noch einmal überlegen. Wenn …« »Hör doch damit auf, Tim!« protestierte Bickel. »Du könntest das Sicherungssystem genausogut bauen wie ich. Es besteht überhaupt keine Gefahr, daß etwas durchschlägt …« »Ich muß immer wieder an die sogenannten Denkmaschinen des GMS denken«, sagte Timberlake. »Wir können nicht alle Funktionen überprüfen. Wenn wir nur einen Kontakt übersehen, könnten wir ein lebenswichtiges Hauptprogramm stören.« »Wir werden eben nichts übersehen. Wir haben ja alle Schaltpläne. Auf einen Blindflug lassen wir uns nicht ein. Das SÜ wäre das einzige System, das dabei wirklich draufgehen könnte, und bei dieser Entfernung vom Mondstützpunkt ist es sowieso von zweifelhaem Wert.« Will er uns vom GMS trennen? fragte sich Flaery. Es war schon davon die Rede, daß er das vielleicht versuchen würde. Wir dürfen ihn nicht gewähren lassen. »Wenn du das SÜ untauglich machst«, sagte Flaery, »wie lange würde es dann dauern, bis das Kommunikationssystem wieder etabliert ist?« »Fünfzehn bis zwanzig Stunden«, erwiderte Bickel. »In dieser 61
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Zeit häen wir sicher etwas zusammengebastelt, das die Aufgabe übernimmt.« Flaery sah Timberlake an. »Das könnte etwa hinkommen«, sagte Timberlake. »Wir benutzen das SÜ also als Grundlage für unseren Simulator«, sagte Bickel. »Wir suchen in den Lagerräumen nach Rollen mit Neuronenfibern, Eng-Multiplikatoren und den anderen wichtigen Teilen. Wir müssen eine Schaltung schaffen, die die Funktion des menschlichen Zentralnervensystems simuliert.« »Aber wird das auch ein Bewußtsein haben?« fragte Flaery. »Wir können es nur versuchen«, sagte Bickel. »Unser Computer und selbst das SÜ arbeiten auf der Basis analoger additiver Prinzipien. Wir werden nun ein System bauen, das ausschließlich nichtadditive Multiplikationen vollzieht.« »Bei dir klingt das alles so verdammt einfach«, sagte Prudence. »Es gilt nur Netz A mit Netz C an den Punkten D zu verbinden, und schon hat man den Bewußtseinsfaktor, kurz BF genannt.« Bickel preßte die Lippen zusammen. »Hast du einen besseren Plan?« Bin ich jetzt zu weit gegangen? überlegte sie. Und sie fuhr hastig fort: »Oh, ich stimme deinem Plan durchaus zu, Bickel. Offenbar hast du ja alle Antworten schon parat.« »Ich habe nicht alle Antworten parat«, knurrte Bickel. »Aber ich bleibe hier jedenfalls nicht hocken und bejammere unser Schicksal … und ich kehre auch nicht um!« Aber was ist, wenn wir doch umkehren müssen? fragte sich Flaery. Wie wollen wir dann Bickels innere Einstellung überwinden? »Willst du auf die Antwort des Mondstützpunkts warten?« fragte Flaery. Bickel sah zu Prudence hinüber. »Ich würde am liebsten sofort anfangen, aber das würde bedeuten, daß ich meine Wache an 62
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den Kontrollen nicht übernehmen kann … und da ich Tim brauche…« »Wir schaffen das schon«, sagte Flaery. »Es scheint ja alles bestens zu laufen.« Prudence warf einen Blick auf die Hauptkontrollen und die toten Verstärker über ihrer Couch und fragte sich, wieso ihr plötzlich so kalt war. Ich habe Angst, die Kontrollen zu übernehmen, dachte sie. Die Tausende von Menschenleben unten in den Hib-Tanks … alle hingen davon ab, daß sie in Sekundenbruchteilen richtig reagierte. Waren sich die Verantwortlichen im GMS wirklich darüber im klaren, was sie anrichteten, als sie uns hier herausschickten? Gab es keine andere Möglichkeit? Seit Verlassen ihres Hib-Tanks verspürte sie zum erstenmal die altvertraute, bohrende Frage, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie ganz normal in eine normale Familie hineingeboren worden wäre, wenn sie im lärmenden, intimen Zueinandergehören der Nichterwählten häe aufwachsen können. »Sie gehören zu den Besonderen, zu den wenigen Auserwählten«, haen Morgan Hempstead und seine Kollegen ihre Schützlinge immer wieder ermahnt. Aber sie alle wußten, woher diese ›Besonderen‹ stammten. Gewöhnliches Biopsie-Gewebe eines, lebendigen menschlichen Freiwilligen wurde in einem Axolotl-Tank aufgehängt. Anschließend war die genetische Neuentwicklung ausgelöst worden, und man hae das Fleisch wachsen lassen. Und so war ein identischer Zwilling entstanden – ein ersetzbarer Zwilling. Die wenigen Auserwählten! dachte sie. Etwas Kostbares ist uns genommen worden, und der Lohn war unzureichend. Sie schaltete den kleinen Schirm in der Ecke ihrer Kontrollkonsole auf eine der Heckkameras und schaute zum Mielpunkt des 63
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Sonnensystems zurück, zu dem Planeten, der sie hervorgebracht hae. Sie waren geformt und ausgebildet, zurechtgebogen und gedrillt worden – und aufgezogen wie mechanische Spielzeuge hae man sie dann in die Dunkelheit losgeschickt. Und wo sind wir? fragte sie sich, als sie den Bildschirm wieder abstellte. »Prue, übernehme jetzt bie die Kontrollen«, sagte Flaery. »Du wärst normalerweise nach John an der Reihe.« Der Anblick der Skalen und Meßgeräte der Hauptkontrollen erfüllte sie plötzlich mit Wut und Angst. Der Hals wurde ihr trocken, und sie spürte, daß ihr Gesicht heiß wurde. »Ich … bin noch nicht so lange von den Kontrollen weg, daß ich … richtig erholt wäre«, sagte Flaery zögernd. »Sonst würde ich …« »Schon gut«, sagte sie. »Ich übernehme.« Sie atmete tief, lehnte sich zurück und bedeutete Timberlake, mit der Zählung zu beginnen. Entscheidend war der Appell an ihre Muerinstinkte, dachte Flattery. Sie häe sonst gla gepaßt. Wenn Sie die Kontrollen jetzt nicht übernommen häe, wäre sie vielleicht nie über die Hürde gekommen. Flaery lächelte Timberlake zu und bemerkte die offensichtliche Erleichterung, mit der dieser den Pfeil zu Prudence hinüberschaltete. Timberlake, der sich von Intuitionen leiten ließ, machte die Verantwortung der KomZentrale schwer zu schaffen. Prudence, die sehr gefühlsbetont war, teilte diese Furcht. Und weil ich die Angst der beiden spüre, dachte Flaery, überwinde ich meinen eigenen Widerwillen. Nur Bickel, der mit Logik und alles durchdringender Intelligenz operierte, schien gegen eine Furcht vor den Kontrollen immun zu 64
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sein. Das war ein Charakterfehler, dachte Flaery, wußte aber auch, daß eines Tages ihr Leben von diesem Fehler abhängen konnte. »Beschaffe mir die Frachtlisten und Ladepläne des Schiffes, Tim«, sagte Bickel. »Ich gebe dir eine Aufstellung der Artikel mit, die wir aus den Lagerräumen brauchen. Wir können uns im Wartungsraum des Computers einrichten, um leichter …« »Bleibt nicht zu lange im unabgeschirmten Gebiet«, sagte Prudence. »Am besten schaltest du dein Dosimeter auf die Anzeige hier – da können wir immer ein Auge auf dich werfen.« »Gut«, sagte Bickel. Er gli aus seiner Couch, warf einen Blick auf Prudence, betrachtete ihr Profil und registrierte die Intensität, mit der sie die Kontrollen beobachtete. Dann wandte er sich zu Flaery um, der sich mit geschlossenen Augen zurückgelegt hae und Kra schöpe für seine nächste Wache, und schließlich zu Timberlake, der sich die Schiffsladelisten ausdrucken ließ. Bisher hat sich noch keiner wirklich Gedanken darüber gemacht, was wir hier auf die Beine stellen müssen, dachte Bickel. Sie haben die Tatsache noch nicht erkannt, daß der Simulator irgendwann doch einmal direkt in den Computer geschaltet werden muß. Wenn wir Erfolg haben, bauen wir in der ersten Stufe gewissermaßen nur einen Satz Stirnlappen. Und für unseren ›Ochsen‹ gibt es nur eine Quelle von Erfahrungen, die ihm zu Leben und Bewußtsein verhelfen kann – den Computer und seine Speicherbänke. Bickel machte sich klar, daß er ein zähes Ringen zu erwarten hae, wenn diese Tatsache den anderen schließlich bewußt wurde. Hier im Schiff hing schon allzuviel von den Hauptprogrammen ab. Eine Beeinträchtigung dieser Programme beschwor eine fatale Gefahr herauf. Bickel hae das Gefühl, daß da ein Fehler im Konzept des Metalleies lag. Er konnte keinen logischen Grund dafür benennen. Aber warum sollte alles an Bord von einer bewußten 65
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Steuerung abhängen – einschließlich der Robox-Reparaturgeräte? Prudence spürte den aufmerksamen Blick Bickels, erblickte das Spiegelbild seines Gesichts auf der Plastikabdeckung eines Instruments. Die ihn quälenden Fragen und Zweifel waren für sie ebenso deutlich zu erkennen wie der Zeiger des Gerätes unter der Plastikscheibe. Sie hae ihn vorbereitet; sie hae diesen Teil ihrer Aufgabe so gut erfüllt, wie das ihrer Meinung nach von ihr erwartet werden konnte. Nun konzentrierte sie sich auf die gesamte Konsole und erspürte förmlich die sensorischen Impulse des Schiffes, die zur äußeren Metallhülle und weiter hinaus reichten. Die Routine der Wache begann ihre Angst abzumildern. Sie schaltete einen Bugsensor auf den Schirm über der Couch und betrachtete die sternenschimmernde Leere vor dem Metallei. Das ist unser Preis, dachte sie, als sie den Schirm musterte. Zuerst säubern wir den Augiasstall – dann sind wir auch die ersten … dort draußen. Zuckerbrot und Peitsche. Und das Zuckerbrot ist eine jungfräuliche Welt ganz für uns allein (und wir haben unsere Tanks voller Kolonisten, die den guten Glauben der Erde beweisen), und ich … ich bin die Peitsche. Das Bild auf dem Schirm stieß sie plötzlich ab. Sie schaltete ihn aus und widmete sich wieder den Kontrollen. Vor allem macht uns die Ungewißheit zu schaffen, dachte sie. Zu wenig ist uns bekannt hier draußen – irgend etwas wird passieren. Aber wir wissen nicht, was es sein wird … oder wann es soweit ist. Wir wissen nur, daß die Katastrophe, wenn es dazu kommt, absolut vernichtend sein kann. Es wäre nicht das erstemal – schon sechsmal ist es dazu gekommen. Sie hörte, wie Bickel und Timberlake die KomZentrale verließen, und hörte das Zischen der Schleusendichtungen, die sich hinter ihnen wieder versiegelten; sie wandte sich um und sah Flaery an. Er hae einen dunkelblauen Fleck dicht unter dem 66
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linken Auge. Der Fleck erschien ihr plötzlich wie ein überdeutlicher Makel an einem sonst vollkommenen Wesen. Er entsetzte sie, und sie wandte sich, um ihre Gefühle zu verbergen, wieder den Kontrollen zu. »Warum haben es die anderen sechs nicht gescha?« fragte sie. »Du darfst deinen Glauben nicht verlieren«, sagte Flaery. »Ein Schiff wird es schaffen … eines Tages. Vielleicht ist es unser Schiff.« »Die Methode wirkt so … verschwenderisch«, murmelte sie. »Im Grunde wird nur sehr wenig verschwendet. Sonnenenergie ist billig im Mondstützpunkt. Und auch Rohmaterial ist im Überfluß vorhanden.« »Aber wir … leben!« protestierte sie. »Auf dem Mond gibt es noch viele von unserer Sorte – und sie werden alle fast genauso sein wie wir … und sie alle sind Goes Kinder. Sein Auge ruht immer auf uns. Wir müßten …« »Ach, hör doch auf! Ich weiß, warum wir einen Geistlichen an Bord haben – er soll uns mit solchem Gerede abspeisen, wenn wir es mal nötig haben. Ich hab‘s nicht nötig und werde wohl auch nie darauf angewiesen sein.« »Wie stolz wir doch sind«, sagte Flaery. »Du weißt, was du mit deinem metaphysischen Gequatsche machen kannst. Es gibt keinen Go, sondern nur …« »Halt den Mund!« brüllte Flaery. »Ich spreche als dein Geistlicher. Ich staune über deine Dummheit, über deine Tollkühnheit, die es dir erlaubt, hier draußen eine solche Blasphemie zu äußern.« »Oh, natürlich!« höhnte sie. »Hae ich ja völlig vergessen. Du bist auch unser listiger Pfadfinder, der das unbekannte Terrain vor uns sondiert.« »Du hast ja keine Vorstellung davon, wie gewaltig das Unbe67
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kannte vor uns in Wirklichkeit ist«, sagte er. »Geradewegs aus Hamlet«, spoete sie und fuhr sarkastisch fort: »›Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.‹« Urplötzlich hae er Angst um sie. »Ich werde für dich beten, Prudence.« Und er ärgerte sich sofort über seinen Tonfall, der seine Worte albern erscheinen ließ. Ich werde trotzdem für sie beten, dachte er. Prudence wandte sich wieder den Kontrollen zu und dachte: Mit einer Peitsche schlägt man Leute … und stachelt sie auf, bis sie über sich selbst hinauswachsen. Raj kann nicht nur ein einfacher Geistlicher sein – nein, er muß zum Supergeistlichen werden. Flaery spürte, daß sie zierte. Ihre Blasphemie hae seine innersten Zweifel wieder aufgerührt. Und er überlegte, wie wenig doch im Grunde von dem bekannt war, was unter der äußeren Schicht der Wissenscha verborgen lag – ganz unten in den Pandorabüchse, in der einfach alles möglich war. Alles? fragte er sich. Das war natürlich der Angelpunkt. Sie überschrien die Grenzen des Alles … und dieses Alles war von jeher die Domäne Goes. Deshalb … »Komm, leg die Unterlagen hier auf die Bank, Tim«, befahl Bickel. »Du könntest damit anfangen, die wichtigen Teile der Ladepläne nach oben zu legen; alles, was wir brauchen, ist in den Robotlagern. Ich bin gleich wieder da.« Timberlake sah Bickel nach. Die Befehlsgewalt war jetzt ganz offensichtlich auf den anderen übergegangen … niemand stellte das mehr in Zweifel. Er zuckte die Achseln und begann die Frachtlisten und Ladepläne bereitzulegen. Bickel sah sich um. Der Computer-Wartungsraum war so ange68
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legt, daß sich die KomZentrale in die Rundung der einen Wand schmiegte. Ihr gegenüber erhob sich eine Fläche von etwa viereinhalb Meter Höhe und zehn Meter Breite, die ein einziges Durcheinander von Schalafeln, Komparatoren, Simultan-Multiplexern, Puffersystem-Monitoren und Fehlersuch-Instrumenten war – überall schimmerten Skalen und Zeiger. Hinter dieser Wand lagen die ersten Bänke der Hauptprogramme, dahinter wiederum die Sektionen des Speicherzentrums und die gewaltige Bibliothek der Programme, über die die Anlage verfügen konnte. »Wir werden das System abschnisweise durchprüfen müssen, wenn wir alle akustischen und visuellen Kontakte und die SÜBänder finden wollen«, sagte Bickel. »Dabei können wir nur im Wege der Ureingabe vorgehen. Unser Puffersystem kann nur durch Dioden angepaßt werden, was bedeutet, daß die einzige Information, die in das System zurückgeht, von uns kommen muß. Es bedeutet auch, daß einer von uns ständig die Ausgabe verfolgen muß. Wir müssen das unnütze Zeug laufend aussortieren und gleichzeitig mit jeder benutzten Kontrollfolge das Indexregister gegenprüfen.« Es war ihm alles völlig klar – er wußte, wie das Problem anzugehen war. Wenn er sich diese Pforte der Erkenntnis nur offenhalten konnte und den Dingen auch künig immer einen Schri voraus war! Aber die sechs Fehlschläge wogen nicht gering … Grund: unbekannt; Verluste: mehr als achtzehntausend Menschen. Man hält uns nicht für richtige Menschen, sagte sich Bickel. Wir sind ersetzbare Teile, die sich auswechseln lassen. Was ist den anderen sechs Schiffen passiert? Er wischte sich die schweißfeuchten Hände ab. Die Konferenzschaltung zum Stützpunktpersonal hae ihn immer nur nervös gemacht. Er erinnerte sich, wie er an seinem 69
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Monitortisch über tintenbeflecktes Löschpapier hinweg den Monitorschirm angestarrt und die Bewegung von Gesichtern beobachtet hae – Gesichter, die er nur aus der Ferne kannte. Die Erinnerung wurde von Hempsteads Stimme beherrscht, die aus dem harten breiten Mund mit seinen gleichmäßigen Zahnreihen drang: »Jede hier vorzubringende denkbare Theorie über den Verlust dieser Schiffe muß im gegenwärtigen Zeitpunkt doch nur Theorie bleiben. In letzter Konsequenz müssen wir uns eingestehen, daß wir einfach nicht wissen, was geschehen ist. Immerhin sind die Schiffe verschwunden. Wir können nur mehr oder weniger gelehrte Vermutungen anstellen.« Vermutungen: System-Versagen. Technisches Versagen. Doch nirgends ein Wort des Zweifels an den Organischen Gehirn-Zentren. Kein Hinweis, keine Theorie, keine Vermutung. Die Gehirne waren vollkommen. »Warum?« fragte Bickel und starrte auf die Skalen der Computerschaltwand. Timberlake blickte von den Schaltzeichnungen auf. »Was soll die Frage?« »Warum hat man kein OGZ-Versagen angenommen?« »Wahrscheinlich übersehen.« »Das ist mir zu einfach«, sagte Bickel kopfschüelnd. »Da gibt es noch etwas … irgendeinen übergeordneten Grund, warum man uns nicht alle Tatsachen mitgeteilt hat.« Er trat an die Computerschalafel und wischte einen kleinen Fingerabdruck fort. »Worauf willst du hinaus?« fragte Timberlake. »Überleg doch mal, wie einfach es gewesen wäre, uns ein Geheimnis vorzuenthalten. Alles, was wir getan oder gesagt oder 70
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eingeatmet oder gegessen haben, stand unter hundertprozentiger Kontrolle. Wir sind die raumfahrenden Waisenkinder, vergiß das nicht! Sterile Isolierung. Die Geschichte unseres Lebens: sterile Isolierung … physisch … und psychisch.« »Das ist unvernünig«, sagte Timberlake. »Es bestanden gute Gründe für eine sterile Isolierung – denk allein an die Vorteile in einem keimfreien Schiff. Aber wenn man Leuten Informationen vorenthält, die sie eigentlich brauchten … das wäre unverantwortlich.« »Wirst du es denn nie müde, ständig am Gängelband geführt zu werden?« fragte Bickel. »Das würde man doch nicht tun.« »Wirklich nicht?« »Aber …« »Was wissen wir wirklich über das Tau-Ceti-Projekt?« fragte Bickel. »Nur was man uns gesagt hat. Über acht Jahrzehnte hin sind immer wieder automatische Sonden losgeschickt worden. Sie haben einen bewohnbaren Planeten gefunden, der um Tau-Ceti kreist. Darauin begann der GMS, Kolonistenschiffe loszuschicken. Es gibt einen Planeten da draußen, ein Eden, das nur von niedrigen Lebensformen bewohnt ist, eine reife Frucht, die zum Wohle der menschlichen Zukun gepflückt werden soll.« »Na, und warum nicht?« fragte Timberlake. »Und weil das Unternehmen gewisse Gefahren beinhaltet, schicken sie nur duplizierte Menschen … Doppelgänger.« »Das ist nur vernünig«, sagte Timberlake. »Kommt dir an der Sache gar nichts komisch vor?« »Himmel, nein! Ich habe die von den Sonden mitgebrachten Proben untersucht – und du auch.« »Ich verstehe.« Bickel kehrte der leuchtenden Fläche der Schalttafel den Rücken und starrte Timberlake düster an. »Versuchen 71
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wir‘s mal andersherum. Fällt es dir überhaupt nicht schwer, dich auf dieses Bewußtseinsproblem zu konzentrieren?« »Worauf?« »Wir müssen ein künstliches Bewußtsein produzieren«, sagte Bickel. »Darin liegt unsere größte Chance. Die Projektleitung weiß das … ebenso wie wir. Findest du es schwierig, dich diesem Problem zu stellen?« »Welchem Problem?« »Du hältst es nicht für sehr problematisch, ein künstliches Bewußtsein zu schaffen?« »Nun …« »Dein Leben hängt davon ab, daß wir eine Lösung finden.« »Wir könnten umkehren.« Bickel bezwang seinen Ärger. »Keiner von euch sieht den springenden Punkt!« »Und der wäre?« »Das Metallei ist fast hundertprozentig von Computerfunktionen abhängig. Das SÜ-System benutzt Computer-Übersetzungsbänke. Sämtliche Schiffssensoren werden durch den Computer geleitet, der die Darstellung auf den Schirmen der KomZentrale nach Dringlichkeit sortiert. Jede Seele da unten in den Hib-Tanks hat ein individuelles Versorgungssystem – durch den Computer. Der Antrieb ist computergesteuert. Die Versorgungssysteme der Mannscha, die Schirme, die Notschaltung, die Hüllenintegrität, die Strahlungsreflektoren …« »Weil eben alles unter der Kontrolle eines OGZ stehen sollte.« In der niedrigen Schwerkra durchquerte Bickel den Raum mit einem einzigen Schri und schlug mit der Hand auf die Papiere auf der Werkbank. Einige Bläer sanken zu Boden, doch er kümmerte sich nicht darum. »Und sämtliche Gehirne in sechs, nein sieben Schiffen haben versagt! Ich spüre das ganz deutlich. Die 72
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OGZs haben versagt … und man hat uns auch nicht ein Wort der Warnung mit auf den Weg gegeben.« Er hat recht, dachte Timberlake. Er sah zu Bickel auf und bemerkte den Schweiß auf seiner Stirn und die dunklen Ringe um seine Augen. »Wir könnten trotzdem noch umkehren«, sagte Timberlake. »Und wenn wir einen Computerdefekt häen?« »Dann wären wir wenigstens auf dem Heimweg.« »Einen Sturz in die Sonne nennst du ›Heimweg‹?« Timberlake fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Früher hat man den Kindern das Schwimmen beigebracht, indem man sie ins Wasser warf«, sagte Bickel. »Nun, auch wir sind ins Wasser geworfen worden. Wir sollten schleunigst mit dem Schwimmen anfangen, oder wir gehen sehr schnell unter.« »Die Projektzentrale würde uns das doch nicht antun«, flüsterte Timberlake. »Oh – wirklich nicht?« »Aber … sechs Schiffe … mehr als achtzehntausend Leute …« »Leute? Was für Leute? Die einzigen mir bekannten Verluste sind Doppelgänger, die leicht zu ersetzen sind.« »Wir sind Menschen«, sagte Timberlake, »auch wenn wir Doppelgänger sind.« »In unseren eigenen Augen sind wir natürlich Menschen«, sagte Bickel. »Und da habe ich jetzt im Hinblick auf die sehr hohe Verlustquote und die zahlreichen Defektmöglichkeiten eine wirklich interessante Frage an dich: Warum hat uns die Projektleitung keinen Code gegeben, mit dem wir das Versagen der OGZs, unser eigenes Versagen … oder sonstige Schäden häen melden können?« »Der Verdacht ist doch verrückt«, sagte Timberlake. »Jaja«, sagte Bickel. »Wir sind wirklich auf dem Weg nach Tau73
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Ceti. Unser Leben hängt ausschließlich von einem Computersystem ab. Wir haben gleichartige Schiffe schon überallhin losgeschickt – nach Dubbe, Schedir und …« »Es bestand immer die schwache Möglichkeit, daß die anderen Schiffe es doch gescha haben. Das weißt du auch. Zwar sind sie verschwunden, aber …« »Aha, jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Vielleicht sind diese Expeditionen gar keine Fehlschläge gewesen? Vielleicht haben sie …« »Es häe keinen Sinn gehabt, zwei Kolonisationsschiffe zum gleichen Ziel zu schicken«, wandte Timberlake ein. »Nicht solange man nicht sicher sein konnte, daß das erste Schiff …« »Glaubst du das wirklich, Tim?« »Nun …« »Ich habe eine bessere Idee, Tim. Wenn dich irgendein verrückter Kerl ins Wasser würfe und du darauin plötzlich schwimmen könntest«, Bickel schnipste mit den Fingern, »würdest du dich dann nicht verdammt abstrampeln, nur um von dem verrückten Kerl fortzukommen?« Die Geräusche in der KomZentrale waren einschläfernd – das Quietschen der Steuercouches in ihren Halterungen, das gelegentliche Klicken eines Relais, das die Aufmerksamkeit auf eine Skala an den Hauptkontrollen lenkte. »Hat sich Bickel schon Lu gemacht wegen des Bewußtseinsprojekts im GMS?« fragte Prudence. Sie ließ die Hauptkontrollen einen Moment lang aus den Augen und sah zu Flaery hinüber, ihrem einzigen Begleiter während der einsamen Wache. Flaery war blaß und machte einen übermüdeten Eindruck; er hae die Stirn gerunzelt und die Mundwinkel zusammengekniffen. Prudence wandte sich wieder den Kontrol74
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len zu und registrierte am Zeitlog, daß sie noch über eine Stunde bis zur Ablösung hae. Die Anstrengung begann sich bemerkbar zu machen. Flaery braucht verdammt lange für seine Antwort, dachte sie. Aber er ist ]a bekannt für seine wohlüberlegten Reaktionen. »Er hat ein wenig darüber gesprochen«, sagte Flaery schließlich und starrte auf die Trennwand zum Computer-Wartungsraum, wo Bickel und Timberlake an der Arbeit waren. »Prue, sollten wir sie nicht abhören, damit wir sicher sind, daß sie …« »Noch nicht«, sagte sie. »Sie brauchten ja nicht zu wissen, daß wir zuhören.« »Du scheinst Bickel zu unterschätzen«, sagte sie. »Das wäre der schlimmste Fehler, den du machen könntest. Ich traue ihm durchaus zu, einen Prüfmesser in die Kommunikation zu legen – wie ich es getan habe –, auf die unwahrscheinliche Möglichkeit hin, daß sich etwas Interessantes ergibt … wie uns zum Beispiel beim Lauschen zu ertappen.« »Glaubst du, daß er mit dem Bau begonnen hat?« »Er düre im wesentlichen noch in der Vorbereitung stecken«, sagte sie. »Die beiden sammeln Material. Man kann ihre Bewegungen verfolgen, wenn man den Energieverbrauch, die Veränderungen der Temperatursensoren und den Energiebedarf für die Robox-Laderäume hier an den Kontrollen verfolgt.« »Die beiden sind draußen in den Frachtsektionen gewesen?« »Einer von den beiden – wahrscheinlich Tim.« »Weißt du, was Bickel über den GMS-Versuch gesagt hat?« fragte Flaery. »Er sagte, der größte Fehlschlag habe im Aufmerksamkeitswert gelegen. Die Experten haben alles mögliche gemacht, sich nur nicht auf das Wesentliche konzentriert.« »Das ist ein bißchen gar zu dicht am Ziel«, sagte sie. »Vielleicht hat er einen Verdacht«, sagte Flaery. »Aber er kann sich seiner Sache unmöglich sicher sein.« 75
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»Du unterschätzt ihn schon wieder.« »Nun ja, wenigstens ist er auf unsere Hilfe angewiesen«, sagte Flaery, »und wir werden das, was hier vorgeht, immer daran erkennen können, wie er uns braucht.« »Bist du sicher, daß er uns überhaupt braucht?« »Er wird dich einsetzen müssen für seine komplizierten mathematischen Analysen«, erwiderte Flaery. »Und ich … nun, er düre schon im ersten Stadium auf das von-Neumansche Problem stoßen. Das hat er sich vielleicht noch gar nicht überlegt, aber dazu wird es schnell kommen, wenn er erkennt, daß er der unzuverlässigen Technik ein deterministisches Ergebnis abringen muß. Seine Bauteile sind tote Materie.« »Na und?« Sie schaute von ihren Kontrollen auf. »Die Natur begnügt sich mit den gleichen Stoffen. Unter der molekularen Stufe gibt es keine lebendigen Systeme.« »Da unterschätzt du aber das Leben«, sagte Flaery. »Die Grundelemente, die Bickel einsetzen muß, stammen aus unseren Robotlagern – Rollen mit pseudobiologischen Neuronen, monolithische Speicherelemente und ähnliche Dinge – und all diese Gegenstände stehen in ihrem toten Zustand weit über der molekularen Existenzform.« »Aber ihre Feinstruktur ist ebenso relevant für ihre Funktion wie die Struktur jedweder lebendigen Materie.« »Vielleicht kannst du jetzt auch die Goeslästerung erkennen, die schon in einer Beschäigung mit dem Problem liegt«, sagte Flaery. »Nun laß doch dieses Gerede, Kaplan. Wir sind hier nicht im 18. Jahrhundert und basteln Vaucansons wunderbare Ente zusammen.« »Allerdings gehen wir etwas unendlich Komplizierteres an als primitive Automaten – aber unsere Ziele sind mit Vaucansons 76
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Absichten identisch.« »Das stimmt nicht«, sagte Prudence. »Wenn wir Erfolg häen und unsere Maschine in Vaucansons Zeit brächten und sie ihm zeigten, würde er unsere technische Kunstfertigkeit bestaunen.« »Du übersiehst den springenden Punkt. Der arme Vaucanson würde zum nächsten Priester laufen. Verstehst du, im Grunde hat er niemals etwas machen wollen, das wirklich lebt.« »Das ist nur eine Frage des Engagements, nicht des grundsätzlichen Unterschieds«, wandte sie ein. »Im Vergleich zu uns war er ein Aladin mit der Wunderlampe«, sagte Flaery. »Und selbst wenn seine Absicht der unseren entsprochen häe – er war sich dessen nicht bewußt.« »Du argumentierst ja im Kreis herum.« »Ja, wirklich? Das ist genau das Problem, das Schristeller und Philosophen jahrhundertelang sorgfältig gemieden haben. Das aus Volkssagen erstandene Monstrum: Frankenstein und Zauberlehrling. Schon die Idee, einen bewußten Roboter zu bauen, läßt sich nur angehen, wenn man sich auch der darin liegenden Gefahr bewußt ist – daß wir vielleicht einen Golem schaffen, der uns vernichtet.« »In deiner Freizeit scheinst du Gruselgeschichten zu lesen.« »Gelächter ist auch eine Möglichkeit, sich dieser Angst zu erwehren«, sagte er. »Du meinst es ja ernst!« sagte sie anklagend. »Ich habe es nie ernster gemeint. Warum schickt uns die Projektleitung wohl so eifrig hier draußen an die Arbeit?« Sie versuchte zu schlucken, aber ihr Hals war zu trocken. Sie spürte plötzlich, daß sie tatsächlich Angst hae. Flaery hae den Nerv berührt. Irgendwie hae er einen Zipfel der Wahrheit erhascht. Sie verspürte plötzlich den Drang, den Wartungsraum anzurufen und Bickel und Tim zu bien, ihre Tätigkeit sofort ein77
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zustellen. »Wo läßt sich der Trennungsstrich zwischen einem lebendigen und einem unbelebten Wesen ziehen?« fragte Flaery. »Wird unsere … Kreatur tatsächlich leben?« Sie räusperte sich. »Wäre es nicht präziser, zu fragen, ob unsere Kreatur in der Lage sein wird, sich zu vermehren? Wenn es in dieser Richtung eine Gefahr gäbe … eine wirkliche Gefahr für…« »Dann bewegten wir uns in der Tat auf verbotenem Terrain.« »Um Goes willen, Raj«, sagte Prudence heig. »Hast du denn völlig vergessen, daß du Wissenschaler bist?« »Um Goes willen – das kann ich keinen Augenblick vergessen«, erwiderte er leise. »Hör damit auf!« Sie machte sich klar, daß ihre Stimme unbewußt den herrischen Tonfall ihrer GMS-Pflegemuer angenommen hae. Pflegemuer! Ein grauhaariges Bildnis, dessen Berührung nie mehr war als der gepolsterte Flexor eines Roboters, den sie aus irgendeinem fernen Raum der Projektzentrale dirigierte. Eine sehr traurige Frau war sie gewesen und so … fern. »Die Religion stellt Anforderungen, die sich nicht leugnen lassen, wenn man nicht einen entsetzlichen Preis zu zahlen bereit ist«, sagte Flaery. »Die Religion ist eine Tatsache wie jede andere«, konterte Prudence. »Wir erforschen primitive Religionen. Warum erforschen wir nicht mal unsere eigene? Hat uns Go nicht neugierig geschaffen? Wird von uns als Wissenschaler nicht erwartet, daß wir über allen Vorurteilen stehen?« »Nur ein Narr kann glauben, über seinen eigenen Vorurteilen zu stehen!« »Ich ziehe es jedenfalls vor, Calvinist zu sein; ich nehme es gern auf mich, zum Ruhme Goes verdammt zu werden.« »So etwas darfst du nicht sagen!« sagte er und dachte: Ich darf 78
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mich von ihr nicht so reizen lassen. »Du kannst mir nicht befehlen, was ich sagen darf und was nicht«, sagte sie. »Du behauptest, Wissenschaler können Go mit den Vorstellungen mathematischer Unendlichkeit gleichstellen. Wir beherrschen die mathematische Unendlichkeit – warum dann nicht auch Go?« »Was für eine Anmaßung!« sagte er. »Mathematische Unendlichkeit! Null hoch null, wie? Oder Unendlichkeit minus Unendlichkeit. Oder Unendlichkeit mal null.« »Go mal null«, sagte sie. »Warum nicht?« »Du bist hier die Mathematikerin! Du weißt besser als sonst jemand, daß das nur unbestimmte Begriffe sind – mathematischer Unsinn.« »Go minus Unendlichkeit. Mathematischer Unsinn.« Er starrte sie düster an. Sie hae ihn in die Defensive gedrängt. Und er war verletzlicher als sie – schuldiger. »Es war geplant, daß du mir das antust, nicht wahr?« sagte er anklagend. »Du sollst mich reizen und testen, sollst mich auf dem Sprung halten. Ich weiß Bescheid.« Wie wenig er weiß … oder auch nur vermutet, dachte sie. »Die Unendlichkeit läßt sich nicht in Zahlen oder Mengen ausdrücken. Wenn es einen Go gibt, sehe ich nicht ein, warum auch er solchen Regeln anhängen sollte. Und es ist Unsinn, daß ich dich testen will! Dir fehlt ab und zu mal ein gehöriger Tri in deine Philosophie!« »Ich soll bei meinen Predigten bleiben und dich mit deiner Mathematik herumspielen lassen, meinst du das?« »Die Entwicklung einer neuen Rechenart oder irgendeines neuen Werkzeugs im Umgang mit unserem Universum hat nichts Blasphemisches«, sagte sie. »Unser Universum?« fragte Flaery. »So viel, wie wir uns davon nehmen können«, sagte sie. »Das 79
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ist doch überhaupt der Sinn und Zweck eines Kolonistenschiffes, oder nicht?« »Wirklich?« fragte er. Sie justierte die Kurskonstanten-Kontrolle und sagte: »Ich halte mich an die Mathematik. Wie steht‘s mit einer neuen Rechenweise, die X und Y im Unendlichen …« »Die Schaffung einer neuen Mathematik ist nicht mit dem Bau dieser lebendigen, denkenden Kreatur vergleichbar«, sagte er. »Aber ohne die Mathematik gelingt uns die Kreatur vielleicht nie.« Sie versucht mich immer wieder in die Enge zu treiben, dachte er. Warum? »Die Frage ist doch, ob wir in Goes Domäne der Schöpfung eindringen oder nicht.« »Ihr Prediger seid doch alle gleich. Ihr wollt Go verherrlichen, beschränkt euch aber selbst in den Mieln.« Flaery betrachtete die gewölbte graue Metallwand über sich. Er hae das Gefühl, am Gängelband geführt zu werden. Sie belauerte ihn. Er spürte, daß er in großer Gefahr schwebte, daß sich die Vorstellung des Bewußtseins als etwas, das künstlich erzeugbar war, wie eine unheilbare Wunde in seine Seele fressen könnte. »Raj«, flüsterte sie, und Entsetzen schwang in ihrer Stimme. Er fuhr herum und sah die Lichtstreifen, die die Hauptkontrollen wie rote Messerschnie überliefen. »Wir haben im Sektor C-8 der Hib-Tanks eine fast kritische Temperatur«, sagte sie. »Was ich auch tue – das System oszilliert.« Flaerys Hand zuckte zu den Meßgeräten des Versorgungssystems und ließ seine Monitorschirme aufleuchten. Er überflog die Instrumente und befahl: »Ruf Tim.« »Was ich auch mache – es nützt nichts!« sagte sie schwer atmend. Er blickte zu ihr hinüber und sah, daß sie die Kontrollen be80
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kämpe und nicht mit ihnen arbeitete. »Ruf Tim«, sagte er. Sie schlug mit der Handkante auf den Rufschalter und brüllte: »Tim zur KomZentrale! Notfall!« Wieder überflog Flaery seine Instrumente. Außerhalb der Hib-Tanks schien es eine Temperaturveränderung um drei Punkte gegeben zu haben. Er mußte sich zusammennehmen, um die Hände von den Kontrollen fernzuhalten. Wenn die Tanktemperatur in die rote Zone geriet, ohne daß im Dehib-Bereich Vorsorge getroffen war, konnte es Tote unter den hilflosen Schläfern geben. Trotz Prues verzweifelter Bemühungen näherte sich der Tod den drei betroffenen Sektoren des C-8-Tanks, in dem etwa vierhundert Menschen schlummerten. Die Schleuse zum Computerraum schlug auf. Timberlake stürzte herein, dicht gefolgt von Bickel. »Hib-Tanks!« keuchte Prudence. »Temperatur!« Timberlake hechtete durch die KomZentrale in seine Steuercouch. Sein Vakanzug fuhr knirschend an den offenen Kokonkanten entlang, als er sich umdrehte und die Umschaltkontrollen ergriff. »Gib mir den roten Hebel!« brüllte er. »Ach, zur Hölle mit der Zählung. Ich übernehme.« Und er übernahm die Hauptkontrollen, die viel zu schnell herumschwangen. »C-8«, sagte sie, sank zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Hab‘s schon«, sagte er. Er überflog die Meßgeräte, und seine Finger spielten über die Konsole. Bickel ließ sich in seine Couch gleiten und aktivierte seine Mitleseinstrumente. »Liegt nicht im Hüllenschild«, sagte er. Prudence hob eine Hand an den Hals und zwang sich dazu, Bickel nicht anzusehen. Er darf nicht ahnen, daß wir auf ihn achten, 81
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dachte sie. »Damit wär‘s wohl gut«, sagte Bickel. Prudence schaute auf die Kontrollen über Timberlake und sah, wie die Warnlichter ausgingen und die Zeiger der Instrumente auf Normalstellung zurückfielen. »Fehlerhae Rückkoppelung für eine Gruppe von Hüllenreflektoren, die auf C-8 konzentriert waren«, sagte Timberlake. »Wieder ein Konstruktionsfehler!« höhnte Bickel. Und ein so einfaches Problem, dachte Bickel. Die Krümmung der Schiffshülle wirkte als Linse, die die Energie innerhalb des Schiffes konzentrierte, soweit die Reflektoren und Abschirmsysteme nicht einen Ausgleich herstellten. Prudence ging die Reihe der verbleibenden Anzeigegeräte durch. »C-8 liegt in einer Richtung mit dem Teil der Robotlager, die du besucht hast. Genügt schon ein kleiner Ausflug, um das ganze Schiff aus dem Gleichgewicht zu bringen?« »Erhöht ganz schön das Vertrauen in die Konstruktion, nicht wahr?« lachte Bickel bosha. Sie haben mich nicht gewarnt! dachte sie. Sie haben mich hereingelegt. Vorherberechnete Zwischenfälle, hat man mir gesagt, Zwischenfälle, die die Reaktionsfähigkeit der Mannscha schärfen sollen. Reaktionsfähigkeit! »Du hast zu heig reagiert, Prue«, sagte Timberlake. »Du darfst nur ganz minimale Korrekturen vornehmen, um die Oszillation zu vermeiden, während du nach der Ursache des Problems suchst. Deine Sensorimpulse haben überall im Schiff zu bestimmen versucht, wo das Schutzschild zu verstärken war.« Ich bin in Panik geraten, dachte sie. »Ich glaube, ich bin wohl zu müde gewesen.« Sie erkannte sofort, wie lahm diese Entschuldigung klingen mußte. Ich war viel zu sehr mit Flaery beschäigt, dachte sie. Ich hae 82
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schon hübsch eine Ecke anvisiert, in die ich ihn drängen wollte und aus der er sich häe freikämpfen müssen … und ich habe den Defekt im Schiff erst bemerkt, als es schon fast zu spät war. In diesem Augenblick begann sie sich zu fragen, ob etwa ein anderes Mannschasmitglied beauragt war, ihre Fähigkeiten zu schärfen. »Prue, du mußt daran denken, daß beim Auslösen der Ausgleichsschalter die Computerautomaten abgeschaltet werden«, sagte Bickel. »Dieses Ding ist konstruiert, um von einer bewußten Intelligenz – von uns oder von einem OGZ – wieder eingesteuert zu werden.« »Ach, halt doch den Mund!« seufzte sie. »Ich habe einen Fehler gemacht, das weiß ich. Es kommt nicht wieder vor.« »Ist ja auch kein Schaden angerichtet«, sagte Timberlake. »Ich brauche dich nicht als Verteidiger!« sagte sie eisig. Sie preßte die Hände zusammen, um das Ziern zu unterdrücken. Wenn es mal wirklich zur Katastrophe kommt, sind wir hilflos. Wir können nicht umkehren, ohne das Risiko eines haltlosen Sturzes in die Sonne einzugehen oder die Zahl ihrer Kometen um einen zu vermehren. Wir können auch nicht weiterfliegen, wenn wir nicht das unmögliche Problem bewältigen. »Nun nimm‘s mal nicht so schwer, Prue«, schaltete sich Flaery ein. »Wir haben dich wahrscheinlich nach der Dehib zu schnell an die Kontrollen gelassen.« Sie häe nicht in Panik geraten dürfen, dachte Flaery. Dazu ist sie eigentlich nicht der Typ. Sie hat die Umsicht einer Trau und geht mit typisch weiblichem Intuitionsvertrauen an die Dinge heran. Steht sie irgendwie unter Druck? Weiß sie etwas, von dem ich keine Ahnung habe? »Ich kann die Kontrollen jetzt übernehmen, Tim«, sagte Flattery. 83
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Timberlake musterte seine Instrumente. »Okay. Zählung los.« Die Kontrollen wechselten, und Timberlake richtete sich auf. »Gehen wir wieder in den Wartungsraum zurück«, sagte Bickel. »Wie weit seid ihr?« fragte Prudence. »Haben kaum angefangen«, erwiderte Bickel. »Ist der Mensch vielleicht nur das Miel der Maschine, eine andere Maschine zu machen?« fragte sie. »Erinnert mich an Sam Butlers berühmte Henne«, sagte Timberlake. »Philosophie und …« »Philosophiere doch ein andermal, ja?« fuhr Bickel dazwischen. »Einen Augenblick noch«, sagte sie. »Indem wir ein künstliches Bewußtsein zu erzeugen versuchen, spielen wir mit der Variabilität. Und das ist nun ein Gebiet, das alle kleinen Geistlichen«, sie nickte zu Flaery hinüber, »und die meisten Wissenschaler in stillschweigendem Einverständnis als ausschließliche Domäne Goes im Himmel ausgeklammert haben – die Gene.« »Ja«, sagte Bickel. »Das ist großartig. Aber lösen wir das Problem doch ein andermal, ja?« »Ihr versteht mich nicht – keiner von euch«, sagte sie. Bickel starrte sie an. »Nein? Gut, Prue. Hören wir mit dem Herumgerede auf. Wenn wir dieses Problem lösen, sind wir verdammt, und wenn wir es nicht lösen, sind wir im Handumdrehen tot. Wolltest du das sagen?« »Bravo!« erwiderte sie und wandte sich zu Flaery um. Dieser starrte stirnrunzelnd auf seine Kontrollen und ignorierte sie. »Verstehst du, Raj?« fragte sie. Sie kann unmöglich meine Anweisungen kennen, dachte Flaery. Vielleicht errät sie sie, aber Bescheid wissen kann sie nicht. Und auf keinen Fall könnte sie mich aualten, wenn ich uns alle ins Gelobte Land 84
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katapultieren müßte. »Ja, ich verstehe«, sagte Flaery. »Unterschätze John Bickel nicht.« »Du bist so ungemein schlau, Raj«, sagte sie. »Und so verdammt blöd.« »Das reicht jetzt!« sagte Bickel gereizt und starrte Prudence düster an. »Wir sollten die Atmosphäre schleunigst wieder reinigen. Wir sind auf uns selbst gestellt, Prue. Du hast keine Vorstellung, wie sehr. Wir müssen uns aufeinander verlassen können, weil auf das Metallei nämlich keinesfalls Verlaß ist! Unstimmigkeiten können wir uns nicht leisten.« So, das können wir uns also nicht, dachte sie. »Wir sind in einem Schiff gefangen, das nur einen einzigen hochqualifizierten Mechanismus enthält«, sagte Bickel. »Wir haben nur einen Apparat, der einwandfrei so funktioniert, wie wir es erwartet haben – unseren Computer. Alles andere macht den Eindruck, als wäre es von Menschenaffen mit lauter linken Händen entworfen und gebaut worden.« »Bickel glaubt, daß das alles Absicht war«, sagte Timberlake. Prudence sah unwillkürlich zu Flaery hinüber. So schnell darf er eigentlich noch nichts vermuten, überlegte sie. Flaery brach das Schweigen. »Absicht?« fragte er. »Ja«, sagte Timberlake. »Er glaubt, daß die anderen Schiffe die gleiche Art Defekt haen, er glaubt, daß mit den OGZs etwas nicht stimmte.« Bickel ist weitaus wachsamer und mißtrauischer als erwartet, dachte Prudence. Raj und ich werden uns auf seine Seite schlagen müssen; anders läßt sich die Situation nicht mehr unter Kontrolle halten. »Wieso … die OGZs?« fragte Flaery. »Die Sache ist ganz offenkundig«, sagte Bickel. »Welcher Teil der Schiffe ist niemals in den Streßanalysen aufgetaucht, die wir 85
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damals auf der Suche nach der Ursache für die sechs Schiffskatastrophen anfertigten? Welchen Schiffsteil hielten wir für absolut betriebssicher, weil überhaupt niemals von einem Versagen die Rede war?« »Gewiß doch nicht die OGZs«, sagte Flaery. Er versuchte einen scherzhaen Tonfall in seine Stimme zu legen, was ihm aber nicht gelingen wollte. Go steh uns bei, dachte er. Bickel hat den ganzen Schwindel viel zu früh durchschaut. »Aber ganz gewiß die OGZs«, sagte Bickel. »Und man hat uns von den verdammten Dingern gleich drei Stück mitgegeben! Obwohl niemals die Möglichkeit angedeutet wurde, daß ein OGZ auch versagen könnte, haen wir drei davon an Bord!« »Warum?« fragte Prudence. »Um ganz sicherzugehen, daß wir den Umkehrpunkt passiert haen, wenn wir die kalte Dusche zu spüren bekamen«, erwiderte Bickel. Da hin ich wohl jetzt an der Reihe, dachte Prudence. »Noch so ein verdammter Schachzug der Projektleitung!« sagte sie. »Aber kein Wunder. Es paßt ja haarscharf ins Bild.« Flaery warf ihr einen erstaunten Blick zu und konzentrierte sich wieder auf die Hauptkontrollen, ehe Bickel aufmerksam werden konnte. »Eine kalte Dusche«, sagte Bickel. »Dieses Schiff ist ein riesiges Simulationsgerät, das einen einzigen Zweck hat – und ich möchte ween, daß das bei den anderen Schiffen genauso war.« »Warum?« fragte Flaery. »Warum sollte man so etwas tun?« »Verstehst du nicht?« fragte Bickel. »Siehst du den Sinn nicht? Er ist doch ganz deutlich zu erkennen – in allem, was uns umgibt. Etwas anderes läßt sich aus diesem Durcheinander nicht schließen. Die Geheimnistuerei, die Schachzüge – das alles zielt darauf ab, uns ins Wasser zu stürzen. Nicht nur eine kalte Dusche. Viel86
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mehr müssen wir schwimmen, wenn wir überleben wollen. Und die einzige Möglichkeit des Schwimmenlernens führt über die Schaffung eines künstlichen Bewußtseins.« »Aber wozu der ganze komplizierte Schwindel?« fragte Flattery. »Wozu die Kolonisten, zum Beispiel?« Warum sollte man das Schiff nicht mit Kolonisten ausstaen?« konterte Bickel. »Ersatzleute für jedes Mannschasmitglied, das unterwegs draufgeht. Ein neuer Pfeil aus dem Köcher – nur für den Fall, daß wir den Weg über den Berg tatsächlich finden und auf einen bewohnbaren Planeten stoßen, auf dem wir siedeln können. Und … vielleicht gibt‘s da noch einen anderen Grund.« »Und der wäre?« fragte Prudence. »Ich kann noch nicht darüber sprechen«, sagte Bickel. »Es ist im Augenblick nur eine Vermutung … und überhaupt dürfen wir einen ganz besonders wichtigen Gesichtspunkt nicht außer acht lassen – das destruktive Potential dieses Projekts.« »Das solltest du uns aber erklären«, sagte Flaery und spürte, daß er nervös wurde, weil Bickel das Schreckenselement des Bewußtseinsprojekts bereits durchschaut hae. »Machen wir uns doch nichts vor«, sagte Bickel. »Wenn wir dieses Problem wirklich lösen, könnte das unbekannte Gerät, das wir dann entwickelt haben, eine große Bedrohung für die Menschheit darstellen. Frankensteins Monstrum – Intelligenz ohne Gefühl, ein tobender Schrecken.« Er zuckte die Achseln. »Vor langer Zeit gab es einmal eine Insel im Pugetsund, und ihr alle kennt die Geschichte. Was ist damals geschehen? Hat man das Problem gelöst?« »Dafür bauen wir Sicherungen ein«, sagte Prudence. »Aber wie?« fragte Bickel. »Können wir dieses Bewußtsein entwickeln, ohne ihm zugleich völlig seinen Willen zu lassen? Vielleicht war das auch eines der Probleme unseres Schöpfers – er gab 87
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uns ein Bewußtsein, ohne die Erlaubnis, uns zu erheben gegen … was? Gegen Go? Das Bewußtsein ist nicht nur ein Füllhorn von Gaben. Es ist ein dorniges Geschenk und tut weh.« Flaery fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und?« »Also verfügt dieses Schiff über eine letzte Sicherung zum Schutze der Erde und der übrigen Menschheit«, sagte Bickel. »Die einzige wirklich zuverlässige Sicherung, die ich mir im Augenblick unter Berücksichtigung aller Veränderlichen vorstellen kann, ist ein menschliches Wesen – einer von uns.« Er blickte von einem zum andern. »Einer von uns steht bereit, den Auslöser zu betätigen und uns in die Hölle zu schicken, wenn wir durchdrehen.« »Das ist doch absurd!« sagte Flaery. Prudence hob eine Hand an die Brust und dachte: Himmel Herrgo! Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht! Aber Bickel hat recht … und natürlich kommt nur Raj in Frage. Er ist der einzige, der in diese Rolle paßt. Was mache ich jetzt? Timberlake hae die Diskussion verfolgt, bei der ihn lediglich überrascht hae, wie überzeugend Bickels Einschätzung der Lage war. Warum hae Bickel recht? Natürlich hae er recht. Aber warum ließ sich das akzeptieren, wenn die Angelegenheit in Wirklichkeit doch gar nicht so selbstverständlich war? War es die Ehrfurcht vor Bickel, der zweifellos der klügste Kopf von allen war? Oder lag es daran, daß sie die Wirklichkeit bereits ahnten? »Ich sag euch was«, sagte Timberlake. »Bickel hat recht, und wir alle wissen es. Einer von uns steht am Auslöser bereit. Ich will gar nicht wissen wer.« »Darüber gibt es keine Diskussion«, sagte Bickel. »Wer es auch ist – wenn die Angelegenheit schiefgeht, wäre ich der letzte hier an Bord, der ihn aualten würde.«
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Sie schrieb ›Prudence Weygand‹ an das Ende des Logbandes, begann es durch den automatischen Aufzeichner laufen zu lassen und führte die Synchronübertragung auf Flaerys Band durch, der die Kontrollen übernahm. Am Zähler war abzulesen, daß es ihr fünfzehnter Wachwechsel war. Flaery legte sich in seiner Couch zurecht und bereitete sich innerlich auf die vierstündige Wache vor. Die Lichtreflexe auf den plastikgeschützten Skalen haen etwas Hypnotisches. Er schüttelte den Kopf, um sich ganz wach zu machen, und hörte, daß Prudence ihre Couch verließ. Wie lammfromm sie die Möglichkeit hinnehmen, daß ich ihr Scharfrichter bin, dachte Flaery. Er registrierte, wie munter Prudence zu sein schien. Dieser vierstündige Wachwechsel ließ sich durchhalten, solange keine schwierigen Probleme auauchten, aber er brachte natürlich den Körperhaushalt gehörig durcheinander. Prudence häe sich eigentlich um etwas zu essen kümmern und dann schlafen gehen müssen, aber offensichtlich war sie ganz wach. Sie sah zu Flaery hinüber und überprüe das Reparaturlog. Dort waren keine dringenden Arbeiten verzeichnet. Damit waren jetzt schon über fünfundzwanzig Stunden vergangen, ohne daß mehr als nur kleinere Justierungen an den Hauptkontrollen nötig gewesen waren. Alles klappte gut. Zu gut. Die Gefahr hält einen wach, dachte sie. Ein dauerhaer Frieden aber lullt die Sinne ein. Aber sie fragte sich doch, ob die Projektleitung die besondere Gefahr vorhergesehen hae, in der sie sich plötzlich sah, und sie dachte: Bin ich etwa nicht nur für die anderen die Peitsche, sondern auch für mich selbst? Der Forschungsweg, den sie eingeschlagen hae, erschien ihr allerdings völlig klar: Es ging darum, das chemische Meer zu definieren, in dem das Bewußtsein schwamm. Der letzte Schlüssel lag 89
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ihrer Auffassung nach in den Serotonin-Adrenalin-Fraktionen. Was sie suchte, war ein aktiver Urstoff, ein Schnellerzeuger von Neurohormonen. Das Endprodukt wäre der Grundstimulator menschlichen Bewußtseins. Wenn man das chemische Analogon dazu fand, konnte sie sich den Funktionen des Bewußten im einzelnen widmen. Dabei gab es ein Problem: Sie war in Gefahr. Sie hae kein anderes Versuchskaninchen als sich selbst. Es bestand immer die Möglichkeit eines tödlichen Irrtums. Die letzte Versuchssubstanz hae ihren Geist in Feuer getaucht und sie in eine verrückte Bewußtheit versetzt. Alle Geräusche waren zu Flüssigkeiten geworden, die in ihrem Inneren ineinanderrannen, um dann durch einen zentrifugalen Prozeß der Bewußtheit geschleust zu werden. Es war ein entsetzliches Erlebnis gewesen, doch sie hae nicht abbrechen wollen. Sie konnte diese Versuche auch nur während der Tiefschlafperioden in ihrer eigenen Kabine machen, wobei immer die Möglichkeit bestand, daß irgendeine körperliche Reaktion sie verriet. Aber das dure nicht sein; sie wußte, daß sich die anderen zusammentun würden, um die Experimente zu verhindern. »Du solltest dir etwas zu essen beschaffen und zu schlafen versuchen«, sagte Flaery. »Ich bin nicht hungrig.« »Versuch dich wenigstens auszuruhen.« »Vielleicht später. Ich werde mir anschauen, wie Bickel und Tim weiterkommen.« Sie warf einen Blick auf den Schirm über der Couch. Er war auf die Deckenkameras im Computerraum geschaltet. »Wir müssen uns ständig im Auge behalten«, hae Timberlake gesagt. »Wir können nicht warten, bis jemand um Hilfe schreit.« Der Schirm zeigte Bickel allein im Wartungsraum, und eine 90
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zweite Kamera beobachtete den schlafenden Timberlake in der benachbarten Kabine. Durch den ständigen Vierstundenwechsel und das gegenseitige Belauern sind wir in spätestens einer Woche völlig fertig, dachte sie. Bickel sah zu seinem Schirmauge auf und erblickte Prudence, die ihn beobachtete, »Satan bemächtigt sich der Untätigen«, sagte er. Sie machen sich über mich lustig, dachte Flaery. Sie belachen Go, den Teufel und mich. »Wie wär‘s mit etwas Kaffee?« erwiderte Prudence. »Später«, sagte Bickel. »Überhaupt dürfen wir keine Nahrungsmiel mehr hier hereinbringen. Wir müssen die Schutzplaen für längere Zeit abnehmen und können es nicht riskieren, die Feinstruktur zu verschmutzen. Wenn du frei bist – ich könnte Hilfe gebrauchen.« Sie bewegte sich vorsichtig auf den Durchgang zu, öffnete das Scho und blieb unmielbar dahinter stehen, um sich anzusehen, was Tim und Bickel seit ihrer letzten Freiwache gescha haen. An der großen Schalafel gegenüber der Schleusentür war jetzt ein mechanisches Gewächs zu sehen – ein aufgetürmtes unregelmäßiges Gebilde aus Plastikblöcken – Eng-Multiplikatorenschaltungen, die mit Plastik isoliert waren. Die Blöcke waren durch ein Gewirr von Drähten miteinander verbunden – ein schwarzes Spinnennetz aus isolierten Pseudo-Neuronenfibern. Bickel hae Prudence eintreten hören. Ohne von seiner Arbeit an einer Seite der kantigen Vorrichtung abzulassen, sagte er: »Nimm das andere Mikro-Sichtgerät dort auf der Werkbank. Ich brauche 21,006 Zentimeter K-A4-Neurofiber mit Multisynapsen. Schließe es so an, wie auf Zeichnung G-20 markiert. Sie müßte die oberste im Stapel rechts auf der Bank sein.« Bickel setzte sich auf den Boden und rückte einen neuen Block 91
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Eng-Multiplikatoren zurecht. Er fuhr mit einem tragbaren Mikrosichtgerät über den Block, lehnte sich in die Stirnstützen und begann die Kontakte zu schließen. Sie fand die Zeichnung, rollte ein Stück Neurofiber ab, fädelte es in das Sichtgerät ein und beugte sich über das Okular. Das vergrößerte Bild der Leitung mit ihren grünkodierten Synaps-Sektionen wurde sichtbar. Sie schaute noch einmal auf die Zeichnung und begann die nötigen Anschlüsse herzustellen. »Was machen wir eigentlich, Boß?« fragte sie. »Wir installieren ein System Rouleeschleifen«, sagte Bickel. »Warum?« »Eine Maschine kann jede Art von Verhalten nachvollziehen«, sagte Bickel. »Wir können unseren Apparat so ausstaen, daß er allen vorgegebenen Wünschen entspricht. Er wird sich im vorgegebenen Rahmen jederzeit so verhalten, wie wir wollen. Allerdings hat mir Raj in diesem Punkt den Kopf zurechtgerückt.« Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. »Das wäre also nicht richtig?« »Darauf kannst du ween! Umgebung und Verhalten, die vorgegeben sind – das ist Determinismus. Der Hersteller der Maschine hat noch alles in der Hand. Aber was schlimmer ist – das System erfordert ein bis in alle Einzelheiten gehendes Gedächtnis. Jedes Detail aus der Vergangenheit der Maschine muß erreichbar sein … und zwar in Sekundenbruchteilen. Die Gedächtnismenge nimmt natürlich mit jeder Sekunde zu und ist jederzeit zugänglich. Und damit, meine Liebe, schleicht sich das Problem des Unendlichen in unsere Konstruktion.« Sie spulte ein, maß Seitenfiber ab und legte die Schleife, die nach der Zeichnung vorgeschrieben war. »Ein Element des Unendlichen – das bedeutet ein Element des Unbestimmten. Der Schulbuchdefinition nach ist das Unbestimmte nicht konstruierbar. Was 92
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machen wir also?« »Stell dich doch nicht so an«, sagte Bickel. »Wir bauen ein System von zufällig wirkenden Sperren in das Netz ein – ein Verhalten, das Wahrscheinlichkeitserfordernissen folgt.« Er richtete sich über dem Sichtgerät auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ein Verhaltensschema auf der Basis eingebauter Fehlfunktionen.« »Ein deterministisches Verhalten aus unzuverlässigen Elementen«, sagte sie. Und sie spürte, daß hier Flaery seine Hände mit im Spiel hae. »Bickel«, sagte sie. »Ich habe über deine Verdächtigungen nachgedacht. Selbst wenn du recht hast – ich meine, selbst wenn einer von uns dazu bestimmt ist, das Schiff im Notfall zu sprengen –, wie kannst du so sicher sein, daß diese Person noch unter uns ist? Immerhin sind drei Mitglieder der ursprünglichen Mannscha nicht mehr am Leben.« »Okay«, sagte Bickel. »Nehmen wir einmal an, du häest nach Erwachen aus der Hib festgestellt, daß unser Geistlicher-Psychiater getötet wurde. Wie lauteten deine Befehle für diesen Fall?« »Befehle?« »Nun stell dich doch nicht so an! Wir alle haben unsere besonderen Anweisungen – für alle Fälle.« »Ich häe darauf bestanden, daß wir einen anderen Geistlichen-Psychiater aus der Hib holen«, sagte sie leise. »Was häest du getan?« »Ich hab meine Befehle, ebenso wie du.« Sie blickte zu Flaery auf, der auf dem Schirm sichtbar war. Er schien von den Hauptkontrollen völlig in Anspruch genommen zu sein und sich um das Gespräch im Wartungsraum nicht zu kümmern, das er über die interne Leitung mithören konnte. Wie sie genau wußte, wurde jedes Wort von ihm registriert, beurteilt 93
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und analysiert. Bickel hat recht, dachte sie. Es ist Raj. »Paß doch auf, was du da machst!« sagte Bickel. Sie wandte sich um und bemerkte seinen aufmerksamen Blick. »Wenn du die Kontakte der Schleife versaust, stecke ich dich wieder in die Hib«, sagte er. »Stoß hier keine Drohungen aus, die du doch nicht wahrmachen kannst«, sagte sie. Aber sie wandte sich wieder dem Mikrosichtgerät zu, beendete eine Serie verwobener Schleifen, vergewisserte sich schließlich, daß sie nicht wechselseitig oszillierten, zupe die ausgehende Leitung heraus und fügte einen Stecker für eine Verbindung mit einem Eng-Multiplikator an. »Gib mir das G-20, sobald du damit fertig bist«, sagte Bickel. Er gähnte und rieb sich die Augen mit den Fäusten. Prudence prüe ihr Montagestück noch einmal anhand der Zeichnung, hob das Ding san aus dem Sichtgerät und brachte es zu Bickel hinüber. Er nahm das G-20 und begann es sofort an den frisch installierten Eng-Multiplikatorenblock anzuschließen. Zuletzt führte er eine Leitung zu einem Kontakt an der Computerschalafel. Prudence trat zurück und untersuchte das mechanische Gewächs, das an der Wand wucherte, als sähe sie es zum erstenmal. Und plötzlich gewann die Konstruktion einen ganz neuen Sinn. »Das ist mehr als eine Analyseschaltung«, sagte sie. »Richtig, Mädchen.« Bickel stand auf, wischte sich die Hände am Vakanzug ab und schwang sein Mikrosichtgerät und seinen Manipulator zur Seite. »Abgesehen davon, daß es uns eine Analyse der eingebauten Fehlfunktion gibt, wird dieser kleine von uns angetriebene Ochse einen dreiseitigen Energieaustausch bewirken.« 94
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»Du hast das Gerät in den Computer geschaltet«, sagte sie anklagend und deutete auf die Verbindungen an der Schalafel. »In jede einzelne Leitung an dieser Schalafel ist eine Diode geschaltet. Impulse können aus dem Computer in unser Testgerät fließen, aber wenn etwas andersherum in den Computer will, muß es von uns kodiert und gesondert eingegeben werden.« »Ein dreiseitiger Energieaustausch?« fragte sie. »Wir werden meine Feldtheorie-Vorstellung testen. Ich habe ein Primärprogramm fertig. Wenn unser Ochse nicht funktioniert, gibt es lediglich eine uneingeschränkte Übertragung in den Laser. Sobald aber das Feld entsteht, wirkt es als Filter, und wir müssen uns auf eine verstümmelte Meldung gefaßt machen. Es würden dann nämlich nur die wirklich wichtigen Stellen durchkommen.« Prudence nickte und sah Bickel mit seiner Arbeit plötzlich mit ganz anderen Augen an. »Ähnlich arbeitet auch das menschliche Bewußtsein«, fuhr Bickel fort, »das sich allerdings mehr mit einem Strom vergleichen läßt. Irgendwo in uns werden die ankommenden Daten verarbeitet. Das Bewußtsein sortiert das Unwichtige aus und konzentriert sich nur auf das Wichtige.« »Aber an diesem Punkt geraten alle physikalischen Theorien ins Wanken«, sagte sie. »Wenn unser Apparat eine gewisse Selbsteinschätzung erlangen sollte, hat er damit noch kein Bewußtsein. Denn meistens wird dabei Bewußtsein mit Denken verwechselt. Fühlen und Denken sind jedoch physiologische Prozesse, und das Bewußtsein …« »Ist von völlig anderer Art«, sagte Bickel. »Es ist eine Beziehung, ein Feld, ein selektiver Austausch. Es unterdrückt die unwichtigen Stellen, es sortiert aus. Aber jetzt wollen wir mal sehen, ob unser Gerät die stoßweise eingegebenen Daten, von denen einige unwichtig sind, tüchtig durchforsten kann.« 95
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»Unrichtige Daten – wichtige Ergebnisse«, flüsterte sie. »Was?« Aber sie kümmerte sich nicht um Bickel, sondern sah zu Flattery hinauf, der in aller Ruhe die Hauptkontrollen bediente. Plötzlich kam ihr eine Äußerung Flaerys in den Sinn: »An uns gibt es nichts, was wir wirklich objektiv einschätzen können – mit der Ausnahme unserer körperlichen Reaktionen – den Verhaltensreflexionen. Wir leben in einem Wald der Illusion, in dem schon der Begriff des Bewußtseins mit der Illusion verschmilzt.« Sie konzentrierte sich auf Bickel und bemerkte seine Muskeln, die sich unter dem Stoff seines Vakanzugs spannten, als er sich jetzt vorbeugte und die Schaltung fertigstellte. Um ein Bewußtsein zu erlangen, muß man die Illusion überwinden. Im Gegensatz zu mir hat Bickel das eingesehen. In einem Augenblick der Erkenntnis sah sie in diesem Mann plötzlich mehr als nur Fleisch und Sehnen und Nerven – mehr als nur die Chemie seines Körpers, bei der noch manches unerklärt blieb. Bickel war einerseits ein unwichtiges und schwaches Wesen, aber andererseits verfügte er über Kräe, die jedes Universum umspannen konnten. Ihrem momentanen Begreifen haete fast etwas Religiöses an … etwas Heiliges. Sie kostete die Empfindung aus und machte sich im gleichen Augenblick klar, daß dies ein ureigenes persönliches Erlebnis war, das sie einem anderen Wesen niemals wirklich nahebringen konnte. Bickel beendete seine Arbeit, richtete sich auf und rieb sich den Rücken. Seine Hände zierten, als er sich nach der großen Konzentration der eben beendeten Arbeit zum erstenmal wieder richtig entspannte. »Probieren wir‘s mal durch«, sagte er. »Prue, du kümmerst dich um die Fehlersuchkontrollen.« Er deutete auf eine Schalafel zu seiner Linken, deren Instrumente und Skalen wie eine Reihe glit96
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zernder Augen warteten. »Ich gebe jedem Netz Rouleeschleifen einen Fünfzigstelstoß aus dem Schroteffekt-Generator.« Er legte eine Reihe von Schaltern um und leitete auf diese Weise das Primärprogramm durch die Eingabe. »Los geht‘s«, sagte er. »Jetzt«, sagte sie, als die Nadeln ihrer Instrumente ausschlugen und den Impuls registrierten. »Gib mir die milere Synapsenschwelle und die Einwirkzeit für jedes Netz.« Bickel betätigte drei Schalter gleichzeitig. »Austausch ist aktiviert.« Er wartete mit wachsender Spannung. »Austausch zeigt Eingangsimpuls«, sagte sie. »Netz eins«, sagte er und aktivierte den genau berechneten Stoß aus dem Schroteffekt-Generator. »Blockade in den Kreuzpunkten der fünen Schicht«, sagte sie. Sie konzentrierte sich auf die Skala für die füne Schicht, als ob sie die Instrumente mit ihren Gedanken aktivieren könnte, aber sie rührten sich nicht. »Es kommen keine Impulse durch«, sagte sie. »Ich versuche mal die Rouleeschleifen abzusuchen«, sagte Bickel und verstellte einen Knopf. »Nichts«, sagte sie. Bickel legte seine Schalterreihe um. »Hier, geben wir mal eine trigonometrisch schwingende Spannung auf die Schleifen. Sag mir die neuen Werte für jede Schicht der Netze. – Nun?« »Wir haben jetzt eine nichtlineare Reaktion über alle Netze«, sagte sie. »Linearität ist fast Null.« »Das ist unmöglich!« sagte Bickel. »Wie wir sie auch nennen – in jedem Falle sind die Stromkreise offen. Er betätigte noch einen Schalter. »Lies die Werte für die anderen Netze ab.« Prudence schluckte ihren Ärger hinunter und ließ den Blick über die Instrumente wandern. 97
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»Nichtlinear«, sagte sie. Bickel trat zurück und starrte auf die Eingabekontrollen. »Das ist doch unmöglich! Was wir hier haben, ist im Grunde ein Transducer. Die Ausgabe müßte der Eingabe entsprechen!« Noch einmal las Prudence ihre Werte ab. »Deine Produkte sind immer noch null.« »Irgendwo Hitze?« fragte Bickel. »Nichts Weltbewegendes«, erwiderte sie. Bickel schürzte nachdenklich die Lippen. »Irgendwie haben wir es fertiggebracht, ein einheitliches orthogonales System für jedes Netz und die gesamte Anlage zu schaffen«, sagte er. »Und das ist ein Widerspruch. Es könnte bedeuten, daß wir in jedem dieser separaten Netze mehr als ein System haben.« »Du hast da eine Unbekannte, die Energie aufsaugt«, sagte Prudence und unterdrückte ihre Erregung. »Entspricht das nicht unserer Definition des …« »Es ist kein Bewußtsein«, sagte Bickel. »Wie das unbekannte System auch aussehen mag – es kann kein Bewußtsein haben … noch nicht. Die ganze Anlage ist zu einfach, hat nicht genügend Primärdaten …« »Dann liegt der Fehler irgendwo in den Schaltungen«, sagte Prudence. Bickel sank in sich zusammen. »Ja, das muß es wohl sein.« »Wo stecken deine Speicherungen über den Bau und die Schalttests?« »Ich habe einen Hilfsspeicher dafür isoliert«, sagte Bickel. »Hol dir etwas zu essen und leg dich hin«, sagte sie. »Ich fange mit der Überprüfung der Schaltungen an.« »Wir sind also im direkten Versuch auf eine Blockade gestoßen«, sagte Bickel. »Das war keine Reaktion eines offenen Stromkreises. Und der Netzaustauschversuch endet mit Nullwerten in 98
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der Ausgabe, ohne daß die Verluststelle erkennbar ist. Das Ding ist ein einziger großer Schwamm!« »Es wird ein ganz einfacher Fehler sein«, sagte sie. »Du kannst Tim wecken und ihn herunterschicken.« »Ich bin hundemüde«, sagte Bickel. Er versuchte festzustellen, wie lange er schon nicht mehr geschlafen hae. »Es wird wohl was ganz Einfaches sein«, fügte er hinzu, wußte aber, daß das nicht stimmte. Die Anlage zeigte eine widersprüchliche Reaktion. Und ein so komplizierter Widerspruch konnte keine einfache Ursache haben. Aber zuerst brauchte er ein paar Stunden Schlaf. Prudence aktivierte die Instrumente an den rot gekennzeichneten Stellen der Schalafel und begann sich mit der Anlage vertraut zu machen. Sie wußte, daß sie bei manchem Computerproblem die kritische Stelle rein intuitiv einkreisen und sich ein stundenlanges Suchen ersparen konnte. Minuten später kam Timberlake gähnend herein. »Bick hat mir schon alles erzählt. Wir haben also Schwierigkeiten.« »Seltsame Schwierigkeiten.« »Hab‘ ich mir schon gedacht.« Er räusperte sich. »Was ist eigentlich passiert?« Sie berichtete ihm von den Versuchen, von der Blockade in den Knotenpunkten der fünen Schicht und der daraus folgenden Diskrepanz zwischen Input und Output. »Nullinearität?« fragte er. »Fast.« »Und keine Hitze?« »Auf den Sensoren war nichts zu sehen.« Timberlake betrachtete die Instrumente. »Das ist der Speicher, den wir isoliert haben. Hast du den ganzen Ablauf überprü?« »Ich wollte mich gerade mit der Anlage vertraut machen, als du hereinkamst.« 99
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»Es häe funktionieren müssen«, sagte Timberlake. »Es war eine saubere, logische Konstruktion. Ich häe schwören mögen, daß wir die integrierten Werte um die unwichtigen Stellen bereinigt erhalten würden, und dann davon ausgehend …« Er unterbrach sich und fuhr fort: »Eine unvorhergesehene Rückkoppelung würde … häe die seltsame Reaktion hervorrufen können.« »Ich verstehe nicht.« »Eine Oszillation. Ein Rücksprungimpuls, mit dem wir nicht gerechnet haen.« »Der häe zwar den direkten Test blockieren können«, sagte sie, »aber die anderen Reaktionen könnte er nicht erklären. Wenn Bickel allerdings in den Computer geschaltet häe … aber die Leitung ist doch einseitig – oder etwa nicht?« »Natürlich. Unsere Anlage häe ausgewählte Daten aus dem Computer aufnehmen können, aber es ist nichts den umgekehrten Weg gegangen. Nein … ich dachte nur an die Speicherbank hier.« Er deutete auf die Kontrollen, vor denen Prudence stand. Sie wandte sich verwirrt um. »Aber das ist doch nur ein … ein kompliziertes Aufzeichnungsgerät! Seine einzige Tätigkeit besteht darin, unsere Arbeit Schri um Schri zu verfolgen. Es ist doch hoffentlich auch vom übrigen Computer isoliert, oder?« »Und wenn es das nicht wäre?« »Aber Bickel hat mir versichert …« »Ja«, sagte Timberlake, »und er hat‘s wahrscheinlich selbst geglaubt. Ich habe die Sache auch überprü. Wenn die Schaltpläne richtig sind, ist es allerdings isoliert. Was ist aber, wenn die Pläne nicht stimmen?« »Warum sollten sie nicht stimmen?« »Ich weiß es nicht, aber nehmen wir einmal an, sie sind ungenau!« 100
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Timberlake bewegte sich suchend an den Kontrollen entlang und blieb an einer Übersetzerausgabe stehen. »Das läßt sich ganz einfach feststellen. Wir haben eine ganze Menge Programme fürs Struktursortieren. Ich werde mal eins durchlaufen lassen, um festzustellen, ob von unserem Versuch etwas in die Hauptbänke geraten ist.« »Die Folgen wären ja nicht auszudenken!« sagte sie. »Nicht unbedingt«, erwiderte Timberlake. Er begann ein Programmband zu schneiden, wobei er sich die notwendigen Daten direkt aus den Computerbänken holte. Schließlich sagte er: »Das müßte eigentlich reichen. Das Programm ist Standard.« Sekunden später blitzte das Lade-und-ab-Signal über die Instrumentenfront vor Timberlake. Er schaltete auf direkten Ausdruck und begann die automatische Übersetzung mitzulesen. »Das ging aber schnell«, sagte Prudence. Timberlake überflog das aus dem Drucker kommende Band. »Um Himmels willen!« sagte er. »Was ist?« fragte sie ängstlich. »Hol mal Bickel her«, sagte Timberlake. »Dieses verdammte Ding präsentiert uns hier die verstümmelte Ausgabe direkt!« »Was?« »Die Antwort, die wir von der Anlage aus dem Test erwartet häen – sie kommt hier.« »Unmöglich!« sagte sie. »Natürlich«, sagte Timberlake. »Aber du hast bei der Programmierung geholfen, überzeug dich selbst.« Er lief an ihr vorbei in die Quartiere. Prudence beugte sich über das Ausgedruckte. Ihr stockte der Atem, als sie erkannte, daß in dem Ausdruck alle unwichtigen Stellen fehlten. Es war eine Auswahl erfolgt, die nur noch das Wesentliche durchgelassen hae. 101
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Kurz darauf kehrte Timberlake zurück, und Bickel folgte ihm auf den Fersen. »Laßt mal sehen!« sagte er und schob Prudence zur Seite. »Mein Go, ihr habt recht!« »Aber wie ist das möglich?« fragte Timberlake. »Tim«, befahl Bickel, »nimm die Verkleidung vom Speicher. Überprüfe ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mieln. Es muß irgendwo eine Verbindung zum Hauptcomputer bestehen … eine Leitung, die nicht auf den Schaltplänen eingezeichnet ist.« »Aber warum hat uns das Ding gerade jetzt die richtige Antwort gegeben?« fragte Prudence. »Das?« Bickel tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Das Programm wurde mit einem Kennbegriff eingegeben, aus dem die erwartete Antwort ersichtlich war. Das Programm ist restlos aus dem Hauptcomputer erarbeitet worden, und wir haben nichts gelöscht. Es ist also noch alles vorhanden und wirkt als Filter. Es hat alles herausgefiltert bis auf die gekennzeichnete Antwort. Himmel, einen Computer zu einem solchen Filter zu machen, ist kein Problem. Das besagt noch gar nichts!« »Nicht so schnell«, sagte sie. »Was ist denn deine Versuchsanordnung eigentlich?« Sie blickte zu dem Gebilde hinüber, das Bickel so respektlos den ›Ochsen‹ nannte und das sich wie ein surrealistischer Auswuchs von der flachen Schaltwand abhob. »Du nennst es eine Art … Transducer«, fuhr sie fort. »Aber was heißt das wirklich? Es besteht aus Blöcken von Nervennetz-Simulatoren, die so gruppiert sind, daß sie drei Energieströme integrieren können. Der Fachbegriff ist Nervennetz-Simulator.« Sie regt sich zu sehr auf und redet zuviel, dachte Bickel. Es drängte ihn danach, die Verbindung zum Computer zu unterbrechen und den Test zu wiederholen. Timberlake entfernte bereits die Deckplae. »Ja – Nervennetz-Simulatoren«, sagte Bickel. Er beobachtete 102
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Timberlake und bewunderte seine direkte sichere Art, mit der er die Arbeit anging. Prudence deutete Bickels Antwort falsch und fuhr fort: »Was ist ein Nervennetz anderes als ein umgrenzter Raum? Es nimmt Energie auf … so wie ein Spinnennetz vielleicht Tinte auffängt, die man in seine Richtung verspritzt. Das Netz registriert die in seine Richtung geschleuderte Energie in vier Dimensionen.« »Neer Vergleich«, sagte Bickel. »Hast du schon etwas entdeckt, Tim?« »Noch nicht«, sagte Timberlake. Er hae sich auf den Rücken gelegt und war mit Kopf, Armen und Schultern im Reparaturtunnel unter der ersten Schicht Verbindungsschaltungen zwischen Kontrollen und Speicher verschwunden. Bickel bemerkte, daß Timberlake seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stelle konzentrierte, und sagte: »Ich glaube, du hast recht, Tim. Wahrscheinlich findest du‘s da unten bei den primären Leitungsbündeln.« Prudence sagte nachdenklich: »Also haben wir einen umgrenzten Raum, einen vierdimensionalen Energieauffänger. Das Testprogramm passiert nun diesen Raum in Form von Impulsen und wird durch die hemmenden Rouleeschleifen gefiltert und …« »Wie war das?« unterbrach sie Bickel. »Ich sagte, daß das Testprogramm den umgrenzten Raum in Form von Impulsen passiert und durch die hemmenden Rouleeschleifen gefiltert …« »Himmel Herrgo, du hast recht«, sagte Bickel. »Die Rouleeschleifen wirken natürlich als Filter! So hab‘ ich mir das noch gar nicht überlegt. Dabei ergäbe sich natürlich hier und da in den Netzschichten eine Blockade von Knotenpunktimpulsen. Das Testprogramm müßte sich einen eigenen Weg suchen und würde an einigen Stellen ausfallen, an anderen aber weiterkommen, wo 103
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es in der Spannung höher liegt.« »Und dieser Filter siebt das Programm durch ein Zufallsfehlersystem«, sagte Prudence. »Also kann deine Vermutung über das Entstehen deiner verstümmelten Antwort nicht stimmen. Das Programm, das in den Computer durchgeschlagen ist, düre keine Ähnlichkeit mehr mit dem haben, was du vorher in die Bänke eingegeben haest. Und doch sind die richtigen Antworten dabei herausgekommen.« »Gehen wir das noch einmal langsam durch«, sagte Bickel. »Wir haben hier ein Schaltsystem – den Ochsen und den Computer – die an sich in allem zusammen …« »Hallo!« rief Timberlake mit hohler Stimme aus dem Speicher. Bickel sah nach unten und bemerkte, daß Timberlake inzwischen fast völlig im Reparaturtunnel verschwunden war. »Gefunden!« sagte Timberlake. »Eine fünfzigadrige Leitung mit Steckkontakt. Soll ich ihn rausziehen?« »Wohin führt sie?« fragte Bickel. »Nach dem Farbcode zu urteilen, direkt in die Zusatzspeicherbänke«, sagte Timberlake. Seine Füße verschwanden im Speicher. »Überhaupt sind alle Bänke hier unten mit dem Computer verbunden! Warum ist das nicht in den Schaltplänen eingezeichnet?« Bickel ließ sich auf Hände und Knie nieder und starrte in den Reparaturtunnel. »Siehst du in den Leitungen irgendwelche Puffer- oder Giersysteme?« Eine Taschenlampe wurde in dem Tunnel geschwenkt. »Ja, tatsächlich«, sagte Timberlake. »Woher weißt du das?« »Konnte gar nicht anders sein«, sagte Bickel. »Das sind Notsicherungen für den Computer. Laß die Finger davon.« Bickel hockte sich hin und bekämpe das Gefühl der Verzweiflung, das ihn übermannen wollte. Die verdammten Dreckskerle! dachte er. Sie wußten, daß wir das 104
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finden würden, sobald wir uns mit den Innereien des Computers beschäftigten. Und sie haben uns die Hände gebunden. »Komm zurück, Tim«, sagte Bickel. »Und laß die Kontakte in Ruhe.« Er stand auf und entfernte die Sperren, die er eingesetzt hae, um die Speicherbank zu isolieren. Timberlake robbte rückwärts aus dem Tunnel und stand auf. »Siehst du darin irgendeinen Sinn?« fragte er und deutete auf die Öffnung. »Ich wünschte, ich könnte das bejahen«, sagte Bickel. »Soweit es uns angeht, hat dieser Computer so etwas wie ein direktes Zugriffs System. Es düre gewaltige Blöcke von Informationen geben, die nach und nach in der Weise eingegeben worden sind, daß nur der Computer weiß, wo sie eigentlich stecken. Deshalb haben wir auch so viele Spezialprogramme und Unterroutinen und unzählige Unterunterroutinen, deren Adressen wir wenigstens wissen.« »Die Organischen Zentren müssen gewußt haben, wo die Informationen stecken«, sagte Prudence. »Aber sie sind tot«, sagte Bickel. Prudence begann zu begreifen, was Bickel meinte. Manche Informationen waren in diesem Ungeheuer je nach der Eingabespannung sicher mehrfach gespeichert. Manche Informationen waren bestimmt auch nur einmal enthalten und konnten durch die Berührung eines einzigen Protons verlorengehen. »Die Speicherbänke unseres Computers sind ein einziges gewaltiges ausbalanciertes System«, sagte Bickel. Prudence nickte. Sie waren in mancher Beziehung wie ein überragendes menschliches Gedächtnis … und arbeiteten auch fast so. Gleichwohl waren sie ein empfindliches Instrument mit allen denkbaren Schwächen. »Himmel!« flüsterte Timberlake. »Und wir haben ein unbekanntes Programm hindurchgejagt!« 105
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»Schlimmer noch«, sagte Bickel. »Durch die nicht verzeichnete Verbindung zum Computer …« Er schluckte und fragte sich, ob sie die Katastrophe überhaupt schon in ihrem vollen Ausmaß erkannt haen. Er wandte sich um und deutete auf die wuchernden Würfel und Kästen, auf die Gruppen pseudobiologischer Nervenfibern, die seinen »Ochsen« ausmachten. »Das Gerät ist nichts weiter als eine Ergänzung des Computers«, sagte Bickel. »Der Fehlfaktor!« sagte Prudence. Sie hob eine Hand an den Mund. »Wir haben einen Fehlfaktor in den Computer eingeführt«, sagte Bickel. »Und das bedeutet erstens, daß wir die Wahrscheinlichkeit … nein, die Gewißheit einer unbekannten Anzahl von Neusystemen im Bereich des Computers eingeführt haben. Das Programm, das wir eben in den Computer eingaben und das wer weiß wo landet, wird unbekannte topologische Kontakte schaffen und neue Netzwerke überall im System.« »Vorwiegend in den Gedächtnisspeichern«, sagte Timberlake. »Und in den Transducernetzen«, sagte Bickel. »Aber der Speicher hat mir auf Anforderung die Analyseinformation geliefert«, sagte Prudence. »Natürlich«, erwiderte Bickel. »Aber deine Anforderung lief auf ein Programm für Subroutine hinaus. Go allein weiß, woher die Information stammte. Zunächst führen fünfzig Adern aus dem Speicher hinaus. Du darfst nicht vergessen, daß diese Adern durch ein Puffersystem gefiltert werden. Die Bits sausen los, rasen durch das Puffersystem und werden je nach Spannung in fünfzig verschiedene Richtungen aufgeteilt. Und das ist lediglich das erste Stadium. Beim nächsten Schri beträgt die Teilung schon fünfzig mal fünfzig. Und dann fünfzig mal fünfzig mal fünfzig. Und so weiter.« 106
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»Der Speicher erscheint fast einer Strickmaschine vergleichbar«, sagte Prudence. »Er hat die Fäden des Protokolls unserer Versuchsanordnung genommen und sie durch die Speicherbänke des gesamten Systems gewebt … sie über eine unbekannte Anzahl von Speicherzellen ausgebreitet.« »Und das in einer unbekannten Anzahl von Fällen«, sagte Bickel. »Vergiß das nicht. Und wir haben nur eine einzige Adresse für das gesamte Protokoll des Tests – die Adresse eines Subroutineprogramms. Wenn die verlorengeht, ist auch das gesamte Protokoll verloren … wenn es uns nicht gelingt, genügend Teile in einem anderen Programm zusammenzufassen und es wieder aus dem System zu ziehen.« »Aber entspricht das nicht etwa der Methode, nach der auch das menschliche Gedächtnis funktioniert?« fragte Prudence. »Und noch etwas: Wir erhielten die richtige Antwort. Die richtige Antwort.« Bickel starrte sie an und überlegte. Sie hae recht, bei Go! Aber nicht aus den Gründen, die er vorgetragen hae. Das Ding hae trotz aller Fehler und Fehlprogrammierungen die richtigen Antworten präsentiert. Der Verarbeitungsablauf stimmte hinten und vorne nicht. Er war heuristisch und häe unter keinen Umständen den gewünschten Output erbringen dürfen. Aber die richtigen Antworten waren gekommen. Warum? Bickel hae plötzlich das Gefühl, einer geistigen Umwälzung zu unterliegen, einem Ansturm, der fast körperlich spürbar war, so daß er sich wunderte, daß die anderen nichts bemerkten. Die absolute Klarheit, mit der er die Vorgänge im Computer plötzlich begriff, durchflutete ihn wie ein Aufputschmiel. Haen es die anderen denn nicht auch erkannt? Er schaute Prudence und Timberlake an und machte sich klar, daß nur Sekundenbruchteile vergangen waren. 107
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Denn Bewegung erzeugt nur wieder Bewegung. Die Worte geisterten ihm durch den Kopf und flößten ihm Ehrfurcht ein vor der Art und Weise, wie sich anscheinend unzusammenhängende Teile – eine Gedichtzeile, ein technischer Satz, ein mathematischer Begriff – in seinem Geist zur richtigen Antwort verbanden. So wie es auch im Computer geschehen war. Prudence, die Bickels Gesichtsausdruck richtig deutete, sagte leise: »Du hast doch etwas entdeckt, John.« Er nickte. »Prudence, du bist unsere Mathematikerin. Was ist eine Wurzel?« Sie starrte ihn verblü an. »Ich mache keine Witze«, sagte Bickel. »Nun, das ist ein Begriff zur Reduzierung von potenzierten Zahlen auf ihren ursprünglichen Wert. Dabei ist …« »Schon gut. Nun sag mir, warum du meine Antwort nicht mit einem Hinweis auf die Wurzeln einer Pflanze beantwortet hast?« Sein Blick verriet ihr, daß er es durchaus ernst meinte. Die Frage hae also irgendwie mit dem Problem zu tun. Sie blickte zu Timberlake hinüber, der ihre Bewegung als ein Hilfeersuchen deutete. »Ist doch ganz offensichtlich«, sagte Timberlake. »Du hast zuerst mit den Worten ›Du bist unsere Mathematikerin‹ eine Kategorie angesprochen. Dann hast du gefragt: ›Was ist eine Wurzel?‹« »Ja«, sagte Bickel. »Du hast die Frage also zuerst gesiebt, um dann mit der richtigen Antwort herauszukommen.« »Himmel!« sagte Timberlake, der jetzt erkannte, worauf Bickel hinauswollte. Prudence fuhr herum und deutete auf die Computerschaltwand. »Aber das Ding hat kein Bewußtsein gehabt! Das wäre unmöglich!« 108
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»Nein, ein Bewußtsein hat es nicht gehabt«, stimmte Bickel zu. »Aber schon beim ersten Versuch haben wir ein gleichartiges Ergebnis erzielt. Und das war kein Zufall. Was läßt sich nun über die Ergebnisse dieses Tests sagen? Erstens können wir behaupten, daß der Computer über ausreichende Informationen verfügte, um trotz der Fehler im System eine zutreffende Antwort herauszusieben. Zweitens läßt sich sagen, daß wir eine neue Art Sinnesdaten in das System eingeführt haben, das wir bisher Computer nannten. Wir können es auch weiter so nennen, aber meines Erachtens steht es jetzt eine Stufe über dem ›Computer‹. Es hat gelernt, eine neue Art von Sinnesdaten zu gebrauchen.« »Nun könnt ihr meine Feststellungen auf die Feldtheorie anwenden«, sagte Bickel. »Und vergeßt nicht, daß wir drei Energiequellen im ›Ochsen‹ vereinigt haben. Die Pufferspannung dieses Speichers hier verstreute die Impulse im ganzen System. Sie wurden geteilt und nochmals geteilt, aber wo sie wieder zusammentrafen, verstärkten sie einander.« »In sich war der ursprüngliche Programmimpuls eine Art Komparator«, sagte Timberlake. »Der Computer konnte auf der Basis der Signalstärke die Genauigkeit vergleichen.« »Aber er wußte auch schon vorher, wie die SÜ-Signale durch ein Codeprüfgier auf Genauigkeit zu vergleichen waren«, sagte Bickel. »Die Signalstärke ist jetzt nur eine andere Art Gier.« »Nun gratuliert euch mal nicht zu lautstark«, sagte Prudence. »Ihr solltet euch vielmehr klarmachen, wie sehr die Intensität dieser wieder zusammengeführten Signale gestiegen sein muß. Es ist durchaus damit zu rechnen, daß Elemente des Computers durch Schockeinwirkung gla hinausgeworfen …« »Aber das Ding funktioniert doch noch«, sagte Bickel, doch er erkannte, daß Prudence recht hae. Überall im Filter gab es Spannungssicherungen, die die Einzelteile schützen sollten, doch 109
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wilde Signale, die die Barrierespannung überstiegen, häen in den Hauptprogrammen unvorstellbaren Schaden anrichten können. Verdammtes Mädchen! dachte er. Noch eben war alles völlig klar gewesen, noch eben hae ihn die Freude erfüllt, daß der Ochse eine Sprosse der Leiter zum Bewußtsein erklommen hae. Und jetzt mußte sie ihn mit einem Eimer kalten Wassers übergießen! Bickel blickte zu dem Schirm hinauf, auf dem Flaery zu sehen war. »Hast du zugehört Raj?« »Allerdings«, sagte Flaery. »Und sind wir bereits durchgedreht?« fragte Bickel. »Du glaubst doch nicht wirklich, daß ich die hypothetische menschliche Sicherung des Schiffes bin?« fragte Flaery spöttisch. »Du bist der einzige mögliche Kandidat«, sagte Bickel. »Allerdings habe ich nach deiner Meinung über unsere Fortschrie gefragt.« Flaery unterdrückte ein plötzliches Gefühl der Eifersucht. Trotz seiner offensichtlichen Fehler war Bickel irgendwie unerschüerlich – oder er gab sich so, was in dieser Situation fast auf das gleiche hinauslief. »Aaah, die Fortschrie«, sagte Flaery. »Die künstlichen Nervennetze erzeugen etwas, das entfernt einem psychischen Raum entspricht.« Er hielt inne, überflog die Hauptkontrollen der KomZentrale und wandte sich wieder dem Schirm und Bickel zu. »Man kann sagen, daß die Testimpulse mehr oder weniger Sinnesdaten entsprechen, die in den psychischen Raum eingegeben werden – ein Gebiet, das etwa Prudences ›umgrenzten Raum‹ entspricht. Ihr Vergleich mit dem Spinnennetz und der Tinte gefällt mir übrigens. Aber zwischen dem physischen Raum und dem psychischen Raum besteht ein großer Unterschied. Man kann ein Signal 110
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durch einen physischen Raum schicken, es wiederholen und bei beiden Messungen gleiche Werte erzielen. Eine eventuelle Differenz würde allein auf eine Entfernungsveränderung zurückzuführen sein. Der psychische Raum dagegen funktioniert in dieser Beziehung völlig anders. Die Zeit dort könnte zum Beispiel von der Stimmung abhängen. Was ist eine Stimmung, John? Ist sie ein Vergleich zwischen diesem und einem vorangegangenen ähnlichen Erlebnis?« »Willst du darauf hinaus, daß wir unsere Ergebnisse falsch analysiert haben?« fragte Timberlake. Er starrte zum Schirm hoch. Irgendwie hae er das Gefühl, im Augenblick zusammen mit Prudence und Bickel gegen Flaery zu stehen. »Ihr habt versucht, eine proportionale Beziehung zwischen der Sinneswelt und der physischen Welt herzustellen«, sagte Flattery. »Dabei könnt ihr aber nicht das gleiche Maß anlegen. Jedes Neuron in eurem Netz wird in die Übertragungsgeschwindigkeit ein Zufallselement einführen. Der Unterschied zwischen der Sinneswelt und der physischen Welt ist der Unterschied zwischen der Zeitentfernung und der Raumentfernung. Und schon eine oberflächliche Prüfung eurer Anlage läßt vermuten, daß ihr schwankende Zeitentfernungen habt.« »Also häen wir vorhersehen müssen, daß …« sagte Bickel. »Der Schroteffekest«, fuhr Flaery gelangweilt fort, »feuerte Impulse ab, die nicht zeitreguliert waren. Damit ergaben sich eine Vielzahl von Verzögerungszeiten in eurem System. Das könnte sich statistisch in letzter Konsequenz noch ausgleichen – nach Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten.« »Über das ganze Netz?« fragte Bickel. »Warum nicht? Je größer das Netz ist, desto wahrscheinlicher ist es. Und euer Netz hat den gesamten Computer umfaßt.« »Aber wir erhielten die richtige Antwort«, sagte Bickel nach111
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drücklich. »Wie willst du dein Wahrscheinlichkeitsdenken darauf einstellen?« »Würde mir gar nicht einfallen«, sagte Flaery. »Ebensowenig wie ich aus nur einem Versuch bindende Schlüsse ziehen wollte.« Bickel starrte ihn an. »Okay, dann wiederholen wir ihn!« »Nein, das laßt ihr sein«, sagte Flaery. »Erst müssen wir einen Weg finden, den Ochsen vom Computer zu trennen … und ehe du irgendwelche Speichereinheiten aus dem System herausnimmst, solltest du dir erst genau überlegen, welche in Frage kommen. Soll es eine sein, die das Leben der Menschen in den Hib-Tanks schützt?« »Wir können sie nicht auseinanderhalten, ohne das ganze System abschnisweise durchzuprüfen«, wandte Bickel ein. »Genau. Und dazu brauchten wir mit den erforderlichen Fachleuten acht oder neun Jahre.« Flaerys Argumente waren unangreiar. Diese Erkenntnis milderte aber nicht den Zorn, den Flaerys überlegene Haltung in Bickel auslöste. Dennoch hae Bickel das Gefühl, daß sie einer unausgesprochenen, schwer faßbaren und lebenswichtigen Tatsache sehr nahe gewesen waren, die sie alle kennen müßten. Sie waren ihr nahe gekommen und haen sich wieder entfernt. »Dann übertragen wir das ganze Problem doch dem Mondstützpunkt und lassen es uns lösen«, sagte Bickel. »Wobei du deine eigene Analyse der Frage vergißt, warum wir eigentlich hier herausgeschickt wurden«, sagte Flaery. »Aaah, du gibt also zu, daß wir losgeschickt worden sind, um ›schwimmen‹ zu lernen!« »Ich gebe überhaupt nichts zu. Ich schlage vielmehr vor, daß ihr herüberkommt und das SÜ besetzt. Eben tri eine Meldung vom Mondstützpunkt ein.« Morgan Hempsteads Stimme, die durch die Laserübertragung 112
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noch unpersönlicher klang, erfüllte den Kontrollraum, als Bickel die Aufzeichnung der neuesten Meldung ablaufen ließ. »… ru GMS-Schiff Earthling. Projektleitung ru GMS-Schiff Earthling.« Bickel sah sich um – Flaery an den Hauptkontrollen, gelassen und selbstsicher; Prudence in ihrer Steuercouch; Timberlake ebenfalls in seiner Couch, mit geschlossenen Augen, tief atmend. »Schlagt zu«, sagte Hempstead. »Das muß ein Irrtum sein«, sagte Bickel. »Ein Irrtum des SÜ.« »Was die Frage der Definition des Bewußtseins angeht«, sagte Hempstead, »wird Bezug genommen auf Nervenbarrieren- und Schwellendaten Ihres Computers. Bisher beste Divisition.« »Bisher beste Definition, wird er wohl gesagt haben«, bemerkte Flaery. »Neues Organisches Gehirn-Zentrum«, sagte Hempstead. »Medizinisches Personal wird angewiesen, alle derartigen Versuche in der verschwenderischen Folge abzubrechen.« »Da muß etwas mit dem SÜ nicht stimmen«, sagte Prudence beunruhigt. »Nicht mit dem SÜ«, erwiderte Bickel, »sondern mit den Übersetzungsschaltungen im Computer.« »Das verdammte Programm, das wir wild durch das System gespült haben!« knurrte Timberlake. Er öffnete die Augen und starrte Bickel anklagend an. »Brechen Sie alle derartigen Versuche ab«, sagte Hempstead. »Ich wiederhole: brechen Sie alle derartigen Versuche ab. Das ist ein Befehl.« »Hört sich aber ganz wie Hempstead an«, sagte Prudence. »Unter keinen Umständen ist es Ihnen gestaet, leblose Teile herzustellen«, sagte Hempstead. »Na, versuch das mal zu begreifen«, sagte Timberlake. 113
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»Analysieren Sie Kurs- und Reaktionsdaten in bezug auf Masseveränderungen«, sagte Hempstead. »Unbekannte mathematisch abgeleitet.« »Sinnloses Zeug!« schnaubte Timberlake. »Projektleitung Ende«, sagte Hempstead, »bestätigen sie Irre Einwilligung.« Timberlake richtete sich auf und schwang die Beine von seiner Couch. »Los, Bick«, sagte er. »Bestätigen Sie Irre Einwilligung!« Flaery sah zu Timberlake hinüber und konzentrierte sich dann wieder auf die Kontrollen. Timberlake bemühte sich offenbar, seine Autorität wiederzugewinnen. Das war vorherzusehen gewesen. Der erste Rückschlag mußte dazu führen, daß er zum Angriff überging – aus Angst um all die Menschenleben, die von den Versorgungssystemen abhingen, wenn nicht auch aus anderen Gründen. »Hat er jetzt von uns verlangt, ein neues Gehirn zu installieren?« fragte Prudence. »Wo sollten wir eins herkriegen?« fragte Timberlake. »Das Thema haben wir doch schon erledigt«, sagte sie. Und zum erstenmal seit ihrem Eintri in die Kernmannscha stellte sich Prudence die Frage, wie die Existenz als körperloses Geisteswesen sein mochte – als geistiges Zentrum eines dahinstürmenden Kolosses wie dieses Schiff. Sie schauderte. »Ist dir kalt, Prudence?« fragte Flaery. Er beobachtet mich ständig, dachte sie. »Oh, mir geht es gut«, sagte sie. Aber sie fühlte sich gar nicht wohl. Seltsame Depressionen überfielen sie, psychische Sorgen quälten sie; Fantasievorstellungen goähnlicher Macht wechselten mit dem Drang nach körperlicher Erniedrigung. Sie hae in ihren Versuchen inzwischen ein Stadium erreicht, 114
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das ihr die Hoffnung erlaubte, den selektiven Stimulator des Bewußtseins bald zu entdecken. Die Experimente haen allerdings Nebeneffekte, zu denen es gehörte, daß sie die Anti-S-Drogen und die dazugehörigen Ausgleichsmiel aufgeben mußte. Und sie hae einen überaus großen Hunger auf Vitamin-B-reiche Nahrung entwickelt. Bickel zog einen Ausdrucksstreifen aus dem SU-Gerät und sagte: »Unsinn!« Flaery setzte zum Sprechen an, biß sich aber auf die Lippen, als sein Blick auf das Flugdiagramm an den Kontrollen fiel. Aber er täuschte sich nicht, das Diagramm stieg an. »Unsere Geschwindigkeit hat in den letzten Minuten zugenommen. Langsam, aber stetig.« »Jetzt auch noch Probleme mit dem Antrieb!« stöhnte Timberlake. Flaery aktivierte die Antriebsinstrumente und überflog sie. »Nein, kein Ausstoß – wir haben normale Strahlung.« »Masse-Register?« fragte Bickel. Flaerys Hände zuckten über die Kontrollen. Er studierte seine Skalen. »Abweichung! Der Massevergleich weicht vom Register ab!« »Werte?« fragte Bickel. »Der Unterschied beträgt zehn Argos«, murmelte Flaery. »Das Verhältnis Masse-Geschwindigkeit verschiebt sich!« »Was hat Hempstead gesagt?« fragte Bickel und warf einen Blick auf den Papierstreifen. »›Analysieren Sie Kurs- und Reaktionsdaten in bezug auf Masseveränderungen.‹ Wenn er …« »Das kann ebensogut auch Unsinn sein!« brummte Timberlake. »Aber was ist mit der ständigen Geschwindigkeitszunahme?« fragte Flaery. »Eine langsame Steigung, die vor etwa fünf Minu115
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ten begonnen hat.« Bei dem Flug sind gewisse Notfälle einprogrammiert, dachte Prudence. So hat man mir‘s jedenfalls gesagt. Aber welche Notfälle entstammen diesem Programm und welche dem … Unbekannten? Flaery stellte eine Berechnung an. »In den letzten achtundsechzig Sekunden ist unsere Geschwindigkeit um 0,011002 zum feststehenden Bezugswert gestiegen.« Bickel wurde an seinen Computerkontrollen aktiv. Seine Finger tanzten über die Tastatur. Er überprüe die Anzeigegeräte, betrachtete den Schirm. »Wir kriegen hier die Wind-und-MolekülAnalogie. Wenn der Wirkungsbereich der individuellen molekularen Masse innerhalb eines sich bewegenden Gases geringer ist als der eines Objekts im Wege des Gases, dann besteht die Chance einer Kollision zwischen den Gasmolekülen und dem Objekt nach einer Wahrscheinlichkeitskurve, die auf den mileren Masseunterschied bezogen ist.« Timberlake hustete. »Soll das heißen, daß unsere Geschwindigkeit unsere Masse so weit erhöht hat, daß jetzt etwas mit uns … kollidiert? Das ist doch verrückt! Nach dem Flugdiagramm zu urteilen, werden wir angetrieben. Was ist dann mit den Sachen in unserer Flugbahn, auf die wir treffen?« »Vielleicht bewegt sich in diesem Raumsektor alles in unsere Richtung«, sagte Bickel. »Wir wissen es nicht.« »Und überhaupt braucht das Ergebnis beim Zustand unseres Computers nichts zu bedeuten.« »Trotzdem ist das Problem nicht wegzuleugnen«, sagte Flaery, »meine Ergebnisse hier beziehen sich konkret auf den feststehenden Bezugswert.« »Geschwindigkeit und Masse sind unsere größten Veränderlichen«, sagte Bickel. »Denkbar wäre es, daß irgend etwas außerhalb ihres berechneten Spektrums mit unseren Sensoren kollidiert. Das 116
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würde die …« »Retroraketen fertigmachen«, sagte Flaery. »Wäre es nicht sinnvoller, das Schiff zu wenden?« fragte Timberlake. Er betätigte den Kokon-Handschalter, und die Steuercouch schloß sich über ihm. »Raj hat recht«, sagte Bickel. »Wir dürfen möglichst nichts verändern. Hier passiert etwas, für das wir überhaupt keine Erfahrungsbasis haben.« »Ich aktiviere die Retroraketen«, sagte Flaery. »Prue, du überwachst das Flugdiagramm. Tim, du behältst unseren Massebeobachter im Auge. Ich zeichne den ganzen Versuch für eine spätere Analyse auf. John, du überwachst die Hüllentemperatur und den Dopplervergleich.« »Gut.« Bickel räusperte sich und überlegte, wie schwerfällig diese Aueilung der Kontrollfunktionen war, wenn man ein gut funktionierendes Steuergehirn dagegensetzte. »Retros los«, sagte Flaery. »Flugdiagramm?« »Geschwindigkeit sinkt ungleichmäßig«, erwiderte Prudence. »Sprungha.« Bickel, der den Rand eines Instruments beobachtete, registrierte das Bocken des Schiffes als eine Serie winziger Erschüerungen. »Sag mir Bescheid, wenn das Diagramm abflacht«, sagte Flattery. »Massevergleich?« »Ungleichmäßig« sagte Timberlake. »Im Durchschni fallend.« »Sag Bescheid, wenn es abflacht«, sagte Flaery. Ohne die Anfrage abzuwarten, sagte Bickel: »Ein Mikrotemperaturanstieg im ersten Quadranten, Heck. Ausgleichssystem wird damit fertig. Dopplervergleich zeigt eine tatsächliche Geschwindigkeitsverringerung von 0,00904 plus.« 117
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Flaery stellte seine Mikrokontrollen um zwei Punkte weiter und spürte, wie sich der Schweiß so schnell an Hals und Rücken ansammelte, daß der Anzug nicht mehr damit fertig wurde. »Flugdiagramm?« fragte er. »Die Anzeige sinkt jetzt unter den festen Bezugswert«, sagte Prudence. »Fällt noch immer ungleichmäßig.« »Temperatur?« fragte Flaery. »Verändert sich nicht mehr«, sagte Bickel. Schwankungen der Hüllentemperatur an unerwarteten Stellen, Geschwindigkeitsveränderungen ohne deutliche Ursache – das waren Dinge, die im Grunde alarmierender waren als ein mechanischer Defekt, den man sehen und berühren und reparieren konnte. Das war knapp, dachte Flaery. Aber was ist eigentlich los gewesen? Ob Bickel Bescheid weiß? Hat er uns auch alle Computerergebnisse mitgeteilt? Können wir den Computerinformationen überhaupt noch trauen? Im gleichen Augenblick fiel ihm ein anderer Teil der möglicherweise verstümmelten GMS-Meldung ein. Hempstead hae gesagt: »Unbekannte mathematisch abgeleitet.« Was ist, wenn diese Worte nun Hempsteads Äußerung in etwa entsprochen haben? überlegte Flaery. Eine mathematisch abgeleitete Unbekannte. Das Schiff war immerhin tatsächlich mit einem Masse-Geschwindigkeits-Problem konfrontiert worden. Bickel sagte: »Raj, laß die Geschwindigkeit noch um zwei Punkte fallen und pendle dann aus. Von jetzt an wollen wir die Masse-Geschwindigkeits-Veränderungen ständig überprüfen.« Flaery wandte sich seinen Kontrollen zu und verstellte sie noch einmal um zwei Einheiten. »Flugdiagramm sinkt jetzt gleichmäßiger«, sagte Prudence. »Massevergleich entsprechend«, sagte Timberlake. »Ionenausstoß normal.« 118
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»Temperatur hält sich«, berichtete Bickel. »Dopplervergleich positiv-null.« Bickel betrachtete die beiden dünnen schwarzen Nadeln des Dopplerkomparators, die den Zwischenfall besonders ernst erscheinen ließen. Sie lieferten verläßliche Prüfwerte für die Schiffsgeschwindigkeit durch Dopplerbezug auf feststehende astronomische Körper. Der Dopplervergleich und die Geschwindigkeitsveränderungen haen hundertprozentig übereingestimmt. »Ich begreife nicht, was geschehen ist«, sagte Flaery, »aber ich habe das Gefühl, daß wir am Rand eines Abgrunds waren.« »Aber an welchem Abgrund?« fragte Prudence ängstlich. »Wir waren nahe daran, hilflos aus dem Sonnensystem gerissen zu werden«, sagte Bickel. »Wie berichten wir Hempstead und seinen Leuten von der Sache, ohne das Unternehmen platzen zu lassen?« »Das ist doch wohl schon geplatzt«, knurrte Timberlake. »Der Computer …« »… ist nicht unbedingt funktionsunfähig«, unterbrach ihn Bickel. »Unsere Versorgungssysteme, Servos und Sensoren scheinen noch in Ordnung zu sein. Auf Informationsanfragen erhalte ich logische Antworten.« »Logisch heißt noch nicht korrekt«, sagte Timberlake. »Wollte uns Hempstead etwa sagen, daß wir aufgeben sollten?« fragte Flaery. »Wenn das zuträfe …« »Wir wissen es nicht«, sagte Bickel. »Und solange wir das nicht wissen, brauchen wir auch nicht zu gehorchen.« Oder ungehorsam zu sein, dachte Flaery. »Wie kommt es, daß der Computer bei Informationsabrufen zu funktionieren scheint, nicht aber bei der SÜ-Übersetzung?« »Das könnte bedeuten, daß wir nur ein Teilgebiet zu entstören häen«, sagte Prudence. »Und das …« 119
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Sie brach ab und starrte Bickel an. Bickel hae die Augen geschlossen. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Die Schaltungen lagen wie an eine Wand projiziert vor seinem inneren Auge ausgebreitet. Er hae den Ochsen nicht wieder vom SÜ-System getrennt. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihm aus, als ihm bewußt wurde, daß jedes von außerhalb in das SÜ gerichtete Signal durch den Ochsen in den Computer gegangen war. »Du hast die Schalafel nicht vom Ochsen getrennt«, flüsterte Timberlake. »Aber die Computerwerte kommen doch über meine SÜ-Kontrollen«, sagte Bickel. »Jede einzelne Programmabforderung an den Computer ist durch diese Schaltungen des Ochsen gegangen!« »Und was du abgefragt hast, wurde im ganzen System verstreut und ist jetzt verloren«, sagte Timberlake. »Wirklich?« fragte Bickel. Er öffnete die Augen. Natürlich gab es nur eine Möglichkeit, sich seiner Sache absolut zu vergewissern. Der Schaden konnte schon nicht mehr größer werden … wenn es überhaupt einen Schaden gab. Wir haen nicht erwartet, daß uns Bickel durch Vernichtung der Übersetzungsschleifen vom GMS abschneiden würde, dachte Flaery. Ohne das Übersetzungssystem, das die multirepetitiven Laserimpuls-Nachrichten entschlüsselte, mochte die Kernmannscha für die Verständigung zwischen Schiff und Mondstützpunkt ebensogut auf Handsignale zurückgreifen. Natürlich konnte Bickel einen Radiosender bauen und mit nur wenigen Wa eine Meldung über die weite Entfernung absetzen. Aber im GMS bestanden überhaupt nicht die Voraussetzungen für den Empfang einer solchen Nachricht. Jetzt dure nichts schiefgehen. Mit aller Vorsicht aktivierte 120
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Bickel seine SÜ-Kontrollen und überprüe sie dreifach. »Was machst du?« fragte Timberlake. »Ruhig!« befahl Prudence, die Bickels Absicht erkannte. »Aber er hat schon einmal …« »Eine Prüfroutine«, sagte Bickel. »Wir führen eine simulsynchrone B-Register-Suche durch mit Wiederholung unseres ursprünglichen Ochsen-Tests. Falls wir schon beim erstenmal Schäden angerichtet haben, geht dieser Versuch wenigstens durch die gleichen Kanäle. Schlimmer kann es also nicht werden.« Wortlos begann Bickel das Programm zusammenzustellen. Er schickte die ersten Elemente der Prüfroutine durch die Eingabe und schaltete gleichzeitig auf Off-Line-Betrieb. Er wollte alles im Auge behalten und jeden weiteren Schri selbst eingeben. Schon bald erhielt er den ersten Digital-Output. Er schaltete die Signale auf direkte ausgedruckte Übertragung. Er spürte einen warmen Atem an seiner Wange. Es war Prudence, die ihre Couch verlassen und sich neben ihm hingekniet hae, um die Instrumente zu beobachten. »Die Daten sind nur verschoben – nicht verloren«, flüsterte sie. »Sieht so aus«, sagte Bickel. »Aber sie könnten ebensogut verloren sein!« sagte Timberlake. »Nein«, entgegnete Bickel. »Der Computer funktioniert einwandfrei, solange wir alles durch den Ochsen leiten.« »Warum hat dann das SÜ nicht funktioniert?« wollte Timberlake wissen. »Komm vom hohen Roß herunter, Tim!« sagte Bickel. »Du hast selber beim Bau der Versuchsanlage geholfen.« »Die eintreffenden Funksprüche sind zweimal durch die SÜSchaltkreise gegangen«, sagte Timberlake. »Und die Bits haben sich an den verschiedensten Stellen der Sendung gegenseitig aufgehoben«, sagte Bickel. »Wahrscheinlich 121
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haben wir kaum ein Fünel mitbekommen.« »Sie schien tatsächlich recht kurz zu sein«, sagte Prudence. »Diese Meldung ist das einzige, was bisher wirklich verloren sein könnte«, sagte Bickel, »Ich werde eine Wiederholung erbitten…« »Was willst du dem GMS über das Schicksal des ersten Laserspruchs sagen?« fragte Flaery. »Und was ist, wenn man uns wirklich befohlen hat aufzugeben?« »Wißt ihr, Anfang und Ende der Meldung klangen überhaupt nicht verstümmelt«, sagte Timberlake. »Standardanruf und -absage«, sagte Bickel. »Die ließen sich natürlich aus den kleinsten Bit-Bruchteilen erkennen und übersetzen.« »Aber die Last der Nachricht war im Anfang auch am geringsten«, sagte Timberlake. »Und das könnte das Phänomen teilweise erklären. Dann häe man zuerst auch ein Minimum an Löschung. Vielleicht läßt sich mehr von der Meldung reen … besonders in den ersten Teilen, ehe die Last zu stark wurde.« Timberlake drückt sich ja ungewohnt vorsichtig aus, dachte Flaery. Will er sich etwa auf Bickels Seite schlagen? Bickel zögerte unwillkürlich, aber er konnte sich der Logik Timberlakes nicht verschließen. Vorsichtig nahm er den Klartext der Nachricht, gab ihn direkt in den Ochsen und dann in das SÜ und leitete das Ergebnis schließlich durch das Klarschrilesesystem auf den großen Schirm. Und dort erschien Hempsteads ursprünglicher Anruf. »ERMITTELN SIE DURCH LOS UNTER DEN HIBERNIERENDEN KOLONISTEN EIN GEEIGNETES GEHIRN ALS ERSATZ FÜR IHR ORGANISCHES GEHIRN-ZENTRUM PUNKT MEDIZINISCHES PERSONAL IST ANGEWIESEN KOMMA EIN 122
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MENSCHLICHES GEHIRN ZU NEHMEN KOMMA ES ALS VORÜBERGEHENDES ORGANISCHES GEHIRNZENTRUM ZU INSTALLIEREN UND DAS SCHIFF NACH BRIBRIBRIBRI ZURÜCKZUBRINGEN MANCHMAL MIT DER SCHLAGT ZU PUNKT PUNKT PUNKT PUNKT WAS DIE FRAGE DER DEFINITION DES BEWUSSTSEINS ANGEHT KOMMA SO HABEN SIE DIESE DATEN MEHRFACH VERFÜGBAR IN IHREM COMPUTER KOMMA UND SIE KÖNNEN DARAUF BEZUG NEHMEN PUNKT ES WIRD BEZUG GENOMMEN AUF DATENOBJEKT ANINSNULL FÜR NERVENBARRIERE UND SCHWELLENDATEN IHRES COMPUTERS PUNKT BISHER BESTE DIVISITION PUNKT NEUES ORGANISCHES GEHIRN-ZENTRUM PUNKT MEDIZINISCHES PERSONAL WIRD ANGEWIESEN KOMMA ALLE DERARTIGEN VERSUCHE IN DER VERSCHWENDERISCHEN FOLGE ABZUBRECHEN PUNKT.« Bickel stoppte die Übermilung. »Wollt ihr noch mehr?« »Das wird ja immer unzuverlässiger«, sagte Flaery. »Nein, wir brauchen uns das wohl nicht weiter anzusehen.« »Die verdammten Hunde!« schnaubte Timberlake. Diese Narren im GMS, dachte Prudence. Wissen sie nicht, daß sie auf den heiligsten Gefühlen eines Schiffsingenieurs herumtrampeln, wenn sie den Tod eines hilflosen Kolonisten in den Hib-Tanks verlangen? Nein, dachte sie. Was der GMS verlangt, ist sogar schlimmer als Totschlag. Flaery, der die Wirkung der Nachricht auf Timberlake ebenfalls bemerkte, spürte den Gewissenskonflikt … und die Angst. Was seine eigene Rolle an Bord betraf, hae Flaery wenig Illusionen. Er war Judas und Opferlamm zugleich – die klassischen Extreme religiöser Funktion. Er war Lebensspender und Scharf123
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richter – und damit er sich in dieser Macht nicht wie ein Go vorkam, war er auch das letzte Opfer jedweder Entwicklung, die sich hier vollzog. Laut sagte er: »Was man da befiehlt – das können wir nicht tun. Darum sollten wir uns darüber klarwerden, was wir da im Computerraum gebaut haben, und auf dieser Grundlage weitermachen. Was haben wir gebaut, John?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Bickel. »Na, ein Bewußtsein scheint es jedenfalls nicht zu sein«, sagte Prudence. »Zum Donnerweer!« brüllte Bickel. »Geht das schon wieder los? Bewußtsein! Bewußtsein! Es ist auch kein Flickflack! So könntest du‘s nämlich auch nennen. Du weißt nicht, wie das Bewußtsein zu definieren ist. Du weißt nicht, was es ist. Aber du legst hier los und gibst Sätze von dir, als häen sie irgendeine Bedeutung, und …« »Genau das ist es«, sagte Timberlake. »Wir machen uns daran, etwas zu bauen, ohne zu wissen, was wir da überhaupt basteln.« Es wird Zeit, die Leute mal etwas aufzuscheuchen, dachte Flaery. »Du irrst dich, Tim«, sagte er. »Und du auch, John. Prudence weiß ebensogut wie du, was das Bewußtsein ist. Sie ist ein Mensch. Menschen sind die einzigen Wesen in unserem Lebenskreis, die überhaupt wissen können, was ein Bewußtsein ist. Computer können diese Frage nicht beantworten, nein – das ist Aufgabe der Menschen.« »Dann soll sie sie doch beantworten«, sagte Bickel. »Vielleicht kann sie das nicht«, sagte Flaery. »Aber sie hat die Antwort in sich.« »Vorhin hast du noch gesagt, daß wir um eine Definition vielleicht überhaupt herumkommen«, sagte Prudence und starrte Bickel anklagend an. 124
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»Armselige technische Stümperei ist das«, sagte Bickel. »Wir kopieren das Original – in der Hoffnung, auch die gleichen Ergebnisse zu erzielen. Wir sind uns niemals sicher, ob wir das menschliche Modell auch wirklich bis in die letzten Einzelheiten nachvollziehen. Was fehlt uns noch?« Er ist frustriert und schlägt wild um sich, dachte sie. Jetzt gilt es nachzustoßen, nachdem ihn Raj für mich vorbereitet hat. »Gut, Herr Techniker, wohin führt uns denn überhaupt dein FeldtheorieBegriff ?« Bickel starrte sie an und erkannte plötzlich, daß sie ihn absichtlich bedrängte. Gut, gut, ich gehe auf ihr Spiel ein, dachte er. Müßte ich jetzt Ärger zeigen? Nein … das wäre zu einfach. Am besten grei man aus einer unerwarteten Richtung an. »Na, dann versuch mir mal zu folgen, Prue. Beim Feldtheorie-Begriff haben wir es mit drei Kräen zu tun. Zuerst wäre da die Quelle allen Erlebens, das Universum, das sich uns aufdrängt – aber das hat sehr mit dem Funktionieren deines Nervensystems zu tun. Zweitens häen wir den Jemand, der die Palee des Erlebens durchmacht. Driens müßten wir die Beziehung zwischen diesem Jemand und all dem neuralen Rohmaterial betrachten, das wir Erleben nennen. Diese Beziehung, dieses Phänomen drier Ordnung ist unser Arbeitsfeld.« »Das Ich«, sagte sie, »stimmt das nicht mit Huxleys ›spatiotemporalem Käfig‹ und seinem ›verwirrten Ideenschwarm‹ überein? Leitet sich das bewußte Ich nicht vom Gedächtnis ab?« »Huxley hat da nur mit Worten gespielt, weil er sich vor dem Dahinterliegenden fürchtete«, sagte Bickel. »Wenn du zu behaupten versuchst, daß sich das bewußte Ich von der Funktion der Erinnerung ableitet, dann identifizierst du den Erlebenden mit dem, was das Erleben hervorru. Und da wären wir wieder bei den Kategorien angelangt. Wir müssen uns auf die Beziehung 125
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drier Ordnung konzentrieren.« »Das gesamte Feld ist größer als die Summe seiner Teile«, sagte sie. Damit wäre sie wohl für den Schock bereit, dachte Bickel. Aber was das angeht, ist auch Raj soweit. »Ihr selbstzufriedenen Laienmediziner macht einen ganz verrückt! Ihr sagt, daß nur die Menschen ein Bewußtsein haben. Aus Rajs Mund ist das ein Sakrileg. Aus deinem Mund ist das Dummheit. Ihr seht ein Zipfelchen des Spektrums und behauptet sofort, das ganze Universum des Lichtes zu kennen. Dabei hat sich keiner von euch jemals gefragt: Bin ich wirklich bewußt?« Flaery spürte einen unerklärlichen Schmerz in der Brust. Für einen kurzen Augenblick verschwamm die Konsole vor seinen Augen, ehe er sich wieder in der Gewalt hae. Im GMS lachten sie immer und zitierten Edgar Allan Poe, dachte Flaery. Sie haen behauptet, daß Poes ›analytisches Organ‹ einem einzelnen Menschen vielleicht nicht möglich war, daß eine ganze Gesellscha aber eines ihrer Mitglieder zu einem solchen Organ machen könnte. Waren sie sich aber bewußt gewesen, was für ein gefährliches Monstrum sie schufen? Was ließ sich vor Bickel verbergen, wenn er seine Aufmerksamkeit ernstha darauf richtete? Das hae Prue natürlich gemeint, als sie ihn warnte, Bickel zu unterschätzen. Aber haen die Verantwortlichen des GMS gewußt, was für einen Läufer sie auf ihrem Schachbre freisetzten? Vielleicht ahnten sie es, als sie mich zum Wächter über ihn erhoben, dachte Flaery. »Ihr versucht die Grundfrage in immer kleinere Teile zu zerlegen«, sagte Bickel, »in immer kleiner werdende Kategorien. Aber damit geht ihr nur am Wesentlichen vorbei.« »Sind wir bewußt?« flüsterte Prudence und überdachte die Frage. 126
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Und sie erinnerte sich ihrer Erfahrungen mit dem Marihuanaderivat THC – Tetrahydrocannabinol. Sie hae einen selektiven Stimulator des Bewußtseins gesucht – etwas, das die Dunkelheit auf besondere Weise im Schach hielt. Aber jedesmal wenn sie sich dem Stimulationspunkt näherte, war die Dunkelheit von allen Seiten über sie hereingebrochen. Adrenochrom, dachte sie. Der Gedanke kam so plötzlich, daß er irgendwie in ihr gelauert haben mußte. Adrenochrom – Adrenochrom war ein Halluzinogen. War das Bewußtsein etwa eine besondere Art Halluzination? »Ihr tastet euch mit den Fingern vor«, sagte Bickel, »ohne die Augen überhaupt erhoben zu haben – ihr seht nur den dämmerigen Widerschein eines Lichts, aber ihr lügt und erzählt überall herum, daß ihr schon den Horizont erkennen könnt.« Als häen seine Worte eine Tür aufgestoßen, durchflutete sie die Erinnerung an einen Traum. Sie hae diesen Traum gehabt … irgendwann während eines sehr langen Schlafes … irgendwann, als sie … In der Hib! Sie hae den Traum im Hibernationstank geträumt! In diesem Traum war sie zwar nicht allein gewesen, aber die anderen haen nichts mit ihr zu tun haben wollen. Sie haen eine niedrige Wand gebaut und sie höhnisch aufgefordert, sie zu erklimmen. Aber bei jedem Versuch haen die anderen die Wand höher gemacht. Und immer höher, bis sie die Versuche aufgab. Prudence starrte Bickel an und begriff plötzlich, was ihm wahrscheinlich schon von Anfang an bewußt gewesen war. Das Problem der Schaffung eines künstlichen Bewußtseins war identisch mit dem Problem des Bewußtseins. Es war ein gewaltiges Gebilde, einer riesigen Klippe vergleichbar, die erstiegen werden mußte. Sie ragte düster über ihnen auf und hae einen höhnischen Licht127
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schimmer an der Spitze. »Du hast mir das gesagt, damit ich mir klein und unwichtig vorkomme«, sagte sie anklagend. »Willkommen im Klub«, sagte Bickel. »Was soll das?« fragte Timberlake. »Versuchst du uns einzureden, daß wir dieses Bewußtsein nicht nachvollziehen könnten, selbst wenn wir das Analogon eines Menschen bauten?« »Überdenken wir noch einmal, was mit den Schiffsgehirnen passiert ist«, sagte Bickel. »Was ist der Grundbefehl, dem sie häen folgen müssen?« »Zu jeder Zeit bewußt und wachsam zu sein«, sagte Timberlake. »Aber wenn du sagen willst, daß sie der Müdigkeit erlegen sind, so ist das Unsinn. Sie waren abgesichert gegen jede Art von…« »Nein, nicht Müdigkeit«, sagte Bickel. »Ich überlege nur. Was wäre, wenn sie diesen Befehl wörtlich genommen häen – den Befehl, bei Bewußtsein zu bleiben?« »Ja«, sagte Prudence. »Ein hyperbewußtes Subjekt hat eine niedrige Bewußtseinsschwelle. Impulse dringen leicht in sein Bewußtsein ein. Du sagst also, daß die Gehirne mit dem Hyperbewußtsein nicht fertig geworden sind.« »So etwa.« »Hört mal«, sagte sie, »der Ansturm von Nervenimpulsen auf das menschliche … Bewußtsein …« Sie blickte Bickel mürrisch an. »Wie sollen wir es sonst nennen?« »Schon gut«, sagte Bickel. »Sprich weiter.« Sie musterte ihn einen Augenblick. »Dieser Ansturm ist beständig und in seinem Umfang enorm. Es treffen unablässig Impulse ein. Die Impulse müssen eine gewisse Schwelle passieren, ehe sie bewußt werden.« »Und diese Schwelle variiert von Mensch zu Mensch – und selbst von Minute zu Minute in der gleichen Person«, sagte Flattery. 128
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»Aber wie überklimmen die Nervenimpulse diese Wand?« fragte Bickel. Wieso wählt er ausgerechnet dieses Wort? überlegte sie. »Manchmal werden die Impulse stärker«, sagte Flaery. »Aber das ist noch nicht alles«, sagte Prudence. »Der … Erlebende ist ja auch nicht untätig. Wenn man sich zum Beispiel auf irgend etwas konzentriert, senkt sich die Schwelle.« »Auch Gefahr kann sie herabsetzen«, sagte Flaery. Bickel starrte Flaery zweifelnd an. »Wir sind im Augenblick in Gefahr, Raj. Ist das etwas, was man uns bewußt angetan hat?« »Du glaubst, daß die Gefahr da draußen nicht real ist?« Bickel spürte, wie ihn plötzlich unsinnige Angst überkam. »John«, sagte Prudence, »geht es dir nicht gut?« »Nur ein kurzer Anfall von Schiffsangst«, murmelte Bickel und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe zwei Wachen hindurch an der Anlage gearbeitet und weiß überhaupt nicht mehr, wie lange ich schon nicht mehr im Be gewesen bin.« Die Spannung im richtigen Moment zu lösen ist halb gewonnen, dachte Prudence. »Also iß etwas und leg dich schlafen. Vielleicht hil es uns überhaupt weiter, wenn wir das Problem einmal überschlafen. Ich werde jetzt Raj an den Kontrollen ablösen.« »Was ist mit der Antwort an Hempstead?« fragte Bickel. »Laß ihn doch warten«, knurrte Timberlake. »Man wird annehmen, daß die Sendung nicht durchgekommen ist, wenn wir die Antwort verzögern«, sagte Bickel. »Wahrscheinlich gibt man sie dann noch einmal durch.« »Und damit häen wir unsere Wiederholung, ohne unsere Probleme offenbaren zu müssen«, sagte Flaery. »Ist das nicht ein recht zweifelhaer Vorschlag von unserem Geistlichen?« fragte Bickel. »Das war wohl der Psychiater, der aus ihm sprach«, sagte Pru129
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dence. »Los, leg dich schlafen.« »Und ich kann hier sitzenbleiben und Däumchen drehen«, sagte Timberlake. Bickel sah auf und dachte an den Zorn, den Hempsteads Vorschläge in Timberlake ausgelöst haen, erkannte dessen Sorge, die den Menschenleben ringsum galt. Es gab im Augenblick keine Möglichkeit, Timberlakes innere Spannungen zu mildern. Die Gefahr war durchaus real … eine Gefahr für jedes einzelne Wesen an Bord, vom winzigsten Kükenembryo in den Hib-Tanks bis zu ihnen selbst, der Kernmannscha. Bickel sah, daß Timberlake manchmal über eine rein intuitive Einsicht verfügte. Und Timberlake war Ingenieur. Es mochte ihm nützen, wenn er jetzt beschäftigt war. »Tim«, sagte Bickel, »wir müssen die Lösung unseres Bewußtseinsproblems so angehen, wie du einen besonderen Effekt in einem Sender oder Verstärker in Angriff nehmen würdest. Vielleicht kannst du darüber nachdenken, während ich mich schlafen lege. Ich brauche konkrete Antworten, die sich in Schaltzeichnungen umsetzen lassen.« »Aber wir stecken doch mit dem Ding da im Wartungsraum fest«, wandte Timberlake ein. »Das ist nur ein Anfang. Wir müssen den Ochsen weiter benutzen, weil er unseren einzigen Computerzugang zu einigen besonders wichtigen Daten bildet. Aber er ist trotzdem nur ein Anfang. Im Grund hat sich nichts geändert.« »Außer daß wir unserem Endpunkt zwei Tage nähergerückt sind, ohne einer Lösung nähergekommen zu sein«, knurrte Timberlake. Bickel unterdrückte den Zorn, der in ihm aufsteigen wollte. »Wie du willst!« Er wandte sich um, trat durch das Scho, das zu den Quartieren führte. 130
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»Ich muß essen«, flüsterte er. »Muß bei Kräen bleiben.« Er betrat die kleine Kombüse, tastete sich zum Schnellerhitzer, machte eine Tube Suppe heiß und verschlang sie. Dann ging er zu seinem ausgepolsterten Tank, stieg hinein, schloß die Luke und betätigte den Pneumo-Auslöser. Langsam und san umfing ihn der Tank, ließ ihn schweben. Seine Muskeln begannen sich zu entspannen, und wie jedesmal wunderte er sich über die beruhigende Wirkung der Kabine. Es war wie eine Rückkehr in den Muerleib. Welcher Muerleib hat mein ursprüngliches Ich getragen? fragte er sich. Irgendwo gibt es tatsächlich eine Muer … und einen Vater. Auch wenn ich in einer Keimkammer aufgewachsen bin, wurde ich doch irgendwo von Fleisch und Blut gezeugt. Wer waren diese Menschen? Ich werde es niemals erfahren. Er zwang sich, an die Hülle zu denken, die ihn umgab, an den künstlichen Muerleib, der ihm ein großes Gefühl der Sicherheit vermielte. Warum erholen wir uns besser in einer Kabine? Ein kurzer Schlummer in einer Steuercouch ist bei weitem nicht so erfrischend. Wieso? Ist das etwas Atavistisches, eine phylogenetische Rückkehr ins Meer? Oder handelt es sich um etwas anderes – um etwas, das wir noch nicht erkannt haben? Bickel spürte die Weichheit des ihn umgebenden Materials, die angereicherte, feuchte Lu. Sein Atem ging langsam und gleichmäßig. Rhythmisch. Die festen Rhythmen, dachte er und zwang sich, noch einen Moment wach zu bleiben. Da steckt irgendwo ein Oszillationsfaktor in unserem Problem. Oszillation gibt es in der Hypnose, im Atmen eines Schlafenden, im Herzschlag … im Sex … Und lebendige Zellen haben magnetische Nord- und Südpole, dachte er. 131
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Er dachte an Vincent Frame, der über dieses Thema im Kursus für biologische Technik gesprochen hae. »Die Zelle hat Energien, die im Tumult des Lebendigseins oszillieren und pulsieren«, hae Frame gesagt. »Wir erkennen Reflexionen dieser grundlegenden Aktivität in jeder koordinierten Zellstruktur. Haben Sie schon einmal beobachtet, wie ein Mann mit dem Finger nervös auf eine Tischplae klop? Haben Sie schon einmal die Perioden zwischen dem Augenzwinkern eines Menschen gemessen? Das Atmen hat charakteristische Rhythmen für jede Zustandsform der gesamten Zellstruktur. Sie müssen sich diese Tatsache vor Augen halten, wenn Sie Vorrichtungen entwerfen, die von diesem Zellenbündel benutzt und bewohnt werden sollen. Sie müssen immer an den Puls und an die Bedürfnisse der Struktur-Zellkomponenten denken.« Trotz seiner Müdigkeit spürte Bickel die ›heiße Spur‹, auf die er da gestoßen war. Er aktivierte sein Bordsprechgerät und schaute zum winzigen Monitorschirm auf. Timberlake starrte ihn an. »Erinnere dich an Dr. Frames Vorträge. Oszillation. Wir sprechen später darüber.« Bickel ließ den Knopf des Sprechgeräts los, ehe Timberlake etwas sagen konnte. Bickel ließ sich zurücksinken und spürte, wie der Schlaf ihn einhüllte. Flaery hae die Hauptkontrollen an Prudence abgegeben. Er blickte zu Timberlake hinüber, der auf der Kante seiner Steuercouch saß und über einem Notizblock brütete. »Tim, siehst du in Bickels Worten irgendeinen Sinn?« fragte Flaery. »Vielleicht.« Timberlake blickte von seinen Notizen auf. »Nehmen wir einmal an, daß das Bewußtsein irgendeine Art orga132
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nischen Rezeptor erfordert, der eine Feldstruktur hervorru, die sich je nach Beanspruchung ausdehnt oder vermindert. Die Feldstruktur selbst ist mit dem Phänomen identisch, das wir Bewußtsein nennen. Nehmen wir einmal weiter an, daß dieser organische Rezeptor einem ständigen Ansturm von Eindrücken unterworfen ist.« »Als Zielpunkt dieses Ansturms wird im allgemeinen das Kleinhirn vermutet«, sagte Prudence. »Wie sieht also der Input von Eindrücken aus?« fragte Timberlake. »Der was?« »Was empfängt das Kleinhirn?« »Die Eingabe erfolgt in elektrischer Form«, sagte Prudence. »Hast du das gemeint?« fragte Flaery. »Ja, genau das. Wie wird diese elektrische Eingabe nun in den Empfänger einsortiert?« »Ich verstehe, worauf du hinauswillst«, sagte Flaery. »Meistens erfolgt die Eingabe in Form elektrischer Nervenimpulsgruppen. Jede Gruppe hat eine extrem kurze Lebensdauer, aber sie werden nicht für absolut getrennt gehalten.« »So etwa denken die Physiker auch über das Licht«, sagte Prudence. »Der Physiker betrachtet das Licht bei bestimmten Schlußfolgerungen als Partikel, bei anderen als Wellen. Manchmal sind Nervenimpulsgruppen separate Einheiten für uns, manchmal jedoch auch ein beständiger Strom.« »Weiter! Wie verläu dieser ununterbrochene Strom?« fragte Timberlake. »Wo liegt der Endpunkt?« »Er führt in die stillen oder nichtfunktionellen Gebiete des Kleinhirns«, sagte Flaery, »die den größten Teil ausmachen.« »Still oder nichtfunktionell?« sagte Timberlake. »Wie sieht der Spannungseffekt auf das Kleinhirn aus?« 133
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»Spannung?« fragte Flaery. »Es tri doch Energie ein«, sagte Timberlake. »Was geschieht? Man kann doch nicht ewig Energie in ein System pumpen, ohne irgendeinen Effekt zu erzielen. Wie sieht hier die Ausgleichsfunktion aus? Wie ist der Output, die Spannung?« »Und du meinst, diese Spannung ist … das Bewußtsein?« fragte Flaery. Und er dachte daran, daß Bickel das System einen unersälichen Schwamm genannt hae. »Bickel hat es selbst schon angedeutet«, sagte Timberlake. »Er hat gesagt, daß das Bewußtsein dem Vestibularreflex im inneren Ohr gleicht, der uns sagt, wo unten ist. Komische Sache. Ich komme mir vor, als wäre ich die ganze Zeit nur halbwach gewesen – jedenfalls nicht wach genug, um Bickels Absichten zu erkennen. Aber ich komme langsam darauf.« »Der Ansturm der Eindrücke auf das Kleinhirn hört ja nicht einmal während des Schlafens auf«, sagte Flaery. »Willst du etwa sagen, daß der Schlaf dem Bewußtsein gleichzusetzen ist?« »Der Schlaf ist auch eine Form des Bewußtseins«, beantwortete er seine eigene Frage. »Er liegt nur an einem Ende des Spektrums.« »Und all die Energie?« fragte Timberlake. »Sie muß für irgend etwas verbraucht werden. Ja, ich verstehe. Gut denn – der Bewußtseinseffekt sorgt vielleicht für das Energiegleichgewicht des Körpers. Vielleicht ist er eine Art Homöostat.« »Alle biologischen Kontrollmechanismen sind Homöostate«, sagte Prudence. »Du behauptest also, das Bewußtsein bewältigt den Ansturm der Eindrücke. Na und? Damit ist noch immer nicht die Energie dieses Ansturmes erklärt. Was passiert damit?« »Irgendwo im System muß ein zusätzlicher Effekt sein«, sagte Timberlake. »Es muß irgendwo einen unerklärlichen Energiestrom geben – oder einen Strom, der bisher falsch interpretiert …« 134
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»Synergie«, sagte Prudence. Flaery starrte sie an. Sie hae ihm das Wort aus dem Mund genommen. »Synergie«, sagte Prudence, »der Effekt, der von unseren Rückenmarksreflexen durch das Kleinhirn hervorgerufen wird. Er liegt auf der Seite des … Stromkreises, die aus der Großhirnrinde herausführt.« »Aber ist das auch ein integrierender, ein ausgleichender Effekt?« fragte Timberlake. »Wie ich die Sache verstehe, reicht auf der zur Hirnrinde hinführenden Seite eine einfache synaptische Integration aus. Hat die Synergie mit Energieimpulsen von den Stirnlappen zu tun? Ist sie Energie, die den fehlenden Output erklären könnte?« »Du bewegst dich ebenso im Kreise wie Bickel«, sagte Flaery. »Du beschränkst das Gebiet der Kontrolle auf die Stirnlappen. Du siehst aber, daß die Synergie nicht völlig erklärt werden kann. Gut. Zahlreiche Forscher sind zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Unzählige Leute haben behauptet, die Stirnlappen könnten das geheimnisvolle Zentrum des Bewußtseins sein. Aber was nützt es uns, zu wissen, wo es liegt, wenn wir nicht auch wissen, was es ist? Du kannst doch nicht annehmen, daß es mit der Synergie identisch ist!« »Danke, Raj«, sagte Timberlake. »Gut, ich folge Bickels Theorie … und vielleicht mache ich auch einige von seinen Fehlern, wenn er überhaupt welche macht. Bickel nimmt an, daß das Bewußtsein ein feldregulierender Sensor ist – seelische und emotionale Reaktionen. Wenn wir dieses Gebilde künstlich nachbauen wollen, muß unsere Konstruktion sensorische, geistige und emotionale Responsorien zu regulieren haben.« »Aha«, sagte Flaery und nickte. »Wir können Bickels Ochsen sensorische und geistige Reaktionen mitgeben, aber wie impfen 135
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wir ihm Gefühle ein?« Timberlakes Erregung begann auf ihn überzuspringen, die Erregung einer Jagd, die einer Idee galt. »Was ist mit der negativen Gegenkoppelung? Emotionen haben stets etwas mit einem Ziel zu tun. Die negative Gegenkoppelung erfordert ein zielsuchendes Element im System.« An der plötzlichen Stille, in die seine Worte fielen, erkannte Flattery, daß er einen kritischen Punkt seiner Analyse erreicht hae. Sie spürten es alle. Sie haen es ohne Bickel gescha, wenn auch Bickels Vorstellungen der Ausgangspunkt gewesen waren. »Das Bewußtsein erfordert ein Ziel«, sagte Timberlake. »Es muß ein Objekt haben, auf das es sich richten kann. Die Feldbeziehung.« Wir sind nahe dran, aber ganz ist es noch nicht gescha, dachte Flaery. »Kein Wesen oder Ding, sondern ein Verbindungsglied zwischen Dingen oder Wesen.« »Eine Brücke!« murmelte Timberlake erregt. »Natürlich! Natürlich! Eine Brücke!« »Deren Bausteine sprachlich sind«, sagte Prudence. »Aber die Symbole sind mit Fehlern und Schwächen behaet«, sagte Timberlake. »Das ist die Lösung!« Flaery dachte: Ehe man seiner selbst bewußt ist, muß man ein Tor zur Vorstellungswelt passieren, und. die Schlüssel zu diesem Tor sind Symbole. Man kann Ideen von einem Ort zum anderen durch das Tor tragen, aber der Transport der Ideen erfolgt in Symbolen. Weiß man aber, was man da trägt … und wer den Transport vollbringt? »In jedem Symbol, jedem Wort schwingen versteckte Bedeutungen mit«, sagte Flaery. »Wenn du dem Wort diese Bedeutungen entlockst, fließt damit ein völlig neuer Strom des Verstehens in deine Vorstellungswelt.« »Und das kritische Wort dabei ist das Wort Bewußtsein«, sagte Timberlake. 136
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»Welches voraussetzt«, sagte Prudence, »daß es tatsächlich ein Ich gibt, das bewußt sein kann.« »Eine Brücke schlägt eine Verbindung«, fuhr Timberlake fort. »Wenn sie abzubröckeln beginnt, holen die Ingenieure die Konstruktionszeichnungen und Materialbestellungen hervor, gehen zu der Brücke und untersuchen sie. Sie studieren die Brücke unter statischen Bedingungen und unter Belastung. Dann ersetzen sie möglicherweise bestimmte Teile, bringen neue Stützen an …« »Oder reißen das ganze verdammte Ding ein und fangen von vorn an«, sagte Prudence. »Hat mir denn keiner zugehört? Unser Wort geht davon aus, daß es überhaupt ein Ich gibt, das bewußt sein kann.« »Wir haben dich nicht überhört«, sagte Flaery. »Aber es gibt wichtigere Postulate als ›Erkenne dich selbst‹! Das Zen lehrt uns, daß eine allgegenwärtige Idee allein durch ihre Allgegenwart verschleiert sein kann – der Wald, den man vor Bäumen nicht sieht. In unserem normalen Tagesverhalten befinden wir uns in einer illusorischen Ich-Vorstellung befangen. Und das Zen …« »Um Himmels willen!« Es war Bickels Stimme, die aus dem Schirm der Bordsprechanlage herabdröhnte. »Kaum lasse ich euch mal eine halbe Stunde allein, lockst du die armen Narren auch schon in deine mystischen Sackgassen! Zen! Gleich kramst du auch noch dein kosmisches Bewußtsein hervor, was? Von allen unmöglichen …« »John, wir haben die Frage auf das Wesentliche reduziert«, sagte Timberlake. »Wenn du nur mal …« »Ich habe dich gebeten, mir ein paar Schaltungen zu konzipieren.« »Du hast den GMS selbst gebeten, uns das Bewußtsein zu definieren«, protestierte Prudence. 137
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»Weil ich die Burschen beschäigen wollte, damit sie uns nicht andauernd stören.« Der Schirm wurde schwarz. Flaery wandte sich um und stellte auf der Konsole vor Prudence fest, daß der Schalter der Bordsprechanlage eingeschaltet war, während der Schirm dunkel blieb. Der Schalter ist umgelegt, dachte Flaery. Sie hat es getan! Sie hat Bickel wecken wollen. Aber warum war der Schirm dunkel? Als häe sie seine Gedanken erraten, sagte Prudence: »John hat einen Überlagerungsstopp in die Bordsprechanlage gelegt. Könnt ihr euch den Grund vorstellen?« »Hast du denn nicht gesehen, wo er ist?« fragte Timberlake. »Er ist im Computerraum und arbeitet an dem verflixten Ochsen!« Timberlake öffnete seine Steuercouch und schwebte zur Schleuse des Computer-Wartungsraums. Er versuchte das Scho zu öffnen, dessen Verschlüsse sich jedoch nicht rührten. »Er hat sich eingeschlossen!« sagte Timberlake. »Wenn er den Computer kapumacht …« »Du hast es also gemerkt … na, dann könnt ihr auch zuschauen«, höhnte Bickel. Sie sahen auf und erblickten den Wartungsraum auf dem großen Schirm. Bickel hae den Ochsen teilweise auseinandergenommen; er stand inmien eines Durcheinanders aus herabhängenden Leitungen, Meßgeräten und Neuronenfibern, die alle sorgsam von der Computerschaltwand entfernt worden waren. »Bickel, sei doch vernünig!« flehte Timberlake. »Du kannst doch nicht einfach den Computer aufmachen und …« »Halt den Mund, oder ich schalte euch wieder ab!« sagte Bickel scharf. »Bie, John!« bat Prudence. »Wenn du nur …« »Mit Reden hältst du ihn nicht auf«, sagte Flaery. 138
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»Da hörst du es«, sagte Bickel und befestigte einen Neuronenblock an der Wand. »Rhythmus«, sagte er. »Ich bin damit in den Schlaf gesunken und wieder aufgewacht – und natürlich von eurem Gewäsch. Rhythmus!« »Beschreib uns mal, was du da machst«, sagte Flaery und bedeutete Timberlake durch eine Handbewegung, zu ihm zu kommen. »Die Definition der Gehirn-Sehfunktion läßt sich auf die mathematische Beschreibung eines Abtastvorgangs reduzieren«, erwiderte Bickel. »Daraus ergibt sich, daß jede andere Definition einer Gehirnfunktion – einschließlich des Bewußtseins – auf dem gleichen Weg der Analyse erarbeitet werden kann. Um das Gehirn abzutasten, kann ich den Zyklus des Alpha-Rhythmus in diesen Neuronenblöcken nachvollziehen. Wenn ich nun jeden Rhythmus von einem menschlichen Modell aus verfolge und dupliziere …« »Was ist denn die Funktion der einzelnen menschlichen Rhythmen?« fragte Flaery. Während des Sprechens kritzelte Flaery etwas auf einen Notizblock und drückte Timberlake das Bla in die Hand. »Dieser Funktion sind wir uns doch nicht sicher, oder?« fragte Flaery und versuchte Timberlake hastig dazu zu bringen, seine Nachricht zu lesen. Timberlake blickte auf das Stück Papier und las: »Hinten herum, um die Hib-Tanks! Bickel hat das Scho zu den Quartieren nicht geschlossen. Geh durch den Tunnel und überrasche ihn.« Timberlake sah zum Schirm hoch. Unter Bickels Händen nahm der Ochse eine neue Form an und erstreckte sich jetzt fast bis in eine Ecke des Computerraumes. Timberlake spürte eine Hand, die seinen Arm schüelte. Er blickte in Flaerys wütendes Gesicht. Flaery deutete auf den 139
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Zeel. Wieder starrte Timberlake auf die Worte und machte sich klar, warum er hier wie festgewurzelt stand. Um die Hib-Tanks herum? Nein. Ich würde durch die Hib-Tanks hindurch müssen. Timberlake blickte Flaery gequält an. Bickel hat mich mit seiner zynischen Skepsis angesteckt. Ich fürchte mich vor meinen Entdeckungen in den Hib-Tanks. Ich werde feststellen, daß die Tanks leer sind, und ich werde Leitungen finden, die aus den leeren Tanks in den Computer führen. Und der Computer ist so programmiert, daß er das Vorhandensein hibernierenden Lebens simuliert. Das Ganze wird sich als ein gewaltiger Schwindel erweisen. Ich werde feststellen, daß meine Tätigkeit als Versorgungsingenieur überhaupt sinnlos gewesen ist … Warum fürchte ich mich davor? fragte er sich. Wieder zupe ihn Flaery am Arm. Warum geht er nicht selbst? überlegte Timberlake. Er ist doch so versessen darauf! Aber die Antwort auf diese Frage war klar: Flaery kannte sich mit Computern nicht so gut aus. Er wußte nicht zu analysieren, was Bickel da tat, und konnte den angerichteten Schaden – auch wenn das überhaupt möglich war – nicht reparieren. Ich bin in Panik geraten, dachte Timberlake. Aber er wußte, daß er hier nicht stehen bleiben konnte. Er mußte seinen Weg gehen. Und wenn er die Hib-Tanks erreichte, konnte er einer genauen Überprüfung sicher nicht widerstehen. Er würde sich nicht mit einer Kontrolle der Instrumente und Skalen zufriedengeben, sondern auch einen Blick in die Tanks werfen. Denn trotz der unerklärlichen Angst, die ihn befallen hae, war die andere Möglichkeit nicht völlig ausgeschlossen – daß nämlich die Tanks doch Leben enthielten und dieses Leben in der gleichen Gefahr schwebte wie sie alle. 140
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Ich werde noch einmal den Schroteffekt-Generator benutzen, dachte Bickel. Er beugte sich über das geordnete Chaos des Ochsen, stellte eine Verbindung zur vorläufigen Eingabe her, fädelte die Leitung heraus und legte sie zur Seite. Der Effekt und die Art und Weise, wie er zu erzielen war, standen ihm noch deutlich vor Augen. Er war plötzlich aufgewacht, ohne zu wissen, wie lange er geschlafen hae. Aber er hae sich frisch gefühlt und hae sofort die Antwort gespürt, die seinen Geist erfüllte. Er wandte sich den Computerleitungen zu und schloß den Ochsen durch einen Puffer an, der seine Impulse in einen Testspeicher eingeben würde. Dann verband er diesen mit einer neuen Gruppe von Neutronenblöcken und sperrte das System. »Willst du uns nicht wenigstens erklären, was du da machst, John?« klang Flaerys Stimme vom Schirm herab. Bickel sah hoch und entdeckte Prudence an den Kontrollen, während sich Flaery an den Rand einer Steuercouch gesetzt hae. Von Timberlake war nichts zu sehen. Aber die Kamera des Schirms erfaßte die KomZentrale nicht völlig. Es war also durchaus denkbar, daß sich Timberlake am Scho versuchte. »Wir haben zur Herstellung dieser Bewußtseinsfunktion nur uns selbst als Modelle zur Verfügung«, sagte Bickel. »Und alle Leute sagen mir, daß wir unmöglich so in uns selbst eindringen können, wie es für einen Ingenieur beim Nachbau eines Mechanismus eigentlich unerläßlich ist. Aber, lieber Freund, es gibt eine andere Möglichkeit, die durchaus wirksam und auch erprobt ist.« »Raj«, rief Prudence. »Ich habe eine Stromdri in der Energienotversorgung.« »Das ist Bickel«, sagte Flaery, ohne zu zögern. »John hat sich 141
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bestimmt eine direkte Leitung geschaltet, damit wir ihm die Energie nicht abzwacken.« Er wandte sich an Bickel. »Habe ich recht?« »Durchaus. Das düre euch eigentlich nicht weiter behelligen. Ich habe die Leitung isoliert. Eure Hauptkontrollen funktionieren trotzdem.« Bickel wandte sich wieder dem Ochsen zu und begann eine Serie Neurofibern anzuschließen. »Was ist denn diese wirksame und erprobte Methode?« Flattery sah zu den Instrumenten der Hauptkontrollen hinüber und verfolgte Timberlakes Vordringen über die Temperatursensoren. Timberlake war jetzt draußen in der zweiten Zone und hae gerade die Schutzschilde erreicht. Warum ist Tim so ungern gegangen? fragte sich Flaery. Bickel stellte eine dreifache Verbindung her und richtete sich auf. »Das System, das man nicht auseinandernehmen und untersuchen kann, nennt man einen schwarzen Kasten. Wenn wir nun einen weißen Kasten herstellen könnten, der dem schwarzen Kasten in den Anlagen ausreichend ähnlich ist – das heißt, wenn wir ihn auch ausreichend kompliziert machen –, dann können wir den schwarzen Kasten im Zuge seines eigenen Funktionierens dazu zwingen, sein Funktionsschema auf den weißen Kasten zu übertragen. Wir versetzen die beiden und unterwerfen sie den gleichen Schroteffekt-Stößen.« »Was soll denn dein weißer Kasten sein?« fragte Flaery, den Bickels Ausführungen trotz aller Sorgen interessierten. »Etwa das Ding da?« Er deutete auf das verrückt wuchernde Gebilde des Ochsen. »Himmel, nein, der ist bei weitem nicht kompliziert genug. Aber unser gesamtes Computersystem düre ausreichen.« Er ist verrückt geworden! dachte Flaery. Er kann doch nicht allen Ernstes vorhaben, Schroteffekt-Stöße in den Computer zu schicken! 142
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Wieder schaute Flaery zu den Instrumenten hinüber. Timberlake hae jetzt den Eingang zu den Hib-Tanks erreicht und kam nur noch qualvoll langsam voran. »Aber … als was arbeitet dann der Ochse in der gesamten Anlage?« fragte Flaery und konzentrierte sich wieder auf den Schirm. »Er ist unser Sortiergerät«, sagte Bickel. »Er sortiert die Rhythmen des Systems und übt die Funktion von Stirnlappen aus.« Er verband zwei Bauteile durch Kreuzkontakte auf einer Schalafel. »Das wär‘s. Jetzt veranstalten wir ein paar Versuche.« »Solltest du damit nicht warten?« fragte Flaery. »Wäre es nicht besser, wenn wir noch einmal über alles sprächen? Wenn du nun einen Fehler gemacht hast und …« »Kein Fehler möglich«, sagte Bickel. Flaery schaute auf die Instrumente. Timberlake war jetzt in den Hib-Tanks, aber er rührte sich nicht mehr – er war stehengeblieben. Wir haben Bickel als unser ›analytisches Organ‹ zu fein eingestellt, dachte Flaery. Wir häen wissen müssen, daß er durchdrehen könnte. Wodurch wurde Timberlake aufgehalten? »Zuerst ein geradliniger Test«, sagte Bickel und betätigte einen Schalter an der Computerwand. Er starrte auf die Prüfskalen über sich. Flaery hielt den Atem an und warf einen Blick auf die Hauptkontrollen. Wenn Bickels Versuch das Hauptcomputersystem durcheinanderbrachte, mußte sich das zuerst an den Kontrollen bemerkbar machen. Doch an den grünen Signalen auf der Konsole änderte sich nichts, und auch das ständige Klicken der Relais unter den Diagrammen und Monitoren behielt seinen beruhigenden Rhythmus bei. 143
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»Ich erhalte individuelle Nervennetz-Reaktionen aus den verschiedenen Blöcken«, sagte Bickel. Flaery wandte den Blick nicht von den Kontrollen. Wenn Bickel den Computer zerstörte, war es um das Schiff geschehen. »Hast du mich nicht gehört?« fragte Bickel. »Ich bekomme Nervennetz-Reaktionen! Das Ding reagiert wie ein menschliches Nervensystem.« »Raj, er hat recht!« sagte Prudence. »Ein Beta-Rhythmus.« Flaery beobachtete das Spiel der grünen Linie auf dem Schirm. Er bedachte Bickels Worte und versuchte zu begreifen, was diese Linie bedeutete. Schwarzer Kasten – weißer Kasten. Vielleicht war es theoretisch möglich, den ganzen Computer als weißen Kasten zu benutzen und damit das Funktionsschema des Bewußtseins aufzunehmen. Aber trotzdem blieben noch viele Fragen offen, von denen eine ganz besonders wichtig war – wichtiger als alle anderen. »Was willst du denn als schwarzen Kasten benutzen?« fragte Flaery. »Woher bekommst du das Ausgangsschema?« »Aus einem bewußten menschlichen Gehirn. Ich werde einen unserer überflüssigen Hib-Tanks nehmen und das elektroenzephalographische Rückkoppelungssystem in einen Verstärker umbauen.« Der ist ja völlig verrückt! dachte Flaery. Der Schock eines Schroteffekt-Schlages bringt doch jeden sofort um! Na, und wer wird das Versuchskaninchen sein? fragte sich Bickel. Er schluckte. Notfalls eben ich. »Wie willst du das Gehirn vor den Schroteffekt-Stößen schützen?« fragte Prudence. »Mit Kurare?« »Ich nehme an, daß das Subjekt völlig bei Bewußtsein sein muß«, erwiderte Bickel, »ohne jegliche lindernde Miel oder nar144
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kotische Sperren.« Er wartete auf Timberlakes Ausbruch. Eine solche Äußerung mußte doch den Versorgungsingenieur auf die Palme bringen. Wo war Timberlake überhaupt? »So etwas ist völlig unmöglich!« brüllte Flaery. »Das wäre Mord!« »Oder vielleicht auch … Selbstmord«, sagte Bickel. Prudence wandte sich von der Konsole ab und erwiderte Bickels Blick. »Sei vernünig, John«, bat sie. »Du bringst schon den Computer in Gefahr mit deinem …« »Das Schiff funktioniert doch, oder etwa nicht?« konterte Bickel. »Aber wenn du deinen Schroteffekt-Stoß in die Verdrahtungen schickst«, sie deutete auf die aufgeschichteten Blöcke und komplizierten Leitungsnetze des Ochsen«, »wie willst du verhindern, daß der Speicherkern des Computers beschädigt wird?« »Der Speicherkern ist ein abgegrenztes System und abgesichert. Ich werde die Spannung im Ochsen unterhalb der Pufferschwelle halten. Außerdem«, er zuckte die Achseln, »haben wir bereits Schroteffekt-Stöße durch den Computer geschickt, ohne daß …« Flaery warf einen Blick auf die Sensoren. Was war mit Timberlake? War er verletzt? Bewußtlos? Aber die Sensoren deuteten an, daß sich der Versorgungsingenieur wieder langsam bewegte, wenn auch nur innerhalb des Hib-Tank-Komplexes. »Wenn ich dich richtig verstehe«, sagte Prudence, »mußt du dem Ochsen Nervennetz-Stimulationskanäle anfügen, bis der Ochse und der Computer zusammen die Komplexität eines menschlichen Nervensystems erreichen. Und mit dem weiteren Verlauf deiner Konstruktions- und Testarbeiten hängt unser Leben immer mehr von diesem notdürig zusammengeschusterten Ungeheuer ab.« 145
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»Ich muß ihn mit einem vollen Spektrum sensorischer Einrichtungen ausstaen«, sagte Bickel. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« »Aber die muß es geben!« sagte sie. »Woher hast du nur diese verrückte Idee?« »Von dir.« Der Schock brachte sie einen Augenblick zum Schweigen. »Das ist unmöglich!« »Du bist eine Frau«, erklärte Bickel, »du kannst auf biologischem Wege bewußtes Leben schaffen. Zur Erfüllung dieser Funktion hast du einen Nährboden von Molekülen in dir, die eine Vielfalt von Formen annehmen können. Und diese Moleküle nehmen eine bestimmte Form an in der Gegenwart eines Moleküls, das diese Form bereits hat.« Er zuckte die Achseln. »Schwarzer Kasten – weißer Kasten.« »Ich hae angenommen, deine Antwort bezog sich auf mich persönlich«, sagte sie. »Nun hör mal zu«, sagte Bickel. »Das Grundverhalten des Computers wird intakt bleiben. Wir stören keine Kontrollprogramme oder feststehenden Kommandoroutinen. Wir wollen lediglich ein System etablieren, das sich mit Wahrscheinlichkeiten befaßt …« »Die Spieltheorie!« sagte Flaery verächtlich. »Du kannst das Verhalten deiner Maschine doch nicht bis ins letzte vorhersagen!« Er schaute wieder auf die Instrumente. Was machte Tim nur? »Genau das ist es!« sagte Bickel. »Wenn die Maschine ein Bewußtsein haben soll, darf ihr Verhalten nicht völlig vorhersehbar sein … das liegt schon allein in der Definition des Bewußtseins begründet. Das Bewußtsein ist ein Spiel, bei dem die erlaubten Züge nicht eindeutig im voraus festgelegt werden. Es geht allein darum, zu gewinnen.« 146
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Mit einem Einsatz ohne Limit? fragte sich Flaery. Er konzentrierte sich auf Bickel und erkannte das grundsätzlich Blasphemische einer solchen Haltung. Ohne Regeln ging es nicht! »Die Maschine erhält ihre Persönlichkeit zum Teil von ihrem Schöpfer und zum Teil auch von ihren Gegnern«, sagte Bickel. Ein Teil von Go, und ein Teil vom Teufel«, dachte Flaery. Irgendwo muß hier ein grundlegender Trugschluß stecken … irgendwo. Bickel bewegt sich außerhalb jeglicher Vorhersage. Unser »analytisches Organ‹ verhält sich unlogisch. Es macht nicht jedesmal den bestmöglichen Zug. »Du wirst Fehlfaktoren und ein Verlustinkrement in den Computer einbringen«, warnte Prudence. »Das ist nicht nur unlogisch, das ist lebensgefährlich.« »Du mußt in jedem Stadium den bestmöglichen Zug machen«, sagte Flaery. »Dein Vorschlag scheint aber nicht …« »Damit hast du‘s genau getroffen«, stimmte ihm Bickel zu. »Der bestmögliche Zug. Manchmal besteht der bestmögliche Zug aber darin, einen gefährlich schlechten Zug zu machen, der die gesamte theoretische Struktur des Spiels verändert. Du änderst das Spiel.« »Und was ist mit den Menschen unten in den Hib-Tanks?« fragte Prudence. »Haben sie auch eine Entscheidungsmöglichkeit bei diesem … Spiel?« »Sie haben ihre Entscheidung bereits getroffen.« »Und während sie hilflos daliegen, änderst du einfach die Regeln«, sagte Flaery. »Das war eines der Risiken, die sie mit der Annahme der Hibernation eingegangen sind«, sagte Bickel. Flaery gab die Diskussion auf und erhob sich. »Was willst du nun?« fragte Prudence. »Nach Tim sehen.« »Wo ist Tim überhaupt?« fragte Bickel. »Unten in den Hib-Tanks«, sagte Flaery. 147
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»In den Hib-Tanks?« fragte Bickel ungläubig. »Natürlich!« »Prue«, rief Bickel. »Versuch dich über die Bordanlage mit ihm in Verbindung zu setzen.« Der scharfe Ton in seiner Stimme ließ sie auffahren, und sie gehorchte sofort. Aber Timberlake antwortete nicht. »Ihr Narren!« sagte Bickel. Flaery hielt am Scho zu den Tunneln inne und sah zum Schirm auf. »Wer hat ihn in die unteren Tanks gehen lassen?« fragte Bickel. »Ihr verdammten Idioten! Wißt ihr denn nicht, was er da unten wahrscheinlich findet?« »Was meinst du?« »Daß das ganze Schiff nichts weiter ist als eine Simulationsanlage«, sagte Bickel. »Da unten liegen nur ein paar Ersatzleute für die Mannscha. Die anderen Tanks müssen leer sein!« Er irrt sich! dachte Flaery. Oder etwa nicht? Der Gedanke erschüerte ihn. Es war ihm klar, wie niederschmeernd eine solche Entdeckung auf Timberlake wirken mußte – auf einen Mann, der in seiner Weise ebenso fein auf seine Arbeit eingestimmt war wie die anderen. »Er häe ja immer noch die Systeme für die Mannscha«, sagte Prudence. Sie blickte Flaery an und spürte die lähmende Einsamkeit. Vielleicht enthielt das Metallei mit seinen einprogrammierten Gefahren nur einige wenige isolierte Menschen, die ins Nichts gestartet waren. Das würden sie uns doch nicht antun, dachte Flaery. Aber wenn sie mich dazu bestimmt haen, die übrige Mannscha zu täuschen … Er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Aber das ist unmöglich! Als ich zufällig die wirklichen Tau-Ceti-Unterlagen fand, hat man mir versprochen … Wenn wir durchkämen, brauchten wir nur die Berichts148
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kapsel zurückzuschicken und weiterzufliegen, als ob … Es gibt keinen bewohnbaren Tau-Ceti-Planeten! »Raj, bist du krank?« fragte Prudence. Sie musterte ihn und bemerkte seinen geistesabwesenden, hilflosen Blick. »Die Tau-Ceti-Planeten sind unbewohnbar, ja«, hae Hempstead zugegeben, als er mit den Beweisen konfrontiert wurde. »Ein Eden gibt es nicht. Aber wir wissen, daß das Universum Milliarden von bewohnbaren Planeten enthält. Sie wissen natürlich, daß die Leute nicht zurückkehren dürfen. Die Situation Ihrer Lebensspender …« »Die Biopsie-Spender waren doch alle Verbrecher!« war Flaery mit seiner zweiten großen Entdeckung herausgeplatzt. »Brillante, aber fehlgeleitete Geister«, hae Hempstead erwidert. »Das ist einer der Gründe, warum Sie nicht zurückkehren können. Andererseits kann niemand Sie daran hindern, weiterzufliegen und Ihr eigenes Eden zu finden.« In der Erinnerung spürte Flaery, wie leer diese Worte klangen. Verlogenheit und Täuschung durch und durch, dachte er. Aber warum? Timberlake hae sich in verzweifelter Eile in den Kommunikationstunnel gestürzt – in dem Bewußtsein, daß er schnell handeln mußte, wenn er sich nicht seinem unerklärlichen Entsetzen hingeben wollte. Bei der Tunnelkreuzungsschleuse angekommen, schloß er das Scho hinter sich, holte ein Robox-Gerät aus den Halterungen, stellte die Sensoren auf den Fahrkontakt ein und ergriff die Handkontrollen. Wieder erfüllte ihn das qualvolle Widerstreben, überhaupt etwas zu tun, und er starrte den Tunnel entlang und betrachtete die scheinbar endlose Rundung, die durch die transparenten Sicherheitsschleusen sichtbar war. 149
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Ich kann jetzt nicht mehr zurück, dachte er. Mit plötzlicher Bewegung stellte er die Kontrollen des kleinen Robox auf volle Kra. Die Lu im Tunnel strich san zischend an ihm vorbei wie an einem kleinen Kolben in einer Röhre, Schleusen öffneten sich auf Befehl des Robox vor ihm und schlossen sich automatisch wieder, nachdem er sie passiert hae. Beim Durchqueren der Schutzschirmschichten verlangsamte er die Fahrt, steuerte vorsichtig durch die verästelten Gänge vor den Hib-Tanks, durchfuhr die schräge Passage im Wasserschild und stoppte schließlich vor der Tankschleusenkammer. Er stellte den Robox ab und starrte auf das Scho. Es war ein großes gelbes Oval, auf dem in blauen Riesenbuchstaben zu lesen war: »Dieses Scho muß geschlossen und verriegelt sein, ehe sich das Innenscho öffnet!« Timberlake packte die Verschlußgriffe, drehte sie herum und entdeckte beim Öffnen des Schos die Frostlinie auf der Innenseite. Die Generatoren seines Vakanzugs schalteten sich summend auf höhere Leistung und glichen den sofort eintretenden Temperaturabfall aus. Timberlake trat in die Schleuse, zog die Tür hinter sich zu und wandte sich um. Am Innenscho hing eine Reihe schwerer Generatoren, über denen ein großes Schild leuchtete: »Höchste Gefahr! Raumanzüge oder L-T-Anzug erforderlich, ehe Sie nächste Schleuse betreten. Überzeugen Sie sich, daß Sie einen funktionsbereiten Ersatzgenerator bei sich haben, ehe Sie Schleuse öffnen.« Timberlake schnallte einen Ersatzgenerator um und ließ die Turbine versuchsweise anlaufen. Der Generator summte. Er schwang die Halterung mit den anderen Generatoren zur Seite, öffnete das nächste Scho, trat hindurch und versiegelte den Durchgang hinter sich. Jetzt sah er sich einer kleineren Schleuse gegenüber: »Zutri 150
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nur Schiffsingenieuren oder medizinischem Personal gestaet. Volle Anzugsleistung erforderlich. Öffnen Sie dieses Scho nur, wenn Sie Ihren Anzug auf extreme Hybernationstemperaturen eingestellt haben.« Timberlake verband den Hilfsgenerator mit seinem Anzug und überprüe beide Geräte. Er fuhr mit seinen behandschuhten Fingern noch einmal über alle Dichtungen und ließ schließlich die beschlagfreie Sichtscheibe vor seine Helmscheibe gleiten. Der Augenblick der Entscheidung war herangerückt. Timberlake zwang sich dazu, langsam und überlegt vorzugehen. Von seinem Verhalten hing nicht nur sein eigenes Leben ab. Ein Element, das unkontrolliert Wärme abgab, konnte auf die hilflosen Menschen in den Tanks die schlimmsten Auswirkungen haben. Er drehte sich vor einem Sensor hin und her und beobachtete den Ausschlag der Temperaturskala. Null. Er berührte die Griffe des Innenschos und drehte sie. Die Dichtungen gaben ein Zischen von sich, das auf einen leichten Druckunterschied hindeutete. Er trat in die glitzernde Kälte der ersten Reihe von Hib-Tanks. Hier hae Prudence gelegen. Er sah ihren leeren Tank zu seiner Linken – einen Tank mit herabhängenden Leitungen und geöffnetem Innenraum. Die Kammer erstrahlte in hartem blauem Licht. Timberlake blickte sich um. Er fühlte sich an ein gigantisches Faß erinnert – ein riesiger Raum, angefüllt mit kleineren Fässern, den einzelnen Hibernations-Tanks. Durch die Mie führte ein Giersteg, von dem kurze Leitern zu den Tanks führten. Timberlake durchquerte die Kammer und schaute zurück. Nein … das sind keine kleinen Fässer, dachte er. Die Tanks erstreckten sich ringsum in alle Richtungen und ähnelten großen Kanali151
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sationsrohren. Es hae keinen Sinn, die Tanks dieses Raumes zu untersuchen. Er war hier in der Sektion 1, in der nur hochwertige Ersatzleute für die Mannscha lagen. Wenn überhaupt etwas nicht stimmte, dann sicher in einer der tiefergelegenen Sektionen. Timberlake öffnete das Sicherheitsventil der Zwischenschleuse, ließ das Scho aufschwingen, trat hindurch und justierte den Mechanismus, so daß die Sektion im Falle eines Teildefekts wieder abgeriegelt war. Er blickte sich um. Die neue Sektion war, abgesehen von dem fehlenden ausgeplünderten Tank, mit dem ersten Raum identisch. Professor Aldiss Warren fiel ihm ein, sein alter GMS-Lehrer für Biophysik. Er war ein ziegenbärtiger alter Mann mit einer senil klingenden Stimme gewesen, aber von ungewöhnlich scharfer Intelligenz. Warum fällt mir plötzlich der alte Warren ein – ausgerechnet jetzt? fragte sich Timberlake. Als häe diese Frage eine verborgene Erkenntnis freigesetzt, erinnerte er sich plötzlich an einige Bemerkungen über die moralische Kra, die der alte Mann eines Tages im Anschluß an eine Seminardiskussion gemacht hae. »Wollen Sie die moralische Kra der Menschen testen?« hae er gefragt. »Das ist ganz einfach. Sie brauchen nur einen medizinischen Computer mit einer öffentlichen Telefonzelle zu verbinden. Schalten Sie das Ganze so, daß jeder, der sich vom Computer untersuchen läßt, innerhalb eines Tages sein Todesdatum erfahren kann – soweit der Tod aus natürlichen Gründen eintri. Und dann warten Sie ab, wer Ihre Einrichtung benutzt.« Jemand – eine Studentin – hae gefragt: »Würde es nicht auch Mut erfordern, den Computer nicht zu befragen?« »Pah!« hae der alte Warren gelacht, und ein anderer Student 152
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hae gesagt: »Hypothetische Fragen dieser Art langweilen mich zu Tode!« »Natürlich«, hae der alte Warren erwidert. »Ihr abgebrühten jungen Burschen habt offenbar noch nicht begriffen, daß wir einen solchen Computer längst bauen könnten – jetzt und heute! Aber wir bauen ihn nicht, weil nur sehr wenige Leute – selbst unter denjenigen, die ihn bauen könnten – die moralische Kra haben, ihn auch zu befragen.« Timberlake blieb zwischen den Hib-Tanks stehen, und ihm war klar, warum ihm dieser Wortwechsel eingefallen war. Das Eindringen in diese Zone des Schiffs kam für ihn einer Frage an den Todespropheten gleich. Bickel hat mich mit seinem Zweifel angesteckt, daß dieses Schiff nicht so ist, wie es den Anschein hat, dachte Timberlake. Er hat das Kommando an sich gerissen und mich zur Seite geschoben. Der einzige Existenzgrund, der mir noch geblieben ist, liegt hier in diesen Tanks. Wenn mir auch das noch genommen wird, bin ich nutzlos – und könnte Bickel höchstens als Werkstagehilfe dienen. Er stieg in einen Einzeltank, der in der Mie über der linken Wölbung hing und mit den anderen Tanks seiner Reihe eine Ringformation bildete. Timberlake schaltete die Innenbeleuchtung ein, hielt sich an einem Griff fest und bückte sich zum Sichtfenster hinab. Das Licht flackerte und beleuchtete die Leitungen, die von der anderen Seite des Tanks herabkamen – ein farbkodiertes Spaghettibündel, das sich links und rechts auf die im Licht liegende Gestalt verteilte. Das harte Profil eines Mannes war dort erkennbar – eines Mannes mit wachsbleicher Haut und einem dünnen schwarzen Bart. Er erinnerte Timberlake an eine Modepuppe – und er dachte sofort an täuschend echt gestaltete menschengroße Automaten, 153
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die hier aufgeschichtet lagen, um das Spiel noch weiter zu treiben. Er betrachtete die Instrumente des lebenserhaltenden Systems über dem Spagheibündel, die im Tank eine schwache Lebensflamme anzeigten. Timberlake bewirkte eine kleine Veränderung in der Sauerstoffzumessung und las die Reaktion auf der elektroenzephalographischen Anzeige des Tanks ab. Der Sauerstoffmesser stellte sich wieder auf den alten Wert ein. Das war ein hibernierender Mensch. Die präzise Reaktion hae nicht programmiert sein können, da die verstärkte Sauerstoffzufuhr in diesem Augenblick nicht vorhersehbar gewesen war. Ein menschlicher Homöostat hae jedoch aufgepaßt und richtig reagiert. Timberlake kehrte auf den Giersteg zurück, überprüe den gegenüberliegenden Tank und den Tank daneben. Er suchte willkürlich weitere Tanks heraus und mußte immer wieder feststellen, daß hibernierende Menschen in ihnen lagen. Einen Mann erkannte er: schwarzes Haar, olivfarbene Haut mit wachsbleicher Tönung, Gesichtszüge wie gemeißelt … Frank Lipera, ein Mitstudent. Timberlake drang in die nächste und übernächste Sektion vor. Von den Hibernierenden waren ihm viele bekannt. Ein Gefühl der Einsamkeit erfüllte ihn. Er kam sich wie ein Museumswärter vor, der ein kurzes Menschenleben lang alte Schätze bewachte, die von menschlicher Kultur und menschlichem Wissen zeugten. Schließlich erreichte Timberlake die Sektion sieben, in der er auf ein weiteres Gesicht aus seiner GMS-Vergangenheit stieß. Timberlake studierte den Namen, der über dem Kontrollfenster gestempelt war. »Peabody, Alan – K-7a.« Ja, das war Al Peabody, überlegte Timberlake. Und doch war er 154
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es irgendwie nicht. Es hae fast den Anschein, als wäre Al irgendwohin verschwunden, um abzuwarten. Aber Peabody, Alan – K-7a, war trotzdem ein lebensfähiger Mensch mit individuellen homöostatischen Reaktionen. Er ließ sich wecken und konnte dann sprechen und handeln und denken. Er konnte zu Bewußtsein gebracht werden. Und das Bewußtsein ist etwas, das jenseits allen Sprechens und Handelns und Denkens liegt, dachte Timberlake. Er ließ den Griff los, sprang auf den Steg zurück und stellte fest, daß seine Neugierde befriedigt war. Er hae Gewißheit, daß alle Tanks hibernierende Menschen enthielten. Bickel hae vielleicht recht mit seiner Annahme, daß das Metallei eine geschickte Simulation war, aber das hier waren Tatsachen. Ich sollte hier durchgehen, um Bickel zu überraschen und aufzuhalten, dachte Timberlake. Woran sollte ich ihn hindern? Eine kaum hörbare Stimme am Rande seines Bewußtseins versicherte ihm, daß Bickels Treiben im Computerraum keine unmittelbare Gefahr für die hilflosen Schläfer in den Tanks darstellte. Er blickte zu den Tankreihen auf. Trotz allem funktionierte jeder einzelne Behälter vorschrismäßig, als ob das ganze System auf das kritische Optimum eingestellt wäre. Es war vorstellbar, daß sich ein Speicher des Computers der lebenswichtigen Teile des Schiffes angenommen hae und sie überwachte. Er glaubte fast die außerordentlich verlangsamten Oszillationen des Lebens ringsum zu spüren. Er fühlte sich plötzlich überaus müde, seine Muskeln schmerzten, und ihm war schwindlig. Er überlegte, ob sie das Problem der Bewußtseinsschaffung nicht zu wörtlich nahmen. Müssen wir Apparate einbauen, die es dem Ochsen gestaen, müde zu werden? fragte er sich. Wir fassen das alles zu eng … wie die Bauern, die den guten Geist um drei Wünsche bien. 155
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Vielleicht gefielen uns unsere Wünsche überhaupt nicht, wenn sie uns schließlich gewahrt würden. Etwas bewegte sich vor der nächsten Schowand – eine Gestalt in einem Raumanzug. Einen Augenblick lang dachte Timberlake, einer der Hibernierenden häe sich selbständig gemacht. Dann tauchte die Gestalt im Schein des kalten Lichtes auf, und Timberlake erkannte Flaerys Gesichtszüge hinter der beschlagfreien Helmscheibe. »Tim!« rief Flaery. Seine Stimme dröhnte aus den Anzugverstärkern. »Stimmt etwas mit deinem Anzugempfänger nicht?« fragte er und blieb vor Timberlake stehen. Timberlake musterte die Kontrollen bei seinem Kinn und stellte fest, daß die Lampe der Sprechanlage dunkel war. Ich hae sie nicht eingeschaltet, dachte er verwundert. Habe überhaupt nicht daran gedacht! Warum das? Flaery beobachtete Timberlake. Die Bewegungen des Mannes haen in den ersten Augenblicken eigentlich nicht zu Besorgnis Anlaß gegeben. Er konnte gehen und schien sich seiner Umgebung bewußt zu sein. »Alles in Ordnung, Tim?« fragte Flaery. »Natürlich, natürlich … alles in Ordnung.« Drei Wünsche, dachte Timberlake. Die drei S-Begriffe unserer Schulzeit – Sicherheit, Schlaf und Sex. Etwas berührte ihn an der Schulter, und ihm wurde bewußt, daß er das Öffnen des Schos gehört hae. Er wandte sich um und erblickte Bickel. »Hast du Lust auf ein wenig Arbeit, Tim?« fragte Bickel. »Ich brauche deine Hilfe.« Obwohl sich Bickel gelassen zu geben versuchte, spürte Timberlake, daß er sich Sorgen um ihn gemacht hae. Dabei weiß er doch sicher, warum ich hier unterwegs bin. Ich sollte ihn aualten. 156
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Im gleichen Augenblick erkannte Timberlake, daß sie sich irgendwie sehr nahe waren – die drei Männer, die hier beieinander standen: ein Kontakt der über die physische Nähe weit hinausging. »Was immer du da getan hast, Bick« sagte Timberlake. »Es hat keinerlei negative Wirkung auf die Hib-Tanks gehabt. Bei den Schläfern, die ich überprü habe, war alles in bester Ordnung.« Bei allen …« Bickel nickte. »Du hast also …« »Sieh‘s dir selbst an«, sagte Timberlake, der jetzt erkannte, daß Bickel seinen Verdacht geteilt hae. »Sie sind alle belegt.« Bickel schwang sich zur Leiter hinüber und wählte ausgerechnet den Tank des Peabody, Alan – K-7a. Langsam wanderte er dann an der K-Reihe der Tanks entlang und überzeugte sich, daß sie belegt waren. Schließlich ließ er sich wieder auf den Steg herab und kehrte zurück. »Alle?« fragte er und deutete auf die anderen Sektionen. »Der einzige leere Tank hat Prue gehört«, sagte Timberlake. »Prue!« rief Flaery. »Sie ist ganz allein in der KomZentrale!« Er betätigte die Außenkontrollen seines Sprechgeräts und schaltete auf eine andere Frequenz. Bickel blickte nach unten und sah, daß er seine Kontrollen nicht eingestellt hae. Er legte den Schalter um und hörte Prudences Stimme.« … bisher jedenfalls. Aber mir gefällt der Gedanke nicht, hier ganz allein zu sein, besonders, wenn wirklich mal was passiert.« Auch Bickel hat die Stille gesucht, dachte Timberlake. Er wollte einen Augenblick ganz allein sein. Flaery schaltete sein Sprechgerät wieder auf Lautsprecher und sah Bickel fragend an. »Sollten wir nicht wieder umkehren?« Daß die Tanks tatsächlich belegt sind, scheint Raj sogar noch mehr zu erleichtern als Tim, dachte Bickel. Warum? »Willst du die Tanks 157
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nicht noch selbst überprüfen?« »Ich glaube es auch so«, sagte Flaery. »Kannst du das?« Was soll das? fragte sich Flaery. Will er mich reizen? Timberlake hörte den verächtlichen Unterton in Bickels Stimme, und spürte, wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit verblaßte. Ohne eine physische Bewegung haen sich die Männer wieder voneinander entfernt. Zugleich erkannte Timberlake, daß er sich dabei auf Bickels Seite geschlagen hae. »Das ist keine Illusion«, sagte Flaery. »Und du bist bei vollem Bewußtsein«, sagte Bickel. Obwohl Flaery seine Wut unterdrückte, blieb ein bierer Geschmack zurück. Ich werde mich nicht reizen lassen, dachte er. »Natürlich bin ich bei Bewußtsein«, sagte er. »Ein ›Natürlich‹ ist mit der Frage des Bewußtseins nicht vereinbar«, höhnte Bickel. »Das Bewußtsein kann Illusionen – nicht greiare Stimulansobjekte – auf die Bühne seiner Bewußtheit projizieren.« Er deutete auf die Tanks. »Los, schau‘s dir an! Wir warten so lange.« »Nein«, sagte Flaery und versuchte sich an Bickel vorbeizudrängen. »Wohin willst du?« fragte dieser und hielt ihn am Arm fest. »Auf dem kürzesten Weg zurück in die KomZentrale – und zwar durch den Computerraum, wenn du nichts dagegen hast!« Flaery schüelte Bickels Hand ab. Timberlake starrte Flaery an, der jetzt die Schogriffe drehte, die Schleuse öffnete und in der nächsten Sektion verschwand. Flaerys Angst war nicht die Sorge um mein Wohlergehen, dachte Timberlake. Er fürchtet sich noch immer! Bickel nahm Timberlakes Arm und half ihm hindurch. Dann versiegelte er das Scho wieder. Flaery öffnete bereits den nächs158
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ten Durchgang. Wenig später erreichten sie die inneren Schleusen und die Tunnel, die unter den primären Computeranlagen zurück zur KomZentrale führten. Sie betraten den Wartungsraum und versiegelten den Durchgang hinter sich. Bickel warf seinen Helm zurück, und Flaery und Timberlake folgten seinem Beispiel, während Bickel bereits seine Handschuhdichtungen löste. Timberlake beobachtete Flaery, der die hervorspringenden Kästen und Schaltungen und verwirrenden Leitungsnetze des Ochsen betrachtete. »Unbegrenztes Rechennetz?« fragte Flaery. »Warum nicht?« erwiderte Bickel. »Du hast doch auch eins. Für den Ochsen müssen die gleichen Bedingungen gelten.« »Du kennst natürlich die Gefahren«, sagte Flaery. »Einige der Gefahren«, gab Bickel zu. »Es besteht die Gefahr, daß dieses Schiff zu einer einzigen gigantischen sensorischen Oberfläche wird. Seine Rezeptoren könnten eine uns unbekannte Verbindung eingehen und vielleicht unbekannte Energiequellen anzapfen.« »Ist das eine der offiziellen Theorien?« Flaery machte einen Schri auf den Ochsen zu. »Ehe du etwas Destruktives anstellst«, sagte Bickel und deutete auf das sinnvolle Durcheinander, das aus der Computerschaltwand ragte, »solltest du wissen, daß ich bereits bewußtseinsähnliche Reaktionen niedrigen Grades erziele – das System selbst aktiviert bereits verschiedene Sensoren. Es ähnelt einem Tier, das mit den Augen blinzelt – ein Temperatursensor hier, ein akustischer Sensor da …« »Das könnten auch Zufallsauslösungen sein, die auf die Schroteffekt-Stöße zurückzuführen sind«, sagte Flaery. »Nicht wenn Nervennetz-Aktivität jede dieser Reaktionen 159
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begleitet.« Timberlake starrte Bickel an. Bewußtseinsähnliche Reaktionen hat er gesagt. »Das Ding hier ist einfach zu simpel, um damit ein volles Bewußtsein zu erzielen«, gab Bickel zu. »Die meisten Schiffssensoren umgehen noch die Schaltungen des Ochsen. Auch die RoboxKontrollen sind nicht einbezogen, und er hat auch keinen …« »Einen Augenblick!« sagte Flaery. »Du gibst zu, daß dieser zielsuchende Mechanismus möglicherweise völlig außerhalb jeder Kontrolle steht, und bist trotzdem bereit, ihm Augen und Muskeln zu geben?« »Raj, im Endstadium muß dieses Gebilde das Schiff auf jeden Fall völlig in der Gewalt haben.« »Um uns sicher durch die große Leere und nach Tau-Ceti zu geleiten«, sagte Flaery. »Du nimmst also an, daß dies das Grundprogramm des Schiffscomputers ist?« »Ich nehme überhaupt nichts an. Ich habe mich davon überzeugt, daß das Grundprogramm stimmt.« Nach Tau-Ceti, dachte Flaery. Er wollte lachen und weinen zugleich. Er wußte nicht, ob er ihnen die Wahrheit sagen sollte – diese Narren! Aber … nein, das würde ihre Leistung herabsetzen. Es war wirklich am besten, wenn er das Spiel bis zum Schluß mitmachte. »Gut, John, aber trotzdem kannst du nicht jedes Ziel deines … Ochsen vorhersehen.« »Wenn wir ihm nicht alle Ziele von vornherein eingeben«, erwiderte Timberlake. Flaery brachte Timberlake mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das widerspricht aber eurem Endziel.« »Wir müßten natürlich jede mögliche Gefahr berücksichtigen«, stimmte Bickel zu. »Und eben weil sich nicht alle möglichen Gefahren vorherbestimmen lassen, brauchen wir ein Bewußtsein 160
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am Steuer unseres Schiffes – ein Bewußtsein, das seine Hände an allen Kontrollen hat.« Flaery versuchte einen Fehler in Bickels Gedankengang zu finden. Doch die Argumente waren allzu gla; sie erinnerten ihn an manche GMS-Sitzungen, an denen Flaery hae teilnehmen müssen: »Sie werden in einer sehr veränderten Umwelt einen Weg des Überlebens finden müssen. Denken Sie daran, daß sich nicht jede neue Gefahr vorhersehen läßt.« »Und Sicherungen funktionieren da natürlich nicht«, sagte Flattery. »Das ist doch das gleiche«, sagte Bickel. »Sicherungen funktionieren nur, wenn alle Gefahren bekannt und einschätzbar sind.« »Kannst du eine Beschädigung des Speicherkerns verhindern?« »Wir werden ihn absichern. Ich habe mit der Installation der Puffersysteme bereits begonnen.« »Das Schiff braucht ein Überlagerungsprogramm zur Überwachung«, sagte Flaery, »einen Befehl, uns sicher nach Tau-Ceti zu bringen – bist du absolut sicher?« »Das Kommando ist einwandfrei vorhanden.« »Wenn sich nun herausstellt, daß der Flug nach Tau-Ceti gefährlich ist?« Warum stellt er sich so an? überlegte Bickel. Bestimmt kennt er doch die Antwort auf diese Trage. »Das regelt eine einfache binäre Entscheidung. Wir geben dem Computer eine Umkehralternative ein.« »Ah«, sagte Flaery. »Stets der bestmögliche Zug, wie? Aber wir sind mien im Spiel mit der Königin – das hast du selbst gesagt. Was ist, wenn die Herzkönigin die Regeln verändert? Wir haben keine Alice in diesem Wunderland, die uns in die Wirklichkeit zurückführen kann.« 161
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Ein absichtlich schwacher Zug, der die theoretische Struktur des Spiels verändert, dachte Bickel. Das ist entschieden eine Möglichkeit. Er zuckte die Achseln. »Dann sind wir dem Henker ausgeliefert.« Timberlake räusperte sich. Er verspürte den übermächtigen Drang, Bickels Konstruktion zu inspizieren, die Schaltungen zu prüfen und festzustellen, warum sie die allgemeine Computerfunktion nicht beeinträchtigte. »Wenn wir auf das Problem mit der Herzkönigin stoßen«, sagte Timberlake, »stehen die Chancen des Schiffes unter der Kontrolle einer einfallsreichen, bewußten Intelligenz weitaus besser.« »Und was für ein Bewußtsein wäre das? Unsere Art von Bewußtsein?« fragte Flaery. Und das ist der springende Punkt, der ihm Sorgen macht, dachte Bickel. Man hat ihm offenbar übertragen, dafür zu sorgen, daß wir keine Mordmaschine auf das Universum loslassen. Die Homöostase einer Rasse mag durchaus von dem Gleichgewicht verschieden sein, das für den Tortbestand eines Individuums erforderlich ist. Aber wir sind hier draußen isoliert – eine ganze Rasse auf der Versuchsbank. »Wir müssen eine Maschine mit einer spezifischen Eigenscha bauen«, sagte Flaery. »Sie muß aus sich selbst heraus arbeiten, auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten, und kann nicht durch Entscheidungen von außerhalb gesteuert werden. Wir können nicht alles vorherbestimmen, was sie tut. Aber wir können teilweise ihre Gefühle bestimmen. Was wäre, wenn sie tatsächlich etwas für uns übrig häe? Wenn sie uns bewunderte oder gar liebte?« Bickel starrte ihn an. Das war eine herrliche, kühne Idee, eine Idee, die völlig im Einklang stand mit Flaerys Funktion als Geistlicher, mit seiner psychiatrischen Ausbildung und seiner Rolle als Beschützer der Menschheit. »Denkt euch das Bewußtsein doch als Verhaltensschema«, sagte 162
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Flaery. »Was hat zur Entwicklung dieses Schemas beigetragen? Wenn wir einmal zurückgehen …« Seine Stimme ging im Schrillen der Alarmglocken unter. Sie alle spürten das Rucken des Schiffes und die sofortige Gewichtslosigkeit, als der Sicherheitsschalter automatisch das Grav-System abschaltete. Bickel schwebte auf das Vorderende des Computerraums zu, packte eine Strebe, ließ sich herumschwingen und stieß sich in Richtung KomZentrale ab, riß das Scho auf, ließ sich durch die Öffnung gleiten und flog auf seine Couch zu. Hastig schnallte er sich fest und studierte die Instrumente. Tim und Flaery folgten ihm. Prudence nahm nur geringfügige Veränderungen an den Hauptkontrollen vor und beobachtete die Energieanzeiger. Bickel stellte fest, daß der Computer fast achtzig Prozent seiner Maximalenergie beanspruchte, und begann nach Brandherden und Kurzschlüssen zu suchen. Kokonverschlüsse schnappten, als Flaery und Timberlake ihre Positionen einnahmen. »Computerbelastung«, sagte Timberlake. »Strahlungsabfall in Lager vier«, sagte Prudence heiser. »Ständiger Temperaturanstieg hinter den Schos der zweiten Hülle – pendelt sich jetzt aber aus.« Sie gab ein Kontrollprogramm zur Überprüfung der Außenhüllen ein und beobachtete die Sensoren. Bickel, der die Hauptkontrollen von der anderen Seite beobachtete, sah sofort, was die flackernden Lichter bedeuten. »Wir haben ein Stück Außenschild verloren«, sagte er. »Und auch Hülle«, sagte sie. Bickel legte sich zurück, stellte seinen Zweitschirm auf die Sensoren ein und begann in das angezeigte Gefahrengebiet einzudringen. »Du behältst die Kontrollen im Auge – ich sehe mich mal 163
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um.« Er schaltete einen Sensor nach dem anderen ein und rückte dabei immer weiter nach draußen vor; im gleichen Rhythmus flackerten Bilder über den kleinen Schirm am Rande seiner Kontrollen. Auf halbem Wege durch Lager vier sah er plötzlich die Sterne. Die Sensorenaugen zeigten Schaum, der aus den Hüllensicherungsautomaten vor ein großes ovales Loch gespritzt wurde. Aus dem Augenwinkel verfolgte Flaery, wie Bickel eine Mikroüberprüfung des Lochrandes durchführte. »Sieht aus wie mit dem Messer herausgeschnien«, sagte er. »Gla und gleichmäßig.« »Meteorit?« fragte Timberlake und unterbrach seine Kontrolle der Hib-Tanks. »Es hat keine Hitzeverschmelzung an den Rändern oder Reibungshitze gegeben«, sagte Flaery. Er nahm die Hände von den Kontrollen und dachte an die Insel im Pugetsund. Ein wildes Bewußtsein. Fängt das hier auch schon an? »Was häe einen solchen Schni durch Außenschild und Metallhülle machen können, ohne sie mindestens auf halbe Sonnenhitze zu bringen?« fragte Bickel. Niemand antwortete ihm. Bickel sah zu Flaery hinüber, bemerkte dessen bleiches, angespanntes Gesicht und dachte: Er weiß Bescheid! »Raj, was häe eine solche Wirkung ausüben können?« Flaery schüelte den Kopf. Bickel fixierte das lasergetragene Zeitlog seiner Kontrollen, versuchte sich an einer Positionsschätzung, notierte die Sendeverzögerung zum GMS, schwenkte den Sender heran und stellte die SÜ-Kodierung ein. »Was machst du da?« fragte Flaery. »Wir sollten schleunigst Meldung machen«, sagte Bickel. Er begann die Übermilung vorzubereiten. 164
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»Das Grav-System scheint in Ordnung zu sein«, sagte Prudence und betätigte den Schalter. Die normale Viertelschwerkra des Schiffes setzte ein. Timberlake öffnete seinen Kokon und richtete sich auf. »Wohin willst du?« fragte Prudence. »Ich gehe mal raus und sehe mich um«, erwiderte Timberlake. »Irgendeine Kra reißt ein Stück Schiffshülle heraus, ohne Nebeneffekte zu bewirken. So etwas gibt es ja überhaupt nicht! Das muß ich mir ansehen.« »Du bleibst, wo du bist«, sagte Bickel. »Es könnten sich Frachtstücke losgerissen haben.« Timberlake dachte daran, daß Maida von herumfliegenden Frachtkisten zu Tode gequetscht worden war. »Was soll die unbekannte Kra daran hindern, uns das nächstemal mien durchzuschneiden?« fragte Prudence. »Wie ist unsere Geschwindigkeit, Prue?« fragte Timberlake. »C über eins fünf zwei sieben konstant.« »Hat uns … das Unbekannte irgendwie verlangsamt?« fragte Flaery. Prudence machte einen Vergleichstest. »Nein.« Timberlake schüelte den Kopf. »Ein Phänomen mit NullAufprall übt eine Kra aus, die unendlich ist? Das ist kinetisch unmöglich!« Bickel drückte auf den Sendeschalter und sah zu Timberlake hinüber. »Hat das Universum mit Gamows ›großem Knall‹ begonnen, oder stehen wir in Hoyles ›ständiger Schöpfung‹? Könnte es nicht sein, daß beide …« »Das sind doch nur mathematische [Spielereien, die nichts beweisen!« sagte Prudence. »Sie beweisen die ursprüngliche Macht der Genesis«, flüsterte Flaery. 165
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»Da wärst du also wieder beim Thema, Raj«, klagte Prudence. »Du versuchst deine Mathematik immer so hinzubiegen, daß sie die Existenz Goes beweist.« »Hat Go uns zu treffen versucht?« fragte Timberlake. »Willst du das behaupten, Raj?« »Ihr müßtet es eigentlich besser wissen – unter diesen Umständen«, erwiderte Flaery heig. Wenn die Nachricht im GMS eintri, weiß man sofort, daß wir das Stadium wilden Bewußtseins erreicht haben. Eine andere Interpretationsmöglichkeit gibt es nicht. »Vielleicht handelt es sich um irgendein Phänomen, das es nur hier draußen im Saturnbereich gibt«, sagte Bickel. »Vielleicht ein Feldeffekt, möglicherweise von Druckwellen, die in der solaren Konvektionszone entstanden sind. Das Universum enthält viele Oszillationsbewegungen! Vielleicht sind wir auf eine neue Kombination gestoßen.« »Hast du das dem GMS angedeutet?« fragte Flaery. »Ja.« »Wenn das Ganze nun doch keine mathematische Spielerei wäre«, sagte Timberlake, »könnten wir dann eine Wahrscheinlichkeitskurve eingeben, um die Grenzen eines solchen hypothetischen Phänomens vorherzusagen?« Bickel hob die Hände von der SÜ-Tastatur und überlegte. Er hae das Gefühl, daß sich ein solches Programm in Matrixfunktionen ausdrücken ließ. Die Sache ähnelte irgendwie ihrer Jagd auf den Bewußtseinsfaktor – dem Versuch, mit völlig unzureichenden Daten ein überaus kompliziertes System nachzuvollziehen. Trotzdem war ihm der Rechenweg irgendwie klar, und er versuchte sich an einer Aufgabe, die er in Sekundenschnelle im Kopf abwickelte. Nach Abschluß des Rechenvorgangs zögerte Bickel einen Augenblick und kostete das Erlebnis aus, das etwas völlig 166
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Neues für ihn darstellte. Er hae aus dem Gedächtnis einen Programmierungs-Simulationsvorgang vollzogen und nach Prüfung auch die Ergebnisse im Kopf eingefügt. Das war eine Leistung, die er sich niemals zugetraut häe. Aber seine seltsame Stimmung hae noch andere Gründe. Er fühlte sich plötzlich sehr stark und mächtig. Die geistige Anstrengung hae ihn in ein Überbewußtsein erhoben – entspannt und doch bereit, im vollen Bewußtsein seines physischen und psychischen Zustands. Die Empfindung begann nachzulassen. Bickel spürte das Schiff und den Druck, den es in vielfältiger Weise auf ihn ausübte – die ständige kompakte Bewegung der Materie, die von der Sonne fortstrebte. Das ganze Erlebnis hae kaum eine halbe Minute gedauert. Bickel bedauert es, daß das Gefühl nachließ. Er spürte, daß er etwas unendlich Kostbares erlebt hae. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er sich mit einer gewaltigen Last abschleppte, und diese Erkenntnis erfüllte ihn mit plötzlicher Angst. »Hältst du so ein Programm für möglich?« drängte Timberlake. »Programmieren hat keinen Sinn mehr!« murmelte Bickel zornig. »Wir können die Variablen nicht beschränken!« Er wandte sich wieder den SÜ-Kontrollen zu und begann mit energischen Bewegungen seine Nachricht einzugeben. Prudence starrte auf die Hauptkontrollen und wunderte sich über Bickels plötzliche Wut; im Grunde war ihr dieser Gedanke nur Entschuldigung, sich nicht mit der Katastrophe beschäigen zu müssen. Aber das Problem löste sich nicht von selbst. Der Schaden war von außerhalb des Schiffes verursacht worden. Durch das ganze Metallei war – wenn auch erst hinterher – ein 167
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schwacher Ruck gegangen. Die Warnsignale waren rot und gelb aufgeflammt. Das Rucken war auf die plötzliche Energiebeanspruchung und die umfangreichen Umschaltungen zurückzuführen, die eine automatische Schadenskontrolle mit sich brachte. Etwas von außerhalb war wie ein Rasiermesser in das Schiff gefahren, als bestünde es aus Buer. Nein – das Gebilde mußte unendlich schärfer gewesen sein als ein Rasiermesser. Etwas von außerhalb. Sie hob eine Hand vor das Gesicht. Hier haen sie es einwandfrei mit etwas zu tun, das über die einprogrammierten Gefahren hinausging. Etwas aus der unendlichen schwarzen Leere war mit ihnen zusammengeprallt. Ihr fielen plötzlich Seeungeheuer ein, mit denen die uralten Seekarten der Erde bemalt waren – zwöleinige Drachen und humanoide Gestalten Raubtierrachen in der Brust. Etwas hae das Metallei getroffen. Sie führte noch eine visuelle Kontrolle ihrer Instrumente durch und stellte fest, daß die Schadensautomaten Lager vier inzwischen fast völlig mit Schaumdichtung ausgekleidet haen. Die Sektionsschoe waren zwei Schichten dick um das Schadensgebiet abgeriegelt. Was das Unbekannte auch gewesen war – es hae sich nur eine dünne Scheibe abgeschnien … dieses Mal. Bickel drückte den Sendeschalter. Der Raum füllte sich mit dem Summen des Lasergenerators, der sich anschickte, die Informationsstöße auf den Weg zu bringen. »Man wird das ebensowenig begreifen wie wir«, sagte Timberlake. »Der GMS verfügt über einige der Spitzenleute in der Partikelphysik«, sagte Bickel. »Vielleicht können die das für uns lösen.« »Ein Neutrino-Phänomen?« fragte Timberlake. »Unsinn! Man 168
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wird behaupten, wir häen die Anzeigen falsch gedeutet.« »Es wird Zeit für meine Wache«, sagte Flaery. »Prue?« Flaerys Worte ließen ihr bewußt werden, wie müde sie war. Der Rücken tat ihr weh, und ihre Arme zierten. Sie mutete ihrem Körper zuviel zu – mit den langen Wachen, mit der zusätzlichen Arbeit im Computerraum und mit den Versuchen, bei denen sie sich als Versuchskaninchen zur Verfügung stellte. Aber das Adrenochrom erwies sich als schwierig. Es wollte die Blutbarriere im Gehirn nicht überspringen und sich nicht mit neutralem Gewebe verbinden – solange sie sich keine fast tödliche Dosis einzugeben wagte. Wenn sie nur die niedrigen Strukturen des Gehirns hemmen könnte, um die höheren zu voller Aktivität anzuregen – dann konnte sie Bickel die nächsten Schrie bereits in Form elektronischer Funktionen darlegen. »Bereit zur Abgabe der Kontrollen, Prue?« fragte Flaery. »Auf Zählung«, sagte sie. Die Hauptkontrollen schwenkten herum. Flaery überflog die Instrumente und bereitete sich darauf vor, auf die Stimmung des Schiffes einzugehen. Das Metallei hat wahrhaig Stimmungen. Manchmal kam es ihm vor, als wäre das Schiff von Gespenstern heimgesucht – von den Geistern der Männer, die während der Bauzeit auf dem Mond und hier an Bord getötet worden waren. Haen die körperlosen Gehirne eine Seele? fragte sich Flaery. Und überhaupt – wenn wir dieser Maschine ein Bewußtsein einhauchen, hat unsere Schöpfung dann eine Seele? »Sind die Automaten mit dem Abdichten des Lecks fertig?« fragte Bickel. »Alles wieder abgedichtet«, sagte Flaery. Und er fragte sich: Wann schlägt das wilde Bewußtsein zum zweitenmal zu? »Was haen wir eigentlich in Lager vier?« fragte Prudence. 169
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»Was haben wir verloren?« »Nahrungskonzentrate«, erwiderte Bickel. »Habe mich sofort darum gekümmert.« Sein Tonfall ließ erkennen, daß das seiner Meinung nach Prudences Sache gewesen wäre. »Raj, möchtest du, daß wir die Wachen doppelt besetzen?« fragte Timberlake. »Wenn ich mich etwas ausgeruht habe …« »Wenn du dich etwas ausgeruht hast, kannst du mir drüben beim Computer helfen«, sagte Bickel. Flaery ließ seinen Blick von Bickel zu Timberlake wandern und fragte sich, wie der Schiffsingenieur auf diese Zurechtweisung reagieren würde. Timberlake hae die Augen geschlossen. Sein Gesicht war von Müdigkeit gezeichnet. »Du willst sofort weitermachen, wie?« fragte Prudence. »Du meinst nicht, daß wir erst die Schlußfolgerungen Hempsteads abwarten sollten?« »Was uns da getroffen hat, ist von draußen gekommen«, sagte Bickel. »Haben wir gerade beschlossen, ihn auch künig einfach so«, Prudence schnippte mit den Fingern, »wie einen Verrückten am Computer herummodeln zu lassen?« »Um Himmels willen!« sagte Bickel. »Hat denn von euch hier keiner erkannt, daß der Computer von vornherein als unsere Arbeitsunterlage bei der Problemlösung gedacht war?« Bickel sah sich um. Flaery war an den Kontrollen beschäigt, Timberlake schien auf seiner Couch eingeschlafen zu sein, und nur Prudence musterte ihn wachsam. »Das ist kein gewöhnlicher Computer. Er hat Elemente, die wir nur ahnen können. Er war während der fast sechsjährigen Konstruktions- und Programmierzeit dieses Schiffes an ein Organisches Gehirn-Zentrum angeschlossen. Er hat Puffersysteme und Leitungen und Kreuzverbindungen, von denen selbst die Kon170
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strukteure keine Ahnung haben!« »Willst du damit sagen, daß er bereits ein Bewußtsein hat?« fragte Prudence. »Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich will nur sagen, daß uns die Benutzung des Computers und unseres Stirnlappen-Simulators, des Ochsen, sehr genützt hat. Auf diese Weise haben wir mehr erreicht als das GMS-Projekt in zwanzig Jahren! Und wir würden sicher noch mehr Erfolge erzielen. Wir setzen uns geradlinig über alle anderen …« »In der Natur gibt es keine Geradlinigkeit«, sagte Flaery. Bickel seufzte. Was noch? fragte er sich. »Wenn du etwas zu sagen hast, raus damit!« »Das Bewußtsein ist ein Verhaltensschema«, sagte Flaery. »Einverstanden.« »Aber die Wurzeln unseres Verhaltens liegen so tief in der Vergangenheit vergraben, daß wir auf direktem Wege nicht an sie herankommen.« »Willst du wieder auf die Gefühle hinaus?« fragte Bickel. »Nein«, erwiderte Flaery. »Instinkte«, sagte Prudence. Flaery nickte. »Das genetische Erbe, das einem Küken sagt, wie es aus dem Ei herauskommt.« »Gefühle oder Instinkte – wo liegt da der Unterschied?« fragte Bickel. »Gefühle werden durch Instinkte hervorgerufen. Willst du etwa immer noch behaupten, daß wir dem Ochsen kein Bewußtsein eingeben können, solange er keine Instinkte und keine Gefühle hat?« »Du weißt genau, was ich meine«, sagte Flaery. »Das Ding muß uns lieben«, sagte Bickel. Er biß sich auf die Lippe. Wieder beeindruckte ihn die großartige Einfachheit dieser Idee. Flaery hae natürlich recht. Hier lag ein freies Element, das 171
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die Sicherungsbedürfnisse erfüllen konnte. Es fügte sich harmonisch ein und übte eine Kontrollfunktion aus. »Die ganze Anlage braucht ein automatisches System von Gefühlsreaktionen«, sagte Flaery. »Sie muß mit einem Spektrum physischer Effekte reagieren können – ähnlich unseren charakteristischen Muskelreaktionen und Stimmlagen, mit denen wir unsere Gefühle anzeigen.« Gefühl, dachte Bickel. Die Eigenscha, die uns unser Ichsein deutlich macht, in der alles persönliche Abwägen gipfelt. »An uns gibt es nichts, das wir mit einer gewissen Objektivität beurteilen könnten«, sagte Bickel, »mit Ausnahme unserer eigenen physischen Reaktionen. Das hat Dr. Ellers immer gesagt.« Flaery erinnerte sich an Dr. Ellers, den Leiter der Psychologischen Abteilung des GMS. »Bickel ist die Zielstrebigkeit in Person, ist die Kra, die unserer Suche eine Richtung geben wird«, hae Ellers gesagt. »Es gibt natürlich Ersatzleute für ihn, denn Unfälle kommen immer vor. Aber im Grunde ist Bickel unersetzbar.« Und Bickel dachte: Gefühl. Wie stellen wir das in Symbolen und Programmen dar? Was tut der Körper? Wir stecken in ihm und stehen in direktem Kontakt mit seiner Tätigkeit. Das ist der einzige Tatbestand, den wir objektiv betrachten können. »Wir brauchen ein komplees funktionelles Körpersystem«, sagte Bickel, dem es plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. »Das Ding muß einen Körper haben, der Traumata und Krisen durchgemacht hat.« Er starrte Flaery an. »Auch Schuldgefühle, Raj. Es muß auch Schuldgefühle haben.« »Schuldgefühle?« fragte Flaery und überlegte, warum dieser Gedanke ihn aurachte und auch ein wenig ängstigte. »Wie das?« fragte Prudence. »In Programmbegriffen ausgedrückt«, sagte Bickel, »müssen wir Sprungfunktionen und innere Alarmsysteme einbauen, die die 172
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Abläufe entsprechend der funktionellen Bedürfnisse des ganzen Systems unterbrechen.« »Schuldgefühle sind künstliche Gefühle – sie haben nichts mit dem Bewußtsein zu tun«, wandte Flaery ein. »Angst und Schuld sind verwandte Dinge. Es gibt keine Schuld ohne Angst.« »Aber es gibt Angst ohne Schuld«, sagte Flaery. »Wirklich?« fragte Bickel. Und er dachte: Das Kain-und-AbelSyndrom. Wo hat unsere Rasse das nur aufgelesen? »Nicht so schnell«, sagte Prudence. »Willst du damit andeuten, daß wir … daß wir dem Ochsen Angst eingeben sollen?« »Ja. Unser Geschöpf hat bereits ein großes und schnelles Gedächtnis«, sagte Bickel. »Es hat außerdem ein beständiges Gedächtnis, und ich möchte ween, daß es darin sogar ein abgeschirmtes Eckchen hat, das auch mit Illusionen zur Verfügung stehen könnte, wenn sie für die Erhaltung des Systems erforderlich wären.« »Aber Angst!« sagte Flaery. »Das ist die andere Seite deiner Münze, Raj. Du willst, daß uns das Ding liebt? Gut. Liebe ist doch eine Art Bedürfnis, nicht wahr? Ich bin gern bereit, dem Ding ein Bedürfnis auf externe Programmanstöße einzugeben – das sind wir, du verstehst. Ich lasse Lücken offen, die nur wir ausfüllen können. Das Ding wird also Gefühle haben, aber Gefühle aller Schaierungen. Und das Gefühlsspektrum schließt die Angst mit ein.« Schuld und Angst, dachte Prudence. Raj muß sich damit abfinden. Seine Ausbildung läßt ihn nicht darum herumkommen. »Freude und Schmerz«, knurrte Bickel. Erkennen Sie auch, daß der Ochse in der Lage sein muß, sich fortzupflanzen? Prudence spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte, und wandte sich von Bickel ab. Die chemischen Experimente, die sie an sich 173
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selbst vollzog, machten ihr die eigenen Körperfunktionen plötzlich in aller Deutlichkeit bewußt, und dieses neue Bewußtsein bedeutete, daß sie einen chemischen Ausgleich brachte. »Nun, Raj?« fragte Bickel. Ich muß mich zusammennehmen, dachte Flaery und wandte sich wieder seinen Kontrollen zu. Ich muß mich ganz ruhig und natürlich geben. Sein Blick mied die falsche Deckplae vor sich, unter der Tod und Vernichtung lauerten. Bickel reagierte schon auf die geringfügigsten Hinweise. Flaery überflog die Kontrollen. Es schien alles bestens zu laufen – alle Symptome funktionierten. Und doch spürte Flaery eine seltsame Spannung – wie ein Tier, das auf den Schri des Jägers lauert. Freude und Schmerz. Das müßte natürlich gehen: die allmähliche Orientierung zu einem Ziel hin, dann das Fortnehmen … Einmischung … Verfremdung … Trustration … Bedrohung. »Ich gehe wieder in den Computerraum«, sagte Bickel. »Jetzt ist ja so ziemlich alles klar, wie?« »Dir vielleicht«, sagte Flaery. »Es gibt kein Zurück mehr«, sagte Prudence und hoe, daß Flaery den eigentlichen Sinn ihrer Bemerkung verstand. »Mach ruhig weiter«, sagte Flaery. »Bastele deine NervennetzSimulatoren zusammen. Aber wir sollten noch einmal gehörig in uns gehen, ehe wir dein System mit dem Computer verbinden.« Bickel starrte ihn nur an. »Du kennst die Gefahren«, sagte Flaery. Bickel spürte ein Hochgefühl in sich aufsteigen – die freudige Erkenntnis, daß irgendein Damm in seinem Inneren gebrochen war. Das Schiff, seine lebendigen Organismen, seine Probleme – das alles glich Marioneen. Der Weg war ihm jetzt klar. Er hae die Schaltungen förmlich vor Augen, wie aufeinandergeschichtete Diapositive. 174
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Eine vierdimensionale Konstruktion, überlegte er. Wir müssen ein komplexes Netz errichten, das nichtsynchrone Sendungen absorbieren kann. Das Wichtigste ist hierbei die Struktur – nicht das Material. Hier liegt der Schlüssel zu dem ganzen Problem! »Prue, gehst du mir mal ein bißchen zur Hand?« fragte Bickel. »Wir brauchen eine primäre Oversend-Kupplung für jede Blockgruppe. Diese Aufgabe fällt dir zu, während ich die wichtigsten Blocksysteme baue.« Als wären die Worte in ihrem Gehirn aufgestaut worden und häen nun plötzlich einen Damm des Begreifens durchbrochen, erkannte sie Bickels Absicht. Er wollte in ständigem Fluß eine Datenlast in ein beträchtlich ausgeweitetes Ochse-Computer-Netz eingeben. Er wollte – wie auf eine Filmleinwand – ein gigantisches Gebilde in den Computer projizieren, einen fast unendlichen Psychoraum. Bickel nickte. Die Möglichkeiten waren überwältigend. Sie gestaeten den Bau völlig neuer Computer, die in Größe und Kompliziertheit mindestens im Verhältnis tausend zu eins reduziert waren. Aber noch wichtiger waren die Erkenntnisse, die ihm über seine eigenen Psychoräume und ihre Funktion bei der Abstraktion vermielt wurden – über die Nervenzellenstimulation seines eigenen Körpers und die Art und Weise, wie daraus spürbare Einzelwerte reduziert wurden. Das Denken in diesen Kategorien brachte ihn an eine neue Schwelle. Ein geringer Druck, eine kleine Anstrengung genügten, um ihn – das wußte er bestimmt – in ein Bewußtsein vordringen zu lassen, wie er es noch nicht erlebt hae. Er ging auf den Durchgang zum Computerraum zu, wandte sich aber noch einmal um und sagte: »Raj, wir sind nicht bei Bewußtsein.« »Was sagst du da?« fragte Timberlake. »Wir sind nicht bei Bewußtsein«, wiederholte Bickel. 175
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Wir sind nicht bei Bewußtsein. Während seiner Wache kamen Flaery immer wieder diese Worte in den Sinn. Er teilte seine Aufmerksamkeit zwischen den Kontrollen und dem großen Schirm, auf dem er Prudence und Bickel bei der Arbeit beobachten konnte, und spürte, wie das Schiff in seiner Vorstellung eine neue, seltsame Identität anzunehmen begann. Es kam ihm vor, als wären er und die anderen nur Zellen in einem größeren Organismus, als wären die Skalen und Meßinstrumente, die Sensoren und das allgegenwärtige Bordsprechgerät nur Sinne und Nerven und Organe eines völlig anderen Wesens. Wir sind nicht bei Bewußtsein. Wir weichen diesem Gedanken immer wieder aus, überlegte Flaery. Bickels Stimme: »Prue, hier liegt die Hauptleitung zur Aufnahme der negativen Gegenkoppelung. Geh dem Farbkode nach und stell da drüben eine Verbindung her. – Hier ist die Dämpfschaltung. Wir müssen aufpassen, daß wir die neutralen Willkürschaltungen nicht durch Oszillationen stören.« Prudence: »Der menschliche Schädel umschließt etwa fünfzehn Milliarden Neuronen. Ich habe von unseren Blöcken und dem Computer extrapoliert – in diesem … Ding kommt mehr als das Doppelte zusammen!« Bickel: »Stell dir einfach eine Schwelle vor, die nur bestimmte Kräe überwinden können. Es handelt sich um Kräe, wie wir sie in der Entropie finden – oder um Kräe der sich fortpflanzenden Variabilität, die wir Leben nennen. Entropie auf der einen, Leben auf der anderen Seite. Beide überwinden die Schwelle mit einem bestimmten Maß von Einwirkung. Wenn ein Element durchkommt, aktiviert es den Bewußtseinsfaktor.« Prudence: »Und was wäre das – ein Homöostat oder Filter?« 176
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Bickel: »Beides.« Flaery sah das Schiff plötzlich als Ganzes, sah die gewaltige Maschine, deren Fortbestand ein bestimmtes Optimum an Organisation erforderte – einen Ordnungsprozeß. Der hae gewiß auch mit der Entropie zu tun, weil das totale System eines Schiffes dazu neigte, sich in einer uniformen Verteilung seiner Energien auszupendeln. Auf das Schiff bezogen, ist Ordnung ein natürlicherer Zustand als Chaos, dachte Flaery. Aber wir spielen mit dem Schiff herum, als wären seine Teile ein Orchester und Bickel der Dirigent. Bickel allein verfügt über die Partitur, durch die wir die gewünschte Musik erzielen. Bickel: »Ich sage dir, Prue, das Bewußtsein muß etwas sein, das dem Zeitstrom, in den es eingebeet liegt, entgegenfließt.« Prudence: »Da bin ich mir nicht so sicher. Wenn eine Zellengruppe Energie abgibt, entsteht ein Impuls. Der Impuls teilt sich und bildet ein vielfältig verästeltes Gebilde mit einem einzelnen Wurzelstiel – in den Nervennetzen, im umgrenzenden Raum. Der Stiel umfaßt natürlich die ursprüngliche Energieabgabe, und die Übermilung weitet sich durch den vierdimensionalen Raum aus – der auch die Zeit einschließt.« Bickel: »Und das Bewußtsein ist wie ein Boot, das sich diesem Strom entgegenstellt.« Prudence: »Entgegen? Natürlich mußt du den Zeitfaktor in das Diagramm einbeziehen, aber die Energieabgabe und die Verzweigung gleichen einem komplizierten Körper, der mit der Zeit läu – wie die Adern in einem vierdimensionalen Bla.« Bickel: »Nimm zum Beispiel das SÜ-System des Schiffes. Das Ding nimmt Hunderte von Duplikaten einer einzigen Sendung auf, die in einem komprimierten Laserstoß übermielt worden sind – da hast du deine Energieabgabe –, und verlangsamt sie, vergleicht sie, bricht die Fehlerverästelungen ab und gibt die über177
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setzte und berichtigte Nachricht weiter.« Prudence: »Aber das Bewußtsein tri erst auf den Plan, wenn die Nachricht ihren menschlichen Empfänger erreicht.« Bickel: »Negative Gegenkoppelung, Prue. Der Ausgabe angepaßte Eingabe. Wenn im System etwas versagt, nimmt der Mensch eine Reparatur vor – so wie er auch den Staudamm eines Flusses repariert, um einen Teil der Strömung aufzufangen.« Prudence: »Ist das Bewußtsein eine Art negative Rückkoppelung?« Bickel: »Ist dir jemals der Gedanke gekommen, Prue, daß die negative Gegenkoppelung der schlimmste Perfektionist im Universum ist? Sie läßt ein Versagen nicht zu. Sie ist dazu bestimmt, das System innerhalb gewisser Grenzen funktionell zu erhalten, wie groß die störende Einwirkung auch sein mag – selbst wenn es sich um einen unbekannten Faktor handelt.« Prudence: »Aber … diese Ochsen-Schaltungen … du hast absichtlich Fehler eingegeben, die nicht …« Bickel: »Warum nicht? Alle unsere konventionellen Vorstellungen von der Gegenkoppelung setzen eine gewisse Uniformität der Umgebung voraus. Aber wir leben in einem vielgestaltigen Universum, Prue. Das Nichts da draußen läßt sich nicht bis in alle Einzelheiten vorherbestimmen.« Ordnung im Gegensatz zum Chaos, dachte Flaery. Bickel lag auf dem Rücken unter dem wuchernden elektronischen Gebilde und arbeitete. Wir sind nicht hei Bewußtsein. Immer wieder gingen Flaery Bickels Worte durch den Sinn. O Go! Wie einfach es wäre, jetzt Schluß zu machen! Er saß doch an den Kontrollen. Einer der Auslöser war nur wenige Zentimeter entfernt. Wer erfuhr schon davon? Das Schiff würde untergehen – und das Problem häe ein Ende. Sollte der GMS ruhig noch einmal von vorn anfangen – mit ande178
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ren. Aber das war das Problem: Man würde es noch einmal versuchen, aber nicht mit anderen Leuten. Die gleiche elende Scharade – immer wieder und wieder und wieder. Schaut euch Prue an, dachte er. Sie hat ihre Anti-S-Injektionen aufgegeben. Sie experimentiert mit ihrem Körper herum. Bald wird sie sich vor Bickel produzieren. Und er sieht in ihr nur die Expertin. Sie leistet aber auch wirklich gute Arbeit. Bickel: »Es kommt auch sehr auf die Illusion an. Illusion – das ist der Puffer, das ist die Schutzschicht, die es möglich macht, daß praktisch unvereinbare Systeme miteinander ins Be gehen.« Prudence; »Wo hast du die Rolle mit Neutronenfibern?« Bickel: »Im zweiten Regal, am linken Ende der Werkbank. Oder denk mal an die Mielpunktsillusion in der Psychologie.« Prudence: »Das ist eine natürliche Folge der unbedingten Abhängigkeit eines Babys von seiner Umgebung. Ein Baby ist der Mielpunkt des Universums. Die Erinnerung daran geht uns niemals verloren.« Bickel: »Nun, individuelle Sinneseindrücke sind vielleicht mit Kieseln vergleichbar, die man in einen vierdimensionalen Teich wir. Das Bewußtsein folgt den Wellen, die von diesen Kieseln erzeugt werden, und gibt ihnen eine räumliche und zeitliche Integration, so daß sie interpretierbar werden.« Räumlich-zeitliche Integration, dachte Flaery. Dem Wesen, das dieses Schiff war, dem Metallei, fehlte im Augenblick noch die Fähigkeit der Integration. Anstelle einer wirksamen selbstregulierenden Kra behalf es sich mit einer unzureichenden Gegenkoppelung in Form vierer Menschen, die lose mit seinen ›Nervensystemen‹ verbunden waren. Aber es gab auch einen Augenblick in der Zukun des Schiffes, da die Defekte die Ausgleichsmöglichkeiten der Menschen überstieg. Die Menschen versagten. Flaery konnte sich des Gefühls der Verbierung gegenüber 179
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der Gesellscha nicht erwehren, die dieses zerbrechliche Gebilde in das Nichts hinausgeschickt hae. »Stellen Sie sich die Gesellscha als eine menschliche Konstruktion, als einen hochempfindlichen Verteidigungsmechanismus vor«, hae Hempstead gesagt. »Die Regeln der Gesellscha werden durch einen Auswahlprozeß in die einzelnen Zellen vererbt. Und diese Regeln werden zu einem Teil der selbstregulierenden Gegenkoppelung im Steuersystem der Gesellscha. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Trage, ob ein Mensch tatsächlich aus seinem selbstregulierten Schema ausbrechen kann. Dieser Trage könnte man aber nur mit extremen Methoden nachgehen.« Die Folgerung, die hieraus zu ziehen war, lautete: »Das individuelle menschliche Erleben stellt nicht den allesüberlagernden Steuerfaktor menschlichen Verhaltens dar, sondern das gesellschaliche Zellenverhalten ist entscheidend.« Flaery hieb mit den Knöcheln gegen die Kante seiner Steuercouch, um sich von seinen Träumereien zu lösen. Er konzentrierte sich auf die Kontrollen und sah, daß er die üblichen Temperaturkorrekturen vornehmen mußte. Bickel: »Sieh dich bei der Einstellung des Zeitrelais vor, sonst bringst du die psychologische Gegenwart des Ochsen durcheinander.« Prudence: »Die was?« Bickel: »Seine psychologische Gegenwart – seine ›speziöse Gegenwart‹ –, was man im jeweiligen Augenblick erlebt, das kurze Intervall, das du das letzt nennst. Professor Ferrel – du erinnerst dich doch noch an den alten Ferrel? Wir waren einmal an Bord des Satellitenbeobachters – er auf seiner Seite der sterilen Wand und ich auf der unsrigen. Und er sagte: ›Sehen Sie, wie sich das Ding bewegt!‹ Er deutete auf ein Schiff, das von der Erde heraufkam und fuhr fort: ›Sie wissen ganz sicher, daß das Schiff überaus 180
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schnell seine Position verändert. Aber Sie scheinen alle diese Positionsveränderungen eben in diesem Augenblick zu sehen – in der Gegenwart. Ohne heiges Rucken – nur als Fluß. Das ist die »speziöse Gegenwart«, mein Junge. Daß Sie das niemals vergessen.‹ Und ich hab‘s nicht vergessen.« Prudence: »Wird der Ochse tatsächlich ein Zeitgefühl haben?« Bickel: »Das ist unumgänglich. Die Zeitrelais müssen ihm die Möglichkeit geben, eine innere Zeitmessung vorzunehmen. Er muß die Zeit selbst spüren – sonst wäre er nur ein hilfloser Schrohaufen.« Prudence: »Das … Jetzt.« Bickel: »Wenn du darüber nachdenkst, wirst du erkennen, daß wir kein unmielbares Zeiterleben kennen. Wir nehmen sie nur in größeren Abschnien auf. Aber die wirkliche Zeit, die muß etwas Allmähliches, etwas Fortschreitendes sein, eine sane Veränderung vor dem Hintergrund einer Meßkonstante. Die entfernteren Teile einer speziösen Gegenwart werden zwangsweise ebenso verblassen wie bei uns. Die Vergangenheit muß naturgemäß weniger intensiv sein als das, was gerade über den Horizont herankommt. Der Ochse braucht eine ständige ›Ausblendung‹ – sonst wäre er nicht in der Lage, zeitnahe Punkte von zeitfernen Punkten zu unterscheiden.« Entropie, dachte Flaery. Eine Zeitrichtung. Er rief sich ein Bild vor Augen: zwei Wasserstrahlen, von denen einer die Entropie und der andere den Probabilismus darstellte, der Leben genannt wurde. Im Gleichgewicht zwischen den beiden hielt sich das Bewußtsein – wie ein Ball auf einem Springbrunnen. Das Ganze ist so einfach, dachte Flaery. Aber wie stellt man es künstlich her, wenn man nicht Go ist? Bickel: »Moment mal! Du darfst die Schicht nicht anschließen, 181
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ehe du deinen Reduktionstest gemacht hast.« Prudence: »Die treibst die Vorsicht zu weit.« Bickel: »Das Leben ist eine sehr heikle Sache. Ein Irrtum in den Reduktionsschaltungen könnte die ganze Sache zum Scheitern bringen. Vergiß nicht, daß der Ochse komplizierte Eingaben bewältigen und sie durch immer einfacher werdende Integrationssysteme herabfiltern muß, bis er schließlich die Ergebnisse in Form von Symbolen vorliegen hat. Denk an dein eigenes Sehvermögen. Wie viele rezeptorische Neuronen hast du auf deiner Netzhaut?« Prudence: »Etwa hundertundzwanzig Millionen.« Bickel: »Wenn du das System nun in die Ganglienschicht zurückverfolgst, wieviele Zellen hast du dann?« Prudence: »Nur noch etwa eine Million zweihundertundfünfzigtausend.« Bickel: »Also reduziert. Das System nimmt unzählige Sinneseindrücke auf und verbindet sie zu einer immer geringer werdenden Anzahl separater Signale. Schließlich erhalten wir ein Sinnesdatum, das Wir ein Bild nennen. Aber wir interpretieren das Bild aus einem gewaltigen Vorrat topologischer Vergleiche heraus, die ausnahmslos aus bereits übersetztem Erleben stammen.« Prudence: »Und du glaubst, daß unser Computer ausreichend Erfahrung hat, um diese Art Vergleich durchzuführen?« »Die wird er haben, wenn wir fertig sind.« Ehe sie antworten konnte, schrillte der Alarm des Empfangsgerätes auf. Das SÜ war auf eine Nebenleitung geschaltet worden, damit es nicht auf die Arbeit im Computerraum einwirkte. Beim ersten Ton des Alarms betätigte Bickel den Schalter im Computerraum, während Flaery die Hauptkontrollen des SÜ aktivierte. Dabei überlegte er ohne innere Anteilnahme, daß die eintreffende GMS-Nachricht jetzt durch die Schaltkreise des Ochsen ging, ehe sie auereitet wurde. 182
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Bickel überflog die Kontrollen im Computerraum und beobachtete die Bewegung der Nadeln, die einen Augenblick ausschlugen und sich dann wieder beruhigten. Die Instrumente registrierten die übliche SÜ-Pause, in der die vielfältigen Laserimpulse sortiert, verglichen, übersetzt und in das Computernetz eingegeben wurden. Bickel warf einen Blick auf den Schirm und stellte fest, daß Flattery das System auf akustische Wiedergabe geschaltet hae. Morgan Hempsteads Stimme dröhnte aus den Vokodern: »Projektleitung ru GMS-Schiff Earthling. Hier spricht die Projektleitung. Wir sind nicht in der Lage, die Kra eindeutig zu bestimmen, die Ihr Schiff beschädigt hat. Wir vermuten einen Übermilungsfehler oder nicht ausreichende Daten. Die Möglichkeit der Begegnung mit einem Neutrinofeld der theoretischen Gaung A-G wird nicht völlig ausgeschlossen. Warum haben Sie unsere Umkehranweisungen nicht bestätigt?« Bickel beobachtete seine Skalen. Die Nachricht kam mit bemerkenswerter Klarheit durch; nachdem sie nun durch den Ochsen geleitet wurde, schien es überhaupt keine Entstellungen mehr zu geben. Wieder tönte Hempsteads Stimme aus den Vokodern: »Der GMS steht im Augenblick unter schwerem, ich wiederhole: schwerem politischem Druck hinsichtlich des Rückkehrbefehls. Sie werden diese Sendung umgehend bestätigen. Das Schiff soll in eine Kreisbahn um den GMS zurückkehren, dann wird das weitere Verfahren mit Mannscha und Ladung behandelt.« Flaery fragte sich, ob Hempstead das Vernichtungssignal geben würde. Bickel starrte auf den Vokoder. Wie deutlich Hempsteads Stimme klang – sogar sein Räuspern war übermielt worden, das das SÜ eigentlich häe herausfiltern müssen! 183
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Er wandte sich dem Ochsen zu. Erneut brach Hempsteads Stimme über sie herein. »Wir erhoffen uns von dieser Meldung eine vollständigere Analyse Ihres Schadens. Natur und Ausmaß der Defekte sind von ausschlaggebender Bedeutung. Bestätigen Sie den Funkspruch umgehend. Projektleitung GMS – Ende.« Bickel sagte leise: »Wie hat sich der alte ›Daddy‹ deiner Meinung nach angehört?« »Er schien beunruhigt zu sein«, erwiderte Prudence. Und sie fragte sich, warum Bickel, der im Grunde gegen die Umkehr sein mußte, den Befehl so ruhig aufnahm. »Wie würdest du Gefühle wiedergeben, die jemand in eine Nachricht legt?« fragte er. »Nun, ich würde dieses Gefühl beschreiben oder den Tonfall des Originals imitieren. Wieso?« »Das SÜ düre aber zu so etwas nicht in der Lage sein, sagte Bickel. Er sah auf und begegnete Flaerys Blick im Schirm. »Du bestätigst diese Sendung nicht, Raj!« »Das SÜ funktioniert vielleicht besser denn je.« »Nein«, sagte Bickel. »Es funktioniert auf eine Weise, die seine Möglichkeit eigentlich weit übersteigt. Die eintreffende LaserstoßNachricht ist auf das Wesentliche reduziert. Die ursprünglichen Wortmodulationen sind theoretisch natürlich vorhanden und reichen o auch aus, um besondere Eigenarten zu erkennen. Aber Feinheiten gehen auf jeden Fall verloren. Trotzdem war die letzte Durchsage von unglaublicher Qualität.« »Die Schaltungen des Ochsen lassen das System eben empfindlicher werden«, sagte Prudence. »Vielleicht«, sagte Bickel. »War gleichzeitig Nervennetz-Aktivität festzustellen?« fragte Flaery. 184
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»Auch ein Fisch weist Nervennetz-Aktivität auf«, sagte Bickel. »Nervennetz-Aktivität bedeutet noch nicht, daß das Ding auch ein Bewußtsein hat.« »Aber vielleicht ist es sensibilisiert wie ein Bewußtsein«, sagte Flaery, »und liefert aus Rohmaterial verfeinerte Ergebnisse – fast so wie das Bewußtsein.« »Dieses Gebilde«, Bickel deutete auf den Ochsen, »hat eben eine Bewußtseins-Schwellenkontrolle demonstriert … so wie wir es auch machen, wenn wir etwa erkennen.« Er blickte sie an. »Wenn du deine rezeptive Barriere senkst, breitest du die Raum-Zeit-Mitteilung über eine interne Erkennungsaura deines geistigen Vergleichssystems aus. Diese Erkennungsregion kann sehr allgemein unterscheiden zwischen ›gerade richtig‹, was einer höchstmöglichen Übereinstimmung entspricht, und einer Art ›Verschwimmen‹, was man vielleicht als ›leichte Ähnlichkeit‹ charakterisieren könnte. Die Schwellenkontrolle besorgt die Feineinstellung für diese Art Vergleich.« Wer kann mir sagen, wo meine Seele ist? dachte Flaery. Die Worte des 139. Psalms gingen ihm durch den Kopf. »Vater unser, der du bist im Himmel«, flüsterte er. Glauben und Wissen, dachte er. Ein Kampf, Wissen, das an die Grenzen des Glaubens stößt. Und er spürte die destruktiven Gefühle, die in seinen Glauben eingepflanzt worden waren. Ich sollte diesem Unsinn ein Ende machen, dachte er. Aber wir sind alle in der gleichen Zwangslage, Gewalt verrät uns nur. Religion und Psychiatrie sind nur zwei Richtungen der heilenden Künste. Sie haben den gleichen Ausgangspunkt. Heile dich selbst, dachte er traurig. Wo waren der Glaube, die Hoffnung und das Lachen, wo waren die Liebe und die schöpferischen Kräe, die er hae anwenden sollen? Flaery sah zu Bickel und Prudence hinauf, die so mit ihrem Vor185
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haben beschäigt waren, daß sie keine Notiz von ihm nahmen. Wie sich ihre Hände berühren, dachte Flaery. Der Anblick erfüllte ihn mit einem Schuldgefühl, und er erinnerte sich an Brocks Mahnung: »Hütet euch vor jeder Verstellung – hütet euch vor allen Dingen vor jeder Verstellung.« »Welch schlimme Stunde, da der Mensch die Notwendigkeit der Verstellung kennenlernte«, flüsterte er. »Bie, Go, habe ich denn das Beten verlernt?« Ohne sich um die Kontrollen zu kümmern, schloß er die Augen und umklammerte die Strebe. »Der Herr ist mein Hirte«, flüsterte er. »Mir wird nichts mangeln.« Aber die Worte haen ihre Macht über ihn verloren. Es gibt keine Seen hier … oder grüne Wiesen, dachte er. Aber diese Dinge hae es nie für ihn gegeben, ebensowenig wie für die anderen Menschen, die den Axolotl-Tanks und sterilen GMS-Unterkünen entstammten. Sie haen ausschließlich in einem dunklen Tal des Todes gelebt. Öffnen Sie diese Luke nicht, ohne ihren Ludruck zum nächsten Durchgang zu überprüfen! Elf Jahre lang hae er auf dem Schulweg jeden Morgen dieses Scho passiert. Ab hier ist ein Raumanzug erforderlich. Der Anzug war ein weiteres gesellschaliches Hindernis und schuf seine eigenen Verhaltensregeln. Er beschränkte den Kontakt mit anderen Menschen und machte unpersönliche Kommunikationsmiel erforderlich. Der allgegenwärtige Feind war das Draußen – das völlige Fehlen aller Dinge, die das Leben erhielten, die Leere. Sie war das Böse und wurde gefürchtet, Stecken und Stab mochten ja recht beruhigend sein in der Gegenwart des Alls, aber man träumte doch eher von gereinigter Lu und einem abgeschlossenen Raum, in dem 186
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man sich des verhaßten Anzugs entledigen konnte. Güte und Gnade? In diesen Begriffen konzentrierte sich alles, was die Hoffnung aufrechterhielt, daß man eines Tages doch noch ohne Anzug unter einem offenen Himmel wandern könnte. Ich habe meinen Glauben verloren, dachte Flaery. O Go, warum hast du mir meinen Glauben genommen? »Gesegnet sind die, die reinen Herzens sind, denn sie werden Go erschauen«, flüsterte er. Du bist ein Narr gewesen, Mahäus, dachte er. Eine Hure kann niemals ihre Jungfräulichkeit zurückgewinnen. »Das ganze Universum ist eine Sache der chemischen Zusammensetzung und physikalischen Bewegung, eine Sache der Materie und Energie«, flüsterte er. Aber nur Go allein häe die Kontrolle über Materie und Energie ausüben dürfen. Wir sind keine Göer, dachte Flaery. Es ist Blasphemie, wenn wir eine Maschine schaffen wollen, die eigenständig über sich selbst nachdenken kann. Deshalb sollte ich auch über den Verlauf der Mission wachen. Es ist Blasphemie, einer Maschine eine Seele eingeben zu wollen. Ich müßte nach unten gehen und das Ding zerschlagen …! »Raj!« dröhnte Bickels Stimme aus dem Bordsprechgerät. Flaery blickte erschrocken auf. »Ich registriere selbständige Aktivität in den fotosensorischen Schleifen des Computer-Speichersystems«, sagte Bickel. »Es … es hat kein Bewußtsein«, sagte Flaery heiser. »Einverstanden«, sagte Bickel. »Aber was ist es dann, zum Teufel? Der Computer programmiert sich selbst in jeder …« Es folgte ein gespanntes Schweigen, dann sagte er: »Verdammt!« »Was ist passiert?« fragte Prue. »Es hat aufgehört!« sagte Bickel. »Wodurch ist es überhaupt in Gang gekommen?« fragte Flat187
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tery. »Ich habe einen Hemmblock in einen Nervennetz-Simulator geschaltet und habe einen Testimpuls hindurchgeschickt. Der Test hat offenbar ein resonantes Muster erzeugt, das durch den ganzen Ochsen und schließlich über die Monitorverbindung auch durch den Computer gegangen ist. Und dann habe ich plötzlich Selbstprogrammierung festgestellt.« Prudence hob einen Finger und fuhr damit an einer dicken farbkodierten Leitung entlang, die vom Ochsen herabhing. »Die Monitorleitung bildet nur eine einseitige Verbindung in den Speicher. Und die ist hier abgepuffert.« Bickel riß die Verbindungsstecker heraus. »Was machst du?« fragte sie. »Ich trenne den Kontakt. Ich werde mir das Versuchsschema aus den Speicherbänken holen und analysieren, ehe wir weitermachen. Flaery starrte entsetzt auf den Schirm. Wenn ich die Sprengung jetzt auslöse, überlegte er, bringe ich dann … ein denkendes Wesen um? Routinemäßige Sensorenimpulse ließen an der Computerwand Serien von Anzeigelämpchen aufflackern. Der Wechsel der Lichter brachte neue Unruhe in den Wartungsraum. Die gebogene Wand gegenüber der Schaltwand warf die verschiedenen Farben zurück – gelb, grün, malvefarben und jetzt rot. Das wechselnde Licht fiel auch auf die Tabelle, deren Werte Timberlake mit den Skalen an der Computerwand verglich. Der Schirm zeigte Prudence an den Hauptkontrollen. Flaery schlummerte in seiner Steuercouch. Komisch, daß er nicht in seine Kabine gehen wollte, dachte Timberlake. 188
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»Die letzten Werte weichen nur 0,008 ab«, sagte Timberlake. »Unerheblich«, sagte Bickel. »Wellenformen?« Timberlake deutete auf das Oszilloskop. Bei der Bewegung fuhr ihm ein stechender Schmerz ins Genick. Er war müde. Bickel hae sie unbarmherzig angetrieben, und er war jetzt schon drei Wachen hindurch an der Arbeit gewesen. Timberlake rieb sich den Hals. Bickel wandte sich vom Oszilloskop ab. »Weißt du noch, wie ich dich gebeten habe, mich an die vielfältigen Oszillationen des Lebens zu erinnern? Rhythmen, Vibrationen.« »Ja«, sagte Timberlake. »Bist du bereit für den vollen Durchgang?« Bickel starrte auf die flackernden Lichter. Nachdem der große Augenblick nun herangerückt war, erfüllte ihn ein seltsames Widerstreben. Er kannte die Ursache für das Zögern, seine heimliche Tat, deren Folgen ihm angst machten. Noch ein Versuch und dann … was? Schwarzer Kasten – weißer Kasten. »Glaubst du, daß es nicht klappt?« fragte Timberlake. Bickels Zögern machte ihn nervös, aber er spürte, daß er sich bezähmen mußte. »Das menschliche Nervensystem – einschließlich des Gehirns, in dem wir den Sitz des Bewußtseins vermuten – hat in seiner Entwicklung viele Belastungsproben durchgestanden«, sagte Bickel. »Und dieses Ding«, Timberlake deutete auf den Ochsen, »ist ein logisch einfaches Analogon des menschlichen Gehirns.« Er zögert, dachte er. Warum? »Es ist nicht viel nötig, um ein logisches Gebäude zum Einsturz zu bringen«, sagte Bickel. »Manchmal genügt schon ein Wort. Das Gehirn mußte eine ganze Reihe von Bedürfnissen erfüllen, die absolut nichts mit konstruktiver Einfachheit zu tun haen. Zum Beispiel mußte es überleben, während es sich entwickelte. Größe 189
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und Form zeugen davon. Es mußte die bestehenden Strukturen neuen Funktionen anpassen.« Bickel erwiderte Timberlakes Blick. »Das menschliche Gehirn ist ganz offensichtlich ein hybrides Zusammenwirken von Funktion und Struktur. Und darin liegen gewisse Stärken, aber auch Schwächen.« »So?« fragte Timberlake und zuckte die Achseln. »Was bringt denn nun unser logisches Gebäude zum Einsturz?« »Raj spricht von Psychoräumen und Psychobeziehungen, von dieser kausalen Spur von Neuronenimpulsen, die sich auf dem Wege vom Ausgangspunkt zum Reaktionspunkt ausbreiten und neue Arten von Räumen erschließen. Da beginnt man doch über die Topologie der Psychoräume nachzudenken und erkennt, daß unser normales Universum durch eine unendliche Zahl von Psychoräumen verzerrt und verändert werden konnte.« »Ja?« Timberlake starrte ihn an und wunderte sich über den Unterton von Angst in Bickels Stimme. »Daraus läßt sich mit ziemlicher Sicherheit schließen«, fuhr Bickel fort, »daß es eine unendliche Anzahl von Bewußtseinsarten geben kann. Jedesmal wenn es darum geht, dieses Ding anzuschalten, beginne ich mich zu fragen, welche Art Bewußtsein wir da erzeugen werden und welchen Raum es einnehmen wird.« »Raj und seine Horrorgeschichten«, sagte Timberlake. Bickel nahm den Blick nicht von den Bauteilen des Ochsen und überlegte, ob sein heimliches Handeln richtig gewesen war. Durch lückenhaes Programmieren hae er eine nicht geschlossene Informationsserie über den Tod eingegeben, gefolgt von einem direkten Befehl, die Lücken zu füllen. Anschließend hae er die Adressendaten für das lebenserhaltende System eines Kuhembryos aus den landwirtschalichen Hib-Tanks übertragen und dem Computer auf diese Weise die Möglichkeit vermielt, die 190
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Informationslücken auf einfache Weise zu füllen. Er konnte den Embryo töten. Ich dure das nicht offen tun, sagte sich Bickel. Timberlake häe ich nicht einweihen können – er wäre auf jeden Fall dagegen gewesen. Und die anderen häen es ihm vielleicht gesagt. »Glaubst du, daß wir irgendeinen Systemfehler übersehen?« fragte Timberlake. »Was hast du? Macht dir die Tatsache zu schaffen, daß die Suchimpulse wieder aufgehört haben?« »Nein.« Bickel schüelte den Kopf. »Das Suchmuster ist nur auf eine Unregelmäßigkeit gestoßen, eine Schwelle, die es nicht überwinden konnte.« »Was läßt dich dann zögern?« Bickel schluckte. Er fand es zunehmend mühsamer, sich zu konzentrieren, wenn es darum ging, dem Ochsen ein Bewußtsein zu geben. Er hae das Gefühl, gegen eine starke Strömung anzukämpfen. In was für einem Spiegel kann sich ein Bewußtsein selbst betrachten? fragte er sich. Wie kann der Ochse überhaupt feststellen: ›Das bin ich?‹ Was wird er sehen? »Die menschlichen Nervensysteme haben die gleichen Unregelmäßigkeiten und Fehler«, sagte Timberlake. »Ihre Eigenschaften unterscheiden sich statistisch.« Bickel nickte. Timberlake hae natürlich recht. Das war auch der Grund, warum sie Zufalls-Fehlfaktoren in den Ochsen eingegeben haen – eine statistische Unvollkommenheit. »Macht dir die Impulsregulation Sorgen?« fragte Timberlake. Bickel schüelte den Kopf. »Nein.« Er preßte seine Handfläche gegen einen geschlossenen Plastik-Neuronenblock, der aus dem Ochsen herausragte. »Wir haben hier einen Homöostat, dessen Hauptfunktion es ist, sich mit Fehlern abzugeben – mit negativer Realität. Das Bewußtsein sieht sich immer die Rückseite aller Dinge 191
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an, denen wir uns gegenübersehen, und schaut zu uns zurück.« »Du hast Lücken offengelassen, so daß es uns braucht«, sagte Timberlake. »Es fehlt noch etwas«, murmelte Bickel. Timberlake wunderte sich erneut über die Angst, die aus Bickels Worten klang, über seine Unruhe, die an ein in die Enge getriebenes Tier erinnerte. »Wenn sich dieses Ding selbständig macht, können wir es nicht mehr aualten«, sagte Bickel. »Raj hat recht.« »Rajs Golem- und Monstrengeschichten!« höhnte Timberlake. »Nein«, sagte Bickel ernst. »Dieses Ding hat völlig neue Gedächtnisbänke, die nur ganz entfernt einem menschlichen Gedächtnis ähneln. Aber Erinnerungen – die im Psychoraum aufgestapelten Nervennetze –, sie bilden die Muster, die ein Verhalten erzeugen. Was wird dieses Ding anstellen, wenn wir es einschalten … solange wir ihm keine Erfahrungen von der Art mitgeben, wie sie die menschliche Rasse in ihrer Entwicklung gemacht hat?« »Du weißt aber nicht sicher, wie die rassischen Traumata aussehen, und daran wirst du scheitern.« Das war Flaerys Stimme. Sie blickten auf und sahen ihn in seiner Steuercouch sitzen. Bickel bezwang seinen Ärger. »Du bist hier der Psychologe. Gehört das Wissen um Traumata nicht eigentlich zu deinen Werkzeugen?« »Du fragst nach rassischen Traumata«, sagte Flaery. »Die lassen sich nur erraten.« Flaery starrte Bickel an und dachte: John ist in Panik. Warum? Weil der Ochse plötzlich angefangen hat, selbständig zu handeln? »Wir müssen dieses Ding zum Leben erwecken«, sagte Bickel und warf einen Blick auf den Ochsen. »Aber wir werden vorher nicht wissen, was es sein wird. Auf jeden Fall wird es keine Ähn192
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lichkeit mit uns haben. Und wenn es sich von uns derart unterscheidet … und dennoch am Leben ist und sich seines Lebendigseins bewußt ist …« »Du beginnst also nach Möglichkeiten zu suchen, es uns mehr anzugleichen«, stellte Flaery fest. Bickel nickte. »Und du meinst, wir sind Produkte unserer rassischen und persönlichen Traumata?« fragte Flaery. »Glaubst du nicht, daß das Bewußtsein der sichtbare Effekt eines rezeptiven Organs ist?« »Verdammt, Raj!« fuhr Bickel auf. »Wir stehen unmielbar vor der Lösung. Spürst du das nicht?« »Aber du fragst dich«, sagte Flaery, »ob wir nicht ein Wesen schaffen, das unverletzlich ist … jedenfalls soweit es uns betri?« Bickel senkte den Blick. »Du glaubst«, fuhr Flaery unerbilich fort, »daß dieses Biest keine sexuellen Emotionen hat und es also unmöglich so sein kann wie wir. Es hat kein Fleisch – also kann es auch nicht wissen, wovor sich das Fleisch fürchtet und was es liebt. Konsequenterweise stellst du dir die Frage: Wie simulieren wir Fleisch und Sex und die Leiden, die die Menschheit durchgemacht hat? Die Antwort ist klar: Wir können es nicht. Wir kennen nicht alle unsere Instinkte.« »Aber einige davon bestimmt«, knurrte Bickel. »Wir haben einen Instinkt des Überlebens, des Siegens …« »Vielleicht ist das Ganze doch nur Goeslästerung. Vielleicht ist es nur unsere Affenneugier, die erst befriedigt sein wird, wenn wir uns zu Schöpfern erhoben haben, gogleich. Aber dann ist es zur Umkehr vielleicht zu spät.« Bickel fuhr fort, als habe er Flaerys Worte nicht gehört: »Und dann gibt es da den Tötungsinstinkt. Der führt direkt in die 193
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Urzeit zurück, wo es darum ging, zu töten, um nicht getötet zu werden.« Er hat heimlich etwas getan, dachte Flaery. Er hat etwas getan und fürchtet sich jetzt davor. »Und Schuldgefühle sind direkt auf diesen Tötungsinstinkt aufgepfrop. Sie sind der Puffer, mit dem wir diesen Instinkt in Grenzen halten. Wenn wir nun …« »Schuld bedingt Sünde«, sagte Flaery. »Wo findest du in der religiösen und auch psychiatrischen Lehre ein Bedürfnis zur Sünde?« »Instinkt«, sagte Bickel. »Wir können fünfzig Generationen von Küken in Brutkästen aus dem embryonalen Stadium großziehen, ohne daß sie jemals eine Eierschale zu sehen bekommen. Aber die einundfünfzigste Generation, die wieder normal ausschlüp, weiß sich trotzdem einen Weg aus dem Ei zu picken.« »Genetische Prägung«, sagte Flaery. »Prägung«, sagte Bickel und nickte. »Etwas, das uns eingeprägt wurde, unauslöschlich. Oh, wir wissen das. Wir kennen all diese Instinkte, ohne sie jemals über die Schwelle des Bewußtseins kommen zu lassen. Sie senken unsere Bewußtseinsschwelle, machen uns ärgerlich, verleiten uns zur Gewalätigkeit, zur Leidenscha …« Was hat er angestellt? fragte sich Flaery. Ich muß es herausbekommen! »Das Kain-und-Abel-Syndrom«, sagte Bickel. »Mord und Schuld. Es liegt irgendwo dort unten verborgen, wurde uns damals aufgeprägt. Die Zellen erinnern sich daran.« »Du hast ja keine Ahnung, was du da sagst«, erwiderte Flattery anklagend. »Du verwirrst Dinge der Moral und der Vernun, kehrst das normale Verstehen um in einen …« »Umkehren!« sagte Bickel. »Das wollte ich sagen – umkeh194
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ren. Die Fähigkeit, Freude in Schmerz und Schmerz in Freude umschlagen zu lassen … das ist ein Teil des Bewußtseins, den wir nicht …« »Der etwas Krankes hat«, warf Flaery ein. »Die Fähigkeit, geistig gesund zu sein, ist zugleich die Fähigkeit, wahnsinnig zu werden«, sagte Bickel. »Hast du selbst gesagt.« »Weißt du«, sagte Timberlake leise, »wenn ein Instinkt etwas ist, auf das ein ganzes System in einem Streßaugenblick zurückgreifen muß – dann ähnelt das etwa der Sprungfunktion eines Computers, die mit einem Überwachungsprogramm verbunden ist.« »Über die Ebene des Technischen waren wir schon längst hinaus«, sagte Flaery. »Wir erzeugen mit Schwingtransistoren Synapsen, bestimmen die Leitfähigkeit durch den Querschni der Neuronenfibern und staen unsere neutralen Netze nach Belieben aus … aber letzten Endes stehen wir immer wieder vor derselben Frage.« »Wie kontrolliert man, was sich jeder Kontrolle entziehen muß. Ich hab‘s dir bereits gesagt – durch die Liebe.« »Die steuerst du auch nicht!« rief Bickel. »Die richtet man nur auf etwas – und die Zielvorrichtung sind dabei zwangsläufig die Instinkte. Wie du gesagt hast, Raj, muß uns das Ding lieben, muß uns gegenüber loyal sein. Aber bedeutet das, daß es uns anbeten wird? Sollen wir seine Göer sein? Und wenn es loyal sein soll, setzt das auch voraus, daß es ein Gewissen hat? Und kann es ein Gewissen haben, ohne Schuldgefühle zu verspüren?« »Schuldgefühle sind ein Gefängnis!« protestierte Flaery. »Du kannst keinen freien …« »Wer sagt denn, daß das Ding frei sein muß?« fragte Bickel. »Du widersprichst dir ja selbst! Das ist ja überhaupt die Frage: Wie kontrollieren wir es? Und da wir das Thema schon mal beim 195
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Schopf haben: Bin ich denn frei? Bist du‘s? Wir sind von unseren Instinkten und unserem Gewissen getriebenes Protoplasma.« »Von welchen Instinkten?« fragte Flaery. »Du bist wie eine gesprungene Schallplae! Welche Instinkte? Man kann Instinkten nicht konkret nachspüren. Wir haben einen Instinkt zu töten – zu töten und zu essen. Es ist uns im Grunde völlig gleichgültig, woher wir unsere Energie beziehen – jedenfalls nicht da unten in unserem psychischen Keller, nein!« »Als ob die Sache so einfach wäre«, sagte Flaery. »Wenn du dir mal die Kellertreppe richtig anschaust, ist es durchaus einfach«, erwiderte Bickel. »Ich brauche keinen Doktorgrad in Psychologie, um zu wissen … was ich tun würde, wenn die Politur abginge.« »Du würdest dich zum Wilden zurückentwickeln, wie? Zum Tier!« »Völlig richtig! Um festzustellen, welche Grundelemente in das System geflossen sind. Mit was habt ihr Seelenquacksalber euch denn die ganze Zeit beschäigt außer mit euren Träumen und euren Komplexen und eurem Christus? Ihr habt euch auf einen endlosen Tanz feststehender Formalismen eingelassen … Himmel! Ihr erinnert mich an einen Haufen Stutzer beim Menue!« »Wir haben uns mit Ehrfurcht und Vorsicht daran gemacht, im Menschen Go zu finden«, sagte Flaery. »Pah!« schnaubte Bickel. Sie starrten sich an – Bickel voll Zweifel und Unentschlossenheit, Flaery im Bewußtsein eines Verdachts, der sich zur Gewißheit erhärtete. Er hat dem Ochsen das Töten beigebracht, dachte Flaery. Seine Argumente und seine Wut verraten ihn. Aber was soll die Maschine töten? Natürlich keinen von uns. Einen Kolonisten in den Hib-Tanks? Nein. Eher eins von den Tieren! Ja, Bickel würde zuerst nur vorsichtig 196
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an die Sache herangehen und feststellen, ob der Ochse wirklich gewalätig werden kann. Aber er kann den Übertrag schwarzer Kasten – weißer Kasten noch nicht gemacht haben. Prudence, die ihre Aufmerksamkeit zwischen der Kontrollkonsole und der Auseinandersetzung teilte, spürte, wie sich ihr Zustand erhöhten Bewußtseins weiter verstärkte. Sie spürte die winzigen Temperaturschwankungen in der KomZentrale, hörte das ständige metallische Knirschen der Metallwände ringsum, registrierte Flaerys Mißtrauen und Bickels verzweifeltes Rückzugsgefecht, spürte ihren Herzschlag und die Veränderungen in ihrer Körperchemie. Es war diese Chemie, die sie faszinierte – der Gedanke, daß überall in dem feinen Wechselspiel organischer und anorganischer Materie ihres Körpers Befehle, deren sie sich kaum bewußt war, übermielt und ausgeführt wurden. Der Computer mit seiner gewaltigen Bibliothek an Daten, die aus Millionen von Gehirnen stammten, hae ihr eine Möglichkeit geboten, der von Bickel erhobenen Frage nachzugehen, und sie hae nicht widerstehen können. Wovon und wie werden die Instinkte getragen? Während der Auseinandersetzung zwischen Flaery und Bickel hae sie die Frage auf ein Band übertragen und es in die Computersektion ihrer Kontrollen gefüert. Sie wußte, daß die Frage über die Chemie hinausging und ein Gebiet berührte, in dem selbst das Wissen um die Proteinstruktur nur ein theoretischer Code war. Aber wenn ihr der Computer eine Antwort gab, die sich in physische Funktion umsetzen ließ, konnte sie die Antwort mit Eigenversuchen bestätigen. »Bickel, du verbirgst etwas«, sagte Flaery. Das Summen des Computers war plötzlich ungewöhnlich laut. 197
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Das Spiel der Sensoren und Instrumentenlämpchen auf der Schalttafel hae an Tempo zugenommen. Prudence fuhr sich mit der Hand an den Mund, als eine entsetzliche Erkenntnis sie überfiel: Der ganze Computer geht durch den Ochsen! »Was hast du getan?« fragte Flaery streng. »Nichts!« sagte Bickel und vermied es, den Schirm anzublicken. Timberlake sagte: »Sollten wir nicht …« »Laß die Finger davon!« schrie Bickel. Prudence sagte leise: »Ich bin‘s gewesen. Ich habe eine Frage in den Computer eingegeben.« »Was für eine Frage?« fragte Bickel. Er deutete auf eine große Skala über sich. »Schau dir den Energieverbrauch an. So etwas habe ich noch nicht erlebt!« »Die Frage nach den Instinkten. Ich habe achtundsechzig Schrifolgen biochemischer Begriffe vierter Ordnung erarbeitet und eingegeben.« »Das alles ist in die Monitorbänke gegangen«, sagte Bickel und deutete auf eine neue Reihe von Lichtern. »Nun erfolgt eine vielspurige Verstärkung.« Die Ausgabe neben Prudence begann zu zischen, und ein Band schob sich in das Sichtgerät. Bickel fuhr herum: »Was kommt heraus?« Sie betrachtete das Sichtgerät und zwang sich zur Ruhe. »Eine Pyramidenantwort. Obwohl ich nur nach den ersten vier Wahrscheinlichkeiten gefragt habe, sind wir schon bei der zehnten Stufe! Ja, da sind die Nukleinsäuren … Aber der Computer versucht sich noch an anderen Sackgassen, an Molekulargewichten und …« »Er bespricht die Sache mit dir«, sagte Bickel, »und fragt nach deiner Ansicht.« Prudence überflog das Band und tilgte die sinnlosen Sequen198
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zen. Dann schni sie es ab und begann es wieder in den Computer einzugeben. Die Ausgabe stoppte plötzlich, und das Flackern der Lichter steigerte sich zu einem neuen Höhepunkt. Der Energieverbrauch stieg auf Höchstwerte an und zeigte plötzlich Impulscharakter. »Gibst du irgendwo einen Resonanzzyklus ins System?« fragte Prudence. »Der Puls ist identisch mit den Antwortschleifen des Ochsen«, sagte Bickel. Das Outputband war wieder stehengeblieben. In das plötzliche Schweigen sagte Prudence: »Es hat mit Säurephosphatase zu tun – Aminosäuren-Katalyse.« Und sie begann mit ihren Berechnungen. »Ist es … bei Bewußtsein?« flüsterte Flaery. »Nein«, sagte Bickel. »Wir haben nur einen Computer gebaut, der sich selbst programmieren und alle seine Energien auf ein Problem konzentrieren kann. Er forscht sogar nach neuen Daten.« »Und das soll kein Bewußtsein sein?« fragte Timberlake. »Nein«, sagte Bickel. »Man muß ihm eine Frage stellen, damit es … erwacht.« Säurephosphatase, überlegte Prudence. Was wissen wir darüber? Und sie spürte den Drang, den anderen von ihren Experimenten zu berichten … aber sie war schon zu weit auf einer Straße gewandelt, auf der sie jetzt weitergehen mußte – allein. »Säurephosphatase findet sich überall im Körper«, sagte Flattery. Er wandte sich um und sah Prudence an. Sie würde es natürlich sofort begreifen, während es den beiden anderen erst erklärt werden mußte. Prudence nickte. »Körperchemie, ja«, sagte sie. »In der männlichen Prostata gibt es viel Säurephosphatase.« Flaery sagte vorsichtig: »Das Körpergewebe erfordert ein 199
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Minimum, ehe eine Person geweckt werden kann.« Sie fuhr auf und erwiderte seinen Blick. »Ein Ferment der Physiologie, des Sex und des Erwachens.« Sie wandte sich ab und dachte: Sex und Erwachen. »Ist es das, was das Anti-S unterdrückt?« fragte Bickel. »Nicht direkt«, erwiderte Timberlake. Timberlake, Schiffsspezialist und Biophysiker, mußte es natürlich auch sofort sehen, dachte Flaery. Er blickte auf Bickel und hae plötzlich Mitleid mit dem Mann. Eine so einfache Tatsache: Erwachen und Sex hängen zusammen. Bewußtsein hat mit Fortpflanzung zu tun. Es konnte kein Zweifel bestehen: beides entstammte der gleichen genetischen Quelle. Die Geschichte hae sie vermischt, hae die Bedürfnisse des einen auf die Bedürfnisse des anderen übertragen. Langsam wandte sich Bickel um und starrte über den Schirm auf das große Laser-Autolog in der KomZentrale, das die Erdzeit registrierte. Die Zeiger standen auf achtzehn Wochen, einundzwanzig Stunden und neunundzwanzig Minuten. Noch während er hinschaute, rastete das Log um eine Minute weiter. In dieser impulsgemessenen Zeit, überlegte Bickel, hae die Mannscha fast ständig im Schaen einer Schiffskatastrophe gestanden. Die Gefahr war real, unabhängig von ihrer Ursache oder der dahinterstehenden Absicht. Zur Bestätigung brauchte er sich nur die Unterlagen über die Defektzunahme anzusehen. Aber der Druck auf die Kernmannscha hae mit dem Verlust der Organischen Gehirn-Zentren begonnen. Er hae begonnen, als sie nicht mehr von einem anderen Bewußtsein abgeschirmt wurden. Zum erstenmal konzentrierte Bickel seine Gedanken auf die Vorstellung eines Bewußtseins als Schutzschirm – als eine Möglichkeit, seinen Träger vor den Erschüerungen des Unbekann200
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ten zu schützen. Bickel richtete seinen Blick auf Flaery, der noch immer halb in seiner Steuercouch saß, und spürte seine Resignation. Warum gibt er so schnell auf? fragte sich Bickel. Es sieht fast so aus, als wollte er das. Sofort wurde ihm auch die Antwort bewußt: Wenn du auf eine Vernichtung hinprogrammiert bist, verspürst du das Bedürfnis nach Vernichtung. Bickel starrte auf den Ochsen. Und ich habe dieses Wesen zur Gewalätigkeit programmiert! Der Embryo, den er der Willkür des Ochsen ausgeliefert hae – er war tot. Nein … der Tod war eine einfache Beschreibung für das, was da geschehen war. Der Embryo war förmlich aufgelöst und auseinandergerissen worden, zerlegt in seine einzelnen Moleküle! Die Ergebnisse fanden sich überall auf den Bändern und Scheiben und verrieten den Grund für die Vernichtung. Prues Frage! Im Zuge der heigen Informationssuche des Computers war der Embryo einem gewaltsamen Experiment unterzogen worden, einem nutzlosen Experiment, das zweifellos keine wichtigen Ergebnisse hae erbringen können – vielleicht mit Ausnahme einiger Charakteristika der Säurephosphatase und einiger negativer Daten über andere Gebiete der Biochemie. Es tötet, um Informationen zu erlangen, dachte Bickel. Es besitzt die Fähigkeit, Motivierungen zu akzeptieren … wenn wir ihm ein Motiv geben. »Wir haben gerade wieder einen Sensor verloren«, sagte Prudence mit einem Blick auf die Kontrollen, »und zwar in der Gegend 4CtB5K2.« »Zweites Pi, vierter Ring hinter der fünen Schutzschicht«, sagte Timberlake. »Das ist verdammt dicht bei den Hib-Tanks.« »Ich sehe mal nach«, sagte Flaery. 201
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»Gibt‘s einen Robox in der Gegend?« fragte Bickel. »Bin ja schon unterwegs!« sagte Flaery rasch. Ich darf nicht zulassen, daß Timberlake mir zuvorkommt, dachte er. Ich brauche eine Entschuldigung, durch die Unterküne zu gehen, um nachzusehen, was Bickel angestellt hat. Es ist etwas Gefährliches, etwas Schlimmes. Er hat sich ja kaum noch unter Kontrolle. »Raj«, sagte Prudence. »Das … Ding da unten im Wartungsraum könnte sich ohne unsere Hilfe vermehren. Jedes Maschinenwerkzeug, jeder Robox und jeder Sensor ist durch den Computer programmiert. Sobald die Verbindung geschlossen ist …« Flaery fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und duckte sich wortlos durch die Öffnung des Schos. Warum fängt sie ausgerechnet jetzt davon an? fragte sich Bickel. Prudence stellte ihre Kontrollen ein, um Flaerys Ausflug überwachen zu können. Sie sah zum Schirm auf, und Bickel erwiderte ihren Blick. Die Vorstellung, daß die Fortpflanzung mit dem Bewußtsein zusammenhängt, hat Raj bedrückt, dachte Bickel. Was Prudence ihm jetzt gesagt hat, häe die Depression eigentlich etwas mildern müssen – aber es hat nichts genützt. Eine düstere Vorahnung beschlich ihn. Ein Programmiert sein auf Vernichtung entspricht einem Bedürfnis nach Vernichtung, dachte er. Wovor fürchte ich mich eigentlich? fragte er sich. Vor welcher Unbekannten? Vor der Tatsache, daß der Ochse sich über die Werkzeugbänder des Schiffes einen Nachfolger bauen könnte? »Prue, hast du Raj im Auge?« fragte Bickel. »Er hat sich einen großen Reparaturkarren bescha und düre in etwa einer Minute an der kritischen Stelle sein«, sagte sie. »Was für ein Sensor ist das – Temperatur?« »Temperatur-Ton-Sicht.« 202
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Der düre unten bei den Temperaturkontrollreglern in der Abschirmung der Hib-Tanks liegen«, murmelte Timberlake. »Kannst du Temperaturverschiebungen auf den anderen Sensoren feststellen?« »Nichts Nennenswertes«, sagte sie. Prudence legte einen Schalter um und beobachtete die wechselnden Temperatur-Gewicht-Geräusch-Werte an den Kontrollen, die Flaerys Bewegungen anzeigten. Sie drückte auf einen Knopf: »Raj, wie lange noch?« Flaerys Stimme tönte aus dem Vokoder: »Etwa eine Minute.« Sie warteten schweigend und lauschten auf die Geräusche aus dem Vokoder. Als Flaery den Wasserschild passierte, aktivierte Prudence einen Leitstrahl zum toten Sensor. »Wasserschild in Ordnung?« fragte sie. »Alles in Ordnung?« sagte Flaery. Er passierte den letzten Durchgang in dem Bewußtsein, daß sich jede Bewegung auf Prudences Kontrollen niederschlagen mußte – auch dieser letzte Schri, der ihn symbolisch vom Schiffskern abriegelte und ihn mit Beklemmung erfüllte. Ich bringe den Sensor in Ordnung und kehre möglichst schnell in die Unterküne zurück, sagte er sich. Dabei wird es ganz natürlich aussehen, wenn ich unterwegs mal kurz anhalte. Ich muß herausfinden, was Bickel getan hat, aber ich darf ihn nicht mißtrauisch machen. Flaery sah sich um. Er stand in der Kugelschleuse, die als Mittelpunkt für die Außenhüllentunnel in diesem Sektor diente. Sie war etwa sechs Meter breit und sieben Meter lang. Er orientierte sich an dem schwachen Zug der Schiffsschwerkra. Der defekte Sensor befand sich in einem Tunnel, der in Richtung zwei Uhr zu seiner Rechten abzweigte. Tunnel acht, Ring K. Die Zahl stimmte. Der Defekt mußte beim fünen Ring liegen. Er 203
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starrte in die hellgraue Metallschlucht hinauf, die grell erleuchtet war. Ein grüner Leitstrahl leuchtete im Tunnel. Prue hat daran gedacht, den Leitstrahl einzuschalten. Er nahm den Reparaturkarren in die linke Hand, sprang hoch und packte die Einstiegssprosse. Dann schob er das Gerät vor sich hinein, stellte die Sensoren auf die eingedruckte Spur und ließ sich langsam in den Tunnel hineinziehen. Die Iristür der automatischen Schleuse schloß sich hinter ihm. Er mußte plötzlich an Anderson denken, der in einer wildgewordenen Irisschleuse geköp worden war. »Stimmt etwas nicht?« fragte Prudence, und ihre Stimme dröhnte in seinem Helm. Sie hat gesehen, daß ich gezögert habe, dachte Flaery. Daß sie seine Bewegungen so wachsam beobachtete, beruhigte ihn etwas. »Alles in Ordnung. Ich bin nur vorsichtig.« »Möchtest du, daß Tim hinauskommt und dir hil?« fragte Prudence. »Nicht nötig«, sagte er barsch und wunderte sich über die Heftigkeit seiner Erwiderung. »Du bist in Station zwei, zu der es eine Sichtverbindung gibt.« Flaery betrachtete den Sensorenring im Tunnel, sah den gelb eingekreisten Kamerasensor und hob im Vorbeigleiten die Hand. Die Spur des Robox kurvte sich endlos an der Tunnelkrümmung entlang. Die Entfernung zum Schiffskern kam ihm unendlich vor, und ein Gefühl der Einsamkeit wuchs. Nach einiger Zeit war Station vier erreicht, und er gli weiter. »Gleich kommt Station fünf«, sagte er. »He!« Er stoppte den Robox, stemmte sich gegen den Stationsring und betrachtete die Reihe Sensoren über sich. Wo der Multisensor gewesen war, gähnte ein glaes, schimmerndes Loch, das mit grauem Schaum abgedichtet war. 204
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Flaery dachte plötzlich an die Insel im Pugetsund – an Sensoren und Menschen, die auf geheimnisvolle Weise verschwunden waren. Ihm brach der kalte Schweiß aus. Prudences Stimme füllte seinen Helm: »Hast du etwas zu melden?« »Der Multisensor ist verschwunden. Das Loch ist mit Schaum verklebt.« »In der Gegend gibt es keine Schaumautomaten«, sagte Prudence. »Das Ding ist aber mit Schaum abgedichtet!« sagte Flaery gereizt. Prudence sagte plötzlich: »John, ich registriere überdurchschnilichen Energieverbrauch im Computer. Tust du irgend etwas?« »Nein«, sagte Bickel. Flaery drehte den Kopf in seinem Helm. Bickels Stimme war durch die KomZentrale schwach zu ihm gedrungen. Es tat sich etwas im Computer! Flaery zwang sich zur Ruhe und machte sich an die Arbeit. Er nahm einen Ersatzsensor aus dem Robox und überprüe ihn. Plötzlich sah er eine Bewegung im Tunnel. Er sprang auf, stieß mit seinem Helm gegen die Wand und starrte zur Station sechs. Ein Robox, der seine Werkzeugarme angelegt hae, rollte auf der Bandspur heran. Mit dem Gerät schien etwas nicht in Ordnung zu sein, denn es wechselte ständig die Geschwindigkeit. »Bringst du mir einen zweiten Robox herunter, Prue?« fragte Flaery nervös. »Nein, wieso?« »Weil hier ein zweiter auf meine Station zukommt.« »Das kann nicht sein! An den Kontrollen hier ist nichts zu sehen.« 205
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Der Robox verhielt auf der anderen Seite des Sensorenrings. Ein stangenförmiger Arm schnellte vor, näherte sich dem schaumverstopen Loch und wurde wieder zurückgezogen. »Wer kontrolliert dann das Ding?« fragte Flaery. »Von uns niemand«, sagte Prudence. »Ich habe sowohl Tim als auch John im Auge. Sie tun nichts.« »Registrierst du immer noch ungewöhnlichen Energieverbrauch?« »Ja.« »Ist der Ochse … aktiv?« »Nur die alten Schaltungen«, sagte Bickel. »Die neuen Verbindungen sind noch nicht angeschlossen.« »Es kann unmöglich einen zweiten Robox in dem Gebiet geben«, beharrte Prudence. »Auf meinen Kontrollen zeigt sich nichts. Und die Fernsteuerung ist doch völlig …« »Jetzt steht das Ding vor mir«, sagte Flaery. Er beobachtete das Gerät fasziniert. Ein Werkzeugarm mit einer leeren Sensorenfassung näherte sich dem schaumverstopen Loch, wurde zurückgezogen. Ein Greif arm schloß sich der Bewegung an, betastete den Schaum und zuckte mit einer Schnelligkeit zurück, die Flaery erschaudern ließ. »Was macht der Robox jetzt?« fragte Prudence. »Ich bin mir nicht sicher. Er scheint sich den Schaden zu besehen. Seine Augen sind auf das Loch gerichtet. Es hat fast den Anschein, als könnte er sich nicht für ein bestimmtes Werkzeug entscheiden.« »Was kann sich nicht entscheiden?« fragte Timberlake, dessen Stimme über die KomZentrale schwach zu ihm drang. »Du mußt versuchen, den Sensor selber in Ordnung zu bringen«, sagte Bickel. Flaery schluckte. Er nahm einen Fühler aus der Werkzeugni206
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sche seines Robox, stocherte im Schaum herum und suchte nach den Kontakten. Blitzschnell schoß ein peitschenähnlicher Arm aus dem anderen Robox, ringelte sich um seinen Arm und riß ihn zur Seite. Flattery ließ das Werkzeug fallen und schrie auf. »Was ist los?« fragte Prudence erschrocken. Der Peitschententakel löste sich langsam. »Das Ding hat mich gepackt«, sagte Flaery mit ziernder Stimme. »Es hat seinen Schaltungsprüfer benutzt … und mich am Arm gepackt.« »Es will dich die Reparatur nicht machen lassen?« fragte Bickel. »Anscheinend nicht«, sagte Flaery. Und er fragte sich: Warum spricht es niemand aus? In plötzlicher Entschlossenheit hob der andere Robox einen Greifarm, nahm Flaery den Ersatzsensor aus der linken Hand und paßte ihn in die Fassung ein. Ein zweiter Greifarm hob den Fühler auf und steckte ihn auf die Kontakte des eigenen Schaltungsprüfers. »Was macht es jetzt?« fragte Bickel. »Er repariert den Sensor selbst«, sagte Flaery. Der Fühler kam aus dem Loch wieder hervor und zog die Leitungen hinter sich her. »John, was siehst du an deinen Instrumenten?« fragte Prudence. »Einen leichten Puls in den Servobänken«, erwiderte Bickel. »Sehr schwach. Hast du immer noch Stromabzug? Hier ist nichts festzustellen.« »Abfluß in den Computer. Du müßtest es eigentlich sehen.« »Nein«, sagte Bickel. »Er hat eben die neue Fassung mit dem Sensor in das Loch ein207
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gepaßt«, sagte Flaery. »Er hae die richtigen Ersatzteile dabei?« fragte Bickel. »Er hat meinen Sensor genommen!« »Hat ihn dir abgenommen?« fragte Prudence. »Genau.« »Sensor funktioniert wieder«, rief Prudence. »Ich sehe dich … und das Ding.« »Versuch mal, den neuen Sensor zu berühren, Raj«, sagte Bickel. »Der Robox hat mir beim erstenmal schon fast den Arm abgerissen«, protestierte Flaery. »Nimm irgendein Werkzeug«, sagte Bickel. »Irgend etwas Langes. Du müßtest einen teleskopischen Strahlungsprüfer dabei haben.« Flaery warf einen Blick in seinen Robox und nahm den Prüfer heraus. Er zog ihn auf größte Länge auseinander und berührte damit den Sensor. Der Peitschenarm kam hervorgeschnellt. Ein heiger Ruck durchfuhr Flaery, der plötzlich mit weitaufgerissenen Augen auf den Stumpf des Prüfgeräts in seiner Hand starrte. »Himmel!« sagte Timberlake. Flaery schluckte und sagte unterdrückt: »Wenn das mein Arm gewesen wäre …« Er starrte den anderen Robox an, der ruhig dastand und seine Vid-Augen auf ihn gerichtet hae. Wir spielen hier mit dem Teuer, dachte Flaery. Wir wissen nicht, wer oder was den Robox steuert. Könnte ein Reparaturprogramm sein, das wir versehentlich aktiviert haben. Könnte auch sonst etwas sein, das die Konstrukteure des Metalleies in das Schiff hineingebaut haben. »Am besten kommst du sofort zurück«, sagte Prudence. »Nein! Halt!« sagte Bickel. »Raj, du bewegst dich nicht von der 208
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Stelle! Hörst du?« »Ja, ich höre«, sagte Flaery. Er starrte den Robox an und machte sich klar, daß ihn das Gerät mit einem einzigen Peitschenhieb zweiteilen konnte. »Ich müßte eigentlich den ganzen Computer hier überwachen können«, sagte Bickel. »Aber von dem verdammten Robox ist keine Spur auf den Anzeigen zu finden. Keine einzige Impulsresonanz.« »Raj ist schon sechzehn Minuten außerhalb der Schutzschilde«, sagte Timberlake. »Prue, wie sieht es in der Gegend mit der Strahlungstoleranz aus?« Sie warf einen Blick auf die Anzeigegeräte an ihren Kontrollen und rechnete die Differenzen aus. »Er müßte spätestens in achtunddreißig Minuten wieder innerhalb der Schilde sein.« Eine Bewegung im Tunnel nahm Flaerys Aufmerksamkeit gefangen. Das abgetrennte Ende des Strahlungsprüfers hae die Spitze seiner Energiekurve erreicht und begann wieder zum Gravitationsmielpunkt im Kern des Schiffes zurückzufallen. Als sich das Metallstück dem anderen Robox näherte, hob sich die Spitze eines Sensorarms – nur die Spitze – und verfolgte den weiteren Weg des Metallstückes. Diese winzige Bewegung, dieses Zeichen von Wachsamkeit, erfüllte Flaery mit größerer Furcht, als wenn sich der Robox auf das Metallstück gestürzt und es zerrissen häe. Das Ding hae etwas Abwartendes, und es schien Informationen zu sammeln. »Raj«, rief Bickel. »Ja?« »Gibt es irgendeine Information im Computer – vielleicht auch nur einen Hinweis –, daß du ihn vielleicht vernichten könntest?« Hat er mich hier herausgeschickt, um mich zur Beantwortung dieser Frage zu zwingen? überlegte Flaery. Aber die Angst in Bickels 209
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Stimme schloß diese Möglichkeit aus. »Wieso fragst du das?« Bickel räusperte sich und berichtete von der einprogrammierten Gewalätigkeit gegenüber dem Kuhembryo und vom Verlauf des destruktiven Experiments. »Es war so programmiert, daß es die Informationslücken ausfüllte, Raj, und diesem Prozeß habe ich keine Grenzen gesetzt. Die Gewalätigkeit beweist, daß der Computer keine Miel scheut, um seine Integrität zu wahren. Wenn du nun irgendeine Bedrohung darstellst …« »Behauptest du, daß er ein Bewußtsein hat?« fragte Prue. »Nicht so wie wir«, erwiderte Bickel. »Etwa wie ein Tier – bewußt … und mit mindestens einem erkennbaren Trieb ausgestaet: dem der Selbsterhaltung.« »Raj, beantworte die Frage«, sagte Prue. Sie kennt die Antwort, dachte Flaery. Er erkannte das an ihrer Stimme. Warum beantwortet sie die Trage nicht selbst? »Der Computer kann durchaus eine solche Information enthalten«, sagte Flaery. Und er dachte: Jetzt sitze ich in der Falle! Ich muß schleunigst in die Unterküne und dieses Ding vernichten … es ist schon nicht mehr zu bändigen. Aber wenn ich mich bewege, tötet es mich! Er starrte den feindseligen Robox an. Da war das Ding, das dem Computer Beweglichkeit verlieh – die Tausende von Spezialrobox, die überall im Schiff aktiviert werden konnten. Dazu gehörte auch das Gerät unter seinen Händen, wenn es auf automatische Programmkontrolle umgeschaltet wurde … und wenn ein Bewußtsein die Steuerung übernahm. Diese Maschinen waren die Eierstöcke und Geschlechtsdrüsen des Computers – sie und die direkt mit dem Computer verbundenen feststehenden Werkzeuge. »Wird der Robox gewalätig reagieren, wenn sich Raj zu bewegen versucht?« fragte Prudence bang. 210
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»Was meinst du, Bickel?« fragte Timberlake. »Anzunehmen«, sagte Bickel. »Ihr habt ja selbst gesehen, was passiert ist, als Flaery den Sensor berühren wollte.« »Er kommt näher«, sagte Flaery und verspürte einen Anflug von Stolz darüber, daß seine Stimme so ruhig und sicher klang. »Bleib stehen«, sagte Bickel. »Tim! Nimm ein Schweißgerät und…« »Sofort!« sagte Timberlake. »Raj, ich glaube, deine einzige Chance liegt darin, den Toten zu spielen … bleib absolut still stehen«, sagte Bickel. Eine Sensorspitze schwebte vor Flaerys Augen, und er starrte sekundenlang in einen verächtlichen rotgelben Schimmer. Die Spitze wurde zurückgezogen, und der Robox rückte einen halben Meter ab. »Laß deinen Robox los«, flüsterte Bickel. Flaery bemerkte, daß seine Fingerknöchel weiß waren – so fest hae er den Robox-Steuergriff gepackt. »Die Schwerkra wird dich langsam im Tunnel zurücktreiben lassen«, flüsterte Bickel. »Tu nichts. Bleib entspannt.« »Die Schleusen«, sagte Prue. »Was ist, wenn sie sich nicht …« Sie beendete die Frage nicht, aber es bestand kein Zweifel, daß auch sie daran dachte, wie Anderson in einer Irisschleuse gestorben war. Er spürte, daß er langsam abwärts trieb. Die beiden Roboxgeräte blieben im Tunnel zurück. Aber die Sensorenspitze zeigte noch immer in seine Richtung. Die erste Schleuse trieb vorbei. Sie hae sich geöffnet! Aber ihre durchsichtigen Irisbläer schlossen sich nicht wieder, und der Robox begann ihm zu folgen, zuerst nur zögernd, dann immer schneller. Die Alarmglocke des SÜ-Systems wurde aus der KomZentrale 211
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in seinen Helm übertragen. »Oh, Himmel!« rief Prudence. »War der Empfänger offen?« fragte Bickel. »Die Nachricht ist schon im System«, sagte Prudence. »Wir haen alles auf automatisch stehenlassen.« »Tim, wo bist du?« fragte Bickel. »In der Kugelschleuse«, erwiderte Timberlake. »Nimm die Nachricht auf, Prue«, sagte Bickel. Relais klickten, als sie das SÜ-System zu ihren Hauptkontrollen nahm. Sekunden später sagte sie: »Kurz und bündig. Hempstead sagt, wir sollten uns endlich melden, und zwar schleunigst. Er gibt uns den Befehl, umzukehren und keine Dummheiten mehr zu machen. Seltsam hat er das formuliert: ›Dies ist ein arbiträrer Umkehrbefehl!« »Er weiß, was er mit seinem arbiträren Umkehrbefehl machen kann«, sagte Bickel. Als er die Worte hörte, überlief es Flaery kalt. Arbiträrer Umkehrbefehl! Das waren die Schlüsselworte, vor denen er sich gefürchtet, die er aber auch herbeigesehnt hae – der Befehl, das Schiff zu vernichten. Man hae ihn darauf programmiert, den Befehl auszuführen. Er würde dabei ebenfalls sterben, aber er würde nicht zögern, er kannte die Gefahren, die der Menschheit durch ein wildgewordenes künstliches Bewußtsein drohten, das niemand … Er stieß einen Schrei aus, als ihn etwas am Bein packte. »Ich bin‘s Raj.« Es war Timberlake, der ihn durch den nächsten Sensorenring zog. Der Nemesis-Robox erhöhte seine Geschwindigkeit, hielt aber eine Entfernung von etwa drei Metern ein. »Soll ich dem Ding eins draurennen?« flüsterte Timberlake. 212
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»Wir dürfen nichts Feindseliges tun«, erwiderte Flaery. Der Eingang zur Zentralschleuse tauchte auf. Timberlake ließ sein Fußgelenk los, und Flaery spürte die Erschüerung des sich öffnenden Innenschos. »Los, da rein«, sagte Timberlake. Er versetzte Flaery einen leichten Stoß und trieb mit ihm in die Kammer hinab. Eine Schleusenstrebe tauchte vor Flaery auf. Er hielt sich fest. Der Robox hae im Tunnelausgang über ihnen innegehalten, aber die Sensorenspitze war noch immer auf ihn gerichtet. Timberlake trat vor Flaery und deckte ihn. Flaery bewegte sich langsam durch das abgeschirmte Zwischenscho der Schleuse, und Timberlake folgte ihm. Das Scho schwang zu. Timberlake ließ die Verschlüsse einrasten und wandte sich um. Flaery ging zum nächsten Scho hinüber und atmete erleichtert auf. Nun waren sie wieder innerhalb der Schutzschilde, und ein Scho lag zwischen ihm und dem Robox. Er packte die Griffe das Öffnungsmechanismus und drehte daran. Aber sie rührten sich nicht. Er faßte nach. Die Griffe blieben unbeweglich. »Versuchen wir‘s mit vereinten Kräen«, sagte Timberlake. Aber das Ergebnis blieb das gleiche. Der Mechanismus gab nicht nach. Flaery und Timberlake starrten sich an. Flaerys Handflächen wurden feucht in den Handschuhen. Er spürte, wie sich der Geruch der Angst in seinem Anzug ausbreitete. »Versuch das andere Scho«, sagte Flaery. Timberlake nickte und stieß sich durch die Abschirmpassagen zum Scho zurück, das sie gerade geschlossen haen. Flaery sah, wie sich Timberlakes Muskeln spannten – aber es war offensichtlich, daß auch dieser Durchgang versperrt war. 213
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Timberlake ließ sich neben ihm zu Boden sinken und drückte auf den Schalter des Sprechgeräts an seinem Helm. »John?« »John hat sich vorübergehend aus der Verbindung ausgeschaltet«, sagte Prudence. »Ihr seid doch aus der Gefahrenzone, nicht wahr?« Timberlake berichtete über ihre Lage. »Gefangen?« fragte sie. »Wie ist das möglich?« »Etwas hat die Durchgänge versperrt«, sagte Flaery. »Warum hat sich John ausgeschaltet?« »Er hat seinen Helm hier liegen lassen, einen Haufen Geräte genommen und ist in den Unterkünen verschwunden.« »Deine Sensoren! Wo zeigen sie ihn?« fragte Flaery. Schweigen. Dann: »In deiner Unterkun, Raj. Ich verstehe das nicht.« In meiner Unterkun, dachte Flaery. Unserem »analytischen Organ« ist wirklich nichts entgangen! »Tim, dein Schweißgerät«, sagte Flaery. Timberlake schüelte den Kopf. »Du hast mir eben noch gesagt, daß wir nichts Feindseliges tun sollten.« »Gib mir das Schweißgerät!« »Nein, Raj! Du weißt ebensogut wie ich, was die Sperre verursacht hat. Ein Robox oder zwei oder fünfzig. Du haest von Anfang an recht. Soll Bickel doch …« »Weißt du nicht, was Bickel da macht?« fragte Flaery, ohne seine Verzweiflung zu verbergen. »So gut wie du, Raj. Ich habe die meisten Teile in dem Kasten nach seinen Anweisungen zusammengebaut. Ein FeldeffektGenerator, der mit einem Schroteffekt-Generator synchronisiert ist. Außerdem ein elektroenzephalographisches Rückkopplungsgerät … ein Mensch-Verstärker, wie er es nennt.« »Weißer Kasten – schwarzer Kasten«, sagte Flaery. »Wir müs214
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sen ihn aualten.« »Wieso?« »Er wird den Computer beschädigen.« »Den Computer nicht.« Bickel hat ihn mit seinem Zynismus angesteckt, dachte Flaery. »Dann bringt er sich selbst um.« »Das ist seine Sache, aber ich glaube nicht daran.« »Wenn er sich dem Schroteffekt aussetzt, brechen ihm seine Muskeln jeden Knochen! Das ist eine verdammt unangenehme Todesart.« »Vielleicht wäre das zu befürchten, wenn er direkt mit dem Generator verbunden wäre«, sagte Timberlake. »Aber das wird nicht der Fall sein. Er wird den Schroteffekt durch das Feld des Generators aufnehmen – abgemildert, gepuffert.« »Weißt du, was sich in meiner Unterkun befindet?« fragte Flaery. »Irgend etwas zum Spionieren, nehme ich an.« »Ein Feldsortierer«, sagte Flaery. »Er ist auf den Computer eingestimmt und torgesteuert. Wenn Bickel die Torschaltungen herausnimmt …« »Das wird er bestimmt. Jetzt setz dich endlich hin und sei ruhig. Was sollen wir sonst tun?« Flaery starrte ihn an. »Wenn Bickel das mechanische Monstrum freiläßt, könnte es die ganze Erde auslöschen!« »Hör auf mit deinen Gruselgeschichten!« »Ich habe nicht die Zeit, dir die ganze Geschichte zu erzählen. Wir müssen das Ungeheuer aualten. Du mußt mir glauben!« »Du bist ja verrückt«, sagte Timberlake, aber Flaery merkte, daß die Vorstellung an die geheimsten Befürchtungen des Schiffsingenieurs rührte. »Du bist Ingenieur, Timberlake«, sagte Flaery. »Du bist ein 215
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Strukturalist. Du kennst Bickels Absicht.« »Worauf willst du hinaus?« »Er argumentiert auf der Grundlage der Anschauung des menschlichen Körpers«, sagte Flaery in verzweifelter Hast. »Die Struktur ist wichtig für die mechanischen Teile – Zähne, Kiefer, Muskeln, Verdauungssystem und so weiter. Die Anschauung lehrt uns, daß der Mensch von den fleischfressenden Wesen abstammt, und Bickel nimmt nun felsenfest an, daß der Tötungsinstinkt für einen Fleischfresser eine absolute Notwendigkeit ist.« »Willst du damit sagen, daß ein Tötungsinstinkt notwendige Vorstufe zum Bewußtsein ist?« »Bickel sagt das! Nicht ich.« »Warum bist du dessen so sicher?« »Sein Handeln läßt keinen anderen Schluß zu!« »Ach was – du denkst dir das nur aus!« »Gib mir das Schweißgerät«, sagte Flaery. »Nein.« »Ich nehme es dir ab, und wenn ich dich umbringen müßte!« sagte Flaery. »Prue, hast du den Verrückten gehört?« fragte Timberlake und wich einen Schri zurück. Das Sprechgerät blieb stumm. »Prue?« Flaery richtete sich auf. Seine eigenen Worte gingen ihm durch den Kopf:« … und wenn ich dich umbringen müßte.« Er fühlte sich plötzlich in eine Ecke gedrängt, aus der es kein Entkommen gab. Tötungsinstinkt? fragte er sich. »Prue!« rief Timberlake. »Prue antwortet nicht mehr!« Flaery war zurückgewichen. Ihm war übel und kalt, und seine Beine und Schultern zierten. Gedankenfetzen glien am Rande seines Bewußtseins dahin. 216
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Ich meide etwas, dachte er. Ich scheue vor der bewußten Erkenntnis eines Etwas zurück, das mir … angst … macht. »Was ist mir dir, Raj?« fragte Timberlake besorgt. Flaery mußte sich an einer Strebe festhalten, um nicht zusammenzusinken. Er schloß die Augen und stellte sich die heilige Zeichnung in seiner Kabine vor, eine von innerer Ruhe durchdrungene Zeichnung voller religiöser Symbole, auf die die Menschen ihren Glauben und ihr Sehnen gerichtet haen. Wer auf den Herrn wartet, der wird Kra zur Erneuerung finden, sagte sich Flaery. Herr, verwende diese Kra zur Erneuerung unseres Geistes. Laß uns des Lichtes teilhaig werden. Die Litanei schwebte durch sein Bewußtsein und stockte bei dem Wort ›Geist‹, und Flaerys Vorstellung von der heiligen Zeichnung geriet in Bewegung. Das Feld der Ruhe und heiligen Symbole löste sich in umherwirbelnden Atomen auf und ordnete sich zu einem neuen Bild, einem Strom, breit fließendes Wasser. Flaery öffnete die Augen und erblickte den Metallkäfig, in dem er mit Timberlake stand, in ein hellgoldenes, sanes Licht getaucht. Timberlake schien das Licht nicht zu bemerken: er war in einem Augenblick des Nachdenkens erstarrt. Alle Menschen sind Teile des Stroms, dachte er. Wir steuern unseren Teil zum Ganzen bei. Überall im Universum – einige schäumen wild, andere fließen träge. Jede Struktur ist ein Ausdruck des gleichen Gesetzes. Dieses Gesetz war wie ein pulsierender Zusammenhang, den er spüren, aber nicht ausdrücken konnte – etwas, in dem Einfachheit zur Kompliziertheit wurde, wieder zu einer größeren Einfachheit gerann, die in eine größere Kompliziertheit eingebeet war, die wiederum als umfassendere Einfachheit überschaubar wurde … »Ich danke dir, Herr, für die Erleuchtung«, flüsterte er. 217
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Und Flaery verharrte in seinem Grenzbewußtsein und wandte sich Timberlake zu. Timberlake kam ihm … irgendwie tot vor. Er bewegte sich, aber seine Augen hinter der Helmscheibe waren wie Höhlen im Schädel eines Skeles. Und Prudence und Bickel waren ebenso tot. Wir sind verdammt, dachte Flaery. O Herr, warum hast du mich erleuchtet und mir dann dies gezeigt? Die schlenkernden Bewegungen von Timberlakes Skele und die Bilder der Toten in seinem Gedächtnis erfüllte ihn mit Zorn. Er zog sich an der Strebe hoch und schrie: »Ihr seid ja tot! Ihr Zombies! Ihr seid schon längst tot! Ihr Zombies! Tot« Sein Zorn war so schnell verraucht, wie er gekommen war, und er merkte, daß er weinte. Das Gefühl der Erleuchtung verblaßte. Das goldene Licht wurde grau, und die plastikverkleidete Schleuse, in der er mit Timberlake gefangen saß, war nur noch eine Schleuse – ein Raum mit vier festen Wänden, klein und schlecht beleuchtet, und die Lu in seinem Anzug stank nach Gummi und Schweiß. »Raj, nimm dich zusammen«, sagte Timberlake. Aber Go wacht doch über uns, dachte Flaery. Und Go hat mir gesagt, was ich tun muß. Er hat mir ein religiöses Erlebnis zuteil werden lassen, durch das ich unsere Verdammnis erkennen, in mich aufnehmen und erfüllen konnte. Timberlake atmete keuchend. Etwas zog sich in seiner Brust zusammen. Übelkeit befiel ihn, genährt von Angst und Hilflosigkeit. Er und Flaery waren hier ebenso hilflos wie der Kuhembryo – und Timberlake wußte das. Er dachte an den hilflosen Embryo in der Holstein-Sektion der landwirtschalichen Hib-Tanks – ein Stück Protoplasma, das mit einem besonderen Code an die Leitungen des lebenserhaltenden Systems angeschlossen war. Es hae ein einzigartiges Wesen gehabt, und Timberlake hae das Gefühl, dieses spezielle Tier 218
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irgendwie gekannt zu haben, er konnte es sich förmlich in der Zukun vorstellen, wie es graste und seine natürlichen Funktionen erfüllte. Aber all seine natürlichen Kräe waren geopfert worden, waren zum Stimulans eines künstlichen Bewußtseins vernichtet worden. Jede andere denkbare Funktion war im Augenblick der Zerstörung untergegangen. Sie war zu einer Sache der Sinne geworden, zu etwas Irrealem, das in der Vergangenheit versank und dessen Atome sich in der Leere der Zeit auflösten. Vom Augenblick des Todes an hae der Embryo alles Eigenständige, Individuelle, Besondere verloren. Timberlake schluckte krampa. Er wußte, daß dieses Gefühl in seiner Ausbildung als Schiffsingenieur wurzelte – in seiner Aufgabe als Bewahrer allen Lebens. Er versuchte seine Verwirrung abzuschüeln. Es war ein noch ungeborenes Wesen, ein Tier, sagte er sich. Es war noch kein Lebewesen wie wir. Die physische Kompliziertheit der toten Kreatur war enorm, und doch häe sie niemals ein Bewußtsein haben können wie wir … selbst wenn ihr Leben in völlig normalen Bahnen verlaufen wäre. Wie hohl sich diese Argumente anhörten! Flaery hae sich etwas beruhigt. Er umklammerte die Strebe und starrte düster durch seine Helmscheibe. »Ganz ruhig, Raj«, sagte Timberlake. Er sprach leise und beruhigend, wie zu einem Kind, das sich wehgetan hae. Er lauschte auf das sane Rauschen und Surren seines Anzugs und überdachte seine Lage. Prue antwortete nicht – aus unbekannten Gründen. Bickel hae sich in die Unterkun zurückgezogen – offenbar in der Absicht, den Wechsel vom schwarzen Kasten auf den weißen Kasten zu vollziehen und sein eigenes Bewußtseinsschema auf den weißen Kasten zu übertragen, der mit dem Ochse219
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Computer-System identisch war. Würde der Ochse also wie Bickel sein? Nein … das war undenkbar. Timberlake spürte, daß er plötzlich ein wichtiges Hindernis im Verständnis seines eigenen Wesens überwunden hae. Er hae das Gefühl, ein neues, wenn auch noch nicht näher bestimmtes Gebiet betreten zu haben. Er sah, daß Flaery seine Energien praktisch verbraucht hae – die Folge einer zu großen physischen und seelischen Anspannung. Der Mann hae oben im Tunnel ein scheußliches Erlebnis gehabt. Während er Flaery beobachtete, begann dieser zu schwanken und sagte: »Tut mir leid … ich habe dich bedroht.« Der Rhythmus in Flaerys Worten faszinierte Timberlake. Er spürte plötzlich mit überraschender Klarheit, wie diese Rhythmen mit anderen Rhythmen verschmolzen und darauf auauten. Er spürte die Rhythmen seines eigenen Lebendigseins und die vielfältigen Fourier-Wellen, die von ihm ausgingen und ihn erreichten. Und da fiel ihm etwas ein, das Bickel während der Arbeit am Ochsen gesagt hae: »Wenn wir diesem Ding Leben einhauchen, dürfen wir nicht vergessen, daß das Leben durchweg eine Variable mit exzentrischem Verhalten ist. Das Leben, das wir schaffen, muß sowohl auf Umwegen als auch geradlinig denken können – selbst wenn dieses Denken aus Bändern und aus Pseudo-Neuronennetzen abgeleitet ist.« Fast schien das Bewußtsein einem Ventil vergleichbar, dessen Funktion in der Vereinfachung bestand. Alle komplizierten Dinge mußten hindurchfließen und wurden zu einem ordentlichen Hintereinander reduziert. Und ständig strömte Energie in das System, gewaltige Mengen von Energie – Energie, die ausreichen würde, ein konventionelles vierdimensionales System zu überlasten. 220
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Überlasten – überlasten – überlasten! Die Energie strömte durch das Ventil des Bewußtseins, und wenn die Last zunahm, konnte das Ventil sie umleiten … oder strecken. Timberlake hae das Gefühl, als habe er eine Nebelschicht durchstoßen und plötzlich klare Sicht. Ich bin erwacht, dachte er. Flaerys Kabine ähnelte seiner eigenen so sehr, daß sich Bickel fast heimisch fühlte; andererseits waren die Abweichungen doch groß genug, um ihn ein wenig unruhig zu machen. Die Leitungen des lebenserhaltenden Systems wiesen keine besonderen Merkmale auf – die Sauerstoff zufuhr war geöffnet, Leitung und Maske hingen in der Halterung, die Anzeigeinstrumente über der Steuercouch waren ruhig, die Atmosphäreprüfer zeigten normale Werte an. Das Heiligenbild an der Schowand vor der Couch erweckte seine Aufmerksamkeit. Es war ein eindrucksvolles Gemälde. Eine düstere, verschwommene, beinahe hypnotisch wirkende Darstellung traumverschwommener Gesichter vor einem pastellfarbenen Hintergrund in Blau, Rot und Gold. Bickel studierte sorgfältig die elektronische Installation des Raumes. Kein Zweifel – das Etwas, das wie ein versteies Netz von der Wand über die Couch ausschwang, gab Impulse in eine schwächere, aber verfeinerte Version des Feldgenerator-Sortierers, den er für den Übertrag zwischen dem schwarzen und dem weißen Kasten gebaut hae. Er ging den Leitungen nach und stieß auf eine zweite Überraschung. Die Anlage war torgesteuert, so daß sie nur in einer Richtung funktionierte. Sie gab dem Mann auf der Couch ihre Feldreflexionen ein, ohne daß er seinerseits auf das Schiffssystem einwirken konnte. Er streckte sich auf der Couch aus, machte einen kurzen Gene221
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rator-Probelauf, zog sich die Kontrollen heran und starrte auf die Anzeigeinstrumente und das Halbrund des Netzgebildes. Es dauerte einige Sekunden, bis das Generatorfeld voll aufgebaut war. Dann aber empfand er ein seltsames Gefühl der Wachsamkeit – ein Gefühl des völlig unpersönlichen Beobachtens. Es war wie ein Wachtraum, und er dachte sofort an einen Reflektor – ähnlich einem Spiegel an der Wand, der eine versteckte Ecke überschaubar machte. Er sah sofort, daß die ganze Anlage einer sensiblen Person die Stimmung des Schiffscomputers vermieln konnte. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Er hae die Vision einer merkwürdigen Existenz. Seine Organe waren in Scheiben und Spulen und Bänder und Druckwerke verwandelt, seine Nervenenden in Tausende von empfindlichen Sensoren, die sich in fremdartige Dimensionen erstreckten. Aber das riesige Wesen aus Leitungen und Pseudoneuronen war noch nicht völlig erwacht, er wartete seine Zeit ab, lauerte auf den richtigen Augenblick, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Die Stimmung veränderte sich. Bickel spürte, wie sich das Feld auf seine Reflexe einstellte, daß es seine Energien sammelte und sie plötzlich in eine afferente Schleife schleuderte. Überrascht sah Bickel, daß sich seine rechte Hand bewegte und ein Stück Wandverkleidung neben dem Heiligenbild löste. Dahinter lag drohend ein roter Auslöser. Nur mit Mühe hielt sich Bickel davon ab, den Auslöser zu betätigen. Er schlug mit der linken Hand gegen den Schalter neben der Couch und spürte, wie das Generatorfeld heulend erstarb. Plötzlich wurde ihm klar, wie umfassend die Projektleitung das Schiff mit Selbstvernichtungssicherungen ausgestaet hae. Auch er hae etwas davon eingegeben bekommen – wie die anderen 222
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Mannschasmitglieder. Bickel starrte auf den roten Schalter. Das war der tödliche Auslöser, auf den Flaery … und sie alle fixiert waren. Mit schweißnassen Händen schob sich Bickel von der Couch, befestigte die Wandverkleidung wieder und begann Flaerys Feldgenerator-Anlage umzubauen. Er entfernte die Torschaltungen und begann seine Schaltungen für den Schwarzer-Kastenweißer-Kasten-Übertrag einzubauen. Er kehrte zur Couch zurück, streckte sich darauf aus und schaltete sein Sprechgerät ein, wobei er die Kontakte des Empfängers löste. »Hört mal zu«, sagte er. »Ich beginne in wenigen Sekunden mit dem Übertrag in den weißen Kasten. Ich habe die Schleusen zu den Unterkünen verriegelt und meinen Empfänger abgeschaltet. Versucht also nicht, hier einzubrechen oder mich anzurufen – es wäre nur Zeitverschwendung.« In der verriegelten Schleuse wandte sich Timberlake um, starrte durch Flaerys Helmscheibe und sah das Entsetzen in den Augen des anderen. »Ihr könnt nur abwarten«, sagte Bickel. »Rührt euch nicht von der Stelle! Keine Gewalätigkeiten! Das Tötungsprogramm schwirrt immer noch in den Schaltungen herum. Der Grund, warum ich beschlossen habe, den Versuch doch zu machen …« Er hielt inne und schluckte. »Tim, es tut mir leid, aber ich habe in zwei Hib-Tanks keine Reaktionen mehr festgestellt. Ich fürchte, daß der Computer vielleicht zwei Kolonisten umgebracht hat – wie den Embryo. Er sucht nach etwas … experimentiert herum. Er ist neugierig … wie ein Affe.« In der Schleuse spürte Timberlake, wie sich eine Last auf seine Brust senkte, spürte, wie er durch die Nebelschichten zurückstürzte. Ein merkwürdiger Druck preßte seinen Magen zusam223
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men. Zwei Kolonisten umgebracht. O Go! Flaery klammerte sich an eine Verstrebung und fragte sich: Wo ist Prue? Er dachte an das Schiff, das nun ohne Kontrolle durch die Leere stürmte … an Prue als leblose Protoplasmamasse, die irgendwo im Kontrollraum schwebte. Er schloß die Augen und dachte: Aber ich bin der Hauptfeind des Schiffes. Wenn es nun schon tötet, dann werde ich bald an die Reihe kommen … es will sich schützen. Er öffnete die Augen und ließ seinen Blick über die Metallwände gleiten. Es gab keinen Ausweg. Wir haben den todbringenden Geist aus der Flasche gelassen, dachte er, und können ihn nicht mehr bändigen. »Ihr müßt äußerst vorsichtig sein, solange ich das Tötungsprogramm noch nicht gelöscht habe«, sagte Bickel. »Im Schiff könnte praktisch alles zu Mordinstrumenten werden. Die Lu, die wir einatmen, die Wiedergewinnungssysteme, die Roboxgeräte, jede scharfe Kante … alles.« Er drückte den ersten Knopf und sagte: »Countdown für den ersten Feldauau beginnt in dreißig Sekunden. Wünscht mir Glück.« Er begeht Selbstmord … eine völlig sinnlose Tat, dachte Flaery. Bickel beobachtete die Reihe der Instrumente über sich. Sie registrierten die Energie in den Schaltungen und zeigten die offene Vokoderleitung. Ein schwaches Summen tönte aus dem Lautsprecher, der plötzlich einen Schwall knisternder Geräusche von sich gab. Auf den Monitorkontrollen zuckten Nadeln gegen ihre Stoppstie. Ein Keuchen ertönte aus dem Vokoder, ein Keuchen, das sich mühsam zu einer guuralen, fast unverständlichen Stimme ballte. »Töten!« 224
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Bickel betrachtete die Instrumente, registrierte die Energieabforderung des Computers, die Impulstätigkeit in den Ochsenschaltungen. Es war der Computer, der sprach. »Töten«, wiederholte er deutlicher. »Energie negieren, Systeme auflösen, Energie verbrauchen … symbolische Näherungswerte … nicht mathematisch.« Bickel aktivierte eine Prüfschaltung und las die Instrumente ab. Impulstätigkeit im Ochsen, ein schwacher Energiebedarf des Computers. Er wußte, daß er die Systeme noch nicht angeschlossen oder ihnen seine eigene Art von Bewußtsein aufgedrückt hae. Und doch handelte das Ding völlig selbständig. Er war nahe daran, seinen Versuch wieder aufzugeben und seine Feststellungen mit den anderen zu beraten. Doch die Gefährlichkeit des Ungeheuers ließ ihn zögern. Töten. Er drückte den Schalter des umgestalteten Feldgenerators. Er spürte, wie sich das Feld ringsum auaute. Seine Haut kribbelte, und seine Glieder schmerzten. In seinen Augen sammelte sich das Wasser, und seine Hände zierten. Er hae den Eindruck, in einer Energiehülle zu schwimmen. Etwas griff nach ihm, warf ein Netz aus, versuchte ihn zu fangen. Er erkannte darin ein Spiel mit Symbolen, durch das der Geist ein neues Erlebnis in bekannte Symbole einzuordnen versuchte. Eines der Netze erfaßte ihn. Der Schroteffekt-Stoß traf ihn mit einer Unzahl winziger Impulse. Es war wie ein schmerzhaer elektrischer Schock. Er fühlte sich niedergeworfen und zusammengedreht, fühlte sich in scharf pulsierendem Rhythmus davongezerrt, durch ein Netz aus Schmerzen gezogen … nein: durch Löcher und Tunnel und enge Durch225
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gänge. Er spürte, wie sich Schleusen vor ihm öffneten und hinter ihm wieder schlossen. Es war, als bewegte er sich durch die Wartungstunnel des Schiffes. Nun war er wie ein Wurm, dessen Sinne sich ausschließlich auf die Haut konzentrierten – das Sehen, Atmen, Hören. Er fühlte mit jeder Pore. Und die ganze Zeit wurde er in schwindelerregenden Spiralen abwärts gezogen. Begriffe begannen auf die sensibilisierte Haut zu blitzen, und er sah sie mit einer Milliarde Augen: ›akustische Sinnesdaten‹ ›lineare Informationszunahme‹ ›latente Additionsordnung‹ ›Anpassungsfaktor im geschlossenen System‹ ›totale Sinnesannäherung‹ Das Schema von Begriffen begann einen seltsamen Sinn zu ergeben, begann Relationen erkennen zu lassen. Ist dieses System der Computer – oder bin ich das? fragte er sich. »Du!« Das Wort prallte gegen seine sensibilisierte Haut, und er verlor für einen Moment das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, flüsterte etwas: »Synergie.« Es war wie eine kühle akustische Welle, die über sein Wurm-Ich schwappte. Synergie, dachte Bickel. Kooperation. Synergie. Koordination. »Menschliches Bewußtsein«, flüsterte etwas, »Definition zu weit – eine Beziehung.« Vor seinen Hautaugen bewegte sich ein Muster miteinander verflochtener Linien, das sich weiter verknotete und wand und Symbole und Pfeile zeigte. Eine Schaltzeichnung! Zellennetzverbindungen arrangierten sich wie gleichschenk226
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lige Dreiecke. Bündel paralleler Schaltkreise verdreifachten sich, von denen jeder als Nervennetz arbeitete und die anderen beiden Netze überwachte. »Go, höre deinen Sünder an«, sagte Flaerys Stimme. Wie kommt Flaery hier herein? fragte er sich. Die Antwort drang in sein Bewußtsein – Flaerys Feldgenerator hae die Stimmenvibrationen verstärkt gegen die Wände der Kabine geworfen, von wo sie ins Schiffssystem zurückgeleitet wurden. Die Torschaltungen waren also sinnlos gewesen. Jeder Sensor in diesem Raum bildete ein Element der Rückkoppelung. »Das Auge hat nicht geschaut, das Ohr hat nicht gehört«, sagte Flaery. »Auch haben jene Dinge das Herz des Menschen nicht bewegt, die Go für seine Anhänger bereitet hat.« Was soll das? fragte sich Bickel. »Go, sei uns gnädig. Du bist der Herr, dessen Kra stets in der Gnade liegt. Führe uns, Herr, zur Erlösung.« Flaery betete. Aber wann war das gewesen? Eine Aufzeichnung? Oder kniete er eben in diesem Augenblick in der KomZentrale? Flaerys Stimme ließ ihn nicht mehr los. »In Deinem Willen, Go, liegt unser Frieden. Laß uns der Sünde wehren und Deinen Willen tun.« Bickel fühlte sich plötzlich fortgetrieben, zusammengedrückt. Er wurde zu einem einzelnen Sensor, zu einem Vid-Auge, das in die KomZentrale hinabschaute. Sämtliche Steuercouches waren leer, und Prudence lag am Boden. Bickel erkannte, daß sie dem Tod nahe war. Minuten! Das war keine Illusion. Durch einen Sensor wurde ihm eine im Schiff gegebene Realität gezeigt. Die Hauptkontrollen über Prudences leerer Couch blitzten und flackerten unbewacht. Wo sind Raj und Tim? fragte sich Bickel. Hat sie das Schiff umge227
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bracht? Das Bild der KomZentrale verging. Bickel schwebte in einer Dunkelheit, in der plötzlich eine Stimme flüsterte: »Möchtest du körperlos sein?« Plötzlich spürte er seine Muskeln nicht mehr und konnte seine Sinne nicht mehr steuern. So etwa muß auch den Gehirn-Zentren zumute gewesen sein, dachte er. Sie wurden in einen ähnlichen Zustand versetzt … und waren gezwungen, sich neue Muskeln anzuschaffen. Werde ich in ein körperloses Gehirn verwandelt? »Das Universum hat keinen Mielpunkt«, flüsterte die allgegenwärtige Stimme. Lautlose, abgrundtiefe Dunkelheit umgab ihn. Aber ich bin bei Bewußtsein, dachte er. Ein körperloses Bewußtsein? fragte er sich. Das ist unmöglich. Bin ich zu einem Teil des Schiffsbewußtseins geworden? Er spürte ein Atmen. Jemand atmete. Und Herzschläge. Und Muskelbewegungen. Eine unvorstellbare Zahl von Nadelstichen an unzähligen Nervenenden. Ein Lichtflackern – schmerzha grell. Ein diaphanes Wirklichkeitsgefühl sickerte in sein Bewußtsein. Dem Gefühl fehlte unmielbarer Sensorenkontakt. Es war irgendwie weich und gleitend, wurde jedoch von einem umfassenden Spektrum von Geruchswahrnehmungen ausgefüllt, die sich ihm unangenehm aufdrängten. Er wich davor zurück. Aber sofort griff ein Spektrum akustischer Wahrnehmungen auf sein Bewußtsein über und stellte seine schrillen Forderungen. Er hörte das leise Knirschen sich bewegender Metallpartikel. Mein Gehör ist das Gehör des Schiffes, meine Empfindungen sind die Empfindungen des Schiffes, dachte er. Hat es mein Gehirn übernommen? 228
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Geräusche und Geräuschkombinationen, die er überhaupt nicht für möglich gehalten hae, brandeten an sein Bewußtsein. Als der Ansturm stärker wurde, versuchte er zurückzuweichen, aber da kehrte das Geruchsspektrum zurück und quälte ihn. Die beiden Spektren tanzten umeinander, trennten sich, verschmolzen. Ein Spektrum von Tastgefühlen drohte ihn zu überwältigen. Er spürte Bewegungen – geringfügige und große Bewegungen – Bewegungen von Atomen und Gasen und anderer Materie. Nichts bewies Härte oder Substanz, mit Ausnahme der Empfindungen, mit denen seine schutzlosen Nervenenden bombardiert wurden. Sehvermögen! Unmögliche Farben und visuelle Eindrücke wurden in den nervlichen Ansturm eingewebt. Er stellte fest, daß er Farben hören und die Strömungen der Säe im Inneren seines Schiffskörpers verfolgen konnte. Für einen kurzen Augenblick verschmolz das Wechselbild der Empfindungen, und er wurde zu einem fremdartigen Rezeptor, einem Künstler gleich, der um der Schöpfung willen völlig neue Empfindungen schuf – Wechselströmungen, exzentrische Verbindungen. Sein Bewußtsein zögerte am Rande dieser Empfindung und wich zurück. Jetzt wußte er sich auf dem Rückzug, obwohl das multidimensionale Nervenbombardement noch nicht nachgelassen hae. Er spürte, daß er in sich zusammenfiel – immer weiter und weiter – durch das empfindungsorientierte Hautbewußtsein seines WurmIchs hindurch – immer weiter hinein. Der nervliche Ansturm schwächte sich endlich ab, und plötzlich war er wieder ein Körper aus Fleisch und Knochen in einer Schlafcouch. Sein Gaumen war trocken und schmerzte, seine Oberlippe zierte. Jetzt wußte er, was mit den Organischen Gehirn-Zentren ge229
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schehen war. Das menschliche Gehirn war genetisch darauf eingerichtet, eine beschränkte – sich selbst beschränkende – sensorische Eingabe zu bewältigen. Im Schiff waren die menschlichen Gehirne nun in eine Situation ständiger Wachsamkeit gestellt, die ihnen keine wirkliche Bewußtlosigkeit mehr gestaete; darüber hinaus haen sie die sensorische Eingabe eines Organismus aufnehmen müssen, der unendlich empfindlicher und komplizierter war als die Körper, denen man sie entrissen hae. Die OGZs haen den Versuch unternommen, sich anzupassen, haen ihre Leitstränge angereichert, haen ihre Schaltfähigkeit erhöht … aber diese Maßnahmen haen nicht ausgereicht. Sobald der Kampf ums Überleben in ein entscheidendes Stadium trat, schlossen sich ihre inneren Leitungen vor dem Ansturm der Daten kurz. Sie starben. Der Druck der sensorischen Daten und das Wissen um die einsame Verantwortung haen sie in ein Hyperbewußtsein getrieben. Es wurde ihnen wirklich bewußt, was es bedeutete, ein Mensch zu sein, aber sie konnten nicht mehr menschlich reagieren, weil man ihnen ihr eigenständiges emotionales Register, den Organismus, genommen hae. Das Schiff bot dafür keinen Ersatz. Prue ist dem Tode nahe. Bickel versuchte seine Muskeln zu bewegen, die jedoch den Dienst verweigerten. Raj! Wo ist Raj? Ein Funke des Erkennens trieb durch sein angeschlagenes Nervensystem, und wie durch einen Gazeschirm sah er Flaery und Timberlake in ihrer Schleuse. Raj muß da heraus, um Prue zu helfen, dachte er. Er spürte den Gedanken hinausgehen wie ein freies Programm – spürte ihn durch ein Speicher-Nebengerät gehen, wo er die nötigen Daten sammelte und schließlich zu einem Refleximpuls in 230
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den Steuerschleifen wurde. Der Robox am inneren Durchgang ließ die Griffe herumwirbeln, öffnete das Scho und wich zur Seite. »Raj«, flüsterte er. »KomZentrale … schnell … Prue … hel…« Er spürte, wie das verstärkte Flüstern durch die Speicherbänke in die Vokoderschleifen ging und in der Schleuse zu einem lauten Zischen wurde. Flaery stürzte durch den Gang auf die KomZentrale zu. Bickel spürte, wie er das Bewußtsein verlor. Sein Bewußtsein war ein hellschimmernder Lichtpunkt, der langsam immer dunkler wurde und dabei seine Farbe veränderte. Es begann im Violebereich und wanderte durch das Spektrum, bis es schließlich im tiefen Rot verlöschte. Sterbe ich? fragte der letzte Funke seines Bewußtseins. Flaery spürte, daß irgendwo in seinem Bewußtsein eine Gruppe von Bits aus den Speicherschaltungen herausgefallen, in einen auf Dekodierung gestellten Analysator eingegeben worden waren und eine entsetzliche Antwort hervorgebracht haen. Das Schiff mußte augenblicklich vernichtet werden. Als sich das Scho öffnete, war er von diesem Gedanken beherrscht. Er drängte durch die Öffnung und hastete den Tunnel entlang. Die Illusion der Entfernung, die den Eindruck hervorrief, als ziehe sich der Tunnel vor ihm zusammen, er hae das Gefühl, immer kleiner werden zu müssen, damit er sich hindurchzwängen konnte. Timberlake folgte ihm. »Hast du den Robox gesehen?« keuchte Timberlake. »Wieso hat er aufgemacht?« Flaery gab keine Antwort und hastete weiter. »Die Stimme«, sagte Timberlake. »Ist das Bickel gewesen?« 231
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Sie haen die Y-Gabelung erreicht, die zur KomZentrale führte. Flaery öffnete das Scho und stürzte hindurch. Seine Gedanken überschlugen sich. Sollte er das Schiff sofort sprengen? Sollte er ohne zu zögern den bösen Geist vernichten, den sie heraueschworen haen? Timberlake dure nicht mißtrauisch werden und ihn etwa aufzuhalten versuchen. Und Bickel – Bickel war in den Unterkünen, wo er den roten Auslöser sperren konnte. Ich muß mich ganz normal benehmen, dachte Flaery, und den richtigen Augenblick abwarten. Prudence lag auf halbem Wege zwischen Durchgang und Couch auf dem Boden. Flaery kniete neben ihr nieder und untersuchte sie. Puls schwach und ungleichmäßig. Lippen blau. Leberflecken am Hals. Er löste den Helm von seinen Halterungen und berührte die Haut. Kalt und feucht. Hat sie tatsächlich angenommen, mich täuschen zu können? fragte er sich. Sie hat die Anti-S aufgegeben und mit ihrem Körper herumexperimentiert. Ich hab‘s an den Arzneivorräten bemerkt. Flaery dachte an die psychischen Belastungen, die sich aus der Manipulation mit der Körperchemie ergeben konnten. Plötzlich sah er Prues Stimmungsumschwünge und ihr seltsames Verhalten in ganz anderem Licht. Er stand auf, nahm den Arzneikasten aus seinen Halterungen an der Wand und sah, daß Timberlake die Kontrollen übernommen hae. Was macht es schon aus, wenn ich sie jetzt ree? fragte sich Flaery. Aber er konzentrierte sich sofort wieder auf die bewußtlose Frau. Kein Zeichen äußerer Verletzung, soweit er das durch den Anzug feststellen konnte. Timberlake war sofort zu seiner Steuercouch gestürzt und hae die Hauptkontrollen übernommen. 232
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Die Anlage machte einen sehr trägen Eindruck. Er mußte lange warten, bis endlich die Servos anliefen, während Schaltungen stockten und nur widerstrebend Ergebnisse brachten. Er war sich eines unmielbaren Gefühls für alle Kontrollen und Instrumente bewußt. Die gegenseitige Abhängigkeit jeder einzelnen Vorrichtung in diesem Raum und überall im Schiff ließ sich mit einem komplizierten Balle vergleichen, einem Schema, das sich in seinem Geist zu einem immer einfacher werdenden Muster zusammenzog. Timberlake nahm eine leichte Korrektur einer HüllenschildKontrolle vor, und beobachtete, wie sich die daraus ergebende Temperaturveränderung auf seinen Instrumenten als Energieverschiebung niederschlug, als eine winzige Gewichtsverlagerung im gewaltigen Schiff. Wie langsam das alles ging! Und es scheint immer träger zu werden. Timberlake zog sich die Computerkontrollen heran, gab ein Prüfprogramm ein und erhielt keine Antwort mehr. Überall an den Hauptkontrollen erloschen Lämpchen, fielen Zeiger auf Nullstellung zurück. Mit zunehmender Nervosität versuchte Timberlake, die Ursache des Defekts zu bestimmen. Die Tasten an den Hauptkontrollen begannen sich zu sperren. Kein Strom mehr in den Schaltkreisen. Keine Reaktion mehr. Das letzte Anzeigelämpchen verlöschte. Sämtliche Schalter vor ihm waren nutzlos geworden, sämtliche Servos schwiegen. Das Flüstern der Luverteiler erstarb, der Lebensrhythmus des Schiffes hae aufgehört. Es war tot. Timberlake ließ seinen Blick nach links wandern und starrte auf die Hib-Tank-Ablese-Instrumente. Die Lampen leuchteten nicht mehr, aber die physischen Analogskalen zeigten noch Nahrungsströme in den großen Leitungen des Systems an. Die Beleuchtung der KomZentrale flackerte, als die Baerien einsprangen. 233
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Die Lebewesen in den Hib-Tanks waren noch nicht tot – noch nicht, überlegte Timberlake. Die letzte Einstellung jedes Tanks vor Ausfall der Kontrollen wurde beibehalten, solange die Hilfsakkumulatoren überall im Schiff noch Energie lieferten und damit die Pumpenmotoren antrieben. Aber die empfindliche Rückkoppelungskontrolle hae aufgehört. Timberlake gli aus seiner Steuercouch und blickte sich in der seltsam ruhigen KomZentrale um. Flaery bemühte sich immer noch um Prudence. Ihre Lider begannen zu zucken, und Timberlake dachte verbittert: Was hat es für einen Sinn, sie noch zu reen? Wir sind doch schon so gut wie tot. »Bickel hat es diesmal wirklich gescha«, sagte Timberlake. »Keine Energie … Der Computer ist stromlos. Es ist alles tot.« Ich brauche nur abzuwarten, dachte Flaery. Ohne Energie stirbt das Schiff von allein. Aber seine Bemühungen um Prudence haen seine Entschlossenheit ins Wanken gebracht. Auch wenn sie alle nur künstlich gewuchertes Fleisch waren – Duplikate, austauschbare Lebenseinheiten –, sie lebten. Lebten! »Sie sind Menschen, daran dürfen Sie niemals zweifeln!« hae Hempstead immer wieder betont. »Dabei ist es unerheblich, ob Sie aus ausgewählten Zellkulturen entstanden sind oder nicht. Sie sind Menschen, vollwertige Menschen. Unsere Methode entspringt lediglich einer Sicherheitsvorkehrung. Wenn das Schiff vernichtet wird, wollen wir schließlich nicht unsere besten Leute verlieren – wie mit den anderen Schiffen.« »Wie geht es ihr?« fragte Timberlake. »Ich glaube, sie erholt sich schon wieder.« »Willst du nicht nachsehen, was mit Bickel geschehen ist?« 234
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fragte Timberlake. »Wozu?« Die Resignation in Flaerys Gegenfrage ließ Timberlake aufbrausen: »Du kannst meinetwegen aufgeben, wenn du willst! Aber wenn Bickel noch am Leben ist, weiß er vielleicht, was er da gemacht hat … und kann das vielleicht noch reparieren.« Er ging zur Tür. »Moment«, sagte Flaery. Habe ich ein neues Lebensgefühl entdeckt? fragte sich Flaery. Go – was ist Dein Wille? »Du behältst Prue im Auge«, sagte Flaery. »Sie hat ihren chemischen Haushalt völlig durcheinandergebracht. Wir müssen sie ruhen lassen und warm halten. Ich habe ihre Anzugheizung hochgestellt. Du solltest sie …« Er brach ab, als sich das Scho zu den Unterkünen langsam öffnete. Bickel stolperte herein und klammerte sich mit letzter Kra an einer Strebe fest. Ein verkohlter Plastikblock gli ihm aus der Hand und polterte zu Boden. Flaery betrachtete ihn. Dunkle Schaen unter seinen Augen. Seine Haut war kreidebleich. In seinem Gesicht zeichneten sich die Wangenknochen so deutlich ab, als häe er eine zweimonatige Fastenzeit hinter sich. »Dein weißer Kasten hat dich also nicht umgebracht«, sagte Flaery. »Schade. So hast du nur das Schiff getötet.« Bickel schüelte den Kopf; er konnte noch nicht wieder sprechen. Die Ruhe im Schiff hae ihn aus einem tiefen Schlaf geweckt. Müdigkeit lähmte seine Muskeln. Jede Bewegung verursachte ihm Schmerzen. Nach dem Erwachen war sein Blick auf den Möbiusverstär235
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ker gefallen, der dem Ochsen den Energiebedarf geliefert hae. Gehäuse und Motor waren verkohlt und zerschmolzen. Erst nach einiger Zeit dämmerte ihm die Erkenntnis: Etwas hae die Stromzufuhr und Synchronisation der Motoren geändert. Etwas hae den Takt des Impulses zu verändern versucht … und seine Stärke. Er hae sich dazu gezwungen, das Gerät aus der Anlage zu lösen, und war dann damit zur KomZentrale gestolpert. Die Totenstille im Schiff ängstigte ihn. Raj … Tim … ihr müßt euch das ansehen. Jemand mit wachem Geist muß …, aber er hae keine Kra zum Sprechen. Timberlake hob den zerschmolzenen Verstärker auf und betrachtete ihn. Flaery trat zu Bickel, maß seinen Puls, hob ein Lid an und musterte Lippen und Zunge. Dann beugte er sich über seinen Arzneikasten, nahm eine Injektionspistole heraus und setzte sie Bickel an den Hals. Dann drückte er ihm eine Preßflasche an die Lippen. »Hier, trink.« Etwas Kühles rann ihm kribbelnd durch den Hals. Flaery entfernte die Flasche. Die Injektion begann zu wirken, Bickel fühlte, wie die Kra zurückkehrte. »Tim!« krächzte er heiser. Bickel deutete auf den Verstärker und begann stockend zu erklären, was geschehen war. Flaery unterbrach ihn. »Glaubst du, daß die Übertragung vom schwarzen Kasten auf den weißen Kasten ganz vollzogen ist?« Bickel prüe die Frage. Er spürte, wie die Nebelschwaden in seinem Gehirn sich unter der Wirkung des Aufputschmiels auflösten – und dort in seinem Gedächtnis ruhte auch die Empfindung, daß das Schiff sein Körper war, daß er eine Kreatur aus hartem Metall und Tausenden von Sensoren war. 236
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»Ich … ich nehme es an«, sagte er. Timberlake hielt ihm den Plastikblock hin. »Aber … es hat dieses Ding vernichtet und … sich offenbar abgeschaltet.« »Ist das vielleicht ein Hinweis für uns … eine letzte Nachricht?« »Go, der uns sagt, daß wir zu weit gegangen sind«, murmelte Flaery. »Nein!« erwiderte Bickel und schüelte den Kopf. »Es war der Ochse, der uns … irgend etwas sagen wollte.« »Und was?« fragte Timberlake. »Wenn die Natur Energien überträgt«, sagte Bickel, »erfolgt diese Übertragung unbewußt.« Er schwieg einen Augenblick. Mit seiner Begriffsfindung bewegte er sich auf einer derart schwierigen Ebene, daß er behutsam vorgehen mußte. »Die Energieübertragungen in bezug auf die gewaltigen Datenmengen im Ochse-Computer-System werden durch Hauptprogramme geleitet … und ein totales Bewußtsein würde sie alle einschalten und das System als Ganzes zwingen, einige zu unterdrücken, während andere durchgelassen werden müßten. Es wäre, als wollte man mit einer milliardenköpfigen Herde wildgewordener Tiere reiten.« »Du hast der Anlage zuviel Bewußtsein gegeben?« fragte Timberlake. Bickel warf einen Blick auf die Kontrollen des Sende-Übersetzungs-Systems neben seiner Steuercouch. Prudence begann sich zu bewegen und stöhnte. Flaery beugte sich über sie. Timberlake kümmerte sich nicht darum; er begann Bickels Gedankengang zu verstehen. Das Schiff starb, aber hier lag neue Hoffnung. »Alle Hauptprogramme, die mit der Übersetzung von Symbolen zu tun haben, werden durch Rückkoppelungsschleifen 237
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überwacht, die an das SÜ angeschlossen sind«, sagte Timberlake. »Symbole!« »Du mußt daran denken«, sagte Bickel, »daß Impulse, die vom menschlichen Zentralnervensystem ausgehen, mit einem Integrations-Modulations-Faktor zusätzlich angereichert worden sind – mit Synergie. Eine unbewußte Energieübertragung.« Flaery, der neben Prudence kniete, wunderte sich, warum er sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Das Gespräch der anderen elektrisierte ihn. Etwas wurde den vom zentralen Nervensystem ausgehenden Impulsen hinzugefügt. Der Gedanke wirbelte Flaery durch den Kopf, und er mußte sich förmlich zwingen, seine Behandlung fortzusetzen. Ein Zusatz. Dinge mußten eine ausreichende Ähnlichkeit aufweisen, damit sie überhaupt addierbar waren. Wie könnten sonst die menschlichen Sinne zwei Farben nebeneinander sehen und anzeigen, daß die eine intensiver als die andere ist? Was machte ein Grün leuchtender als das andere – für die Sinne? Diese Intensitätszunahme mußte eine Art Zusatz sein. »Es könnte in den Nebenaxonen der hochschnellen Konvergenzfibern des Ochsens liegen«, sagte Bickel. Flaery hockte sich auf die Fersen und wartete darauf, daß das Anregungsmiel, das er Prudence gegeben hae, zu wirken begann. Bickel hat recht, dachte er. Wenn man eine ausreichend schnelle Konvergenz von Sinnesdaten nebeneinanderschaltet, ließe sich das als eine Intensivierung interpretieren. Eines der Bilder würde mehr Bits enthalten als das andere. Aber was für Bits? Alle diese Möglichkeiten erklärten nicht die Überlappung der Daten im menschlichen Bewußtsein … 238
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Wenn ich mein Gedächtnis durchgehe, dachte Flaery, stoße ich auf Daten, die sich von einem Hintergrund abheben. Wie dieser Hintergrund auch aussehen mag, das Bewußtsein arbeitet ihm entgegen. Allein dieser Hintergrund gibt dem Bewußtsein Größe und Bezug – gibt ihm seine Dimension. »Die Sinnesorgane des Ochsen sind den unseren nachgestaltet, haben aber eine größere Bandbreite«, sagte Timberlake. Bickel nickte in der Erinnerung an sein alptraumhaes Erlebnis mit den widerstreitenden und verschmelzenden Empfindungsspektren. »Wie steht das mit den Multikontakten zu den hibernierenden Menschen und Tieren in den Tanks?« fragte Timberlake. »Hat es jemals eine Frau gegeben, die … so viele … Kinder ausgetragen hat?« »Wenn das Bewußtsein auf sich verbindenden Empfindungen basiert«, sagte Bickel. »Aber natürlich tut es das!« sagte Timberlake. »Und die Verbindungen könnten seltsame Sinneswahrnehmungen hervorrufen, die für uns überhaupt nicht vorstellbar sind.« »Allerdings«, murmelte Bickel. »Aber der Computer ist tot«, sagte Flaery. »Er hat sich geweigert zu leben.« »Er ist eben letztlich kein Mensch«, sagte Bickel. »Wenn wir die Antwort finden – auf die Frage, warum er sich ausgeschaltet hat, warum er uns diese Nachricht hat zukommen lassen …« »Würdest du ihn denn wieder einschalten?« »Du denn nicht?« fragte Timberlake. »Vergeßt ihr, wie gefährlich er geworden war?« fragte Flaery. Wir spielen hier eine Art Blindekuh, dachte Bickel. Wir wissen, daß da draußen etwas ist – etwas Nützliches und Gefährliches. Wir greifen danach und versuchen es zu packen und zu beschreiben, aber Raj hat 239
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recht. Wir wissen nicht, ob das, was wir schließlich in der Hand haben, das Nützliche oder das Gefährliche sein wird – ein Werkzeug oder ein Golem. »Aber er wird unser Bewußtsein übersteigen, unsere Fähigkeiten.« »Genau«, sagte Flaery. »Er enthält eine unendliche Folge von Bewußtseinsschaierungen, die alle im Bereich der neuen Form von Bewußtheit liegen«, sagte Bickel. »Wir haben auf eine Weise etwas völlig Fremdartiges gebaut, und Rajs Einwand ist durchaus berechtigt. Sollen wir es einschalten? Können wir es einschalten?« Prudence hob die Hand, betastete ihren Kopf und versuchte sich aufzurichten. Flaery stützte sie. Sie hob eine Hand an den Hals, der sich wund anfühlte. Schon seit einigen Minuten verfolgte sie die Unterhaltung und versuchte sich zu erinnern. Sie wußte, daß sie einen Einfall gehabt und verzweifelt versucht hae, sich mit Bickel über das Sprechgerät in Verbindung zu setzen. Sie erinnerte sich, daß es sehr dringend gewesen war, aber es war ihr völlig entfallen, warum sie ihren Posten schließlich überstürzt verlassen hae, um Bickel zu informieren. »Wir müssen uns von allem geistigen Ballast befreien«, sagte Bickel. »Wir gehen von einem völlig bewußten Roboter aus, dessen Handlungen von einem Bewußtsein gesteuert werden. Das kann aber nicht sein, sofern nicht jeder Vorgang simultan überwacht wird.« »Könnte er der Illusion erliegen, Mielpunkt des Universums zu sein?« fragte Timberlake. »Nein«, Bickel schüelte den Kopf. »Das Universum hat keinen Mielpunkt.« Das hae die Maschine ihm gesagt. Es war ein Kodeproblem, das im Begriff des Du und im Begriff 240
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des Ich lag – im Begriff der Identität. Bickel nickte. Bist du bewußt? Bin ich‘s? Er sah die anderen an. Das Objekt und seine Umgebung. »Das Leben, wie wir es kennen«, sagte Timberlake, »begann sich vor etwa drei Milliarden Jahren zu entwickeln. Als es einen bestimmten Punkt erreichte, erschien das Bewußtsein. Davor gab es kein Bewußtsein … wenigstens nicht in unserer Lebensform. Das Bewußtsein entstammt einer unbewußten Tiefe.« Er sah Bickel an. »Es existiert in diesem Augenblick im Meer der Unbewußtheit.« Als häen Timberlakes Worte einen Damm zum Einsturz gebracht, erinnerte sich Prudence an den Gedankengang, der sie von den Kontrollen fortgetrieben hae. Determinismus am Werk in einem Meer der Indeterminiertheit! Und sie hae den mathematischen Schlüssel zu diesem Problem gefunden. Es bestand kein Zweifel mehr – das SÜ-System. Einen Augenblick lang erstand vor ihrem inneren Auge der gesamte Komplex des SÜ-Systems, in Einklang mit ihren mathematischen Vorstellungen. Es war so einfach. Das SÜ war ein vierdimensionales Kontinuum, ein Stück Raum-Zeit-Geometrie, das durch eine Vielzahl von Sensoren-Querverbindungen allen Gesetzen der Krümmung, der Relation Zeit-Entfernung und der Übertragung von Wellen und Partikeln unterworfen war. Für das menschliche Nervensystem, ein Instrument, das auf seine Aufgabe zugeschnien war, war sicher nichts einfacher, als sich ein derartiges vierdimensionales Spinnennetz vorzustellen und es zu handhaben – nachdem die Eigenart des Spinnennetzes einmal erkannt war. »John«, sagte sie, »Unser Ochse ist nicht das Instrument des Bewußtseins, sondern das SÜ, der Symbolmanipulator. Die Ochsen-Schaltungen stellen nur etwas dar, das der Manipulator benutzen kann, um etwas zu leisten und seine Dimension zu erken241
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nen.« »Das Objekt und seine Umgebung«, flüsterte Bickel. »Subjekt und Hintergrund, Landkarte und Koordinatennetz … Bewußtsein und Unbewußtsein.« »Der Ochse ist das unbewußte Bauteil«, sagte sie. »Eine Maschine zur Energieübertragung.« Sie erklärte die mathematischen Gedankengänge, die sie zu ihrer Erkenntnis gebracht haen. »Ein Matrixsystem«, sagte Bickel schließlich und dachte an seinen eigenen Lösungsversuch und das Auflodern der Erkenntnis, den dieser in ihm heraueschworen hae. Flaery stand auf; er erkannte, wohin der Gedankengang führen mußte, und fürchtete sich vor dem Augenblick des Handelns. »Und wo steht dieses SÜ-Ochse-System?« fragte er. »Habt ihr daran mal gedacht?« Prudence sah sie an. Sie begriff endlich, warum die Hib-Tanks mit Kolonisten belegt waren. »Die Kolonisten«, sagte sie und nickte. »Ein Feld der Unbewußtheit, auf das jeder Unbewußte zurückgreifen kann – die schlafenden Kolonisten sorgen dafür.« Flaery schüelte ärgerlich und verwirrt den Kopf. Bickel starrte durch Prue hindurch und verarbeitete ihre Worte. Ideen vereinigten sich in seinem Bewußtsein zu logischen Gruppen. Dieses Schiff war ausgerüstet, beladen, auf ein Ziel gerichtet und abgefeuert worden. Er erinnerte sich an Hempstead, an das zwergenha-weise Gesicht, an die blitzenden Augen und an die eindringliche Stimme, die sagte: »Worauf es hauptsächlich ankommt, ist die Suche. Sie ist wichtiger als die Suchenden. Das Bewußtsein muß träumen, es muß einen Traumbereich haben – und aus den Träumen heraus muß es immer neue Träume wecken.« »Wissen ist unbarmherzig«, sagte Bickel. Ohne sich um ihn zu kümmern, hielt Prudence den Blick starr 242
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auf Flaery gerichtet. Sie fühlte die Verwirrung des PsychiaterGeistlichen. »Siehst du das nicht, Raj? Um das Subjekt vom Objekt zu trennen, braucht man einen Hintergrund. Man muß es sehen können, und zwar in Unterscheidung zu etwas anderem. Was ist nun der Hintergrund für das Bewußtsein? Das Unbewußte!« »Zombies«, sagte Bickel. »Weißt du noch, Raj? Du hast uns Zombies genannt! Und warum auch nicht? Die meiste Zeit unseres Lebens haben wir in einem Zustand leichter Hypnose verbracht.« Flaery hörte, daß Bickel etwas sagte, aber die Worte wollten sich nicht zu einem verständlichen Satz ordnen. Sie fielen zusammenhanglos durch sein Gehirn, als wären sie vor seinem Bewußtsein abgefeuert worden, um ihn von etwas anderem abzuschirmen. Wovon? Eine große Ruhe erfüllte Bickel; das Gefühl währte nur einen Herzschlag lang und erweiterte sich dann zu einem umfassenden, entspannten Wohlgefühl, das ringsum alles erhellte. Es war, als wäre das Universum gegen ein anderes ausgetauscht worden. Er bemerkte die Unbewußtheit in Flaery und Timberlake – und das Halb-Bewußtsein in Prudence. Zombies, dachte er. »Raj, du hast uns Zombies genannt«, wiederholte Bickel. »Wenn wir leicht hypnotisiert wären, müßten wir natürlich einem Wesen, das einen höheren Bewußtseinsgrad erreicht hat, halbtot erscheinen.« Flaery starrte Bickel an. Er hae das Gefühl, daß der Mann richtige Worte benutzte und daß sie ihm etwas mieilen sollten – aber die Bedeutung entgli ihm, ohne daß irgendwo ein Kontakt hergestellt wurde. Prudence spürte, wie Bickels Worte ihr Aurieb gaben. Einen Augenblick lang drehte sich das Universum um eine einzige Achse – und diese Achse war sie. Das Gefühl veränderte sich schnell: das 243
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Ich war nicht mehr auf sie selbst beschränkt. Und mit der Aufgabe des Ichs kam die Klarheit. Flaerys Worte fielen ihr ein: »In uns gibt es nichts, das wir wahrlich objektiv beurteilen könnten, mit Ausnahme unserer physischen Reaktionen.« Die chemischen Eigenversuche häen niemals wirklich zu einer Lösung führen können. Der Gedanke war illusorisch gewesen, weil die Experimente nicht gleichzeitig an jedem Insassen des Metalleies durchgeführt werden konnten. Wir haben teil an der Unbewußtheit! dachte sie. Und sie erkannte, daß dies der wahre Grund für die Belegung der Hib-Tanks mit schlafenden Menschen sein mußte. Irgendwann im Laufe der Entwicklung hae die Projektleitung die Notwendigkeit hierfür erkannt. Die Kernmannscha brauchte eine Minimalbasis geteilter Unbewußtheit, auf der sie bauen konnte. Sie brauchte einen Bezugspunkt, eine winzige Insel in der gewaltigen Dunkelheit, die sie mit dem Wesen teilen konnte, das sie aus ihren Neuronenfibern und Eng-Multiplikatoren hervorbrachte. Sie hae eine Basis gebraucht, ehe sie nach dem fernen Ziel greifen konnte. Der Spiegel kann sich nicht selbst spiegeln, dachte sie. »Hypnotisiert«, sagte Bickel. »Wir akzeptieren den Zustand als normal, weil er praktisch die einzige Form von Bewußtsein ist, die wir jemals kennengelernt haben.« »Halbtot«, sagte Prudence. »Zombies.« Sie hat »Zombies« gesagt, dachte Flaery. Ihre Stimme erschreckte ihn. Bickel sah das Erwachen in ihren Augen. »Wir häen während des Empfangs der GMS-Sendung an das SÜ denken sollen«, sagte Bickel. Timberlake schaute von einem zum anderen. Er fühlte, wie die geistige Trägheit langsam von ihm abfiel. Symbole! dachte er. 244
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Timberlakes Gedanken kehrten zu einem früheren Gespräch zurück. »Alle Hauptprogramme, die mit der Übersetzung von Symbolen zu tun haben, werden durch Rückkoppelungsschleifen überwacht, die an das SÜ angeschlossen sind.« Symbole! Das ganze Problem klärte sich plötzlich in Timberlakes Vorstellung mit der Wucht einer Explosion. Problem und Lösung boten sich als physikalisches Arrangement, und er sah die von ihnen gebauten Nervennetze als eine Serie dreieckiger Flächen mit einer Möbiusdrehung – als etwas, das mit seinen Energieströmen über die normalen Dimensionen hinausreichte. Bickel bemerkte die Vitalität, die Timberlake erfüllte, und sagte: »Denk an das SÜ, Tim. Weißt du noch, was wir damals gesagt haben?« Timberlake nickte. Das SÜ. Es empfing Hunderte von Doubletten der gleichen Nachricht, komprimiert im modulierten Laserstoß. Es glich die Leerstellen und Verzerrungen aus, filterte das Rauschen heraus, suchte bei zweifelhaen Informationspartikeln nach der wahrscheinlichen Bedeutung, gab das Ergebnis in einen Vokoder ein und brachte das Ganze in Form verständlicher Laute. »Es funktioniert etwa so, als wenn wir jemanden etwas sagen hören und ihn dann bien, seine Worte zu wiederholen, um uns zu überzeugen, ob wir auch richtig gehört haben«, sagte Timberlake. »Du vergißt dabei etwas«, sagte Flaery. Sie wandten sich nach Flaery um, sahen ihn auf seiner Steuercouch sitzen, eine Hand auf seine Konsole gelegt. Eine einsame röte Lampe hae dort aufgeleuchtet. Flaery ließ seinen Blick von Bickel zu Prudence und dann zu Timberlake wandern und sah den unnatürlichen Glanz in ihren 245
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Augen, die Rötung ihrer Gesichter, die Zeichen von Erregung. Wahnsinn! »Raj, warte!« sagte Bickel mit ruhiger Stimme und beobachtete Flaerys Hand, die unter dem roten Licht auf einem Schalter ruhte. Ich häe wissen müssen, daß es einen zweiten Auslöser gibt, dachte Bickel. »Du weißt, daß ich nicht anders kann, John«, sagte Flaery. »Du hast die Situation in der Hand«, sagte Bickel. »Hör dir wenigstens noch an, was ich zu sagen habe.« »Wir können das Ding nicht auf die Menschheit loslassen«, sagte Flaery. Timberlake blickte Prudence an. Wie schade, dachte er, daß wir schon sterben müssen, nachdem wir eben erst zum Leben erwacht sind. »Wie kommt es, Raj«, fragte Timberlake, »daß wir mehr über das Unbewußte sagen können als über das Bewußtsein?« »Du verschwendest nur deine Zeit«, sagte Flaery. »Aber der Computer ist tot«, sagte Bickel. »Ich muß ganz sicher gehen.« »Warum kannst du dir nicht noch anhören, was John zu sagen hat?« fragte Prudence. Sie warf einen Blick auf Bickel, um Flaerys Aufmerksamkeit dorthin zu lenken. Zwei Lämpchen an den Computer-Hauptkontrollen hinter Flaery haen zu blinken begonnen. »Es ist ein Paradoxon«, sagte Bickel. »Wir sollen den Positivismus aufgeben und doch an der Logik festhalten. Wir sollen ein Ursache-und-Wirkung-System finden in einem Meer der Wahrscheinlichkeiten, wo unvorstellbar große Systeme auf größeren Systemen basieren, die wiederum auf noch größeren Systemen fußen.« Flaery sah ihn an, gefesselt von Bickels Überlegungen. »Ursa246
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che und Wirkung?« fragte er. »Was passiert, wenn du den Hebel umlegst?« Bickel deutete auf den Auslöser unter Flaerys Hand. Prudence hielt den Atem an und betete, daß sich Flaery nicht umdrehen würde. Weitere Lichter haen an den Hauptkontrollen über Timberlakes Couch zu blinken begonnen. Sie wußte nicht zu sagen, warum diese Lichter sie mit Hoffnung erfüllten … aber allein der Hinweis auf Leben im Schiff … »Wenn ich diesen Hebel umlege«, sagte Flaery, »wird eine Befehlsfolge im Computer ausgelöst.« Er drehte sich um. »Ihr könnt selbst sehen, daß der Computer teilweise reaktiviert ist. Diese Schaltungen«, er richtete seinen Blick wieder auf Bickel, »sind besonders gepuffert und werden aus einem Notstromkreis versorgt. Das Hauptprogramm, das durch diesen Hebel ausgelöst wird, unterweist den Computer, sich und das Schiff zu vernichten – indem er alle Schleusen öffnet und an gewissen Schlüsselpositionen Sprengsätze zündet.« »Ursache und Wirkung«, sagte Bickel. Und er wunderte sich darüber, wie automatenha ihm Flaerys Bewegungen vorkamen. Ein Zombie. »Ursache und Wirkung passen nicht zum Bewußtsein«, sagte er. Eine faszinierende Idee, dachte Flaery. »Wenn jede Handlung mit absoluter Kausalität aus den vorhergegangenen Handlungen hervorgeht, kann es keine bewußte Verhaltensbeeinflussung geben«, sagte Bickel. »Stell dir eine Reihe umstürzender Dominosteine vor. Die menschliche Willenskra könnte hinsichtlich des Verhaltens keine Entscheidung treffen, weil dieses Verhalten durch eine lange Reihe von vorhergehenden Ursachen längst vorherbestimmt wäre.« Flaery spürte, daß seine Hand über dem tödlichen Hebel zu ermüden begann. »Richtig, wir können nicht vorhersagen, was 247
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dieses Ungeheuer tun würde«, sagte er. Bickel unterschreibt unser Todesurteil, dachte Prudence und erhob sich. Sie fühlte sich elend und hielt sich an Timberlakes Affin fest. Timberlake warf einen Blick auf ihre Hand und sah dann wieder zu Flaery hinüber. Wie ruhig Tim ist, dachte sie. »Vielleicht beeinflußt das Bewußtsein die neurale Aktivität überhaupt nicht«, sagte Timberlake. »Vielleicht bilden wir uns nur ein …« »Das ist lächerlich«, sagte Flaery. »So etwas häe keinerlei Überlebenschance gehabt und sich in der Natur nicht durchgesetzt.« Wenigstens haben wir ihn in die Diskussion verwickelt, dachte Timberlake. Wie leblos … wie tot der Mann wirkte. »Stell dir eine Elektronenröhre vor«, sagte Bickel. »Ein winziger Energiestoß auf die richtige Stelle bewirkt eine gewaltige Outputveränderung. Das Bewußtsein arbeitet etwa ähnlich, Tim. Wir haben einen neuralen Verstärker.« »Sofortige Kausalität«, flüsterte Flaery. Seine Hand schmerzte. »Von solchen Dingen müssen wir unser Denken bereinigen«, sagte Bickel. »Die sofortige Kausalität besagt, daß wir genau vorhersehen können, was ein System von einem bestimmten Punkt an tun wird, wenn wir ein Naturgesetz und das gegebene System zu einem gegebenen Zeitpunkt kennen. Das tri aber auf keinen Fall schon auf der atomaren Ebene zu und ebensowenig auf das Bewußtsein. Das Bewußtsein gleicht einem System von Linsen, die eine Auswahl treffen und eine Vergrößerung vornehmen – die gewisse Objekte aus dem Ganzen herausvergrößern. Es kann tief in den Mikrokosmos oder in den Makrokosmos eindringen. Es reduziert das Gigantische auf eine handliche Größe oder vergrö248
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ßert das Unsichtbare in den sichtbaren Bereich.« Aber dadurch ändert sich doch nichts, dachte Flaery. Warum reden wir hier eigentlich? Versucht er nur Zeit zu gewinnen? Bickel bemerkte die ersten Anzeichen von Leben in Flaerys Augen. »Aber dieser Bewußtseinsfaktor ist auch keine zufällige Sache. In einem Universum, das so randvoll mit zufälligen Vernichtungsmöglichkeiten steckt, ist ein Zufallsverhalten mit der Gewißheit gleichzusetzen, dieser Vernichtung tatsächlich zu begegnen – wir gehen aber davon aus, daß das Bewußtsein auf das Überleben ausgerichtet ist.« »Sofern es sich nicht um einen Heilungsprozeß handelt«, sagte Flaery. »Aber auch der Heilungsprozeß müßte der Vernichtung entgegenwirken«, sagte Bickel. Und er sah das Licht in Flaerys Augen flackern. Ich muß den Hebel umlegen, John«, sagte Flaery leise. »Weißt du das?« »Einen Moment noch«, sagte Bickel ruhig. »Raj, das darfst du nicht tun«, sagte Prudence. »Denk an all die hilflosen Menschen unten in den Hib-Tanks. Denk an …« »Denk an all die hilflosen Menschen auf der Erde«, sagte Flattery. »Was würden wir auf sie loslassen? Johns Austausch zwischen dem schwarzen und dem weißen Kasten hat sein Leben und seine ganze Persönlichkeit in den Computer übertragen. Begreifst du das nicht? Begrei denn keiner von euch?« Prudence hob eine Hand an den Mund. Bickel sah, wie wachsam Flaery plötzlich war, ein lebendiges, neugewonnenes Bewußtsein, das sich in jeder Bewegung ausdrückte. Er erkannte, daß der Kampf mit den eingeimpen Befehlen Flaery über die Schwelle gehoben hae. Wenn wir den Computer wiederherstellen … und ihn wecken … wäre 249
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er ohne Bewußtsein, dachte Bickel. Ich wäre sein emotionaler Wächter, sein Id, sein Ego und seine Vorfahren. Er schluckte. Und Raj … »Raj, laß die Finger von dem Hebel«, sagte Bickel. »Ich muß es tun«, erwiderte Flaery. »Du begreifst nicht«, sagte Bickel, »der Feldgenerator in deiner Kabine – du glaubst, daß es keine Rückkoppelung von dir ins System gegeben hat, aber das war ein Irrtum. Deine Stimme, deine Gebete – jede Reaktion ist durch die Sensoren ins System gewandert. Was immer dir die Religion bedeuten mag – der Ochse hat es in sich aufgenommen. Was immer …« »Was immer mir die Religion war«, schrie Flaery. Und er legte den Hebel um. Der Mechanismus klickte und rastete ein. »Wie lange haben wir noch Zeit, Raj?« fragte Timberlake. »Höchstens zehn Minuten«, sagte Flaery. »Vielleicht auch mehr«, sagte Bickel. »Findest du nicht, daß wir häen versuchen sollen, zum GMS zurückzukehren?« fragte Prudence. »In dem Bewußtseinszustand, in dem wir jetzt sind, wäre uns die Kontrolle des Schiffes sicher nicht schwergefallen.« »Irgendein Narr häe doch daran herumgespielt«, sagte Flattery. »Und wir …« Er machte eine vage Handbewegung. »Die Fähigkeit, die wir in uns entdeckt haben, wäre auf der Erde untergegangen, wäre erdrückt worden.« Er zuckte die Achseln. »Was bedeuten schon ein paar Minuten oder ein paar Jahre? Ich hae eine Verantwortung übernommen … und ich habe mich nicht vor ihr gedrückt.« Und er erkannte, wie sehr ihm der Impuls zum Töten geholfen hae, ein neues Bewußtsein zu erlangen. »Es hat Griechen gegeben, die sagten, daß selbst die Göer nicht unsterblich wären«, sagte Bickel. 250
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Flaery wandte sich um und musterte die Hauptkontrollen, die wieder zum Leben erwacht waren. Kein einziges Warnsignal leuchtete auf, alle Skalen zeigten normale Werte. »Er ist darauf programmiert, uns nach Tau-Ceti zu bringen«, sagte Bickel. Flaery lachte hysterisch und sagte mit schriller Stimme: »Aber es gibt keinen bewohnbaren Planeten im Tau-Ceti-System. Du weißt, was das Schiff ist, John – eine Spielfigur. Sonst nichts! Wir wissen, was wir sind – Menschen aus Zellkulturen. Ein Spender hat ein Stückchen seines Körpers geopfert, und die Axolotl-Tanks haben das übrige getan. Wir sind ersetzbar! Man ist im GMS bereits dabei, unsere Ersatzleute, unsere Doubleen heranwachsen zu lassen – für das nächste Metallei. Jeder Fehlschlag bringt neue Erkenntnisse für die Leute im GMS. Sie standen mit dem Computer pausenlos in Kontakt. Mit der Auslösung des Hebels habe ich eine Kapsel gestartet, die zur Erde zurückfliegt. Sie enthält vollständige Aufzeichnungen.« »Nein. Sie sind nicht vollständig«, sagte Bickel. »Das Schiff wird uns nach Tau-Ceti bringen«, sagte Timberlake. »Aber das Selbstvernichtungsprogramm!« sagte Prudence. Und im nächsten Augenblick erkannte auch sie, was die anderen längst gesehen haen. Das Schiff hat seinen eigenen Tod unter Kontrolle. Es konnte sterben. Und diese Tatsache hae ihm das Leben gegeben. Der Impuls stieg, lief über die Ochsen-Schaltungen, über schwemmte das SÜ … und wurde unterdrückt, so wie ihn ein Mensch unterdrückte. Das Schiff war zum Leben erwacht wie sie … am Rande des Todes. Der Tod war der Hintergrund, vor dem sich das Leben abzeichnete. Ohne Todesgefahr waren sie nur mit einem Konstruktionsproblem voll unendlicher Werte konfrontiert – mit einer Unmöglichkeit. 251
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Und Flaery hae das SÜ – den Sitz des Bewußtseins – mit einem Superverstärker versorgt. »Es gibt keinen bewohnbaren Planeten im Tau-Ceti-System, bist du sicher?« fragte Bickel. »Es gibt zwar Planeten, aber die sind nicht bewohnbar«, erwiderte Flaery. Ein grünes Licht leuchtete an den Hauptkontrollen auf. »Es hat also keinen Sinn, in die Hib zu gehen«, sagte Bickel. Prudence starrte das grüne Licht an. »Es ist noch nicht ganz bei Bewußtsein, das Schiff.« »Natürlich nicht«, sagte Timberlake. Warum nicht? fragte sie sich. Keine Frau hae jemals eine seltsamere Geburt eingeleitet. Sie trat an die Hauptkontrollen und schaltete die Audio-Eingabe des Computers ein. »Du«, sagte sie. Sie ließ ihre Hand auf dem Schalter liegen, und mit einer neuen Empfindsamkeit ihrer Haut war es ihr, als spüre sie die Molekularverschiebungen im Metall. Sie warteten. Sie wußten ungefähr, was in dem Computer vorging. Das eine Wort, das durch einprogrammierte Neugier- und Selbsterhaltungsdirektiven intern verstärkt wurde, suchte sich jetzt seinen Weg durch das halbbewußte Geschöpf. Selbsterhaltung.
Aber es gab nur einen Rezeptor, auf den das ›Du‹ wirken konnte. Programme wurden aktiviert, neue Querverbindungen entstanden, Vergleiche wurden angestellt, Differenzen ausgependelt. Abrupt erstarben die Kontrollen. Sämtliche Lichter erloschen, sämtliche Zeiger fielen auf Nullstellung zurück. Sie betätigte mehr252
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mals den Computerschalter. Keine Reaktion. Das Schiff begann zu vibrieren. »Ist das das Selbstvernichtungsprogramm?« fragte Bickel. Ein einziges Wort klang hart und metallisch aus dem Vokoder über ihnen: »Negativ.« Die Vibrationen im Schiff hörten auf, begannen von neuem, brachen wieder ab. Erwartungsvolle Stille. Da erwachte der Vokoder zum Leben. Eine Stimme sagte leise: »Ihr seht jetzt auf den Schirmen ein umfassendes Bild.« Auf sämtlichen Schirmen über den Kontrollen erschien die gleiche Szene – ein Sonnensystem mit Planeten, die durch rote Pfeile gekennzeichnet waren. »Sechs Planeten«, flüsterte Flaery. »Seht ihr die Konstellationen – den Himmel dahinter?« »Erkennst du sie?« fragte Timberlake. »Das sind die Bilder, die die Sonden mitgebracht haben«, sagte Flaery. »Das Tau-Ceti-System.« »Warum führt uns der Computer die Sondenbilder vor?« fragte Prudence. »Prudence«, sagte der Vokoder, »das ist kein Sondenfoto. Diese Strahlungen entsprechen dem, was … ich jetzt im Augenblick sehe.« »Wir sind im Tau-Ceti-System?« fragte Prudence entgeistert. »Wie ist das möglich? Wir können doch noch längst nicht dort…« »Das Symbol dort ist ungenau«, sagte der Vokoder. »Hier und dort verschieben sich entsprechend der Polarität, die von der Dimension abhängig ist.« »Aber wir sind dort!« sagte Prudence. »Ihr wolltet nach Tau-Ceti gebracht werden. Ihr seid im TauCeti-System«, sagte der Vokoder. 253
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»Sicher«, sagte Flaery. »Aber es gibt keinen Planeten, auf dem wir leben können.« »Eine Lappalie, weiter nichts«, antwortete der Vokoder gelassen. Sämtliche Pfeile auf dem Schirm verlöschten – bis auf einen. »Dieser Planet ist für euch vorbereitet«, sagte der Vokoder. »Etwas stimmt hier nicht«, flüsterte Flaery. »Alles stimmt«, sagte der Vokoder. »Ihr braucht euch nur umzusehen. Ihr seid in Sicherheit. Seht!« Die Szene auf dem Schirm verschob sich. »Der vierte Planet«, sagte der Vokoder. Flaery packte Bickel am Arm. »Fällt dir etwas auf?« Bickel starrte auf den Schirm. Er zeigte einen Planeten, der rasch auf sie zuwuchs, den Schirm überschwemmte, einen grünen Planeten mit einer Atmosphäre, dichte Wolkenfelder über den Kontinenten. »Wo sind wir?« fragte Bickel. »Ist es möglich, daß ich das verstehe?« »Dein Verstehen ist begrenzt«, sagte der Vokoder. »Die Symbole deines Verstehens, die du mir vermielt hast, stehen in seltsamer Abweichung zur nichtsymbolischen Wirklichkeit.« »Aber du verstehst es«, sagte Bickel. Die Stimme des Vokoders schien einen tadelnden Unterton anzunehmen. »Mein Verstehen umfaßt alle Möglichkeiten dieses Universums. Ich brauche dieses Universum nicht zu verstehen, weil ich es in direktem Erleben bewältigt habe.« »Begreifst du‘s endlich?« fragte Flaery, packte Bickel mit beiden Händen und schüelte ihn. Bickel beachtete ihn nicht. Er erinnerte sich an den Augenblick im Feld des Generators, da er vor einem transzendenten Bewußt254
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sein zurückgeschreckt war. Er hae es nicht gescha – ein natürlicher funktioneller Mangel. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Tatsache hinzunehmen, zumal der Beweis auf den Schirmen sichtbar war. Sie sanken bereits durch die Atmosphäre, Wolken verhüllten die Sicht, dann tauchte eine Wiese auf, Bäume, ein schneebedeckter Berg erhob sich in der Ferne. Er spürte, wie der Zug der Schwerkra zunahm und konstant wurde, als das Schiff zur Ruhe kam. »Ihr werdet feststellen, daß die Schwerkra hier nur etwas niedriger als auf der Erde ist«, sagte der Vokoder. »Ich wecke jetzt die Kolonisten aus der Hibernation. Bleibt, wo ihr seid, bis alle wach sind. Ihr müßt eure Entscheidung gemeinsam treffen.« Bickel schaute mißtrauisch zum Vokoder auf und fragte heiser: »Entscheidung? Welche Entscheidung häen wir zu treffen?« Wie kalt es plötzlich ist, dachte Bickel, und seine Augen suchten Tim und Prue. »Flaery weiß Bescheid«, sagte der Vokoder. »Ihr habt euch zu entscheiden, in welcher Form ihr mich verehren wollt.« ***
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